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German Pages 1653 [1644] Year 2021
Heiko Steuer „Germanen“ aus Sicht der Archäologie
Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde
Herausgegeben von Sebastian Brather, Wilhelm Heizmann und Steffen Patzold
Band 125
Heiko Steuer
„Germanen“ aus Sicht der Archäologie Neue Thesen zu einem alten Thema
Teil 1
ISBN 978-3-11-069973-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-070267-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-070277-4 ISSN 1866-7678 Library of Congress Control Number: 2020952703 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Gewidmet Prof. Dr. Heinrich Beck (1929–2019)
Vorwort Dieses Buch „,Germanen‘ aus Sicht der Archäologie“ ist eine Erzählung über die ersten Jahrhunderte um und nach Chr. Geb. in Mitteleuropa und dem südlichen Nordeuropa, und zwar darüber, wie die Bevölkerung damals gelebt und gedacht und auch, welche Vorstellungen sie von ihrer Epoche gehabt hatte. Dabei werden allein die über Ausgrabungen erschlossenen Quellen herangezogen, geschildert und befragt. Der Umfang dessen, was über die Forschungen in der Landschaft während der letzten Jahrzehnte gewonnen worden ist, verblüfft, und der ständige Zuwachs an Befunden und Funden ist kaum noch auswertend zu bewältigen. Somit muss diese Darstellung ausschnitthaft und wohl in manchen Aspekten einseitig bleiben. Außerdem handelt es sich doch nicht im landläufigen Sinne um eine rein darstellende Erzählung zur Kulturgeschichte in Germanien, sondern um eine Diskussion über die Probleme der Einschätzung all der neuen Ergebnisse der Archäologie im Kontrast zu den vorliegenden Narrativen. Das bringt jedoch mit sich, dass manche Befunde und Funde mehrfach im Rahmen der Bewertung angesprochen werden. Es ist heute üblich, von einer Studie zur „Ethnologie“ damaliger Völkerschaften und Landschaften zu sprechen, um auf die angenommene Andersartigkeit jener Epoche hinzuweisen. Wie anders damals alles gewesen ist, muss aber noch überprüft werden. Denn immerhin handelte es sich um das Leben normaler Menschen in gesellschaftlichen Organisationsformen, von der Familie angefangen bis zum Dorf und darüber hinaus, wie das noch in der Gegenwart der Fall ist. Die archäologische Forschung kann ihre Ergebnisse, all die Funde und ausgegrabenen Befunde, geographisch und zeitlich verorten, entwickelt die Methoden, diese Quellen zu deuten, formuliert also methodische Zugriffe, die sich im Laufe der Jahrzehnte aber auch wandeln und vor allem erweitern. Demgegenüber ist die schriftliche Überlieferung zu dieser Epoche weitgehend bekannt, kann jedoch oft nicht genau zeitlich und räumlich zugeordnet werden und ist deshalb immer wieder neu zu interpretieren, weil sich die Fragestellungen an die Vergangenheit ändern. Die archäologische Forschung stellt Tatsachen bereit, beschreibt Fakten und fordert die Wissenschaft heraus, daraus auf die ehemaligen Wahrheiten und Realitäten interpretierend zurückzuschließen. Doch sind diese regelmäßig auch Konstruktionen; denn man sollte davon ausgehen, dass es immer mehrere Wirklichkeiten gibt und in diesem Falle gegeben hat, je nachdem wie die Archäologie auf die Quellen zugreift und diese interpretiert. Angeregt wurde meine Schrift durch die sich aufdrängenden Parallelen zwischen der „germanischen“ und römischen Epoche sowie dem heutigen weltweiten Geschehen. Analogien bleiben Analogien und bieten keine Lösungen an; aus der Geschichte wird man auch kaum für das eigene Handeln lernen, wie alle Erfahrung lehrt. Aber vergangene Vorgänge und ihre Zusammenhänge zeigen Möglichkeiten auf, wie Geschehen verlaufen kann, weisen auf Verhaltensmuster hin, im Alltag, in Frieden und Krieg, und das kann helfen, Vergangenes zu verstehen. https://doi.org/10.1515/9783110702675-202
VIII
Vorwort
Es ist der „Wissenschaft“ durchaus bewusst, dass Darstellung und Bewertung der Ereignisse in der Vergangenheit von der gegenwärtigen Bewusstseinslage sowie der realen politischen Situation und Weltanschauung der Forscher beeinflusst werden und davon auch abhängen, somit fließt das Bild und die Vorstellung von vergangenen Phasen der Geschichte auch in die Erklärung von Phänomenen der Gegenwart ein. Aus diesem Zirkel kann man sich nur dann teilweise herauslösen, wenn man um diese Vorbedingungen weiß und sich bemüht, die Stellenwerte der Faktoren jeweils gleichmäßig zu berücksichtigen, und vor allem, wenn man nicht bewusst oder unbewusst selektiv nur die Argumente und Fakten auswählt, die der eigenen Vorstellung vom Geschehen, wie man es sich wünscht, am besten entsprechen. Wenn ich in diesem Buch von der Position des Archäologen aus versuche, gegen die Vorurteile der antiken römischen Schriftsteller zu argumentieren und der damaligen Bevölkerung in Germanien eine Eigenständigkeit ihrer Lebensweise zu bescheinigen, dann hat das nichts mit einer erneuten Überhöhung des „Germanischen“ zu tun, was in unserer Geschichte zu häufig mit den bekannten negativen Folgen geschehen ist. Im Gegenteil wird sich zeigen, dass Germanien zur damaligen „Dritten Welt“ gehörte und im Vergleich zum Römischen Reich von dort aus gesehen ein „Entwicklungsland“ war, in dem aber bewusst die eigenen Lebensformen akzeptiert wurden. Kurz gefasst geht es hier nicht darum, Kulturgeschichte und Lebensweise der Bevölkerung in Germanien während der ersten fünf Jahrhunderte um und nach Chr. Geb. umfassend zu schildern. Dafür brauchte man noch wesentlich mehr Raum. Daher bleiben zahlreiche Facetten ehemaliger Realität unberücksichtigt. Vielmehr geht es nachfolgend darum, das in der allgemeinen Vorstellungswelt bestehende Bild von den „Germanen“ oder der – wie heute gern gesagt wird – „germanischsprechenden“ Bevölkerung auf der Basis archäologischer Quellen durch Argumente zu verändern. Es geht mir also um Germanen aus Sicht der Germanen in Germanien. Meine Beschreibung erfolgt deshalb auch vom Inneren Germaniens aus und beginnt mit den Wohnstätten und Siedlungen, und erst später thematisiere ich die Beziehungen zum Römischen Reich und zu den Römern. Dieses Buch zu den Germanen und zu Germanien sollte von denen gelesen werden, die das Thema anspricht, von Fachwissenschaftlern ebenso wie von allen, die an Geschichte noch interessiert sind. Heute spricht man von Narrativen; immer handelt es sich aber trotz aller wissenschaftlichen Redlichkeit weitgehend um eine fiktionale Erzählung. Ein Narrativ ist eine kollektiv wirksame Erzählung […]. Hat meine Erzählung etwas, das sich verallgemeinern lässt, ist sie etwas, das andere aufnehmen können? […] Auch dadurch, dass Gesellschaften ihre Vergangenheit immer wieder neu sortieren, neu erzählen, entwerfen wir uns eine Welt mit fiktionalen Zügen.1
1 Th. Steiner, Badische Zeitung vom 1. September 2018, zitiert Albrecht Koschorke, 2017.
Vorwort
IX
Meine Sicht auf die ersten Jahrhunderte um und nach Chr. Geb. in Germanien basiert vielfach auf dem 35-bändigen Reallexikon der Germanischen Altertumskunde (RGA), das 2008 abgeschlossen wurde und an dessen Realisierung ich von Anfang an seit den 1965er Jahren beteiligt gewesen bin, lange Jahre auch als mitverantwortlicher Herausgeber. Da aber seither wiederum über zehn Jahre vergangen sind, in denen weiter ausgegraben und ausgewertet wurde, versuche ich, die betreffende neuere Literatur auch zu berücksichtigen. Somit will das Buch zugleich auch zum Teil die wissenschaftliche Summe meines Lebens sein. Da ich als alter Wissenschaftler (geboren 1939) zeigen will, dass ich die Forschung durchaus bis in die Gegenwart verfolge, registriere und berücksichtige, gibt es eine große Anzahl an Literaturhinweisen bis in die Jahre bis 2020. Was die Literatur angeht, so konnte ich russische Aufsätze nicht berücksichtigen, polnische habe ich jedoch teilweise gelesen. Doch handelt es sich immer noch um eine statistische, teilweise auch zufällige Auswahl, eben um die Literatur, die ich über unser Institut in Freiburg habe einsehen können. Manche Archäologinnen und Archäologen werden mit einer beachtlichen Anzahl von Aufsätzen zitiert, die sich vom Inhalt auch überschneiden; doch einerseits sind es diejenigen, die gegenwärtig intensiv über Germanen und Germanien forschen, und andererseits sind für den Leser jeweils einige der Literaturzitate auffindbar. Das Buch vertritt neue Thesen, schildert nicht nur allgemein die damaligen Verhältnisse und Lebensumstände in Germanien. Damit der Leser diese Positionen im umfangreichen Text auch finden kann, bezeichne ich einige Abschnitte als Auswahlkatalog oder Zusammenfassungen. Mit einigen „Sprüchen“ möchte ich noch zusätzlich auf die methodische Problematik hinweisen, wenn es um die Wiedergewinnung von Vergangenheit geht. – „Um an die Quelle zu kommen, muss man gegen den Strom schwimmen.“ – (Konfuzius 551–479 v. Chr.). – „Die Dinge sind nie so, wie sie sind. Sie sind immer das, was man aus ihnen macht.“ (Jean Anouilh 1910–19872). – „wo […] alle Erdendinge am sichersten verwahrt sind […] wo wäre das […]?“ „In der Vergangenheit“, heißt es mit Verweis auf Seneca (um 4 v. Chr.–65 n. Chr.) in Theodor Storms Novelle „Eine Halligfahrt“ (1871). Es geht bei ihm um die untergegangene mittelalterliche Siedlung Rungholt im nordfriesischen Wattenmeer, also um einen archäologisch erschließbaren Befund. Zu danken ist in vielfältiger Weise: Für sachliche Hinweise, Germanen betreffend, danke ich den Kollegen Prof. Dr. Klaus Düwel (Göttingen, Hamburg), Prof. Dr. Dieter Geuenich (Freiburg, Denzlingen), Prof. Dr. Achim Leube (Berlin), Prof. Dr. Wolfgang Schlüter (Bad Iburg, Osnabrück), Dr. Lothar Schulte (Berlin); Prof. Dr. Haio Zimmermann (Bockhorn, Wilhelmshaven)für technische Hilfe mit Blick auf die Abbildungen
2 Zitiert nach Pesch 2017 (2018), 22.
X
Vorwort
Dr. Michael Hoeper (Freiburg), Michael Kinsky und Samira Fischer M. A. (Abteilung für Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie) sowie besonders auch Maria Schwellnus, Dr. Gabriele Seitz und Prof. Dr. Alexander Heising (Abteilung für Provinzialrömisches Seminar der Universität Freiburg) (beide Abteilungen gehören zum Institut für Archäologische Wissenschaften der Universität Freiburg). Für die Bewilligung des Wiederabdrucks ausgewählter Abbildungen ist vielen Institutionen und Personen zu danken, aber besonders Prof. Dr. Claus von Carnap-Bornheim von der Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen Schloss Gottorf, Schleswig, und Prof. Dr. Hauke Jöns vom Niedersächsischen Institut für historische Küstenforschung in Wilhelmshaven; die vielen Kolleginnen und Kollegen, die außerdem geholfen haben und denen ich vielmals danke, sind indirekt im Abbildungsnachweis mit Literatur und Namen genannt. Ohne Hilfe in früheren Zeiten wäre auch dieses Buch nicht möglich gewesen, und zwar durch Prof. Dr. Rosemarie Müller (Göttingen), der entscheidenden Redakteurin des RGA. Dank sage ich auch den Kollegen Herausgebern der Ergänzungsbände zum RGA, Prof. Dr. Sebastian Brather (Freiburg), Prof. Dr. Wilhelm Heizmann (München) und Prof. Dr. Steffen Patzold (Tübingen) für Hinweise zur Manuskriptgestaltung. Im Verlag de Gruyter, Berlin, habe ich Unterstützung und Hilfe von Robert Forke, Laura Burlon und Julia Sjöberg sowie Anne Stroka erfahren, wofür ich ebenfalls vielmals danke. Freiburg/Merzhausen, Sommer 2020
Inhalt Vorwort
VII
Teil 1 I Methodisches 1
Zur Ausgangslage
2 2.1 2.2
Germanien aus der Sicht der Germanen Die Themen dieses Buches 18 Die Thesen dieses Buches 26
3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7
„Germanen“ als ethnische Größe und Einheit? Meine Thesen 46 Ethnische Deutung und Ethnogenese 58 Archäologische Quellen 63 Wanderungen und Mobilitäten 65 Identitäten 72 Tracht und Kleidung 84 Zusammenfassung 85
4
Archäologische Kultur- und Formenkreise oder archäologische Räume 87
5
Die Kulturen der vorrömischen Eisenzeit in Mitteleuropa
6
Die „Völkerwanderung“
7
Zu den Thesen und Theorien dieses Buches sowie den angewendeten Methoden der Quellenbeschaffung und -bewertung 142 Meine Thesen 142 Problemfelder und Themenkreise 148
7.1 7.2
3
Landschaft und Klima Landschaft 155 Klima 168
28
113
127
II Fakten: Die archäologischen Quellen 1 1.1 1.2
18
155
XII
Inhalt
2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4 2.4.5 2.4.6 2.4.7 2.4.8 2.5
Haus, Gehöft und Siedlung 174 Haus und Hof 176 Wandersiedlungen 189 Siedlungen oder Dörfer 193 Siedlungen – ein Auswahlkatalog 196 Die Anfänge der Forschung 197 Deutschland bis zur Elbe 211 Der Westen und die Niederlande 230 Nordost-Gallien 240 Deutschland östlich der Elbe 242 Schleswig-Holstein, Jütland und westliche Ostseeinseln 251 Schweden und Norwegen 279 Polen 283 Kontinuitäten und eine Zusammenfassung
3 3.1 3.2 3.3
Befestigte Siedlungen, Burgen und Landwehren Befestigte Siedlungen 308 Höhen- und Niederungsburgen 316 Landwehren 335
4 4.1 4.2
Herrenhof und Festhalle Herrenhof 343 Halle 346
5
Zentralorte und Reichtumszentren
6
Dichte der Besiedlung
7 7.1 7.2 7.3
389 Wege zu Land und zu Wasser Landwege und Wagen 389 Wasserwege und Schiffe 402 Landeplätze an Flussufern und Meeresküsten
8 8.1 8.1.1 8.1.2 8.1.3 8.1.4 8.2 8.2.1
Wirtschaft, Handwerk, Technik und Alltag Landwirtschaft 409 Allgemein 409 Ackerbau 411 Viehhaltung 415 Celtic fields 424 Handwerk 427 Holzhandwerk 428
289 307
342
352
374
409
405
Inhalt
8.2.2 8.2.3 8.2.4 8.2.5 8.2.6 8.2.7 8.2.8 8.2.9 8.3
Herstellung von Textilien und Leder Produktion von Keramik 434 Eisengewinnung 444 Salzgewinnung 454 Bleigewinnung 455 Rohmaterialien und Schrott 463 Grob- und Feinschmiedehandwerk Schmuckproduktion 477 Alltägliches 506
XIII
430
469
9 9.1 9.2 9.2.1 9.2.2 9.2.3
510 Gold und Schätze in Germanien Gold 510 Schatzfunde – ein Auswahlkatalog 531 Große Schatz- bzw. Depotfunde 531 Kleinere Schätze 543 Rangzeichen 552 Schlangenkopfringe 553 Kolbenarmringe 555 Schwere Halsringe 557
10 10.1 10.2 10.3
561 Das römische Geld Münzen in Germanien 565 Alte Denare im 5. Jahrhundert 576 Geldfunktion in Germanien 578
11 11.1 11.2 11.3
580 Güterverteilung und Handel Güterverbreitung 580 Handel vom Römischen Reich nach Germanien Handel im Inneren Germaniens 601
12 12.1 12.2 12.3 12.4 12.5
Religion: Bestattungsbräuche, Heilige Haine und Opferplätze, Götterbilder und Kultbauten 606 Religion 606 Bestattungsbräuche 610 Heilige Haine und Opferplätze 614 Götterbildnisse und römische Statuetten 638 Kultbauten 653
13 13.1 13.2 13.3
Waffen und Bewaffnung, Kriegswesen und Rekrutierungsräume Waffen und Waffenbeigabe im Bestattungsbrauch 661 Kriegswesen 673 Rekrutierungsräume, Mobilitäten, Zahlen 696
580
661
XIV
Inhalt
Teil 2 14 Mooropfer, Heeresausrüstungsopfer und Flussfunde 703 14.1 Mooropfer 703 14.2 Heeresausrüstungsopfer 706 14.2.1 Waffenausrüstungsopfer – ein Auswahlkatalog 713 14.2.2 Deutungsversuche 738 14.3 Flussfunde 757 15 15.1 15.2 15.3 15.4 15.5
759 Schlachtfelder oder (auch) Opferplätze Das Varus-Schlachtfeld bei Kalkriese 760 Der Döttenbichl bei Oberammergau 769 Auf dem Harzhorn bei Northeim 769 Hedemünden an der Weser in Südniedersachsen Das Schlachtfeld von Abritus 783
16
Gefolgschaftswesen
17 17.1 17.2 17.3 17.4
Politisch-territoriale Gliederungen in Germanien Sozialgeschichtliches 802 Territorien 806 Tatsächliche Auswanderungen 818 Germanen und Slawen 827
781
785 801
832 18 Gräberfelder der Bevölkerung und Bestattungen der Eliten 18.1 Gräberfelder der Bevölkerung 836 18.2 Gräberfelder der Bevölkerung – ein Auswahlkatalog 844 18.2.1 Grenzgebiet zum Römischen Reich 846 18.2.2 Mitteleuropa 847 18.2.3 Ostseegebiet 869 18.2.4 Östliches Mitteleuropa 872 18.2.5 Fernbeziehungen zwischen Skandinavien und dem Südosten bis zur Krim 893 18.2.6 Eine Zusammenfassung 899 18.3 Bestattungen der Elite 906 18.4 Elitegräber – ein Auswahlkatalog der Körpergräber 917 18.4.1 Die älteren Gräber des 1./2. Jahrhunderts auf dem Kontinent 917 18.4.2 Gräber der zeitlichen Zwischenphase 925 18.4.3 Die jüngeren Gräber des 3./4. Jahrhunderts auf dem Kontinent 929 18.4.4 Gräber im Ostseebereich, im Norden und in Ostmitteleuropa 937
Inhalt
18.4.5 18.5 18.6 18.7
Späte Gräber des ausgehenden 4. und des 5. Jahrhunderts Elitegräber – ein Auswahlkatalog der Brandgräber 962 Eine Zusammenfassung 969 Zu Rang und Rolle der Frauen 983
XV
951
19.1.3 19.1.4 19.2
989 Germanisch-römische Konfrontation Kriegszüge aus Germanien in die römischen Provinzen und römischer Einmarsch nach Germanien 989 Römische Germanenkriege und der Einmarsch von Westen 996 Marbod, die Markomannenkriege und der römische Einmarsch von Süden 1006 Späte Einmärsche nach Germanien im 3. Jahrhundert 1015 Neue soziale und politische Strukturen 1017 Ausbau des Limes 1023
20 20.1 20.2 20.3
1030 Römischer Einfluss in Germanien „Romanisierung“ 1032 Wellen der Beziehungen zwischen Germanen und Römern 1038 Beeinflussung Skandinaviens und Klientelkönigtümer? 1042
21 21.1 21.2 21.3 21.4
1044 Das Vorfeld nahe der Grenze zum Imperium Niederrheingebiet 1046 Mittel- und Oberrheingebiet 1054 Mobilität von Germanen nach Südwesten (Neckarsweben und Alamannen) 1057 Mobilität im Donauraum 1079
22 22.1 22.2 22.3 22.4
1090 Die Gründung römischer Zentralorte in Germanien Die Stadtgründung Waldgirmes im Westen 1090 Handelsstationen an der Nordseeküste 1096 Die römischen Bauten bei Mušov im Süden 1098 Der Herrenhof auf dem Oberleiserberg 1100
19 19.1 19.1.1 19.1.2
1103 23 Römische Sachen, Techniken und Sitten in Germanien 23.1 Importgüter 1104 23.1.1 Waffen 1113 23.1.2 Feinschmiedetechniken 1114 23.1.3 Keramik 1116 23.1.4 Glas 1123 23.1.5 Metall 1127 23.1.6 Allerlei andere Sachgüter 1133 23.2 Menschen: Söldner, Gefangene und Sklaven 1138
XVI
Inhalt
23.3
Rangzeichen oder Mode? Militärgürtelbeschläge und Zwiebelknopffibeln 1141 Germanischer Einfluss auf die römische Welt 1147 Eine Zusammenfassung 1148
23.4 23.5 24 24.1 24.2
1158 Migrationsprobleme Noch einmal theoretische Überlegungen 1158 Der Sonderfall Nordostgallien im 4./5. Jahrhundert
1164
1182 25 Bilderkunst und Menschenbilder 25.1 Frühe Bilderkunst 1182 25.2 Späte Bilderkunst 1204 25.2.1 Goldbrakteaten 1206 25.2.2 Goldblechfigürchen 1215 25.2.3 Goldhalskragen 1223 25.2.4 Sösdala- und Nydam-Stil 1229 25.2.5 Die „germanischen“ Tierstile 1236 25.3 Menschenbilder 1241 26
Runenschrift und lateinische Schrift
1249
III Konsequenzen 1
Germanien wurde nicht römisch
1265
2
Zu den Thesen dieses Buches zusammenfassend: Widerlegte Vorurteile und Ansichten über „Germanen“ 1272
3
Ein neues Bild vom „alten“ Germanien
1279
4
Analogien zwischen heute und damals
1291
5
Erinnerungsorte
6
Bilanzen
1302
1310
Anhänge Anhang 1: Gedichte zu Römern und Germanen
1317
Anhang 2: Friedrich Dürrenmatt (1921–1990): Romulus der Große, 1949
1319
Inhalt
XVII
Anhang 3: Die kulturellen Lebensverhältnisse der Indianer Nordamerikas, nach Th. Perdue, M. D. Green, Die Indianer Nordamerikas (Stuttgart 2010) 1321 Anhang 4: Artikel aus Zeitungen, die auf das Thema eingehen; vielfach Frankfurter Allgemeine Zeitung und DIE ZEIT (chronologisch geordnet) 1325 Literatur
1331
Abbildungsnachweis
1525
Register Orts- und Landschaftsnamen Sachen und Begriffe, Kulturen
1531 1565
Historische Personen- und Gruppennamen, Persönlichkeiten der Wissenschaft und Namen von Gottheiten 1619
I Methodisches
1 Zur Ausgangslage Wenn auch diese Publikation im Titel wieder den allgemein im Bewusstsein gespeicherten Begriff „Germanen“ enthält, dann muss gleich zu Anfang betont werden, dass es im Nachfolgenden nicht eigentlich um eine imaginäre Völkerschaft „Germanen“ geht. Vielmehr geht es geographisch um den Raum zwischen Weichsel und Rhein sowie zwischen den Ländern an der Ostsee und der Donau als Siedlungsgebiet und um die Bewohner dieses Gebietes, also um die Bevölkerung in diesem Raum. Behandelt werden Kulturerscheinungen aller Facetten, auch Kunsterzeugnisse, die innerhalb dieser Landschaften während der ersten Jahrhunderte um und nach Chr. Geb. entstanden sind. Zeit und Raum verbinden mit ihren Bewohnern die Aussagen für ein Gebiet, das ich im Folgenden als „Germanien“ bezeichne (Abb. 1). Aber, und das ist entscheidend: Alle die zu schildernden Facetten früheren Lebens sind keine Eigenschaften, die „Germanen“ als Völkerschaft definieren und in ihrem „Wesen“ gespeichert sind, sondern sie sind im genannten Raum entstanden, wer auch immer darin wohnte. Es ist höchst sinnvoll, auch ältere Literatur wieder einmal zur Kenntnis zu nehmen.3 Daher möchte ich aus dem Werk von Jan de Vries (1890–1994) etwa aus dem Jahr 1934 „Die geistige Welt der Germanen“ zitieren.4 Dabei soll die politische Einstellung von de Vries unberücksichtigt bleiben, über die im RGA einiges nachzulesen ist.5 Jede Generation hat die Aufgabe, sich ihre eigene Anschauung über die Vergangenheit zu bilden. Die Vorzeit ist nicht eine Reihe historischer Tatsachen, die durch das Studium der erhaltenen Denkmäler ein für allemal unverrückbar festgestellt werden können; die Vergangenheit ist vielmehr auch eine Zeit, die erlebt worden ist, und die deshalb ihren eigenen geistigen Inhalt hat […]. Dieses Bild wechselt je nach den Generationen, die es zu entwerfen versuchen. Denn jedesmal, wenn wir uns eine Vorstellung über das Wesen früherer Jahrhunderte bilden wollen, fragen wir, was jene Zeiten für uns bedeuten. Wir sind wie Reisende, die sich zu einer weiten Fahrt durch die Zeit anschicken, und wie jeder Wanderer nehmen wir uns selbst auf unserer Reise mit […]; es ist unser eigener Geist, der sich ein Urteil bildet. Die „objektive“ Forschung hat zwar den naiven Glauben gehegt, daß es möglich sei, die Vergangenheit so darzustellen, wie sie wirklich gewesen ist. Das ist aber eine eigentümliche Selbsttäuschung […], wir wollen die Bedeutung dieses Ereignisses kennen […] eine Entscheidung treffen. Die Antwort aber wird verschieden ausfallen, je nach dem Glaubensbekenntnis, der Nationalität oder der politischen Einstellung des Urteilenden. Wir fordern deshalb das Recht, unsere Ansicht über die Vergangenheit auszusprechen, obgleich wir wissen, wie zeitbedingt und persönlich bestimmt das Urteil sein wird.
3 Diesen Hinweis verdanke ich meinem Kollegen Dieter Geuenich, dem dafür sehr gedankt sei. 4 de Vries 1964, 1, die Seiten der weiteren Zitate werden in Klammern angefügt; Quak 2006, 653: Das Buch „Die geistige Welt der Germanen“ geht auf den Anfang der 1930er Jahre zurück. 5 Quak 2006, 652. https://doi.org/10.1515/9783110702675-001
4
1 Zur Ausgangslage
Abb. 1: Verbreitung der germanischen Einzelsprachen in den Jahrhunderten um Chr. Geb.
Direkt zum Thema dieses Buches eines Archäologen spricht Jan de Vries aus seinem damaligen Stand der Wissenschaft und Forschung: Vor den schriftlichen Aufzeichnungen haben wir nur das im Boden gefundene archäologische Material. Für unsere Zwecke sind die Waffen und Geräte aus den vorhistorischen Perioden wenig aufschlußreich, weil sie mehr dazu geeignet sind, uns ein Bild der materiellen Kultur unserer Vorfahren zu geben. Dennoch dürfen sie nicht vernachlässigt werden, weil sich in diesen Gegenständen auch ein Formwille, manchmal sogar ein Schönheitssinn offenbart […].
Jan de Vries spannt den Bogen für seine Auffassung von geistiger Welt der Germanen noch nach der damaligen Vorstellung von der Bronzezeit bis in die Wikingerzeit,
1 Zur Ausgangslage
5
zieht dazu auch Kleinkunstwerke mit ihren Ornamentstilen heran (S. 5). Ein eigenes Kapitel ist dem „Problem der Formbeherrschung“ gewidmet. Damit ist zuerst die Dichtkunst gemeint, doch folgt die Betrachtung der Zierstile auf den kleinen Kunstwerken (S. 144 ff.). Die in unserer Zeit erarbeitete Folge der Stile, vom Nydam- über den Sösdala-Stil bis zu den Tierstilen I bis III war ihm noch nicht bekannt. Doch sieht er über die frühen Jahrhunderte hinweg eine selbständige Formbehandlung. Weniger weiterführend war das Buch von Wilhelm Grönbech (1873–1948) aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts, „Kultur und Religion der Germanen“, dänisch 1909–1912, in deutscher Übersetzung 1932/1934,6 mit dem Vorwort von Otto Höfler. Sowohl O. Höfler (1901–1987) als auch W. Grönbech kommen aus einer anderen, überholten geistigen Welt, und den politischen Hintergrund werde ich nicht näher hier bewerten. Archäologie wurde von W. Grönbech nicht berücksichtigt. Nun sind hundert Jahre seit diesen Publikationen vergangen, und in der Gegenwart hat die Archäologie einen ganz anderen Stellenwert bekommen, wenn es um die Rückgewinnung und Darstellung der Vergangenheit geht. Das werde ich nachfolgend ausführlich beschreiben. Jede Generation und jede Gegenwart zeichnen also ihr Bild von der Vergangenheit neu. Die Zeitgebundenheit einer solchen Darstellung sollte jedem, dem Autor und den Lesern, klar sein; sogar tägliche Nachrichten können beim Schreiben des Textes bewusst oder auch unbewusst einfließen. Die Aussagen des Buches sind meine eigenen Stellungnahmen zu den Problemfeldern, welche die Wissenschaft schon lange und immer wieder beschäftigen. Das schon erwähnte „Reallexikon der Germanischen Altertumskunde“, erschienen im Verlag Walter de Gruyter, von der ersten Lieferung des ersten Bandes 1968 bis zum Abschluss mit Band 35 im Jahr 2007 und den zwei Registerbänden im Jahr 2008, deckt mit seiner Erscheinungsfolge eine Zeitspanne von 40 Jahren ab. In diesen Jahrzehnten hat sich nicht nur der Quellenbestand der Archäologie immens erweitert, sondern auch die Fragestellungen an die frühe Zeit und an die damalige Bevölkerung in Mittel- und Nordeuropa; und ebenso sind die für erste Beantwortungen abgeleiteten und entwickelten Methoden tiefgründiger analysiert worden. Somit ist davon auszugehen, dass sich im Verlauf dieser 40 Jahre innerhalb des Lexikons manche Aussagen und Meinungen geändert haben, was sogar zu Widersprüchen geführt hat. Jedoch wurde regelmäßig versucht, in den späteren Bänden Korrekturen aufzunehmen. Nicht übersehen werden darf, dass sich auch die zeitgeschichtliche und gesellschaftliche Sozialisation der mitarbeitenden Wissenschaftler gewandelt hat, wobei auch ein unterschiedliches Lebensalter eine Rolle spielt. Eine Zeitspanne von 50 Jahren kann sich sogar beim Schreiben der Beiträge ausgewirkt haben. Somit gab und gibt es unterschiedliche Sichtweisen beispielweise auf die hier in den Blick genommenen Jahrhunderte, und daher ist auch meine Auffassung nur eine der möglichen
6 Grönbech 1961; zu Höfler: Beck 2000a.
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1 Zur Ausgangslage
Rekonstruktionen der vergangenen Lebenswelten. Jeder Historiker, und der Archäologe ist Historiker, schafft eine neue Vergangenheit, immer in dem Bestreben, sich trotzdem der vergangenen Gegenwart möglichst korrekt und objektiv anzunähern, aber er ist eingebunden in das Denken der eigenen Zeit, was seine Betrachtung der Vergangenheit beeinflusst, und deshalb wird es immer abweichende Darstellungen auch zu meinen Vorschlägen geben. Doch immerhin bleiben real die – wie gesagt zeitlich und räumlich sicher zu verortenden – archäologischen Quellen; nur – und damit muss wieder relativiert werden – ist jeder Ausgrabungsvorgang selbst ebenfalls schon subjektiv beeinflusst, nicht nur die Deutung der Befunde; und nicht minder sind die so „objektiv“ wirkenden naturwissenschaftlich gewonnenen Fakten durch unsere Zeit und unsere Fragestellungen kontaminiert. Im Jahr 1982 habe ich ein Buch veröffentlicht mit dem Titel: „Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa. Eine Analyse der Auswertungsmethoden des archäologischen Quellenmaterials“.7 Angeregt wurde die Schrift durch die wegweisende Abhandlung des Historikers Reinhard Wenskus „Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes“ aus dem Jahr 1961/1977.8 Die neue Deutung der schriftlichen Überlieferung legte es nahe, parallel dazu die archäologischen Quellen ebenfalls erneut zu betrachten. Das Thema ließ mich nicht los, und später veröffentlichte ich 1994 einen Aufsatz „Archäologie und germanische Sozialgeschichte. Forschungstendenzen in den 1990er Jahren“.9 Die Abschiedsvorlesung am Ende meiner Dienstzeit als Hochschullehrer an der Universität Freiburg im Breisgau im Juni 2006 widmete ich dem Thema „Die Germanen in der Archäologie – eine Bilanz“, die eigentlich schon damals zu einer Publikation hätte führen sollen. Nach weiteren mehr als zehn Jahren versuche ich nun zu zeigen, wie sich der Forschungsstand erweitert hat, und zu prüfen, ob sich Fragestellungen und Ergebnisse daraufhin geändert haben. Das war auch verbunden mit meinem Beitrag (2015) zum Symposium anlässlich des 150. Geburtstages von Rudolf Much (1862–1936),10 dem Kommentator der „Germania“ des Tacitus, zuerst 1937 erschienen, erweitert herausgegeben 1967 mit Beteiligung des Archäologen Herbert Jankuhn.11 Die Fragestellung war, wie kann man zur gesellschaftlichen Geschichte der damaligen Bevölkerung in Germanien Aufschlüsse durch die archäologischen Ausgrabungsbefunde bekommen. Archäologie und Geschichte versuchten parallel zueinander zu neuen Aussagen anhand der vorliegenden Quellen zu gelangen, und eines der nicht bewältigten Themen war die sogenannte ethnische Deutung der archäologischen Quellen. Ein Teil der Forschung war lange Zeit der Meinung – und teilweise ist das auch heute noch so –, die „germanischen“ Stämme und ihre Geschichte, die in der antiken schriftlichen Literatur auf7 Steuer 1982. 8 Wenskus 1961, 2. Aufl. 1977. 9 Steuer 1994a. 10 Reichert 2002. 11 Lange (Hrsg.) 1967; Steuer 2015c.
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geführt und anscheinend auch lokalisiert wurden, mit ihren Siedlungsräumen und Wanderungen in den archäologischen Befunden gespiegelt zu finden. Dass dies aber eigentlich so ohne weiteres gar nicht möglich war und ist, hat Sebastian Brather in mehreren Arbeiten gezeigt, ausführlich in der Monographie aus dem Jahr 2004 „Ethnische Interpretationen in der frühgeschichtlichen Archäologie. Geschichte, Grundlagen und Alternativen“.12 Die vorliegende Schrift greift mein altes Thema von 1982 nach 38 Jahren erneut auf und zeigt, dass und wie sehr sich die Auffassung und die Kenntnisse von der Kulturgeschichte der Bewohner Germaniens verändert und erweitert haben. Die Literaturhinweise werden im Text möglichst kurz gehalten; doch werden vor allem die jüngeren Veröffentlichungen nach meinen Publikationen 1982, 1994, 2006 aufgeführt, denen die neuen Perspektiven entnommen werden und über die man wichtige ältere Veröffentlichungen leicht finden kann. Die Zahl der Literaturhinweise aber ist recht beachtlich – wie am umfangreichen Verzeichnis abzulesen ist –; denn es sind Anregungen für Interessierte, und nicht jede Bibliothek verfügt über ausreichende Schriften, aber durch Mehrfachzitate aus derselben Feder von Autorinnen und Autoren wird der Leser diese oder jene Literatur finden können. Wie schon darauf hingewiesen, spielt das Reallexikon der Germanischen Altertumskunde eine zusammenfassende Rolle mit der jeweils einschlägigen älteren Literatur, weshalb ich sehr häufig die Stichworte im Lexikon zitiere. Außerdem gebe ich ein umfangreiches Literaturverzeichnis bei, gewissermaßen eine Bibliographie, vor allem auch mit den jüngeren Publikationen. Ein kleiner Abschnitt a) bringt grundlegende Werke und der Hauptabschnitt b) Veröffentlichungen zu den archäologischen Quellen und ausgewählt zur Auswertung der schriftlichen Überlieferung. Im Anhang 4 zitiere ich Zeitungsartikel – sofern sie nicht zuvor schon herangezogen werden – aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder aus DIE ZEIT mit Analogien, die von der gegenwärtigen politischen Lage auf Ereignisse der Vergangenheit zurückgreifen, um Verständnis zu gewinnen, wie beispielsweise die „Völkerwanderung“ oder der „Untergang des Römischen Reichs“ heute zu bewerten sind. Einige Monographien und populäre Bücher zu den „Germanen“, die – was die Archäologie betrifft – Sachgüter und Ausgrabungsbefunde meist nur als reine Illustrationen beigeben, sind im Literaturverzeichnis aufgenommen, und darauf wird im Text speziell hingewiesen. Das Buch ist in zwei Ebenen gegliedert, die obere bringt die Darstellung als laufenden Text, die eingeschobene untere Ebene in der Art eines Kataloges die archäologischen Quellengrundlagen in Auswahl. Dabei ähneln sich die Beschreibungen der umfangreichen Befunde von Siedlungen und Gräberfeldern oftmals, was bewusst beabsichtigt ist, weil dadurch Regelerscheinungen sichtbar werden. Die im Buch vorgelegte Gliederung nach Themenkreisen ist sicherlich teilweise willkürlich und subjektiv; auch eine andere Reihung wäre möglich.
12 Brather 2004a.
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Um die von mir formulierten neuen Thesen zur Kultur in Germanien während der ersten Jahrhunderte um und nach Chr. überzeugend zu begründen, habe ich trotzdem durchaus auch ältere Grabungsergebnisse wieder geschildert und die neuen archäologischen Befunde, deutlich zahlreicher, daneben beschrieben. Für das Gesamtbild ist das notwendig. Dabei zeigt sich, dass schon die früher erarbeiteten Ergebnisse archäologischer Forschung erlaubt hätten, meine Thesen zu formulieren, was aber aus den neuen Quellen gewissermaßen zwangsläufig folgt. Die Literatur erscheint auch deshalb so umfangreich, weil viele Aufsätze der verschiedenen Autoren sehr ähnliche Inhalte bringen, von denen deshalb nicht alle zu lesen sind. Aber irgendeinen der Beiträge wird der interessierte Leser finden können. Die zahlreichen Bände zu Tagungen und wissenschaftlichen Kolloquien sowie die Kataloge zu den Ausstellungen zeigen die Menge der neuen archäologischen Ergebnisse und bringen auch trotz kürzerer Texte in den zahlreichen Aufsätzen neue Ergebnisse und Thesen. Meine bibliographische Literaturzusammenstellung ist trotz des Umfangs nur ein mehr oder weniger zufälliger Ausschnitt aus allen Veröffentlichungen zum Thema, bietet aber gewissermaßen einen Blick in die laufenden Forschungen bis heute. Zusätzlich bemerke ich, dass aufgrund der Länge des Manuskript-Textes Redundanten vorkommen, und das aus zwei Gründen. Zum einen brauche ich Argumentationen auch an anderen Orten für neue Aspekte, weshalb ich Beschriebenes wiederhole; zum anderen gehe ich davon aus, dass der gesamte Text nicht nacheinander gelesen wird, wobei dann Wiederholungen auffallen könnten, sondern dass es Zugriffe auf verschiedene Unterkapitel geben wird, die erst durch diese Wiederholungen verständlich werden. Die Forschungslage bessert sich auch ständig deshalb, weil die Zahl der tätigen Archäologinnen und Archäologen wächst, die nicht nur ausgraben, sondern die Ergebnisse auch publizieren. Es liegt also nicht nur an der zunehmenden Bautätigkeit, die Unmengen an Fläche verbraucht, oder an den verbesserten Prospektionsmethoden, die selbstverständlich auch am Zuwachs der Quellen beteiligt sind. Nicht zuletzt der Einsatz der Metalldetektoren hat vom Quantitätssprung zu einer neuen Qualität unserer Erkenntnisse geführt. Bei den Beschreibungen von archäologischen Grabungsbefunden habe ich mit Absicht Ergebnisse aus den wenigen vergangenen Jahren gewählt, um den gegenwärtigen Forschungsstand zu verdeutlichen, auch wenn nicht jeder Befund besonders herausragend ist. Über die zitierten Handbücher und das RGA sind die meisten der älteren zentralen Ergebnisse leicht zu finden und nachzulesen. Meine Darstellung ist außerdem doppelt zu lesen, einerseits als Schilderung der von der Forschung erarbeiteten Vorstellungen über die Lebensverhältnisse in Germanien in den ersten Jahrhunderten vor und um Chr. Geb. und andererseits als eine Geschichte der archäologischen Forschung der letzten Jahrzehnte. Bewusst hingewiesen wird auch auf Kontinuitäten im Sprachgebrauch der Wissenschaft, auf Begriffe, die eigentlich längst überholt sind (wie beispielsweise Germania libera), und auf die einseitige Blickrichtung vom Rom aus (wie beispielsweise auf das Barbaricum). Aus der einseitigen Sicht vom Römischen Reich her erleichtern Formulierungen
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(beispielsweise wie Vorrömische Eisenzeit über Römische Kaiserzeit bis zur [frühen] Völkerwanderungszeit), wenn man Zeitabschnitte im fernen Mittel- und Osteuropa meint, die Erörterung. Diese Wortwahl fällt in den Literaturtiteln der zitierten Beiträge auf. Daher wird von mir dazu auch eine plausible wissenschaftliche Beschreibung gegeben. Drei Zugriffe werden in diesem Buch thematisiert, und das ist die methodische Ausgangsbasis: Zum einen sollen die Vorurteile antiker Autoren widerlegt werden, zum zweiten wird versucht, den Raum Germanien als Einheit zu beschreiben, und drittens geschieht das fast ausschließlich mit Hilfe der Archäologie. Es gibt durchaus Bücher, die auflisten, welche populären Irrtümer über die Germanen bestehen, und welche Mythen über diese Leute weitergetragen werden.13 Doch der methodische Ansatz ist dabei meist ein anderer, zumal regelmäßig schriftliche Aussagen der antiken Quellen und archäologische Befunde vermischt betrachtet und ausgewertet werden. Auf den Irrweg der Bewertung von Germanen als Mitte der Welt und der Überinterpretation der Forschungsergebnisse aus der Zeit des Nationalsozialismus und des Dritten Reichs werde ich bewusst nicht näher eingehen. Dazu gibt es einschlägige Literatur, nicht nur den Band zur Ausstellung 2013 im Focke-Museum Bremen „Graben für Germanien – Archäologie unterm Hakenkreuz“.14 Eine ausführliche Rezension zu diesem Katalog hat Ulrich Veit vorgelegt: „Vom schwierigen Umgang mit der Vorgeschichtsforschung im Dritten Reich“,15 eine weitere neben mancherlei anderen Besprechungen hat Miriam Sénécheau publiziert.16 Auch in Dortmund gab es eine ähnliche Ausstellung 2015.17 Jetzt 2018/2019 läuft im Gustav-Lübcke- Museum in Hamm wiederum eine Ausstellung „Mythos Germanien“, und der Beitrag ist mit dem Zitat überschrieben: „Schließlich sind damals alle blond gewesen“.18 Es geht um die Darstellung der NS-ideologisch eingefärbten Vor- und Frühgeschichte, in erster Linie der Germanen. Hingewiesen wird in diesem Katalog auf die damals sehr erfolgreiche Wanderausstellung 1937„Lebendige Vorzeit“, zusammengebracht vom Reichsbund für Deutsche Vorgeschichte unter Hans Reinerth, wobei Nachwirkungen bis heute immer wieder auftauchen, und zwar zu Ansichten, die schon im Kaiserreich des späten 19. Jahrhunderts entwickelt worden waren. Man begegnet auch heute noch Bildtafeln von W. Petersen zur „Germanischen Tracht der Eisenzeit“. Die anachronistische Gleichsetzung von Germanen und Deutschen und die verfehlte Hochstilisierung des Arminius zum „ersten deutschen Nationalhelden“ ist ein weiteres Thema,19 doch verfolge ich diesen Themenkreis in diesem Buch ebenfalls nicht weiter.20
13 Brock 2014. 14 Graben für Germanien 2013. 15 Veit 2011. 16 M. Sénécheau, H-Soz-u-Kult vom 20.07.2013. 17 E. Beck, Timm (Hrsg.) 2015. 18 Birker 2018, 293: W. Petersen, Germanische Tracht der Eisenzeit. 19 Bleckmann 2009, dazu Rez. P. Kehne 2010, 3. 20 Dazu ausführlich v. See 1970; 1994; auch Sievertsen 2013.
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Auf diese Vorgeschichte der Frühgeschichtlichen Archäologie geht nun auch der Ausstellungskatalog „Saxones“ aus dem Jahr 2019 ein.21 O. Zimmermann weist auf die völkische Ideologie und deren Germanenbild hin, berichtet über Gustav Kossinna (1858–1931) und sein Jahrzehnte wirkendes Zitat: Scharf umgrenzte archäologische Kulturprovinzen decken sich zu allen Zeiten mit ganz bestimmten Völkern und Völkerstämmen, das heute immer noch nicht überall überwunden ist als ein methodisch verfehlter Weg.
R. Fliermann betont:22 Aus der Zeit vor dem 9. Jh. existiert kein einziger Text aus der Hand von jemand, der sich selbst als Sachse betrachtet. Das bedeutet: Für die sieben Jahrhunderte zuvor sehen wir Sachsen ausschließlich durch die Augen einer Reihe von externen Beobachtern – Römer, Franken oder Angelsachsen –, deren Sichtweise zwangsläufig von ihren Vorurteilen, Ängsten und literarischen Programmen geprägt war […]. Was eine Identität ausmacht, ist stets eine Frage der Auslegung und der Ansprüche, die an sie gestellt werden. Identitäten werden durch einen fortwährenden sozialen Diskurs erschaffen, unter der Beteiligung vieler und unter Verwendung einer ganzen Reihe körperlicher, sprachlicher und symbolischer Ausdrucksformen. Dazu gehört bis heute: Schreiben! […] Sachsen waren für sie (die römischen Schriftsteller) vor allem ein seefahrendes Volk, das unvorhersehbare Überfälle auf die Küsten Galliens und Britanniens durchführte und aus diesem Grund sehr gefährlich war […]. Im späten 4. Jh. war der Name Saxones ein Sammelbegriff, den die Römer verwendeten, um alle möglichen Gruppen zu bezeichnen, die als Piraten auf der Nordsee bzw. dem Ärmelkanal unterwegs waren, unabhängig davon, woher sie kamen und welchen Ethnien sie angehört haben mögen.
Später gab es sächsische Söldner in römischen und in fränkischen Diensten. Auf die Namengebung geht ebenfalls Babette Ludowici ein:23 Die früheste bekannte Nennung von Saxones könnte aus dem 2. Jahrhundert stammen. Ptolemäus hat ihn in seinem geographischen Handbuch, griechisch geschrieben, genannt, ein Text, der aber erst 1100 Jahre später als Abschrift in Latein erhalten ist. Manche meinen sogar, dass es sich dabei um eine Verschreibung gehandelt haben könnte; im südlichen SchleswigHolstein sollen nach Ptolemäus die Aviones gelebt haben. Saxones sind einerseits Feinde der Römer, andererseits Angehörige der römischen Armee, und als Saxones werden immer öfter auch Leute bezeichnet, die auf der britischen Hauptinsel zu Hause sind […]. Es gibt keine schriftlichen Quellen, die belegen, dass sich schon die ‚Altsachsen‘ selbst als Sachsen betrachtet haben, aber der Begriff hält sich hartnäckig.24
21 O. Zimmermann 2019a, 20 Zitat; Ludowici 2019b. 22 Fliermann 2019, 26 f. Zitate. 23 Ludowici 2019a, 33 ff., 34 Zitat nach Mischa Meier, weitere Zitate 35, 39, wie in Klammern angegeben. 24 Zur früheren Ansicht über „Altsachsen“ vgl. Capelle 1998; Springer 2004; Fliermann 2017.
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Diese Situation stützt B. Ludowici mit einem Zitat von Mischa Meier: Völker sind höchst instabile Gebilde, die sich permanent verändern, vorwiegend durch politische Klammern bestimmt werden und deren Zusammenhalt auf komplexen Identitätsbildungsprozessen beruht. Das war in der Antike nicht anders. (S. 34)
Diese Definition und Erklärung kommt in meiner Darstellung sehr häufig ebenfalls vor (vgl. S. 133), ebenso die nachfolgenden Zitate des Jahres 2019, die ich erst nach weitgehendem Abschluss meines Manuskripts nun doch hier einfügen will: Die moderne Archäologie sucht in den Verbreitungsmustern archäologischer Funde nicht mehr nach den Siedlungsgebieten von ‚Völkern‘. Sie erkundet heute Ausdrucksformen der Identität Einzelner oder von Gruppen und deren Abhängigkeit von Geschlecht, Alter oder gesellschaftlicher Stellung und damit möglicher Handlungsspielräume und Mobilitäten […]. Im Spiegel von Gräbern, Siedlungen und Schatzfunden aus dem 1. bis 10. Jh. erscheint der Raum zwischen Nordsee und Harz heute vielmehr als ein Land der Regionen mit einer hochmobilen und europaweit vernetzten Elite, an deren Spitze Könige stehen […].25 Wir sehen sehr deutlich, dass die Entwicklung im 1.und 2. Jh. von der Haltung der Oberschicht zum Römischen Imperium beeinflusst wurde […]. Wohlhabende Familien erscheinen jetzt als regelrecht romanisiert, aber auch als aktive Teilhaber eines weitgespannten germanischen Elitenetzwerkes […]. Im Elbe-WeserDreieck etablierten sie in der 1. H. des 5. Jh.s einen Herrschaftskomplex, an dessen Spitze ein König gestanden haben dürfte. Sein Einfluss reichte bis zur mittleren Weser. (S. 35)
Beachtenswert ist das letzte Zitat dieses Beitrags. Die Archäologen bzw. die archäologischen Funde und Befunde zeigen eine befremdlich wirkende Welt, aber zugleich erkennen wir, dass wir uns täuschen, wenn wir denken, diese Welt damals hätte ganz anders funktioniert als unsere heutige (Kelvin Wilson im Katalog). (S. 39)
Die in meinem Buch behandelten ersten vier bis fünf Jahrhunderte um und nach Chr. zählen nach dem bisherigen wissenschaftlichen Sprachgebrauch zur „Frühgeschichtlichen Archäologie“. Die älteren Epochen bilden die Urgeschichtliche Archäologie. Der Schnitt wird definiert durch das Aufkommen von schriftlicher Überlieferung neben den archäologischen Quellen. „Frühgeschichtliche Archäologie“ arbeitet daher mit beiden Quellenarten interdisziplinär. Als „Historische Archäologie“, wie eine jüngere Bezeichnung lautet, werden Sachen und Texte miteinander kombiniert.26 Doch betone ich noch einmal mit allem Nachdruck, dass ich gerade nicht diesen interdisziplinären Ansatz wähle, um mich bewusst zu lösen von der vielfach herangezogenen schriftlichen Überlieferung der Antike, weil nur dann – so denke ich – neutral und ohne weitere Beeinflussung das archäologische Quellenmaterial zum Sprechen gebracht werden kann und soll.
25 Zu den möglichen Königen in der Frühzeit vgl. J. Nicolay, S. 745. 26 Andrén 1998.
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Außerdem ist es notwendig, die gegenwärtigen Fragestellungen an die Vergangenheit, auch aus der Sicht des Archäologen, neu zu formulieren. Diese sind zu staffeln. Nachfolgend gehe ich auf einige für mich grundsätzlich wichtige Aspekte ein. Dabei kommen Worte und Begriffe vor, die an dieser Stelle noch fremd wirken müssen, aber später ausführlich erläutert werden. Über das Register ist dazu leicht Auskunft zu finden. (1) Zuerst geht es um die Ausgangsfrage, was kann man und sollte man unter „Germanen“ und „Germanien“ verstehen; und präzisiert, was will ich darunter verstehen. (2) Verbunden damit ist die heute ausführlich zur Diskussion gestellte Problematik – wegen des historischen Hintergrunds seit dem 16. und wieder verstärkt seit dem 19. Jahrhundert – der ethnischen Deutung archäologischer Befund- und Fundkomplexe, wie zuvor schon kurz angesprochen. Damit ist gemeint, dass archäologisch beschreibbare Quellengruppierungen – in Raum und Zeit fixierbar – mit den in der antiken schriftlichen Überlieferung genannten Stämmen gleichgesetzt werden könnten. Dabei geht ein größerer Anteil der Forscher davon aus, dass dies eigentlich keine zentrale oder besonders wichtige Frage zwischen Archäologie und Geschichte ist, sondern höchstens ein kleiner Aspekt unter dem breiten Fächer anderer Erklärungsmöglichkeiten, derartige Quellenbestände zu deuten, nicht nur in der einlinigen Weise, die in der historischen Situation des 19. Jahrhunderts wurzelt. Es war die Zeit der entstehenden Nationalstaaten, vor allem Deutschlands; man suchte Rechtfertigungen für damals gegenwärtiges Handeln. Die Fragestellungen wenden sich heute eher wirtschaftsgeschichtlichen und sozialgeschichtlichen Feldern zu und allgemein der Suche nach dem Verstehen früherer Lebenswelten, verbunden mit der Organisation der Landschaften durch ihre Bewohner.27 (3) Die archäologischen Quellen sind – was entscheidend ist – zeitlich und örtlich zu fixieren, zumal die neuen Methoden der Datierung und der Verfahren naturwissenschaftlicher Analysen das zu präzisieren erlauben. Der Raum und damit die Landschaft sind in den Blick zu nehmen. Auch die frühere Bevölkerung hat ihre Umwelt gestaltet, verändert und ihren Bedürfnissen angepasst, d. h. „konstruiert“, was die Landschaftsarchäologie aufzudecken versucht. Die früheren Epochen haben Spuren in der Landschaft hinterlassen, da sie diese gestaltet haben, und diese Spuren lassen sich noch im Heutigen auffinden. Die gegenwärtigen Bewohner müssen damit leben, können die Spuren beseitigen oder ihre Bedeutung erahnen und diese zu erhalten versuchen. (4) Der Raum ist zudem sehr unterschiedlich wahrgenommen worden. Es gibt die unmittelbare Nachbarschaft, dann die geographisch bestimmte Landschaft als Region, und weitergreifend größere Bereiche wie Mittel-, Ost- oder Nord-
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europa. Vom Lokalen über die Mikroregion und weiter über die Mesoregion zur Makroregion geht die wissenschaftliche Betrachtung und Bewertung der archäologischen Funde.28 Man spricht auch von der Reihung Gehöft, Siedlung, Siedlungskammer als jeweils wirtschaftlichen, sozialen und politischen Räumen. Es wird sich zudem zeigen, dass der Aktionsradius der damaligen Bevölkerung, vor allem der sogenannten Elite, sehr weitreichend war und teils den gesamten hier behandelten Raum überspannte. Die archäologische Forschung arbeitet seit jeher mit der Kartierung der Funde und Befunde und das heute bei steigender Verdichtung auf den Kartenbildern, als Spiegel des Forschungsstandes. Was sagen diese Kartenbilder, die Verteilungsmuster, die Verbreitungskarten aus?29 Sie sind zuerst mit dem Umfeld zu kontrastieren, d. h. mit der physischen Geographie. Die über archäologische Quellen erfassbaren Verbreitungsmuster sind im ersten Zugriff Kommunikationsräume, wobei Kommunikation die unterschiedlichsten Vorgänge umfasst, z. B. familiäre Kontakte wie Heiraten über Distanzen, Handelsbeziehungen, Kriege, Wanderungen und Umsiedlungen, Ausweitungen der Siedlungsgebiete, Akkulturation von Nachbarräumen. Für welche der Erklärungen man sich entscheidet, ist über das Bündel von Indizien, die in den Quellen abzulesen sind, zu erarbeiten. Der archäologische Raum ist auch ein politischer Raum, was neue Blicke auf Kartierungen eröffnet.30 Auf die zwei Hauptquellenbereiche der Archäologie, nämlich Siedlungen und Bestattungsplätze, fokussiert, sind deren räumliches und inhaltliches Verhältnis zueinander zu erfassen. Wiederum zwei Basisaspekte stehen im Vordergrund der Beschreibungsversuche, nämlich die Lageposition einerseits und die zeitliche Dauer andererseits. Ausführlich wird erläutert werden, dass die Siedlungen mit speziellen Ausnahmen nicht ortskonstant waren, sondern in Phasen von Generationslänge bzw. einiger Jahrzehnte innerhalb der umliegenden Gemarkung verlegt worden sind, d. h. man kann den Stellenwert einer Siedlung eigentlich erst dann einschätzen, wenn tatsächlich in einer Kleinlandschaft alle diese Phasen auch entdeckt und möglichst auch archäologisch erforscht worden sind. Bei den Gräberfeldern erhebt sich eine ähnliche Frage: Wo hat eine Dorfgemeinschaft bestattet, auf einem gemeinsamen Gräberfeld oder auf verschiedenen Friedhöfen bzw. umgekehrt, haben die Bewohner mehrerer Siedlungen auf einem gemeinsamen Gräberfeld bestattet oder jede Siedlung auf einem eigenen. Offensichtlich ist also, dass meist noch immer nicht ausreichend ausgegraben worden ist, dass immer Quellenbereiche fehlen, dass
28 Brather 2017. 29 Steuer 2006e; Günzel, Mersch (Hrsg.) 2014, 390–396, Kartierung; 373–378 Archäologie allg. 30 Grunwald 2016; zu antiken Massendeportationen in der Schriftüberlieferung vgl. Kehne 2009d.
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aber die Zusammenschau der Forschungsergebnisse in mehreren vergleichbaren Landschaften Modelle zu entwickeln erlauben. (7) Ein vorwegzunehmendes Ergebnis ist, dass einerseits die Variationsbreite der Möglichkeiten bei der Dauer des Wohnens in Siedlungen und bei der Belegung von Gräberfeldern, also die Individualität der Plätze, erheblich ist, und dass andererseits in der Mehrheit der Befunde eine erstaunliche Kontinuität von der Vorrömischen Eisenzeit bis über die Völkerwanderungszeit hinweg zum Mittelalter hin gegeben ist. Damit gehen die Entwicklungen über die archäologischen Zeitstufen-Einteilungen und über die politischen Ereignisse hinweg. Das gilt sogar mehrfach für die inzwischen nachgewiesenen Kultplätze. Die damaligen Bewohner ahnten das und wussten sich mit ihren „angenommenen“ Ahnen verbunden. Nicht ohne Grund lehnte man sich mit der Siedlung oder auch mit dem Bestattungsplatz an ältere große Grabhügel an. (8) Über diese räumlichen und zeitlichen Kontinuitäten hinaus sind zugleich eine kontinuierliche Zunahme der Bevölkerungsdichte und der wirtschaftlichen Kraft der bäuerlichen Betriebe zu registrieren. Die Häuser wurden länger und breiter, der Viehstapel nahm zu, und die Tiere sind größer gezüchtet worden und lieferten somit beispielsweise mehr Fleisch. Es bleibt festzuhalten, dass in Germanien (und auch andernorts) das Wohn-Stall-Haus, in dem Mensch und Tier unter einem Dach lebten, auch über Jahrhunderte und gar bis in die Neuzeit, im Wesentlichen gleich geblieben ist. (9) Wiederum unabhängig von dieser so häufigen Kontinuität bestand die Gesellschaft in Germanien – hier noch vereinfacht gesagt – aus zwei grundsätzlich verschiedenen Gruppierungen, wobei die eine aus der anderen hervorgegangen ist: Das sind einerseits die bäuerlich siedelnden und wirtschaftenden Familien in den Dörfern und andererseits die mobilen Kriegerverbände, die sich aus der „sesshaften“ Bevölkerung herausgelöst haben und von denen die antike Schriftüberlieferung am meisten berichtet (vgl. S. 673 ff.). (10) Ein wissenschaftlich vielfach diskutierter Begriff wird auch für den Themenbereich, der in diesem Buch angesprochen wird, berücksichtigt werden müssen. Es geht um Identität und Identitäten. Der Direktor des Deutschen Historischen Museums in Berlin hat 2017 auf die Vielschichtigkeit und damit auch auf die oft inhaltsleere Verwendung des Wortes hingewiesen (vgl. S. 64).31 Die Verhältnisse in Germanien während der ersten Jahrhunderte um und nach Chr. Geb. waren nicht unterentwickelt – wie aus römischer Sicht im Vergleich mit dem Stand der eigenen Zivilisation behauptet –, sondern kulturell einfach anders. Das ist nur zu verstehen, wenn man von einer Innenansicht ausgeht, die die eigenständige
31 J. Kaube, A. Kilb, Ein Gespräch mit Raphael Gross, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. April 2017.
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damalige Welt zu erkennen erlaubt. Das geographische Netzwerk der Akteure, nämlich die Bevölkerungen Germaniens, wird im Wesentlichen also nur durch die Archäologie fassbar, auch wenn Sprach- und Dialektkarten Einblicke in Verkehrsbeziehungen und Netzwerke geben können. Einsichtig ist, dass nun sogar die schriftliche Überlieferung durch die jüngsten archäologischen Ausgrabungsbefunde neu betrachtet werden muss. Es ist erwähnenswert, dass tatsächlich erst in den letzten Jahrzehnten bedeutende Entdeckungen erfolgt sind. Archäologische Forschung ist zwar ein kontinuierlicher Prozess, aber neue Funde und Ausgrabungsergebnisse verschieben und erweitern sprunghaft die Perspektiven. Das Varusschlachtfeld, die clades Variana, aus dem Jahr 9 n. Chr. – nach der antiken Überlieferung – wurde wahrscheinlich in Kalkriese bei Osnabrück in den späten 1980er Jahren entdeckt.32 Es folgte das „römische Lager“ bei Hedemünden33 südlich von Göttingen, und dann wurde die römische „Stadtgründung“ in Germanien bei Waldgirmes34 ab 1993 ausgegraben, und schließlich kam das „Schlachtfeld“ aus dem Jahr 235 n. Chr., so die schriftliche Überlieferung, beim Harzhorn35 in Niedersachsen 2008 hinzu. Das „Königsgrab“ von Mušov in Mähren wurde 1988 bekannt,36 das Prunkgrab Gommern in Sachsen-Anhalt 1990,37 und der spätantike Schatzfund von Rülzheim gelangte 2014 in die Hand der Wissenschaft.38 Auch das römische Marschlager Marktbreit am Main ist erst 1985 aus der Luft erkannt worden.39 Die großen Kriegsausrüstungsopferplätze in Jütland und Schleswig-Holstein sind nach den frühen Entdeckungen und Forschungen unter Conrad Engelhardt im 19. Jahrhundert erneut und gründlicher in den letzten wenigen Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts weiter ausgegraben worden, und ebenso folgten jetzt die Auswertungen der alten und jüngsten Ausgrabungsergebnisse, was zu ganz neuen Deutungen geführt hat.40 Einen besonderen Stellenwert nehmen die beiden großen Flussfunde aus dem Rhein ein, der von Hagenbach (geborgen 1961 bis 1973)41 und der von Neupotz (geborgen 1967 bis 1983), da in ihnen mehr an römischen Sachgütern zusammen geborgen worden sind, als sonst in einer ganzen Landschaft dokumentiert werden kann.42 In diesen letzten Jahrzehnten kam es auch zu den flächenmäßig großen Siedlungsgrabungen, die später noch näher vorgestellt werden. Nach der Entdeckung folgten die Auswertungen, oft verbunden mit einer Tagung, 32 Derks 2015. 33 Grote 2012. 34 Becker, Rasbach 2006; 2015. 35 Pöppelmann, Deppmeyer, Steinmetz (Hrsg.) 2013. 36 Peška, Tejral 2002. 37 M. Becker 1998. 38 v. Berg u. a. 2014. 39 Wamers 1991. 40 Rau, v. Carnap-Bornheim 2012. 41 Bernhard 1990; Steuer 1999b. 42 E. Künzl 1993; S. Künzl 2002a.
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einer Publikation der gehaltenen Vorträge und dann einer Ausstellung, die oft nur wenige Jahre später hinzukam. Die Archäologie hat zu den Jahrhunderten um und nach Chr. in den letzten Jahrzehnten also eine beachtliche Erweiterung unseres Wissens zur damaligen Lebensrealität geliefert, was kaum zu überschätzen ist. Aber nicht zu allen Bereichen und Vorgängen kann die archäologische Forschung prinzipiell etwas beitragen. Das sind zuerst rechtliche Verhältnisse, die sich zwar hinter archäologischen Befunden verbergen können, zu denen es aber kaum einen methodischen Zugang geben kann, weil das auf einer anderen Ebene des Lebens liegt. Das nächste sind kriegerische Ereignisse, die archäologisch zu beschreiben und nachzuweisen regelmäßig versucht wird, was aber zum Scheitern verurteilt ist, weil solche kurzfristigen Vorgänge einerseits aus chronologischen Gründen – so genau kann nicht datiert werden – und andererseits wegen der Art der Quellen, da Bestattungssitten, Siedlungsstrukturen und Hortfunde größere Zeitspannen umfassen. Ausnahmen sind dabei die Heeresausrüstungsopfer im südlichen Ostseegebiet und einige Schlachtfelder, sofern diese tatsächlich als solche zu beweisen sind. Die römischen Feldzüge ins Innere Germaniens und auch die Markomannenkriege sind anhand von Gräberfeldern und Siedlungen archäologisch nicht sicher zu erkennen. Ausnahmen sind dabei die römischen Militäranlagen und auch eine stadtartige Siedlung wie Waldgirmes mit den Relikten aus der Plünderung in diesem Ort (vgl. dazu unten S. 1090). Trotz der in die Hunderte gehenden Siedlungsgrabungen sind niedergebrannte Dörfer, die direkt auf kriegerische Ereignisse zurückgehen könnten, mit ganz vereinzelten Ausnahmen nicht belegt. Allgemeine Schadensfeuer sind jedoch durchaus häufiger gewesen. Komplexer ist es bei den archäologischen Nachweismöglichkeiten von Wanderungen, allgemein von Migrationen, größerer Gruppen von Menschen. Zu unterscheiden sind dabei Umsiedlungen von Großgruppen, wie sie in der schriftlichen Überlieferung der Antike bei Caesar und anderen Autoren beschrieben werden, die als kurzfristige Ereignisse zu werten sein müssten, von demgegenüber langdauernden Bevölkerungsverschiebungen. Umsiedlungen wie die der Ubier aus dem rechtsrheinischen ins linksrheinische Gebiet um Köln herum müssten eigentlich mit einer Siedlungsentleerung im Ausgangsgebiet und einer neuen Verdichtung in einem ja zuvor nicht bevölkerungsfreien Gebiet zu erkennen sein. Das ist aber nicht der Fall. Das liegt auch daran, dass – wieder ein anderes methodisches Problem – die kulturelle Eigenheit einer solchen Gruppe im archäologischen Fundbild nicht zu beschreiben ist, weil sich das nicht im Hausbau, in der Ausformung der Sachgüter wie Keramik oder in der kultisch-religiös bedingten Bestattungssitte abzeichnet. Als Stichwort genügt wieder „ethnische Deutung“ archäologischer Gruppierungen, die in der Regel nicht möglich ist (vgl. S. 58 ff.). Andererseits sind Wanderbewegungen wie die von Jüten, Angeln und Sachsen, also von größeren Bevölkerungsgruppen von Norddeutschland nach England, die Jahrzehnte gedauert haben, erkennbar anhand von Sachgütern diesseits und jenseits der Nordsee. Ähnlich können die Herkunftsräume der Germanen beschrieben werden, die sich in Südwestdeutschland im ehemaligen Dekumatland, den von Rom geräumten
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Gebieten rechts des Rheins, niedergelassen haben und hier zur Großgruppe der Alamannen wurden, nämlich einerseits Norddeutschland von Mecklenburg und Brandenburg bis Thüringen und Sachsen und andererseits Böhmen, ebenfalls anhand von Sachgütern. Doch diese Einwanderungen zogen sich über viele Jahrzehnte hin. Die Kartierungen bilden jeweils diese Herkunfts- und neuen Gebiete ab, oft einschließlich der Wanderungswege, zeigen aber eigentlich nicht Mobilität, sondern Zustände, bestehende Beziehungen zwischen diesen Räumen (vgl. S. 65 ff., 696 ff. und 1158 ff.). Kontinuierliche Ausdehnungen, Ausstreuungen und Verlagerungen von sogenannten kennzeichnenden Sitten und Sachen von archäologischen Kulturen, wie beispielsweise der sogenannten Przeworsk-Kultur, sollen – so behauptet es die archäologische Forschung oftmals – Mobilität und Wanderungen widerspiegeln. Zuerst einmal sind das Ver- und Ausbreitungen von eben archäologisch fassbaren Grabsitten und den Gegenständen in den Bestattungen. Das können Übernahmen von Sitten, Akkulturationen sein, bei den Sachen die Verteilung durch Handel, aber auch die Aus- oder Wegwanderung von einzelnen Gruppen der Bevölkerung, wobei Siedlungsverdünnung oder zumindest -veränderung im Ausgangsgebiet belegbar sein müssten und eine Zunahme – wie gesagt – in den neu besiedelten Räumen. Ich habe das im laufenden Text mehrfach als Bewegung innerhalb von Verkehrsverbindungen erklärt, die über Jahrhunderte bestanden und genutzt wurden, und ziehe diese Lösung auch weiterhin vor, weil sie andere Deutungsmuster enthält. Die Ausstrahlung von „Elementen“ aus dem mittleren Polen, dem Gebiet der Przeworsk-Kultur, nach Nordjütland und vor allem über Mitteldeutschland bis ins Rhein-Main-Neckar-Gebiet ist auffällig und wird einzelne wandernde Menschengruppen bezeugen, zumal diese Neusiedler sich oft neben und nahebei der örtlichen Bewohner niedergelassen haben.43 Im Verlauf der Darstellung in diesem Buch gibt es einige längere Katalogteile, so zu Siedlungen und zu reich mit Beigaben ausgestatteten Gräbern, mit denen ich zeigen will, auf welch breite Basis sich die heutigen Schilderungen stützen können; denn die archäologischen Quellen haben einen außerordentlich breiten Umfang angenommen, und das vor allem tatsächlich erst in den letzten Jahren. Der Leser kann die Katalogteile auch stichwortartig zur Kenntnis nehmen.
43 Vgl. jetzt allg. Beiträge in Meller, Daim, Krause, Risch (Hrsg.) 2017.
2 Germanien aus der Sicht der Germanen 2.1 Die Themen dieses Buches Die Zahl der Bücher über die Germanen übersteigt fast die Zahl der Krieger, die einst gegen die drei Legionen des Varus im Jahr 9 n. Chr. gekämpft haben. Die Frage nach dem Sinn eines weiteren Germanenbuchs beschäftigte schon Herwig Wolfram 1994, vor 25 Jahren, als er in der Reihe „wissen“ des Verlages C. H. Beck selbst ein weiteres Büchlein „Die Germanen“ vorlegte,44 das bis heute immerhin in mehr als zehn Auflagen erschienen ist; und er ließ sogar noch 2008 eine weitere Schrift in einer zweiten Reihe des Verlages folgen mit dem Titel „Die 101 wichtigsten Fragen. Germanen“.45 Da jedoch in diesen Publikationen jeweils nur einige Aspekte zur Geschichte und Lebensweise der Germanen geschildert werden konnten, und zwar von einem Historiker mit nur sehr randlicher Berücksichtigung der Archäologie, gibt es in der Reihe „wissen“ weitere Bücher zum Thema Germanen, so 2004 von Rudolf Simek „Götter und Kulte der Germanen“46 oder von Reinhard Wolters „Die Römer in Germanien“ im Jahr 2000.47 Wenn nun doch noch ein weiteres Buch neben den vielen anderen vorgelegt wird, dann ist das näher zu begründen. Der Autor dieses Buches ist Archäologe, und er hat sich regelmäßig beim Lesen der Bücher zur Kultur und Ereignisgeschichte der „Germanen“ gewundert, dass die Ergebnisse der archäologischen Forschungen mit ihren Ausgrabungen immer nur ganz am Rande, gewissermaßen als Kommentar oder oft nur als reine Illustration zur Schriftüberlieferung berücksichtigt werden. Doch sollte man nicht ungerecht sein. Inzwischen haben Archäologen und andere begonnen, den Alltag der Germanen anhand der archäologischen Quellen zu bewerten.48 Ob das nun im Nachgang zum Varus-Jubiläum 2009 oder zur Entdeckung des Befundes am Harzhorn geschieht, immer bleibt es bei der Kombination von Schriftüberlieferung – römisch konnotiert – und archäologischen Quellen, nicht um eine von den antiken Quellen losgelöste Bewertung der Ausgrabungsbefunde. Die Zugriffe ähneln zwar dem meinigen Ansatz, und das zeigt wiederum, wie sehr ein Zeitgeist Fragestellungen erzeugt. Als es noch keine reguläre Ausgrabungsarchäologie in Mitteleuropa gab, entstand das Bild von den Germanen und den Lebensverhältnissen in Germanien ausschließlich anhand der antiken schriftlichen Überlieferung, also von der Außensicht her,
44 Wolfram 1995, 9. Aufl. 2009; 2010, 15 spricht er vom „gigantischen Literaturberg“ zu Germanen und dem Germanenbegriff; vgl. Zerjadtke 2019, 19 Anm. 6. 45 Wolfram 2008; vgl. auch Wolfram 1990 und wieder 2018. 46 Simek 2004; aktualisiert 2014. 47 Wolters 2000, 6. Aufl. 2011. 48 Ebel-Zepezauer 2009; Pöppelmann u. a. (Hrsg.) 2013; Burmeister 2017a. https://doi.org/10.1515/9783110702675-002
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vor allem aus der Blickrichtung der römischen Historiker. Damals bildeten sich die Vorurteile über die Verhältnisse in Germanien, die bis heute fortwirken. Jetzt beginnt sich die Sicht zu drehen; denn inzwischen gibt es wesentlich mehr und ständig zunehmend archäologische Quellen, und statt die Aussagen der Schriftquellen durch archäologische Befunde zu illustrieren, erläutern jetzt die Ergebnisse der archäologischen Ausgrabungen und Forschungen die Lebensverhältnisse der Bevölkerung in Germanien, die nur dann und wann mit einigen Angaben aus der schriftlichen Überlieferung illustriert werden. Deshalb ist erstes Ziel dieses Buches, die Blickrichtung auf die „Germanen“ von den schriftlichen Quellen abzuwenden und zu versuchen, die Lebenswelten der „Germanen“ überwiegend von den archäologischen Quellen aus zu schildern, als „Archäologie der Germanen“ oder „Archäologie und Germanen“ oder auch „Archäologie in Germanien“. Da die Germanen selbst (fast) keine schriftlichen Nachrichten hinterlassen haben (bis auf die Runenüberlieferung), können diese sich nur durch ihre archäologisch erschlossenen Hinterlassenschaften indirekt äußern, die hier befragt werden sollen. Nur umgekehrt könnten dann und wann Aussagen der schriftlichen Überlieferung zur Ergänzung der archäologischen Funde und Befunde als Ausnahme herangezogen werden. Das zweite Ziel der Darstellung ist, die zahlreichen Vorurteile und Topoi, die seit dem Altertum und zumeist bis heute mit den „Germanen“ und der Landschaft „Germanien“ verbunden sind, zum größten Teil aufzulösen und die Gründe für diese Klischee-Vorstellungen zu beschreiben. Man kann sich wundern, wie zäh sich die „Erzählungen“ über die „Germanen“ von der Antike über das 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart gehalten haben, obgleich die Fachforschung und die Methodendiskussionen längst ein anderes Bild zu beschreiben erlaubten und forderten. Die antiken Quellen sprechen von Germania magna, um die geographische Weite des Landes zu beschreiben, eine von der römischen Seite geprägte Bezeichnung. Niemals heißt es Germania libera.49 Die Bezeichnung Germania libera entstand aus der politischen Situation des 19. Jahrhunderts, als es um die Bildung der modernen Nationalstaaten ging und um den Freiheitsgedanken als Absetzung – vielleicht schon zur Zeit des Humanismus – gegen das päpstliche Rom und dann modern gegen Napoleon und die Restauration.50 Das Wort des Tacitus, Arminius sei ohne Zweifel der liberator Germaniae, mag die Begründung dafür gewesen sein (Annalen II, 88, 2). Römer haben aber im Prinzip nicht von einem „freien Germanien“ sprechen wollen, da sie gern daraus Provinzen des Imperiums gemacht hätten. Aber wie sehr sich diese politisierende und zugleich wertende Benennung im allgemeinen bürgerlichen Bewusstsein bis heute festgesetzt hat, bezeugt schon ein Blick in die zeitgenössischen wissenschaftlichen Publikationen bis in die Gegenwart, in denen
49 Alföldi 1997; jetzt auch Adler 2018. 50 Neumaier 1997; jetzt auch Mischa Meier 2020, 309 und 1173 Anm. 1.
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die Benennung Germania libera ohne weiteres Nachdenken darüber verwendet wird. Einerseits fehlen jegliche Überlegungen, was denn eine Kategorie „frei“ in diesem Zusammenhang bedeuten könnte, und andererseits wird mit der Verwendung wiederum ausgedrückt, dass man die Verhältnisse in Germanien nur aus dem Blick der antiken Berichterstatter beschreibt, mit der bewusst oder unbewusst relativierenden Bewertung der Lebensverhältnisse und gesellschaftlichen Ordnungen gegenüber der „höheren“ Zivilisation Rom. Und gegen diese Grundeinstellung möchte ich mit meinem Buch anhand der archäologischen Fakten argumentieren. Somit ergänze ich doch noch einmal näher diese Diskussion Germania magna und Germania libera. Germania libera wird, so M.-R. Alföldi 1997, vor allem von Archäologen benutzt. Doch noch 2019 spricht der Althistoriker Werner Eck von Germania libera nach der Niederlage des Varus und dem Verlassen des Ortes Waldgirmes (vgl. S. 1090), weil Germanien damals wieder frei war von römischer Besatzung.51 Es gibt Kontinuitäten in der Verwendung des Begriffs bis heute, und er wird in den Literaturtiteln der Beiträge, von der Vorrömischen Eisenzeit über die Römische Kaiserzeit bis in die (frühe) Völkerwanderungszeit und manchmal noch weiter, überaus häufig verwendet. In den antiken Quellen heißt es immer Germania magna, Caesar spricht von Germani Cisoder Transrhenani. Dio Cassius (53,12, 6) schreibt: Denn einige von den Kelten, die wir Germanen nennen, haben das ganze belgische Gebiet dem Rhein entlang in Besitz genommen und seine Bezeichnung als Germania veranlaßt […]52
Ptolemaios spricht von Megale Germania, von Großgermanien. Am meisten wird, wie zitiert, Tacitus’ Aussage übernommen und daraus dann aus liberator kurzschlüssig Germania libera abgeleitet. Libertas heißt aber mindestens in der frühen Kaiserzeit nicht nur ‚Freiheit‘, sondern auch ‚Befreiung‘ von etwas Drückendem, von Steuern und Zöllen. Der Aufstand des Arminius wendete sich gerade gegen diese Gefahr, im Rahmen einer römischen Provinz dann Steuern und sonstige Abgaben leisten zu müssen. Der Begriff Germania libera im allgemeinen Sprachgebrauch des Bildungsbürgertums erwächst aus dem deutschen Vormärz, erläutert H. Neumaier, ist also ein geistiges Kind des 19. Jahrhunderts, von dem sich auch die archäologische Wissenschaft – wie bei manchen anderen Vorurteilen – trotz aller Forschungen bis heute nicht gelöst hat. Als Strömung des romantischen Nationalismus und als Reflex auf die Napoleonische Unterjochung gewann die Formulierung Germania libera ihre zeitgenössische politische Bedeutung. Auch in den skandinavischen Ländern übernahmen Wissenschaftler diesen Sprachgebrauch; der bekannte schwedische Archäologe
51 Eck 2019, 48. 52 Alföldi 1997, 47 Anm. 7.
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Sture Bolin (1900–1963) sprach 1926 von fria Germanien.53 Um H. Neumaier weiter zu referieren: Konrad Mannert (1756–1834) schrieb 1820, Caesar war der erste Römer, der das Land der Deutschen auf der Ostseite des Rheinflusses kennengelernt hat, von Westen nach Osten über mehr als 60 Tagesreisen.(Das sind bei 20 km pro Tag damit immerhin 1200 km). Man registriere aber: Im „Handbuch der germanischen Alterthumskunde“ des Gustav Klemm (1802–1867) von 1836 heißt es Germania magna. Der erste Beleg für Germania libera findet sich dann bei Jacob Grimm (1785–1863) in seiner Vorlesung im Wintersemester 1835/36: „Die Germania cisrhenana und transrhenana. Die transrhenana = Germani magna, barbara, libera“ in lateinischer Sprache. Ein zweiter Begriff, der heute allgemein verwendet wird, wohl um „Germanen“ und „Germanien“ zu vermeiden, ist die Bezeichnung Barbaricum. In allen europäischen Ländern wird das Wort in den Titeleien der wissenschaftlichen Publikationen bevorzugt. Aber damit blickt man wiederum von der römischen Seite auf Mitteleuropa und seine damaligen Bewohner, was also auch keine Lösung ist, wenn man von der Bevölkerung ausgehen will und von ihr auf die römische Welt nach Westen und Süden schaut. Welchen Raum man mit Barbaricum meint, ist oft unklar, und Begrenzungen werden kaum diskutiert; man bleibt bei einer unbestimmten Größe.54 Die antike römische Literatur bezeichnet fast alle Völkerschaften außerhalb des Römischen Reichs, so im Vorderen Orient oder in Nordafrika, als Barbaren. Im großen Projekt des Corpus-Werks „Römische Funde im mitteleuropäischen Barbaricum“, dargestellt am Beispiel Niedersachsen, herausgegeben von S. v. Schnurbein und M. Erdrich,55 wird von Anfang an die Benennung Barbaricum gewählt. Vielleicht ist das sogar beabsichtigt; denn mit Barbaricum kann man auch allgemein Gebiete meinen, ohne darin eine ethnische Großgruppe wie „Germanen“ zu sehen. Es geht bei dem Vorhaben um die römischen Sachgüter außerhalb des Römischen Reichs. Was nun in der antiken schriftlichen Überlieferung mit Barbaren gemeint ist, entspricht eigentlich nicht der Verwendung des Begriffs in der archäologischen Forschung. Diese meint einfach positivistisch alle Bevölkerungen außerhalb des Römischen Reichs, die antiken Historiker differenzieren, meinen aber auch alle Nichtrömer.56 H.-W. Goetz weist darauf hin, dass die Tendenz, den Begriff ‚Germanen‘ durch ‚Barbaren‘ zu ersetzen, nur eine Ideologie gegen eine andere austauscht. Bei Ammianus Marcellinus sind Barbaren schlicht die Gegner Roms, und das auch beiderseits der Grenze. Dieses durchaus abwertende antike Barbarenkonzept bleibt auch bei den römischen Christen weiterhin so. Die Gegner Marc Aurels, die Markomannen, Quaden, Vandalen, Sarmaten, Sueben und ganz Germanien erscheinen als gentes inmanitate barbarae, so Orosius
53 Neumaier 1997, 53. 54 Neumaier 1997, 64. 55 Berichte der Römisch-Germanischen Kommission 73, 1992, 8–10. 56 Goetz 2018, 188 ff., auch die Zitate. – Für diesen Hinweis danke ich meinem Kollegen Dieter Geuenich; auch Roberts 1992: Barbaren in Gallien; Wood 2011 zum Barbarenbegriff seit dem 5. Jahrhundert.
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(VII, 15, 8) im 5. Jahrhundert, und Salvian, ebenfalls im 5. Jahrhundert, meint, dass auch die Römer zu Barbaren werden können. Am Barbarentum der Barbaren ändert das alles allerdings nichts, weder für Orosius noch für Salvian: Römer können Barbaren werden bzw. barbarisch handeln, aber diese können niemals Römer werden […]. Barbaren können Christen, aber nicht Römer werden […].
An dieser Stelle sei noch eine Bemerkung eingefügt, die beweist, wie sehr der Blick immer vom Römischen her auf Mitteleuropa gerichtet wird, was schließlich anscheinend den meisten Forschern nicht mehr bewusst wird. Die großen wissenschaftlichen Einrichtungen heißen Römisch-Germanische Kommission (RGK) oder Römisch-Germanisches Zentralmuseum (RGZM), das Germanische ist als zweites Wortglied sichtlich nachgeordnet.57 Die Niedersächsische Landesausstellung 2019, organisiert in den Landesmuseen in Hannover und Braunschweig,58 bietet einen umfassenden Überblick zum Stand der Erforschung zu den Bewohnern in Norddeutschland von den Jahrhunderten um Chr. Geb. bis ins Mittelalter, über das ganze erste Jahrtausend. Weil jedoch die frühe Phase der Lebensverhältnisse in Germanien berücksichtigt wird, gehe ich darauf ein. Denn aus meiner Sicht stört der Titel Saxones, weil er wiederum anhand der antiken römischen (und griechischen) Schriftüberlieferung, erstmals im 4. Jahrhundert, gewählt worden ist, weil es keine überlieferte frühe eigene Benennung gibt. So mag es berechtigt sein, von Saxones zu sprechen, aber die Blickrichtung ist von außen und nicht von innen heraus, wie ich es für dieses Buch eigentlich anstrebe. Erläutert wird, dass unter dem Namen Saxones keine Völkerschaft, sondern ein „Verhalten“ von Leuten beschrieben wird, gemeint sind zu Anfang mit Saxones Piraten in der Nordsee als allgemeine Benennung, so wie später die Bezeichnung Wikinger gemeint war. Weiterhin kommen Saxones nicht nur in den sächsischen Siedlungsgebieten in Norddeutschland vor, sondern auch als (römische) Kriegerverbände in mehreren anderen Gebieten in Europa (S. 1164 ff.). Ziel der Ausstellung ist, das bisherige Bild von den Germanen und der sogenannten Völkerwanderungszeit zu revidieren und ein neues Bild von den Migrationsbewegungen und Transformationsprozessen zu entwickeln. Versammelt sind im Katalog eine ganze Reihe von Autorinnen und Autoren, die auch sonst über die Germanen der ersten Jahrhunderte um Chr. Geb. publizieren, so dass sich viele Ansichten und Befundschilderungen wiederholen, auf die ich nachfolgend an verschiedenen Abschnitten noch eingehen werde. Stefan Trinks bietet eine Rezension zur Ausstellung „Saxones“ mit dem Thema „Die Besiegten leben hier nicht mehr. Sachsen? Gerade der Stamm, den man am genauesten zu kennen meint, ist eine historische Chimäre. In Hannover kann man anhand neuer archäologischer Funde herausfinden, warum das so ist“, und zwar in
57 v. Hase 2004. 58 Saxones 2019, 6 f.
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der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 7. Juni 2019. Das Resumé ist, die historischen Sachsen hat es überhaupt nicht gegeben, für die Römer war „Saxones“ nicht mehr als eine Sammelbezeichnung für frei marodierende Piraten in der Nordsee: Ein Grund, weshalb ich den Titel der Ausstellung für verfehlt halte. Ähnlich sind die Benennungen der Großstämme in den römischen Quellen überliefert, eine Sammelbezeichnung wie Alamannen oder auch Franken. Es sind jeweils Namen in germanischer Sprache (vgl. S. 1075). Kurz gefasst bedeutet Alamannen „alle, die eigentlichen Männer“, Franken „die freien, kühnen Krieger“. Das Niedersachsenlied war 1926 eine „völkische“ Befreiungstat, wenn es sich auf die Varusschlacht bezog. Da für die beiden oben beschriebenen ersten Ziele ausführlich auch die jüngsten archäologischen Ausgrabungsergebnisse der letzten Jahrzehnte erläutert werden, ergibt sich daraus das dritte Ziel, nämlich diese neuen Zeugnisse zu den ehemaligen „Germanen“ allgemein bekannt zu machen. Während die überlieferten schriftlichen Quellen seit langem fast vollständig veröffentlicht sind, aber immer wieder neu gelesen werden müssen und werden, nimmt die Menge der archäologischen Quellen ständig, fast exponentiell und schnell zu, was natürlich inzwischen das Wissen über „Germanen“ immens wachsen lässt und bekannt gemacht werden sollte. Damit verschiebt sich automatisch den Schwerpunkt von der Ereignisgeschichte zur Kulturgeschichte. Meine Schrift konzentriert sich deshalb auf die Beschreibung der archäologischen Quellen, die in erster Linie diese drei miteinander zu kombinierenden Ziele beleuchten, und schließt bewusst zahlreiche weitere Facetten des damaligen Alltagslebens aus. Im Prinzip wird hier so vorgegangen, wie man urgeschichtliche Epochen ohne jegliche Schriftüberlieferung nur anhand der archäologischen Quellen erforscht und trotzdem versucht, sich der ehemaligen Wirklichkeit anzunähern. Die Diskussion, wie man mit Berücksichtigung aller Quellengruppen forschen sollte, hat immer wieder zu neuen Formulierungen gefunden: Der Weg geht von der Inter-, Multi- zur Transdisziplinarität. Dabei wird regelmäßig festgestellt, wie wenig das Ziel erreicht wird, und dass häufig die Ergebnisse der verschiedenen Disziplinen mehr oder weniger unverbunden nebeneinander stehen. Schon vor Jahren wurde erkannt, dass die Zusammenarbeit verschiedener Wissenschaften trotz gemeinsamer Symposien und Tagungen meist unbefriedigend bleibt, und dass vielmehr die weiterführende Zusammenschau im Kopf des einzelnen Forschers erfolgen muss, und dieser kann Kolleginnen und Kollegen fragen, ob sie zustimmen können oder alternative Vorschläge haben. In diesem Buch bleibt es dabei, dass ich als Archäologe versuche, überwiegend die archäologischen Funde und Befunde sprechen zu lassen. Der Autor überblickt aber ebenfalls einen größeren Teil der Schriftquellen zu Germanien, kann sie aus seinem Wissensbestand sicherlich auch nicht völlig ausblenden. Und dann und wann ziehe ich sie doch bewusst heran, um ein Problem zu verdeutlichen, jedoch in der Regel als zusätzliche Angabe, nicht zur Erklärung eines Sachverhaltes. Die zeitliche Begrenzung zu begründen, bleibt im Prinzip zufällig, auch wenn plausible Daten genannt werden. Ich beziehe das letzte Jahrhundert v. Chr. mit ein
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und berichte über den Zeitraum bis zum 5. Jahrhundert n. Chr. mit einigen Ausgriffen ins 6. Jahrhundert. Zu konstatieren ist im Übrigen, dass die archäologischen Ergebnisse Kontinuitäten im Besiedlungsmuster und in den Bestattungsplätzen über diese Zeitspanne hinweg häufiger hat nachweisen können, als die Forschung anfänglich gedacht hat. Die archäologische Periodisierung – als Grundlage für die Chronologie – meint damit für Germanien die Spät-Latènezeit und die frühe sowie späte Römische Kaiserzeit und die frühe Völkerwanderungszeit; das Ende berührt die Merowingerzeit auf dem Kontinent und die Vendelzeit im Norden.59 Weil ab und zu diese Begriffe in der Darstellung erscheinen, weise ich darauf besonders hin und gehe später (vgl. S. 41) ausführlicher darauf ein. Mit Blick auf das Römische Reich bewegt die Forschung die Frage nach dem Ende der Antike oder der Spätantike; denn bis in die Gegenwart wird der „Untergang“ des Römischen Reichs mit den „Völkerwanderungen“ der „Germanen“ erklärt, eine Phase, die mit der Gründung von „germanischen“ Königreichen auf ehemals römischem Boden abschließt. Eine moderne Forschungsrichtung hat aber gezeigt, dass statt Untergang eher von Übergang in Richtung Mittelalter gesprochen werden sollte: „The Transformation of the Roman World“ hat sich in einer Reihe von Tagungen und daraus hervorgegangenen Publikationen damit befasst.60 Es ist hier nicht beabsichtigt, diese Diskussion aufzugreifen. Nur eine Bemerkung sei als Beispiel aus der Sicht der Archäologie angefügt: Bis zum Beginn der Karolingerzeit gibt es auf dem Gebiet des Münzwesens keine einzige Prägestätte außerhalb der ehemaligen römischen Provinzen, auch wenn die Münzen der Merowingerzeit auch weit östlich des Rheins bei Alamannen, Bajuwaren, Thüringern und auch Sachsen benutzt wurden. Es sieht doch so aus, dass in diesem Falle alte römische Strukturen und wirtschaftliche Systeme noch Jahrhunderte weitergewirkt haben.61 Und das kann auch der Archäologe feststellen; es gibt noch zahlreiche Aspekte des alltäglichen Lebens, so in der politischen Verwaltung, im Bereich der kirchlichen Organisation oder im Rechtswesen, deren Wurzeln in die Antike zurückweisen und noch in den späteren schriftlichen Überlieferungen abgelesen werden können.62 Ein Zeitschnitt aufgrund der Schriftüberlieferung könnte im späten 3. Jahrhundert gelegt werden, da seitdem die Großstämme Alamannen und Franken,63 Sachsen und Thüringer, ebenso Bajuwaren genannt werden und die vielen Dutzend Stammesnamen der Zeit des Tacitus aus den Quellen weitgehend verschwunden sind. Aber im archäologischen Quellenbestand sind in Germanien zu der Zeit eigentlich keine
59 Die Bezeichnungen der Archäologie für Epochen oder Kulturen gehen in der Regel auf Fundorte aus der Frühzeit der Forschung zurück und sind zum festen Bestandteil der fachlichen Kommunikation geworden. Sie sollen hier nicht näher erläutert werden. 60 Wood 2006. 61 Steuer 2013. 62 Brather, Dendorfer (Hrsg.) 2017. 63 Sind sie archäologisch zu unterscheiden? Siegmund 2000.
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auffälligen Veränderungen zu beobachten, auch wenn die sogenannte „Völkerwanderung“ – dazu später ausführlicher – damals und nachfolgend einsetzte. Wenn man die archäologischen Quellen verlässt, dann könnte man als Zeitschnitt auf die Ereignisgeschichte zurückgreifen. Das Jahr 376 wird als Beginn der „Völkerwanderungszeit“ betrachtet, weil damals das Gotenreich des Königs Ermanarich in Südrussland/Ukraine von Reiternomaden, den Hunnen, zerstört und Kriegerverbände nach Westen abgedrängt wurden; mit dem Jahr 475/76, also noch einmal ein Jahrhundert später, endete das Weströmische Reich, als der letzte Kaiser Romulus Augustulus vom germanischen Heerführer Odoaker abgesetzt wurde. Aber – um das noch einmal zu betonen – es geht um archäologische Befunde, nicht um Ereignisgeschichte. Die Beschränkung auf die Quellen der Archäologie, wie sie hier vorgenommen wird, eröffnet eine neue Perspektive; denn diese Quellen reichen aus, um an die ehemalige Lebensrealität heranzukommen bzw. eröffnet sogar weitere Facetten, wie sie die Schriftüberlieferung nicht bietet. Die Quellen der Archäologie sind vielseitig. Funde, also Sachgüter, und Befunde, gemeint sind Ausgrabungsergebnisse im Gelände, sind – um zu betonen – in der Regel zeitlich und räumlich festzulegen, d. h. sie sind in der gegenwärtigen Landschaft vorhanden, aus welcher nahen oder fernen Vergangenheit auch immer, und müssen nur von der Forschung erkannt werden. Das geschieht in dreifacher Weise, zum ersten gilt es zu beobachten, was heute in der Umgebung sichtbar „an der Oberfläche“ als Relikte der Vergangenheit noch erkennbar ist, zum zweiten, was mit Hilfe von Prospektionsmethoden, von Luftbildern über geophysikalische Verfahren bis zur systematischen Geländebegehung, zu registrieren ist, und zum dritten was über Ausgrabungen gewonnen werden kann. Die archäologisch gewonnenen Quellen sind als Einprägungen in die natürliche Landschaft zu den verschiedensten Zeiten entstanden. Das sind Spuren der ehemaligen Siedlungen und ihres Umfeldes, vom wohnenden und wirtschaftenden Menschen, das sind die Gräber der Verstorbenen, die intentionell von den Hinterbliebenen angelegt worden sind, ebenso wie die religiös bestimmten Kulteinrichtungen, und das sind schließlich auch aus anderen, sehr verschiedenen Gründen vergrabene Sachen. Es muss heute nicht mehr betont werden, dass archäologische Fundobjekte nicht nur vom Menschen geschaffene Gegenstände aller Art sind, vom Haus bis zum Werkzeug, sondern auch biologische Fakten. Archäobotanik und Archäozoologie werten die pflanzlichen Reste und die Knochen von Tieren aus, sowohl die natürlichen als auch die von Menschen durch Züchtung veränderten Pflanzen und Tiere. Dabei ist der Mensch als Objekt nicht auszuschließen, und die anthropologische Forschung widmet sich nicht nur formal den Skeletten der Gestorbenen, sondern auch ihrem „Inhalt“, durch Nahrung und Flüssigkeitsaufnahme „strukturiert“, sowie dem Erbgut. Diese Worte sollen nur daran erinnern, dass die Beschränkung auf die in diesem Buch behandelten Quellen wiederum nur einen engen Ausschnitt aus dem Gesamtumfang der auswertbaren Überlieferung bedeutet. Deutlich soll damit werden, dass nicht nur die Beiseitelegung der schriftlichen Überlieferung über die Bewohner Germaniens
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in den ersten Jahrhunderten n. Chr. eine Konzentration auf die archäologischen Quellen an sich bedeutet, sondern dass wiederum auch nur ein Ausschnitt des eigentlich viel breiteren archäologischen Quellenspektrums beschrieben werden kann. „Germanien aus Sicht der Germanen“ darzustellen zu versuchen, also nur auf der Basis von archäologischen Quellen, widerspricht nur scheinbar dem Vorgehen nach modernen wissenschaftlichen Methoden, die auf interdisziplinäre oder multidisziplinäre Arbeitsweise pochen: Es werden hier nur weitgehend die schriftlichen Quellen ausgespart, die häufig genug erläutert wurden; die archäologische Arbeitsweise ist in anderer Hinsicht interdisziplinär, bezieht umfassend naturwissenschaftliche Ergebnisse ein, nicht nur was die Verfahren der Radiocarbon-Datierung und der Dendrochronologie angeht, sondern ebenso die Archäobiologie und Archäozoologie sowie die Möglichkeiten der aDNA- und auch der Isotopen(Strontium)-Analysen.64 Die Grundsatzfeststellung, dass die antiken Schriftsteller einseitig und auch tendenziös berichten, ist nicht neu und wird auch von anderen Archäologen geteilt. Aber es fehlt nach meiner Ansicht die Entscheidung, dann die beiden Quellengruppen, Schriftüberlieferung und archäologische Ergebnisse nicht vermischt zur Schilderung der antiken Verhältnisse zu verwenden, und vor allem ist die Auswahl einseitig, wenn nur gewählt wird, was einem für die eigene Argumentation am besten passt. So schreibt der Archäologe Hans-Ulrich Voss 2015: Die lückenhaften Schilderungen römischer Autoren sind durch die Sichtweise der Vertreter einer Hochkultur auf ‚Barbaren‘ verzerrt und mit Stereotypen belastet. Daher überrascht es kaum, dass die Interpretation der aus diesen beiden grundverschiedenen Quellengattungen gewonnenen Informationen zu den politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnissen in Germanien schon jeweils für sich genommen, mehr aber noch in der Zusammenschau Gegenstand teilweise heftiger Kontroversen sind.65
2.2 Die Thesen dieses Buches Meine, zumindest teilweise neuartigen Thesen, die ich in diesem Buch vertreten werde, gebe ich in den zentralen Kapiteln als Kennzeichen die Benennung Ergebnisse. – Es geht um die Widerlegung der Topoi in der antiken schriftlichen Überlieferung durch die archäologischen Quellen. – Es lassen sich Belege für ein Gemeinschaftsbewusstsein von „Germanen“ in manchen Bereichen des alltäglichen Lebens anführen. – Aus methodischen Gründen passen Quellen zur Ereignisgeschichte und archäologische Quellen prinzipiell nicht zusammen. 64 Haak, Schiffels 2018; allgemein auch für alle Zeiten Knipper 2017, in: Meller u. a. (Hrsg.) 2017. 65 Voss 2015, 54. Im Folgenden zitiere ich den Namen von H.-U. Voss immer mit ss, auch wenn wechselnd in der Literatur ss und ß gebraucht werden, ebenso zitiere ich N. Müller-Scheessel regelmäßig statt Müller-Scheeßel.
2.2 Die Thesen dieses Buches
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Die Parallelisierung von archäologischen Kulturgebieten und historisch überlieferten Stämmen, die sogenannte ethnische Deutung, ist forschungsgeschichtlich gesehen im 19. Jahrhundert aufgrund damaliger politischen Überzeugungen aufgekommen, doch heute, wie methodisch zu begründen ist, nicht mehr zu akzeptieren. Archäologische Verbreitungskarten sind nur Momentaufnahmen des Forschungsstandes und spiegeln nur zeitgleiches Vorkommen, keine Mobilitäten. Dafür müssen weitere Zugänge und Beweise erarbeitet werden.
Nicht zu übersehen ist, dass ich als Vertreter der Frühgeschichtlichen Archäologie am Freiburger „Institut für Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie und Archäologie des Mittelalters“ auf dem Felde des Methodenstreits nicht unparteiisch bin. Außerdem gab es an der Freiburger Universität den Sonderforschungsbereich der Deutschen Forschungsgemeinschaft „Identitäten und Alteritäten“ mit dem Projekt „Ethnische Einheiten im frühgeschichtlichen Europa. Archäologische Forschung und ihre politische Instrumentalisierung“, woraus eine größere Zahl von Publikationen entstanden ist. Bei Themen wie der allgemeinen Möglichkeit der „ethnisches Deutung“ kleinerer oder verbreiteter archäologischer Fundkomplexe bzw. der nicht mehr aktuellen Fragestellung einerseits oder andererseits dem daraus auch folgenden archäologisch erkennbaren Gegensatz „Germanen und/oder Romanen“ nehme ich eine klare Position ein. Methodisch gegensätzlich eingestellte Gruppen von Archäologinnen und Archäologen diskutieren diese Problemfelder der Quellen, wobei es um die Zulässigkeit geht, ob und wie archäologische Befunde und in den antiken Schriftquellen genannten Bevölkerungsgruppen und Ereignisse miteinander parallelisiert werden können und sollen. In der Anmerkung nenne ich Vertreter der beiden Richtungen, deren wissenschaftlichen Publikationen in diesem Buch mehrfach zitiert werden.66 In einem späteren Kapitel „Der Sonderfall Nordostgallien im 4./5. Jahrhundert“ wird darüber noch ausführlich diskutiert, da es dort einerseits um das Aufkommen der sogenannten Reihengräbersitte geht und anderseits um die Frage, wer als Germane oder Romane oder einfach als Bewohner dieser Landschaft gesehen werden sollte (vgl. S. 1164 ff.).
66 Brather 2000; 2002a; Fehr 2008; 2010; sowie Bierbrauer 2004; 2008; Böhme 1996b; 2002; 2008a.
3 „Germanen“ als ethnische Größe und Einheit? In diesem Abschnitt skizziere ich noch einleitend Meinungen zu einer Reihe von Begriffen, die für die Beschreibung von Sachverhalten in der Archäologie gebraucht werden wie Ethnos und ethnische Deutung, Wanderungen und Mobilitäten, Identitäten und Tracht bzw. Kleidung. Welche Vorstellungen waren damit in Verlauf der Forschungen im 19. und 20. Jahrhundert verbunden, und wie haben sich diese verändert, wie man sagt; wie wurden sie dekonstruiert, und welche Modelle sind an Stelle der alten Thesen vorgeschlagen worden? Heute von „Germanen“ zu sprechen, ist aus der Sicht der modernen Wissenschaft sehr umstritten.67 Man kann sogar die These vertreten, den Begriff „Germanen“ möglichst ganz aus der Diskussion zu nehmen. Was sind die Gründe dafür? Darauf wird weiter unten noch eingegangen. Ich bevorzuge den relativ neutralen Begriff „Germanien“ und nicht Barbaricum, der sich in der wissenschaftlichen Literatur eingebürgert hat, denn auch dieser Name wurde durch antike Schriftsteller gegeben und ist damit ebenfalls vorbelastet, betrifft auch nicht nur die „Germanen“, sondern mancherlei andere Völker rundum außerhalb des Imperiums. Die Antike verwendet ihn mit gewisser Wertung, was bestimmte Assoziationen weckt. Wie aber erörtert, soll hier der Blick aus Germanien heraus selbst erfolgen und nicht indirekt, wieder aus einer Sicht auf Germanien durch die antiken Schriftsteller und Historiker. Diese sprechen von „Germanen“ für die ersten zwei bis drei Jahrhunderte n. Chr. für die Stammeswelt jenseits des Rheins und der Donau. In der Folgezeit werden die neuen Großstämme – von den Franken über die Alamannen bis zu den Thüringern und Bajuwaren – genannt und kaum noch von Germanen gesprochen. W. Pohl weist aber auch auf den Nutzen des Germanenbegriffs zwischen Antike und Mittelalter hin.68 Und mancher Archäologe rät, den Begriff Germanen weiter zu verwenden, bei aller kritischen Distanz, wegen der allgemeinen Verständlichkeit.69 Was ist eigentlich eine ethnisch-kulturelle Einheit, und was ist ein Volk, gehört das zusammen? Oder sollten wir von verschiedenen Grundlagen ausgehen. In einem Leserbrief in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 8. Januar 2019 wird auf Max Weber verwiesen (1864–1920),70 der damals schon gesagt hat, dass erst durch „einen subjektiven Glauben an eine Abstammungsgemeinschaft“ ethnische Gruppen entstehen, es sei nur eine geglaubte Gemeinsamkeit, keine Gemeinschaft. Diese ‚künstliche‘ Art der Entstehung eines ethnischen Gemeinsamkeitsglaubens entspricht […] dem Schema der Umdeutung von rationalen Vergesellschaftungen in persönliche Gemeinschaftsbeziehungen.
67 Jarnut 2004; 2006; 2012; Pohl 2004b; Springer 1990; Steinacher 2009; Wagner 1999; Zerjadtke 2019, 19 ff. zur Diskussion des Germanenbegriffs. 68 Pohl 2004a. 69 Kleemann 2009a, 90. 70 Prof. Dr. Dariuš Zifonun, Marburg, Frankfurter Allgemeine Zeitung am 8.2.2019. https://doi.org/10.1515/9783110702675-003
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Die von der ethnologischen Forschung untersuchten Stammesgruppen wären, so der Leserbriefschreiber, nicht so naiv zu glauben, sie bildeten ursprüngliche Einheiten. Sie wissen sehr genau, dass ihre Rituale, die sie sorgfältig pflegen, symbolische Leistungen sind, und sie sind ihnen gerade deshalb auch nicht so ausgeliefert wie moderne Gesellschaften ihren undurchschauten Selbstmystifikationen.
Die Lebensverhältnisse in Germanien in den ersten Jahrhunderten n. Chr. aus der Sicht der Germanen selbst zu schildern, was also nur über die Archäologie möglich ist, da eigene Schriftquellen fehlen, darf aber nicht als „Germanentümelei“ – ich sage das doch noch einmal – im alten, mit Recht verrufenen Sinn aufgefasst werden. Ich hoffe, dass meine Darstellung so ausfällt, dass dieser Eindruck nicht entsteht. Die allgemeine Wahrnehmung der „Germanen“ und des „Germanischen“ im sogenannten Bildungsbürgertum ist das Ergebnis der neuzeitlichen Geschichtsforschung, die wiederum jeweils auch Abbild von Vorstellungen auf der Grundlage der politischen Gegenwart gewesen ist, vor allem des 19. Jahrhunderts. Da sich diese Basis, die politisch-soziale Gegenwart, gewandelt hat, folgt eigentlich auch notwendigerweise daraus, dass sich das Bild von „Germanien“ ändert oder – aufgrund der Ergebnisse der verschiedenen Fachforschungen – auch jeweils unabhängig davon geändert hat. Denn eigentlich schien doch alles klar zu sein. In den Jahren 1976 und 1983 wurden im Akademie Verlag Berlin (DDR), also vor mehr als 30 Jahren, die beiden umfangreichen Handbücher veröffentlicht: „Die Germanen“ mit Band I „Von den Anfängen bis zum 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung“ (568 Seiten) und Band II „Die Stämme und Stammesverbände in der Zeit vom 3. Jahrhundert bis zur Herausbildung der politischen Vorherrschaft der Franken“ (713 Seiten).71 Obgleich diese beiden Bücher mehrheitlich von Archäologen geschrieben worden sind und überwiegend archäologische Funde und Ausgrabungen schildern, spiegelt doch der Titel noch die Dominanz im Denken der Ereignisgeschichte, wenn z. B. von Stammesverbänden und politischer Vorherrschaft gesprochen wird. Außerdem sollte auf jeden Fall auch die handbuchartige Zusammenstellung zu den Germanen des 1. bis 4. Jahrhunderts durch Rafael von Uslar genannt werden.72 Mit einer Überschneidung zum Erscheinen dieser Handbücher wurde in der Bundesrepublik, mit Unterstützung der Göttinger Akademie der Wissenschaften, das „Reallexikon der Germanischen Altertumskunde“ beim Verlag Walter de Gruyter in Berlin herausgegeben.73 Mit 35 Bänden von 1968/73 bis 2007 hat es fast alles Wissen zu den „Germanen“ bzw. der Bevölkerung in Mittelund Nordeuropa von der Vorgeschichte bis zur Karolinger- und Wikingerzeit auf damals neuem Stand gebündelt, und zwar inter- bzw. multidisziplinär einen Fächer 71 Krüger und Autorenkollektiv 1976, 1983, vgl. auch Leube 1995, noch mit dem Ausgang der Stammesgeschichte: Semnonen, Burgunder, Alamannen; auch Günther, Korsunskij 1988. 72 v. Uslar 1980/1987. 73 Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 1973 bis 2008 (RGA).
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von Wissenschaften umfassend, nämlich Geschichte, Philologie, Literaturwissenschaft, Archäologie und Naturwissenschaften. Es war die Fortsetzung des von 1911 bis 1919 von Johannes Hoops herausgegebenen „Reallexikons der Germanischen Altertumskunde“ in (nur) vier Bänden.74 Anfang des 20. Jahrhunderts machte der Titel des Lexikons keine Schwierigkeiten, denn was die „Germanen“ waren, schien Allgemeinwissen zu sein. Bei der weit umfassenderen zweiten Auflage aber war von Anfang an der Titel „Germanische Altertumskunde“ ein Problem für die beteiligten Wissenschaftler und Wissenschaften, sowohl was den Begriff „Germanen“ als auch den Teilbegriff Altertums-„kunde“ angeht. Der erste Ergänzungsband zu diesem Lexikon heißt denn auch „Germanenprobleme aus heutiger Sicht“.75 In diesem Buch von 1986 gibt es vom Historiker Reinhard Wenskus den Aufsatz „Über die Möglichkeit eines allgemeinen interdisziplinären Germanenbegriffs“.76 In Band 11 des Lexikons selbst wurde 1998 dann diese „Möglichkeit“ auf fast 260 Seiten breit diskutiert im Artikel „Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde“.77 Man kam nicht umhin festzuhalten, dass es eine allgemeine Vorstellung, was „Germanen“ waren, heute nicht mehr geben kann. Vielmehr versucht jede einzelne Wissenschaft zu definieren, was bei ihr „Germanen“ bedeuten. Es gibt also einen Germanenbegriff der Geschichtswissenschaft, einen der Archäologischen Wissenschaft und einen der Sprachwissenschaft. Am wenigsten umstritten ist der Germanenbegriff der Sprachwissenschaft; denn „germanische“ Sprachen haben ohne Zweifel Gemeinsamkeiten, weshalb sie so definiert worden sind, und von der Philologie aus wurde der Begriff dann in die anderen Disziplinen übernommen. Man spricht deshalb auch von „germanischsprechenden“ Bevölkerungen (Abb. 2).78 Wie gesagt, entscheidend ist, dass der Begriff „Germanen“ ursächlich und überzeugend von der Seite der Sprachwissenschaft her zu definieren ist. Die Definition des „Germanischen“ von der Sprache her ergibt sich aus der Überlieferung von Namen und Texten im beschreibbar eigenen Idiom. Und dieses macht wie alle Erscheinungen des Lebens eine Geschichte durch. Es beginnt mit der Lösung aus dem indogermanischen oder heute indoeuropäischen Sprachenkomplex, was aus der Dynamik von Sprachentwicklungen ungefähr ins frühe 1. Jahrtausend v. Chr. datiert wird. Archäologisch gesehen ist das die ältere vorrömische Eisenzeit und kulturell gesehen die Jastorf-Kultur (vgl. S. 113 ff.). Es sind die sogenannten Lautverschiebungen, die eine systematische Veränderung des Sprach- bzw. des jeweiligen Lautstandes zu beobachten erlauben. Die Erste oder sogenannte germanische Lautverschiebung, auch das Grimmsche Gesetz (frühestens
74 Hoops 1911–1919. 75 Beck (Hrsg.) 1986/1999. 76 Wenskus 1986/1999; Hachmann 1971; 1975; Stockhammer 2011. 77 Die Germanen. Studienausgabe 1998. 78 Steuer 2004e, 374 Abb. 1; 2010, 57 Abb. 1.
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Abb. 2: Die verschiedenen Germanenbegriffe der beteiligten Wissenschaften.
ab dem 5. Jahrhundert v. Chr. und abgeschlossen um 0)79 hat das Konsonantensystem gegenüber der vorausgehenden Sprache grundlegend verändert. Darauf soll hier im Einzelnen nicht näher eingegangen werden, weil archäologisch nicht zu erfassen. Die Lautverschiebung hat eigentlich nur die Aussprache verändert, weshalb weiterhin diskutiert wird, ob man „das germanische (oder die germanischen Sprachen) durch das Eintreten oder den Abschluss der Lautverschiebung konstituiert sein lassen“.80 Doch diese Vorgänge sind weiterhin nicht so deutlich erklärt, wie das den Anschein hat. Diskutiert werden Urheimats- und Herkunftstheorien.81 Die Ausgliederung der germanischen Einzelsprachen aus einem Kontinuum begann vermutlich um 200 v. Chr. Wie stellt man sich diese Ausgliederung des Germanischen vor: Die frühestfassbaren Sitze der Germanen sind im östlichen Norddeutschland, in Dänemark und im südlichen Skandinavien anzunehmen, mit Grenzen zum Keltischen und Baltischen und später zum Slawischen.82 Zeitweilig haben die verschiedenen Wissenschaften Völker zwischen Germanen und Kelten vermutet (vgl. auch S. 102).83 Germanische Einzelsprachen denkt man zur Zeit der Abwanderung von Kimbern, Teutonen und Ambronen in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts und datiert anhand der Namen.84 Die frühesten Zeugnisse für germanische Sprachen sind in antiken Quellen zu finden, bei Pytheas von Massilia aus den 4. Jahrhundert v. Chr. (was aber nur durch spätere Zitate überliefert ist), und keltische und germanische Wörter gab es nebeneinander. 79 Euler, Badenheuer 2009, 54 f. und 62 f. 80 Seebold 1998b, 452. 81 Seebold 1998a, 285, 287 f., 292 f. 82 Ament 1984; dann 1986 und wieder 1997/2003. 83 Hachmann, Kossack, Kuhn 1962. 84 Seebold 1998a, 297 und 300 f.; die Namenanlaute Kimbern und Teutonen sind noch nicht verschoben, datieren spät.
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Die früheste echte germanische Überlieferung ist erst in der Runenschrift zu fassen, die um 200 n. Chr. erscheint (S. 1249 ff.). Die früheste sprachliche Aufgliederung des germanischen Sprachgebietes sei dann am besten am Vokalismus zu erfassen. Absolute Lokalisierungen und Datierungen werden über Lehnworterforschungen, der Orts- und Gewässernamen, also der Hydronomie, somit über eine kulturhistorische Methode anhand des gemeinsamen Wortschatzes zu Sachen versucht.85 Das führt jedoch nicht zur absoluten, nur zur relativen Datierung. Vage ist die Geschwindigkeit der Sprachveränderungen zu erschließen. Zur Chronologie geht es nur über Archäologie und Geschichte, wie es R. Hachmann 1975 versucht hat mit klarem Hinweis auf mögliche Kreisschlüsse zwischen den Fakten der Wissenschaften.86 Diese Mischargumentation beherrscht auch noch der Beitrag in Wikipedia.87 Doch hat man sich geeinigt (vgl. S. 33), obwohl der Germanen-Begriff für Völkerschaften erst ab Caesar tatsächlich überliefert ist, vielfach schon für die JastorfKultur bzw. für die vorrömische Eisenzeit, also ab 500 Jahre v. Chr. von germanisch sprechenden Gruppen ausgehen zu können, was über die Kontinuität der archäologischen Sachkultur und der Bräuche begründet wird.88 Die Vielgliedrigkeit des Raumes in Gruppen während der vorrömischen Eisenzeit sei hier schon einmal betont.89 Also erst durch die römische politische Begriffsbildung ist überhaupt auch der Name Germania für den Bereich vom Rhein bis zu Weser zu einer historischen Realität geworden, auch wenn sich die Stämme selbst so nicht nannten. Die Jastorf-Kultur und die südlichen skandinavischen Gruppen werden anhand der Gewässernamen als „germanisch“ gewertet.90 Ich gehe jedoch hier noch davon aus, dass es eine gewisse urgermanische Sprache gegeben hat, die sich fassbar über die Lautverschiebung aus dem Indogermanischen bzw. dem Indoeuropäischen herausgelöst hat. Das ist ebenso wie die Datierung nur theoretisch zu erschließen und nicht direkt zu beweisen. So wird auch überlegt, ob sich diese germanische „Einheits“-Sprache nicht erst aus einer Vielzahl von Sprachen durch Zusammenwachsen gebildet hat, so wie sich umgekehrt die verschiedenen jüngeren germanischen Sprachen oder „Dialekte“ aus einem Gemeingermanischen heraus entwickelt haben. Wie dem auch sei, auch für die eigentlich überzeugende, klare Vorstellung von einer germanischen Sprache bestehen Deutungsvariationen, und der Befund ist ebenso wenig eindeutig, wie der Begriff „Germanen“ oder „germanisch“ für die Geschichtswissenschaft oder für die Archäologie.
85 Seebold 1999, 178 ff.; W. P. Schmid 1999, rein sprachliche Argumentation. 86 Hachmann 1975, 139; so Seebold 1999, 180; auch Udolph 1994, 3 hilft bei der Frage nach der Chronologie nicht weiter, auf die Ur- und Frühgeschichte geht er nicht näher ein. 87 https://de.wikipedia.org/wiki/Urgermanische_Sprache (17.11.2019). Auch: https://de.wikipedia. org/wiki/Deutsche_Sprachgeschichte, Urgermanisch. 88 R. Müller 1998a, 309 ff., 312. 89 Steuer 1998d, 324 f. Abb. 9 und 10 Karten nach Kaul, Martens 1995, Fig. 20A und 20B. 90 Wenskus 1999, 1–21; schon 1961/1977, 172, 176.
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Trotz dieser Bedenken, die zu berücksichtigen sind, werde ich nicht nur allgemein von Bevölkerungen zwischen Weichsel und Rhein sprechen, sondern auch von Germanen und germanisch sowie von Germanien. Es gibt sonst Probleme mit den zu wählenden Worten und mit der wissenschaftlichen Literatur bis heute, die auf diese Benennungen nicht verzichtet. Bei der Neubearbeitung des Reallexikons der Germanischen Altertumskunde seit den 1965er Jahren war der Germanenbegriff also durchaus auch neu zu bedenken. Deshalb wurde, weil viele Stichworte auch erst jüngst zu erforschen waren, an der Göttinger Akademie der Wissenschaften für die Zuarbeit für das Lexikon eine begleitende Kommission gegründet. Sie hatte den anderslautenden Namen „Kommission für die Altertumskunde Mittel- und Nordeuropas“ und vermied damit den Germanenbegriff. Heinrich Beck schildert den Weg der Kommission von 1968 bis 1991 mit den 35 Arbeitstagungen, die in 17 Bänden von der Akademie publiziert worden sind.91 Es sei daran erinnert, dass Caesar seinerzeit im Bellum Gallicum, die Jahre 58 bis 52 umfassend, gewissermaßen aus politischen Gründen den Siedlungsraum der „Germanen“ und den Namen festgelegt hat, als er alle rechts des Rheins siedelnden Bevölkerungen insgesamt als „Germanen“ bezeichnet hat, wohl gegen besseres Wissen, obwohl dort teilweise durchaus Gruppen mit „keltischer“ Kultur siedelten.92 Ein Zugriff von der Seite der Sprachwissenschaft und der schriftlichen Überlieferung bietet A. A. Lund, weniger wird die Archäologie von ihm berücksichtigt;93 es geht ihm um germanisch sprechende Bevölkerungen und um die Bezeichnung dieser Gruppen. Er spricht denn auch von Germanen erst ab der Vorrömischen Eisenzeit, wie es sich auch Historiker wie R. Wenskus und Archäologen mit Aufkommen der sogenannten Jastorf-Kultur sowie weiter im Osten mit Erscheinen der Przeworsk- und der WielbarkKultur inzwischen angewöhnt haben.94 Caesars Konstruktion der Rheingrenze und sein spezieller Germanenbegriff haben in allen nachfolgenden Jahrhunderten diese Ansichten bestimmt. Nach Eroberung Galliens und der dort lebenden keltischen Bevölkerung wusste er, nicht erst nach dem Brückenschlag über den Rhein,95 dass auf der anderen Seite ebenfalls keltisch sprechende Leute siedelten und dass auch der kulturelle Zuschnitt eher zum Linksrheinischen passte als zu den Verhältnissen weiter im Norden, nördlich der Mittelgebirgszone. Archäologisch gesehen erstreckte sich die keltische politische und gesellschaftliche Organisation weit nach Osten bis nach Böhmen (Tschechien), am überzeugendsten fassbar in den Zentralorten, den Oppida, die Caesar ausführlich mitsamt ihrer Befestigung beschrieben hat. Die Nord-
91 Beck, in: Beck, Steuer (Hrsg.) 1997, 5 f. 92 Ament 1984; Eich 2017; Zeitler 1986/1999. 93 Lund 1998. 94 So auch Reichert 2000, 171 ff.; nach Wenskus 1961, 169 ff. und 174 ff.; Godłowski 1992a; R. Müller 2000; Keiling 2009. 95 Gechter 2007.
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grenze der Oppida-Verbreitung ist deutlich am Rande der Mittelgebirge zu fassen.96 In Süddeutschland am bekanntesten ist das Oppidum Manching bei Ingolstadt.97 Diese Großsiedlung wurde schon um 80 v. Chr. aufgegeben, was gründliche Veränderungen der politischen und damit auch der wirtschaftlichen Situation dieser und der anderen großen Ansiedlungen spiegelt, die manche Wissenschaftler erst mit dem Helvetierauszug in Zusammenhang bringen, eine von Caesar ausführlich dargestellte Wanderbewegung, gegen die er militärisch vorging; andere sehen darin das Vordringen von Bevölkerungsgruppen aus dem Norden, eben von Germanen (vgl. S. 1057). Zwischen den Zentralorten der Eisenzeit, den Oppida auf Bergen und ebenso im flachen Land der Ebenen, gab es Fernkontakte, wie diese auch für die jüngeren Zentralorte und Reichtumszentren in Germanien zu verzeichnen sind (vgl. S. 352 ff.). Auch Tacitus griff, über ein Jahrhundert später nach Caaesar, in der ethnographischen Schrift „De origine et situ Germanorum liber“, der „Germania“, etwa aus den Jahren um 98 n. Chr., diese zusammenfassende Bezeichnung von Bevölkerungsgruppen wieder auf und schilderte im zweiten Teil seiner ethnographischen Schrift zahlreiche Völkerschaften, Stämme und Stammesverbände mit ihren Namen, ihren Sitten und Gebräuchen sowie der Lage ihrer Siedlungsgebiete. Die anhand dieser Darstellung und der Berichte anderer antiker Autoren von der Forschung gezeichneten Karten lokalisieren die „germanischen“ Stämme nördlich der keltischen Gruppen.98 Tacitus’ Meinung, die „Germanen“ seien seit urdenklichen Zeiten unvermischt und ortsansässig gewesen, sowie der berühmte Satz bei der Schilderung der Germanenkriege in den „Annalen“ (Annalen II, 88, 2), Arminius sei „liberator haud dubie Germaniae“, haben bis in die Gegenwart fortgewirkt und dazu gedient, Germanen und Deutsche gleichzusetzen und die Deutschen bis in die Zeit um Chr. Geb. und weiter noch davor in die Vergangenheit zu verfolgen.99 Das hat zu vielfachem Missbrauch und zur Verdrehung der geschichtlichen Realitäten wider besseres Wissen geführt. Es genügt die Feststellung, dass von „Germanen“ in der Diskussion der Historiker in der Regel, wenn überhaupt noch – gestützt auf die schriftliche Überlieferung der Antike – nur von den letzten Jahrhunderten vor bis etwa ins 3. Jahrhundert n. Chr. gesprochen wird und für die Zeit danach überwiegend statt dessen die Namen der neu entstandenen Großverbände Alamannen, Franken und Sachsen als östliche Nachbarn jenseits des Limes genannt werden. Caesar und Tacitus blickten von außen mit zielgerichteter Meinung auf die Landschaften östlich des Rheins bis nach Skandinavien und schufen mit politischem Kalkül die Einheit „Germanen“ und „Germanien“, obgleich sie wussten, dass die Gruppen in diesen weiträumigen Landschaften gar kein Gemein96 Salač 2017, 154 Abb. 1 Karte in Farbe, Oppida nach Größen; Spuren des Menschen 2019, 233 Abb. 2 Karte. 97 Sievers 2001. 98 Bleckmann 2009; dazu Steuer 2012b. Karte nach Bleckmann 2009, 93 Abb. 19; Menghin 1980, 140 Abb. 129 in Farbe; Schlüter 2000, 23 Abb. 2 nach Menghin. 99 Krebs 2012.
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schaftsbewusstsein in dem Sinne hatten, dass sie für sich keinen solchen Namen für die Gesamtheit kannten. Welche Gemeinsamkeiten trotzdem bestanden, wird später erläutert werden. In der römischen Welt waren das eben alles Germanen. Es wurde bei den römischen Kaisern üblich, sich bei einem militärischen Sieg ganz allgemein als Germanenbesieger zu bezeichnen, überliefert auf Münzen und in Steininschriften. Die römische Seite spricht regelmäßig für die Gesamtheit der Bevölkerung rechts des Rheins vielfach von „Germanen“, Triumphe werden über Germanen gefeiert, oder Münzen mit der Aufschrift GERMANIA SVBACTA wurden geprägt (Germanien wurde unterworfen), so in den Markomannenkriegen, und Marc Aurel (161–180) und sein Sohn Commodus (180–192) nahmen den Siegertitel Germanicus (Germanenbesieger) an. Commodus erhielt 182 n. Chr. den Titel Germanicus maximus (größter Germanenbesieger); für Caracalla (211–217) wurden 213 n. Chr. Münzen mit Victoria Germanica geprägt, und in einer Inschrift heißt es ob victoriam germanicam. Sesterzen des Maximinus Thrax zeigen auf der Vorderseite sein Porträt und auf der Rückseite Victoria Germanica (um/nach 236 n. Chr.).100 Nur manchmal werden „Stämme“ genannt, wie z. B. die Markomannen. Die römische Seite hat also ein Germanien und Germanen als die Bewohner dieser Landschaften geschaffen. Zu bemerken ist außerdem, dass die Notierungen der Stammeswohnsitze anhand der Nachrichten aus den antiken Quellen einerseits teilweise das Kartenbild sehr dicht besetzen, aber andererseits auch weiße Flächen bieten. Es ist aber kaum real anzunehmen, dass diese Gebiete damals unbesiedelt waren. Nur haben die Schriftsteller zufällig dazu nichts überliefert, und die Archäologie zeigt durchaus auch hier die üblichen Besiedlungsstrukturen. Vielleicht darf daraus auch geschlossen werden, dass die römische Verortung der Stämme anhand der antiken Quellen nicht stimmen muss. H. Ament hat in seiner Darstellung zu den Siedlungsräumen der Germanen im 1. Jahrhundert n. Chr. die Kulturbereiche wie Elbgermanen101 und Rhein-WeserGermanen102 aber mit den antik überlieferten Stammesnamen kombiniert. Bücher über die „Germanen“ liegen in großer Zahl vor, zumeist von guter wissenschaftlicher Qualität, aber regelhaft schriftliche und archäologische Quellen mit einander vermischend, wobei überwiegend von der Schriftüberlieferung ausgegangen wird, auch wenn höchst qualitätsvolles Bildmaterial mit archäologischen Objekten den Text illustrieren. Nur eine Auswahl soll hier in meiner Bibliographie genannt werden.103 Auf die Schriften von H. Wolfram wurde schon hingewiesen. Bibliographisch sind zahlreiche ältere Werke im Tagungsband zum Abschluss des Real100 Belege hier einfach nach Moosbauer 2018, 30 f., 38, 47, 105 zitiert. 101 Mildenberger 1989; M. Meyer 2013a, 34 Abb. 3 Karte der Stämme; Ament 1997/2003, 49 Abb. in Farbe. 102 R. Müller 2003b. 103 Ausbüttel 2010; Bleckmann 2009; Künzl 2006/2015, 2008/2014; Pohl 2000; Battaglia 2013; Todd 2000.
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lexikons der Germanischen Altertumskunde, „Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft“ aus dem Jahr 2012, zusammengestellt.104 Auch Marco Battaglia geht 2013 in seinem Buch „I Germani. Genesi di una cultura europea“ in erster Linie von einem philologischen Standpunkt, von den Schriftquellen aus, legt ein Schwergewicht auf Religions- und Rechtsgeschichte, berücksichtigt aber – wie auch die anderen Handbücher aus Deutschland oder England – wenn es passt, die archäologischen Quellen; und ebenso wie inzwischen üblich wird von ihm der Bogen von den Anfängen bis zur Wikingerzeit gespannt.105 Anhand der Karte von B. Bleckmann zu den keltischen und germanischen Besiedlungsräumen106 verbindet Battaglia die Jastorf-Kultur mit den jüngereisenzeitlichen Germanen.107 Er berücksichtigt das Handbuch „Die Germanen“ (1978)108 sowie das Reallexikon der Germanischen Altertumskunde; und es gibt ein erstaunlich umfangreiches Kapitel zu Runeninschriften und deren Inhalt. Mehrfach werden alle Großstämme von den Franken bis zu den Burgunden und Sachsen besprochen, aber wenig findet man zu den frühen, in den antiken Quellen genannten Verbänden. Einige Historiker, wie Jörg Jarnut oder auch Walter Pohl, möchten also aus den genannten Gründen den Germanenbegriff überhaupt aus dem Sprachgebrauch der Wissenschaft getilgt bzw. mit entsprechendem Kommentar versehen wissen. Wie soll man aber weiter über Land und Leute sprechen, für die von der Seite der archäologischen Forschung eine ständig wachsende Fülle von neuen Ergebnissen vorgelegt wird? Ich versuche deshalb meist von „Germanien“ als geographischem Gebiet und von „Bewohnern“ bzw. von „Bevölkerung“ dieser Gebiete zu sprechen, halte es aber auch nicht konsequent durch, weil das in der Folge der Darstellung zu hölzern und abstrakt würde, so dass ich doch deshalb von „Germanen“ spreche. Inzwischen haben Miriam Sénécheau und Stefanie Samida in ihrem Buch aus dem Jahr 2016 „Living History als Gegenstand Historischen Lernens. Begriffe – Problemfelder – Materialien“109 über die Definition und Erläuterung geschrieben, was man heute unter „Germanen“ verstehen sollte. Es geht dabei um die „Dekonstruktion“ des Germanischen; und in einem eigenen Kapitel „Wer waren die ‚Germanen‘?“ wird immerhin in diesem neuen Buch für die Schulen bzw. für die Allgemeinheit darauf hingewiesen, dass die Bezeichnung „Germanen“ ein heute unscharf gewordener Begriff ist. Überzeugend wird dargelegt, woher eigentlich die Vorstellung von den Germanen kommt, von den antiken Schriftstellern, dass jedoch die verschiedenen Wissenschaften Unterschiedliches unter „Germanen“ verstehen. Von der Archäolo-
104 Beck, Geuenich, Steuer (Hrsg.) 2012, 749–763. 105 Battaglia 2013. 106 Bleckmann 2009, 71. 107 Battaglia 2013, 27 Fig. 1. 108 Krüger und Autorenkollektiv 1978. 109 Sénécheau, Samida o. J., wohl 2016, 23.
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gie aus gesehen, gestützt auf die Schriftquellen, sollte man von „Germanen“ nach Meinung der beiden Autorinnen höchstens für die Zeit vom 1. Jahrhundert v. bis zum 4. Jahrhundert n. Chr. sprechen, weil später an die Stelle dieser von der antiken Sicht einheitlichen Gruppierung jenseits östlich und nördlich des Limes die neuen größeren Stammesverbände treten. Der Begriff „Germanen“ sollte nur und ganz bewusst als Hilfskonstruktion und Etikett verwendet werden, und man sollte sich darüber im Klaren sein, dass der Sammelbegriff von den Römern übernommen worden ist und modern der Archäologie zur vereinfachten Bezeichnung der kulturellen Hinterlassenschaften in weiten Teilen Nord-, Mittel- und Osteuropas dient. Ein Volk, das sich „Germanen“ nannte, hat es nie gegeben. (Dabei sollten wir aber nicht vergessen, dass Germanen unterschiedlicher Völkerschaften, die im Römischen Reich als Soldaten dienten, eben von der römischen Verwaltung und Politik gehört haben, dass sie von diesen als Germanen bezeichnet wurden. Der Begriff erscheint bei allen Triumpfen für diesen Raum). Die „Stämme“ der sogenannten Völkerwanderungszeit, ein inzwischen ebenso fragwürdig gewordener Sammelbegriff, in Teilen West- und Südeuropas sowie Nordafrikas werden eben nicht mehr als „Germanen“ bezeichnet. Miriam Sénécheau hat das an anderer Stelle weiter vertieft.110 Das völkische Denken seit dem späten 19. Jahrhundert habe parallel zur Rassenideologie und zum Antisemitismus sowie Antislawismus die Vorstellungen bewusst oder unreflektiert einen sehr weit gefassten Germanenbegriff (ausgespannt gar vom Neolithikum bis zur Wikingerzeit) übernommen, und heute sollte besser nur für die Zeit Caesars (100–44 v. Chr.) und Tacitus (um 58–um 120 n. Chr.) und nur bis 300 n. Chr. überhaupt von Germanen gesprochen werden. Zu beachten ist, dass dieses alte überholte Wissen den Weg in die früheren Schulbücher gefunden hatte, das daraufhin im Bürgertum als Allgemeinwissen in der Gesellschaft kursierte und zudem der Geschichtsschreibung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts entsprach; und wichtig ist aber auch, dass nun der Versuch begonnen hat, das in den heutigen Schulbüchern zu korrigieren und ein neues Bild zu schaffen. Nicht zuletzt hat die politische Geschichte, nicht nur die Zeit des Nationalsozialismus, dazu geführt, den Germanenbegriff zu beschädigen und ihn möglichst aus der Diskussion zu nehmen, sowohl bei den Historikern – wie gezeigt –, als auch in der archäologischen Forschung.111 Wer waren also die „Germanen“? Was kann man unter dem Begriff verstehen? Was ist Mythos und was Forschungsrealität?112 Man sollte sich bewusst machen: Die antiken Schriftsteller berichten aus ihrer Sicht und ihrer Sozialisation sowie vor dem Hintergrund ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Umwelt über die Bevölkerung in Germanien. Sie haben in der Regel keine Germanen befragt, was diese davon halten. Andererseits haben Germanen über ihre Befindlichkeiten keine schriftlichen
110 Sénécheau, in: Beck, Timm (Hrsg.) 2015, 108–115. 111 Zuletzt beispielsweise Rieckhoff 2018, 173 ff. 112 Volkmann, Koch-Heinrichs 2014.
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Äußerungen hinterlassen. Es muss daher eine Methode gefunden werden, aufgrund anderer, eben der archäologischen Sachquellen und Ausgrabungsbefunde und der wenigen Bildüberlieferungen in der kunstgewerblichen Kleinkunst, sich diesen Befindlichkeiten, also Lebensrealitäten vergangener Epochen zu nähern. In diesem Buch geben ganz neutral der geographische Raum und die Zeitspanne den Rahmen vor, wie geschildert. Dabei sollte man, da mit der Formulierung „vom Rhein bis zur Weichsel“ wiederum der Blick vom Römischen Reich aus beschrieben würde, besser umgekehrt formulieren, „von der Weichsel bis zum Rhein“. Außerdem reicht die Kommunikation mit Blick wiederum in die andere Richtung über die Weichsel nach Südosten bis zur heutigen Ukraine und der Krim. Aber da man sich mit möglichst einfachen Worten verständigen muss, wird im Folgenden tatsächlich von „Germanien“ und seiner Bevölkerung gesprochen werden, möglichst ohne ständige Nennung von „Germanen“, wenn es um dieses Gebiet geht. In der Antike bezeichneten die Römer mit ihren Provinzen Germania inferior und Germania superior die Verwaltungsgebiete am Rhein, in die auch das Vorgelände jenseits des Stroms mit Blick auf zukünftige mögliche Integrierung einbezogen war, auf die Germania magna für die Landschaften östlich des Rheins. Es sei daran erinnert, dass die Provinzen an der Donau sich aber eher korrekt auf keltische Bevölkerungen bezogen haben; denn dort wurden die Provinzen Raetia und Noricum eingerichtet. Die zu betrachtende Zeitspanne reicht im archäologischen Vokabular von der vorrömischen Eisenzeit bzw. der Spätlatènezeit bis zum Ende der Römischen Kaiserzeit und der frühen Völkerwanderungszeit, also von den letzten Jahrhunderten vor und den ersten vier bzw. fünf Jahrhunderten nach Chr. Geb. (Tabelle 1).113
113 Zusammenstellung der publizierten Zeitangaben in Tabelle 1 (kleine Auswahl): – Jäger 2019, 18 Abb. 4 – Prassolow 2018, 35 Abb. 9 – Rieckhoff 2018, 175 Abb. 1 – Bursche, Kowalski, Rogalski 2017, 394 Abb. 2 – Fabech, Näsmann (Eds.) 2017, Fig. 4 – Meyer, Łuczkiewicz, Rauchfuß (Eds.) 2017, 394 Abb. 2 – Rau 2016/2009, 628 Abb. 2 – Grimm, Pesch (Hrsg.) 2015, 26 Abb. 11 – Grygiel 2015, 131 Abb. 3 (vorrömische Eisenzeit) – Kaczanowski, Przychodni 2014, 139 Fig. 2, 141 Fig. 3 – Mirschenz 2013, 81 Abb. 12 (von Eggers 1955 bis Siegmund 1996 und Pieper 2010) – Tejral 2011, 22 Abb. 1 – Boye, Lund Hansen (Eds.) 2009, 11 Fig. 3 – Nørgård Jørgensen 2003, 200 Abb. – Lund Hansen 1987, 30 Fig. 10 und 38 fig. 12; 2003c, 92–93 Abb. 9 – Ament 1976, 336 Abb. 20 – Böhme 1974, 156 Abb. 51/52.
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Tabelle 1: Chronologische Gliederung der Jahrhunderte um und nach Chr. Geb., der sogenannten Römischen Kaiserzeit in Germanien, nach Phasen bzw. Stufen der Archäologie. n. Chr. 500 400 D 300 C 200
100 B 0
D3
(ab 520)
D3 D2 (auch D1)
(ab 480) (ca. 410
–450)
D1 / C3b
(ca. 375
–410)
C3a
(ca. 310/320
–360)
C2
(ca. 259/260
–320)
C1b
(ca. 210/220
–250/260)
C1a B2b / C1a B2b
(ca. 140/170 (um 150/170) (ca. 120
–210)
B2a B1b B1a
(ca. 70 (ca. 40/50 (ca. 0
–120) –70) –40/50)
(ca. 70
–120)
(ca. 130
–60)
(ca. 200
–130)
A3
A 100 A v. Chr.
A2 A2 A1
D3 D2b D2a D1b D1b
–150/160)
Im Wesentlichen gehen die Bezeichnungen der Phasen B bis D auf H. J. Eggers 1955 zurück und werden bis heute ausschließlich verwendet, mit den noch anzusprechenden immer feineren Unterteilungen. Eine kritische Analyse und Quellenkritik der Grundlagen dieser Chronologie mit Blick auf die Geschichtsschreibung hat H. Knorr 2001 vorgelegt, was jedoch kaum rezipiert worden ist, obgleich ich hier auch einige dieser Kritikpunkte teile.114 Auf den Widerspruch zwischen Ereignisgeschichte und der archäologischen Phasengliederung weise ich im Laufe der Darstellung mehrfach hin. Die hier zitierten Chronologie-Tabellen mit den absoluten Zeitangaben zu den später häufiger zu nennenden archäologischen Stufen bzw. Phasen von Ulla Lund Hansen und Anne Nørgård Jørgensen, beide aus dem Jahr 2003, sind die Grundlagen in diesem Buch.
114 Knorr 2001 und 2002.
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Die Angaben zu den Phasen in Zusammenhang mit den absoluten Zeitangaben sind parallel und auch unabhängig voneinander zu betrachten. Die Phasen für die Römische Kaiserzeit, von der vorrömischen Eisenzeit bis gegen 500 n. Chr. (A bis D), sind von der Archäologie über die Kombination von Sachgütern, meist aus Grabbeigaben, aufgestellt worden. Sie sind inhaltlich unterschiedlich umfangreich, was zu den weiteren Unterteilungen geführt hat. Das Ergebnis ist also eine archäologisch konstruierte Kombination, Vergesellschaftung, von Sachgütern. Da sie in verschiedenen europäischen Landschaften des ehemaligen Germanien erarbeitet worden sind, gibt es Abweichungen und führt zur Aufstellungen von Synchronisationsvorschlägen, was Überschneidungen der Phasenbezeichnungen ergeben hat, z. B. C3b / D1. Die Zielsetzung der archäologischen Forschung war und ist, eine immer feinere Differenzierung zu erarbeiten, wobei nicht mehr zu erkennen ist oder überhaupt noch berücksichtigt wird, ob das eine kulturgeschichtliche Relevanz hat. Geschichtsschreibung beruht grundsätzlich auf chronologischen Angaben, das zeitliche Nebeneinander und Nacheinander ist Voraussetzung. Deshalb ist Ziel der Archäologie, möglichst präzise absolute Daten für die Fundsachen und Befunde zu erreichen. Dazu braucht man eine zweite Synchronisation, über die regionale hinaus, nämlich wie diese Phasen nun mit Jahreszahlen versehen werden können. Wie die Daten gewonnen werden, wird nachfolgend noch erläutert; aber jetzt geht es darum, in einer Graphik Phasenbezeichnungen wie beispielweise B1a und B1b mit Jahresangaben zu verbinden. Das hat zu unterschiedlichen Vorschlägen geführt, die in Schaubildern gezeigt werden (vgl. dazu die Liste in Anm. 113). Die zeitlich immer feiner gewordenen Unter-Phasen dauern teilweise nur noch 20 Jahre, was – das zeigen die jeweiligen Überlappungen – kaum noch greifbare Aussagen bietet, jedenfalls mit dem Blick auf die Kulturgeschichte. Erinnert sei daran, dass das menschliche Leben mehrere Jahrzehnte dauern kann und auch die Arbeitsweise von Handwerkern über Jahrzehnte gleich geblieben ist, auch wenn Moden wechseln. Diese zitierten Synchronisationstabellen wende ich nicht an und biete aber zum besseren Verständnis eine Graphik mit den Phaseneinteilungen und einigen Jahresdaten, ein deutlich vereinfachtes System. In meinen Beschreibungen nenne ich anhand der wissenschaftlichen Literatur, die ich zitiere, die Phasen und füge Jahresangaben in Klammern hinzu. Diese sollten nur als Hinweis gewertet werden, die vereinfacht zur Kulturgeschichte führen. Wie differenziert chronologische Aussagen zu Sachgütern bewertet werden müssen, hat beispielsweise Jan Bemmann anhand der sogenannten Nydamfibeln gezeigt.115 Früher in die Phase C3 der Römischen Kaiserzeit (um die Mitte des 4. Jahrhunderts) datiert, haben seine Studien 1993 gezeigt, was sich hinter einer solchen Benennung eigentlich verbirgt. Zum einen lassen sich die Fibeln in zahlreiche Varianten, hier sechs, untergliedern. Kartiert werden sie vor allem an der Niederelbe und in
115 Bemmann 1993.
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Jütland gefunden (aufgrund des Forschungsstandes mit großen Urnengräberfeldern, wie Sörup und Süderbrarup, Perdöhl und Pritzier sowie Sejflod, vgl. S. 844 ff.), doch weiter hin bis Nordnorwegen und in Schweden. Die einzelnen Kartierungen der Varianten zeigen eine gleichartige Verbreitung. Weiterführend war zum anderen die Analyse der Datierung aufgrund der Verteilung in den Gräberfeldern etwas später in die frühe Völkerwanderungszeit (von 350/360 bis 400, also eher schon D1). Der Widerspruch kommt daher, dass in Dänemark eine Phase C3 im kontinentalen Sinne fehlt, aber als C3 bezeichnet wird, so dass man besser, so J. Bemmann, von einer Nydamfibel-Phase sprechen sollte. Das bedeutet aber zugleich, es kommt wohl darauf an, von welchem Sachentyp man ausgeht, und zeigt zugleich wie relativ chronologische Aussagen aufzufassen sind. Bei diesen schon lange eingeführten Begriffen der archäologischen Frühgeschichtsforschung geht man von der römischen Antike aus und bezieht sich bei der Datierung der Funde und der Befunde, bei der zeitlichen Einordnung der Ausgrabungsergebnisse, auf die römischen zeitlich bekannten „Eingriffe“ in Germanien. Einerseits werden die ereignisgeschichtlichen Vorgänge, die in den Schriftquellen geschildert werden und datiert sind, auf die „germanische“ Welt gespiegelt, beispielsweise auf die augusteischen Eroberungsversuche oder auf die Markomannenkriege. Andererseits hat die Archäologie römische Sachgüter, deren Herstellungszeit bekannt war und die in Germanien ausgegraben worden sind, zur zeitlichen Einordnung von Siedlungen und Gräberfeldern oder auch der einheimischen Sachgüter genutzt. Für jeden einsichtig ist das anhand der Funde römischer Münzen, weil diese Kaiserbildnisse und datierende Inschriften tragen. Das hat außerdem zur Gliederung der gesamten Epoche in Phasen, die mit Buchstaben bezeichnet werden, geführt: Die späte Vorrömische Eisenzeit mit A, die ältere Römische Kaiserzeit mit B1 und B2, die jüngere Römische Kaiserzeit mit C1, C2 und C3, sogar mit weiteren Untergliederungen auf Jahrzehnte wie B1a, B1b, während die frühe Völkerwanderungszeit den Buchstaben D erhalten hat. Diese schon im 19. Jahrhundert formulierten relativchronologischen Stufen- oder Phasengliederungen wurden seit Hans Jürgen Eggers (1906–1975) immer weiter verfeinert und mit absolutchronologischen Datierungsangaben versehen. Gegenwärtig umfassen diese Stufen also oft nur noch zwei oder drei Jahrzehnte, dienen sicherlich in erster Linie zur Verständigung der Wissenschaftler untereinander, sind aber außerdem bewusst oder unbewusst auch regelmäßig von den ereignisgeschichtlichen Vorkommnissen, beispielsweise den Daten der Markomannenkriege, beeinflusst. Ob sie und dann in welcher Weise kulturgeschichtlich von Relevanz sind, wird meistens zu diskutieren vergessen. Es gibt außerdem zahlreiche Synchronisationstabellen, in denen versucht wird, die Phasengliederungen, für verschiedene europäische Landschaften getrennt erarbeitet, zu verknüpfen, wobei dann jeweils leichte Unterschiede zwischen den Grenzen der Phasen wiederum um zehn oder zwanzig Jahre erkannt werden. Das liegt nicht an den verschiedenen Bearbeitern oder an der abweichenden kulturellen Entwicklung, sondern auch daran, dass für die Phasendefinitionen unterschiedliche Grabbeigabenkombinationen gewählt werden oder
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dass die Frage auch dahingeht, wie ein bestimmter Typ des Sachguts, eine Waffe, ein Gürtelbeschlag, ein Glas oder eine Keramikform denn nun zu datieren ist und welche Laufzeit gehabt hat, d. h. wieviele Jahre oder Jahrzehnte seit der Herstellung ein Objekt verwendet worden ist. Sitten und Gebräuche entwickeln sich anders als handwerkliche Produkte, eine Fibelform oder ein Schwert. Die Chronologie historischer Ereignisse ist wiederum anders. Somit ist es kaum sinnvoll möglich, Ereignisse, Sitten und Sachen zu parallelisieren bzw. zu synchronisieren und einheitlich einer Zeitphase zuzuordnen. Alle Versuche mit statistischen Methoden der Korrelation, Seriation oder Korrespondenzanalyse liefern nur Ergebnisse, die von den eingegebenen Parametern abhängen, und die Ergebnisse sind relative Abfolgen. Die abgebildete Zeittabelle ist daher nur als vereinfachtes Verständigungsmittel anzusehen, so wie das die Wissenschaft im Wesentlichen heute auch so sieht. Um zusammenzufassen, im Verlauf der Abhandlung spreche ich von Phasen (andere von Stufen) mit den Benennungen von A über B und C bis D von der späten vorrömischen Eisenzeit (A) über die Römische Kaiserzeit (B und C) bis zur frühen Völkerwanderungszeit (D) mit den Unterteilungen. Dabei beziehe ich mich auf die zitierten Arbeiten und füge zum besseren Verständnis Jahreszahlen in Klammern hinzu. Diese halte ich weit gespannt; denn die zu feinen chronologischen Ansätze von einem oder wenigen Jahrzehnten halte ich – wie oben erläutert – nicht für kulturgeschichtlich relevant und weiterführend. Ich prüfe auch nicht in jedem Fall und bei jeder Arbeit, welche absoluten Daten jeweils dahinterstehen sollen. Der Vergleich der Chronologie- bzw. Phasentabellen zeigt denn auch einerseits im Verlauf der Forschungsgeschichte Verschiebungen im Zeitansatz (oft nur um vermutete oder akzeptierte „zehn“ Jahre) und andererseits Abweichungen – wie auch schon thematisiert – um wenige Jahre und Jahrzehnte bei der Synchronisierung oder Korrelation von den Phasentabellen in verschiedenen geographischen Gebieten. Da es mir um kulturgeschichtliche Ergebnisse der archäologischen Forschung geht, nicht um Aussagen zur Ereignisgeschichte, geht es mir auch nicht um diese chronologischen Feinstudien. Denn kulturgeschichtliche Aussagen lassen sich selten auf ein Jahrzehnt genau einordnen. (Die Bemerkung zur Chronologie betrifft nicht nur die ersten Jahrhunderte n. Chr., sondern auch die Völkerwanderungs- und Merowingerzeit und insgesamt die Methodik, auf diese Weise die Entwicklung und Veränderung von Sachgütern, Sitten und Gebräuchen zeitlich einordnen zu können, denn sonst lässt sich ohne sichere Chronologie keine Geschichte schreiben.) Somit störe man sich nicht an Formulierungen, derer auch ich mich bedienen werde, wie etwa „späte Römische Kaiserzeit in Pommern“, da niemals ein römischer Kaiser diese Landschaften besucht hatte, aber seine Münzen gelangten in diese Gegenden. Ein ähnliches weiteres Fachvokabular beherrscht die archäologische Forschungsliteratur bei der Bezeichnung der Sachgüter, die als Schrott aus Siedlungen und vollständig als Grabbeigaben dokumentiert werden. Der Kleidungschmuck, Gewandnadeln bzw. Fibeln, werden nach dem grundlegenden Werk von Oscar Almgren aus
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dem Jahr 1897 benannt (beispielsweise Almgren 65 oder A 65).116 Ihr Aussehen wird namengebend: Augenfibeln, kräftig profilierte Fibeln, Kniefibeln, Fibeln mit hohen Nadelhaltern (vgl. S. 483 ff.). Nach der Vergrößerung der Fundmengen haben andere Archäologen neue Nummern vergeben. Die Metallgefäße aus Bronze und auch die Gläser, importiert nach Germanien aus dem Römischen Reich, werden nach dem ebenfalls grundlegenden Werk von Hans Jürgen Eggers aus dem Jahr 1951 (zum Beispiel Eggers 125 oder E 125) benannt.117 Wie wenig diese Stufen- oder Phaseneinteilung, einmal geschaffen und damit zum festen Bestandteil der wissenschaftlichen Darstellung geworden, noch der kulturgeschichtlichen Realität ferner Zeiten entspricht, wird allein daran schon deutlich, dass regelmäßig Formulierungen gefunden werden müssen, die stufenübergreifend lauten, beispielsweise B1b/C1. Eigentlich bedeutet dieses Faktum, dass archäologische Periodisierung, Entwicklung der Sachgüter und Ereignisgeschichte nicht unmittelbar zu einander passen.118 Es geht weiter auch in die jüngere Zeit; denn auffällig ist und betont wird die Kontinuität bei der Beschreibung von Siedlungsbefunden und Gräberfeldern, sogar bei Depot- bzw. Hortfunden, dass damit zugleich die (späte) Römische Kaiserzeit und die (frühe) Völkerwanderungszeit erfasst werden. Das spiegelt eine zeitliche Gliederung durch die Archäologie, die zur Ereignis- und Kulturgeschichte nicht (mehr) passt. Und die römischen Gefäße werden oftmals nach der äußeren Form beschrieben, beispielsweise gewellte Eimer, oder nach dem ersten Fundort, beispielsweise Hemmoorer Eimer, einem kleinen Ort Hemmoor in Niedersachsen. Ich betone das deshalb, weil es kaum möglich ist, archäologische Fundkomplexe zu beschreiben ohne diese eingebürgerten Begriffe. Ich habe mich mehrfach zu diesen engen chronologischen Ansätzen geäußert und dafür plädiert, bei Stufen von 50 Jahren zu bleiben, sofern man allgemeine Aussagen machen will.119 Es gibt dagegen Argumentationen, u. a. von F. Siegmund,120 die zu begründen versuchen, dass derartig feine Abstufungen von dreißig, zwanzig oder gar nur zehn Jahren berechtigt seien. Welche Stufenlängen man aber auswählt, hängt von der Fragestellung und den Ausgangsquellen ab. Auf einem Gräberfeld lassen sich enge Belegungsfolgen herausarbeiten; diese sind aber auch mit ihrem Inhalt nicht auf andere Orte oder Gebiete zu übertragen. Daraus abgelesene Verwendungsdauern von Sachgütern, nämlich auf der Basis von Grabbeigabenkombinationen, bieten auch andere kulturgeschichtliche Aussagen als die abgeleiteten abstrahierten Stufenfolgen. Wozu braucht man Stufen- oder Phasengliederungen? Um sich allgemein untereinander als Archäologen zu verständigen, wo man sich bei den zu bewertenden
116 Almgren 1897/1923. 117 Eggers 1951. 118 Tejral 2015c. 119 Steuer 1977; 1998e; 2017 (2018), 15 Abb. 2 wie schon 1977. 120 Siegmund 2012; 2017.
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Befunden zeitlich ungefähr befindet, und man sollte dabei in der Archäologie bleiben und keine ereignisgeschichtlichen Folgen daraus ziehen. Das hat jüngst M. Friedrich für die Merowingerzeit nachdrücklich gezeigt.121 Schon früher haben statistische Verfahren zur Typochronologie über Seriation, Korrespondenz- und Clusteranalysen verfeinerte Sachgüterabfolgen anhand der Beigabenkombinationen erbracht, die als allgemeine Beschreibungen (teilweise) nützlich sind, aber ebenfalls weder kulturgeschichtlich noch ereignisgeschichtlich weiterhelfen.122 Anhand der relativ noch wenigen exakten Daten, die über Dendrochronologie zu gewinnen sind, erzielt man wiederum nur punktuelle Angaben, deren mögliche weiterreichende Verwendung zuvor komplexe methodische Überlegungen erfordert. Vergleichbares gilt für den Einsatz der Radiocarbon-Methode, die auch bei serienmäßiger Anwendung wie für die angelsächsischen Gräberfelder wiederum verallgemeinert werden, um Stufengliederungen zu erreichen, die jedoch keine neuen kulturgeschichtlich relevanten Aussagen erbracht haben.123 Doch um diese Problematiken gründlich zu behandeln, wäre eine eigene Publikation sinnvoll. Meine Kritik wird oftmals anscheinend nicht verstanden. Im Leben und Produzieren von Sachgütern gibt es nur Kontinuitäten, die kulturellen Erscheinungen wandeln sich fließend. Es gibt Verwischungen durch die Lebensdauer der Produzenten von Sachgütern und die Verwendung von Nutzern. Alle archäologischen Stufen- oder Phaseneinteilungen sind – bei genauer Betrachtung – statistische Konstrukte, die nur zur Verständigung in der Forschung dienen, aber kein Abbild der vergangenen Lebenswirklichkeit sein können.124 Es handelt sich bei archäologischen Phasen, Stufen, Horizonten oder Generationen eben nicht um historische Realitäten, sondern ausschließlich um wissenschaftliche Konstrukte.125 Der Zielsetzung dieses Buches widerspricht es eigentlich grundsätzlich, wenn ständig bei Fragen nach der Zeitstellung von „Römischer Kaiserzeit“ in Germanien gesprochen wird. Doch kann ich die Forschungsgeschichte und die Methodik der Archäologie nicht außen vor lassen; und so bleibt es bei dem Kompromiss, dass auch ich von Römischer Kaiserzeit und der Nennung der Stufen sprechen werde. Ich werde zudem versuchen, jeweils reale Datierungen nach Jahrzehnten bzw. Jahrhunderten zu bieten. Methodisch ist es schon beachtenswert, dass der Übergang von der älteren zur jüngeren Römischen Kaiserzeit nahe zu den Jahrzehnten der Markomannenkriege liegt. Folgt die Datierung nun der Ereignisgeschichte, oder kann man tatsächlich unabhängig allein aus dem archäologischen Quellenmaterial diesen Übergang datieren? Die Arbeiten am Chronologiesystem durch verschiedene Forscher haben leicht unterschiedliche Stufenlängen und absolute Datierungen geliefert, und daher findet man in den Publikationen regelhaft auch Tabellen, die das Nebeneinander verschie121 Friedrich 2016. 122 Ein junges Beispiel Gizard, Legoux 2016; nachfolgend zahlreicher Publikationen von R. Legoux. 123 Hines, Bayliss (Hrsg.) 2013. 124 Siegmund 2012; 2017. 125 Friedrich 2016, 129 mit Anm. 202.
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dener Chronologievorschläge abbilden und Versuche der Synchronisation bieten (vgl. Anm. 113). Das Fehlen guter Übereinstimmung hat verschiedene Gründe; unterschiedliche Ausgangslagen, verschiedene methodische Vorgehensweisen einerseits, aber andererseits auch – und das scheint mir entscheidend zu sein – das unterschiedliche Verhalten der dahinterstehenden Bevölkerung in verschiedenen, weit auseinander liegenden Landschaften. Der Zwang, zu stark egalisieren zu wollen, geht an der damaligen Realität vorbei. Im Reallexikon der Germanischen Altertumskunde findet man 1981 derartige Synchronisationen schon mit den Unterstufen, z. B. für C1a und C1b mit Zeitspannen von weniger als 50 Jahren.126 Ulla Lund Hansen bietet 1987 ein Schaubild von rund 15 Systemen von 1874 bis 1987, das sämtliche Unterstufen parallelisiert, die mehrheitlich um die 30 Jahre umfassen.127 Da die Stufe A – aus welchen Gründen auch immer – noch in die jüngere vorrömische Eisenzeit gehört, ist die ältere Römische Kaiserzeit daher von Anfang an als B bezeichnet worden, die jüngere dann mit C, während D den Übergang zur Völkerwanderungszeit markiert. Zentral wirkt bis in die Gegenwart die Aufstellung der absoluten Chronologie durch Hans Jürgen Eggers 1955.128 Natürlich ist seit langem bekannt, „dass regional gültige Chronologiesysteme keineswegs einheitlich auf große Räume ausgeweitet werden könnten“,129 wird aber oftmals nicht berücksichtigt. Es geht hier aber nicht um weitere Diskussionen zu den chronologischen Gliederungsversuchen der Archäologie, sondern um den Versuch, dem Leser diese Nomenklaturen verständlich zu machen. Diese Bezeichnungen sind das Ergebnis jahrzehntelanger fachinterner Forschungen und Diskussionen der Archäologie, die damit zu einer Tradition wurden. Man kann auch behaupten, über das Hilfsmittel zur Verständigung chronologischer Probleme hinaus wird leider vergessen, was dahinter an Lebensrealität gestanden haben wird.130 Gründe muss es doch gegeben haben und geben, warum die Stufen anfangs verschieden lang waren, wenn erst die immer weiter getriebene Untergliederung vordergründig zu einem kontinuierlichen Bild geführt hat. Die Aneinanderreihung von nur noch generationslangen Stufen von etwa 30 Jahren spiegelt also eine kontinuierliche Entwicklung, und so wird die damalige Realität am ehesten beschreibbar. Es verzerrt sehr leicht das Bild für eine von Rom unabhängige Bevölkerung, wenn bei Angaben von zeitlicher Einordnung von „Römischer Kaiserzeit“, gar älterer oder jüngerer Römischen Kaiserzeit, in Germanien gesprochen wird, beispielsweise bei der Datierung einer Siedlung oder einer Bestattung im heutigen Nordostdeutschland. Nur für eine sehr knappe Phase, als nämlich Augustus (Kaiser 27 v. bis 14 n. Chr.) versucht hatte, Germanien bis zur Elbe zur Provinz zu machen, hätte das vielleicht einen Sinn, ein Ziel, das nach der Varus-Katastrophe 9 n. Chr. aufgegeben wurde. Als 126 Jankuhn 1981. 127 Lund Hansen 1987, 30 Fig. 10. 128 Eggers 1955. 129 Jankuhn 1981, 659. 130 z. B. Kaczanowksi, Przychodni 2014.
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Ausnahme könnte man die Einbeziehung des friesischen Gebietes in die römische Verwaltung in den Jahren von 12 v. bis 28 n. Chr. betrachten, ehe Kaiser Claudius (41–54) im Jahr 47 n. Chr. den Rhein endgültig als Grenze bestimmte. Im Gegensatz zur Zielrichtung dieser Abhandlung, in der Germanien und die dortige Bevölkerung im Mittelpunkt stehen sollen, ist es heute kaum möglich, sich von dem bestehenden wissenschaftlichen Vokabular zu lösen, ohne völlig abstrakt und schwer verständlich zu werden. Die „Römische Kaiserzeit“ in der Germania magna bedeutet eben nicht, dass Rom diese Landschaften in sein Imperium einbezogen hatte. Denn das war seit der Niederlage des Varus und auch später nicht mehr gelungen. Natürlich hat es einen beachtlichen Einfluss der römischen Zivilisation auch auf die „Germanen“ und auf ganz Germanien gegeben, was die Archäologie zeigen kann, aber Eigenständiges überwiegt über die Jahrhunderte hinweg, wie geschildert werden wird. Die einseitige Sicht von der römisch-antiken Seite auf Germanien und die Bewohner hat denn auch zu den zahlreichen Vorurteilen geführt, die im kollektiven Gedächtnis bis heute, und nicht nur, aber durchaus auch bei den Wissenschaftlern herrschen, und es ist nur mit viel Geduld möglich, neue, auf den modernen Forschungen beruhende Ergebnisse durchzusetzen bzw. dass diese überhaupt bemerkt und akzeptiert werden.
3.1 Meine Thesen Zum Verständnis dessen, was ich meine, seien nur einige dieser Vorurteile schon hier beispielhaft aufgeführt; andere werden später erläutert werden. Es beginnt mit der Frage, warum Rom Germanien nicht zur Provinz gemacht hat oder machen konnte und schließlich gar nicht wollte, wenn man der römischen Überlieferung glaubt, die nicht zugab, dass man es nicht schaffen konnte. Es hätte sich nicht gelohnt, so die antiken Schriftquellen, die armselig lebende Bevölkerung zu erobern, und es gäbe dort keine gewinnbringenden Rohstoffe. Noch in einem Buch aus dem Jahr 2018 werden die üblichen Vorurteile wiederholt; es sind nur „bettelarme, keinen Gewinn bringende Barbarenverbände“, die dort siedelten.131 Das geht auf die schriftliche Überlieferung zurück, in der eine solche Bewertung immer wieder zu lesen ist. „Das römische Heer zieht achtlos an diesen Siedlungen vorbei. Die Soldaten haben keine Lust zu plündern. Alles ist so erbärmlich – viel ärmlicher als die Welt der römischen Gutshöfe“. Nicht nur die militärische Stärke der „germanischen“ Kriegerverbände stand dem entgegen – was sich doch auch darin spiegelt, dass seit der Zeit des Augustus bis in die Spätantike große Kontingente germanischer Söldner das römische Heer unterstützten. Vielmehr lag es an der völlig anderen politisch-gesellschaftlichen Organisation der Bevölkerung jenseits des Rheins, die nicht zu vergleichen ist mit den hierarchisch
131 Moosbauer 2018, 7, 19, 74 Zitate.
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gegliederten keltischen Gruppen. In deren Gebiet war es für Caesar leicht, wenn er die Zentralorte erobert und die Stammesführer zur Unterwerfung gezwungen hatte, das gesamte Land als Provinzen ins Römische Reich einzugliedern. Bei der Bevölkerung rechts des Rheins gab es anfangs weder die Zentralorte als politische Mittelpunkte, noch beständige Anführer, mit denen man Verträge schließen konnte, sondern für die erfolgreichen Feldzüge zum Beispiel gegen Rom schlossen sich die Krieger unter akzeptierten, aber oft wechselnden Heerführern regelmäßig spontan und nur auf Zeit zusammen. Weitere Vorurteile sind die undurchdringlichen Wälder und Sümpfe, die Germanien bedeckt haben sollen, und das schaurige regenreiche Wetter. Beides diente dazu, kriegerische Niederlagen zu entschuldigen. Germanien war demnach zu dünn besiedelt und unwegsam. Aber sogar Tacitus (Germania c. 4) schreibt in der Germania von einer gewaltigen Bevölkerungszahl (in tanto hominum numero). Aber warum konnten dann römische Einheiten vom Rhein bis zur Elbe marschieren und sich aus dem Land versorgen, warum wird immer wieder darüber berichtet, dass Dörfer und bestellte Äcker verbrannt und vernichtet wurden, an denen man vorbeimarschierte, wenn das Land nur sporadisch besiedelt gewesen sein soll? Die Länder wären ohne brauchbare Rohstoffe und arm an Eisen. Warum wurden dann über die Grenzen hinweg Bleibergwerke betrieben bzw. Blei eingehandelt und bergmännisch gewonnenes Eisen – im heutigen Polen – im Überfluss gewonnen, so dass dieses auch ins Römische Reich exportiert worden ist. Im Übrigen konnte jede dörfliche Siedlung Eisen in eigenen Verhüttungsöfen gewinnen und hat das auch flächendeckend getan, da überall in der norddeutschen Tiefebene und darüber hinaus der Rohstoff als Ortstein, Raseneisenerz oder Manganknollen ausreichend vorhanden war. Mehrfach wurde schon davon gesprochen, dass die archäologische Forschung in den letzten Jahrzehnten außerordentliche Fortschritte gemacht hat und die Quellenbasis zur Kulturgeschichte erheblich erweitert wurde. Die älteren Ausgrabungen erschlossen in der Regel Gräberfelder und versuchten anhand der Grabbeigaben, also nur anhand eines Bestattungsbrauchtums, die Lebensumstände und den zivilisatorischen Zuschnitt zu rekonstruieren. Die Struktur der Siedlungen zu den Gräberfeldern war kaum bekannt, ebenso wusste man wenig über Kultplätze oder die Wirtschaftsweise. Deshalb war man so auf die Schriftüberlieferung der Antike angewiesen, um von ihr aus Erklärungen zu finden. Heute stehen für die Schilderung der Lebensweise die Ergebnisse der Ausgrabungen von vielen hundert Dörfern zur Verfügung. Zahlreiche Siedlungen mit mehreren Dutzend Hektar Größe sind vollständig freigelegt worden und tausende Grundrisse von Häusern sind dokumentiert. Dazu kommt die Auswertung der organischen Reste durch die Archäobotanik und Archäozoologie, was nicht nur die Klima- und Landschaftsgeschichte zu rekonstruieren erlaubt, sondern ebenso den Züchtungsgrad der angebauten Getreidesorten und anderer Pflanzen sowie des Viehbestandes. Auch dass „Germanen“ eigentlich keine oder kaum Burgen oder Befestigungen kannten – was Archäologen noch in den 1979er Jahren behaup-
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teten132 – ist inzwischen durch zahlreiche Befunde widerlegt. Früher glaubte man der Schriftüberlieferung, die sagte, dass „Germanen“ keine Kultbauten hätten und ihre Götter „nur“ in Heiligen Hainen verehrten. Auch diese Vorstellung hat sich durch archäologische Ausgrabungen grundlegend geändert. Tacitus überliefert, wie Krieger aus dem Stämmeverbund der Sueben dadurch ausgezeichnet seien, dass sie die langen Haare zum sogenannten Swebenknoten seitlich hinten am Kopf zusammengebunden hätten.133 Und weil diese Haarmode für die Aufwertung des Kriegerischen stand, hätten auch Nachbarn aus anderen Stämmen diese Sitte der Sueben übernommen. Archäologische Funde haben das bestätigen können, und das in mehrfacher Hinsicht. Einerseits sind real Schädel mit derartigem Kopfschmuck ausgegraben worden – der Kopf von Osterby mit Swebenknoten wurde 1948 gefunden –,134 und zwar weitab von den Siedlungsgebieten der Sueben, die im mittleren Deutschland zwischen Elbe und Oder lokalisiert werden, und andererseits hat das die Römer immer wieder fasziniert, wohl wegen der Stärke dieses kriegerischen Gegners. Es gibt zahlreiche bildliche Darstellungen und kleine Plastiken aus Bronze mit Köpfen, die den Swebenknoten tragen, hergestellt im Römischen Reich.135 Vor wenigen Jahren wurden außerdem überraschend zwei große GetränkeKessel als Beigabe in Gräbern der „germanischen“ Elite entdeckt, deren vier bzw. drei Henkel-Attaschen als Köpfe mit Swebenknoten ausgebildet sind. Im 1988 entdeckten Königsgrab von Mušov in Mähren stand ein solcher Kessel, datiert wohl 180 n. Chr., und im pommerschen Czarnówko, etwa 20 km von der Ostseeküste entfernt, wurde im Jahr 2000 ein zweiter Kessel gefunden,136 hergestellt gegen 200 n. Chr. (Abb. 3).137 Es ist davon auszugehen, dass diese Bronzekessel in römischen Werkstätten hergestellt worden sind – oder vielleicht auch durch römische Handwerker in Germanien selbst –, jedenfalls sind beide in Germanien ausgegraben worden.138 Für den Kessel von Mušov gibt es zur Datierung eine Spannweite, und zwar von der zweiten Hälfte 2. Jahrhundert oder der spätesten Phase B2 (um 150 n. Chr., so J. Tejral), bis später Phase B2/C1 (deutlich nach 150 n. Chr. datiert), also eine Zeitspanne von den 160er bis in die 180er Jahre.139 Der Vergleich mit stadtrömischen Sarkophagen zeigt, so K. R. Krierer, dass die – so eine These – angesetzten Büsten nicht älter als der Kessel sein können, und er datiert das Ensemble in die Zeit von 166 oder 132 Mildenberger 1978. 133 Die Benennung Sueben und Sweben wechselt in meinem Text, weil im RGA von Sweben und vom Swebenknoten gesprochen wird. Ebenso wechselt die Bezeichnung zwischen Alamannen und Alemannen, und eine Vereinheitlichung beabsichtige ich nicht. 134 Gebühr 2002. 135 Steuer 2007 f. 136 Mączyńska, Rudnicka 2004. 137 Zu den Abb.: Mušov – Tejral 2002a, Taf. 19; Peška 2008, 58 Kat.-Nr. 566; Carznówko – Mączyńska, Rudnicka 2004, 401 Abb. 3.1 und 402 Abb. 4.1a. 138 Tejral 2004. 139 Krierer 2002; vgl. auch Haak 2007.
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Abb. 3: Germanenkopf mit Swebenknoten vom Kessel von Czarnówko, Polen.
aber um das Jahr 180 mit dem Friedensschluss des Commodus. Die Herstellung wird in Brigetio vermutet; der Kessel von Czarnówko könnte zwei Generationen vor dem Mušov-Kessel entstanden sein, was aber von M. Mączyńska nicht akzeptiert wird. Der Kessel von Mušov hat einen oberen Durchmesser von 21,8 cm und eine Höhe von 17,4 cm, an ihm sind vier Swebenköpfe angesetzt. Der Kessel von Czarnówko hat einen oberen Mündungsdurchmesser von 28,8 cm und eine Höhe von 17 cm; an ihm sind drei Swebenköpfe als Attaschen angebracht. Beides sind vom Typ her Westlandkessel (dazu unten S. 468). Es gibt außerdem römische Kessel mit Frauenkopf-Masken als Henkelattaschen oder Eimer allgemein mit Gesichtsattaschen, so auch in Czarnówko im selben Grab 430. In Mušov sind die Köpfe als realistische Büsten gestaltet, in Czarnówko waren die Köpfe bei der Ausgrabung abgefallen, denn sie waren nur auf den Plaketten aufgesetzt.
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Im Jahr 2018 ist in der Ukraine ein dritter Kessel mit Swebenkopfattaschen gefunden worden, im „Fürstengrab“ von Kariv, Sokal’skij raion, obl. Lwiw, Westukraine. Das Gräberfeld wurde vom späten 1. bis weit in die zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts belegt. Das Grab mit dem Kessel wird in die Zeit der Markomannenkriege datiert.140 Der Bronzekessel enthält drei Attaschen mit Swebenköpfen, also mit Haarknoten und spitzem Bart. Weitere Beigaben sind ein Eimer mit Gesichtsattaschen für den Henkel, eine emailverzierte Trinkhornkette und Endbeschläge, und ein Glas. Ich gehe zwar davon aus, dass Attaschen in Form eines Germanen mit Swebenknoten im Haar etwas Besonderes dargestellt haben. Aber ich weise darauf hin, dass Attaschen an römischen Bronzegefäßen vielfach plastisch gestaltet waren und häufig auch als Gesichtsmasken. Mit diesen Kesseln wird ein weiteres Ziel dieser Abhandlung angesprochen. Wie nämlich kann man anhand archäologischer Ergebnisse auf die Gedankenwelt der Bevölkerung in Germanien schließen. Da die „Germanen“ keine Schriftüberlieferung kannten – mit Ausnahme der Runenschrift, die jedoch in der Anfangszeit in der Regel über Namen hinaus kaum weitergehenden Aussagen enthalten – und nicht auf die römische Interpretation zurückgegriffen werden soll, muss versucht werden, die heimischen Bodenfunde und Befunde zum Sprechen zu bringen. Das ist methodisch ein komplexes Unterfangen; denn einerseits ist auch der Archäologe in seinem Denken nicht frei, weil er die antike Überlieferung ebenso wie der Althistoriker kennt und diese unbewusst nicht immer ausklammern kann, und andererseits werden Deutungen aufgrund von allgemeinen Analogien aus dem gegenwärtigen Denken von weltweit bekannten anderen Kulturen und aus einfachen Plausibilitätserwägungen entwickelt (zum Stellenwert der Analogien bei der Interpretation archäologischer Befunde vgl. unten S. 1291). Mit dem Blick auf die beschriebenen Kessel mit den Henkeln aus Köpfen mit Swebenknoten darf man fragen, was sich die Auftraggeber, Hersteller und Nutzer jeweils bei dieser Darstellung von Germanen gedacht haben, bis hin zur Überlegung, warum man dann diese Gefäße auch als besondere Grabbeigaben gewählt hat. Sind die Köpfe nun Ausdruck von Ranghöhe eines Germanen oder gerade das Gegenteil, weil sie als Henkelschmuck eine dienende Funktion hatten? Haben Römer diese Kessel mit den Köpfen anfertigen lassen, um sich über Germanen zu erheben, auf diese hinab zu schauen? Aber warum haben dann Angehörige der germanischen Elite gerade diese Kessel als Beigabe für die Grabausstattung gewählt? Mušov liegt nicht weit entfernt von der Grenze zum Römischen Reich, und es gibt dort am Ort nahebei Bauwerke in Siedlungen, die in römischer Manier errichtet worden sind. In dieser römischgermanischen Kontaktzone verhielt sich die Elite vielleicht auch ambivalent. Aber 140 Vortrag von J. Onyshchuk, J. Schuster am 22.11.2018 bei der Römisch-Germanischen Kommission in Frankfurt am Main. Ein Vorbericht in der Germania ist vorgesehen. Ich danke H.-U. Voss für seine Großzügigkeit, mich über die Tagung und den Fund zu informieren, bei einem Kolloquium der Göttinger Akademie der Wissenschaften im November 2018.
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das polnische Czarnówko ist so weit vom Römischen Reich entfernt, dass eine „Kontamination“ eigentlich nicht vermutet werden kann. Wie dem auch sei; es ist Aufgabe, darüber nachzudenken. Zumal festgehalten werden kann, dass es diesen Befund, diese Objekte mit Swebenknoten tatsächlich gegeben hat, was vor wenigen Jahren noch nicht gedacht werden konnte. Indirekt kommt man jedoch durchaus an Möglichkeiten heran, zu erschließen, wie die damalige Bevölkerung oder wenigstens die Elite in Germanien gedacht haben könnte. Wenn Tacitus gemeint hat, dass diese Bewohner – „Germanen“ – immer dort gelebt haben, wo sie zu seiner Zeit noch siedelten. Er sagt (Germania c. 2): Ipsos Germanos indigenas crediderim minimeque aliarum gentium adventibus et hospitiis mixtos (Die Germanen selbst sind Ureinwohner, wie ich glauben möchte, und durch Zuwanderung und Aufnahme fremder Stämme gar nicht vermischt), dann ist das ebenfalls eine vorgefasste These, die zu einem bestimmten Zweck von ihm formuliert worden ist, eben mit Blick auf Verhältnisse im Römischen Reich. Doch sind in den Schriftquellen vielfach Wanderungen von Stämmen und Stammesteilen in Germanien überliefert. Die Archäologie hat aber bisher vergeblich versucht, Spuren dieser meist militärisch zu begründenden Bewegungen zu finden. Darüber wird später unter dem Stichwort „Mobilität“ noch berichtet werden. Dies ist also vielfach auch ein dauerhaftes Vorurteil; denn die – aus archäologischer Sicht – kurzfristigen Wanderungen der Kimbern in den Jahren zwischen 120 und 101 v. Chr. Geb. von der jütischen Halbinsel bis zu den Alpen und ins römische Grenzgebiet sind ebenso wenig archäologisch zu erkennen, wie die Kriegszüge der swebischen Kriegerverbände unter ihrem Anführer Ariovist (gestorben um 54 v. Chr.), der seit 71 v. Chr. Geb. ins linksrheinische Gebiet der Kelten eingedrungen war und 58 v. Chr. von Caesar militärisch geschlagen worden ist. Zu beachten ist, dass es immer Kriegerverbände waren, die da „wanderten“, und nicht etwa bäuerlich wirtschaftende Siedler. Zu den Wanderungen der Kimbern und Teutonen gibt es mehrere Rekonstruktionen des möglichen Wanderweges, und zwar anhand der überlieferten Daten der Züge und über die Militäraktionen der Römer dann im Süden (vgl. S. 990 mit Abb. 77).141 Doch diese rekonstruierten Streckenführungen haben keinen Bezug zu den Siedlungsgebieten von Völkerschaften, die auf den Karten eingetragen sind. Anscheinend sind die wandernden Verbände ohne großen Schaden anzurichten durch die besiedelte Landschaft gezogen; denn es gibt keine archäologisch fassbaren Spuren. Problematisch sind ebenso die Versuche, die Züge größerer Verbände während der sogenannten „Völkerwanderungszeit“ archäologisch zu erfassen. Die damit verbundene dauerhafte Landbesetzung größerer Stammesverbände wie die der Franken und Alamannen und die Übernahme der entscheidenden Positionen in den römischen Verwaltungsstrukturen seit dem 3./4. Jahrhundert im zivilen und militärischen Bereich durch die Elite dieser Gruppen sind aber nicht das Ergebnis von Wanderun-
141 Luginbühl 2014, 348 Fig. 1 und 356 Fig. 3; Martens 2000; Grünewald 2000.
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gen, wie man das früher annahm. Nach der alten Vorstellung zogen ganze Stämme mit Männern, Frauen und Kindern, mit Planwagen und Vieh, in langem Treck aus dem Inneren Germaniens – wie die Züge der Einwanderer in Nordamerika gen Westen – und „überfluteten“ schließlich die Grenzen des Römischen Reichs, sondern gegenwärtig geht man davon aus, dass gut organisierte und trainierte militärische Verbände unter erfolgreichen Anführern, Kriegsherren oder „War Lords“, die römischen Provinzen bedrängten, Beute machten und Lohn forderten, ehe sie entweder von der römischen Verwaltung die „Erlaubnis“ bekamen, sich auf Provinzboden als Foederaten niederzulassen (wo sie dann auch Frauen und Kinder hatten), oder sie besetzten als militärisch dominante Einheiten einfach bestimmte Areale. Dies näher auszuführen, ist hier nicht der Platz; doch soll wenigstens angedeutet werden, dass auch dieses alte Vorurteil des wandernden Trecks inzwischen aufgrund der neuen Forschungsergebnisse aufgegeben werden musste. Um zusammenzufassen: Eigentlich hat es also keine „Germanen“ gegeben, aber doch verschiedene, eine „germanische“ Sprache sprechende Bevölkerungsgruppen in Mitteleuropa und dem südlichen Nordeuropa. Von den archäologisch gewonnenen Quellen aus wird nun von mir versucht, die Kulturgeschichte dieser Leute zu beschreiben und von diesen Quellen aus auch an mögliche Widerspiegelungen ihres Denkens heranzukommen, an die Gründe und Motive für ihr Handeln, abzulesen an den Relikten dieser Handlungen, die hinterlassen und über Ausgrabungen wieder freigelegt worden sind. Es wird also versucht, der Erzählung der antiken und modernen Historiker oder auch der interdisziplinär angelegten Erzählung nun eine Erzählung des Archäologen gegenüberzustellen. Die intensiven archäologischen Forschungen in den Jahrzehnten des späten 20. und des frühen 21. Jahrhunderts erlauben es also, mit einer Reihe von Vorurteilen aufzuräumen und stattdessen die ehemalige Realität genauer zu zeigen. Auf der Basis dieser geschilderten realen Zustände wird zudem versucht, sich der Vorstellungswelt damaliger Bevölkerungsgruppen zu nähern. In ihrem Siedlungsraum Mitteleuropa und südliches Nordeuropa haben immerhin mehrere, vielleicht rund 10 Millionen Menschen gelebt. Ob es eine Überbevölkerung war, wird weiter unten angesprochen werden (vgl. S. 697). Es gab denn anscheinend auch keine Probleme, regelmäßig beachtliche Kontingente an Söldnern für die römischen Armeen zu stellen, und das – wie bekannt ist – schon seit der Zeit des Arminius. Auch die archäologische Forschung schreitet, wie das in den Wissenschaften üblich und notwendig ist, stetig voran, was den Wandel in den Fragestellungen angeht und die zu Antworten einzusetzenden Methoden. Um mit Max Weber zu sprechen, stünde es schlecht um eine Wissenschaft, wenn nach einer Generation immer noch die alten Fragen und Antworten vorherrschen würden. Wie problematisch der Begriff „Germanen“ heute gesehen wird, wurde schon erörtert; auch dass ich einen Perspektivwechsel vornehme, nämlich von den römischen Berichten absehe und frage, ob die andere Seite – die Bevölkerung in Germanien – nicht aus sich heraus unabhängig, eben über die Archäologie, Antworten auf die Fragen nach ehemaliger Lebensrealität bieten kann.
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Wie „fremdartig“ für die Römer die andere Seite, das Barbaricum, wie sie es nannten, eigentlich tatsächlich gewesen ist, und wie „fremd“ einerseits und wie „bekannt“ andererseits dem modernen Menschen und Forscher das alte Germanien sein kann, soll thematisiert werden. Denn sicherlich war nicht alles anders im Denken und Sein der damaligen Menschen beiderseits des Limes gegenüber unserer Zeit. Die Vorstellung einer Identität wechselte damals wie heute im Laufe des Lebens eines Individuums, bzw. es gab immer mehrere Identitäten: Ein junger Krieger in Germanien wird seine Umgebung anders bewertet und sich anders anderen zugeordnet haben, als ein Söldner aus Germanien im römischen Dienst, der nach Jahren wieder in seine Heimat zurückgekehrt ist. Das traf anscheinend für eine größere Anzahl von Männern in den ersten Jahrhunderten n. Chr. zu. Wie heute hatte auch der damalige Mensch verschiedene Identifikationsmöglichkeiten, für die er lebte: Zuerst mit seinem Dorf und mit seinen Verwandten, dann mit der Siedlungslandschaft und vielleicht dann mit einem „Stamm“ (was das gewesen sein kann, wird noch näher besprochen werden), mit einem Kultverband und schließlich mit einem Kriegerverband, dem er sich zeitweilig wegen des berühmten Anführers anschloss. (Heute ist man Bewohner eines Dorfes oder einer Stadt, dann eines Bundeslandes, dann der Bundesrepublik Deutschland, schließlich Europäer und Teil der „westlichen“ Kulturwelt.) Damals wie heute kommt es auf die Situation und das Ziel an, womit und wie man sich identifiziert. Zeitgemäß ist es, sich unsere eigene Position der Berichterstattung anhand der archäologischen wie der schriftlichen Quellen verstärkt bewusst zu machen. Welche Erzählung bieten wir dem Leser, auf welche Voraussetzungen und – wie schon nun mehrfach betont – auf welche Vorurteile stützen und berufen sich die Erzählungen. Inzwischen sind Themen wie „Völkerwanderungen“ und Nachweis der Siedlungsgebiete von Stämmen, die „ethnischen Deutungen“ des archäologischen Fundstoffs als solche „alten“ Erzählungen entlarvt, die aus dem Geist der früheren jeweiligen Gegenwart und seinen Problemen, der Nationalstaatenbildung im 19. Jahrhundert und der Kenntnis von gravierenden Bevölkerungsverschiebungen entwickelt worden waren und damals vielleicht auch ihre Berechtigung hatten.142 Nicht alle Antworten auf alte Fragen müssen über Bord geworfen werden, auch wenn der Zug der Kimbern und Teutonen aus dem Norden Germaniens gegen Rom keiner Völkerwanderung glich, sondern ein rein militärisches Unternehmen war. Aber heute gilt es deshalb, andere Erzählungen zu formulieren, um neue Fragen beantworten zu können. Auch das versucht dieses Buch, wenn die Ausgangsbasis nicht mehr die schriftlichen Überlieferungen, sondern die archäologischen Quellen sein sollen und wenn der Blick von innen her, innerhalb Germaniens selbst auf die eigene Lebenswelt erfolgen soll, wenn statt der Außen- also eine Innensicht angestrebt wird.
142 Brather 2004a; 2012.
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Jenseits der Frage nach der ethnischen oder stammlichen Zuordnung archäologischer Fundverbreitungen können diese auch als wirtschaftliche, soziale oder politische Räume erklärt werden.143 Es mögen Absatzgebiete oder Werkstattkreise sein, die als archäologische Räume erkennbar werden. Archäologische Verbreitungsmuster spiegeln teilweise die Räume der physischen Geographie wider. Archäologische „Räume“ heben sich ebenso auch innerhalb von Siedlungslandschaften heraus, „Siedlungskammern“ sind ein archäologisches Raumkonzept. Der Inhalt des Begriffs „archäologischer Raum“ wird im nächsten Abschnitt näher diskutiert werden.144 Offensichtlich ist, dass Kartierungen gleichartiger Sachgüter oder übereinstimmender Verhaltensweisen größere Gebiete von Mittel- und dem südlichen Nordeuropa abdecken; es gibt somit Beziehungen zwischen den geographisch fixierten Punkten. Im Kartenbild zeigen sie Gleichzeitigkeiten an, auch wenn sie u. U. in einem engen zeitlichen Nacheinander entstanden sein könnten. Die Kartenbilder spiegeln Kommunikationen und Netzwerke, deren Ursachen zu ergründen, eine Aufgabe für die Archäologie ist. Es wird gegenwärtig schon wieder die Frage in „konservativen“ Kreisen formuliert: „Gibt es Germanen?“ So lautet ein Beitrag von Christian Geyer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 7. Juni 2018. Er referiert die Suche nach einer Identität, in diesem Falle auch zum „Deutschsein“, was aber aus chronologischen Gründen nichts mehr mit Germanen zu tun hat. Man verlässt den Boden der Wissenschaft, wie im Artikel deutlich gemacht wird, wenn es um „eine deutsche Vereinnahmung der Germanen“ geht. Die Philosophin der Neuen Rechten Caroline Sommerfeld, ebenso wie ihr Mann Helmuth Lethen, vermisst diese Vereinnahmung: Wenn sich der Begriff ‚die Germanen‘ auf eine mannigfaltige Schar von Stämmen oder, noch eine Ebene darunter auf Genotypen, die, anders als etwa Klone, selbstverständlich ‚durchmischt‘ sind, rückbeziehen lässt, bedeutet das nicht, dass es entweder den Begriff ‚nicht gibt‘, nicht mehr geben darf oder dass er keinen Inhalt hat. Chr. Geyer fährt dazu fort: Kein seriöser Autor behauptet, was Caroline Sommerfeld behauptet, dass behauptet werde: dass es den Germanenbegriff nicht gebe, nicht mehr geben dürfe oder dass er keinen Inhalt habe. Als historische Akteure werden Personen, die man als Germanen bezeichnet, nicht in Abrede gestellt. Strittig ist, was genau der Germanenbegriff umfasst […]. Auch C. Sommerfeld weiß eigentlich, dass die Germanenforschung heute weiter ist als 1945 und sich für mythische Annahmen über Volkscharakter und Volksseele nicht länger ausbeuten lässt. Der Althistoriker HansUlrich Wiemer stellt klar: ‚Die Vorstellung, die Germanen seien eine Abstammungsgemeinschaft mit unveränderlichen Wesensmerkmalen gewesen, die sich in eine Vielzahl von Stämmen aufgespalten habe, ist aufgegeben, die These von der germanischen Kontinuität überholt‘. Da stellt sich C. Sommerfeld wieder auf ahistorisches Substanzdenken um und meint: Im übrigen ist unsere Aufgabe … offensichtlich die Reparatur des erodierten kulturellen Gedächtnisses.
143 Fehr 2017, 498, 501 ff., 507. 144 Grunwald 2016.
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Was die Tauglichkeit des Germanenbegriffs fürs identitäre Denken angeht, sollte sich Sommerfeld ihr kulturelles Gedächtnis […] von Mischa Meier reparieren lassen. Bis 1945 hatte man relativ klare Vorstellungen über die Germanen, wo sie hingehören und wo sie herkommen. Die beruhten auf ganz wenigen wirklichen Informationen. Man verließ sich darauf, dass die Germanen eine geschlossene Kultur und Denkart entwickelt hätten, die sich kontinuierlich […] bis ins Mittelalter durchgehalten habe.
Im Artikel heißt es weiter – man hält es nicht für möglich, dass gegenwärtig wieder zurückgefallen wird ins 19. Jahrhundert – dass wir heute nach Caroline Sommerfeld einer „dekonstruktivistisch verseuchten Wissenschaft“ anhängen würden. Längst überholte, weil widerlegte, anthropologische Gedankengebäude feiern wieder „fröhliche Urständ“, wenn ein Buch wie das vom „Anthropologen“ Andreas Vonderach „Gab es Germanen? Eine Spurensuche“ von ihr als neuer positiver Ansatz zu der Frage „Gibt es Germanen?“ gewertet wird (dazu vgl. gleich unten S. 56). Am Schluss dieses einleitenden Kapitels nenne ich die Wissenschaft von der biologischen Anthropologie, die große Verdienste hat, wenn es um den körperlichen Zustand der ausgegrabenen Skelette und Aschereste der gestorbenen Bevölkerung in Germanien geht. Sinnvoll und weiterführend ist es, über das Geschlecht, Alter, Größe, Gesundheit etwas zu erfahren, über Verwandtschaftsverhältnisse anhand von aDNA-Bestimmungen oder über Wanderungen im Nah- und Fernbereich anhand der Strontium-Analysen und manches andere mehr. Aber was keinesfalls geht, und das muss mit allem Nachdruck gesagt werden, dass „Germanen“ als rassische Gruppe anhand der Skelette erkannt werden könnten. Das ist früher versucht worden, beispielsweise mit der Definition einer „nordischen Rasse“. Aber die Wissenschaft vertritt jetzt allgemein den Standpunkt, dass es Rassen in diesem Sinne nicht gegeben hat und gibt. Im Anfangsband des „Reallexikons der Germanischen Altertumskunde“ (RGA) hat Ilse Schwidetsky noch einen ausführlichen Beitrag zu diesem Problem geliefert, der randlich auch auf dieses Problem eingeht.145 In späteren Bänden des RGA konnte einiges dazu korrigiert und auf den neuen Stand gebracht werden, z. B. durch Kurt Alt zu Stichworten wie Genetik, Humanbiologie, Naturwissenschaftliche Methoden in der Archäologie und besonders Prähistorische Anthropologie.146 Nun ist 2016 ein Buch von A. Vonderach erschienen, das wiederum auf die frühen Thesen zugreift und in dem versucht wird zu zeigen, dass es anthropologisch Germanen gegeben habe.147 Das ist der Versuch, von der Vorzeit über das Neolithikum bis in die Gegenwart mit Berücksichtigung der neueren Gen-Forschung wieder einen Nachweis zu erbringen, dass tatsächlich „anthropologisch“ „Germanen“ existiert haben. Es verblüfft seine methodische Rückwärtsgewandtheit – trotz des modern wirkenden Anstrichs. Dabei genügt schon ein Blick in das Literaturverzeichnis; als Schüler von Ilse Schwidetzky und Gerhard
145 Schwidetzky 1971. 146 Alt 2003 und frühere Stichworte. 147 Vonderach 2. völlig überarbeitete Aufl. 2016.
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Heberer stützt er sich immer noch auf diese von der Forschung völlig überholten – was vielfach wissenschaftlich begründet ist – aus der Mitte des 20. Jahrhunderts stammenden Publikationen. Dieses Buch sollte, als aus der Zeit gefallen, nicht mehr herangezogen werden, weil schon die Fragestellung nach Rassen und Wertungen von Gruppen nicht mehr zu begründen ist. Thomas Etzemüller hat in seinem Buch von 2018 „Auf der Suche nach dem nordischen Menschen, die deutsche Rassenideologie“ dazu den gegenwärtigen Stand der Wissenschaft beschrieben. Die Anthropologin Gisela Grupe hat das in ihrer Rezension des Buches mit Nachdruck ergänzt,148 formuliert überzeugend die heutige Auffassung von (biologischer) Anthropologie und nennt weitere Publikationen dazu. Das Wort „Rassenanthropologie“ wird zur Weltanschauung, abseits der wissenschaftlichen Begründbarkeit. Schon um 1900 (!) war sich die Anthropologie bewusst, „dass alle Versuche, sowohl lebende Menschen als auch deren prähistorischen Skelettreste in Kategorien einzuordnen, fehlgeschlagen waren“. Aber alte Vorstellungen lebten auch nach der NS-Zeit wieder auf, so bei I. Schwidetzky, was zeigt, eine „personelle Kontinuität bedeutete leider oft auch eine Tradition zugrundeliegender Forschungskonzepte“. Noch Lehrbücher bis in die 1990er Jahre sind „Beleg dafür, wie schwer sich die deutschsprachige Anthropologie von den längst als überholt und wissenschaftlich unhaltbar erwiesenen Konzepten getrennt hatte“. Keineswegs wird abgelehnt, dass es räumlich und zeitlich Merkmalshäufungen gibt, aber „das zugrundeliegende Konzept ist ein grundsätzlich anderes, (es) fehlt doch explizit das Kriterium der Wertzuschreibung, sei es in Bezug auf körperliche, kognitive oder soziale Kriterien“. Wider den Rassebegriff liegt dazu seit 2006 ein kurzes nachdrückliches Statement vor.149 Jürg Altwegg weist in einem Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 15. Januar 2019 „Die böse Weisheit. Akademische Kämpfe in Frankreichs Kulturbetrieb“ (Genf 14. Januar) darauf hin, dass im Juli 2018 der Begriff „Rasse“ aus der französischen Verfassung gestrichen worden ist, was zu Diskussionen im Rahmen der Dekolonisationsdebatte geführt hat. Dieser Begriff „Rasse“ ist auch in der Charta der Vereinten Nationen schon vor Jahren eliminiert worden. Eine Ausstellung im Deutschen Hygiene-Museum Dresden 2018 hat sich der Geschichte der Rassen und des Rassismus gewidmet: „Rassismus. Die Erfindung von Menschenrassen. Deutsches Hygiene-Museum Dresden. Katalog“. In einer Rezension der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6. August 2018 von Ursula Scheer ist zu lesen: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Diskriminierung, Ausgrenzung, Hass: Eine Ausstellung über „Rassismus“ im Deutschen Hygiene-Museum Dresden liefert den Kommentar zur Stunde. Anthropologen zogen aus, um Schädel zu vermessen, Haut-, Haar- und Augenfarben zu kategorisieren. Sie jagten ein Phantom. Menschen sehen unterschiedlich aus, aber es gibt keine verschiedenen ‚Menschenrassen‘.
148 Etzemüller 2015, dazu Rez. Grupe 2017 (2018) Zitate. 149 Niemitz, Kreutz, Walter 2006.
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Allgemein verfasste Bücher zu Wanderungen und „Rassen“ erläutern über die Verteilung der Gene die Haltlosigkeit der überkommenen Vorurteile.150 Aufgrund des Wiedererstarkens derartiger törichter Vorstellungen von der Existenz von Rassen referiert in der Welt am Sonntag vom 28. Juli 2019 Hannes Stein über das Buch von Angela Saini, einer Britin indischer Herkunft, Superior: The Return Of Race Science (Überlegen: Die Rückkehr der Wissenschaft von der Rasse). Es gibt jedoch nur eine Rasse, die menschliche, homo sapiens sapiens. Wenn man anhand der Hautfarbe unterscheiden will, dann könnte man das mit ebensolcher Begründung anhand unterschiedlicher Haarfarbe vornehmen. H. Stein stellt fest. „Genetische Unterschiede sind zwischen manchen Geschwistern grösser als zwischen weißen Schweden und schwarzen Südafrikanern. In einem Beitrag in DIE ZEIT vom 12. September 2019 berichtet Andreas Sentker über eine Tagung: „Gleicher geht’s nicht! In Jena, dem Geburtsort der NSRassenideologie, treffen sich in dieser Woche die deutschen Zoologen. Ihre Botschaft: Rassen gibt es nicht“. Dabei geht es vor allem auch darum, dass erneut festgehalten wird, verschiedene Rassen von Menschen gibt es nicht, wie der weltweite Vergleich der Genstrukturen gezeigt hat. Wie oben gesagt, hat die französische Nationalversammlung am 12. Juli 2018 den Begriff der Rasse aus der Verfassung gestrichen, und ebenso Finnland, Schweden und Österreich. Nur im deutschen Grundgesetz steht der Begriff Rasse noch im Artikel 3 (3) zwischen den Worten Abstammung und Sprache; doch haben einige Bundesländer in ihren Landesverfassungen den Begriff schon ersetzt. Die Ursache für die Erfindung von „Rasse“ liegt schon im 19. Jahrhundert, war aber von Anfang an nicht unumstritten: Während Charles Darwin von Diversität gesprochen hat, also von graduell-kontinuierlichen Unterschieden, von Variabilität, hat Ernst Haeckel 1865 in Jena in Kategorien gedacht und lehnte daher Zwischenformen und Übergänge ab und erfand zwölf Menschenrassen. Rassedenken ist heute also, da es keinen wissenschaftlichen Hintergrund gibt, abzulehnen. Als eine Leserbrief-Reaktion konnte man immerhin am 11. Juni 2018 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zum Beitrag Christian Geyer lesen: „Germanen stehen fest“ (Ingo Langner, Berlin): Wichtiger als das in dem Artikel kritisch verhandelte Projekt der Identitären ist doch eine andere Frage: Warum widersetzten sich die Germanen so standhaft wie nachhaltig der Zivilisation und Kultur des Römischen Reiches? Warum gingen sie nicht jenen Weg, den beispielsweise die Gallier, Iberer und Lusitaner gegangen sind? […] Die Germanen jedoch widerstanden. Sie konnten nicht anders.
Wie das nun tatsächlich gemeint ist, kann man dem kurzen Brief nicht entnehmen. Aber immerhin wurde dieselbe Frage gestellt, die ich mit meinem Buch zu beantworten versuche. Es geht bei mir um die speziellen sozialen, politischen und wirtschaft-
150 Krause, Trappe 2019.
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lichen Verhältnisse in Germanien, nicht etwa um eine besondere Wesenheit der Germanen, was nachdrücklich betont sei.
3.2 Ethnische Deutung und Ethnogenese Die von Gustaf Kossinna seinerzeit 1895/1911 formulierte scheinbare Gesetzmäßigkeit „Scharf umgrenzte archäologische Kulturprovinzen decken sich zu allen Zeiten mit ganz bestimmten Völkern und Völkerstämmen“ hatte das Problem der ethnischen Deutung zu einem Hauptziel der Archäologie gemacht, anscheinend auf einer begründbaren methodischen Grundlage.151 Zu Kossinnas Zeit bestand das archäologische Quellenmaterial nur aus Grabfunden, aus den Urnen und den Beigaben in diesen Begräbnisbehältnissen. Siedlungen waren noch nicht erschlossen, d. h. eine archäologische Kulturprovinz war nur das Abbild einer Bestattungssitte, also eine Konstruktion auf sehr einseitiger Basis. Das wurde bis heute zu einer Belastung unserer archäologischen Forschung, weil andere Deutungsmöglichkeiten der Quellen übergangen wurden. Da halfen auch kritische Bemerkungen führender Prähistoriker nicht, so von R. von Uslar schon 1938152 oder von E. Wahle 1941.153 Es blieb und bleibt eine ständige Diskussion. Hinweise mögen genügen: Stefan Burmeister hat beispielsweise über die Suche nach Identität, nach Volk, Stamm, Kultur und Ethnos von den Ergebnissen einer Tagung berichtet.154 Dieser Paradigmenstreit um die „ethnische Deutung“ regt zwar an, lenkt aber von der Sackgasse dieser Position ab. Damit verbunden sind weitere stereotype Deutungsmuster. Die Verlagerung einer solchen archäologisch definierten Kulturprovinz im Laufe der Zeit wird regelhaft als Wanderung der Bevölkerungsgruppe gedeutet. Das Feld der Migrationsforschung wird somit zu einem ähnlichen Methodenproblem.155 Migrationen und der soziale Gebrauch von Tracht bzw. Kleidungsaccessoires hängen dabei zusammen, wenn sich räumliche Veränderungen im archäologischen Quellenbestand zu erkennen geben.156 Einen ähnlichen kritischen Einwand behandelt H.-J. Gehrke unter dem Aspekt „Materialität und Identität“, ein zentrales Themenfeld der Ur- und Frühgeschichtlichen Archäologie.157 Von archäologischer Seite hat auch U. Sommer eine Beziehung zwischen materieller Kultur und Ethniziät in Frage gestellt.158 Was es mit Kulturkreisen auf sich hat, wird weiter unten noch diskutiert werden.
151 Eggers 1959, 211; Brather 2004a. 152 Müller-Wille 2006, 577; Brather 2013. 153 Wahle 1941; dazu Hakelberg 2001. 154 Burmeister 2000b. 155 Burmeister 2013. 156 Burmeister 1997; 1998; 2000a. 157 Gehrke 2016. 158 U. Sommer 2003.
3.2 Ethnische Deutung und Ethnogenese
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Es gibt jedoch durchaus Verteidiger der Positionen, um von archäologischen Befunden auf ein Ethnikum zu schließen,159 die nicht so skeptisch das Problem sehen wie S. Brather in zahlreichen Arbeiten.160 Als positives Fallbeispiel betrachten G. S. Reher und M. Fernández-Götz die Treverer in Nordostgallien der Eisenzeit. Zwar bestehen komplexe Beziehungen zwischen Ethnizität und materieller Kultur, aber es gibt materielle Symbole, über die eine Unterscheidung zwischen den Großeinheiten wie Kelten oder Germanen gegenüber kleineren Einheiten möglich seien. Die Politik definiert eine Ethnizität, nicht umgekehrt. Ein Ethnikum ist nur eine Möglichkeit von vielen Identitäten, Männer und Frauen können verschiedene ethnische Marker haben, kollektive Rituale in Heiligtümern schaffen eigene Traditionen und kennzeichnen indirekt ein Ethnikum.161 Das wird mehrfach von N. Roymans für die Bataver am Niederrhein erörtert.162 Zu beachten ist zudem eine Beobachtung aus einem ganz anderen Bereich: Ethnische Gruppen bilden nach ethnologischen Untersuchungen etwa 10 000 Menschen in einem Gebiet, das weniger als 1500 bis 3000 km2 ausmacht,163 also eine Fläche von 40x40 oder 55 × 55 Kilometer. Das ist ungefähr die Größenordnung eines beherrschten Areals, das ich mehrfach ansprechen werden (vgl. S. 806), lässt sich jedoch in keiner Weise mit den anhand der Schriftquellen postulierten Stammesgebieten zur Deckung zu bringen. Dazu würden mehrere solcher Gebiete unterschiedlichen archäologischen Niederschlags gehören müssen (zu Bevölkerungszahlen vgl. unten S. 384 ff.). S. Brather164 hat im Sammelband zur Jastorf-Kultur 2014 die Beziehungen zwischen archäologischen Kulturen im östlichen Mitteleuropa schematisch betrachtet, für die Römische Kaiserzeit mit dem Gebiet der Elbgermanen und der PrzeworskKultur, und er registriert, dass nach Tacitus’ Germania die Stammesnamen einerseits und die archäologischen Kulturgruppen andererseits in der frühen Römischen Kaiserzeit verbunden mit den Elbgermanen, der Przeworsk- und der Wielbark-Kultur nicht zusammenpassen (Abb. 4).165 Die von Tacitus erwähnten Namen von Germanengruppen und die archäologischen Kulturgruppen der frühen Römischen Kaiserzeit lassen sich eben nicht zur Deckung bringen. Topographische und geografische Räume sind nach ihrer Größe und Bedeutung zu staffeln, in lokale, mikro-, meso- und makro-Areale. Nach den archäologischen Kulturen und ihrer internen Gliederung gilt das dann entsprechend für die Formen der Distribution von Gütern neue Deutungen zu finden, wobei auch ethnologische Modelle herangezogen werden sollten.166
159 Reher, Fernández-Götz 2015. 160 Brather 2001a; 2004a; 2007; 2011a; 2012a: 2012b zu Curta 2007; 2014. 161 Derks, Roymans 2009. 162 Roymans 2004. 163 Brather 2014a, 25; Wotzka 1997. 164 Brather 2014a, 23 Abb. 2 und 24 Abb. 3, 27 Tab. 1; 2011b, 128 Karte. 165 Nach Brather 2011b, 128 Abb. 2; 2013, Abb. 3. 166 Drauschke 2011, 207 Abb. 90.
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3 „Germanen“ als ethnische Größe und Einheit?
Abb. 4: Von Tacitus in der Germania erwähnte Namen von Germanengruppen und archäologische Kulturgruppen der frühen Römischen Kaiserzeit im Vergleich.
Doch wird die Loslösung der ethnischen Zuordnung von archäologischen Funden und Befunden bis hinab zu einzelnen Fibeltypen nun häufiger ausgesprochen. So ist P. Tomka167 skeptisch eingestellt gegenüber ethnischen Fragen und sagt: Früher sind die Ostgoten, dann die Heruler und/oder die Sueben als Träger des behandelten Fibeltyps in Erwägung gezogen worden. Nichts hat eine allgemein ethnische Identifizierung gerechtfertigt, nicht einmal der große Einsatz von A. Heinrich oder I. Gavrituhin. Im Gegenteil: Gavrituhin hat wohl recht, wenn er mit wandernden Handwerkern rechnet.
An mobile Handwerker und an intensiven Model- und Ideenaustausch zwischen Werkstätten hat auch J. Tejral gedacht,168 und gleichzeitig mussten doch verschiedene Volkselemente in Betracht gezogen werden. Aber trotzdem sei mit der Anwesenheit von Donausueben zu rechnen. Ich frage dazu, meint der Autor das wegen der Grubenhausform in der Siedlung? Nach dem ersten Abschluss dieser einleitenden Kapitel ist ein weiterer Aufsatz von Stefan Burmeister erschienen bzw. mir zur Kenntnis gelangt, und zwar in einer 167 Tomka 2010, 485 Zitat; zu Argumenten gegen Brather 2004a, auch Bierbrauer 2004; 2008; und Martin 2014. 168 Tejral 1999d; 2003, 264–266.
3.2 Ethnische Deutung und Ethnogenese
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Zeitschrift für Kultur- und Kollektivwissenschaft, die nicht unmittelbar im Blickfeld der Archäologie liegt, der aber noch teilweise berücksichtigt werden kann.169 Dieser lesenswerte Aufsatz bringt nun eine Reihe von Thesen, die beispielsweise auch ich schon vor langer Zeit vertreten und dazu Beiträge veröffentlicht habe, deren Thesen aber auch schon Allgemeingut geworden sind. Sie sollen hier wohl einem anderen Leserkreis zugänglich gemacht werden. Aber leider hat der Autor meine Beiträge nicht gefunden und zur Kenntnis genommen, weshalb sie hier angeführt werden, auch wenn im Rahmen des Buches später mehrfach darauf eingegangen werden wird. Die Germanen sind eine römische Erfindung, die auf Caesar zurückgeht, und es gab keine gesamtgermanische Identität, sondern nur die Sicht aus der Fremdperspektive.170 Damals wanderten germanische Kriegergruppen, Söldner einer Kriegspartei (wie früher keltische Söldner nach Griechenland und Großgriechenland); die Sueben waren ein Zusammenschluss mehrerer Koalitionen von Kriegerverbänden, und Stammesnamen gab es in zwei Kontexten, zum einen in den ländlichen Siedlungsgebieten, und zum anderen in militärischen Konfrontationen bei Gefolgschaften. Die Kriegerverbände waren keine (!) Segmente eines Stammes und nicht mit diesen gleichzusetzen, sondern zusammengewürfelte Kollektive (vgl. unten S. 785).171 Mit guten Gründen kritisiert Stefan Burmeister den Versuch von B. Sicherl im Jahr 2008, wiederum eine spezielle archäologische Kulturgruppe mit dem überlieferten Namen der Angrivarier der Schriftüberlieferung zu parallelisieren, was aus den geschilderten und auch wieder aufzugreifenden methodischen Gründen kaum mehr möglich ist.172 Seit Jahrzehnten habe ich dargestellt und mit Kartierungen belegt, wie kleinräumig verteilt die „Herrschaftsgebiete“ der Elite jener Jahrhunderte gewesen sind.173 Darüber wird auch später hier noch berichtet werden (vgl. unten S. 806). Noch heute 2018 werden die Träger der „germanischen Przeworsk-Kultur“ als die späteren Vandalen betrachtet, was eine rasche ethnische Deutung ist, ebenso wird die sich verlagernde Wielbark-Kultur unmittelbar als Abwanderung der Goten aus ihren Stammesgebieten im heutigen zentralen Polen erklärt,174 wie das noch bei manchen provinzialrömischen Archäologen und Althistorikern zu lesen ist. (Was unter Przeworsk- und Wielbark-Kultur zu verstehen ist, wird später noch näher erläutert; es sind archäologische Kulturen im heutigen Polen; vgl. S. 872 ff.)
169 Burmeister 2017a. 170 Ament 1984; Geary 1996/1988. 171 Steuer 2003a; 2006a, auch 2006b; 2009; 2010; 2012b; Burmeister 2017a, 97 ff. zu Dick 2014, 146. 172 Burmeister 2017a, 104 zu Sicherl 2008. 173 Burmeister 2017a, 105 ff.; seit Steuer 1982, 220 Abb. 57, 222 Abb. 59; 1999a; Gebühr 1998a; 2009; Bemmann 2000, 73. 174 Moosbauer 2018.
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3 „Germanen“ als ethnische Größe und Einheit?
Nun gebe ich doch einen Blick auf die schriftliche Überlieferung, nämlich auf einen Grabstein, in dem ein Toter sich als Römer und als Franke benennt (vgl. S. 700):175 FRANCVS EGO, CIVES ROMANVS, MILES IN ARMIS. EGREGIA VIRTVTE TVLI BELLO MEA DEXTERA SEM(P)ER (Ich bin Franke, römischer Bürger, Soldat im Heer. Im Krieg habe ich immer tapfer gekämpft). Darauf gehe ich bei verschiedenen Argumentationen wieder ein.
Ein weiterer Aspekt, der mit den Fragen der „Ethnischen Deutung“ zusammenhängt, ist die nach der „Ethnogenese“. Darauf gehe ich jedoch nicht näher ein, weil das zentral eine Problemstellung der Geschichtswissenschaft ist und fast ausschließlich nur anhand von Schriftquellen untersucht werden kann. Eine bedeutende Schrift dazu hat R. Wenskus vor vielen Jahren mit dem Titel „Stammesbildung und Verfassung“ vorgelegt.176 Die Wiener Historiker um H. Wolfram und W. Pohl haben sich diesem Thema in zahlreichen Arbeiten gewidmet.177 Während anfangs davon ausgegangen wurde, dass in der literarischen Überlieferung wenigstens Traditionskerne erhalten geblieben sind, anhand derer Stammesbildung, also Ethnogenesen, zu erfassen wären, geht man gegenwärtig eher davon aus, dass die Herkunftssagen, verbunden mit den Ethnogenesen, erfunden bzw. konstruiert geschaffen wurden, um hohes Alter bezeugen zu können. Das trifft für die Goten, Burgunder, Vandalen bis Langobarden zu, die aus dem Norden gekommen sein sollen, im Gegensatz zu den Franken beispielsweise, die von den Trojanern abstammen würden. Da diese Herkunft gewissermaßen „besetzt“ war, galt es eine andere ebenso bedeutende zu erfinden, um konkurrenzfähig zu sein. Klassisch gebildete Gelehrte haben wohl im Auftrag der herrschenden Königsdynastien im 6. und 7. Jahrhundert diese „Geschichte“ aufgeschrieben. Den gegenwärtigen Stand der Forschung fasst M. Hardt 2015 zusammen. Die frühmittelalterlichen Gentes haben sich immer wieder neu erfunden und dabei laufend andere Bevölkerungsgruppen aufgenommen und integriert.178 Die früher archäologisch dafür herangezogenen Befunde sind als nicht stichhaltig verworfen worden. Das trifft für die Herkunft der Goten aus Skandinavien zu.179 Die Archäologen selbst griffen das auf und sahen, im Rahmen der „ethnischen Deutung“, die WielbarkKultur in Polen und die Chernjachov-Sântana-de-Mureş-Kultur am Schwarzen Meer als Beleg für die Wanderung der Goten an, was die gegenwärtige archäologische Forschung als nicht mögliche flächenhafte Gleichsetzung aber ablehnt (vgl. S. 65). Eher sieht man das heute so, dass immer wieder neue Kriegergruppen und „Warlords“ sich derartiger Namen bemächtigten, um – wie gesagt – konkurrenzfähig gegenüber erst dem Römischen Reich und später dann auch gegenüber den anderen „germanischen“ Kriegerverbänden zu sein. Patrick Geary meinte aus diesem Grunde (vgl. auch S. 695 175 Speidel 2009; Böhme 2017, 294 mit Anm. 14 (neue Übersetzung). 176 Wenskus 1961 und wieder 1977. 177 Wolfram 2005; Pohl 2008a, b, c; Pohl, Mehofer 2010. 178 Hardt 2015, 17 Zitat. 179 Hachmann 1970; teilweise noch anders Bierbrauer 1994 und 2008 oder auch Goffart 2002, 32–37.
3.3 Archäologische Quellen
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und 1017), diese jüngere germanische Welt sei die bedeutendste Schöpfung des politischen Genies der römischen Seite, weil es auf diese Weise gelang, die „chaotische Welt der Barbaren politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich so umzugestalten, da sie sie verstehen und beherrschen konnten“.180 Ähnlich sieht F. Curta die Entstehung der slawischen Welt als ein Konstrukt frühbyzantinischer Reichsadministration und oströmischer Historiographie ab 500.181 Die Ablösung „germanischer“ durch „slawische“ Besiedlung im Norden wird in diesem Buch nur von der archäologischen Seite beschrieben (vgl. S. 827 ff.).
3.3 Archäologische Quellen Kehren wir zu den archäologischen Fakten zurück, die in diesem Buch beschrieben werden.182 Hierarchisch gestaffelt wird die Beschreibung der Lebensverhältnisse folgen, von der Landschaft über die Besiedlung mit offenen und befestigten Dörfern zur Besiedlungsdichte. Der nächste Schritt gilt den Wegeverhältnissen, dann der Wirtschaft in größeren Räumen, dem technischen bzw. handwerklichen Niveau, der Herstellung von Sachgütern. Es folgen Schilderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse anhand der jüngsten archäologischen Befunde, der Herrenhöfe und Kultbauten, der verschiedenen Opferbräuche und dabei vor allem der gewaltigen Heeresausrüstungsopfer im südlichen Ostseeraum. Diese Darstellungen führen weiter zum Kriegswesen und den Gefolgschaftsstrukturen. Mit Blick auf Germanien insgesamt wird die territoriale Gliederung behandelt, sowie die Struktur der Eliten in Germanien erläutert. Die römische Zivilisation mit ihrer technischen Höhe, der militärischen Stärke und der unmittelbaren Nachbarschaft ist nicht ohne vielfältige Einflüsse auf das Leben und Wirtschaften der Bevölkerung Germaniens geblieben. Römisches in Germanien beschließen die Erörterung, die Erfindung der Runenschrift vor dem Hintergrund der römischen Schriftlichkeit, das Aufkommen von neuen Ornamenten und Bildmustern im Kunsthandwerk, von Tierstilen, umgewandelte römische Vorbilder auf Münzen und Medaillen mit einem indirekten oder gar direkten Blick auf die einheimische Götterwelt. Germanien wurde nicht römisch; aber es gibt ein neues Bild vom alten Germanien. Einige Worte zu den verschiedenen Quellengruppen, die der Archäologie zur Verfügung stehen, seien noch eingeschoben. Gräber mit den Beigaben bieten den Abschluss eines komplexen Vorgangs, der mit dem Tod der Verstorbenen beginnt und mit der Bestattung durch die Gemeinschaft endet. Die Archäologie erforscht also das Ende eines intentionell organisierten Prozesses der damals beteiligten Menschen.
180 Hardt 2015, 18 Zitat. 181 Curta 2001, hier zitiert nach Hardt 2015, 21. 182 Steuer 2012a: Das Fachgebiet Archäologie im RGA.
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3 „Germanen“ als ethnische Größe und Einheit?
Siedlungen demgegenüber wurden seinerzeit verlassen, verlegt, andernorts neu aufgebaut. Die Archäologie erfasst somit nur den aufgegebenen Rest der Wohnplätze, Grundrisse der Häuser samt den Gerätschaften, all das, was die damaligen Bewohner nicht mehr interessierte und zufällig liegengeblieben war und erhalten geblieben ist. Die Spuren ehemaliger Opferplätze wiederum sind voller Rituale, die unterschiedliche Glaubensvorstellungen der beteiligten Bevölkerung abbilden. Die Archäologie kann beschreiben, was ausgegraben worden ist, und muss dann versuchen zu verstehen, wie dieser Befund aufgrund von Ritualen zustande gekommen ist. Versteck-, Depot-, Hort- oder Schatzfunde als Kategorie lassen die Archäologie zumeist ratlos. Wertvolle Objekte wurden einst vergraben, aber nur selten kann man an der Art dieser Gegenstände und der Vergrabung eine Ahnung davon bekommen, warum Menschen sich so verhalten haben, was das Ziel gewesen ist. Auch dazu werden Überlegungen referiert. Ebenso wichtige Quellen werden aus dem Bereich der Naturwissenschaften herangezogen (vgl. dazu unten S. u. a. 155 ff.). Vielfältig sind die Kartierungen der in den schriftlichen Quellen der Antike überlieferten Stämme, die in unterschiedlichen Zusammenhängen von den damaligen Historikern genannt und von diesen und den modernen Historikern beispielsweise über die Erwähnung von Nachbarschaften dann in der Landschaft Mitteleuropas verortet werden. Gerade aufgrund der unterschiedlichen Kartenbilder, die in der Forschung angeboten werden, stößt der Leser auf Unsicherheiten, und diese will man gegenwärtig dadurch überwinden, dass erneut die Angaben der „Koordinaten“ zu Orten, die Ptolemaios (Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr.) seiner Karte zugrunde gelegt hat, in moderne Landkarten projiziert werden.183 Ptolemaios führt immerhin rund 8000 Orte nach Länge und Breite auf und bietet ebenfalls wie die anderen antiken Autoren die Namen von allerlei Stämmen.184 Doch wenn ich die These vertrete, wie andere auch, dass die Gleichsetzung von antik erwähnten Stammesnamen und archäologischen Räumen nicht unmittelbar möglich ist, dann nützen in meinem Zusammenhang diese neu geschaffenen Kartierungen auf der Basis von Ptolemaios noch nicht viel. Zwei unterschiedliche Realitäten der damaligen Zeit werden eigentlich willkürlich miteinander gleichgesetzt. Das ptolemäische Germanien aus archäologischer Sicht schildert aber immerhin eine wichtige Erkenntnis um 150 n. Chr., denn die lokalisierbaren Orte liegen in nur 30 bis 40 km Abständen zueinander, eine grundlegende Distanz, um die es bei meinen Beschreibungen später wieder gehen wird (vgl. S. 806 ff.).185
183 Kleineberg, Marx, Knobloch, Lelgemann (Hrsg.) 2010; Grane 2003. 184 Rasch 2005. 185 Nüsse, Marx, Lelgemann 2011 (2013) 127–146, 134 f. und Abb. 4 und 5; 136 Abb. 6 Situation nördlich der Donau gegenüber von Carnuntum und Brigetio.
3.4 Wanderungen und Mobilitäten
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3.4 Wanderungen und Mobilitäten Es ist erstaunlich, aber wohl Eigenschaften mancher Wissenschaften, dass Theorien aufgestellt werden, die sich aus der allgemeinen zeitgebundenen Geisteshaltung ergeben, die dann aber trotz aufkommender Gegenargumente konstant weiter existieren. In der Archäologie ist das (1.) bei der ethnischen Deutung von archäologischen Kulturgruppen so, die unbedingt mit Stämmen aus der schriftlichen Überlieferung gleichgesetzt werden sollen, auch wenn kaum geklärt ist, was ein Stamm in jener Zeit gewesen ist, das ist (2.) beim Beweis der Wanderungen von Stämmen so, die in der schriftlichen Überlieferung geschildert werden, indem sich verschiebende Verbreitungen von Kulturgruppen im Kartenbild so gedeutet werden, und das ist (3.) bei der allgemeinen Korrelation von archäologischen Zeitphasen und schriftlicher Überlieferung der Ereignisgeschichte so, und auch dazu fehlen neue methodische Überlegungen, wie oben angesprochen. Europa, auch der Raum Germanien, die europäische Kultur und die Kultur in Germanien der ersten Jahrhunderte n. Chr. war eine Migrationskultur.186 Man kann zusammenfassen: Kommunikation, Migration, Mobilität und zum Beispiel Handel oder Hochzeiten sind verschiedene Facetten von Austauschprozessen.187 Doch sollte bedacht werden, dass Mobilität nicht nur im geographischen Sinne zu verstehen ist, sondern auch als Bewegungen innerhalb von gesellschaftlich-sozialen Strukturen aus den unterschiedlichsten Gründen.188 Um Wanderungen von Menschengruppen archäologisch tatsächlich nachzuweisen, sind komplexe methodische Überlegungen notwendig; bisher gibt es kaum dazu überzeugende Lösungen. Einzelne Objekte der Kleidung wie Fibeln, die weit verbreitet sind, reichen keinesfalls aus, nicht einmal die Kombination mit Grabbräuchen und Beigabensitten oder auch mit Siedlungsstrukturen, weil immer auch Übernahmen, Assimilationen, außerdem Adaptionen (Nachahmungen) möglich sind. Man möchte aber unbedingt bei der Verlagerung von archäologisch konstruierten Kulturkreisen Wanderungen von Menschen erkennen können. In der archäologischen Forschung gibt es heute deshalb tatsächlich schon ein breites Feld der methodischen Überlegungen, wie man anhand der Ausgrabungsbefunde und der Kartierung von Bestattungssitten und Sachgütern Bevölkerungsverschiebungen oder gar Abwanderungen größerer Menschengruppen nachweisen könnte. Warum besteht dieser Zwang, Mobilitäten archäologisch nachweisen zu können? Es ist wie bei der ethnischen Deutung archäologischer Kulturprovinzen gewissermaßen ein Drang aus traditioneller wissenschaftlicher Arbeit heraus, dass Veränderungen in den Kartenbildern 186 Bewegte Zeiten 2018; theoretisch auch Burmeister 2017c; van Dommelen 2014; Mückler 2014 zum Zusammenhang von Ethnohistorie und Migration; Quast 2009e zu einer Tagung über Foreigners und Mobilität. 187 Quast 2009d. 188 Steuer 2002, 119; Mischa Meier 2020, 114 mit S. 1137 Anm. 122 und 123.
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3 „Germanen“ als ethnische Größe und Einheit?
unbedingt durch Wanderungen erklärt werden müssen. Das geht auf die Dominanz von Wissen über Wanderungen anhand der schriftlichen Überlieferung zurück, was dazu führt, andere Deutungsmuster überhaupt nicht zu berücksichtigen. Neutral und unvorbelastet betrachtet, handelt es sich in den meisten Fällen bei den archäologischen Quellen um Gräberfelder und den Beigaben in den Bestattungen, was doch – wie schon betont – zuerst einmal ein Brauchtum ist, wie man mit den Verstorbenen umgegangen ist. Statt Wanderung kann die Veränderung im Bestattungsbrauchtum eines Gebietes einfach auf den Wandel der „Jenseitsvorstellungen“ beruhen.189 Man gibt eine Vorstellung auf und übernimmt eine andere, von den Nachbarn bzw. man beeinflusst die Nachbarn soweit, dass sie diesen anderen Brauch annehmen. Das kann ohne jede Bewegung von Siedlern geschehen. Damit möchte ich nicht ausschließen, dass Wanderungen und Mobilität von Leuten stattgefunden haben und dass sie unter Umständen auch im archäologischen Quellenbestand erkannt werden könnten. Doch müssen dazu auf jeden Fall mehrere Gründe gefunden werden, was in der wissenschaftlichen Literatur inzwischen schon versucht worden ist. In der Regel, so wird aber zuvor ebenfalls immer wieder festgestellt, dass „sich bewegende Völkerschaften kaum archäologische Hinterlassenschaften produzieren“.190 Ein Problem wird es bleiben, wenn man vermeintliche germanische Wanderungen im 3. Jahrhundert v. Chr. bis zum 6. Jahrhundert n. Chr. durch die Verknüpfung von historischen und archäologischen Quellen erklären und deuten wollte, wie das z. B. in den 1990er Jahren in einem ausführlichen Beitrag von K. Godłowski versucht wurde.191 Ohne das Problem der ethnischen Deutung archäologischer Kulturprovinzen ging das anscheinend nicht, was jedoch heute weitgehend überwunden ist (vgl. S. 58 ff.). Für mein Thema ist beispielsweise von Bedeutung, dass die Gotenwanderungen, wie sie der antike Historiker Jordanes beschrieben hat, auch immer wieder archäologisch bewiesen werden könnten. Zwar ist schon früh erkannt worden, dass die Wanderung der Goten aus Skandinavien über die Ostsee ins Gebiet an der Weichselmündung nicht archäologisch zu belegen ist.192 Aber dafür diente die sogenannte Wielbark-Kultur im heutigen Polen und ihre Südostausbreitung dazu, die Wanderung von Goten zu beweisen, die schließlich die Wurzel für die Chernjachov-Kultur im Süden gebildet haben sollen. J. Blischke hat sich schon 1996 in seinem Beitrag zur Wielbark-Kultur und der Gotenwanderung in dieser Richtung abgemüht und V. Bierbrauer 1994 sowie zu den Gepiden in dieser selben Kultur 1998.193 Doch weiß auch J. Blischke wie andere auch, dass die großflächig verbreitete Wielbark-Kultur nicht nur mit den Goten verbunden werden sollte, 189 Steuer 2015d. 190 Blischke 1996, 120. 191 Godłowski 1992b. 192 Hachmann 1970; Bierbrauer 1994. 193 Blischke 1996; Bierbrauer 1994 und zu den Gepiden 1998.
3.4 Wanderungen und Mobilitäten
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sondern das andere Völkerschaften wie Gepiden, Rugier, Lemovier oder Veneter hier lokalisiert werden müssten. Das meinte schon R. Wołagiewicz in den 1970er Jahren und wieder 1986, der auch die Bezeichnung Wielbark-Kultur überhaupt erst erfunden hat.194 Die Versuche, diese Wanderungen und die beiden Kulturen, die Wielbark- und die Chernjachov-Kultur – beides Konstruktionen der Archäologie – zusammenzubringen, bleiben auch bei den Vertretern dieser Kombination nicht ohne Widersprüche, die nun gewissermaßen wegdiskutiert werden müssen. Es gibt zudem die nicht unbedingt zu begründende Auffassung, dass der Aussagewert der archäologischen Quellen höher bewertet werden sollte als die historische Überlieferung.195 Deshalb kann man auf eine Auswanderung aus Skandinavien gern verzichten, was demgegenüber aber anscheinend die Abwanderung der Leute aus der Wielbark-Kultur nach Südosten sicher belegt. Es sind die wenigen Kriterien, mit denen die Wielbark-Kultur196 und Przeworsk-Kultur197 definiert werden: Die Wielbark-Kultur kennt birituelle Bestattungssitten, Brand- und Körpergräber (aber auch nicht immer und überall), die Przeworsk-Kultur kennt das nicht. Die metallenen Kleidungsaccessoires sind immer aus Bronze, und die Beigabe von Waffen fehlt in der Wielbark-Kultur. Eiserne Grabbeigaben würden vermieden, die wiederum in der Przeworsk-Kultur dominieren. Anhand der Belegungszeiten der Gräberfelder ist ein Aufkommen, Verlagern und Ende der Sitte zu beobachten; eine Verdrängung der Träger der Przeworsk-Kultur, weniger eine Assimilierung, bei der Ausdehnung nach Osten wird registriert. Doch wird deutlich erkannt, dass die Träger der Wielbark-Kultur „in kleinere Aktionsgemeinschaften“ aufgespalten waren, die zu verschiedenen Zeiten verschiedene Räume besetzten.198 Mobilität spiegelt die chronologische Einordnung, die Wielbark-Kultur begann in der Frühphase der jüngeren Kaiserzeit (Phase B1/C1-C1a), dehnte sich aus in C1b-C2, und die Bestattungstätigkeit endete in der frühen Völkerwanderungszeit, in C3/D. Das Abbrechen der Gräberfelder wird dann mit der Abwanderung der Bevölkerungsgruppen nach Osten und später nach Südosten erklärt. Das Ganze war somit ein langdauernder Prozess über Generationen hinweg, eine langsame Siedlungsverlagerung über anderthalb Jahrhunderte. „Von einer Wanderung im Wortsinne, bei der sich eine Völkerschaft geschlossen und in kurzer Zeit von Ort A nach Ort B bewegt, kann also keine Rede sein“.199 Was bleibt: Die Verbreitung von Grabsitten verschiebt sich; und die Frage bleibt dazu: Warum? Mehrere Arbeiten beschäftigen sich mit den weiten Wanderungen vom Ostseegebiet bis nach dem fernen Südosten, bis zum Karpatenbecken und gar bis zur Ukraine 194 Wołągiewicz 1986. 195 Blischke 1996, 118 Zitat. 196 Mączyńska 2007. 197 Dąbrowska, Mączyżska 2003. 198 Blischke 1996, 120. 199 Blischke 1996, 122 Zitat.
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und der Krim. Es geht um die Auswertungen von Kartierungen von Bräuchen und vor allem von Sachgütern, als Grabbeigaben, die über diese Strecken hin verteilt vorkommen. Beziehungen über die Ostsee bis nach Polen werden abgelesen an den Fundkomplexen von Sösdala und dem Sösdala-Stil (vgl. S. 1229).200 Die Verbindungen zwischen Ostlitauen und dem Karpatenbecken in der Spätantike von 380 bis 620 wirken befremdlich, unwirklich und sind tatsächlich zustande gekommen.201 Sie wurden bisher als Migrationsbewegung vom Karpatenbecken nach Norden betrachtet, jetzt erkennt man die mittlere Donauregion als neues Herkunftsgebiet, von wo nach beiden Richtungen Objekte verteilt wurden, im Rahmen vielleicht eines Geschenkeaustauschs kurz nach dem Untergang des Hunnenreichs. Eine Alternative sei die Rückwanderung von baltischen Söldnern (quixotic friends) aus dem Hunnendienst im Karpatenbecken wieder in den Norden.202 Wegen der Beziehungen zur mittleren Donau verwundern auch nicht die Funde von Silberblechfibel auch im Baltikum (zu diesen Fibeln vgl. unten S. 137). Kontakte zwischen Skandinavien und der Krim werden als Ergebnis von Migration quer durch Europa betrachtet, und auch jetzt spielen Sösdala-Stilelemente eine Rolle.203 Vergleichbare Kontakte werden über römische Gläser und Schmuck von Schwarzen Meer bis nach Südskandinavien im 3. bis 5. Jahrhundert gesehen.204 Diese Beziehungen weisen aber vom Süden in den Norden. Ein Brandgrab der ChernjachovKultúr, als Beispiel, enthielt umgekehrt im Süden Sporen und Bügelknopffibeln, ein Kombination, die ebenfalls regionale Typen mit überregional verbreiteten Sachen kombiniert hat (vgl. auch unten S. 127 „Völkerwanderung“ und im Abschnitt Kontakte zwischen Skandinavien und der Krim S. 893 ff.).205 Die Ausbreitung und Verlagerung einer von der Archäologie konstruierten Kultur ist also eine neue Art von Wanderung und Mobilität, die mit Sicherheit gerade nicht mehr mit den schriftlich überlieferten Wanderungen zu parallelisieren ist. Ähnlich beschreibt auch M. Gebühr die Wanderungen der Angeln und Sachsen bzw. die angelsächsische Landnahme in Britannien (vgl. unten S. 823).206 Der Vergleich des kontinentalen Gräberfeldes von Issendorf bei Stade mit dem Gräberfeld von Spong Hill in Ostanglien zeigt zwar Ähnlichkeiten in den Beigaben auf, aber man könnte, so M. Gebühr, die Wanderrichtung genauso auch umgekehrt vermuten, und auch hier haben die „Wander“-Vorgänge einen längeren Zeitraum umfasst, über ein Jahrhundert. Den Zusammenhang zwischen Migration und Ethnizität hat St. Burmeister in einem Beitrag „Zur Konzeptualisierung von Mobilität und Identität“ forschungs-
200 Bitner-Wróbleska 2005; 2010; 2017. 201 Bliujienė, Curta 2011, 31 Fig. 1 Karte, 34 Fig. 2 Ignalina District, 55 Fig. 18 Silberblechfibeln. 202 Vgl. auch Tejral 2007. 203 Levada 2011; 2013. 204 Lund Hansen 2011c. 205 Schultze, Lyubichev 2017, 279 Fig. 4. 206 Gebühr 1997, 20.
3.4 Wanderungen und Mobilitäten
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geschichtlich untersucht.207 Er beschreibt den begonnenen Paradigmenwechsel zur Frage der ethnischen Deutung, bewertet die Bezeichnung Tracht in Bezug auf die ethnische Deutung, weist auf die neu vorgeschlagene Bezeichnung Kleidung statt Tracht hin, wenn es um die Ansprache des metallenen Schmucks geht; und er begründet die Schwierigkeiten, über Verteilung von Sachgütern, dem Schmuck an der Kleidung, der eben kein (oder wenigstens selten) Identitätszeichen und damit Hinweis auf ein Ethnikum sein kann bzw. muss, Wanderungen nachzuweisen. Die Verbreitung und Verteilung von Schmucktypen kann auf die unterschiedlichsten Ereignisse zurückgehen, im Rahmen beispielsweise von Handel und Heiratsbeziehungen. Welche Überlegungen sollte man anstellen, um das Problem der Migration auch im archäologischen Quellenmaterial wirklich fassen zu können? M. Meyer hat dazu weitere Vorschläge gemacht.208 Es gibt Eliten-, Massen- und Spezialistenwanderungen, außerdem auch Vertreibungen und Austausch der Bevölkerung. Wanderungen sind auch nach zeitlichen Abschnitten zu gliedern: Es beginnt mit Kundschaftern, das sind Händler, Söldner und Handwerker; diese bilden Stützpunkte, an die sich nachziehenden Gruppen anfügen. Es bleibt eine Beziehung zwischen Abwanderungsareal und Einwanderungsgebiet bestehen; es können dann kontinuierliche Zuwanderungen folgen. Im Übrigen spricht man, gerade auch mit dem Blick aus Germanien auf das Römische Reich, von Pull- und PushFaktoren, von Akkulturation und Assimilation, von Innovation und Kulturwandel, wobei dann die Zuwanderung kaum noch zu erkennen ist.209 Häufig finden sich Absplitterungen von dem Kerngebiet einer Kultur, die in ihrem neuen Umfeld als kulturelle Inseln wirken, was man so formulieren kann.210 Die Migration nährt die Migration, über diese Pull- und Push-Faktoren; es gibt Sekundärmigrationen, die am Beispiel der Przeworsk-Kultur und ihrer Ausstrahlung nach Südwesten beschrieben werden (vgl. S. 893 ff.). Recht aktuell zum Thema war 2018 die große Ausstellung als Bilanz der letzten 20 Jahre der archäologischen Forschung in Deutschland im Gropius-Bau in Berlin (21. September 2018 bis 6. Januar 2019) „Bewegte Zeiten – Archäologie in Deutschland“.211 Sie berücksichtigt auch die in diesem Buch behandelte Epoche der Jahrhunderte um und nach Chr. Geb. in Germanien. Aber im Gegensatz zu den bisher auf einem chronologischen Gerüst beruhenden Darstellungen werden jetzt vier Schwerpunktthemen durch archäologische Funde illustriert „Mobilität, Konflikte, Austausch, Innovation“. Andreas Kilb (in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom Montag, den 24. September 2018, Nr. 222, Seite 9) hat gewisse Sorgen, ob nun auch 207 Burmeister 2013. 208 M. Meyer 2009b, 60. 209 Andresen 2004; Prien 2005, 61 Abb. 4; Burmeister 1996; 1998; 2000a; 2012; 2013. 210 Burmeister 1996. 211 Bewegte Zeiten – Archäologie in Deutschland 2018.
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alles nachdrücklich zu verstehen ist. Es geht um die Themenfelder bzw. „Modelle von Geschichte“ wie Mobilität (also Wanderungen von Menschen, Waren, Ideen), Austausch (also Handel), Konflikt (also Kriege) und Innovation (also Erfindungen). Der Einschub sei an dieser Stelle erlaubt, da mit der Betonung auf Migration ein Thema auch überbetont behandelt werden kann: „Unsere gesamte Entwicklung beruht auf Migration“, so Matthias Wemhoff als Organisator der Ausstellung auch in einem Interview im Deutschlandfunk–Kultur. Europa sei ein kleiner Kontinent und die Bewohner waren immer in Bewegung: Es ging um fremde Waren, um Handel, Austausch, gar Gier nach dem Fremden. Das trifft durchaus zu, aber längst nicht immer ist ein größerer Teil der Bewohner eines Landes auf Wanderung. Migration sei der Motor der Menschheitsgeschichte, der Mensch schafft 30 km am Tag, „In weniger als einem Monat kann man von Flensburg mach München laufen“. Heutige Straßen nutzen noch alte Trassen. Migration ist die Mutter aller Entwicklung, Deutschland war auch früher vernetzt in Europa und darüber hinaus. Nikolaus Bernau (Berliner Zeitung vom 20. 9. 2018) meint anlässlich der Ausstellung, der Mensch wandert. Nur deswegen können sich technologische und kulturelle Neuerungen verbreiten, können Gesellschaften sich weiterentwickeln; ohne Wanderung kein zivilisatorischer Fortschritt. Rolf Brockschmidt (Tagesspiegel vom 22. 9. 2018) meint ebenfalls zur Ausstellung, Migration sei schon immer ein Motor gesellschaftlicher Entwicklung gewesen und zitiert damit M. Wemhoff: „Migration ist nicht die Mutter aller Probleme, sondern die Mutter aller Entwicklungen“. Es gab Bewegung von Menschen, von Sachen und von Ideen. Ohne Migration gebe es keine Kultur. Es wird ein Beispiel beschrieben, auf das in ähnlicher Form noch zurückgekommen wird (vgl. S. 1017). Ein germanischer Dolch wird in Syrien gefunden, er gehört einem syrischen Legionär in römischen Diensten, der nach Ende seiner Dienstzeit in seine Heimat zurückgekehrt ist. Was ist gewonnen, wenn es um das Problem geht, wie archäologisch Wanderungen und Mobilitäten erkannt werden können? Es kommt auf die Fragestellung an. Sachgüter, Schmucksachen oder Waffen beispielsweise, sind an einem Ort hergestellt worden und finden sich weit gestreut in Germanien. Dahinter steckt selbstredend eine Mobilität; denn irgendwer und irgendwie werden die Dinge vom Ausgangspunkt verteilt worden sein, schlicht durch Handel oder durch den Umzug des Menschen, der diese Sachen mit sich geführt hat. Die Wanderung einer Gruppe von Leuten, seien es Krieger oder seien es „Stammesverbände“ wie die Vandalen auf dem Weg nach Nordafrika sind aber archäologisch als Prozess nicht nachweisbar, nur das Ausgangsgebiet und das Ende in neuem Raum sind archäologisch beschreibbar, zumindest anhand der schriftlichen Überlieferung. Angelsachsen beiderseits des Kanals sind archäologisch erkennbar. Aber nur wegen der historisch überlieferten Daten denkt man eine direkte Überwanderung von Menschen, nicht etwa nur um kulturelle Beeinflussung. Ohne diese schriftlichen Quellen könnten auch ganz andere Erklärungen für das gleichartige zivilisatorische Erscheinungsbild, hier vor allem Keramikformen, herangezogen werden, zumal das historische
3.4 Wanderungen und Mobilitäten
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Datum um 450 und die archäologischen Funde im 6. Jahrhundert, chronologisch gar nicht zusammenpassen. Wie dem auch sei, Veränderungen archäologisch erarbeiteter Verbreitungen sind archäologische Beschreibungen, die überhaupt nichts mit Wanderungen von größeren Menschengruppen zu tun haben müssen. Es sind – wie oft zu bemerken – unterschiedliche Seinsbereiche, die nicht zusammenpassen müssen. Vor allem sind es – da archäologisch nicht so eng zu datieren ist – zumeist länger andauernde Vorgänge, die nicht mit der kurzzeitigen Wanderung zu parallelisieren sind. Auch wenn die Archäologie durch chronologische Analysen ein Nacheinander und eine Verlagerung von Kulturerscheinungen erkennen kann, sind das immer Niederschläge länger andauernder Prozesse, keine Wanderungen im definitorischen Sinn. Es ist wohl mehr als ein Zufall, dass 2018/2019 im Landschaftsverband Rheinland- Landesmuseum Bonn eine Ausstellung gezeigt wird mit dem Titel „Europa in Bewegung. Lebenswelten im frühen Mittelalter“.212 Da spielen wohl die gegenwärtigen Flüchtlingsströme und Migrationen eine aktualisierende Rolle.213 In einer Rezension von Dr. Maxi Maria Platz gibt es die überzeugende Formulierung zum nächsten Kapitel und dem Begriff „Identität“ in der Ausstellung: „Das liegt meines Erachtens daran, dass es eine theoretische Konstruktion ist, die in die Vergangenheit zurückprojiziert wird“.214 Eine meiner Hauptthesen zur Erklärung von Fund- und Befundverbreitungen innerhalb des mitteleuropäischen Raumes ist, dass sich in den Kartenbildern regelmäßig naturräumlich vorgegebene Fernwege abbilden. Diese spiegeln Kommunikation, die gleichzeitig erfolgte oder auch nacheinander geschah (was dann möglichweise auf Mobilität und Wanderung von Menschen hinweisen könnte) (Abb. 5). Darauf komme ich im Verlauf der Arbeit immer wieder zurück. Die Suche nach den Gründen für die Mobilität früher Bevölkerungsgruppen und für die zahllosen überlieferten die Wanderungen könnte auch eine allgemeine psychologische Erklärung berücksichtigen. Real werden Hungersnöte, Übervölkerung oder kriegerische Bedrohungen als Ursachen diskutiert. Vergessen wird leicht, dass zu allen Zeiten die Jugend in die Ferne schweifen will, und was heutige Reisen in andere Kontinente sind, waren im Mittelalter beispielsweise das Pilgern zu heiligen Orten und noch früher in den Jahrhunderten um und nach Chr. kriegerisch begründete Züge in andere Landschaften. Die historisch und archäologisch überlieferten Einfälle kleiner Gruppen ins Römische Reich, auch um der Beute
212 Europa in Bewegung 2018. 213 Zur Diskussion über die Migrationen in der Neuzeit und Gegenwart: Bade 2000; 2007; Bade, Emmer, Lucassen, Oltmer (Hrsg.) 2007; Oltmer 2012; Hahn 2012; Kleinschmidt 2002; Kern 2019. 214 Dr. Maxi Maria Platz, Ausstellung „Europa in Bewegung …, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 18. Januar 2019, https://mittelalter.hypotheses.org/20949.
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3 „Germanen“ als ethnische Größe und Einheit?
Abb. 5: Fernwege durch Mitteleuropa, die über Jahrhunderte genutzt wurden und sich anhand der geographischen Struktur des Landes dazu auch anbieten.
wegen, endeten mit der Rückkehr in die Herkunftsgebiete, womit der Drang in der Ferne befriedigt wurde.
3.5 Identitäten Identität215 und Identitäten werden gegenwärtig ständig als wesentlich für eine Gesellschaft und ihre Mitglieder erachtet, Identität ist Zugehörigkeit zu einem ganz verschieden zu definierenden Kollektiv. Die gegenwärtig inflationären Verwendungen des Begriffs „Identität“ seien schillernd und vielseitig, aber manchmal doch nützlich, wenn es zum Beispiel um gemeinsamen Glauben geht.216 Die Identität des Einzelnen wird zum kollektiven Wir, zu einer Gemeinschaft auch des Denkens und Fühlens. Ebenso wichtig werden Identitäten deshalb auch für die Vergangenheit, die ich in diesem Buch behandele. Gefragt wird stetig, was eigentlich Identität meint oder gar kollektive Identität. Dabei blicke ich in die Zeitungen: Identi215 Groebner 2018: Was war Identität?; Niethammer 2000; allg. Appiah 2019; Gehrke 2016. 216 A. Assmann 2006; 2007; Mischa Meier 2020, 99 Anm. 101 und dazu Pohl 2013.
3.5 Identitäten
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tätspolitisch ist Heimat ein Substrat für „Deutsch“. Heimat ist auf drei Ebenen zu verorten: Es gibt die soziale, die emotionale und die territorial-kulturelle Heimat: Heimat ist für die Menschen in Deutschland vornehmlich durch die unmittelbare soziale Umgebung, durch menschliche Beziehungen geprägt. Es ist keine Leitidee nationaler Identität damit verbunden. Heimat ist kein Grenzraum, obwohl das Wort oft zur Abgrenzung zu anderen benutzt wird. Vielmehr hat der Begriff das Potenzial, für Integration zu stehen.217
Andernorts spricht Prof. Dr. Klaus Segbers von der Rückkehr der Stammesmentalität. Der Aufstieg populistischer Parteien ist eine Reaktion auf ein breites Spektrum rascher kultureller Veränderungen, die die Grundwerte und Sitten der westlichen Gesellschaften aushöhlen. Identitätspolitik [kursiv vom Verf.] ist damit das entscheidende Element der Renaissance des Populismus in Europa.
Es zeichnet sich allgemein in unserer Gegenwart „ein rückläufiger Einfluss der traditionellen Träger kollektiver Identitäten ab, der Nationalstaat, die soziale Klasse und die Religionsgemeinschaften verlieren an Bedeutung“, und neue Kollektive müssen gesucht werden, was dann zur revisionistischen Geschichtsauffassung führt. Plausibel ist, dass immer wieder identitätsstiftende Rituale gesucht und geschaffen werden, im Bereich der Archäologie können das nämlich erkennbare Sitten sein, nur selten Sachgüter. In seiner Rede anlässlich der Verleihung des Sachbuchpreises der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt hat Thomas Bauer, Professor für Arabistik und Islamwissenschaft, zu den Aussagen von Wissenschaft Berücksichtigenswertes gesagt.218 Eigentlich ging es um die Frage, warum es kein islamisches Mittelalter gab. Die Aussagen der Wissenschaft sind zu differenzieren: (1) Meinungsbildung setzt Wissen voraus, (2) Begriffe beantworten keine Fragen, sie verschleiern sie aber oft; (3) die Ausblendung der Geschichte verhindert ein besseres Verständnis der Gegenwart. Zu (2) ergänzt Th. Bauer: „Viele Begriffe bezeichnen nicht nur Phänomene, sondern liefern Interpretationen und Konnotationen gleich mit“. So geht das bei Identitäten und Authentizitäten, in Geschichtsschreibung und Identitätsimaginationen. Es sei ein Authentizitätswahn und deshalb die Suche nach dem vermeintlichen authentischen Ich vergeblich: Wer seinen Blick auf die Gegenwart fixiert, wer die Gewordenheit der Gegenwart nicht sehen will, wird glauben, dass alles notgedrungen so ist, wie es ist. […] [Aber] Alles könnte auch anders sein. […] Nichts ist alternativlos. Die Rede von der Alternativlosigkeit versperrt nun aber gerade die Zukunft. Alternativlosigkeit ist Zukunftslosigkeit. 217 J. Steinwede, Verbindend, nicht trennend. Was die Deutschen unter Heimat verstehen. DIE ZEIT No. 21, 15. Mai 2019; Zitat Klaus Segbers, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 116, 20. Mai 2019, Seite 6 (im Teil: Die Gegenwart). 218 Thomas Bauer, Alternativlosigkeit ist Zukunftslosigkeit. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. Juni 2019.
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Was den Blick verstellt, sagt Th. Bauer: Epochengrenzen waren immer Konstrukte von Historikern: Es ist Zeit, Europa in einem größeren Raum einzubetten und den Begriff „Mittelalter“ zu verabschieden.219 Das forderte im Übrigen auch Jacques Le Goff (1924–2004) mit der Frage „Geschichte ohne Epochen?“220 Ich zitiere diese Meinungen hier deshalb, weil mich meine Studien zu den Germanen und zu Germanien in den ersten Jahrhunderten um und nach Chr. zu der Erkenntnis geführt haben, dass auch die hier immer wieder angesprochenen Epochen „Römische Kaiserzeit“ und „Völkerwanderungszeit“ in der Realität damaligen Lebens nicht so aufeinander folgten: Ein großer Teil der Siedlungen und auch der Gräberfelder fängt vor Chr. Geb. an und reicht dann über die genannten Epochen hinaus manchmal bis in die Wikingerzeit (vgl. S. 289). Doch ist es ein kaum lösbares Problem, hier Änderungen zu formulieren; es sollte wenigstens keine Verwunderung hervorrufen, wenn sehr häufig über diese Epochengrenzen hinweg beschrieben und argumentiert werden muss. Wie komplex eine Erklärung des Begriffs und des Sachverhalts „Identitäten“ im Gegensatz zu Alteritäten ist, führt ebenfalls auf ein „weites Feld“ der Diskussion, nicht nur in der Archäologie. Darüber wurde oben schon ein Gespräch zitiert (vgl. S. 77). Ein Tagungsband war 2017 dem Thema gewidmet,221 in dem S. Brather über die Archäologie von Identitäten und Alteritäten berichtet hat.222 Es gibt historische, archäologische223 sowie bioarchäologische Annäherungen an Identitäten, an das Andere und an uns. Sprache ist eine Frage der Identität. Fast jeder Mensch hatte und hat nämlich mehrere Identitäten, eine, die er sich selbst gewählt hat, als Angehöriger einer militärischen Kriegergefolgschaft in Germanien, oder eine, in die er vielleicht hineingeboren worden ist oder zu der er sich bewusst gesellt hat, als Angehöriger eines „Stammes“, was auch immer das seinerzeit gewesen ist. Dasselbe trifft für Religionen und Bestattungsgemeinschaften zu, und auch für eine Gruppe von Handwerkern.224 Identitäten spiegeln gesellschaftliche Strukturen. Welche sind im archäologischen Quellenmaterial erkennbar, wenn es um das Individuum oder die nächste Gruppe von Angehörigen geht? Bei dieser Frage ist man zuerst bei der Bestattung. Die Grabsitten, Urnen- oder Körpergrab, großer Grabhügel oder Grabkammer, sind Ausdruck einer Gruppenzugehörigkeit, einer Identität im Totenbrauchtum. Dasselbe trifft eigentlich auch zu, wenn man fragt, welches Haus man wie baute, in dem man lebte. Sind schließlich – und damit kommt man nahe an das Problem der ethnischen Deutung heran – bestimmte Fibelausstattungen, Gürtelmoden oder auch Waffenausrüstungen Zeichen für eine Identität und welche dann? Meine Ansicht ist jedenfalls – man kann da widersprechen –, 219 Th. Bauer, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 195, S. 12 vom 23. August 2018. 220 Le Goff 2016. 221 Quiroga, Kazanski, Ivanišević (Hrsg.) 2017. 222 Brather 2017b; vgl. auch Zerjadtke 2019, 24–27. 223 Pohl 2008c; Pohl (Hrsg.) 2010a. 224 Steuer 1982, 21 Abb. 4.
3.5 Identitäten
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dass eine Fibelform, beispielsweise mit hohem Nadelhalter oder eine Rosettenfibel, wie sie beschrieben werden (vgl. S. 477), weniger das Zeichen einer Gruppenzugehörigkeit oder eines Stammes waren, sondern in erster Linie der Hinweis auf die Erwerbungsmöglichkeit einer solchen Fibel; und bei einem Umzug oder einer Heirat in ein anderes Gebiet nimmt man diese Fibel einfach mit. Im Zuge der Forschungsgeschichte wurden Keramikgefäße, weil als Urnen in Gräberfeldern am besten und vollständig überliefert, anhand ihrer Machart, Form und Verzierung als Gruppenzeichen bis hin zur Definition von Kulturkreisen und gar ethnischen Gruppen gewählt (weil man damals noch nicht über andere Quellen verfügte), um das Material irgendwie zu ordnen. Keramik wurde anfangs im häuslichen, privaten Bereich hergestellt, dann in Töpferöfen für eine kleinere Siedlungsgemeinschaft, oder wurde später bei der Drehscheibenware über den Handel bezogen. Töpfe wurden in der Nachbarschaft, weil man das bei anderen Frauen so sah, ähnlich hergestellt oder weil man das in der Familie so von der älteren Generation übernommen hat. Ob dabei Form und Verzierung bewusst als Kennzeichen der eigenen Gruppe betrachtet wurde oder ob das einfach nur der Gewohnheit entsprach, bleibt offen; jedenfalls kann man von bewusster Zuordnung als Identitätszeichen kaum ausgehen. Die Kulturkreise der Rhein-Weser-Germanen, der Elbgermanen oder weiterer Großgruppenbezeichnungen der Archäologie wie Wielbark- oder Przeworsk-Kultur sind Hilfsmittel der Forschung zum gegenseitigen Verstehen unter den Wissenschaftlern. Alle diese Identitätsbildungen liegen also auf einer ganz anderen Ebene, und die damalige Bevölkerung hatte keine Vorstellung davon. Die Frage nach der ethnischen Deutung und den Identitäten über archäologische Funde und Befunde, über archäologische Quellen überhaupt, greift jetzt auch zum neuen Hilfsmittel der Genetik mit der Auswertung alter DNA, um darüber Herkünfte und Zusammenhänge beweisen zu können.225 Einerseits sind neue Methoden auch aus den Naturwissenschaften zu begrüßen, andererseits ist aber Zurückhaltung zu bewahren, da die Aussagen dieser Methoden erst ihre statistisch ausreichende Sicherheit erreichen müssen. Das ist aber offensichtlich noch nicht der Fall; die bisher erarbeiteten Analysen sind längst nicht zahlreich genug, statistisch nicht beweiskräftig, und oftmals wird auch vermischt, was an frühgeschichtlichen Skelettmaterialien ausgewertet wird und was an heutiger Bevölkerung gemessen werden kann. Ich erinnere an die Frühzeit der Verwendung der Radiocarbon-Datierung, eine phantastische Neuerung, die jedoch anfangs fehlleitete, weil die Geschichte des radioaktiven C-14 im Laufe der Geschichte noch nicht gemessen, über Dendrochronologie noch nicht geeicht worden war. Datierungsabweichungen von zwei Jahrtausenden (!) und mehr waren die Folge, ehe erkannt wurde, dass die Neolithisierung in Mitteleuropa schon im 6. Jahrtausend v. Chr. eingesetzt hatte.
225 Krause, Trappe 2019 zu einem Versuch, die Geschichte der Gene zu beschreiben, die hier aber nicht weiterhilft.
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Ethnizität, Identität und Genetik als zusammenhängende Problematiken müssen sorgfältig betrachtet werden, um die möglichen Aussagen präzisieren zu können, die der Archäologie neue Ergebnisse liefern werden.226 Über Genetik und die Möglichkeiten der aDNA-Ergebnisse gibt es rasch neue Publikationen. Meist geht es dabei um urgeschichtliche Perioden und die frühen Einwanderungen der ersten Bauernkulturen nach Mitteleuropa (vom Neandertaler und dem Homo sapiens einmal abgesehen).227 Doch werden bei revisionistischen Historikern schon wieder die Deutschen mit den frühen Germanen „genetisch“ verbunden und das dann gleich noch weiter in die Vergangenheit verfolgt. Bei dem Begriff Identität setzen die Probleme ein. Denn was soll damit gemeint sein? Als Archäologe sage ich mit anderen, dass Identität und Identitäten so vielgestaltig sind, dass sie bei der Auswertung unserer Quellen nicht weiterhelfen können. Jedes Individuum hat und ist eine Identität, eine kleine Gruppe kann sich eine Identität zulegen. Aber zumeist ist man eingespannt in mehrere Identitäten, die zudem auch wechseln können.228 Für den Archäologen folgt die Frage, ob es Zeichen für eine Identität gibt, die wir beispielsweise in den Beigaben der Gräber erkennen könnten. Der bei Tacitus und auch in archäologischen Objekten überlieferte Swebenknoten ist aber kein Zeichen der Sueben, wobei nicht einmal beschrieben werden kann, wer Suebe war; denn als Zeichen kriegerischer Tüchtigkeit haben auch Männer aus allen möglichen Gebieten diese Mode angenommen (vgl. S. 49). Für die spätere Epoche der Merowingerzeit gibt es Waffennamen wie die Wurfaxt Franziska, die aber nicht nur von Franken, sondern von vielen Kriegern dieser Phase getragen wurde, und dasselbe gilt für den Sax, der nicht die Waffe der Sachsen allein war, sondern eine allgemein übliche Bezeichnung für die einschneidige Hiebwaffe, die von vielen Kriegern und überall getragen wurde. Überwiegend hat sogar die Wissenschaft durch einseitige Verwendung dieser Etikette das falsche Bild selbst hervorgerufen. Wie dem auch sei, gleichartiges Verhalten kann Identitäten schaffen. Das mögen Kleidungsmoden im Leben und auch Bestattungsbräuche sein. Auch wenn in derselben Weise ein dreischiffiges Hallenhaus gebaut wurde, und zwar in benachbarten Dörfern, dann ist das eine Bautradition, die auf Wirtschaftlichkeit gründete und nicht etwa auf ein Gemeinschaftsbewusstsein, und man will damit keine Identität der Gruppe ausdrücken. Identität, so auch S. Brather, ist eher eine politische Aussage als eine soziale Realität, Die Selbstzuordnung kann häufig wechseln, und Rasse, Ethnizität und Nation sind keine realen Einheiten in der Welt, sondern wie man die Welt sehen will (nach dem Amerikaner Roger Brubaker), sind also Konstruktionen. Die archäologischen Verbreitungskarten (dazu ausführlich auch S. 111) zeigen zwar regionale Konzentrationen, aber keineswegs Stammesgebiete oder ethnische
226 Brather 2016. 227 Krause, Trappe 2019. 228 Steuer 1982, 21 Abb. 4.
3.5 Identitäten
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Einheiten, sondern irgendeine Form der Kommunikation lässt das Bild entstehen. Zuförderst sind diese Karten aufgrund der Definition von Typen und Befunden durch die Archäologie – um zu wiederholen – archäologische Konstruktionen. Die miteinander kommunizierenden Gruppen sind gewissermaßen – wie es heute heißt – face-to-face-societies und zählen nur wenige hundert oder tausend Mitglieder, und mehrere nebeneinander siedelnde Gruppen dieser Art verbreiten dann, nicht zuletzt durch Heiraten, auch die materielle Kultur, wodurch die Grundlagen für die Verbreitungskarten entstehen. Diese reflektieren nicht, jedenfalls nicht in erster Linie Identitäten. Raphael Gross, neuer Direktor des Deutschen Historischen Museums in Berlin seit 2017, hat sich in einigen Zeitungsartikeln und Interviews gegen eine Verwendung des Begriffs und gegen die Frage von Identitäten gewendet. J. Kaube und A. Kilb (Gesprächsführung) fragten R. Gross nach „Sinn und Nutzen historischer Urteilskraft. Was ist deutsch? Gibt es überhaupt so etwas wie Identität? Wie kann man Geschichte veranschaulichen?“229 Gross hält „Identität“ für einen in der Regel leeren Begriff, und man kommt damit nicht weiter, wenn es um die Deutung historischer Situationen und Prozesse geht. Im Gespräch fragten Jürgen Kaube und Andreas Kilb: „Ist die Varusschlacht ein deutsches Ereignis?“ Das war es, so die Antwort, nur in den bestímmten historischen Gegebenheiten im 19. Jahrhundert. R. Gross braucht und mag den Begriff „Identität“ nicht. Das Wort sei aus der Logik in die Entwicklungspsychologie und von da in die Kulturwissenschaften gewandert; und bei Kollektiven empfindet er Identität immer als einen Problembegriff, der eigentlich jedes Mal in die Irre führen würde. In der Zeitung DIE ZEIT vom 27. April 2017 antwortet er dem Fragesteller Christian Staas, ob er das Deutsche Historische Museum als einen Ort der Identitätsstiftung sehen würde, dass „Identität immer eine Konstruktion“ sei: Der Begriff setzt immer schon voraus, was am Ende dabei rauskommt. Außerdem gehen wir fast immer von einer Störung aus, die wir kurieren wollen, wenn wir über Identität reden.
Francis Fukuyama bewegt sich in der Gegenwart, wenn er die Identitätsfragen in der Politik stellt. Damit wird eine „rechte“ (und teils auch „linke“) Grundeinstellung gemeint, ein revisionistischer Geschichtsansatz, der sich gegenwärtig nicht nur in Europa wieder ausbreitet, was eine Beschränkung der liberalen Demokratie bedeutet, eher einen Hinweg zeigt zu Autoritarismus und zu nationalistischen Vorstellungen wie im 19. Jahrhundert. Man sucht den Schutz der nationalen Identität, die bedroht sei, und fühlt ein Würdedefizit. Verbunden ist die rechte Identitätspolitik im Extremfall mit einem „unverhohlen rassistisch weißen Nationalismus“; und es geht um den „Erhalt bzw. die Wiedererlangung verlorener oder verlorengeglaubter
229 J. Kaube, A. Kilb, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. April 2017.
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Privilegien“ … Deshalb wird „die Vergangenheit zur relativen Bezugsgröße rechter Gesellschaftsbilder“.230 So meinte George Orwell 1945: Jeder Nationalist ist getrieben von der Überzeugung, dass sich die Vergangenheit ändern lässt … doch diejenigen, die die Geschichte umschreiben, glauben vermutlich in Teilen ihrer Gedankenwelt, sie würden tatsächlich Fakten in die Vergangenheit verschieben.231
Ich bin gespannt, ob sich das in einiger Zeit auch wieder auf die archäologischen Methoden und Zugänge bei der Quelleninterpretation auswirkt. Über Identitäten wird also gegenwärtig vermehrt gesprochen und meint im Kern eine rückwärtsgewandte wieder modern gewordene politische Grundeinstellung. Gesucht wird wieder eine nationale Identität, vertreten vorwiegend von autokratischen und nationalistischen, auch religiösen Bewegungen und Führern, scheinbar verlorene Würde und Anerkennung fördern populistische und nationalistische Bewegungen. Bei rechten Gruppierungen wird die Vergangenheit zur relevanten Bezugsgröße, die wieder heraufbeschwört und neu zu gewinnen gesucht wird.232 Was ist beispielsweise deutsch, wenn es um Identitätsbildung geht? – die gemeinsame Sprache, – die gemeinsame Geschichte, sofern sie noch zum allgemeinen Wissen gehört, – die gemeinsame Herkunft bzw. Abstammung, dasselbe Ethnos, – das Zugehören zu einem Staat, – die gemeinsame Nation (aber was ist das?), eine „Willensnation“, eine bewusst gewollte Gemeinschaft bei Herkunftsvielfalt? – gemeinsame Ziele, Wille zur gemeinsamen Zukunft, eine Bekenntnisnation, – das Selbstbild einer Nation, zwischen regionaler Identität und der europäischen Einigung, – die Kulturnation. Was ist ein Volk, ist weiter dabei zu fragen? – das gesamte deutsche Volk, man spricht im Namen des Volkes („Wir sind das Volk“) – nur die Summe aller deutschen Staatsbürger oder doch mit (?) einer ethnischen Bedeutungskomponente, – im Englischen heißt es neutral people, nation und public, ohne ethnische Konnotation, im Französischen peuple und nation ebenso ohne ethnische Bedeutungsmerkmale, – in einem Leserbrief (Manfred Eberlein am 2.2.2019 in der FAZ) heißt es schließlich: die Sprache wird dadurch zum Integrationshemmnis.
230 Fukuyama 2019, dazu Zitate nach Cornelia Koppetsch 2019. 231 Orwell 2020, 22 f. Zitate; dazu auch A. Nassehi im Nachwort 51 f. 232 Niethammer 2000.
3.5 Identitäten
– – – –
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Revisionistisch erfährt man durch den 80jährigen Helmut Lethen 2019: Ist ein Volk nur ein Volk, wie bei Tacitus in der Germania zu lesen, unvermischt, sollen Ethnien nebeneinander existieren, sich aber nicht mischen; gibt es ethnische und nichtethnische Deutsche das deutsche Volk sind nicht die Staatsbürger, sondern das ethnisch-kulturelle Volk.
Im Kapitel über die Jastorf- und die Latène-Kultur wird deutlich, bei der vielfachen gegenseitigen räumlichen Überlappung der archäologischen Befunde und Kartierungen, dass es sich überlagernde Identitäten gegeben hat (vgl. S. 113). N. Roymans spricht zur Situation am Niederrhein von multiplen Identitäten.233 Die Verbreitung keltischer Glasarmringe reicht über das Gebiet der Latène-Kultur hinaus, was zeigt, dass eigentlich eine Mode von Keltinnen auch anderswo getragen wurde. Ähnlich verhält es sich mit der Verwendung von Münzen in einer Gesellschaft mit Geldwirtschaft. Die „keltischen“ Münzen sind weiter verteilt als man „Kelten“ siedeln lässt. Die Begriffe Ethnos oder Ethnizität meinen eine Zusammengehörigkeit als Stamm, aufgrund einer vermeintlichen Abstammungsgemeinschaft, oder Volk, wenn es um größere Verbände geht. Früher im 19. Jahrhundert wurde versucht, über die Kongruenz von Raum. Kultur, Bevölkerung, Rasse und Sprache Identitäten bzw. ethnische Einheiten festzustellen, gegenwärtig geht man eher von der Selbstzuordnung einer Gruppe aus, für die sich entschieden wird.234 Einem Ethnos, so haben Historiker das anhand der schriftlichen Überlieferung schon seit längerem herausgefunden und betont, „fühlt“ man sich zugehörig und ordnet sich dem zu. Das ist also ein Vorgang des Bewusstseins; und diese Zuordnung kann und hat sich nachweislich auch oftmals geändert, konnte und kann wechseln. Wie sollte das archäologisch erkennbar sein, was Einzelne oder eine Gruppe sich gedacht haben. Es ist in der archäologischen Wissenschaft inzwischen weitgehend, aber nicht überall, Überzeugung geworden, dass diese Funktion im Denken sich nicht in den materiellen Hinterlassenschaften direkt spiegelt, aber durch unsere Interpretationsversuche doch in mancherlei Aspekten erschlossen werden kann. Grabbeigaben mögen aufgrund des Reichtums der Ausstattung und der Herrichtung des Grabes den Rang in der umwohnenden Gesellschaft ausdrücken. Aber Kleidungsaccessoires wie Fibeln oder Ringschmuck aus verschieden wertvollem Material bis hin zu Gold beispielsweise oder auch Waffen spielten am ehesten eine soziale Rolle in der Gemeinschaft, spiegeln jedoch kaum eine ethnische Zuordnung, kaum auch eine spezielle Identität. Dasselbe trifft für den Hausbau zu und auch für die Grabsitten selbst, die oftmals als ethnisches Zeichen gewertet werden. Doch diese Bräuche sind erst einmal Ausdruck einer kultisch-religiösen Vorstellung bis hin zu einem Jenseitsglauben, aber kein Stammesabzeichen. Dass dieses Denken
233 Roymans 2014. 234 Brather 2016, 22 ff.
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3 „Germanen“ als ethnische Größe und Einheit?
in den Nationalstaatsideen des 19. Jahrhunderts wurzelt, ist allgemein erkannt und oftmals wiederholt worden, auch in meiner Schilderung. Bestimmte Fibeltypen oder Keramikformen waren bisher in keiner Weise nachweisbar tatsächlich Stammeskennzeichen, sondern erst einmal Ergebnis von handwerklichen Traditionen. Ein aufschlussreicher Bericht zu diesem Thema war – doch nur indirekt, weil das kein Archäologe geschrieben hat – in einem Buch über den Kunsthistoriker und „Ethnologen“ Aby Warburg aus der Feder von Horst Bredekamp zu lesen, der Aby Warburg in den ethnologischen Kontext stellt. In der Rezension des Buches durch Karl-Heinz Kohl wird zitiert, dass ein komplexer Symbolbegriff bei Aby Warburg eine Rolle spielte. Für ihn zählten solch „transportable Schneckenhäuser“ bei den Indianern, wie Gerät, Schmuck, Kleidung und Sitte zu den Mitteln, die es den Menschen ermöglichten, Distanz zu sich selbst zu schaffen, ohne die „Einheit eines leiblichen Ich“ aufzugeben. Wie ist das zu verstehen? Das Individuum passt sich seiner Umgebung an und verhält sich ungefähr wie diese; aber es handelt sich nicht um ein Stammesetikett; denn dann würde man sich selbst teilweise aufgeben.235 Ebenso nur eingeschränkt verwendbar sind für die Archäologie die neuen Genetikmethoden. Sie bereichern unseren Zugang zur Rekonstruktion von Familienverbänden, über das hinaus, was die biologische Anthropologie bisher erreichen konnte. In einer Siedlungsgemeinschaft und auch hinüber zu den benachbarten Gemeinschaften sind direkte Verwandtschaften herauszufinden, wobei nach Heiraten sich diese Beziehungen verschachteln. Kaum lassen sich – es wurde nun mehrfach schon versucht, zum Beispiel für die Langobarden in Italien – Mobilitäten und Wanderungen auf diesem Wege zu erkennen. Auch das ist nicht direkt möglich; denn bekannt ist, auch aus der schriftlichen Überlieferung, dass mit den Langobarden allerlei andere Gruppen mit eigenen Namen wanderten, die also kaum auseinanderzuhalten sind. Da die Mobilitäten der „Völkerwanderungszeit“ und das schon bei den Kriegerverbänden unter Heerkönigen der Römischen Kaiserzeit nicht Wanderungen von festgefügten ethnischen Einheiten waren, sondern von zusammengewürfelten Gruppen unterschiedlicher Größe, ist auch dafür über aDNA-Analysen wenig oder nichts zu erreichen. Das sehe ich im Übrigen auch für die Strontium-Analysen und andere derartige Versuche so, dass zwar nachbarschaftliche Mobilitäten von einer kleinen Landschaft in die andere aufgrund der verschiedenen Gewässer erkennbar sein können (in den Zähnen von Personen in der Wachstumsphase), aber nicht über größere Entfernungen. Wie schon bei der Messung der Blei-Isotopie bei Metallen und Münzen höchstens ein Ausschlussverfahren möglich ist, wenn nämlich die Isotopen überhaupt nicht zusammenpassen, aber nicht die direkte Zuordnung zu Lagerstätten der Erze, weil das erst möglich wäre, wenn alle Lagerstätten geprüft worden sind, was aber noch lange nicht der Fall ist. Deshalb gibt es immer wieder die Diskussion um Echtheit und
235 Bredekamp 2019; Rez. von K.-H. Kohl 2019.
3.5 Identitäten
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Herkunft von Metallobjekten. Es gibt also keinen direkten Zusammenhang zwischen Kultur und Genetik. Ereignisgeschichtliche Vorgänge, biologische Ergebnisse und archäologische Befunde sollten nicht vermischt werden. Die germanische Einwanderung vom Kontinent nach England im 5. Jahrhundert (wozu es die schriftliche Überlieferung gibt) wird über genetische Untersuchungen in ihrer Größenordnung zu fassen versucht (vgl. auch unten S. 822). Die bisher publizierten Angaben reichen aber nicht aus, nicht nur weil es immer noch zu wenige genetische Analysen gibt, an der gegenwärtigen Bevölkerung nach 1500 Jahren und an frühen zeitgleichen Gräberfeldern. Nicht einmal archäologisch ist diese Einwanderung in Übereinstimmung mit der schriftlichen Überlieferung zu erfassen; denn die tatsächlichen archäologischen Übereinstimmungen gehören nicht in die Mitte des 5., sondern erst ins 6. Jahrhundert (vgl. dazu später S. 819). Genetische Beziehungen sind, und das ist hilfreich, z. B. als Nachweis von Heiraten zwischen Elitefamilien über verschiedene Regionen hinweg, feststellbar. Das betrifft nur individuelle Fälle, keine Bevölkerungen als Ganzes. „Identities and genes are two very different things“.236 Es gibt zahlreiche neue Institutionen, die sich mit Isotopen- und Genetischen Analysen befassen. Was die Ethnizität betrifft, ist das Projekt von Patrick Geary zu den Langobarden in Pannonien und Italien ein solcher Versuch, beides zu verbinden, Ethnos und Gene. Vorsichtige Interpretationen sind angesagt. Isotopen-Analysen belegen nicht direkt Migrationen, sondern zuerst einmal Veränderungen in den Verhältnissen im Laufe des Lebens, es sei besser, von nicht-lokalen Individuen zu sprechen, ähnlich zurückhaltend sollten die Auswertungen der DNA-Analysen mit Blick auf Wanderungen sein. Denn ethnische Identitäten haben also nichts mit Genen zu tun.237 Doch sollten deshalb die ethnischen Namen aus der Schriftüberlieferung nicht einfach zurückgewiesen und übersehen werden, vielmehr müssen sie im Zusammenhang mit den schriftlichen Quellen zur Darstellung von ereignisgeschichtlichen Vorgängen verwendet werden. Frühmittelalterliche ethnische Gruppen wechselten aber ihre Zuordnung oftmals, so dass sie zeitlich kaum zu definieren sind. Isotopenanalysen scheinen nicht mit den traditionellen Interpretationen von Mobilitäten von Leuten und mit der materiellen Kultur in Übereinstimmung bringen zu sein.238 Dieses Langobardenproblem hat Michael Borgolte als Historiker schon früher pointiert formuliert.239 Zur Wanderung der Langobarden berichten die antiken Schriftquellen, vor allem Paulus Diaconus (um 720 bis um 799) oder auch Jordanes (Gote oder Alane des
236 Brather 2016, 32 und 35; Brather-Walter 2019b, 1–5. 237 v. Rummel 2019, 200–203; Wenskus 1979, 650 Zitat v. Moltke; Samida 2019 mit weiterer Lit.; Brather 2016 zum Methodischen. 238 Theuws 2019, 125; Schuh, Makarewicz 2016. 239 Borgolte 2013/2014, 295 ff., 296 Anm. 15 Zitat, 302 Zitat. Übrigens vermute ich, dass die Zahl 80 000 auch ein Topos sein könnte. Das betrifft die Wanderung der Vandalen nach Nordafrika oder die Burgunder, vgl. Zerjadtke 2019, 49 und 59; denn erstaunlich häufig erscheint gerade diese Zahl.
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3 „Germanen“ als ethnische Größe und Einheit?
6. Jahrhunderts). Es ist allgemeine Annahme, dass das „ganze Volk“ der Langobarden nach Italien eingewandert sei, (mit Kind und Kegel, Karren und Vieh). Berechnungen schwanken zwischen 80 000 und 200 000 Menschen; J. Jarnut berechnete 20 000 bis 30 000 Bewaffnete, dann hätte der ganze Zug 100 000 bis 150 000 Menschen und Hundertausende von Tieren umfasst, die im Jahr 568 aus Pannonien nach Italien gewandert sein müssten. Es gab schon früh Kritik an dieser „Massenmigration“. Von P. Heather240 wurde in seinem Buch „Invasion der Barbaren“ „die Bedeutung der Migration … entscheidend relativiert. So gehen inzwischen viele Historiker davon aus, dass es überhaupt keine massenhafte Migration gab, sondern dass sich immer nur wenige Menschen auf Wanderung begaben … Die Auffassung, wonach große Populationen weite Distanzen zurücklegten, wird allmählich durch die Vorstellung kleinteiliger mobiler Gruppierungen ersetzt, die im Lauf ihrer Wanderschaft immer mehr Gefolgsleute an sich banden. Diese Meinung vertritt ebenso G. Halsall,241 beispielsweise wenn es um die Einwanderung nach England geht. „Andererseits erscheint es so gut wie ausgeschlossen, dass die Langobarden in der knappen Zeit bis Anfang April 568 eine Massenauswanderung nach Italien mit etwa 100 000 Menschen, Vieh und allem Hausrat organisiert haben sollten“. Der Rückschluss aus moderner Zeit steckt dahinter: „Es ist stets erst die Gegenwart, die die Einheit der Vergangenheit stiftet“.242 Die Annahme einer Kettenmigration ist eine neue These. Ein erster Zug erfolgte 568 oder auch früher, weitere Gruppen zogen in späteren Jahren nach. Bei den langobardischen Herzögen (duces) dürfte es sich mehrheitlich um Anführer kleinerer Migrantengruppen gehandelt haben, die eine territoriale Herrschaft neu begründeten; ich meine, bei diesen Gruppen handelte es sich um Kriegerverbände. Erinnert sei an die vielen Gruppen mit Namen, die mitgezogen sein sollen: Gepiden, Bulgaren, Sarmaten, Pannonier, Sweben, auch Sachsen und sicherlich noch andere angegliederte Splittergruppen, z. B. awarische/bulgarische Reiter. Also waren, so M. Borgolte, die Langobarden in Italien ethnisch nicht „rein“, im Gesetz von König Rothari aus dem Jahr 643 wurde sogar die Immigration weiterer Fremder gefördert, die dann zu Langobarden werden sollten. In einem Beitrag „Aber diese Fremden da sind nicht von hier!“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 19. Dezember 2018 hat Jörg Feuchter dieses anthropologischarchäologische Projekt erläutert, das anderweitig veröffentlicht ist, mir aber nicht unmittelbar zugänglich war. Berichtet wird, dass Tote nordalpiner Herkunft nebeneinander bestattet wurden, jedenfalls auf zwei Friedhöfen in West-Ungarn und ebenfalls in Italien/Piemont. Referiert wird der Bericht über das Vorhaben von Patrick Geary, Princeton, der Archäo- oder Paläogenetik; „Genetic History“ aufgrund von DNA-Analysen. Das Unternehmen galt der Erläuterung, wie eigentlich die Überwanderung der Langobarden 568 unter König Alboin verlaufen ist; es geht um Migration
240 Heather 2011, 17 und 37 (engl. 2009). 241 Halsall 2007, 418; hier Borgolte 2013/2014, Anm. 17. 242 Fried 2001.
3.5 Identitäten
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und Ethnizität im frühen Mittelalter, wobei eine Ausgangsposition der Methodenstreit zwischen Volker Bierbrauer (mit der proethnischen Zuschreibung) und Sebastian Brather (contra) gewesen ist. Das Gräberfeld von Szólád nahe dem Plattensee wurde nur für eine Generation in der Mitte des 6. Jahrhunderts benutzt, und zwar mit am Ort unüblicher Begräbniskultur.243 Der Friedhof von Szólád wird mit dem Gräberfeld Collegno bei Turin vom Ende des 6. und dem Anfang des 7. Jahrhundert verglichen. Erfasst wurde die DNA sämtlicher Skelette, beteiligt dabei war das Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena. Auch die chemischen Isotopenanalysen der Skelette in Bezug auf die Ernährung wurden vollständig durchgeführt. An beiden Gräberfeldern konnten übereinstimmende Verwandtschafts-, Herkunfts-, Beigaben- und Lagemuster festgestellt werden; auf beiden Gräberfeldern gab es jeweils eine Gruppe von genetisch überwiegend aus dem nordalpinen Europa stammenden Individuen sowie eine andere Gruppe von mehr südalpiner Herkunft. Die nordalpinen Gruppen gehören auf beiden Gräberfeldern verwandtschaftlich zusammen, die anderen Gruppen jedoch untereinander kaum. Isotopenmäßig haben sowohl in Szólád als auch in Collegno die Leute nördlicher Abstammung nicht ihr ganzes Leben in der Region verbracht, d. h. sind zugewandert (mit Ausnahme der ganz jung Verstorbenen). Sie verfügten auch über eine bessere Ernährung. Die aus dem Norden stammenden Leute lagen auf dem Gräberfeld in Italien auch jeweils beieinander, und nur sie haben Beigaben, was den sozialen Vorrang spiegeln würde (eine These, die so nicht verallgemeinert werden sollte). Das alles würde also zu einem Migrationsvorgang passen. Verblüffend ist für den Leser deshalb die Zusammenfassung der Ergebnisse; denn die Ergebnisse der Studie sehen Archäologie und Historie sehr zurückhaltend, anders als nur die Genetiker. Dabei wird gerne die vermeintlich harte Faktizität der erhobenen Daten gegen die ebenso vermeintliche Beliebigkeit geschichtswissenschaftlicher Evidenz in Stellung gebracht (DNA lügt nicht).
So heißt es in der zitierten Arbeit. P. Geary und seine Mitautoren sagen vorsichtig: Die ethnische Identität sei immer eine subjektive Auffassung und nicht im Erbgut zu finden. Ich ergänze kritisch noch die Frage, wie das Problem südalpiner Leute in Ungarn eigentlich zu deuten ist, als Wanderung in die entgegengesetzte Richtung?244 Die naturwissenschaftlichen Verfahren öffnen zwar neue Perspektiven, jedoch kommt es auf die jeweilige Fragestellung an.245 Der vielfach zitierte Spruch „Getrennt marschieren und vereint schlagen“, wie er durch Helmuth von Moltke für das 243 K. W. Alt et al., Lombards on the Move – An Integrative Study of the Migration Period Cemetery at Szólád, Hungary (2014) und Carlos E. G. Amorim et al., Understanding 6th-century barbarian social organization and migration through paleogenomics. 244 Vgl. dazu die Beiträge von Jörg Fechter, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 282 vom 4. Dezember 2019 und erneut vom 20. Februar 2020 (Anhang 4). 245 Samida, Eggert 2013; auch Kristiansen 2014.
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Militärische geprägt wurde, kann nicht direkt in die archäologisch-historischen Wissenschaften übernommen werden. Ehe wir interdisziplinär marschieren, muss entschieden werden, wer anführt. In meiner Schrift soll das die Archäologie sein.
3.6 Tracht und Kleidung Von der ethnischen Deutung und der Suche nach Identitäten ist der methodische Weg der Archäologie nicht weit zum Komplex Tracht und Kleidung. Kleider aus den frühen Jahrhunderten sind selten überliefert, einige Beispiele werden später genannt (vgl. S. 430). Was der Archäologie zur Verfügung steht, sind die metallenen Accessoires an der Kleidung bzw. dem Körper. Nadeln und Fibeln, diese in doppelter Trageweise an den beiden Schultern bei Frauen und als eine Mantelfibel bei Männern, gehören zur Kleidung, die dadurch genormt erscheint, ohne dass dies nun über die Zeitmode hinaus aufgrund der gleichartigen Nadel- und Fibeltypen eine Gruppentracht ausmachen würde. Die Schmucksachen konnten damals erworben werden. Dasselbe trifft auch auf die Nadel im Haar zu, auf mit Metall beschlagene Gürtel, auf Ohr-, Hals-, Arm- und Fingerringe, die auch paarig getragen worden sind, bis zu den Füssen und den Sporen, einzeln oder an beiden Füssen getragen. Es handelt sich kaum um eine Tracht, wie das aus der Volkskunde bzw. der europäischen Ethnologie für das 19. Jahrhundert und bis heute als Konstruktion fortwirkend gedacht und deshalb auch auf die archäologischen Epochen übertragen wurde. Es hat durchaus Kleidungsmoden gegeben, für Frauen wie Männer, aber diese bleiben uns weitgehend verborgen. Das Ausweichen auf die „Auswahl“ des Metallschmucks am Körper führt in der Regel nicht auf den richtigen Weg. Dass eine Frau zwei Fibeln trug, war Mode; aber die Zahl „zwei“ war entscheidend, wobei die zwei Fibeln auch gleichartig sein sollten, was nicht immer möglich war, wie archäologisch belegt ist. Der Fibeltyp war nicht entscheidend, das hing vom Angebot ab. Jüngst hat S. Brather-Walter gezeigt, wie schon in einigen ihrer früheren Arbeiten, Bügelfibeln, und das gilt für alle Arten des Schmucks auch älterer Epochen, sind und können nachweislich keine ethnischen Indikatoren sein.246 Die Bügelfibel-Typologie des 5. und 6. Jahrhunderts erlaubt chronologische Aussagen anhand der Materialstudien, keineswegs dürften historische Daten für eine ethnische Zuordnung herangezogen werden, was nur zu Kreisschlüssen führen würde. Ganz etwas anderes ist die zu beobachtende Größenzunahme dieser Bügelfibeln. Die Fünf-Knopf-Fibeln messen 7,7–8,8 cm in der Länge, die Sieben-Knopf-Fibeln 8,8–10,5 cm und die Neun-KnopfFibeln 10,5–11,0 cm, ein Wandel in der Mode, auch im Materialreichtum. Die FibelUntersuchungen lassen wie alle anderen Sachgüter regionale Gruppen erkennen,
246 Brather-Walter 2019c, 95–97; Høilund Nielsen 2009c.
3.7 Zusammenfassung
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die Handwerkerkreise und Kommunikationsareale beschreiben, nicht mehr. Darüber hat auch K. Høilund Nielsen geschrieben, als sie überlegte, ob die „skandinavischen Bügelfibeln“ des 5./6. Jahrhunderts auf dem Kontinent nun Fremde erkennen lassen oder wie ein solcher Befund sonst zu deuten sei. Doch die ethnische Zuweisung wird gegenwärtig immer noch vorgenommen, so bei den sogenannten thüringischen Fibeln, Vogelkopf- und Zangenfibeln des 5. Jahrhunderts, wenn es um derartige Fibeln und auch um Keramik geht, die im Rhein-MainGebiet gefunden werden.247 Wenn diese Sachgüter, bei einer Häufung in Thüringen, anderswo auch weiter im Westen vorkommen, dann wird von Abwanderung von thüringischen Familien nach der Niederlage des thüringischen Reichs gegen die Franken 531 gesprochen. Ethnische Deutung und Ereignisgeschichte werden unmittelbar miteinander kombiniert, und es bleibt kein Platz mehr für andere Deutungen des Verbreitungsbildes. Abgesehen von dem Jahr 531 gab es zwischen Thüringen und dem nördlichen Frankenreich schon immer Kontakte von Familien. Childerich ist das beste Beispiel, der zeitweilig in Thüringen im Exil lebte. In seinen Arbeiten zum Habitus barbarus, verbunden mit der Frage „germanisch, gotisch oder barbarisch?“ versucht Ph. v. Rummel, die immer wieder gebrachten ethnische Interpretation von Kleidung zu relativieren.248 So gab es „unrömische“ Römer und „römische“ Barbaren im spätantiken Gallien, wie auch G. Halsall gegen N. Roymans betont (vgl. unten S. 1164 ff.).249 Zum sozialen Gebrauch von Tracht äußert sich St. Burmeister und sucht darüber Wege, um Migrationen nachweisen zu können; dass dies kein erfolgreicher Weg sein kann, habe ich weiter oben beschrieben (S. 65 ff.).250
3.7 Zusammenfassung Nun ergeben sich in meiner ausführlichen Beschreibung der kulturellen Verhältnisse in Germanien eigentlich auch Widersprüchlichkeiten. Zum Beispiel geschieht das, wenn es um die Kulturen der vorrömischen Eisenzeit in Mitteleuropa, so der JastorfKultur, geht und diese mit frühen Germanen gleichgesetzt wird (vgl. S. 33). Einen weiteren ähnlichen Befund gibt es, wenn es um Mobilitäten aus dem „germanischen“ in das „keltische“ Gebiet geht. Archäologisch verbreiteten sich nördliche Kulturerscheinungen aus dem Raum Germanien in den Bereich der Latène-Kultur, die gemeinhin mit Kelten gleichgesetzt wird (vgl. S. 113 ff.). Vom sachlich begründeten Methodischen her müssten da jeweils weitere erklärende Sätze hinzugefügt werden, was jedoch zu umständlichen Umschreibungen führen würde. Denn viele Archäologen, und denen 247 Brieske 2019; so auch Blaich 2006; 2009. 248 v. Rummel 2007; 2010; 2013a. 249 Halsall 2009 und Roymans 2017. 250 Burmeister 1997.
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schließe ich mich an, gehen von Germanen und Kelten aus, und beispielsweise die römischen Markomannenkriege richteten sich gegen germanische Gruppen. Die Bezeichnung „Germanen“ für alle Völkerschaften rechts des Rheins und bis zur Weichsel wurde von den antiken Historikern Caesar und Tacitus eingeführt; germanische Gruppen benannten sich – auch nicht in den antiken Schriftquellen, wenn von ihnen gesprochen wurde – nie als „Germanen“. Für Ereignisse, nicht nur kriegerischer Art, sprachen aber römische Berichterstatter regelmäßig von „Germanen“. Kaiser erzielten Triumpfe über „Germanen“ (vgl. S. 35). Germanische Sprachen behandelten Sprachwissenschaftler unserer Epoche und suchten nach den Ursprüngen und der Abtrennung einer urgermanischen Sprache vom Indogermanischen bzw. Indoeuropäischen. Das Grundproblem ist dabei, dass Sprache, auch frühere Sprachstände, aus sich heraus nicht absolutchronologisch zu datieren ist. Es gibt zwar Entwicklungsphasen, eine relative Abfolge, die aus sich heraus nicht zeitlich greifbar sind, denn auch die Geschwindigkeit bzw. Zeitdauer von Veränderungen sind nur registrierbar, aber nicht in Jahrzehnten oder Jahrhunderten fassbar. Dafür wurde auf die jeweiligen archäologischen Forschungsergebnisse, die eher in Raum und Zeit fest verortbar sind, zurückgegriffen. Diese kombinierten Angaben beherrschen bis heute die wissenschaftliche Literatur, und oftmals wird sogar vergessen, dass diese Verbindung immer nur eine These sein kann und keine festen Ergebnisse bietet. Eine Folge ist, dass deshalb regelmäßig Argumentationen im Kreis erfolgt sind; wenn das bewusst betont wird, darf solche Erörterung versucht werden, nicht jedoch, wenn die Grundlage vergessen wird. Im Verlauf der Abhandlung gehe ich bei verschiedenen Feldern des damaligen Lebens in Germanien auf die oftmals verblüffenden Kontinuitäten ein, Das betrifft Siedlungen und Gräberfelder, die von der vorrömischen Eisenzeit über die hier schwerpunktmäßig behandelten Jahrhunderte bis ins frühe Mittelalter bewohnt und belegt worden sind. Doch trifft das auch auf die Entwicklung der Kunsterscheinungen zu, die – bei aller Vorbildwirkung römischer Ausprägungen – von den Jahrhunderten um Chr. Geb. bis ins Mittelalter eine Kontinuität in der Ausdruckweise, losgelöst vom Römischen und umgestaltet, transportieren. Deshalb greife ich bei diesem Thema dann bis ins 5./6. Jahrhundert aus. Ich betone außerdem, dass auch ohne Römisches die Wahl der Tiere als Motiv eine zentrale Rolle gespielt hätte, wie sie denn auch hat. Wurzeln in den vorausgehenden Jahrhunderten sollten bedacht werden; denn die Menschen haben immer Wege gefunden und gewollt, sich künstlerisch auszudrücken; und das seit dem Neolithikum und der Bronzezeit über die frühe Eisenzeit hinweg, was aber nichts mit dem Germanischen an sich zu tun hat.
4 Archäologische Kultur- und Formenkreise oder archäologische Räume Wenn ich zuvor gesagt habe, dass die Eintragungen antik überlieferter Stammesnamen in Germanien auf der Landkarte Mitteleuropas durch die Historiker willkürlich anhand der Beschreibungen in den antiken Texten erfolgt sind, die sich auf Nachbarschaften und Feldzüge beziehen, so bleibt die Frage zu beantworten, was die Archäologie dazu zu sagen hat. Seit der Frühzeit archäologischer Geländeforschung bis heute wurde und wird versucht, die Fundverteilungen mit diesen Stämmen zu verbinden. Die Fülle des Fundstoffs und auch inzwischen der Befunde, nämlich was Gräberfelder und Siedlungen betrifft, ist so groß, dass man Strukturen und unterschiedliche Verteilungsmuster erkennen kann. Waren es zu Anfang tatsächlich die verschiedenen Grabbeigaben, nämlich Keramik und Schmuck in den Urnen und anderen Brandgräbern, die man sortierte, kommen jetzt vor allem das Keramikmaterial und die Hausgrundrisse aus den Siedlungsgrabungen hinzu. Dass damit das schon besprochene Problem der „ethnischen Deutung“ archäologischer Kultur- und Formenkreise zusammenhängt, ist offensichtlich. Doch gibt es weitere Aspekte, die aus methodischen Gründen zu berücksichtigen sind. Die archäologische Forschung hat ein breites Spektrum an Auswertungen von Sachgütern erarbeitet und nun zur Verfügung gestellt. Die Objekte, seien es Keramiktöpfe, Schwerter oder Schmuck wie Fibeln (Gewandnadeln) und vieles mehr, werden nach Formen und Material sortiert (man bildet Typen, d. h. stellt möglichst gleichartige Objekte in einer Gruppe zusammen), und dann wird die Verbreitung der einzelnen dieser Typen kartiert. Das führt zu aufschlussreichen Kartenbildern und einer Fülle von Verbreitungsmustern, deren Zustandekommen zu erklären versucht wird. Die Kartenbilder werden dann auch gewissermaßen übereinander projiziert, um bei möglicher Deckungsgleichheit der Gruppierungen – was aber nur sehr selten je zutrifft – über diese Gemeinsamkeiten einen „inneren“ Zusammenhang zu erkennen: Früher entschied man sich gern für einen Stammesverband, später und heute eher für ein Händlerreisegebiet oder schlicht für einen durch Alltagsmobilität entstandenen Kommunikationsraum. Dasselbe wird auch anhand von Grab- und Bestattungsformen, von Haus- und Siedlungsgrundrissen und von technischen Einrichtungen wie Rennöfen der Eisengewinnung, Töpferöfen oder Grubenmeiler versucht. Die archäologische Forschung hat auf diese Weise sogenannte Formenkreise herausgearbeitet, die auf der Basis der kartierten Verbreitungen oder besser Verteilungen von gleichartigen Keramik- oder Fibeltypen sowie spezieller Grabbräuche beschrieben werden.251 Es sind regionale, also räumlich, und zugleich auch zeitlich definierbare Gruppierungen, optisch im Kartenbild veranschaulicht, die noch keine direkten
251 v. Uslar 1952/1972, auch 1975; Mildenberger 1977. https://doi.org/10.1515/9783110702675-004
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Erklärungen für ihr Entstehen bieten. Zu erwägen sind Wirkkreise von Handwerkern (bei Metall- und Keramikobjekten beispielsweise), gleichartige Vorstellungen vom Totenkult (bei den Grabformen) oder verwandte wirtschaftliche Verhaltensweisen (bei den verschiedenen Hausformen). Doch auch Beziehungen zwischen den Siedlern, beispielsweise über Heiratsverbindungen, sind vorstellbar oder gar nur die landschaftliche geographische Gliederung als Begründung und schließlich schlicht die moderne Forschungsintensität mit verschiedenen Schwerpunkten. Archäologisch sicherlich kaum zu fassen sind der mögliche Niederschlag von Ideen und ihre Ausbreitung, die andererseits vor dem Hintergrund von sich erweiternden oder verschiebenden Formenkreise wie erläutert zumeist als Wanderungen von Bevölkerungen betrachtet werden. Auffällig ist zudem, dass selten die Verbreitungen einer Reihe von diesen Sachund Befundtypen mehr oder weniger vollständig übereinstimmen, vielmehr zeichnen sich unscharfe Begrenzungen ab, neben einem Kerngebiet. Man spricht dann bei der Deutung von Trachtenkreisen bzw. Kreisen gleicher Kleidungs- und Schmuckmoden. Die Zusammenschau von einigen dieser sich überlagernden Formenkreise führte zur Bezeichnung von Kulturkreisen, auf die ich noch näher eingehen werde; denn diese wurden und werden gern mit den aus der Schriftüberlieferung bekannten Stammesnamen verknüpft. Diese These der „ethnischen Deutung“ scharf umgrenzter Kulturprovinzen, auf der Grundlage von mehreren zusammengefassten Formenkreisen, die eben keine scharfen Verbreitungsgrenzen haben, wird gegenwärtig als methodisches Problem überwunden, verbunden mit der Forderung, andere Erklärungen zu finden.252 Denn dass es sich bei Formen- und Kulturkreisen um Konstrukte der archäologischen Forschung handelt, um wissenschaftliche Kategorisierungen und Klassifizierungen, und nicht um natürlich vorgegebene Sachverhalte, zwingt dazu, Formulierungen dafür zu finden, was man da eigentlich entdeckt und kartiert hat. Dieses Problem, nämlich eine „archäologische Kultur“ mit einer historischen Interpretation zu verbinden,253 war für Jahrzehnte Ziel der Forschung, ehe das jetzt langsam überwunden und durch eine vielfältige, facettenreichere Raumanalyse abgelöst wird;254 nachdem allgemein das Wissen dazu entstanden ist, dass archäologische Kreise und historisch überlieferte Gruppennamen völlig unterschiedliche, prinzipiell nicht zusammenhängende Sachverhalte sind und waren. Die Kulturen und Kulturgruppen, die während der jüngeren vorrömischen Eisenzeit, der Jastorf- und Spät-Latènezeit Mitteleuropa „beherrschten“, werden hier abgebildet (Abb. 6).255
252 Brather 2001a; 2004; 2012. 253 Brather 2014; Wotzka 2000. 254 Fehr 2017; Brather 2017; Brather, Dendorfer (Hrsg.) 2017. 255 Steuer 1998d, 325 Abb. 10.
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Abb. 6: Kulturgruppen der späten vorrömischen Eisenzeit. 1 Nordische Gruppe, 2 Jastorf-Kultur, 3 Przeworsk-Kultur, 4 Oksywie-Kultur, 5 Gebiete mit Einflüssen der Przeworsk- und der Jastorf-Kultur, 6 Dollkeim-Kovrovo-Kultur, 7 Estländische Gruppe, 8 Ostbaltische Waldzonen-Kultur, 9 Zarubincy. Kultur, 10 Harpstedt-Nienburger Gruppe, 11 Keltische Gruppen, 12 Getische und Thrakische Gruppen.
Mit der Jastorf-Kulur wird gegenwärtig das Aufkommen von Germanen gleichgesetzt, sprachwissenschaftlich aufgrund der ersten Lautverschiebung, die zur „germanischen“ Sprache geführt hat, während die Latène-Kultur mit den Kelten verbunden wird. Mit dem Ende der Jastorf-Zeit und der Jastorf-Kultur ist dann der Übergang zum sogenannten elbgermanischen Kulturkreis anzusetzen, bzw. es ist chronologisch gesehen der Übergang vom späten Abschnitt der vorrömischen Eisenzeit zur frühen Römischen Kaiserzeit.256 Kartiert werden auch die nördlichen Einflüsse auf die Latène-Kultur und umgekehrt der Gegenstrom besonders intensiver keltischer Einflüsse nach Norden (vgl. S. 114),257 während der Phasen der mittleren und späten Latènezeit bzw. späten vorrömischen Eisenzeit. Am Beispiel von Gürtelschmuck,
256 Döhlert-Albani 2014: allg. Brandt, Rauchfuß (Hrsg.) 2014, und zur Regionalisierung im selben Band Nikulka 2014. 257 Kaul 2007.
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beispielsweise von sogenannten Plattengürtelhaken, Stabgürtelhaken und als späteste Form von Lochgürtelhaken, gibt es die Einflüsse aus dem keltischen Raum – also das Gebiet der Latène-Kultur – in das Gebiet nördlich der Mittelgebirge, das man von Germanen besiedelt ansieht.258 Was bedeutet dieser Befund; man könnte kritisch sagen, hier gab es tatsächlich Transporte von Sachgütern in den Norden oder aber die Definition der Kulturkreise war zu eng. Es gibt aus dem „keltischen“ Kulturraum, der während der vorrömischen Eisenzeit bis an die Nordgrenze der Mittelgebirge reichte, also wechselseitige Einflüsse nach Norden,259 Westen260 und Osten.261 F. Nikulka fragt, wie dieser kulturelle Wandel erfolgt sein wird, welche Ursachen für Migration oder Adaption gefunden werden können, für die Annahme von Neuerungen aus anderen Gebieten.262 Waren es individuelle Mobilitäten oder Wanderungen größerer Gruppen? Er sieht das archäologisch bestätigt durch die Ausdehnung keltischer Kulturelemente im 3. Jahrhundert auch nach Norden, die Ausdehnung eines Teils der Jastorf-Kultur nach Osten und die nach Westen gerichtete Expansion der Przeworsk-Kultur im 2. Jahrhundert, was zu Überlappungen der „Kulturkreise“ geführt hat. Sachgüter des Jastorf-Kulturkreises drangen ebenso auch nach Süden ins „keltische“ Milieu ein. Das sind aber erst einmal nur Verschiebungen bzw. Ausbreitungen von archäologischen Funden und Befunden, die jeweils Jahrzehnte oder auch Generationen gedauert haben, deren Mechanismen sehr komplex gewesen sein werden, eben als Konstrukte der Archäologie. Die Parallelisierung mit den zeitlich sehr begrenzten Ereignissen im Rahmen der schriftlich überlieferten Züge von Kimbern und Teutonen aus dem Süden gegen das Römische Reich, die nur wenige Jahre gedauert haben, vermischt hier wieder grundsätzlich verschiedene Quellengattungen. Es gibt aber keinen Zwang, geschichtliche Ereignisse mit archäologischen Befunden verknüpfen zu müssen. Darauf komme ich in dieser Abhandlung noch mehrfach zurück. Der Autor weist selbst darauf hin, dass beispielsweise sogenannte Kronenhalsringe überregional bzw. überall vorkommen, von Jütland über Norddeutschland und dem heutigen Polen bis zum Schwarzen Meer. Bereits während der frühen Eisenzeit, der Hallstattzeit der Phasen C und D gab es solche Einflüsse vom Süden in den Norden, fassbar in der Nienburger Gruppe in Niedersachsen. „Dabei sollte nicht allein davon ausgegangen werden, dass ‚Keltisches nach Norden drängte‘, sondern dass sich der Norden an Gütern und Inspiration holte, was er gebrauchen konnte“. Die indirekte Einflussnahme wandelte sich mit Beginn der Latènezeit, doch materielle Güter fremder Herkunft gelangten weiterhin und weit in den Norden, in den südskandinavischen Raum.263 Keltisches Luxusgut wird 258 Schäfer 2007; Keiling 2001, 130 Abb. 6 dreiteilige Gürtelhaken. 259 Nortmann 2007; Steuer 2007 k mit Abb. 260 Roymans 2007. 261 R. Müller 2007. 262 Nikulka 2019, 197 f., 198 Abb. 11 Kronenhalsring. 263 Schon Klindt-Jensen 1949, dann Nikulka 2009, 172 keltische Luxusgüter im Norden (Kessel),
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als Opfergabe im Norden ausgegraben, so beispielsweise der Kessel von Brå mit 600 Litern Inhalt und Stierkopfapplikationen, wie sie in Süddeutschland mit dem Stier von Weltenburg, Ldkr. Kelheim, zu vergleichen sind, einem ostkeltischen Produkt des 3. oder 2. Jahrhunderts v. Chr. Zu diesen Besonderheiten gehört der Kessel von Rynkeby, der auch mit Stierkopfprotomen und einer Gesichtsmaske und Torques mit Stempelenden geschmückt ist (als Vergleich sei auf die Ringe von Snettisham verwiesen, vgl. S. 532). Besonders bekannt ist der Kessel von Gundestrup, der aus mehreren Silberplatten besteht (so auseinander genommen 1891 im Moor gefunden). Nach der Zusammensetzung der Platten ergab das einen Kessel mit dem Durchmesser von 70 cm. Er wurde wohl erst während der Römischen Kaiserzeit deponiert. Bemalte Keramik wie auf der süddeutschen Heuneburg wurde im Norden nachgeahmt. Mindestens 17 Frauenbestattungen mit späthallstattzeitlicher Trachtausstattung weisen auf eine Migration aus dem Süden – so die Meinung der Forschung – in den Bereich der Nienburger Kultur hin. Und Strontium-Isotopen-Analysen am Zahnschmelz belegen anscheinend diese südwestdeutsche Herkunft der Leute. Danach war die erste Generation eingewandert, während die zweite Generation schon am Ort aufgewachsen war. Es gibt sichtlich Verwandtschaft zwischen den quadratischen Blechen auf Holsteiner Gürteln und auf hallstattzeitlichen Gürteln des Südens; datiert in die Phasen Latène C oder noch D1. Vergleichbare Ziermotive wie auf diesen Gürteln gibt es an den Dejbjerg-Wagen aus Dänemark, auf die später noch eingegangen werden soll (vgl. S. 395). Zumeist sind die Kulturkreise im geographischen Sinne so weit ausgreifend, dass – was sehr bald erkannt worden war – sie keinen Vergleich mit den „überlieferten“ ethnischen Gruppen ermöglicht haben. Neben den kleineren ethnischen oder auch politischen Einheiten von „Stämmen“ werden auch die überlieferten weiträumigeren „Kultverbände“ aus dem religiösen Bereich, wie sie beispielsweise Tacitus beschrieben hat, zur Deutung von Formen- und Kulturkreisen herangezogen, die aber eigentlich im Prinzip nicht archäologisch fassbar sind. Es gibt für diese großräumigen Kulturkreise die archäologischen Bezeichnungen, vor vielen Jahrzehnten erfunden und definiert, Rhein-Weser-Germanen – Bemerkungen zur Genese und Interpretation264 –, Nordsee-Germanen oder Nordgermanen,265 Elbgermanen,266 Oder-Germanen und Ostgermanen, auch heute noch (Abb. 7), wie im Neuen Pauly von Volker Pingel im Stichwort „Germanische Archäologie“ jüngst beschrieben.267
162 ff. sonstiges Bezüge; dazu auch Nikulka 2017b mit Belegen für den ranghohen Stand von Frauen mit diesen Gürtelgarnituren (im Beispiel 4. Jahrhundert v. Chr. in Nordwestmecklenburg) zwischen Jastorf-Kultur und keltischem Milieu; neu: Nikulka 2019, 185 ff. 264 Beck, Müller 2003; Meyer 2013. 265 Steuer 2002d. 266 Beck, Mildenberger 1989. 267 Pingel 1998; Völling 2005.
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Abb. 7: Kulturkreise in Germanien, von den Rhein-Weser-Germanen im Westen über die Elbgermanen in der Mitte bis zu den Ostgermanen mit der Wielbark- und der Przeworsk-Kultur.
Doch sollte das präziser formuliert werden. Zuerst wurden diese Einteilungen vom Germanisten und Sprachwissenschaftler Friedrich Maurer (1898–1984) geprägt268 und über Verbindungen mit den schriftlichen Quellen der Historiker und den archäologischen Quellenbefunden versucht, eine Absicherung seiner Thesen zu erreichen. Ergebnis war die fünfgliedrige Einteilung des Germanischen als Sprache in Nordgermanisch, Oder-Weichsel-Germanisch, Nordseegermanisch, Elbgermanisch und Rhein-Weser-Germanisch, wobei er sich an archäologischen Kulturprovinzen orientierte, die er zudem zugleich als ethnische Einheiten ansah. Gegenwärtig hat
268 Beck, Besch 2001, 451 f.
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sich diese Gleichsetzung jedoch überholt; doch kann hier nicht auf die weitere Forschungsgeschichte eingegangen werden, auch wenn die Archäologie diese Einteilung mit ihren Benennungen übernommen bzw. beibehalten hat und auf vielen Kartierungen weiterhin verwendet wird, was zu klassischen Kreisschlüssen führt und geführt hat. Es ist eigentlich auch Zeit für die archäologische Forschung, sich davon zu lösen und eigene Benennungen zu finden. Doch ist es – weil geographisch unterlegt – so praktisch, z. B. weiterhin von Elbgermanen zu sprechen, wobei dann nur die archäologischen Verbreitungsmuster gedacht werden. F. Maurers Forschungen wurden zuletzt ausführlich in einem Symposium in Zürich relativiert, wobei es zumeist um Alemannien und den Norden ging.269 Der Bereich der Jastorf-Kultur270 erstreckte sich über die norddeutsche Tiefebene (wobei ein kultureller Austausch zwischen Jastorf-Kultur und Latène-Kultur gesehen wird),271 in Jütland und auch noch im westlichen Großpolen, wo östlich sich die Bereiche der Przeworsk-Kultur272 sowie der Oksywie-Kultur273 und der Wielbark-Kultur an der pommerschen Küste befanden, alles Verbreitungen, die jeweils mit Germanen gleichgesetzt werden. Die Kartierung dieser Kulturkreise ist nicht statisch, sondern diese sind einer ständigen Veränderung unterworfen; als Beispiel seien hier nur die Besiedlungsabläufe und kulturellen Veränderungen der Wielbark-Kultur genannt.274 Diese Kulturkreise sind schon frühzeitig auf der Basis eines noch sehr eingeschränkten Quellenbestandes definiert worden, zumeist aufgrund von vergleichbaren Keramikformen in den Urnengräberfeldern. Das deutet schon den einseitigen Ausschnitt ehemaliger Lebensrealität an. Die Abgrenzung der Rhein-Weser-Germanen gegenüber den Elbgermanen275 wird immer noch versucht, und man stellt sich die Frage: Gibt es Rhein-Weser-Germanische Keramik, das sog. Uslarien, auch in den Niederlanden?276 Dabei fällt dann auf, dass sich diese Keramikkreise überlagern bzw. auch durchdringen. Rhein-Weser-Keramik wird als Import im Elbe-Weser-Dreieck, also nahe der Nordsee beobachtet.277 Die Formenkreise der Keramik des 2./3. Jahrhunderts bestehen aus (1) der nordseenahen Gruppe, (2) der rhein-weser-germanischen Keramik und (3) aus der Kontaktzone zwischen (1) und (2), hinzukommen (4) die Stade-Harburger Gruppe und (5) die friesische Tonware.278 Diese Gruppen haben oft nur um die 50 km Durchmesser. Irgendwie anders verteilt sind die römischen Fremd269 Naumann (Hrsg.) 2004. 270 Müller 2000; Grygiel 2015; Michalowski 2010. 271 J. Brandt 2001; J. Brandt, Rauchfuß (Red.) 2014. 272 Dąbrowska 1988; Godłowski 1992a; Dąbrowska, Mączyńska 2003; Andrzejowski 2010, 78 Fig. 19 Karte. 273 Dąbrowska 2003; Dąbrowska, Mączyńska 2003. 274 Cieśliński 2010a. 275 Baier 2013b. 276 Taayke 2006. 277 Nösler 2013, 173 Abb. 2. 278 Schmid 2006, 77 Abb. 5.
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güter (außer Münzen) in Nordwestdeutschland und den östlichen Niederlanden.279 Und die Münzen bieten jedoch wieder ein anderes Verteilungsbild.280 Wie sind denn nun diese Keramikgruppierungen einst zustande gekommen? Hat die Verbreitung etwas mit „Stämmen“ zu tun? Noch 2017 bringt man an der Küste verbreitete Ware mit dem in der Schriftüberlieferung genannten Stamm der Chauken zusammen.281 Die Bearbeitung der Keramikfunde von der Wurt Feddersen Wierde im Elbe-Weser-Dreieck (vgl. unten S. 198) zeigt, wie sich die verschiedenen Keramikgruppen überlappen: Die friesische Ware, der Wierumstijl bei der Keramik und die Ware der sogenannten Rhein-Weser-Germanen. Tonware als normales Haushaltsgeschirr wurde – vor der später in den hier behandelten Jahrhunderten einsetzenden Massenproduktion für den Handel – von Frauen in den ländlichen Siedlungen hergestellt (vgl. unten S. 434). Dabei bildeten sich „Stile“ heraus, die die Keramikgefäße einander ähnlich werden ließen. Trug zur Verbreitung dann das Heiratsverhalten der Frauen bei, die aus ihrem Dorf in kürzere, aber auch weitere Entfernungen fortzogen? Dieses Muster ist anhand ethnographischer Parallelen durchaus plausibel.282 Wie dem auch sei, dieses Beispiel deutet jedenfalls an, dass für die Verbreitung von Sachgütern, hier Keramik, andere Ursachen zu suchen sind und nicht etwa wesenhafte stammliche Identitäten. Diese aufgrund von Grabfunden und Siedlungen konstruierten Formen- und Kulturkreise entstanden zu Zeiten eines noch relativ geringen archäologischen Quellenbestandes. Inzwischen aber hat sich die Funddichte so stark vervielfacht, dass die einst plausibel erscheinenden Grenzziehungen immer stärker aufgelöst werden. Für jede Art von Sachgut oder Brauchtum ergeben sich eigene weit gestreute Verbreitungsmuster, die zur allgemeinen Vermischung der Kartenbilder geführt haben. Nun ist der Einsatz von Metalldetektoren hinzugekommen, wodurch die Menge an Metallsachen noch zusätzlich exponentiell zugenommen hat, dass Kartierungen überhaupt keinen Sinn mehr ergeben, weil die gesamte Landschaft gleichmäßig abgedeckt ist. Genannt seien hier nur als Beispiele die Kartierungen für Bornholm 2003 und nun Schleswig-Holstein 2016.283 Immer wieder werden Kartenbilder veröffentlicht, die ein Spiegel des Fleißes der Bearbeiter sind, aber keine neue Aussage mehr bieten, da das gesamte Gebiet mit eng gesetzten Punkten ausgefüllt ist. Statt Punkte zu wählen, können einfach Gebiete schraffiert werden.284 Dieser Umschlag von Qualität in Quantität und damit wieder in eine andere Qualität verwischt die Einzelregistrierungen zur
279 Nösler 2013, 177 Abb. 6. 280 Nösler 2013; Erdrich 2001a, 104 Abb. 8, 178 Abb. 7 römische Münzen in Nordwestdeutschland; Berger 1992, Abb. 46, zeitlich differenziert für die Jahre 14–98 und 98–218. 281 Nieuwhof 2017; zu den Chauken Schmid 1981; auch Bischop 2000, 12 Abb. 7 kartiert die Verbreitung chaukischer Keramik, bietet also eine ethnische Zuordnung. 282 Burmeister, Müller-Scheessel (Hrsg.) 2006, 105. 283 Schuster 2016c, 3 Abb. 1; Watt 2003c. 284 Steuer 2013 (2014) für das Mittelalter; Herzog 2010 (2012) allgemein.
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flächenhaften Verbreitung. Einher geht damit auch der Anstieg der absoluten Zahlen für die einzelnen Sachgüter jeglicher Art, so dass man inzwischen ahnen kann, wie sehr bisher manche Fundkategorien in ihrer Wertigkeit überschätzt wurden, weil anhand der geringen absoluten Zahlen, die früher vorlagen, interpretiert wurde. Wurde bisher vermutet, dass vielleicht 10 % der einst vorhandenen Objekte für die Auswertung zur Verfügung stünden, so – und das klingt nur wie ein Widerspruch – sind es heute höchstens 1%, wenn nicht gar nur 1 Promille. Von allem war damals in den Jahrhunderten um Chr. Geb. in Germanien wesentlich mehr vorhanden, als die Archäologie sich vorgestellt hat, und die Besetzung der Landschaft war ebenfalls wesentlich dichter als bisher aufgrund unvollkommener Prospektion erkannt worden war. Oftmals wurde schlicht nicht die zeitliche Tiefe berücksichtigt; denn jede Zahl von Sachgut oder Geländebefund muss dividiert werden in Richtung auf eine knappe Generation, bestenfalls in Richtung auf Gleichzeitigkeit. Manchmal – darauf wird zurückgekommen – werden auf Kartenbildern anhand der Punktregistrierung von Sachen und Befunden Wanderungen oder Ausbreitungen erkannt, obgleich es sich zuerst einmal nur um eine Gleichzeitigkeit des Registrierten handelt. Neben den Begriffen „Formenkreis“ und „Kulturkreis“ werden übergeordnet weitere Bezeichnungen benutzt, nämlich „Kulturgruppe“ und „archäologische Kulturprovinz“, wobei „Kultur“ meist nur die materielle, eben archäologisch fassbare Seite ehemaliger Lebenswelten oder Zivilisationen meint. Und die ist prinzipiell nur eine Auslese aus dem einst vorhandenen Gesamten; denn die Art der Grabsitten und die Beigabenauswahl sind Entscheidungen der damaligen Bevölkerung, und von den meist einst geräumten oder vernichteten Siedlungen bleibt nur bis heute, was zurückgelassen wurde und nicht vergänglich ist. Und daraus wählen dann Archäologen zur Gruppenbildung aus. Was bieten die Kartierungen der Archäologen für die letzten Jahrzehnte vor Chr. und die ersten vier bis fünf Jahrhunderte n. Chr. Geb.? Regelmäßig wurden Kartierungen veröffentlicht, die ein ganz bestimmtes Ziel haben, das mit dem Bild bewiesen werden sollte. Weil man die Wanderung der Langobarden anhand der Schriftüberlieferung zu kennen meinte, die um Chr. Geb. im Niederelbegebiet begonnen und bis nach Italien geführt hat, wurde vor Jahrzehnten von Joachim Werner 1962 dieser Wanderweg archäologisch konstruiert. Er kartierte verschiedene Keramikformen, typisch für Langobarden, die über ihre Verteilung einen solchen Weg zu beweisen schienen.285 Abgesehen davon, dass es sich dabei um unterschiedliche Keramikformen handelt, wenn man genau hinschaut, kommen diese zudem auch noch anderswo vor, was mit Langobarden dann nichts mehr zu tun haben sollte. Inzwischen ist diese These in die Forschungsgeschichte als vergeblicher Versuch eingereiht worden. Eine weitere Möglichkeit der Kartierungen ist, dass man trotz ernsthafter Bemühung einem Scheinergebnis zum Opfer gefallen ist. Ein Kulturkreis wie die Przeworsk-
285 Steuer 2010, 60 Abb. 2a mit Kommentar; Bemmann 2008e.
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Kultur wurde von Wissenschaftlern aufgrund von übereinstimmenden Merkmalen der Gräbersitte definiert und kartiert, und zwar ausgehend von den Forschungsplätzen in Polen. Herausgekommen ist ein Kartenbild, das den Beginn der Kultur in der jüngeren vorrömischen Eisenzeit mit Tendenzen der Expansion nach allen Seiten zeigt.286 Erstaunlich ist die Übereinstimmung in der Verbreitung der frühen Przeworsk-Kultur mit der Ausdehnung von Großpolen um 1916. Ist das Zufall, liegt das am Arbeitsplatz der Bearbeiter oder an der geographischen Struktur des Landes? Die Przeworsk-Kultur dehnte sich beispielsweise aus, von Polen über die Oder ins mittlere Elbegebiet nach Westen bis ins Main-Mündungsgebiet (Abb. 8).
Abb. 8: 1. Verbreitung von Elementen der Przeworsk-Kultur während der jüngeren vorrömischen Eisenzeit von Polen über Mitteldeutschland bis zum Main-Mündungsgebiet.
286 Steuer 2010, 64 f. und Abb. 4 und 5.
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Abb. 8: 2. Verbreitung von Keramik im Stil der Przeworsk-Kultur im Westen.
„Elemente“ dieser Kultur, meist Keramikformen, weit im Westen seien der Niederschlag von Wanderungen von Germanen, beispielsweise unter Ariovist, so vermutete man.287 Was spiegeln aber die Punktkartierungen? Ich sehe das bescheidener: Es gibt – was vielfach zu belegen ist – ein allgemeines Netz von Fernwegen zu Land und zu Wasser durch Europa, das zu allen Zeiten, aufgrund der geographischen Gegebenheiten, benutzt wurde (vgl. oben Abb. 5).288
287 Steuer 2010, 67 Abb. 7; Seidel 1996; 1999. 288 Steuer 2010, 61 Abb. 2b; Steuer 1998a, 286 Abb. 1.
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Im Zuge dieses Fernverbindungsnetzes breiten sich Ideen mit Menschen aus, vielleicht gab es auch dann und wann Wanderungen von kleineren oder auch größeren Gruppen, nämlich von Kriegerverbänden, aber auch Kaufleutegruppen, so dass ein Kartenbild zuerst nur die Gleichzeitigkeit des Vorkommens von „Erscheinungen“ in verschiedenen Gegenden spiegelt. Die Erklärung, wie das Bild zustande gekommen ist, bedarf gründlicher methodischer Überlegungen, und vordergründig plausibel erscheinende Lösungen sollten vorsichtig stimmen. Mobilitäten und Wanderungen von Menschen hat es zu allen Zeiten, auch damals, gegeben. Um welche Art von Mobilität es sich aber gehandelt hat, ist an den archäologischen Quellen nur schwer zu erkennen. Man macht es sich zu einfach, wenn man immer wandernde Stämme als größere zusammenhängende Einheiten annimmt. Wie ich später zeige, sind aber tatsächlich mehr oder weniger kleine Gruppen von Leuten aus dem Kerngebiet der Przeworsk-Kultur nach Südwesten gezogen, was mit detaillierter methodischer Analyse begründet wird (vgl. S. 1065 f.). Noch immer werden archäologische Kartenbilder von Fundgruppen fast ereignisgeschichtlich interpretiert. Als Beispiel sei die Verbreitungskarte der Tonsitulen gebracht, die bei der Auswertung der Siedlungsbefunde der Eisenzeit und Römischen Kaiserzeit bei Lauda-Königshofen im Taubertal herangezogen wird, differenziert nach Frühformen und Spätformen. Die Karte zeigt die Südausweitung der Form von Mecklenburg nach Böhmen, zur Werra und an den Rhein sowie nach Süden zur Donau und wird gar auch mit der Wanderung früher Langobarden verbunden.289 Die archäologische Bestandsaufnahme ist korrekt; aber aus der zeitlichen Ausbreitung einer Keramikform als wesentliche Erklärung eine Wanderung von Menschen anzunehmen, ist nicht beweisbar, zumal auch andere Gründe bis hin zur Ausbreitung einer Mode in der sich ansonsten nicht verändernden Gesellschaft das Bild hervorrufen kann. Diese Karte zur Verbreitung der Situlen, einst von R. Seyer 1976 zusammengestellt, ist erneut 2009, nun übersichtlich in Farbe und mit Ergänzungen nach Südwesten südlich des Mains, abgebildet worden.290 Jüngst sind zudem noch weiter nach Südosten über Böhmen hinaus in Mähren und der Slowakei sowie Niederösterreich neue Fundgebiete hinzugekommen, vor allem über die Verzierung durch Rollrädchenmuster identifiziert (vgl. S. 436).291 Die Verbreitung der mit Rollrädchen verzierten Keramik verdichtet sich im Zuge der Forschung so nachhaltig, dass bald keine räumlichen Besonderheiten mehr zu registrieren sind.292 Rädchenstempelverzierung kommt außer in der Altmark auch in Mecklenburg und in der WestBrandenburg sowie Ost-Brandenburg, dann in Vorpommern und Sachsen vor und auch in Westpolen. In der Uckermark sind allein 40 Fundstellen mit Rollrädchenzier 289 R. Keller 2015, 176 Abb. 70 nach einem Entwurf von Seyer 1976, 212 Abb. 56 und mit Ergänzungen durch Völling 1995/2005, 59 Karte 9. 290 M. Meyer 2009b, 61 Abb. 4. 291 Turčan 2017a; Varsik 2017. 292 Gall 2012, 68 Abb. 31; 2014,188 Abb. 7 Karte; Volkmann zu Gall 2012, in der Rez. 2014 (2015), 291.
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bekannt, die einzeiligen Rollrädchenmuster gehören in die frühe Römische Kaiserzeit, die mehrzeiligen Muster in die späte Römische Kaiserzeit. Mehrfach publiziert habe ich auch das Verbreitungsbild von sogenannten ElbeFibeln bzw. Bügelknopffibeln des 4./5. Jahrhunderts, weil eine Verteilung zwischen Mecklenburg und Südwestdeutschland erforscht ist (Abb. 9).
Abb. 9: Verbreitung der sogenannten Elbe-Fibeln bzw. der Bügelknopffibeln zwischen Norddeutschland und Südwestdeutschland.
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Da es ähnliche Verteilungen anderer Sachgüter gibt, hat man diese Kartenbilder als Wanderwege von Germanen aus dem Norden nach Südwesten gedeutet, die dann dort zum Stamm der Alamannen wurden.293 Dieselbe Verteilungsrichtung zeigen ebenfalls die bronzenen gegossenen Armbrustfibeln (die manchmal auch in Gold gefertigt wurden) des Typs Almgren175 von Mecklenburg bis Südwestdeutschland schon im 3./4. Jahrhundert.294 Es gilt zuerst festzuhalten, dass ein solches Bild die Gleichzeitigkeit der Vorkommen kartiert, keine Mobilität von Leuten; und außerdem könnte man bei Mobilität auch an einen entgegengesetzten Strom denken bzw. an ein Hin und Her. Was solche Kartenbilder aussagen, ist nicht ohne weiteres erkennbar. Ein geographisch anderes und weiterreichendes, aber wieder ähnlich als Niederschlag von Wanderungen gedeutetes Verbreitungsbild liefert die Kartierung der plastisch gestalteten und verzierten Feuerböcke aus Keramik. Es sind in die vorrömische Eisenzeit und frühe römische Kaiserzeit zu datierende Objekte aus Siedlungen. Sie werden von Norddeutschland bis zum Schwarzen Meer gefunden, in unterschiedlicher Verbreitungshäufigkeit; im Norden ist es der Bereich der Jastorf-Kultur, im Süden das Gebiet der Poieneşti-Lukaševka-Kultur.295 Auffällig sind schon die getrennten Verbreitungskonzentrationen in Jütland und im Gebiet der Niederelbe sowie weit im Südwesten zum Schwarzen Meer hin. Doch das Verteilungsmuster hat sich durch verstärkte Ausgrabungstätigkeit, so bei dem Bau von Fernleitungen und Autobahnen, im Norden besonders drastisch verdichtet:296 Jetzt sind rund 60 Fundstellen allein in Mecklenburg-Vorpommern hinzugekommen, was ein flächendeckendes Bild der Verbreitung und damit die allgemeine Anwendung spiegelt. Das Vorkommen von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer auf einer Diagonalen durch das östliche Europa dokumentiert Gleichzeitigkeit, sicherlich keine Wanderung von Nordwesten nach Südosten – wie oftmals behauptet –, sondern die allgemeine Verkehrs- und Kommunikationsachse, die über Jahrzehnte bzw. Jahrhunderte Mobilität von Leuten und Ideen, von Handel und Austausch markiert. „Feuerböcke“ der vorrömischen Eisenzeit, eine früher „vernachlässigte Artefaktgruppe“,297 wird jetzt durch Neufunde und neue Kartierungen 2018 wieder einmal mit Ergänzungen publiziert. Im Zwischenbereich zwischen der Niederelbe und Jütland sowie dem Südosten bis zum Schwarzen Meer können nun im Gebiet der Mittelelbe und im Nordharzbereich ebenfalls Objekte dieser Sachgruppe kartiert werden. Auch für die Landschaft an der Unterelbe ist eine Verdichtung zu verzeichnen. Diskutiert wird der Verwendungszweck dieser Gerätschaften aus Ton, teilweise verziert, als „multifunktionale Wärmespeicher“ in Siedlungen. Die Datierung erstreckt sich von der vorrömischen Eisenzeit bis in die frühe 293 Steuer 1998a, 294 Abb. 3 (Elbefibeln), 298 Abb. 6 (Bügelknopffibeln); Brather 2010, 156 Abb. 144 (jüngerkaiserzeitliche Elbefibeln Almgren 174–176), in Farbe; Voss 1998b. 294 Steidl 2014, 35 Abb. Verbreitungskarte. 295 Steuer 1994d, 391 Abb. 56; Babeş 2003, 233 Abb. 47; Holsten, Mädel 2012. 296 Selent 2017a, 71 Abb. 5 farbige Verbreitungskarte; Schneeweiss 2010. 297 Moser, Biermann 2018, 134 Abb. 8 und 9.
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Römische Kaiserzeit. Als ein Beispiel werden die Funde aus der Siedlung Karstädt aus der Jastorf-Kultur (480 bis 120 v. Chr.) mit Gehöften und Eisenverhüttung beschrieben. Feuerböcke und Fragmente von solchen wurden immerhin in 15 Gruben und Brunnen gefunden. Ähnlich sieht es in einer zweiten Siedlung von Garlin aus (250/200 v. Chr. bis Mitte 1. Jahrhundert n. Chr.). Ob vernachlässigt oder unscheinbar, beachtenswert ist die Ähnlichkeit der Gerätschaften von der Elbe bis zum Schwarzen Meer, belegt durch Funde auf der gesamten Linie. Nun sind auch 2017 im polnischen Bereich der Jastorf-Kultur von der Oder bis zur Weichsel derartige Tongeräte, als Feuerböcke bezeichnet, katalogisiert und kartiert worden.298 Speziell geht es hier um Feuerböcke aus der Siedlung Chyżyny, Mińsk Mazowicki county, mit immerhin 19 Fundstellen im Dorf. Ein weiterer Feuerbock aus Ton der Jastorf-Kultur aus der Ripdorf-Phase wurde in Großpolen in einer Siedlung gefunden von der 40 Ar ausgegraben worden sind, in Jeziory Małe, Środa Wielkopolski Distrikt.299 Die weite Verbreitung dieses Brauches wird als Ergebnis von Migrationen von Jütland und den Jastorf-Leuten aus Norddeutschland durch Polen bis nach Moldavien erklärt, bis in den Bereich der Poieneşti-Lucaşevca Kultur, die mit Skiren und Bastarnen gleichgesetzt wird, gedeutet. Diese Feuerböcke belegen keine Wanderungen und waren sicherlich auch kein Handelsgut, doch ihre Funktion hat zur weiten Ausbreitung geführt, und zwar auf einem breiten Streifen vom Norden nach Südosten (oder auch umgekehrt vom Südosten zum Norden). Es ist in erster Linie ein Korridor der allgemeinen Kommunikation und keine Wanderroute (vgl. dazu auch Abb. 5). Angezeigt wird ein bestimmtes kulturelles Verhaltensmuster im häuslichen Umfeld, das einfach allgemein üblich war. Ähnlich versieht W. Nowakowski – er geht von der Vorstellung von Stämmen aus – die These von den Kontakten zwischen Balten an der Ostsee und Sarmaten in der Ukraine mit einem Fragezeichen und fragt, welche Art von Beziehungen erkennbar wird, ohne gleich auf Wanderungen zu schließen (vgl. dazu ausführlicher unten S. 893).300 Es seien eben Vermittlungen über mobile „germanische“ Migrationen der Przeworsk- und Wielbark-Kultur-Träger, aber keine ethnischen Verbindungen zwischen Sarmaten und Balten. Aber noch wird also über Wanderungen das Erscheinen von gleichartigen Sachgütern in beiden Gebieten zu erklären versucht. Meine These ist einfacher: Die Achse von Nord nach Südost ist der allgemeine Fernverkehrsweg über Jahrhunderte hinweg, über den auch diese Kommunikation stattfand. Zurück in den Nordosten, ins heutige Polen, erläutere ich, dass sich in den Jahrzehnten nach Chr. Geb. im Raum der sogenannten Oksywie-Kultur301 die WielbarkKultur ausbreitete,302 die sich dann von der Küstenzone die Weichsel aufwärts ständig weiter nach Südosten ausdehnte, schließlich bis in die Ukraine und an das Schwarze 298 Bryńczak 2017, 268 Fig. 3 Karte, dazu Babeş 2003. 299 Machajewski, Pietrzak 2015, 408 Abb. 3 Karte ergänzt nach Babeş 1993. 300 Nowakowski 2003a. 301 Dąbrowska 2003. 302 Mączyńska 2007; Kokowski 2010.
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Meer (hier findet man die Gleichsetzung mit den Goten als schriftlich überlieferten Stamm). Parallel dazu gehen vom Zentralgebiet der südlich sich anschließenden Przeworsk-Kultur in Polen weitere Einflüsse aus, und nicht nur nach Südwesten zum Main, sondern auch über die Ostsee nach Jütland ins Gebiet der Jastorf-Kultur und ebenfalls nach Südosten. Daneben gibt es westlich anschließend an die Oder noch die „Oder-Germanischen“ Gruppe(n) sowie die Luboszyce-Kultur, eigentlich Gruppen der Jastorf-Kultur, und weit nach Nordosten die westbaltischen Kulturgruppen. Alle diese Gruppierungen veränderten ihr Ausbreitungsgebiet einerseits zeitlich gesehen, andererseits im Verlauf der archäologischen Forschungen. Es gibt zudem zwischen den kartierten Kulturgruppen auch größere weiße Flecken auf der Karte, Areale, die aber nicht unbesiedelt waren. Vielmehr lässt sich der archäologische Fundstoff nicht so ohne Weiteres einer der großen Verbreitungseinheiten bzw. Kulturen anschließen. In der Zeit vor Chr. Geb. beispielsweise sind im Gebiet westlich der Jastorf-Kultur und nördlich der Latène-Kultur ein Dutzend und mehr kleinere Gruppierungen erkennbar. Zeitweilig gab es die wissenschaftliche Diskussion über „Völker zwischen Germanen und Kelten“; ausgeführt in einer eigenen Publikation 1962,303 im Katalog „Mythos. 2000 Jahre Varusschlacht“ 2009 als „namenlose Völker“ bezeichnet.304 Die Kartierungen für alle diese „Kulturen“ sind zahlreich. Die beiden Kulturen, die Wilbark- und die Przeworsk-Kultur, breiten sich nicht nur nach Südosten, sondern auch nach Westen aus, nach Ostbrandenburg im späten 2. und 3. Jahrhundert; der archäologische Niederschlag seien sogenannte späte Rollenkappenfibeln.305 Was verbirgt sich kulturgeschichtlich dahinter, wenn die Ausbreitung einer „Kulturgruppe“ anhand eines einzelnen Kleidungsbestandteils, einer Fibelform erschlossen wird? Wie solche Verbreitungsbilder zustande kommen können, zeigt das Beispiel der sogenannten „Augenfibeln der preußischen Nebenserie“,306 die in Augusta vindelicorum, im römischen Augsburg hergestellt worden sind – man hat dort die Gussformen und Halbfabrikate ausgegraben – und dann 1000 km weiter im Norden an der Weichsel in großen Stückzahlen gefunden werden (Abb. 10) (vgl. dazu ausführlich 583 ff.). Die Frage, ob Fibeln nun römisch oder germanisch sind, stellt auch S. Ortisi für Raetien.307 Es geht um kräftig profilierte Fibeln mit trapezförmigem Fuß und um Kniefibeln verschiedener Typen. Es sind vor allem norisch-pannonische Kniefibel-Typen, die hier gemeint und in römischen Werkstätten weiterentwickelt worden sind. Die Fundorte belegen eine Einwanderung von Germanen im 2. Jahrhundert in die Provinz, so heißt es. Wie solche Werkstätten verteilt sind und was in ihnen hergestellt wurde, beschreibt D. Benea für die römische Provinz Dakien.308 Dazu gehört auch im Norden 303 Hachmann, Kossack, Kuhn 1962. 304 Sicherl 2009, 56 Abb. 10 Karte (Farbe). 305 Schuster 2002/2003 (2005). 306 Definition nach Almgren 1897 / 1923. 307 Ortisi 2016, 522 Abb. 1 Karte mit den verschiedenen Fibeltypen. 308 Benea 2016, 778 Abb. 1 Karte der Werkstätten und Emailverarbeitung, 786 ff. zur Werkstatt Porolissum.
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Abb. 10: Verbreitung der „Augenfibeln der preußischen Nebenserie“ und Lage von Augsburg.
Porolissum (vgl. unten S. 497) mit Emailwerkstätten, und der Ort ist eine Art Zollstation aus der Provinz Dakien nach Germanien.309 Bemerkenswert ist, dass in den nörd-
309 Gabler 2016, 922 Abb. 11.
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lichen Siedlungen in Germanien oder bei den Sarmaten zwar beachtlich viele Terra Sigillata gefunden wird, dass aber diese nur einen Anteil von 1% in den Siedlungen ausmachen.310 Terra Sigillata kommt zudem vor allem von 150 bis 250 n. Chr. vor mit dem Höhepunkt in den ersten Jahrzehnten des 3. Jahrhunderts, überwiegend Ware aus Westerndorf und Pfaffenhofen. Diese geringen Zahlen sollten bewusst bleiben, wenn es um den Stellenwert des römischen Imports in den Siedlungen und Gräberfeldern Germaniens allgemein geht. Der Blick des Historikers prüft, und er referiert Aussagen der Archäologie zu den Ursprungsgebieten der Vandalen, so Roland Steinacher im Jahr 2016.311 Seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. gab es für den Historiker die Przeworsk-Kultur im heutigen Polen, darin aber auch Elemente der Latène- und der Jastorf-Kultur. Durch die Przworsk-Kultur verlief die Bernsteinstraße, und diese Kultur sei durch eine neuartige Wirtschaftsweise und Eisenproduktion, dann über Brandbestattungen und innovative Sachgutformen beschreibbar. Archäologen – so sagt der Historiker – würden die große Verbreitung der Przeworsk-Kultur mehreren ethnischen Gruppen zuordnen, darunter auch den Vandalen. Die religiöse Gemeinsamkeit beim Totenkult, die Beigabe von Waffen in den Gräbern und überwiegend Eisen als Schmuck verbindet alle Untergruppen dieser „Kultur“. Die Wielbark-Kultur (früher Willenberg-Kultur) ist nach einem 1874 entdeckten Gräberfeld mit 3000 Bestattungen benannt, besteht – so das Referat des Historikers – auch aus zahlreichen Gruppen, unter denen die Goten zu finden seien. Das Kennzeichen dieser „Kultur“ seien häufige Körperbestattungen, das Vermeiden von Waffen als Grabbeigabe (ein negatives Definitionselement) und die seltene Verwendung von Eisen für den Schmuck, dafür eher die Wahl einer Kupferlegierung. Die Expansion könnte die Folge oder die Ursache der Markomannenkriege gewesen sein, der Sprung in die Ereignisgeschichte, den der Historiker bei den Archäologen wiederfindet. Der Historiker prüft also die Aussagen der archäologischen Quellen, kann sie aber nicht zu seinem Bild über die Geschichte der Vandalen weiter verwenden, da alles im Unklaren bleibt (und bleiben muss). Florian Gauß312 hat mit statistischer Auswertung untersucht, wie sich die charakteristischen Definitions-Elemente der Przeworsk- und der Wielbark-Kultur tatsächlich unterscheiden, so die Waffenbeigabe in Bestattungen und die Verwendung von Eisen oder Buntmetall für den Schmuck. Es ist nicht überraschend, dass die Unterschiede nicht deutlich sind, sondern kaum ausreichende statistische Mehrheiten auf dieser oder jener Seite gemessen werden können. Es liegt sicherlich daran, dass die Anfangsdefinitionen für diese „Kulturen“ auf einer geringen Quellenbasis entwickelt worden sind, und dass nachfolgend immer wieder in dieselben Gruppen hineininterpretiert wurde und wird, beeinflusst durch die geographische Verbreitung, und dass die massive 310 Gabler 2016, 921 Abb. 10 Kreisdiagramm mit Anm. 37 (Zahlen von 1992). 311 Steinacher 2016, 21 f., 356–360. 312 Gauß 2008, 43 ff., 57 Abb. 10 Relative Metallanteile der Kleidungbestandteile der PrzeworskKultur: Bronze 53,8%, Eisen 46,2%.
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Fundzunahme eigentlich einen Neuanfang einer Auswertung erforderlich macht, was man als Archäologe da früher konstruiert hat. Inzwischen hat sich gezeigt, dass die Besiedlung der Przeworsk-Kultur kontinuierlich in die der Wielbark-Kultur übergeht, d. h. auf zahlreichen Gräberfeldern finden sich Bestattungen, die der einen oder der anderen Kultur zugewiesen werden, und es gibt gemischte Grabausstattungen. Verschiedene Ausprägungen dieser beiden Kulturen, die sich räumlich und zeitlich unterschiedlich „verhalten“, lassen ahnen, dass die Definition dieser Kulturgruppen einer neuen Diskussion bedarf. Was verbirgt sich denn nun hinter diesen Kartenbildern, was führt zu ihrer Entstehung? Man setzt die Wielbark-Kultur beispielsweise mit den Goten und ihrer Wanderungsbewegung von der Ostseeküste bis ans Schwarze Meer gleich. Dort in der Ukraine und am Schwarzen Meer findet man neu definiert als Nachfolgekultur die Chernjachov- und die Sîntana de Mureş-Kultur.313 Da das Verbreitungsgebiet der Wielbark-Kultur jedoch so beachtlich groß ist, denkt man, dass sich dahinter nicht nur „die“ Goten verbergen oder dass das Gebiet „gotisch-gepidisch“ war oder Goten, Rugier und Veneder umfasste, sondern neutraler, dass „die Wielbark-Kultur vor allem als archäologisches Relikt eines Verbandes verschiedener gotischer Stämme (gotischer Völkerverband) zu deuten ist“, und auf ihrer „Wanderung nach Südosten unterwarfen sie und integrierten verschiedene andere, nicht nur germanische Stämme“, was zum „Gotischen Kulturkreis“ führte, zu dem dann auch die beiden südrussischukrainischen Gruppierungen gehörten. Man vermutet also, dass auf dem Gebiet der Wielbark-Kultur viele Stämme mit verschiedenen Namen und verschiedenen Sprachen lebten. Außerdem geht anscheinend die Expansion der Wielbark-Kultur nach Süden über die Przeworsk-Kultur hinweg bzw. östlich daran vorbei, und nach Südosten nimmt sie sogar gegen die Definition die Sitte der Waffenbeigabe auf, so ein Bericht aus dem Jahr 2017.314 Diese Zitate aus jüngeren Publikationen verdeutlichen, dass es zu nichts führt, archäologische Kulturen und in schriftlichen Quellen erwähnte Gruppen mit germanischen Stammesnamen gleichsetzen zu wollen, was eine ethnische Deutung archäologischer Kulturkreise wäre und zu weiteren Kreisschlüssen bei der geschichtlichen Auswertung führen würde. Dasselbe trifft auch für die Jastorf-Kultur zu, deren Nachfolge-Kulturgruppen dann als Nordseeküsten-Germanen, als Elb-Germanen und als Rhein-Weser-Germanen bezeichnet werden. Diese umfangreicheren Verbreitungen decken in jedem Fall einen größeren Bereich ab, als die hypothetische Kartierung der germanischen Stämme der ersten Jahrhunderte n. Chr. Geb. Manchmal wird das Gebiet der Kulturgruppe Elbgermanen gar bis an die Oder, als Nachfolger der JastorfKultur, kartiert. Alle diese archäologischen Kulturgruppen sind miteinander in unterschiedlicher Weise verbunden, so ist das Samland während der Römischen Kaiserzeit
313 Bierbrauer 1994. 314 Kazanski, Mastykova 2017, 106 Fig. 1.
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mit Germanien und mit dem Römischen Reich in mehr oder weniger engem Kontakt gewesen.315 Wir kommen erst dann weiter, wenn wir sagen könnten, was die in den Schriftquellen genannten Stämme und Namen eigentlich für gesellschaftliche Strukturen hatten. Man geht von bäuerlich siedelnden Gruppen auf einem fest begrenzten Territorium aus, in den schriftlichen Quellen aber handelt es ich zumeist um Kriegerverbände, die mit den uns bekannten Namen bezeichnet wurden (darüber später ausführlich S. 673 ff.). Da also schon auf der Seite der schriftlichen Quellen die Vorstellung von Stämmen problematisch und nicht genau zu fassen ist, was eigentlich siedelte oder mobil war, ist eine Übereinstimmung mit den vagen Beschreibungen der archäologischen Kulturen kaum zu erwarten. Man sollte sich also vom Versuch dieser ethnischen Deutungsversuche wirklich abwenden und weitere Erklärungsmöglichkeiten diskutieren. Welche Bevölkerungsgruppen zur Zeit des Arminius und des Marbod, dann im gesamten 1. Jahrhundert n. Chr., weiter südlich von den Kulturgruppen der RheinWeser-Germanen und der Elbgermanen, also südlich vom Main bis zur Donau, gesiedelt haben, gegen die dann im 2. Jahrhundert von den Römern der Limes ausgebaut wurde, erfährt man aus keinem der Kartenbilder, die hier weiße Flächen belassen. Der Forschungsstand ist für diese Gebiete noch so dürftig, dass man keine Kulturgruppen konstruieren kann, obgleich die Landschaften sicherlich nicht unbesiedelt waren. Inzwischen kann man für das 2. Jahrhundert nicht fern vom Limes an Main und Tauber „germanische“ Siedlungsstellen kartieren,316 auch wenn weiter südlich immer noch „Siedlungs- bzw. Fundleere“ herrscht. Immerhin wurde am Main das große römische Mehrlegionslager bei Marktbreit317 eingerichtet, und zwar wurde im Rahmen der Heereszüge ins Innere Germaniens dieses große Legionslager sicherlich nicht in einem menschenleeren Raum ausgebaut. Ob nun an der Niederelbe anfangs Langobarden gesiedelt haben, ehe Teile von ihnen weiter in den Süden wanderten, oder ob zwischen Elbe und Oder swebische Stämme lebten, kann eben nicht am archäologischen Fundstoff, den von Archäologen konstruierten Fundverbreitungsgruppen abgelesen werden. Denn mit diesen Verbreitungsgruppen können die überlieferten Stammesnamen ebenso wenig gleichgesetzt werden, wie oben für die Przeworsk-Kultur und die Vandalen oder die Wielbark-Kultur und die Goten erläutert; die Erstreckung der Kulturgruppen ist einfach zu großflächig im Vergleich zur erstaunlichen Vielfalt der antik überlieferten Stammesnamen. Was waren diese größeren Kommunikationsräume? Somit hat sich die Forschung von diesem Versuch, entwickelt im späten 19. Jahrhundert, gelöst und verzichtet aus methodischen Gründen auf die „ethnische Deutung“
315 Nowakowski 1996. 316 Steidl 2016a, 34 Karte. 317 Völling 2001; Wamser 2000.
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archäologischer Kulturgruppen. Was Stämme und Kriegerverbände waren, wird später in diesem Buch erläutert. Was archäologische Kulturgruppen eigentlich widerspiegeln, allgemeine Zivilisationsbereiche oder Kommunikationsräume, wird auch weiter diskutiert werden; denn immerhin hat die archäologische Forschung derartige Gruppierungen anhand der Bodenfunde und Ausgrabungen konstruieren können. Das muss etwas bedeuten. Vor Jahren wurden in der marxistisch orientierten ostdeutschen Forschung archäologische Kulturen als sozialökonomische Gebiete erklärt,318 was auch nicht unbedingt zutreffen muss, aber immerhin neutraler wirkt als die „ethnische“ Deutung als Stammesgebiete. Weniger überzeugend ist der moderne Versuch, solche archäologischen Verbreitungsräume als politische Räume zu erklären,319 weil es dann zu erklären gilt, was man unter politischem Raum versteht, ohne wieder bei dem Gebiet eines Stammes zu landen, und wie sich archäologisches Fundmaterial politisch begründet ausweist. Nebenher sei bemerkt, dass diese Kulturgruppen nicht ausreichend und eindeutig zu beschreiben sind, auch wenn man sich inzwischen daran gewöhnt hat. Zur Definition der Przeworsk-Kultur gehört die Beobachtung, dass viele Gerätschaften und Schmucksachen aus Eisen, während die Sachen der Wielbark-Kultur aus Bronze hergestellt worden seien. Die statistische Analyse der Grabfunde der beiden Kulturen hat aber gezeigt – wie schon erwähnt –, dass dieser Gegensatz gar nicht besteht, sondern dass es sich nur um unterschiedliche Tendenzen handelt; und weil man Kulturgruppen als in sich geschlossene Siedlungsgebiete aufgefasst hat, müssen diese Grab- und Siedlungsbefunde in diesen Gebieten eben der einen oder anderen Kulturgruppe zugewiesen werden.320 Die Kartierung aller einzelnen „Kulturelemente“ zeigt immer wieder, dass einerseits keine gemeinsamen Verbreitungen mit klaren Grenzen existieren, sondern die unterschiedlichsten Überlagerungen haben zusammen kartiert wenigstens manchmal zu einem Dichtezentrum mit allerlei Ausstrahlungen geführt, und dass andererseits das Gegenüber von Kulturgruppen – in diesem Beispiel die Przeworsk- und die Wielbark-Kulturgruppe – somit auch nur ein Wunschbild ist, ein Hilfsmittel, archäologisches Quellenmaterial irgendwie auch geographisch zu ordnen. Wie sähe die Konstruktion aus, wenn man nicht davon ausgegangen wäre, dass in Mitteleuropa verschiedene Völkerschaften in geschlossenen Wohngebieten nebeneinander gesiedelt haben, wenn also schriftliche Nachrichten darüber nichts überliefert hätten? Da ich in diesem Buch bewusst versuche, die Lebenswelt und den kulturellen Zuschnitt der Bevölkerung in Germanien allein anhand der archäologischen Quellen darzustellen, ist überhaupt der Blick auf die Namen von Gruppen in den überlieferten frühen Schriftquellen nicht nötig und sinnvoll.
318 Herrmann 1965. 319 Grunwald 2016. 320 Gauß 2008.
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Wie ein Archäologe in Dänemark dieses Problem sieht, hat Klavs Randsborg im Jahr 2015 ausführlich erläutert.321 Mit einiger Berechtigung erklärt er, dass die von den antiken Schriftstellern überlieferten Namen germanischer Gruppen und Stämme eigentlich immer romanisierte Bezeichnungen oder gar antike römische Erfindungen sind, die zugleich zeigen, dass unbekannt bleibt, wie sich diese Gruppen selbst benannt haben. Erst später scheinen germanische Gruppen die von den Römern geprägten Namen für sich übernommen zu haben. Es gibt Unterschiede zwischen den Arealen, die dem Limes nahegelegen sind, mit überzeugender Übernahme germanischer Namen und den fernen Gebieten mit den römischen Erfindungen der Namen. Gerade das ist auch ein Beleg dafür, dass uns die Verhältnisse in Germanien nur durch die römische Betrachtung geschildert werden und es eigentlich keine unabhängigen Zeugen gibt. Die archäologisch erarbeiteten Zeitphasen sind Allgemeinbestand der archäologischhistorischen Forschung. Für die Jahrhunderte um und nach Chr. Geb. geht es um die Stufen oder Phasen, in die Sachgüter aus Gräbern und Siedlungen in Zeitabschnitte eingeordnet werden. Warum man von Römischer Kaiserzeit in Germanien spricht, wurde erläutert. Dabei fällt auf, dass einerseits die Stufen bzw. Phasen nicht gleich lang sind, sondern aufgrund wohl der römischen Münzgeschichte, die dahinter steckt, so konstruiert worden sind (oben Tabelle 1). Damit könnte man als Historiker leben, wenn nicht die Diskrepanz auffällt, die zwischen diesen Stufeneinteilungen und der Datierung von archäologischen Befunden besteht. Es zeigt sich, dass hinter den archäologisch konstruierten Stufen bzw. Phasen keine Realität der ehemaligen Lebenswelten steht. Es finden sich selten Datierungsangaben, die von A (vorrömische Eisenzeit) und B, C und D (Römische Kaiserzeit und frühe Völkerwanderungszeit) sprechen, meist sind es übergreifende Angaben, einschließlich der inzwischen erarbeiteten Unterstufen, wie zum Beispiel B1b/B2 oder B2b/C1. Was besagen dann aber diese Zeitangaben, die in absolute Jahrzehnte umformuliert werden können? Solange nicht genug dendrochronologische Angaben vorliegen, die als Kalenderdaten genommen werden können, scheint man bei diesen Klammerungen von Stufen bleiben zu wollen. Um zu betonen, dabei geht es nicht um die Angabe einer tatsächlichen längeren Dauer einer Besiedlung, sondern die zeitlich punktuelle Ansprache eines Fundkomplexes ist nicht genauer möglich. Über die realen Kontinuitäten bei der Belegung von Gräberfeldern oder der Nutzung eines Siedlungsareals werde ich noch ausführlich sprechen. In meiner Darstellung betone ich regelmäßig, dass Gräberfelder oder Siedlungen meist lange Kontinuitäten belegen, von der vorrömischen Eisenzeit bis in die frühe Völkerwanderungszeit (und teils weiter bis in die Wikingerzeit), also über alle Stufen- bzw. Phasengrenzen hinweg. Das Beispiel der Markomannenkriege von 162 bis 180, also einer Zeitspanne von ca. 20 Jahren, sei betrachtet: Das sind archäologisch die Stufen/Phasen B2, C1a, und absolutchronologisch meint man mit B2 die Jahrzehnte von (je nach Forschungsmei-
321 Randsborg 2015, 59.
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nung) 70/75 bis 150 und C1a 150 bis 220/225. Geht man vom Krieg und seinem Ende aus, dann kann es für archäologische Sachverhalte nur die Stufenzuweisung C1a geben. Vielleicht wäre es sinnvoller, umgekehrt zu verfahren – was ich aber hier nicht leisten kann – und von den Belegungszeiten der Friedhöfe oder von der Dauer sich verlagernder Dörfer auszugehen, und nach ihrer Datierungsspanne dann die zeitliche Gliederung ehemaliger Lebensrealitäten vorzunehmen. Und mit Recht weist Günther Moosbauer darauf hin, dass die Verbindung von archäologischen Funden und Befunden mit den politisch-militärischen Ereignissen leicht in Zirkelschlüsse führt.322 Es bleibt immer wieder bei dem Widerspruch zwischen archäologischen Phasenbildungen und der Ereignisgeschichte. Bei der Betrachtung des Forschungsstandes für Germanien und wie dieser in den vergangenen Jahren massiv intensiviert werden konnte, ergibt sich für die Interpretation der Kartenbilder zur Verbreitung von Sachgütern und ebenso von archäologischen Kulturen eine neue Möglichkeit der Deutung: Ich sehe in erster Linie Kommunikationskorridore (vgl. oben Abb. 5), die diagonal im mittleren Europa vom Norden nach dem Südwesten und dem Südosten verlaufen oder auch umgekehrt so zu betrachten sind. Die Begründung ist, dass ich die Kartierungen in diesen Zonen nicht als Niederschlag von Wanderungen ansehen möchte, sondern eben nur als Kontaktlinien, weil einerseits nicht die Richtung einer Bewegung erfasst wird, sondern nur eine Gleichzeitigkeit der Funde und Befunde; andererseits kommen nun typische Funde, die bisher diese Korridore zu beschreiben erlaubt haben, auch überall woanders vor, und zwar mit wachsender Tendenz. Linien derartiger Austausch- und Intergenerations-Beziehungen sind auch im Zusammenhang mit Heiratsverbindungen zu sehen, die nicht nur die obersten gesellschaftlichen Gruppen betroffen haben. Darüber werde ich später im Abschnitt über die Gräber der Elite berichten. Wir haben also bisher immer nur einen bestimmten Forschungsstand kartiert und müssen diese Kartierungen nun erweitern und damit auch eine neue Interpretation suchen. Ich schlage daher vor, nicht nur von den Korridoren auszugehen, jedoch von den Modellen der Wanderungen abzusehen, sondern stattdessen ein allgemeines Netzwerk zu akzeptieren, das ganz Europa während der Jahrhunderte um und n. Chr. (sicherlich auch in späteren Jahrhunderten) überspannt und damit eine Kommunikation abbildet, die jeden Ort in Europa erreichen konnte. Eine solche These wird dadurch unterstützt, dass schon bisher sowohl während der Römischen Kaiserzeit als auch während der Völkerwanderungs- und Merowingerzeit alle Plätze, an denen ausgegraben worden ist, von Importen oder allgemein von Fremdgütern erreicht worden sind. Das schließt unterschiedliche Überlieferungsmöglichkeiten über verschiedene Grabbräuche, Siedlungsweisen oder Opfersitten nicht aus. Mit wachsendem Forschungsstand verwischen die Grenzen von Kulturkreisen auch immer mehr. Was zu Anfang der Definition anhand von bestimmten Kriterien die Umschreibung des
322 Moosbauer 2018, 18.
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Wirkungsbereiches einer Kultur mit scheinbarer Sicherheit erlaubte, verliert jetzt nach und nach die früher nur scheinbar bestandene Präzision. Das begann schon mit den Beobachtungen, dass Elemente der Przeworsk-Kultur plötzlich weiter im Westen im Jastorfkreis und noch weiter bis ins Main-Mündungsgebiet erschienen sind, sogar auch im Norden von Jütland und dann sich vorverschiebend vor allem auch in Richtung Südosten. Es gab Diskussionsbedarf, als im Hessischen in Siedlungen wie Mardorf in denselben Grubenhäusern Keramikformen der sogenannten einheimischen Rhein-Weser-Ware und Keramik der Przeworsk-Kultur beisammen gefunden wurden. I. Jakubczyk hat beim Sachsensymposium 2014 in Warschau über die Fibeln des Typs Almgren 158 aus Eisen (eine sogenannte Fibel mit umgeschlagenem Fuß, Gruppe VI), datiert in die jüngere und späte Römische Kaiserzeit sowie Völkerwanderungszeit, als typisches Merkmal der Przeworsk-Kultur gesprochen, die in sehr verschiedenen anderen Gebieten weit außerhalb der Grenzen dieser Kultur auch gefunden werden,323 so westlich der Oder im südlichen Land Brandenburg und an der mittleren Elbe, in Mecklenburg und in Schleswig-Holstein sowie auf den dänischen Inseln und außerdem auch in Thüringen und am Rhein. Er erklärt diese Verbreitung nicht als Ergebnis von Handel, da es Kleidungsaccessoires waren, sondern über Bevölkerungsmobilität. Zwar zieht der Autor also die Migrationsthese vor, wundert sich aber, dass die Wanderungen eben nicht nur nach dem Südosten erfolgten, sondern nach allen Seiten. Mein Schluss ist demgegenüber, dass dieser Fibeltyp als eine Modeerscheinung überall gebraucht worden ist, was über die Herstellungsorte noch nichts aussagt und auch kein Kennzeichen einer Kulturgruppe sein kann. Ähnlich der Migrationsthese verhaftet wundert sich J. Andrzejowski über die Vermischung von Ausstattungsgütern der Przeworsk- und der Wielbark-Kultur im selben Grab.324 Es handelt sich um Gräber östlich der Weichsel, auf denen diese Interaktion zwischen Wielbark- und östlichen Przeworsk-Leuten zu beobachten ist, zum Beispiel enthielten die Bestattungen von Männern in Urnen, die eindeutig zur Wielbark-Kultur gehörten, Kleidungsaccessoires und Waffen der Przeworsk-Kultur. Dieser Horizont datiert vom Ende des 2. und dem Anfang des 3. Jahrhunderts. Eine „zeitweilige“ Koexistenz der Leute dieser beiden Kulturgruppen begann schon, so der Autor, in der östlichen Zone der Przeworsk-Kultur im späten 1. und in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts. Die Gräber der Przeworsk-Leute und ihrer Riten endeten am Anfang des 3. Jahrhunderts, und viele Gräberfelder wurden von Leuten der beiden Kulturen ohne einen Bruch weiter benutzt. Erklärt wird diese Situation durch die Annahme, dass die ersten Siedler, die Przeworsk-Leute, verdrängt wurden, als die Wielbark-Leute das Gebiet okkupierten. Für mich als neutralen Leser dieser Darstellungen kommt eher
323 I. Jakubczyk, Iron brooches Type Almgren 158 – traces of Przeworsk culture outside its area? Sachsensymposium Abstracts Warschau 2014. 324 J. Andrzejowski, Goth’s way through Eastern Poland – archaeological evidences. Sachsensymposium Abstracts Warschau 2014.
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der Gedanke, dass ein Problem besteht bei der Definition dieser Kulturgruppen über die Zeiten hinweg. Ein vergleichbarer Befund wird für eine andere Siedlung in Großpolen geschildert.325 In der Siedlung der Römischen Kaiserzeit von Goślinowo finden sich vermengt Befunde und Funde der beiden Kulturen, der Wielbark- und der Przeworsk-Kultur. Die Wielbark-Kultur der Phase B2/C1 bis C1b oder C2 (150–300 n. Chr.) kommt gleichzeitig oder im Wechsel mit der Przeworsk-Kultur C1b oder C2 im selben Ort vor. Wie sieht die Erklärung dafür aus? Vielleicht fand eine Abwanderung der Wielbark-Leute aus Großpolen statt, und Przeworsk-Leute wanderten nach Norden über die Weichsel dazu, oder aber: Zwei unterschiedliche Siedlungen bestanden einige Jahrzehnte am selben Ort beieinander? Es gab diese interkulturellen Beziehungen in der spätrömischen Kaiserzeit in den Überlappungsbereichen der beiden Kulturen, d. h. aber auch, eine genaue zeitliche und räumliche Grenze gab es eben gar nicht. Grenzen lösen sich mit zunehmenden Ausgrabungsergebnissen auf. Eine weitere Sackgasse bei der Interpretation archäologischer Fundkomplexe ist der ständige Versuch, fast wie ein Zwang wirkend, diese Zusammenstellungen von Sachgütern aus anderen Gegenden herzuleiten oder die Fernbeziehung zu betonen, und zwar anhand der Verbreitung dieser Sachgüter. Die Kartenbilder von Fibeltypen beispielsweise, die im Opfermoor von Thorsberg (vgl. S. 722) gefunden worden sind, erstrecken sich zum einen nach Süden auf den Kontinent oder zum anderen nach Norden. Vergessen wird dabei, dass nur ein momentaner Forschungsstand dieses Verbreitungsmuster geschaffen hat, und die fortlaufend durchgeführten Ausgrabungen und vor allem der Einsatz der Metalldetektoren verdichtet nicht nur die Fundverbreitung, sondern schließt bisher fundfreie Gebiete an. Mit anderen Worten (vgl. dazu S. 580), der allgemeine Kommunikationsraum umfasst das kontinentale Mitteleuropa und Skandinavien; römische Importe, Metallgefäße, Gläser oder auch Terra Sigillata erreichten jedes noch so fernliegende Siedlungsgebiet in Germanien, jedes Dorf. Anhand von Fibeln und auch der meisten anderen Sachen lässt sich beispielsweise die Herkunft der besiegten Kriegerverbände sicherlich heute nicht mehr nachweisen, was bisher regelmäßig versucht worden ist. Zumal die Kriegerverbände unter der Führung von Kriegsfürsten, diese Gefolgschaften, von Männern unterschiedlichster Herkunft zusammengesetzt waren, wie die schriftliche Überlieferung bestätigt. Fibeln und Waffen wurden jeweils an mehreren Orten angefertigt und mitgebracht. Eine Fibelform konnte zudem andernorts auch ohne Probleme kopiert und hergestellt werden. Was die Verbreitungskarten abbilden, sind Kommunikationsräume, und die Mobilität innerhalb Germaniens sollte nicht unterschätzt werden. Wenn es stimmt – ich halte mich da eher zurück –, dass alle germanischen Krieger, die römische Sachen und Rangzeichen, z. B. Fibeln, mit ins Grab bekommen haben, zuvor einmal Söldner
325 Machajeski, Smaruj 2017, 157.
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in der römischen Armee gewesen sind, dann bestätigen diese sogenannten Söldner, dass sie aus allen, auch fernen Gegenden des kontinentalen und des nördlichen Germaniens gekommen sind. Es war somit ein allgemeiner vielfach „durchschrittener“ Kommunikationsraum; und die Kartenbilder sind nur das Ergebnis des Forschungsstandes und damit eine archäologische Konstruktion. Mit der Produktion von Fibeln in römischen Werkstätten innerhalb des Limes – es geht da um die Augenfibeln eines bestimmten Typs aus einer Werkstatt in Augsburg – wurde in 1000 km Entfernung die Landschaft an der Ostsee versorgt (vgl. oben Abb. 10). Wobei sie dort gefunden werden, weil die Grabsitte das ermöglichte, vielleicht kamen diese Produkte ebenso in andere Gegenden, wo sie nicht als Beigaben dienten, sondern irgendwann wieder eingeschmolzen wurden. Die Betrachtung der Fibeltypen im Moorfund von Thorsberg und ihre sonstige Verbreitung dieser verschiedenen Typen auf dem Kontinent und weiter im Norden zeigen deutlich, dass auf diese Weise also keine Herkunftsgebiete der Krieger (oder der Frauen) zu erschließen ist, sondern nur die Einbindung in die allgemeine Fibelverbreitung überall in Germanien. Die Kartierungen der neuen Fibelfunde im Jahr 2016, die mit dem Metalldetektor in Schleswig-Holstein entdeckt worden sind (vgl. S. 489),326 bestätigen mehrfach, dass eine ganze Reihe von Fibeltypen plötzlich in einzelnen Exemplaren auch in dieser Landschaft vorkommen. Andere Fibeltypen gibt es hier und anderswo, d. h. im Verlauf der Forschungen ändern sich die Verbreitungskarten, und neu erscheinen Funde und Fundverdichtungen in zuvor freien Gebieten. Der systematische Einsatz von Detektoren wie beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern, dessen Ergebnisse dann auch publiziert werden, überrascht mit einer verblüffenden Zunahme an Fundtypen, wie beispielweise Bügelknopffibeln des 4./5. Jahrhunderts, von denen allein in einem Jahrgang mehr als ein halbes Dutzend notiert sind.327 Ihre Verbreitung quer durch Mitteleuropa bis in den Südwesten ist mehrfach kartiert worden und bedarf nun ständiger Ergänzungen (vgl. oben Abb. 9). Diese kritischen Bemerkungen ließen sich ergänzen, aber trotzdem gibt es keinen Grund zu resignieren. Vielmehr sollte man sich bewusst machen, dass immer hinter all diesem Suchen nach Herkunft und Beziehungen der Wunsch steht, eine historisch ereignisgeschichtliche Interpretation der archäologischen Sachverhalte zu finden. Entscheidet sich die Forschung dazu, archäologische Befunde innerhalb der archäologischen Methoden zu beschreiben und dafür Erklärungen zu finden, dann gibt es Lösungen.
326 Beispielsweise Schuster 2016c, 10 Abb. 4, 11 Abb. 5, 21 Abb. 22 (bisher nur an der Niederelbe, jetzt mehrfach in Schleswig-Holstein); dazu jetzt auch Przybyła 2018 zu den Typen der Fibeln mit hohem Nadelhalter. 327 Bodendenkmalpflege in Mecklenburg-Vorpommern Jahrbuch 65, 2017 (2018).
5 Die Kulturen der vorrömischen Eisenzeit in Mitteleuropa Die Jastorf-Kultur, die Przeworsk-Kultur und die Latène-Kultur bestanden in den letzten Jahrhunderten v. Chr. nebeneinander, überlappten sich geographisch und beeinflussten sich. Die Jastorf- und die Przeworsk-Kultur werden mit Germanen gleichgesetzt, die Latène-Kultur mit Kelten. Es ist ein Problem, ob und wie Kulturgruppen zu definieren sind und ob diese Grenzen haben und ob diese auch überzeugend zu beschreiben sind. Bei den anfänglichen Beschreibungen während der Frühgeschichte der archäologischen Forschung schien das keine Schwierigkeiten zu geben, und erst in den letzten Jahrzehnten hat sich gezeigt, dass fast alle die Kulturgruppen oder Kulturkreise auf ihre Nachbargebiete ausstrahlen und dass kennzeichnende Befunde und vor allem Sachgüter teilweise weit außerhalb der bisher angenommenen Grenzen entdeckt wurden. Die Erklärungen dafür werden, wenn es noch nicht so viele Objekte sind, im Handel oder in Exogamie gesehen, werden es aber immer mehr, wird von Mobilität von Bevölkerung und gern von Wanderungen gesprochen. An einem Beispiel aus der Frühzeit der Germanen, für die Jastorf-Kultur wird das gegenwärtig zu einem offenen Problem. Die Beiträge zu einer Tagung, publiziert 2014, vermitteln die Diskrepanzen bei der Interpretation,328 wenn man die Inhalte vergleicht. Da es keine Zusammenfassung zu den Tagungsergebnissen gibt, versuche ich hier die Abweichungen und die teilweise neuen Sichtweisen zu beschreiben. Es geht um das Jastorf-Konzept im nördlichen Mitteleuropa. Die Entwicklungstendenzen der Gefäßkeramik im Rahmen der Jastorf-Kultur329 ist vielfach behandelt worden. Es ist fast nur Grabkeramik, die immer noch nach dem Schema von G. Schwantes von vor 100 Jahren zu gliedern ist. Es gibt die Zweiteilung in einen älteren Abschnitt Jastorf und in die jüngeren Abschnitte Ripdorf und Seedorf. Die keramischen Leitformen sind von R. Müller im RGA abgebildet, in der frühen Jastorf-Phase fast ohne Verzierung und dann in den Phasen Ripdorf und Seedorf überwiegend mit Verzierung. Drehscheibenkeramik ist nördlich der Mittelgebirge noch selten. Jüngerlatènezeitliche Drehscheibenkeramik ist südlich des Harzes und nördlich bis ins ElbeHavel-Gebiet verbreitet. Bemalte Gefäße sind aus Mittelholstein und Nordostniedersachsen bekannt.330
328 Brandt, Rauchfuß (Hrsg.) 2014. 329 Rauchfuß 2014, 93 Abb. 1 Leitformen nach R. Müller 2000, 46 Abb. 1. 330 Rauchfuß 2014, 103 Abb. 7 Drehscheibenkeramik, 104 Abb. 8 bemalte Gefäße. https://doi.org/10.1515/9783110702675-005
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Die Regionalisierung, also die Beschreibung der Verbreitung einiger Untergruppen der Jastorf-Kultur, wird in Kartenbildern seit 1988 gezeigt. Bestimmte Areale der Jastorf-Kultur werden durch begrenzt verbreitete Sachgruppen gut beschrieben, beispielsweise über einen Typ der sogenannten Kugelfibeln mit Kreuz, die zwischen Niederelbe und Oder sowie auf den dänischen Inseln sowie Bornholm vorkommen.331 Eine andere Karte markiert das Jastorf-Kerngebiet mit nördlicher, östlicher, südlicher und westlicher Peripherie und sogar weiteren Kontaktgebieten.332 Es gibt also Peripherien als Niederschlag der Regionalisierung. Damit ist eigentlich schon seit 1988 eine Begrenzung der Kultur nicht mehr eindeutig zu bieten gewesen. Aber jetzt wird es noch deutlicher, wenn es um die Peripherien geht. J. Martens betrachtet Jastorf und Jütland;333 denn das nördliche Jütland wurde bisher immer als ein Teil der JastorfKultur betrachtet, wohin aus dem polnischen Bereich Ausstrahlungen beobachtet worden sind. Vor allem Nordjütland wurde als eigene kulturelle Region gesehen und die Jastorf-Kultur anhand von Grabbeigaben definiert, über Urnengräber und große Gräberfelder. Nun gibt es aber in Nordjütland nur kleine und meist isolierte Gräberfelder, und auch über die Beigaben seien eigentlich keine Beziehung zur Jastorf-Kultur zu greifen, wie die Analyse der Sachgüter ergeben habe. Nordjütland sei deutlich besser in die anderen nördlichen Gruppen einzugliedern, sei eine eigene Gruppe; wenn überhaupt sei eher nur die südjütische Gruppe mit der Jastorf-Kultur zu verbinden. Für mich ist das Ergebnis: Es gibt keine nördliche Peripherie der Jastorf-Kultur. Ähnlich argumentiert nun J. Martens 2017 bei der Frage, ob es einen Einfluss der Przeworsk-Kultur aus Polen nach Nordjütland gegeben hat.334 Das keramische Material aus zwei ausgebrannten Grubenhäusern der vorrömische Eisenzeit vergleicht und gliedert er vor dem lokalen Hintergrund und der örtlichen Tradition mit Beispielen verschiedener Typen A bis M aus der (befestigten Siedlung) Borremose in Himmerland (vgl. unten S. 311). Der Autor beobachtet ebenfalls eine Jastorf- Migration nach Osten in die Przeworsk-Kultur und eine Westausbreitung der Przeworsk-Kultur. Im Norden fehlen Jastorf-Elemente ebenso wie solche der Przeworsk-Kultut trotz der möglichen Ähnlichkeiten, so dass J. Martens lieber von einer eigenständigen Kraghede-Gruppe in dieser Landschaft ausgeht und vermutete Fernbeziehungen entweder als überbetont oder nicht zu begründen ansieht. (Zur Jagdszene auf dem Becher von Kraghede wird später eingegangen [vgl. S. 112 Abb. 93.2]). Wie sieht es mit der östlichen Peripherie auf heutigem polnischem Gebiet aus? Dazu gibt es gleich mehrere Beiträge im Tagungsband von 2014. H. Machajew-
331 Keiling 2001, 131 Abb. 7 Karte. 332 Nikulka 2014, 50 f. mit Abb. 1 bis 3 (nach J. Brandt 2001, Karte); Krüger 1988, 93 Abb. 15; R. Müller 2000. 333 Martens 2014, 262. 334 Martens 2017, 157 Fig. 1 Karte der Kraghede Gruppe, 167 zur Jastorf-Kultur; vgl. auch 2001b, 282 Abb. 32 mit Abb. von Siedlungshäusern, Jagdszene 282, Abb. 33.
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ski schreibt über die Jastorf-Kultur in Nordwestpolen.335 Die Jastorf-Kultur strahlt demnach von der Oder nach Osten und Südosten sowie der Warthe entlang und mit einigen Funden auch bis an die Weichsel bei Warschau aus. Zeitlich gestaffelt ruft die Verteilung der Fundkomplexe den Eindruck eines Vordringens nach Osten hervor. Die Funde der Phase Jastorf b und weiter Jastorf b, Ripdorf/Seedorf = Latène C2/D1, definiert an anhand der Keramikformen, zeigen ein erstes Dichtezentrum an der unteren Oder mit Halsringen und Flügelnadeln; erst Fibeln mit Perlenaufsatz und Kronenhalsringe kommen deutlich weiter im Osten vor, wo es nach dem Autor inzwischen auch Jastorf-Siedlungen gebe, und er fragt, weshalb und wodurch eine Jastorfbevölkerung in so kurzer Zeit so weit nach Osten gekommen sein kann, denn westlich der Oder gebe es keine Veränderung im Siedlungsbild. Was steckt hinter dieser vermeintlichen Bevölkerungsbewegung? Ich meine, der Autor hängt weiterhin einem falschen Modell an, nicht Gruppen von Leuten wandern, sondern eine andersartige Kommunikation sorgt für die Fundtypenverbreitung. Das findet sich auch in weiteren Beiträgen, so von A. Michałowski.336 Zu Beginn der jüngeren vorrömischen Eisenzeit gibt es in Großpolen neben der Pommerschen Kultur auch fremde Kulturmodelle, weshalb eine Einwanderung von Westen anzunehmen sei, und zwar von Jastorfleuten. Es gibt einen Anstieg von typischen Funden der Jastorf-Kultur, von Kronenhalsringen, Feuerböcken, Tonlöffeln, Kugelfibeln und Fibeln vom Spätlatène-Schema. Die Karte bringt die Fundorte mit Jastorf-Elementen an der Warthe und weiter im Osten. Als einzige Erklärung wird wieder die Wanderungsthese angeboten, das Gebiet an der Warthe würde zu einer Art melting pot, das Ergebnis einer Epoche von Wanderungen über größere Distanzen; und anscheinend sind weder Sprache noch ethnische Identitäten Barrieren gegen Wanderungen gewesen; und Großpolen wird dann – so der Autor abschließend – Ausgangsraum für weitere Wanderungen in Richtung Südosten nach Dakien. Das Ergebnis ist also nicht nur eine Jastorf-Kulturperipherie, sondern eine Auswanderung von Jastorf- Bevölkerung. P. Łuckziewicz formiert schon etwas offener das Problem, wenn es um Jastorf-Material in Ostpolen geht: Handelt es sich um fremde Ansiedler oder um nur fremd wirkende Waren?337 Der Übergang von der älteren zur jüngeren vorrömischen Eisenzeit bringt Affinitäten zur Pommerschen Kultur und zur Przeworsk-Kultur und vor allem zum Jastorf-Kreis. Dem Autor fällt auf, dass dies aber eigentlich nur im Keramikmaterial zu sehen ist, Tracht- und Schmuckelemente fehlen fast völlig. Außerdem sind diese Keramikobjekte keine direkten Importe, sondern Reminiszenzen fremder Vorbilder und diesmal von der jütischen Halbinsel. Zu erklären ist das sicherlich als ein personengebundener Prozess mit persönlicher Mobilität, denn für eine Kolonisationswelle sei der archäologische Niederschlag deutlich zu gering. Die Entscheidung bleibt offen, ob es sich um eine
335 Machajewski 2014, 271. Fig. 1. 336 Michałowski 2014, 288, 298 Fig. 1 und 298. 337 Łuczkiewicz 2014, vor allem 313.
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„partielle Zuwanderung von Fremden, Adaption fremder Einflüsse oder Nachahmung neuartiger Kulturgüter durch Einheimische“ handelt. Der Autor löst sich also noch nicht von der traditionellen Wanderungsthese, kann sich aber eine andere Deutung vorstellen, womit er sich meiner These eigentlich schon anschließt. Es bleibt somit als ein Ergebnis, dass wir keine östliche Peripherie der Jastorf-Kultur haben. Dazu gibt es noch eine andere Untersuchung von G. Domański anhand der sogenannten Gubener Gruppe als Kontakt zwischen der Jastorf-Kultur und der Przeworsk-Kultur.338 Diese Gubener Gruppe ist demnach eigentlich eine Zone innerhalb der Jastorf-Kultur, die unter Einfluss von latènisierten, also den keltischen Gebieten im Süden sowie der Przeworsk-Kultur steht. Es gibt Unterschiede im Bestattungsbrauch und in den Keramikformen, die eigentlich keine Przeworsk-Keramik ist. Die Karte zeigt Besiedlung der Gubener Gruppe, der Jastorf- und der Przeworsk-Kultur an der Oder weiter im Süden in der nördlichen Niederlausitz und in Schlesien.339 Als Ergebnis zeichnet sich ebenfalls wieder ab, dass es keine festen Grenzen der beiden Kulturen, der Jastorf- und der Przeworsk-Kultur gibt; es gibt verschiedenartige Überlappungen in den Befunden und im Sachgut. Nun gehe ich noch auf den Beitrag von A. Maciałowicz ein, der über Jastorf-Einflüsse im Samland, dem ehemaligen Ostpreußen, berichtet.340 Ausgangspunkte sind die Flügelnadeln der vorrömischen Eisenzeit, auch der Jastorf-Kultur, wiederum mit den besten Parallelen auf der jütischen Halbinsel. Es sind zwar nur einzelne Funde, die jedoch ein Beleg für die Anwesenheit von Einwanderern aus Jütland und Fünen nach Nordostpolen seien. Die Route der Ausbreitung verlief längs der Ostseeküste, wie das ebenso die frühen Kronenhalsringe zeigen, die rund um die Ostsee und bis nach Gotland vorkommen. Sowohl bei den Flügelnadeln, dem nordischen Typ, als auch bei den Kronenhalsringen, dem Typ I nach J. Kostrzewski, handelt es sich nur um bestimmte Typen der allgemeinen Formen, die durchaus eine weitere Verbreitung nach allen Seiten haben. Immerhin geht der Autor über die These der Einwanderer hinaus und schlägt als Deutung vor, dass eine „Übernahme von Idee und Verfertigungsmethode“ stattfand; Nadeln entstanden vielleicht daher erst im Osten. Ähnliche Überlegungen werden zum Vorkommen von vereinzelten Holsteiner Nadeln in Großpolen angestellt.341 Die Holsteiner Nadeln kommen, wie der Name schon sagt, im Niederelbegebiet, in Holstein, in Jütland vor und nur in einigen Exemplaren in Richtung Oder und in Großpolen. Die Verbreitung bildet, so der Autor, die wahrscheinlichen Richtungen der Migration der „Jastorf-Bevölkerung“ nach Osten ab. Die Fundstellen mit Jastorf-Keramik im östlichen Großpolen sind doch recht beachtlich zahlreich. Es wird jedoch wieder zu sehr in die Ereignisgeschichte übergegriffen, wenn auf diese 338 Domański 2014b, mit 309 Abb. Karte. 339 Godlowski 1985; 1992a. 340 Maciałowicz 2014, 347, 353 Abb 10 Karte (nordische Flügelnadeln), 361 Abb 17 Gesamtkarte der Kronenhalsringe. 341 Ciesielski 2018, 278 Abb. 4 Verbreitung der Holsteiner Nadeln, 280 Abb. 6 Fundstellen mit JastorfKeramik im östlichen Großpolen.
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Weise sogar die mutmaßliche Wanderungsroute der Bastarnen nachzuweisen möglich sein soll, die nun deutlich weiter nach Südosten geht. Die Holsteiner Nadel werden in Großpolen in die Phasen Latène B2/C1 und C1 datiert (um 200 v. Chr.). Sie sollen eine Einwanderungswelle markieren, die aber nicht weiter nach Osten führte. Diese JastorfHinweise würden dann auf „eine latènisierte Bevölkerung, welche in ihrem Trachtbestand Nadeln gegen Fibeln ausgewechselt hatte“ stoßen. Wenn davon ausgegangen werden kann, dass fast jeder archäologische Fund nur ein Prozent der einst vorhandenen Objekte repräsentiert, dann stehen einzelne Flügelnadeln oder Kronenhalsringe aber doch für eine ausreichende Produktion, als Nachahmung, aber nicht für scharenweise Einwanderer. Die Gubener Gruppe als Teil der Jastorf-Kultur war ebenfalls in der Niederlausitz verbreitet, von den Siedlungen sind nur Grubenhäuser und Pfostenstellungen ohne überzeugende Grundrisse erschlossen worden.342 Sie hatte zudem enge Kontakte und Überschneidungen mit den Bereichen der Przeworsk-Kulur. Fünf Zeithorizonte sind archäologisch für die Jastorf-Kultur als Gesamtheit unterscheidbar,343 und das Ende der Jastorf-Kultur wird im Zusammenhang mit der Ereignisgeschichte gesehen, dem Tiberiusfeldzug 4/5 n. Chr., d. h. die archäologische Forschung war von der politisch-militärischen Geschichte beeinflusst worden bei der Konstruktion der letzten Phase dieser Kultur. Doch beim Übergang von der vorrömischen Eisenzeit zur Römischen Kaiserzeit gab es durchaus eine kontinuierliche Weiterentwicklung der meisten Fundkategorien, auch zahlreiche Gräberfelder wurden weiterbelegt und zeigten Kontinuität. Das Ende ist nur ein terminologischer Kunstgriff, der aus Süd- und Westdeutschland übernommen worden ist auf der Basis der dortigen historisch-politischen Verhältnisse der keltischen Latène-Kultur. Zu Beginn der Römischen Kaiserzeit zeichnen sich stärkere hierarchische Strukturen ab, Waffengräber kommen auf. Doch das geschah in Mitteldeutschland schon früher aufgrund der Beeinflussung durch die Przeworsk-Kultur seit der Stufe Latène D1. Also ist das Ende der Jastorf-Kultur archäologisch nicht fassbar, nur über die historiografische Zäsur, und von einer längeren Übergangszeit von der letzten Phase der JastorfKultur zur frühen Römischen Kaiserzeit ist auszugehen, von Latène D2 zur Römische Kaiserzeit B1a. Der Suche nach Gemeinsamkeiten in der Latène- und der Przeworsk-Kultur gilt der Vergleich von Belegen zur Gesellschaftsstruktur und den Zentralorten (den Oppida).344 Die Verbreitung der Oppida zeigt Unterschiede, im Westen wurde die Befestigung als Murus gallicus errichtet, wie sie Caesar beschrieben hat, und östlich des Rheins wurde die Befestigung als Pfostenschlitzmauer errichtet, so in Manching
342 Domański 2010. 343 Döhlert-Albani 2014. 344 Łuczkiewicz, Schönfelder 2009, 39 Abb. 2 Karte der Oppida, 42 Abb. 4 Gewässeropfer.
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als gut erforschtes Beispiel. Ansonsten aber gibt es zahlreiche parallele Phänomene in beiden Kulturbereichen, z. B. Waffenopfer in Gewässern. Über die Latène-Kultur im Süden wurden die Kenntnisse zur Eisengewinnung in den Norden vermittelt.345 Das Verhältnis der Jastorf-Kultur zur Oksywie- und zur Przeworsk-Kultur spiegelt Kontakte; es bestanden drei Gruppen der Jastorf-Kultur im nordwestlichen Teil des heutigen Polen, die sich wie ein Keil in drei Etappen zwischen die Hallstatt- und Latène-Kultur geschoben haben. Siedlungen der Jastorf-Kultur in Großpolen, meist sind nur Grubenhäuser freigelegt, wurden 2010 erfasst.346 Das Erscheinen und der Aufenthalt von Bevölkerungsgruppen aus den westlichen Regionen des mitteleuropäischen Barbaricums scheint für den Latènisierungsprozess unserer Region von großer Bedeutung zu sein und belegt darüber hinaus, wie komplex das eigentliche Kulturbild war.
Es gab also anscheinend eine einwandernde Bevölkerung, die ihre Bräuche behielten oder modifizierten. Statt Wanderung kann es ebenso Akkulturation gewesen sein, und wie war der Kontakt zur Bevölkerung der anderen archäologischen Kulturen des Gebietes, vor allem zur „keltischen“ Bevölkerung? Nun hat M. Grygiel die Siedlungen und Gräberfelder der Jastorf-Kultur in Polen zwischen Oder, Weichsel und Bug (in Großpolen, Kujawien, Masowien und im Lubliner Gebiet) mit kleiner Konzentration auch in Oberschlesien registriert und kartiert347 sowie die Metallobjekte aus der nördlichen Jastorf-Kultur in diesem Gebiet. Die frühen Phasen der Oksywie- und der Przeworsk-Kultur sind zudem massiv beeinflusst von der Latène-Kultur, wozu nun die Einflüsse der Jastorf-Kultur in der späten vorrömischen Eisenzeit hinzu zu sehen sind. Wie üblich werden die Jastorf-Einflüsse anhand der Keramik festgestellt, wie sie im Westen und bis nach Dänemark gefunden wird. An Metallobjekten geht es um Kronenhalsringe (vgl. oben S. 115). Die Verbindung mit den Wanderungen der germanischen Bastarnen im 3. Jahrhundert v. Chr. oder später mit den Vandalen sollte man aber wohl besser doch nicht sehen. Es zeigt sich, wie schon und später wieder angesprochen, wie komplex die Definitionen der Kulturgruppen sind und wie sich der Inhalt im Laufe der intensivierten Forschungsgeschichte so verändert, dass die Charakterisierung als eigenständige Kulturgruppe aufgeweicht wird. Das trifft auch auf andere Gebiete und Zeiten zu, beispielsweise in Norddeutschland südlich der Nordseeküste um und nach Chr. Geb. Ältere Definitionen lösen sich auf und erforderlich werden neue Zugänge und vor allem Überlegungen, was eigentlich die Konstrukte archäologischer Kultureinheiten bedeuten.
345 Machajewski 2014. 346 Michałowski 2010, 194 Zitat. 347 Grygiel 2015, 128 Abb. 1 mit mehr als 114 Fundstellen und 129 Abb. 2.
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Den nördlichen Mittelgebirgsraum zwischen Kelten und Germanen, zwischen Latène- und Jastorf-Kultur zur Zeit der römischen Angriffskriege ist eine Zwischenzone.348 Die Verbreitung der Sachgüter während der Spätlatènezeit wird in Gallien und im östlich anschließenden Mittelgebirgsraum beschrieben über Zügelführungsringe, Stabgürtelhaken, die schon weiter nach Norden reichen, und Lochgürtelhaken, die im Mittelgebirgsraum und im Norden in der Jastorf-Kultur vorkommen. Die Situation bei den Elbgermanen zeigt die Übergangszone, auch mit dem Gräberfeld von Großromstedt (vgl. S. 865).349 Deutlich wird das anhand der Verteilung von Münzen, von römischen Kleinbronzen der Münz-Typen Nemausus I und Lugdunum I, die bis an die Elbe in augusteischer Zeit vorkommen und eigentlich von „Kelten“ genutzt wurden, und der Bronzefibeln vom Typ Almgren 22 a, die zahlreich links des Rheins vorkommen und einige in Germanien mit ihren örtlichen Nachbearbeitungen.350 Die Einflüsse der Latène-Kultur aus dem Süden sind in Westfalen vielfältig zu registrieren.351 Das zeigen „laténoide“ Funde im Paderborner Raum, auch die Vorkommen von Drehscheibenkeramik sowie die Funde von Glasarmringen (der Phasen Latène C1, C1/ B2, C2 und in D, wohin die meisten zu datieren sind) und auch die Münzfunde, die nur bis zur Lippe nach Norden vorkommen. Die Bevölkerung in Westfalen war ansonsten anscheinend traditionsbewusst, nahm Neuerungen und Importe nur selektiv auf.352 Die Bedeutung der lokalen Gruppen ist zu betonen; Fremdes diente der gezielten Darstellung der eigenen Vorstellungswelt. Die Latènisierung war also nur gering, weiter im Norden herrschten deutliche Jastorf-Einflüsse vor.353 Es geht bei diesen Erörterungen jeweils um die gegenseitigen Berührungen und Überschneidungen von „archäologischen Kulturgruppen“, die schon vor längerer Zeit in der Forschung beschrieben worden sind. Es sollte nicht die Assoziation „Kelten“ oder „Germanen“ aufkommen; das wäre eine Art der ethnischen Deutung, der ich nicht zustimmen kann; denn es handelt sich um die Verteilung und Verbreitung archäologisch erfasster Sachgüter und Bestattungsbräuche, um nicht mehr. Blickt man in die andere Richtung, so beschreiben die Fundverteilungen bestimmter Sachgüter, dass sie überall in Mitteleuropa gefunden werden können und sich kaum sicher auf ein begrenztes Verbreitungsgebiet festlegen lassen, seitdem die Metalldetektoren Fundmassen liefern. Jedenfalls kann man mit diesen Sachen keine Migration beweisen.354 Die Vorkommen von einzelnen Stücken der Fibeln vom Spätlatène-Schema,
348 Peschel 2009 mit zahlreichen Karten. 349 Peschel 2005b. 350 Nach Völling 1994 und Bemmann 2007b. 351 Reepen 2018, 299 Abb. 4 Latènoide Funde in Westfalen, 302 Abb. 7 Drehscheibenkeramik, 303 Abb. 8 Glasarminge, 304 Abb. 9 Münzfunde. 352 Steuer 2007k. 353 Allgemein zu Jastorf und Latène Brandt 2001; R. Müller 1985. 354 Tonc 2018, 311 ff. mit Fig. 2 und 6, 318.
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beispielsweise die Kugelfibeln und andere Typen, und auch der Glasarmringe weit im Süden spiegeln nur generelle Bewegungen von Ideen und neuer Kleidungsmode sekundär in Pannonien und im Karpatenbecken. Überzeugend zeigt dies die Verteilung der Fibeltypen der sogenannten Variante K nach J. Kostrzewski, wie sie Michael Meyer kartiert hat, Fibeln mit geknicktem Bügel der Spätlatènezeit. Diese Fibeln kommen in Gräbern von Mittelschweden bis zum Main und zur Mosel im Westen sowie der Weichsel im Osten vor, in Siedlungen darüber hinaus bis zu den Alpen und in Böhmen, also europaweit.355 Bei genauerer Betrachtung des Bügels, des Nadelhalters und anderer Detaileigenschaften gibt es eine südskandinavische Variante oder eine südmitteleuropeische Form, d. h. Werkstätten in verschiedenen Landschaften. Ein Blick sei auf die gleichzeitige Situation westlich des Niederrheins geworfen,356 auch im Vergleich mit der östlichen Jastorf-Kultur. Das Gebiet gehört zu Nordostgallien und dem keltischen Kulturraum. Die typisch keltischen Glasarmringe der späten der Latène-Zeit kommen verdichtet im Niederrhein-Mündungsraum vor. Aufgrund dieses Verdichtungsraumes wird hier mit den Produktionszentren für Glasarmringe dort gerechnet, wo jeweils mehr als 50 Funde registriert worden sind. Es bietet sich an, die Produktionszentren am Niederrhein mit den weiteren Herstellungswerkstätten von Glasarmringen in Europa während der Zeit von Latène C-D zu parallelisieren. Der Beginn der Zirkulation am Niederrhein setzt in Latène C1 ein und setzt sich in C2 fort. Nach Massierung der Funde im Niederrheingebiet haben anscheinend alle Frauen einen Ring oder mehrere Glasarmringe getragen. Die jüngere Latènezeit im südlichen Thüringen gehört ebenfalls zum keltischen Kulturbereich, gekennzeichnet durch solche Glasarmringe und Münzen.357 Als ein kleines Fazit formuliere ich, dass nicht einmal Großgruppen wie die in den Schriftquellen genannten Germanen und Kelten in den archäologischen Kulturprovinzen überzeugend voneinander zu unterscheiden sind, jedenfalls in den Grenzund Berührungsregionen. Weitab im Norden und im Süden erst sind eine germanische und eine keltische Kultur Einheiten für sich und zeigen ihre Besonderheiten. Mit Blick auf die Publikation von 2017, die auf eine Tagung aus dem Jahr 2013 mit deutschen und polnischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Berlin zurückgeht, fasse ich meine Bedenken zum Begriff der „archäologischen Kulturen“ und ihrer jeweiligen Kartierung mit (nicht fassbaren) Grenzen zusammen.358 Die einzelnen Befunde zur Przeworsk-Kultur werden später berücksichtigt (vgl. S. 876). In der Einleitung der Herausgeber wird erläutert: Nördlich der Oppida-Kultur gibt es Kulturgruppen, die mit ihrer Definition und Beschreibung durchaus auf heterogene Forschungstraditionen zurückgehen. Anscheinend sind im östlichen Bereich die
355 M. Meyer 2001b, 162 Abb. 1 Karte der Gesamtverbreitung. 356 Roymans 2007; 2014, 58 Fig. 1 (Latène-Glasarmringe). 357 Seidel 2009b. 358 M. Meyer, Łuczkiewicz, Rauchfuß (Hrsg.) 2017, 9 ff.
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Großräume der Oksywie- und Przeworsk-Kultur recht gut abgrenzbar, im norddeutschen Raum weist aber Jastorf-Kultur eine nicht unumstrittene Einheitlichkeit auf, und in Skandinavien und in den Niederlanden verzichtet man auf eine eingängige Kulturbenennung (Abb. 11.1).359 Die Jastorf -Regionalgruppen sind anhand der Tracht- und Keramikformen zu beschreiben, und nur lose Verbindungen schaffen eine mögliche Einheit; in der Oksywie- und Przeworsk-Kultur demgegenüber gibt es erst (noch?) wenige Regionalgliederungen. Das Ausgreifen der Przeworsk-Kultur nach allen Seiten (sogar bis zur Kraghede-Gruppe in Nordjütland, eine These, die aber in Dänemark abgelehnt wird, vgl. S. 114) geht – so die Autoren – auf Migrationen zurück, am deutlichsten sei das in Nordthüringen zu fassen. Der ganze Raum sei durch die einheitliche Brandbestattung und die Angleichung der Trachtelemente gekennzeichnet, seit dem 3./2. Jahrhundert v. Chr. gab es überall Keramik mit facettierten Rändern. Ein großer Unterschied zwischen Süden und Norden ist aber, das ist zu konstatieren, dass es im Gegensatz zur südlichen Oppida-Kultur im Norden an klaren großen Zentren fehlt. Wenn es um die Zuordnung der Befunde geht, ist es gar nicht so einfach, eine eindeutige kulturelle Zuweisung vorzunehmen. Hier greift die überregionale Skala – das weiträumig Verbindende –, das auf seine Einheitlichkeit hin untersucht werden soll,
heißt es im zitierten Sammelband. Die regionübergreifende Einheitlichkeit soll also an manchen facettierten Keramikformen fassbar sein. Was ist das kulturgeschichtlich gesehen? Ich frage mit Blick auf die vergangenen Lebensverhältnisse, was derartige Formzeichen bei Keramikgefäßen denn tatsächlich bedeutet haben könnte. Vielleicht war es nur eine landschaftsübergreifende Modeerscheinung. Plausibel ist der Einfluss regional vorhandener Przeworsk-Formen auf die Entwicklung des Großromstedter Keramikinventars Mittel- und Ostdeutschlands. Die Unterschiede der Gruppen werden nicht bei der sogenannten Fein-, sondern eher bei der Grobkeramik, der gröberen Gebrauchskeramik, erkennbar; und davon ausgehend kann eine regionale Binnengliederung erarbeitet werden, so wird gesagt. (Dabei frage ich dann wieder, wozu diese Gliederung dann gut sein könnte, was kann sie anhand von Unterschieden an der Haushaltskeramik kulturgeschichtlich aussagen?) Die Durchsicht der Beiträge in dem zitierten, höchst verdienstvollen Tagungsband zur Przeworsk-Kultur aus dem Jahr 2017 regt an, noch einmal über die Kulturbegriffe nachzudenken. Einerseits beeindruckt die intensive Materialkenntnis, was die Keramik aus Gräberfeldern und Siedlungen in weiten Teilen Europas angeht, andererseits ist zu erkennen, dass die Zuweisung zu einer Kultur mit zunehmendem Quellenbestand ständig komplexer bzw. auch komplizierter zu werden scheint. Die Kennzeichen der Przeworsk-Kultur, nicht nur in der Keramik, breiten sich noch in
359 Steuer 2015a, 421 Abb. 4 nach Müller 2007, 266 Abb. 1.
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2 Abb. 11: 1. Kulturen und Kulturgruppen im nördlichen Mittel- und Osteuropa während der jüngeren vorrömischen Eisenzeit. 1 Jastorf-Kultur, 2 Okzywie-Kultur, 3 Przeworsk-Kultur, 4 Spätlatène-Kultur. 2. Expansion der Wielbark-Kultur (B2/C1-C1a, 160/180–210/230) vorbei an der Przeworsk-Kultur: a Przeworsk-Kultur, c Wielbark-Kuktur. Die Pfeile f geben die Expansionsrichtung an, die Punkte h Waffengräber der Przeworsk-Kultur.
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der vorrömischen Eisenzeit aus dem östlichen Mitteleuropa nach allen Seiten hin aus, nach Westen bis zum Rhein, nach Norden über die Ostsee bis nach Nordjütland und ebenso nach dem Südosten (vgl. oben Abb. 8.1). In derselben Weise wachsen die Einflüsse der Jastorf-Kultur nach Norden und vor allem nach Osten. Die Kulturerscheinungen durchdringen sich. Geht man von „Wanderungen“ aus, dann müsste man bei dieser Situation von einer gegeneinander gerichteten Bewegung von Leuten ausgehen. Was bleibt, ist der Unterschied zwischen der „keltischen“ mit den Zentralorten der Oppida und den nördlich anschließenden Kulturen ohne Latène-Kultur diese Kennzeichen, die man als „germanisch“ anspricht. Und das ist wiederum eine ethnische Deutung archäologischer Kultur- und Formenkreise, ein Topos, eine vorgefasste Meinung, die forschungsgeschichtlich belastet ist. Die Ausbreitungen der Kulturerscheinungen werden in der Regel mit Wanderungen bzw. allgemein mit einer Mobilität von Leuten erklärt. Trotz der verfeinerten chronologischen Phasenbildung360 mit Abschnitten von teilweise nur 25 (bis 50) Jahren Dauer passt dazu das Modell von Wanderungen nicht, wenn diese mehrere Generationen lang gedauert haben. Die Ausbreitung von Erscheinungen, die einer Kultur zugeordnet werden, geschieht anders; welche Art von Jahrzehnte dauernder Kommunikation das jeweils gewesen ist, ist noch nicht befriedigend erklärt worden. Es mögen neben den immer wieder genannten Heiratsbeziehungen zwischen den Eliten andere Kontakte gewesen sein, bei denen es sich nicht um Wanderungen von Völkerschaften, sondern sicherlich nur von einzelnen kleinen Gruppen gehandelt haben wird. Dabei ist zu überlegen, was als Sachgut denn auf diese Weise verbreitet wurde. Die Trageweisen bestimmter Fibeltypen, die von Handwerkern gefertigt worden sind, spiegeln eine andere Kontaktaufnahme, als beispielsweise Keramikgefäße mit facettierten Rändern; denn diese Keramik wurde entweder bzw. teilweise von Frauen in jeder Siedlung produziert, die ihre Kenntnisse und Moden an andere Orte mitgebracht bzw. mitgenommen hatten; oder aber auch die normierten Gefäßformen und -verzierungen, wie Aufrauhungen, wurden in zentralen Töpfereien hergestellt, wiederum dann wohl auch von Handwerkern und nicht mehr im Einzelbetrieb auf den Gehöften der Dörfer. Es ist die Forschungsgeschichte, die das Denken heute noch bestimmt; und die einmal vor Jahrzehnten definierten, meist auf kleinere Räume konzentrierten, Kulturen verlieren ihre strengen Beschreibungsmuster einerseits und andererseits auch ihren begrenzbaren Verbreitungsraum. Für die Kragehulgruppe in Nordjütland hat man sich inzwischen schon gelöst von einer Beziehung zur Przeworsk-Kultur, und für andere Gebiete wird das folgen. Es wurde 2017 registriert, dass sich die Jastorf-Kultur in zahlreiche kleinere Gruppierungen aufgelöst hat und die Bezeichnung Jastorf nur noch als Verständigungshilfe eine Art Zusammenfassung beschreibt. Die in den jetzigen Jahrzehnten intensivierte
360 Rogalski 2017, 394 Abb. 2.
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Forschung im östlichen Mitteluropa wird für die Przeworsk- und die Wielbark-Kultur dieselbe Entwicklung nehmen und für Aufgliederungen sorgen. Es ist an der Zeit (vgl. auch oben S. 91 f.), die traditionellen Kulturen mit den genannten Namen, von der Jastorf- bis zur Przeworsk-Kultur, neu zu beschreiben und auch neue Bezeichnungen zu finden. Parallel dazu geht es um die chronologische Differenzierung, die fortlaufend, mathematisch begründet, immer kleinteiliger wird, wobei verloren geht, was eigentlich solche Stufen und Phasen bedeuten können (vgl. auch dazu oben S. 40 und 109). Andernorts zitierte ich (vgl. unten S. 452), dass die Unterscheidung zwischen Przeworsk- und Wielbark-Kultur bei gleichzeitiger Existenz nebeneinander anhand der bisherigen Definitionskriterien nur eine statistische ist, mit jeweils höheren Prozentanteilen bei der einen oder der anderen Kultur, was aus der Forschungsvergangenheit folgt und nun gegenwärtig etwas willkürlich wirkt. Das gibt noch dadurch verstärkt zu denken, wenn in einigen Siedlungen Elemente der Przeworsk-Kultur mit Sachgütern der leicht jüngeren Wielbark-Kultur zusammen vorkommen, und zwar in denselben Hausbefunden. Ähnliche Befunde gibt es zudem auch weit im Westen, wo Przeworsk-Keramik mit rhein-weser-germanischer Ware gemeinsam in Grubenhäusern gefunden worden ist, beispielsweise in der Siedlung Mardorf (vgl. S. 228) (vgl. oben Abb. 8.2). Die sorgfältig erarbeiteten und beschriebenen Befunde belegen den akribischen Auswertungsstand archäologischer Grabungsergebnisse, was jedoch nicht dazu führen sollte, alte Deutungsmodelle mit Hilfe von noch so detaillierten Erklärungsversuchen beizubehalten, sondern der neue materialintensive Forschungsstand sollte es erlauben, neue Modelle zu entwickeln. Die ethnische Gleichsetzung sogenannter Kulturkreise mit Namen von Völkerschaften, die aus der Ereignisgeschichte übernommen wurden, hat sich als methodischer Irrweg erwiesen, weil archäologische Sachverhalte und schriftlich überlieferte Gruppenbezeichnungen auf derart verschiedenen Daseinsebenen zu verorten sind, dass eine Parallelisierung keinen Sinn hat (vgl. dazu S. 27). Dasselbe trifft für die Benennung von Kulturen zu, denn im Hintergrund steht weiterhin das Denken in Völkerschaften, die beispielsweise wanderten und in irgendeiner Weise eine räumlich größere Gemeinsamkeit gebildet haben. Eine Kultur zu definieren, erfolgt also auf der Basis dieser alten Denkstrukturen, heute oft unbewusst, aber destotrotz nur mit einem begrenzten, unbefriedigenden Ergebnis. Ebenfalls an anderer Stelle habe ich betont (vgl. S. 94), dass mit Zunahme der Sachgüter, heute vor allem durch den Einsatz der Metalldetektoren, auch die alten Verbreitungskarten oftmals obsolet werden, weil die meisten Typen der Sachgüter schließlich nicht mehr lokal konzentriert, sondern überall vorkommen: früher begrenzte Verteilungsgebiete lösen sich auf. Es müssen schon besondere Gründe sein, wenn tatsächlich einzelne Objekte konzentriert in einem kleineren Areal vorkommen. Dazu gibt es später Belege, beispielsweise bei den Goldbrakteaten (vgl. S. 1207).
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In den jüngeren Darstellungen in der Forschungsliteratur ist oftmals das Unbehagen zu spüren, die Ahnung, dass der gegenwärtige Zustand aufgrund der archäologischen Quellenlage nicht mehr zielführend ist. Die komplette Ausgrabung von Siedlungen (oder auch von Gräberfeldern), die sich über viele Hektar erstrecken, kennzeichnet die andersartige Größenordnung der archäologischen Feldforschung. Dasselbe bezeugen die weitläufigen Ausgrabungen in den Mooren mit Heeresausrüstungen. Der neue, noch nicht ausgereifte Versuch, anhand von Isotopen- und DNAAnalysen Mobilitäten und Wanderungen erkennen zu können, hat für die Jahrhunderte um und nach Chr. noch nicht über Einzelbefunde hinaus grundsätzlich andere Beweise geliefert. Das Zahlenverhältnis zwischen vielen hundert Gräbern und ebenso vielen Dutzend von Siedlungen, hinter denen große Mengen an Siedlern bzw. Bewohnern stehen (und gewandert sein sollen), und den Analysen nur an einzelnen Bewohnern, ist so ungleich und bietet daher keine statistisch brauchbaren Ergebnisse, weil z. B. hunderte von Serien-Auswertungen noch kaum möglich sind. Diese Erkenntnis, dass die Kulturkreis-Beschreibungen eigentlich überholt sind und neu bedacht werden müssen, ist auch im Katalog „Saxones“ 2019 nun nachlesbar, wobei Argumente von 2013 aufgegriffen werden.361 Jan Schuster meint: Als geradezu charakteristisch für die germanische Welt kann die politisch-ethnische Instabilität gelten. Nicht nur gehörten Migrationen im Grunde zum Alltag, was zu Verschiebungen und Veränderungen der Siedlungsgebiete führte, auch die Stämme und Stammesgruppen unterlagen einem permanenten Wandel.
Es geht weiter: Namen verschwinden, neue kommen seit dem 3. Jahrhundert auf. Langobarden werden im Zusammenhang mit den Markomannenkriegen in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts letztmalig erwähnt, dann erst erscheinen sie wieder am Ende des 5. Jahrhunderts an der mittleren Donau. Was sind eigentlich Rhein-WeserGermanen oder Elbgermanen oder Nordseeküsten-Germanen heute: Die Grenzen zwischen diesen Gebieten lassen sich nicht scharf ziehen und waren über die Zeit hinweg nicht konstant; auch sind nur innerhalb kurzer Zeiträume verfolgbare Bevölkerungsverschiebungen oder kleinräumige Migrationen mit den archäologischen Kulturbegriffen kaum darzustellen. So sind etwa im Rheinland in der Zeit kurz vor der Zeitenwende elbgermanische Elemente im archäologischen Fundstoff spürbar, die dann von rhein-weser-germanischen Hinterlassenschaften abgelöst werden.
Ähnliches ereignete sich in Westthüringen, wo auf eine elbgermanisch dominierte Besiedlung mit Przeworsk-Kultur-Einflüssen eine rhein-weser-germanische Periode folgte, ab dem ausgehenden 2. Jahrhundert dann wieder eine elbgermanische Besiedlung. Diese Beobachtungen sind Hinweise darauf, dass diese Kulturräume vor über einem halben Jahrhundert von der Forschung definiert und ihre Ausdehnung beschrie361 Schuster 2019, 50 Zitate; Rasbach (Hrsg.) 2013: Beiträge.
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ben worden sind; eine erneute Überprüfung wird notwendig sein; so meint den auch J. Schuster: Archäologische Kulturen sind Hilfskonstruktionen, und es liegt in ihrer Natur, dass sie sich mit den von den Schriftquellen überlieferten ethnischen Einheiten aus methodischen Gründen nicht in Deckung bringen lassen,
eine Zusammenfassung, die S. Brather schon vor einigen Jahre im RGA formuliert hat.362
362 Brather 2001a und 2004a ausführlich, so jetzt auch Schuster 2019, 53.
6 Die „Völkerwanderung“ Die in meinem Buch geschilderte Epoche in Germanien endet – wie von Historikern gesagt wird und worauf hingewiesen wurde – mit der „Völkerwanderungszeit“.363 Damit ist die Zeitspanne gemeint von 375/376, als die Goten vor den Hunnen nach Westen flohen, bis 568, als die Langobarden von Pannonien, dem heutigen Ungarn, aus nach Italien zogen und dort ein Königreich gegründet haben. Das sind etwa zwei Jahrhunderte. Doch gibt es derartige Wanderungen oder Züge von größeren Krieger verbänden mit ihrem Anhang schon lange vorher und auch noch später. Für unsere Epoche sind dazu auch die Züge der Kimbern aus Jütland gegen das Römische Reich im späten 2. Jahrhundert v. Chr. zu nennen, dann die Wanderung der Sueben unter ihrem Anführer Ariovist aus dem mittleren Deutschland ins östliche Gallien, die von Caesar besiegt und vernichtet wurden, weiterhin die Kriegszüge und Siedlungsraum verlagerungen der Markomannen, auch natürlich die Beutezüge der in der Antike mit den Sammelbezeichnungen genannten Franken und Alamannen, die noch im 3. Jahrhundert mehrfach ins Römische Reich eindrangen und schließlich dort Gebiete besetzten. Dann folgten im 5. Jahrhundert die Bildung des Merowingerreiches und weiterer Königreiche auf dem Boden des ehemaligen Römischen Reiches. Schon Wolfgang Lazius (1514–1565), der humanistische Gelehrte in Wien, hatte von migratio gentis, „Völkerwanderung“, gesprochen und zugleich auch die Wanderungen der Kelten unter diesem Begriff subsumiert. Für eine spätere, nachfolgende Epoche kann man auch die Wanderungen der Awaren und das Vordringen der Slawen nach Westen sowie die Züge der Wikinger als solche „Völkerwanderungen“ betrachten. Zahlrei che Monographien über die Germanen verfahren denn auch so und beginnen ohne weitere Reflektionen mit den Germanen zu Caesars Zeit und enden mit der Wikin gerzeit.364 Betont sei, dass es sich zumeist um länger dauernde Prozesse bei diesen Wanderungen gehandelt hat, nicht um auf das Jahr konzentrierte Ereignisse. Schon die Wanderung der Kimbern hat rund 20 Jahre gedauert, die Einwanderung von Ger manen nach Südwestdeutschland zwei Jahrhunderte und länger. Die namengebende Völkerwanderung zwischen 375 und 568 denn auch fast 200 Jahre. In die Völkerwanderungszeit greife ich mit meiner Erzählung nur dann aus, wenn eine klare Kontinuität aus der Römischen Kaiserzeit weiter besteht; denn wenn die frühe Völkerwanderungszeit bzw. Merowingerzeit umfänglich berücksichtigt werden sollte, würde das den Rahmen sprengen. Nun muss der Archäologe aber sagen, dass Wanderungen, auch umfangreiche, und Kriege eigentlich keine archäologischen Spuren hinterlassen. Das betrifft auch Umsiedlungen von Familienverbänden und die Flucht kleiner Gruppen aus politischer Not. Es fehlt noch ein überzeugender methodischer Zugang, solche Hinweise im Fund 363 Springer 2006; Steinacher 2017b; sehr ausführlich Mischa Meier 2019. 364 Bleckmann 2009; Krause 2002. https://doi.org/10.1515/9783110702675-006
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stoff zu entdecken. Sogar der Nachweis von Schlachtfeldern bleibt oftmals umstritten (vgl. unten S. 759). Menschen waren demgegenüber immer auch Migranten. Dazu bietet die historische Überlieferung zahllose Vorgänge. Ob Wanderungen aktiv erfolg ten oder auch passiv, als Vertreibungen, wird oftmals geschildert. Wohl deshalb ist die archäologische Forschung darauf fixiert, solche Bevölkerungsverschiebungen auch in ihrem Quellenstoff zu entdecken. Wie bei der ethnischen Deutung und der Suche nach archäologisch fassbaren historischen Völkerschaften ist der Wunsch, Wande rungen aufzudecken, in den Erfahrungen aus der eigenen Geschichte begründet. Auch davon sollte man sich lösen bzw. erst dann zugreifen, wenn ein archäologischer Nachweis möglich ist, was natürlich nicht ausgeschlossen ist. Man sollte nüchtern überlegen, welche Fragestellungen archäologische Quellen überhaupt beantworten können. Wenn der methodische Zugriff begründet werden kann, dass auf die Frage nach Stammesgruppen und Völkerwanderungen keine unmittelbare Antwort von der Archäologie zu erwarten ist, dann wird es notwendig, zu verdeutlichen, welche anderen Sachbereiche beschrieben und beantwortet werden können. Da aber vor, während und nach der hier zu behandelnden Epoche sogenannte „Völkerwanderungen“ unabhängig von der sogenannten „Völkerwanderungszeit“ stattgefunden haben, soll kurz über diesen Begriff gesprochen werden, der ebenso wie der Begriff „Germanen“ gegenwärtig ebenfalls dekonstruiert wird und anderen Deutungen Platz macht. Zur „Völkerwanderung“ des 3. bis 6. Jahrhunderts sind in den letzten Jahren mehrere Schriften erschienen, schließlich parallel zu den Flüchtlings strömen, die im Jahr 2015 Deutschland erreichten, und die eine Rückwirkung auf die Erklärung der früheren historischen Vorgänge haben.365 Das erste Heft zu diesem Thema der Zeitschrift „Archäologie in Deutschland“ ist 2005 von zwei Archäologen zusammengestellt worden,366 die dazu Beiträge von Historikern gewonnen haben; das zweite Buch ist ebenfalls von zwei Archäolo gen 2011 geschrieben worden,367 die aber mehr als die ersten die historische Über lieferung selbst einbezogen haben; und die Verfasser des dritten Heftes, meist Wissenschaftsjournalisten,368 haben überwiegend die historischschriftliche Überliefe rung nacherzählt und kaum archäologische Quellen berücksichtigt. Der Begriff „Völkerwanderung“ ist die schlichte Übersetzung der lateinischen Bezeichnung migratio gentis. Nun ist zu überprüfen, was hier mit migratio und vor allem mit gens gemeint gewesen ist. Im 19. Jahrhundert, als die Nationalstaatenbil dung für die eigene Gegenwart so bedeutend war, wurde die alte Bezeichnung von „Völkern“ wieder aufgegriffen, und man stellte sich unter den wandernden Völkern Stämme vor, deren Mitglieder – nicht nur Krieger, sondern Männer, Frauen, Kinder, 365 Knaut, Quast (Hrsg.) 2005; Fehr, v. Rummel 2011; Die Völkerwanderung. Germanen gegen Rom, GEO Epoche 2015; Springer 2006; Pohl 2002; Rosen 2002; M. Meier 2016; jetzt M. Meyer 2019. 366 Knaut, Quast (Hrsg.) 2005. 367 Fehr, v. Rummel 2011. 368 Die Völkerwanderung, Germanen gegen Rom. GEO Epoche 2015.
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Alte und Junge – mit ihrem gesamten beweglichen Besitz samt Vieh auf Planwagen und Karren in langen Trecks in neue Länder zogen. Dies ist bildlich immer wieder in den Publikationen dargestellt worden, noch bis in gegenwärtige Schulbücher, und spiegelt diese alte Auffassung von wandernden Völkern. Während M. Knaut und D. Quast nicht auf diese Bildnisse zurückgreifen, nur zeitgenössische Bilddarstellun gen zum Beispiel auf Mosaiken wählen, haben H. Fehr und Ph. v. Rummel einige his torische Gemälde und Stiche ausgewählt und als wissenschaftlich überholt erläutert. Im Heft der Zeitschrift GEO von 2015 wird das aber nicht deutlich gesagt. Vielmehr stammt schon das Titelbild des Heftes aus dem Jahr 1890, und weitere Bilder dienen tatsächlich zur Illustration, ohne ihre überholte Auffassung zu erwähnen. Die Ent scheidung, nun Bildnisse zu erfinden in Gestalt von (gezeichneten) Mosaiken, löst diese Diskrepanz ebenfalls nicht. Auch die „realistischen“ SchwarzWeißZeichnun gen mit den unendlich langen Trecks von Menschen und Wagen bilden keine Kriegs züge ab, sondern wollen die Assoziation zu den Flüchtlingsströmen des Jahres 2015 erzeugen.369 Wie in diesem Band beschrieben, führt das Bild von wandernden Völkern nicht zu einer realistischen Vorstellung darüber, was sich damals tatsächlich ereignet hat. Die Auswertung der archäologischen Quellen und erneut der schriftlichen Überliefe rung belegt, dass es zwar Wanderungen, Mobilitäten, von größeren Menschenmengen gegeben hat. Doch waren dies in erster Linie gut gerüstete und geübte Kriegerverbände, die Raubzüge der Beute wegen unternahmen, die sich als Militäreinheiten zum Beispiel den Römern um Sold andienten und die erst in einer Endphase des Gesche hens Land besetzten oder sich zuweisen ließen. Dass die Kriegergruppen auch von Familienangehörigen, von Frauen, begleitet wurden, war zu allen Zeiten üblich, in denen Söldnerverbände die Kriege zu führen hatten, auch während des Dreißigjäh rigen Krieges. Erinnert sei aber auch daran, dass sogar die Legionen des Varus vor der Schlacht im „Teutoburger Wald“ im Jahr 9 n. Chr. im Tross von Frauen, nicht etwa nur Marketenderinnen, und Kindern sowie Trossknechten begleitet wurden und dass Varus schließlich in seiner Bedrängnis die Wagen des Trosses verbrennen ließ.370 Der humanistische Gelehrte, um darauf zurückzukommen, Wolfgang Lazius (1514–1565) aus Wien publizierte 1557 eine Abhandlung De aliquot gentium migrationibus (Über einige Wanderungen von Völkern). Von ihm wurde die Wortkombination mit dem entsprechenden Inhalt migratio gentis von der Geschichtswissenschaft in die bürgerlichen Geschichtsvorstellungen übernommen, was bis heute weiter wirkt. Parallel zu W. Lazius haben darüber auch schon geschrieben: H. Moller 1563 (Oratio de origine, mutationibus et migrationibus gentium quae Germaniam tenuerunt) und auch die Humanisten Beatus Rhenanus 1531 sowie J. Bugenhagen (gestorben 1592) (Fragmentum de migrationibus gentium in Occidentis imperio). Das deutsche Wort
369 GEO Epoche 2015, 28 f. 370 Goetz, Welwei 1995, Zweiter Teil, 56 f. (Cassius Dio 56, 20, 2; 21. 1).
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„Völkerwanderung“ ist zuerst wohl 1778 gebraucht worden als Bezeichnung „großer Bewegung der germanischen Völker am Ausgang des Altertums“, der „sogenann ten Völkerwanderung“ (M. I. Schmidt, 1736–1794). Auch Herder sprach 1791 von der „langen Völkerwanderung“, und Schiller verwendete 1790 den Begriff als Epochen bezeichnung. Im 19. Jahrhundert wurden Wort und Inhalt allgemein gebräuchlich.371 Manche Wissenschaftler sehen die Jahrhunderte der Völkerwanderungszeit an als den Weg zur Gründung „germanischer Reiche auf römischem Reichsboden“, also nicht als Züge von Kriegerverbänden oder Völkerverschiebungen, sondern als politi sche Reichsbildungen, als Stammesstaaten, womit man also wieder im Denken bei den Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts angekommen ist. Für die Allgemeinheit versuchte der Historiker Christian Scholz auf der Home page der Gerda Henkel Stiftung L.I.S.A. am 10.9.2017 in einem Interview „Der Begriff ‚Völkerwanderung‘ ist irreführend“ eine neue Beschreibung des Phänomens. „Völker“ dieser Zeit waren – so seine Erläuterung – keine Abstammungsgemeinschaften mit gemeinsamen Sitten und Bräuchen, sondern plurale und äußerst heterogen zusam mengesetzte Verbände, die in permanenter Wechselbeziehung zu ihrer Umgebung standen. Er meint, die Beeinflussung der Barbaren, der NichtRömer, durch die Römer hätte zu einer Romanisierung der Barbaren geführt. Er übersieht dabei aber, dass in manchen kulturellen und technischen Bereichen auch bedeutende Transfers von den „Germanen“ zu den Römern zu konstatieren sind, so wie auch Keltisches die römi sche Welt beeinflusst hat. Das wird von mir später anhand archäologischer Quellen noch erläutert (vgl. S. 1147). Erinnert sei auch daran, dass vor allem die Deutschen von Völkerwanderung spre chen, während die französischen Nachbarn von invasions barbares und in Italien von invasioni barbari reden und unterschwellig meinen, die kulturlosen und primi tiven Barbaren hätten die römische Zivilisation zerstört. Die Blickrichtung ist also entgegengesetzt, die Deutschen bzw. „Germanen“ blicken nach Westen und Süden, während die romanischen Länder nach Norden und Osten schauen, woher die „Bar baren“ gekommen waren. In Deutschland – so Christian Scholz – sah man früher die „wandernden Germanen“ positiv; sie wurden mit den Deutschen gleichgesetzt, und zogen gegen das dekadente Rom und brachten den Völkern die Freiheit vom römi schen Joch. Heute sagt die Wissenschaft, nicht Völker wanderten, sondern bewaff nete Heeresverbände, die zwar oftmals im Tross Frauen und Kinder mitführten, aber deshalb noch lange keine Völker darstellten. Es waren polyethnische Verbände, die sich permanent veränderten, indem sie alle die Krieger aufnahmen – woher sie auch immer kamen –, die sich dem Anführer zu und unterordneten. Gefragt wird natürlich auch nach den Gründen für diese Mobilitäten. Chr. Scholz nennt das Pushfaktoren, zu denen Armut und Perspektivlosigkeit in der Heimat gehörten, und demgegenüber lockten der Wohlstand und die Stabilität in den Zielländern, die Flüchtlinge und
371 M. Springer 2006.
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Migranten anzogen. Gesprochen wird immer wieder von Überbevölkerung, von Kli maverschlechterungen und Hungersnöten in Germanien. Doch das wird im Folgen den überprüft und als Erklärung für die Heereszüge abgelehnt werden; auch wenn der alte Topos von Überbevölkerung durch die neuen Ausgrabungserfolge eine gewisse Bestätigung erfahren (vgl. S. 697). Analogien seien anachronistisch, so Scholz. Spät antike „Völkerwanderungen“ und heutige Flüchtlingsströme zu vergleichen, sei eine Fehleinschätzung. Damals waren es keine Völker, die wanderten, und auch heute sind das keine Völker, die wandern. Analogien sagen, viele der Barbaren haben im Laufe der Zeit die Herrschaft über die Regionen im Römischen Reich übernommen, in die sie eingewandert sind. Gefährlich ist der Vergleich von Germanen, die ins spätan tike Römische Reich eingedrungen sind, mit der Einwanderung von Muslimen bzw. Türken ins heutige Europa. Diese politische Instrumentalisierung der Geschichte durch die Politik richtet Schaden an. Der Althistoriker Alexander Demandt hat unter dem Titel „Untergang des Römi schen Reichs. Das Ende der alten Ordnung. Das Römische Reich war fremdenfreund lich. Doch Einwanderer ließen sich nur in überschaubaren Zahlen integrieren, das Machtgefüge verschob sich“ dazu in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 22. Januar 2016 Stellung genommen.372 Sein Ansatz erstaunt; denn geschichtstheore tisch ist seine These überholt und geschichtspolitisch fragwürdig. Für das Ende des Römischen Reichs sind nicht die Germanenhorden und unüberschaubare Zahlen von Zuwanderern verantwortlich, was als nur monokausale Erklärung schon abzulehnen ist. Vielmehr ist an ein komplexes Geflecht unterschiedlicher Faktoren zu denken, weil das Römische Reich schwächelte, die Bevölkerungszahlen stark zurückgingen und die Armee nicht genug Rekruten fand, hatten Germanen eine Chance. Kriegs technisch waren die Römer immer überlegen, aber durch den Söldnerdienst und den Zugriff auf römische Waffen waren die „Germanen“ nun auf gleichem Niveau. Sie modernisierten ihr Kriegswesen gewissermaßen mit römischer Entwicklungshilfe, und die römischen Legionen übernahmen nicht nur aus Germanien beeinflusste Aus rüstungen, sondern auch die andere Kampfesweise. A. Demandt meinte: Es gab auch in der Antike fremdenfeindliche Literatur und Massaker sowie Mordaktionen, die sich gegen „Germanen“ richteten, die man aber nicht mehr los wurde und auf die man auch nicht verzichten konnte, denn sie stellten die besten Kontingente der eigenen Armee. Die Regierung verlor die Kontrolle über die Provinzen, das staatliche Waf fenmonopol war nicht aufrecht zu erhalten. So findet man in der Überlieferung die Klischees: Die Verkehrswege zu Land wie zu Wasser wären nicht mehr sicher, der für den Wohlstand wichtige Fernhandel erlahmte. Naturalwirtschaft machte sich breit. Die Wasserleitungen zerfielen, die Bäder konnten nicht mehr beheizt, Straßen und Brücken nicht mehr ausgebessert werden. Was war der Grund? Die Dekadenz einer
372 A. Demandt, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 27 vom 22. Januar 2016; auch Demandt 1984/2014; 2007b.
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im Wohlstand bequem gewordenen Gesellschaft, die das süße Leben des Einzelnen erstrebte, aber den vitalen und aktiven Germanenhorden nichts entgegenzusetzen hatte, als diese über die Grenze „strömten“. (Diese Stimmung und die Kritik der römi schen Gesellschaft liest man doch auch schon bei Tacitus, weshalb er die Germania auch geschrieben hat). Überschaubare Zahlen von Zuwanderern ließen sich inte grieren. Sobald diese aber eine kritische Menge überschritten und als eigenständige handlungsfähige Gruppen organisiert waren, verschob sich das Machtgefüge, die alte Ordnung löste sich auf. Man vergisst bei solchen Aussagen aber leicht, dass sowohl der Frankenkönig Chlodwig als auch der Gotenkönig Theoderich sich als römische Amtsträger gesehen haben, die im System der Römischen Reichs dieses gewisserma ßen als Konsuln weiterführen und damit eben nicht ablösen wollten. Jüngst 2019 hat sich R. Steinacher zum Thema Untergang oder der Transforma tion des Römisches Reichs sowie zum „Wesen“ der Völkerwanderung und der Völ kerwanderungszeit geäußert.373 Zitiert werden Zeitungsbeiträge von A. Demandt und ergänzend von J. S. Nye „Is America Like Rome?374 Zu den von mir zitierten Beitrag von A. Demandt bringt R. Steinacher weitere Äußerungen, so mit dem Titel „Lernen vom alten Rom: Zuwanderer brachten den Untergang“375 und ein Interview in der Zeitung ‚Die Welt‘. Die Beiträge sind in englischer Sprache, und so zitiere ich sie auch: He asserted that the Empire encouraged immigration and welcomed foreigners. This ‚xenophilic attitude‘, Demandt stated, was one of the reasons for its downfall: Foreign Barbarians entered the empire, destroyed the Roman culture from the inside an ushered the Dark Ages. The Roman ‚culturebearing bourgeoisie‘ (kulturtragendes Bürgertum) had been destroyed by Barbarian hordes entering in great quantities, and that what culture remained was monopolized by clerics.
Und so etwas, meint A. Demandt, ereignet sich heute wieder. Er bleibt beim Vergleich zwischen der Völkerwandungszeit und der gegenwärtigen Flüchtlingskrise. Der Unterschied sei, dass heute die Flüchtlinge unbewaffnet kommen. Die Bücher von Peter Heather und Bryan WardPerkins seit 2005 richten sich gegen die These von der „Transformation of the Roman World“,376 wie eine Forschergruppe vor einigen Jahren diskutiert hat: Rom fiel nicht nur, sondern wurde von nordischen und hunnischen Barbaren ermordet. Es wäre, so WardPerkins, die heutige akademische Elite, die von einer „friendly transition“ sprechen würde. Ausführlich wird der Journalist W. Kaufmann mit seinem Artikel „Wenn Impe rien sterben. Hedonismus, Egalisierung, Überalterung: Die spätrömische Dekadenz und ihre heutige Rezeption“ zitiert.377 Dieser meint, eine postmoderne Forschungs gemeinschaft würde systematisch die archäologischen Fakten verstecken, um die 373 Steinacher 2019, zuvor schon 2017b. 374 J.S.Nye, The Huffington Post, 21.4.2015. 375 A. Demandt, Neue Zürcher Zeitung 31.1.2016; Die Welt 11.9.2015. 376 Wood 2006. 377 W. Kaufmann, Junge Freiheit 52, 2016 (www.jungefreiheit.de:Archiv [22.1.2017]).
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Öffentlichkeit über die realen Dimensionen des Untergangs des Römischen Reichs zu täuschen. W. Steinacher bringt die Realitäten: Es gab Barbaren innerhalb und außer halb des Römischen Reichs. Rund 40 Einquartierungen von Germanen im Reich sind für die Zeitspanne zwischen Augustus (27 v. bis 14 n. Chr.) und Theodosius (gest. 395) überliefert. Viele Germanen dienten in der römischen Armee, und viele erhielten das römische Bürgerrecht. Zahlreiche Germanen lebten beiderseits der Grenzen unter vergleichbaren Bedingungen; es hat niemals eine Masseninvasion von Germanen gegeben, trotz der Wandlungen im 3. und 4. Jahrhundert. Diese These folgte aus den antiken Quellen, die von den modernen Historikern schlicht übernommen wurde. Meist haben römische Herrscher barbarische Gruppen „eingeladen“; so auch findet sich das in der Geschichte der Goten unter Alarich und seinen 20 000 Kriegern, die erst für den Kaiser Theodosius als Foederaten in der Schlacht von Frigidus im Jahr 394 kämpften. Ein anderer Aspekt ist, dass nach den Quellen die antiken Völkerschaf ten weniger die ethnischen Unterschiede sahen als in erster Linie plurale Identitä ten.378 Die antiken Quellen sahen als Gründe für die Migrationen Überbevölkerung, das kalte Klima und deshalb eine hohe Geburtenrate, was aber ebenfalls altbekannte Topoi gewesen sind. Ammianus Marcellinus sprach von den zahllosen Schwärmen, die die römischen Provinzen „überfluteten“, und er griff bis auf Herodots Topoi bei den Persern zurück. Gesehen werden sollte, dass die Fremden – also Germanen bei spielsweise – nicht wirklich Fremde waren; denn es gab Kontakte über mehr als 200 Jahre. Es war die Anziehungskraft des Imperiums für Leute ärmerer, andersartiger Gesellschaften im Norden und Osten; und es gab Agreements mit den germanischen Anführern, Krieger wurden rekrutiert. Römische Offiziere waren auch Sklavenhänd ler, fingen und verkauften Männer und Frauen in den Dörfern jenseits der Grenze, weil von den Römern aus gesehen Barbaren keine menschlichen oder bürgerlichen Rechte besaßen. Gleichzeitig importierten oder plünderten germanische Eliten römische Prestigegüter. Zu beachten ist, dass provincia zuerst ein Verwaltungsbegriff war,379 der die Handlungen von Magistraten meinte, und erst später zu einem technischen Begriff für ein Territorium unter einer römischen Regierung wurde. In griechischen Inschriften wurde für das lateinische provincia der Begriff ethnos gewählt, also für die Bewohner eines Territoriums, was einen ganze anderen Sinn vermittelt, als was in der modernen archäologischen und historischen Forschung unter Ethnos und Ethnizität verstanden wurde. Im Laufe des 5. Jahrhunderts verlor der Rhein seine Funktion als Grenzfluss. Dazu wurde stattdessen eher die Loire zur neuen Grenze zwischen Römern und Barbaren. Von 3. zum 4. Jahrhundert verlor römische Herrschaft an Bedeutung, lokale Herrscher wurden wichtiger.380
378 Steinacher 2019, 111 ff.; Gruen 2013, 22. 379 Steinacher 2019, 113; Mitthof 2012. 380 Steinacher 2019, 114; Halsall 2007, 232; Pohl 2014.
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R. Steinacher benennt den Topos, von A. Demandt formuliert, dass die antike römische Elite ihre Kontrolle über Kunst und Kultur an die Kirche verlor nach der Invasion der Barbaren, weil das kulturtragende Bürgertum verschwunden sei, und „die Germanen interessierten sich mehr für Waffen als für Bücher …“. Der Zerfall des Römischen Reichs setzte im Inneren ein mit Bürgerkriegen und neuen Herrschaftsge bieten, wie dem Gallischem Sonderreich (260 bis 274), ähnlich dem Palmyrenischen Sonderreich unter Zenobia, aber jeweils mit korrekter Verwaltung und Konsuln. Ähnlich entstanden die späteren germanischen Königreiche auf römischem Boden im 5. und 6. Jahrhundert.381 Die militärische Elite war höchst interessiert an einem bestehenden Steuersystem und der Versorgung mit Lebensmitteln, Waffen, Kleidung, Pferden und wohl auch mit Geld. Wenn es um die „Völkerwanderung“ geht, dann arbeitet das historische „Narra tiv“ mit Karten, auf denen Pfeile die Migrationen markieren. Im Französischen, Ita lienischen, Spanischen heißt es grandes invasions oder invasions barbares, invasioni barbariche, invasiones bárbares schon seit dem 16. Jahrhundert; englische Texte spre chen von Migration period, Barbarian invasions, Barbarian migrations, ähnlich heißt es im Polnischen und Russischen nach dem deutschen Begriff Völkerwanderung, so auch im Rumänischen und im Dänisch/Schwedisch, wo von Folkevandringstiden/ Folkvandringstiden gesprochen wird, womit die Zeit von 375 bis 568 gemeint ist. Die moderne Geschichtsschreibung weiß, so R. Steinacher, dass die neuen germanischen Eliten auf römischem Boden eine eigene Herkunftsgeschichte brauchten und deshalb diese erfanden. Somit kamen Goten und Langobarden aus Skandinavien, also aus alter Zeit und ferner Gegend. Nach Jordanes erreichten die Goten mit drei Schiffen die Weichselmündung 1490 Jahre vor Chr. Geb., was früher gewesen sei als Moses Führung der Juden aus Ägypten ins Heilige Land und vor dem Trojanischen Krieg. Das sind Erzählungen, keine historischen Fakten. Die Urheimat der Germanen lag in protoindoeuropäischer Zeit in den pontischen Steppen, von wo sie nach Skan dinavien wanderten. Dieses Bild bestand im 19. Jahrhundert, und Germanen gab es danach seit dem Neolithikum, nach weiterer Forschung einigte man sich dann auf die frühe Bronzezeit, seit den 1930er Jahren gab es Germanen mit Definition der Jastorf Kultur in Norddeutschland und dem südlichen Skandinavien seit der vorrömischen Eisenzeit. Aber noch immer zeigen bis heute Kartierungen in den GeschichtsAtlanten mit Pfeilen, dass die Goten von Skandinavien über die Weichsel nach Südosten gewandert seien, die Westgoten bis Spanien. Was sich aber durch Europa bewegte, waren Kriegerverbände, teils römische Armeen aus Germanen. Die Pfeile markieren Kriegszüge im 4. bis 6. Jahrhundert, wie sie aus den antiken Schriftquellen erschlos sen werden, aber keine Völkerwanderungen. In der Monographie über die Berliner Prunkbestattung zum Schwert mit goldenem Griff wird 2019 im Einleitungskapitel auch wieder die „Völkerwanderung in der Zeit um 400“ durch die Pfeile quer durch
381 Steinacher 2019, 117; Börm 2013; Luther 2008.
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Europa bis zur Iberischen Halbinsel und Nordafrika als Ergebnis wandernder Stämme wie Burgunder, Vandalen oder Hunnen gezeichnet, ohne dass näher erläutert wird, wer da eigentlich wandert. Es sind Kriegerverbände, keine Stämme oder Völker.382 Da in diesem Buch aber nicht über die „Völkerwanderungszeit“ gesprochen werden soll, wird die Gegenüberstellung von dieser alten Vorstellung und der neueren Auf fassung der Geschichtswissenschaft nicht weiterverfolgt. Darauf eingegangen wurde nur deshalb, weil es erstaunt, wie nachhaltig alte Vorurteile und Auffassungen weiter wirken und wieder aufleben. Trotz der wissenschaftlichen Versuche im Rahmen des Vorhabens „The Transformation of the Roman World“383 in den Jahren von 1993 bis 1998 und der zahlreichen, etwa 14 Publikationen, die daraus hervorgegangen sind, hat sich im allgemeinen Geschichtsbild wenig geändert. Man hat den Eindruck, dass heutige politische Ereignisse, eben die Migrationsbewegungen, auch auf Historiker einwirken, und damit scheinen die eigentlich durch die Forschungsarbeit überwun denen Vorstellungen über die damaligen Verhältnisse wieder aufgegeben und das Denken zu den alten Vorurteilen zurückzuführen. Eine solche Pendelbewegung hat zu den erfolgreichen Büchern der englischen Historiker Peter Heather („Der Unter gang des Römischen Reichs“)384 und Bryan Ward Perkins („Der Untergang des Römi schen Reichs und das Ende der Zivilisation“)385 geführt. Diese Pendelbewegung wird fortgesetzt, wenn P. Heather über die letzte Blüte Roms und das Zeitalter Justinians schreibt, wozu der Althistoriker M. Sommer eine dezidierte Rezension veröffentlicht hat. Es werden wieder die alten Thesen zur „Invasion der Barbaren“ hervorgeholt. In den 1970er Jahren war schon einmal eine andere Sicht aufgekommen: Man begriff die Spätantike nicht länger als Epoche des Verfalls, ja Zivilisationsbruchs, sondern als Transformation der langen Dauer, aus der sich allmählich die Welt des europäischen Mittelalters herausschälte … Geschichtswissenschaft lebt vom permanenten Revi sionismus, und so forderte auch Goffarts Bild einer weitgehend friedlichen Koexis tenz von Römern und Barbaren bald Widerspruch heraus. In mehreren kraftvollen Büchern hat der Oxforder Mediävist Peter Heather das Modell des Systemkollapses in der Mitte des ersten Jahrtausends entworfen“. Und weiter: „Problematisch ist die Ver gegenwärtigung des Vergangenen, wie sie charakteristisch ist für die angelsächsische Althistorie“, wenn es bei Heather um Begriffe wie Ideologie und Propaganda geht. 386 Roland Steinacher hatte sich schon 2017 zur Entstehung des Begriffs Völkerwan derung und der Parallelen in den Nachbarländern und in anderen Sprachen geäu ßert und zu den „Wanderungen“ Kommentare geliefert,387 wobei er manchmal alten
382 M. Bertram, in: Bertram, Quast, Rau 2019, 1 Abb. 2. 383 Wood 2006. 384 Heather 2005/2007. 385 WardPerkins 2005/2007. 386 Heather 2019, dazu Rez. von M. Sommer 2019; auch zu Justinian: Mischa Meier 2003. 387 Steinacher 2017a, 37 ff.
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Ansichten zum Opfer fällt.388 In seinem Kapitel „Die archäologische Situation des 1. bis 4. Jahrhunderts“ äußert er sich zudem zur PrzeworskKultur, zur WielbarkKultur und zur ChernjachovKultur und referiert die Ansicht der (welcher?) Archäologie,389 wundert sich aber doch, dass in den Verbreitungsräumen der Kulturen die Herkunft der schrift lich überlieferten Stämme wie Rugier, Heruler, Gepiden und Goten sowie Vandalen und Burgunder gesehen wird. „Debatten über eine eindeutige Zuweisung archäologischer Funde an Vandalen und Burgunder sind heute weitgehend obsolet“.390 So geht auch er bei den „dynamisch und schnelllebig“ agierenden Gruppen nicht mehr von Stämmen in altem Sinne, sondern von Kriegerverbänden aus, die sich immer wieder zu neuen Trupps zusammentaten und dabei alte Namen weiterführten. Er beobachtet auch, dass bei der Ausdehnung der Leute der WielbarkKultur diese Elemente von den Leuten der PrzeworskKultur übernommen haben und fragt, ob die eine „Kultur“ die andere ver drängt hat oder ob sich nur religiöse Vorstellungen und Totenkult geändert hatten. Wenn dann die Expansion der WielbarkKultur nach Südosten Folge oder Grund der Marko mannenkriege zwischen 166 und 180 gewesen sein könnte, dann werden wieder völlig unterschiedliche Seinsbereiche miteinander vermengt und außerdem archäologische und schriftliche Überlieferung unbegründet – weil vorher anders erläutert – gleich gesetzt. Die Ausbreitung der ChernjachovKultur überschreitet nach Westen nicht den Fluss, weil hier die römischen transalutanischen Walllinien parallel zum Fluss Olt ver laufen, die sich über 235 km Länge im heutigen Rumänien erstrecken, etwa 5 und 30 km östlich des Flusses. Die Bauphasen sollen vom frühen 2. Jahrhundert bis in severische Zeit (ins 3. Jahrhundert) zu datieren sein.391 R. Steinacher schließt den archäologisch historischen Vergleich mit der Feststellung, dass „gotische, herulische, rugische und gepidische Identität“ erst „im Lauf einer längeren Auseinandersetzung mit der römi schen Welt“ entstanden und „nicht einfach aus dem Norden mitgebracht“ worden sei.392 „Mit Blick auf den historischen Befund stellt sich die Frage, ob der Archäologe überhaupt ethnisch interpretieren, also die Siedelgebiete der angesprochenen gentes erkennen kann?“ ist Kern der Abhandlung zu Ethnos und Mobilität im 5. Jahrhundert von Volker Bierbrauer im Jahr 2008,393 was auch immer eine Auseinandersetzung mit den Thesen von Sebastian Brather und einer ganzen Gruppe von Archäologen zur Folge hat und ist.394 Auch Roland Steinacher kann sich dieser Parallelität von Ethnos und gens nicht anschließen, wie oben erläutert. Man darf aber nicht übersehen, dass
388 Steinacher 2017a, 23 zitiert zur Bevölkerungsdichte in Germanien eine sehr alte Ansicht vor mir aus dem Jahr 1979; inzwischen bin ich gänzlich gegenteiliger Ansicht, wie in diesem Buch ausführlich begründet wird und zuvor schon publiziert ist: Steuer 2015a. 389 Steinacher 2017a, 44–51. 390 Steinacher 2017a, 46. 391 Gudea 1997. 392 Steinacher 2017a, 51. 393 Bierbrauer 2008, 26. 394 Brather 2004a; 2012a, b; 2014a.
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die Kartierungen von V. Bierbrauer ausgezeichnete Belege für weiträumige Kontakte kultureller und wirtschaftlicher Art sind und die Netzwerke jener Epochen spiegeln. Dabei zeigt sich aber zugleich auch, dass die Kartenbilder der verschiedenen Sach güter, Waffen oder Schmuckelemente der Kleidung, nicht deckungsgleich sind. Doch gibt es die Einsicht, dass die westlichen Sachgüter und die östlichen, mit den Reiter nomaden (Hunnen) in Verbindung zu bringenden Güter wie beispielsweise Metallkes sel, sich in der Verbreitung weitgehend ausschließen, in den Kontaktbereichen aber überlappen. Wenn mit ethnischer Interpretation derartige große Kulturunterschiede gesucht werden, dann kann man das akzeptieren. Anders sieht es aber aus, wenn die sogenannten Silberblechfibeln des 4. und der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts (Gruppe I) und des 5. und der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts (Gruppe II), die als „donauländisch“ bezeichnet werden, aber bis zur Normandie und auf der Iberischen Halbinsel vorkommen, einem Ethnikum zugeordnet und nicht als zeittypische, weit verbreitete Mode gedeutet werden.395 Von der Theorie her ist noch ein weiterer Gedanke in Bezug auf die Nachweis barkeit von Wanderungen anhand des archäologischen Quellematerials zu verfol gen. Das alte Modell sah ganze Stämme mit großen Menschenmengen wandern, das neue auch von mir vertretene Modell sieht demgegenüber Kriegerverbände mit über schaubaren Zahlen von Kämpfern wandern. Dazu habe ich gesagt, dass diese Wan derungen, seien es die Kimbern oder die Sueben des Ariovist, keine archäologischen Spuren hinterlassen haben, eben weil die Zahlen zu gering und die Zeiten zu kurz waren. Außerdem habe ich gesagt, dass unsere Fundmaterialien oft nur 1% oder nur ein Promille ehemaliger Gegenwart, d. h. des ehemalig Vorhandenen, ausmachen, die wir zur Deutung heranziehen können. Nun betrachtet ein größerer Teil der For schung die Verschiebungen von Kulturkreisen immer noch als Wanderungen, gar von der Weichselmündung bis zum Schwarzen Meer. Von diesen Kulturkreisen, allgemein gesagt, liegen inzwischen einige hundert, wenn nicht gar tausend Fundpunkte vor, die der Auswertung zur Verfügung stehen, und dass ist auch nur der Bruchteil des einst Vorhandenen. Das klingt widersprüchlich. Kriegerverbände können wegen ihrer kleineren Zahl derartige Massenkartierungen nicht hervorbringen. Also scheinen sich tatsächlich größere Siedlergemeinschaften im Kartenbild abzuzeichnen, und wenn dieses eine geographische Verschiebung dokumentiert, kommt man wieder auf die Vorstellung von der Wanderung größerer Bevölkerungsgruppen und damit auf das überholte Bild der PlanwagenTrecks des 19. Jahrhunderts, was aber nicht akzeptiert werden sollte. Das Problem lässt sich vielleicht dann lösen, wenn man den Zeitfak tor berücksichtigt. Der Vandalenkönig Geiserich (König seit 428) setzte von der Ibe rischen Halbinsel bei Gibraltar nach Nordafrika mit 80 000 Menschen über, und das waren nicht nur Krieger (vielleicht 16 000, ein Fünftel), sondern auch Familien mit Kindern und alten Leuten. Dieses Ereignis ab dem Jahr 429 war ein recht kurzfristiger
395 Gauß 2009, Karte 1 im Anhang zur Gesamtverbreitung.
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Vorgang, der ebenfalls archäologisch bei den Datierungsmöglichkeiten nicht hätte erfasst werden können. Die Verschiebungen in der Ausbreitung einer Kultur waren dann keine solche Wanderungen, sondern brauchten eine deutlich längere Zeit von einigen Generationen, ablesbar an der Dauer der Belegung von Gräberfeldern, die hier langsam endete und andernorts ebenso langsam einsetzte, d. h. eine solche Entwick lung war weder das Ergebnis eines kurzfristigen Kriegszugs, noch die Abwanderung einer größeren Bevölkerungsgruppe, sondern tatsächlich eine langsame Verschie bung von Leuten oder eher von Sitten und Gebräuchen. Einen Aufsatz von Stefan Burmeister aus dem Jahr 2013 kommentiert John Bintliff in einer Rezension von 2017 (2019).396 Sein wichtigster Hinweis ist, dass zwar bis jetzt abgelehnt wurde, über Mobilität von Bevölkerungen einen Kulturwandel zu erklä ren, dass aber inzwischen aDNAAnalysen gezeigt haben, solche Wanderungen von Bevölkerung haben stattgefunden und zur Veränderung der Kulturen geführt (wenn auch bisher vor allem für urgeschichtliche Gruppen bewiesen). J. Bintliff betont, dass nach den schriftlichen Quellen während der Völkerwanderungszeit ethnische Einhei ten eher Agglomerationen verschiedener Gruppen seien, die sich zeitlich für einen bestimmten militärischen oder landnehmenden Zweck zusammentaten, was also bei der Auswertung archäologischer Befunde Schwierigkeiten bereiten würde, Mobilitä ten und Herkunft von Gruppen nachzuweisen. St. Burmeister betone, es sei weniger weiterführend, sich auf alltägliche Fakten oder einen sozialen Status zu stützen, sondern besser auf persönliches Verhalten in einer begrenzten Gemeinschaft, wie Keramikproduktion und Essensgewohnheiten. Er geht – wie bisher eigentlich üblich – von Siedlungsweisen, Grabsitten und Kleidung aus und versucht auf diesem Wege, Migration und Akkulturation zu erkennen. J. Bintliff fragt, ob zivile Eliten auch bei Wanderungen ihre Kleidungsmode beibehielten, beispielsweise Elemente der Romanitas; während militärische Eliten römisches und barbarisches Aussehen kom biniert hätten, aber bei der Ansiedlung von Germanen wurde von diesen versucht, manches dem Römischen gleichzutun (was jedoch längst nicht überall der Fall war, so bei den Ansiedlungen von Germanen in Nordgallien, vgl. S. 1164). Hier vermisst der Rezensent die Berücksichtigung der biologischen Wissenschaften in Bezug auf Bevölkerungsbewegungen, mit dem Hinweis auf die persönlichen Zuordnungen zu „ethnischen“ Einheiten. Geschichte und Methodik der archäologischen Migrationsforschung397 sind ein Bereich der Forschung, der seit Jahrzehnten Hin und Her behandelt wird, ohne dass man sich einigen könnte. Der Ausweg über die Biologie bietet vorerst auch nur eine Scheinlösung, da Bevölkerungsverschiebungen auch Massenereignisse sein können, die über zahlenmäßig begrenzte DNAMessungen kaum zu erfassen sind. S. Schmidt
396 Burmeister 1996; 1998; 2000a; 2013a, 370 f., und dazu Bintliff 2017 (2019) 370 f. 397 Andresen 2004.
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Hofner bietet 2019 eine ganz andere Erklärung für Wanderungen germanischer Völkerschaften ins Römische Reich.398 Es ging weniger um Beutezüge der Germanen und um römische Tributzahlungen bzw. Landzuweisungen an Kriegerverbände, sondern spätrömische Landbesitzer setzten die barbarischen Immigranten zur Arbeit auf ihren Ländereien ein. Das Interesse römischer Grundherren und der Eliten galt der landwirtschaftlichen Arbeitskraft, die von außen im 4. und 5. Jahrhundert angeworben wurde. Es ging also nicht um Migrationen, sondern um Anwerbung von Arbeitskräf ten. Die traditionelle Erzählung geht von den Hunnen aus, die die germanischen Stämme vor sich her getrieben haben. Aber das passt chronologisch nicht. Die Hunnen erschienen erst mehr als eine Generation später, nachdem die Immigrationen schon eingesetzt hatten. Das primäre Ziel der gotischen Immigranten in den 370er Jahren war, ihren gewohnten Lebensstil weiterführen zu können innerhalb der Grenzen des Imperiums. Es ging zugleich um das ökonomische Interesse der landbesitzenden römi schen Eliten. Um diese archäologisch zu beschreibenden Vorgänge erklären zu können, brau chen wir neue Modelle. Vielleicht finden man sie in der Besiedlung Nordamerikas durch die Millionen über Jahrhunderte aus Europa auswandernden Familien, oder auch in der sogenannten deutschen und niederländischen Ostkolonisation, eine Siedlerbewegung im 12./13. Jahrhundert über die Elbe in slawische Gebiete. Aber Mi grationen haben auch zu ökologischen Katastrophen geführt. Die Migration der Euro päer nach Nord und Südamerika hat dort funktionierende Ökosysteme kollabieren lassen, wie ein Leserbrief vom 7.8.2018 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von Dr. Erwin Münche, Göppingen, erläutert hat. Im Jahr 2019 hat Mischa Meier als Historiker ein sehr umfangreiches Buch veröf fentlicht, mit dem Titel „Geschichte der Völkerwanderung. Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert n. Chr.“.399 Der außerordentlich weite geographische und zeitliche Rahmen scheint alle Situationen, Ereignisse und Bewegungen anhand der schriftlichen Überlieferung erschöpfend auf modernem Stand zu erzählen. Der Autor berücksichtigt sogar archäologische Funde und Befunde anhand der neuen Veröffentlichungen, die den Aussagen der Schriftquellen hinzugefügt werden. Auffäl lig ist – und das kritisierte ich – die ständige Mischargumentation zwischen Aussagen der schriftlichen Quellen und den archäologischen Befunden, wobei die Archäologie nur bestätigt, was der Historiker meint. Im Kapitel „Archäologie als Ausweg?“ bietet M. Meier einen Ausblick auf die Forschungsgeschichte und besonders zum Problem der Einwanderung von Lango barden nach Italien (vgl. dazu auch S. 80 f.).400 In der Anmerkung weist er darauf hin, dass auch Sachsen, Gepiden, pannonische Sueben, Sarmaten, Bulgaren sowie
398 SchmidtHofner 2019, 68, 78 mit Anm. 63. 399 Mischa Meier 2019 (3. Aufl. 2020). 400 Mischa Meier 2020, 89 ff. mit Anm. 89.
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römische Provinzialen aus Noricum und Pannonien beteiligt waren. Trotzdem sieht er im Erscheinen neuer Grabbräuche (über die Beigabenpraxis) in Italien, die in Pan nonien abbrechen würden, den Beleg für die Wanderungsbewegung. Das würden also Archäologie und nun auch DNA belegen, so dass die schriftliche Überlieferung eigentlich nur noch das Datum 568 beifügen würde. Ein weiteres Beispiel ist für ihn das Aufkommen neuer Grabsitten seit dem 3. Jahrhundert in Nordostgallien, bis zum Erscheinen der Reihengräbersitte. Gedeutet bisher als Zuwanderung von Germanen aus Norddeutschland, sieht man jetzt eher auch den römischen Anteil am Wandel der Gesellschaft und ihrer Jenseits bzw. Bestattungsvorstellungen (vgl. 1164 ff.). M. Meier ist denn auch der Meinung der Archäologie und der Geschichtswissenschaft, dass „Grabbeigaben … nicht zwangsläufig ethnische oder religiöse Implikationen auf weisen“ müssen, „sondern können auch sozial konnotiert sein.“401 Wenn es heißt: „Nicht zwangsläufig“, dann bedeutet das doch aber manchmal? Als Leser stelle ich fest, dass M. Meier die neuere Literatur der archäologischen Forschung rezipiert hat, auch wenn er noch eine gewisse Reserve gegenüber den Ergebnissen verspürt. Im Kapitel „Völker“ und „Wanderung“ – Ethnizität und Identität heißt es folgerichtig, dass beide, S. Brather und H. Steuer, ähnlich argumentieren: Archäologische Kultu ren sind Konstrukte; und „Soziale Identitäten sind nun kein getreues Abbild gesell schaftlicher Realität, auch wenn sie selbst nichts weniger als real sind. Identitäten liegt der Anspruch bzw. der Glaube zugrunde, alle Angehörigen der betreffenden Gruppe seien in Bezug auf einige bestimmte, als signifikant angesehene Merkmale gleich“.402 Das führt jedoch nicht zu einer veränderten Darstellung des Geschehens. Ein Rezensent sieht als Resumé, dass Mischa Meier neue Beschreibungen für die Begriffe wie Völkerwanderung, Volk und Wanderung sucht und dass nicht große fest gefügte Verbände seit dem 3. Jahrhundert das Römische Reich bedrängten, sondern Banden und Gruppen „ohne klares Bewusstsein ihrer selbst“.403 Eine zweite Rezen sion schaut vor allem auf das Entstehen der Völker bei ihrer Wanderung,404 das als ein Aushandlungsprozess zwischen Römern und Barbaren zu verstehen sei. Seit Konstantin d. Gr. bestand ein Großteil des römischen Heeres schon aus barbarischen, germanischen Verbänden, und ab Mitte des 4. Jahrhunderts war das Amt des Heer meisters in der Regel von Germanen besetzt. Damit zu verbinden sind die verschiede nen Migrationswellen, im Jahr 376 der Donauübergang der gotischen Greutungen und Terwingen, im Jahr 406/7 der Rheinübergang der Vandalen, Alanen und Sueben. In dieser Zeit verwandelten sich die Heere in Privatarmeen, und – das ist nun entschei dend an den Beobachtungen – aus den mobilen Kriegerverbänden wurden „Völker“, die sich ihrer Söldnerrolle entledigten. Darin spiegelt sich das Gemachte und Willkür liche der Identitäten, und die berühmten Traditionskerne (R. Wenskus) bildeten sich 401 Mischa Meier 2020, 93. 402 Mischa Meier 2020, 159 Anm. 120 nach Brather 2000, 158–162. 403 Th. Thiel, Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.Oktober 2019. 404 A. Kilb, Frankfurter Allgemeine Zeitung 23. November 2019.
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erst unterwegs. Auch hier wird festgestellt, in Anlehnung an Mischa Meier, dass die Ursprungslegenden der Goten oder Langobarden posthume Konstruktionen waren und die neuen „Stämme“ aus einer Mischbevölkerung bestanden. Es wird nun folgerichtig von der Schriftüberlieferung endgültig zur Archäologie gewechselt.
7 Zu den Thesen und Theorien dieses Buches sowie den angewendeten Methoden der Quellenbeschaffung und -bewertung Jede wissenschaftliche Abhandlung, auch diese, geht von verschiedenen Theorien aus, die im Verlauf der Darstellung begründet werden. Daran schließen sich die Methoden an, die dafür herangezogen werden. Es sind teils provozierende Thesen, die ich formuliere und die gegen einige Grundannahmen der frühgeschichtlichen Archäologie gerichtet sind. Hoffentlich begründe ich sie auch ausreichend.
7.1 Meine Thesen 1.
Die unmittelbare Koppelung von Ereignisgeschichte, d. h. deren Aussagen der schriftlichen Überlieferung entnommen sind, mit archäologisch erarbeiteten Befunden und Funden halte ich für methodisch nicht möglich und lehne diese Verknüpfung ab. Zumeist ergeben sich im Übrigen dadurch Kreisschlüsse, was methodisch kein gangbarer Weg sein sollte. Gemischte Argumentation sollte vermieden werden. 2. Geschichtliche Abläufe sind mehr oder weniger kontinuierlich und erfolgen nicht festgelegten Schritten. Die von der archäologischen Forschung für die Jahrhunderte um Chr. Geb. erarbeiteten Zeitphasen für die vorrömische Eisenzeit mit A und die Römische Kaiserzeit mit B bis D (und weiteren Untergliederungen mit unterschiedlichen zeitlichen Längen) sind theoretisch gefundene abstrakte Konstruktionen, die nicht mit der vergangenen Realität übereinstimmen (können); denn bei den Datierungen werden zumeist willkürliche Überlappungen gefunden, die ahistorisch sind. Eigentlich müsste ein neues System nach mehr als hundert Jahren erarbeitet werden. 3. Die zunehmende Dichte der archäologischen Fundverteilungen spiegelt eine allgemeine Verbreitung; die Kartenbilder belegen mehr oder weniger die Gleichzeitigkeiten der Erscheinungen und bilden ein Kommunikationsnetz ab, in dem sich Fernbeziehungen als regelhaft, auch geographisch bestimmte, auf „Fernwegen“ abzeichnen. 4. Kurzfristige Wanderungen von größeren Bevölkerungsgruppen (wie sie in den Schriftquellen geschildert werden) sind archäologisch nicht zu erkennen; das, was zumeist als Beleg dafür gesehen wird, sind eher sich mehrere Generationen hinziehende Verbreitungen, Ausdehnungen, Verschiebungen von Kulturerscheinungen, bei denen z. B. Akkulturationen eine entscheidende Rolle gespielt haben.
https://doi.org/10.1515/9783110702675-007
7.1 Meine Thesen
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Im Titel dieses Buches steht das Wort „Archäologie“. Nun kann auf den Begriffsinhalt des Wortes und die Bedeutung im Allgemeinen nicht ausführlicher eingegangen werden, soll und braucht es auch nicht. Ich erläutere nur, was ich hier damit meine, nämlich die archäologische Beschaffung der Quellen, die dann nachfolgend ausgewertet werden. Mit der Quellenbeschaffung sind vor allem Ausgrabungen gemeint und außerdem noch moderne Prospektionsverfahren, die ebenfalls Quellen liefern. Dazu gehören Geländebegehungen zum Suchen von Funden an der Ackeroberfläche, heute mit dem Metalldetektor, „Landesaufnahmen“ mit der Dokumentation aller im Gelände sichtbaren Bodendenkmäler der Ur- und Frühgeschichte, Phosphatanalysen zum Feststellen organischer, menschlicher und tierischer Hinterlassenschaften im Erdboden, geophysikalische Verfahren wie Geoelektrik und Geomagnetik, Luftaufnahmen vom Flugzeug aus und heute das sogenannte „Air-Borne-Laser-Verfahren“, das über normale Luftaufnahmen hinaus auch unter Waldbedeckung, die der Computer wegrechnet, wesentlich mehr in der Landschaft sieht.405 Dieses muss nicht zu ausführlich besprochen werden; doch nenne ich diese Verfahren nur aus Gründen der notwendigen Quellenkritik. Darüber gibt es inzwischen auch eine umfangreiche Literatur, in der sich Wissenschaftler der Archäologie darüber Rechenschaft ablegen, was sie eigentlich machen, wenn sie beispielsweise Ausgrabungen durchführen.406 Es mögen dazu Stichworte genügen: – Jede Wissenschaftlerin und jeder Wissenschaftler ist Kind seiner Zeit und hat ein allgemeines Vorverständnis, schon seit der Schule und dem Studium und dem Lesen der Medien, vom Lehrer oder aus Büchern übernommen; verbunden mit einer eigenen Weltanschauung. – Jede Ausgrabung ist ein Eingriff in einen seit Jahrtausenden oder Jahrhunderten entstandenen Befund- und Fundzusammenhang, den die Ausgrabung eigentlich zerstört, auch bei noch so sorgfältiger Dokumentation. – Jede Ausgrabung geht auch von einem noch nicht bekannten Befund aus, trotz der zuvor entwickelten Fragestellung (der unbekannte Befund ist die Regel, mit Ausnahme von Luftaufnahmen beispielsweise bei römischen nach Bauplan errichteten Gebäude, da weiß man, was auf einen zukommt). – Jede Ausgrabungsmannschaft samt Leitung besteht aus Leuten mit unterschiedlicher Erfahrung, die also bei der Ausgrabung und auf dem Foto Unterschiedliches sehen und deshalb beispielsweise die Zeichnungen verschieden ausführen. Dabei gehe ich auf unterschiedliche Ausgrabungsmethoden gar nicht ein. – Jede Ausgrabung hängt auch ab von der geplanten Größenordnung, vom Geld, das zur Verfügung steht, von den technischen Mitteln und von der möglichen Zeitspanne, die für die Grabungen eingeräumt wird (denn Bauarbeiten drohen oft).
405 Steuer, Doneus, Schulz; Lienemann 2003 und zahlreiche neue Verfahren bis 2018. 406 Davidović 2009.
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–
7 Zu den Thesen und Theorien dieses Buches sowie den angewendeten Methoden
Erst in jüngster Zeit ist es überhaupt möglich, Siedlungen und Gräberfelder vollständig auszugraben, am besten noch mit Blick in die nähere Umgebung. Deshalb wird an vielen Grabungsplätzen immer wieder noch einmal und weiter ausgegraben, und manchmal nach Jahrzehnten. Dann ist – wie gerade erläutert – die Ausgangslage unterschiedlich. Deshalb werden auch die geborgenen Fundkomplexe erneut ausgewertet, nicht nur weil neue technische Restaurierungs- und Analyseverfahren hinzugekommen sind.
Ohne hier ein grundsätzliches Kapitel zur Methodik und den allgemein dahinterstehenden Überlegungen zu den Vorbedingungen und Einflussfaktoren einzufügen, möge der Hinweis genügen, dass auch die archäologischen Dokumentationen der Funde und Befunde keine absoluten Wahrheiten ehemaliger Lebenswelten bieten, sondern immer kritisch geprüft werden müssen, wie gesichert die Ergebnisse sind; und es sollte gefragt werden, ob und in welchem Umfang unsere Gegenwart in die Schilderung hineingewirkt hat. Die Grabungsberichte sind immer auch nur Erzählungen und keine Wiederbelebung der Vergangenheit. Aber – um ein positives Wort anzuschließen – da wir neugierig sind und wissen wollen, wie es damals gewesen ist in Germanien, bleibt uns nur dieser Weg. Ich werde im Folgenden kein Theoriesystem beschreiben, das meiner Analyse zugrunde liegt, sondern nur einige Hinweise auf heutige theoretische Ansätze zu geben versuchen. Ein positivistischer Ansatz geht von den archäologischen Befunden aus. Gräber sind Bestattungen, Siedlungsreste sind Spuren ehemaliger Dörfer. Erstere sind bewusst aufgrund von Vorstellungen angelegt worden, die zweiten Befunde sind zufällig übergebliebene Reste von Wohnen und Wirtschaften. Wie lassen sich die ehemaligen Lebensrealitäten erkennen und anhand der Quellen beschreiben? Kann es gelingen, ein Résumé zum vergangenen Leben zu gewinnen? Der Beschreibung eines Paketes von Sachinformationen, die in den nächsten Abschnitten des Buches folgen, also nach der Darstellung der jeweiligen Quellen zu einem Themenkreis schließt sich eine kurze Zusammenfassung an, in der meine Gegenposition zum bisherigen Bild formuliert wird, sofern mir das notwendig erscheint. Positivistisch wird also auch referiert, was die Kolleginnen und Kollegen als Meinung formuliert haben. Es sind immer wieder Thesen, die begründet werden und deren Wertigkeit ich dann aus meiner Sicht biete. Es folgt keine tiefgreifende Theoriediskussion, und das breite Fundament der inzwischen dazu vorgelegten Literatur zur Theorie wird nicht referiert und ausgewertet. Es mischt sich auch regelmäßig der methodische Zugang über den induktiven und den deduktiven Weg.407 Was sagen die Quellen unmittelbar selbst aus, und was sehen wir in die Befunde unserer Quellen hinein. Eingestanden werden muss auch, dass die Masse der Literatur, die hier auch zitiert wird, nicht vollständig gelesen werden konnte; es bleibt bei Näherungen zu den Thesen der vielen
407 Sangmeister 1967.
7.1 Meine Thesen
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Autoren, die oftmals zahlreiche ähnlich lautende Aufsätze vorgelegt haben. Dann ist oftmals nur schwer zu erkennen, wo jeweils die innovative Äußerung verborgen ist. Was nun die Theorie der Frühgeschichtsforschung angeht, die ich in meiner Ausbildung und in meiner wissenschaftlichen Arbeit ebenfalls verinnerlicht habe, so wurden in zeitlichem Abstand grundlegende Werke veröffentlicht, von denen ich nur einige nenne. Im Jahr 1928 legte K. H. Jacob-Friesen die „Grundlagen der Urgeschichtsforschung“ vor,408 eine wegen der methodischen Klarheit immer noch lesenswerte Arbeit. Die „Einführung in die Vorgeschichte“ von H. J. Eggers aus dem Jahr 1959 wurde schon erwähnt und hat auch mehrere Wiederauflagen erlebt.409 E. Sangmeister veröffentliche 1967 seine Stellungnahme zu „Methoden der Urgeschichtsforschung“,410 der er 1977 eine Arbeit „Zur Bedeutung urgeschichtlicher Kulturgrenzen“ folgen ließ.411 Stärker mit Blick auf die frühgeschichtlichen Epochen in Germanien – die hier interessieren – hat R. v. Uslar grundlegend geschrieben. Er begann 1952 mit dem Problem „Archäologische Fundgruppen und germanische Stammesgebiete vornehmlich aus der Zeit um Christi Geburt“412 und nahm 1955 Stellung zur den „Interpretationsmöglichkeiten von archäologischen Karten“.413 Ihm verdanken wir übrigens auch eine umfassende Vorlage zur „Germanischen Sachkultur in den ersten Jahrhunderten nach Christus“ aus dem Jahr 1975.414 Angeregt von der anglo-amerikanischen Wissenschaft und der dortigen Theoriediskussion wurde in der deutschen Wissenschaft ebenfalls begonnen, sich um die theoretischen Grundlagen des Faches zu kümmern und sich den Möglichkeiten der Quellenauswertung zuzuwenden. Maßgebliche Vertreter sind M. K. H. Eggert, St. Samida und U. Veit. Eggert betrachtete die Archäologie als historische Kulturwissenschaft,415 zusammen mit St. Samida beschrieb er die Grundlagen der „Ur- und Frühgeschichtlichen Archäologie“.416 Eggert und Veit begründeten in Tübingen mit der Reihe der „Tübinger Archäologischen Taschenbücher“ ein Forum für die Theoriediskussion. Beide gaben 2013 als Band 10 der Reihe beispielsweise als Ergebnis einer Tagung das Buch „Theorie in der Archäologie“ heraus.417 Unter dem Titel „Germanspeaking archaeology is more“ hat Th. Meier erläutert, dass theoretische Überlegungen auch in der deutschen Archäologie nicht fehlen.418
408 Jacob-Friesen 1928, mit dazu Burmeister 2005. 409 Eggers 1959; 1986; 2004. 410 Sangmeister 1967/2011. 411 Sangmeister 1977/2011. 412 v. Uslar 1952; zu v. Uslar: Müller-Wille 2006. 413 v. Uslar 1955. 414 v. Uslar 1975. 415 Eggert 2006. 416 Eggert, Samida 2009/2013. 417 Eggert, Veit (Hrsg.) 2013. 418 Th. Meier 2017.
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7 Zu den Thesen und Theorien dieses Buches sowie den angewendeten Methoden
Die Genetik als neue naturwissenschaftliche Disziplin für die Archäologie hat uns ermöglicht, festzustellen, dass Bevölkerungsgruppen nicht einfach verschwunden sind, nur ihre archäologisch fassbare Kultur, und dass sie immer noch vorhanden sind, akkulturiert oder assimiliert in neuem kulturellem Umfeld, was ohne Völkermord und Vertreibung geschehen sein wird. So könnte es mit den verbliebenen Germanen im neu von Slawen besiedelten Gebiet östlich der Elbe gewesen sein (vgl. unten S. 827 ff.). Die Bücher von Klaus P. Hansen nenne ich nur zur allgemeinen Information. Sie sind nicht von einem Archäologen geschrieben, geben aber nützliche Anregungen für die Frühgeschichtsforschung zu Germanien. Themen sind „.Kultur, Kollektiv, Nation“,419 „Kultur und Kulturwissenschaft“ und in der Zeitschrift Kultur- und Kollektivwissenschaft das Thema der Systematisierung der „Kollektivwissenschaft“.420 Im Sammelband zur „Theorie in der Archäologie“421 werden ethnographische Parallelen beschrieben, beispielsweise, dass und wie in anderen Kulturen Frauen Keramik herstellen. Klaus P. Hansen meint, Kultur umfasst Standardisierungen, die Kollektiven gelten (welcher Art?) und weist auf das Bourdieusche Habitus-Konzept hin. Ein weiterer Sammelband widmet sich Netzwerken unter dem Titel „Soziale Gruppen – kulturelle Grenzen. Die Interpretation sozialer Identitäten (in der prähistorischen Archäologie)“, das ebenfalls Anregungen für die Archäologie der Germanen in Germanien bietet.422 U. Veit hat Themen aufgegriffen, die relevant sind, so 2006 und 2017 die Rolle des „Archäologen als Erzähler“, wobei er gegen das rein antiquarische Arbeiten der Archäologie Stellung genommen hat,423 außerdem über „Raumkonzepte in der prähistorischen Archäologie“ am Beispiel der Jastorf-Kultur vor hundert Jahren und heute.424 In den Rahmen dieser Theorie-Diskussion in Tübingen gehören die Überlegungen zu „Gräbern und Totenritualen“ (2013), verbunden mit Thesen zu „Beyond antiquarianism. A review of current theoretical issues in German-speaking prehistoric archaeology“ (2017).425 Es sind regelmäßig die methodischen Grundprobleme, die unter neuen Blickwinkeln wieder aufgegriffen werden. Dabei geht es zumeist um die schriftlosen Phasen der Urgeschichte; für die jüngeren Jahrhunderte der Frühgeschichte fehlen noch weitgehend diese Analysen. Aber die Interaktion in der Archäologie, wenn es um Netzwerke mit Blick auf die materielle Kultur und Gesellschaft geht, gilt für alle Epo-
419 K.P.Hansen 2009. 420 K.P.Hansen 2011; 2015. 421 Eggert, Veit (Hrsg.) 2013, 150, 108. 422 Burmeister, Müller-Scheessel (Hrsg.) 2006. 423 Veit 2006 und in Englisch 2017. 424 Veit 2014. 425 Hofmann 2013; Hofmann, Stockhammer 2017.
7.1 Meine Thesen
147
chen.426 Soziale und kulturelle Grenzen und räumliche Identitäten in der Prähistorie hat J. Müller 2000 und 2006 erörtert,427 ebenso N. Müller-Scheessel 2013 mit Blick auf „Mensch und Raum“, also auf räumliche Fragestellungen mit kulturhistorischen, naturräumlichen, funktionalistischen, phänomenologischen Aspekten.428 Die Nachweisbarkeit von Wanderungsbewegungen, nämlich das Thema „Archäologie und Migration“ hat R. Prien in einer umfassenden Arbeit angegangen.429 Das Erkennen von Mobilitäten im archäologischen Quellenmaterial ist immer wieder Ziel der Überlegungen430 und wird für alle Epochen diskutiert, bis hin zu römischen Soldaten und fränkischen Adligen. Dass beispielsweise Schleswig-Holstein wie fast alle Landschaften Mittel- und Nordeuropas auch Aus- und Einwanderungsland war, lässt sich monographisch darstellen.431 Die immens zahlreichen Verbreitungskarten bzw. Fundregistrierungskarten von Artefakten aller Art sind das Abbild von Netzwerken; denn irgendetwas – darüber wird noch referiert werden (vgl. S. 580) – hat zur Verteilung geführt. Doch nicht jeder Fundpunkt ist dann gleich mit jedem anderen verbunden, und das womöglich noch in beiden Richtungen. Innerhalb dieses Netzwerkes, das mit steigender Fundortzahl immer dichter wird, sind die Beziehungen nicht gleichwertig; vielmehr wird es Verbindungswege geben haben, die herauszuarbeiten auch die Aufgabe der Archäologie ist, wenn daraus Verkehrssysteme, Nah- und Fernwege erkannt werden sollen.432 Vergessen werden dürfen weiterhin nicht die neuen und wichtigen naturwissenschaftlichen Methoden, beispielsweise die Archäobotanik, deren Möglichkeiten in einem Handbuch dargestellt sind,433 die Studien zur Haustierhaltung434 oder die modernen Blicke auf die Landschaftsgeschichte,435 und hinzukommen sind die Möglichkeiten der Materialanalysen, zusammengefasst unter dem Begriff „Archäometrie“.436 Um den technischen Verfahren in der Ur- und Frühgeschichte auf die Spur zu kommen, wie etwas hergestellt worden ist und wie manches Gerät verwendet wurde, hat sich der Zweig der „Experimentellen Archäologie“ entwickelt, auf die ich jedoch weniger eingehen werde. Außerordentlich zahlreiche Arbeiten der Archäologinnen und Archäologen habe ich zu Rate gezogen. Welche methodische Ausgangsbasis diese jeweils vertreten, wird
426 Knappett 2011; U. Müller 2009; Nakoinz 2017. 427 J. Müller 2000; 2006. 428 Müller-Scheessel 2013. 429 Prien 2005. 430 Matheus (Hrsg.) 2018. 431 Meier 2017. 432 Wehner 2019 für das Mittelalter im östlichen Mitteleuropa, mit dem Hang der Überinterpretation, was schließlich dann nicht mehr weiter führt, wenn die Grundstrukturen des Wege-Netzwerkes auch anderweitig schon erkennbar sind. 433 Jacomet, Kreuz 1999. 434 Benecke 1994; 2000. 435 Behre 2008; 2010 und 2013 (Meeresspiegelschwankungen); Haupt 2012. 436 Hauptmann, Pingel (Hrsg.) 2008.
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7 Zu den Thesen und Theorien dieses Buches sowie den angewendeten Methoden
selten in der Publikation genannt, und im Text der Darstellung ist das auch ebenso selten unmittelbar zu erkennen. Deshalb habe ich von Positivismus gesprochen; denn ich kann die archäologischen Aussagen nur so übernehmen, wie sie formuliert sind. Meine Kommentare zeigen jedoch deutlich, welche vorausgesetzten Meinungen hinter der Interpretation der archäologischen Befunde stehen. Die Modelle der ethnischen Zuordnung zu überlieferten Stämmen, die Auflösung der Probleme durch die Annahme von Wanderungen oder die Annahme, Gräber sind unmittelbar Spiegel des ehemaligen Lebens kritisiere ich direkt. Zu akzeptieren sind – bei der Berücksichtigung der oben genannten Quellenkritik – die veröffentlichten Siedlungsbefunde, ebenso die typologische Zuordnung der Sachgüter, der Fibelformen und Waffenausrüstungen. Widersprüche, die im Verlauf der Forschung in den letzten Jahrzehnten dabei aufgekommen sind, habe ich genannt und werde sie nachfolgend auch weiter nennen.
7.2 Problemfelder und Themenkreise In kurzer Zusammenfassung schildere ich in meinem Buchfolgende Problemfelder: Zum einen gehe ich allein von den archäologischen Quellen aus, um die Lebenswelten in Germanien während der Jahrhunderte um Chr. Geb. darzustellen, und die übliche antike Schriftüberlieferung wird nur in Ausnahmefällen randlich berücksichtigt. Denn ich zeige, dass diese antiken Quellen zahlreiche Topoi und Vorurteile beschreiben, die mit der damaligen Realität, wie sie eben die archäologischen Quellen bieten, nichts zu tun haben und den Schriftquellen oft diametral widersprechen. Zum anderen erläutere ich auf dem Feld der Archäologie ebenfalls einige Topoi, Vorurteile oder feststehende Deutungsmuster, die anscheinend die Ausgrabungsbefunde erklären, zusammengestellt in vielen Kartenbildern zur Verbreitung von Befunden und Sachgütern, und das sind: 1. Die Verknüpfung von gleichartig verbreiteten Sachgütern, Bestattungsbräuchen und Siedlungsformen mit den schriftlich überlieferten Stämmen, deren Wohnsitze anhand der antiken Quellen vermutet werden. Es handelt sich in der Fachsprache um die „ethnische Deutung archäologischer Kultur- und Formenkreise“. Das gelingt nur in äußerst seltenen Ausnahmefällen, und es müssen andere Erklärungsmuster gefunden werden. Kulturkreise sind keine Stammesgebiete. 2. Die Verknüpfung von Verbreitungsmustern und deren räumliche Verschiebungen, und Verlagerungen mit Wanderungen, allgemein mit Mobilität, wie sie ebenfalls der antiken Überlieferung abgelesen wird. Ausbreitungen und Verschiebungen von Kulturkreisen sind in der Regel fast nie Abbílder von Wanderungen. Auch hier müssen andere Erklärungen gesucht und erarbeitet werden. 3. Die archäologisch überlieferten Zahlen von Sachgütern oder auch von speziellen Ausgrabungsbefunden dürfen eigentlich nicht direkt ausgewertet und gedeutet werden. Denn sie sind nur das Ergebnis eines Forschungsstandes, der zwar in
7.2 Problemfelder und Themenkreise
149
den letzten Jahrzehnten beachtlich angewachsen ist. Aber diese Zahlen dokumentieren nur einen Bruchteil einst vorhandener Sachen, und die heute dokumentierten Zahlen stehen sicherlich nur für ein Prozent oder noch weniger der Fakten während der damaligen Zeit. Ein kostbares mit Edelmetall geschmücktes Schwert sollte nicht als Individuum beurteilt werden, sondern eher als ein Gruppenphänomen. Das dies tatsächlich so ist, hat der Einsatz von Metallsuchgeräten in den letzten wenigen zwei oder drei Jahrzehnten bestätigt, denn dadurch sind die Zahlen vieler Fundgruppen, beispielsweise römische Münzen oder Goldblechfigürchen und überhaupt Metallschmucksachen und -gerätschaften derartig vermehrt worden, von wenigen Dutzend Exemplaren in die Hunderte, dass der Hinweis auf ein Prozent gerechtfertigt ist. Das heißt aber auch, Sachgüter müssen – als ein Vielfaches hergestellt – auch als solche bewertet werden. 4. Die besonders auffällige Erscheinung der weiten Verbindungen von Skandinavien über das heutige Polen, die sarmatische ungarische Tiefebene bis zum Schwarzen Meer oder auch die umgekehrte Verbindung hat die archäologische Forschung intensiv beschäftigt. Manchmal verrät der Titel der Aufsätze, in welche Richtung die Beziehungen gelaufen sind, weil darin entweder der Norden oder das Schwarze Meer zuerst genannt werden. In einem Abschnitt gehe ich darauf näher ein. Jedenfalls gibt es eine Spannweite von Erklärungsmustern. In erster Linie wird von Wanderungen ausgegangen, von ganzen Stammesgruppen oder auch nur von Kriegern, die als Söldner unterwegs waren. In einigen Beiträgen schimmert durch, dass eine andere Lösung gedacht werden kann, nämlich eine europaweite Kommunikation der verschiedenen Gruppierungen, Skandinavier und Bewohner der südlichen Gebiete am Schwarzen Meer über anderweitige Verbindungen, auch von Handel und wandernden Handwerkern. Skandinavischer, südlicher, griechischer und römische Einfluss treffen zusammen. Wenn ein Ausrüstungsgegenstand oder ein Schmuckstück sowohl in einem Elitegrab auf Seeland in der Ostsee oder im jütländischen Moor von Thorsberg vorkommt und ebenfalls in einem Elitegrab in der Ukraine oder auf der Krim, dann fragt die Neugier, welche Art von Zusammenhang wohl bestanden hat. Nach einem von mir zitierten Diagramm sind mögliche Wege zur Interpretation fremder, auswärtiger Funde und Fakten zusammenzufassen:437 Es gab den Transfer von Gütern (als Tribut, Bezahlung, Beute, Handel, Gaben),438 von Personen (Migration und Mobilität), von Ideen (Religion. Mode, Ideologien), von Technologien (fremde Handwerker, Wanderhandwerker, auswärtig ausgebildete Handwerker), wofür diese verschiedenen Erklärungen angeboten werden. Das kommt ohne Wanderungen von Bevölkerungen aus.
437 Quast 2011a, 199 Fig. 1 (nach Michael Ober, RGZM). 438 Allgemein: Berndt 2011.
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7 Zu den Thesen und Theorien dieses Buches sowie den angewendeten Methoden
Im Verlauf meiner ausführlichen Darstellung ist sicherlich deutlich geworden, auf welchen methodischen Feldern ich eine Meinung vertrete, die zwar von manchen Forschungsrichtungen ebenfalls vertreten wird, aber noch nicht allgemein akzeptiert wird. Das sind zusammenfassend folgende Themenkreise: – Ethnische Deutungen und archäologische Kulturkreise beziehen sich auf so unterschiedliche Lebensaspekte damaliger Wirklichkeit, dass sie nicht zusammenzubringen sind. – Die mit verschiedenen statistisch und konventionellen archäologischen Methoden erarbeiteten Stufen- oder Phasenschemata sind nur chronologische Verständigungshilfen, haben aber keinen realen Bezug zur Vergangenheit; denn immer wieder werden übergreifende Phasen genannt, um eine Zeitstellung zu beschreiben, und die ehemaligen Kulturerscheinungen, abgebildet in den archäologischen Quellen, seien es Siedlungen oder Gräberfelder, decken meist mehrere derartige Epochen wie Römische Kaiserzeit und Völkerwanderungszeit ab. – Daten und Vorgänge wie Kriege oder schriftlich überlieferte Wanderungen der Ereignisgeschichte sollen nicht mit archäologischen Gliederungen und Fundverbreitungen korreliert werden, weil sie einerseits ebenfalls unterschiedliche Seinsbereiche meinen und andererseits die archäologischen Sachverhalte immer wesentlich länger dauern als die zeitlich begrenzten Ereignisse, und die Archäologie kann nicht so feine chronologische Fakten fassen. – Die historisch überlieferten Wanderungen werden zumeist als kurzfristige Ereignisse mit Jahresangaben geschildert. Die sogenannten Wanderungen im archäologischen Fund- und Befundbild sind Jahrzehnte bis zum Jahrhundert dauernde Vorgänge, die somit anders bewertet werden müssen. Ausgewichen wird gegenwärtig auf Benennungen wie „verzögerte Landnahmen“ oder „Kettenmigrationen“. – Bilder begrenzter Verbreitungen von Sachgütern sind Ergebnisse der Forschungsgeschichte. Durch die intensivierten Ausgrabungstätigkeiten und den Einsatz von Metalldetektoren verdichten und erweitern sich alle Verbreitungsbilder rasch und umfassend. Anscheinend ist die Regel, dass – natürlich mit Ausnahmen – fast alle Sachgüter überall hingelangt sind, einheimische wie römische. – Kartenbilder sind zudem in der Regel mehr oder weniger – jedenfalls im archäologischen Sinne – zeitgleiche Darstellungen von Fundverbreitungen oder von Sachverhalten, die selten eine reale zeitliche Verlagerung oder Verschiebung zeigen. Als Beleg für Wanderungen eignen sie sich nicht. – Meinem methodischen Vorgehen, im Wesentlichen nur archäologische Quellen zur Erschließung des Altertums in Germanien zu verwenden und auszuwerten, geht auf folgende Beobachtungen der Forschung zurück: – Die bei den interdisziplinären Arbeiten auch mit der schriftlichen Überlieferung üblichen Kreisschlüsse sind zu vermeiden. – Da Daten der Ereignisgeschichte nur wenige Jahre, kaum einmal zwei Jahrzehnte umfassen, ist ein Vergleich der mit den Datierungsmöglichkeiten der Archäolo-
7.2 Problemfelder und Themenkreise
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151
gie kaum möglich. Auch wenn die Versuche der Archäologie bei der chronologischen Phasenbildung schon knappe Zeitspannen von 20 oder 30 Jahre erreichen wollen, sind das nur Scheinergebnisse; denn in den meisten Fällen müssen bei Datierungsvorschlägen zwei Phasen zusammengefasst werden, womit dann halbe Jahrhunderte angesprochen werden. Archäologische Quellen erlauben die Beschreibung anderer Aspekte der vergangenen Lebenswirklichkeiten als die Zustände und Vorgänge, die in der schriftlichen Überlieferung berichtet werden. Beide Zugänge sind notwendig und sinnvoll, doch sollte klar sein, dass verschiedenartige Aussagen gewonnen werden.
II Fakten: Die archäologischen Quellen
Auf welche Weise kann man sich der vergangenen Lebensweise in einem Raum Germanien nähern. Ich habe beschlossen, die Innenansicht von der Bevölkerung „zuhause“ beginnen zu lassen. Nach dem kurzen Blick auf die Landschaft gehe ich hierarchisch vor. Vom Haus über das Gehöft zur Siedlung, weiter zur möglichen Befestigung der Siedlung und zu ranghöheren Zentralorten und schließlich zur Nachbarschaft, also zum Netz der Siedlungen und zur Verbindung zwischen den Siedlungen. Die wirtschaftlichen Strukturen basieren ausgehend von der landwirtschaftlichen Basis auf Handwerk, technischen Kenntnissen und weiter auf Güteraustausch und Handel. Die gesellschaftlichen Strukturen führen über Herrschaft, fassbar mit dem Herrenhof und der Festhalle, und über die Religion mit Opferplätzen und Kultbauten zum vorherrschenden kriegerischen Aspekt, zur Bewaffnung und Kampfesweise sowie zu den so bedeutenden Heeresausrüstungen, fassbar in den großen Opferungen, und zu inzwischen auch entdeckten Spuren der Schlachtfelder. Zu den politischen Strukturen gehe ich von den Gefolgschaften aus über die territoriale Gliederung der Landschaft zu Fragen nach Grenzen und „Stammesgebieten“. Wesentlicher Teil von Religion sind Jenseitsvorstellungen, die sich auch – aber nicht nur – in den Bestattungsbräuchen spiegeln sowie in den inzwischen ebenfalls entdeckten und erkannten Kultbauten. Die Herrichtung und die Ausstattung der Gräber erlauben Einblicke in die soziale Gliederung der Gesellschaft, von der einfachen Bevölkerung bis zu den Eliten, sofern zuvor in einer begründeten methodischen Quellenkritik erläutert worden ist, inwieweit tatsächlich Gräber und Beigaben eine Widerspiegelung von Teilaspekten der damaligen Lebensverhältnisse gewesen sind. Germanien war Nachbar eines höher organisierten Staatswesens, des Römischen Reichs. Die Bevölkerung wusste vom Unterschied und reagierte in verschiedener Weise. Unabhängig von der kriegerischen Konfrontation wechselte Zivilisatorisches von der einen Seite auf die andere hin und her; das wird nicht nur im Alltag fassbar, sondern führte auch zu eigenständigen künstlerischen Ausdrucksformen und nicht zuletzt zu der – sich deutlich von Rom absetzenden – Erfindung der eigenen Runenschrift. Nach der Darbietung dieser facettenreichen Fakten wird gewissermaßen zusammenfassend erörtert, warum es Rom nicht gelingen konnte, Germanien als Provinzen in das Imperium einzugliedern. Die Konsequenzen spiegeln sich in unterschiedlichen Auffassungen von der Geschichte der Bevölkerung „Germanen“ und der Geschichte der Landschaft „Germanien“, damals, im 19. Jahrhundert und heute im 21. Jahrhundert, was erstaunlich viel immer noch mit Weltanschauung und Politik aufgrund zahlreicher Vorurteile zu tun hat. Wissenschaftliche Ergebnisse können zur Aufklärung beitragen, was aber nur dann Erfolg haben kann, wenn zugehört oder auch gelesen wird.
https://doi.org/10.1515/9783110702675-008
1 Landschaft und Klima 1.1 Landschaft Landschaft ist in zweifacher Hinsicht zu sehen, einerseits die reale Landschaft, entstanden im Laufe von vielen Jahrhunderten, und andererseits die bewusst von den jeweiligen Bewohnern gestaltete, man sagt „konstruierte“, Landschaft. Es gibt viele Überlegungen zum Raum und seiner Konstruktion durch die Bevölkerung in Germanien während der ersten Jahrhunderte n. Chr. Geb. und durch die heutige archäologische Wissenschaft. Reale Orte mit Hinterlassenschaften der Menschen sind eine materielle Manifestation einer soziokulturellen Formation, die Produktion eines solchen Raumes ist das Ergebnis eines sozialen Prozesses, sagte Paul Michel Foucault. John Wylie definiert Landschaft als Materialisationen und Sensibilationen, die wir sehen (als Archäologen); Landschaft ist eine Spannung zwischen sich selbst und der Welt, Landschaft kann vielfältig sein, in verschiedenen Zeiten in der Erinnerung und im mobilen Leben. Landschaften waren und sind Handlungsräume; den sozialen Raum bilden die normativen Relationen zwischen den verschiedenen Akteuren. Vincent Descombes sagt, soziale Relationen werden nicht auf der Basis von Normen geteilt zwischen mehreren Akteuren, sondern basieren auf den Normen des Stärkeren. Der soziale Raum teilt sich in dialektische Strukturen, in mein/dein, nahe/ fern, fremd/familiär, privat/ öffentlich und global/lokal. Die Landschaften beispielsweise des antiken Vergil sind intellektuelle und künstliche Produkte. Grenzen und Räume sind also sowohl sozio-kulturelle Konstrukte als auch physische Phänomene, es gibt soziale und kulturelle sowie natürliche Grenzen.439 Die Archäologen simulieren Räume, setzen physische gegen kognitive Karten, ihre Verbreitungskarten. Die kognitive Landschaftstheorie konstruiert kulturelle Landschaften als Prozesse, und kognitive Kartierungen verbinden physisch (Boden, Gewässer, Bewuchs, Relief) und kognitive (archäologische) Welten. Die Bewegung durch den Raum, durch eine Landschaft, ist zugleich die Bewegung durch ein System von weiteren Werten, Normen, Ideen.440 Es geht um eine fächerübergreifende Zusammenarbeit bei der Bewertung und Erkenntnis der Mensch-Umwelt-Beziehungen. Die „Landschaft“ musste erst entdeckt werden.441 Landschaften werden produziert also durch soziale, kulturelle, politische und wirtschaftliche Prozesse, was es schwierig macht, diese wahrzunehmen wegen der Mehrdimensionalität. Die Kartenbilder der Archäologie zeigen einen stabilen und statischen Zustand. Aber eigentlich werden kontinuierliche Prozesse und Netzwerke
439 Tagung „The Production of Space and Landscape“ im Oktober 2018 in Freiburg; 5th Annual Conference CE-TAG 2018 (Central Europe – Theoretical Archaeology Group); Blackbourne 2007 allgemein. 440 Theuws 2019, 126; Bourdieu 2008 (1977), 90; Th. Meyer, Tillessen (Hrsg.) 2011. 441 Kasper u. a. (Hrsg.) 2017. https://doi.org/10.1515/9783110702675-009
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als Basis der Produktion vom Raum und Landschaft gesucht. Eine Kartierung ist prinzipiell statisch, trotz der Versuche über verschiedene Zeichen und Symbole im Bild ein Nacheinander der zeitlichen Tiefe und Spannweite auszudrücken. Kurzzeitliche Aktivitäten und langzeitliche Effekte werden vielfach in den Kartenbildern nebeneinander gesehen, also Zeiten von Generationenlängen komprimiert. In der archäologischen Literatur werden mi Thiessen-Polygonen Grenzen rekonstruiert, die aber oft unrealistisch sind, weil sie Flüsse und Berge, also die geographische Umwelt nicht umfassend einrechnen können, oft werden die Größe und der Rang der Siedlung beispielsweise nicht berücksichtigt (vgl. 289 ff.). Diese Polygone gliedern in der Regel gleichrangig die Landschaft in Einflussflächen. Ein neuer Zugriff geht über die Erarbeitung von Beziehungsgefügen zwischen Siedlungen oder anderen kulturellen Strukturen, die als Netzwerke die Landschaften gliedern, oft auch zu hierarchischen Systemen. Die Beziehungen zwischen den Orten sind zuvor durch auswertende Vergleiche der archäologischen Ausgrabungsbefunde zu erkennen. Die Umwelt bestand also nicht aus gleichbleibenden Landschaften, sondern Landschaften haben und hatten ihre Geschichte wie die Menschen, die in dieser Landschaft lebten, wirtschafteten und ihren kultischen Bräuchen nachgingen und damit auch die Landschaft veränderten. Die Bevölkerung hat in diese Landschaft zu verschiedenen Zeiten eingegriffen und damit ein neues Aussehen und neue Strukturen geschaffen, die Landschaften nach eigenen Vorstellungen strukturiert und konstruiert, d. h. in der heutigen Landschaft sind die Spuren aller vorangegangenen Besiedlungs- und Nutzungsphasen indirekt eingeprägt, haben Relikte hinterlassen, und diese können durch die Archäologie erforscht werden. Als „gegenwartsbezogene Landschaftsgenese“ hat beispielsweise in Freiburg i. Br. ein universitäres Graduiertenkolleg von 2001 bis 2007 sich mit dieser Fragestellung dem süddeutschen Raum gewidmet.442 Die Bewohner – und das sollte nicht unterschätzt oder übersehen werden – im früheren Germanien sahen die Spuren ihrer Vorgänger, ob das nun Grabhügel oder Ringwälle waren, und versuchten oftmals, sich daran anzulehnen, um Ansprüche auf Land durch diese Verbindung zu vorgestellten „Ahnen“ zu belegen. Als gegenwartsbezogene Landschaftsgenese konnte man zu jeder Zeitphase, damit auch während der ersten Jahrhunderte n. Chr. Geb., jeweils den Zustand der Landschaft registrieren, in der man lebte, und sehen, was zuvor Generationen zu der bestehenden Situation beigetragen hatten, und wie man damit nun weiter umgehen sollte. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 2. Oktober 2018 hat Angelika Epple einen Teil ihres Vortrags beim Historikertag in Münster veröffentlicht. Es geht dabei um Räume allgemein und für meine Zwecke auch um archäologische Räume und um die Auffassung der Geschichtswissenschaft zum Begriff des spatial turn, weshalb ich hier zitiere: Ein „Raum“ wird nicht nur durch seine geographischen Koordinaten bestimmt; es sind die Beziehungen der Menschen, die Räume zu kulturellen oder
442 Mäckel, Steuer, Uhlendahl 2011.
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sozialen Räumen machen; Beziehungen von Kaufleuten zwischen verschiedenen Orten schaffen Verflechtungen und damit Räume […]; Heimat steht nicht im Gegensatz zu Mobilität und gesellschaftlichem Wandel; im Umgang mit der Vielfalt steckt die Herausforderung, sich eigener Überzeugungen zu vergewissern […] Wer die Bedeutung von Beziehungen und Interaktionen für die Konstruktion von Räumen betont, sollte sich […] auch der Diskussion darüber stellen, wie die Einheit (nicht die Einheitlichkeit!) von Räumen inhaltlich bestimmt wird […]. Alle diese Beziehungen verändern diesen Raum und bringen ihn hervor, sie relationieren ihn, und er wird damit ein anderer.
Die vom Menschen umgestaltete Landschaft wird in den letzten Jahrzehnten als ein methodisches Problem erkannt und beschrieben. Das Vokabular nimmt auch oft noch in unserer Gegenwart nicht zur Kenntnis, dass einmal vom Menschen wirtschaftend veränderte Landschaft nicht wieder in eine Naturlandschaft der vorangegangenen Zeit zurückverwandelt werden kann. Das ist so seit der Sesshaftwerdung der Menschen mit ihrer bäuerlichen Wirtschaftsweise im frühen Neolithikum, der Zeit der Bandkeramischen Kultur, um 5000 v. Chr. Die Bewertung der Landschaft durch die archäologische Forschung geht über die einfache Kartierung und Lokalisierung von Siedlungen und Gräberfeldern in der physischen Umwelt der Landschaft hinaus. Ziel ist – wie schon früher auch – die Zusammenhänge zwischen den kartierten Fakten zu erschließen. Siedlungs-, Umwelt- und Landschaftsarchäologie ist als Entdeckung und Analyse des Raumes zu sehen.443 Es geht um raumbezogene Identitäten.444 Ein „Raum“ ist nicht als ein statischer „Behälter“ für „Kultur“ vorzustellen, sondern als einen durch soziales Handeln konstruierten, sich ständig wandelnden Raum, wobei dann verschiedene räumliche Reichweiten zu unterscheiden sind.445 Th. Meyer hat 2009 eine weitgreifende theoretische Abhandlung zu Umweltarchäologie und Landschaftsarchäologie einschließlich deren Geschichte vorgelegt.446 Weiterführend ist sein Hinweis auf das Schichtenmodell des Geographen Alfred Hettner aus dem Jahr 1927 (!), das mit der Bibel (Genesis 1) parallelisiert wird.
443 Brather 2011b. 444 Weichhart 1990. 445 Brather 2014a; Weichhart 1990, 75 ff. 446 Th. Meier 2009, 726 Tab. 2; dazu Th. Meier, Tillesen (Hrsg.) 2011.
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Hettner 1927
Genesis 1
Kultur – Politik Wirtschaft Siedlung Bevölkerung Fauna
6. Tag: Mensch
Flora Boden – Wasser Klima Geologische Schichten/Oberflächenformen
6. Tag: Landtiere 5. Tag: Wassertiere und Vögel 4. Tag: Sonne und Mond 3. Tag: Pflanzen 3. Tag: Erde und Meer 2. Tag: Himmel und Wasser 1. Tag: Licht und Finsternis
Der christliche Schöpfungsmythos wird als ein Evolutionsmodell seit langen auch von der archäologischen Forschung verwendet. Viele Publikationen (auch meine) beginnen mit Darstellungen zum jeweiligen Klima und dem geologischen Relief der Landschaften. Doch reicht das längst nicht mehr aus, weil die vorgegebenen Faktoren der „Landschaft“ nicht absolut zu nehmen sind; denn die Bevölkerung zum Beispiel in Germanien der Jahrhunderte um und nach Chr. siedelten und handelten in einer von den früheren Menschen zuvor schon deutlich veränderten und strukturierten Landschaft, und diese lebten ebenfalls in einer zuvor veränderten Landschaft. Spuren dieser früheren Eingriffe in die Ausgangslandschaft (die übrigens auch ihre „natürliche“ Geschichte hatte) waren und sind in die Landschaft eingeprägt und können entdeckt werden. Wir haben das „Gegenwartsbezogene Landschaftsgenese“ genannt (vgl. S. 158), haben am Oberrhein diese Spuren zu dokumentieren versucht, was, theoretisch natürlich nur, die früheren Generationen ebenfalls hätten machen können. Gegenwärtig und in diesem Buch kann das nicht für alle Räume nachgeholt werden. Aber Landschaftsveränderungen durch den Menschen um Chr. Geb., in Zeiten eines Umbruchs, sind beispielsweise im Emsmündungsgebiet dargestellt worden.447 Eine konsequent angewendete Landschaftsarchäologie erlaubt dann auch die Schätzung von Bevölkerungszahlen,448 worauf ich noch zurückkommen werde (vgl. S. 381). Der Einfluss der physischen Landschaft wird oftmals vernachlässigt, obwohl dieser Einfluss immer eine Rolle gespielt hat bei der Gründung von Siedlungen, nämlich Relief, Gewässer, Bodengüte und Pflanzenbedeckung. Jetzt wird immer zuerst an die vom Menschen konstruierte Landschaft gedacht. Die Landschaft der Lebenden, des Lebens, die Landschaft der Ahnen und die leere Landschaft existieren nebeneinander. Das trifft beispielsweise zu, wenn Kultorte betrachtet werden, die viele Jahrzehnte, gar Jahrhunderte in gleichbleibendem Sinne gedient haben. Bei 447 Siegmüller 2018a. 448 A. Zimmermann u. a. 2004.
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den später darzustellenden Heeresausrüstungsopfern in Jütland wird das bedacht; denn geopfert wurde in Abständen in gleichartiger Art über mehrere Jahrhunderte. Die „stratigraphische“ Folge, die „geschichteten“ Befunde in einer Landschaft sollten daher gesehen werden. Bei den neolithischen Rondellen als Kultorte wird in erster Linie auf die Ausrichtung zur Sonne, den Sternen oder den Gebirgen am Horizont gesehen. Doch zuerst einmal sind sie selbst soziale, kommunale und sakrale Plätze mit diesen Funktionen, die beachtet werden müssen; die Ausrichtung zu Himmelskörpern ist nachgeordnet, auch wenn diese bei der Planung berücksichtigt worden ist. Das trifft ebenso zu für die Kultplätze in Germanien während der ersten Jahrhunderte um und n. Chr. Ziel sollte der Versuch sein, sich in das Denken der damaligen Bevölkerung hineinzuversetzen, über die moderne Beschreibung der Befunde hinaus, d. h. nicht das heutige Moor oder der verlandete See sind unmittelbar als heilige Haine zu sehen, sondern mit Hilfe naturwissenschaftlicher Methoden, der Bioarchäologie, ist die damalige Umwelt zu rekonstruieren, in die der damalige Mensch hinein gehandelt hat. Die Forschung befindet sich im Dreieck „Archäologie – Geschichte – Biowissenschaften“ und hat die Gleichrangigkeit der Quellen zu berücksichtigen. Eine Hierarchie der Quellen sollte nicht eingeführt werden, auch wenn ich in diesem Buch bewusst die archäologischen Quellen als Grundlage und Ausgangspunkt wähle und die schriftliche Überlieferung außer Acht lasse. Es gelingt auch im Nachfolgenden nicht immer, diese Vorüberlegungen ausreichend zu berücksichtigen, weil vielfach von mir referiert wird und es nachträglich nicht leicht ist, die vorgeschlagenen Beschreibungen und Interpretationen der verschiedenen Wissenschaftler zu verändern bzw. zu erweitern. Aber völlig in die Irre gehen Denkmuster, neopagane Kraftorte an alten germanischen Kultplätzen aufzuspüren oder zu entwickeln.449 Die mittel- und nordeuropäischen Landschaften waren zur Zeit der „Germanen“ nicht wesentlich anders gegliedert als in der Gegenwart. In der norddeutschen Tiefebene bestimmten aber damals noch weiträumige Moorflächen die Gebiete zwischen den großen, in die Nordsee fließenden Ströme, was weniger ausgeprägt war in den Bereichen südlich der Ostsee aufgrund der eiszeitlichen Landschaftsgestaltung. Die Moore sind gegenwärtig weitgehend beseitigt, trockengelegt und zu Ackerland verwandelt, bestanden aber weit bis in die Neuzeit hinein. Von den ursprünglich in Niedersachsen vorhandenen 450 000 ha Moorfläche … existieren heute noch ca. 25 000 ha. In ganz Deutschland sind nur noch rund 1% der ursprünglich vorhandenen 15 000 m2 Moorflächen vorhanden.450
Diese Zahlen von F. Bittmann kann man auch zusammenfassen: In Niedersachsen gab es also 4500 km2 Moorflächen, von 3000 km2 Hochmoore, wovon heute nur noch
449 Dippel 2016. 450 Bittmann 2002, 221 Zitat; zuvor Overbeck 1975 (Moorkunde).
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250 km2 übrig sind. Nach einer anderen Abschätzung lag der Anteil an Feuchtböden bei über 15% (ca. 7000 km2) und an Mooren bei 13% (ca. 6000 km2), und in den Niederlanden waren sogar 36% der Fläche einst mit Mooren bedeckt.451 Eine weitere Schätzung nennt 1975 für die Größe der einstigen Moorflächen in Niedersachsen sogar 6300 km2, was ein Sechstel des Landes, rund 16% bedeuten würde.452 Seen sind, so beispielsweise in Jütland, zu Mooren geworden.453 Zwar hat sich der Verlauf der Küstenlinie nach wiederholten Sturmfluten verändert, das sich ständig ändernde Wattenmeer gab es damals aber ebenso. Die Höhe des Meeresspiegels wechselte, und damit waren die Auswirkungen von Sturmfluten sehr unterschiedlich im Laufe der Jahrhunderte.454 Immerhin haben die archäologischen Ausgrabungen in der Küstenzone, in der Nordsee-Marsch mit den frühgeschichtlichen dörflichen Wurtensiedlungen, diese veränderten Höhen der Fluten nachgewiesen; denn die ältesten bäuerlichen Gehöfte um Chr. Geb. wurden noch zu ebener Erde zwischen den Prielen errichtet, und erst in den nachfolgenden Jahrhunderten mussten die Siedlungsplätze von Zeit zu Zeit immer weiter erhöht werden, um Schutz vor Hochfluten zu erreichen. Die archäobotanischen Methoden haben die Möglichkeit geschaffen, frühere Zustände von Landschaften zu rekonstruieren.455 Das ist nicht zuletzt für das Gebiet des vermuteten Varus-Schlachtfeldes zwischen Kalkrieser Berg und Großem Moor erarbeitet worden; und allgemein geht es über die nachzuweisende Vegetation, die anhand von Pollenanalysen- Diagrammen und über archäologisch gewonnenen Makroresten zu beschreiben sind. Die Vegetation wiederum hängt vom Klima bzw. dem Wetter mit Temperaturen und Niederschlägen, von den Böden und den Eingriffen der wirtschaftenden Menschen ab. Schwierig ist es oftmals, einen engen zeitlichen Horizont zu fassen In den Jahrzehnten nach Chr. herrschten Buchen- und Eichenmischwälder vor und auf leichteren Böden auch Eichen-Birken-Wälder, in feuchten Arealen Erlen- sowie Erlen- und Birkenbruchwälder.456 Bei der zunehmenden Besiedlung erscheint auch Roggen häufiger als neue Kulturpflanze, die aber zur Völkerwanderungszeit hin wieder zurückgeht. Ansonsten, so für den Raum Kalkriese, sind Erbse, Gerste und Einkorn sowie Saathafer nachgewiesen. Ein Pollenprofil des Weeser Moores bei Osnabrück belegt den jeweiligen Anteil von Birke (wenig), Erle (sehr häufig), Eiche und Buche (normale Menge), aber auch schon die Besenheide.457 Vielleicht hat es auch schon eine Niederwaldwirtschaft gegeben. Einkorn, die älteste 451 Zerjadtke 2018, 25 mit Lit. 452 Zerjadtke 2018, 26 Anm. 104, nach Overbeck 1975, 208; Jäger 1992, 146 nennt für die Niederlande rund 15% Moorflächen. 453 Heumüller 2019, 22 Abb. 3 Ausdehnung der Moore in Niederachsen noch um 1790. 454 Behre 2008, 44 Abb. 32; 2013; Siegmüller, Larle, Krabath 2019 zur Küstenlinie und der Marschenbesiedlung sowie späten Deichbau; Heumüller 2019, 22 Abb. 2. 455 Bittmann 2009. 456 Zur Waldgeschichte allg. vor allem schon Firbas 1949, Ellenberg 1996; zu Klima und Vegetation Willerding 1992, 344 Abb. 2 Karte der Wälder um Chr. Geb. in Mitteleuropa nach F. Firbas. 457 Bittmann 2009, 139 Abb. 12 nach Freund 1994.
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Form des kultivierten Weizens, ist widerstandsfähig gegen Schädlinge, enthält mehr Nährstoffe als Weizen und andere Getreidearten, Eisen, Zink und Magnesium und Vitamine sowie höheren Eiweißgehalt, und ist gut verdaulich wegen der Ballaststoffe, weshalb es heute wieder modern genutzt wird. Moore bedeckten tatsächlich große Teile der Landschaften südlich der Nordsee, in Norddeutschland und den Niederlanden. Das war jedoch auf den Norden begrenzt, während in den südlich anschließenden Mittelgebirgen die Landschaften weitgehend zugänglich waren. Das ist eine altbekannte Tatsache, die von der archäologischen Forschung regelhaft berücksichtigt wurde. Für Hessen kann man lesen: „Dort konnte man am Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. eine blühende agrarische Kulturlandschaft finden, mit Äckern auf den besten Böden und ausgedehntem Weideland für das Vieh, und zwar sowohl Wiesen und Weiden als auch Eichenhudewälder“.458 Nun hat ein Historiker mit der Frage „Sümpfe in Germanien. Topos oder Realität?“ mit Blick auf die Schriften von Caesar und Tacitus dieses Problem aufgegriffen.459 Es zeigt sich, was vorauszusehen war, dass in diesem Aspekt die antiken Schriftsteller nahe an der Realität waren. Germanien war von Flüssen durchzogen, von Sümpfen und Moore sowie vielfach von Wäldern bedeckt. Weil auch ich von Topoi rede, weise ich auf die Diskussion zum Begriff Topos hin, und greife die Meinung auf, dass „topische Aussagen durchaus einen historischen Kern transportieren können“.460 Die großen Flüsse gibt es seit vor- und frühgeschichtlichen Zeiten, aber bis zu 10 000 kleinere Binnengewässer, die nach der Eiszeit entstanden waren, sind heute verlandet. Viele Bäche und kleinere Flüsse wurden begradigt. Altarme und Nebenflüsse beseitigt. Früher mäandrierten alle Flüsse, und bei Hochwasserständen waren die Flussläufe von 10 bis 20 km breiten Auen begleitet.461 Dabei waren aber diese Flüsse und Ströme durch mehrfache Verläufe und Mäander über Furten leichter zu überschreiten als in der Moderne, so dass Brücken nicht nötig waren. Auch jede Landschaft hat ihre Geschichte, entwickelt und verändert sich in dem halben Jahrtausend, über das in diesem Buch berichtet wird.462 Beispielhaft wird die Landschafts- und Siedlungsgeschichte im südlichen Nordseegebiet geschildert.463 Im Binnenland blieb die Gliederung von Mittelgebirgen und Flusstälern im Wesentlichen gleich, aber doch bewirkte die Erosion als Folge abgeholzter Berghänge und gerodeter Tallandschaften teilweise beachtliche Veränderungen. Abgeschwemmte Auelehme von den Hängen bedeckten ältere Siedlungen der vorrömischen Eisenzeit, die man daher archäologisch oft nur noch bei Bodenaufschlüssen im Zuge von Baumaßnahmen metertief unter der Oberfläche entdecken kann. Andere Siedlungen auf flachen 458 Kalis, Meurers-Balke, Stobbe 2013, 74 f. Zitat. 459 Zerjadtke 2018. 460 Zerjadtke 2018, 7 mit Lit. in der Anm. 8; dazu auch Wolters 2006. 461 Jäger 1992, 139 ff.; zitiert auch nach Zerjadtke 2018, 26. 462 Küster 2007; Jäger 1992, 132 ff. Bodenabtragungen; 139 ff. Gewässer. 463 Schön 2017.
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Erhebungen können demgegenüber völlig abgetragen worden sein. In den Ebenen sind durch die intensive Nutzung des Ackerbodens durch mehr oder weniger tiefes Pflügen die sogenannten verbliebenen Kulturschichten der Siedlungen verschwunden. Geblieben sind nur sehr selten die einst zu ebener Erde eingerichteten Herdstellen zum Kochen und Heizen. Was die Archäologie noch auswerten kann, sind die sogenannten Pfostenlöcher der Hauskonstruktionen, die als dunkle Markierungen in den Ausgrabungsflächen nicht zu übersehen sind. Die von der archäologischen Forschung in den letzten Jahrzehnten erkannten Besiedlungsmuster bieten demnach auch nur einen unvollkommenen, wahrscheinlich begrenzten Einblick in die ehemalige Realität. Und schon diese ausschnitthaft erkennbare erstaunlich dichte Besiedlung allein widerspricht der Behauptung antiker Quellen über die schüttere, weit verstreute Siedlungsweise der Bevölkerung in dichten Wäldern Germaniens (Abb. 12). Verändert haben sich auch die Verhältnisse von Mooren und Seen, d. h. mehrere Seen, die in den Jahrhunderten um und nach Chr. Geb. offen waren, sind heute vollständig oder teilweise zu Mooren verlandet. Das wird dann relevant, wenn beispielsweise über die Heeresausrüstungsopfer in den südskandinavischen und dänischen Mooren berichtet wird (vgl. S. 706); denn diese waren, als geopfert wurde, zumeist noch offene Seen, von deren Ufern aus oder mit Booten die Opfergaben in die Seen gelangten und heute bei den Ausgrabungen in den Mooren gefunden werden. Schließlich ist das Gewässersystem mit den Flüssen, die in die Nord- und die Ostsee fließen oder auch beispielsweise nach Westen in den Rhein im Wesentlichen gleich geblieben. Aber wenn es um die Lokalisierung von Siedlungen geht, gilt zu berücksichtigen, dass die Flüsse nicht kanalisiert oder reguliert waren, sondern zumeist mäandrierten, was die Lageposition von Dörfern und Gehöften bestimmt hat. Alte Flussverläufe sind rekonstruierbar und heute über Laser-Scan und andere Verfahren bildlich zu erfassen.464 Landschaftsarchäologie ist ein neuer Forschungszweig geworden, Landschaftsgeschichten liegen für verschiedene europäische Gebiete vor, so z. B. ausführlich für Norddeutschland.465 Vielfach sind Flüsse und Bäche verlegt worden, wurden umgeleitet, nicht nur Kanalbauten änderten das Gewässersystem. In Norddeutschland und in der Küstenzone hat der im Frühmittelalter beginnende Deichbau das Landschaftsbild gegenüber den ersten Jahrhunderten n. Chr. Geb. verändert. Denn das wirkte auf die Wasserführung der Flüsse und vor allem auf den Grundwasserspiegel ein. Ähnliches geschah durch die Ausbreitung der Wassermühlen, ebenfalls im frühen Mittelalter, für die wiederum Wasserläufe umgeleitet und Dämme gebaut wurden, um Wasservorrat zu gewinnen. In den Mittelgebirgen wurde die Landschaft verändert durch Hohlwege, Stauwehre für die Holzabfuhr und Seen für den Bergbau, der Wasser brauchte für die großen, die Grubengebäude untertage entwässernden Räder. Auch die Klöster
464 Beispielsweise Berthold 2019, 16. 465 Haupt 2012; Steuer 2001b; Behre 2008; Doneus 2013, 301.
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Abb. 12: Besiedlungsdichte einer Teillandschaft bei Göttingen.
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griffen in den Wasserhaushalt ein, indem sie Fischteiche gleich in Reihen ausbauten. Aber alle diese Veränderungen gehören in das Mittelalter, noch kaum in die frühen Jahrhunderte. Im späteren Abschnitt wird ausführlicher zur „politisch-territorialen“ Gliederung der Landschaften in Germanien berichtet werden. Landschaft wurde organisiert, und zwar im Sinne von Verteilung der Siedlungen, der Lage der Produktionsstätten, der Konzentration herrschaftlicher Machtzentren und der kultisch-religiösen Einrichtungen.466 Zur rituellen Konstruktion der Landschaft und zur Lage der heiligen Plätze fanden vor wenigen Jahren wissenschaftliche Tagungen statt.467 Die Forschung ist noch auf dem Weg zur einer umfassenden Umwelt- und Landschaftsarchäologie.468 Die undurchdringlichen und schaurigen Wälder Germanien zur Zeit des Tacitus, vor denen die römischen Legionen Furcht empfanden, waren weitgehend auch keine natürlichen Urwälder mehr. Denn seit dem Neolithikum wurden immer wieder Waldflächen gerodet und für Weiden oder Ackerland genutzt; und erst nach dem Verlassen wuchs neuer, aber kein ursprünglicher Wald wieder hoch. Überhaupt gab es seit dem Neolithikum, also seit der Ausbreitung der ersten bäuerlich wirtschaftenden Gruppen, prinzipiell keine Naturlandschaften in Europa mehr. Einmal vom Menschen veränderte natürliche Pflanzenbedeckungen der Landschaft konnten nicht wieder in den Ursprungszustand zurückkommen; vielmehr bestimmten sich veränderndes wirtschaftliches Verhalten der Bewohner und das sich ebenfalls unabhängig davon auch verändernde Klima und Wetter dieses sich wandelnde Pflanzenkleid der Landschaften. Die wirtschaftenden Menschen berücksichtigten das damals schon bewusst wie zu allen Zeiten. Es sollte daran gedacht werden, dass sowohl Ackerbau als auch Viehzucht ebenfalls in den frühen Jahrhunderten in Germanien die Siedler zu bestimmtem Verhalten zwangen. Der Ackerbau entweder nur mit Sommer- oder später mit sich ergänzendem Sommer- und Winterfruchtanbau und die mehrfache Nutzung der Äcker erforderten entweder Düngung, die erst durch Mergel- und Mistdüngung nach und nach üblich wurde, ehe dann die Dreifelderwirtschaft erdacht und angewendet wurde. Vorherrschende Weidewirtschaft brauchte offenes Land, und das nicht etwa nur bei den reiternomadisch lebenden Gruppen, sondern auch bei den auf Schaf- und Ziegenhaltung mit größeren Herden sowie Rinderhaltung und -zucht beruhenden Systemen der ländlich wirtschaftenden Bevölkerungen in Germanien. Reichtum beruhte bei germanischen Gruppen auf zahlreichen Tieren, auf der Größe der Herden. Wohn-Stall-Häuser mit 20, 40 und mehr Boxen für Rinder spiegeln durchaus relativen Reichtum, auch wenn die Tiere kleiner waren als in modernen Zeiten. Die siedlungsnahen Wälder wurden aufgelichtet, nicht wegen des Holzes für die Heizung oder für
466 Fabech 1999. 467 Fabech, Näsman 2013. 468 Brather 2007.
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den Hausbau, sondern für die Waldweide von Rindern und vor allem von Schweinen; die Eichelmast ist bekannt, Laubheu wurde geerntet und in die Ställe gebracht. Die Schweinemast im Wald mit Eicheln begann jeweils im Oktober. Eine eigenständige Funktion hatten – wie zu allen Zeiten – auch für die germanische Epoche die Küstenzonen mit Landeplätzen und Häfen. Die Kommunikation über Wasser, auf Flüssen und entlang der nahen Küstenzonen, ist inzwischen archäologisch gut erforscht worden. Die vielgliedrige Inselwelt der westlichen Ostsee hat zeitweilig eine zentrale Rolle in der kulturellen Entwicklung der ersten Jahrhunderte n. Chr. Geb. gespielt, beispielsweise durch anscheinend besonders enge Kontakte über See zur römischen Welt und mit Vorbildcharakter für weite Bereiche Germaniens. Vieles spricht dafür, dass hier die Runenschrift erfunden worden ist. Die skandinavischen Landschaften sind weitgehend vom Meer aus erschlossen worden. Jede Gesellschaft strukturierte und konstruierte also die Landschaft, in der sie wirtschaftete und kultischen Bräuchen nachging, und zwar nach ihren eigenen Vorstellungen immer wieder neu. Doch gibt es auch Kontinuitäten, die beachtliche Zeitspannen von der vorrömischen Eisenzeit bis ins frühe Mittelalter umfasst haben. Die Bewohner stießen auf die Spuren ihrer Vorgänger, ob das nun Megalithgräber der Steinzeit, Grabhügel der Bronzezeit oder Ringwälle der Eisenzeit waren. Man betrachtete sich als berechtigte Erben der Landschaft und ihrer wirtschaftlichen Möglichkeiten, und versuchte – wie schon gesagt –, durch Anbindung und Rücksicht auf diese älteren Befunde über „Ahnen“ diese „rechtlichen“ Ansprüche auf Land zu belegen. Man konnte zu jeder Zeitphase, damit auch während der ersten Jahrhunderte n. Chr., jeweils den Zustand der Landschaft registrieren, in der man lebte, und sehen, was zuvor Generationen zu der bestehenden Situation beigetragen hatten. Der erwähnte Begriff „Landschaftsgenese“ will das ausdrücken: Die ersten Jahrhunderte in Germanien waren nur die Fortsetzung der Besiedlungen seit dem Neolithikum, und Veränderungsschicht über Veränderungsschicht lagerten sich ab und sind in die damals gegenwärtige Landschaft eingeprägt. Es gilt in dieser Studie, speziell die Phase der Jahrhunderte um und nach Chr. Geb. in Germanien zu erkennen und zu beschreiben. Die Landschaften sind immer vom Menschen organisiert worden, d. h. der eigenen Lebensweise angepasst worden.469 Daher versuche ich zu schildern, wie die Landschaft damals von Menschen besetzt war und ausgenutzt wurde. Die Waldbedeckung eines Landes ist eine relative Größe. Den Bewohnern im Mittelmeergebiet schien Germanien deshalb von undurchdringlichen Wäldern bewachsen, weil in den eigenen Landschaften die Bäume schon seit Jahrhunderten weitgehend abgeholzt, die Wälder verschwunden waren. Doch noch heute ist Deutschland immerhin zu einem Drittel mit Wald bedeckt, und da der Umfang der Wälder in den letzten Jahrzehnten sogar zugenommen hat,470 kann man davon ausgehen, dass in früheren
469 Fabech, Ringtved (Eds.) 1991, 1999. 470 Badische Zeitung vom 22. März 2018: Etwa 38,4 % Waldfläche gibt es heute in Baden-Württemberg;
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Jahrhunderten zeitweise weniger Wälder als heute vorhanden waren. Doch entscheidend ist die Mischung von Wald und Offenland. Die Siedlungen der Germanen lagen nicht verstreut wie Inseln als Lichtungen in einem dunklen Wald, sondern dicht besiedelte Landschaften erstreckten sich entlang der Täler, zwischen Waldzonen, die auf den Höhen und an den Hängen der Mittelgebirge wuchsen oder die großen Moorflächen säumten. Gern zitiere ich wieder einen Artikel aus der Zeitung von F. Pergande, Deutscher Wald, deine Bäume sind gezählt. Eine Runde Heimatkunde. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 51 vom 23. Dezember 2018. Darin heißt es, Deutschland besteht heute zu einem Drittel aus Wald, auf einer Fläche von 11,4 Millionen Hektar.471 In Hessen und Baden-Württemberg besteht sogar fast die Hälfte der Landesfläche aus Wald, in Bayern noch mehr. Wie Wald auf fremde Heere wirkte, den sie beim Marschieren auf alten „Heerstraßen“ durch offene Landschaft zwischen beiderseitigem Wald, könnte aus jüngeren Beschreibungen von Kampfhandlungen, beispielsweise im Dreißigjährigen Krieg, erfahren werden. Jedenfalls zeigen die zahllosen Schlachtengemälde, immer weite offene Landschaften, in denen die Heere gegenüber aufmarschierten. Die Schilderungen über die antiken Feldzüge der römischen Legionen schufen völlig an der damaligen Realität in Germanien vorbeigehende Vorstellungen in Rom. Das Klima hat zudem Einfluss auf die Waldgesellschaften. Heute gibt es bei den Nadelbäumen keine Engpässe; sie leiden aber sichtlich unter der Trockenheit, was auf den Klimawandel zurückgeführt wird. Bei der Eiche als wichtigstes Bauholz gab es im germanischen Altertum zeitweilig und in manchen Gebieten, dann auch im 13. Jahrhundert im Raum rund um den Harz und heute, Engpässe bei der Nutzungsmöglichkeit.472 Zu diesen antiken Vorurteilen der übermäßig von furchterregenden dichten Wäldern bedeckten Landschaft Germaniens kommt eine zweite Linie von Vorurteilen. Im späten 18. und im 19. Jahrhundert wurde als eine Eigenschaft dessen, was „deutsch“ sei, die Liebe zum Wald – nicht nur zur ‚deutschen‘ Eiche – erfunden.473 Dichtung der Romantik und die Liebe zur Natur bauten damit ein neues Vorurteil auf, das im Rahmen der historischen Forschung und der Erinnerung an die Antike und an Tacitus sowie die Berichte zur Varusschlacht für die bürgerliche Geschichtsschreibung eine Verschmelzung der antiken mit der eigenen zeitgenössischen Vorstellung finsterer Wälder schuf, die jedoch kein Gegenüber in der Realität hatten.
DIE ZEIT vom 11. Oktober 2018: Deutschlandkarte: Wald 30%, Landwirtschaft 51%, Gewässer 2,2%, Siedlungen 9%, Verkehr/Straßen 5%. 471 Seitz 2017: Ohne menschliche Siedlung wäre Deutschland überwiegend mit Wald bedeckt. 472 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. April 2019. 473 Borchmeyer 2017.
1.1 Landschaft
167
Es gibt mehrere detaillierte Analysen zur Vegetationsentwicklung, so vom ElbeWeser-Dreieck474 bis zur Wetterau und dem Lahntal in den Jahrhunderten um Chr. Geb. Die Pollenprofile von Atzbach bei Gießen im Lahntal, lagen einerseits außerhalb des Limes und andererseits im nördlichen Zwickel des Wetteraulimes. Zwischen der spätkeltischen und der germanischen Periode sei, so meinen die Untersuchenden, ein deutlicher Bevölkerungsrückgang zu erkennen; ein Teil der keltischen Bevölkerung sei wohl in der rhein-weser-germanischen Kultur aufgegangen. In Atzbach wurden keine Veränderungen im Verlauf der Besetzungsgeschichte beobachtet und – so eine interessante Bemerkung – eine Parallelisierung zur wechselhaften schriftlich überlieferten politischen Geschichte sei nicht möglich. Die Botaniker selbst weisen darauf hin, dass ihre Daten durchaus mit Sorgfalt zu berücksichtigen sind. Je nach Struktur der physischen Landschaft ist zu fragen, wie die Reichweiten der Pollenanalysen abzuschätzen sind, und die ist meist geringer als erwünscht.475 Besiedlungsschwankungen von der Latènezeit bis zum frühen Mittelalter werden im Spiegel südwestdeutscher Pollendiagramme zu erkennen versucht.476 Weder die kleineren noch die größeren Flüsse waren reguliert, wie wir das heute kennen und anfangen, das wieder zurückzubauen, sondern sie mäandrierten in den Landlandschaften. Die einzelnen Arme bildeten Inseln, im Wechsel, je nach den Folgen von Hoch- und Niedrigwassern. Vom Rhein über Ems, Weser und Aller, über Elbe und Oder bis zur Warthe und Weichsel ist das zu berücksichtigen. Denn sicherlich sind Siedlungen nahe am Fluss abgetragen oder zusedimentiert worden. Die Position der in den vergangenen Jahrzehnten ausgegrabenen Siedlungen scheinen regelmäßig in Wassernähe gelegen zu haben; aber wie exakt und wie nah das gewesen ist, sollte untersucht werden. Gräberfelder betrifft das weniger, da diese meist abseits der Siedlungen auf weniger für Ackerbau günstigem Boden, also beispielsweise an Hängen und leichten Anhöhen angelegt worden waren. Nicht zu vergessen ist, das auch kleine Gewässer für das Befahren mit Booten geeignet waren (s. u. S. 402 ff.). Bei dem Blick in die Landschaft zur Zeit der Jahrhunderte um Chr. Geb. wird leicht vergessen, dass die Nachwirkungen der Eiszeit noch zu spüren sind. Nach dem Abschmelzen der Eismassen mit ihren ungeheuren Gewichten seit der Zeit vor 10 000 Jahren hebt sich Skandinavien und senkten sich relativ Bereiche des nördlichen Mitteleuropas an den Küsten südlich von Nord- und Ostsee. Eine Drehachse verläuft in der Höhe von Schleswig-Holstein und Kiel, und seit der Zeit um 800/1000 hat sich nördlich dieser Achse das Land um einen Meter gehoben und südlich davon gesenkt. Noch einmal 1000 Jahre früher sind mehrere Dezimeter zu addieren. Was bedeutet das? Die Küstenlinien haben sich verändert, in den nördlichen Gebieten wuchs somit
474 Behre 2008; 2010. 475 Heußner 2018, Vortrag Berlin 2018. 476 Smettan 1999.
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1 Landschaft und Klima
der Landbereich an den Meeresufern, südlich aber sanken Uferlinien und Land, wenn es auch nicht sehr viel war, ging verloren, liegt heute unter Wasser. Der früheren Küstenlinien an der Nordsee sind auch für die Jahrhunderte um Chr. Geb. rekonstruiert, und Kartenbilder zeigen, welche Areale durch Sturmfluten und Landsenkungen verlorengegangen sind. Im Wattenmeer sind ehemalige Siedlungen bei Prospektionen und bei ersten „Grabungen“ entdeckt worden, darunter auch Brunnenfassungen. „Landschaften sind ein Teil unseres kulturellen Erbes, somit können sie wie ihre Lebensräume und die darin lebenden Arten als Kulturdenkmale gelten, ähnlich ihrer historischen Bauten und Bodendenkmäler. Es ist an der Zeit, Kultur, Natur und Landschaft als Ganzes zu betrachten“, so der Rezensent O. Nelle in „Archäologie in Deutschland“ 2018, zu einem Buch von P. Poschlod 2017 über die Geschichte der Kulturlandschaft, den Steuerungsfaktoren darin und der Artenvielfalt in Mitteleuropa.477
1.2 Klima Banal und allgemein akzeptiert ist, das Klima beeinflusste früher und beeinflusst heute das Handeln der Menschen; die Menschen veränderten die Landschaft und wirkten damit auch auf das Klima zurück. Diese Beeinflussung geht und ging auch damals hin und her. Die Archäologie berücksichtigt die Ergebnisse der Klimaforschung; denn Wohnweise, Wirtschaft, Ackerbau und Viehhaltung der Menschen sind abhängig vom Klima, direkter noch vom Wetter. Das Klima wirkt sich großräumig aus, das Wetter aber kleinräumig und beeinflusst somit direkt die Möglichkeiten des Alltags und damit indirekt die archäologisch erfassbaren Relikte des damaligen Lebens und Wirtschaftens. Über die fünf Jahrhunderte hinweg, um die es im Folgenden geht, waren die klimatischen Verhältnisse ebenfalls nicht gleichbleibend.478 Es gab schon immer einen Klimawandel, der sich auf die Besiedlungsgeschichte und die Lage der Dörfer auswirkte; das hing nicht zuletzt mit dem Zustand der Gewässer zusammen. Während der Römischen Kaiserzeit wiesen im weitesten Sinne die Niederschlagsmengen eine abnehmende Tendenz auf; und mit Blick auf den Wald war es eine Buchenzeit.479 Im Gebiet nördlich der Alpen setzte jedoch im 3. Jahrhundert eine nasse Kältephase ein.480 Die Veränderungen in der Niederschlagsmenge und der durchschnittlichen Temperatur wirkten sich nicht nur auf die Kriegsführung aus, sondern auch auf Ackerbau und Viehhaltung. Verkürzt gesagt gab es ein Klimaoptimum mit trockenen, warmen 477 Poschlod 2017; Archäologie in Deutschland 2018, Heft 1, 77. 478 McCormick et al. 2012. 479 Klostermann 2001, 48 Abb. 7 Gliederung des Holozän; Jäger 2009. 480 Konrad 2019, 255 zum Klima; Smettan 1999, Besiedlungsschwankungen ablesbar an den Pollendiagrammen.
1.2 Klima
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Sommern in den ersten, zumindest zwei Jahrhunderten um und nach Chr. Geb., und während der späten Römischen Kaiserzeit, zum 4./5. Jahrhundert hin, nahmen die Niederschläge und kühleren Temperaturen zu. Doch nicht überall verlief in dem gesamten Raum Germanien die Klimageschichte gleichgerichtet, landschaftliche Besonderheiten des Wetters sind inzwischen ebenfalls erforscht. Das Klima während der letzten Jahrhunderte der vorrömischen Eisenzeit, dem 2. und 1. Jahrhundert v. Chr. Geb. war nicht gerade angenehm; es soll feucht und kühl gewesen sein. Erst in den letzten Jahrzehnten v. Chr. Geb. wurde es trockener und wärmer.481 So war es etwa am Oberrhein im 2. Jahrhundert v. Chr. und im 1. Jahrhundert n. Chr. relativ feucht; zwischen dem Ende des 1. und der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts gab es dagegen regelmäßig längere Dürreperioden. Insgesamt waren also die ersten vier Jahrhunderte n. Chr. Geb. in Germanien eine vom Klima für die Wirtschaft, sei es Ackerbau oder Viehhaltung, sehr günstig, was sicherlich zur Intensivierung mit reicheren Erträgen beigetragen hat. Für die Altmark an der Elbe wird für die jüngere Römische Kaiserzeit eigentlich keine Klimaverschlechterung angenommen; zu Beginn des 3. Jahrhunderts gab es zwar eine kurze Trockenphase, doch normalisierte sich das Wetter zur Mitte des Jahrhunderts wieder.482 Die römischen Angriffskriege fielen also in eine dafür eigentlich besonders günstige Epoche, auch wenn die römische Überlieferung von überaus regenreichen Zeiten spricht: Die üblichen Entschuldigungen bei betrüblichen Niederlagen, die man in Rom gegenüber den Bewohnern der Stadt vorgebracht hat, weil man die Verhältnisse in den fernen Ländern von Italien aus nicht beurteilen konnte. Dagegen hatte wahrscheinlich das weniger angenehme Wetter während der jüngeren Römischen Kaiserzeit (die Zeit der Markomannenkriege) und nach der Spätantike Einflüsse auf Bevölkerungsbewegungen, auf Kriegszüge der Kriegsherren und damit auf das, was man früher als „Völkerwanderung“ bezeichnet hat. Zustände des jährlichen Wetters mit seinen langsamen, oft kaum spürbaren Veränderungen, hatten wie zu jeder Zeit unmittelbare Auswirkungen auf Ackerbau und Viehhaltung; einsichtig ist, dass bei feuchter und kühler gewordenen Wintern Rindvieh nicht mehr das ganze Jahr über auf der Weide belassen werden konnte, wie zu früheren Zeiten, sondern das Wetter führte zur Stallhaltung; eine Situation, die man an den archäologisch erforschten Hausgrundrissen in Germanien ablesen kann.483 In der frühen Völkerwanderungszeit hat es also in einigen Gebieten eine Verschlechterung des Klimas gegeben mit sehr trockenem oder auch besonders feuchten, kühlem Wetter. Das beeinträchtigte die Landwirtschaft, Ackerbau und Viehhaltung, archäologisch beobachtet zum Beispiel an Oder und Warthe, und führte auch zu einer Schwerpunktverlagerung des Handels. Fundstellen häufen sich an geographisch vor-
481 Krüger u. a. (Hrsg.) 1976, 209. 482 Schulte 2019, 129 nach Leineweber 1997 und Schmidt, Gruhle 2003, 424 Abb. 3. 483 W. H. Zimmermann 1999a; 2014.
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1 Landschaft und Klima
gegebenen Handels- und Transitwegen. Ob es tatsächlich einen Rückgang in der Zahl und Größe der Siedlungen gegeben hat, wird später (vgl. S. 387) erörtert werden; ist aber kaum nachzuweisen. Zeigen Gräberfelder tatsächlich östlich der Elbe eine Entsiedlung ab der Mitte des 5. Jahrhunderts an, führte das Wetter zu Emigrationen der „Germanen“ und zogen in diese Landschaften dann „Slawen“ nach? Oder handelt es sich bei dieser Beschreibung ebenfalls um eine überholte These aufgrund des früher noch eingeschränkten Forschungsstandes (vgl. unten S. 827)? Für das Gebiet und die Zeit der Varusschlacht bei Kalkriese um 9 n. Chr. haben die Ausgrabungen die offene Situation der Landschaft unmittelbar bestätigt. J. Harnecker sagt: „Kalkriese war kein germanischer Urwald“,484 und über die Verteilung der Moore, Wälder und Flüsse in Norddeutschland berichtet er an anderer Stelle.485 Somit wird die Bevölkerung in Germanien ihre umgebende Landschaft anders wahrgenommen haben, als die römischen Schriftsteller das aus zweiter Hand hörten und darüber zu berichten vermeinten. Es ist also notwendig, Allgemeinbehauptungen zu vermeiden und tatsächlich punktueller, konzentrierter die Landschaft zu betrachten; und das ist durch die intensivierte archäologische Geländeforschung auch möglich geworden: Man muss jeweils vor Ort nachschauen, wie es seinerzeit gewesen ist. Manuela Mirschenz hat im Rechtsrheinischen die Dichte der bis 2013 bekannt gewordenen Siedlungen der Römischen Kaiserzeit mit fast 100 Fundpunkten kartiert.486 Die Auswertung der Keramik unterscheidet Ware elbgermanischer und solche rhein-weser-germanischer Provenienz. Bei der Angabe der Besiedlungsdauer an den einzelnen Orten wird zu wenig bedacht, dass jeweils nur Teile ausgegraben worden sind und über die tatsächliche Dauer über die Jahrhunderte eigentlich nichts Sicheres gesagt werden kann. M. Mirschenz widmet dem grenzüberschreitenden Austausch breiten Raum, beschreibt die aus dem Römischen importierten Münzen, die Keramik einschließlich der Terra Sigillata-Sorten, Glasgefäße, Fibeln und Militaria und die figürlichen Bronzen, darunter auch die Statuetten aus Kamen-Westick. Zu Sachgütern germanischer Provenienz im Linksrheinischen gehören Bernstein, verschiedene Fibeltypen, Kämme und auch Keramik. Damit wird sie dem Titel ihres Buches gerecht, der auf die fließenden und damit offenen Grenzen in den ersten Jahrhunderten hinweist. Als Beispiel einer interdisziplinären Auswertung weise ich auf die Untersuchungen in Westfalen an der Emscher hin.487 Hier haben die Ausgrabungen Landschaftsund Umweltgeschichte, Klimageschichte und den Zustand der Vegetation und der Tierwelt interdisziplinär berücksichtigt. Die Emscher im mittleren Ruhrgebiet entwässert zum Rhein hin. Eine 12 ha große Flächengrabung in den Jahren von 2007 bis 2010 hat Siedlungsreste von der vorrömischen Eisenzeit bis in die späte Römische Kaiser484 Harnecker 2009. 485 Harnecker 2014. 486 Mirschenz 2013, 24 Abb. 5, 58 ff. mit Abb. 7 bis 10 mit der zeitlichen Aufgliederung. 487 Grünewald, Pape, Kasielke 2016.
1.2 Klima
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zeit freigelegt, mit 35 Hausgrundrissen und über 300 Speicherbauten. Aus drei kleinen Bächen dieser Epoche wurden 23 000 Scherben und 19 000 Tierknochen geborgen, als Abfall in den Altarmen des Flusses. Zu den Funden gehören römische Glasreste und eine Bronzegarnitur aus Kelle und Sieb, eine Schöpfkelle eigener Produktion, weiterhin ein römisches Halbdeckelgefäß und eine Delphinschnalle des 4. Jahrhunderts. Entlang der Emscher bestanden mehrere weilerartige Siedlungen, Rodungen führten zu Winderosionen. Die Siedlung bei Ickern bietet Kultureinflüsse aus dem Raum der Elbgermanen (s. u. S. 596) für die Jahrzehnte von 50/40 v. bis 10/20 n. Chr.488 Eine Ansiedlung bildeten zwei bis drei Hofstellen mit Haupthaus, Nebengebäude und zahlreichen Speichern pro Gehöft. Diese waren rechteckig umzäunt. Die rechtwinklig angeordneten Häuser von zwei getrennten Hofkomplexen aus dem Ende des 1. und dem frühen 2. Jahrhundert wurden bis ins 4. Jahrhundert mehrfach verlagert; man siedelte auch nicht weit vom Fluss. Es gab intensive Kontakte zu den römischen Provinzen am Rhein. Während der späten Phase der Römischen Kaiserzeit gelangten viele Importe aus der römischen Provinz, Gebrauchs- und Feinkeramik, Glas- und Metallsachen, Münzen, Fibeln, Bronzegeschirr, eiserne Wagenteile, sogar Fußfesseln (was auf Sklaven hindeutet) in das Siedlungsgebiet. Diese römischen Reste waren zwar oft nur Altmetall; Buntmetallschrott zirkulierte massenhaft im Hellwegraum. Die einheimischen Massenfunde aus den Altwasserläufen belegen einen auffällig hohen Rinderanteil am Viehbestand. Die Tiere waren teils größer als die einheimischen germanischen Rinder und werden als Lebendimporte erklärt, aber diese größeren Rinder waren andererseits auch einheimischer lokaler Herkunft, wie mit der modernen Methode der Strontium-Isotopie bewiesen werden konnte. Es sieht sogar so aus, dass die kleineren Rinder aus der römischen Provinz geholt worden sind. Die Besiedlung brach im 4. Jahrhundert ab, also zu Beginn der Völkerwanderungszeit. Einerseits ist über die Pollenanalyse großflächig die neue Ausbreitung naturnaher Wälder belegt; andererseits sagt die Analyse aber auch, dass in der Gegend weiter Getreide angebaut worden ist, das Gebiet also doch noch offen und besiedelt war. Diese Schilderung einer Ausgrabung vor wenigen Jahren ist ein Vorgriff auf die nachfolgenden Beschreibungen der Siedlungsverhältnisse in Germanien, die in den entsprechenden Kapiteln ausführlich ausgebreitet werden. Alle wesentlichen Elemente einer Siedlung kommen vor: Gehöftstruktur mit Haupthaus und Nebengebäuden, Umzäunung des Gehöftes, Verlagerung des Anwesens (worauf später besonders eingegangen werden wird), Hinweis auf Ackerbau und Viehhaltung, wobei auch der jeweilige Anteil von Land- und Viehwirtschaft messbar ist, Fernbeziehungen eines Dorfes und Anbindung an einen Handel. Die naturwissenschaftlichen Auswertungsmethoden führen weiter: Es geht nicht nur um die Bestimmung der Tierknochen, sondern die Pollenanalyse (mit der beschrieben werden kann, wie der Bewuchs einer
488 Pape, Speckmann 2010, 118 Abb. 1 Plan mit den Langhäusern; Mirschenz 2013, Taf. 10 Plan der Siedlung von Ickern, Taf. 11 Plan der Siedlung von Dorsten-Holsterhausen.
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1 Landschaft und Klima
Landschaft, mit den Anteilen der natürlichen Vegetation und der Landwirtschaft gewesen ist) oder die Strontium-Analyse (mit der über ihren Gehalt in den Knochen von Tier und auch Mensch die Herkunft registriert werden kann, weil der Strontiumanteil in jedem Gewässer anders ist und in der Jugend eingelagert wird) bieten einen neuen Zugang zu den altbekannten archäologischen Quellen. Als Summe ist festzuhalten: Das erste Vorurteil der antiken Quellen ist widerlegt, dass nämlich Germanien von undurchdringlichen Wäldern bedeckt gewesen sei und immer erbärmliches Wetter und Dauerregen geherrscht hätten. Das Land war großflächig gerodet und mit Siedlungen bedeckt. Das Wetter war durchwachsen, aber zumeist warm und relativ trocken, und das gerade zur Zeit der römischen Angriffskriege zu Anfang des 1. Jahrhunderts n. Chr. Bei einer Tagung in Berlin 2018 fasste K.-U. Heußner den Stand der Klimaforschung zusammen.489 Er weist indirekt auf das Klimaoptimum während der Römischen Kaiserzeit hin; denn auf den Steindenkmälern wären die Germanen immer leicht bekleidet. Das Klima war mindestens bis 250 n. Chr. stabil; aber 400 gab es höhere Niederschläge und geringere Temperaturen. Wegen des registrierten Vulkanausbruchs im Süden (vgl. unten S. 383) wird um 536 eine sogenannte „kleine Eiszeit“ vermutet. Der Autor schließt daraus weiter, dass Rom während der späten Römischen Kaiserzeit die Gruppen in Germanien destabilisierte durch neue Angriffe und schon selbst demoralisiert war, was dazu geführt habe, dass Rom Germanien nicht mehr erobern konnte. Festzustellen sei außerdem in den römischen Gebieten der Rückgang aller Bauaktivitäten, die auf einem Tiefpunkt von 200 bis zur zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts gewesen seien. Dann erst wieder hätte es einen neuen Ansatz gegeben; bis dahin wäre aus der Substanz gewirtschaftet worden. Gegenwärtig wird bei der Diskussion um den Klimawandel auf die Vergangenheit zurück geblickt und nun wieder der Untergang des Römischen Reichs auf das geänderte, verschlechterte Klima zurückgeführt.490 Nach einem Klimaoptimum folge eine kleine „Eiszeit“. Vom 2. bis zum 6. Jahrhundert sollen die Temperaturen im Römischen Reich um bis zu 2 Grad Celsius im Jahresdurchschnitt gefallen, so der Althistoriker K. Harper. Aber welche Gebiete des Reichs betraf das, und warum stärkte das die Gegner, Germanen oder Sassaniden. Missernten, Wirtschaftskrisen und Bevölkerungsrückgang, auch die Justinianische Pest (vgl. S. 383) waren die Folgen der Klimaveränderung. S. Strauss schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10.1.2010, dass schon 85 Aufsätze zu dieser These neu erschienen sind, vor allem von amerikanischen Althistorikern. Die Völkerwanderungen germanischer Gruppen seien auf diesen Klimawandel zurückzuführen, wieder eher einseitig ökonomisch deterministisch statt der inzwischen üblich gewordenen multifaktoriellen Erklärungen, also Umweltfaktoren sind entscheidender als innergesellschaftliche
489 Heußner 2018. 490 Harper 2020.
1.2 Klima
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Veränderungen. Wie gegenwärtige Flüchtlingsströme wird der gegenwärtige Klimawandel mit dem „Untergang“ des Römischen Reichs als Lehrstück parallelisiert. Doch S. Strauss fragt mit recht: Wie kam es, dass ein so großes, so ungeordnetes, so krisengeschütteltes Reich überhaupt so lange bestehen konnte – trotz Klimawandel und Einwanderung?
2 Haus, Gehöft und Siedlung Eine Fülle von zusammenfassenden Büchern zur Siedlungsweise in Germanien, vom Haus über die Gehöfte bis zu den strukturierten Siedlungen beschreibt die ungewöhnlich großen Zahlen der inzwischen archäologisch ausgegrabenen Befunde (Abb. 13).491
Abb. 13: Lage der ausgegrabenen Siedlungen mit Hausgrundrissen im nördlichen Mitteleuropa.
491 Kossack 1997; Beck, Steuer (Hrsg.) 1997; Fabech, Ringtved (Hrsg.) 1999. https://doi.org/10.1515/9783110702675-010
2 Haus, Gehöft und Siedlung
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Es gibt Berichte über „Haus Gehöft Weiler Dorf“ während der vorrömischen Eisenzeit.492 Monographien zum Haus, dem großen Wohn-Stall-Haus (meist geschrieben: Wohnstallhaus),493 zum Stall,494 zum Speicher495 und zu den Werkstätten in Grubenhäusern496 liegen vor, meist als Lexikonartikel im RGA. Auch für verschiedene Landschaften gibt es eigene Zusammenfassungen, so für die Niederlande,497 für Norddeutschland des 1. bis 5. Jahrhunderts498 sowie Ostdeutschland499 und für Dänemark,500 Schweden501 und Polen.502 Die wichtigen Ausgrabungsplätze werden nachfolgend ausführlich behandelt, und die meisten sind bis zum Jahr 2007 auch jeweils mit einem Stichwort im RGA vertreten. Die neu ausgegrabenen oder die erneut erweitert untersuchten Siedlungen werden ausführlich mit ihren Veröffentlichungen genannt werden. Die Publikationen spiegeln den überaus raschen Fortschritt des Forschungsstandes, der sogar innerhalb des Lexikons berücksichtigt worden ist. Herbert Jankuhn hat im RGA schon 1986503 Plätze wie Borremose, Grøntoft, Bärhorst bei Nauen (1935 ausgegraben) oder die Feddersen Wierde beschrieben, die dann in den späteren Bänden des Lexikons mit den neueren Grabungen und bedeutenden Ergänzungen wieder behandelt worden sind. In seiner „Einführung in die Siedlungsarchäologie“ 1977,504 die ich in meinem Buch von 1982 berücksichtigen konnte,505 aber nicht die jüngeren Lexikonbeiträge, wurden schon die entscheidenden Aspekte, die bei einer Darstellung der Siedlungsgeschichte berücksichtigt werden sollten, dargestellt. Wohl deshalb ist dieses Buch noch 2004 in Polen übersetzt herausgegeben worden.506 In einem Tagungsband von 1997 wurde ein Zwischenergebnis zur Haus- und Siedlungsforschung geboten.507 Eine Kurzform zu den „Siedlungsformen der Germanen“508 liefert P. van Ossel in dem umfangreichen Katalog „Rom und die Barbaren“, der 2008 in Venedig und Bonn zu Ausstellungen erschienen ist. Das Thema Haus, Gehöft, Weiler, Dorf während der vorrömischen Eisenzeit im nördlichen Mitteleuropa behandelte M. Meyer 2010.509 492 Meyer (Hrsg.) 2010. 493 Schuster 2007; W. H. Zimmermann 1997. 494 W. H. Zimmermann 1999a; 2014. 495 Løken, Carlie, Lund, Steuer 2005. 496 W. H. Zimmermann 2000. 497 Theuws 2012 mit Lit. 498 Nüsse 2014a; Karlsen 2018b. 499 Leube 1992a; 2009. 500 Douglas Price 2015, 262 ff. zum Siedlungswesen. 501 Baudou u. a.2004. 502 Im Rahmen der Wielbark- und Przeworsk-Kultur. 503 Jankuhn 1986a. 504 Jankuhn 1977. 505 Steuer 1982. 506 Jankuhn 2004, mit einem Nachwort von H. Steuer. 507 Beck, Steuer (Hrsg.) 1997. 508 van Ossel 2008. 509 M. Meyer 2010a, b.
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2 Haus, Gehöft und Siedlung
Ein neues Ergebnis liegt in der genannten Monographie von H.-J. Nüsse aus dem Jahr 2014 vor.510 Unmittelbar nähert man sich den Lebensumständen der Bevölkerung in Germanien, wenn man ihre Wohn- und Wirtschaftsweise betrachtet. Von der besonderen Hausform, dem Wohn-Stall-Haus, über das Gehöft mit Haupthaus und Nebengebäuden, sorgsam mit einem Zaun eingehegt, über die Gruppierung einer größeren Zahl von Gehöften zu einem Dorf, in dem teils gepflasterte Wege die Verbindungen zwischen den Höfen schafften, bis zur umgebenden Wirtschaftsfläche aus Allmende, Ackerland, Weide und Wiese wird die Grundstruktur der Siedlungsweise in ganz Germanien detailliert erkennbar. Dazu hat das archäologische Ausgrabungswesen erst in den wenigen letzten Jahrzehnten eine statistisch vollkommen ausreichend breite Grundlage für die Auswertungen geschaffen. Denn hunderte von dörflichen Siedlungen und tausende von Gehöftgrundrissen sind bisher erforscht, und die Ergebnisse mit Dorf- und Hausplänen sind auch wissenschaftlich aufgearbeitet und veröffentlicht worden. Diese Siedlungsweise in Germanien ist völlig anders, als die in den keltischen Landschaften oder in den benachbarten römischen Provinzen. Auffällig ist, dass eine Hierarchie im Gefüge des Siedlungsnetzes in der Regel fehlt, zumindest in den ersten Jahrhunderten. In der keltischen Welt gab es dörfliche Siedlungen und inmitten der Landschaften auch größere Zentralorte, die „frühstädtischen“ Oppida von beachtlichen Ausmaßen mit einer Ballung von Wirtschaft und Bevölkerung. In den römischen Provinzen war die Siedlungslandschaft ebenfalls hierarchisch gegliedert. Abgesehen von den militärischen Einrichtungen, den Legionslagern und Grenzkastellen, gab es größere Siedlungskomplexe, Städte, dazu vici, also Dörfer in verkehrsgünstigen Positionen, und verstreut über die Landschaft die Basis der römischen Landwirtschaft, die villae rusticae, in Gestalt verschieden großer und leistungsfähiger einzeln gelegener Gutshöfe. Im Übrigen gibt es keine Bildüberlieferung zum tatsächlichen Aussehen der Häuser in Germanien. So zeigen die Reliefs auf der Markussäule, errichtet zwischen 180 und 193 n. Chr. zu Ehren Mark Aurels, für die Germanen völlig andere Hausformen als die Gebäude in der Realität.511
2.1 Haus und Hof In Germanien demgegenüber gab es Dörfer, und nur Dörfer, kleinere Dörfer, die man als Weiler bezeichnet, und größere Dörfer, allgemein als Siedlung benannt.512 Ob und wie zahlreich und wo es Einzelgehöfte gab, bleibt umstritten. Denn von einem Einzelhof dürfte man nur sprechen, wenn in größerer Distanz zum Hof keine 510 Nüsse 2014a. 511 Turčan 2014. 512 Brabandt 1993, 18 Abb. 1 Hausbefunde der Römischen Kaiserzeit, 38 Abb. 9 Dreischiffige Hausgrundrisse; Vogt 1999; Nüsse 2014a.
2.1 Haus und Hof
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Siedlung bestanden hat. Oftmals ist eine dörfliche Siedlung auch locker angelegt gewesen, so dass leicht bei begrenzter Ausgrabung ein einzelnes Gehöft freigelegt worden ist und man die Nähe eines Dorfes nicht mehr erkannt hat. In der Frühzeit der Forschung wurde oftmals gemeint, einen Einzelhof entdeckt zu haben. Es scheint so, dass es während der vorrömischen Eisenzeit tatsächlich Einzelgehöfte gegeben haben könnte, die später dann zu Dörfern wuchsen. Für Jütland und die dänischen Inseln wie Seeland wurden auch jüngst noch Einzelhöfe veröffentlicht.513 Befestigungen, auf die noch einzugehen sein wird (vgl. S. 307), waren etwas Besonderes und umschlossen nur die Gehöfte einer dörflichen Siedlung, keinesfalls „ranghöhere“ zentrale Orte. Während die römischen Gebäude vollständig aus Stein oder als Fachwerkbauten zumindest mit einem Steinfundament errichtet waren, wählte die Bevölkerung in Germanien – nicht anders die in der Keltiké – als Baumaterial Holz. Balken aus bearbeiteten Baumstämmen bildeten das Gerüst der Häuser, die Fachwerkwände waren aus Flechtwerk, das mit Lehm verputzt wurde. (Eine Nebenbemerkung: Auch sollte man berücksichtigen, dass die Bauweise der Häuser mit Fachwerk auf einem Steinfundament diese Gebäude erdbebensicherer machte als dies bei Häusern, die vollständig aus Steinmauerwerk errichtet sind, der Fall ist.) Es gibt einen ausgezeichneten Forschungsstand.514 Die Beschreibung von H.-.J. Nüsse (bzw. jetzt auch nach Namensänderung von H.-J. Karlsen) fasst ihn zusammen. Die Gesamtkartierung der berücksichtigten Hausbefunde zeigt auch den Zuwachs an Befunden in den letzten Jahren. Hatte zuvor J. Brabandt 1993 immerhin 209 Fundorte auflisten können, waren es 2014 (und wieder 2018) schon 2000 Hausgrundrisse von 400 Siedlungsplätzen, die H.-J. Nüsse berücksichtigt hat; das sind Häuser des späten 1. Jahrhunderts v. Chr. bis ins 5. Jahrhundert n. Chr. in Nordostdeutschland, Nordwestdeutschland, Ostdeutschland (Brandenburg und Sachsen), den Niederlanden, in Jütland und auf den dänischen Inseln und in Südschweden; sogar Mittel- und Süddeutschland werden mit ihren wenigen Beispielen berücksichtigt (vgl. oben Abb. 13). Reihen von Hausgrundrissen aller Art werden ausreichend abgebildet; es sind aufgrund der Erhaltungsmöglichkeiten fast immer nur die Pfostenstellungen. Die im Folgenden genannten Fundorte werden später einzeln beschrieben. Einige Siedlungen werden vorgestellt, so Flögeln im Elbe-Weser-Dreieck vom 1. Jahrhundert bis ins 5./6. Jahrhundert mit Gehöftformen von 2000 bis 8200 m2. Darauf aufbauend werden verschiedene Hoftypen definiert, auf die ich jedoch nicht einzeln eingehen werde. Nur so viel hier: Hoftyp 1 bilden eingefriedete agrarische Anlagen; dazu gibt es die befestigten sogenannten Mehrgehöft- und Großsiedlungen (Zeijen/Witte Veen, Vries, Zeijen/Noordse Veld, Noordbarge, Rhee), rechteckig mit vier oder mehr Langhäusern darin, die von mir später unter „Befestigungen“ beschrieben werden, ebenso wie die Befestigungen Archsum-Burg auf Sylt, Tinnumburg und Trælbanken an der Schles-
513 A. B. Sørensen 2007; Aarsleff, Appel 2011; O. L. Jensen 2011, 65 „The end of the single farmsteads“. 514 Nüsse 2014a, 17 Abb. 1 Gesamtkartierung der Befunde, Abb. 173 Karte der Rasensodenhäuser.
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2 Haus, Gehöft und Siedlung
wiger Westküste.515 Hingewiesen wird als anderer Typ auf die spezielle Bauweise der Grassoden- oder Plaggenhäuser wie Archsum Melenknop auf Sylt, ergänzt mit einer Karte von den Nordfriesischen Inseln bis zum Limfjord. Die Gehöftformen in Jütland und auf den dänischen Inseln mit 1000 bis 3500 m2 Größe werden auf mehreren Seiten mit Abbildungen gezeigt, darunter der Typ des Reihendorfes mit den Beispielen Nørre Snede und Galsted, später auch Vorbasse, dem Typ Runddorf, darunter ebenfalls Nørre Snede und Hjemsted (zu den Siedlungen vgl. unten S. 192 und 256). Der Typ Haufendorf findet sich in Priorsløkke, Vendehøj und Sejflod. Die Gehöftstrukturen in Südschweden sind gleichartig wie sonst auch, doch herrscht hier die Bauweise mit Steinfundamenten vor. H.-J. Nüsse unterteilt die sechs Jahrhunderte vom 1. Jahrhundert v. bis zum 5. Jahrhundert n. Chr. in sechs Horizonte der Haustypen und Hauslandschaften.516 Es geht dabei um die Verteilung der ein-, zwei- und dreischiffigen Wohn-Stall-Häuser. Es gibt nach dem Autor fünf Traditionslandschaften: Südschweden, Jütland, die dänischen Inseln, die Nordseeküste, die Niederlande und Westfalen. Überall ist dann eine Verlängerung der Häuser während der Römischen Kaiserzeit zu registrieren. Die andernorts (vgl. unten S. 324) anscheinend befestigten Siedlungen oder Marktplätze in den Niederlanden wie Rhee und Zeijen werden jetzt wie die Orte auf Sylt wie Archsum als Kultplätze gedeutet. Ich referiere knapp diese Monographie, weil ich nicht mit allem einverstanden bin. Die Typenbildung scheint zwar eine gewisse Ordnung in die Masse der Grundrisse von Häusern zu bringen, aber ich halte das für zu künstlich gewollt. Man erinnere sich an die Haustypen des Mittelalters und der Neuzeit, es gibt – definiert beispielsweise von der Siedlungsgeographie – ebenfalls das Haufen-, Reihen, Straßen- und das Angerdorf und sogar den Rundling. Doch haben diese Dörfer eine ganz andere Geschichte. Ein Reihendorf der Römischen Kaiserzeit in Germanien darf nicht verwechselt werden mit einem Straßendorf der frühen Neuzeit. Ebenso sehe ich noch ein Problem bei der Beschreibung von Hauslandschaften, zu denen von H.-J. Nüsse kleinteilige und sich überlappende Farbkartierungen geboten werden.517 Sie können eine gewisse Ordnung in die Befunde bringen, lassen aber keine klare kulturgeschichtlich relevante Aussage für die ersten Jahrhunderte n. Chr. erkennen. Jedenfalls stimmen diese Verbreitungen nicht mit denen der noch zu beschreibenden Keramikkreise (rhein-weser-germanische, westgermanische oder nordseegermanische Keramik) überein. Eher stimme ich zu, wenn der Autor Traditionsräume im Hausbau erkennt, also Kontinuitäten über die Zeit hinweg. Solche Räume bietet ganz Westfalen und das rechtsrheinische Limesvorland, das südlichen Nordseeküstengebiet bis weit nach Niedersachsen hinein nach Süden, der skandi-
515 Dazu auch weiter Aufderhaar 2015. 516 Nüsse 2014a, 263 f. und Abb. 256–261; Rez: Eichfeld 2018 (2019) 379. 517 Nüsse 2014a, 267 ff. mit Abb. 256 ff.
2.1 Haus und Hof
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navische Kreis mit Dänemark und Schweden zusammen, das östliche Brandenburg (und die westlichen Bereiche des polnischen Raums).518 Ebenfalls werde ich noch darauf eingehen, dass die Hauslängen zu Anfang von 15 bis 20 m bis auf 35 bis 40 m zum 5. Jahrhundert hin wachsen; einige Häuser sind sogar noch länger als 40 m. Zu den Langhäusern gehörten meistens Grubenhäuser, und zwar immer mehrere, da sie nicht so lange nutzbar waren wie ein Langhaus gestanden hat. Auf die Beschreibung von Groß-, Adels- oder Herrenhöfen gehe ich ebenfalls in einem eigenen Abschnitt (S. 342 ff.) ausführlich ein. Die Definitionen des Autors für die Gliederung der Menge der Hausgrundrisse sind der Fachliteratur entnommen: 1. Einzelhof, 2 Besondere Größe, 3 Abweichender Haustyp, 4 Platzkonstanz eines Gehöfts, 5 Deutliche bauliche Abgrenzung von der Siedlungsgemeinschaft, 6 Herausragendes Fundmaterial, 7 Konzentration von handwerklichen Tätigkeiten in Nebengebäuden, 8 Reiche Gräber in der Nachbarschaft. Auch diese Kategorien sind problematisch und reichen keineswegs aus, zumal sie sich teilweise widersprechen; denn Herrenhöfe gibt es ebenfalls und sogar oft im Siedlungsverbund.519 Ob Siedlungsplätze der älteren Römischen Kaiserzeit bei „Fürstengräbern“ wie Hoby oder Hitzacker-Marwedel und auch anderswo tatsächlich und nicht nur hypothetisch Machtzentren gewesen sind, eben wegen Nähe der Höfe zu Fürstengräbern wie an der Niederelbe, diskutiere ich später. Die Durchmesser derartiger „Herrschaftsgebiete“ von 50 km werden zwar nicht von H.-J. Nüsse im Radius in der Bildunterschrift (ein Fehler) genannt, stimmen aber mit meinen Vermutungen überein (S. 381 u. a.). Für die Charakterisierung eines germanischen „Fürstensitzes“ fordert H.-J. Nüsse wiederum eine Reihe von Kriterien: 1. Bestattung der Elite in Fürstengräbern, 2. Hinweise auf eine über mehrere Generationen ansässige Elite, also gewissermaßen mit Zügen zu einer Dynastiebildung, 3. Gehobene Trachtausstattung bei Frauen, 4. Besondere topographische Lage, 5. Größerer Siedlungskomplex mit überdurchschnittlich vielen Gehöften, 6. Verstärkter Umfang handwerklicher Tätigkeit, Buntmetallverarbeitung, hohe Grubenhausanzahl, 7. Intensive Eisenverhüttung, Kontrolle der Ressourcen, 8. Römische Importfunde in der Siedlung, 9. Wildtieranteil, gehobene Ansprüche bei der Ernährung, 10. Gräberfelder mit Waffenbeigaben in der näheren und weiteren Umgebung, im Umfeld. Auf diese Kriterien gehe ich ebenfalls später ein, zusammen mit ähnlichen Vorschlägen zu sozialen Hierarchie in den dörflichen Gesellschaften.520 Bisher ist wenig untersucht worden, wer eigentlich die Langhäuser mit ihren perfekten vom Zimmermann geschaffenen Gefügen des Pfosten- und Gefachsystems gebaut hat. Das kann in Nachbarschaftshilfe geschehen sein, da Zimmerleute in jeder Siedlung gebraucht wurden, ebenso wie Schreiner für Möbel. Es könnten jedoch 518 Nüsse 2014a, 273 Abb. 262. 519 Nüsse 2014a, 314 Tabelle der „Herrenhöfe“, vgl. dazu meine Beispiele (unten S. 343), 317 Fürstensitze. 520 Nüsse 2014a, 328 Abb. 314 Karte.
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Wanderhandwerker, von Ort zu Ort reisende, je nach Bedarf gerufene Gruppen von Zimmerleuten gewesen sein. In späteren Zeiten gab es so etwas, was aber nicht ohne weiteres in die ersten Jahrhunderte n. Chr. zurückprojiziert werden darf. Für normiertes Bauen durch Fachleute spricht, dass es sowohl Hauslandschaften und traditionell widerholte Innengliederungen der Häuser als auch Kontinuitäten im Hausbau selbst gibt. In diesem Zusammenhang ist zudem die Erscheinung der sogenannten Wandersiedlungen zu berücksichtigen, die Verlagerung der gesamten Siedlung bei ungefähr gleichbleibender Bauweise der Häuser und gleichbleibendem Grundriss des Dorfes einige hundert Meter weiter. Wer organisierte das, die Siedlungsbewohner selbst oder eine Herrschaft, und hier schließt sich die Frage an, wie und von wem, von welchen Zimmerleuten alle die Häuser, zehn Gehöfte und mehr, dann zeitgleich neu errichtet werden konnten (vgl. S. 185). Im Gegensatz zu Rom blieben die Bewohner Germaniens bei dieser Bauweise, die seit der ersten bäuerlichen Sesshaftwerdung schon in der Steinzeit, im 6. Jahrtausend v. Chr., entwickelt worden war, nämlich die tragenden Pfosten des Hauses in die Erde einzugraben. Für die archäologische Forschung ist das ein erfreulicher Befund, der erstmals im späten 19. Jahrhundert erkannt wurde und erklärt worden ist; denn einmal gegrabene Pfostenlöcher sind im Boden immer zu erkennen, gleich wie alt sie sind. Damit ist der Grundriss der Häuser in der Erde abgebildet und messbar, einschließlich der Innengliederung521 des traditionellen Wohn-Stall-Hauses in Wohnbereich und Stallteil, in dem sich die Viehboxen abzeichnen, so dass auch die mögliche Zahl der aufzustallenden Rinder am Grundriss ablesbar ist (Abb. 14). Durch ein naturwissenschaftlich begründetes Verfahren, der sogenannten Phosphatanalyse, lassen sich über die Kartierung des Phosphatgehaltes im Boden die Nutzungsbereiche im und beim Haus gewissermaßen bildlich ablesen. Organisches Material aller Art, in diesem Falle auch der im Haus entstandene Mist bzw. Dung der Tiere, enthält Phosphatverbindungen, die sich kurz unter der ehemaligen begangenen Oberfläche ablagern und dort auch verbleiben; ebenso zeichnet sich rund um den Herdplatz der Aufenthalt durch die Bewohner ab, da dort auch gegessen und getrunken wurde und dabei Reste der Mahlzeiten in den Boden gelangten. Die Hausgrundrisse, also ihre Aufteilung in Wohn- und Wirtschaftsbereich, lassen über Zeit und Raum hinweg durchaus gleichartige Grundstrukturen erkennen (vgl. unten S. 189). Wenn die einstige Lauffläche in den Häusern nicht durch spätere Landnutzung abgepflügt wurde, so ist auch die Position der Herdfläche innerhalb des Hauses erkennbar, des Sammel- und Aufenthaltsplatzes der Hausbewohner. Die Bauweise mit den eingegrabenen Pfosten wurde in Mitteleuropa bis in die Karolingerzeit und darüber hinaus beibehalten, und bis in die Gegenwart bleibt man bei der Lösung, ein
521 W. H. Zimmermann 1986; 1988; 2001a; Ament 1997 /2003, 65 Abb. (Grundplan und Rekonstruktion in Farbe); auch Glaser 2002; so auch Karlsen 2018b.
2.1 Haus und Hof
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Abb. 14: Wohn-Stall-Häuser auf der Feddersen Wierde, Rekonstruktion.
Wohn-Stall-Haus zu bauen – auch wenn in der Neuzeit das Fundament aus Steinen gelegt wurde – das heißt, Menschen und Tieren lebten unter einem Dach. Der hohe Dachraum diente als Speicher.522 Rekonstruktionen von Häusern (zu den später noch zu behandelnden Siedlungen in Dänemark wie Grøntoft, Hodde und Vorbasse) bieten die Aufteilungen des Inneren zusammen mit der Größenzunahme über die Jahrhunderte hinweg,523 mit Eingängen und Dachausbau für die Epochen 500 bis 300 v. Chr. Geb., um Chr. Geb. und von 150 bis ca. 550 n. Chr. Geb.524 522 Ölandsguld 2001: Modell eines Hauses, Schnitt, 200–700 n. Chr. 523 Hedeager 1987, 136 Fig. 11.7; 1990, 396 Fig. 152. 524 Hvass 1980; Fabech, Ringtved (Red.) 1991, 105.
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Das sind Rekonstruktionsüberlegungen aus jüngeren Vorbildern über die Zeit hinweg. Denn archäologisch sind bis auf Ausnahmen immer nur die Grundrisse erhalten, die über Pfostenstellungen die innere Struktur des Hauses markieren, auch die Trennung von Wohnteil und Stallbereich. Das Wohn-Stall-Haus konnte Längen von 15 bis 30 m haben, je nach wirtschaftlicher Kraft der Familie. Aufgrund der Pfostensetzung spricht man von einschiffigen, zweischiffigen, dreischiffigen oder sogar vierschiffigen Häusern. Verläuft unter dem Giebel in der Mitte des Hauses eine Pfostenreihe, so handelt es sich um ein zweischiffiges Haus, weil beiderseits ein langer von Pfosten freier Raum entstand; sind es zwei Reihen von Pfosten im Inneren, dann war es ein dreischiffiges Gebäude. Zweischiffige und dreischiffige Häuser bilden die Mehrheit der bisher ausgegrabenen Grundrisse, wobei gewisse landschaftliche Konzentrationen und Moden zu beobachten sind (vgl. S. 193 und 293).525 Die Wohn-Stall-Häuser der Jahrhunderte um und nach Chr. haben eine Entwicklungsgeschichte, die seit der Bronzezeit über die Vorrömische Eisenzeit und die Römische Kaiserzeit bis in die frühe Völkerwanderungszeit und weiter bis in die Wikingerzeit bzw. in das Mittelalter führt. Die älteren Häuser sind zweischiffig mit den eingegrabenen das Gerüst tragenden Pfosten, haben zu Anfang auch Wandgräbchen und abgerundete Stirnseiten, ehe sie eher rechteckig wurden.526 Datiert werden sie von 800 bis 200 v. Chr., und allein im Gebiet von Holstebro sind über 150 Hausgrundrisse dieser frühen Phase dokumentiert. Sie sind noch relativ klein, haben eine Fläche von 45 bis 60 m2, sind 10 bis 15 m lang und 5 m breit. Die Eingänge sind in der Mitte der Langseiten, d. h. Wohn- und Stallteil sind noch etwa gleich groß. Die Häuser gruppieren sich zu Dörfern. Verwiesen sei auf Grøntoft und Hodde (S. 209, 269).527 Doch gab es außerdem, aber nur scheinbar, außerordentlich lange, eindeutig überlange dreischiffige Wohn-Stall-Häuser in den Niederlanden der mittleren Bronzezeit und in Norddeutschland während der Römischen Kaiserzeit.528 In der Siedlung Angelslo-Emmerhout sah das so aus, aber eine genaue Analyse hat gezeigt, dass dieses dreischiffige Langhaus linear auf derselben Längsachse in mehreren Phasen verschoben, also mehrfach neu gebaut wurde, was diesen auffälligen Grundriss hinterlassen hat. Das ist archäologisch auch in Rekum bei Bremen nachgewiesen (vgl. S. 215), und zwar mit scheinbar extrem langen Wohn-Stall-Häusern, ein Abbild, das entstanden ist, weil normal lange Hausgrundrisse exakt auf der Längsachse verschoben erneuert wurden.529
525 Nüsse 2014a; Schreg 2006, Abb. 65; Jäger 2019, 345 Abb. 190 Karte und 346 Abb. 191 Karte nach Leube 2009, Abb. 87 und mit Ergänzungen der dreischiffigen Wohn-Stall-Häuser, die erst nach 1990 zwischen Elbe und Oder nachgewiesen worden sind. 526 Skrou Hansen 2018, 36 Siedlung Kirketoft. 527 Rindel 1999; 2001a (Grøntoft); Webley 2008. 528 Aroldussen, Jansen 2010, 385 Fig. 5 und 387 Fig. 7. 529 Bischop 2000, 55 und Abb. 80.
2.1 Haus und Hof
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Diese Häuser sind in der Regel also langgestreckt und rechteckig; erst am Ende der hier zu behandelnden Epoche wurden die Hausgrundrisse gewissermaßen schiffsförmig, d. h. mit nach außen schwingenden Längswänden. Damit wurde ein noch größerer, von Pfosten freier Innenraum gewonnen. Der Ursprung dieser Bauweise ist an der Küste zu suchen, gefolgt von einer Ausbreitung ins Landesinnere die Flüsse aufwärts, wohl ab 600 n. Chr. Es geht mit der Entwicklung von Katwijk in den Niederlanden los, das noch unmittelbar an der Küste liegt. Die Ausbreitung dieser Bauweise ins Innere bis an die Ems geschieht dann allgemein nach allen Seiten. Ob diese Hausform nahe der Küsten und entlang der Flüsse verbreitet tatsächlich durch die Schiffsform inspiriert worden ist, als maritime Ideologie für eine eigene kulturelle Identität, kann nicht bewiesen werden, wird aber seit Jahrzehnten diskutiert. Im Norden, in Norwegen, Schweden und auf Gotland findet man solche Grundrisse von 400 bis 600 n. Chr. und in den Niederlanden schon ab 475 n. Chr. Diese Häuser sind weiterhin zweischiffig; manchmal gibt es zwei eng beieinander angeordnete Pfostenreihen am äußeren Bogen.530 Bei der Beschreibung von ausgegrabenen Hausgrundrissen in Süddeutschland werden zum Vergleich die dreischiffigen Langhäuser und die Grubenhäuser aus dem Norden herangezogen, weil vor etwa zehn Jahren hier der Forschungsstand im Gegensatz zum Süden schon wesentlich umfassender war und ist. Diese Hausgrundrisse werden im nachfolgenden Katalogteil beschrieben.531 Für die Siedlungsgebiete weiter im Osten jenseits der Elbe ist die Forschungsgeschichte eine deutlich andere gewesen und hat sich erst nach der politischen Wende in den 1990er Jahren den westlichen Situationen anschließen können, was ebenfalls noch angesprochen werden muss (vgl. S. 242). Inzwischen gibt es in Westpommern vom 1. Jahrhundert v. Chr. Geb. bis ins 5./6 Jahrhundert n. Chr. Geb. Zusammenstellungen (1999), für den südwestlichen Ostseeraum (2002) und für die Südzone des Ostseebeckens und den Elbekulturkreis.532 Zu den weiteren Gebäuden auf dem Gehöft, das mit einem Flechtwerkzaun oder auch einer leichten Palisade eingehegt war, gehörten Speicher, erkennbar an der speziellen Pfostenstellung, außerdem oftmals Scheunen entlang des Zaunes, und sogenannte Grubenhäuser, in den Boden eingetiefte Räume mit einem zeltförmigen Reetdach, gestützt ebenfalls von Pfostenstellungen, die als Vorrats-, Werkstatt- und Webhäuser gedient haben. Die Speicher bestanden aus vier oder sechs eingegrabenen Pfosten, zwischen denen ein Geflecht mit einem Boden eingehängt war, das als Ganzes nach oben verschiebbar war. Abgesetzt vom Erdboden schützte das den Inhalt an aufbewahrten Getreide und Futtermitteln vor allerlei Schädlingen. Diese Bauweise 530 Huijbers 2018, 128 Fig. 2 Beispiele für derartige Häuser, 129 Fig. 3 und 4, 130. 531 Schreg 2006, 159 ff., Beispiele: 312 Abb. 154 Vorbasse ab dem 3. Jahrhundert, 313 Abb. 155 Nørre Snede ab dem 3. Jahrhundert, 314 Abb. 156 Hjemsted, ab der vorrömischen Eisenzeit und 317 Abb. 159 Flögeln-Eekhöltjen ab 1. bis 4./5. Jahrhundert. 532 Machajewski 1999; 2002; 2008.
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ist aus der Neuzeit bekannt, was eine Rekonstruktion für die früheren Jahrhunderte erlaubt. Hinzu kamen oftmals noch zahlreiche Rennöfen der Eisengewinnung außen am Gehöftzaum. Das gesamte Ensemble spiegelt über die unterschiedliche Größe des Haupthauses und die Zahl der Nebengebäude direkt die wirtschaftliche Situation des jeweils hier lebenden Familienverbandes, und Rang und Reichtum sind durchaus innerhalb einer Siedlung unterschiedlich gewesen und eben am Grundriss auch ablesbar. Die innere Organisation der Siedlungen wurde im archäologischen Befundbild entscheidend dadurch erkennbar, dass vielfach die Spuren der Zäune im Boden erhalten geblieben sind, als Reihe von kleinen Pfosten, als Palisaden oder auch als Flechtwerk.533 Nicht immer sind die Reste einer Siedlung noch so gut erhalten, dass die Zaunverläufe noch erkannt werden können; während die Löcher der Pfosten vom Gefüge der Häuser recht tief in den Boden reichen, blieben die Fundamente von Zäunen und leichten Palisaden oberflächennah und sind inzwischen oftmals weggepflügt worden. Deshalb wird bei der nachfolgenden Schilderung von dörflichen Siedlungen besonders auf diese Gehöftzäune und Dorfumzäunungen hingewiesen. Die Gehöfte waren umzäunt, manchmal auch die gesamte Siedlung ebenfalls noch einmal. Die Rolle und Funktion des Zaunes sollte nicht unterschätzt werden.534 Zäune hatten und haben unterschiedliche Funktionen. (1) Sie schützten die Parzelle mit den Gebäuden und Gartenbeeten davor, dass Tiere eindringen konnten. (2) Umgekehrt erfassten sie die Bebauung und Nutzung eines Gehöftes mit dem Kleinvieh davor, dass dieses auseinander und weglaufen konnten. (3) Stärkere Zäune, also leichte Palisaden, schützten das Gehöft oder die gesamte Siedlung vor feindlichen Angriffen, wirkten wie eine Befestigung. (4) Schließlich – und das ist wohl sogar die wichtigste Aufgabe – war und ist der Zaun eine Rechtsgrenze; innerhalb des Zauns herrschten andere Regeln als außerhalb. Deshalb hatte jedes Gehöft einen eigenen Zaun. Manchmal waren zwei nebeneinander gelegene Grundstücke durch je dicht nebeneinander parallel verlaufende Zäune eingehegt, auch wenn es praktischer scheint, einen Zaun gemeinsam zu nutzen. Es ging eben um zwei getrennte eigene Rechtsbereiche. Der Zaun markierte den Besitz und einen „Hausfriedensbereich“. Somit bilden Zäune in und um Siedlungen wesentliche Elemente einer Ansiedlung. Auch ist archäologisch zusätzlich oftmals zum Zaunverlauf auch der Eingang auf das Gehöftareal erkennbar, oder es sind mehrere Tore deutlich hervorgehoben durch stärkere Pfosten und breitere Zuwege, so dass Wagen ein- und ausfahren konnten. Tore sind zudem repräsentative Aufbauten, die jedem Hinzukommenden darauf hinweisen, dass hier ein „Eigentum“ beginnt und man im Inneren des Bereichs Gast ist und sich dementsprechend zu verhalten hat. So sei hier noch einmal betont, dass die Bevölkerung in Germanien seit den Jahrhunderten um und nach Chr. Geb. eine
533 Steuer 2007c. 534 Beck, Schmidt-Wiegand, Schuhmann, Steuer, Strauch 2007.
2.1 Haus und Hof
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individuelle Rechtsvorstellung hatte, was den Besitz an Haus und Hof betraf. Wie das mit den Wirtschaftsflächen, dem Ackerland und der Allmende gehalten wurde, das entzieht sich stärker dem archäologischen Zugriff. Das Gefüge der Häuser erhielt seine Stabilität nicht allein durch die Verzapfung der Balken miteinander, sondern auch dadurch, dass die tragenden Pfosten tief in den Boden eingegraben waren. Im feuchten Untergrund und durch im Boden vorhandene Insekten setzten dann regelmäßig die Verwitterung und ein Zerfallsprozess ein. Das war einer der Gründe dafür, dass nach wenigen Jahrzehnten die Häuser erneuert oder ganz neu gebaut werden mussten. Man weiß nicht, warum diese Lösung beibehalten wurde, denn es war – wie bei Nebengebäuden nachweisbar – durchaus bekannt, dass Pfosten auf einen Stein gesetzt wesentlich länger halten, und auch dann war das Gefüge des Hauses standfest genug. Denn die Leistungen der Zimmerleute waren beachtlich und auf hohem Niveau, und das Gefüge des Balkenwerks war in sich selbst stabil genug und konnte gewissermaßen sogar „frei“ stehen. So muss es noch andere Gründe gegeben haben, warum man diese dauerhaftere Bauweise nicht wählte, wohl weil die Erneuerung eines Hauses sowieso das Ziel war und zudem alte Traditionen gewahrt wurden (vgl. dazu S. 190). Im Ostseegebiet, auf den steinreichen Inseln, auf Gotland, verknüpfte man durchaus zwei Bauweisen; das Gefüge trugen eingegrabene Pfosten, die Wände des Hauses aber ruhten auf Fundamenten aus Steinen, so wie später überall in Mittel- und Nordeuropa Fachwerkhäuser ein Fundament aus Steinen gegen den feuchten Untergrund bekamen. Schwierig ist die Rekonstruktion des Gefüges dieser Häuser mit den in die Erde eingegrabenen Pfostenstellungen, die zumeist das einzige sind, was für Überlegungen zum Hausbau selbst geblieben ist.535 Immerhin gelingt es jetzt auch über die Radiocarbon-Methode, zueinander gehörenden Pfostenlöcher nachzuweisen.536 Zwar gibt es immer wieder reale Rekonstruktionen von Häusern aus frühgeschichtlichen Siedlungen, aber das sind theoretische Modelle, die nicht unbedingt Beweislast haben. Gewöhnlich wird von noch stehenden Fachwerkgebäuden oder großen Wohn-Stall-Häusern ausgegangen, an denen man die Arbeitsweise der Zimmerleute ablesen kann. Doch weist K. Th. Platz darauf hin: „Es darf nicht mit den dreischiffigen Hallenhäusern des Spätmittelalters und der Neuzeit verwechselt werden, da es sich konstruktiv völlig von ihnen [den frühen Häusern im Nordseeküstenbereich. Verf.] unterscheidet, wenn auch im Grundriss und der funktionalen Aufteilung eine gewisse Ähnlichkeit besteht“. Ich wage zu behaupten, dass dies zu kritisch gesehen wird; denn wir wissen, dass schon die Zimmerleute im Neolithikum die Verbindungstechniken beim Bau von Kastenbrunnen gekannt haben, was vielfach archäologisch überliefert ist. Hingewiesen wird auf Freilichtmuseen mit dem Wiederaufbau mittel-
535 Platz 2017, 391 Zitat. 536 Ethelberg 2018 (2019) 22 Fig, 4 Karte zu den Pfostendatierungen 450–550 n. Chr. im mittleren Jüland gegenüber Fünen als Beispiel.
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2 Haus, Gehöft und Siedlung
alterlicher Häuser in Haithabu, auf der Pfalz Tilleda, im Bajuwarendorf Kirchheim bei München oder im Klostergebiet von Lorsch. Wie wurden die Balken miteinander verbunden, verzapft, verblattet, überkämmt, eingenutet, durchgezapft. Beim Blick auf zweischiffige oder dreischiffige Häuser, aufgrund der Pfostenbefunde, werden Rofendachkonstruktionen oder Sparrendachkonstruktionen vorgeschlagen. Doch auf dieses weite Feld notwendiger spezieller Kenntnisse werde ich nicht näher eingehen. Ich weise auf die Beschreibungen von W. H. Zimmermann hin: „Pfosten, Ständer und Schwelle und der Übergang vom Pfosten- zum Ständerbau“.537 Während der Jahrhunderte um und nach Chr. handelte es sich fast ausschließlich um diese Pfostenbauweise (die tragenden Pfosten sind in die Erde eingegraben); erst im beginnenden Mittelalter kommt der Ständerbau auf (die tragenden Pfosten stehen auf einem Schwellrahmen oder auf einer Steinunterlage). Doch haben neuere Grabungen gezeigt, dass es Häuser als Schwellenbauten mit umlaufenden Wandgräbchen und ohne Wand- und Innenpfosten auch schon während der Römischen Kaiserzeit gegeben hat. Ein Beispiel ist 2017 aus der Siedlung Klecken, Ldkr. Harburg, veröffentlicht worden, datiert in die Phase B2/C, also 2./3. Jahrhundert n. Chr., wozu schon eine Reihe von Parallelen genannt werden kann.538 Die Siedlung Klecken ist für eine Zeitspanne von der älteren Römischen Kaiserzeit bis in die Völkerwanderungszeit, bis ins 5. Jahrhundert, nachgewiesen. Auch hier gibt es übrigens Rennöfen der Eisengewinnung. Was sind weitere Gründe für dieses Festhalten an einer alt überlieferten gewohnten Bauweise über die Jahrhunderte hinweg? Die Hausbauweise aus Holz und Lehm war nicht etwa primitiver als der römische Steinbau, sondern einfach nur anders. Aber von der Blickrichtung antiker Autoren her schien das so und führte zu dem Vorurteil, die Leute lebten in kärglichen Hütten, eine Vorstellung, die die wissenschaftlichen und populären Darstellungen zu den Lebensverhältnissen in Germanien bis heute beeinflusst hat. In der Mittelmeerwelt war Steinbau auch für die Wohnhäuser üblich und wurde mit der Ausbreitung des Römischen Reichs nach Norden mitgenommen. Umwelt und Klima sprachen im Süden für eine solche Bauweise. Aber in Mitteleuropa und im südlichen Nordeuropa hatte sich der andere Lebensstil über die vielen Jahrhunderte hinweg als günstiger und sinnvoll erwiesen. Ebenfalls von den klimatischen Verhältnissen mit regenreichen Wintern bestimmt, boten die WohnStall-Häuser den Bewohnern Geborgenheit, Wärme und Fütterungsmöglichkeiten für das Vieh auch im Winter, ohne das Haus verlassen zu müssen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden die Häuser mit wachsender wirtschaftlicher Kraft, auch mit Zunahme der Größe des Rindviehs aufgrund verbesserter Züchtung, immer größer, d. h. länger und auch breiter. Das aufzustallende Vieh, die Rinder konnten abgezählt werden, aufgrund der Abmessungen der Boxen ist zugleich für die heutige Forschung ebenfalls
537 W. H. Zimmermann 1998; Ethelberg, Kruse 2013, 106 Abb. 2. 538 Kühle 2017, 36 Abb. 8: Haus 1 von Klecken mit Vergleichbeispielen, 38 Abb. 9 Groß Meckelsen, Ldkr. Rotenburg (Wümme) mit hervorgehobenen Schwellenhäusern; früher: W. H. Zimmermann 1998.
2.1 Haus und Hof
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die Größe dieser Tiere abzuschätzen, was außerdem die zahlreich überlieferten und ausgewerteten Tierknochen bestätigen. In der Wurt Feddersen Wierde (vgl. S. 181) maßen Viehboxen etwa 2 m in der Breite. An diesem Platz waren aufgrund der Entwicklung der Siedlung die Boxen aus Flechtwerk aus den frühen Phasen ganz real noch einen Meter hoch erhalten geblieben; denn durch den Auftrag der Wurtenoberfläche mit Erde, Mist und Rasensoden wegen der gestiegenen Fluten kamen ältere Hausteile in die Erde und wurden dort konserviert. Wie die Wohn-Stall-Häuser im Inneren aufgegliedert waren, ist an archäologischen Befunden ausführlicher abzulesen, nämlich wenn die Häuser bei einem Schadensfeuer niedergebrannt sind, was aber nur recht selten zu beobachten ist. Bei Ausgrabungen zeigen sich dann neben den Resten der Baukonstruktion die dem Brand zum Opfer gefallenen Tiere und Menschen, die erstickt an Ort und Stelle liegengeblieben sind. In einer Brandruine bei Nørre Tranders im nördlichen Jütland, datiert um 100 v. Chr., lagen 16 verbrannte Tiere, sieben Rinder, fünf Schafe, zwei Pferde, ein Ferkel und ein Hund in und bei den Viehboxen und außerdem vier Menschen, ein Mann und eine Frau sowie zwei Jugendliche, die wohl durch Rauchvergiftung im Schlaf umgekommen sind. Realistisch zeigt sich dabei, dass die beim Bau des Hauses errichteten Viehboxen nicht unbedingt immer besetzt waren und wenn, dann auch nicht nur von Rindern.539 In einer anderen Siedlung, in Overbygård lagen in einem der Keller in der Nähe des Eingangs zwei einschneidige Schwerter noch in der hölzernen Scheide, die einst am Türpfosten gehangen haben.540 Das Wohn-Stall-Haus oder Langhaus ist in derartig großen Zahlen dokumentiert, dass es mehrfach Analysen zur inneren Gliederung und Aufteilung gibt (vgl. auch oben S. 177). Für Niedersachsen hat Haio Zimmermann bei der Auswertung der Siedlungsbefunde in Flögeln (vgl. S. 298) eine Studie zu den Bauformen und ihre Funktionen veröffentlicht.541 Es gelingt ihm, die regelhafte Innengliederung der Langhäuser nahe der Nordseeküste graphisch aneinanderzureihen und die Module aufzudecken, die trotz unterschiedlicher Hauslängen doch regelhaft die Wohnteile, Stallteile und Eingangszonen zeigen. Trotz allem überrascht die Variationsbreite,542 bei recht festen Regeln rund um die Nordsee für die dreischiffigen Hallenhäusern seit der Bronzezeit bis in die Völkerwanderungszeit, und das setzt bei dieser räumlich weiten Geltung der Normierung „ein spezialisiertes Zimmermannshandwerk voraus. Sie ist nur denkbar bei unerwartet engen kulturellen Kontakten“.543 Ähnlich haben Per Ethelberg und Permille Kruse die Hauskonstruktionen der Römischen Kaiserzeit im mittleren Jütland überregional verglichen und analysiert.544 539 Nielsen 2002. 540 Lund 2003. 541 W. H. Zimmermann 1992b, und zuvor 1986; 1988. 542 W. H. Zimmermann 1988, 470 f. mit Abb. 2 und 3; 474 f. mit Abb. 4 und 5; 478 f. mit Abb. 6 und 7. 543 W. H. Zimmermann 1988, 477; vgl. auch Herschend 2017. 544 Ethelberg, Kruse 2013, 104 Abb. 1 Verbreitung der Häuser in Mitteljütland.
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2 Haus, Gehöft und Siedlung
Nach Typologie und Chronologie zeichnen sich Phasen des „Osterrönfeld-Hauses“ ab: Haustyp 1 (1 bis 100 n. Chr.), Haustyp 2 (75–225 n. Chr.), Haustyp 3 (200–325 n. Chr.) und Haustyp 4 (275–400 n. Chr.). Der Aufriss eines solchen Hauses mit Aufenthaltsraum, Eingangszone, Stall und Lagerraum wiederholt sich. Bei grundsätzlich gleichartiger Aufgliederung der dreischiffigen Häuser ändert sich die Stellung der schweren tragenden Pfosten ein wenig; die Normung schlägt auch hier durch.545 Auf den Inseln, auf Seeland, ist als häufige Hausform das sogenannte Bellingegård Haus ebenfalls nach Form, Funktion und innerer Gliederung analysiert worden.546 Ob das nun nur die Tradition war oder auch die Kommunikation der Zimmerleute untereinander, bleibt zu untersuchen. Noch fehlen ausreichende Studien darüber, wie eigentlich die Tausenden von Wohn-Stall-Häusern und sonstigen Gebäuden jeweils auf einem Gehöftareal errichtet worden sind. Ich wiederhole die Fragen: Erfolgte der Bau durch Nachbarschaftshilfe in jeder Siedlung selbst, oder gab es reisende Zimmerleute, wie das aus späteren Epochen überliefert ist? Über die Entwicklung der Hausformen und der Siedlungsstrukturen im westlichen Bereich und in den Niederlanden informieren H. T. Waterbolk im RGA sowie St. Hass, D. Kaldal Mikkelsen und H. Zimmermann in ausführlichen Publikationen.547 Die Hausgrundrisse sind aufgrund der Verhältnisse in den Abmessungen tatsächlich vergleichbar. Bestimmte Module lagen also der Hausplanung zugrunde (Abb. 15),548 auf der Basis des einfachen Fußmaßes. Anhand der Abstände der Pfostenlöcher des Gerüstes ist ablesbar, dass in der frühen Eisenzeit, wie es im Norden heißt – damit sind Vorrömische Eisenzeit und die Römische Kaiserzeit gemeint –, die Form der Funktion folgte, während in der späten Eisenzeit – dem frühen Mittelalter – die Konstruktionsprinzipien, beispielsweise nach dem Goldenen Schnitt, die Form schufen. Peter Donat hat schon früh die Herausbildung frühmittelalterlicher Gehöftformen beschrieben, bei noch eingeschränktem Forschungsstand.549 Es beginnt in der vorrömischen Eisenzeit und geht bis ins 5. Jahrhundert. Nun hat er 2018 mit einigen Abbildungen Hausgrundrisse der späten Eisenzeit und frühen Römischen Kaiserzeit aus Dänemark, den Niederlanden und Nordwestdeutschland erneut veröffentlicht, und zwar systematisch die zweischiffigen und dreischiffigen Häuser.550
545 Ethelberg, Kruse 2013, 122 Abb. 8: die Typen 1 bis 4. Die Karten zeigen im Übrigen die beachtliche Siedlungsdichte im mittleren Jütland. 546 Kølle Hansen 2011. 547 Waterbolk 2002, 181–182; auch schon Hvass 1993, 189 (Häuser),190 (Gehöfte); Kaldal Mikkelsen 1999, 191 Fig. 11 (Gehöfte und Dörfer); Steuer 2007a, 352 Abb. 7 (nach älteren Vorbildern) und speziell für die Siedlung Flögeln W. H. Zimmermann 1992b; Steuer 2007a, 352 Abb. 7. 548 W. H. Zimmermann 1988, 470 ff. mit Abb. 2 bis 7; Herschend 2018, 38 Fig. 2 A-C Kulthaus von Uppåkra, Goldener Schnitt. 549 Donat 1987, 25 Abb. 1 Karte der Fundstellen 1–85 (!). 550 Donat 2018, 96 Abb. 26 (dreischiffige Häuser), 102 Abb. 28, 111 (dreischiffige Häuser), 120 Abb. 31 (zweischiffige Häuser).
2.2 Wandersiedlungen
189
Abb. 15: Die regelhafte funktionale Innengliederung der dreischiffigen Hallenhäuser.
2.2 Wandersiedlungen Die Ausgrabungen haben zudem zusätzlich ein besonderes Phänomen erkennen lassen, über das die schriftliche Überlieferung zu keiner Zeit etwas ausgesagt hat. Die Häuser wurden in zeitlichen Abständen von wenigen Jahrzehnten, oft nach einer Generation von vielleicht dreißig Jahren, aufgegeben, abgerissen und neu erbaut, entweder neben dem älteren Haus oder verschoben an anderer Stelle des Gehöftareals. Dies ist ein Verhalten, das ebenfalls von der Steinzeit bis ins Mittelalter nachgewiesen ist. Man spricht von Siedlungsverlagerung, von Wandersiedlung, von Mobilität der Siedlung oder von Standortverschiebungen.551 Nachdem nun inzwischen Siedlungsgrundrisse mit um die zwanzig Gehöften aus den ersten Jahrhunderten n. Chr. komplett freigelegt worden sind, zeigt sich zudem, dass in der Regel nicht nur Häuser an Ort und Stelle neu gebaut wurden, sondern dass oftmals das gesamte Dorfgefüge mit nur wenigen Änderungen am Grundriss um einige hundert Meter verschoben und neu wieder so errichtet wurde, wie es vorher bestanden hat. Das spiegelt eine gemeinsame Planung und einen gemeinsamen Willen. Die Ursachen für diese „lokale“ Mobilität der Siedlungen sind eigentlich immer noch nicht geklärt: Nur vordergründig ist die Meinung, dass die eingegrabenen Pfosten, wie oben gesagt, verwittert waren und
551 W. H. Zimmermann 2005b; 2007a; Steuer 1988; Waterbolk 1982; Brather 2017, 167.
190
2 Haus, Gehöft und Siedlung
die Häuser baufällig wurden; das war den damaligen Bewohnern durchaus bekannt, und man hätte als Lösung auf dem Boden oder auf Steinunterlagen positionierte horizontale sog. Schwellbalken als Rahmen wählen können, in die dann tragende Pfosten eingezapft worden wären. Auch diese Bauweise kannte man damals schon, wurde aber nicht als Dauerlösung übernommen. Als weiterer Grund der Verlegung werden deshalb Verschmutzung und die Ausbreitung von Parasiten genannt, die zum Umzug gezwungen hätten. Aber neuzeitliche, inzwischen standortgebundene Häuser zeigen, dass man dagegen etwas tun konnte, ohne neu zu bauen. Schließlich verwiesen manche Hausforscher auf die Jahrtausende alte Kontinuität dieser Verhaltensweise mitteleuropäischer bäuerlicher Bevölkerung, die einfach an der Tradition festhielt, Häuser in regelmäßigen Abständen neu zu bauen. Auch die Ablösung der Generationen sah man als Grund an, dass nämlich jeder neue Hofbesitzer sein eigenes Haus bauen und haben wollte. Aber mit Blick auf komplette Dorfverlagerungen überzeugt auch das nicht als Erklärung, weil dann die Generationswechsel auf den verschiedenen Gehöften gleichzeitig hätten erfolgen müssen, was aber sicherlich aus normalen biologischen Verhältnissen in den Familien nicht so synchron verlaufen ist. Als weiteren Grund für die Verlagerung der „wandernden“ Dörfer wird in den Regeln der Vererbung von Landnutzungsrechten gesehen, wobei neue Höfe gegründet und alte aufgegeben wurden, aber unter Beibehaltung des parzellierten Ackerflursystems. Dies ist eine interessante These, die den Beginn grundherrschaftlicher Strukturen recht früh ansetzt. Der regelmäßig archäologisch belegte Neubau von Häusern und Gehöften während der ersten Jahrhunderte um und nach Chr. in Germanien wird in der Regel also darauf zurückgeführt, dass die Bauweise der Wohn-Stall-Häuser mit Pfosten, die in die Erde eingegraben wurden, die Ursache für die Erneuerungen war, weil die Strukturen nicht länger gehalten haben. Doch muss mindestens zusätzlich eine psychologische Erklärung berücksichtigt werden. Der Wechsel der Generation von den Vätern zu den Kindern weckte im neuen Hofherrn den Wunsch, eine eigenständige neue Lösung zu finden, was zu Um- sowie Neubauten geführt hat. Das ist bis in die Gegenwart zu beobachten: Ein neuer Hausbesitzer ändert und erweitert den bestehenden Baukomplex, nicht nur weil eine Modernisierung sinnvoll ist, sondern auch, um dem Anwesen den eigenen Stempel aufzudrücken. Die Häuser und die Siedlungspläne blieben gleich; somit kann auch keine neue Mode oder andere Bauweisen der Grund gewesen sein. So etwas geschieht in unserer Gegenwart: Es werden nämlich ständig, teils sogar unter Denkmalschutz stehende Gebäude nach drei Jahrzehnten wieder abgerissen, mit vorgeschobenen Schäden begründet, nur weil man meint, etwas Neues haben zu müssen oder mit neuen vergrößerten Bauten mehr Geld verdienen zu können. Es bleibt also wohl beim Zusammenwirken verschiedener Ursachen, und die Archäologie hat diesen Befund als Regelverhalten entdeckt und kann ihn hundertfach als Faktum beschreiben, auch wenn die Hintergründe (noch) nicht erschlossen sind (als Beispiele Vorbasse Abb. 16 und Nørre Snede Abb. 17).
2.2 Wandersiedlungen
191
Abb. 16: Vorbasse in Jütland. Ein „wanderndes“ Dorf von der Zeit um Chr. Geb. bis ins Mittelalter.
Dieses Ergebnis archäologischer Forschungen hat eine Mobilität im Hausbau erkennen lassen, die eine außerordentlich große Variationsbreite geboten hat. (1) Das Haus wurde an Ort und Stelle, oft mit leichter Verlagerung, neu errichtet; (2) Das Haus wurde neben dem alten Platz an anderer Stelle der Parzelle errichtet; (3) Das gesamte Gehöft wurde leicht verschoben neu gebaut; (4) Alle Gehöfte einer Siedlung wurden zeitgleich zusammen verschoben an anderer Stelle neu gebaut. Dazu gibt es, nun auch erkannt, allerlei Zwischenlösungen. Gehöfte wie Dörfer hatten jeweils meist ihr individuelles Schicksal (vgl. S. 292). Diese verschiedenen Möglichkeiten, Haus und Hof neu zu bauen, setzten außerdem voraus, dass es Platz gab oder zeitweiliges Wohnen (sowie die Unterbringung des Viehs) bei anderen Familien, wenn das alte Haus abge-
192
2 Haus, Gehöft und Siedlung
Abb. 17: Pfostenfelder der sich ständig erneuernden und verlagernden Siedlung von Nørre Snede, Vejle Amt, Zentraljütland.
rissen und am Ort oder nahebei das neue errichtet werden sollte. Es lassen sich die gemeinsamen Planungen in der Siedlung ahnen, was über den starren Grundriss, den Archäologen abbilden, sichtlich hinausführt und Lebensprobleme aufscheinen läßt. Diese zahlreichen Befunde eröffnen einen guten Zugang zu der dynamischen, vielgestaltigen Realität des Lebens in jenen Jahrhunderten, die individuelles und gemeinschaftliches Handeln spiegeln. Trotz der häufigen Erneuerung und Verlagerung der Häuser, das Grundmuster, die Bauweise und die Aufteilung des Hauses, blieben gleichartig. Die Epoche eines
2.3 Siedlungen oder Dörfer
193
halben Jahrtausends der „Germanen“, vom Jahrhundert vor Chr. bis ins 4./5. Jahrhundert n. Chr. war nur eine Phase mitten in dem traditionsreichen Bauen mit Holz und Lehm, was zweckdienlich und keineswegs rückständig war, sondern Ausdruck einer gänzlich anderen Auffassung vom Wohnen. Mehrere derartige Gehöfte waren zur dörflichen Siedlung zusammengeschlossen, und zwar standen diese Höfe zumeist in einem geregelten System beiderseits von Wegen nebeneinander, was eine gemeinsame Planung voraussetzt, also eine – allgemein formuliert – herrschaftliche oder genossenschaftliche Gesamtorganisation. Man achtete in den Dörfern auf Abstand zwischen den Gehöften, Parzelle lag neben Parzelle, abgegrenzt durch Zäune. Die Häuser waren trotz aller grundsätzlich gleichartigen Pfostenbauweise in Germanien nicht überall gleich. Damals wurden zwei- bis vierschiffige Häuser gebaut, wobei im gesamten Germanien dreischiffige Wohn-Stall-Häusern überwogen. Aber es zeichnen sich durchaus verschiedene Hauslandschaften ab. Die Verbreitung von zwei- oder dreischiffigen Häusern in Niedersachsen und Westfalen zeigt eine räumliche Trennung.552 Der Blick noch weiter nach Westen ins Grenzgebiet zur römischen Provinz erkennt, dass die indigene Bevölkerung beiderseits des Rheins in Zeiten vor dem römischen Einfluss und der Einführung der Villenstruktur vielfach zweischiffige Häuser errichtet hat (vgl. S. 230). Auch für Jütland werden unterschiedliche Hauslandschaften postuliert – was aufgrund der umfangreichen Siedlungsgrabungen auch beweisbar ist. Man unterscheidet gar das Haus der Angeln (1. Jahrhundert n. Chr.), das Haus der Warnen (1.-2. Jahrhundert n. Chr.) und das Haus der Jüten (3. Jahrhundert n. Chr.).553 Es sind also sicherlich aber keine ethnischen oder Stammeseigenschaften im Hausbau, auch nicht nur eine chronologische Entwicklung, die sich abzeichnen könnte, sondern doch erst einmal nur Beispiele aus den ergrabenen Siedlungsgrundrissen. Erkennbar wird zudem, dass auch jede Siedlung ihre individuellen Eigenheiten aufweist, auch wenn im Großen und Ganzen Ähnlichkeiten bestehen.
2.3 Siedlungen oder Dörfer Die besiedelte Landschaft hat also in den Jahrhunderten um und nach Chr. Geb. nicht wesentlich anders ausgesehen als in der Gegenwart, wenn man sich die heutigen großen und kleinen Städte wegdenkt und nur das ländliche Verteilungsmuster der Dörfer betrachtet. Die Siedlungen nutzten das mögliche Ackerland systematisch aus, und sie waren gleichmäßig wie ein Netzwerk in der ackerbaulich strukturierten Landschaft verteilt. Ausgespart blieben zwar Gebirge, Moore und die feuchten Flussniederungen, aber das übrige Land war seit Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden gerodet und wurde landwirtschaftlich erschlossen. Kein undurchdringlicher Wald
552 Pape 1993. 553 Ethelberg 2017a, 18 Abb.
194
2 Haus, Gehöft und Siedlung
bedeckte Germanien, in dem vereinzelt dörfliche Siedlungen eingestreut standen. Vielmehr lagen die Dörfer im Abstand von wenigen, meist nur drei bis fünf Kilometern, auseinander, oft in Sichtverbindung, und waren durch ein enges Wegesystem miteinander verbunden. Anders ist auch der Bevölkerungsdruck nicht zu erklären, der zur Bedrohung für die römischen Provinzen wurde; denn diese Dichte der Dörfer markiert zugleich eine hohe Bevölkerungsdichte. In der archäologischen wissenschaftlichen Literatur wird zumeist neutral von Siedlung gesprochen und nicht vom Dorf, obgleich die Struktur auch im archäologischen Befundbild und im Plan wie ein Dorf aussieht. Deshalb wechsele ich bei den Bezeichnungen. Die Einschränkung geht darauf zurück, dass ein Dorf in der jüngeren Zeit über eine bestimmte rechtliche Verfassung verfügt, und so etwas ist für die Siedlungen der ersten Jahrhunderte n. Chr. Geb. in Germanien nicht nachzuweisen, auch nicht über schriftliche Äußerungen von außen. Doch schon aus meiner Beschreibung über die Organisation der neu errichteten Gehöfte und der Verschiebung der gesamten Siedlung wird deutlich, dass es auch damals Rechtsformen gegeben hat, die das Zusammenleben regelten, so dass vom Dorf gesprochen werden darf. Während zur Anfangszeit der archäologischen Forschung zumeist die leichter zu entdeckenden und einfacher auszugrabenden Bestattungen und Gräberfelder samt ihrer mehr oder weniger üppigen Beigaben für die Toten untersucht wurden, haben archäologische Ausgrabungen erst in den letzten Jahrzehnten auch die Siedlungen dazu, die Dörfer grundlegend erforscht. Damit ist gemeint, dass die im Boden überlieferten Reste dieser Dörfer vollständig freigelegt und dazu auch die Wirtschaftsflächen und Handwerksbetriebe sowie Rohstofflager ausgegraben und dokumentiert wurden. Heute sind zahlreiche Dörfer jener Zeit vollständig untersucht worden mit den einzelnen Parzellen und allen Hausgrundrissen, und zwar vor allem rund um die Nordsee, in den heutigen Niederlanden, in Jütland, auf den dänischen Inseln und in Südschweden. Über 400 Siedlungsplätze mit mehr als 2000 Häusern sind aus den ersten Jahrhunderten n. Chr. mehr oder weniger komplett dokumentiert und ausgewertet worden. Im Binnenland und weiter im Süden sowie nach Osten sind diese Forschungen noch weniger flächendeckend, aber die ersten Ergebnisse bestätigen das im Norden Mitteleuropas gewonnene Bild. Möglich wurde dies durch die Perfektionierung von großflächigen Ausgrabungen. Denn ein Dorf mit zehn bis zwanzig beieinander stehenden Gehöften, das zudem dann in der Landschaft mehrfach um hunderte Meter verschoben neu errichtet worden ist, bedeckt oftmals eine Fläche bis zu 20 Hektar (Beispiel Flögeln bei Cuxhaven Abb. 18). Die archäologische Untersuchung eines solchen Areals braucht Jahre, im Durchschnitt ein Jahr pro Hektar, und anschließend brauchen die Auswertung und Veröffentlichung noch einmal ebenso viel Zeit. Ich weise zudem darauf hin, dass auch für andere Phasen eine solche Dichte an Siedlungen mit einer großen Zahl von Häusern nachgewiesen ist, beispielsweise schon für die erste bäuerliche Kultur in Mitteleuropa, die Kultur der Bandkeramik aus der Zeit um 5500 bis 4900 v. Chr. Es gibt eine Siedlung in Sachsen, von der auf 30 ha
195
2.3 Siedlungen oder Dörfer
1
2 Abb. 18: Flögeln im Elbe-Weser-Dreieck nahe Cuxhaven. Ein Dorf verlagert sich von der vorrömischen Eisenzeit bis ins 6. Jahrhundert. 1. Schema des Dorfes mit Datierung der Phasen. 2. Die sich überlagernden Grundrisse der Häuser.
196
2 Haus, Gehöft und Siedlung
in 24 Jahren 900 Häuser ausgegraben worden sind, von denen etwa 300 zeitgleich gestanden haben können.554 Während im westlichen Deutschland, in den Niederlanden und in Dänemark schon seit der Mitte des 20. Jahrhunderts „germanische“ Siedlungen großflächig ausgegraben worden sind, war das aus wirtschaftlichen Gründen im östlichen Deutschland zur DDR-Zeit und ebenso in Polen anscheinend kaum realisierbar. Erst nach der allgemeinen Wende ab 1990 ergaben sich Möglichkeiten, auch durch eine bessere finanzielle Basis, ähnlich umfangreich auszugraben wie zuvor im Westen. Das Ergebnis entspricht inzwischen den Erkenntnissen weiter im Westen, während die eingeschränkten Geländeforschungen zuvor aufgrund einer nur ausschnitthaften Quellenerkenntnis manchmal zu andersartigen Erklärungsmustern geführt haben. Das hat zeitweise zur irrigen Ansicht geführt, dort würden die ländlichen Siedlungen anders strukturiert gewesen sein und bestünden nur aus kleinen Häusern. Inzwischen hat sich aber gezeigt, dass die Siedlungen sehr ähnlich organisiert waren, wie in allen anderen Gebieten Germaniens mit Langhäusern, den Wohn-Stall-Häusern, Grubenhäusern und eingezäunten Gehöften. Peter Donat hat schon 2001 unter dem Titel „Langhäuser im östlichen Germanien. Überlegungen zu einem Forschungsproblem“ dieses Problem erörtert.555 Die zahlreichen großflächig ausgegrabenen Siedlungen in Norddeutschland, Dänemark und in den Niederlanden sind vielfach in den jüngeren Bänden des RGA auch mit Plänen abgebildet worden, worauf hiermit hingewiesen wird. Einige weitere sollen hier noch zusätzlich beschrieben werden.
2.4 Siedlungen – ein Auswahlkatalog Im Folgenden werden einige der wichtigen Ausgrabungen von dörflichen Siedlungen kurz beschrieben, als Auswahl aus der großen Anzahl der heute schon bekannten Hunderten von Plätzen. Das ist zugleich eine gute Auswertung des RGA, die für Siedlungen, später auch für Gräberfelder und für andere Befunde vorgenommen werden soll, was zeigt, wie hilfreich das Lexikon zum Stand der Forschung bis in die späten 2000er Jahre ist. Siedlungsgrabungen setzten in den Niederlanden und in Dänemark schon früh im 20. Jahrhundert ein, wobei es aus unterschiedlichen Gründen meist bei Ausschnitten aus der Gesamtsiedlung bleiben musste. Großflächige Ausgrabungen, um Siedlungen – die erst im Verlauf der modernen Forschung als wandernde, sich verlagernde Siedlungen erkannt worden waren – vollständig zu erfassen, wurden erst viel später üblich, so wieder in den Niederlanden und in Dänemark, nun aber auch in Norddeutschland. Größenmaße der Häuser werden bei der kurzen Vorstellung von
554 H. Stäuble aus Leipzig: Vortrag am 20. Mai 2019 in Freiburg. 555 Donat 2001.
2.4 Siedlungen – ein Auswahlkatalog
197
Siedlungen deshalb genannt, weil daran einerseits die wirtschaftliche Kapazität der Bauten erahnbar ist und andererseits weil, über die Zeit betrachtet, die kontinuierliche Zunahme der Hauslängen von der vorrömischen Eisenzeit über die Römische Kaiserzeit bis in die Völkerwanderungszeit erkennbar wird und damit auch unbestreitbar das Wachstum der wirtschaftlichen Kraft der Gehöfte. Begonnen wurde mit derartigen großflächigen Ausgrabungen am Anfang des 20. Jahrhunderts eigentlich ganz am Rande der besiedelbaren Landschaft des Kontinents, nämlich in den niederländischen und norddeutschen Marschengebieten. Dort in den Bereichen, die von hohen Fluten bedroht waren, wurden die Dorfstellen mit steigendem Wasser immer an derselben Stelle neu errichtet – also nicht verschoben –, nachdem man die Plätze zu Warften oder Wurten, so in Norddeutschland genannt, in den Niederlanden Terpen, aufgebaut und damit ständig erhöht hatte. Diese Wurtenhügel wurden schon immer in der Landschaft am Meer, in der Marsch, gesehen und als alte Siedlungen erkannt, weshalb die Archäologie dort begonnen hat, frühe Dörfer zu untersuchen, zumal es in der Gegenwart diese bewohnten Wurtendörfer immer noch gibt.556 Für die Forschung hat das zwei entscheidende Vorteile: Einerseits sorgte der bis heute feuchte Untergrund für eine ausgezeichnete Erhaltung und Überlieferung aller organischen Reste, die bei der Erhöhung der Wurten durch Erd- und Mistauftrag bedeckt wurden. Somit sind die unteren Teile der Häuser samt Pfostensetzungen der Konstruktion und der Flechtwerkwände teilweise bis über ein Meter Höhe komplett erhalten geblieben. Andererseits bildeten diese übereinanderliegenden Siedlungen die Geschichte des jeweiligen Dorfes über mehrere Jahrhunderte exakt ab, was Veränderungen in allen Lebensbereichen, von der Bauweise und Größe der Häuser sowie der Anzahl der Gehöfte und ihrer Ausstattung mit Alltagsgerät, abzulesen erlaubt. Die Gliederung der katalogartigen Beschreibungen von Siedlungen folgt zuerst der Forschungsgeschichte und anschließend den geographischen Räumen, in denen in den letzten Jahrzehnten Siedlungen umfassend ausgegraben worden sind. Die Fundort- und Ausgrabungsauswahl ist ein wenig dem Zufall überlassen worden, abhängig von dem, was ich in der Literatur gefunden habe; wenn ich alles bringen wollte, dann würden die Katalogteile zu ausführlich.
2.4.1 Die Anfänge der Forschung Nicht die erste, aber die umfangreichste, von 1923 bis 1934 laufende Ausgrabung durch Albert Egges van Giffen557 legte in der heutigen Wurt Ezinge in der niederländischen
556 Stoumann 2000. 557 Waterbolk 1998; van Giffen 1936; Knol 2017.
198
2 Haus, Gehöft und Siedlung
Landschaft Drenthe eine Siedlung der ersten Jahrhunderte vor und nach Chr. frei, wo man erstmals die Bauweise der Häuser, auch mit den Flechtwerkwänden erkennen konnte.558 Insgesamt sind Siedlungsphasen von 500 v. bis 1500 n. Chr. nachgewiesen, nicht nur über Keramik, sondern auch anhand der Bauweise der Häuser. Zuvor schon war beispielsweise eine solche Siedlung in der Wurt Einswarden in Nordbutjadingen ergraben worden,559 und bei Ginderup in Nordwestjütland wurden von 1917 bis 1934 Wohnhügel der Römischen Kaiserzeit mit mehreren Häusern erforscht.560 W. Haarnagel begann 1938 mit Grabungen in der Wurtensiedlung Einswarden,561 die jetzt 2018 wieder ausgewertet wurden. Freigelegt sind damals erstmals Hausgrundrisse mit stehenden Flechtwerkwänden bzw. erhaltenen Pfosten der WohnStall-Häuser, datiert von der ausgehenden vorrömischen Eisenzeit bis in die Römische Kaiserzeit. Neun Häuser und vier Speicherbauten aus fünf Siedlungsphasen des 2./1. Jahrhundert v. Chr. bis ins 3. Jahrhundert n. Chr. sind dokumentiert. Es begann mit einer Flachsiedlung, gefolgt von vier Wurtenaufträgen. Zum Fundmaterial zählen zehn Fragmente von Terra Sigillata,562 Scherben von Grobkeramik und auch mehrere größere Fragmente von Briquetage als Hinweis auf Salzgewinnung sowie keramische Feuerböcke. Registriert wurden Fischschuppen vom Stör. Die zweite Großgrabung untersuchte die Feddersen Wierde im Wesergebiet nahe Cuxhaven; sie wurde vollständig in den Jahren von 1955 bis 1963 unter der Leitung von Werner Haarnagel563 ausgegraben, bei einer Fläche von 2,5 Hektar bis zu Tiefen von 4 m unter der Wurtenoberfläche.564 Diese Feddersen Wierde wurde zum Musterbeispiel für die Wirtschafts- und Sozialgeschichte der germanischen Epoche. Das älteste Dorf ist schon vor Chr. Geb. noch zu ebener Erde auf einem Strandwall gegründet worden, und nachfolgend wurden immer neue Siedlungsphasen bis ins 5. und gar bis ins frühe 6. Jahrhundert n. Chr. erbaut, so dass schließlich diese über 4 m hohe Wurt entstanden ist. Am Beginn wurden fünf Wohn-Stall-Häuser mit Speichern errichtet (mit Platz für zusammen 100 Rinder), in der nächsten Phase gab es schon acht Betriebseinheiten mit bis zu 20 m langen Häusern (mit Viehboxen zusammen für fast 200 Rinder), die leicht verlagert gegenüber den älteren Strukturen noch einmal gebaut wurden, nachgefolgt von 15 Wirtschaftsbetrieben, unter denen sich ein Gehöft deutlich in der Größe heraushebt (mit Platz zusammen für etwa 300 Rinder). Dieser besondere Hof besteht aus zwei kleinen und zwei großen Wirtschaftsbetrieben, einem Haus von 28 m Länge sowie 7 m Breite (also knapp 200 m2 Wohnfläche)
558 Waterbolk 1994; Nieuwhof 2014. 559 Haarnagel 1989. 560 Lund 1998. 561 Siegmüller 2018b, 153 Abb. 32 Terra Sigillata, 155 Abb. 34 Briquetagen. 562 Erdrich 2002, 62. 563 Schmid 1999a. 564 Haarnagel 1979; Schmid 1994; 2006; 2010; Schuster 2006; vgl. auch Schmid 1981 (Chauken); auch Nieuwhof 2017.
2.4 Siedlungen – ein Auswahlkatalog
199
und war – im Fachjargon gesagt – eine sogenannte Mehrbetriebseinheit, also ein Hof, auf dem mehrere komplette Wirtschaftseinheiten zusammengefasst waren. Das Dorf auf der Wurt Feddersen Wierde wuchs nach erster linearer Anlage weiter dann zur kreisförmigen Anordnung der Häuser über die Jahrhunderte bis zu 25 verschieden großen Gehöften (mit Platz für insgesamt mehr als 300 Rinder) (Tabelle 2). Die Zahl der Bewohner wuchs geschätzt von 50 Personen im 1. Jahrhundert auf 300 Menschen im späten 3. und frühen 4. Jahrhundert. Übrigens wurden unter der ersten Siedlungsphase Ackerfluren und Pflugspuren entdeckt.565 Tabelle 2: Entwicklung des Dorfes Feddersen Wierde von der späten vorrömischen Eisenzeit bis ins 5. Jahrhundert. 1 Phasen der Siedlung, 2 Anzahl der Häuser und Größe des Viehstapels (Steuer 2007 a, 347 Abb. 3). 1 Siedlungsperiode 1a 1b 1c 2 3 4 5 6
bäuerl. Betriebe 5 8 8 14 17 19 23 23
Boxen (etwa) 54 98 115 165 170 218 267 188
Rinder (etwa)
44 gr. u. 10 kl. Boxen 78 gr. u. 20 kl. Boxen 81 gr. u. 34 kl. Boxen 133 gr. u. 32 kl. Boxen 127 gr. u. 43 kl. Boxen 159 gr. u. 59 kl. Boxen 176 gr. u. 91 kl. Boxen 119 gr. u. 69 kl. Boxen
98 176 196 298 297 377 443 307
2 Siedlungshorizont 1a 1b 1c 2 3 4 5 6
kleinere Betriebe
mittelgroße Betriebe
große Betriebe
Handwerkerhäuser
– – – 1 7 3 7 8
5 8 5 11 8 12 12 14
– – 3 2 2 4 4 1
– – – 1 3 3 3 2
Die Anzahl der Rinder ist tatsächlich direkt ablesbar an der Zahl der Viehboxen, die noch mit den Flechtwerkwänden erhalten waren. Schwieriger ist die Zahl der 565 Zimmermann 1995b, 294 Abb. 5.
200
2 Haus, Gehöft und Siedlung
Einwohner dieser Siedlungen zu schätzen; geht man von 10 Personen pro Hof aus, dann lebten einst 250 Leute im Dorf, geht man von 15 Personen bei den größeren Gehöften aus, so kann man auch 350 Einwohner annehmen. Gleichzeitig waren in einer Kette nahe benachbart etwa acht weitere Wurten besiedelt. Wenn sie alle gleichartig strukturiert waren, dann käme man auf eine Bewohnerzahl in diesem kleinen Areal östlich der Wesermündung von rund 12 km Länge auf 2500 bis 3000 Menschen; wie gesagt, sind das Schätzungen, die aber immerhin die Größenordnung angeben (Abb. 19.1). Der einzelnen Wurtensiedlung wie der Feddersen Wierde standen als Wirtschaftsfläche rund 260 bis 290 ha zur Verfügung, wovon nur 40 bis 50 ha als Ackerland geeignet waren; die übrige Fläche von 220 bis 240 ha war dann Weideland, was kaum für den errechneten Viehbestand ausgereicht haben kann. So scheint es, was die Knochenfunde bestätigen, dass im Herbst zahlreiche Rinder geschlachtet werden mussten. Auch wenn der Lebensunterhalt auf der Viehwirtschaft beruhte, war ein Bestand von 100 und mehr Rindern durchaus ein Zeichen für Wohlstand.566 Eines der Gehöftareale entwickelte sich besonders auffällig, was die Größe und den Charakter betrifft (Abb. 20, 1 und 2). Außer dem Wohn-Stall-Haus stand dort ein Haus gleicher Größe, aber ohne Viehstall, also eine Halle, als Versammlungshaus gedeutet, mit einer Blütezeit im 2. Jahrhundert n. Chr. Der Fundstoff in diesem Bereich auf der Wurt verteilt, darunter auch aus dem Römischen Reich importiertes Tafelgeschirr und Münzen, spiegelt einen gehobenen Lebensstil, der sich damit von dem in den anderen Gehöften unterscheidet. Handwerksbetriebe, vor allem zur Eisengewinnung und -verarbeitung, konzentrierten sich auf dem Hofareal. Man spricht von einem Herren- oder Häuptlingshof oder von einem Adelssitz, ohne die rechtliche Stellung dieses „Herrn“ tatsächlich erkennen zu können (dazu unten S. 204).567 Da jedoch diese herausragende Position über Generationen erhalten blieb, der Umfang des Gehöftes sogar zunimmt, werden seine Bewohner innerhalb dieses Dorfes (oder auch darüber hinaus in der Kleinlandschaft) eine Sonderrolle gespielt haben. Die Siedlung Feddersen Wierde ist seit Beginn der Veröffentlichung bis heute vielfach dreidimensional rekonstruiert und in Farbe sehr häufig abgebildet worden.568 Ähnlich wird die Siedlung Galsted in Jütland rekonstruiert. Dadurch ist eine überzeugende Vorstellung von der Größe eines Dorfes der ersten Jahrhunderte n. Chr. in Germanien geschaffen worden (Abb. 21. 1 und 2). Wie angedeutet, muss man von der Feddersen Wierde ausgehend die gesamte Wurtenkette hier an der Wesermündung569 berücksichtigen, wobei die Feddersen Wierde an einer inneren Linie liegt, wozu später bei nachfolgender Landschaftsver566 Reichstein 1991. 567 Schmid 2010; Burmeister, Wendowski-Schünemann 2006; 2010. 568 Behre 2010, 71 Abb. 61; dann z. B. auch als Titelseite der Zeitschrift „Archäologie in Deutschland“ 1991, Heft 1 und im Heft 32, Abb. 6); schon Ament 1997/2003, 57 Abb. (Modell): Spuren des Menschen 2019, 276–277 mit den Abb. 475 und 476. 569 Schmid 2007, 347 Abb. 47.
2.4 Siedlungen – ein Auswahlkatalog
Abb. 19: 1. Wurtenkette bei der Feddersen Wierde.
201
202
2 Haus, Gehöft und Siedlung
Abb. 19: 2. Kette der Flachsiedlungen und Wurten am linken Emsufer.
änderung eine zweite Linie von Wurten weiter außen errichtet wurde. Ähnlich sieht es an den anderen Flussmündungen aus, eine vergleichbare Wurtenkette liegt an der Ems (vgl. oben Abb. 19.2),570 wo die Siedlungen des 1. Jahrhunderts v. bis zum 5. Jahrhundert n. Chr. Geb. im Abstand von ebenfalls 1 bis 2 km Entfernung entstanden sind.
570 Schmid 1985. 453 Abb. 1.
2.4 Siedlungen – ein Auswahlkatalog
203
Abb. 20: 1. Rekonstruktion der großen dörflichen Siedlung Feddersen Wierde.
Ethnisch spricht man hier von Chauken, worüber ein Stichwort im RGA handelt,571 was aber hier nicht näher eine Rolle spielen soll.572 Der römische Importzustrom zur Zeit der Markomannenkriege (166–180 n. Chr.) regt gegenwärtig die Annahme nahe – beeinflusst durch die Ereignisgeschichte nach den Schriftquellen –, dass die Bewohner der Feddersen Wierde in Auxiliareinheiten des römischen Heeres eingebunden gewesen sein könnten. Vorgeschlagen wird inzwischen auch, nicht mehr allgemein von einem „Herrenhof“ zu sprechen, was der Verfassung der germanischen Stämme – nach den Schriftquellen – nicht entsprechen würde. Mit Blick auf die „Architektur des sozialen Raumes“ und der „Halle als Herrschaftsarchitektur“ (dazu unten S. 346), die sich weniger durch ihre Größe als durch die von der sonstigen Struktur der Siedlung abweichenden inneren Organisation der Lebensgestaltung unterscheidet, wählt man jetzt schon die Benennung Sitz eines 571 Schmid 1981. 572 Schön 1999 zur Siedlungskonzentration Feddersen Wierde, Fallward, Flögeln.
204
2 Haus, Gehöft und Siedlung
Abb. 20: 2. Der Herren- oder Haupthof auf der Feddersen Wierde, Siedlungshorizont 4, zweite Hälfte 2. Jahrhundert.
„Adligen“ oder eines „Gefolgschaftsanführers“.573 Das wird weiter diskutiert werden; denn ob Häuptling, Herr, Fürst, Adliger, Gefolgschaftsführer, Kriegsfürst/Warlord, alle diese Begriffe können ohne nähere Definition nicht viel aussagen, und man bleibt bei dem Ausdruck Elite. Dieser herausragende Rang eines Gehöftes auf der Feddersen Wierde und damit seiner Bewohner kann durch Gräber und deren Beigabenausstattung bestätigt und
573 Burmeister, Wendowski-Schünemann 2006; 2010.
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2 Abb. 21: 1. Grundriss der Wandersiedlung mit Eintragung der rekonstruierten Phase des 1. Jahrhunderts. 2. Rekonstruktion der Siedlung Galsted in Südjütland.
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weiter beschrieben werden, wie sie – erst viel später in den 1990er Jahren – in der benachbarten Wurt Fallward bei Wremen gefunden und sorgfältig ausgegraben worden sind. Herausragend mit Beigaben ausgestattete Körpergräber spiegeln die Ranghöhe.574 Um 300 n. Chr. dendrochronologisch datiert wird ein Frauengrab mit kostbaren Gewandnadeln und weiterem Schmuck, eine Generation später um 327 n. Chr. wurde ein Mädchen in einem (erhaltenen hölzernen) Sarg bestattet, die ebenfalls teuren Schmuck, silbervergoldete Fibeln, trug. Um 420 n. Chr. folgte ein erstes Bootgrab (das Boot war also der Sarg) angelegt und kurz nach 421 n. Chr. ein weiteres, ein Einbaum, das Grab eines Mannes, der einen Gürtel höchster Qualität mit Kerbschnitt verzierten Beschlägen aus Bronze trug, römischen Militärgürteln entsprechend. Die Besonderheiten in diesem Grab aber waren Holzmöbel, die beim Toten standen: Hinter dem Kopf ein kleiner Tisch mit Verzierungen an den Kanten aus sogenannten Astragal-Leisten, wie sie in kleinem Maßstab an den Bronzebeschlägen der Militärgürtel vorkommen; außen am Einbaum lehnte ein sogenannter Klotzstuhl oder Thron aus Erlenholz, 65 cm hoch und mit prunkvoller Kerbschnittverzierung aus Hakenkreuzmäander bedeckt, wie sie ebenfalls an den römischen Militärgürteln überliefert sind; zu Füßen des Toten stand ein auch mit Kerbschnitt verzierter Schemel, mit einer Jagdszene und der Runeninschrift (ksamella-Schemel und lgukaÞi-Hirschschädigung oder AglguskaÞi, Elchjäger). Der römische Einfluss, ablesbar an den Militärgürtelbeschlägen, ist unübersehbar, zeigt aber auch die örtliche Umsetzung, denn die Möbel sind aus einheimischem Holz geschnitzt, das hier gewachsen war, und sie sind hier mit ihrer Verzierung geschmückt worden (S. 952 Abb. 74). Ein Mädchen wurde kurz nach 327 n. Chr. in einem mit einem Brett abgedeckten hölzernen Trog beigesetzt. Textilreste, Tutulusfibeln und Perlen, gedrechselte und geschnitzte Schalen und ein weiterer kleiner Trog, ein Kästchen mit Deckel und zwei Spielzeuge aus Holz, ein kleiner dreibeiniger Hocker mit runder Sitzfläche, eine Fußbank und ein Tischchen mit Kerbschnittverzierung gehörten zur Ausstattung. Diese Möbel seien, so H.-U. Voss, ein bedeutender Beleg für germanisches Können, das ohne Rom realisiert wurde.575 Die Besonderheiten dieses Fundplatzes, nämlich die in Holz erhaltenen Möbel, sind jüngst erneut analysiert worden, worüber A. Hüser berichtet.576 Die Grabungen der Jahre 1993 bis 1998 haben zwei flache Kuppen mit einem Gräberfeld und 200 Brandbestattungen sowie 60 völlig unterschiedliche Körpergräber des 4. und 5. Jahrhunderts erbracht. Die Objekte aus einheimischem Holz weisen perfekte handwerkliche Qualitäten auf, Drechselarbeiten, Blattung und Gehrung und andere Holzverbindungstechniken. Hierzu wird Tacitus zitiert, der
574 Schön 1995; 2000; 2004; 2010; Udolph, Schön, Düwel 2007; W. H. Zimmermann 2007b; auch Böhme 2002, 303 Abb. 20 Bootgrab erstes Drittel 5. Jahrhundert und die Gürtelbeschläge, Abb. 21 Rekonstruktion des Klotzstuhls in Farbe; Spuren des Menschen 2019, 281 Abb. 9: Der Thronsessel im Original und als Rekonstruktion. 575 Schön 1995; Voss 2008a, 357 Abb. 28. 576 Hüser 2019a. Zur Runeninschrift auch Schön, Düwel, Heine, Marold 2006, 167.
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meint, beim Gelage hatte jeder Germane einen eigenen Sitz und eigenen Tisch, was der Beigabenausstattung entspricht. Um einen Vergleich zur Feddersen Wierde zu ermöglichen, wurden die in der Kette der acht nahebei gelegenen Wurten die Barward und die Fallward archäologisch untersucht.577 In der Fallward wurden die Siedlungsschichten I bis VI ergraben; I ist die Flachsiedlung des 2./1. Jahrhunderts v. Chr., II der erste Wurtenauftrag des 1./2. Jahrhundert, was dann weitergeht bis zum Wurtenauftrag VI nach dem 7. Jahrhundert. Dazu gab es schon alte Grabungen aus dem Jahr 1935. In der Barward gab es ebenfalls alte Grabungen 1941 und 1959. Die Siedlungsschicht I entstand hier wiederum im 2./1. Jahrhundert v. Chr. als Flachsiedlung, dann IV als 3. Wurtenauftrag im 3./4. Jahrhundert, worauf noch Schicht V folgte. Die drei Siedlungen begannen zu ebener Erde in der vorrömischen Eisenzeit, in der Fallward und in der Feddersen Wierde reicht die Besiedlung bis in die Völkerwanderungszeit,578 und bei allen drei Wurten gab es die radiale Anordnung der Gehöfte. Die reich ausgestatteten Gräber auf der Fallward entsprechen wahrscheinlich dem Herrenhof auf dieser Wurt. Auf der Barward sind anhand von Großtierbestattungen ebenfalls ein Herrenhof und Totenhäuser nachgewiesen, über die Pferdebestattung wie die auf der Feddersen Wierde in einem Totenhaus auch hier eine Stute in einem Totenhaus, außerdem sind Schwein und Hund sowie Hundeskelette unter der Türschwelle des 2./3. Jahrhunderts dokumentiert. Die Keramikfunde aus den Siedlungen bietet die Möglichkeit, über Gruppierungen der Warenarten auch Verkehrs- und Kommunikationsräume gegeneinander abzugrenzen. So ermöglichte die Analyse der organisch gemagerten Ware aus der Siedlung „Uttumer Escher“, Gemeinde Krummhörn, Ldkr. Aurich, aus dem gegebenen Anlass „Friesische Keramik“,579 rhein-weser-germanische Keramik und eben dazwischen auch die spezielle örtliche organisch gemagerte Ware gegeneinander zu kartieren.580 Die Uttumer Siedlungswurt wurde seit der Zeit um Chr. Geb., bei nachlassender Überflutungshäufigkeit, auf einem Uferwall gegründet, zeitgleich mit den sonstigen Flachsiedlungen, den Siedlungen zu ebener Erde, ehe die Aufwurtungen einsetzten, und zwar schon bald in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr. Eine Reihe weiterer Siedlungen mit dieser organisch gemagerten Keramik ist bekannt, so dass die Kartierung eines Gebiets auch möglich ist, das durch spezielle Kommunikation miteinander verbunden war, sicherlich über diese Keramikformen hinaus, die keine „ethnischen“ Kennzeichen (zum Beispiel für Chauken) gewesen sind, wie früher angenommen, sondern eher persönliche Beziehungen zwischen Familien spiegeln könnten.
577 Siegmüller 2017a. 578 Schön 2010. 579 Taayke u. a. 1998. 580 Siegmüller, Struckmeyer 2014, besonders 99 Abb. 7 Kartierung in Farbe.
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Die Marschen waren also am Nordrand von Germanien eine einzigartige Kulturlandschaft mit Wurzeln in der vorrömischen Eisenzeit und ihrer vollen Entwicklung in den ersten vier bis fünf Jahrhunderten n. Chr.581 Die Wurtenketten erstrecken sich von den Niederlanden und an der südlichen Nordseeküste entlang bis zur Elbe und ebenso auch an der westlichen Küste von Schleswig-Holstein und in Dänemark an der jütländischen Küste. Kartiert sind die Fundstellen im dänischen Wattenmeer für die Römische Kaiserzeit, vor allem mit der dichten Lage auch hier der Siedlungen. Noch bleibe ich bei den frühen Ausgrabungen am Anfang des 20. Jahrhunderts, und blicke auf das östliche Deutschland, wo ebenfalls schon damals Siedlungen ausgegraben und von denen einige erst in den letzten Jahren erneut ausgewertet wurden. Der Bärhorst bei Nauen im Havelland wurde von Wilhelm Unverzagt schon von 1935 bis 1938 auf 2 ha Fläche ausgegraben.582 Die Siedlung bestand im Grabungsareal vom 2. bis zum 5. Jahrhundert. Eine größere Zahl sich überlagernder dreischiffiger Langhäuser von 14 bis knapp 30 m Länge, außerdem die üblichen 4-, 6- und 9-Pfostenspeicher und Grubenhäuser bilden das Ensemble. Rund 38 Langhäuser waren anhand der Pfostenverteilungen zu identifizieren, zumeist Ost-West und nur vier Nord-Süd ausgerichtet. Weiter südlich wurden ebenfalls schon frühzeitig Siedlungen durch großflächige Ausgrabungen untersucht. Lange bekannt sind die Ergebnisse der Grabungen in Kablow im Ldkr. Dahme-Spreewald,583 wo Joachim Werner ab 1937 bis 1942 die Forschungen organisiert hat. Rund 100 Grundrisse, u. a. vierschiffige Langhäuser und Grubenhäuser sowie Speicher und Brunnen sowie Reste der Eisenverhüttung sind das typische Bild eines sich verlagernden Dorfes der Römischen Kaiserzeit des 1. bis 5. Jahrhunderts in Germanien. Von 1959 bis 1965 erforscht wurde die Siedlung Wüste Kunersdorf im Odertal bei Lebus,584 die von der Spätlatènezeit bis zur späten Römischen Kaiserzeit existiert hat. Im weiteren niedersächsischen Binnenland ist der Forschungsstand noch nicht befriedigend gewesen. Aber immerhin wurde in Gielde bei Wolfenbüttel schon 1963 bis 1966 eine Siedlung großflächig untersucht, die vom 1. bis 7. Jahrhundert bestanden hat.585 Doch aufgrund des damaligen Kenntnisstandes waren nicht alle Befunde der zahlreichen Gehöfte mit Grubenhäusern, Backöfen und Eisenschmelzöfen richtig zu deuten. In Gristede, Kr. Ammerland, sind ebenfalls schon in den 1975er Jahren Teile einer kaiserzeitlichen Siedlung ausgegraben worden.586 Zur ältere Römischen
581 Vgl. Kapitel „Dichte der Besiedlung“; ein Beispiel bei Stoumann 2000, 118 Fig. 1 Fundstellen im Wattenmeer, 119 Fig. 2 farbige Karte der dichten Lage der Siedlungen. 582 Schöneburg 2001, 405 Abb. 1 Plan der Siedlung nach dem Befund von 1937/1938 und Hauspläne; May 2002, 3 Abb. 1 Gesamtplan; Donat 2018, 203 Katalog Nr. 18. 583 Hauptmann 2000,149 Abb. 14 Gesamtplan; Donat 2018, 203 Kartalog Nr. 23. 584 Leube 2007. 585 Seemann 1998. 586 Kaufmann 1999; Zoller 1975.
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Kaiserzeit gibt es für Südniedersachsen eine Zusammenstellung auch der Siedlungsbefunde.587 In Dänemark begannen die archäologischen Flächenforschungen mit den Siedlungskomplexen in Grøntoft bei Rinkøbing in Jütland, die dort von 1961 bis 1973 unter der Leitung von C. J. Becker großflächig freigelegt worden sind.588 Es war wie bei der Wurtenforschung in den Niederlanden und an der südlichen Nordseeküste ein methodischer Neubeginn, wie ein solch großes Siedlungsareal archäologisch überhaupt erschlossen werden kann. Auf einem Areal von 15 ha wurden mehr als 250 Gebäude, zumeist Wohn-Stall-Häuser des 5. bis 3. Jahrhunderts v. Chr. erfasst, die man in acht zeitliche Gruppen auflösen konnte, die im Gebiet gewissermaßen wanderten, d. h. systematisch verlegt worden sind. Die damals erkannte jüngste Phase des 3./2. Jahrhundert v. Chr. war zudem mit einem palisadenartigen Zaun befestigt gewesen. Innerhalb dieses Bereichs standen 10 Wirtschaftsbetriebe mit geschätzten 70 Bewohnern. In der Zeitspanne von 300 Jahren macht jede der zehn Phasen einen Abschnitt von 30 Jahren aus, d. h. generationsweise wurde die Siedlung durch Verlagerung erneuert, ein Muster, das immer wieder bei den späteren Ausgrabungen in den Siedlungen beobachtet werden konnte und wird. Inzwischen sind in diesem Bereich des Siedlungsareals Grøntoft noch jüngere Dörfer gefunden worden, die während der Römischen Kaiserzeit bestanden haben und damit wiederum die jahrhundertelange Kontinuität der Siedlungen in Jütland und anderswo bestätigen.589 Bei der wiederholten und neuen Betrachtung der Ergebnisse zu Grøntoft wird inzwischen die gesamte Landschaft mit ihren Befunden gewertet.590 Zu Grøntoft liegen nahebei die Siedlungen Lyngsmose und weiter im Norden Borremose sowie weiter im Süden Hodde und noch weiter im Süden Galsted. Alle diese eingezäunten bzw. leicht befestigten Siedlungen werden noch einzeln beschrieben (vgl. S. 308). Die linearen Grubenreihen nebeneinander mit spitzen Hölzern dazwischen sind mehrfach als Befestigungen erkannt worden. Auch Grøntoft war während der frühen vorrömischen Eisenzeit auf diese Weise befestigt durch diese Grubenzonen in fünf und mehr Reihen nebeneinander. Das Dorf Ginderup in Nordwestjütland wurde sogar schon in den Jahren 1917 bis 1934 archäologisch untersucht, und seit 1922 sind mehr als 30 Hausgrundrisse festgestellt worden.591 Das war der Beginn der Siedlungsgrabungen in größerem Stil in Dänemark. Es handelt sich hier um hügelartige Wohnplätze mit komplexer Schichtenfolge, aber – da auf festem Land positioniert – waren es keine Wurten. Die Aufhöhung geschah in anderer Weise. Die Hauswände waren mit breiten (Rasen-)Sodenwänden aufgebaut, was bei der Verwitterung zu dieser „wurtenartigen“ Erhöhung des Sied587 S. Schmidt 2002. 588 R. Müller, Steuer 1999; Kossack 1997, 46 Abb. 26; Rindel 2001a. 589 Auch Donat 2018, 100 Abb. 27. 590 Rindel 2010, 251 Fig. 1 Karte. 591 Lund 1998.
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lungsplatzes geführt hat, da die Häuser nicht wanderten, sondern an derselben Stelle erneuert wurden. Der Vorteil dieser Bauweise für die Archäologie ist, dass Details des Hausinneren wie Herdstellen, Lehmbänke, Möbelteile und Türschwellen neben dem Fundmaterial, darunter Holzgefäße, erhalten geblieben sind. Ähnlich frühzeitig wie bei Ginderup ist die Siedlung Nørre Fjand am Nissum Fjord an der Westküste Jütlands von Gudmund Hatt in den Jahren 1934 bis 1940 teilweise ausgegraben worden.592 Das Dorf bestand von 200 v. Chr. bis 150 n. Chr. Etwa 60 Gebäude, dreischiffige Langhäuser, überlagerten sich mehrfach. Die innere Gliederung einschließlich Herdstellen, Türschwellen und Flechtwände im Stall sind in einigen Häusern erhalten. In der Nähe in nur 150 m Entfernung liegt ein Gräberfeld mit Brand- und Körpergräbern, auf dem 1997 noch einmal zusätzlich ausgegraben wurde. Vergleichbar ist die ebenfalls von Gudmund Hatt 1936 untersuchte Siedlung Østerbølle.593 Neun lange und drei kurze Häuser aus der Römischen Kaiserzeit sind von den Gehöften geblieben; sie liegen verteilt um einen freien Platz in der Mitte, ein Befund, der heute mit Hodde (vgl. unten S. 275) verglichen wird. In unmittelbarer Nähe sind 1937 weitere Hauskonzentrationen, also andere Phasen der wandernden Siedlung, erforscht worden. Eines der Häuser, 16,75 m lang, war abgebrannt, wodurch der Inhalt konserviert worden ist. Die Wände waren wohl auch hier aus Soden errichtet, Pfosten trennten die einzelnen Viehboxen. Beim Getreide dominierte Gerste (Spelz- und Nacktgerste), es folgten mengenmäßig Roggen und Hafer, auch Weizen, außerdem ist Lein nachgewiesen. An Metallgeräten sind ein Messer sowie zwei Tüllenbeile, noch mit Schäftung aus Buchenholz, erhalten geblieben. Auf Gotland ist die Siedlung Vallhagar von Mårten Stenberger 1946 bis 1950 ausgegraben worden.594 Hier wurden die einzelnen Gehöfte nicht von rechteckig verlaufenden Zäunen, sondern von Steinwällen eingefasst. Die dreischiffigen Häuser waren 7 bis 33 m lang und 5 bis 12 m breit, und sie wurden hier an Ort und Stelle mehrfach neu aufgebaut; die Siedlung wurde also nicht verlagert. Datiert werden die Häuser in die Zeit von 100 bis 550 n. Chr. Doch findet die Siedlung auch eine Fortsetzung über die Vendel- bzw. Völkerwanderungszeit hinaus bis in die Wikingerzeit. Problematisch ist noch, wieviele von den 24 anhand der Steinfundamente nachgewiesenen Gehöften seinerzeit gleichzeitig gestanden haben, mindestens aber wohl fünf bis sechs. Die größten Häuser werden als Hallen bezeichnet. Im folgenden Abschnitt beschreibe ich nun die Ausgrabungen von Dörfern während der letzten Jahrzehnte, die als Flächengrabungen eine andere Größenordnung erreichten und damit grundlegend wurden für die neuartige Bewertung der Siedlungen in Germanien.
592 Lund 2002a, 244 Abb. 35 Übersichtsplan. 593 Lund 2002b, 607 Abb. 88 Übersichtsplan. 594 Svedin 2006, 54 Abb. 17 Plan.
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2.4.2 Deutschland bis zur Elbe Die Siedlungen an der Niederelbe zwischen dem 2. Jahrhundert v. Chr. und dem 5. Jahrhundert n. Chr. sind 2017 kartographisch erfasst worden; über neue LaserscanAufnahmen hat es Einblicke in die gesamte archäologische Kulturlandschaft mit Celtic fields, also alten Ackerfluren (vgl. S. 424), unveröffentlichten Hausbefunden und Hauslandschaften sowie Gräberfeldern gegeben. Damit, so der Autor, ist endgültige der postulierte Siedlungshiatus im 3. Jahrhundert n. Chr. und danach widerlegt worden.595 Ähnlich neu aus dem Jahr 2017 ist die Zusammenstellung der Grabfunde zur jüngeren Römischen Kaiserzeit und der Völkerwanderungszeit im Landkreis Cuxhaven, und genannt werden zusätzlich die dazu gehörenden Siedlungen.596 Von den Wurtensiedlungen seit der vorrömischen Eisenzeit bis in die Römische Kaiserzeit an der niedersächsischen Nordseeküste wurden mehrere alte Grabungen 2010 neu ausgewertet.597 Darin standen dreischiffige (bei weitem überwiegend), zweischiffige und einschiffige Häuser. Ein Beispiel ist die Wurt Hatzum-Boomborg mit den Siedlungshorizonten von IA, IB bis Horizont 7. Die Siedlung wurde im 6. Jahrhundert v. Chr. gegründet und bestand, mit Unterbrechung, bis 200 v. Chr. und dann wieder bis ins 3. Jahrhundert n. Chr. (mit den Horizonten 6 und 7). Blickt man sich nun im weiteren Umkreis der beschriebenen und eigentlich exzentrisch liegenden Wurtensiedlungen um, und zwar von der Feddersen Wierde zur benachbarten Geest, also dem höher gelegenen Festlandbereich, so sind die Verhältnisse dort nur scheinbar anders. Statt wie bei den Wurten das Dorf immer wieder an derselben Stelle, nur auf höherem Niveau zu errichten, verlagerte man auf der Geest das gesamte Dorf mit gleichbleibender oder auch sich nur leicht verändernder Struktur um einige hundert Meter weiter, d. h. man baute das neue Dorf neben und nicht über der alten Siedlung wieder auf. In der Siedlungskammer Flögeln-Eekhöltjen im Elb-Weser-Dreieck, nur wenig mehr als 15 km Luftlinie von der Feddersen Wierde entfernt, wurde die gesamte Dorfentwicklung von den letzten Jahrzehnten vor Chr. Geb. bis ins 6. Jahrhundert n. Chr. ausgegraben, in den Jahren 1971 bis 1986 auf 11,5 ha (oben Abb. 18).598 Das Dorf wuchs nach Zahl und Größe der Gehöfte, ablesbar deutlich an den erhaltenen Umzäunungen. Allein an diesem Ort wurden über 150 WohnStall-Häuser und ebenso über 150 Grubenhäuser freigelegt. Im Grabungsareal wird der Siedlungsbeginn zur vorrömischen Eisenzeit und frühen römischen Kaiserzeit erfasst. Es handelt sich bei diesem Anfang um eine Streusiedlung im Bereich der dazu gehörenden Ackerflächen, der sog. celtic fields (weil man sie früher für keltisch gehalten hat) von 100 ha Umfang (vgl. dazu S. 424).599 Innerhalb und am Rande verteilt 595 Schäfer 2017. 596 Schön 2017. 597 Strahl 2010, 358 Abb. 1 Karte der Siedlungen. 598 W. H. Zimmermann 1992b; 1995a, 2007 Abb. 32; Dübner 2011; 2013; 2015. 599 W. H. Zimmermann 1976.
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liegen die Einzelhöfe mit Wohn-Stall-Haus, Grubenhaus und ebenerdigem Nebengebäude. In der begrenzten Grabungsfläche sind immerhin schon sechs Gehöfte dieser frühen Phase angeschnitten. Die Auswertung der Fundmaterialien, so der Keramik, erlaubte es, die anschließende Bebauung des 1. bis 6. Jahrhundert n. Chr. in siebzehn Phasen zu gliedern; wobei jede Phase etwa 30 Jahre gedauert haben wird.600 Kein Langhaus stand länger als 100 Jahre. Die späteren Phasen ab dem 2. Jahrhundert sehen ein geschlossenes Dorf mit umzäunten sogenannten Mehrbetriebseinheiten – d. h. mit mehreren Wohn-Stall-Häusern innerhalb eines Gehöftplatzes –, die verschieden umfangreich sind und ebenfalls Rang- und Reichtumsunterschiede erkennen lassen. In manchen Bereichen der Siedlung wurde an Ort und Stelle das Gehöft über mehrere Generationen neu erbaut, zwischen den Phasen der Verschiebung, wobei die Parzelle, ablesbar an der Umzäunung, gleich geblieben ist; die Toranlagen behielten ihre Position sogar ebenfalls bei, auch wenn die Zäune leicht verlegt wurden. Die letzte Phase des 6. Jahrhunderts ist erst spät entdeckt worden, weil es keine typischen Keramikfunde an der Oberfläche gegeben hat.601 Doch über Luftaufnahmen kam man auf die Spur dieser späten Phase am Nordwestrand des bisher besiedelten Areals. Die Siedlung endete dann immer noch nicht, sondern wurde ein größeres Stück weiter verlagert zum Platz Dalem mit einem Siedlungsbeginn im 7./8. Jahrhundert und einer Fortdauer bis ins 12./13. Jahrhundert bis zum heutigen Dorf.602 Auch die zugehörigen Gräberfelder der Römischen Kaiserzeit und der frühen Völkerwanderungszeit sind in dieser Siedlungskammer Flögeln untersucht worden.603 Die Zahl der gleichzeitig stehenden Gehöfte ist nicht leicht zu nennen, weil oftmals mehrere Wirtschaftseinheiten, also Langhäuser mit Viehteil, die sogenannten Mehrbetriebseinheiten innerhalb einer Umzäunung gestanden haben. Die Siedlung begann also mit einigen verstreut gelegenen Gehöften und entwickelte sich zu einem kompakten strukturierten Dorf mit eingezäunten Gehöften nebeneinander. Erst in der späten Phasen lagen die großen Gehöfte wieder voneinander entfernt und brauchten deshalb (?) keine Zäune mehr, wogegen jedoch die Markierung des eigenen Besitzes spricht, was bestehen blieb bis ins Mittealter und darüber hinaus.604 D. Dübner meint zudem, dass die Entwicklung eines Häuptlinghofs höchstens rudimentär zu erkennen sei und dass Flögeln, obwohl sehr umfangreich ausgegraben, doch nur eine normale Siedlung der Römischen Kaiserzeit und der Völkerwanderungszeit gewesen sei. Die Siedlung Flögeln-Eekhöltjen hat wie alle Siedlungen eine große Menge an Keramikscherben geliefert, die 2018 noch einmal chronologisch und kulturgeschicht-
600 Dübner 2015, dazu Rez. Karlsen 2018 (2019) 374 zum Einsatz des Computer-Programms „Tempo“ durch Dübner nach Klaus und Mads Kähler Holst (für Nørre Snede, vgl. S. 192 Abb. 17). 601 Hamerow 2015. 602 W. H. Zimmermann 1997, 455 ff. mit Abb. 16 und 21; Dübner 2015. 603 Schön 1988. 604 Dübner 2015, 167 und Rez. Karlsen 2018 (2019) 375.
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lich ausgewertet worden ist.605 Die Scherben sind mit multivariater Statistik, Seriation, typologischen Vergleichen, naturwissenschaftlichen Datierungen und datierenden Funden in drei Keramikphasen mit je zwei Unterphasen (also in insgesamt sechs Phasen) untergliedert worden. Es gibt eine kontinuierliche Keramikentwicklung über 500 Jahre, bis in die zweite Hälfte des 6. Jahrhunderts. Die Phase I gehört ins 1./2. Jahrhundert, die Phase II ins 2.-4. Jahrhundert und die Phase III ins 4.-6. Jahrhundert. Alle Phasen sind auf dem Siedlungsplan kartiert, am Schluss der Abhandlung zusammen auf einer Karte. Bestätigt wird die Wanderung bzw. Verschiebung der Siedlung von Südosten nach Nordwesten. Handwerkliche Tätigkeiten sind vor allem im Bereich der Eisenverarbeitung und des Schmiedewesens erfasst, wobei sich einige Schwerpunkte bei gewissen Gehöftkomplexen abzeichnen, oft bei Grubenhäusern. Eine zweite großflächig auf 8.6 ha von 1981 bis 2000 erforschte Siedlung auf der Geestinsel bei Loxstedt606 im Landkreis Cuxhaven existierte (im ausgegrabenen Bereich) vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis ins 3. Jahrhundert n. Chr. und auch vom 4. bis 6. Jahrhundert. Zum älteren Teil, gegraben bis 2000, gehörten über 20 Langhäuser, 30 Grubenhäuser und mehr als 18 Speicherbauten, d. h. ein Gehöft, eingehegt von einem Zaun, bestand wie üblich aus einem Langhaus, einem Grubenhaus und einem Speicher. Die Erneuerung mancher der Häuser auf derselben Längsachse führte dazu, dass sich die Pfostenspuren dachziegelartig überlappend auf 110 m Länge erstreckten. (Das wirkt so, als ob ein Teil des alten Hauses schon verlassen und abgebaut wurde, vielleicht noch zeitweilig als Wohnung diente, und am anderen Ende das neue Haus schon errichtet wurde.) Im jüngeren Teil der Siedlung wurden mehr als zehn mehrphasige Langhäuser und fast hundert ein- bis dreiphasige Grubenhäuser freigelegt. Die große Zahl dieser Grubenhäuser erstaunt und wird oftmals als Hinweis auf besonders umfangreiche gewerbliche Produktion gedeutet. Offen ist auch hier wie früher bei der Siedlung Flögeln, ob die Siedlung im 6. Jahrhundert endete oder sich nach einer Umstrukturierung nur verlagert hat. Jüngst 2017 werden die Befunde von Loxstedt, nachdem mehrere Vorberichte veröffentlicht worden waren, jetzt erstmals chronologisch detaillierter ausgewertet vorgelegt.607 Auf inzwischen 16 ha wurden nun weiter bis 2006 die Grundrisse von mehr als 100 Langhäusern des 1. bis 10. Jahrhunderts freigelegt, außerdem 285 Grubenhäuser und rund 165 Speicherbauten; die Siedlung ist nun fast komplett erschlossen worden. Bis zum 6. Jahrhundert waren die Langhäuser dreischiffig, später dann ein- bis zweischiffig. Die Siedlung war anfangs in der frühen Römischen Kaiserzeit locker bebaut, verdichtete sich dann im 2. und 4. Jahrhundert stark und lockerte sich später wieder auf (ähnliches ist auch für Flögeln zu registrieren). Hier verschob sich der Standort der Siedlung regelmäßig; und für die Völkerwanderungszeit zeichnen sich zwei Siedlungskerne ab, wobei der 605 Nösler 2018b, 265 Abb. 44 Gesamtplan aller Phasen; insgesamt 140 Keramiktafeln. 606 W. H. Zimmermann 2001b. 607 Dübner 2017, 188 Abb. 2 Gesamtplan zur Verteilung der Langhäuser mit farbiger Unterscheidung der drei-, zwei- und einschiffigen Häuser.
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westliche im 6. Jahrhundert endete, der östliche aber bis ins 10. Jahrhundert bestand, um sich dann wohl zum heutigen Ort Loxstedt zu verlagern. Parallel zur Auswertung der Gehöft-Grundrisse in Loxstedt ist auch das keramische Fundmaterial ausgewertet worden.608 Mit multivariaten statistischen Verfahren, typologischen Vergleichen und naturwissenschaftlichen Datierungen ist die Keramik – rund 40 000 Scherben – in fünf Haupt- und insgesamt neun Phasen zeitlich aufgegliedert worden, mit dem forschungsgeschichtlich wichtigen Ergebnis, dass nämlich die Ware sich kontinuierlich entwickelt hat über die Völkerwanderungszeit hinaus bis ins Mittelalter. In Kartenbildern zeigt D. Nösler die Verteilung auf dem Siedlungsplan und damit einerseits die langsame Verschiebung der Bebauung vom Dichtezentrum im Nordosten weiter nach Südwesten vom 1. Jahrhundert über das 2. bis 4. Jahrhundert, dann die Gliederung in eine Zweiteilung des Siedlungsareals im nördlichen Dichtezentrum und im südwestlichen Kern im 4. bis 6. Jahrhundert sowie mit einer Rückkehr ins Dichtezentrum im 6. bis 8. Jahrhundert und schließlich weiter bis ins 8. bis 10. Jahrhundert.609 Betont sei darauf hingewiesen, dass es in der Siedlungsfolge von Loxstedt jetzt keine Lücke im 4., 5. oder frühen 6. Jahrhundert mehr gegeben hat; denn eine solche Lücke wird oftmals im gesamten küstennahen Norddeutschland und in Schlewig-Holstein sowie in Jütland erwartet, weil historisch die Abwanderung von Sachsen, Angeln und Jüten nach England überliefert ist. In der Nähe wurde eine Siedlung bei Godenstedt, Ldkr. Rotenburg (Wümme), archäologisch untersucht. Der Befund spiegelt – aber nur scheinbar – doch eine Siedlungslücke des 5./6. Jahrhunderts im Elbe-Weser-Dreieck wider oder nur eine Veränderung im Siedlungsbild. Denn in Loxstedt ist diese durchgehende Besiedlung vom 1. bis 9. Jahrhundert bewiesen. Die Notgrabung fand 2005 und 2008 statt und legte sechs Langhäuser, sieben Grubenhäuser und, zwei Rennöfen frei.610 Erst die großflächige Ausgrabung würde nach Entdeckung der Siedlungsverschiebungen die Lücke füllen. Immer wieder stößt man auf nur vermutete Siedlungslücken, so beispielsweise für den Raum Bremerhaven.611 Bei einem Gräberfeld in Bremerhaven-Lehe sind Urnen des späten 3. und des 4./5. Jahrhunderts gefunden worden und benachbart Siedlungsreste des späten 1. bis 3. Jahrhunderts. Das Ende im 5. Jahrhundert an diesen Plätzen gab zu einer Vermutung Anlass: Ab Mitte des 5. Jahrhunderts scheint das Gebiet der heutigen Stadt Bremerhaven größtenteils unbesiedelt gewesen zu sein, eine Entwicklung, die sich bei den meisten bekannten Geest- und Marschensiedlungen im nordwestdeutschen Küstenraum widerspiegelt.
608 Nösler 2017b. 609 Nösler 2017b, 258 Abb. 27 Zusammenfassung der fünf Phasen in einem Kartenbild. 610 Knoop 2018. 611 Bischop 2015, 322 Zitat.
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Die Ursache für die Besiedlungslücke hätte am Meeresspiegelanstieg gelegen; denn die neue Besiedlung setzte dann wieder ab dem 7. Jahrhundert. Der Autor formuliert trotz dieses Zitats Bedenken und ahnt, dass es aber vielleicht doch keine Unterbrechung gegeben habe und dies nur an den noch beschränkten Grabungsflächen liegen würde. Ein Blick nach England sei an dieser Stelle deshalb erlaubt, weil wegen der früher anscheinend registrierten Siedlungslücke regelmäßig die Abwanderung der Angeln und Sachsen thematisiert wird und nach Siedlungsverdünnungen im Heimatgebiet gesucht wird. J. Hunt veröffentlichte 2016 eine instruktive Karte der „vorausgesetzten“ Besiedlungsströme der Jüten und Angeln aus Jütland sowie der Sachsen aus Norddeutschland nach England.612 Einen Siedlungsausschnitt von Catholme, Mercia, bringt mehrere eingezäunte Gehöfte mit Großhäusern und den üblichen Nebenbauten wie Grubenhäusern und gestelzten Speichern. Aber – das ist beachtenswert – die Haus- und Hofformen sehen doch ganz anders aus als auf dem Kontinent.613 Es mögen zwar tatsächlich Menschen aus Norddeutschland nach England übergesiedelt sein; das hat sich aber in den Ausgangsgebieten, an mehreren Orten mit umfangreicher Ausgrabung, in keiner Weise erkennen lassen. Die Siedlungen sind sogar meist noch größer geworden (vgl. S. 299 u. a.). Neu 2017 veröffentlicht ist die Siedlung bei Wittstedt im Landkreis Cuxhaven – es gibt frühere kurze Vorberichte –, die in den Jahren von 2004 bis 2012 archäologisch erforscht worden ist. Auf etwa 9 ha wurden mehr als 11 000 Befunde dokumentiert, was aber erst nur ein Ausschnitt ist; denn die Siedlung erstreckte sich noch weiter nach Norden, wie am Plan abzulesen ist.614 Das Dorf entstand im freigelegten Teil im 4. Jahrhundert n. Chr. und war dann bis in das 8./9. Jahrhundert kontinuierlich besiedelt. Wie im benachbarten Loxstedt gab es auch hier die früher oft postulierte Siedlungslücke im Wesermündungsbereich des 6. und 7. Jahrhunderts nicht. Die Fülle der Befunde an Pfostenlöchern und Grubenhäusern entspricht der üblichen Organisation einer Siedlung im ersten Jahrtausend. Im Bericht werden einige der Wohn-Stall-Häuser mit ihrem Grundriss vorgestellt, die zwischen 20 und 30 m Länge messen. Reichhaltiges verziertes Keramikmaterial und auch Metallsachen bestätigen den Siedlungsbeginn in der späten Römischen Kaiserzeit und die Existenz bis ins 9. Jahrhundert; zwar fehlen Metallfunde des 6. bis 8. Jahrhunderts, aber die Kontinuität der Baubefunde und die jetzt datierbare Keramik füllen diesen Zeitraum. So ist auch damit zu rechnen, dass die älteren Teile des Dorfes in den noch nicht untersuchten Bereichen liegen werden. Hier anzuschließen ist das Siedlungsgebiet Bremen-Rekum „Auf dem Mühlenberg“, nahe der Huntemündung, wo schon in den Jahren nach 1960 und erneut 1980
612 Hunt 2016, 7 Abb. 613 Hunt 2016, 133 Abb. 614 Schön, Jöns 2017, 165 Abb. 1 (Bearbeitungsstand 2017).
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bis 1984 sowie 1998 archäologische Grabungen stattgefunden haben.615 Neue Grabungen haben Hausgrundrisse der Zeit von 100 bis 480 n. Chr. freigelegt.616 Für die Abfolge der Häuser von 100 bis 400 n. Chr. wird jeweils eine Lebensdauer von 100 bis 150 Jahre angenommen, also etwa drei Ausbauphasen, was mit dieser Beschreibung aber doch verwundert, wenn der Platz mit den Befunden von anderen Siedlungen verglichen wird. Im Areal wurden weitere Plätze teilweise erschlossen, so die Geestrandsiedlung Rekum „Unterm Berg“ mit einigen Grabbefunden, Brand- und Körpergräbern. Im gesamten 1. Jahrtausend war hier das Gebiet fortlaufend sehr dicht besiedelt, wobei die einzelnen Siedlungen unterschiedlich strukturiert und anscheinend verschieden intensiv in den Fernhandel eingebunden waren; und für alle Ansiedlungen war Bremen-Rekum „Auf dem Mühlenberg“ der Zentralplatz. In Mahlstedt, Ldkr. Oldenburg, ist eine Siedlung der Römischen Kaiserzeit ausgegraben worden, die ebenfalls bis in die Völkerwanderungszeit hinein bestanden hat.617 Die Siedlung wurde 1973 entdeckt, von 1978 bis 1983 fanden größere Flächengrabungen und im Jahr 2000 wurden noch einmal Suchschnitte angelegt. Diese Siedlung ist mindestens 7 ha groß, wovon 4300 m2, also nur 6% ergraben worden sind. Sie ist zu vergleichen mit den hier auch beschriebenen Dörfern von Flögeln mit 11,5 ha, Loxstedt mit 16 ha und Groß Meckelsen mit 5,7 ha Größe. Mindestens 12 Langhäuser sind dokumentiert. Anhand der Keramik sind fünf Phasen vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis zum frühen 6. Jahrhundert n. Chr. zu beschreiben; ein Fenstergefäß gehört ins 5./6. Jahrhundert (vgl. S. 1124). Besonders ausgewertet sind die Importe, an denen der Grad der Romanisierung abgelesen wird. Zu den Importsachen gehören Fragmente von Drehmühlen aus Mayener Basalt, die wegen des besseren Materials begehrt waren, und Reibschalen, die eigentlich Teile anderer Speisebereitung und anderer, römischer Ess-Sitte sind. Sicherlich wurden also auch Ideen und religiöse Vorstellungen aus der römischen Welt übernommen. In Mahlstedt sind 10 Terra Sigillata-Fragmente und 25 Glasscherben gefunden wurden, ein beachtlicher Anteil, wenn man vergleicht: In Flögeln sind nur 15 Terra Sigillata-Scherben und 4 Glasscherben bei der viel größeren Siedlungsfläche geborgen worden. Die Terra Sigillata stammt aus der zweiten Hälfte des 2. und der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts und kam aus Rheinzabern. An der Nordseeküste wird zumeist mittelgallische Terra Sigillata gefunden. Die Handdrehmühlen (mola manuaria) aus Basaltlava kommen aus der Eifel (vgl. S. 1133). Eine vollständige Mühle wiegt 40 kg; in Mahlstedt sind 17 kg Fragmente von mehreren Mühlen registriert worden, die im 2. Jahrhundert importiert wurden, ähnlich wie auf der Feddersen Wierde. Sie wurden sicherlich wegen des Gewichtes auf dem Wasserwege herantransportiert. Nach Meinung des Autors Eichfeld haben in 615 W. H. Zimmermann 1997, 425 ff. und 453 mit Abb. 14. 616 Siegmüller 2017b, 15 Abb. 2 Farb-Histogramm der Häuser, 16 Plan Abb. 3. 617 Eichfeld 2014; 2018, 118 ff. Terra Sigillata-Scherben, datiert nach Erdrich 2002, 52, 120 Söldner?; Baatz 1977, zu Reibschalen und Romanisierung auch Bücker 1997.
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der Siedlung Söldner im Ruhestand gelebt, die also aus römischem Dienst zurückgekommen waren. Kurz geschlossen wird das anhand des gefundenen Schwertzubehörs und einer bronzenen Stützarmfibel (germanischer Ersatz für Zwiebelknopffibel) der Zeit um 400. Außerdem gibt es noch einen römischen Würfel und einen Ring, gefunden unter einer Herdstelle, mit der Inschrift LAR, vielleicht ein Bauopfer. Datiert wird das Stück völkerwanderungszeitlich, und die Abkürzung könnte z. B. stehen für den Namen Lucius Antonius Regillus oder aber sogar die römischen Laren (Lares familiares) meinen. In dieser Siedlung ist Bundmetallverarbeitung wie an mehreren anderen Orten nachgewiesen. In Hülsen, Ldkr. Verden, wurde eine großflächige Siedlung der frühen römischen Kaiserzeit erforscht.618 Häuser und Gehöfte der vorrömischen Eisenzeit sind zwischen Weser und Vechte an weiteren Orten untersucht;619 und auch bei Cloppenburg sind kaiserzeitliche Grundrisse aufgedeckt. Hier bestätigt die Freilegung einiger Gehöftstellen den üblichen Befund, nämlich die Überlagerung der Hausgrundrisse und damit die ständige, kontinuierliche Verlagerung bzw. Erneuerung der Gehöfte, der fünf bis sechs Langhäuser, die etwa 6 m breit und bis 28 m lang waren.620 Neu ist in Stedesdorf, Ldkr. Wittmund, ein großes eisenzeitliches Gehöft,621 das von der Zeit um Chr. bis in die ältere Römische Kaiserzeit bestanden hat. K. Hüser bringt zu diesem Befund eine Karte der bisher bekannten Hausgrundrisse dieser Epoche in Ostfriesland, was eine dichte Besiedlung dokumentiert. Bei Brill ist im Kreis Wittmund eine weitere Siedlung am ostfriesischen Geestrand dokumentiert.622 Es gibt außerdem weitere großflächig ausgegrabene Siedlungen in Küstennähe, z. B. die bei Groß Meckelsen, Ldkr. Rotenburg (Wümme), entdeckt 1980, untersucht von 1986 bis 2002 und 2011 mit mehr als 100 Großhäusern, über 100 Grubenhäusern sowie 300 Rennfeueröfen zur Eisengewinnung (Abb. 22).623 Rund 6 ha, 90% der Siedlung sind ergraben worden; damit sind nach der Fläche umfangreicher nur Feddersen Wierde, Flögeln und Loxstedt erforscht. In der Siedlung ist die Herstellung von Glasperlen belegt, diese sind also nicht nur römische Importe, sondern örtliche Produkte. Ähnliche Befunde andernorts zeigen, dass Rohglas importiert worden ist, das dann weiterverarbeitet wurde. Ob die Glasmasse selbst schon hier hergestellt werden konnte, ist bisher nicht zu beweisen. Der Fund einer aus dem Römischen importierte Feinwaage belegt zudem einen anderen Kontakt und zeigt außerdem die Möglichkeit an, dass Edelmetall hier gewogen wurde. Es lagen „die Waagschalen ineinander, die großen Bleigewichte kompakt in der Waagschale …“
618 Nowatzky 1992. 619 Fries 2010. 620 Fries, Wesemann 2016. 621 Hüser 2013, 81 Abb. 3. 622 T. D. Lehmann 2002. 623 Tempel 2006; Bock 2013, 210 Abb. 2 Plan der Siedlung; 2015.
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Abb. 22: Gesamtplan der Siedlung von Groß Meckelsen von der älteren Römischen Kaiserzeit bis ins 6. Jahrhundert.
und alles zusammen einst in einem organischen Behälter.624 Heute ist diese Waage sogar in das Wappen der Gemeinde Groß Meckelsen aufgenommen worden. Weitere Handwerksarten sind belegt, ein Kalkbrennofen für die Lederbearbeitung und die
624 Tempel, Steuer 1999.
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Herstellung von Tünche für die Hauswände. Die Siedlung endete nicht, wie anfangs vermutet, im 5. Jahrhundert, sondern bestand deutlich länger und damit ebenfalls über den theoretisch lange postulierten Bevölkerungsrückgang ab dem 6. Jahrhundert weiter, was nun an mehreren Plätzen eindeutig nachgewiesen werden konnte. Damit ist die Diskussion um eine Siedlungslücke – als Folge der Abwanderung nach England – obsolet geworden; vielmehr verstärken sich die Belege für die Siedlungskontinuitäten von der Römischen Kaiserzeit über die Völkerwanderungszeit bis ins frühe Mittelalter. Statt der dunklen Jahrhunderte und einer spätvölkerwanderungszeitlichen Siedlungslücke im Elbe-Weser-Dreieck zeichnet sich Kontinuität ab, verbunden mit einem Wandel, einer neuartigen Verlagerung der Siedlungen.625 Nach den ersten Ausgrabungen sind weitere Facetten der Siedlung bei Groß Meckelsen erschlossen und ausgewertet worden. Die Siedlung ist zunächst in Richtung Osten und dann wieder zurückgewandert. Sie liegt auf der Grenze zwischen dem nordseegermanischen, dem rhein-weser-germanischen und dem elbgermanischen Formenkreis der Keramik, d. h. die Massenfunde an Keramik weisen in alle Richtungen, was für vielseitige enge Kontakte spricht.626 Man meint, dass auch Gefäßformen und Verzierungen als mögliche Kommunikationsmittel, Keramik also als Mittel der nonverbalen Kommunikation gedient haben können. Es erinnert aber daran, dass Formenkreise und Kulturgruppen erst einmal Konstrukte der Archäologie sind. So hat I. Baier für diese Siedlung die Keramikfunde der vorrömischen Eisenzeit und der Römischen Kaiserzeit analysiert.627 Es geht dabei um die Einordnung der Waren jener Epoche in die Kulturgruppen bzw. Formenkreise, die zwischen Nordseeküstengermanen, Rhein-Weser-Germanen und Elbgermanen zu verorten sind:628 Es sind die Formenkreise der Keramik des 2./3. Jahrhunderts, (1) „nordseeküstennahe Fundgruppe“, (2) rhein-weser-germanische Keramik, (3) Kontaktzone zwischen 1 und 2, (4) „StaderHarburger-Gruppe“, (5) „Friesische Tonware“. Das wiederum zeigt, wie schwierig bzw. unsicher oder gar künstlich gewollt diese formenkundliche Zuordnung jeweils ist. Flächenhafte Verbreitung einerseits und weite Übergangsbereiche andererseits charakterisieren die Situation am Platz. In der Siedlung selbst lassen sich Areale nach den Keramikphasen zeitlich untergliedern; diese spiegeln zugleich die vielfache Durchdringung der Besiedlungsbereiche, die keine klare „Wandersiedlung“ erkennen lassen, vielmehr Erneuerungen immer wieder im selben Bereich: Ältere und jüngere vorrömische Eisenzeit (kleines Areal im Süden), jüngere vorrömische Eisenzeit (größeres Areal weiter im Norden), Übergang zur älteren Römischen Kaiserzeit bis Völkerwanderungszeit (großflächig in der Mitte des besiedelten Areals).629 Zum früh625 Nösler, Wolters 2009. 626 Bock 2015, 43 Karte: Bereiche der Formengruppen; Baier 2017, 48 Abb. 6. 627 Baier 2017, 43 Abb. 1 (nach Meyer 2013a, 38 Abb. 7). 628 Baier 2017, 44 Abb. 3 Gruppe 5 nach Schmid 2006, 77 Abb. 5. 629 Baier 2017, 48 Abb. 6 Gesamtplan mit farbigen Flächen der Keramikphasen, die sich am Ort überlappen.
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geschichtlichen Ackerbau in Groß Meckelsen belegen die Quellen Kulturpflanzenarten wie auch andernorts, den Anbau von Spelzgerste und Nacktgerste, Emmer und Nacktweizen, und es gibt Hinweise auf den Roggenanbau schon ab etwa 100 n. Chr. und den Anbau von Hafer sowie Lein. Es ging fast ausschließlich um Sommerfruchtbau mit reiner Ährenernte. Blatt- und Fruchtknospen der Eiche spielten eine auffällige Rolle.630 Weil die Siedlung fast vollständig freigelegt worden ist, fällt die große Anzahl der Öfen zur Eisengewinnung besonders auf. Die Reste von 300 Rennfeueröfen, datiert von der älteren Römischen Kaiserzeit bis in die Völkerwanderungszeit, belegen über Jahrhunderte die kontinuierliche Selbstversorgung mit Eisen. Es gibt regelrechte Cluster mit jeweils mehr als 30 Rennfeueröfen; Radiocarbon-Datierungen decken die Spanne von 100 bis 500 n. Chr. ab.631 Man muss fragen, ob das nur am Ausgrabungsstand liegt oder ob bei fast allen Siedlungen Norddeutschlands diese umfangreichen Verhüttungsaktivitäten üblich waren, und gar, ob es eine Überproduktion für den Handel gegeben haben könnte (dazu später S. 444 ff.).632 Bemerkenswerte Befunde wurden in der Siedlung bei Elsfleth-Hogenkamp633 am Zusammenfluss von Hunte und Weser entdeckt. Eine Fläche von 8,8 ha wurde mit Metalldetektoren abgesucht, wobei Objekte von der älteren vorrömischen Eisenzeit bis in die Völkerwanderungszeit katalogisiert werden konnten, die eine 1000 Jahre umfassende Kontinuität an diesem besonders verkehrsgünstig gelegenen Platz belegen. Die Keramik spiegelt wieder eine Schnittstelle zwischen dem nordseeküstennahen und dem rhein-weser-germanischen Kulturkreis. Zu den Funden gehören außerdem römische Keramik- und Terra Sigillata-Scherben sowie 183 Münzen und eine Dolabra, ein Zimmermannswerkzeug. Ein solches Stück identifiziert übrigens den Fundplatz Harzhorn als Schlachtfeld (vgl. S. 769). Dem Platz an der Flussgabel wird der Status einer Siedlung mit zentralörtlicher Funktion zugebilligt (vgl. S. 352).634 Die Funde der Begehung mit dem Metalldetektor belegen die Rolle des Platzes für Produktion und Import.635 Die Objekte, in einer Graphik dargestellt, zeigen die Kontinuität ab der Zeit um Chr. Geb. und im 1. Jahrhundert n. Chr. mit der größten Anzahl an Fibelfunden und dann weiter bis in die Zeit um 500. Unter den Funden ist eine römische Statuette des Merkur, bei der man nicht gleich weiß, ob sie nur Schrott, also Rohstoff, oder eine uminterpretierte einheimische Gottheit war (vgl. dazu S. 645). Am zahlreichsten sind unter den Metallfunden Münzen und Fibeln. Bisher liegen 150 Münzen vor, darunter 48 Denare und auch zahlreiche Kupfergroß- und -kleinmünzen; insgesamt decken sie die Zeit vom 1. bis 4. Jahrhundert ab. Die Gruppe der Fibeln besteht aus 57 Exempla-
630 Behre 2017, mit zahlreichen Tabellen und dem Vergleich zu den benachbarten Siedlungen Feddersen Wierde, Flögeln und Loxstedt. 631 Bock 2017, 90 Abb. 4 und 92 Abb. 5. 632 Bock 2017. 633 Mückenberger u. a.2013; Hüser 2020, 65. 634 Folkers, Jöns, Merkel, Schlotfeldt, Siegmüller, Struckmeyer, Wolters 2018, 335 ff. 635 Scheschkewitz 2011, 83 Abb. 5 Zeitstrahl der Fibeln.
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ren und Fragmenten, der ältere Horizont ist mit 41 Stücken vertreten. Einiger römischer Bronzeschrott von Kasserollen und Gürtelteilen ergänzen das aufgesammelte Fundspektrum. Bleifunde und andere Hinweise belegen Metallverarbeitung. Neben großen Mengen an einheimischer Keramik gehören auch zahlreiche Scherben von römischen Gefäßen zu dem Gesamtkomplex. Im Bereich der unteren Weser mit den Zuflüssen der Hunte und der Ollen konzentrierten sich die Landeplätze und Ufermärkte schon während der Römischen Kaiserzeit.636 Von Elsfleth-Hogenkamp im Westen und gegen Bremen-Rekum bringt die Karte die Plätze die Weser abwärts bis zur Hasenburg und ferner die Feddersen Wierde. A. Siegmüller erkennt die verschiedenen Ränge der Handels- und Austauschplätze. Die Basis bilden als Anlaufplätze für agrarische Produkte die Landeplätze am Fluss, höherrangig gibt es Umladungsplätze am Ufer, und darüber gibt es reguläre Ufermärkte sowie als „Krönung“ gewissermaßen Zentralorte, denen jeweils die kartierten Fundplätze zugeordnet werden. Einen Gesamtüberblick für den Norden bietet Erwin Strahl 2010 zu den Siedlungen der vorrömischen Eisenzeit an der Nordseeküste.637 Dort liegt ein in der Forschung mehrfach besonders bedachter Platz bei Bentumersiel im Reiderland an der unteren Ems nahe der Küste, weil hier bei den Hausgrundrissen auffällig viele römische Importgegenstände geborgen werden konnten (vgl. S. 1096 f.). So wurde der Platz gar schon als römischer Stützpunkt in Germanien oder als germanischer Stapelplatz zur Versorgung römischer Truppen gedeutet und gefragt „germanische Siedler oder römische Legionäre“?638 Nahe Westerhammrich bei Leer in Ostfriesland, ebenfalls an der unteren Ems gelegen, ist eine Siedlung des 2. und 3. Jahrhunderts, die bis ins frühe 4. Jahrhundert bestanden hat, teilweise untersucht worden. Aus mehreren Gruben und Brunnen kommen wiederum neben Hinweisen auf eigenes Handwerk erstaunlich zahlreiche römische Importe, Drehscheibenkeramik des 2./3. Jahrhundert, Schmuckstücke und eine 8 cm hohe bronzene Marsstatuette. Ein Handel mit dem römischen Rheinland ist dadurch belegt, und als Gegenleistung dienten landwirtschaftliche Produkte und Vieh.639 Die Befunde und Funde weisen auf die Parallelsituationen wie in Bentumersiel (vgl. S. 1096) und Westerhammrich im Kreis Leer hin, die ein enge Beziehung zu den römischen Provinzen ahnen lassen, und manches spricht also für einen überregional wichtigen Stapel- und Handelsplatz, gelegen an der Ems, einem Schifffahrtsweg mit Anbindung an die Nordsee. Somit mehren sich die küstennahen Handels- und Marktplätze durch die archäologische Forschung; zu nennen sind ähnliche Plätze in den Niederlanden wie Wijnaldum, 636 Siegmüller, Mückenberger 2017, 274 Fig. 1 Farbige Karte; Jöns, Mückenberger 2016, 802 Abb. 6 Datierungsspanne der Buntmetallfunde von Elsfleth-Hogenkamp. 637 Strahl 2010. 638 Strahl 2009; 2011. 639 Bärenfänger 2006.
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Prov. Friesland, und Bathmen, Prov. Overijssel, mit dem Beleg für Metallverarbeitung.640 Im Binnenland ist die Situation vergleichbar, wenn es um den Nachweis von Metallverarbeitung geht, und zwar entlang der Hellwegzone, wo die Befunde am Balhorner Feld bei Paderborn die längste Kontinuität bieten.641 Die Siedlung Groß Meckelsen füllt geographisch den Raum zwischen den erforschten Siedlungen im Elbe-Weser-Dreieck und den ausgegrabenen Siedlungsplätzen Marwedel, Kr. Lüchow-Dannenberg, und Rullstorf im Kr. Lüneburg. Der Platz Rullstorf ist seit langem bekannt wegen des Gräberfeldes mit den zahlreichen Tierbestattungen der spätsächsischen Zeit.642 Doch sind auch Siedlungsteile von der Bronzezeit bis in die jüngere vorrömische Eisenzeit, und zwar Einzelgehöfte oder kleine Weiler, und dann eine Siedlung der römischen Kaiserzeit aus sieben umzäunten Hauszeilen und mehr als 60 m langen Wohn-Stall-Häusern mit Nebengebäuden dokumentiert. Die dörfliche Siedlung Hitzacker-Marwedel wird als ein germanischer „Fürstensitz“ (ähnlich wie die Feddersen Wierde) an der Elbe bewertet, weil dort schon vor längerer Zeit drei reich ausgestattete Gräber, sogenannte Fürstengräber, gefunden worden sind, und man meinte, durch die Ausgrabung auch den besonderen Charakter der Siedlung erkennen zu können, in der die Elite damals gewohnt und gewirtschaftet hat.643 Seit den 2000er Jahren wurde zehn Jahre lang geforscht (2003–2014), geomagnetisch 52 ha analysiert und 14 000 m2 archäologisch ausgegraben, während die Siedlungsfläche insgesamt 30 ha umfasst. Freigelegt wurden vier Gehöfte mit Langhäusern, zahlreichen Grubenhäusern und Handwerksbereichen, darunter 48 Rennfeueröfen und Schmiedeplätze. Auffällig seien die insgesamt 36 Grubenhäuser, die man mit Handwerk in Verbindung bringt. Eines der Gehöfte ist tatsächlich erkennbar mit Handwerk verbunden, wobei es um Buntmetallverarbeitung geht. Der Versuch, die Gräber der Elite mit den Siedlungsbefunden zu korrelieren, ergibt keine Besonderheiten gegenüber allen anderen großflächig erforschten Siedlungen. Doch lässt sich auch dieser Platz erst sicher beurteilen, wenn noch wesentlich mehr Flächen abgedeckt worden sind.644 Die Gräber spiegeln die Gründergeneration und eine nachfolgende Phase. Die Grubenhäuser werden vom Ende des 1. bis in die Mitte des 3. Jahrhunderts datiert, decken also 150 bis 200 Jahre ab, vier zeitliche Horizonte mit unterschiedlicher Keramik. Nun ist 2018 auch das keramische Gefäßspektrum ausgewertet worden, in einer typologischen und chronologischen Untersuchung.645 Der Schwerpunkt der Besiedlung liegt in der Mitte und dem Ende des 2. Jahrhunderts, in
640 Scheschkewitz 2011, 87 f. mit Lit. zu den genannten Plätzen; Groenewoudt, Erdrich 1997 zu Bathem. 641 Scheschkewitz 2011, 87 mit Anm. 40; Eggenstein 2000, auch 2002; 2005. 642 Gebers 2003. 643 Nüsse 2007; 2012; Baier 2013a; 2015; Baier, Nüsse 2014; Nüsse 2014a. 644 Karlsen, Willroth (Hrsg.) 2018. 645 Opitz, Rübenapf 2018.
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einer Phase, die nun gerade nicht durch die Fürstengräber vertreten wird. Zu Marwedel wird im Abschnitt über die Gräber der Elite noch näher berichtet (vgl. S. 921).646 Bisher ist es bei keiner Siedlung und bei keiner Versammlung von Elitegräbern gelungen, einen Unterschied der Gehöfte etwa zwischen einer normaler Siedlung und einem Fürstensitz mit besonderer Ausprägung zu entdecken, d. h. eine herausragende Größe des Hauses oder Gehöftes zu finden. Das besagt anscheinend, dass wirtschaftliche Potenz, ablesbar am Wohn-Stall-Haus mit entsprechend vielen Viehboxen, und die Beigabenausstattung eines Grabes nicht unmittelbar miteinander zusammenhängen. Vieles spricht also dafür, dass Leistung und Ansehen eines Verstorbenen eher die Bestattungsgemeinschaft dazu gebracht hat, eine auffällige Grablegung zu inszenieren, als tatsächlicher materieller Reichtum. Darüber werde ich später noch ausführlicher handeln. Nahe der Elbe in der Altmark, bis zur Wende 1990 Teil der DDR und damit für einige Jahrzehnte mit anderen Ausgrabungsregeln aufgrund finanziell eingeschränkter Möglichkeiten, sind nun seit den 1990er Jahren zahlreiche Siedlungen der Römischen Kaiserzeit und der Völkerwanderungszeit kartiert und teilweise archäologisch untersucht worden.647Auf den insgesamt kleinen Grabungsflächen sind Grubenhäuser, Speicher, auch Zäune sowie Schlackengruben von Rennöfen freigelegt worden, meist aus dem spätes 2. und frühen 3. Jahrhundert. In Benkendorf ist erstmals in der Altmark nun auch ein wohl dreischiffiges Langhaus erfasst worden (was wiederum vom Forschungsstand und von der Grabungsart abhängt). Trotz dieser Kleinheit der Grabung wurden die Tierknochen ausgewertet: Die Reihenfolge der Mengenanteile von Rind, Schwein, Schaf/Ziege, Pferd zeigen diese Siedlungen jeweils in derselben Weise. Die Gesamtverteilung der Siedlungen der Römischen Kaiserzeit bis Völkerwanderungszeit in der westlichen Altmark belegt eine sehr dichte Verbreitung in Kilometerabstand, vor allem seit der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts. Neben den im Titel der Arbeit genannten Siedlungen bei Benkendorf, Chüttlitz, Klötze und Stappenbeck werden weitere 86 Siedlungen und 17 Einzelfundstellen, also mehr als hundert Fundorte dokumentiert. In den üblichen Zeitstufen ausgedrückt, gehören die meisten Siedlungen in die frühe Römische Kaiserzeit (B2b-C1) und wenige Siedlungen in die späte Kaiserzeit (C2-C3). Die Brunnen werden dendrochronologisch aber mehrheitlich in die späte Römische Kaiserzeit datiert, in das 3. und 4. Jahrhundert, weil diese Brunnen immer wieder erneuert wurden, so dass die älteren Bauelemente nicht erhalten geblieben sind. Die Besiedlung reicht bis in die Mitte des 5. Jahrhunderts. Da die Zeitspannen unterschiedlich sind, 160 und 200 Jahre, ist statistisch die Zahl der Siedlungsstellen unter diesem Aspekt zu berücksichtigen. Der Autor meint zudem, dass nicht von einer verminderten Besiedlungsdichte ausgegangen werden
646 Nüsse 2008. 647 Gall 2012, 109 Tierknochen, 116 Abb. 52 Karte der Gesamtverbreitung der Siedlungen; dazu Rez. Volkmann 290; und Volkmann 2013 Vergleich zum Odergebiet.
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müsste, denn die bestehenden Dörfer könnten durchaus größer geworden sein entsprechend einer Konzentration der Siedlungen. Die Besiedlungsintensitäten (oder der Forschungsstand?) sind zwischen der westlichen und der östlichen Altmark merklich unterschiedlich, was aber nachweisbar nicht von der landschaftlichen Struktur abhängt. P. Donat fügt 2018 für Sachsen-Anhalt außer Benkendorf, Altmarkkreis, noch Uenglingen, Ldkr. Stendal an; für Sachsen Kitzen, Ldkr. Leipzig, und Thüringen Dienstedt, Ilm-Kreis.648 Dieser Autor und ein Rezensent konstatieren im Übrigen, dass ab der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts großflächige Gebiete zwischen Elbe und Oder bis Anfang des 7. Jahrhunderts n. Chr. weitgehend entsiedelt wären.649 Hängt das deshalb mit der Zuwanderung der Slawen zusammen (vgl. S. 827). Zur Besiedlungskontinuität in der Altmark hat W. Schwarz weitere Fakten beigetragen.650 Es geht bei 17 Fundplätzen um Kontinuitäten von der Römischen Kaiserzeit, der Phase B2 (um 100 n. Chr.) bis in die Merowingerzeit. Der Fundstoff, meist Lesefunde, besteht aus Armbrustfibeln der Phasen C2/3-D1, aus Bügelknopffibeln der Phasen C3-D1 sowie aus elbgermanischen Blechfibeln, das sind die Niemberger Fibeln und die Fibeln des Typs Wiesbaden der Phase D1-D2, dann den Kreuzförmigen Fibeln der Phase D2 bis in die Merowingerzeit und schließlich den Bügelfibeln der „nordgermanischen“ Grundform, ebenfalls der Phase D2 bis in die Merowingerzeit. Von den Siedlungen der Römischen Kaiserzeit nahe Stadt Barsinghausen651 bei Hannover sind rund 10 ha untersucht worden, wohl von insgesamt 20 ha. Die Gehöfte gehören zur sogenannten Nienburger Gruppe der frühen Eisenzeit, später zur RheinWeser-Germanischen Kultur, belegt anhand der Keramik der Stufen B2 und C1/C2, also bis um und bald nach 300 n. Chr. Zu den Funden zählen außerdem eine keltische Münze und fünf römische Münzen. Die Fundchronik zu Niedersachsen aus dem Jahr 2018 bringt weitere neu entdeckte Siedlungen der Römischen Kaiserzeit mit den entsprechenden Wohn-Stall-Häusern. Zur Besiedlung des Hannoverschen Wendlandes von der jüngeren vorrömischen Eisenzeit bis zur Völkerwanderungszeit, also für die in diesem Buch behandelte gesamte Epoche, liegt ebenfalls ausführlich eine Monographie vor. In Rethen-Ost, Stadt Laatzen bei Hannover, wurden seit 2013 und 2017/2018 Reste einer Siedlung und eines Gräberfeldes der Römischen Kaiserzeit auf einem Areal von 30 ha Größe freigelegt.652 Auf einer quadratischen Fläche von 200 m Seitenlänge wurden 293 Siedlungsgruben, 74 Pfostenstellungen und Feuerstellen sowie Öfen ausgegraben. Die Brandbestattungen datieren in die jüngere Bronze- und frühe Eisenzeit sowie in die jüngere vorrömische und ältere Römische Kaiserzeit, es sind Urnen- und Brandschüttungsgräber. 648 Donat 2018, 204, Katalog Nr. 29–32. 649 Anders für die Anfangsphase bzw. bis ins 6. Jahrhundert Schach-Dörges 1970. 650 Schwarz 2011, 193 Abb. 4 Zeittabelle zu 17 Fundplätzen. 651 Agostinetto, Buchert 2018, 90 Abb. 94 Siedlungsplan mit zahlreichen Langhäusern. 652 Kis, Wulf 2019, 55 f.
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Die Zahl der dokumentierten Siedlungs- und Grabfunde im nördlichen Harzvorland wächst rapide, schon beim Forschungsstand von 2011, wodurch die allgemein von mir regelmäßig behauptete Siedlungsdichte auch hier bestätigt wird.653 Das Gebiet zwischen südlichem Harzvorland, Thüringer Becken und Weißer Elster ist schon 1996 siedlungsarchäologisch aufgearbeitet worden und bestätigt diesen Eindruck.654 Das anschließende Gebiet zwischen Thüringen und Nordbayern ist für das Zeitalter der Varusschlacht mit Blick auf den Übergang von den Kelten und zu den Germanen beschrieben worden.655 Doch gibt es in diesen Gebieten noch keine großflächigen Siedlungsgrabungen. Im Paderborner Raum galt die Auswertung der Siedlungen aus der römischen Kaiserzeit besonders dem Zustand der Landwirtschaft.656 Diese beruhte bei den Kelten und Römern auf Wintergetreide, während die nach Westen vordringenden (mobilen) Germanen nur Sommergetreide anbauten, was weniger Ertrag brachte und damit keine Basis für die Versorgung durchziehender römischer Legionen bieten konnte. Diese Germanen standen seit den Jahrhunderten v. Chr. Geb. unter elbgermanischswebischem Einfluss und verfügten über ein weniger vielfältiges Spektrum. Es waren Sommerfrüchte wie Gerste, Emmer, Hirse als klassische Breifrüchte. Die Konzentration auf Sommerfeldbau und die damit verbundene, kürzere Wachstumsdauer führte zur Zunahme der Weidewirtschaft und der Viehhaltung, zur Grünlandwirtschaft. Die potentiellen Winterfrüchte wie Dinkel und Nacktweizen der älteren eisenzeitlichen Tradition fehlten. Das Gebiet erfuhr eine Germanisierung der Landwirtschaft; nichts Römisches wurde übernommen, obgleich die in der Nähe gelegenen zeitgleichen römischen Lager interessante Importe aus dem Süden aufwiesen. Es gab dort Feigen, Oliven, Mandeln und Pfeffer. Trotz der Nähe gibt es keinerlei Hinweise auf eine Romanisierung der Landwirtschaft bei den „Germanen“ dieses Gebietes um und bald nach Chr. Geb. In Petershagen-Wietersheim an der Weser, Westfalen, wurde eine Siedlung der älteren Römischen Kaiserzeit 2002 und 2018/9 ausgegraben, immerhin 8500 m2, geschädigt durch Erosion. Doch sind zumindest zwei Hofstellen nachgewiesen, auch Grubenhäuser mit Hinweisen auf Webstühle.657 Zu Siedlungen in Thüringen liegen einige Grabungsberichte vor, die jedoch meist nur geringe Flächen eines ehemaligen Dorfes freigelegt haben, datiert vor allem in die vorrömische Eisenzeit.658 Die Siedlung Sättelstädt bei Eisenach, 2002 bis 2004 ausgegraben, datiert in die Latènezeit. Freigelegt wurden Töpferofen auch mit elbgermanischen Formen, Pfosten- und Grubenhäusern. Immerhin sind 60 Pfostenhäuser 653 Baier 2011. 654 M Becker 1996. 655 Grasselt, Seidel, Siller, Will (Hrsg.) 2009. 656 Ebel-Zepezauer, Pape, Sicherl u. a. (Hrsg.) 2016. 657 Lammers 2019, 58. 658 Grasselt 2009a.
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dokumentiert, aber nur mit wenig sicheren Grundrissen und 13 Grubenhäuser, jeweils datiert ins 1. Jahrhundert v. Chr. Die Siedlung liegt zeitlich und kulturell zwischen Kelten und Germanen. Eine befestigte Siedlung von Westgreußen (Funkenburg), Kyffhäuserkreis, ist vergleichbar mit der Alteburg bei Arnstadt wegen ihrer Spornlage. Ausgegraben sind auch hier mehrere Grubenhäuser, die Keramik des 3. bis frühen 1. Jahrhundert v. Chr. enthalten haben. Das Ende der Höhensiedlung liegt wohl kurz nach der Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr., was auch mit dem Vordringen von Germanen zusammenhängen soll. Von der Siedlung Gorsleben, Kyffhäusrkreis, sind 1,4 ha ausgegraben. Sie beginnt im 4./3. Jahrhundert v. Chr. Dokumentiert sind 17 Grubenhäuser mit Keramik der Jastorf-Kultur des Mittelelbe-Saale-Gebietes und der LatèneKultur, ein typisches Bild für die Kontaktzone. Es gibt jedoch auch einige Siedlungen, die bis in die augusteische Periode hineinreichen. Ab Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. verstärkten sich die schon früher wirkenden Einflüsse aus dem Norden und Nordosten durch Zuzug elbgermanischer Gruppen auf dieses Gebiet im Thüringischen, und die Einwanderer „siedeln sich direkt neben der einheimischen Bevölkerung neu an“, was eine ethnische Zuordnung zu Kelten und Germanen erschweren würde, so der Berichterstatter, was aber auch gar nicht angestrebt werden sollte. Die mehrperiodische Siedlung von Schwabhausen, Ldkr. Gotha, lieferte bei den Grabungen um 2009 Reste von der Urgeschichte über die jüngere vorrömische Eisenzeit bis in die frühe Völkerwanderungszeit (vom 3. Jahrhundert v. Chr. bis ins 4. Jahrhundert n. Chr.). Trotz der beschränkten Ausgrabungsflächen wurden zahlreiche Fibeln gefunden, außerdem 2007 ein Schatz mit 23 Denaren von Septimius Severus (193–211) und Elagabal (218–222) bis Severus Alexander (222–235).659 Jede Siedlungsgrabung erweitert unser Bild von der damaligen Besiedlungsdichte. In Sülzdorf in Südthüringen sind immerhin 41 Baustrukturen ausgewertet worden, 13 ein-, zweiund dreischiffige Langhäuser mit bis zu 130 m2 Nutzfläche, 9 Grubenhäuser und 19 Speicherbauten. Sie verteilen sich auf drei Siedlungsphasen, eine spätlatènezeitlich / frühkaiserzeitliche (Stufe A/B1), eine mittelkaiserzeitliche (Stufe B2/C1) und eine spätkaiserzeitliche (Stufe C2/C3), also erstreckt sie sich vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis ins 4. Jahrhundert n. Chr.660 Die erst in den letzten Jahren ausgegrabene Siedlung bei Frienstedt, Kr. Erfurt, hat Befunde aus der noch beschränkten Grabungsfläche mit der Datierung der Areale in B1, C1, C2(-C3) und C3(D), also von 50 bis gegen 400 n. Chr. ergeben, mit Siedlungsresten einschließlich Grubenhäusern, Körpergräbern und Brunnen.661 Die Tonfigur aus dem Schacht Bf. 463 stammt aus römischem Zusammenhang, dort sind solche Tonfiguren bekannt, auch mit Durchbohrungen als Zeichen apotropäischen Zaubers
659 Grasselt 2009b. 660 Teichner 2000; 2004, 150 ff. 661 Chr. G. Schmidt 2013b, 170 Abb. 2 Grabungsfläche und Abb. der Figur.
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(vgl. S. 645).662 Auf den Kamm mit Runeninschrift aus einem Opferschacht wird an anderer Stelle eingegangen (vgl. S. 1252) Monographisch sind die Siedlungen der jüngeren vorrömischen Eisenzeit und der frühen römischen Kaiserzeit im Bereich der Lippe zusammengestellt; noch fehlen aber ebenfalls großflächige Freilegungen. Die Einzelbefunde bestätigen das übrige Bild wie in Norddeutschland.663 Ich kann dem nicht zustimmen, dass es im Limesvorland keine Dörfer, nur Weiler gegeben habe, wegen der sich durchsetzenden Villenstruktur; das halte ich nur für einen immer noch nicht ausreichenden Forschungsstand wegen zu geringer Grabungsflächen.664 Zahlreicher sind schon Grabungsbefunde im westlichen Westfalen; so in Westick bei Kamen bzw. Kamen-Westick, rund 65 km östlich des Rheins bzw. des Rheinlimes, mit Hinweisen auf die Besiedlung vom beginnenden 2. Jahrhundert bis mindestens ins 5. und 6. Jahrhundert, von der Römischen Kaiserzeit über die Völkerwanderungszeit bis in die Merowingerzeit, u. a. mit einem 48 m langen zweischiffigen Haus; weitere Gebäudegrundrisse sind hinzugekommen. Beachtlich zahlreiche römische Importgegenständen,665 darunter immerhin 1200 Münzen, eine Marsstatuette sowie das Laufgewicht einer Schnellwaage wurden geborgen. Die Siedlung ist in den 1930er Jahren ausgegraben worden, dann erneut von 1998 bis 2001 sowie 2004 und 2005, parallel zur Restaurierung der früher geborgenen Funde. Die kaiserzeitlichen Bunt- und Edelmetallfunde sind mit ihrer Verarbeitung römischer Metallimporte in einer germanischen Siedlung nicht fern vom Rhein-Limes 2018 vorgelegt worden.666 Insgesamt sind 1243 Katalog-Nummern zu 1300 Objekten verzeichnet, 151 Fibeln aus Buntmetall und Silber, 18 Exemplare von Ringschmuck, 68 Bestandteile vom Pferdegeschirr und 69 Gürtelteile, außerdem einige Haarnadeln; dazu wurden medizinische und kosmetische Geräte, römische Möbel- und Kistenbeschläge und Fragmente von römischen Metallgefäßen geborgen. Es gibt immerhin 98 Tiegel aus Keramik für die Buntmetallverarbeitung und mehr als 300 Blechfragmente sowie 15,2 kg Schmelzreste. Die Begehung mit Metalldetektoren haben weitere Fibeln und Haarpfeile gebracht. Unter den römischen Sachgütern sind verzierte Gürtelbeschläge wie Propellerbeschläge und scheibenförmige Riemenzungen zu nennen (S. 1142). Zahlreiches Kleidungsschmuckzubehör ist in Kamen auch am Ort selbst hergestellt worden. Einige römische Statuetten und Statuettenbasen gehören zu den Sachen, Marsstatuetten und eine Minervastatuette, Teile von einer Jupiterstatuette. Ein quadratischer Bleibeschlag mit vergoldetem Pressblech trägt in der Mitte ein rückwärts blickendes
662 Nüsse 2011a; Sukalla 2005. 663 Eggenstein 2002. 664 Karlsen 2018b. 665 Menke 2006. 666 Steuer, Berghaus 1989; Eggenstein 2008; Mirschenz 2013 Tafel 3 Grabungsflächen 1998–2002; Könemann, Fahr 2015 (2016); Könemann 2018.
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Huftier (vgl. S. 1197), ein germanisches Kunsterzeugnis.667 Neben der einheimischen handaufgebauten Ware ist der Importkeramik eine eigene Studie gewidmet: Mindesten 600 Gefäßindividuen von Drehscheibenkeramik bis zum Ende des 5. Jahrhundert und außerdem späte Terra Nigra sind dokumentiert,668 ein Spiegelbild der Verteilung im Hellwegraum. Nach einem Histogramm erstreckt sich die chronologische Verteilung der Sachgüter von wenigen Funden in den Stufen B1und B2, einigen mehr bis 60 Stück in den Stufen C1 bis C1/C2 und eine Mehrheit mit über 100 Sachen im 4. und 5. Jahrhundert.669 Die provinzialrömischen Reste datieren mehrheitlich ins 3. Jahrhundert, die neu hergestellten Sachen am Ort also ins 4./5. Jahrhundert. Der Fundbestand provinzialrömischer, linksrheinischer Drehscheibenware ist vor allem als Resultat friedlichen wirtschaftlichen Austauschs zu sehen. Für den Handel seit dem 2. Jahrhundert spielte anscheinend der Wasserweg eine zentrale Rolle, z. B. auch für Mühlsteine aus Eifelbasalt, wie die Befunde und Funde weiterer Grabungen in benachbarten Siedlungen bei Werl-Büderich und Hagen-Herbeck zeigen. Vergleichbar ist die Siedlung bei der Zeche Erin nahe Castrop-Rauxel, deren Existenz von der frühen römischen Kaiserzeit bis zum Beginn der Merowingerzeit nachgewiesen ist. Zahlreiche römische Sachgüter, wie Terra Sigillata und Terra Nigra sowie Glasreste und Münzen fallen hier auf. Die bisher bekannten Hinweise auf Siedlungen dieser Epoche im mittleren Lahntal sind ebenfalls veröffentlicht worden.670 Im mittleren Ruhrgebiet an der Emscher werden vergleichbare Befunde serienweise freigelegt. Siedlungsreste reichen kontinuierlich von der vorrömischen Eisenzeit bis in die späte römische Kaiserzeit mit 35 Hausgrundrissen und über 300 Speicherbauten an verlandeten Flussarmen. Die zwei bis drei Gehöfte wurden mehrfach bis ins 4. Jahrhundert verlegt. Die Limesnähe hat zum reichhaltigen Fundmaterial beigetragen, darunter römische Bronzegefäße, Siebe und eine Delphinschnalle des 4. Jahrhunderts.671 Ausführlich wurde als Beispiel für die allgemeine Situation bei Siedlungsgrabungen und deren Ergebnisse schon oben darüber mehrfach berichtet. Wegen der Salzgewinnung ist die Siedlung bei SoestArdey wichtig (vgl. S. 454).672 Im Gebiet des nördlichen Hessen wurden inzwischen ebenfalls Siedlungen zielgerichtet ausgegraben,673 vor allem aus der Spätlaténe-Zeit und der frühen Kaiserzeit. Hier sind besonders die Einflüsse der Przeworsk-Kultur auffällig, fassbar anhand der Keramik, die sich weiter bis zum Main bis fast an den Rhein nachweisen lässt.674
667 Könemann 2018, 90 mit Abb. 30 (Kat. Nr. 34). 668 Cichy, Fahr 2019, 20 mit weiterer Lit. 669 Könemann 2018, 134 Abb. 76. 670 Abegg, Walter, Biegert 2000. 671 Grünewald, Pape, Kasielke 2016; Pape, Speckmann 2010. 672 Halpaap 1994. 673 M. Meyer 1998. 674 M. Meyer 1994; 2005.
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Michael Meyer hat die Hinweise auf diesen Kultureinfluss zwischen Oder und Rhein erörtert.675 Zentral waren die Grabungen in der Siedlung von Mardorf, Ldkr. MarburgBiedenkopf (vgl. S. 110 und 124).676 Die Siedlung und ein Gräberfeld bei Naunheim nahe Wetzlar, nur 15 km vom Limes entfernt, wurden 1985 bis 1998 auf 2300 m2 ausgegraben. Im noch recht kleinen Ausschnitt wurden immerhin zwei Großbauten, drei Speicher und ein Grubenhaus dokumentiert, die in diesem Teil von der zweiten Hälfte des 1. bis zur Mitte des 3. Jahrhunderts zu datieren sind.677 Jüngster Fund ist eine Münze, ein Antoninian des Volusianus aus den Jahren 251/253. Das Dorf gehörte nach der Keramik zu den Rhein-Weser-Germanen. Trotz der Limesnähe kommt kaum römische Keramik vor (nur zunehmend im Laufe der Zeit von 3 % bis auf 11%), darunter Terra Sigillata. Unter den zahlreichen Glasscherben sind immerhin Reste eines bemalten Bechers.678 Die Tierknochen weisen kaum römischen Einfluss nach, die Rinder sind einheimisch, höchstens einige Pferde könnten importiert sein. Ebenso fehlen römische Einflüsse in der heimischen Landwirtschaft, bei der die Viehwirtschaft vorherrschte. Im 3. Jahrhunderte setzte einen Wiederbewaldung im Lahntal ein. Die Siedlungsfunde der „Gießener Gruppe“ spiegeln eine andere Situation als die Grabfunde – die nämlich römische Importsachen enthalten haben –, nach denen eine Anpassung an die römische Lebensweise vermutet worden war. Trinkgeschirr römischer Herkunft mag bei feierlichen Angelegenheiten genutzt worden sein, im alltäglichen Leben spielte das keine Rolle. Die Herkunft der Siedler ist noch unbekannt, es gibt (vielleicht) eine Lücke zwischen der Laténezeit und der Römischen Kaiserzeit. Deutlich geworden ist sicherlich, dass der Forschungsstand im behandelten Teil Deutschlands – um zusammenzufassen – noch recht ungleich ist. Großflächig auswertbare Gesamtgrabungen von Siedlungen sind für die Zone nahe der Nordseeküste beschrieben worden und charakterisieren die Realität der dörflichen Strukturen in den ersten Jahrhunderten nach Chr. Geb. Doch immerhin haben kleinere Grabungen weiter im südlich anschließenden Raum und in Westfalen wenigstens mehrfach ausschnitthaft bestätigt, wie eine Siedlung in jener Zeit in Germanien ausgesehen hat. Die Gehöfte wurden überall von großen Wohn-Stall-Häusern mit entsprechenden Nebenbauten, den Speichern und Grubenhäusern, gebildet. Im Tal der Weißen Elster, 30 km südlich von Leipzig, wurde die Siedlung ZwenkauNord ausgegraben und 2019 publiziert.679 Der Kernbereich des erforschten Siedlungsausschnittes gehört in die späte Latènzeit am Übergang zur Römischen Kaiserzeit.
675 M. Meyer 2007, 332 Abb. 227 Karte; vgl. Łuczkiewicz 2007b, 338 Abb. 283 Karte; 2017. 676 M. Meyer 2008. 677 Walter 2002. 678 Walter 2011. 679 Kretschmer 2019, 15 Abb. 1 Vergleichende Chronologie der Phasen Latène B2 bis Römische Kaiserzeit B1(Übergang um 0), 28 Abb. 15 Gesamtplan mit den 27 Hausgrundrissen, 174 Abb. 116 Lage der Gehöfte.
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Die Grabungen fanden 2002 bis 2007 statt, an einem Platz, der schon im Neolithikum und während der Bronzezeit besiedelt war. Aus der Übergangsphase zur Römischen Kaiserzeit sind etwa 27 Langhäuser verschiedener Gehöfte erkannt worden, meist die üblichen zweischiffigen Wohn-Stall-Häuser unterschiedlicher Länge bis 18 m. Dazu gehörten 35 Vier- und Sechspfosten-Speicher sowie zahlreiche Grubenhäuser. Registriert sind außerdem Keramikbrennöfen, Backöfen und andere technische Ofenplätze. Reste von über zehn Zaunverläufen lassen auch hier die Gehöftstrukturen ahnen, was die Rekonstruktion von acht Gehöften mit mehreren Gebäuden erlaubt. Bei den Funden widmet sich die Autorin Saskia Kretschmer vor allem der handgemachten Keramik in Situlenform, d. h. in diesem Fall Gefäße mit eingezogenem Unterteil unterschiedlicher Größe von 7 bis 35 cm Mündungsdurchmesser und verziertem Unterteil.680 Weiterhin gab es Töpfe bis hin zu Großgefäßen mit ebenfalls von über 30 cm Mündungsdurchmesser, hinzu kommen Terrinen, Kannen, Schalen, Schüssel, Tassen, Becher, Teller und Siebgefäße, also die ganze Palette üblichen Haushaltsgeschirrs. Hervorgehoben werden die Verwandtschaften zur Keramik der Przeworsk-Kultur, illustriert durch die Verbreitungskarte der Przeworsk-Kultur-Vorkommen zwischen Warthe im Osten und Weser im Westen.681 An Metallfunden werden Fibeln beschrieben, vor allem Fibeln vom Typ Kostrzewski Variante K. In dieser Siedlung wurden zudem zahlreiche Bruchstücke von sogenannten Feuerböcken (vgl. S. 435), hier als Tonquader zusammengefasst, gefunden. Der Vergleich mit der Keramik von Fundplätzen zwischen Saale und Weser682 sowie einige C-14-Daten bieten die Datierung kurz vor dem Übergang zur Römischen Kaiserzeit. Die Grenzen der Ausgrabungsflächen zeigen, dass die Siedlung einst wesentlich größer war bzw. sich auch über andere Bereiche erstreckt hat und dann auch anders zu datieren sein wird. Kartierungen im näheren und weiteren Flussgebiet belegen zudem eine dichte Lage der nachgewiesenen Siedlungen während der späten Latène- und der Römischen Kaiserzeit, die kaum mehr als 2,5 km auseinanderliegen (vgl. dazu S. 381).683 In einem Beitrag werden die Tierknochen ausgewertet. Belegt sind ca. 64% Rind und nur 15% Schwein, woraus sich ergibt, dass Wiesen- und Waldweidewirtschaft überwiegen, was im Vergleich für die meisten Siedlungen dieser Zeit und dieses Raumes gilt.
2.4.3 Der Westen und die Niederlande Besondere Beachtung verdienen die Siedlungsbefunde weiter im Westen des Kontinents, im Grenzbereich zur römischen Welt. Es sind die Gebiete beiderseits des Nie680 Kretschmer 2019, 182 Abb. 122 Verteilung der Situlen in der Siedlung. 681 Kretschmer 2019, 104 Abb. 69 mit Karte nach Meyer 2005, 206 Abb. 3, Fibeln Kostrzewski Variante K, ebenfalls mit Karte Abb. 84 nach Meyer 2001b, 162 Abb. 1. 682 Kretschmer 2019, 137 Abb. 91 Karte der Siedlungen, mit deren Keramik verglichen wird. 683 Kretschmer 2019, 192 Abb. 129 und 195 Abb. 132–133.
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derrheins in den heutigen Niederlanden und in Belgien. In welcher Weise zeigen sich indigene Siedlungs- und Hausformen, und wie weit fand hier eine Romanisierung der einheimischen Lebensweise in den ersten Jahrhunderten n. Chr. statt. Die Siedlungsforschungen haben hier schon eine lange Tradition, erinnert sei an die Ausgrabungen der Wurt Ezinge (vgl. oben S. 197). H. T. Waterbolk hat 1996 die Haustypen in Drenthe, den nördlichen Niederlanden,684 von der Bronzezeit bis ins 11./14. Jahrhundert zusammengestellt. Aufgelistet sind die späteisenzeitlichen Häuser der Siedlung Hijken einschließlich der Ackerfluren, der Celtic fields, dann die Siedlung Noordbarge mit den Häusern der Mittel- bis Späteisenzeit sowie Häuser der frühen Römerzeit, die Siedlung Hatzum-Boomborg mit Gebäuden der mittleren Eisenzeit (vgl. S. 211), die Siedlung Peelo mit einem Einzelhof einer Phase I der frühen Römerzeit sowie schließlich die zahlreichen Häuser der Siedlung von Wijster aus der frühen und späten Römischen Kaiserzeit. Damit lag eine erste klare Entwicklung der Hausbauweise vor. Th. Spek hat ebenfalls 1996 die Lage der Siedlungen in Drenthe kartiert und ein Histogramm mit der Gesamtzahl aller Fundstellen der Zeit von Chr. Geb. bis 500 n. Chr. geboten.685 Ihm ging es vor allem um die bodenkundliche und landschaftliche Lage der Siedlungen mit ihren Gräberfeldern und Ackerfluren, wobei die Standortwahl in den unterschiedlichen Epochen im Mittelpunkt stand, hier während der ersten Jahrhunderte n. Chr. Die Ausgrabungen der Siedlung Wijster in der Provinz Drenthe in den Jahren schon 1958 bis 1961 haben rund 90 Grundrisse von umhegten Gehöften mit Langhäusern, Grubenhäusern, Speichern und Brunnen freigelegt, die aus der vorrömischen Eisenzeit bis um 450 n. Chr. zu datieren sind.686 Bis zu 15 große Höfe wurden gleichzeitig bewirtschaftet, anfangs gab es nur wenige Einzelhöfe, später dann eine geschlossenes Dorf mit Wegen zwischen den Gehöften. In Peelo, Prov. Drenthe, wurde von 1977–1996 ein Forschungsprojekt zur Siedlungsgeschichte von der Bronzezeit bis in die jüngste Zeit auf rund 400 ha durchgeführt, das eine große Zeitspanne umfasst.687 Unabhängig von der Frage nach den langen Kontinuitäten gilt das Interesse in meinem Buch der Siedlung der vorrömischen Eisenzeit, eingefügt in ein Netz von celtic fields, und dann der Siedlung der Römischen Kaiserzeit, für die mehrere Phasen unterschieden werden können. Von den in der Eisenzeit noch kleineren Häuser (Typ Hijken seit 800 v. Chr.) von 17,5 m Länge mit kleinem Wohnraum und relativ kleinem Stall geht die Entwicklung zu größeren Gehöftanlagen. Drei wuchtige eingefriedete Höfe mit Wohn-Stall-Haus und allerlei Nebengebäuden fallen auf, wobei das Haupthaus dreigeteilt war, in einen Wohnteil, einen Mittelteil als Betriebsraum und einen Stallteil (Typ Peelo A). Die Gesamtlänge erreichte bis zu 36 m für 34 Stück Vieh. Die Zahl der Gehöfte wächst 684 Waterbolk 1996, 55 Abb. 7 und weitere Abb. zu den Siedlungen und ihren Häusern. 685 Spek 1996, 140 Abb. 14. 686 van Es 2007; auch Kossack 1997, 51–53 Abb. 29–31; Heidinga, Offenberg 1992 zu Wijster und Gennep. 687 Koii 2003.
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ebenfalls; bald sind es vier Höfe, und beim vierten Hof gab es eine Schmiede und weitere kleinere technische Öfen. Dafür verschwand der Stallteil im Haus, doch der Speicherraum nahm sogar zu (Typ Peelo B), auch durch zusätzliche Speicherbauten wie einem Rutenberg. Der Anbau von Emmer und Hirse nahm ab, Gerste blieb und hinzukamen Hafer, Roggen und die kleine Ackerbohne. Auf den Großhof als „chieftain’s residence“ wird später noch eingegangen (vgl. S. 343 ff.).688 Im Osten jenseits des Rheins wurde 1994 in Heeten, Provinz Overijssel, eine befestigte Siedlung der späten römischen Kaiserzeit auf 1,5 ha als Teilausschnitt ausgegraben, datiert etwa in die erste Hälfte des 4. Jahrhunderts.689 Auffällig ist auch hier die umfangreiche Eisenindustrie. Es handelt sich bei diesem Anwesen um eine rechteckige 110 auf 75 m messende Einhegung eines Großgehöftes, an dessen Südseite zahlreiche Eisenöfen lagen; insgesamt wird geschätzt, dass hunderte von Rennöfen einst hier gestanden haben.690 Ein verstärkt ausgebauter, gesicherter Eingang führte ins Innere der Anlage. Hier standen nacheinander etwa vier bis fünf Langhäuser, deren Grundrisse sich teilweise überschneiden, die also nicht zeitgleich waren; auch müssen nicht alle Häuser gleichzeitig mit der Umwehrung gestanden haben; es könnten welche älter oder auch jünger sein. Die Mehrheit der Keramik gehört zur einheimischen germanischen, sächsischen Ware. Nur wenige Scherben von Terra Sigillata und anderer römischer Keramik wurden gefunden. Die gesamte Siedlung scheint vom 2. bis zum 4. und frühen 5. Jahrhundert bestanden zu haben; sie liegt etwa 50 km von Limes entfernt. Bemerkenswert ist außerdem noch, dass hier Rinder und Pferde sowie ein Hirsch sorgfältig – wie ein Opfer – bestattet worden sind, ein Brauch, der deutlich in den sächsischen Bereich weist. Der Gesamtkomplex wird trotz der Einhegung mit Graben und Palisade weniger als Befestigung, sondern eher als herausgehobenes ranghöheres Anwesen angesehen. Verglichen wird Heeten mit umwallten Anlagen im nördlichen Drenthe, wie sie weiter unten beschrieben werden, die aber deutlich stärker befestigt sind (vgl. S. 449, 476).691 Parallel zu Heeten ist noch ein ähnliches, aber innerhalb von Palisaden dichter besiedeltes Dorf der Kaiserzeit bei Deventer-Olmschate, Provinz Overijssel, zu nennen.692 Übrigens sind (schon 1998) in der Provinz Overijssel 40 kaiserzeitliche Siedlungen bekannt, bei denen meist auch Eisen hergestellt worden ist, oft eine Überproduktion für den Handel zu germanischen und römischen Abnehmern, organisiert durch eine germanische Elite. Die Befunde in Rijswijk in Süd-Holland nahe Den Haag spiegeln hier deutlicher die fortschreitende Romanisierung der eisenseitlichen Siedlungsformen.693 Ausgra688 Koii, Delger, Klaassens 1987. 689 Verlinde, Erdrich 1998. 690 Zur Eisengewinnung auch Groenewoldt, van Nie 1995. 691 Waterbolk 2003; 2007. 692 Verlinde, Erdrich 1998, 717 Abb. 7. 693 Bloemers 2003.
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bungen 1967 bis 1969 haben auf 3,5 ha eine römerzeitliche Siedlung der einheimischen Cananefaten und das zugehörige Ackerflursystem auf über 13 ha freigelegt, gelegen südlich der römischen Rheingrenze. Hier wurde eine romanisierte Siedlung, nur 3 km entfernt von der Hauptstadt der Cananefaten, dem Forum Hadriani, aber mit engen Bezügen zur weiter nordwestlich gelegenen Wurtenregion erkannt. Das Anwesen begann kurz v. Chr. Geb. mit einem 10 m langen dreischiffigen Haus (Phase I a, 600 m2); es folgten 100 Jahre später vier Gehöfte, teilweise mit erkennbaren Zäunen (Phase I d, 12 000 m2). In den Phasen II und III (130 bis 270 n. Chr., 18 500 m2) stieg zwar die Zahl der Häuser nicht, aber sie wurden im Inneren weiter strukturiert und außen mit einem tiefen Graben gesichert.694 Die Hauptgebäude waren dreischiffige Wohn-Stall-Häuser mit Stellplätzen für 14 bis 28 Stück Vieh. Über dem Platz des ersten Hauses wurde fünfmal nacheinander ein neues Haus errichtet, das Gehöft wanderte also nicht. Das jüngste Haus an dieser Stelle erhielt in der Phase III b (ab 325 n. Chr.) dann erstmals einen Steinsockel, und bald wurden weitere Räume aus Stein angebaut und teils sogar mit einer Hypokaustheizung sowie Wandmalereien ausgestattet. Insgesamt stieg die Zahl der Viehstellplätze von 12 auf 68. Im Fundstoff ist ebenfalls die steigende Romanisierung abzulesen, nicht nur an der Bautechnik der Häuser, sondern das Verhältnis von einheimischer Keramik zu römischer Ware stieg von Phase I c mit 66 zu 2 Stücken in Phase III mit 324 zu 741 Stücken. Die einheimische „friesische“ Keramik blieb zwar bis Ende des 2. Jahrhunderts dominierend, die römische Drehscheibenware verdrängte aber nachfolgend doch die einheimische Keramik. Aus der einheimischen Siedlung alter Tradition wurde also nach und nach eine villa rustica. Im weiteren Umfeld wurden bis zum Jahr 2000 immerhin 500 römerzeitliche Siedlungsstellen lokalisiert und teilweise auch ausgegraben. Dabei zeigte sich, dass römische Bautechniken nicht weit verbreitet waren, d. h. Rijswijk hatte wohl eine besondere herausgehobene Stellung. Die einheimischen Siedlungen endeten aber meist schon im frühen 2. Jahrhundert. Die gesamte Siedlungsstruktur bestand anfangs wie im weiter östlichen friesisch-germanischen Gebiet auf der anderen Rheinseite aus verstreuten Einzelgehöften, die erst zu einer Konzentration im 2. Jahrhundert führte. Anhand anderer Sachgüter, beispielsweise Militärdiplome, ist abzulesen, dass in diesen Siedlungen germanische Hilfstruppen für die römische Armee ausgehoben wurden, und zwar deutlich bis ins 2. Jahrhundert, was die Siedlungsentwicklung sicherlich beeinflusst hat. Bei Tiel-Passewaaij695 an der Waal in der Provinz Gelderland sind zwei einheimische Siedlungen und ein dazwischen liegendes Gräberfeld696 freigelegt worden, woran man wiederum die fortschreitende Romanisierung ablesen kann. In diesen Siedlungen und Gräbern im Gebiet der Bataver sind zahlreiche römische Waffen(teile)
694 Bloemers 2003, 630 Abb. 57. 695 Heeren 2006; 2007; 2009; 2016, 25 mit Abb. 696 Heeren, Aarts 2007.
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gefunden worden, Sachgüter der Veteranen in der römischen Armee. Auch anderes Sachgut, beispielsweise Schreibgerät, spiegelt Romanisierung. Zu den Gehöften gehörten die üblichen Langhäuser des 1. bis 2./3. Jahrhunderts, deren Stallteile im Verlauf der Zeit immer größer wurden; ebenso die Getreidespeicher. Das sind Hinweise auf eine Überschussproduktion für einen Markt, sowohl in Nimwegen, aber auch an weiteren Plätzen. Doch die Bevölkerung ist nicht völlig romanisiert worden: die Tradition des Wohn-Stall-Hauses wurde nie aufgegeben. Außerdem fanden sich auf dem Gräberfeld spezielle Bestattungsformen der eigenen „germanischen“ Identität, nämlich Kreisgräben und quadratische Anlagen. Beachtenswert ist zudem, dass später in diesem Gebiet seit dem fortgeschrittenen 3. und dann im 4. Jahrhundert Franken eine Rolle spielten, in spätrömischer Zeit als Foederaten. Die zahlreichen römischen Importsachen im östlich anschließenden Germanien könnten sowohl Beutegut, als auch Mitbringsel der zurückgekehrten Veteranen aus dem römischen Heer sein. Zudem belegen Siedlungen in den östlichen Niederlanden nördlich des Rheins für das 3. Jahrhundert eine sehr umfangreiche Produktion von Roheisen und außerdem eine gesteigerte Viehzucht. Parallel zur Abnahme der Bataversiedlungen nehmen diese Siedlungen im fränkischen Gebiet zu. Vielleicht wurden von hier weiterhin römische Zentren beliefert, was denn auch bis ins 5. Jahrhundert anhielt.697 Einige andere mehrphasige Siedlungen in dieser Umgebung von Tiel-Passewaaij in den südlichen Niederlanden kommen dazu.698 Beschrieben wird neben Hausgrundrissen, der Verbreitung von Münzen zwischen 300 und 600 n. Chr. auch der Schatzfund von Echt-Pey mit Hacksilber und Goldmünzen (geprägt von 364 bis 411) sowie einem goldenen Fingerring. Es sind wie in dieser Landschaft und auch weiter im Osten wie in Westfalen vor allem zweischiffige Wohn-Stall-Häuser. In diesem Raum der Maaskant Region, Noord Brabant, westlich von Nimwegen und am Niederrhein699 sind nun mehrere zentrale Siedlungen der späten vorrömischen Eisenzeit und des 1. und 2. Jahrhunderts auch großflächig untersucht worden,700 und zwar dicht beieinander gelegen bei Oss die Teilsiedlungen Oss-Schalkskamp und Oss-Ussen bzw. Westerveld sowie Oss-Alstein mit zahlreichen Langhäusern.701 Die späteisenzeitliche Fundstelle von Oss-Schalkskamp702 ist durch Eisenproduktion und Schmiedearbeiten in einer einheimischen vorrömischen Siedlung gekennzeichnet, 697 Heeren 2016, 24 f.; Roymans, Derks, Heeren (Hrsg.) 2007. 698 van Enckefort, J. Hendriks 2018. 699 Jansen, Fokkens 2010; Fokkens, van As, Jansen (Eds.) 2019; Fokkens 2019a, 91 Fig. 5.3 Siedlungsplan mit Umwehrung und Langhäusern; van As, Fokkens (Eds.) 2019, 302 f. Fig. 14.1–14.3 Gesamtplan der Siedlung und einzelne Langhäuser. 700 Wesselingh 2000, 2 Fig. 1 Plan zu den vier Siedlungen der Römischen Kaiserzeit im Gebiet von Oss: Schalkskamp, Westerfeld, Vijver und Zomerhof sowie ein großes Gräberfeld, Fig. 43 Plan der Siedlung Zomerhof mit Langhäusern, Fig. 193 Plan der Siedlung Schalkskamp mit Langhäusern und Einzäunungen bzw. Palisaden. 701 Fokkens 2019, 193 Fig. 11.10. Kartierung der Siedlungen. 702 Brusgaard et al. 2015.
2.4 Siedlungen – ein Auswahlkatalog
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die aber anscheinend vor allem für den Hausgebrauch gedacht war. Die Siedlung OssUssen703 ähnelt der von Wijster; der 1987 veröffentlichte Plan bietet die Langhäuser des Dorfes der Römischen Kaiserzeit und dabei auch das Gräberfeld. Auch hier ist eine Veränderung von der einheimischen Wohnweise zur römischen Bauart ablesbar. In einer doppelten Grabeneinzäunung standen Häuser der vorrömischen Eisenzeit und schließlich römerzeitliche Häuser, die zugleich an Zahl zunahmen. Es waren meist zweischiffige Hallenhäuser, später ergänzt durch eine Porticus. Die einheimische Keramik wird nach und nach durch Zunahme des Anteils römischer Ware ergänzt. Neu ausgewertet nach Grabungen von 1976 bis 1986 wurde 2010 Oss-Westerfeld, ebenfalls eingefasst von einem rechteckigen doppelten bis dreifachen Palisadengraben.704 Der jetzt gegliederte Plan bringt die Phasen A (25 v.-25 n. Chr.), B (25–70 n. Chr.), C (70–100 n. Chr.), D (70–125 n. Chr.) und E (100–150 n. Chr.), mit dem stetigen Ausbau und einer zunehmenden Anzahl zweischiffiger Häuser, ebenfalls mit einer Porticus. Der Weg von der einheimischen zur römischen Siedlung ist über die 150 Jahre gut belegt. Weitere mit Gräben eingefasste Siedlungen lagen in der Nachbarschaft:705 Oss-Noord, nahe der Siedlung Oss-Schalkskamp, gegraben 1987 bis 2008, mit zweischiffigen Hallenhäusern, Oss-Horzak und Oss-De geer Oudenhofstraat und Achterschaijkstraat sowie Oss-Almstein. Ein Beitrag von 2019 bringt in diesem Gebiet von Noord Brabant eine ganze Reihe von Siedlungen der Römischen Kaiserzeit mit zahlreichen Gehöften und Langhäusern,706 Niselrode-Zwarte Molen aus der Römischen Kaiserzeit, OssWesterveld aus der vorrömischen Eisenzeit und der frühen Römischen Kaiserzeit, vier Phasen der Siedlung von Lieshout-Nieuwenhof Noord von 0 bis etwa 225 n. Chr. mit einer verschiedenen Anzahl von Gehöften, zu Anfang drei (0–25 n. Chr.), dann sieben (75–100 n. Chr.), gefolgt von sechs (150–175 n. Chr.) und zum Schluss wieder drei Höfe (200–225 n. Chr.), jeweils mit zweischiffigen Langhäusern und kleineren, ebenfalls zweischiffigen Nebengebäuden. Dazu gehören regelmäßig Brunnen. Von einer durchgehenden Existenz des Dorfes ist auszugehen. Als Rekonstruktion für die Zeit von 200 bis 250 n. Chr. wird noch eine Siedlung bei Helmond-Mierlo-Hout (Du Pre) gezeigt. Diese Anzahl von Siedlungen germanischen Charakters aus der Römischen Kaiserzeit in Noord Brabant führe ich auf, um nicht nur auf die Forschungsintensität hinzuweisen, sondern auch auf die dichte Lage der Dörfer, die ich für die meisten Gebiete Germanien annehme und auch beschreibe. Beachtenswert ist die dichte Lage dieser über Einzelhöfe hinausgehenden Siedlungen mit bis zu fünf vielphasigen Gehöften, ehe römische Villen sich auch hier ausbreiteten. Ob die dichte Lage nun schon für Zentralplätze spricht, oder ob erst die spätere Konzentration als Zentralplatz betrachtet werden sollte, wird diskutiert. Immerhin ist am Keramikspektrum um Oss abzulesen, das in den verschiedenen Siedlungen 703 van der Sanden 1987, 62 Abb. 7. 704 Jansen, Fokkens 2010, 136 Fig. 2 und 3. 705 Jansen, Fokkens 2010, 137 Fig. 4; 138 Fig 5, 139 Fig. 6 und 142 Fig. 8. 706 Ball et al. 2019, 12–18 mit Abb.
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bis 100 n. Chr. einheimische, am Ort hergestellte handgeformte Ware vorherrschte, während in Westerfeld auch größere Mengen an römischer Drehscheibenware und Terra Sigillata vorkommen, die in den umgebenden Siedlungen völlig fehlen. Die Interpretation sieht darin die Abhängigkeit der in der Umgebung siedelnden Familien von der Familie in der Zentralsiedlung, meint also eine Hierarchie zwischen den Ansiedlungen beobachten zu können. Die Siedlungsentwicklung spiegelt somit die soziale Struktur der einheimischen Bevölkerung während der römischen Zeit im dicht besetzten Gebiet von Oss.707 M. A. Wessekingh bildet die Lage der Siedlungen Zomerhof, Friedhof, Vijver, Westerfeld und Schalkskamp ab; auch die Hausgrundrisse der Römischen Kaiserzeit. Eine Karte der Siedlungen um Oss zeigt einerseits die dichte Lage der Siedlungen beieinander und außerdem die unmittelbare Nähe zum RheinLimes.708 In den Niederlanden ist es wie andernorts auch üblich, Tierknochen sowie Reste der Ackerbaufrüchte zu analysieren, um Einblicke in die damalige Lebensweise zu bekommen, auch bei den Siedlungen um Oss.709 Von der Siedlung Gennep in der Provinz Limburg am Ufer der Maas wurde bei Grabungen 1989 bis 1991 und 1994 zwar nur ein Ausschnitt von 3,4 ha erfasst, der in die Zeit von 390 bis 500 n. Chr. datiert wird.710 Doch auch das zugehörige Gräberfeld konnte gefunden werden, das sogar bis ins 7. Jahrhundert weiter belegt worden ist, sodass auch die Weiterexistenz einer Siedlung in der Nachbarschaft postuliert werden kann. Immerhin wurden acht Wohn-Stall-Häuser und 127 Grubenhäuser dokumentiert sowie Speicher und Brunnen. Der Plan zeigt die reihenförmig angelegten Gehöfte parallel zum Fluss. Grobschmiedehandwerk und Bunt- sowie Edelmetallverarbeitung sind belegt. Die dreischiffigen Häuser waren zwischen 23 und 32 m lang und 6 m breit; zwei Gebäude waren sogar bis 60 m lang. Dicht an der Grenze zur römischen Provinz gelegen zeigen sich aber nur Übereinstimmungen mit den WohnStall-Häusern in den nordniederländischen und nordwestdeutschen Sandgebieten und nicht zum römischen Westen. Wieder fällt bei dieser Siedlung die ungewöhnlich große Zahl der Grubenhäuser auf. Daraus stammen Rohstoffe des Bronzeschmieds, die Gussform für einen spätantiken Gürtelbeschlag und allerlei anderes Material, u. a. 350 Münzen, geprägt zwischen 388 und 402. Das länger genutzte Gräberfeld umfasst 109 Bestattungen mit Brand- und Körpergräbern. In den südöstlichen Niederlanden711 kommen ebenfalls Häuser des zweischiffigen Typs vor, die hier wie neue Haustypen wirken und für andere Bewohner sprechen könnten. Oder gab es doch eine Kontinuität? Die Besiedlung ist nachgewiesen auch hier außerordentlich dicht gewesen. Die ausgegrabene und ebenfalls mit einem 707 Wessekingh 2000, 2 Fig. 1 Siedlungsplänen, 18 Fig. 14a Hausgrundrisse, Fig. 43 Siedlungsplan von Zomerhof, Fig. 193 Siedlungsplan von Schalkskamp. 708 Wessekingh 2000, 209 Fig. 218 Karte. 709 Bakkels 1998. 710 Heidinga 1998, 74 Abb. 4 Teilplan. 711 v. Enckevort 2001, 346 Abb. 2.
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Graben begrenzte Siedlung Hoogeloon-Kerkakkers war im untersuchten Bereich vom 1. bis 3. Jahrhundert bewohnt, verfügte über ein Heiligtum an der Nordseite und einen größeren Wasserbehälter an der Ostseite.712 In diesem Gebiet ist die Romanisierung ebenfalls deutlich nachzuweisen. Eine weitere mit Graben begrenzte Siedlung Weert-Laarderweg mit benachbartem Gräberfeld Molenakkerdreef bestand am Platz von 50 v. Chr. bis 260/270 n. Chr.713 Schließlich ist noch die langgestreckte Siedlung Nijmegen-Oosterhout anzuführen, in der die Wohn-Stall-Häuser nebeneinander aufgereiht gestanden hatten.714 Zeitlich parallel zur Integration dieser Gebiete ins römische Imperium siedelten sich trotzdem einige germanische Gruppen im Limeshinterland auf Reichsgebiet an. Bei Blerick-Heierhoeve, Gemeinde Venlo, wurden sieben bis neun verstreut liegende Bauerngehöfte untersucht, datiert ins mittlere 1. Jahrhundert und um 100 n. Chr.715 Hier sind es dreischiffige Hallenhäuser. Zusammenfassend geht es mir hier darum zu zeigen, wie lange noch die „einheimischen“ Hausbauten, also die Siedlungsweise, wie sie in Germanien üblich war, weiter bestanden hat, ehe erst nach und nach die Romanisierung griff. Ob zweischiffig oder dreischiffig, beide Bauweisen sind rechts des Rheins in verschiedenen Landschaften üblich gewesen, ebenfalls geographisch in Nord und Süd getrennt.716 Bei diesen schon etwas älteren Ausgrabungen wurde vor allem die Romanisierung beobachtet. Als Beispiel wurde die Siedlung Riethoven-Heesmortel des 1. bis 3. Jahrhunderts mit 30 zweischiffigen Wohn-Stall-Häusern geschildert.717 Ebenso ist der Wandel in den Siedlungen am Niederrhein westlich von Köln im Hambacher Forst vom 1. bis 4. Jahrhundert zu beobachten.718 Noch eine weitere jüngst 2018 publizierte Siedlung in den Niederlanden sei geschildert.719 Forschungen fanden bei Cuijk-De Nielt, Nord Brabant, in den Jahren 2006 und 2007 sowie 2010 statt. West-Ost ausgerichtete Langhäuser, Wohn-StallHäuser, von der vorrömischen Eisenzeit bis zur Römischen Kaiserzeit, bis ins 3. Jahrhundert, spiegeln eine Kontinuität. Das Dorf liegt nicht fern vom römischen Kastell bei Cuijk. In einem der dreischiffigen Häuser – es wird als Zeichnung rekonstruiert – sind die Positionen eines Münzschatzes und eines Metalldepots mit 86 Bronzefragmenten markiert. Ein Gehöft mit Nord-Süd ausgerichtetem Haupthaus und Nebengebäuden, eingefasst von einer Palisade des 3. Jahrhunderts enthielt u. a. diese in einem hohen Becher eingewickelten Münzen, insgesamt 140 Silbermünzen (111 Denare, 29
712 v. Enckevort 2001, 355 Abb. 5. 713 v. Enckevort 2001, 360 Abb. 7. 714 v. Enckevort 2001, 363 Abb. 8. 715 v. Enckevort 2001, 382 Abb. 11; auch Literaturverzeichnis zu allen Siedlungsgrabungen bis 2000. 716 Pape 1993 mit Kartierung. 717 Slofstra 1991; 2002; Slofstra, Lammers, Aarts 1993, 63 Fig. 4. 718 Kaszab-Olschewski 2006. 719 Habermehl, van Renswoude 2018, 25 Abb. der Ausgrabungsfläche mit den Hausgrundrissen.
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2 Haus, Gehöft und Siedlung
Antoniniane) und 12 bronzene Sesterzen. Die Münzen datieren zwischen 193 und 253 n. Chr. Zur Zeit des Kaisers Caracalla (gestorben 217) verdiente ein Legionär 3600 Sesterzen im Jahr, d. h. im Becher lagen also im Wert umgerechnet 679 Sesterzen, ein Fünftel eines Jahressolds (vgl. unten S. 562). Aufgrund der beiden Münzschätze und des Bronzehortes, die nicht als Opfer gedeutet werden, sprechen die Ausgräber vom Depot eines Buntmetallhandwerkers. Weiter im Süden, in Jüchen-Neuholz im linksrheinischen Garzweiler, Rhein-Kreis Neuss,720 ist die Entwicklung vom eisenzeitlichen Gehöft zur villa rustica recht gut zu verfolgen, und zwar von einem Hof elbgermanischer Siedler auch mit typisch elbgermanischer Keramik weiter zur frührömischen Villa anhand der nun örtlichen Keramik. Eine Diskontinuität gab es in den Küstengebieten im Norden der Niederlande, in der Wurtenzone, am Ende der römischen Epoche (vgl. auch S. 819).721 Eine Lücke bestand zwischen dem Ende der Siedlungen in der Salz-Marsch um 300 n. Chr. und der Neubesiedlung im 5. Jahrhundert mit Häusern anderer Ausrichtung, und statt der Bauweise mit einem Pfostengerüst folgten Häuser, deren Wände aus Soden errichtet waren. Auch die Keramik zeigte andere Formen und Verzierungen; es wurde ein anderer Keramikstil entwickelt. Die Gründe liegen wohl im Anstieg des Meeresspiegels, in der Hochwassergefahr mit Brackwasser und der Gefahr von Malaria, was das Wohnen und Wirtschaften zeitweilig kaum möglich machte, weshalb die früheren Siedler abwanderten. Die sozialen Netzwerke zerbrachen, und nur in manchen Gebieten in Richtung Niedersachsen gab es einige Kontinuität. Die neuen Siedler mögen Friesen gewesen sein, bzw. sie übernahmen diesen schon eingeführten Namen von der Vorbevölkerung. Diese Unterbrechung der Besiedlung der Salzmarschen in den nördlichen Niederlanden in der spätrömischen Zeit, verbunden mit der Entvölkerung im späten 4. und frühen 5. Jahrhundert, wird anhand des Vergleichs des Keramikstils an der Küste (Siedlung Englum) mit der im Binnenland im nördlichen Drenthe (Siedlung Midlaren-De Bloemert) erschlossen. Die binnenländischen Keramiken fehlen tatsächlich in Englum, und der Grund der Entsiedelung wird in steigenden Fluten gesehen, die – wie genannt – Malaria mit sich brachten. Seit dem 3. Jahrhundert hätten sich die sozialen Netzwerke geändert bzw. brachen zusammen. Überhaupt scheint die gesamte Provinz Friesland entvölkert zu werden, nur eine geringe Bevölkerung im Bereich Groningen verblieb. Aber auffällig sind die Unterschiede in Wirtschaft und sozialer Organisation: Friesland war nach Westen, nach Nord-Holland orientiert, wo ebenfalls Bevölkerung verloren gegangen zu sein scheint, während Groningen nach dem nördlichen Drenthe und weiter nach Niedersachsen orientiert war.
720 Frank, Keller 2007, 318. 721 Nieuwhof 2011, 55 und 65.
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Auf diese Depopulation im 3. Jahrhundert geht St. Heeren 2018 mit einem weiteren Rundblick ein.722 Vom 1. bis ins 3. Jahrhundert bildeten die Landschaften südlich des Niederrheins die römische Provinz Germania Inferior, und diese bestand aus sechs civitates, die Mehrheit der Anwesen, die villae, waren in Stein errichtet und blieben trotz Aufgabe des Limes (der Limesfall wird von ihm um 260 oder 270/275 gesehen) bestehen. Eine Neuorganisation begann unter den Tetrarchen um 293, verbunden mit einer Entsiedelung der ländlichen Gebiete; die Germania Inferior wurde zur Germania Secunda. Das Ende der römischen Herrschaft wird mit um 401/402 gesehen, und nun kommen hölzerne Bauernhäuser, Pfostenhäuser der „germanischen“ Art auf. Im Siedlungskomplex Tiel-Passewaaij (vgl. oben S. 233) gab es einen Rückgang der Bebauung, die Zahl der Gehöfte nahm vom 2./3. zum späten 4. und frühen 5. Jahrhundert ab. Die gewonnenen Dendrodaten bieten Fälldaten der Bäume aus den 240er und 250er Jahren und dann erst wieder aus den 390er Jahre. Auf der Aldenhovener Platte und der Nachbarschaft sank die Zahl der Villen von 71%, über 52% auf 30%. Dieses Absinken der Zahl meint also, von den Villen des frühen 4. Jahrhunderts blieben nur noch 56% von denen des frühen 3. Jahrhunderts. In der Siedlung Neerharen-Rekem (vgl. unten S. 304) wurden die Steinbauten des 2./3. Jahrhunderts im 4./5. Jahrhundert durch Pfostenbauten in den Gehöften und Grubenhäusern abgelöst, was sichtlich für eine neue Bevölkerung in diesem Gebiet spricht. Diese Siedlungen sind vergleichbar mit den Befunden in Saint-Ouen-de-Breuil (vgl. unten S. 304). Die ehemaligen Villenareale wurden für Keramik- und Glaswerkstätten weiter genutzt. Der Blick in die nachfolgenden Jahrhunderte hilft zur Klärung dieses Vorganges der teilweisen Depopulation südlich des Rhein-Maas-Deltas.723 Messbar ist ein großes Bevölkerungswachstum in der Zeit von 70 bis 270 n. Chr. und wieder von 725 bis 950 n. Chr. In der Phase 270 bis 450 n. Chr. gab es demgegenüber einen starken Bevölkerungsrückgang von 78 bis 85%. Die Autoren möchten einen ähnlichen Trend auch in anderen Teilen Europas, auch allgemein in Germanien, sehen, was ich anders bewerte (vgl. S. 374). Auf die Berechnungsverfahren gehe ich hier nicht ein, die auf einem Archaeological Basic Register (ABR) basiert. Festgestellt wird, dass eine durchschnittliche Anzahl von 6,5 Gehöften aufgrund der Ausgrabungsergebnisse erschlossen werden kann, hinzukommen die Kastellbesatzungen mit ihrer Besiedlung rundum. Eine Graphik zeigt Zu- und Abnahme der absoluten geschätzten Bevölkerungszahlen im ausgewählten Gebiet von 70 000 Leuten in der mittleren Römischen Kaiserzeit und auf nur rund 12 000 Leute seit der späten Römischen Kaiserzeit, ehe der Wiederanstieg erfolgte. Noch fehlt eine akzeptable Begründung für die Ursache für dieses Phänomen, das sicherlich teilweise immer noch auf einem eingeschränkten Forschungsstand beruht, andererseits zu wenig die Grenzsituation nach Abzug
722 Heeren 2018; auch 2017. 723 Van Lanen, Groenewoudt 2019, 114, 121 Tab. 3 und 124 Fig. 5.
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beispielsweise des römischen Militärs und der allgemeinen ländlichen Bevölkerung berücksichtigt. Somit ist einerseits eine Depopulation der civitates der Cananefaten und Bataver, der Landschaften im Hinterland von Köln und Tongern zu registrieren, jedoch wurde die Zahl der Villen nur reduziert; andererseits wurden neue Befestigungen an der Maas und gegenüber von Britannien errichtet. Erstaunlich ist, dass viele romano-britischen Villen im 4. Jahrhundert ihren Höhepunkt im Ausbau erreichten; doch nach der Mitte des 4. Jahrhunderts endete die Nutzung vieler dieser Villen. Die spätrömische Epoche war eine Phase der Fragmentierung und Regionalisierung, Getreideimporte kamen im 4. Jahrhundert aus England Die Veränderungen in der nördlichen Provinz Germania secunda waren im 5. Jahrhundert auffällig. Dazu gibt es einige Analysen zur Bevölkerungsdichte, aus deren Zahlen tatsächlich im Küstenbereich eine Entsiedelung nachzuweisen ist. Die veröffentlichten Kurven von 100 v. Chr. bis 600 n. Chr. zeigen eine starke Abnahme von 200 hin auf 300 n. Chr. und nach 400 oder 500 wieder einen Anstieg.724 Das Bevölkerungstief während der Römischen Kaiserzeit betraf aber nur die Küste. Während der mittleren Römischen Kaiserzeit lebten 7,5 Menschen pro km2 Nord Brabant; die Bevölkerungsdichte lag je nach Landschaft zwischen nur 4,0 und bis zu 19,1 Menschen pro km2. Der Rückgang in einigen Zonen wird mit dem Anstieg des Meeresspiegels zusammenhängen; denn nach den Flachsiedlungen in der Marschenzone vor und um Chr. Geb. setzt während der Römischen Kaiserzeit andernorts der Aufbau von Wurten ein und zwar in erstaunlich dichter Lage beieinander (vgl. S. 201 f. mit Abb.).
2.4.4 Nordost-Gallien Von besonderer Aussagekraft zur Siedlungsarchäologie in Germanien ist die Ansiedlung Saint-Ouen-de-Breuil in der Normandie, also weit im Gebiet des Römisches Reichs in der Provinz Gallia Lugdunensis Secunda, mehr als 450 km vom Rhein entfernt; denn es ist ein Dorf von Einwanderern aus Germanien.725 Ausgrabungen in den Jahren 1994 und 1997 deckten etwa 12 ha ab. An der Stelle einer älteren gallischen Siedlung entstand in der Spätantike im 4. Jahrhundert ein dörfliches Anwesen mit 32 Lang- und Kleinhäusern,726 wie sie in Germanien, so in Westfalen, üblich waren, darunter große dreischiffe Hallenhäuser von bis zu 38 m Länge und 8 m Breite; kleinere Bauten waren 14 bis 20 m lang und 5 bis 6 m breit. Die vier oder fünf gleichzeitig stehenden Gehöfte bestanden aus Langhaus, Grubenhäusern, Speichern und Öfen. Außerdem gab es einschiffige Häuser, Vier- bis Neun-Pfosten-Speicher und Gruben724 Groenewoudt, van Lanen 2018; Groenewoudt, van Lanen, Pierik 2019. 725 Gonzales u. a. 2001; 2004, mit 147 Abb. 28 Plan der Siedlung; 2001. 726 Gonzales u. a. 2001, 46 Abb. 3 Auswertungsplan mit den 32 Häusern, 54 Abb. 8 Langhäuser bis Kleinhäuser.
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häuser, und zu allen Baubefunden sind Parallelen weit östlich des Rheins bekannt. Die Grubenhäuser und Speicherbauten gehörten zu handwerklichen Tätigkeiten. Bei einem Gehöft wurde ein Münzschatz gefunden, mit 16 Solidi, 23 Silber-Multipla, einem goldenen Fingerring und drei silbernen Löffeln, aufbewahrt in einem Spruchbecher treverischer Herkunft, datiert durch die Münzen in die Jahre von 345 bis 350 n. Chr. Neben römischer Keramik überwiegt noch ein größerer Bestand handgeformter Ware eigener Produktion; die Keramikanteile verteilen sich auf Terra Sigillata zu 12% und auf handgemachte Keramik zu 29% als reine römische Gebrauchsware. Die Besiedlung reicht von der Mitte und der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts mit dem Beginn wohl kurz vor 350 n. Chr. bis zum Ende im ersten Viertel des 5. Jahrhunderts. Die Herkunft der Siedler weist auf Regionen zwischen Rhein und Weser, was eindeutig über die Bauweise der Häuser zu erschließen ist. Die Autoren vergleichen überzeugend die Hausgrundrisse mit denen von Gennep am Rhein bis Flögeln im Elbe-WeserDreieck.727 Nicht nur diese ausführlich vorgestellte Siedlung von Germanen aus dem Gebiet südlich der Nordsee gab es in den römischen Provinzen in Nordost-Gallien, sondern eine ganze Reihe von Dörfern des 3. bis 5. Jahrhunderts728 ist inzwischen in der Provinz Lugdunensis Secunda schon untersucht worden.729 Es bietet sich an, die zahlreichen Verbreitungskarten „germanisch“ wirkender Bestattungen samt ihrer Beigaben, die H. W. Böhme vielfach vorgestellt hat, mit der Lage dieser Siedlungsplätze zu vergleichen (zu den Gräbern vgl. S. 1164 ff.).730 Zu diesen germanischen Siedlungen in der Lugdunensis II, in der Normandie731, die wohl weitgehend auf der Weidewirtschaft basierten und mit ihren dreischiffigen Langhäusern nach Germanien weisen, gibt es auch kontroverse Meinungen, die davon ausgehen, dass nicht unbedingt „Germanen“ hier gelebt haben sollen, sondern zum Beispiel eine römisch-germanische Mischbevölkerung. Bei diesen Überlegungen ist man bei der „ethnischen“ Zuweisung von archäologischen Befunden, von der jedoch abgesehen werden kann, wenn nur die unterschiedlichen Bauweisen der Häuser, die verschiedene Anfertigung und Verzierung der Keramik und ebenso manche Grabbräuche eben als verschieden beschrieben werden, mit Hinweisen auf die „fremde“ Herkunft oder sogar örtlicher Neuentwicklung, ohne damit das innere „Wesen“ von Bewohnern zu meinen. K. H. Lenz hat schon 2005 ausführlich germanische Siedlungen des 3. bis 5. Jahrhunderts in Gallien beschrieben.732 Er vergleicht die spätantiken Fundbestände aus
727 Gonzales u. a. 2001, 57 Abb. 10 Karte mit den zu vergleichenden Siedlungen in Nordwestdeutschland. 728 Lenz 2005. 729 Pilet 2003. 730 Böhme 1974; 1996b, 96 f. Abb. 68 und 69, 99 Abb. 74; 1999a, 61 Abb. 11; 2017. 731 Henning 1989; Lenz 2005; Gonzales u. a. 2001; 2004; Konrad 2019, 265 ff.; anders Fehr 2010, 59 f., der gegen Henning und Lenz argumentiert, aber Saint-Ouen-du-Breuil als „germanisch“ akzeptiert: zitiert bei M. Konrad 2019. 732 Lenz 2005; dazu Konrad 2019, 263 ff. mit Anm. 62.
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wohl germanisch genutzten römischen Villen, in denen mehr römisches Material registriert werden kann, mit den Siedlungen, in denen Langhäuser standen mit einem höheren Anteil germanischer Funde. Er sieht darin einen verstärkten Zuzug germanischer Gruppen, deren Aufgaben für Rom Militärdienst und landwirtschaftliche Produktion waren, verbunden also mit einer engen Einfügung in die römischen Strukturen. S. Brather lehnt die „ethnische“ Zuweisung zu Germanen ab und spricht von einer „Amalgamisierung“ der römischen mit der germanischen Kultur in Nordgallien.733 M. Konrad schildert 2019 weitere „germanische“ Siedlungen in Nordgallien, so die um 285 n. Chr. errichtete Siedlung von Donk mit einem reinen Pfostenbau und den um 350 n. Chr. entstandenen Weiler von Voerendaal mit Langhäusern, Grubenhäusern und Speicherbauten, der eine römische Villa ablöst. Immerhin gibt es hier 600 römische Münzen und Teile römischer Militärgürtel, die den intensiven Kontakt dieses Weilers mit Organisationen im Römischen Reich belegen.734 In Voerendaal sind Getreideproduktion nachgewiesen sowie Textilhandwerk und Metallverarbeitung. Sie zitiert die Veröffentlichungen dazu, und erwähnt zudem einen constantinischen germanischen Pfostenbau unmittelbar neben einer verlassenen römischen Villa bei Aldenhofen in der Nähe von Köln und hat zudem deshalb keinen Zweifel am germanischen Ansiedlungsprozess des 3. bis 5. Jahrhunderts. Vergleichbare Befunde gibt es ebenfalls in der Nähe von Krefeld-Gellep. Zusammenfassend kann dazu wohl gesagt werde, dass zu unterscheiden ist, was mit ethnischen Römern und Germanen jeweils gemeint sein könnte, und was an kulturellen Erscheinungen nach Rom oder nach Germanien zu weisen ist, wie gesagt nämlich die unterschiedlichen Keramik- und Hausbauformen.
2.4.5 Deutschland östlich der Elbe Im östlichen Deutschland lassen sich gegenwärtig zahlreiche Siedlungsgrabungen nennen, die vergleichbare Befunde wie weiter im Westen geliefert haben. Achim Leube hat in den „Studien zu Wirtschaft und Siedlung bei den germanischen Stämmen im nördlichen Mitteleuropa während des 1. bis 5./6. Jahrhunderts n. Chr.“ die Befunde aufgezählt, in einer Arbeit, die verspätet erst 2009 veröffentlich worden ist.735 Er nennt 44 Siedlungen der älteren Kaiserzeit (B2b-C1, also 2./3. Jahrhundert), 18 Siedlungen der späten Kaiserzeit (C2-C3, also fortgeschrittenes 3. bis spätes 4. Jahrhundert) und auch eine hohe Siedlungsdichte in der frühen Völkerwanderungszeit (D1-D2, also ausgehendes 4. bis frühes 6. Jahrhundert). Es lässt sich, so seine Deutung, eben keine 733 Brather 2004a, 293–301; dazu Konrad 2019, 265 Anm. 69. 734 Konrad 2019, 265, mit Anm. 70 (Aldenhoven) und Anm. 71 zur Kritik von Fehr 2010, 59 f., der für Gruben- und Langhäuser auch römische Bewohner in Erwägung zieht. 735 Leube 1992a; 1998 a, b; 2009.
2.4 Siedlungen – ein Auswahlkatalog
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Ausdünnung durch sogenannte Abwanderungen feststellen. Die Besiedlungskontinuität bestand auf einem beachtlichen Niveau, wie auch in anderen Räumen. Armin Volkmann hat 2013 in seiner Studien „Siedlung – Klima – Migrationen: Geoarchäologische Forschungen zur Oderregion zwischen 700 vor und 1000 nach Chr.“ diese Kontinuitäten noch einmal lokal konzentriert aufgezeigt.736 In diesen Landschaften ist überall eine umfangreiche Eisengewinnung nachgewiesen (vgl. dazu S. 450). Als Beispiel seien noch die frühkaiserzeitlichen Produktionsstätten in Vorpommern genannt, mit einem Schwerpunkt im Raum Greifswald bei Dietrichshagen.737 Im Landkreis Vorpommern-Greifswald sind bei Alt Kosenow die Grundrisse kaiserzeitlicher Häuser ausgegraben738 sowie in Völchow eine Siedlung der jüngeren vorrömischen Eisenzeit und der römischen Kaiserzeit untersucht worden, in der acht dreischiffige Häuser sowie Kleinbauten und wohl drei umzäunte Gehöfte freigelegt worden sind.739 In der Siedlung der vorrömischen Eisenzeit und der römischen Kaiserzeit aus Leyersdorf wurden Hausgrundrisse auf ihre Innengliederung und Funktionsbestimmung der einzelnen Bereiche hin auch mit Hilfe der Phosphatkartierung analysiert: Die mehrphasige Siedlung (Gehöft?) mit drei dreischiffigen Häusern, wobei Haus 2 rund 31 m lang war, fünf Kleinbauten und sieben Vier- sowie Sechspfostenspeicher datiert ins 2. und 3. Jahrhundert.740 Die Siedlung Zweedorf, Ldkr. Ludwigslust-Parchim,741 bestand seit der Bronzezeit; 30 Häuser gehören in die Vorrömische Eisenzeit, in die späte römische Kaiserzeit bzw. in die Völkerwanderungszeit. Nur 3,7 ha sind 2014/2015 ausgegraben, auf der Fläche standen Langhäuser bis 24 m Länge, die mindestens vier Gehöfte gebildet haben. Auch hier lieferten Brunnen gute Datierungen, von denen ein Brunnen später als Bienenstock sekundär verwendet worden ist. Bei Lübesse, Kreis Ludwigslust-Parchim, wurde ebenfalls eine mehrphasige Siedlung mit sechs dreischiffigen Häuser, die bis 30 m lang waren, ausgegraben, datiert in die jüngere Römische Kaiserzeit und die Völkerwanderungszeit.742 Ein Siedlungs- und Werkplatz der älteren römischen Kaiserzeit ist in der Gemarkung Ahrensboek, Ldkr. Ludwigslust- Parchim, untersucht, mit Häusern, Öfen und Bundmetallverarbeitung.743 Weiterhin ist bei Pinnow, ebenfalls Ldkr. LudwigslustParchim, eine frühkaiserzeitliche Siedlung immerhin in größeren Teilflächen aus-
736 Volkmann 2014 (2015); 2015 (2016). 737 Gall 2013 (2015). 738 Ruchhöft, Saalow 2014, 229–232. 739 Saalow 2013: Donat 2018, 202 Katalog Nr. 11. 740 Glaser 2002; Lübke 2005; Donat 2018, 202 Katalog Nr. 7. 741 Selent 2017b. 742 Lehmkuhl 2008: Donat 2018, 202 Katalog. Nr. 4. 743 Saalow, Wehner 2008.; Donat 2018, 202 Nr. 5.
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2 Haus, Gehöft und Siedlung
gegraben worden.744 Überhaupt haben die jüngsten Forschungen auch hier eine außerordentliche Siedlungsdichte erfasst; z. B. liegen vier Siedlungen der Zeit um 300 n. Chr. nebeneinander aufgereiht auf einem 3,5 km langen Moränenrücken, bei Basedo, Ldkr. Mecklenburgische Seenplatte.745 Ein spätgermanischer Siedlungsplatz ist bei Rollwitz, Ldkr. Uecker-Randow,746 beim Bau der Autobahn A 20 1998 entdeckt worden, mit über 800 Befunden auf 2,9 ha Fläche. Die Gehöfte I bis III mit noch sehr unvollständig wirkenden Pfostensetzungen datieren in die Stufe C2 (um 300), eine C-14-Messung ergab die Zeit 255–410; in Haus III fand sich Keramik des 4. Jahrhunderts. Auch diese Siedlung lag nicht allein, sondern in der Umgebung ist ein dichtes Siedlungsnetz dokumentiert. Ausführlich neu publiziert ist 2004 die große Siedlung Herzsprung in der Uckermark.747 Gegründet Mitte des 2. Jahrhunderts bestand sie bis in den Beginn des 5. Jahrhunderts, günstig in der Nachbarschaft zweier Seen gelegen, etwa 13 km von der Oder entfernt. Die Ausgrabungen erfolgten erstmals 1968 und vor allem wieder 1982 bis 1996 und legten auf 2,2 ha die Siedlung fast vollständig frei. In den 200 bis 250 Jahren sind etwa drei Siedlungsphasen erkennbar. Von der ersten Phase mit zwei Gehöften wuchs die Siedlung in der zweiten Phase auf weitere vier Gehöfte an von je etwa 500 m2 mit dem jeweils bis 18 m langen und 4,50 bis 5 m breiten (zumeist) dreischiffigen Wohn-Stall-Haus, (damals der östlichste Nachweis dieses Bautyps), mit 40 Speichern und 21 Grubenbauten. Einige Zaunverläufe ließen die Gehöftgrenzen erkennen. Randlich lagen zusätzliche Wirtschaftsareale mit acht Kalkbrennöfen, etwa 89 Feuerstellen, Grubenmeilern und Metallverarbeitungsplätzen (dabei römischer Buntmetallschrott aus Fibel- und Nadelfragmenten und z. B. eine Münze des Gallienus, geprägt 254 n. Chr.) sowie Komplexe von Grubenhäusern als Werkstätten. Die Ausgräber schätzen bei elf Höfen etwa 80 bis 100 Einwohner. Auch Terra Sigillata und andere römische Drehscheibenkeramik fand sich in der Siedlung. In der Rezension von E. Schultze 2010 wird auf die Gesamtbesiedlung des süduckermärkischen Beckens hingewiesen. Nun sind in den letzten Jahrzehnten mehrere Siedlungsgrabungen neu hinzugekommen, die auch die Befunde der früheren Forschungen besser verstehen lassen. Die Siedlung Dallgow-Döberitz bei Wustermark im Havelland wurde 1993/1994 und 1999 sowie 2004 auf mehr als 3 ha Fläche und damit wohl zu 90% ausgegraben.748 Der Plan zeigt mehr als 40 meist dreischiffige Häuser von 10 bis 46 m Länge und entsprechend zahlreiche Grubenhäuser, datiert vom 1. bis zum 4. Jahrhundert. Auch ist neben anderem Handwerk Eisenproduktion nachgewiesen. 744 J.-P.Schmidt 2010 (2011). 745 J.-P.Schmidt 2017. 746 V. Schmidt 2000. 747 Leube 1999, 493 Abb. 25 Planausschnitt; Schuster 2004; zu beachten ist, dass die Rez. E. Schultze 2010 und J. Brather 2009 unterschiedlich die Zahl der gleichzeitig stehenden Gehöfte referieren. 748 Schöneburg 1995; 1998; 2007, mit 359 Abb. 48 Gesamtplan; Donat 2018, 203 Katalog Nr. 17.
2.4 Siedlungen – ein Auswahlkatalog
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Eine weitere Siedlung bei Wustermark 23, Ldkr. Havelland, wurde 1998, 1999 und 2004 ausgegraben, auf einer Fläche von 3,2 ha mit 9000 Befunden, datiert von der Bronzezeit über die Römische Kaiserzeit bis in die Völkerwanderungszeit. Kernstück der Publikation ist die Siedlung aus der Zeit von 250 bis 450 n. Chr. mit 21 Brunnen und guter Holzerhaltung, die die genaue Datierung ermöglichte hat, und zwar vom ältesten Fälldatum 294 n. Chr. bis zum jüngsten Datum 421 n. Chr. Hinzukommen 39 Langhäuser, 100 Speicher und 17 Grubenhäuser sowie 28 Feuerstellen, 4 Hundegräber und zwei Depots. Zu beachten ist, dass die Standorte der Häuser über 200 Jahre hinweg fast ortskonstant blieben. Reste von Zaunverläufen helfen, Gehöfte abzugrenzen. Ein umzäuntes Gehöft besteht in der Regel aus Haupthaus, Nebengebäuden, Speichern und Grubenhäusern sowie Werkstattarealen.749 Die Funde helfen Ackerbau, Tierhaltung, Textilhandwerk, Eisenverhüttung und Jagd zu beschreiben. Die Häuser werden in der Publikation als Korridorhäuser mit fassbarer Raumaufteilung einschließlich Stall beschrieben. Zur gleichen Zeit standen maximal fünf Gehöfte. In der Publikation von 2019 wird betont, dass erst eigentlich nach der Wende großflächige Siedlungsgrabungen möglich wurden,750 und dass inzwischen auch östlich der Elbe zahlreiche Fundplätze hinzugekommen sind. Eine Karte mit 65 Nummern bringt nun eine Mehrheit zwischen Elbe und Oder zu den altbekannten Siedlungen an der südlichen Nordseeküste.751 Die Langhäuser lassen sich gliedern anhand der Pfostengruben in einschiffige, zweischiffige und dreischiffige und sogar ein vierschiffiges Langhaus. Die zweischiffigen Häuser auch in anderen Siedlungen sind bis 15 m lang, ebenso messen die zweischiffigen zwischen 10 und knapp 20 m Länge, in den Siedlungen Wustermark 23, Göritz und weiteren Plätze.752 Die sogenannten Korridorhäuser zeichnen sich durch zusätzliche Pfosten im Bereich der einander gegenüber liegenden Eingänge aus, was bei einer größeren Zahl von Grundrissen in Wustermark zu erkennen war; einige der Häuser haben zudem einen doppelten Korridor nebeneinander, also vier Eingänge. Etwa fünf mehrphasige Gehöfte haben einst gleichzeitig bestanden, was vier Siedlungsphasen der genannten zentralen Epoche bedeutet. Aufschlussreich sind zudem die Vergleiche mit anderen Siedlungen, was die Haustier-Anteile betrifft.753 In den mehr als zehn ausgewerteten östlichen Siedlungen schwankt der Haustieranteil beträchtlich, Rind zwischen 40 und 75,5%. Schwein zwischen ca. 12 und 40%, Schaf/Ziege zwischen ca. 6 und 27 % und Pferd zwischen ca. 1 und 9%, was die Zufälligkeit noch der Ergebnisse illustriert.
749 Fischer-Schröter 2019, 81 Abb. 32 ein umzäuntes Gehöft. 750 Fischer-Schröter 2019, 9 Beginn des Geleitwortes. 751 Fischer-Schröter 2019, 12 Abb. 1 Kartierung der 65 Fundplätze . 752 Fischer-Schröter 2019, 25 Tab. 3, 38 Tab. 5 Hausgrundrisse mit Korridor, 39 Abb. 14 Grundrisse mit Korridor, 42 Abb. 16 Grundrisse mit Doppelkorridor; Plan am Ende des Buches mit dem ergrabenen Siedlungsausschnitt. 753 Fischer-Schröter 2019, 113 Tab. 24–26 Haustieranteile.
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2 Haus, Gehöft und Siedlung
Bei den meisten Siedlungen wurden inzwischen auch die Tierknochen und Pflanzenreste analysiert, d. h. die Konstitution der Haustiere (Rind, Schwein, Schaf und Ziege, Pferd und Hund) sowie der Züchtungsstand der Getreide (Weizen, Gerste, Hirse, Emmer, Hafer, auch mancherorts Roggen und Lein) sind ausgewertet. In Potsdam-Nedlitz sind von der Siedlung des 1. bis 5. Jahrhunderts bei Grabungen seit 2011 einige Gehöfte mit Langhäusern und über 70 Grubenhäuser ergraben worden. Eine sogenannte Dreiknopf-Bügelfibel gehört ins 5. Jahrhundert, Scherben spätrömischer Glasgefäße sind etwas älter.754 Auch bei Kienbaum, Ldkr. Oder-Spree, ist eine größere Siedlung der Römischen Kaiserzeit freigelegt worden, mit Gehöften, Langhäusern, Speichern und sehr zahlreichen Grubenhäusern, auch Zäune sind nachweisbar.755 In den letzten Jahren sind in diesem Gebiet um Berlin und in Brandenburg zahlreiche Siedlungen der Römischen Kaiserzeit und Völkerwanderungszeit nachgewiesen und teilweise schon untersucht worden, die im Abstand von nur 2,5 km bestanden haben. Laufend kommen neue Siedlungen der ersten Jahrhunderte um und nach Chr. hinzu; die Archäologische Denkmalpflege der entsprechenden nördlichen Bundesländer publizieren regelmäßig, so dass sich das Bild ständig verdichtet. Deshalb nenne ich einfach auch jüngste Beispiele, eine Siedlung Sonnewalde in Brandenburg. Zahlreiche Langhäuser (zweischiffig?) und Grubenhäuser, auch Schlackengruben und Rennfeueröfen sind hier 2017 ausgegraben worden. Die Datierung nennt etwa die Phase C1 (also zweite Hälfte 2. bis erste Hälfte 3. Jahrhundert).756 In dieser Siedlung Sonnewalde 12 „De Gehren“ fanden Grabungen in den Jahren 1991, 2007, 2012, 2016 und 2017 statt, so sammeln sich nach und nach auch die Berichte mit zunehmenden Ergebnissen. In den Jahren 1968 bis 1981 wurde bei Waltersdorf im Ldkr. Dahme-Spreewald auf einer Fläche von nur 1,2 ha eine Siedlung, die von der Zeit um Chr. Geb. bis ins 5. Jahrhundert bestanden hat, untersucht,757 mit über 50 Grubenhäusern und Werkplätzen zur Eisengewinnung. Diese Siedlung der Elbgermanen, nach der Keramik, mit einer Kontinuität bis zum 5. Jahrhundert scheint aber sogar eine Zuwanderung im 2. Jahrhundert aus dem Oder-Weichsel-Gebiet erfahren zu haben, wie an der Zusammensetzung der Keramikansammlung mit Przeworsk-Elementen anscheinend zu erkennen ist. Der Tierbestand setzte sich nach den Knochen aus 54 % Rind, dann weiterhin aus Schwein, Schaf, Ziege, Pferd und Hund; Hirsch, Reh, Elch, Ur oder Wisent sowie Braunbär, Wolf, Fuchs, Fischotter, Biber zusammen. An Fischen sind Wels, Hecht, Barsch, Blei und Schleie nachgewiesen. Zwei Konzentrationen mit Eisengewinnungsöfen gehören zur Siedlung.
754 Beran, Hensel 2018; Beran, Schlag 2018 (2020) 72 Abb. 70. 755 Döbel 2018 (2020) 67 Abb. 64. 756 Hogarth 2017 (2019) 75 Abb. 64 Plan des Siedlungsausschnitts. 757 Leube 2006; Donat 2018, 204 Katalog Nr. 37.
2.4 Siedlungen – ein Auswahlkatalog
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In der Niederlausitz sind allein aus der Jüngeren Römischen Kaiserzeit (170/180 bis 375) rund 124 Fundplätze erfasst worden. Dazu gehört auch die Siedlung Wolkenberg im Landkreis Spree-Neiße.758 Das Detail aus dem Flächenplan zeigt vor allem Eisenverhüttungsplätze, vier von insgesamt 44 Werkplätzen, von denen jeder Werkplatz aus 20 und mehr Öfen bestand. Die Schlackenklötze aus den Rennofenresten wiegen über 100 kg (vgl. dazu auch S. 447).759 Forschungen haben bei Göritz, Ldkr. Oberspreewald-Lausitz, von 1994 bis 1998 eine mehrphasige, etwa 4 ha große Siedlung des 3. bis 5. Jahrhunderts freigelegt,760 die gewissermaßen im Kreis verlegt worden ist und dabei von etwa fünf auf zehn Gehöfte mit bis zu 60 × 60 m messenden Gehöftgrundrissen gewachsen ist (Abb. 23). Im Durchschnitt maßen die zweischiffigen Häuser 20 m in der Länge und 5 m in der Breite. Wie überall in Norddeutschland entwickelte sich auch hier die Siedlung, und zwar in sieben Phasen, von den anfangs Nord-Süd ausgerichteten Langhäusern der Gehöfte zu den mehr West-Ost ausgerichteten Häusern. Auf der untersuchten Fläche wurden 60 Wohn-Stall-Häuser und Speicher sowie 87 Grubenhäuser erfasst. Gleichzeitig standen wohl bis zu sieben Gehöfte. Mit dem Richtungswechsel der Häuser und zudem einer 100 m betragenden Verlagerung der Gehöfte am Ende des 4. Jahrhunderts handelt es sich damit um den üblichen Typ einer Wandersiedlung. Aber immerhin wanderte hier um ein ortsfestes Hauptgebäude das Dorf herum. Die etwa generationsweise in den sieben Phasen erneuerte Siedlung bestand somit rund 300 Jahre. Für drei Besiedlungsphasen mit Langhäusern liegt ein neuer Plan vor.761 Was zur Richtungsänderung der neuen Häuser geführt hat, ist unbekannt; aber es handelt sich wohl kaum um neue Bewohner in der alten Siedlung, obgleich ein solcher Befund andernorts vermutet wird (vgl. S. 721 ff.). Die Ausgrabungen im Niederlausitzer Braunkohlenrevier widmeten sich besonders in den Bereichen des Dorfes mit den Wohn-Stall-Häusern der Position der Schmiede. Ein gutes Beispiel bieten die Befunde der „germanischen“ Feinschmiede von Jänschwalde, Ldkr. Spree-Neiße, 25 km entfernt von Cottbus, die mit ihrer Verteilung im Vergleich zu anderen Siedlungen mit Schmiedewerkstätten in einem Kartenbild festgehalten sind (Herzsprung, Dahlen, Klein Köris, Neunheiligen und Jänschwalde).762 Vom Dorf sind acht Langhäuser ergraben;763 zum Siedlungsareal gehören die Verhüttungsplätze, die Schmiede und auch ein Gräberfeld.764 Eine Zahl sei zur Abwechslung genannt: Die hier gehaltenen Kühe hatten eine Widerrist-Höhe von 109 cm, während heutige Kühe 135 cm messen. Die Besiedlungsdichte war
758 M.-J. Brather, Schwarzländer 2014, 111, 112 Abb. 4 (Eisenschmelzöfen). 759 M.-J. Brather, Schwarzländer 2014, 123 Abb. 17. 760 Berg-Hobohm 2001, 160 Abb. 142 sieben Phasen der Siedlung; 2004. 761 M.-J. Brather, Schwarzwälder 2014, 114 Info-Feld. 762 Bönisch, Rösler 2011b, 166 Karte der Buntmetallschmiedeplätze im Osten Deutschlands. 763 Bönisch, Röder 2011a, 154 Plan der Siedlung. 764 Bönisch 2011, 124 Abb. Karte der Befunde.
Abb. 23: Die Siedlung Göritz, Ldkr. Oberspreewald-Lausitz, und ihre Verlagerung mit den Phasen 1 bis 3.
248 2 Haus, Gehöft und Siedlung
2.4 Siedlungen – ein Auswahlkatalog
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hier auffällig groß. Schmiede zur Weiterverarbeitung von Buntmetall, römischem Schrott, sind inzwischen nicht mehr selten, in Herzsprung, Dahlen, Klein Köris und Neunheiligen sind derartige Verarbeitungsplätze wie in Jänschwalde im Osten Deutschlands festgestellt worden.765 Bei Merzdorf an der Spree brachte die Ausgrabung von 6000 m2 einer Siedlung von insgesamt 4,3 ha Ausdehnung zahlreiche Ofenbatterien der Eisengewinnung von der späten römischen Kaiserzeit bis ins 5. Jahrhundert.766 Bald zum Abschluss des Manuskripts habe ich die neue Monographie aus dem Jahr 2018 von Peter Donat zu den Häusern auch der Eisenzeit im mittleren Europa erhalten und übernehme daraus nur einige zusätzliche neue Aspekte, nachgetragen und hier erläutern.767 Es geht dem Autor allein um die Häuser, deren Baustrukturen er vergleicht, auch wenn er Siedlungspläne beifügt. In der Liste 4 werden die Häuser der Kaiserzeit im östlichen Deutschland aufgeführt; Nr. 1–32 dreischiffige Häuser, Nr. 33–43 zweischiffige Häuser. Dieser Liste ist zu entnehmen, an welchen Plätzen mehrere Häuser, also wenigstens ein Teil der Siedlung ausgegraben worden ist. Von den 43 Katalog-Nummern weisen mehrere immerhin Ausschnitte aus dörflichen Siedlungen auf, die zumeist auch mehrphasig waren, mit Häusern bis etwa 30 m Länge und den üblichen Speicherbauten und kleineren Nebengebäuden. Aus Mecklenburg-Vorpommern wurden bei der Ausgrabung auf der Trasse der Autobahn A 20 mehrere Siedlungen angeschnitten, über die eine Publikation aus dem Jahr 2005 kurze Vorberichte bietet. Weitere angeschnittene Siedlungen wurden in Kurzberichten 2009 veröffentlicht, die beim Bau der Bundesstraße B 96 entdeckt worden sind. Für Brandenburg führt P. Donat die neu entdeckten sowie auch die früher erforschten Siedlungen auf, von denen einige in jüngerer Zeit erneut bearbeitet worden sind und die ich hier kurz beschrieben habe: Nr. 15 Herzsprung, Ldkr. Uckermark;768 Nr. 17 Dallgow-Döberitz, Ldkr. Havelland;769 Nr. 18 NauenBärhorst, Ldkr. Havelland 1939;770 Nr. 23 Kablow, Ldkr. Dahme-Spreewald 1958.771 Eine Kartierung bringt die dreischiffigen und zweischiffigen Häuser norddeutscher und ostdeutscher Siedlungen, wobei die Katalog-Nummern an die Punkte der ostdeutschen Siedlungen notiert sind. Das Kartenbild zeigt, dass jetzt auch im östlichen Deutschland zwischen Elbe und Oder die Anzahl der erforschten Siedlungen vergleichbar ist mit der zwischen Rhein und Elbe sowie in Schleswig-Holstein,772
765 Weiss 2008 allgemein. 766 Wetzel 2013/2014; Donat 2018, 205 Katalog Nr. 43. 767 Donat 2018, 202–205. 768 Schuster 2004. 769 Schöneburg 1995; 1998. 770 May 2002. 771 Hauptmann 2000. 772 Donat 2018, 141 Abb. 35, dazu Liste; M. Meyer 2010b, 14 Abb. 6 eine zeitlich gegliederte Karte der Hausgrundrisse aus der vorrömischen Eisenzeit und der Römischen Kaiserzeit in Ostdeutschland.
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2 Haus, Gehöft und Siedlung
auch wenn die Veröffentlichungen noch nicht so umfangreich sind und damit – so auch P. Donat – noch unzureichend. P. Donat bietet auch für die mittlere und späte Eisenzeit die Grundrisse der dreischiffigen Wohn-Stall-Häuser in Dänemark und Norddeutschland773 sowie in den Niederlanden zum Vergleich an.774 In Dänemark sind es beispielsweise Häuser aus Grøntoft, Hodde, Drengsted, Hjemsted, Lyngsmose, aus den Niederlanden Typ Hijken und Peelo. Eine Zwischenbilanz vom mitteleuropäischen Kontinent lautet: Die Zahl der vollständig ausgegrabenen Siedlungen wächst gegenwärtig so rasch, dass nach den einzelnen, hier genannten Dörfern inzwischen für jedes Jahrfünft ein Dutzend neuer beschrieben worden ist. In allen Fällen bedeckt das „wandernde“ Dorf zahlreiche Hektar, und die Dokumentation zeigt ein dicht bedecktes Feld aus Pfostenstellungen von hunderten von Hausgrundrissen, Nebengebäuden und Zäunen. Durch die Verschiebung der Dörfer ist auch die zeitliche Abfolge über Jahrhunderte hinweg zu rekonstruieren; ähnlich wie das bei den Wurten an der Nordseeküste der Fall ist, und zwar dort wegen der Übereinanderlagerung in Schichten. In vielen Landschaften existierten derartige Dörfer in Blickverbindung dicht benachbart nebeneinander. Zu registrieren ist außerdem, dass in diesen Bereichen Germaniens die dörflichen Siedlungen nicht nur von den letzten Jahrhunderten vor der Zeitenwende bis ins 5./6. Jahrhundert, sondern oftmals noch mehrere Jahrhunderte weiter bestanden haben, also länger als ein Jahrtausend seit der vorrömischen Eisenzeit bis ins Mittelalter in derselben Gemarkung. Wesentliches Kennzeichen ist dabei immer, dass die Gehöfte oder auch die gesamten Dörfer mehrmals in einem Jahrhundert neu errichtet wurden, entweder am selben Platz oder aber leicht verschoben in der Gemarkung, wobei einerseits die alte Struktur oft weitgehend beibehalten wurde, andererseits aber ein Größenwachstum, was die Zahl der Gehöfte und auch die Ausmaße der Häuser betrifft, hinzukommt. Die beschriebene Siedlung Flögeln775 beispielsweise verlagerte sich von Süden nach Nordwesten, vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis zum 6. Jahrhundert n. Chr. und wird unmittelbar abgelöst von der benachbart gelegenen Siedlung Dalem, die vom 7. bis 12./13. Jahrhundert existiert hat (vgl. oben S. 212). Entscheidend ist, dass die sich verlagernden Dörfer nacheinander insgesamt sich über eine beachtlich große Fläche erstrecken, die 20 und mehr Hektar eingenommen haben kann. Die Einschätzung der Größe und der Bedeutung einer solche Siedlung ist also erst dann möglich, wenn die Gemarkung vollständig untersucht und weitgehend ausgegraben worden ist, einschließlich auch der Gewerbegebiete, zum Beispiel der vielen Ofenkomplexe der Eisengewinnung in der näheren Nachbarschaft zu den Gehöften (dazu später S. 444 ff.).
773 Donat 2018, 99 ff. mit Abb. 2. 774 Donat 2018, 108 ff. 775 Zimmermann 1992; 1995.
2.4 Siedlungen – ein Auswahlkatalog
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2.4.6 Schleswig-Holstein, Jütland und westliche Ostseeinseln Auf der jütischen Halbinsel, in Schleswig-Holstein und Dänemark, sind in den letzten zwanzig Jahren ständig neue Siedlungen der ersten Jahrhundert vor und nach Chr. Geb. großflächig freigelegt worden, die nachfolgend zusammen mit den schon länger erforschten Dörfern aufgeführt werden. Fortlaufende Berichte finden sich der in der Zeitschrift „Arkæologi i Slesvig / Archäologie in Schleswig“ seit 1991 bis in die Gegenwart. In Schleswig-Holstein sind in den vergangenen Jahren ebenfalls mehrere Siedlungen untersucht worden, bei denen zu den Hausgrundrissen des Dorfes auch eine umfangreiche Eisenverhüttung nachgewiesen ist. In Wittenborn, Kr. Segeberg, erforscht von 2008 bis 2011 auf 3 ha, sind 26 Häuser, die bis 5,6 m breit und bis 40 m lang waren, 19 Speicher und zahlreiche Grubenhäuser und auch die Zaunverläufe ausgegraben worden. Die Siedlung bestand vom 1. Jahrhundert v. bis ins 6. Jahrhundert n. Chr. Geb. Außerdem ist Eisenverhüttung für die jüngere Römische Kaiserzeit und die frühe Völkerwanderungszeit nachgewiesen.776 Die verschiedenen Positionen der sich verlagernden Siedlung sind abgebildet, aufgegliedert in die Abschnitte 1. Jahrhundert v. bis 1. Jahrhundert n. Chr., 3. bis 4. Jahrhundert und 3. bis 6. Jahrhundert. Für das 4. bis 6. Jahrhundert liegen Dendrodaten von Brunnenhölzern vor. In der Phase a stehen die vier Langhäuser bzw. drei bis fünf Gehöfte der Siedlung exakt West-Ost ausgerichtet, in der Phase b liegen die Langhäuser aber leicht diagonal.777 Ergebnisreich sind die archäobotanischen Untersuchungen, tabellarisch sind die Getreidepflanzen über die Zeiten zusammengestellt.778 Zu den Kulturpflanzen zählen Spelzgerste, Hafer, Saathafer, Roggen, Rispenhirse, Emmer, die Sammelpflanzen und Wildkräuter sind ebenfalls aufgelistet, ebenso die feucht erhaltenen Pflanzenreste, Samen und Früchte, dazu noch die Ackerunkräuter und die lokale Vegetation. Die mehrphasige Siedlung der Römischen Kaiserzeit auf der Insel Sylt bei Archsum auf dem sogenannten Melenknop zeigt eine für diesen Ort besondere Bauweise, nämlich Wände aus gestapelten Rasensoden bzw. aus mehr als 1 m dicken Stampfkleiwänden als Mauern, doch mit den üblichen eingegrabenen Pfosten des Gefüges im Hausinneren.779 Die Ausgrabungen dauerten im Wesentlichen von 1969 bis 1974. Gut erhalten sind zudem hier mit Rollsteinen gepflasterte Wege, die zwischen den verschiedenen Häusern auf den Gehöften von Eingang zu Eingang führten, die zum Gehöft gehört haben und damit die internen Beziehungen sichtbar überliefern (Abb. 24).
776 Lütjen 2009; 2010a, b, 94 f. Abb. 2 und 3 Plan der Siedlung mit den Langhäusern; 2011, 74 Abb. Übersichtsplan der Siedlung mit den Langhäusern; Lütgens, Reuter, Kirleis 2017, 138 Abb. 1 Fundplätze, 141 Abb. 2 Übersichtsplan der Teilsiedlung LA 73 mit den Langhäusern; . 777 Lütgens, Reuter, Kirleis 2017, 145 Abb 5 (Phase a), 146 Abb. 6 (Phase b). 778 Lütgens, Reuter, Kirleis 2017, 113 Tab. 1 und Tab. 2. 779 Schmid 1984, 231–235 mit Abb. 82,2; Kossack 1997, 44 Abb. 24; Steuer 2007a, 353–356 mit Abb. 9; Lütjens 2006; 2008a.
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2 Haus, Gehöft und Siedlung
N
Sodenwand
Herd
Steinpflaster
Pfostenloch
0
1
2
3π
Abb. 24: Wege zwischen den Häusern eines Gehöfts in der Siedlung Archsum auf Sylt.
Die Besiedlung begann um Chr. Geb. auf einem Areal, das zuvor in der vorrömischen Eisenzeit als Ackerland genutzt worden war, und wurde bis in die Zeit um 400 n. Chr. immer wieder in fünf Bauperioden erneuert. Die Siedlungsperioden (zuletzt 10) werden in einer Auswahl mit mehreren Häusern und sich wiederholenden Steinwegen abgebildet.780 P. Donat bringt eine Tabelle der jüngereisenzeitlichen Siedlungen mit dreischiffigen Häusern, die mit Sodenwänden errichtet sind.781 Es sind Häuser in dieser Siedlung Archsum, dann in Siedlungen – sie werden später genannt – in Dänemark u. a. in Borremose und Vestervig. Bei zwei „außergewöhnlichen“ Speicherbauten vermutet man eine römische Verwandtschaft,782 weil es vergleichbare Speicher im römischen Britannien gegeben hat; entscheidend bei dieser Bauweise ist die vom Boden abgehobene Struktur mit Hilfe eines gitterförmigen Rasters, der auf Pfosten aufliegt. Angeregt durch einen zurückgekehrten Söldner wurde diese spezielle Struktur aber
780 Lütgens 2010, 315 ff. Abb. 8 bis 11 Phasen auf dem Mölenknop/Sylt. 781 Donat 2018, 227 Tabelle 22. 782 Kossack, Baessler 2001; Kaul 2006.
2.4 Siedlungen – ein Auswahlkatalog
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nicht längerfristig übernommen, bei Nachfolgebaute kehrte man zur gewohnten Bauweise zurück. Außer der Siedlung Melenknop bei Archsum ist auf Sylt eine weitere Siedlung der jüngeren Römischen Kaiserzeit und der nachfolgenden Epochen ausgegraben worden, und zwar bei Tinnum in den Jahren 2002 bis 2012 in einigen kleineren Ausschnitten.783 Zu einer Siedlung des 2. bis 5. Jahrhunderts gehören Langhäuser, Speicherbauten, Grubenhäuser und Gruben sowie Gräben, sie gehören zu verschiedenen sieben Siedlungsbereichen mit einschlägigen reichhaltigen Funden. Eine handwerklich ausgerichtete Siedlung folgt im 8. bis 10. Jahrhundert. Ausführlich wird ein seinerzeit abgebranntes Sodenwandhaus der frühen Völkerwanderungszeit beschrieben, ausgegraben 2003.784 Die Kleisoden sind vom dreischiffigen Pfostenhaus über mehr als 10 m gut erhalten, außerdem die Herdstellen, d. h. der Laufhorizont ist vorhanden. Diese Erhaltung hat es ermöglichst, genauer die Aktivitätsbereiche im erhaltenen Hausteil zu bestimmen, Werk- und Arbeitsbereich, Bereiche der Textilherstellung (Funde von Webgewichten), der Speisezubereitung, der Getreideverarbeitung und der Vorratshaltung.785 Die Keramik wird mit den dendrodatierten Brunnenfunden von Hjemsted und anderen Plätze verglichen, die eine Zeitspanne von 150 bis 400 n. Chr. abdecken.786 Im Haus gab es zur Zeit des Brandes immerhin 35 bis 50 Gefäße, Trinkgeschirr, Ess- und Vorratsgefäße. Zur damaligen Zeit waren Sylt, Amrum und Föhr noch keine Inseln.787 Mehrere Siedlungen der frühen Epoche sind bekannt: Auf Sylt sind das Wenningstedt mit vergleichbaren Hausbefunden wie von Archsum mit gepflasterten Wegen im und vor dem Haus, Tinnum und Archsum, auf Amrum Norddorf und auf Föhr Wrixum. Der Platz Tinnum wird verglichen mit den Siedlungen in Jütland Hjemsted und Drengsted sowie Joldelund und weiter im Süden mit Bordesholm. Die Siedlungen auf Föhr sind mit zerstörungsfreien Prospektionsmethoden seit 2006 bis 2009 nachgewiesen worden.788 In Wrixum gelang es, eingezäunte Gehöfte mit Lang- und Grubenhäusern zu erkennen, ebenso bei Nieblum789 und auch bei Witsum, d. h. eine dichte Besiedlung mit Dörfern in geringem Abstand ist nachgewiesen. Einen neuen Siedlungsbefund nenne ich nur deshalb, weil hier einige Details zu bemerken sind. In Silberstedt im Kreis Schleswig-Flensburg wurde 2017 eine Siedlung der vorrömischen Eisenzeit und der Römischen Kaiserzeit angegraben. Ein Gehöft der späten vorrömischen Eisenzeit wurde erfasst. Ein dreischiffiges Langhaus von 20 m Länge und 3,8 m Breite weist einen deutlich mit zusätzlichen Pfosten versehenen
783 Majchczack, Segschneider 2015. 784 Scholz 2015. 785 Scholz 2015, 276 ff. mit Abb. 89 und 90. 786 Scholz 2015, 256 Abb. 73 Graphik. 787 Scholz 2015, 142 f. mit den Karten Abb. 2 und 3, den Fundplätzen und der alten Küstenlinie. 788 Majchczack 2015, 21 Abb. 1 Plan der Insel mit den Fundstätten. 789 Majchczack 2015, 31 Abb. 8, 56 f. Abb. 26.
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2 Haus, Gehöft und Siedlung
Eingang in der Mitte der südlichen Langseite auf; auch Spuren eines Zaunes sind nachgewiesen.790 Der Grundriss wird mit Haustypen von Osterrönfeld und Johannesminde sowie Kosel verglichen (vgl. S. 188).791 Außen um das Gehöft fanden sich vier Kochgruben und einige Abfallgruben. Ein umzäuntes Gehöft von Osterrönfeld, Ldkr. Rendsburg-Eckernförde liegt ausgegraben vor.792 Eine neue Zusammenschau der Siedlungen des 3. und 4. Jahrhunderts mit den sogenannten Osterrönfeld-Häusern bietet P. Kruse 2017.793 Für das südliche und mittlere Jütland sind 48 Siedlungen kartiert mit den Beziehungen zu den Landwehren Æ vold und Olgerdiget und den Heeresausrüstungsopferplätzen von Ejsbøl, Nydam und Thorsberg sowie im Westen mit den Burgen Archsumburg auf Sylt und Trælbanken an der Westküste. Um das Nydam-Moor (vgl. 716) liegen die Siedlungen unmittelbar beieinander, zum Beispiel die Dörfer mit mehreren freigelegten Gehöften von Talhave und Kobberholm.794 Neu ist auch die Siedlung bei Nettelsee, Kr. Plön, wo ein halbes Dorf des 1./2. Jahrhunderts ausgegraben worden ist. Auf 12 000 m2 wurden 400 Befunde, sechs Langhäuser, ein Ofenhaus, sieben Speichergebäude sowie Zäune registriert, mindestens drei verschiedene Gehöfte. Lehmgruben für den Hausbau, Eisenschlacken, verglaste Ofenwandreste, Düsenfragmente von der Eisengewinnung markieren den Handwerkerbereich.795 Schleswig war ein Grenzland im 1. und 2. Jahrhundert, und die Befunde sind mit den Siedlungen in Jütland zu vergleichen,796 was auch noch im 3. und 4. Jahrhundert für das südöstliche Jütland zutrifft.797 Denn besonders umfang- und zahlreich sind die Ausgrabungen von Haus und Hof der Römischen Kaiserzeit in Jütland und im südlichen Ostseegebiet,798 wo Zusammenfassungen auch schon seit längerer Zeit die Siedlungen von 500 v. Chr. bis um 1000 n. Chr. in einer Kontinuität erfasst haben, von der vorrömischen Eisenzeit bis zur Wikingerzeit.799 Es gibt für diesen Raum außerdem Berichte zu Teillandschaften, beispielsweise zur Dorfentwicklung 500 v. bis 100 n. Chr. im westlichen Jütland800 mit Zusammenstellungen der erforschten Siedlun-
790 Köther, Klooß 2018, 56 Farbabb. des Hauses. 791 Auch Ethelberg 2017b, 164 Fig. 8: Häuser vom Typ Osterrönfeld; 2001 (2002) 70 Abb. 15 Übersichtsplan der Siedlung. 792 Lütjens 2010a, 311 Abb. 4 Osterrönfeld. 793 Kruse 2017, 170 Fig. 1. 794 Kruse 2017, 173 Fig. 3 Nydam und die umliegenden Siedlungen, 172 Fig. 2 Talhave, 174 Fig. 5 Kobberholm. 795 E. Müller 2019. 796 Ethelberg 2017b. 797 Kruse 2017. 798 Martens 1998. 799 Ethelberg 2003a. 800 Rindel 1999, 81 Fig. 1; Steuer 2007c, 463 Abb. 71.
2.4 Siedlungen – ein Auswahlkatalog
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gen, bzw. zum Haushalt in Westjütland von 500 v. bis 200 n. Chr.801 Eine Graphik zeigt die Reihung der Haus- und Gehöftgrößen von oben nach unten über die Jahrhunderte hinweg und die Umfang- und Flächenzunahme vom 5. Jahrhundert v. Chr. bis zum 12. Jahrhundert n. Chr. mit bewusster Betonung der Kontinuitäten, wie das schon von St. Hvass802 oder D. K. Mikkelsen mit der Frage nach Einzelhof oder Dorf beschrieben worden ist.803 Schon vor 2010 wurden die umfassenden Geländeforschungen in den Siedlungen von Grøntoft, Vorbasse, Gudme, Sorte Muld, Neble sowie Hodde, Grønberg, Gårslev, Jelling mit den Befunden des 1. bis 2. Jahrhunderts (also nicht nur aus der Wikingerzeit), Overbygård, Priorsløkke, Runegård, Sejflod publiziert, die nachfolgend jeweils kurz von Süd nach Nord beschrieben werden, ergänzt durch die später hinzugekommenen Großgrabungen. Der Teil der Siedlung Vestergård bei Padborg an der dänisch-deutschen Grenze, der ausgegraben worden ist, bestand im 1.und 2. Jahrhundert n. Chr.804 Bisher wurden 18 Hausgrundrisse, einige West-Ost und einige Nord-Süd ausgerichtet, auf einem flachen Hügel freigelegt. Die dreischiffigen Wohn-Stall-Häuser sind hier bis zu 25 m lang bei einer Breite von 5 m, unterschiedlich aufgegliedert in Wohnteil, Stallteil, Eingangsbereich und Wirtschaftsraum, wobei die Anordnung dieser Abschnitte wechseln konnte. Zwei Phasen mit jeweils drei Gehöften mit bis zu 1300 m2 Fläche sind dokumentiert. Im Artikel des RGA aus dem Jahr 2006 zu diesem Platz werden mehrere noch unpublizierte Siedlungen in der Nachbarschaft genannt. Umfangreicher ergraben ist die Siedlung Hjøhøj805 im ehemaligen Herzogtum Schleswig mit zahlreichen dicht beieinander liegenden einzeln eingezäunten Gehöften während der Römischen Kaiserzeit, die das Dorf bildeten, jeweils mit einem Wohn-Stall-Haus und wie auch sonst bei diesen Dörfern mit einem oder zwei Wirtschaftsgebäuden und einem oder zwei Speichern, wobei die Parzellen etwa 500 bis 1000 m2 maßen. Es standen wohl auch kaum mehr als 10 Höfe in den Siedlungen dieser Landschaft jeweils gleichzeitig. Die dreischiffigen Häuser waren bis zu 20 und 25 m lang. P. Ethelberg hat sich ausführlich auch mit den Wirtschaftsgebäuden, den Speichern, Grubenhäusern und Ställen in den beschriebenen Siedlungen dieses Raumes befasst. Dazu werden Parallelbefunde aus verschiedenen Siedlungsgrabungen zusammengestellt.806 Die Sechs-Pfosten der sogenannten Rutenberge807 mit den verschiebbaren Rahmensystemen, die vor Tieren schützten, auch die schmalen Pfosten-
801 Webley 2008. 802 Hvass 1993; 1997. 803 Mikkelsen 1999; auch Riddersporre 1999. 804 Christensen 2006, 295 Abb. 54 Übersichtsplan des Siedlungsplatzes, Ethelberg 2001 (2002) Abb. 11 Übersichtsplan nach Jöns 1993. 805 Ethelberg 2001 (2002), 68 Abb. 13 Übersichtsplan. 806 Ethelberg 2001. 807 W. H. Zimmermann 1989–1991; 1992a.
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2 Haus, Gehöft und Siedlung
reihen an den Zäunen entlang808 als Unterstände für Fahrzeuge oder Gerätschaften finden sich in den meisten Siedlungen, wie in Mølleparken, Ladegård, Johannesminde, Hammelev Nørremark, Karbølling, auch Hjemsted, Østergård, Mørup und schließlich auch in Vorbasse. Die Hausgrundrisse allgemein809 und das OsterrönfeldHaus im Besonderen werden miteinander verglichen (vgl. oben S. 188).810 Bei Rødekrå in Südjütland wurde in den Jahren 2005 und 2006 ein Reihendorf (das diese Siedlung so erscheint, liegt wohl am Ausschnitt der Grabungsfläche) der frühen römischen Kaiserzeit „Klosterbakken B“ ausschnitthaft auf 3400 m2 untersucht,811 in einem Areal, wo es benachbart auch Siedlungen der jüngeren vorrömischen Eisenzeit (Klosterbakken D) und der älteren römischen Kaiserzeit (Klosterbakken C) gegeben hat. Man kann von einer jahrhunderterlangen Kontinuität ausgehen. Am Platz Klosterbakken B wurden vier Gehöfte mit Wohn-Stall-Häusern mit Längen von 15 bis 20,5 m, Nebengebäuden und Zäunen ausgegraben. Die Hofflächen messen etwa 500, 600 und 770 m2. Die Datierung wurde auch über zehn C-14-Messungen gewonnen (B1, also etwa 0–50 n. Chr.). In Hjemsted bei Skærbæk in Südjütland wurden in den Jahren von 1977 bis 1995 rund 10 ha Siedlungsareal freigelegt mit Baustrukturen von der vorrömischen Eisenzeit bis zum frühen Mittelalter und ebenso dazu gehörende Bestattungen.812 Brunnen mit erhaltenen Holzeinbauten erlauben eine genaue Datierung, zum Beispiel für die Jahre von 265 bis 418 n. Chr. Die Siedlung beginnt in der Vorrömischen Eisenzeit mit drei Hausgruppen und einigen Einzelhöfen (500–300 v. Chr.), anschließend gab es nur mehrere Einzelgehöfte (200–0). Es folgt eine Phase des 2./3. Jahrhunderts mit weniger Gehöften und wächst dann bis 450 n. Chr. auf acht Höfe an, wozu etwas abseits gelegene Einzelhöfe kamen. Ob das Ende der Siedlung tatsächlich mit der Abwanderung der Angeln und Jüten nach England zusammenhängt, wie der Ausgräber Per Ethelberg meint, kann man diskutieren. Interessant ist hier die Beobachtung, dass trotz Platzkontinuität keine Bevölkerungskontinuität bestanden zu haben scheint. Die Dorfplanung, die Bauweise der Häuser, die gesamte materielle Kultur und die Grabbeigabensitten wandelten sich. Der Bevölkerungswechsel spiegelt einen Wandel in der politischen und sozialen Ordnung in dieser Landschaft. Das Hjemsted Haus ist, so P. Ethelberg, sicher auf die Jahre 265/320 n. Chr. zu datieren.813 Zu dieser Siedlung, die auch nur teilweise ausgegraben worden ist, fand man Bestattungen, Urnen- und Körpergräber, aufgeteilt auf Familienbestattungsplätze der Stufen B1 und B2 sowie C1 bis C3 und schließlich auch D (vgl. dazu S. 870). Anscheinend korrespondieren die Entwicklungen der 808 W. H. Zimmermann 1992b. 809 Ethelberg 2001 (2002). 810 Ethelberg, Kruse 2013. 811 Lütjens 2008b. 812 Ethelberg 1986; 1990; 1999; 2003a; auch Kossack 1997, 65 Abb. 39. 813 Ethelberg 2017, 26.
2.4 Siedlungen – ein Auswahlkatalog
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Hofanlagen mit den Bestattungsplätzen, von Einzelhöfen der Phasen C1 wuchs die Siedlung auf vier Höfe in C3 (um 320 n. Chr.) und in D auf sechs gleichzeitige Höfe in zwei Reihen und anschließend in der Schlussphase (an diesem Platz) sogar mit acht gleichzeitigen Höfen. In Østergård bei Hyrup in Südjütland hat die Ausgrabung seit 1995 eine Siedlungsfolge vom 1. bis 7. Jahrhundert freigelegt,814 wo weitere Grabungen inzwischen außerdem noch Befunde bis in die Wikingerzeit erbracht haben. Die Siedlungsentwicklung ist mit einem Gesamtplan erschlossen; eine komplexe Gliederung für die Gehöftaufteilungen der Phasen 5 und 6 sind veröffentlicht,815 und anhand einer sogenannten Harris-Matrix816 ist gewissermaßen ein Stammbaum, die Abfolge der Gehöfte veranschaulicht (Abb. 25.1). Im Bereich der Siedlung sind Gräber, darunter auch sogenannte Totenhäuser der Römischen Kaiserzeit (vgl. S. 869), entdeckt worden.817 In der dänischen Sprache wird bei den Fundamenten zu den Totenhäusern von Toft gesprochen, was eine abgegrenzte bebaute Bodenfläche meint, einen Hofplatz beispielsweise, wie er auch in Platznamen vorkommt, so in Grøntoft (vgl. S. 181). Außerdem wurde bei Hørup ein Werkstattplatz der Römischen Kaiserzeit untersucht.818 Das Dorf Drengsted819 bei Døstrup in Nordschleswig bzw. Südwestjütland wurde schon recht früh 1986 im RGA behandelt, damals mit einem Siedlungsausschnitt des 4. und 5. Jahrhunderts, rund 4 ha, aber mit Spuren einer Besiedlung von der frühen vorrömischen Eisenzeit bis zur frühen Völkerwanderungszeit und weiter bis zur Wikingerzeit. In den Jahren 1958 bis 1961 wurde dazu ein Urnengräberfeld ausgegraben und 1959 bis 1973 die Siedlung. Besiedlungsspuren der vorrömischen Eisenzeit und mehr als 224 Schlackengruben der Eisengewinnung von Eisenverhüttungsöfen, die zwischen den Gehöften gefunden wurden, datieren bis 100 n. Chr. Die 50 aufgedeckten, 15 bis 20 m langen Hausgrundrisse liegen in parallelen Reihen, Zaunspuren sind hier nicht erhalten geblieben. Manche Häuser sind gar 30 m lang, die Breite beträgt zwischen 5 m und 5,50 m. Außerdem wurden mehr als 10 Grubenhäuser und rund 10 Brunnen dokumentiert. Die Auswertung der Befunde und Funde 2003 hat die Datierung ins 4. bis 6. Jahrhundert bestätigt und 11 bis 14 Gehöfte herausgearbeitet. Die Eisenproduktion konzentrierte sich an zwei Gehöften. Archäobotanische Untersuchungen wurden durch die verkohlten Pflanzenreste bei den Verhüttungsöfen ermöglicht. Erstmals wurde Roggen als Wintergetreide im 4. Jahrhundert nachgewiesen, verbunden auch mit neuen Drehmühlsteinen. Diese neuen Verfahren beim
814 A. B. Sørensen 1996; 2013. 815 A. B. Sørensen 2007; 2013, 222–223 mit Fig. 6 und 7 Gehöftstrukturen der Phasen 5 und 6. 816 A. B. Sørensen 2013, 220 Fig. 4. 817 A. B. Sørensen 2001; auch 2008; 2017, 188 Fig. 2 Stammbaum der Gehöfte für das Mittelalter. 818 A. B. Sørensen 2000. 819 Voss 1986, 179 Abb. 45 Siedlung des 5. Jahrhunderts; Mikkelsen, Nørbach 2003.
Abb. 25: 1. Die Abfolge der Gehöfte in der Siedlung von Østergård in Südjütland (als eine Art Stammbaum).
258 2 Haus, Gehöft und Siedlung
2.4 Siedlungen – ein Auswahlkatalog
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Abb. 25: 2. Die Abfolge und Lebensdauer der Gehöfte in der Siedlung Norre Snede.
Ackerbau und auch bei der Eisengewinnung seien, so die Autoren, Hinweise auf den Ausbau bzw. der gradweisen Zentralisierung von Macht.820 Im südjütländischen Galsted821 bei Agerskov (oben Abb. 21.2) wurde ein Siedlungsabschnitt der Römischen Kaiserzeit untersucht. Das Dorf des 1. Jahrhunderts n. Chr. ist ähnlich strukturiert wie das unten geschilderte Hodde. Eine oval-kreisförmige Palisade schließt eine Ansammlung von 14 Langhäusern ein, die sich um einen Grabhügel der älteren Bronzezeit gruppieren. Die Häuser grenzen sich innerhalb der umlaufenden Einfriedigung durch eigene Zaunstrecken ab, die gegen diesen äußeren Zaun laufen. In der nächst jüngeren Phase des 2. Jahrhunderts standen sieben einzelne mehr oder weniger rechteckig eingezäunte Höfe der „Bauern und Krieger“, wie der Ausgräber zu den Bewohnern meint, die jetzt deutlich größer sind als die älteren Höfe. Der Bestattungsplatz war mit neuen Urnengräbern und einem Körpergrab dicht daneben angelegt worden. Unmittelbar südlich dieses Dorfes lag das Einzelgehöft der Familie des „Dorfältesten“, so der Ausgräber Per Ethelberg. Noch 100 m weiter südlich lag ein weiteres größeres Einzelgehöft einer „Großbauernfamilie“, ebenfalls
820 Mikkelsen, Nørbach 2003. 821 Andersen 1998 (Fund einer Prunkfibel im Tierstil I); Ethelberg 1995a; 2001 (2002), 59 ff. Abb. 3 Gesamtplan, Abb. 4 oben: Grundriss mit Markierung der Phase des 1. Jahrhundetrts, unten: Rekonstruktion dieser Phase, 62 Abb. 5 oben: Übersichtsplan mit Markierung der Befunde des 2. Jahrhunderts, unten: Rekonstruktion dieser jüngsten Phase; Douglas Price 1995 mit Rekonstruktion des Dorfes; ebenso Steuer 2007c, 469 Abb. 72; auch Bemmann 2008d, 17. Rekonstruktion (2. Jahrhundert) und Blick in ein Haus.
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2 Haus, Gehöft und Siedlung
mit zugehörigem Bestattungsplatz nur mit Urnengräbern, aber immerhin mit einem wertvollen Goldberlock in einem Frauengrab. Wiederum noch einmal 300 m südlich des Dorfes des 2. Jahrhunderts wurde 1980 noch ein eingezäuntes Einzelgehöft mit einem größeren Langhaus freigelegt; und nahebei gab es einen Bereich mit Rennfeueröfen. Erinnert sei an die oben erläuterten Überlegungen zum Problem des Einzelhofes, verbunden mit der Frage, wann ein einzeln gelegener Hof ohne Anbindung an andere umzäunte Gehöfte tatsächlich ein Einzelhof war und nicht nur wegen der größeren Lücken im Besiedlungsbild so wirkt (vgl. oben S. 176). Die von einem Viereckgraben eingefassten Urnen der Familie des „Dorfältesten“ gehen, so der Ausgräber, wohl auf keltische oder römische Vorbilder zurück; andere sprechen von einem Totenhaus. Im zitierten Aufsatz werden weitere Siedlungen in diesem Gebiet vorgestellt, Osterrönfeld, Hjøhøj und Vestergård sowie Johannesminde und Skovsminde, die teils zuvor beschrieben worden sind.822 Vom Dorf Osterrönfeld wurden drei Hofanlagen freigelegt, deren Haupthäuser 14 und 25 m lang waren, wobei das größere wieder als Haus eines Großbauern erklärt wird. Die Siedlung St. Darum bei Ribe ist schon vor längerer Zeit 1985 und wieder 2007 ausgegraben worden, und zwar auf einem Ausschnitt des Gesamtplatzes von etwa einem 1 ha. Sie bestand mindestens von 350 bis 550 n. Chr.823 Die benachbart gelegenen Gehöfte haben rund 50 bis 100 Jahre bei geringer Verlegung und Erneuerung bestanden, ehe sie an anderer Stelle wieder errichtet wurden; es scheint familiäre Beziehungen zwischen den Höfen gegeben zu haben, meint der Ausgräber anhand des Fundstoffs. Sechs bis acht Gehöfte sind mit mehreren Phasen in diesem Ausschnitt anhand der Pfostenstreuungen zu unterscheiden. Die rechteckige Anordnung der Bauten mit dem dreischiffigen Wohn-Stall-Haus waren, wie teilweise erhalten, eingezäunt, während zugehörige Grubenhäuser außerhalb dieser Gehöftreihe lagen und damit eine zweite Linie von Gehöften andeuten. Die Anordnung der Gehöfte in mindestens zwei Reihen ist erkennbar. Schon 1884 wurde ein Schatz in der Nähe gefunden, der aus dreizehn Goldbrakteaten und einem goldenen Schwertscheidenbeschlag mit Tierstil I–Verzierung besteht und um 550 zu datieren ist.824 So könnte ein Gehöft in dieser Siedlung ein Herren- oder Häuptlingshof gewesen sein. Im Süden Jütland ist die große Siedlung Dankirke bei Ribe in den Jahren seit 1965 bis 1970 und nachfolgend weiter untersucht worden.825 Insgesamt erstreckte sich die Siedlung, anhand von Luftbildern erkannt, über rund 4 ha, von denen aber nur seinerzeit 3000 m2 ausgegraben worden sind. Der Ort war von der vorrömischen Eisenzeit bis zum Beginn der Wikingerzeit besiedelt (200 v. Chr. bis ca. 750 n. Chr.). Bis 822 Ethelberg 2001(2002), 64 ff. 823 Søvsø 2010, 6 Fig. 1 Karte der Lage, 10 Fig. 5 Gehöfte. 824 Søvsø 2010, 7 Fig. 2. 825 Bendixen, Lund Hansen, Thorvildsen 1984; Jarl Hansen 1988/89 (1990); Højberg Bjerg 2011, 233– 235, 236 Abb. 3 Plan der ausgegrabenen Hausgrundrisse.
2.4 Siedlungen – ein Auswahlkatalog
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1984 waren sieben Hausgrundrisse bis zu 27 m Länge aus der Römischen Kaiserzeit dokumentiert worden. Zum Fundstoff gehörten anfangs römische Münzen, 38 Denare (republikanisch bis Septimius Severus [191–211] und einem unter Probus [276–282] geprägten Antoninian), Silberbarren sowie Scherben römischer Glasgefäße. Die Auswertung der Münzen erfolgte mit Blick auf die räumliche Verteilung der Stücke erst 2011 (vgl. unten S. 572). Nach der Keramik gehörte dieses Gebiet zum sogenannten Overjersdal-Kreis826 mit Gräberfeldern in Hjemsted, Galsted und Drengsted und den weiteren ebenfalls in der Nähe erforschten Siedlungen. Die Interpretation der wirtschaftlichen Kraft und damit der sozialen Position in dieser und anderer Siedlungen des Gebietes mag man teilen oder aber eher zu einer neutraleren Beschreibung neigen. H. Jarl Hansen hatte 1990/1991 die Grabungen in Dankirke in zwei den voneinander noch getrennten Grabungsabschnitten veröffentlicht.827 In Dankirke Ost (1965–1967 gegraben) stand Haus I, in Dankirke West (1968–1970 gegraben) sind mehrere Häuser dokumentiert. Insgesamt wurden schließlich 227 Denare gefunden. Davon lagen 51 Stück im Areal West zwischen den Häusern bzw. unter oder in den Häusern; es sind republikanische Denare und jüngere Stücke vor allem des 2. Jahrhunderts. Außer Mengen an Keramik fallen die vielen Fibeln und Waffen unter den Funden auf, sodass von einem Zentralort vergleichbar mit Helgö gesprochen wird (vgl. später S. 357). Das haben nun weitere Untersuchungen bestätigt und ergänzt,828 nachdem nun das Fundmaterial neu ausgewertet werden konnte, und zwar 12,5 Tonnen Keramik, 52 Fibeln, 37 römische Denare, 1037 Glasperlen, 1257 Scherben von Glasgefäßen, 9 Pfeil- und 10 Speerspitzen, 47 Messer und noch 13 Münzen des 7. und 8. Jahrhunderts Auch die drei niedergebrannten Hallengebäude werden neu betrachtet. Das Ergebnis ist, dass Dankirke eine Eliteresidenz war mit Kult- und Festaktivitäten über das gesamte erste halbe Jahrtausend. Neue Farbabbildungen der Hallenhäuser erläutern die Befunde, so sind die Häuser Va und Vb in vier Phasen übereinander errichtet worden und decken die Zeit von 200 bis 550 n. Chr. ab, mit den Maßen von 15 auf 6,5 und 22 auf 7,2 m. Somit könnte der Fundort in den Abschnitt über die Zentralorte verschoben werden. „Häuptlings-Gehöfte“ der Over Jersdal Gruppe sind bei Haderslev erforscht worden, und zwar in den Siedlungen Hammelev Nørremark und Stepping Mølle.829 P. Ethelberg nennt schon 1995 im Umfeld eine Reihe weiterer Siedlungen, die schon damals teilweise ausgegraben worden sind, wobei eingezäunte und nicht eingezäunte Dörfer entdeckt wurden, so in Ndr. Ringvej in Tyrstrup, in Galsted (vgl. oben S. 205) und in Ladegårdsvænget. Damals sah es so aus, als ob es auch mehrfach größere Einzelgehöfte gegeben hat, eben die beiden genannten Plätze und weitere 826 Ethelberg 2003b. 827 Jarl Hansen 1988/89; 1990, 207 Fig. 4 und 215 Fig. 7, 235 Fig. 23 Gesamtplan;1991, 17 Fig. 2 Gesamtplan der zwei Siedlungsteile. 828 Søvsø 2018 (2019), 65–82 und Fig. 4, 6–8. 829 Ethelberg 1992–1993 (1995), 111 Fig. 1 Lageplan, 112 Fig. 2 Plan von Hammelev.
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2 Haus, Gehöft und Siedlung
Orte, außerdem die mit einem Graben eingehegte Siedlung bei Favrvrågård. In Hammelev hat aber die Ausgrabung neben dem mehrphasigen Häuptlingshof in einiger Entfernung auch ein kleines Gehöft freigelegt, so dass sich andeutet, auch hier hat es ein Dorf gegeben. Die Siedlung beginnt in der vorrömischen Eisenzeit und endet im Grabungsausschnitt schon in der frühen Römischen Kaiserzeit, ehe dann hier wieder eine Besiedlung während der Wikingerzeit entstanden war. Bemerkenswert ist, dass P. Ethelberg hier zum Vergleich die Siedlung Hvesager in der Nähe von Jelling heranzieht und für den Plan zwei Interpretationen abbildet, eine ältere (1988 und 1991) mit einem Großgehöft und seine eigene (von 1995) gegliedert in drei Höfe, in beiden Fällen gibt es eine doppelte Palisadeneinhegung, was mit Galsted vergleichbar sei. Die Siedlung bei Hvesager (und Bredal) im mittleren Jütland830 hat nämlich eine doppelte Umzäunung oder Palisade um ein Gebiet von 2120 m2, von denen das bebaute Stück 400–460 m2 ausmacht, und eine kleinere Umzäunung mit 1012 m2, bei der das bebaute Areal entsprechend nur 215–270 m2 beträgt. Die Langhäuser messen 18,5 bis 20 m. Insgesamt ist bisher nur eine kurze Besiedlungszeit nachgewiesen. Die Interpretation P. Ethelbergs des Planes von Hammelev sieht zwei Phasen eines quadratischen Gehöfts mit der rechtwinklig zueinander gelegenen Anordnung von Großbauten mit jeweils einem zusätzlichen Langhaus in der Mitte des Hofes, so dass der Eindruck einer Mehrbetriebseinheit entsteht (vgl. oben S. 199). Die Phosphatanalyse der Böden in den dreischiffigen Langhäusern spricht nun für eine unterschiedliche Funktion der Bauten: der südliche Bau war ohne Phosphatwerte wohl das Wohnhaus, der mittleren und der nördliche Bau scheinen danach Ställe gewesen zu sein, die bis zu 45 und 55 Stück Vieh aufgenommen haben werden. Ähnlich sind die Befunde in Stepping Møle zu interpretieren, da es auch an diesem Platz einen Häuptlingshof und ein kleineres Gehöft gab. Hier ging die Besiedlung weiter bis ins 6. und 7. Jahrhundert. Nahebei lag das Gräberfeld mit Körper- und Brandgräbern, darunter Bestattungen mit wertvollen Schmuckbeigaben, silbernen Fibeln und einem goldenen Berlock, datiert in die Phasen B1 und B2, also in die ersten beiden Jahrhunderte n. Chr. Interessant sind die Ergebnisse der zwar noch begrenzten Grabung von Bramfeld bei Haderslev auf der Höhe von Fünen, weil es eine Siedlung zeitlich parallel und nahe zum Waffenopferfund von Ejsbøl (vgl. dazu unten S. 729) ist.831 Untersuchungen fanden 2009 und 2010 statt auf einem Areal von 11 ha mit Siedlungsspuren von der Eisenzeit bis ins Mittelalter, hier wichtig aus den Jahren von 50 v. Chr. bis 530 n. Chr. Es herrschen in der Frühzeit Langhäuser vor von 18 m Länge auf 4,5 m Breite. Während der jüngeren Römischen Kaiserzeit (150 bis 350 n. Chr.) kommen eingezäunte große Gehöfte auf, teils dreiphasig nur leicht gegeneinander verschoben wieder aufgebaut, mit Häusern von 33,5 m Länge und 5,8 m Breite. Nahebei wurden in
830 Kaldal Mikkelsen 1990, 144 Fig. 2. 831 Jensen 2010, 72 Fig. 2 Plan eines Großgehöfts, 78 und 80 mit Fig. 4 und 5 Karten mit den Siedlungen in der Nähe von Ejsbøl, zur Grabung A. B. Matthisen 2010.
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einem flachen Gewässer anscheinend Keramik, Eisengeräte, Perlen und Fragmente von Silberschmuck versenkt, also wohl geopfert, datiert in die Phasen C1-C2, also in die Jahrzehnte von 210 bis 310 n. Chr. Mehrere Siedlungen liegen nur 3 bis 5 km von Opfermoor beim Haderlev Fjord entfernt. Auch ein Goldbrakteat ist in Bramdrup gefunden worden. Zur Zeit dieser Publikation von 1995 entwickelte P. Ethelberg anhand der Einzeichnung von sogenannten Thiessen-Polygonen das Modell zur Aufteilung der Landschaft Mitteljütland in territoriale Herrschaftsgebiete mit einem Durchmesser von etwa rund 40 km832 und der Bewertung der größeren Gehöfte, auch über die wertvollen Grabbeigabe, als „chieftain farms“, als Häuptlingshöfe. Nicht überzeugen kann aber die Annahme, dass diese Häuptlingshöfe außerhalb eines Dorfes im Abstand zur normalen Siedlung gelegen hätten, höchstens vielleicht am Rand wie in Galsted. Der Autor bietet zudem ein Modell zur gesellschaftlichen Struktur während der Römischen Kaiserzeit: Die „Fürstengräber“ mit römischem Import sind die Spitze der Gesellschaft, darunter folgen die Häuptlinge, die Dorfherren und Krieger über den normalen bäuerlichen Familien. Außerdem gibt es noch mehrere Befestigungsanlagen (vgl. unten S. 326.), wie Trælbanken bei Tønder und Skærbæk und Favrvrågård bei Christiansfeld, in denen keine Siedlungsbebauung zu finden war, die O. Harck deshalb als Versammlungsplätze gedeutet hat.833 Einen weiteren Ansaß bietet Jesper Hansen mit der Betrachtung der Veränderung der Landschaftsorganisation in Dänemark, besonders auf der Insel Fünen, von 200 n. Chr. bis ins hohe Mittelalter.834 Die Geschichte der Besiedlung, archäologisch zu erfassen, bietet die Grundlage für die Bildung von Theorien zur gesellschaftlichen Organisation, wozu in diesem Fall der Blick auf die longue durée wesentlich ist. Zusätzlich wurden Ortsnamen, Katasterpläne und Schriftquellen für die Phasen nach der Römischen Kaiserzeit hinzugezogen, was ergeben hat: die entscheidende Wandlung erfolgte im späten 6. Jahrhundert. Ein Histogramm zu Siedlungsgrabungen vom 1. bis 13. Jahrhundert veranschaulicht, dass im 1. und 2. Jahrhundert über 40 Siedlungen erforscht sind, aber von 3. bis 5. Jahrhundert sogar um die 75, während für das 7. bis 9. Jahrhundert nur noch 15 Plätze hinzugekommen sind. Ebenso wird dargestellt, wie sich die Siedlungen auf Fünen entwickelt haben, nämlich von 0 bis 200 und von 200 bis 600 n. Chr. zumeist als „Wandersiedlungen“, während sie danach ortsfest in begrenzten Gemarkungen wurden. Registriert werden sollte, welch dichte Zahl von Siedlungen für die Römische Kaiserzeit ergraben und dokumentiert worden ist;835 und ein weiteres Ergebnis ist, dass die modernen Dörfer ihre Wurzel nicht erst in der
832 Ethelberg 1992–1993 (1995), 131 Fig. 25 Landschaftsgliederung, 132 Fig. 26 Kreisdiagramm zur sozialen Gliederung. 833 Harck 1979. 834 J. Hansen 2019, 321 Fig. 1 Histogramm, auch Graphik 324 Fig. 3. 835 J. Hansen 2019, 326 Fig. 5 Vier Phasen der Siedlungsentwicklung.
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Wikingerzeit haben, sondern mindestens im 6. Jahrhundert entstanden, und das auf noch älteren Strukturen, was eine beachtliche Kontinuität beschreibt. Die Liste der Siedlungen in dieser Landschaft kann beliebig verlängert werden. In Vanggård nahe Kolding ist eine Siedlung der jüngeren römischen Kaiserzeit erschlossen worden.836 Nachgewiesen sind zwei Phasen mit mehreren, wohl acht eingezäunten Gehöften von 600 bis 2000 m2, freigelegt nur als ein Teil der Siedlung, an deren Rand mehrere Eisenverhüttungsöfen standen. In Skovborglund bei Vamdrup südwestlich von Kolding fanden 1998 Grabungen statt, die 11 Langhäuser bis 36 m Länge freigelegt haben.837 Nahe zu den dänischen Marschen zwischen Tondern, Ribe und Esbjerg sind zahlreiche Siedlungen der ersten Jahrhunderte ausgegraben worden, die kartiert sind und auch hier die Dichte der Besiedlung bestätigen.838 Der Komplex Grønnegård oder Østkoven (Ostwald) bei Esbjerg mit Ausgrabungen von 1988 bis 1994 einer Siedlung auf der Fläche von 22 ha weist eine Kontinuität von der Bronzezeit bis ins 13. Jahrhundert auf, wie eine Zeitskala anschaulich bietet; verglichen wird der Platz auch mit der Feddersen Wierde und mit Yeavering in England.839 Die größten Areale mit den meisten Gehöften gehören in die Römische Kaiserzeit und in die Völkerwanderungszeit; eine detailreiche farbige Karte zeigt die überaus lange Kontinuität dieses Dorfes.840 Im Dorf Mytue im Marbækgebiet bei Ejsbjerg sind zwischen den Häusern die zahlreichen steingepflasterten Wege dokumentiert, wie sie auch für Archsum belegt sind.841 Ausgrabungen haben Gräber und Siedlungsspuren bei Højgård an der Ribe Å 1987 freigelegt.842 Nachgewiesen sind Langhäuser der letzten Jahrzehnte vor und nach Chr. in zwei Bauphasen, teils mit leichten Überlagerungen. Dabei gelegene Gräber haben Fibeln und Trinkhorn(beschläge) als Beigaben enthalten. In Andrup bei Esbjerg im mittleren Jütland wurde eine Siedlung auf der Fläche von 8,3 ha bis 2016 ausgegraben, datiert vom Neolithikum bis in die Völkerwanderungszeit (bis 550–750 n. Chr.) über die vorrömische Eisenzeit und die Römische Kaiserzeit hinweg. Erste Ergebnisse wurden 2010 veröffentlicht.843 Bis dahin war eine größere Zahl, etwa acht, eingezäunter Gehöfte in parallelen Reihen freigelegt worden mit rund 54 Langhäusern. Die Palisadenzäune bestanden aus jeweils einer doppelten Pfostenreihe. Die Autorin nennt dazu die parallelen Befunde in den Siedlungen 836 Prangsgaard 1996, 56 Fig. 1 Gesamtplan. 837 Prangsgaard 1999. 838 Stoumann 2000, 118 Fig. 1 Karte. 839 Majdahl, Siemen 2000, 83 mit farbiger Rekonstruktion von vier Gehöften; Stoumann 2000, 121 mit Fig. 3 a und b. 840 Stoumann 2000, 121 Abb. 3 a blau (Römische Kaiserzeit), gelb (Völkerwanderungszeit), auch Abb. 3 b. 841 Stoumann 2000, 122 Fig. 4. 842 Oldenburger 2014, 118 Fig. 2 Siedlungsplan, 120 f. Fig. 3 und 4 Fibeln und Trinkhornbeschläge. 843 Qvistgaard 2010, 103 Fig. 3 Siedlungspslan, 104 Fig. 4 Zäune; Parallelen nach Ethelberg et al. 2003, fig. 176 a und 182, 108 Hinweis auf den kurzen Abstand zu den nächsten Siedlungen.
2.4 Siedlungen – ein Auswahlkatalog
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Mørup und Østergård. Die Gehöfte haben Abmessungen bis zu 50 auf 85 m, also messen 4325 m2. Verbrannte Häuser werden auf 489/490 n. Chr. datiert. Zu beachten ist die Bemerkung, dass weitere Siedlungen im Abstand von nur 1,5 km liegen. Neue Ausgrabungen haben die geöffneten Siedlungsflächen erweitert.844 Nun können 2016 etwa 136 Langhäuser aus 5 Phasen beschrieben werden, auch kleinere Pfostenbauten und Grubenhäuser. Siedlungsphasen des Neolithikums, der älteren Bronzezeit, der älteren und späten vorrömischen Eisenzeit und der Römischen Kaiserzeit bedecken dasselbe Areal und überlagern sich. Doch entstand nach bisheriger Auswertung die größte Konzentration von Gehöftgrundrissen während der späten Eisenzeit, d. h. in der jüngeren Römischen Kaiserzeit und in der Völkerwanderungszeit, mit 86 Häusern in mehreren Phasen und unterschiedlicher Siedlungsstruktur, Nord-Süd ausgerichtete Gehöftanordnungen oder verstreute Einzelgehöfte und eine Ost-West ausgerichtete Ansiedlung. Dieses Dorf wird als Beispiel gesehen für Dörfer in Südwest-Dänemark östlich von Esbjerg. Seit der älteren vorrömischen Eisenzeit herrschen dreischiffige Wohn-Stall-Häuser vor, die bei Erneuerung in der Längsachse verschoben wurden und dadurch überaus lang wirken. Wiederum werden zusätzlich Gehöftpläne einer Siedlung in Rækkelandsby abgebildet, ebenfalls mit dreischiffigen Hallenhäusern auf mehreren eingezäunten Hofarealen. Die Häuser sind 27 bis 30 m lang und haben teils abgerundete Giebelseiten, und die Gehöftgröße liegt bei 1000 m2. Im Übrigen gibt es hier auch zweischiffige Langhäuser mit schiffsförmigem Grundriss, wie sie im frühen Mittelalter üblich werden. Im mittleren Jütland in Askov bei Vejen845 wurde 2004/2005 eine größere Flächengrabung von 6,3 ha durchgeführt. Die ergrabene, aber insgesamt wohl noch größere Siedlung der vorrömischen Eisenzeit und der Römischen Kaiserzeit (1. Jahrhundert v. Chr. bis 2. Jahrhundert n. Chr.) bestand aus 23 Gehöften, die in zwei Reihen nebeneinander im Abstand von 20 m errichtet worden waren. Hier wurden die Hofanlagen bis zu viermal an Ort und Stelle erneuert. Die Größe der Parzellen liegt zwischen 20 bis 24 m Breite und 30 bis 45 m Länge, was 640 bis 1050 m2 bedeutet, und zu jedem Wohn-Stall-Haus von 16 bis 18 m Länge gehörten weitere Wirtschaftsbauten. Auch für diese Siedlungen wurden die Tierknochen erfasst und das Getreide, meist Gerste und seltener Hafer, ausgezählt. Nahebei wurde zudem ein kleines Gräberfeld mit 11 Urnen dokumentiert. Hinzugekommen ist 2016 eine Siedlung in Vejen Vestermark aus der Römischen Kaiserzeit.846 Der Vorteil bei dieser Ausgrabung ergab sich dadurch für die Auswertung, dass sich die Siedlungsphasen nicht überlappten, sondern linear verschoben, was als typische Wandersiedlung (vgl. oben S. 193) bezeichnet wird. Die Bebauung der Hofplätze und die
844 Grundvad, Qvistgaard 2016, 102 Fig. 2 und 104 Fig. 3 jeweils erweiterter Siedlungsplan, 106 Fig. 4 Langhäuser der vorrömischen Eisenzeit, 108 Plan der Siedlung Rækkelandsby. 845 Eisenschmidt 2006, mit 60 Abb. 2 Gesamtplan. 846 Dollar, Krøtel 2016.
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2 Haus, Gehöft und Siedlung
Anordnung der Gehöfte in zwei Reihen sind somit im Ausgrabungsplan gut zu erkennen, d. h. über mehrere Generationen hat sich die Siedlungsgesellschaft gemeinsam organisiert, so dass durchaus von einem Dorf im rechtlichen Sinne gesprochen werden kann. Die gleichartig strukturiert und bebauten Gehöfte spiegeln außerdem noch eine systematisch vermessene Parzellenfolge der gesamten Siedlung. Die Ausgrabungen fanden von 2008 bis 2010 auf 13 ha statt und legten Strukturen vom 1. bis 6. Jahrhundert frei mit 20 000 Befunden und dabei 400 Hausgrundrissen. Der vorgelegte Bericht konzentriert sich auf die Phasen von 0–175/200 n. Chr., also auf 150 bis 200 Jahre. Diese Phase beginnt während der frühen Römischen Kaiserzeit mit 27 Gehöften in zwei Ost-West ausgerichteten Reihen, die etwa 130 m parallel auseinander liegen. Die dreischiffigen Langhäuser zeigen klare Eingänge in der Mitte der Längsseiten und teilen das Haus in jeweils gleiche Hälften, in Wohn- und Stallteil. Sie sind 14 bis 23 m lang und 4,5 bis 5,5 m breit. Zum Hof gehören vier oder fünf kleinere Bauwerke847 und mehrere Vier-Pfosten-Speicher. Vor dem Langhaus befindet sich ein freier Hofplatz. Die Lebensdauer der Gehöfte war verschieden, konnte rund 50 Jahre erreichen; aber oftmals wurden schon an Ort und Stelle Pfostenstellungen erneuert. Die Hofplätze maßen 22 bis 25 m Breite und 40 bis 45 m Länge, was Flächen von 725 m2 bis 1075 m2, im Durchschnitt 885 m2 bis 1015 m2 bedeutet; in der nördlichen Reihe hatte ein Gehöft die Größe von 1700 m2. Warum diese geplante Organisation entstanden ist, bleibt eine offene Frage; eine These geht davon aus, dass gegliederte Feldsysteme der vorrömischen Eisenzeit weiterwirkten. Die Siedlung ist mit den Dörfern von Vorbasse und Nørre Snede848 (vgl. S. 190) zu vergleichen, wo die Entwicklung schließlich in das heutige Dorf mündet. Für Vejen Vestermark ist jedoch die Weiterexistenz in die späte Römische Kaiserzeit noch nicht entdeckt worden. Weitere ähnlich wie Vejen Vestermark in Reihen strukturierter Siedlungen bestanden in Havgård, Sønder Holsted und Øster Havgård, diese Siedlung ist auch unter der Bezeichnung Askov beschrieben und liegt nur 2 km weit entfernt von Vejen Vestermark (vgl. S. 265).849 Die Verf. des Beitrags bringen zudem eine Karte des südlichen Jütland mit allen registrierten Siedlungen und Gräberfeldern der späten vorrömischen Eisenzeit und der frühen römischen Kaiserzeit (bis 200 n. Chr.).850 Die überaus zahlreichen Orte spiegeln die große Dichte der Besiedlung mit Abständen der Dörfer von wenigen Kilometern, oft nur 2 km (dazu allgemein auch S. 374). Die Siedlung Vorbasse, Vejle Amt, ebenfalls im mittleren Jütland – sie wandert in einem großen Kreis – besteht vom 1. Jahrhundert bis ins hohe Mittelalter und wird dann erst ortsfest beim heutigen Dorf dieses Namens (oben Abb. 16).851 In den 847 Webley 2008, 117 zur Deutung dieser Nebengebäude. 848 Holst 2010. 849 Dollar, Krøtel 2016, 126 Fig. 9 Plan der Siedlung Øster Havgård, nach Eisenschmidt 2006. 850 Dollar, Krøtel 2016, 116 Fig. 2 Karte. 851 Hvass 1986 (1987); 2006, mit 597 f, Abb. 113, 114 Plänen; Kossack 1997, 63 Abb. 38; Steuer 1988, 54 f. Abb. 5–6; Brather 2006 (2007) 74 Abb. 10; Steuer 2015a, 352 Abb. 8.
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Jahren 1974 bis 1987 wurden dort 23 ha Fläche freigelegt und das über 1100 Jahre lang bestehende wandernde Dorf erschlossen. Um Chr. Geb. setzten im ausgegrabenen Teil innerhalb eines 700 × 100 m großen Gebietes zeitgleich drei Siedlungen ein, in der Mitte ein Dorf aus mehreren Höfen, westlich ein eingezäuntes Gehöft mit einem Haupthaus und zwei Nebengebäuden, also mit komplexer Gehöftstruktur. Die nächste Verlegung aller drei Siedlungen folgte in der Zeit von 100 bis 200 n. Chr., was sich bis über die Wikingerzeit hinaus fortsetzte. Vorbasse ist, vom Umfang der Ausgrabung her, wohl die größte und komplett ausgegrabene Siedlung dieser gesamten Epochen und ist daher auch immer wieder geschildert und abgebildet worden. Mehrere Siedlungsgruppen bestanden zeitgleich nebeneinander; auf jedem Hof standen ein 25 bis 50 m langes Haus und ein bis zwei kleinere Häuser. Die Gehöfte waren von einem Zaun umgeben, durch den mehrere Zugänge führten, einen schmaleren für Fußgänger und ein 3 bis 4 m breites Tor für Wagen. Das Wegenetz und die Feldfluren blieben über die Jahrhunderte gleich. Um es hier vorweg zu nehmen, römischer Import gelangte auch in die Siedlungen in Jütland. So wurde der erste Fund einer Reibschale, dem typischen römischen Gefäß zur Zubereitung von Breispeisen, in Vorbasse entdeckt.852 Die wandernde Siedlung von 8 ha Größe bei Nørre Snede, ebenfalls Vejle Amt, in Zentral-Jütland, wurde großflächig von 1979 bis 1986 erforscht.853 Sie bestand aus Dutzenden von Gehöften (über 165 dreischiffige Großhäuser und über 130 Kleinhäuser sind dokumentiert), die sich linear von Südosten nach Nordwesten verlagerte (oben Abb. 17).854 Etwa alle 25 Jahre wurden einzelne Gehöfte an neuem Ort errichtet. Die älteste Phase im ausgegrabenen Bereich gehört ins 1.und 2. Jahrhundert n. Chr., die Siedlung existierte dann bis ins 7. oder frühe 8. Jahrhundert mit einer fast gleichbleibenden strengen rechteckigen Parzellenstruktur, ablesbar an den Zaunverläufen. Nicht ein geschlossenes Dorf wurde verschoben, sondern nach neuer detaillierter Analyse aller Funde und Befunde zeigt sich hier, dass der Wandel und die Verlagerungen dynamischer waren, was einem individuellen Schicksal der einzelnen Gehöfte auch entgegenkommt. Nahm man früher an, und das kann an mehreren Plätzen auch weiter akzeptiert werden, dass die gesamte gleichbleibende Dorfstruktur gleichzeitig verlagert wurde, wie es auf den Wurtensiedlungen auch nur möglich war, konnte man jetzt durch verfeinerte Datierungsmethoden nachweisen, dass an anderen Orten die Verlegung der Gehöfte einzeln und unabhängig von den anderen erfolgte. Offen ist dabei aber noch, ob diese Verlagerung in wenigen Jahren oder in Jahrzehnten erfolgt ist. Mit Wandel und Beständigkeit der Grundrisse argumentiert die neue Analyse von 2010.855 In einem Histogramm856 ist die Lebensdauer der Gehöfte in dieser Siedlung
852 Lund Hansen 2014. 853 Hansen 1987; Egeberg Hansen, Holst 2002 mit Gesamtplan der Siedlung 254 Abb. 38. 854 Hvass 1977,406 ff. Fig. 18–21 Phasen der Verlagerung des Dorfes. 855 Holst 2010, 163 Fig. 2 Gesamtplan mit allen Grundrissen. 856 Holst 2010, 165 Fig. 4.
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aufgeführt, in aufsteigener Folge vom Südosten zum Nordwesten, im Zuge der Verlagerung des Dorfes (oben Abb. 25.2). Die Zahl der Gehöfte nimmt vom 2. zum 7. Jahrhundert zu. Bei einer Erneuerung der Häuser alle 25 Jahre bestanden manche Gehöfte rund 150 oder 200 Jahre oder gar noch länger. Wie andernorts auch gab es durchaus Unterschiede zwischen der Größe und damit der wirtschaftlichen Kraft der Gehöfte. In diesem zitierten Aufsatz findet sich ebenfalls zudem eine Karte der ausgegrabenen Siedlungen in Zentraljütland.857 In die späte Phase der vorrömischen Eisenzeit bis um Chr. Geb. gehört die schon länger bekannte, bei Luftaufnahmen 1959 entdeckte, mehrphasige Siedlung Hodde in Westjütland (Phase 1: 2. Jahrhundert v. Chr., Phase 3: um Chr. Geb.) (Abb. 26).858 Sie wurde von 1971 bis 1973 vollständig ausgegraben. Hier ist eine größere Anzahl von dreischiffigen Wohn-Stall-Häusern mit Viehboxen insgesamt von einer Palisade eingehegt, und innerhalb der Ansiedlung sind wiederum einige Hauskomplexe mit einem zusätzlichen Zaun umschlossen. Ein Hofkomplex im Norden besteht aus dem größten Haus der Siedlung, das zudem besonders stark befestigt ist, und einem zugehörigen kleineren Gebäude ohne Stallteil, das ebenfalls extra eingezäunt ist. Aufgrund des engen Tores in dieser Umzäunung, noch unterteilt durch einen starken Pfosten, wird das Haus als Kultgebäude gedeutet, weil Menschen nur einzeln Zutritt zum Gebäude hatten. Die größte Anzahl von Häusern gehört in die Zeit um Chr. Geb. Der besondere Hofkomplex, der zudem über einige Generationen am Ort bestanden hat und mehrfach erneuert wurde, wird als Häuptlingshof betrachtet. Die Schmiedewerkstätten liegen aus Feuerschutzgründen ganz am Rande der Siedlung.859 Sie sind auch bei anderen Siedlungen, wie mehrfach nachgewiesen, regelmäßig an den Rändern der Dörfer eingerichtet worden, was wegen der Brandgefahr naheliegend ist.860 Eine Rekonstruktionszeichnung bietet den Blick auf dieses umwehrte Dorf.861 Das Dorf bestand etwa 150 Jahre, vom 2. Jahrhundert v. Chr. bis um Chr. Geb. Insgesamt sind 86 Gebäude unterschiedlicher Größe nachgewiesen, 50 Häuser von 9,5 bis 22 m Länge sowie 36 kleinere Gebäude. Alle Häuser waren etwa 5 m breit, hatten Lehmaußenwände und zwei Reihen dachtragender Pfosten. Auch sind Wohnteil mit zentraler Feuerstelle und Stallteil mit den Viehboxen am Grundriss zumeist erkennbar gewesen. Das Dorf war mehrphasig; in der Phase 1 des Dorfes aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. standen etwa 17 Höfe mit insgesamt 29 Bauten und in der Phase 2 um Chr. Geb. waren es 27 zeitgleiche Komplexe mit insgesamt 53 Häusern. An Haustieren sind nachgewiesen Schwein, Pferd, Rind und Schaf/Ziege, an Getreide 43% Nacktgerste und Spelzgerste sowie 57 % Zwergweizen (zusammen in einem Getreidefundkomplex geborgen). Der Ausgräber Sten Hvass gliedert die Anwesen in vier soziale bzw. wirt857 Holst 2010, 162 Fig. 1. 858 Hvass 1985; 2000, 25 Abb. 3; Kossack 1997, 48 f. Abb. 27 A-D; Steuer 2007a, 349 Abb. 5. 859 Müller-Wille 1983. 860 Müller-Wille 1983; zu den Schmiedegräbern Henning 2004. 861 Douglas Price 2015, 263 Fig. 7.8.
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2 Abb. 26: 1. Grundriss der Siedlung Hodde in Jütland mit zwei Phasen (Phase 1: 2. Jahrhundert v. Chr. Phase 3 um Chr. Geb.). 2. Der „Herrenhof“.
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schaftliche Schichten: Die 1. Schicht bestand aus einem Hof, der über die gesamte Dauer der Siedlung bestanden hat; es ist der oben erwähnte größte Hofkomplex mit Stellplätzen für bis zu 30 Tieren. Zur 2. Schicht gehörten bis zu vier Höfe mit Stellplatz für rund 20 Tiere; bei der 3. Schicht waren es noch 14 bis 16 Tiere. Zur 4. Schicht zählen mehrere kleine Langhäuser ohne erkennbaren Stallteil. Die anscheinend kurze Existenzdauer dieser Siedlung täuscht nur, denn im unmittelbaren Umfeld sind weitere derartige Siedlungen erkannt worden, die eine Dauer vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis ins 6. Jahrhundert n. Chr. bezeugen, d. h. auch diese Siedlung Hodde ist mehrfach verlegt worden. Da der Ort mit einer Palisade in jeder Phase geschützt war, wird unten im Abschnitt Befestigungen darauf noch einmal zurückzukommen sein (vgl. S. 308 ff.).862 Ein ähnlicher umzäunter Hofkomplex der späten vorrömischen Eisenzeit wurde in Omgård ebenfalls im westlichen Jütland freigelegt.863 Hier wurden zwischen 1974 und 1986 etwa 15 ha von möglichweise 25 ha untersucht. Die Siedlungsformen reichen hier von der späten Bronzezeit bis in die Wikingerzeit. Ein Plan zeigt die Siedlung während der späten vorrömischen Eisenzeit als Einzelhofkomplex mit einem dreischiffigen Langhaus und zwei dreischiffigen Nebengebäuden sowie einem Speicher. Die Palisade weist immerhin fünf schmale Eingänge auf. Ein vergleichbares Anwesen liegt 300 m entfernt, und etwa 1 km Entfernung ist eine weitere gleichzeitige Dorfsiedlung nachgewiesen. Mehrere Siedlungsphasen, die für eine Kontinuität sprechen, gehören in die Römische Kaiserzeit, die Völkerwanderungszeit sowie ins 5. und 6. Jahrhundert sowie auch ins 7. und 8. Jahrhundert, ehe dann Grundrisse der Wikingerzeit belegt sind. Zu den umfassend untersuchten Siedungsarealen gehört auch der Raum um Jelling mit den Königsgräbern und der wikingerzeitlichen Großanlage. Im Umfeld aber sind inzwischen in dichter Lage mehrere Siedlungsareale ausgegraben worden, die eine Kontinuität über mehr als tausend Jahre belegen.864 Die jüngsten Ausgrabungen im Jahr 2016 haben ein Pfostenfeld von mehr als 200 m Durchmesser und auf dem Areal mehr als 40 Hausgrundrisse freigelegt.865 Diese Kontinuität von mehr als 1000 Jahren ist auf einer Kartierung markiert und belegt die außerordentlich dichte Besiedlung dieses Raums: Eine Karte zu den Grabungsflächen mit Hinweisen auf die jeweilig nachgewiesenen Zeitspannen ist veröffentlicht: Es sind die Phasen bzw. Areale 1 (300–700), 2 (200–400), 3 (500–200 v. Chr.), 4 (0–400), 5 (0–200), 6 (Wikingerzeit);
862 Zu Hodde auch Donat 2018, 178 Abb. 44.2 Phase 3b (Gesamtplan), 180 zu den Nebengebäuden, dazu auch 242 Tab. 39. 863 Pedersen 2003, mit 101 Abb. 16 (Plan späte vorrömische Eisenzeit); 102 Abb. 17 (Plan der Siedlung zur Wikingerzeit). 864 Christensen 1999; Andersson, Stocklund, Capelle 2000, 59 Abb. 4 Besiedlung seit der Eisenzeit bis in die Wikingerzeit. 865 Lindholm, Balsgaard Juul 2018, 10 Abb. Gesamtkarte, bei 13 Abb. Pfostenfeld. 1: 12–13 Abb. Kontinuitäten über 1500 Jahre.
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7 (200–550), 8 (200–550), 9 (500–0 v. Chr.), 10 (500–200 v. Chr. und 0–200), 11 (500– 200 v. Chr. und 0–200), 12 (500 v. Chr.-200), 13 (0–200), 14 (Wikingerzeit), 15 (Großgrabhügel und Kirche im Zentrum des Dorfes, Wikingerzeit).866 Die verschiedenen dicht beieinander liegenden Siedlungsareale haben jeweils ihre eigene individuelle Entwicklung erfahren. Diese Befunde sind damit gewissermaßen ein Beispiel dafür, wie es auch in allen anderen Gebieten verlaufen sein wird, in denen immer nur kleinere Teilgebiete archäologisch erforscht werden konnten oder erforscht worden sind. Ein bedeutendes Siedlungsareal mit „Herrenhof“, „princely estate“, „Häuptlingshof“ oder „fürstlichem“ Hof, wie der deutsche Untertitel lautet, wurde in Tjørring bei Hörning, westliches Jütland, freigelegt. Die sich wie üblich verlagernden Gehöfte bilden abgrenzbare Gruppierungen von 500–300 v. Chr. über 350–150 v. Chr. und 150–0 v. Chr. sowie 0–100 n. Chr. – hier hebt sich der Herrenhof heraus – und 100–200 n. Chr. Die Siedlung hat zwischen 500 v. Chr. und 200 n. Chr. bestanden (Abb. 27) und der „fürstliche“ Hof von 200 v. bis 100 n. Chr.867 Dieser „Herrenhof“ nimmt in der Zeit um 100 n. Chr. immerhin über 5000 m2 Fläche ein. Die erkennbaren regelmäßigen Abmessungen der Gesamtanlage sollen römischen Einfluss spiegeln (wie einige Forscher meinen),868 ebenso wie die Beigaben der Gräber dieser Phase. Der römische Einfluss auf die Gestaltung von Gehöften in Germanien, angeregt einerseits durch die Lagergrundrisse und andererseits von germanischen Gehöften am Niederrein und an der Maas im Gebiet der Bataver wie Oss-Westerfeld oder Oss-Schalkskamp (vgl. S. 234), mit rechteckigen Abmessungen bis zu Siedlungen in Jütland wie diese von Tjörring. Auch andere Parallelen zu römischen Vorbildern werden gesehen, so in Sachsen-Anhalt.869 Doch rechteckige Einhegungen von ranghöheren Plätzen gab es schon während der vorrömischen Eisenzeit, beste Beispiele sind die Herrenhöfe der Hallstattzeit oder die Viereckschanzen der Latènezeit. Ob es sich in Tjørring tatsächlich um einen einzelnen Großhof mit den vielen Gebäuden gehandelt hat, mag man bezweifeln; vielmehr wirkt dieser eingezäunte bzw. leicht befestigte Komplex wie ein umhegtes Dorf, wie es zum Beispiel auch Hodde gewesen ist, nur hier besonders exakt geplant. Der Herrensitz ist ein umzäuntes Rechteck von 60 bzw. 65 m zu 79 m Größe, das allein schon 20 Gebäude einschließt, 17 dreischiffige Langhäuser der Maße von 12 bis 23 m Länge und 4 bis 6,60 m Breite sowie
866 Lindholm, Balsgaard Juul 2018, 12 Abb. (Karte). 867 Møller-Jensen 2010, 199 Fig. 2 mit dem zeitlich gegliederten Gesamtplan, 219 Fig. 24 Princely graves etc. Thiessen Polygone; 221 Fig. 25 Karte mit Verteilung der römischen Importe in Dänemark von 0–40 und von 40–70, Wechsel der Schwerpunkte; 2005. 868 Møbjerg, Mannering, Rostholm, Ræder Knudsen (Eds.) 2019, 203 ff. Fig. 1 Karte mit der erforschten Siedlungsverdichtung um Tjørring, 209 Fig. 12 Zeichnerische Rekonstruktion des großen Rechteck-Gehöftes. 869 Hüssen, Weinig, Schwarz 2012.
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Abb. 27: Das Siedlungsareal von Tjørring in Jütland.
3 Grubenhäuser, war also mindestens eine Mehrbetriebseinheit.870 Man vergleicht dieses Gehöft gern mit großflächigen römischen villae rusticae bzw. villae suburbanae (vgl. dazu S. 242), und zwar wegen der verblüffend exakten rechteckigen Anlage, was tatsächlich sonst in Germanien selten vorkommt. Den Rang bezeugen auch hier wieder wie bei der Feddersen Wierde die Beigaben der zeitlich zugehörenden Gräber mit römischen Bronzegefäßen und sogar goldenem Fibel-Schmuck (insgesamt 219 g Gold). Auffällig ist die goldene Fibel aus Grab U vom 1. Jahrhundert n. Chr.871 mit Filigran und Granulation von 7,25 cm Länge und 66 g Gewicht. Zu vergleichen ist sie mit den Goldfibeln aus dem Grab von Profen bei Leipzig, die dort in einer Bronzeurne mit Berlocken und einem Armring aus Gold 420 g gefunden worden sind (vgl. später S. 967).
870 Møller-Jensen 2010, 202 Fig. 5. 871 Winther Olesen 2018; Møbjerg et al. (Eds.) 2019, 207 Fig. 8 und 215 Fig. 15 (goldene Fibel).
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Auch hier gibt es für den überregionalen Vergleich und für die grundsätzliche Aussage zur Besiedlung eine Karte der ausgegrabenen Dörfer in Jütland, die teilweise nur wenige Kilometer auseinanderliegen und damit die bemerkenswerte Besiedlungsdichte dokumentieren.872 Außerdem bietet eine farbige Karte Jütlands mit den über Thiessen-Polygonen gewonnenen Herrschaftsgebieten, die über fürstliche Gräber und Häuptlingssitze gekennzeichnet sind, eine politische Struktur der Landschaft (vgl. dazu S. 809).873 Zugleich werden alle frühen Siedlungen der vorrömischen Eisenzeit (Grøntoft, Nørre Holsted, Galsted, Hodde) zum Vergleich wieder nebeneinander abgebildet.874 Im Ort Vendehøj im Amt Aarhus ist ein ausgedehnter Siedlungskomplex vom Neolithikum bis in die Wikingerzeit ausgegraben. Der freigelegte Teil der Dorfsiedlung bestand von 200 v. Chr. bis 150 n. Chr.875 Eine Gründungsphase mit wenigen Spuren und sechs Nachfolgephasen mit zunehmender und wieder abnehmender Anzahl von eingezäunten Gehöftplätzen zeichnen sich ab, insgesamt 160 Häuser, verteilt auf 52 Gehöfte. Die Siedlung startete mit zwei kleinen Höfen zu Beginn der vorrömischen Eisenzeit zum ersten Dorf, das als ein geordnetes Haufendorf betrachtet werden darf. Nahebei wurden auch zahlreiche Gräber, so 45 aus der älteren Römischen Kaiserzeit untersucht. Zu den Bestattungsgruppen gehörten Urnen-, Brandgruben- und Brandschüttungs- sowie Körpergräber. Das reichste Körpergrab eines Mannes in einer 2,8 auf 2,3 m großen Kammer mit einer Steinabdeckung enthielt 13 Tongefäße und eine Vollbewaffnung aus Schwert, Schild, Speer, Lanze und Sporen sowie einige Geräte und Schmuck. Und unmittelbar benachbart lag die Nachfolgesiedlung der jüngeren Römischen Kaiserzeit, die bis in die Wikingerzeit fortbestand, deren Ausgrabung 2004 begann. Bei Sejflod südlich Aalborg in Nordjütland wurden in den Jahren von 1976 bis 1989 etwa 11 ha einer Wandersiedlung von der vorrömischen Eisenzeit bis in die ersten Jahrhunderte n. Chr., bis zum Ende der Römischen Kaiserzeit, und dazu ein Gräberfeld des 4./5. Jahrhunderts mit mehr als 300 Bestattungen, Körpergräber, freigelegt.876 In den einzelnen Dorfphasen haben jeweils sechs bis acht Höfe gleichzeitig gestanden, für die 35 bis 55 Bewohner geschätzt werden. Die Besonderheit ist auch hier, dass die Langhäuser eingetieft waren, was nur für Nordjütland bisher beobachtet werden konnte. Da die Gräbergruppen bis in das 4. und 5. Jahrhundert reichen, wird es nahebei weitere Siedlungsgebiete gegeben haben. In der Siedlung Postgården bei Aalborg am Limfjord in Nordjütland, 1988 entdeckt und mit Metalldetektoren abgesucht, wurde 1990 die bisher einzige Matrize zur Herstellung von Goldbrakteaten gefunden; doch ist dazu noch kein Brakteat 872 Møller-Jensen 2010, 198 Fig. 1 mit allen Siedlungen in Dänemark. 873 Møller-Jensen 2010, 219 Fig. 24 nach Ethelberg 2003a, Fig. 152; Steuer 2015a, 362 Abb. 12. 874 Møller-Jensen 2010, 200 Fig. 3 Siedlungspläne der vorrömischen Eisenzeit. 875 Ejstrup, Jensen 2000; Jensen 2006, 125 Abb. 25 Gesamtplan und 126 Abb. 26 Phasenpläne. 876 Nielsen 2000; 2005, 126 Fig. 23 Plan der Siedlung.
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entdeckt, der damit geprägt worden ist (zu den Goldbrakteaten S. 1206).877 Besiedelt war der Platz nach den Metallfunden während der älteren und der jüngeren Römischen Kaiserzeit sowie in der Völkerwanderungszeit und weiter bis in die Wikingerzeit. Kleine Grabungen haben die üblichen Lang- und Grubenhäuser freigelegt. Hier am Fjord liegen bei dem – jüngeren, wikingerzeitlichen – großen Gräberfeld von Lindholm Høje zwei Siedlungen, zum einen das eben beschriebene Postgården und außerdem Bejsebakken. In letzterer wurden 1999/2000 ca. 40 Langhäuser und 350 Grubenhäuser untersucht, die aber im erschlossenen Areal zumeist jünger, also in die Völkerwanderungs- und Wikingerzeit gehören. Die Siedlung Vestervig bei Thy in Nordwest-Jütland878 ist aufgrund der geologischen Landschaftsstruktur anders gebaut als die bisher beschriebenen Dörfer auf flachem Gelände. Die Bauweise gleicht derjenigen, die oben für die Siedlung Archsum auf Sylt beschrieben worden ist: Die Wände sind aus Rasen- oder Torfsoden aufgeschichtet, wodurch nach Erneuerung der Häuser in Folge von acht Phasen ein Hügel von 2 m Höhe entstanden ist. Eine Karte von Nordwestjütland mit den vergleichbaren Siedlungshügeln zeigt, dass hier diese andersartige Bauweise der Häuser in der vorrömischen Eisenzeit und Römischen Kaiserzeit üblich war.879 Ausgegraben 1961 bis 1965 wurde einige Häuser der Siedlung Vestervig, die von 100 v. Chr. bis etwa 450 n. Chr. bestanden hat, also über 500 Jahre. Im Grabungsausschnitt standen bis zu sechs Häuser gleichzeitig. Herdplatten aus Ton waren ornamentiert; sie konnten gefunden werden, weil hier die Pflugwirtschaft die alte Oberfläche nicht vernichtet hat. Wie in Archsum führten mit Steinen gepflasterte Wege zu den Türen der einzelnen bis 18 m langen Gebäuden. Herdstellen belegen, dass der Wohnteil im Westen des Hauses lag, der Stallteil im Osten (Phase 5, 100–200 n. Chr.) (vgl. oben S. 252). Ein ähnlicher Siedlungshügel aus der Römischen Kaiserzeit ist bei Nørre Hedegård untersucht worden.880 In diesem Gebiet gibt es somit eine ganze Gruppe ähnlich strukturierter Siedlungen mit der entsprechenden Hausbauweise auf Hügeln, vergleichbar den Wurten in der Marsch, aber auf festem, überschwemmungsfreien Land gelegen. Ein weiteres Dorf mit vergleichbaren Befunden lag bei Myrtue im Marbækgebiet bei Esbjerg, in dem die steingepflasterten Wege der Zeit um Chr. ebenfalls gut dokumentiert sind (vgl. S. 389).881 In Brøndlund bei Sdr.Ysby nahe Ginderup im südlichen Teil von Thy, NordwestJütland, auf der anderen Seite des Limfjords wurde eine Siedlung 2001 und 2005 teilweise ausgegraben. Ein Haus war abgebrannt, und die dabei verbrannten Tiere wurden darin gefunden, drei Kühe, zwei Pferde und ein Schaf. Das Haus misst nur 877 Axboe 2003. 878 Kaul 1999; 2006; Ethelberg 2001(2002), 67 ff. mit Abb. 11. 879 Kaul 2006, 297 Abb. 56; Abb. 57 mit den Grundrissen der breiten Sodenwände, 300 Abb. 58. 880 Runge 2009; Kaul 2006. 881 Stouman 2000, 122 Abb. 4.
2.4 Siedlungen – ein Auswahlkatalog
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14,5 auf 5 m und hat einen gepflasterten Hauseingang. Andere abgebrannte Häuser wurden nicht ausgegraben, etwa in Ginderup, Østerbølle sowie Nørre Fjand, und es gibt weitere Beispiele.882 Die andere Bauweise, nämlich Langhäuser 0,5 bis 1 m oder gar 2 m in die Erde einzutiefen, wurde in Overbygård nördlich des Limfjordes in Nordjütland entdeckt.883 Dies war eine spezielle Bauweise in der östlichen Limfjordregion. Grabungen fanden von 1973 bis 1981 statt. Die Siedlung bestand von der jüngeren vorrömischen Eisenzeit bis in die ältere Römische Kaiserzeit und ging dann bei einer Brandkatastrophe unter (vgl. S. 255). Doch sind in einer Entfernung von 500 m weitere Langhäuser des 5./6. Jahrhunderts gefunden worden. Zehn Höfe in zwei oder drei Bauphasen wurden freigelegt. Die Häuser waren 16 bis 18 m, später 20 bis 22 m lang und 5 bis 5,5 m breit, und die Ställe boten 10 bis 12, dann später 12 bis 16 Tieren Platz. Am Rande der Siedlung waren drei Keller aus Holz errichtet, in denen Einrichtungen und Sachgüter erhalten geblieben sind. In einem standen 60 Tongefäße, nahe dem Eingang lagen zwei einschneidige Schwerter noch in der hölzernen Scheide, die wohl einst am Türpfosten aufgehängt waren. Die vielen Getreidereste lassen die Wirtschaft rekonstruieren. Man berechnet – man vergleiche dazu die Angaben zur Feddersen Wierde – 60 ha Ackerland und 600 ha Weideland (vgl. oben S. 199). Der Befund wird 2002 mit Gehöften in Ginderup und Hodde verglichen, und ein leicht durch den Zaun gesicherter herrschaftlicher Hof wird vermutet. Es ist kaum noch möglich, die fortlaufende Zunahme an recht umfassend ausgegrabenen Siedlungen mit umfangreichen Plänen vollständig aufzuführen. Allein der Blick in die kleine Zeitschrift „Arkæologi i Slesvig / Archäologie in Schleswig“ vom Jahrgang 1, 1991 bis 12, 2008 und Sonderband 2011 (und dann natürlich weiter bis in die Gegenwart) bietet eine Fülle neuer Befunde nur in Jütland. Weitere Beispiele sind Syvsig bei Vojens884 oder Enkeltgården südlich von Kalvsund Kirke885 und in einer weiteren Siedlung vermutet man einen lokalen Kultplatz, an dem Perlen geopfert worden sind.886 Syvsig ist eine Siedlung der jüngeren Römischen Kaiserzeit, die nur in einem schmalen Streifen auf immerhin 11 000 m2 in den Jahren 1980 und 2011 ergraben worden ist. Dabei wurden 28 dreischiffige Langhäuser und 27 Grubenhäuser erfasst, die sich vom 4./5. Jahrhundert bis in die Wikingerzeit abgelöst haben. Enkeltgården ist ebenfalls eine vielphasige Siedlung, die auf einem Ausschnitt von rund 6000 m2 mit mehreren Großgehöften in West-Ost oder auch Nord-Süd ausgerichteten Wohn-Stall-Häusern eine Kontinuität von zehn Phasen vom 6. Jahrhundert bis in die Wikingerzeit aufweist.
882 Haack Olsen 2007, Heft 5 Abb. 883 Lund 2003. 884 Eisenschmidt 2013, 151 Abb. 3 Plan. 885 Søvsø 2013. 886 Leen Jensen 2011.
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Blickt man auf die dänischen Inseln, so kann man weitere Befunde der Siedlungsarchäologie aneinanderreihen. Der jüngst ausführlich untersuchte HerrenhofKomplex Hoby auf der Insel Lolland wird später im Rahmen der Vorstellung der Herrensitze näher beschrieben werden (S. 344).887 Nur in Kürze nenne ich hier einige Ergebnisse der neuen Grabungen.888 Die Auswertung der Grabungskampagnen von 2010 bis 2015 hat über 50 z. T. mehrphasige Häuserbefunde, zwei Langhäuser, ein Haus mit großräumiger Umzäunung als einen Versammlungsort beschreiben können. Der Zaun ist wohl älter als die beiden großen Gebäude an dem Platz; ein Wegesystem ist planvoll angelegt, Abfallbereiche sind abseits angelegt worden. Besonders auffällig ist ein kreisrunder Befund von 25 m Durchmesser, in dessen einer Hälfte zahlreiche größere Kochgruben erkannt werden konnten, außerdem fand man darin zahlreiche verbrannte Knochenfragmente. Inzwischen ist eine zweite große Grube dieser Struktur freigelegt worden. Die in der Siedlung gefundenen Tierknochen gehören zu Rind (30%), Schaf/Ziege (37%), Schwein (13%), Pferd (3%) und zu Wildtieren mit weniger als 0,4%. Schaf und Ziege sowie Schwein dienten dem Fleischverzehr, die Rinder als Zugtiere wurden spät geschlachtet. Die Inselwirtschaft stützte sich vor allem auf Schafe bzw. Ziegen. Auf Fünen sind – außer dem Zentralort Gudme (vgl. S. 342) – auch normale landwirtschaftlich ausgerichtete Siedlungen archäologisch erforscht worden, beispielsweise nahe beim Fundort des bekannten Kessels von Rynkeby (vgl. S. 91),889 die zudem eine lange Kontinuität aufweist, bestätigt durch C-14-Datierungen. Die Siedlungen auf Seeland sind von L. Boye listenmäßig zusammengestellt worden.890 Es zeigt auch die Situation der Forschung hier, wie rasch die Zahl der Siedlungsgrabungen zunimmt. Im Tagungsband von 2011 sind gleich mehrere Dorfpläne mit Gehöften, Langhäusern und weiteren Nebengebäuden abgebildet, davon ausgewählt: In Glostrup Gehöftspuren von 1./2. bis 6./8. Jahrhundert;891 in Hvissinge Vest nach Grabung 2000/2001 auf 45 000 m2 zahlreiche Gehöfte und Brunnen (vgl. auch unten S. 277), die dendrochronologische Daten geliefert haben für das 3. bis 6. Jahrhundert; in Herstedlund Häuser aus der vorrömischen Eisenzeit; in Østervang bei Ejby eine Siedlung mit Werkstattarealen und 50 Häusern, anscheinend nur zwei gleichzeitig stehende Gehöfte, die aber mit zehn bis fünfzehn Bauphasen, datiert von Chr. Geb. bis 5. Jahrhundert; Næstved Gebiet mit einigen Siedlungsausschnitten der 887 Klingenberg 2011; Blanckenfeldt, Klingenberg 2011; Blanckenfeldt 2016a; Odin, Thor und Freyja 2017, 41 ff; Klingenberg, Blankenfeldt, Høhling Søsted, Nielsen, Jensen 2017, 126 Fig. 5 Ausgrabungsgesamtplan. 888 Blankenfeldt, Pleuger 2017 (2018). 889 J. Hansen 2011; auch 2019. 890 Boye 2011a; 2017, 183 Fig. 6 Detailplan der Siedlung von Hvissinge. 891 Glostrup: Pallesen 2011, 243 Fig. 3; Hvissinge Vest: Ohlsen 2011, 245 Fig. 1; Reedtz Sparrevohn 2011, 247 Fig. 2; Tornbjerg 2011, 252 Fig. 2; Næstved: Borby Hansen 2011, 273 Fig. 6 bis 8; Toftegård bei Stevns: Tornbjerg 2011, 275 Fig. 2 (Goldblechfigürchen); Tystrup: J. Christensen 2011b, 278 Fig. 1 Plan mit Tystrup I–III.
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Zeit von 200 bis 500 n. Chr.; Toftegård bei Stevns mit einer 10 ha großen Besiedlung, in der u. a. acht Goldblechfigürchen gefunden wurden; Tystrup mit drei freigelegten Siedlungsausschnitten der Zeit von 200 bis 500 n. Chr. (vgl. auch unten S. 277). Mächtige dreischiffige Langhäuser haben in der Siedlung von Brønsager auf Seeland und auf der anderen Seite in der Siedlung von Böljenamose in Schonen gestanden; sie sind über 32 m lang und weisen in den westlichen Teilen Doppelpfosten in den Außenwänden auf. Datiert werden sie in die Römische Kaiserzeit.892 Im Kern geht es der Autorin Lida Boye jedoch um die Einzäunung der Gehöfte als Grenze mit ihrer sozialen Funktion und als Statussymbol. Ebenso zahlreich sind die parallel dazu entdeckten und teils untersuchten Bestattungsplätze. Ich erwähne hier nur die Toreby Gräber von Lolland-Falster mit dem Fund eines goldenen Berlocks und üppigem römischen Import.893 Diskutiert wird, ob es hier Einzelhöfe gegeben hat.894 Diese Diskussion wird auch für ganz Dänemark geführt. Die Existenz von Einzelhöfen ist nur dann überzeugend gesichert – ich wiederhole das –, wenn tatsächlich auch das Umfeld großflächig freigelegt worden ist und dort keine weiteren Siedlungsteile gefunden werden; zu leicht wird ein Einzelhof postuliert, wenn von der lockeren Streuung von Gehöften eines Dorfes nur der Grundriss eines Hofs ausgegraben worden ist: Einzelgehöft oder Dorf lautet daher das Gegensatzpaar, das D. K. Mikkelsen895 schon 1999 ausführlich analysiert hat. Er hat neben der Karte zu den Siedlungen in Dänemark auch die Gehöftentwicklung vom 5. Jahrhundert v. Chr. bis zum 10. Jahrhundert n. Chr. aufgezeigt. In Tystrup auf Seeland ist eine Siedlung der ersten Jahrhunderte n. Chr. auf dem Areal von 83 000 m2, die von 1995 bis 2008 untersucht worden ist, wobei 77 verschieden große Häuser freigelegt worden sind. Von den Langhäusern waren 32 zweischiffig, 19 vierschiffig und ein Haus sogar sechsschiffig (sofern der Grundriss korrekt gedeutet worden ist); insgesamt eine typische Wandersiedlung, datiert in die Zeit von 250 bis 400 n. Chr.896 Gehöfte von 2200 bis 2600 m2 Fläche sind anhand von Zaunspuren abgrenzbar; acht bis zehn Gehöfte standen gleichzeitig. Öfen der Eisengewinnung gab es westlich des Dorfes. Die Siedlung Hvissinge Vest westlich von Kopenhagen897 existierte im erschlossenen Bereich vom 4. bis zum 8. Jahrhundert. Ausgegraben in den Jahren 2000/2001 wurden etwa 4,5 ha von insgesamt 7 ha prospektierter Siedlungsfläche und darauf 11 eingezäunte Gehöfte aus drei Bauphasen registriert. Auf jedem Hof gab es einen Brunnen, der immer an derselben Stelle der Parzelle blieb. Von den schließlich insgesamt 30 Brunnen stand in acht Brunnen noch jeweils eine Leiter, dendrochronolo892 Boye 2017, 180 Fig. 2. 893 Gyldenkærne 2011, 281 Fig. 2 und 4. 894 Jensen 2011. 895 Mikkelsen 1999, 179 Fig. 1 und 190 f. Fig. 10 und 11. 896 Christensen 2011. 897 Boye 2015, 213 Fig. 2 Gesamtplan und Rekonstruktion einer Phase.
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gisch datiert ins 4./5. Jahrhundert; außerdem wurden in drei Brunnen auch Wagenteile gefunden. Der Bewuchs in der Umgebung wurde durch Pollenanalyse rekonstruiert. Die Landschaft war offen, es gab nur wenige Bäume, und auf den Feldern wurden Gerste, Roggen, Hanf und Flachs/Lein angebaut. Die oval verlaufenden Pfostenreihen der Zäune umschließen in einer Phase fünf Gehöfte mit Langhaus und Nebengebäuden, die in Abständen zu einander positioniert wie ein Haufendorf wirken, also eine ganz andere Situation als bei den geschilderten Dörfern mit gereihten rechteckigen Parzellen, die unmittelbar nebeneinander lagen. Im östlichen Seeland wurden wohl tatsächlich Einzelgehöfte entdeckt (sofern in der Nachbarschaft also keine Siedlungsreste mehr gefunden werden konnten), bei Høje Tåstrup, in Ragnesminde bei Sruvehøj, nahe bei den Fürstengräbern von Engbjerg Grab 8, von Torstorp Vesterby mit Grab 3368 der Phase C 3 (also 4. Jahrhundert).898 Die Perlen aus diesen Gräbern markieren in der späten Römischen Kaiserzeit Fernbeziehungen zwischen Dänemark und dem Gebiet am Schwarzen Meer. Die speziellen Hausformen, nämlich der Typ des sogenannten Bellingegård Haus,899 wird beschrieben und diskutiert. Es werden Beziehungen zwischen den Hausformen und den fürstlichen Bestattungen erkennbar. Auf Bornholm sind mehrere Siedlungen der hier erläuterten Epoche prospektiert und auch ausgegraben worden. Die Dichte der Besiedlung spiegelt das Kartenbild.900 Dazu gehört Sandegård im Kirchspiel Åker.901 Bekannt seit 1869 wurden mit Metallsonden um 1986 zahlreiche Metallobjekte geborgen, aus der Römischen Kaiserzeit sowie der Völkerwanderungszeit und weiter aus der Vendel- und Wikingerzeit. Die Funde sprechen für einen küstennahen Handels- und Handwerkerplatz aus mindestens zwei benachbarten Hofkomplexen. Außer beispielsweise römischen Denaren wurden Goldreste, Halbfabrikate und Hinweise auf Eisenverarbeitung registriert. Zum Schatzfund von 1869 gehören vier Solidi, Hackgold und Teile eines Goldbrakteaten, der mit mehr als 10,7 cm Durchmesser der zweitgrößte aller bisher bekannten Goldbrakteaten ist (vgl. unten S. 552). Eine umfangreiche Siedlung ist wegen ihrer mächtigen schwarzen Kulturschicht mit Siedlungen wie dem Zentralort Sorte Muld902 (vgl. S. 362) zu vergleichen. Es wurden Hausbefunde seit der älteren Römischen Kaiserzeit, mit zunehmender Zahl in der jüngeren Römischen Kaiserzeit sowie in der Völkerwanderungszeit erschlossen, und ihre größte Ausdehnung hatte die Siedlung dann erst während der Vendel- und nachfolgenden Wikingerzeit.
898 Boye, Lund Hansen 2013; Boye 2017, 182 Fig. 4 Rekonstruktion des Gehöftes von Ragnesminde mit Umzäunung. 899 Kølle Hansen 2011. 900 C. J. Becker 1978; Watt 2003c Karte. 901 Axboe 2004b. 902 Watt 2005.
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In Runegård/Grødbygård auf Bornholm wurde auf 10 ha eine kontinuierliche Besiedlung, darunter auch die der vorrömischen Eisenzeit und der Römischen Kaiserzeit registriert. Rund 40 dreischiffige Langhäuser überlagerten sich; einige waren abgebrannt und datieren in die Römische wie in die Wikingerzeit, was wiederum eine lange Kontinuität bezeugt.903 Der Überblick zeigt, dass in diesen Landschaften die Siedlungen der ersten Jahrhunderte n. Chr. durchweg aus einer größeren Zahl von Gehöften bestanden haben. Eine These, dass die Siedlungen in der Regel Einzelgehöfte oder Ansammlung einiger weniger Gehöfte gewesen sind, in denen kaum mehr als drei oder vier Familienverbände gelebt haben dürften, und dass es größere Anwesen mit der Ansammlung einer zweistelligen Gehöftzahl wie in Vorbasse im 3. Jahrhundert kaum gegeben habe, berücksichtigt nicht intensiv genug die neuen Ausgrabungsbefunde.904
2.4.7 Schweden und Norwegen Das Siedlungsbild zur vorrömischen Eisenzeit im südlichen Skandinavien beschreibt Jes Martens.905 Die Häuser haben in der Regel als Fundament breite Steinmauern, so auf Gotland und in Rogaland. Die Siedlung Vallhagar auf Gotland wurde schon früh ausgegraben (vgl. oben S. 210). In Rogaland ist die Siedlung Forsandmoen mit großem Gesamtplan der späten vorrömischen Eisenzeit und der frühen Römischen Kaiserzeit abgebildet. Zu diesen frühen Dörfern gehören die Siedlungen von Grøntoft in Dänemark (vgl. S. 181), Fosie IV in Schonen, mit Gesamtplan Sarup auf Fünen und schließlich ebenso Hovde, Trøndelag, Norwegen mit einem eingezäunten Gehöft und dreischiffigen Wohn-Stall-Häusern der späten vorrömische Eisenzeit. In Schweden ist das Siedlungswesen der ersten Jahrhunderte nach Chr. teilweise schon lange ein Thema gewesen. Eisenzeitliche Langhäuser mit erweiterten Vorratsräumen im östlichen Gebäudeteil und dreischiffige Wohn-Stall-Häuser mit Stein- und Pfostenaußenwänden waren üblich, auch eingezäunte Gehöfte.906 Ein großes Projekt war die Erforschung des Siedlungskomplexes von Gårdlösa auf einer Anhöhe im südöstlichen Schonen von 1963 bis 1976, über den Berta Stjernquist mehrere Monographien vorgelegt hat.907 Die Besiedlung reichte von der Zeit kurz vor Chr. Geb. bis in die Wikingerzeit. Steinpflaster und Schiffssetzungen eines Gräberfeldes, eine Opferstätte und drei Quellen „begleiteten“ die Siedlungsspuren mit zahlreichen Langhäusern und Grubenhäuser. 903 Watt 2003b, mit 496 Abb. 58 Plan der sich überlagernden Häuser. 904 v. Carnap-Bornheim 2019, 104 mit Abb. 2. 905 Martens 2010b, 235 Fig. 7 Forsandmoen; Rindel 2001a, Fig. 2 Grøntoft; Martens 2010b, 234 Fig. 6 Fosie IV, 236 Fig. 8 Sarup auf Fünen und 244 Fig. 16 Hovde, Trøndelag. 906 Carlien, in Løken u. a. 2005, 297 Abb. 54. 907 Stjernquist 1998.
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Schon früher wurden in Schonen Siedlungen der ersten Jahrhunderte n. Chr. ausgegraben, so beispielsweise in Fosie bei Malmö908 von 1979 bis 1983, etwa 60 ha, auf denen rund 130 vollständige und fragmentarische Hausgrundrisse sowie 25 Grubenhäuser gefunden wurden, die sich auf sechs Areale verteilen und in Epochen seit dem Neolithikum über die Bronzezeit bis in die Eisenzeit zu datieren sind. Aus dieser jüngeren Phase sind immerhin 60 Grundrisse von dreischiffigen Langhäusern registriert, deren Maße 15 bis 30 m in der Länge und 5 bis 6 m in der Breite betrugen. Hinzukommen wie üblich die Grubenhäuser als Wirtschaftsgebäude und Brunnenanlagen. Die große Bedeutung dieser Grabungen in Fosie liegt darin, dass bis 1979 in der Forschung noch kein einziges Langhaus im Raum Malmö bekannt war und dass nun bis 1990 „schlagartig“ rund 200 Parallelbefunde hinzugefügt werden konnten. Auffällig ist auch hier die Dichte der Besiedlung, und beachtenswert ist die Siedlungskontinuität über die gesamte Eisenzeit hinweg, mit besonderer Intensität während der Römischen Kaiserzeit. Nahe der südwestlichen Küste Schwedens ist die Siedlung Slöinge in der Provinz Halland 1992 bis 1996 erforscht worden.909 Der mehrere Hektar große Platz ist von besonderer Bedeutung, weil hier in klarem Fundzusammenhang mehrere Goldblechfigürchen (dazu unten S. 1215) entdeckt worden sind. Der Siedlungsplatz besteht aus mindestens zehn Teilarealen im Abstand von 2 bis 3 km. Im Teilbereich A sind drei schiffsförmige Hallen ausgegraben worden, wobei Halle II ca. 30 m lang und 8,5 m breit war. Das Füllmaterial der Pfostenlöcher der Hallen II und III enthielt die Depots mit den Goldblechfigürchen. In einem Pfostenloch in Halle III (dendrodatiert 710 n. Chr.) lagen sogar über 50 dieser Figürchen; in Halle II wurden drei Figürchen gefunden, aus den Siedlungskomplexen insgesamt mehr als 60 Exemplare. Durch die Fundposition in den Häusern bieten sie jeweils Hinweise auf kultische Handlungen im Haus in der Nähe des Hochsitzes des „Hausherrn“. Der Platz war von der späten Römischen Kaiserzeit über die Völkerwanderungszeit bis um 1000 n. Chr. in Nutzung, wiederum der Beleg für eine erstaunlich lange Kontinuität. Über die Veränderungen in den Siedlungen der Elite von Östergötland, Schweden, wird berichtet (vgl. auch unten S. 283).910 Die Erforschung der Siedlungsplätze in Schweden und Norwegen muss andere Bautraditionen berücksichtigen, bei denen die Verwendung von Steinen als Fundament eine vorherrschende Rolle gespielt hat. In Norwegen ist auf die Funktion der Schiffshäuser hinzuweisen, so als Beispiel auf das Haus in Stend i Fana bei Bergen, Hordaland,911 untersucht in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren und datiert in die Römische Kaiserzeit und Völkerwanderungszeit. Das Haus hat eine innere Länge von 35 m und eine lichte Eingangsweise von 5 m; die Wände aus Holz auf 908 Baudou 1995, 358 Abb. 52 Rekonstruktion des Hauses 72 aus der Eisenzeit. 909 Callmer 2005. 910 Rundkvist 2011. 911 Grimm 2005, mit 595 Abb. 112 Grundriss des Schiffshauses; 2004b.
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dem Steinfundament waren teilweise noch 0,5 m hoch erhalten. Mehr als 50 weitere derartige Schiffshäuser sind in Norwegen registriert (vgl. dazu unten S. 351 im Abschnitt zu Hallengebäuden). Eine Siedlung von Askim Church in Østfold aus dem 3.bis 1. Jahrhundert v. Chr. hat mehrere sich überlagernde dreischiffige Langhäuser erbracht, die mindestens zwei Phasen, die der vorrömischen Eisenzeit zuzuordnen sind.912 Die dörflichen Siedlungen sind in Norwegen meist als kreisförmige Anlagen, als ausgeprägte Rundsiedlungen organisiert, so in Rogaland in Klauhaugane mit 21 Häusern, Leksaren mit ca. 15 Häusern sowie Øygarden nit 14 Häusern. Die Wände der Häuser sind aus breiten Sodenmauern errichtet, in den Häusern sind Pfostenlöcher und Herdstellen nachgewiesen. Außerdem findet sich die kreisförmige Anlage meist in der Nähe eines großen Grabhügels und mit Hinweisen später auf ein Königtum im 8. Jahrhundert.913 Die zahlreichen Schiffshäuser des 3. Jahrhunderts dienten zur Unterbringung der Fahrzeuge während des Winters.914 Siedlungen mit dreischiffigen Wohn-Stall-Häusern wie auf dem Kontinent gibt es ebenso jedoch auch in Norwegen. Das Beispiel Forsandmoen in Rogaland, 40 km südlich von Stavanger nahe an einem Fjord gelegen, möge genügen.915 Aus Rogaland waren 1987 immerhin 400 eisenzeitliche Gehöfte bzw. Siedlungen bekannt. Die Ausgrabung dieser Siedlung begann 1980 und wurde damals bis 1984 fortgeführt, die erst Teile der Siedlung erschlossen mit immerhin über 20 bis 27 und 40 m langen dreischiffigen Wohn-Stall-Häusern. Sie sind in die vorrömische Eisenzeit und in die Römische Kaiserzeit bis 350 und 550 n. Chr. datiert, die Grundrisse überlagern sich, so dass eine Erneuerung der Gehöfte erkennbar ist. Da hier Keramikfunde selten sind, musste über die C-14-Methode mit über 25 Messungen die chronologische Stellung erschlossen werden. Auch hier wurde die Phosphatmethode eingesetzt, um die Größe der gesamten Siedlung von über 7 ha beschreiben zu können. Eine Übersicht bietet dazu das RGA.916 Das Dorf hatte in der älteren vorrömischen Eisenzeit drei Gehöfte, die im Abstand von 30 bis 40 m beieinander standen, und zwei bis vier weitere im Abstand von 300 bis 500 m; in der älteren Römischen Kaiserzeit wuchs die Siedlung weilerartig zu fünf Gehöften an und ebenso vielen Einzelhöfen in der Umgebung, sowie nahebei einem Häuptlingshof. Im 4. Jahrhundert wurde daraus ein großes Dorf mit 12 bis 14 Gehöften. In diesem Zusammenhang nenne ich wieder die ringförmigen Anlagen mit 4 bis 17 Gebäuden, von Spangereid, Agder, bis Værum, Tröndelag, und mit einem Schwerpunkt in Rogaland, wo 15 Anlagen bekannt sind. In Hovde, Trøndelag, gab es einen eingezäunten Hof mit einem dreischiffigen Wohnhaus und einem Wohn-Stall-Haus in der späten vorrömischen Eisenzeit. Außerdem lebte bzw. nutzte die Bevölkerung der westlichen Küste und in den Fjorde Norwegens Höhlen 912 Herschend 2017, 27 Fig. 2 mit Literatur zu den Häusern. 913 F. Iversen 2018; M. A. Østmo, Bauer 2018b, 111 und 119: Langhäuser des 4. / 5. Jahrhunderts. 914 Auch v. Carnap-Bornheim 2019, 102. 915 Løken 1987, 158 Fig. 3 und 160 Fig. 4. 916 Løken, in: Løken u. a. 2005, 283 f. Abb. 44 (Forsand, Rogaland).
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2 Haus, Gehöft und Siedlung
und Felsüberhänge während der Römischen Kaiserzeit und der Völkerwanderungszeit, was die überraschend wertvollen Funde auch aus Metall belegen.917 Darunter sind Haushaltsgeräte bis zu Webschwertern und Schmuck sowie Waffen. Waren es tatsächlich Plätze für häusliche Aktivitäten und Metallverarbeitung oder Opfergaben; auch Bestattungen kommen vor. In der Regel werden die Höhlen zu Gehöften im Vorfeld gehört haben. Der Siedlungsplatz Högom, Medelpad, Schweden, ist vor allem durch die großen Grabhügel bekannt, die oftmals über Hausgrundrissen angelegt worden sind. Siebzehn Grabhügel, davon vier mit Durchmesser von über 40 m, bilden eine Reihe. Ausgrabungen fanden von 1949 bis 1984 statt. Die Befunde werden in die Zeit von etwa 200/300 n. Chr. bis ins 6. Jahrhundert datiert. Ein reich ausgestattetes Kammergrab wird später besprochen werden (vgl. S. 946). Unter Hügel 4 wurde das Langhaus 3 mit leicht trapezförmigem Grundriss freigelegt, das als Versammlungshaus gedeutet wird, und zu dem es in Skandinavien bis zum Jahr 2000 keine Parallelen gab.918 Ein öffentlicher Raum mit Herdstelle lag im Westen, an den sich ein Hochsitz anschloss; es folgte die große Halle mit Eingang und weiterer Herdstelle sowie im Osten ein sogenannter Frauenraum, abgelesen anhand der Funde. In Nordschweden ist bei Gene, Norrland, ein Komplex aus 14 Häusern und 13 Grabhügeln in den Jahren von 1977 bis 1988 erforscht worden.919 Die Befunde werden in die Zeit von 0 bis 600 n. Chr. datiert, teils vergleichbar mit der Situation in Högom. Das in zwei Phasen nacheinander errichtete dreischiffige Hallenhaus eines einzelnen Gehöfts war immerhin 40 m lang und in der Mitte 9 m sowie an den Enden 7 m breit. Dazu gehörten kleinere Nebengebäude. Der Stallteil reichte für 10 Tiere, für die 1 ha Weideland gebraucht wurde und die Mist als Dünger für etwa 1,5 ha Ackerbau lieferten. Die erste Phase des Hauses mit Nebengebäuden wird von 100 bis 350 n. Chr. datiert, die zweite Phase – unmittelbar neben der Ruine vom ersten Haus errichtet – von 350 bis 600 n. Chr. Es erstaunt, wie lange hier ein Haus gestanden hat; lag das an der Bauweise mit Stein als Fundament? Das Langhaus beherbergte sechs Funktionen, von Süden nach Norden, Werkstatt, Wohnteil, zwei Stallteile für Vieh und für Vorräte, Küche und einen Futterbereich. Bei einem Nebengebäude der zweiten Phase wurden Mengen an Gussformfragmenten gefunden, ein Beleg für die Produktion von Relieffibeln im Stil I (5. Jahrhundert), für Schlüssel, Nadeln und Ringe. Von den zehn Originalfibeln, die in Skandinavien gefunden worden sind, können zwei in Gene hergestellt worden sein. Die vorgenannten Beispiele beschreiben, wie für diese Landschaften üblich, einzeln stehende Gehöfte, keine größeren dörflichen Siedlungen, die es jedoch auch gegeben hat.
917 Bergsvik 2017, 318 mit 49 Fundorten und 322–325 Tabelle 1 und 2. 918 Ramqvist 2000, 36 Abb. 7 Raumaufteilung von Haus 3. 919 Ramqvist 1998.
2.4 Siedlungen – ein Auswahlkatalog
283
Für Gotland und Öland sind immerhin rund 3000 Häuser mit Steinfundamenten katalogisiert. Auf Gotland sind das aus der hier interessierenden Epoche von 0 bis 400 und von 400 bis 550 immerhin 1800 Hausfundamente in Schalenmauertechnik und auf Öland über 1000 in Trockenmauerwerk. Auf dem Festland in Schonen, Halland, Östergötland und Uppland sind dreischiffige Langhäuser und auch Grubenhäuser seit der vorrömischen Eisenzeit und auch in der Folgezeit überliefert.920 Die früh von M. Stenberger ausgegrabene Siedlung Vallhagar wurde oben beschrieben (vgl. S. 210).
2.4.8 Polen Die erläuterte politische Situation während einiger Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hat dazu geführt, dass im östlichen Mitteleuropa größere Siedlungsgrabungen nicht stattgefunden haben bzw. nicht stattfinden konnten. Für die Oksywie-Kultur südlich der Küste zwischen Oder und Weichsel in den Stufen der vorrömischen Eisenzeit A 1 bis A 3 wird die teilweise recht dichte Besiedlung der Landschaft nur anhand der Gräberfelder rekonstruiert, und nur sehr wenige Siedlungen sind etwas ausführlicher untersucht und publiziert worden, und zwar in Ostpommern.921 Die zu nennenden Publikationen stammen aus den Jahren 1971 und 1980. Einflüsse der Jastorf-Kultur einerseits und zur Przeworsk-Kultur andererseits sind registriert, gespiegelt in Sachgütern der Grabbeigaben. Über Bauweise und Siedlungsformen ist sehr wenig bekannt, allgemein gab es in Siedlungen einen Wohn- und einen Wirtschaftsteil, Wohnhäuser weisen Pfostenkonstruktionen auf. Es wird angenommen, daß sich die Wirtschaft […] nicht wesentlich von der der Wielbark-Kultur unterschied.
Von dieser nachfolgende Wielbark-Kultur (früher Willenberg-Kultur nach einem Gräberfeld benannt), die im 1. Jahrhundert n. Chr. entstanden ist, sind aber ebenfalls nur wenige Siedlungen bekannt, von denen keine vollständig untersucht worden ist.922 Die Größe der untersuchten Flächen liegt zwar zwischen 0,5 und mehreren Hektar, nachgewiesen sind vor allem aber nur eingetiefte und ebenerdige Pfostenhäuser von wenigen 20 bis 30 m2 Fläche, d. h. man hat in den Grabungsflächen mit der dichten Streuung von Pfostenlöchern zumeist die zusammengehörenden und einen größeren Grundriss bildenden Pfosten nicht erkannt. Immerhin sind auch Holzzäune und Palisaden an einigen Plätzen dokumentiert worden. Ein Langhaus wie im Westen wurde in Leśno entdeckt; aus dieser Siedlung kommt auch ein römischer eiserner Wagenbe-
920 Baudou u. a. 2004. 921 Dąbrowska 2003, 46, Zitat 52. 922 Mączyńska 2007, 15.
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2 Haus, Gehöft und Siedlung
schlag. An Getreide wurde angebaut Gerste, Weizen und Hirse; im Bereich Viehzucht dominierten Schafe. Allgemein wurde Eisen in eigener Produktion gewonnen, und die Schmucksachen der Grabbeigaben bezeugen eine hochentwickelte Gold- und Silberschmiedetechnik mit Granulation, Filigran und Gießerei. Auch gefärbte Wolle in blau, weiß, rot und gelb ist bei Textilien erkannt worden. Die Siedlungsgrabungen stammen entweder aus sehr frühen Jahren wie 1931 und 1935 oder sind nicht sehr umfangreich, wie 1997 (ein Gräberfeld), 1998 und 2003 (Leśno). Im Gebiet der älteren und teilweise zeitgleichen Przeworsk-Kultur, die sich südlich der Wielbark-Kultur seit der vorrömischen Eisenzeit ausgebildet hat, sieht es mit der Siedlungsforschung inzwischen etwas besser aus. Es werden Ergebnisse von Siedlungsgrabungen zunehmend publiziert, auch wenn dabei immer noch die Beschreibung von Grubenhäusern vorherrscht, weil die ebenerdigen Langhäuser über ihre Pfostenstellungen schwieriger zu erkennen sind.923 Westlich von Warschau sind die Grubenhäuser aus fünf Siedlungen der Przeworsk-Kultur in Masowien vorgelegt worden; sie haben Flächen von 8,5 bis 17,5 m2. Verbunden damit ist immerhin der Hinweis auf zwei- oder dreischiffige Hallenhäuser, die eine Länge bis 10 m und eine Fläche von 38 m2 aufweisen. Das sind aber eigentlich keine Langhäuser. Reste von Herdflächen gehören zu Häusern. Bei der Vorstellung von Keramik der PrzeworskKultur in einem Sammelband von 2017924 wird Siedlungskeramik mehrerer Plätze vorgestellt, und zwar seit der vorrömischen Eisenzeit, und bewusst mit zahlreichen Tafeln abgebildeter Keramikgefäße. M. Grygiel beschreibt die Funde der sogenannten Tyniec-Gruppe im Gebiet von Krakau mit älterer mittellatèzeitlicher keltischer Bevölkerung und nachfolgenden Siedlungen mit Grubenhäusern der PrzeworskKultur und deren Keramik. M. Teska und A. Michałowki bieten die Siedlungskeramik der Przeworsk-Kultur in Großpolen aus der jüngeren vorrömischen Eisenzeit mit dem Beginn an der Wende vom 3. zum 2. Jahrhundert v. Chr., meinen aber, dass die Keramik eigentlich doch sehr schwer eindeutig zu beschreiben sei. Ebenfalls auf Großpolen richtet sich der Beitrag von D. Żiechliński und M. Teska für die vorrömische Eisenzeit anhand neuer großflächiger Rettungsgrabungen und registrieren eine sehr dünne Besiedlung der Przeworsk-Kultur in diesem Gebiet, die in der Stufe A 1 noch nicht richtig vertreten sei. In Niederschlesien betont A. Błażejewski in der Siedlung der jüngeren vorrömischen Eisenzeit von Brodno anhand der Grabungsfunde schon von 1974 bis 1976, die von der Stufe A2 bis in die Römische Kaiserzeit B1 reicht, dass Einflüsse der Jastorf-Kultur im Bereich dieser Przeworsk-Siedlung auffallen. Für das Gebiet von Wrocław-Wida, Fundstelle 17 (also bei Warschau), legt M. Bohr die Keramik der jüngeren vorrömischen Eisenzeit der Stufen A1 bis A3 der Przeworsk923 Trzop-Szczypriorska, Karasiewicz-Szczypiorski 2015–2016, 70. 924 M. Meyer, Łuczkiewicz, Rauchfuß (Hrsg.) 2017; darin Grygiel, 199–231; Teska, Michałowski, 233–252; Żiechliński, Teska, 233–252; Błażejewski 2008a, 281–296; Bohr, 297–314; Łuczkiewicz, 315–338; Prochowicz, 339–362; Strobin, 363–389; Rogalski, 392–412 mit der 394 Abb. 2 der detaillierten Chronologie-Tabelle und 400 Abb. 8 einer Gefäßtypologie.
2.4 Siedlungen – ein Auswahlkatalog
285
Kultur vor und vergleicht die Ware mit Keramik aus dem übrigen Schlesien, aus Masowien und aus Großpolen; dabei bemerkt er Einflüsse sowohl aus der Latène-Kultur als auch aus der Jastorf-Kultur. Bei der Vorlage der Keramik der Przeworsk-Kultur in Ostpolen, aus der Siedlung Sobieszyn, Kr. Ryki, Wojw. Lublin, beschreibt P. Łuczkiewicz Besiedlungsspuren mit Pfostenbauten, Grubenhäusern, Speichergruben, Kohlenmeilern und Renn- sowie Töpferöfen anhand von 37 000 Scherben die Keramikentwicklung von den Phasen der vorrömischen Eisenzeit A2 bis in die Römische Kaiserzeit, bis zu den Phasen B2/C1 bzw. C1a (bis um 200 n. Chr.) und betont die Affinitäten zur Jastorf-Kultur im Westen und zur Poieneşti-Lukaševka-Kultur im Süden. Analogien zum Jastorf-Kreis gibt es auch bei der Siedlungskeramik und in den Gräberfeldern im nördlichen Masowien, wie R. Prochowicz beschreibt. Im Rahmen dieser Auswertungen zur Keramik der Przeworsk-Kultur fehlt auch nicht der Blick auf die Waren der Oksywie- und Wielbark-Kultur in Pommern, wie sie A. Strobin anhand von über 1000 Befunden aus Siedlungen und Gräberfeldern von der vorrömischen Eisenzeit bis zur Völkerwanderungszeit vorstellt, wo es seit der Phase A2 auch Keramik der Przeworsk-Kultur gibt. Die Siedlungskeramik der Oksywie-Kultur in Westpommern begann hier, so B. Rogalski, auch in der Phase A2, war inhomogen, zeigte Traditionen der Hallstattkultur und den Latènisierungsprozess in unterschiedlicher Ausprägung. Der Beitrag bietet die alte Gefäßtypologie der Oksywie-Kultur nach R. Wołągiewicz von den Phasen Hallstatt D3 über die vorrömische Eisenzeit A1 bis A3 und der Römischen Kaiserzeit B1. Aber immerhin gibt es Kenntnisse zur Lage der Dörfer vorwiegend in Flusstälern. Sie waren unbefestigt und erreichten Größen zwischen 0,5 bis 15 ha. In ihnen überwiegen kleinflächige Grubenhäuser, dagegen sind bisher große ebenerdige Hallenhäuser viel seltener. Dieser Gegensatz ist eher forschungsgeschichtlich bedingt und z. T. auf frühere kleinräumige Ausgrabungen zurückzuführen.925
Eine Kartierung und Analyse der Siedlungspositionen der Przeworsk-Kultur in den Flusstälern, hier in den Tälern der Weichsel und der Raba östlich von Krakau in Kleinpolen bestätigt diese eigentlich zu erwartende Lagefunktion.926 Die Siedlungen liegen hier auf der nördlichen Flussseite am Hochufer auf Lössterrassen an kleinen Zuflüssen bzw. Bächen zu den Strömen, und zwar, wie in anderen Gebieten Germanien, wie eine Kette im Abstand von etwa 2 bis 3 km. Zugleich werden jedoch auch die überflutenden Flussebenen (flood plains) mit Lössböden genutzt mit allen Vor- und Nachteilen. Die Wirtschaft auf den Terrassen basierte auf Getreideanbau und Viehhaltung, Wald und Weiden (auch Futter für den Winter) fanden die Siedler in den Flussebenen. Die Datierungen bezeugen eine Zunahme der Besiedlung vom 1./2. zum 3./4. Jahrhundert, die zu einer Nutzung auch der Flussauen führte, aus denen sie bei
925 Dąbrowska 2003, 540. 926 Dobrzańska, Kalicki 2018, nach 123 Fig. 4 und 129 Fig. 9 Karten.
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2 Haus, Gehöft und Siedlung
steigenden Überflutungen wieder verdrängt wurde. Diese naturwissenschaftlichen Untersuchungen mit Bohrungen haben die natürliche Umgebung der Siedlungen gut beschreiben lassen. Dorf- oder Hausgrundrisse fehlen aber noch. An anderen Orten waren die Häuser entweder um einen ovalen Platz gruppiert oder standen in Reihen. Immerhin sind in einigen Siedlungen Produktionszentren erkannt worden, zu denen mehrere Feuerstellen und Öfen für unterschiedliche Handwerksarten gehörten. In der Stufe B1 (1. Jahrhundert n. Chr.) sind „Siedlungskonzentrationen“ von 400/500 bis 3000/4000 km2 beschrieben worden, getrennt von anscheinend siedlungsleeren Gebieten, die dann erst in der Stufe B2 besetzt wurden. In der jüngeren Römischen Kaiserzeit, den Stufen B2 und C1 (75 bis 250 n. Chr.) fallen die Eisengewinnungszentren auf im Heiligen-Kreuz-Gebirge in Südpolen mit großflächigen Batterien von Öfen (vgl. S. 452). Für die erzeugten Mengen an Eisen nahm man zeitweilig einen Export in die römischen Provinzen an, doch wird damit auch vordringlich die eigene Bevölkerung versorgt worden sein.927 In der Stufe C2 (250 bis 300/310 n. Chr.) bildeten sich im Gebiet von Krakau und dem Siedlungskomplex Igołomia-Zofipole große Töpfereizentren aus mit rund 100 Töpferöfen, in Kujawien Bernsteinwerkstätten und Bronzeverarbeitungsplätze. Aber bis in die frühe Völkerwanderungszeit werden die Besiedlungsmuster nur anhand der Verbreitung der Gräberfelder und Wirtschaftsanlagen beschrieben, kaum anhand größerer Hausgrundrisse. Zusammen wurden Siedlung und Gräberfeld der Przeworsk-Kultur bei Siemiechów in der Provinz Łódź erforscht. Die Ausgrabungen fanden von 1974 bis 2002 statt; dokumentiert wurden 70 Gräber und über 400 Siedlungsreste. Die Gräber decken die Phasen von der späten vorrömischen Eisenzeit A2 bis in die Römische Kaiserzeit B2b ab, von der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr. bis Mitte 2. Jahrhundert n. Chr., also über rund 300 Jahre. Von der Siedlung sind 82 Herdstellen und mehrere Töpferofen freigelegt worden; deren Datierung deckt die Stufen C1b-C2-D1 ab, also die Zeit vom Anfang des 3. Jahrhunderts bis in die Mitte des 4. Jahrhunderts.928 Vorbildlich und auch in deutscher Sprache werden vor allem Gräberfelder und nahebei gelegene Siedlungen publiziert.929 Ziel ist die Veröffentlichung der Quellen aus der späten Eisenzeit, der Römischen Kaiserzeit und der Völkerwanderungszeit. Dabei ging es auch um die Frage der Przeworsk-Kultur und der elbgermanischen Besiedlung in Schlesien,930 außerdem um Töpferöfen, um Eisengewinnung und um Röstöfen sowie um einige Siedlungsgrabungen mit Grubenhäusern. Die PrzeworskKultur in Niederschlesien hatte also Kontakte zum elbgermanischen Kulturkreis in den Stufen B2/C1-C1 (75–220 n. Chr.), was aber für C2 (250–320 n. Chr.) noch unklar ist.
927 Mączyńska 2003, 557, 559. 928 Jażdżewska 2017.45. 929 Cieśliński, Natuniewicz-Sekula 2017. 930 Błażejewski 2008b; 2008c.
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Es gab mehrere kulturelle und „ethnische“ Grenzen während der Römischen Kaiserzeit und der frühen Völkerwanderungszeit in Nordostpolen.931 Weiter im Südosten in Richtung Schwarzes Meer, wohin die Bevölkerungen aus dem Gebiet der Wielbark- und der Przeworsk-Kulur ausgewandert sein sollen, ist über das Siedlungswesen auch nicht viel mehr bekannt als in den Ursprungsgebieten dieser Kulturkreise.932 Im Bereich der Sântana-de-Mureş-Chernjachov-Kultur als ihre Fortsetzung in der Völkerwanderungszeit, meist mit den Goten identifiziert, sind zahlreiche Siedlungsplätze bekannt und kartiert worden, wobei „zugewanderte“ und lokale Bevölkerung unterschieden werden müsste. Die Ausgrabungen haben auch hier immer nur sehr kleine Flächen erschlossen, manchmal aber wenigstens etwa 30 „Wohnbauten“ dokumentiert. Diese sind dann in Reihen angeordnet, ebenerdig oder eingetieft. Zu Langhäusern wird nichts gesagt. Aber es gibt auch in diesen Gegenden Nebenbauten mit Feuerstellen und Öfen, darunter auch Töpferöfen. Die meisten Siedlungen enthalten Töpferwerkstätten neben Hinweisen auf Metall-, Bein- und Glasbearbeitung. Außergewöhnlich ist das große Produktionszentrum mit über 30 freigelegten Kammwerkstätten von Bârlad-Valea Seacă. Zu bedenken ist, dass bei der Publikation von Siedlungsmustern der Przeworsk-Kultur weniger tatsächlich Siedlungsbefunde beschrieben werden, sondern in der Regel die Verteilung der Gräberfelder, auch wenn inzwischen doch Flächengrabungen durchgeführt werden (vgl. dazu S. 877),933 oftmals im Verlauf von neuen Fernstraßenbauten oder Ferngasleitungen. Dabei wurden die archäobotanischen Reste modern ebenfalls ausgewertet und in umfassenden Tabellen vorgelegt,934 ebenso die Tierknochen aus der Siedlung statistisch erfasst.935 In Rawa Mazowiecka in Polen ist inzwischen der erste „Herrenhof“ in einer Siedlung der Przeworsk-Kultur entdeckt worden, die vom 2. Jahrhundert v. Chr. bis gegen 200 n. Chr. existiert hat. Der Herrenhof wurde um Chr. Geb. gegründet. Kennzeichen sind ein großes dreischiffiges Hallenhaus von 115 m2 Fläche, also von etwa 20 m Länge, und Nebengebäude von 44 m2 umbauten Raumes.936 Es gibt untersuchte Siedlungskonzentrationen der Przeworsk-Kultur zwischen den Unterläufen der Flüsse Skierniewka und Rawka. Hier sind an einem der Orte Runen auf Keramikscherben entdeckt worden (vgl. dazu S. 1259).937 Die zuvor einschränkende Beschreibung der Siedlungsgrabungen in der Wielbark- und Przeworsk-Kultur, die nur wenige umfangreichere Befunde über Grubenhäuser hinaus bisher geboten haben, kann nun positiv erweitert werden. Manches
931 Cieśliński 2017b. 932 Ioniţa 2004, 446 Abb. 57 Karte zur Verbreitung der Siedlungen auf dem Stand von 1999, 451 Zitat. 933 Marchelak 2017. 934 Mueller-Bieniek, Wasylikowa, Cywa 2017, mit ausführlichen Tabellen. 935 Strefaniak, Piskorska, Pokryszko 2017, 519–531 Tabellen. 936 Skowron 2008; auch 2007. 937 Skowron 2009, 383 Abb. 5–7, 390 zu den Runen.
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2 Haus, Gehöft und Siedlung
mag ich übersehen haben. Aber jetzt liegt 2017 die Publikation einer großflächigen Siedlungsgrabung – entdeckt bei Grabungen der Jahre 2000 bis 2009 auf der Autobahn A-1 – von Ludwinowo bei Włocławek im Gebiet von Kujawien-Pomerellen, vor und zugleich mit der Auswertung der Tierknochen und Pflanzenreste. Die importierten Terra Sigillata-Scherben sind ebenfalls veröffentlicht worden.938 Es handelt sich zudem um einen multikulturell besiedelten Platz vom Neolithikum über die Hallstattzeit bis zur Römischen Kaiserzeit. Die ergrabene Siedlungsfläche der PrzeworskKultur beträgt etwa 3 ha, eine große Pfostenstreuung bedeckt 250 auf 350 m Fläche.939 Nahebei liegt auch das Gräberfeld der Przeworsk-Kultur. Aus den Pfostenreihen sind zwei- oder dreischiffige Hausgrundrisse rekonstruiert worden, die sich nur teilweise auch überschneiden, so dass mit mehr 20 stehenden Häusern in zwei Phasen gerechnet werden kann, die etwa bis 20 und 28 m lang sein können, rund 100 m2 Fläche hatten. Auch einige Grubenhäuser gibt es, als Werkstätten gedeutet. Außerdem wurden 35 Brunnen ausgegraben. Insgesamt auch mit den Grundrissen der anderen Siedlungsphasen werden über 70 Hausgrundrisse postuliert. Einige Siedlungsspuren und Keramikfunde gehören zur Jastorf-Kultur. Aus der Siedlung der Przeworsk-Kultur stammen über 22 000 Keramikfragmente, 34 Metallfunde (fünf Fibeln) und Teile von Knochenkämmen sowie über 8000 Tierknochen. Im Gräberfeldareal wurden außerdem fast 33 000 Gefäßfragmente geborgen. Die Fibeln werden in die Phasen B1c-B2/C1 datiert; und ausgehend von der Verteilung der sogenannten „grauen“ Ware ist die Phase C1b (ca. 260 n. Chr.) belegt, eine Westausdehnung der Siedlung wird in die Phase C2 (zweites Viertel des 3. Jahrhunderts) und sogar noch in C3 (4. Jahrhundert) gesehen, während C-14 Daten zum 5. Jahrhundert eigentlich nicht mehr mit archäologischen Befunden belegt werden. Die Hausgrundrisse der Przeworsk-Kultur werden jetzt mit den Wohn-StallHäusern im Westen verglichen, meist mit den zweischiffigen Häusern der Befunde in Westfalen und in den Niederlanden. Genannt werden Parallelen auch zu dreischiffigen Langhäusern an anderen Orten in Polen, so in der Siedlung von Konarzewo, Site 5.940 Alle Häuser sind um einen Platz in der Mitte angeordnet, der zuerst 85x70 m, in der zweiten Phase 65x55 m gemessen hat. Bemerkenswert ist, dass sieben Hundeskelette gefunden wurden, wohl teils als Bauopfer gedacht.941 Angebaut wurden wie allgemein üblich Gerste, Roggen, Weizen, Hirse und Hafer, auch Erbse und Lein. An Vieh wurden gehalten Rinder, Schweine, Pferde, Schafe und Geflügel; Hühner und Hausgänse. Zum Jagdwild zählten Hirsche, Rehe, Wölfe, Wildkatzen, Hasen, Birkhühner und Uhu. Die Funde von Terra Sigillata-Scherben in der Siedlung und aus dem
938 Marchelak u. a. 2017. 939 Marchelak 2017, in: Marchelak u. a. 2017, 298–299 Fig. 102 Farbiger Plan mit Langhäusern und Speichern, 318–319 Fig. 105 Plan mit Verteilung der Fibeln; 425 ff., 441–444 im Summary. 940 Michałowski 2011. 941 Makiewicz 1987.
2.5 Kontinuitäten und eine Zusammenfassung
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Gräberfeldareal datieren in die Zeit von 160/170 bis 233/244 n. Chr.942 Es handelt sich um rund 160 Fragmente, geborgen 2009, zumeist aus zerstörten Brandgräbern, und zwar nur aus einem engeren Bereich des Friedhofes. Sonstige Terra Sigillata-Funde kommen in Kujawien nur in den Phasen C1a und C1b vor (etwa150 bis 250 n. Chr.) Somit zeichnet sich ab, dass die Lebens- und Siedlungsverhältnisse der Bevölkerungen auch im östlichen Germanien, dort wo Burgunder, Vandalen und Goten vermutet werden, ebenso waren wie im übrigen Mittel- und auch Nordeuropa. Die rasante Zunahme von Siedlungsgrabungen für die Zeit des 1. Jahrhunderts v. Chr. und der gesamten Przeworsk-Kultur hat zu einer differenzierten Auswertung der Befunde geführt. Es gibt wie gesagt nun auch zahlreiche mehrschiffige Langhäuser neben den üblichen Grubenhäusern, Vorratsgruben und Werkplätzen. Brunnen sind für die innere Organisation der Siedlungen und ihre Zweckbestimmung aufschlussreich und nun in zahlreichen Siedlungen auch archäologisch untersucht worden.943 Ihre Lage einzeln auf dem Areal des Gehöftes oder in größerer Zahl bei den Werkstätten und außerhalb des Siedlungsgebietes spiegelt ihre Funktion. Am Beispiel der Siedlungen von Mąkowice und Kwiatków in Großpolen wird das beschrieben: In Mąkowice und vielen anderen Dörfern gibt es zur Wasserversorgung den einen Brunnen auf dem Gehöft. In Kwiatków hat es demgegenüber mehr als 100 Brunnen während der Römischen Kaiserzeit und der Völkerwanderungszeit gegeben. Sie sind teilweise in Holz erhalten, beispielsweise als Konstruktion aus Eiche, weisen auch manchmal eine zweite Bauphase auf. Nach den dendrochronologischen Datierungen waren sie meist 30 Jahre in Benutzung. Und sie dienten zur Wasserversorgung von Werkstätten, beispielsweise bei der Eisenverhüttung, d. h. eine einfache landwirtschaftlich strukturierte Siedlung hatte Brunnen beim Gehöft; große Ansammlungen von Brunnen sprechen für spezielle Handwerker- und Gewerbesiedlungen.
2.5 Kontinuitäten und eine Zusammenfassung Es zeigt sich, je umfangreicher eine Siedlung ausgegraben worden ist, desto deutlicher ist einerseits die lange Kontinuität erkennbar, durchaus mit oder ohne Verlagerung, und andererseits, dass ein solches Anwesen jeweils eine individuelle Geschichte gehabt hat. Die Grundstruktur der dörflichen Siedlungen ist im gesamten Germanien gleichartig, nur der Forschungsstand ist noch nicht überall auf demselben Niveau. Die moderne politische Lage hatte es mit sich gebracht, dass die archäologischen Forschungsmöglichkeiten östlich des ehemaligen Eisernen Vorhangs, also auch in der
942 Tyszler 2017, in: Marchelak u. a. 2017. 943 Piotrowska 2019, 128 Fig. 1 Lage der Siedlungen, 135 Fig. 3 Plan der Siedlung Kwiatków 11/20 mit den zahlreichen Brunnen.
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damaligen DDR und in Polen, erst teilweise den Stand erreicht haben wie im westlichen Mitteleuropa und im südlichen Skandinavien mit Dänemark. Das heißt, großflächige Siedlungsgrabungen konnten erst nach der Wende ab 1990 entwickelt werden. Bei Herzsprung in der Uckermark nahe der Oder wurde schon von 1982 bis 1996 eine Siedlung der Mitte des 2. bis zum frühen 5. Jahrhundert zum Teil ausgegraben (vgl. oben S. 244).944 Ein großes, platzgreifendes Gehöft von etwa 50 zu 50 m, also von 2500 m2 beherrschte das Dorf, wurde mehrfach an derselben Stelle umgebaut, mit wechselnder Anordnung der Gebäude, wobei das dreischiffige Hallenhaus als Hauptgebäude von 12 m über 17 m bis schließlich 27,50 m Länge ausgebaut worden ist. Hinzu kommen schmale Scheunen längs des Zaunes und Werkstätten der Buntmetallverarbeitung mit Bronzeguss sowie Eisenproduktion. Die Ergebnisse bestätigen die Vermutung, dass die Siedlungen auch in diesen Landschaften durchaus vergleichbar sind mit den Befunden weiter im Westen von den Niederlanden bis Jütland. Die Größe der Siedlungen war durchaus unterschiedlich. Es haben nur fünf, aber auch manchmal 30 Gehöfte gleichzeitig gestanden. Die durchschnittliche Größe der Siedlungen im jeweils ausgegrabenen Ausschnitt lag bei zehn Gehöften. Es gibt die Anordnung der Gehöfte als geordnetes Reihendorf, als Runddorf oder auch als Haufendorf. Auffällig ist zudem, dass bei aller grundsätzlichen Ähnlichkeit der Häuser nach Grundriss und Innengliederung, nach den Hofarealen mit Anordnung der Gebäude im umzäunten Bereich die erkennbare Variabilität der individuellen Lösungen in dem Maße immer deutlicher erkennbar wird, je mehr Siedlungen tatsächlich mehr oder weniger vollständig ausgegraben worden sind. Die Normierung auch des Siedlungswesens scheint im Römischen wesentlich stringenter gewesen zu sein als in Germanien. Diese Variabilität spiegelt sich im unterschiedlichen Anfang und Ende einer Siedlung, in der gleichbleibenden oder der wachsenden Größe des Dorfes oder in der Wahl der Hausstruktur. Gleich bleiben jedoch das Grundmuster und auch die Lösung, Häuser und Dörfer ständig neu zu bauen. Während die Dörfer in den letzten Jahrzehnten vor Chr. Geb. noch wie unregelmäßig gewachsene Siedlungen wirken, die aber samt dieser Unregelmäßigkeit verlagert oder neu errichtet wurden, nehmen die jüngeren Siedlungen in den ersten Jahrhunderten n. Chr. geplante Grundrisse an. Die Gehöfte sind rechteckig oder quadratisch eingezäunt und reihen sich beiderseits von Wegen auf. Die Parzellen messen etwa 50 × 50 bis 60 × 60 m, also 2500 bis 3600 m2 Fläche. Die Häuser von 25 m Länge und 5 m Breite hatten demnach ein Wohn- und Wirtschaftsfläche von 125 m2 für Mensch und Vieh und im Dachbereich auch Speicherraum; die größten Hallenhäuser erreichten fast 30 m Länge und 7 bis 8 m Breite, das sind dann über 200 m2 Nutzfläche. Die Kontinuität der Siedlungen von der vorrömischen Eisenzeit bis ins frühe Mittelalter spiegeln auch manche Gräberfelder mit vielen hundert Bestattungen, die oftmals ein Jahrtausend lang belegt wurden. Auf dem Gräberfeld von Liebersee im
944 Schuster 2004.
2.5 Kontinuitäten und eine Zusammenfassung
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Landkreis Torgau-Oschatz an der sächsischen Elbe beispielsweise, dessen Funde und Befunde archäologisch bis 1979 bearbeitet und in den1990er Jahre seit 1995 veröffentlicht werden, sind rund 2000 Bestattungen aus 2000 Jahren, seit der Bronzezeit und dann von der vorrömischen Eisenzeit über die Römische Kaiserzeit bis ins frühe Mittelalter erfasst worden, zumeist Brandbestattungen und in den jüngeren Phasen auch Körpergräber.945 Im Umfeld des Gräberfeldes von Liebersee sind eisenzeitliche Siedlungen dokumentiert worden,946 wozu ein Kartenausschnitt mit dem Gräberfeld und den umliegenden Siedlungsarealen den Bezug belegt (Abb. 28).
Abb. 28: Das Gräberfeld von Liebersee mit den umliegenden Siedlungskomplexen.
Was diese Kontinuität bedeutet, die zugleich nur eine kleine Siedlungsgemeinschaft spiegelt, bietet Raum für mancherlei Spekulation. Als ein weiteres Beispiel anderer Art sei das Gräberfeld bei Issendorf im Ldkr. Stade genannt, das vom späten 4. Jahrhundert bis um 530/40, also nur etwa 150 Jahre, belegt worden ist. Rund 6000 Brandgräber und Körperbestattungen erlauben die Schätzung, dass in den zugehörigen Dörfern etwa 900 bis 1000 Menschen gleichzeitig gelebt haben, was dafür spricht, dass dies ein Zentralfriedhof für eine größere Siedlungskammer und nicht nur für ein
945 Ender 2001 mit mehreren Plänen und Lit.; Bemmann 2003b; 2005b. 946 Ender 2010, 125 Abb. 3 Siedlungen.
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2 Haus, Gehöft und Siedlung
Dorf gewesen ist. Doch zu den Bestattungsbräuchen wird ausführlich später in einem eigenen Abschnitt berichtet werden (vgl. unten S. 832). Diese Kontinuität zeigt, dass der Bevölkerung des Gebietes dieser Friedhof von Liebersee immer bekannt geblieben ist. Es gibt Gräber der Jastorf- und der Przeworsk-Kultur und dann der elbgermanischen Kultur. Bemerkenswert ist bei dieser örtlichen Kontinuität, dass von einer Bevölkerungskontinuität auszugehen ist, parallel zur sich ändernden Abfolge der archäologischen Kulturen über die Zeit hinweg.947 Auffällig ist, dass die Siedlungsgemeinschaft immer relativ klein gewesen ist, sonst müsste die Zahl der Bestattungen wesentlich höher sein. Die eisenzeitlichen Siedlungen im Umfeld von Liebersee sind teilweise jetzt zusätzlich archäologisch erfasst.948 Trotz dieser Ähnlichkeiten in der Struktur und dem Grundriss der Dörfer gibt es Unterschiede in der Dauer ihrer Existenz; viele wurden in der vorrömischen Eisenzeit gegründet und expandierten bis ins 4./5. Jahrhundert, ehe sie verlassen wurde, andere demgegenüber bestanden bis ins Mittelalter weiter. Die fortdauernden Ausgrabungen der Jahrzehnte bis heute belegen das individuelle Schicksal aller dieser freigelegten Dörfer. Anfang und Ende der Siedlungen sind sehr unterschiedlich. Dabei ist nicht immer diese Datierung sicher, da sich die Dörfer verlagert haben, so dass auch eine frühe oder späte Phase noch nicht entdeckt worden sein kann. Es scheint so, als ob „Gemarkungen“ tatsächlich kontinuierlich von der vorrömischen Eisenzeit bis ins Mittelalter besiedelt gewesen sind. Manchmal, aber doch selten, ist ein Wechsel der Bewohner archäologisch beschreibbar, was die Frage nach den machtpolitischen Hintergründen für diese Veränderungen aufwirft. Die von Jahrhundert zu Jahrhundert größer werdenden Abmessungen der Wohn-Stall-Häuser und der Gehöfte spiegeln nicht nur gestiegene wirtschaftliche Kraft, denn parallel zum Anstieg der Gehöftzahlen in einem Dorf ist auch mit einer Zunahme der Anzahl der Bewohner zu rechnen, die also vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis zum 4./5. Jahrhundert und weiter ständig angestiegen ist, was – wie noch zu zeigen sein wird – zu einer beachtlichen Bevölkerungsdichte geführt hat. Die Geschichte jeder Siedlung war individuell, was ausführlich beschrieben worden ist. Am Ende wurde das Dorf verlassen oder an einen anderen benachbarten Platz verlegt. Selten scheint eine Katastrophe zum Untergang einer Siedlung geführt zu haben, nur einige Brandereignisse sind bei archäologischen Ausgrabungen erkannt worden, wohl in erster Linie Schadensfeuer und keine kriegerischen Einwirkungen. Die in der schriftlichen Überlieferung häufig erwähnte Vernichtung, verbunden mit dem Niederbrennen von Dörfern durch die römischen Legionen sind bisher archäologisch nicht erkannt worden, auch nicht an den Vormarschstraßen, an denen auch die Marschlager in regelmäßigem Abstand ausgebaut wurden. Das kann verschieden erklärt werden. Zum einen sind immer noch nicht ausreichend zahlreich
947 Ender 2001, Pläne; Bemmann 2003b, 2005b. 948 Ender 2010.
2.5 Kontinuitäten und eine Zusammenfassung
293
Dörfer umfangreich ausgegraben worden, um eine statistische Chance zu haben, solch vernichtendes Ereignis zu entdecken; zum anderen ist eine solche Katastrophe im archäologischen Befund auch nicht leicht zu erkennen; zum dritten könnte ein Siedlungsende und die Verlagerung des Dorfes mit einer militärisch veranlassten Vernichtung zusammenhängen, dann geschah das aber überall und häufig im gesamten Germanien, auch in Bereichen, wohin römische Legionen nie gekommen sind und wären dann Spiegel für die ständigen innergermanischen Kriege. Wie dem auch sei, damit werden auch die Erkenntnismöglichkeiten bei noch so sorgfältigen Grabungen überfordert. Verbranntes Holz in Pfostenlöchern oder anderen Gruben und in Brunnen können da weiterhelfen; denn Holzkohle bleibt erhalten und verwittert nicht. Es lässt sich nicht einmal das Verlassen von Siedlungen als Zeichen von Abwanderungen (so nach England beispielsweise) erkennen; und die früher postulierten Siedlungslücken sind inzwischen ebenso geschlossen worden. Der überregionale Zusammenhang der Bevölkerungen auch im Bereich der Hausbauten zeigt der Vergleich zwischen den Hauslandschaften in Norddeutschland und dem Siedlungsgebiet in Südwestdeutschland der frühen Alamannen, wo es ebenfalls gleichartige dreischiffige Hallenhäuser gibt, aber doch mit gewissen Veränderungen in der Gesamtstruktur.949 Nun werden in den meisten Büchern über die Germanen die Rekonstruktionen ihrer Häuser unter dem hohen Reetdach als leicht primitiv und wenig festgefügt abgebildet, was auf das Vorurteil der römischen Schriftsteller zurückgeht, dass die Germanen anders als die Römer keinen Steinbau kannten und nur in primitiven Holzhütten wohnten. Hinzu kam, dass die Vorstellung, zusammen mit dem Vieh unter einem Dach zu leben, aus der Sicht der Römer auch als primitiv bewertet wurde. Die Menschen hätten sich auf dem Niveau der Tiere bewegt, was darauf zurückgeht, dass sich die antiken Historiker den andersartigen, aber durchaus sinnvollen Lebensstil einfach nicht vorstellen konnten oder wollten und schnell mit dem Begriff des Barbarischen bei der Hand waren. Die archäologische Forschung hat auf diese Weise einen Zugang gewonnen zur Geschichte der Besiedlung in einzelnen Landschaften. Das individuelle Schicksal der verschiedenen Ansiedlungen beschreibt die soziale und wohl auch topographische Mobilität der Gesellschaft, unmittelbar verknüpft auch mit der Geschichte der einzelnen Gehöfte. Somit erfahren wir hinter den nüchternen archäologischen Ausgrabungsbefunden die historische Realität einzelner Familien und größerer Dorfverbände, Ort für Ort und in der Summe in einer Landschaft. Man ist aber zu schnell mit der Deutung, wenn das Ende einer Siedlung mit der Abwanderung der Bewohner in andere Landschaften gleichgesetzt wird, angeregt durch die schriftliche Überlieferung. Der Abbruch einer Siedlung kann die unterschiedlichsten Gründe
949 Spors-Gröger 2010a, 48 Abb. 33 Verbreitung der dreischiffigen Hallenhäuser, 51 f. mit Abb. 36 und 37.
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2 Haus, Gehöft und Siedlung
gehabt haben. Naheliegend ist die Annahme einer Verlagerung über eine größere Strecke in der Nachbarschaft, und die Ausgrabungen oder Prospektionen haben den neuen Platz noch nicht entdeckt. Interne kriegerische Auseinandersetzungen, über die noch umfassend berichtet wird, kann zur Auslöschung einer Siedlung geführt haben. Besitzstreitigkeiten, schlechte Ernten oder Krankheiten dürfen nicht außer Acht bleiben. Immerhin ist anhand der Phosphatanalyse, mit der organische Anreicherungen im Boden in und bei den Häusern gemessen wurden, nachgewiesen, dass manche Häuser zu groß gebaut worden waren und Stallteile nicht durch Rinder besetzt gewesen sind. Die Auswanderung von Sachsen aus der norddeutschen Küstenregion, von Angeln und Jüten aus Jütland nach England, worüber Schriftquellen zum 5. Jahrhundert berichten, spiegelt sich eben nicht in einem flächendeckenden Abbruch von dörflichen Siedlungen, was auch nur bei gesamthafter Untersuchung einer Landschaft erkennbar sein würde. Vielmehr zeigt sich immer wieder, dass Siedlungen von den ersten Jahrhunderten vor, um und nach Chr. Geb. bei mehrfacher Verlagerung bis ins frühe Mittelalter bestanden haben. Zweierlei sei dazu noch einmal bemerkt: Wer die heutigen norddeutschen großen Bauernhäuser kennt, immer noch sogenannte Wohn-Stall-Häuser, und nicht nur in einem Freilichtmuseum, sondern in den Dörfern Niedersachsens besucht hat, der weiß, dass diese einen gewaltig umfangreichen umbauten Raum einschließen und ihre Errichtung höchste Zimmermannskunst braucht. Das hohe Reetdach wärmt den Innenraum, schützt das Vieh im Winter, bietet unter dem Dach mächtigen Speicherraum und birgt einen abgetrennten, angenehmen beheizbaren Wohnteil. Für die klimatischen Verhältnisse in Mitteleuropa war das auch zur Zeit der Germanen eine wesentlich sinnvollere Bauweise als die römischen Steinhäuser der villae rusticae, in denen immer nur einzelne Räume mit einer Heizung ausgestattet waren. Die frühen römischen ländlichen Anwesen in den neu eroberten bzw. besetzten Gebieten nördlich der Alpen waren ebenfalls noch weitgehend traditionell aus Holz errichtet, in Pfostenbauweise mit Fachwerkwänden, ehe die „Romanisierung“ schließlich zur Umgestaltung in Steinbauweise geführt hat, die für das örtliche Klima weniger sinnvoll war, aber die Zugehörigkeit zu den neuen Verhältnissen in den Provinzen des Römischen Reichs zeigen. Aus solchen einsichtigen Gründen werden in den nördlichen Regionen Europas, in Skandinavien, Häuser immer noch bis heute weitgehend aus Holz gebaut. Die mittelalterlichen Stabkirchen aus Norwegen sind Beispiele für diese qualitätsvolle Bauweise in Holz, die zudem im Schnitzwerk auch beachtlichen Schmuck bieten. Im Ostseegebiet und auf Gotland, verknüpfte man in der Frühzeit zwei Bauweisen; das Gefüge trugen eingegrabene Pfosten, die Wände des Hauses aber ruhten auf Fundamenten aus Steinen, so wie später überall in Mittel- und Nordeuropa Fachwerkhäuser ein Fundament aus Steinen gegen den feuchten Untergrund bekamen. Die Pfostenhäuser, zur Zeitenwende durchschnittlich 16 bis 20 m lang, wurden im Laufe der Jahrhunderte immer größer und länger gebaut. Sie erreichten bei speziellen Hallen schließlich 60 m Länge und später in der Wikingerzeit im 10. Jahrhundert in Nordnorwegen sogar 90 m Länge, bei entsprechender Zunahme auch der Breite.
2.5 Kontinuitäten und eine Zusammenfassung
295
Die Bauweise des Gefüges blieb dabei gleich. Im schwedischen Uppåkra nahe Lund in Schonen erbrachten archäologische Untersuchungen am Standort eines Pfostenhauses mit zwei Reihen von zwei mächtigen inneren Pfosten – eine Vierpfostenstellung – ein bemerkenswertes Ergebnis.950 An derselben Stelle wurde seit der Zeit um Chr. Geb. bis in die Wikingerzeit ein Gebäude immer wieder neu errichtet, das aufgrund der dabei geborgenen Gegenstände als Kultbau gedeutet wird (vgl. dazu unten S. 654) und war wie eine Stabkirche konstruiert. Man behielt also eine Bauweise seit der Eisenzeit bis ins Mittelalter bei, sicherlich auch, weil man meinte, die optimale Lösung gefunden zu haben. Die Ausgrabungen legen jedoch immer nur den Grundriss der Gehöfte frei, nachdrücklich die Pfostenstellungen; denn Wände oder Teile des Daches können nur unter sehr speziellen Bedingungen in den Boden geraten und dann erhalten geblieben sein, nur wenn eine Hauswand umgestürzt war und rasch von Erde bedeckt wurde. Solche Befunde sind ausnahmsweise in den Wurtensiedlungen an der Nordseeküste überliefert. Hier im Bereich der im Laufe der nachchristlichen Jahrhunderte immer höher ansteigenden Fluten hatten die Menschen als Lösung gefunden, den Platz ihrer so bedrohten Dörfer, künstlich zu erhöhen, indem man Marschenboden aufschüttete, Mist aus den Ställen aufhäufte und damit ein höheres Niveau schaffte, so wie beschrieben auf der Feddersen Wierde.951 Die alten Häuser wurden nur teilweise abgerissen, nur das Holz, wenige Pfosten und Balken weiterverwendet, die noch gut zu brauchen waren, während die mit Lehm verschmierten Flechtwerkwände von den jüngeren Lehm- und Mistlagen bedeckt und im feuchten Untergrund konserviert wurden. Dann sind vom Stallteil der Häuser z. B. die Viehboxen und vom Haus die Außenwände immerhin bis 1 m Höhe und mehr erhalten geblieben, was den Einblick in das zwar beschädigte, aber originale alte Haus ermöglicht und erlaubt, die Bauweise, die Herstellung der Flechtwerkwände, die Wahl der Hölzer im Detail zu erkennen. Andernorts, so auf der Insel Sylt in hochwasserfreier Lage hatte man die schon erwähnte andere Bauweise ersonnen, nämlich die Wände aus mehreren dicht gepackten Reihen aus Stampflehm aufzuführen. Das wirkt im Ausgrabungsbild vielleicht recht primitiv, aber war höchst wirkungsvoll als Wärme- und Windschutz; Wohnkomfort wurde dadurch erreicht, dass die Wände innen mit Textilien behängt wurden. Ähnlich hat man auf Island die Häuser noch bis in die Gegenwart mit derartigen dicken Sodenwänden so gebaut. Anhand der Grundrisse lassen sich nicht nur unterschiedliche HausbauTraditionen in verschiedenen Landschaften erkennen, sondern auch die Organisation eines Gehöftes. Es gibt zweischiffige Häuser, nur mit einer Pfostenreihe in der Mitte unter dem First, dreischiffige Häuser mit zwei paarigen Pfostenreihen im Inneren und auch einzelne vierschiffige Häuser. Nach der Völkerwanderungszeit baute man
950 Hårdh 2006; Larsson 2004; 2011a; b; 2015. 951 Schmid 1994.
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2 Haus, Gehöft und Siedlung
Häuser mit immer mächtiger werdenden tragenden Pfosten, die Längswände wurden schiffsförmig nach außen ausschwingend aufgeführt, was einen noch breiteren und von störenden Pfosten freien Innenraum schuf, doch der Grundplan des Wohn-StallHauses blieb über alle Jahrhunderte ähnlich. Archäologen können also Hausbaukreise beschreiben, größere landschaftliche Gebiete mit gleichartiger Zimmermannsarbeit. Ob sich darin nicht nur verschiedene wirtschaftliche Gründe spiegeln, sondern auch anderes nachbarschaftliches Verhalten und damit einen engeren Zusammenhalt einer beieinander siedelnden Gruppe, ist nicht einfach zu klären. Diese Schilderung vom positiven Wert des Wohn-Stall-Hauses, der Unterbringung von Menschen und Vieh unter einem Dach, kann auch durch abweichende Faktoren ergänzt werden: Manche sagen, das Vieh würde nicht das ganze Haus im Winter wärmen, die Herdstelle heizt (wie beim Kamin) auch nur die unmittelbare Nähe der Sitzplätze, vielmehr würde das Vieh im Hause gehalten, um es in erster Linie vor Diebstahl zu schützen. Nach allen Wandlungen im Laufe der Jahrhunderte bleibt aber doch das Wohn-Stall-Haus der Germanen als „Niederdeutsches Hallenhaus“ bis in die Gegenwart die regelhafte Bauweise eines Bauernhauses. Die Rinder wurden mit den Köpfen zur Außenwand des Hauses aufgestellt, daher die Bezeichnung Stall, und innen verliefen in der Mitte längs der Viehboxen die beiden Jauche- und Dungrinnen. Den höheren Rang der Halle ohne Stallteil zeigen auch besondere Herdstellen, die sorgfältig aus Lehm gearbeitet mit zusätzlichen Verzierungen versehen worden sind, so beispielsweise auch im Hallenhaus auf der Feddersen Wierde. Darüber gibt es später ein eigenes Kapitel (vgl. S. 346 ff.). Im Boden zeichnen sich die Umzäunungen der Gehöfte über kleine Pfostenreihen und Flechtwerkwände ab, manchmal auch als massive, Schutz bietende Palisadenzüge. Ein repräsentativer Torbau markierte oftmals den Zugang ins Innere der Anlage. Auf dem Hofareal standen mehrere Gebäude, das große Wohn-Stall-Haus, weiterhin Speicher und an den Zäunen entlang manchmal Schutzdächer für Wagen und Vieh. Mit Steinen gepflasterte oder mit Holzbohlen bedeckte Wege verbanden die Türen zu den einzelnen Häusern, in denen Herdstellen für Heizung und Kochen eingerichtet waren, manchmal mehrere, bis zu drei Herdstellen, anscheinend je nach Anzahl der Familien, die unter einem Dach des dann länger ausgebauten Hauses wohnten. Dieselbe Bauweise diente – je nach Bedarf – auch zur Errichtung eines großen einräumigen Hauses, einer offenen Halle ohne Viehställe, die als Versammlungsraum gedacht war. Meist im größten Gehöft einer Siedlung, schon der Fläche nach – in der wissenschaftlichen Literatur vielfach als „Herrenhof“ bezeichnet – gab es eine solche Halle, die sicherlich mehreren Zwecken diente, wie aus späterer schriftlicher Überlieferung wie beispielsweise dem angelsächsischen Beowulf-Epos (8. bis 10./11. Jahrhundert) erschlossen werden darf, dessen Handlung in Dänemark spielt. Hier repräsentierte das Familienoberhaupt, der „Herr“, der „Dorfhäuptling“ oder ein anderer ranghoher Adliger, lud seine Gefolgsleute, Krieger, zu Festen ein, die zugleich einen kultischen Charakter hatten, und er überblickte das Ganze vom „Hochsitz“ (vgl. dazu unten S. 342 ff.).
2.5 Kontinuitäten und eine Zusammenfassung
297
Ein wiederholt diskutiertes Thema ist die Frage nach Besiedlungslücken oder einem Siedlungsabbruch, zu Beginn der schriftlich überlieferten Wanderungen, entweder vom Kontinent nach England oder aus dem östlichen Deutschland nach Westen.952 Am Beispiel des unteren Odergebiets wird nach der Abwanderung der germanischen Bevölkerung im Verlauf der Völkerwanderungszeit im 5. Jahrhundert gesucht und nach neuen Siedlern gefragt (den Slawen?). Während die Wanderungsbewegungen der Spätantike heute auf elitäre Gefolgschaftsgruppen reduziert werden und andere Gruppen einem Transformationsprozess unterlagen, sieht Armin Volkmann deutliche Umbrüche in den großen kaiser- und völkerwanderungszeitlichen Siedlungen wie Göritz, Herzsprung, Dębczyno, Rollwitz, Kr. Uecker-Randow, Gegensee, Kr. Ückermünde. Den Grund sieht er für die frühe Völkerwanderungszeit in einer drastischen Klimaänderung, einer deutlichen Temperaturdepression und in einer nachfolgenden Trockenphase im 6. Jahrhundert. Es gibt aber kein monokausales Verhältnis zwischen Klimagunst und Abwanderung; denn das für die Römische Kaiserzeit beschriebene Siedlungsbild ist auch in der Völkerwanderungszeit trotz eines Siedlungsrückgangs noch fast überall erkennbar, und Lücken oder Abbrüche der Besiedlung scheinen eher auf den eingeschränkten Forschungsstand zurückzuführen sein. Zumindest haben sich einwandernde slawische Siedler von einem etwaigen Klimasturz nicht abhalten lassen, und wegen des geänderten Klimas sind die „germanischen“ Siedler auch nicht ausgewandert; die Gründe für den Wechsel sind vielgestaltiger gewesen (vgl. dazu unten S. 827). Ein anderer Zugang zu diesem Problemfeld erfolgt über Verhältnisse an der Weser in Niedersachsen anhand archäologischer Funde des 1. Jahrtausends n. Chr. am Zusammenfluss von Hunte und Weser, in der beschriebenen Siedlung Elsfleth-Hogenkamp (vgl. S. 220).953 „Die hier konstruierte mögliche Nachnutzung eines Bohlenweges (dendrodatiert 712/13 v. Chr.) noch mindestens 700 Jahre später in der Römischen Kaiserzeit erscheint ausgeschlossen, da es während des ersten vorchristlichen Jahrtausends im Zuge einer Klimaverschlechterung zu einem starken Wachstum der Moore gekommen ist und die Holzkonstruktion von Torfschichten überdeckt gewesen sein dürfte“, so Karl-Ernst Behre.954 Anhand der Keramik ist aber eine Nutzung des Platzes von der älteren vorrömischen Eisenzeit bis in die Völkerwanderungszeit zu belegen. Ein möglicher Klimawandel hat sich hier also doch nicht ausgewirkt. Die Siedlung Elsfleth-Hogenkamp, Ldkr. Wesermarsch, liegt an der Schnittstelle zwischen der nordseeküstennahen Gruppe und dem rhein-weser-germanischen Kulturkreis. Zum Fundmaterial gehören römische Importkeramik, nämlich Terra Sigillata, zahlreiche Fibeln und Fibelfragmente der jüngeren vorrömischen Eisenzeit bis ins frühe 6. Jahrhundert, außerdem zahlreiche römische Münzen des 1. Jahrhunderts 952 Volkmann 2013, 379; dazu Rez. E. Schultze, Germania 93, 2015 (2016) 376–381. 953 Mückenberger u. a. 2013, 205 ff.; Scheschkewitz 2011, 83 Abb. 5 Zeitstrahl der Fibelfunde von 0 bis 500. 954 Behre 2008, 48 f.
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2 Haus, Gehöft und Siedlung
v. bis zum 5. Jahrhundert. n. Chr., wobei Stücke des 2. Jahrhunderts überwiegen. Eine Pionieraxt wird „häufig als Beleg für die Anwesenheit römischen Militärs“ gesehen. Zu beachten ist die lange Nutzungsphase des Platzes von immerhin ca. 1000 Jahren, der zudem eine zentralörtliche Funktion gehabt hatte, abzulesen an der Masse der Metallfunde. Für meine späteren Überlegungen ist daran zu erinnern, „dass die Weser und ihre Nebenflüsse während der Römischen Kaiserzeit die wichtigsten Kommunikationsadern zwischen dem Imperium und den germanischen Stämmen im heutigen Nordwestdeutschland gebildet haben“, wie bereits Frank Berger (1992) und Michael Erdrich (2001) herausgestellt haben.955 Die Bearbeitung des sich in den Jahrhunderten verändernden Geländes mit archäologischen, pedologischen und geografischen Methoden hat nun erlaubt, die Rekonstruktion der verschiedenen Oberflächenniveaus mit ihren Datierungen anhand des eingeschlossenen Fundmaterials zu gewinnen, und zwar vier Phasen nachzuweisen: 1. Jahrhundert v. bis 1. Jahrhundert n. Chr., 2. Jahrhundert und 2./3. Jahrhundert n. Chr. (und die heutige Oberfläche).956 Im Elbe-Weser-Dreieck wurde ebenfalls nach der früher postulierten Siedlungslücke in der späten Völkerwanderungszeit gesucht.957 Die neuen Ergebnisse beweisen, dass es aber eine derartige Siedlungslücke im 6. Jahrhundert nicht gegeben hat, nur einen Rückgang und einen sehr bald erfolgenden Wiederanstieg der Besiedlung. Die Siedlung Flögeln-Eekhöltjen bestand auf 11,5 ha vom 1. bis ins 6. Jahrhundert mit insgesamt 150 Langhäusern und 156 Grubenhäusern, die 30 km südwestlich gelegene Siedlung Loxstedt, ergraben von 1981 bis 2006 auf 16,5 ha, war vom 1. bis ins 9. oder 10. Jahrhundert bewohnt. Einige der Siedlungen decken also rund 1000 Jahre ab, ohne eine Lücke. In Loxstedt ist eine durchgehende Besiedlung auch im sogenannten kritischen 6. und 7. Jahrhundert nachgewiesen. Zwar ist im westlichen ElbeWeser-Dreieck ein Rückgang der Besiedlungsaktivität im Verlauf des 5. Jahrhunderts festzustellen, aber kein Abbruch. Und die Siedlung Flögeln existierte bis ins 6. Jahrhundert, dann entsteht in nur 2 km Entfernung die neue Siedlung Dalem, die vom 7. bis ins 14. Jahrhundert bestanden hat, also als Ablösung gewissermaßen von Flögeln gesehen werden sollte. Diese Veränderung hat nichts mit einem Abbruch zu tun, auch wenn die Gründe für die Verlagerung nicht so einfach zu erkennen sind. Mit Intensivierung der Forschung hat sich wieder einmal gezeigt, dass Thesen – abgeleitet aus der lückenhaften schriftlichen Überlieferung – voreilig entstehen und sich im wissenschaftlichen Bewusstsein festsetzen. Erst die gesicherten archäologischen Befunde und auch die neue Datierung von Keramikmaterial beschreiben eine Fluktuation, was Besiedlungsdichte und Siedlungsstrukturen angeht. Siedlungsverlagerungen und 955 Berger 1992; Erdrich 2001a, b; Jöns 2009a, 30 Abb. 18; 2009b; Schlüter 2007; Folkers, Jöns, Merkel, Schlotfeldt, Siegmüller, Struckmeyer, Wolters 2018; Scheschkewitz 2011, 83 Abb. 5 Verteilung der Metallfunde und Fibeln von 0 bis 450 n. Chr. 956 Schlotfeldt, Folkers 2019. 957 Nösler, Wolters 2009.
2.5 Kontinuitäten und eine Zusammenfassung
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veränderte Dorfgrundrisse rufen den Eindruck von Abbruch hervor, während es sich nur um eine – die auch begründet werden sollte – Wandlung gehandelt hat. Es wurde schon berichtet, dass man anfangs angenommen hat, die Siedlung Flögeln endete im 5. Jahrhundert. Begründet wurde das damit, es gebe keine Funde, als sicherste Siedlungshinweise keine später zu datierende Keramikscherben bzw. es wurden eigentlich überhaupt keine Scherben gefunden in einem Areal, wohin die Siedlung gewandert sein könnte. Als aber über Luftaufnahmen Hausgrundrisse wieder weiter im Nordwesten von den bisherigen Siedlungsphasen gesehen worden sind und Ausgrabungen den Befund bestätigten, wandelte sich das Bild. Dabei zeigte sich, dass einerseits die Keramikformen sich gegenüber dem 5. Jahrhundert nicht geändert hatten und dass andererseits auch prinzipiell weniger Keramik in den Haushalten verwendet bzw. gebraucht worden ist. Wahrscheinlich spielten Gefäße aus Holz in dieser Phase wieder eine größere Rolle. Die Belegung der Gräberfelder wie Westerwanna oder Altenwalde im Raum der Niederelbe endete im 5. Jahrhundert (vgl. S. 849). Den Grund sieht man in der Wanderung von Sachsen nach England; auch die Feddersen Wierde wurde verlassen, aber erst später im 6. Jahrhundert. Vielleicht handelt es sich auch nur – eine andere These – um die Verlagerung derartiger Siedlungen aus Sicherheitsgründen weiter ins Binnenland. Denn inzwischen sind Gräberfelder und Siedlungen aus dem späten 5. und beginnenden 6. Jahrhundert mehrfach gefunden worden. Im Raum Sievern im ElbeWeser-Dreieck geht man gar von herrschaftlichen Strukturen mindestens bis Ende des 6. Jahrhunderts aus, und zu den Funden der jüngeren Phase gehören wertvolle Goldbrakteaten. Auch im Oldenburger Gebiet gibt es möglicherweise Besiedlung im 6. und 7. Jahrhundert, ebenso gibt es in Schleswig-Holstein, besonders im Gebiet der Schlei, keinen vollständig siedlungsleeren Raum, was die Befunde in Pollendiagrammen aus 30 Mooren oder Seen belegen. Es scheint also so zu sein, dass es sowohl im Elbe-Weser-Dreieck als auch in den überwiegenden Teilen Norddeutschlands einen gewissen Siedlungsrückgang während des 5./ 6. Jahrhunderts gegeben haben kann, der aber deutlich später liegt, als die Übersiedlungen nach England, die sich nach den Schriftquellen in der Mitte des 5. Jahrhunderts ereignet haben sollen. Der Siedlungsrückgang geht meistens noch deutlich über 600 hinaus und eine Zunahme ist wieder ab 750 belegt. Für die Kontinuitätsfrage ist wichtig, dass der sichtbare Bruch in der Keramiktechnologie offenbar nicht plötzlich erfolgt ist, sondern dass die Töpfertraditionen weiterlebten. Auch wenn für das Elbe-Weser-Dreieck während des 5. bis 7. Jahrhunderts ein gewisser Rückgang der Besiedlung zu erkennen ist, belegen aber die Befunde der Pollenanalysen doch auch hier eine mehr oder weniger große Restbevölkerung, zu der noch die Fundplätze zu fehlen scheinen. Mit dem Platz Loxstedt und der dortigen durchgängigen Besiedlung vom 1. bis 9. Jahrhundert, auch über die sogenannten dunklen Jahrhunderte, über die „gesuchte“ Siedlungslücke hinweg, zeigt sich, dass die Besiedlungsverhältnisse komplexer waren, als frühere archäologische Forschungsergebnisse anzudeuten schienen.
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2 Haus, Gehöft und Siedlung
Es ist wiederum eine Art Vorurteil aufgrund der schriftlichen Überlieferung, wegen der darin verzeichneten Auswanderung von Jüten, Angeln und Sachsen nach England deshalb im Heimatgebiet einen Siedlungsrückgang oder gar -abbruch zu erwarten. Wenn aus einer verdichteten und wachsenden Besiedlung ein Teil der Bevölkerung abwandert, dann braucht das in den archäologischen Quellenbestand der Dörfer keine merkbaren Spuren hinterlassen zu haben. Da aber in den Keramikformen und -verzierungen beiderseits des Kanals im 5./6. Jahrhundert tatsächlich große Ähnlichkeiten bestanden haben, belegt das Material den Kontakt aus Norddeutschland nach England oder auch von England nach Norddeutschland, worauf später noch eingegangen werden wird (vgl. S. 818). H. Hamerow hat sich in einer allgemeinen, weit ausgreifenden Übersicht für die Jahrhunderte von 400 bis 900 einschließlich der möglichen Siedlungslücke den Siedlungsplänen gewidmet und soziale Aspekte der damaligen ländlich lebenden Gesellschaft erkennen zu können versucht. Darüber wird in den nachfolgenden Kapiteln noch gesprochen werden.958 Es sind beispielsweise die teilweise oben beschriebenen Siedlungen von Nørre Snede, Vorbasse, Flögeln/Dalem, Gasselte, Odoorn und Katwijk, also Dörfer von Jütland über Norddeutschland bis in die nördlichen Niederlande. Mit dem Blick auf die Epoche der römischen Germanenkriege ist einwandfrei festzustellen, dass diese militärischen Ereignisse keine Veränderungen oder Einschnitte im Besiedlungsmuster in Germanien ausgelöst haben; vielmehr steht hinter der Geschichte einer dörflichen Ansiedlung ein jeweils individuelles Schicksal. Insgesamt ist mit einer Zunahme der Dorfgrößen und damit der Bevölkerungszahl zu rechnen. Denn auch in den Jahrhunderten der „Völkerwanderungszeit“ ist, trotz der in der Schriftüberlieferung geschilderten Abwanderungen, zum Beispiel im 3. bis 5. Jahrhundert aus Mitteldeutschland in den Südwesten Deutschlands, wo die Zuwanderer dann zur Bildung des Stammes der Alamannen beitrugen, im Herkunftsgebiet kein Bevölkerungsrückgang zu erkennen; es sind keine Verkleinerungen der Dörfer oder gar verlassene Siedlungen nachweisbar. Dasselbe trifft für mögliche Abwanderungen aus dem niedersächsischen Gebiet und aus Jütland im 4./5. Jahrhundert nach England zu, die im Ausgangsgebiet keine Lücken hinterlassen haben. Die antiken Schriftquellen berichten häufig davon, dass bei den Feldzügen ins Innere Germaniens die Gehöfte und Dörfer niedergebrannt und die Äcker verwüstet worden sind, während die Bewohner mit ihrem Vieh in die benachbarten Wälder geflohen wären. Niedergebrannte Dörfer sind im Bereich der Vormarschwege archäologisch bisher nicht nachgewiesen (vgl. S. 996), andernorts weitab im Norden gab es einige Schadensfeuer oder Schäden bei Nachbarschaftskriegen. Wenn es die Vernichtung von Häusern oder gar ganzer Siedlungen hier und da gegeben hat, dann wurden die Anwesen umgehend wieder aufgebaut.
958 Hamerow 2002; 2015, 71 Fig. 1 mit den ausgewählten Siedlungsplätzen.
2.5 Kontinuitäten und eine Zusammenfassung
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Der Nachweis der beschriebenen Kontinuitäten in fast allen Landschaften Germaniens von der vorrömischen Eisenzeit bis ins Mittelalter ist entscheidend für die historische Bewertung der Epoche. Bemerkenswert ist, dass die kriegerischen Ereignisse seit den Zügen der Kimbern im späten 2. Jahrhundert v. Chr. über die römische Okkupationsphase und die Völkerwanderungszeit hinweg bis ins 6. Jahrhundert in der Struktur der dörflich organisierten Landschaft also keinerlei Spuren hinterlassen haben. Es gibt keine Hinweise auf Abwanderungen – wie oben an Beispielen erläutert –, die dadurch erkennbar sein müssten, dass mehrere Siedlungen einer Landschaft verlassen wurden oder geschrumpft sind; vielmehr muss eher von einer Überbevölkerung ausgegangen werden, da die Dörfer bis ins 6. Jahrhundert und auch in der Folgezeit gewachsen sind, was die Größe des einzelnen Hofes, die wirtschaftliche Potenz und die Anzahl der Gehöfte in einer Siedlung betrifft. Zwei weitere charakteristische Elemente seien noch beschrieben: Zum einen kann für fast jede Siedlung – wenn ausreichend ausgegraben – eine gewisse Hierarchie der Gehöfte registriert werden, was Größe, Viehstapel und Zahl der Gebäude pro Gehöft angeht. Ob man beim größten Gehöft von Dorfherrschaft sprechen darf oder besser nur unterschiedliche Ränge und unterschiedlichen Reichtum innerhalb einer Siedlung erkennen kann, soll hier nicht diskutiert werden. Zum anderen gibt es in manchen dieser Großhöfe ein hallenartiges Gebäude, das weder zur Unterbringung von Vieh, noch zum Wohnen einer Familie gedient hat, sondern als Versammlung-, Fest- und zugleich als Kulthalle gedacht war. Wenn zu Anfang betont wurde, dass es in Germanien als Siedlungsform in der Regel nur gleichartige Dörfer gegeben hat, so sind doch zwei Ausnahmen zu nennen, zum einen befestigte Dörfer, die im nächsten Abschnitt beschrieben werden, und zum anderen in den späteren Jahrhunderten, beginnend noch im 3. Jahrhundert, Siedlungen mit besonderen Funktionen, nicht nur, was einen möglichen „Herrensitz“, zu erkennen an der großen Halle, ausmacht, sondern auch mit einer zentralen Bedeutung im Kult jener Zeit. Die Herausbildung von Zentralorten setzt massiv dann erst um die Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert ein; und seit dieser Zeit ist eine Hierarchie der Plätze in der Siedlungslandschaft zu verzeichnen, wobei nicht zuletzt kennzeichnend die Funddichte von Goldschätzen in Gestalt von Münzen und Ringschmuck in und bei den Gehöften war, später von Goldbrakteaten (die um 500 nach dem Vorbild römischer Medaillons geprägten Schmuckscheiben aus Gold mit neu geschaffenen Bildinhalten, vgl. unten S. 1206). Es sind Orte mit zentralen Funktionen für die weitere Umgebung. Wenn über das Aufgehende der Häuser auch nur wenig bekannt ist, da zumeist nur die Grundrisse und die Pfostenstellungen erhalten geblieben sind, gibt es doch eine Reihe von Befunden in den freigelegten Geländespuren eines Gehöftes und Dorfes, die Einblicke erlauben in die familiäre gesellschaftliche Gliederung und das Beieinander der zusammen wohnenden und wirtschaftenden Menschen. Die Größe des Wohn- und vor allem des Viehteils spiegelt unmittelbar den Reichtum der Bewohner. Die Abfolge desselben Hausverbandes über die Zeit, übereinander geschichtet
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2 Haus, Gehöft und Siedlung
in den Wurten der Marschenzone oder nebeneinander errichtet in den verschobenen Dörfern, lässt die Zunahme oder Abnahme des Vermögens der dort wohnenden Familie an den Ausmaßen der Wohn-Stall-Häuser erkennen, womit eine Vorstellung vom Schicksal eines Familienverbandes über die Generationen hinweg gewonnen wird. Sicherlich ist anhand des archäologischen Befundes keineswegs erkennbar, ob der Besitz oder die Bewohner im Anwesen gewechselt haben; doch gerade die Ähnlichkeit der aufeinanderfolgenden Strukturen in einer dörflichen Siedlung spricht eher für Kontinuität auch des Familienverbandes. Die Phosphatanalyse der Bodenschichten markiert in ihren unterschiedlichen Anteilen des Phosphatgehalts – Reste organischer Substanzen aller Art, vor allem vom Dung des Viehs, hinterlassen erhöhte Phosphatwerte im Boden – die Areale, wo Menschen um eine Herdstelle gesessen haben und mehr noch, wo Vieh aufgestallt gewesen ist.959 Bei diesen Untersuchungen hat sich auch ergeben, dass manche Häuser mit einem großen Stallteil nicht vollständig bezogen worden sind oder zu wenig Vieh vorhanden war. Das ist durchaus ein Blick in Lebensrealitäten jener Zeit in Germanien. Noch deutlicher spiegeln Herdstellen in den Häusern die Größenordnung und Struktur von Familienverbänden eines Gehöftes. Über die Kontinuität der Bauabfolge eines Hauses sind auch die Position und vor allem die Anzahl der Herdstellen unter einem Dach zu registrieren. Es gibt den Befund, dass nach und nach die Zahl der Herdstellen – um die sich regelmäßig die Bewohner sammelten – bis auf drei oder mehr anwuchs; parallel dazu wurde das Haus entsprechend verlängert oder ein weiteres Haus wurde auf derselben Parzelle nebenan errichtet. Was an Gebäuden zusammengehörte, wird manchmal direkt durch die Pflasterwege zwischen den Häusern angezeigt (oben Abb. 24), häufiger jedoch dadurch, dass ein Zaun mit Eingangstor das Gehöft umgab, wie in Flögeln bei Cuxhaven (Abb. 29). Der Zaun ist eine Rechts- und Besitzmarkierung, neben dem Schutz vor Wildtieren. Diese Erkenntnis, dass nämlich manchmal mehrere Wohn-Stall-Häuser auf einer Parzelle gestanden haben, hat von archäologischer Seite für diesen Befund zur Bezeichnung „Mehrbetriebseinheit“ geführt.960 Auch hier ist der Wandel über die Zeit, der Anstieg der Zahl der Gebäude und ebenso das Verschwinden von Häusern auf einem Grundstück häufig zu beschreiben: Die innere Dynamik einer dörflichen Siedlung ist damit im archäologischen Befund abgebildet. Zumeist nimmt die Größe und Zahl der Häuser einer Mehrbetriebseinheit über die Jahrhunderte bzw. Generationen zu, was nicht nur die Steigerung der wirtschaftlichen Kraft ausdrückt, sondern zugleich auch den Anstieg der Anzahl von Bewohnern und damit auch die Zahl der Männer und damit der Krieger, die gestellt werden konnten. (Dazu ausführlicher im Abschnitt Kriegswesen unten S. 673).
959 W. H. Zimmermann 1986 Taf. 1 in Farbe oder 66 Abb. 6; 1988; 2001a. 960 DFG 1984, 234 (Flögeln); DFG 1984, 235 (Archsum); Møller-Jensen 2010, 203 Fig. 6, Steuer 2015, 239 Abb. 11 (Tjørring).
2.5 Kontinuitäten und eine Zusammenfassung
303
Abb. 29: Eine Mehrbetriebseinheit in Flögeln mit Palisade und massiv ausgebautem Eingangstor des 2./3. Jahrhunderts, wie die Pfostenstellungen oben zeigen.
Die Beschreibung der Lebensverhältnisse in der Germania magna aus der Sicht der Germanen – was realistisch also nur anhand archäologischer Forschungsergebnisse möglich ist – schafft also ein anderes Bild als das der antiken Schriftsteller, das regelmäßig auch in modernen Geschichtsdarstellungen über die Germanen parallel zur römischen Welt wiederholt wird. Betont wird das zivilisatorische Gefälle: die Römer haben beheizte Steinhäuser und Bäder, die Germanen nur Holzhäuser; die Männer sind strubbelig (haben aber Rasierbestecke) und sind ungewaschen (aber Seife wurde aus Germanien ins Römische verhandelt, wie in schriftlichen Quellen überliefert ist), haben einen kärglichen Lebensstil, und ihre Siedlungen liegen versteckt in weiträumigen Waldgebieten. Dass sich die antiken Quellen dabei widersprechen, hat einst nicht gestört: Denn bei römischen Feldzügen durch dicht besiedelte Landschaften wurden regelmäßig Dörfer und bestellte Felder nach den Berichten über diese Vormärsche vernichtet, die also durch diese Siedlungslandschaften geführt haben. Die bleibende Tradition, wie man Gehöfte und Dörfer errichtete, wird auch bei Einwanderern aus Germanien in den Norden des Römischen Reichs erkennbar. Denn der archäologische Befund zeigt, dass germanische Siedler sich einerseits auf dem
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2 Haus, Gehöft und Siedlung
Boden der römischen Provinzen in teilweise entvölkerten Gebieten niederließen, andererseits aber weiter ihre aus Holz und Lehm bestehenden Gehöfte und WohnStall-Häuser in Sichtweite der in Stein errichteten römischen Gutshöfe bauten. Als germanisch werden Hausbauweise, aber auch Sachgüter wie Keramik, Kleidungsbestandteile wie Fibeln, Halsringe und Haarpfeile, Kämme mit dreieckiger Kopfplatte angesehen, auch aufgrund der Gräber in der Nähe dieser Siedlungen, die solche „germanischen“ Beigaben enthalten haben. Im nördlichen Gallien sind immerhin schon 20 Siedlungen in der Tradition Germaniens des 4. bis 5. Jahrhunderts erforscht worden. Der Schwerpunkt liegt in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts; im 6. Jahrhundert war dann keine dieser Siedlungen mehr bewohnt. Wie traditionell beim Hausbau verfahren wurde, haben Ausgrabungsbefunde in der Normandie gezeigt; denn hierhin waren Siedler aus Germanien aufgrund unbekannter Ereignisse gezogen und haben sich mitten in einer römischen Provinz zwischen den villae rusticae niedergelassen, kaum als Eroberer, eher als Partner für Söldnerdienste, als Foederaten. Beim Dorf Saint-Ouen-du-Breuil in der Normandie, 25 km nördlich der spätantiken Befestigung von Rouen, wurde in den Jahren 1994 bis 1997 eine rund 9 Hektar große „germanische“ Siedlung mit zahlreichen Wohn-Stall-Häusern ausgegraben, die ihre nächsten Parallelen in 450 km Entfernung zwischen Rhein und Weser hatten. Sie bestand von der Mitte des 4. bis ins 5. Jahrhundert n. Chr. Die Gefäßkeramik in dieser Siedlung von „Germanen“ ist zwar mehrheitlich römischer Produktion, aber auch germanische Töpfereierzeugnisse gibt es noch (vgl. oben S. 239). Diese Siedler in Nordostgallien hatten also ihre Vorstellungen vom Hausbau mitgebracht, denn die Grundrisse und Pfostenstellungen sind die gleichen wie in Westfalen. Die Übersiedler nach England jedoch im 4. und 5. Jahrhundert bauten andere Häuser mit anderen Grundrissen, nämlich beispielsweise mit abgerundeten Giebelseiten. Dieses schrittweise Eindringen von Bevölkerungsgruppen aus Germanien (eigenständig oder politisch gewollt und angesiedelt, organisiert durch die römische Verwaltung), führte zu einer „Germanisierung“ Galliens. Man wohnte nicht immer in Dörfern, sondern auch in Einzelsiedlungen entsprechend der Landesgliederung durch die römische Gutswirtschaft, also ist hier eine Integration in gallische Strukturen und Traditionen erfolgt. Dreischiffige Wohn-Stall-Häuser und zahlreiche Grubenhäuser standen z. B. auch in der Siedlung Gennep, 15 km südöstlich des spätantiken Kastells von Nijmwegen-Valkhof nahe der römischen Reichsgrenze. Sie war etwa von 390 bis 500 bewohnt (vgl. oben S. 236). Die Siedlung Neerharen-Rekem an einem Altarm der Maas ungefähr 7 km nördlich der spätantiken Befestigung von Maastricht wurde auf dem Gelände einer in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts zerstörten villa rustica errichtet und bestand etwa von 360/370 bis in die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts mit mehreren dreischiffigen Hallenhäusern und zahlreichen Grubenhäusern (vgl. S. 239). Weitere germanischen Siedlungen mit ein- und zweischiffigen Holzpfostenbauten wurden bei verschiedenen spätantiken Militärlagern gegründet, auch solche Dörfer bei aufgegebenen einheimischen Siedlungen und bei verlassenen
2.5 Kontinuitäten und eine Zusammenfassung
305
villae rusticae, von denen manche parallel dazu reduziert weiterbewohnt wurden. Anscheinend haben germanische Siedler auch – ablesbar am Fundmaterial – auf provinzialrömischem Niveau einige villae rusticae weitergeführt. Im Abschnitt über die Ansiedlung von Germanen im Südwesten auf ehemaligen römischen Reichsboden, den agri decumates, die als Alamannen benannt wurden, berichte ich über das Verhältnis von Neusiedlern zur römischen Restbevölkerung und den verbliebenen und hinzugekommenen Baustrukturen (vgl. S. 1075 f.). Mit den Schilderungen in diesem Abschnitt ist das zweite Vorurteil widerlegt, dass nämlich die Wohnweise der Germanen und ihre Häuser primitiv oder diese dem römischen Steinbau unterlegen gewesen wären. Der Bau der mächtigen Wohn-StallHäuser erfordert Erfahrung in Zimmermannstechniken, Planung und exakte Zielvorstellung; diese Hausform hat sich über viele Jahrhunderte bis in die Gegenwart bewährt. Der umfangreiche umbaute Raum verband die Bewohner, ihre Tiere und die zu speichernden Nahrungsmittel zu einer Einheit unter einem Dach, geschützt vor Wind und Wetter und auch besser zu kontrollieren. Außerdem gab es zusätzliche Nebengebäude wie Scheunen und Werkstätten. Eine entscheidende Erkenntnis der archäologischen Forschungen der letzten Jahrzehnte ist, um diesen Sachverhalt zu betonen, dass die Ansiedlungen in der Regel über Jahrhunderte bestanden haben, also über eine erstaunliche Kontinuität verfügten. Ihre Existenz richtete sich offensichtlich nicht nach den Periodisierungen der Archäologie, aber auch nicht nach der politischen Ereignisgeschichte. Die Siedlungen hatten zudem ein individuelles Schicksal, d. h. die Gründung und auch das Ende der Dörfer waren recht unterschiedlich. Manche Siedlungen wurden in der Mitte der vorrömischen Eisenzeit gegründet und wurden in der Mitte der Römischen Kaiserzeit oder erst während der Völkerwanderungszeit aufgegeben (sofern die Ausgrabungen auch das Umfeld erschlossen haben und nicht die Verlagerung der Siedlung ein Ende nur vortäuschte.) Andere Siedlungen wurden erst während der ersten Jahrhunderte n. Chr. gegründet und überdauerten dann weit über die Völkerwanderungszeit hinaus bis ins Mittelalter. Dieselbe Beobachtung kann man ebenfalls anhand der Gräberfelder machen (vgl. unten S. 969 ff.). Nicht zu übersehen ist, dass Formen des kollektiven Erinnerns, wie Jan und Aleida Assmann das formulieren, und damit verbunden für die hier behandelten Geschehnisse und Verhältnisse noch im Jahr 2018 als alte Ansichten und Vorurteile publiziert werden. Das geschieht leicht, wenn die Grenzen zwischen den Fachdisziplinen nicht überschritten werden. Man kann also lesen, dass Rhein-Weser-Germanen in Streusiedlungen siedelten, dem gegenüber die Elbgermanen in großen, dorfartigen Ansiedlungen lebten. Vielmehr sind, wenn ausreichend ausgegraben worden ist, überall größere dörfliche Siedlungen erkannt worden. Rhein-Weser-Germanen griffen im 3. Jahrhundert auch nicht provinzialrömische Vorbilder auf, wenn ihre Architektur ohne zusätzliche Stützpfeiler in der Halle auskamen, während Elbgermanen noch lange dreischiffige Häuser mit Kerngerüst gebaut
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2 Haus, Gehöft und Siedlung
haben.961 Man muss schon genau die geographische Situation beachten; im unmittelbaren Grenzgebiet zu den römischen Provinzen und innerhalb der Grenzen fand tatsächlich nach und nach eine „Romanisierung“ statt, wie ich das geschildert habe (vgl. S. 230), aber nicht in den Siedlungslandschaften der Rhein-Weser-Germanen bis dicht an den Limes heran. Es ist ein Kurzschluss aufgrund eingeschränkter Forschungsergebnisse, wenn es heißt, die Weiler im Fritzlar-Wabener Becken seien im Durchschnitt nur 250 m groß mit zugehörigen Freiflächen. Eine solche Aussage liegt an dem beschränkten Ausschnitt der Grabungsflächen. Ein guter Hinweis in diesen zitierten Publikationen aber ist, dass bei den Häusern die Lehmwände weiß gestrichen waren. Das habe ich noch nicht erwähnt. Im hier geschilderten und zitierten Buch962 aus dem Jahr 2018 werden die Belege in der antiken schriftlichen Überlieferung zusammengestellt, dass Dörfer regelmäßig zerstört und niedergebrannt wurden beim Durchzug der Legionen, die Herden wurden von den Einwohnern in die Wälder weggetrieben und Gefangene mitgenommen, sodass sie keine Lebensmittel für die durchziehenden Truppen liefern konnten. Ich sehe darin einen Widerspruch; denn warum sollten die römischen Militärs so töricht gewesen sein, sich so in Zwänge zu begeben und einen unnötigen großen Tross mitzunehmen; und außerdem gab es – ebenfalls in den Schriftquellen überliefert – mit manchen germanischen Gruppen, durch deren Siedlungsgebieten gezogen wurde, brauchbare Partnerschaften. Übrigens sind wie beschrieben keine Brandhorizonte, nur einige Schadensfeuer in Jütland archäologisch nachgewiesen. Warum übrigens sollte Tacitus (wie es im zitierten Buch heißt) keine Germanen gesehen haben; solche waren doch seit langer Zeit auch in Rom selbst anzutreffen, sogar in der Nähe des Kaisers. Entscheidende Ergebnisse zur Beurteilung der damaligen Lebensverhältnisse und Lebensumstände in Germanien sind also: – Die Siedlungsdichte ist beachtlich, die Dörfer liegen in Sichtweite beieinander, oft nur 2 bis 3 km auseinander. – Die Dörfer sind recht groß, bestehen oftmals aus 10 bis 25 Gehöften. – Sie weisen eine lange Kontinuität über Jahrhunderte auf, manchmal von der vorrömischen Eisenzeit bis ins Mittelalter. – Aber das einzelne „Schicksal“ eines Gehöftes oder auch des gesamten Dorfes ist ganz individuell und somit auch unterschiedlich.
961 Moosbauer 2018, 73 ff. und 80, so geschildert in erzählenden Teil der Darstellung. 962 Moosbauer 2018, 79, 83, 85, 103.
3 Befestigte Siedlungen, Burgen und Landwehren Eine der Vorurteile über die Besiedlungsformen in Germanien war die Behauptung, „Germanen“ würden keine Burgen bauen, hätten das nicht nötig, sondern verteidigten sich im offenen Feld. Der Sieg über die Legionen des Varus 9 n. Chr. im Teutoburger Wald bzw. bei Kalkriese wäre das beste Beispiel. Die Behauptung ging aber eindeutig auf den eingeschränkten Stand der Forschung zurück. Gerhard Mildenberger hat dann zwar zuerst versucht, wenigstens einige Befestigungen in Germanien zu katalogisieren, um damit einerseits zu zeigen, dass Befestigungen äußerst selten seien, dass es aber immerhin einige gab.963 Es ist auch zu unterscheiden, was unter Befestigungen zu verstehen ist. Burgen als Wohnsitze adliger Familien wie im Mittelalter gab es sicherlich nicht, weil sich eine gesellschaftliche Gruppe „Adlige“ doch wohl (noch) nicht herausgebildet hatte; sofern man nicht die Herrenhöfe in den Siedlungen als Adelswohnsitze akzeptieren will (vgl. dazu S. 342). Leichte Befestigungen von Gehöften und Siedlungen mit Graben und Palisade gab es seit dem Neolithikum und ebenso dann während der vorrömischen Eisenzeit und der Römischen Kaiserzeit in Germanien. Sie dienten zum Schutz, aber nicht unbedingt im militärischen Sinne. Stärkere Befestigungen mit tiefen Gräben und Wällen gab es jedoch ebenfalls, auf exponierten Berggipfeln und Bergspornen, die man als Burgen beschreiben kann. Außerdem gab es wie im Mittelalter Wall-Graben-Linien als Landwehren, die größere Gebiete abgrenzten und womit durch sie hindurch führende Wege kontrolliert und auch Territorien abgesichert wurden. Burgen und Befestigungen wurden notwendig, wenn die Sicherheitslage einer Bevölkerung Schutzmaßnahmen erzwang. Diese militärisch gesehenen Bedrohungen hatten zu den verschiedenen Zeiten auch entsprechend unterschiedliche Ursachen. Zumeist waren es Veränderungen in der sozialen und politischen Organisation der Gesellschaft, die zu Kriegen untereinander geführt haben (vgl. unten S. 673). Es gab sowohl nachbarschaftliche Auseinandersetzungen als auch Überfälle aus größerer Entfernung. Die römischen Angriffe ins Innere von Germanien, die mit dem täglichen Ausbau von befestigten Marschlagern entlang der Einfallslinien verbunden waren, haben – weil das zu schnell ging und nicht vorhersehbar war – zu keinen eigenen Gegenbefestigungen auf der Seite der Germanen geführt. Die älteren Befestigungen schon in der vorrömischen Eisenzeit und die späteren Burganlagen galten den internen Auseinandersetzungen. Im Abschnitt über die Heeresausrüstungsopfer im südlichen Ostseegebiet diskutiere ich die Hintergründe, denn im Verlauf der vier Jahrhunderte n. Chr. entwickelten die Gesellschaften in Germanien größere politische Strukturen, auf dem Wege zu kleinen Königtümern, die stärker durchorganisierte eigene Kriegerverbände erzwangen und damit auch für die Verteidigung gegen solche Gruppen einen Festungsbau erforderlich machten. Wenn weiter im Verlauf 963 Mildenberger 1977. https://doi.org/10.1515/9783110702675-011
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3 Befestigte Siedlungen, Burgen und Landwehren
der darstellenden Beschreibung die verschiedenen Phasen und Arten der Burgen geschildert werden, dann ist auf die sozial-politischen Verhältnisse zu blicken. Auch die späteren Kriege gegen die römischen Legionen wie beispielsweise in den Markomannenkriegen des späten 2. Jahrhunderts oder die – kaum überlieferten – Einfälle römischer Legionen im 3. Jahrhundert führten ebenfalls nicht zum eigenen Burgenbau. Bis ins 5. Jahrhundert, den Kriegen im Zuge der Expansion der Hunnen unter Attila (gestorben bzw. ermordet 453)964 oder parallel zum Ende des Weströmischen Reichs 475 spiegelten die Befestigungen, auch wenn ganze Landschaften von ihnen besetzt waren, nicht diese großpolitischen Veränderungen, sondern erwuchsen aus den expandierenden Machtbildungen in der eigenen germanischen Welt. Der Bau von Befestigungen war Zeichen von sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen, die zu neuen politischen Organisationsformen führten und zugleich gesellschaftliche Krisen abbilden.
3.1 Befestigte Siedlungen Ein Zitat aus der Schriftüberlieferung sei hier zu Anfang des Kapitels als Ausnahme gebracht. Auf dem Rückmarsch von seinem Feldzug gegen die Chatten im Jahr 15 n. Chr. kam Germanicus dem Hilferuf des Cheruskers Segestes nach, der von Arminius belagert wurde: Wenig später trafen Gesandte von Segestes ein mit der Bitte um Hilfe gegen die Übermacht seiner Landsleute, von denen er eingeschlossen wurde; die stärkere Stellung bei ihnen besaß ja Arminius […]. Dem Germanicus war es der Mühe wert umzukehren; es kam zu einem Kampf mit den Belagerern und zur Befreiung des Segestes samt einer großen Schar von Verwandten und Gefolgsleuten. Dabei waren vornehme Frauen, darunter die Gattin des Arminius und Tochter des Segestes […]. Man brachte auch Beutestücke von der Niederlage des Varus, die zumeist den Kriegern, die sich jetzt unterwarfen, als Beuteanteil gegeben worden waren ….965 (Tacitus, Annalen I, 57) (Neque multo post legati a Segeste venerunt auxilium orantes adversus vim popularium, a quis circumsedebatur, validiore apud eos Arminio […] Germanico pretium fuit convertere agmen, pugnatumque in obsidentis, et ereptus Sgestes magna cum propinquorum et clientium manu. Inerant feminae nobiles, inter quas uxor Arminii eademque filia Segestis […] ferebantur et spolia Varianae cladis, plerisque eorum qui tum in deditionem veniebant praedae data).966
Zwar wird nicht gesagt, worin oder wie sich Segestes verschanzt hatte bzw. wie die Belagerung organisiert war. Die Beschreibung lässt aber auf ein befestigtes Gehöft schließen. Der knappe Text spricht von einer größeren Zahl von Menschen, genannt
964 Die hunnische Machtbildung: Mischa Meier 2020, 435 Karte 17. 965 Steuer 2015a, 343. 966 Heller 1982, 82 f.
3.1 Befestigte Siedlungen
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werden die Familie, Gefolgsleute des Segestes und dessen Krieger, die belagert und von Germanicus befreit wurden. Wie wird dieses herrschaftliche Anwesen des Segestes, das so vielen Menschen Schutz bot, nicht leicht erobert werden konnte, sondern belagert werden musste, ausgebaut gewesen sein? Das Gehöft scheint nicht nur aus einem großen Haus bestanden zu haben, umgeben von einem Zaun oder einer Palisade, sondern wird stärker befestigt gewesen sein. Wie sehen dazu archäologische Befunde aus? Mehr oder weniger stark befestigte Großhöfe hat es in vielen Perioden der Ur- und Frühgeschichte immer wieder in verschiedenen Phasen gegeben. Solche aus der frühen Römischen Kaiserzeit, den ersten Jahrhunderten n. Chr. in Germanien, wären somit nichts Besonderes. Auch für die Latènezeit (bis gegen 50 v. Chr.) sind Gehöftplätze mit Graben- und Palisadeneinfassung in dichter Verbreitung in Süddeutschland und Nordfrankreich nachgewiesen. Sie werden als Viereckschanzen bezeichnet, wegen des öfter noch erhaltenen Walles; und früher wurden sie als Kultanlagen gedeutet, haben aber jetzt nach zahlreichen Ausgrabungen erkennen lassen, dass es sich um landwirtschaftliche Gehöfte gehobenen Ranges handelt, die entweder abseits oder auch inmitten sonstiger Gehöftverteilung lagen.967 Aus der späten Latènezeit bzw. der jüngsten vorchristlichen Eisenzeit sind weiter im Norden, beiderseits des Niederrheins, ebenfalls befestigte Siedlungen mit zahlreicher Innenbebauung in offener Landschaft nachgewiesen. Beispiele sind das Großgehöfte der Latènezeit bei Niederzier968 oder die Anlage bei Jülich-Bourheim aus der späten Latènezeit.969 So gibt es räumliche und zeitliche Zusammenhänge zu den ebenfalls befestigten Herren-Gehöften in Germanien. Befestigte Großsiedlungen mit „stadtartigem“ Charakter wie die Oppida, zumeist, aber nicht nur, Höhenbefestigungen, werden allgemein als „keltisch“ angesprochen; sie reichen in ihrer Verbreitung jedoch weit nach Germanien hinein, vom Süden bis zum Nordrand der Mittelgebirge in Mitteleuropa, was aus topographischen Gründen naheliegend ist, so dass schon deshalb mögliche Befestigungen im Flachland aus der späten vorrömischen Eisenzeit anders strukturiert und gebaut gewesen sein müssten. Die Höhensiedlungen der Mittel- und Spätlatènezeit zwischen Saale, Weser und Rhein im Vergleich zum Vorkommen von Keramik im Stil der Przeworsk-Kultur sind systematisch verteilt und bilden teils einen zeitgleichen Gegensatz.970 Manche Archäologen sehen darin eine mögliche Verteidigung gegenüber Einwanderern, obgleich das nachbarschaftliche kriegerische Gegeneinander naheliegender ist, wenn es nicht nur Statussymbole waren wie bei der mittelalterlichen Burgenverteilung.
967 Wieland 2006; jetzt neue Grabungsergebnisse und Kartierungen in: Vorträge des 37. Niederbayerischen Archäologentages, hrsg. von L. Husty und K. Schmotz (Rahden/Westf. 2019), unter den Autoren auch G. Wieland; zu Hallen in diesen Herrenhöfen vgl. Wendling 2019. 968 Steuer 2002c; Joachim 2007, 53 Abb. 27 jüngere Phase. 969 Joachim 2007, 55 Abb. 29 Plan des Gehöftes. 970 M. Meyer 2013e, 286 Abb. 7.
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3 Befestigte Siedlungen, Burgen und Landwehren
Befestigungen gab es während der frühen vorrömischen Eisenzeit in der norddeutschen Tiefebene jedenfalls auch.971 Ausgrabungen haben 1989 bis 2008 sowie 2015 bis 2016 bei Wittorf, Stadt Visselhövede, eine ringförmige Befestigungsanlage freigelegt, eine innere doppelte Pfostenreihe von 130 m Durchmesser und davor in kleinem Abstand einen 5 m breiten Graben, datiert ins 5. Jahrhundert bis um 400 v. Chr. Im Inneren gibt es keine erkennbaren Bebauungspuren. Unmittelbar davor bestand eine frühmittelalterliche Siedlung mit einem Dutzend Langhäuser und 37 Grubenhäuser, die vom 7. bis 9. Jahrhundert bewohnt war. Befestigungen sind bisher nur in der Mittelgebirgszone registriert worden, Wittorf ist nun die nördlichste Anlage im norddeutschen Flachland, wie die Karte zeigt. Wittorf war vielleicht auch kein befestigtes Dorf, denn es gibt im Inneren nur einen geringen Fundanfall, so dass es sich um eine Fluchtburg oder um eine kultische Anlage gehandelt haben wird. Die Schnippenburg im Landkreis Osnabrück, datiert ins 3.-2. Jahrhundert v. Chr., ist eine Befestigung mit umfassend belegten Kultaktivitäten, mit Wall und Graben sowie reichem Fundmaterial aus Eisengeräten wie Sicheln und Tüllenbeile und tiefen Schächten mit geopferter Keramik und anderen Sachgütern, worüber in den Abschnitten über Opferplätze und Kultbauten berichtet wird (vgl. S. 614 und 653).972 Die Pipinsburg bei Osterode im Südharz ist nach früheren Phasen ebenfalls in dieser Epoche (archäologisch gesprochen der Mittel- und Spätlatènezeit) als Befestigung mit Oppidum-Charakter zu werten.973 Dass sich am Rande der Mittelgebirgszone auch eine kulturelle Grenze festmachen lässt, spiegeln z. B. unterschiedliche Grabformen. Die römischen Armeen zogen also teilweise durch Landschaften, deren Zugehörigkeit, wenn man noch bei alten ethnischen Bezeichnungen bleibt, zum keltischen oder zum germanischen Siedlungsraum unklar oder wechselnd war. Es kommt auf den Umfang der ausgegrabenen Flächen an, die bei den Untersuchungen von Siedlungen nicht nur Ausschnitte erfassen sollten, sondern möglichst das Gesamtareal, auch wenn es viele Hektar ausmachte, freilegen muss, um tatsächlich mögliche Befestigungslinien auch mit erfassen zu können, die in der Regel weiter außerhalb um die Siedlungen herum verliefen. Als Befestigungen werden in Jütland die auffälligen mehrreihigen, drei- bis sechs oder gar noch zahlreicheren „Pfostenloch“-Linien betrachtet (sogenannte Langelinjer), die über weite Strecken verlaufen. Die Gruben sind 30 bis 40 cm tief eingegraben, positioniert im Abstand von 50 cm und weniger.974 Es gibt sie bei Grøntoft (1966 ergraben), bei Ringkøbing und Holstebro (2001 ergraben), bei Lystbækgård nördlich von Ringkøbing, (2016 ergraben). In Dänemark sind 2019 um 50 solcher Grubengürtel bekannt. Die Datierung ist für meine Darstellung von Befestigungen in Germa971 Bock 2018, 197 Abb. 2 Plan der Befestigung und der frühmittelalterlichen Siedlung; Hesse 2010, 332 Abb. 6 Palisade, 338 Abb. 14 Karte der eisenzeitlichen Befestigungen. 972 Möllers 2007; 2009; auch Nikulka 2019, 186 f. mit Abb. 1 und 2; Hellmann 2020. 973 Schlüter 2003; Caselitz, Schlüter 2013. 974 Eriksen, Rindel 2019, 14 Abb.; Eriksen, Rindel (Red.) 2018.
3.1 Befestigte Siedlungen
311
nien eigentlich zu früh, nämlich ältere vorrömische Eisenzeit 500 bis 200 v. Chr. Die meisten Befunde gibt es in Westjütland, im Amt Ringkøbing allein etwa 25; es sind gerade verlaufende und gekurvte Gürtel. Als Zweck wird einerseits die Befestigung von Siedlungen und sogar von größeren Landschaftsbereichen gesehen. Doch auch kultisch-rituelle Funktionen können möglich sein, wenn sie mit den Reihen von Kochgruben, die auch bis 400 m lang sind, verglichen werden. Es kann sich zudem um Kontrollwerke von Wegen, also um Wegesperren gegen Viehdiebe gehandelt haben. Schließlich werden diese Lochreihen sogar mit Caesars Belagerungsbefestigungen vor Alesia verglichen. Entscheidend ist, dass in den Löchern keine (!) Pfosten eingegraben waren, vielmehr sind angespitzte Hölzer dazwischen nachgewiesen. Diese sprechen für Festungsanlagen, zudem es sich in jenen Jahrhunderten durchaus um unruhige und kriegerische Zeiten gehandelt hat. Hingewiesen wird auf das Waffenopfer von Hjortspring (vgl. dazu S. 713). Eine weitere Deutung vermutet noch, dass die Pfostenlöcher längere hölzerne Stangen über dem Boden trugen, womit auf diese Weise eine Barriere geschaffen worden wäre, auch wohl als eine militärische Funktion in Form eines Annäherungshindernisses. Ähnliche Befestigungen dieser Epoche sind die Siedlungen von Borremose, Lyngsmose und Brændgårds Hede oder auch Risbjerg auf Bornholm, was alles für eine stark territorial gegliederte Landschaft mit befestigten Grenzen und gesicherten Zentralorten spricht.975 Die Siedlung Brændgårds Hede nördlich von Ringkøbing mit zahlreichen Wohn-Stall-Häusern wird von zwei dieser Pfostengürtel eingefasst. Der innere Gürtel ist mit nur 214 m der kürzeste derartiger Pfostengürtel, ein wesentlich längerer mit 2,3 Kilometer gibt es nahe Risum Østergård bei Holstebro, andernorts sollen sogar bis 3,5 km lange Riegel vorkommen. Das erinnert übrigens an die Palisaden-Wall-GrabenBefestigungen der Römischen Kaiserzeit in Jütland (vgl. S. 335). Die Siedlung Brændgårds Hede der frühen vorrömischen Eisenzeit ist schon 2010 ausführlich veröffentlicht worden.976 Deutlich nachgewiesen sind die angespitzten Hölzer zwischen den Gruben als Ring um die Wohn-Stall-Häuser. Diese Siedlung war anscheinend recht klein mit anfangs nur zwei bis drei gleichzeitigen Gehöften, die von 500 bis 250 v. Chr. aber immer wieder neu aufgebaut wurden. In Jütland sind in den letzten Jahrzehnten einige befestigte Siedlungen ausgegraben worden, die in die vorrömische Eisenzeit bis in die Zeit um Chr. Geb. datiert werden und bei denen es sich tatsächlich um militärische Schutzbauten handelt.977 Sind die Umwehrungen oftmals auch nur Gräben und schlichte Palisaden, so gibt es auch stärker befestigte Anlagen. Zur ältesten bisher bekannten Befestigung gehört 975 Allgemeine Auswertung J. Christensen 2011a. 976 Schlosser Mauritsen 2010, 268 Fig. 6 angespitzte Hölzer, 269 Fig. 7 Wohn-Stall-Häuser mit Einhegung durch die Grubenzonen, 271 ff. andere Grubenzonensysteme in Dänemark, 276 Fig. 12 Karte für West-Jütland. 977 Martens 2007; 2010; 2009, 336 Abb. 2 Plan von Borremose in Farbe, 2011a, 160 f. zu Befestigungen auf Seeland.
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3 Befestigte Siedlungen, Burgen und Landwehren
Borremose in Himmerland, Jütland, geschützt in einer Niederung gelegen mit einem starken Befestigungswall und breitem Graben, 150 m in Nord-Süd- und 80 bis 100 m in Ost-West-Erstreckung (Abb. 30).
Abb. 30: Die Befestigung Borremose in Nordjütland mit zwei Phasen.
Es gab Ausgrabungen schon von 1929 bis 1945, aber dann wieder in den 1960er Jahren und erneut 1989 bis 1996. Ein steingepflasterter Weg führte ins Innere, wo Grundrisse von 33 Langhäusern ergraben sind, die jedoch nicht gleichzeitig gestanden haben. Die Siedlung wurde im 4. Jahrhundert v. Chr. gegründet und blieb bis ins 2. Jahrhundert v. Chr. bestehen, also rund drei Jahrhunderte. Wie viele Gebäude gleichzeitig gestanden haben, ist aufgrund des unscheinbaren Fundmaterials nicht sicher zu beschreiben; jedoch heben sich in den verschiedenen Phasen jeweils Baukomplexe aus mehreren, meist drei Häusern aufgrund ihrer Größe und Lage heraus, die als „Herrenhöfe“ gedeutet werden, als Sitz des Siedlungsgründers und des reichsten Familienverbandes. Die Siedlung Borremose liegt im Heimatgebiet der Kimbern. Ihre Befestigung deutet auf Kriegszeiten. Die erste Phase des Dorfes aus der Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. ist zeitgleich mit dem ältesten bekannten großen Heeresausrüstungsopfer von Hjortspring auf Alsen, wo die Waffenausrüstung mehrerer hundert Krieger und vier Boote eines Heeres im Moor versenkt worden waren. Darüber wird später berichtet (vgl. unten S. 713 ff.).978
978 Randsborg 1995; 1999.
3.1 Befestigte Siedlungen
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Auf der kleinen Insel Serejø nordwestlich von Seeland nennt J. Martens eine Befestigung mit verschiedenen vorgeschichtlichen Phasen auf einem kleinen Hügel von Borrebjerg, also nicht wie die genannten anderen in der Niederung. Doch die Befestigungslinien umziehen zu Füssen den Hügel. Waffenfunde werden als Votivopfer gedeutet, die J. Martens mit den Waffenniederlegungen in Uppåkra vergleicht.979 Vielleicht gibt es eine Befestigung bei Ubby auf Seeland, und ebenso findet sich bei Trelleborg nahe Slagelse Keramik der frühen vorrömischen Eisenzeit. Als drittes Beispiel wird ein Damm bei Tibirke im Norden von Seeland angeführt, wo die Situation mit Borremose vergleichbar ist; ebenfalls datiert in die frühe vorrömische Eisenzeit. Eine weitere mehrphasige Befestigung, vergleichbar ebenfalls mit der Lage von Borremose, befindet sich bei Orebygård auf Lolland. Die Zahl der Befestigungen in der vorrömischen Eisenzeit und der Römischen Kaiserzeit wird sich also im Ostseegebiet vergrößern, auch wenn nicht alle Plätze eindeutig Burgcharakter haben wie die anderen von J. Martens genannten Anlagen.980 Etwas jünger, aber ähnlich in der Lage, hier auf einem leichten Höhenzug, und mit vergleichbarer Struktur, ist die befestigte Siedlung von Lyngsmose im mittleren Westjütland nahe Ringkøbing, ausgegraben in den Jahren 1999 bis 2002.981 Ihre Größe beträgt etwa 90 x 60 m. Mit dem Hinweis darauf, dass die Siedlungen der vorrömischen Eisenzeit in Dänemark dicht beieinander, oft nur 2 km voneinander entfernt lagen, wird diese stark befestigte mehrphasige Siedlung als zentraler Platz innerhalb der Siedlungsstreuung eingeordnet. Sie ist mit einem breiten und tiefen Graben, in denen angespitzte Hölzer eingesetzt waren, gesichert. Zahlreiche Wohn-Stall-Häuser sind im Inneren nachgewiesen, also Gebäude auf landwirtschaftlicher Grundlage und mit Viehhaltung, anhand der Boxen erkennbar. Von denen sind im südlichen Bereich in der älteren Phase um 100 v. Chr. mit sechs Gebäuden zwei bis 13 m lange Häuser durch einen inneren Zaun zusammengefasst. In der jüngeren Phase standen 15 größere und zwei kleinere Häuser in der Befestigung. Die Ausgräber schätzen insgesamt 120 bis 150 Bewohner. In diesem Zusammenhang bietet die Siedlung Priorsløkke beim Horsens Fjord in Jütland, 1980 bis 1983 ausgegraben, einen besonders komplizierten Befund.982 Ein Befestigungsgraben schließt die gesamte Siedlung mit zahlreichen Wohn-StallHäusern bzw. Gehöften ein, datiert in das 1./2. Jahrhundert n. Chr. Auf einem Areal von 150 zu 75 m sind 47 Häuser unterschiedlicher Größe, zweiphasig auf einer Insel in der sumpfigen Niederung einst aufgebaut worden. Die erste Hauptphase bestand aus
979 Martens 2011a, 161. 980 Martens 2007. 981 Rindel 2001b; Eriksen, Rindel 2003, 126 Abb. 3 und 128 Abb. 6 Befunde der Periode III a mit dem ersten eingezäunten Hof und den Häusern 1 und 2; 2005; Martens 2007, 93 f. Fig. 5 mit komplettem Plan der 2 Phasen; Steuer 2015a, 348 Abb. 7. 982 Kaul 2003a, 463 Abb. 69 Gesamtplan; weitere Befestigung auf Bornholm bei Rispebjerg J. Christensen 2011a, 93.
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3 Befestigte Siedlungen, Burgen und Landwehren
14 bis zu 12 m langen Häusern, die zweite von Phase aus drei 15–16 m langen Häusern. Die Siedlung war bis etwa 200 n. Chr. bewohnt und wurde bei kriegerischen Ereignissen zerstört. Ein 3 m breiter und rund 2 m tiefer Befestigungsgraben mit einer Palisade dahinter wurde erst in dieser Spätphase, kurz vor der Zerstörung der Siedlung errichtet. Die Ausgräber meinen nun, dass dieses Dorf somit gar nicht als befestigte Siedlung zu betrachten sei; denn die Anzahl der verbauten Palisadenpfosten entspräche genau der Anzahl aller Hauspfosten. Erst durch die Zerstörung des Dorfes und die Weiterverwendung der Hölzer war der Bau der Befestigung möglich geworden, in einer bedrohlichen Zeit. Weil die Siedlung inmitten eines größeren Territoriums lag, über das ein „Häuptling“ geherrscht habe, hätte er als Kriegsfürst die Möglichkeit zu befehlen gehabt, das Dorf zu zerstören, um eine sichere Befestigung zu bauen. Experimente haben gezeigt, dass nur 40 Männer in einer Woche Graben und Palisade haben errichten können. Dieser komplexe Befund spiegelt einen innergermanischen Krieg, in einer Zeit, als auch im Moor von Illerup Jütlands erstes Heeresausrüstungsopfer niedergelegt worden ist. Hingewiesen sei an die flüchtigen Befestigungen Heidenschanze und Heidenstadt an der südlichen Nordseeküste, die auf ähnliche Weise aktuell in kriegerischen Auseinandersetzungen verstärkt worden sein können, nachdem sie anfangs als Versammlungsplätze gedient haben (vgl. unten S. 321 f.). Die Siedlung Hvesager bei Vejle in Jütland ist in ihren beiden Phasen von einer Doppelpalisade eng stehender Pfosten eingefasst.983 Innerhalb des Areals von 2100 m2 standen rund zehn Häuser und Nebengebäude mit zusammen 400 m2, insgesamt als Häuptlingssitz gedeutet oder nach neuerer Interpretation als drei Hofkomplexe, die jeweils für sich eingezäunt sind, die beiden äußeren mit der Doppelpalisade. Unterschiedlich in der Bauweise der umzäunten Siedlungen der vorrömischen Eisenzeit gab es im westlichen Jütland zudem mehrere,984 wozu auch Hodde (vgl. S. 268–271) mit dem Palisadengraben gehört (vgl. oben Abb. 26). Hier bestätigt die Verteilung der schwarz polierten Feinkeramik vor allem beim innen zusätzlich umzäunten Herrenhof dessen herausgehobene soziale Stellung aufgrund dieser importierten Luxusfunde. Im Übrigen geht es der Autorin J. Brandt hier zusätzlich um die Regelhaftigkeit derartiger Lösungen in bedrohlichen Zeiten, indem sie ethnographische Parallelen anbietet. Ein weiterer Ansatz stammt von O. Nakoinz und Ph. Lüth aus dem Jahr 2018,985 bei dem es in erster Linie um eine Methodendiskussion geht, der aber anhand der Quellen Stellung nimmt zu Siedlungen und Befestigungen im südwestlichen Ostseegebiet. Die Autoren meinen – eine Sicht, die ich nicht teilen kann –, dass die Vorrömische Eisenzeit im Norden „trostlos“ wirkte trotz der befestigten Siedlungen Grøntoft
983 Løken 2001, 67 Fig. 11 a, b; Ethelberg 1992–93 (1995). 984 Brandt 2010, nach Rindel 1999, 81 Fig. 1 umzäunte Siedlungen in Jütland, 23 Abb. 5 Hodde, Verteilung der schwarz polierten Keramik nach Hvass 1985, Pl. 109. 985 Nakoinz, Lüth 2018, Abb. 5.
3.1 Befestigte Siedlungen
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und Borremose, den Wagen von Dejbjerg und den Waffenopferfunden von Hjortspring sowie Thorsberg; und erst während der Römischen Kaiserzeit mit den großen Heeresausrüstungsopferplätzen und den neuen römischen Importen wirkten das Land und seine Bevölkerung reicher. Zu Anfang gab es demnach nur flache Hierarchien mit einer segmentären Gesellschaft, nur in Dänemark sehe es mit den Befestigungen von Borremose und Lyngsmose anders aus. Hinzu kommen sogenannte Grubenfeldbefestigungen, mehrere Einhegungen und lineare Befestigungen der Siedlungen. Die Befestigungen wären also Zentralorte mit „Herrschaft“ über mehrere Dörfer in der Nähe, wobei eigentlich ein solches Territorium klare Grenzen haben sollte, so die Meinung der Autoren. Die soziale Stratigraphie würden dann vor allem die Waffenfunde und das Schiff aus dem Moor von Hjortspring (vgl. S. 713) belegen. Um es vorwegzunehmen: Es geht um das Zahlenverhältnis zwischen Anführer, Schwertträgern und Lanzenträgern. Nach K. Randsborg986 gab es unter einem Anführer 11 Schwertträger, 169 Speer- und 72 Lanzenspitzen, was eine Summe von rund hundert Kriegern ausmachen würde. J. Martens987 meint, eine Zahl von 6 bis 7 Kriegern passt zur Zahl der Häuser in Grøntoft, und er sieht einen Heeresverband aus zehn Siedlungen, die zu Grøntoft oder der Befestigung von Borremose gehörten. Zu bedenken ist bei diesem Modell einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft, ob der Befund von Hjortspring tatsächlich zu diesem Raum gehört oder nicht eher zu Kriegern, die aus der Ferne herangezogen waren; denn die Waffen wurden geopfert von der dort siedelnden Bevölkerung. Eine weitere Analyse zu solchen Zahlenverhältnissen wird im südlichen Schleswig-Holstein gesehen, wo in der ältesten vorrömischen Eisenzeit 144 Fundplätze (39 Siedlungen und 105 Urnenfriedhöfe) nachgewiesen sind, was eine Entfernung zwischen den Siedlungen von 2,8 km errechnen lässt.988 Die in der Forschung zuerst als mehrphasiges „Herrengehöft“ angesprochenen Baustrukturen auf der geschilderten Feddersen Wierde wurden von Werner Haarnagel (1907–1984) ausgegraben. In der Wesermarsch wurde, wie geschildert, zuerst eine Flachsiedlung im 1. Jahrhundert v. Chr. gegründet und bis ins 1. Jahrhundert n. Chr. in vier Phasen ausgebaut mit bis zu 11 Gehöften. Erst in der nachfolgenden Phase entwickelte man die ovale Anordnung einer größer werdenden Wurt. Innerhalb von 250 Jahren stieg die Zahl der Gehöfte von 5 auf 26. Im Südwesten der Wurt bildete sich ein besonders großer Gehöftkomplex heraus, der als „Herrenhof“ bezeichnet wird. Im Siedlungshorizont 4 in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr. ist diese Anlage tatsächlich mit einer Palisade befestigt, die mehrere Wohn-Stall-Häuser, Speicher und Werkplätze, aber auch – das ist wichtig – zwei große dreischiffige Gebäude umschließt, in denen kein Vieh aufgestellt werden konnte, die sogenannten Versammlungshäuser (oben Abb. 20). Dieser Großhof war schon im Siedlungshorizont 986 Randsborg 1995, 25. 987 Martens 2009, 337 zu den Zahlen im Moor von Hjortspring, 338 zehn Dörfer zu einer befestigten Siedlung. 988 Nakoinz, Lüth 2018, 137 Abb. 10.
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3 Befestigte Siedlungen, Burgen und Landwehren
im frühen 1. Jahrhundert zu erkennen und entwickelte sich also an derselben Stelle über mehrere Jahrhunderte und einige Generationen immer weiter und scheint zeitweilig tatsächlich zumindest leicht befestigt gewesen zu sein.989 Über diesen „Herrenhof“ wird noch einmal unten im entsprechenden Kapitel (S. 342) berichtet. Der Übergang vom Zaun zur stärkeren Palisadenbefestigung ist vielfach fließend; oft sind auch nur die mehr oder weniger breiten Gräben erfasst worden. Als Beispiel sei die Siedlung Oss-Almstein in den südlichen Niederlanden links des Rheins genannt (vgl. oben S. 235). Hier sind die zweischiffigen Wohn-Stall-Häuser fast immer an derselben Stelle wieder errichtet worden; die Siedlung wanderte also nicht, und der breite Graben schloss mehrere Häuser ein. In Siedlungen wie Flögeln im ElbWeser-Dreieck sind mehrere Gehöfte mit jeweils einer starken Palisade eingehegt, in die ein sorgfältig gebautes Tor hineinführte (oben Abb. 29).990 Ob derartige Palisaden nur zur Repräsentation und als Rechtsgrenze zur Markierung des Besitzes dienten oder auch – je nach Stärke des Ausbaus – auch als Befestigung fungiert haben, wird seinerzeit von Fall zu Fall entschieden worden sein. Überblickt man diese Befunde, so kann zusammengefasst werden, dass für die Zeit vom 4. Jahrhundert v. Chr. bis ins 2. Jahrhundert n. Chr. immer wieder befestigte Siedlungen, oft mit einem größeren, besonders geschützten Hof, archäologisch nachgewiesen sind. Vom Areal her ist die Einwohnerzahl sicherlich nicht gering gewesen.
3.2 Höhen- und Niederungsburgen Um den Zeitrahmen nicht zu sehr zu überschreiten, soll hier auf die zahlreichen Höhenburgen nur kurz hingewiesen werden, die es in den Mittelgebirgen während der vorrömischen Eisenzeit gab.991 Sie werden als Fluchtburgen, befestigte Siedlungen, als Zentralorte oder auch als Kultplätze gewertet.992 Bei einer Reihe von Höhenburgen wird diskutiert, ob im Vordergrund die fortifikatorische Aufgabe stand oder ob die Funktion als Kultplatz entscheidender war. Zu den Kultorten wird im späteren Kapitel näher eingegangen (vgl. S. 614), aber nachfolgend sollen doch einige Anlagen beschrieben werden, von denen beide Funktionen Befestigung und Kultort zu vermuten sind, denn die Hinweise auf kultische Vorgänge und damit entsprechende Befunde sind nicht zu übersehen. Derartige Höhenbefestigungen Westfalens werden als ethnische und soziopolitische Konstrukte Landmarken im damaligen politischen Raum gesehen.993 Der thüringische Mittelgebirgsraum war während der jüngeren vorrömischen Eisenzeit ebenfalls relativ dicht mit Höhenbefestigungen besetzt, die 989 Haarnagel 1979; Schmid 1994; Burmeister, Wendowski-Schünemann 2006; 2010. 990 W. H. Zimmermann 1992; 1999; Dübner 2011; 2013; 2015. 991 Brandt 1999; Sicherl 2007. 992 Schulze-Forster 2007. 993 Brandt 2007.
3.2 Höhen- und Niederungsburgen
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zugleich zumindest zeitweilig Siedlungen waren, weil in ihnen normale Haushaltsware, Drehscheibenkeramik gefunden worden ist.994 Auf der Schnippenburg im Landkreis Osnabrück in Niedersachsen (vgl. oben S. 310 und unten S. 617) schließt ein Wall von 1 m Höhe und 7 m Breite ein ovale Fläche von knapp 1,5 ha ein, datiert ungefähr ins 3./2. Jahrhundert v. Chr.995 Innerhalb dieses Areals wurden zahlreiche Objekte aus Eisen gefunden, und zwar in tiefen Gruben versenkt, wie Horte versteckt oder eben wie Opfergaben. Die Befestigung „Oberwald“ bei Greifenstein, Lahn-Dill-Kreis, war ebenfalls entweder eine geschützte Siedlung oder aber auch ein Kultplatz bzw. beides zugleich oder nacheinander.996 Gefunden wurden Werkzeuge, darunter Tüllenbeile und Ambosse. Mit der Schnippenburg vergleichbar sind mehrere näher untersuchte Befestigungsanlagen am Nordrand der Mittelgebirge nahe Hildesheim und Hameln zwischen Weser und Leine; ich nenne die Beusterburg, die Amelungsburg, die Barenburg, wozu es noch zahlreiche weitere Anlagen gibt.997 Die intensiven Prospektionen der Befestigungen haben zumeist latènezeitliches Fundmaterial erbracht. Die Barenburg ist eine 5,5 ha große Wallanlage, von der 4000 latènezeitliche Funde durch Raubgräber bekannt geworden sind. E. Cosack sieht in diesen Befestigungen eine erneute spätere Nutzung als sächsische Heerlager, so anhand des Fundstoffs die Amelungsburg und die Barenburg. Die sorgfältige Analyse der Befunde und Funde hat gezeigt, dass der Wall zwischen 280 und 260 v. Chr. errichtet worden ist und dass die Anlage nach nur 20 bis 30 Jahren Nutzung aufgegeben und niedergebrannt worden ist. Bemerkenswert ist zudem, dass nicht der Wall das entscheidende war, sondern die Höhe an sich; denn Opfergruben und Pfostensetzungen gibt es auch außerhalb auf dem Berg. Dies lässt den Schluss zu, dass nicht die Wallanlage selbst das Heiligtum dargestellt hat. Vielmehr scheint das gesamte Areal des Gebirgsvorsprungs, auf dem sich die Wallanlage befindet und der von zwei Bächen umflossen wird als Kultort betrachtet worden zu sein. Die Sachfunde und die Lage bestätigen, dass die Schnippenburg im Grenzbereich zum „keltisch“ bezeichneten Kulturraum gelegen ist, ein Kultort und zugleich ein „Markt- und Messeort“ gewesen ist. Diese Burganlagen sind jeweils mit einem Wall befestigt, und bei Begehungen mit dem Metallsuchgerät sind erhebliche Fundmengen geborgen worden, teils als Verstecke bzw. Horte mit Eisengeräten. Dazu gehören vor allem Tüllenbeile, Pflugscharen, Sicheln sowie Werkzeuge wie Ambosse, Hämmer, Meißel, Feilen und Bohrer, aber auch Eisenbarren. Es lassen sich in den Befestigungen Areale der Metallhandwerker und der Holzhandwerker abgrenzen; auch Geräte der Landwirtschaft und 994 Grasselt 2007. 995 Möllers 2007; 2009; Schlüter 2004; Hellmann 2020 zu der abschließend zitierten Zusammenfassung der Ergebnisse, 148 Zitat. 996 Verse 2007. 997 Cosack 2007a; 2008a; 2014; 2017, 236 Abb. 3 Karte der Burgen.
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3 Befestigte Siedlungen, Burgen und Landwehren
des Haushalts sowie Wagenteile und Waffen wie Hiebmesser, Lanzenspitzen, Pfeile und Schildbeschläge sind registriert, außerdem Kleidungsbestandteile und Körperschmuck, wie Arm- und Halsringe, Fibeln und Rasiermesser. Die Datierung weist auf die archäologische Stufe Latène C, was 3. und 2. Jahrhundert v. Chr. bedeutet. Die Deponierungen der Geräte in bis zu 50 cm Tiefe werden einerseits als Verstecke während kriegerischer Bedrohung gesehen, andererseits auch als Opferniederlegungen gedeutet. Die Steinsburg bzw. der Kleine Gleichberg bei Römhild in Thüringen, ebenfalls mit seiner größten Bedeutung ins 2./1. Jahrhunderts v. Chr. zu datieren, wird als keltische oder germanische Befestigung gedeutet.998 Ein breites Spektrum an Eisengeräten, Waffen und Werkzeugen, sowie über 100 Fibeln wurde gefunden. Solche Befestigungen werden in der wissenschaftlichen Literatur auch dort als Oppida bezeichnet, was leicht mit keltischer Kultur gleichgesetzt wird, unabhängig von der geographischen Lage im Nordbereich der Mittelgebirge, wo auch Germanen gesiedelt haben können. Zu 20 weiteren derartigen Ringwällen bestand von der Steinsburg aus Blickverbindung. Die kriegerische Lage führte anscheinend zum Ausbau starker Befestigungen, die, so wird gesagt, besetzt waren von germanischen Gruppen, die nach Süden drängten und gegen keltische Anwesen gerichtet waren. E. Cosack geht von keltischen Überfällen in der niedersächsischen Mittelgebirgszone aus, um den Fundhorizont zu erklären.999 Dieses vom Militärischen bestimmte Gesamtbild vergisst aber, dass es weiträumige territoriale „staatliche“ Zusammenschlüsse noch gar nicht gab. Vielmehr sollte davon ausgegangen werden, dass jede Befestigung ein individuelles Schicksal hatte, auch wenn im kulturellen Verhalten Ähnlichkeiten bestanden haben. Nun führe ich noch Befestigungen an, in denen vor allem die Deponierungen von Waffen auffallen.1000 Das sind die gerade genannte Steinsburg mit Waffenlager, die Barenburg mit der Verteilung von Wirtschaftsgeräten und ebenfalls Tüllenbeilen, der Dünsberg, Ldkr. Gießen,1001 mit latènezeitlichen Waffenfunden im Torbereich, die rituell zerstört waren, darunter auch römische Sachgüter, und weitere Fundplätze mit römischen Militaria der Mittel- bis Spätlatènezeit. Zu nennen sind außerdem die Wilzenburg im Hochsauerlandkreis1002 mit einem Waffenfund aus Schwertern und Lanzen; die Hasenburg im Eichsfeld,1003 eine Anlage des 2./1. Jahrhundert v. Chr., wieder aufgesucht sporadisch in spätrömischer Zeit, bei der in der Nähe der Schatzfund von Großbodungen (vgl. unten S. 523) entdeckt worden ist. Etwas willkürlich
998 Müller 1998b; Peschel 2005a. 999 Cosack 2014, auch 2017. 1000 C. v. Nicolay 2014. 1001 Dehn 1986; Jacobi 1977; Schulze-Forster 2015, 151 Abb. 91 Plan: zahlreiche Waffenfunde und Militaria vor dem Südtor, einige vor dem Osttor, 161 Abb. 99 Plätze im westlichen Mittelgebirge vom Main bis zur Weser in Latène B2/C1. 1002 Sicherl 2007, 116 Abb. 9. 1003 R. Müller 1999b.
3.2 Höhen- und Niederungsburgen
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wirkend nenne ich weiterhin die Altenburg bei Niedenstein mit ihrer eisenzeitlichen Besiedlung1004 und die Milseburg im Ldkr. Fulda.1005 Hier ist ein Handwerker- oder Werkzeugdepot aus Treibhammer und zwei Meißeln gefunden worden; die Nutzung der Burg ist vom 6. bis 1. Jahrhundert v. Chr. nachgewiesen, u. a. durch Alltagssachen, aber auch durch Waffen wie Lanzen und Teile eines Schwertes. Zur Besiedlung gehören sogenannte Napoleonhüte, Reibsteine zum Mahlen von Getreide. Ähnlich zu bewerten sind die „Kalteiche“ bei Aiger, Lahn-Dill-Kreis, und die Amöneburg, Ldkr. Marburg-Biedenkopf. Zu derartigen Befestigungen der vorrömischen Eisenzeit zählt schließlich auch der Christenberg bei Münchhausen in Hessen1006 mit latènezeitlichen Funden. Nun wird noch die Wallburg Alte Burg bei Laasphe im Kreis Siegen-Wittgenstein hier angeschlossen. Detektorfunde des 3. und 2. Jahrhunderts wie Tüllenbeil, Fibeln und Drehscheibenkeramik bestätigten das 2018. In der Nähe gehören weitere Wallanlagen in diese Phase, so bei Dotzlar und die Alte Burg bei Bad Berleburg-Aue.1007 Die Befestigung im sauerländischen Balve aus der vorrömischen Eisenzeit wird als außergewöhnlich beschrieben.1008 Ausgrabungen im Jahr 2003 am 130 m langen halbkreisförmigen Wall, der einen Geländesporn abriegelt, haben kastenförmige Holzund Steinkonstruktionen nachgewiesen, wie sie beim Christenberg, in Gellinghausen oder bei der Grotenburg in Nordrhein-Westfalen (nahe des Arminius-Denkmals) ebenfalls erkannt wurden. Die Holzreste konnten noch mit der Radiocarbon-Methode datiert werden; der Bau der Anlage ist in der Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. erfolgt, und sie ist jünger als die gerade genannten anderen Befestigungen. Andere datierte Holzreste aus einer Brandschicht der Zeit um 50 v. Chr. stammen von einer Erhöhung des alten Walls und beweisen damit die Weiternutzung noch in der ausgehenden vorrömischen Eisenzeit. Der ehemalige Graben war immerhin 6 m breit und 3 m tief. Auffällig sind die vor dem Graben angelegten radial, also rechtwinklig zum Walle verlaufenden kurzen Gräben mit entsprechend kurzen Wällen von jeweils 15 m Länge dazwischen; Keramikfunde datieren diesen Teil der Befestigung auch in die vorrömische Eisenzeit. Derartige radiale Graben-Wall-Systeme werden als Hindernisse gegen Reiterangriffe gedeutet, die für das Mittelalter mehrfach nachgewiesen sind.1009 Ein Blick nach Polen zeigt zudem, dass auch dort im Süden derartige Wallanlagen mit Hortfunden aus Metall, Waffen und Gerätschaften, bekannt geworden sind. Hier nenne ich nur ein Beispiel in Pakoszówka, Sanik District.1010 Im Grenzgebiet
1004 Söder 2004. 1005 Söder, Verse 2017 (2018), 76 Abb. 1 und 77. 1006 Wegner 1989. 1007 Zeiler, Johanning 2018 (2019). 1008 Cichy 2010. 1009 Heine 2007. 1010 Bochnak, Kotowicz, Opielowska 2016.
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3 Befestigte Siedlungen, Burgen und Landwehren
zum „keltischen“ Siedlungsmilieu sind derartige Höhenbefestigungen häufig und fast immer verbunden mit auffälligen Horten bzw. Depots aus Eisengeräten. Eine Zusammenstellung von Burgen der ausgehenden Eisenzeit, der Spätlatènezeit (C2-D2) bis gegen Chr. Geb. im nordwestlichen Mittelgebirgsraum hat W. Schlüter 2013 kartiert und 24 Anlagen aufgeführt.1011 In seinem Aufsatz werden die erstaunlich zahlreichen datierten Burgen seit der späten Hallstattzeit und aus der frühen Latènezeit angesprochen; die Landschaft ist dicht besetzt mit Befestigungen, von denen manche mehrphasig sind – sofern das schon nachgewiesen ist –, und manche andere Burg könnte auch in der ausgehenden Eisenzeit genutzt worden sein. Der Ausgrabungsstand, was die Innenbebauung angeht, ist noch unvollkommen. Die Größe der Burgen variiert zwischen 1 ha und 130 ha mit einem Mittelwert bei 25 ha. Die Häuer waren anscheinend klein und maßen nur 20 bis 40 m2, wohl Wohnbauten und Speicher. Da auf den Bergen kein Vieh aufzustallen war, genügte zum Wohnen in bedrohten Zeiten diese geringe Größe; es waren Bauten auf Schwellbalken über einem Trockenmauerfundament. Auf dem Christenberg wurden immerhin 400 Pfostenlöcher, 70 Herdstellen und 30 sonstige Gruben dokumentiert. Eine andere Lösung waren kleine Podien, auf denen man die Häuser erstellte. Auf dem Dünsberg werden 2000 solcher Podien mit den Maßen von 10 zu 5 m gezählt. Auf der Funkenburg in Thüringen sind bei Ausgrabungen 50 Grundrisse eingetiefter Häuser nachgewiesen. Hinweise auf die Versorgung der Burgbesatzung mit lebenden Tieren, die dann erst oben geschlachtet wurden, sind zum Beispiel auf der Pipinsburg bei Osterode am Harz und anderswo beobachtet worden. Werkstätten der Eisenschmiede und für Bronzeguss sind belegt, und die Tüllenbeile, -meíßel und -beitel gehören zur Holzbearbeitung. Burgenbau ist Ausdruck von Herrschaft; Burgen spiegeln eine entsprechende Sozialstruktur der Gesellschaft. Die beschriebenen Anlagen haben wohl oftmals – je nach geographischer Lage – „keltische“ Hintergründe, auch die Einführung von Innovationen wie die Töpferscheibe und neue Wege der Eisenverhüttung gehören dazu. Es führt zu Vergleichen mit der eigentlichen Oppida-Kultur der keltischen Bevölkerung. Die Burgen wurden um und nach 200 v. Chr. wieder aufgegeben, die Gesellschaft zerfiel, was man auf den Druck durch das Römische Reich im Westen und auf die sich ausbreitenden Gruppen der Germanen aus dem Norden zurückgeführt hat. In Niedersachsen ist der Burgwall „Schwedenschanze“ bei Isingerode an der Oker1012 eine alte Befestigung aus der Bronzezeit, die dann wieder in den Jahrzehnten um Chr. Geb. erneuert wurde, wohl um Schutz zu haben in der Zeit von 12 v. und 16 n. Chr. vor den römischen Angriffskriegen. Ausgrabungen fanden in den Jahren 2006 bis 2012 statt; und dabei wurde festgestellt, dass der innere jungbronzezeitliche Wehrgraben wieder aufgegraben worden war, denn darin wurde Keramik aus der Zeit um Chr. Geb. gefunden und außerdem letzte Reste einer Holzplankenmauer.
1011 Schlüter 2013, 27 Abb. 4. 1012 Steinmetz 2013.
3.2 Höhen- und Niederungsburgen
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So sollte man aufmerksam sein und auch in Zukunft darauf achten, ob und wann prähistorische Wallbefestigungen in den Jahrhunderten um und nach Chr. Geb. wieder aufgesucht worden sind und die Anwesenheit von „Kelten“ oder „Germanen“ bezeugen. Schon länger bekannt und im Blick der Archäologie sind zwei Wallanlagen in Norddeutschland nahe der Küste, in denen bis in jüngste Zeit mehrfach Ausgrabungen durchgeführt und neue – das ist entscheidend – Datierungsansätze gewonnen werden konnten; und von der Datierung der Anlagen hängt die Bewertung ab, wenn die Einbindung in einen ereignisgeschichtlichen Zusammenhang versucht wird. Im Flachland nördlich der Mittelgebirge ist die Entdeckung ehemaliger Befestigungsanlagen im Übrigen wesentlich schwieriger als in den Mittelgebirgszonen. Daher weiß man immer noch sehr wenig von Befestigungen oder Burgen im eigentlichen Germanien. Länger bekannt sind die beiden nur 800 m auseinander gelegenen Ringwallanlagen Heidenschanze und Heidenstadt in der Nähe von Sievern, Ldkr. Cuxhaven, auf dem Rücken des Geestzuges Hohe Lieth.1013 Der Raum Sievern hat sich inzwischen als Bereich mit zentralörtlicher Funktion zu erkennen gegeben. Die beiden Anlagen wurden bisher als zu den wenigen Belegen für Befestigungen im nördlichen Germanien gezählt. Aber die erst jüngst wieder durchgeführten Ausgrabungen bieten andere zusätzliche Erklärungen. Die Heidenschanze besteht aus einem 2 ha großen befestigten Kernwerk und einer äußeren Umwallung, die 12,5 ha einschließt. Die mehrfach erneuerte Holz-ErdeKonstruktion mit vorgesetzter Palisadenfront der Befestigung war von der Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. bis an das Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. in Funktion. Die erste Phase des 1,4 km langen Außenwalls war durch einen Zaun mit davor und dahinter liegendem Graben nur recht schwach befestigt, datiert in die Jahrzehnte kurz vor oder um Chr. Die jüngere Phase besteht aus einem 1,5 m hohen Wall, in den dann die Palisade aus mächtigen Spaltbohlen aus Eiche eingesetzt worden ist, insgesamt sind bei 1,4 km Länge 4200 solcher Bohlen verbaut worden, mit der Methode der Dendrochronologie auf 79 n. Chr. datiert.1014 Nachgewiesen werden konnte sogar, dass der Ausbau zu einer großflächigen Entwaldung im näheren Umfeld geführt hat. Die nur geringen Bauspuren im inneren Wallbereich haben dazu geführt, die Befestigung eher als Fluchtburg oder Versammlungsplatz zu werten. Die Wallanlage hat einen Lagebezug zu Megalithgräbern und Grabhügeln, was für die damalige Bevölkerung eine Beziehung zu den Ahnen gehabt haben kann, als Idee einer genealogischen Abstammung. Auch eine rituelle kultische Nutzung ist denkbar. Die in nur 800 m Entfernung gelegene Befestigung Heidenstadt besteht aus einem Ringwall mit den Maßen 220 auf 180 m einer Holz-Erde-Konstruktion samt einer vorgelagerten Palisade. Für diese Anlage ist ebenfalls keine Innenbebauung
1013 Schmid 1999b, 154 f. Abb. 8 und 9; Schön 2000, 57 Abb. 1. 1014 Schön 2000a, Fotos der Holzpalisade.
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3 Befestigte Siedlungen, Burgen und Landwehren
entdeckt worden. Sie wurde bisher in die Zeit um Chr. Geb. und in das 4./5. Jahrhundert datiert, während die neuen Forschungen davon ausgehen, dass die Anlage überhaupt erst im 4./5. Jahrhundert entstanden ist. Das ist genau der Zeitraum, in dem in der Nachbarschaft Goldobjekte und andere Opfergaben im nahegelegenen Moor niedergelegt worden sind. Das Wall-Graben-System hatte mindestens drei Zugänge. Die Deutung geht auch hier nicht von einer Befestigungsfunktion aus; eher sieht man als Erklärung die Einhegung eines rituell oder gesellschaftlich genutzten Areals von 4,3 ha Innenfläche. Dieser Ringwall ist also weniger als Befestigung und eher als Versammlungsplatz zu betrachten. Es gibt aber auch für diesen Raum noch Überraschungen, denn im nordwestlichen Elbe-Weser-Dreieck bei Cuxhaven sind weitere Befestigungen und zugehörige Siedlungen dieser Zeit entdeckt worden.1015 Die Nordspitze der Hohen Lieth zeichnet sich als Ballungsraum überregionaler kaiserzeitlicher Infrastruktur ab. Zu den eisen- und kaiserzeitlichen Wallanlagen Heidenschanze und Heidenstadt kommen jetzt Gudendorf und Spieka-Knill im Ldkr. Cuxhaven hinzu. Die dichte Verbreitung von Fremdgütern römischer Provenienz, gestaffelt von einzelnen Stücken bis über 20 Objekte, kennzeichnet an der Nordseeküste die Wurtenkette und die Geestsiedlungen, auch mit den Ringwällen. In den Jahren 2014 und 2015 wurden Grabungen in den Siedlungen Gudendorf-Köstersweg und Spieka-Knill durchgeführt. Diese Siedlungen waren jeweils mit einem Wall befestigt, man fand in ihnen auffällig zahlreiche Produkte römischer Provenienz, so dass wegen ihrer Lage ganz an der Nordspitze des Elbe-Weser-Dreiecks eine besondere Funktion im allgemeinen dichten Siedlungsgefüge bis Sievern angenommen werden kann.1016 Immerhin sind von Norden nach Süden jetzt also mehrere Wallanlagen der Römischen Kaiserzeit nachgewiesen (Abb. 31): Galgenberg, Gudendorf, Spieka-Knill sowie Heidenschanze und Heidenstadt, außerdem gibt es noch zwei fragliche Plätze. Die neuen Grabungsausschnitte sind zwar noch recht schmal, doch sind neben den Pfostengruben von Langhäusern zahlreiche Grubenhäuser sowie technische Brennanlagen freigelegt worden. Die Befestigungsanlagen selbst sind etwa im 1. Jahrhundert v. Chr. angelegt worden, wurden aber nicht häufiger erneuert, während die Siedlungen bis zur Wende vom 5. zum 6. Jahrhundert bestanden haben. Sie erstreckten sich auf einem Areal von etwa 200 auf 300 m. In beiden Siedlungen wurde Edel- und Buntmetall in größerem Stil verarbeitet. Nun kommt die Wekenborg bei Borgeloh, Kr. Emsland, hinzu, auch datiert in die ausgehende vorrömische Eisenzeit und in die frühe Kaiserzeit. Insgesamt belegt die Kartierung des Raums Sievern eine hohe Sied1015 Aufderhaar, Siegmüller 2015, 166 Abb. 10; Aufderhaar 2017a,136 Abb. 1 Karte in Farbe mit den Wallanlagen; 2017b, 150 Fig. 8.1 dieselbe Karte in Farbe mit Wallanlagen, 153 Fig. 8.3 Karte zu Sievern/ Land Wursten mit Marsch und Geest sowie den Siedlungen, Ackersystemen und Landungsplätzen/ Wurten. 1016 Aufderhaar 2017a, 136 Abb. 1 farbige Karte mit allen Wurten und Wallanlagen; vgl. Aufderhaar, Brand 2011, 51 f. Verbindungen zwischen Küste und Geest.
3.2 Höhen- und Niederungsburgen
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Abb. 31: Befestigungen auf der Halbinsel zwischen Weser und Elbe südlich von Cuxhaven. Die sechseckigen offenen Symbole markieren die Wallanlagen der Römischen Kaiserzeit.
lungsdichte und eine große Zahl von Landungsplätzen oder Ufermärkten, z. B. bei den Wurten wie der Feddersen Wierde und der Barward (vgl. S. 207) mit kaum 2 km Abstand zueinander. In der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends n. Chr. waren die Befestigungen Gudendorf wie die beiden anderen bei Sievern Mittelpunktsorte, um
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3 Befestigte Siedlungen, Burgen und Landwehren
die herum sich Siedlungen konzentrierten. Der Warentransport lief entlang der Weser in die Nordsee und bot für Fernhandelsgüter die Organisation der Gegend durch die Elite. Die Schatzfunde von Goldbrakteaten und Halsringen spiegeln die Beziehungen nach Südskandinavien und Südostengland. Diese individuellen Strukturen setzten in den letzten Jahrhunderten v. und den ersten Jahrhunderten n. Chr. ein. Die Befestigungen lagen zwar etwas weiter entfernt von der Küste auf der Geest, aber Kontakte zur Küste gab es regelmäßig, beispielsweise über den Scharnstedter Bach nach der Befestigung von Spieka-Knill. Die Anlagen an der Küste im Bereich von Cuxhaven werden verglichen mit den schon lange bekannten Wall- und Grabenwerken Zeijen I und II, Rhee und Vries in der niederländischen Provinz Drenthe.1017 Diese Konzentration bilden Wallanlagen mit quadratischem oder ungefähr rechteckigem Grundriss von geringer Größe, die nur 0,14 bis 0,5 ha umschließen und in die jüngere vorrömische Eisenzeit und den Beginn der römischen Kaiserzeit gehören. Jeweils sind mehrere Bauphasen, Holz-Erde-Mauern und Palisaden sowie Gräben untersucht. Innerhalb der Befestigungsgräben stehen (Zeijen I, Phase 3a) parallel zu Wall und Graben mehrere dreischiffige Hallenhäuser sowie in der mittleren Fläche kleine Bauten und Speicher.1018 Diese Orte wirken wie große Einzelgehöfte bzw. Mehrbetriebseinheiten, wie sie sonst auch in den dörflichen Siedlungen zwischen den anderen Hofanlagen vorkommen. Entscheidend ist hier die stärkere Schutzfunktion der Anwesen. Die Plätze werden als befestigte Markt- und Stapelplätze gedeutet, auch als Herrschaftssitze, oder ihnen wird eine rituelle Funktion wie bei den keltischen Viereckschanzen zugewiesen. Beiderseits des Limes ist hier die weit verbreitete Schutzfunktion für größere Ansiedlungen mehrfach nachgewiesen. Im Kapitel über die ländlichen Siedlungen in den heutigen Niederlanden (vgl. oben S. 230) habe ich darauf hingewiesen, dass zumindest in einigen Phasen der langdauernden Existenz der Dörfer diese mit Palisaden und Gräben gesichert waren. Manche Wall-Graben-Anlagen wirken wie das Abbild römischer Lager, wie das bei Rhee, Vries und Zeijen schon vor Jahren vermutet worden ist. Neben diesen befestigten Plätzen seit der späten vorrömischen Eisenzeit, die als befestigte Siedlungen gewertet werden, nämlich Zeijen I Phase 1 und 2 als rechteckige Anlagen, auch Zeijen II und Vries Phase 2, gab es Anlagen, die auch hier eher nur wie eingezäunte Siedlungen wirken. Das Dorf Oss-Horzak aus der frühen und mittleren römische Epoche ist eingezäunt und sichert Langhäuser.1019 Die Ringwälle der vorrömischen Eisenzeit und der Römischen Kaiserzeit sind deutlich größer an Fläche als die Befestigungen des frühen Mittelalters.1020 Die Kar1017 Waterbolk 2003; 2007, 489 Abb. 87 Zeijen I, 492 Abb. 90 und 91 Zeijen II, 493 Abb. 92 Vries. 1018 Jöns 2010b, 74 Fig. 5 Befestigungen der Römischen Kaiserzeit von den Niederlanden bis Jütland (nach Harck 1990 ergänzt). 1019 Aroldussen, Jansen 2010, 393 Fig. 14 (die eingezäunte Siedlung), 391 ff. mit Fig. 13 Befestigungen; Waterbolk 2009. 1020 Scheschkewitz 2009, 187 Abb. 1, in: Segschneider 2009a.
3.2 Höhen- und Niederungsburgen
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tierung der Burgen in der Norddeutschen Tiefebene aus dem Ende der vorrömischen Eisenzeit und der frühen Römischen Kaiserzeit spiegelt den noch unbefriedigenden und unterschiedlichen Forschungs- und Erkenntnisstand wider; denn zu den beiden Ringwällen bei Cuxhaven (Heidenschanze und Heidenstadt) und den wenigen Anlagen im Binnenland (Wittorf, Kr. Rotenburg/Wümme; Wekenborg bei Bokeloh, Kr. Emsland; Arkeburg bei Goldenstedt, Kr. Vechta) sind jetzt immerhin weitere 20 Anlagen in den nördlichen Mittelgebirgen registriert. Die Burgen im Norden sind über die späte Eisenzeit hinaus bis in die ersten Jahrhunderte n. Chr. benutzt gewesen. Wenig sind Konstruktion und Innenbebauung erforscht, lassen aber ahnen, dass im Bergland am Vermittlungsraum zwischen Jastorf- und Latène-Kultur, zwischen „Germanen“ und „Kelten“ Befestigungen sogar relativ dicht beieinander lagen und zu Regelerscheinungen gehören. Die Arkeburg weist zwei konzentrische Ringwälle auf, der äußere misst etwa 350 × 260 m, der innere 220 × 160 m; sie schließen also insgesamt 1,8 ha Fläche ein. Die Ringwälle auf den nordfriesischen Inseln sind wieder anders zu bewerten, nur teilweise als Verteidigungsanlagen und sind durchaus auch hier eher als eingehegte Kultplätze anzusehen. Auf der Insel Sylt sind die Archsumburg und die Tinnumburg und auf der Insel Föhr die Borgsumburg, auch „Lembecksburg“ genannt, anzuführen, und sie sind wie die Wallanlagen auf dem Festland für die frühen Jahrhunderte zu berücksichtigen.1021 Die fast vollständig aus Sodenpackungen aufgebaute Wallanlage der Archsumburg hat einen Außendurchmesser von 87,5 m, bei einem Innendurchmesser von nur 64 m. Eine breite und immerhin 8 m lange Toranlage führt ins Innere, der Wall war anfangs nur gerade 1 m hoch. Im Inneren standen radial an den Wall angelehnt 4 bis 8 m lange Häuser mit Herdstellen und (Opfer)-Schächten, datiert vor und um die Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. Die Gesamtanlage wird als lokale Opferstätte, nicht etwa als Verteidigungsanlage gedeutet, und zwar als Kultort für die zahlreichen umliegenden Siedlungen dieser Epoche. Die Tinnumburg ist eine ovale Ringwallanlage, geschützt in sumpfigem Areal, mit einem Außendurchmesser von 125 m bzw. 110 m und mit einer Innenfläche von nur 80 auf 65 m. Der Wall hat heute noch eine Höhe von immerhin 5 m und misst 25 m in der Breite; er ist aber erst in der Wikingerzeit durch Aufhöhung des älteren Walls so mächtig geworden. Im Wallverlauf gibt es drei torartige Unterbrechungen, an die Öffnung zur Geest nach Nordosten schließt sich ein etwa 30 m langer Damm an. Zur frühen Anlage gehört Keramik aus der Zeit um Chr. Geb.1022 Die Ausbauphase stammt also aus der Wikingerzeit, überdeckt aber einen Fundhorizont der älteren römischen Kaiserzeit.
1021 Segschneider 2009a, 99–111 bzw. 2009b, 185–199. 1022 Brieske 2005.
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3 Befestigte Siedlungen, Burgen und Landwehren
Die Borgsumburg auf Föhr, gelegen auf einer Geestkuppe, hat einen Außendurchmesser von 140 m und einen Innendurchmesser von knapp 100 m. Der Wall überragt den Innenraum um 3 bis 4 m, aber das Umfeld immerhin um fast 10 m. Keramik der ersten Jahrhunderte n. Chr. bilden die unterste Schicht; darüber standen Häuser, mit Soden aufgebaut, aus dem 8. bis 11. Jahrhundert. Die über Georadar nachgewiesenen 40 bis 50 Hausgrundrisse gehören sicherlich in diese jüngeren Phasen. Archsumburg und Borgsumburg entstanden aber wohl während der römischen Kaiserzeit, auch wenn ihre Struktur und Funktion (noch) nicht erschlossen sind; sie spiegeln vielmehr nachfolgend eine rund 800 Jahre dauernde Tradition. Die recht niedrigen Wälle legen es nahe, in ihnen keine Befestigungsfunktion zu sehen. In der Archsumburg stehen Hütten in radialer Anordnung, die aber weitgehend ungenutzt gewesen zu sein scheinen. Ole Harck spricht von einem „Geisterdorf“.1023 Später zu datieren sind Schächte, was wiederum eher für einen Opferplatz spricht. In Jütland und auf die dänischen Inseln gibt es ebenfalls einige eisenzeitliche Befestigungen.1024 Fünf kleinere Ringwallanlagen in Jütland sind zumeist als Fluchtburgen interpretiert worden, oder sie dienten zur Kontrolle auch der Land- und Wasserwege. Datiert sind nur zwei Anlagen: der Ringwall Trælbanken oder Trælborg, Veest sogn, und der Troldborg Ring mit Keramik des 4./5. Jahrhunderts.1025 Eine Wehranlage auf Lolland, Dänemark, der „Hejrede Wall“,1026 ist in den Jahren 1995 und 1996 archäologisch untersucht worden. Erinnert sei an den Siedlungskomplex von Hoby (vgl. S. 276) an der Südküste der Insel. Um zusammenzufassen: Die Interpretation derartiger Wallanlagen als Kult- und Versammlungsplätze (vgl. oben S. 322), also nicht als Befestigungen, wurde schon früher vorgeschlagen, und zwar für die Archsumburg und die Tinnumburg auf Sylt, die Lembecksburg auf Föhr oder den Ringwall von Trælbanken in Westjütland, die in die ersten Jahrhunderte n. Chr. gehören. Für alle genannten Plätze geht man heute von kultischen Zentren, lokalen Opferplätzen oder auch Versammlungsorten zu Feierlichkeiten aus, wegen der geringen Wallhöhe wiederum nicht von militärischen Befestigungen. Die intensiven Geländeerkundungen haben für den skandinavischen Norden eine sehr große Zahl von Befestigungen aus Erd- und Steinwällen ergeben, die auch kartiert worden sind, und die zumindest zum Teil – die meisten sind nicht näher untersucht – auch in die Jahrhunderte nach Chr. gehören. In Norwegen zählt man 400 Befestigungen aus Steinwällen, in Schweden mehr als 1000, von denen 40 in die Zeit vor der Mitte des 6. Jahrhunderts gehören.1027
1023 Harck, Averdieck 1990. 1024 J. Christensen 2011a. 1025 Harck, Averdieck 1990, 149. 1026 Poulsen 1999. 1027 M. A. Østmo 2018b.
3.2 Höhen- und Niederungsburgen
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Eine spezielle Gruppe von Befestigungen sind während der frühen Völkerwanderungszeit auf der schwedischen Insel Öland ausgebaut worden. Auf der dicht besiedelten Insel sind mehr als 1000 Häuser mit Steinfundamenten, Feldbegrenzungen aus Steinmauern und über 15 Ringburgen dokumentiert, und immerhin 360 SolidiFunde kartiert (dazu unten S. 511). Die bisherige Forschung ist der Meinung, dass die Zeit der Ringwälle zugleich in ganz Skandinavien gezeichnet war von Unruhen, einem abrupten Niedergang der Besiedlungsaktivitäten und von zerstörten und wüst gewordenen Gehöften. Doch macht das auf mich den Eindruck, dass in diesem Falle im Kreis argumentiert wird; weil nämlich Burgen entstanden, muss es kriegerische Folgen gehabt haben. Wie ich andernorts gesagt habe, lassen sich Spuren der vielen innergermanischen Kriege und auch der römischen Einfälle nicht im Siedlungsbild finden; vielmehr herrschten Kontinuitäten vor. Kurzfristige Kriege sind gegenüber der Jahrhunderte dauernden Siedlungskontinuitäten für die Archäologie marginal. Die Ringburg Eketorp, von Mårten Stenberger von 1964 bis 1974 archäologisch untersucht, hat einen Durchmesser von etwa 57 m und eine 3,40 m dicke massive Trockensteinmauer, an die angelehnt radial im Innenraum Häuser standen. Dies ist sichtlich eine rein militärische Anlage, ein Art Fluchtburg für die ländliche Bevölkerung, die in der Umgebung siedelte.1028 Begründet im 4. Jahrhundert n. Chr. wird diese Burg Eketorp I (300–400) von Eketorp II im frühen 5. Jahrhundert n. Chr. überbaut (400–700), die rund 80–90 m Durchmesser hat. Zu den wiederum radial innen an die 5 m hohe und 6 m dicke Mauer angefügten 39 Häuser kommen in der mittleren Innenfläche weitere 14 Häuser hinzu, also zusammen 53 Häuser für geschätzte 200 Menschen. Von diesen Häusern werden einige als Viehställe und Werkstätten sowie als Vorratsgebäude gedient haben. Der Charakter der Anlage hatte sich von der ersten zur zweiten Ausbauphase geändert, die Ringmauer war zu einer stark befestigten bäuerlichen Siedlung oder einem ständig bewohnten Häuptlingssitz geworden. Für den Rang sprechen die hier gefundenen 15 Goldblechfigürchen (vgl. dazu unten S. 1215). Das Ende der zweiten Anlage fällt ins 7. Jahrhundert, nachfolgend gibt es noch eine dritte Befestigung, datiert in die Zeit um 1170 bis 1240. Auf der Insel Öland gab es in jener früheren Epoche mindestens 18 derartige Ringburgen, oft im Abstand von nur wenigen Kilometern. Die größte Befestigung ist Gråborg mit den Maßen von 150 zu 210 m. Die am besten erhaltene Festung ist die Ismanstorp Borg mit 95 Häusern aus dem 3./4. Jahrhundert; hier fanden Ausgrabungen durch Anders Andrén im Jahr 2000 statt.1029 In die Ismanstorp Borg führten neun Tore.1030 Diese Ringbefestigungen auf Öland, entstanden um 300, werden als von römischer Seite angeregt gesehen.1031 Der Zweck von Ismanstorp ist aber immer noch fraglich, da keine Funde eindeutig einem Lebenszusammenhang zugewiesen werden können; vielleicht ist tatsächlich 1028 Näsman 1989; Hagberg 2005; Hein 2015. 1029 Hagberg 2005; Andrén 2014, 71–77 mit Fig. 21–23, 109–115 Ismanstorp. 1030 Andrén 2014, 11 Fig. (die Tore); Fallgren 2008. 1031 Andrén 2014, 110 und 112.
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der kriegerischer Hintergrund als entscheidend anzusehen, ein Platz, um Krieger zu trainieren und neue zu initiieren, ähnlich wie das für die norwegischen Ringanlagen, die Kreise der Schiffshäuser (vgl. S. 351) angenommen wird. Es werden auch die Parallelen zu den großen Goldschätzen dieser Zeit auf der Insel gesehen und mit einem allgemeinen militärischen Aspekt zusammengebracht, nämlich als Ergebnis des Söldnerwesens, was auf römischen Einfluss zurückzuführen sei, der auch Öland erreicht habe. Die Bewertungen dieser Befestigungen aus Trockenmauern schwanken also zwischen Fluchtburgen in Kriegszeiten, befestigten Dörfern und Plätzen, um Krieger zu rekrutieren und Kriege zu organisieren. Eine Analyse des Fundmaterials und der durchaus unterschiedlichen Bauweise der im Grundriss gleich aussehenden Häuser hat ergeben, dass die Bauten verschiedene Funktionen hatten; es waren Wohnhäuser, Werkstätten und Ställe, so dass zu einem Anwesen bzw. „Gehöft“ wohl jeweils mehrere Häuser gehört haben, wie in den offenen ländlichen Siedlungen. Zu überlegen ist auch, ob die Häuser in der Mitte der runden oder ovalen Befestigungen – während die sonstigen Bauten angelehnt innen an die Ringmauer anschlossen – noch eine besondere Funktion hatten, nämlich auch als Versammlungsplatz dienten, als eine Art Kult-, Festoder Thingplatz. Jüngst 2010 entdeckt und nachfolgend mit Grabungen bis 2016 wurde mit modernen Prospektionsmethoden ein weiterer Befund, der ovale Ringwall von Sandby Borg mit 53 Häusern untersucht, unmittelbar am Ostseeufer Ölands in der Nähe eines Naturhafens gelegen. Über Funde ist die Anlage datiert in die zweite Hälfte des 5. Jahrhunderts bzw. in die Zeit von 400 bis 550; der Platz gehört also zeitlich parallel zu Eketorp II.1032 Der ovale Ringwall misst 66 m in der Breite und 92 m in der Länge; die Mauern waren einst 4 bis 5 m hoch, drei Toren führten ins Innere. Anscheinend hat ein Massaker um 450 bzw. gegen 500 diese befestigte Siedlung vollständig ausgelöscht und alle Einwohner getötet. Bei den neuen Ausgrabungen stieß man auf menschliche Überreste allen Alters, darunter auch von Kindern; die Knochen zeigen Spuren von Verletzungen. Rund um die Opfer lagen die wertvollen Besitztümer der Toten verteilt, die diese in Panik zusammengeklaubt hatten (?). Mahlzeitreste, nur halb verzehrt, spiegeln die Plötzlichkeit des Angriffs. In den Häusern fand man bei den Ausgrabungen Goldmünzen (darunter ist ein Solidus des Valentinian III., 425–455), Glasperlen, vergoldeten und silbernen Schmuck, aber nur wenige Waffen. Warum die Angreifer – sie kamen im frühen Herbst, wie anhand des Alters der zuvor geschlachteten Tiere zu rekonstruieren ist – alle Wertsachen der Bewohner liegengelassen haben und diese Toten auch nicht bestattet wurden, bleibt unbekannt.1033 Eine vorgeschlagene Deutung ist, dass nach einem innergermanischen Krieg um
1032 Viberg, Victor, Fischer, Lidén, Andrén 2014; Andrén 2014, 80 Fig. 26 Karte von Öland mit allen Burgen; Wollentz 2017 zur damaligen und modernen Bewertung der auffälligen Befunde. 1033 Archäologie in Deutschland 2018, Heft 4, 7 (AiD) Abb. Schmuck.
3.2 Höhen- und Niederungsburgen
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Macht und Herrschaft dieses Liegenlassen nach dem Massaker nicht nur die reale Auslöschung bedeuten sollte, sondern auch die grundsätzliche Vernichtung der Erinnerung an diese Gemeinschaft auf Dauer.1034 Es wird vermutet, dass die Angreifer die Waffen der Burgbewohner zusammengesammelt und vielleicht andernorts als Zeichen ihres Sieges diese den Göttern geopfert haben, so wie das die Heeresausrüstungsopfer widerspiegeln. Nicht weit von Sandby Borg liegen Opfermoore, darunter das Moor von Skedemosse (vgl. unten S. 734).1035 Es ist der erste Ausgrabungsbefund in einer solchen Ringwallanlage, mit dem unmittelbar das Ergebnis eines kriegerischen Überfalls dokumentiert ist, nach dem die eroberte und teilweise durch Feuer zerstörte Burg mit den Häusern und den erschlagenen Menschen einfach liegengelassen wurde; denn der Platz wurde nachfolgend in keiner Weise wieder begangen oder benutzt. Ob das ein Einzelfall gewesen ist oder bisher nur noch nicht durch weitere Ausgrabungen bestätigt werden konnte, bleibt zukünftiger Forschung überlassen. Aber erinnert sei an die Ergebnisse der Varusschlacht 9 n. Chr., also ein halbes Jahrtausend früher, wo auch die Gefallenen liegengelassen wurden und einige ranghöhere Legionäre, Offiziere, massakriert und ihre Schädel an Bäume genagelt worden sind; und erst Germanicus konnte einige Jahre später die Toten begraben. Die rituelle Rolle von Fibeln in den Burgen Ölands fällt besonders auf, denn warum findet man sie in den niedergebrannten Ringburgen und warum sind sie nicht als wertvolle Beute mitgenommen worden?1036 Ähnlich wie auf Öland gibt es derartige Befestigungsanlagen auch auf Gotland, von denen mehr als hundert belegt sind, die aber wohl in verschiedene Epochen der Ur- und Frühgeschichte entstanden sind. Jes Martens listet 2007 diese befestigten Plätze in Zentral-Schweden, auf Öland und Gotland auf, beschreibt die Steinstrukturen von Havor (vgl. S. 330) und geht auch auf die befestigten Höhensiedlungen in Norwegen ein.1037 Eine besonders zu beschreibende Anlage ist die Torsburg in der Mitte von Gotland.1038 Der ovale Wall ist etwa 5 km lang und schließt immerhin 112 ha ein. Die Befestigung ist wie ein Murus Gallicus aus Steinblöcken mit Holzeinbauten errichtet. Die Datierung weist nach nordischer Chronologiebezeichnung mit dem Beginn der Anlage in die jüngere Eisenzeit, d. h. in die Zeit um 300 n. Chr. Der Wall wurde aber weiter ausgebaut und benutzt über die Völkerwanderungszeit hinaus bis in die Wikingerzeit. Im Inneren sind keine Funde gemacht worden; es fehlt eine Bebauung. Auch eine Fluchtburg für die Sicherung des Viehs konnte nicht bewiesen werden, wie die negativen Phosphatuntersuchungen gezeigt haben. Vielleicht war auch diese Gesamtanlage eher als Sammelplatz für Krieger gedacht. 1034 Alfsdotter 2019, 430 Fig. 3 Blick über die wertvollen Schmucksachen, 431 Tab. 2 Auflistung der Toten in und bei verschiedenen Häusern. 1035 Alfsdotter, Papmehl-Dufay, Victor 2018. 1036 Fallgren, Ljungkvist 2016. 1037 Martens 2007, auch Mitlid 2003. 1038 Engström, Nyman 2006, 74 Abb. 20 Plan, 76.
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3 Befestigte Siedlungen, Burgen und Landwehren
Zur Zeit des Beginns der Befestigung war Gotland durch kriegerische Zerstörungen und Auswanderungen gekennzeichnet, wird als Interpretation vorgeschlagen, was aber auch eine nicht bewiesene These ist. Denn die Siedlung Fjäle, Kirchspiel Ala, in der Nähe ist kontinuierlich von der späten Römischen Kaiserzeit weiter bewohnt gewesen. Der Baubeginn fällt in die Zeit des Nydamschiffes und der ersten Kriegsausrüstungsopfer, als die Entwicklung von Stammesgebieten zu kleinen Reichen, also eine Territorialisierung einsetzte. Zu den Fornborgar allgemein im Norden zählt die Tunaborg in Hälsingland,1039 und eine Liste mit der Datierung weiterer Burgen von der Vorgeschichte bis zur vorrömischen Eisenzeit fasst zusammen; genannt werden Borremose, Havor, Olhamra in Uppland, und aus der Römischen Kaiserzeit Olgerdiget (dazu später vgl. S. 336) sowie Eketorp I und eben die Torsburg(en). A. Andrén bildet eine Karte mit allen 15 Ringwällen (datiert von 300 bis 650) und die normalen Siedlungen (datiert 200 bis 700) auf Öland ab,1040 von denen an Hand der Steinfundamente 1100 bis 1300 Grundrisse dokumentiert sind. Zwei Burgen auf Öland,1041 die schon genannte Gråborg mit Burg und Kapelle als Teilausschnitt der Landschaftsorganisation1042 und die Triberga, sind hinzugekommen. Er geht auch auf die Höhenbefestigungen in Skandinavien insgesamt ein, in Schweden und in Norwegen.1043 Er bildet die Höhensiedlungen in Uppand von Broborg, Darsgärde und Runsa Borg ab; auch die Höhensiedlung von Rällinge bei Fogdön in Södermanland. Andrén hat alle diese Burgen in seiner Darstellung der altnordischen Kosmologie berücksichtigt und damit den kultischen Charakter hervorgehoben. Auf dem schwedischen Festland rund um den Mälarsee sind in den letzten Jahren Burganlagen auf der Höhe untersucht worden;1044 sie sind Hinweise auf die zentralörtlichen Funktionen für die Versorgung bzw. Kontrolle des Umlandes im östlichen Schweden für die Zeit von 300 bis 500. Am besten archäologisch untersucht ist die Runsa Borg mit ihrer Befestigung und mit größeren Hausbauten. Auch gibt es hier ein spezielles Hallen-, Kult- und Festhaus.1045 Die Burg wird datiert von 400 bis 500, und die Nutzung reicht wohl noch ins frühe 6. Jahrhundert, also nach archäologischer Nomenklatur im Norden bis in die Vendelzeit (auf dem Kontinent entspricht das der frühen Merowingerzeit). Auf Helgö als Zentralort in Mittelschweden komme ich noch mehrfach zurück, denn auch hier liegt oberhalb der Siedlung eine Höhenbefestigung (vgl. S. 360). In diesem Gebiet gibt es weitere derartige Höhenbefestigungen
1039 Engström 1991, 270 Fig. 5, 272 Fig. 7 Karte. 1040 Andrén 2014, 79 Fig. 26 Karte, 81. 1041 Hagberg 2005. 1042 Fallgren 2008; 2009. 1043 Andrén 2014, 84 ff., 86 Fig. 86 (Uppland), 89 Fig. 29 (Rällinge); Olausson 1987; 2011. 1044 Olausson 1987. 1045 Olausson (Red. 2011), hier 20 Fig. 3: Karte der spätantiken Burganlagen auf dem Kontinent in Mitteleuropa und in Italien, hier ergänzt durch die Burganlagen in Mittelschweden und Gotland; auch 2014; Carstens 2014; Østmo 2018b.
3.2 Höhen- und Niederungsburgen
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bzw. heilige Plätze;1046 als Deutung der Funktion und Aufgabe werden Festung und zugleich auch Kultplatz vorgeschlagen. Auf der Insel Bornholm wurden in frühgeschichtlicher Zeit ebenfalls Befestigungen errichtet.1047 Die Burganlage Lilleborg, Vestermarie sogn, auf einer Anhöhe liegt zudem nicht weit entfernt vom Zentralort Sorte Muld (vgl. S. 360). Sie gehört in das 5. und 6. Jahrhundert. Die Position ist damit vergleichbar mit Helgö als Zentralort, ebenfalls mit einer Befestigung auf der Höhe im Hintergrund. Henrik Thrane skizziert kurz weitere Burganlagen auf Bornholm, so Gamleborg in der Mitte der Insel, die ebenfalls völkerwanderungszeitlich datiert wird, Almindingen nahebei und Ringborgen mit einem doppelten Halbkreiswall im Süden der Insel, diese wohl aus der Zeit um Chr. Geb. Es gibt nur wenige Ausgrabungen. Damit zeigt sich aber trotzdem schon, dass auf allen Ostseeinseln Burganlagen auch in den Jahrhunderten um und nach Chr. Geb. erbaut worden sind. Man kann noch weiter ausgreifen und sich dem Baltikum zuwenden. Das bekannteste Beispiel einer Befestigung ist Apuolë in Litauen, etwa 80 km von Klaipėda, nahe der lettischen Grenze.1048 Diese mächtige Burgwallanlage mit einem mehr als 7,50 m hohen und an der Basis 35 m breiten Wall wurde in verschiedenen Zeiten genutzt und immer weiter ausgebaut. Unabhängig von den im zitierten Aufsatz eingesetzten neuen Methoden ist festzuhalten, dass C-14-Daten die Besetzung und den Bau der Befestigung in die Römische Kaiserzeit von 100 bis 400 n. Chr. datieren. Über das ganze erste Jahrtausend sind weitere Burgwälle errichtet worden, einige schon früh in der vorrömischen Eisenzeit, fünf Burgwälle in der Römischen Kaiserzeit, vier in der Völkerwanderungszeit, die dann weiter genutzt wurden. Insgesamt sind 3500 Burgwälle im Baltikum registriert. Der Blick sei jetzt wieder zurück auf den Kontinent gelenkt: Wie es sich mit Höhenbefestigungen des 3./4. Jahrhunderts in Germaniens gegen die römischen Vormarschzüge von der Wetterau bis ins mittlere Hessen und südliche Niedersachsen, verhalten hat, wird gegenwärtig untersucht,1049 und zwar im Zusammenhang mit den Ausgrabungen am Harzhorn (vgl. S. 769). Drei mit einem Wall umgebende Plätze sind bisher im südlichen Niedersachsen bekannt. Aber nur von der Fundstelle Helem „Hünengraben“ liegt eine C-14-Datierung vor (285 +/– 80 n. Chr.), das also in die Römische Kaiserzeit weist. Ein zweiter Platz ist die Hünenburg bei Watenstedt, Ldkr. Helmstedt, aus deren Nähe Funde der jüngeren römischen Kaiserzeit vorliegen, was aber nichts Genaueres für die Befestigung selbst aussagt.1050 Schließlich ist noch eine Anlage bei Ohlendorf nahe Salzgitter zu nennen, von der Keramik aus der fraglichen Zeit vorliegt. 1046 Reisborg 2011. 1047 Thrane 2011, hier 180 Fig. 3. 7. 1048 Ibsen 2018, 255 Abb. 10, 259. 1049 Fuhrmann, Steinmetz 2013, 138. 1050 Heske 2006, 186; Heske, Lüth, Posselt 2012.
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3 Befestigte Siedlungen, Burgen und Landwehren
Im südwestdeutschen Raum entwickelte sich im 4. und weiter im 5. Jahrhundert vom Main bis zum Rhein und zur Donau eine andere Organisation von militärisch gesicherten, wie Befestigungen oder Burgen wirkende Höhenstationen.1051 Im Vorfeld des spätrömischen Rhein-Donau-Limes und weit den Main hinauf bis nach Mitteldeutschland setzten sich Kriegerverbände aus dem Inneren Germaniens auf Höhen fest (Abb. 32). Diese spätantiken Höhensiedlungen, ungefähr 60 an der Zahl, sind zwar alle unterschiedlich strukturiert, hatten vielleicht – bei meist noch recht unvollkommener Erforschung – auch unterschiedliche Funktionen. Es gab Herrensitze, gespiegelt anhand reichen Fundmaterials hoher Qualität wie auf dem Runden Berg bei Urach auf der Schwäbischen Alb,1052 außerdem repräsentative Anlagen wie auf dem Zähringer Burgberg bei Freiburg am Schwarzwaldrand mit großflächigen Terrassenstrukturen und steiler Mauer zur Rheinebene hin gegenüber dem spätrömischen Rhein-Limes. Auch reine Militärlager, bezeugt durch große Mengen an Waffenteilen, wertvollen Militärgürtelbeschlägen sowie vielfältiges Werkzeug gehören dazu. Es gibt Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede in der Struktur und im Fundspektrum dieser Höhenstationen.1053 Ich nenne dazu noch die Höhenstation des 4./5. Jahrhunderts auf dem „Altkönig“ im Taunus.1054 Diese Höhenstationen sind anscheinend meist nicht extra befestigt gewesen, wirkten repräsentativ aufgrund ihrer Höhenlage und waren auch dadurch schon natürlich gesichert, oder eine vorgeschichtliche Wallanlage, beispielsweise aus der Hallstattzeit, wurde höchstens erneut ausgebaut. Ihre Entstehung sieht man im Zuge der Ausbreitung von Germanen innerhalb Germaniens gegen den römischen Limes – eine Folge war die Entstehung des Stammes der Alamannen. Die Anführer von Kriegerverbänden wählten anscheinend Positionen auf Höhen, um hier ihren Sitz in gesicherter Lage auszubauen. Zahlreiche derartige Höhenstationen sind zu registrieren, als eine regelhafte Wahl der Anführer von Kriegerverbänden als neue Zentralorte. Die Gehöfte auf den Höhen waren eine eigenständige Entwicklung zur Repräsentation der herrschenden Gruppe und kaum die Nachahmung römischer Fliehburgen auf Provinzboden, die zumeist älter sind und eine viel kleinere Fläche sicherten.1055 Sie sind zudem die Spitze in der Hierarchie der germanischen Siedlungen im Südwesten vom 3. Jahrhundert bis um 500.1056 Diese Entwicklung zu spätantiken Höhensiedlungen mit zentralörtlichem Funktionen und Charakter gab es auch im Südosten der Alpen.1057 1051 Steuer 2007b; Steuer, Bierbrauer, Hoeper (Hrsg.) 2008; Steuer 2017a, b.; Böhme 2002, 295 f. Abb. 1, 2 und 5: Zähringer Burgberg, Plan und Funde; Ettel 2001, 142 f. und Abb. 3 Karte, nach Steuer 2005, 33. 1052 Kurz 2009; Quast 2017d; schon 2006 zur frühalamannischen Besiedlung im Umfeld des Runden Bergs. 1053 Steuer, Hoeper 2008. 1054 Böhme 2012b. 1055 Hoeper, Steuer 1999a, b; Hoeper 2003, Steuer 2012c. 1056 Steuer 2003h, 70 Abb. 1 Karte der Höhensiedlungen, 83 Abb. 10 Hierarchie des Siedlungsnetzes. 1057 Ciglenečki 2008; 2011.
3.2 Höhen- und Niederungsburgen
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Abb. 32: Höhensiedlungen des 4. und 5. Jahrhunderts in Südwestdeutschland. 1 Umfangreichere Ausgrabungen. 2 Vereinzelte Funde. 3 Kastelle des spätrömischen Limes.
Die zumeist älteren römischen Höhensiedlungen links des Rheins auf römischem Provinzboden, errichtet seit dem 3. Jahrhundert bis in die zweite Hälfte des 4. Jahrhunderts, sind, wie gesagt, kleiner in ihrer Art, aber dafür sehr zahlreich. Sie werden als Fluchtplätze interpretiert, als Schutz vor den zunehmenden germanischen Angriffen.1058 Auffällig ist die Dichte dieser spätantiken römischen Höhensiedlungen im Moseltal zwischen Koblenz und Trier; 20 Plätze sind in engem
1058 Gilles 1985; 2008; dazu allgemein besonders Hunold 2011; Kasprzyk, Monteil 2017.
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3 Befestigte Siedlungen, Burgen und Landwehren
Abstand positioniert.1059 Die ersten römischen Höhenbefestigungen wurden schon ab etwa 260 n. Chr. errichtet, andere sind erst während der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts oder noch später ausgebaut worden, wieder andere wie der „Große Berg“ bei Kindsbach wurden schon Mitte des 4. Jahrhunderts wieder aufgegeben.1060 Wie diese gallischen Höhensiedlungen und die germanischen Söldner des 4./5. Jahrhunderts zusammenhängen, hat H. W. Böhme thematisiert, auch wenn es überwiegend um das Problem der spätrömischen Militärgürtel geht, wie eine Karte zu den Befunden von solchen Gürteln in und bei Höhensiedlungen zwischen Maas und Mittelrhein zeigt.1061 Im späten 4. Jahrhundert wurde beispielsweise die ehemalige römische Höhenbefestigung Furfooz von zugewanderten Familien aus Germanien bewohnt. Den Rückgang der Höhensiedlungen in diesem Raum hat G. Halsall beschrieben.1062 Somit kann ich diese früheren Höhenstationen auf römischem Provinzgebiet nicht als Reaktion auf die späteren Höhensiedlungen rechts des Rheins ansehen, da sie zuvor entstanden sind gegen die Einfälle germanischer Kriegerverbände seit der Aufgabe des Neckar-Odenwald-Limes und die Zurücknahme der Grenze wieder an den Rhein.1063 So gibt es eine Diskussion darüber, ob eine Höhensiedlung wie der Zähringer Burgberg bei Freiburg nun ein alamannischer Herrschersitz war oder ein römischer Vorposten mit germanischer Besatzung als Söldner, wobei ich mich aber zugunsten des Alamannenkönigs entscheide.1064 Die Tagung des Jahres 2004, publiziert 2008,1065 zu „Höhensiedlungen zwischen Antike und Mittelalter von den Ardennen bis zur Adria“ bringt Beiträge zu Höhenburgen im Süden, zum Beispiel in Slowenien zu „Castra und Höhensiedlungen des 3. bis 6. Jahrhunderts“.1066 Zu derartigen Höhensiedlungen auf dem östlichen Balkan hat auch Ch. Kirilov unter dem Titel „der rissig gewordene Limes“ eine Zusammenstellung veröffentlicht.1067 Vergleichbar mit den Höhenstationen mag der Befund auf dem Oberleiserberg bei Ernstbrunn sein, 45 km nördlich von Wien in Niederösterreich. Hier wurde auf einer 8 ha großen Hochfläche ein „Herrensitz“ errichtet, der in mehreren Phasen seit der 1059 Gilles 2016, 38 Abb. 8 Karte; 32 Abb. 3 Gürtelganitur mit Propellerbeschlägen wie auch auf den germanischen Höhensiedlungen der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts. 1060 Bernhard 1987. 1061 Böhme 2008a, 103 Abb. 14 Karte. 1062 Halsall 2007, 401. 1063 Steuer 2017a, 268 f mit Anm. 95 und 96; Hunold 2011. 1064 Steuer 2017b, 29; anders Blöck 2016; beide Thesen beschreibend Samira Fischer 2019, auch mit 255 Abb. 9, den Gürtelbeschlägen mit Tierkampfszenen von den Höhenstationen Kügeleskopf und Geißkopf. 1065 Steuer, Bierbrauer, Hoeper 2008. 1066 Ciglenečki 2008, 483 Abb. 1 Karte der 1. und 2. Phase. 1067 Kirilov 2007, Karte.
3.3 Landwehren
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zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts ausgebaut worden ist. Nach Ausgrabungen in den 1920er Jahren wurden ab 1976 in größerem Umfang Untersuchungen durchgeführt;1068 und zwar wurde hier ein germanisches Herrschaftszentrum in seinen Grundrissen freigelegt. Das Gehöft – eine Mehrseiten-Anlage – wurde nach römischen Vorbildern errichtet, mit einem Hauptgebäude auf Steinfundament und mehreren Nebengebäuden, die immerhin vier Bauphasen bis Mitte des 5. Jahrhunderts gehabt haben. Die Romanisierung ist hier im Plan zu greifen und auch im Fundstoff. Der Ausgräber Alois Stuppner deutet das Anwesen als spätswebisches Herrschaftszentrum an der Peripherie des spätrömischen Reiches,1069 was die Keramik- und Metallfunde bestätigen. Parallelen gibt es nördlich der mittleren Donau, in Richtung March aufwärts, nahe Mušov, wo in germanischen Siedlungen römische Gebäuden der jüngeren römischen Kaiserzeit standen (vgl. dazu S. 1098). Titus Kolnik spricht bei diesen Befunden von Sitzen germanischer Klientelkönige.1070 A. Stuppner betrachtet den Oberleiserberg als Ergebnis barbarisch-römischer Kontakte, „gesehen aus der germanischen Perspektive“, ein swebisches Machtzentrum mit Residenz- und Zeremonial-Architektur, als Modell nach einer römischen Lösung in Design und Funktion.1071 Seine Zusammenstellung der römischen Metallsachen bestätigt diese intensive Kontaktzone während des gesamtem 1. bis 5. Jahrhunderts.1072
3.3 Landwehren Nun gibt es während der ersten Jahrhunderte um und nach Chr. Geb. in Germanien auch Wall-Graben-Befestigungen, die nicht nur eine Siedlung, sondern eine ganze Landschaft sicherten, einhegten und abriegelten. Im Mittelalter als Landwehren bezeichnet, handelt es sich in der Frühgeschichte um dasselbe Phänomen. Auffällig sind die über längere Strecken in Jütland errichteten Graben-WallPalisaden-Anlagen, die Längen von mehreren Kilometern erreicht haben und tatsächlich günstig geographisch geplant eine Landschaften abriegelten, nicht zuletzt, um hindurch führende Fernwege zu kontrollierten, und zwar nicht nur auf dem Land, sondern auch in Wasserstraßen.1073 Der Lagebezug zu Siedlungen als Verteidigungsanlagen wird regelmäßig beobachtet,1074 zumal wenn es sich um mögliche Territorialgrenzen gehandelt hat.1075 Das Befestigungswesen in Germanien hat sich während
1068 Th. Fischer 2008; Stuppner 2004; 2008a, b, c. 1069 Stuppner 2008a, 204 Abb. 4 Phase 4; 2008c, 435 Abb. 3 und 438 f. Abb. 5 a, b.(Gesamtplan). 1070 Kolnik 1994. 1071 Stuppner 2009; 2013. 1072 Stuppner 2016b. 1073 Nørgârd Jørgensen 2003. 1074 Ringtved 1999, 363 Fig 2; Ethelberg 2007. 1075 Kehne, Steuer, Tiefenbach 1999, § 2. Archäologisches, 5–9.
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3 Befestigte Siedlungen, Burgen und Landwehren
der Römischen Kaiserzeit also tatsächlich auffällig geändert. Denn statt einzelne Siedlungen mit Wall und Graben zu sichern, wurden kleinere Landschaften insgesamt durch Palisadenzüge abgeriegelt. Das ist am besten bisher nur für Jütland überliefert, wo etwa 28 Langwälle1076 registriert und mehrere solcher Anlagen archäologisch untersucht sind, die gewissermaßen mit der natürlichen Gliederung von West nach Ost durch die zur Ostsee hin entwässernden Flussniederungen korrespondieren. Ein Schaubild zeigt die Phasen der Seesperren von der vorrömischen Eisenzeit bis in die Phase D2 (um 500) in Farbe mit den Mooropferplätzen. Dabei ist noch darauf hinzuweisen, dass es in diesen Gebieten zwischen den Landwehren keine befestigten Siedlungen oder gar Burgen gegeben hat. Eine andere Art von Sicherheit gegenüber Feinden aus der Nachbarschaft oder von außen wurde gewählt. Zu beachten ist, dass es in jeder dieser durch Befestigungen gesicherten Kleinlandschaften auch große Heeresausrüstungsopfer mehrerer hundert Krieger gab, die in ehemaligen Seen oder Mooren niedergelegt oder versenkt worden sind (ausführlich dazu S. 706). Das beschreibt, wie sehr sich inzwischen die politische Organisation der Bevölkrungsgruppen geändert hat. Von der individuellen Sicherung des Dorfes führte die Entwicklung zur kollektiven Befestigung eines Gebietes. Vielleicht kann man sagen, dass nun vom Dorfherrn der Schritt zu einem Gebietshäuptling oder einem entstehenden Königtum erfolgt ist, der auch als Anführer der Verteidiger ihrer Landschaft gewirkt hat. Der Olgerdiget im südlichen Jütland, systematisch archäologisch von 1963 bis 1993 vermessen, bildete eine 12 km lange Wegesperre gegen Süden, während eine zweite Befestigung, der Æ vold, dieselbe Landschaft nach Norden abriegelte.1077 Ausgrabungen am Olgerdiget fanden von 1928 bis zuletzt 2013 statt. Die Anlage besteht aus drei Palisadenreihen mit einem Graben und Wall davor, nach Süden ausgerichtet, die 7,5 km lang sind. Dicht gestellte Eichenpfosten in Reihen aus 35 cm starken Pfählen bildeten die Palisade. Sie gehörten verschiedenen Bauphasen an, und für einen Palisadenzug wurden immerhin 90 000 Eichenpfähle gebraucht. Die über Dendrochronologie und Radiocarbon-Messungen gewonnenen Datierungen belegen eine älteste Phase in der Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. bzw. um 89/90 n. Chr., eine weitere Bauzeit um 219 n. Chr. und Ausbesserungen um 278 n. Chr. sowie ein Ende der Anlage um 300 n. Chr. Man meint, dass der römische Limes als Vorbild für den Bau gedient haben könnte oder auch die Belagerungsanlagen vor Alesia. Doch halte ich das für weit hergeholt; denn Palisaden wurden schon lange auch im Norden gebaut. Ein älteres und ein neueres Rekonstruktionsbild des Olgerdiget aus den Baujahren 89/90 n. Chr. bieten eine gute Vorstellung (Abb. 33).1078 Neue Radiocarbon-Daten dif1076 Nørgård Jørgensen 2003, 200 Schaubild der Phasen, 202 Abb. 11 und 12 Karte Jütland mit den Wegesperren. 1077 Christensen 2003; 2006 (1); 2014. 1078 Christensen 2014, 127 Fig. 3 Rekonstruktion mit Spitzgraben und drei Palisadenreihen; Ethelberg 2017, 21 Rekonstruktion des Olgerdiget, 25 Foto des Æ vold.
3.3 Landwehren
Abb. 33: Verschiedene Rekonstruktionen des Olgerdiget aus den Baujahren 89/90 n. Chr. mit Spitzgraben und Palisadenreihen in drei Fassungen 1–3.
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3 Befestigte Siedlungen, Burgen und Landwehren
ferenzieren und zeigen die Bauphasen.1079 Palisade 2 wird von 20 bis 40 und 104 bis 122 n. Chr. datiert, Palisade 3 bringt Dendrodaten von 40 v. Chr. bis 105 n. Chr. und Palisade 2/3 Daten von 60 bis 120 n. Chr. Die Palisade 3 wurde um 90/91 n. Chr. neu errichtet, und der Olgerdiget wurde etwa 100 Jahre genutzt. Ein weiteres Stück der Palisade zeigt in der Nähe bei Ligård bei einem Durchgang sogar sechs Phasen von Palisaden nebeneinander.1080 Eine Wehranlage auf Lolland, der Hejrede Vold,1081 mit Wall und Graben von 1,3 km Länge schützt ein 5 km2 großes Gebiet. Die C-14-Datierung weist auf 550 n. Chr. oder auch schon ins 5. Jahrhundert; jedenfalls wird ein früheres Datum vermutet. Für Schweden sind mit dem Götavirket von 4 km Länge in Östergötland, nicht datiert, und mit weiteren Wällen als Wegesperren in Verbindung mit den fornborgar (Vorzeitburgen) ebenfalls solche Landwehren zu registrieren.1082 Neben diesen Landwehren wurden im westlichen Ostseegebiet auch Seesperren aus derartigen Palisadenzügen errichtet,1083 und da die Hölzer unter Wasser auch gut erhalten sind, gibt es Dendrodatierungen. Die Stammsperren bei Gudsø Vig werden auf 236 n. Chr. und 256–317 n. Chr. datiert, also in die archäologische Stufe C2 der jüngeren Römischen Kaiserzeit. Die Sperren bei Jungshoved Nor sind um 340 n. Chr. und die bei Haderslev auf 370–418 n. Chr. datiert. Die Pfähle von Stavnshavn auf Samsø könnten zu einer Sperre oder zu einer Flottenanlage gehört haben. Die Sperre von Margrethes Bro ist 425 m lang, die von Æ’lei bei Haderslev 600 m lang. Man brauchte jeweils eine große Menge an Eichenpfählen für den Bau derartiger Befestigungslinien. P. Ethelberg vermutet, dass Angeln den Olgerdiget an der Grenze ihres Territoriums nach einer Erweiterung bis 30 n. Chr. errichtet haben, und zwar gegen Norden zum Overjerstal-Gebiet. Er zieht als zeitliche Parallelen als weitere Sicherung die Archsumburg auf Sylt und Burg Trælbanken heran. Damit würde die Befestigung eines Territoriums belegt. In England gab es besonders weit sich erstreckende Landwehren, die hier aber nur nebenher erwähnt werden.1084 Dazu gehört der Fleam Dyke, datiert über C-14 ins späte 4. und 5. Jahrhundert. Im 5. bis 7. Jahrhundert wurden außerdem bis zu 30 km lange Wälle bzw. auch Deiche gebaut. Allgemein bekannt ist die viel jüngere 8 m hohe und 20 m breite Landwehr Offa’s Dyke und Watt’s Dyke, die gewissermaßen Wales gegenüber England abschirmten und wegen ihrer Größe als Bauherrn König Offa von Mercia (757–796) zugeschrieben wurden. Mit 130 km (64 Meilen) Länge übertrifft der
1079 Ethelberg 2017b, 161 Fig. 4 Die C-14-Daten, 162 Fig. 5 Histogramme der Dendrodaten zu den Phasen der Palisade, 163 Fig. 7 Pfostenreihen dicht beieinander. 1080 Ethelberg 2017b, 163 Fig. 6. 1081 Løkkegaard Poulsen 1999, 115; Lauritsen 2011, 283 Fig. 1 Karte. 1082 Kehne, Steuer, Tiefenbach 1999, § 2. Archäologisches, 8. 1083 Nørgård Jørgensen 2003, 197 Abb. 4 Karte der Seesperren. 1084 Hines 1999a, 142 Fig. 10; Kehne, Steuer, Tiefenbach 1999, 8 f.
3.3 Landwehren
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Wall alle älteren Landwehren,1085 weist unterschiedliche Bauweisen auf und ebenso verschiedenes Alter; zumindest sind Datierungshinweise auf eine Phase des 7. Jahrhunderts belegt; Vorläufer kann es gegeben haben. Das markante Denkmal in der Schleswiger Landenge beim wikingerzeitlichen Haithabu, das mehrteilige Danewerk zwischen Haithabu, der Schlei im Osten und der Treene im Westen, ist etwa 7 km lang und weist in seinem Verlauf mehrere Ausbauphasen auf; und die älteste Wallanlage gehört vielleicht in Zeit vor oder um 500 n. Chr.1086 Die C-14-Datierung weist eher in die erste Hälfte des 6. Jahrhunderts,1087 und zwar anhand eines Altfundes um 1974 von Spaten und Schaufel mit einem C-14-Datum bei einer Spannweite von 200 Jahren; ein neues Datum 535 kalibriert gibt jedoch auch die Zeit um 500 n. Chr. an.1088 Man kann vermuten, dass das 35 km lange erste Danewerk über die jütische Halbinsel in Teilen schon vor dem Jahr 500 n. Chr. errichtet worden ist. Das älteste Dendrodatum für diesen dänischen Limes ist erst 737/740. Im Donauraum sind ebenfalls mächtige Grenzwälle, die bis zu 300 km Länge aufweisen, an der mittleren und unteren Donau erhalten geblieben, die als Schutz für die dicht besiedelten Landschaften vor Einfällen von kriegerischen Verbänden aus den Karpaten gedeutet werden, datiert ins 3. und 4. Jahrhundert, dann in die Awarenzeit des 7. Jahrhunderts und erneut ins Mittelalter. Einmal abgesteckte Wallverläufe sind dann also immer wieder genutzt worden.1089 Diese Langwälle in der Südwestslowakei können vielleicht mit den Quaden verbunden werden, wenn ereignisgeschichtlich gedeutet werden soll, ein Limes Quadorum wird vermutet.1090 Die Karte aller Langwälle im Karpatenbecken und an der unteren Donau zeigt ihre große Zahl, die aber zumeist noch immer nicht sicher zu datieren sind. Der Ausbau der Langwälle gegen Nomaden in der Zeit Konstantins zwischen den Jahren 322 bis 332 ist überliefert, so dass vielleicht auch die Wälle in der Südslowakei in diese Zeit gehören könnten. Es fehlen aber noch Grabungen, um die Befunde wie beim Ausbau des römischen Limes bewerten zu können. Im mitteleuropäischen Binnenland weiß man über derartige Befestigungen ganzer Landschaften während der Römischen Kaiserzeit bisher kaum etwas. Immerhin berichtet Tacitus (Annalen II, 19, 2) im Zusammenhang mit den Kriegszügen des Germanicus gegen Arminius vom Angrivarierwall, der das Gebiet der Angrivarier
1085 Hill, Worthington 2003. 1086 Harck 1998; Axboe 1999a, 115 Fig. 5 Danewirke Querschnitt; Kehne, Steuer, Tiefenbach 1999; Dobat 2009a. 1087 Maluck 2014; 2017, 607, 627 Anm. 12 Spater datiert 500 n. Chr. 1088 Tummuscheit, Witte 2014, 159 Datierung ab 5./6. Jahrhundert; Tummuscheit 2018. 1089 Steuer 1999, 9, in: Kehne, Steuer, Tiefenbach 1999, § 2. 4. 1090 Kolnik 1999, 164 Abb. 1.
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3 Befestigte Siedlungen, Burgen und Landwehren
gegen das der Cherusker abriegelte, der aber vielleicht noch einen anderen Zweck gehabt hat: Zuletzt wählten sie einen vom Fluss und Wäldern umschlossenen Kampfplatz mit einer schmalen, sumpfigen Ebene in der Mitte; auch um die Wälder zog sich ein tiefes Moor, nur dass auf der einen Seite die Angrivarier einen breiten Damm aufgeworfen hatten, der sie von den Cheruskern trennen sollte. Hier nahm das Fußvolk Aufstellung. (Postremo deligunt locum flumine et silvis clausum, arta intus planitie et umida; silvas quoque profunda palus ambibat, nisi quod latus unum Angrivarii lato aggere extulerant, quo a Cheruscis dirimerentur. hic pedes adstitit.)
Später wird noch einmal der Erdwall bzw. der Damm genannt, den die Angreifer ersteigen sollten. Es handelte sich also um eine relativ kleinräumige Anlage, die einen Kampfplatz einschloss, nicht ein größeres Gebiet. Doch was es in Jütland gab, kann es auf dem Festland in Mitteleuropa ebenfalls gegeben haben; so muss man danach suchen und hoffentlich sie dann auch finden. Im weiteren Umfeld von Kalkriese hat es zwei lineare Erdwerke gegeben.1091 Der im Rahmen der Germanenkriege beschriebene Angrivarierwall regte schon früh zur Suche an. Es sind die Wallanlagen bei Heek-Wichum und vor allem bei Leese. Schon Carl Schuchhardt hat 1926 den Wall bei Leese, heute Nienburg/Weser, nahe dem Steinhuder Meer durch Grabungsschnitte erschlossen. Unter den Funden sind als jüngste Keramik Scherben vom rhein-weser-germanischen Spektrum dokumentiert worden, Formen der Römischen Kaiserzeit, datiert zwischen 70 und 250 n. Chr.1092 Der Wall Ohle Hoop ist aus Plaggenesch aufgestapelt und hat auch Palisadenreihen. Er ist 60 km entfernt von Kalkriese, also drei Tagesmärsche für die Legionen. Ein Vergleich mit den Landwehren in Jütland erinnert vor allem an den Olgerdiget. Solche Bauwerke sind als Landwehren oder auch als Siedlungsbefestigungen mit relativ begrenztem Aufwand anzulegen. Die Befestigung im dänischen Priorsløkke (um 200 n. Chr. datiert) mit einer 200 m lange Palisade und einem 121 m langen Wall sowie einem 3 m breiten und 1,5 m tiefer Graben war von 40 Männern in einer Woche zu errichten.1093 Nun ist auch auf dem Kontinent eine Palisade der vorrömischen Eisenzeit bei Neu Pansow, Ldkr. Ostvorpommern, archäologisch erforscht.1094 Pfahl an Pfahl an Pfahl sind auf einer Länge von 150 m rund 250 Pfostengruben freigelegt worden. Der Zweck war eine massive mechanische Sperre mit hohem Holzverbrauch. Der Abstand der Pfosten beträgt 70 cm, die Zwischenräume waren mit Flechtwerk und Querhölzern gefüllt. Die Palisade führte zum Fluss Schwinge und war sicherlich der Schutz für einen Siedlungsbereich. Die C-14-Datierungen ins 4.-3. Jahrhundert v. Chr. weisen 1091 Hegewisch 2012, 181 Abb. 2 Wallanlagen; 2013. 1092 M. Meyer 2008, 110 ff. 1093 Hegewisch 2012, 198 Abb. 13 farbige Rekonstruktion der Befestigung vom Olgerdiget, 201 Daten zu Priorsløkke. 1094 Segschneider 2005.
3.3 Landwehren
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in die ältere vorrömische Eisenzeit, was recht früh ist. Doch zeigt dieser neuartige Befund, dass mit derartigen Anlagen auch in Mitteleuropa gerechnet werden kann. Zwar gibt es den Deutungsvorschlag, diese massiven Wegesperren beispielsweise in Jütland auch als Zollgrenzen um ein Territorium zu erklären, aber der große Aufwand spricht eher für eine militärische Funktion, und die Befestigungen grenzten größere Siedlungsareale, vielleicht „Stammesgebiete“, gegeneinander ab, begrenzten jedenfalls ein Territorium. In Jütland spricht man von Sperren von Angeln gegen Jüten. Doch insgesamt ist auch ein Schutz generell nach außen anzunehmen, da die Angriffskriege aus verschiedenen Richtungen über See erfolgt sind. Die Heeresausrüstungsopfer sprechen dann für einen Sieg über die Angreifer. Insgesamt sind in Germanien seit der späten Eisenzeit bis zur Völkerwanderungszeit also immer wieder Befestigungsanlagen unterschiedlicher Funktion errichtet worden. Zu Anfang wurden Dörfer befestigt, dann Landschaftsgebiete wie kleine Königreiche, und schließlich wählten Kriegsherren Höhenpositionen als repräsentative Sitze, die zugleich militärisch sicher waren. Je nach Landschaft und Epoche unterschiedlich, entwickelte die Bevölkerung – wie üblich in allen Epochen der Ur- und Frühgeschichte – auch im Inneren Germaniens bei kriegerischer Bedrohung durch Nachbarn oder fremde Heere Burgen und Befestigungen. Weiß man zu wenig, dann liegt das sichtlich – wie die neuen Befunde der letzten Jahre belegen – am immer noch ungenügenden Forschungsstand. Somit ist ein drittes Vorurteil, die Bevölkerungen in Germanien hätte keine Befestigungen oder Burgen gehabt, durch diese zahlreichen Befunde unterschiedlicher Palisaden- und Wallanlagen widerlegt.
4 Herrenhof und Festhalle Die dörflichen Siedlungen in Germanien waren oftmals im Inneren nicht egalitär strukturiert. Vielmehr zeichnet sich in der unterschiedlichen Größe der Gehöfte verschieden umfangreicher Besitz ab. Zumeist hob sich zudem ein Großgehöft durch eine besonders auffällige Struktur, durch reiches Fundmaterial und manchmal durch eine zusätzliche Befestigung heraus. Auf dem Areal des umhegten Gehöfts des Häuptlings oder Clan-Oberhaupts gab es zudem eine Halle, d. h. ein mächtiges Haus ohne erkennbare spezielle Wohn- und Wirtschaftsfunktion. Diese Bauwerke mit erstaunlicher Größe bis zu 60 m Länge werden allgemein als Versammlungs-, zugleich auch als Fest- und besonders als Kulthalle gedeutet und waren zentraler Teil des politischsozialen Lebens in Germanien. Als Beispiele habe ich die Hallen auf dem Wurtendorf Feddersen Wierde an der Wesermündung und in Gudme auf Fünen geschildert (Abb. 34).
Abb. 34: Herrenhöfe in Gudme, Grundrisse mit mehrphasigen Überbauungen.
Dazu passt auch Tacitus’ Beschreibung zum Gehöft des Segestes, Schwiegervater des Arminius (beide Cherusker besaßen im Übrigen das römische Bürgerrecht), das befestigt war und über eine beachtliche Größe verfügte, da zahlreiche Leute dort belagert wurden (vgl. oben S. 308). Die Parallelitäten von Herrenhof und Halle erlauben es nicht immer, eine weitere Unterscheidung zwischen diesen beiden herausragenden Gebäuden zu treffen. https://doi.org/10.1515/9783110702675-012
4.1 Herrenhof
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4.1 Herrenhof Ein Herrenhof ist durch mehrere Elemente gekennzeichnet, durch die Größe der Wirtschaftseinheit Wohn-Stall-Haus, durch ein Hallengebäude, das von der Größe her über die Zahl der Hofbewohner hinaus als Versammlungsraum für eine größere Menschengruppe diente, in dem Feste gefeiert und Kulthandlungen vollzogen werden konnten. Über das Problem der Bezeichnung kann hier nicht weiter diskutiert werden, nämlich was ein Herrenhof war, ein Häuptlingshof, ein Herrschaftssitz, ein Adelshof, in anderer Sprache der wissenschaftlichen Literatur a magnate’s farm, a chieftain’s farm, a stormands gårde. Die Diskussion begann, als Werner Haarnagel in den 1970er Jahren das größte Gehöft auf der Wurt Feddersen Wierde als „Herrenhof“ bezeichnet hat,1095 und die Diskussion ging und geht weiter.1096 Eindeutig bleibt jedoch der Rangunterschied zwischen einem solchen großen Herrenhof und den übrigen Gehöften einer dörflichen Siedlung. Unstreitig sind reine Hallenbauten auf der Feddersen Wierde seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. errichtet worden, aber vielleicht schon angedeutet in einem Vorläufer bald nach der Zeitenwende zu beobachten. Für die Folgezeit sind Hallengebäude immer wieder in jeweils einem der Gehöfte einer dörflichen Siedlung nachzuweisen, die im Verlauf der Jahrhunderte auch immer größer werden (oben Abb. 34). Auch sind der Zusammenhang von Halle und Kultbau und die Zeit ihres Aufkommens in Germanien nach den jüngsten Funden und Ausgrabungen neu zu überdenken. Da Jes Martens für Haus I von Borremose aufgrund besonderer Beobachtungen (es standen große Vorratsgefäße bei der Herdstelle als Versorgungs- und Speicherbehälter) eine Funktion als Gast- und Hallenhaus vermutet, käme man damit schon in die späte Phase der Befestigung zurück, also schon ins 2. Jahrhundert v. Chr.1097 Trond Løken bietet ebenfalls 2001 für die ältere Römische Kaiserzeit aus Norwegen (Rogaland) Beispiele für reine Hallengebäude an,1098 ergänzt durch Vergleiche aus Dänemark, von Hodde bis Nørre Snede in Jütland, und Helgö in Mittelschweden. Er geht zwar von Norwegen aus, wo er für die Zeit um Chr. Geb. eine stratifizierte Gesellschaft annimmt, weshalb dort auf dem Haupthof einer Siedlung auch ein „öffentlicher Raum“, eine Halle nötig wäre, um Festlichkeiten und Kulthandlungen hätten durchgeführt sowie Führungsfunktionen hätten übernommen werden können. Nachfolgend wurden im Norden in der späten Römischen Kaiserzeit regelmäßig separate Hallengebäude errichtet. Seine Hypothese ist gar, dass die Halle als öffentlicher Raum vor dem Ende der vorrömischen Eisenzeit aufgekommen sein muss, 300 bis 400 Jahre früher als bisher angenommen, früher als in Borremose im 2. Jahrhundert v. Chr. oder mehr noch vor der Feddersen Wierde um Chr. Geb. bzw. im 2. Jahrhundert n. Chr. Aber nicht übersehen werden sollte dabei 1095 Schmid 2010. 1096 Burmeister, Wendowski-Schünemann 2006; 2010. 1097 Martens 2010a. 1098 Løken 2001.
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4 Herrenhof und Festhalle
auch, dass mehrfach langrechteckige reine Pfostenbauten parallel zum Gehöftzaun auch als Ställe gedeutet werden. Wenn man die Bewertung der Gehöfte durch P. Ethelberg und andere dänische Forscher akzeptiert, hat es in fast jeder Siedlung einen Häuptlingshof gegeben. Damit ist sicherlich jeweils das größte Anwesen gemeint, aber auch Reichtum oder ein an Personen zahlreicherer Familienverband, die zu einem solchen Großhof gehört haben werden. Manchmal entsteht der Eindruck, dass es „zu viele Häuptlinge und zu wenig Indianer“ gegeben zu haben scheint. Einen solchen Häuptlingshof der Oberjersdal Gruppe in Jütland aus der Römischen Kaiserzeit stellt P. Ethelberg schon in den 1990er Jahren vor.1099 In der befestigten Siedlung Borremose (vgl. oben) hat zeitweilig ein Herrenhof bestanden, wie Jes Martens beschrieben hat. Die Geschichte des Platzes ist komplex; die Zahl der Anwesen innerhalb der Ringbefestigung nimmt im Laufe der vorrömischen Eisenzeit zu. Das Gehöft des „Gründers“ nahe am Nordeingang ins Innere bestand aus drei Gebäuden (vgl. S. 312).1100 Die sozial herausragenden Familien können über mehrere Generationen ihren Stand halten; und als Siedlung mit zentralörtlicher Funktion ist das Gehöft der Gründerfamilie als Herrenhof zu werten (oben Abb. 30). Ebenfalls früh zu datieren ist der palisadenumwehrte Großhof von Hoby am Rødby Fjord an der Südküste von Lolland, von wo schon seit 1920 ein Fürstengrab mit außerordentlich umfangreichen Beigaben bekannt ist, mit römischen Gefäßen und dabei zwei römischen Silberbechern mit Darstellung aus Homers Ilias (vgl. S. 347 und S. 917).1101 Neue Ausgrabungen fanden in dieser perfekten strategischen Position auf der Insel zwischen 2001 und 2016 statt und legten die Siedlung mit Kultanlagen frei.1102 Die Siedlung besteht aus mehr als 40 Gebäuden, darunter große Hallen, drei Langhäuser ohne Viehteil, nur von Menschen genutzt. Eines dieser Langhäuser ist zudem von einer Palisade, einem kräftigen Zaun, umgeben. Nahebei hat ein Ritualbereich bestanden, inmitten einer Wasserfläche. Der Anfang wird ins frühe 1. Jahrhundert nach Chr. Geb. datiert, so wie auch das herausragende Grab. Lolland war dicht besiedelt, vor allem an der Küste; dokumentiert sind weitere reich ausgestattete Gräber (das Frauengrab von Juellinge, gefunden 1908) und auch Befestigungen sowie die Produktion eigener Metallsachen. Die Datierung wird ein wenig unterschiedlich gesehen: Entweder in die späte Stufe B1a1103 oder in die frühclaudische Periode und damit in B1b, parallel zu den Fürstengräbern von Lübsow-
1099 Ethelberg 1992–1993 (1995). 1100 Martens 2010a, 189 Fig. 12, 191 Fig. 16. 1101 Odin, Thor und Freja 2017, 43–46 mit Abb. 5, Klingenberg 2011. 1102 Klingenberg, Blankenfeldt, Høhling Søsted, Nielsen, Jensen 2017, 126 Fig. 5 Siedlungsplan mit den Hausgrundrissen sowie dem Wassertümpel. 1103 Lund Hansen 2000a, 4.
4.1 Herrenhof
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Sandberg I.1104 Wie dem auch sei, die Hauptbefunde und das Grab mit den Silberbechern kommen aus der ersten Hälfte oder der Mitte des ersten Jahrhunderts n. Chr. Ein ähnlicher früher Platz, der als „Fürstensitz“ eingeordnet wird, liegt in Mitteljütland bei Hedegård nahe Ejstrupholm, ausgegraben 1986–1993. Auf dem höchsten Punkt der Landschaft standen die Häuser, geschützt durch eine Art Palisade. Dabei gelegen sind zudem Gräber mit reicher Beigabenausstattung; zu diesen gehören ein römischer Dolch und weitere Waffen sowie ein mit Pferdeköpfen geschmücktes Gürtelgehänge. Das Areal wird ins 1. Jahrhundert v. Chr. bis 150 n. Chr. datiert.1105 Der Herrensitz in Tjørring,1106 Jütland, wird als „fürstlicher“ Hof bezeichnet. Die Siedlung mit den zeitweilig auffallend rechteckigen Einhegungen bestand von 500 v. Chr. bis 200 n. Chr., wie oben geschildert (vgl. S. 271). Der Fürstensitz gehört ins 1. Jahrhundert n. Chr. und hat eine Fläche von 5000 m2. Der Plan zeigt die Wanderung der Siedlung von 500–300 v. Chr. im Süden über die Zwischenphasen 300 bis 150 v. Chr. und 150 bis 0 zum Herrensitz im Norden der Zeit von 0 bis 100 n. Chr., und die Siedlung endet im ausgegrabenen Areal mit der Phase 100 bis 200 n. Chr. (oben Abb. 27). In Toftegård bei Stevns auf Seeland1107 wird ein jüngerer Häuptlingssitz in einer chieftains settlement postuliert und beschrieben, und zwar aufgrund eines 37–40 m langen Hauses, das knapp vor der Wikingerzeit erbaut worden ist und wo zuvor am Platz schon acht Goldblechfigürchen des 5. bis 7. Jahrhunderts gefunden worden sind. Damit ist der hohe Rang belegt, was vermuten lässt, dass irgendwo schon früher hier ein Herrenhof gestanden haben wird, der nur noch nicht gefunden worden ist. In Ragnesminde wurde eine Siedlung untersucht, in deren Nachbarschaft Gräber mit römischem Import dokumentiert sind, und im Bereich der Gehöfte gab es dazugehörende Langhäuser des 3. bis 4., 4. bis 5. und 5. bis 6. Jahrhunderts mit großen Hallen, so dass von Herrengehöften gesprochen wird.1108 Zum Jahr 2015 wurde in Missingen, Åkeberg in Østfold, Südostnorwegen, ein Herrenhof oder storgård beschrieben.1109 Ausgegraben wurde schon 2003/2004 ein Hallenbau aus der Römischen Kaiserzeit, bei dem es zwar kaum Funde zur Datierung gab, aber mit Detektor darum herum gab es Sachgüter, so dass als Ganzes hier ein Herrenhof mit Handwerker-Gehöften gestanden haben wird, der bis um 400 dort benutzt wurde, und später wahrscheinlich nur weiter verlegt worden ist.
1104 Schuster 2010a, 39. 1105 Madsen 2009. 1106 Møller-Jensen 2010, 199 Fig. 2, Gesamtplan; Steuer 2015a, 358 Abb. 10 und 359 Abb. 11. 1107 Tornbjerg 2011. 1108 Inter Ambo Maria 2013, 42 Fig. 2. 1109 Maixner 2015.
346
4 Herrenhof und Festhalle
Für Wijster und Peelo, Drenthe, Niederlande,1110 sind oben (vgl. S. 231) die Siedlungen über ihre verschiedenen Zeitphasen hinweg beschrieben worden, und auch hier werden Großgehöfte als chieftains farms bewertet.
4.2 Halle Unabhängig vom Herrenhof, auf dem zumeist eine Halle stand, geht es darum, diese Hallengebäude näher zu charakterisieren. Lydia Carstens legt zu eisenzeitlichen bzw. kaiserzeitlichen und jüngeren Hallen in Germanien einige Überlegungen dazu vor.1111 Eine Halle ist durch folgende Eigenschaften charakterisiert: Das Gebäude weist eine ungewöhnliche Länge von 30 bis 50 m auf, ein Stallteil fehlt, der Innenraum ist groß und relativ offen, da der Abstand der Pfosten über 2 m beträgt. Es gibt eine große zentrale Feuerstelle oder auch mehrere Feuerstellen, und das Gebäude hat mehr als 2 Eingänge. Eine große Höhe des Gebäudes entsteht durch besonders starke dachtragende Pfosten von 50–100 cm Durchmesser. Anscheinend wurde nach Aufgabe des Gebäudes der Platz auch in unterschiedlicher Weise besonders behandelt, war wohl tabuisiert. Auch zur Etymologie des Wortes „Halle“ und auch „Saal“ gibt es Überlegungen, denn der Inhalt des Wortes beschreibt Herrschaft, symbolische Bedeutung und Ahnenkult, wegen der langen Dauer der Existenz einer Halle und deren häufigen Wiederaufbau.1112 Mehr als 70 Hallen sind archäologisch bis 2017 belegt.1113 Während das Wort „Saal“ nach dem RGA Hinweise auf rechtliche Vorgänge enthält, die „etwas übergeben“ und auch „Besitz“ meinen,1114 sagt das Etymologische Wörterbuch der deutschen Sprache zu „Saal“ nur „Herberge finden, Raum, Speisezimmer“ oder auch in verwandten Sprachen „Dorf“ und „sitzen, siedeln“; und zu „Halle“ ein „von Säulen/Pfosten getragener Raum“.1115 Die Halle ist Teil einer größeren Siedlung, liegt erhöht im Sichtfeld wichtiger Wegeführungen und oft in Küstennähe, an einem topographisch auffälligen Platz. Nahebei liegt ein Opferplatz, ein Opfermoor, ein Steinpflaster. Es gibt Hallen in der Nachbarschaft von Grabhügeln aus alter Zeit, womit man sich an vermeintliche Ahnen anschließt. Weiterhin ist spezialisiertes Handwerk, wohl mit Edelmetall, zu nennen, und auffällig sind der sakrale Name am Ort und weitere solche Namen in der Nachbarschaft. Das Fundmaterial bestätigt die Deutung als Kult- und Festhalle; das sind exklusive Sachgüter, nämlich römische Importsachen, Gold als Metall und Schmuck, sowie Glasgefäße, weiterhin Spuren
1110 Koii, Delger, Klaassens 1987. 1111 Carstens 2011; 2011 (2012); 2016; 2017, in Vorbereitung; Wendling 2019 zu Hallen in keltischen Herrenhöfen (vgl. oben 309). 1112 Carstens 2014; 2017, 24. 1113 Herschend 1993; 1999; 2018. 1114 Meineke 2004; Steuer 2004a. 1115 Seebold (Bearb.) 2002.
4.2 Halle
347
von Kultausübungen in der Halle, belegt anhand von Amuletten und vergrabenen Schätzen sowie in der Nähe manchmal niedergelegten bzw. geopferten Waffen. In Dänemark gebe es – so Lydia Carstens – heute 40 Reichtumszentren, aber nur wenige Hallen, die mehrheitlich seit dem 3. Jahrhundert n. Chr. aufkommen und von ihrer Bedeutung im gesellschaftlichen Ranggefüge mit den späteren kontinentalen Königssitzen, den Pfalzen verglichen werden. Dabei waren die Pfalzbauten nicht so langgestreckt wie die älteren Hallen, nämlich in Frankfurt mit 27 m sowie in Paderborn mit 31/40 m, und nur in Ingelheim mit 41 m und Aachen mit 44 bzw. 57 m wiesen die Königshallen entsprechende Maße auf.1116 Eine andere Bezeichnung für „Halle“ ist – wie zuvor gesagt – das Wort „Saal“.1117 In einem solchen Saal geht es um Trinkgelage, um kultische Feste, um den Vortrag von „Heldenliedern“, aber auch um Rechtsprechung. Ob die Halle schon als „Herrschersitz“ und zeitweiligen Aufenthalt bei der Rundreise des Anführers betrachtet werden sollte, wie das für die Pfalzen überliefert ist, lässt sich kaum beweisen. Denn eine derartige Verbindung zwischen mehreren Zentralorten mit einer Halle ist archäologisch bisher kaum zu erkennen. Eine Möglichkeit bietet sich aber an, die näher verfolgt werden sollte; und zwar wenn die Streuung stempelgleicher Goldbrakteaten als solche Hinweise genommen werden können, weil dadurch ein Netzwerk abgebildet wird, das jedoch schon ins 6. Jahrhundert gehört. Doch dazu wird später noch Stellung genommen (vgl. S. 1211). Einige besonders beachtliche Hallengebäude führe ich nachfolgend listenartig auf: Die in Gudme auf Fünen zuerst errichtete Halle war im 3. Jahrhundert 47 m lang. Die in Borg in Nordnorwegen im 5. Jahrhundert errichtete Halle (Borg I) war 64 m lang, wurde später noch ausgebaut auf 80 m Länge (Borg III). Die Pfosten hatten teilweise einen Durchmesser von rund 1 m, was auf große Höhe des Gebäudes hinweist. Die innere Höhe betrug demnach 8 m. Die Besiedlung am Platz reicht hier im Norden kontinuierlich von 200 n. Chr. bis 1300.1118 Manche große Halle weist gleich mehrere Feuerstellen auf, wie das für die Siedlung Archsum auf Sylt belegt ist.1119 Genannt werden soll auch die große Halle von Gamla Uppsala.1120 Sie liegt mit weiteren Hallen bei den mächtigen Grabhügeln. Diese große Nord-Süd ausgerichtete Halle hat ausschwingende Seiten und ist immerhin 50 m lang. Hallen gibt es Norddeutschland auf der Feddersen Wierde, in den Niederlanden im Herrenhof in Wijster des 4. Jahrhunderts1121 und auch in England in Cheddar und
1116 Zotz 2003, 643; Grewe 2000, 421; Odin, Thor und Freyja 2017, 90 f.; verglichen mit der Halle von Tissø mit 50 m Länge um 900. 1117 Herschend 1999. 1118 Storli 2016, 78 Fig. 2 Borg I Großhaus 64 m des 5./6. Jahrhunderts. 1119 Schmid 1994, 255 Abb. 82,2; Harck, Averdieck 1990, 355 Abb. 9. 1120 Ljungkvist 2011b; Ljungkvist, Frölund 2018, 10 Abb. Plan mit den Hallen und 12 Abb. Plan der großen Halle (Stand 2011). 1121 van Es 2007; J. A. W. Nicolay 2010a, 121 Fig. 1 Plan.
348
4 Herrenhof und Festhalle
Yeavering.1122 Die Funktion als Fest- und als Kulthalle bestätigen die Namen der Orte selbst und solche der Umgebung. Für Gudme /Götterheim gibt es in der Nachbarschaft die Namen Gudbjerg / Berg der Götter, Albjerg / Berg des Heiligtums, Gjaldberg / Berg des Opfers. Der Name des jüngeren „Residenzortes“ Tissø auf Seeland mit ähnlichen langgestreckten Hallenbauten bedeutet Tyrs See, See des Gottes Tyr, so wie der Ort Odense auf Odin hinweist. Doch muss man vorsichtig sein, was die Datierung dieser Namen und ihr Aufkommen angeht. Denn der Name des berühmten Moores Thorsberg ist erst in jüngerer Zeit aus ähnlich klingendem Wort entwickelt worden (vgl. unten S. 722). Bedeutende Sachgüter unter den Funden beschreiben den ranghohen Charakter der Hallen. In Gudme war – als Opfer – ein Brakteat am Pfosten befestigt. Glasscherben von kostbaren römischen Gläsern gehen wohl auf Festgelage zurück, so in Dankirke, Helgö und Lejre. Die Siedlungen mit einer Halle, die zudem meist mehrfach neu errichtet worden ist – so wie die gesamte Siedlung – bestehen spätestens seit dem 3. Jahrhundert weiter, oft bis in die Wikingerzeit. Damit zeichnet sich auch für die Hallen eine erstaunliche lange Kontinuität ab, wie sie für die Siedlungen schon beschrieben werden konnte (vgl. S. 289). Mit einer Kultkontinuität am Ort ist zu rechnen. Goldblechfigürchen (Gubber) als Zeichen einer Verehrung und eines Opfers fanden sich in Gudme, Tissø, Uppåkra und Borg. Ebenfalls ähnlich ist der Befund, dass Waffenopferplätze in der Nähe gelegen haben, so in Dankirke, Tissø und Uppåkra. Zwar überschreite ich damit die eigentlich vorgesehene zeitliche Grenze zum frühen Mittelalter hin, aber mancherorts gibt es eben die Kontinuität für Hallen und Kultbauten von den Jahrhunderten n. Chr. an. Über die Hallengebäude von Uppåkra, die weit zurückreichen, jedoch vor allem in die Merowingerzeit gehören, wird im Abschnitt über Kultbauten näher berichtet (vgl. S. 653). Erst vor wenigen Jahren ist in unmittelbarer Nachbarschaft zu Uppåkra, nur 3 km entfernt, eine Siedlung bei Hjärup erforscht worden, die in der späten Römischen Kaiserzeit begann und bis in die Zeit von Uppåkra weiter bestanden hat.1123 Im ergrabenen Ausschnitt von 2,6 ha sind 73 Lang- und Grubenhäuser erfasst worden, die in die Zeit von der vorrömischen Eisenzeit bis in die Wikingerzeit gehörten. Im nördlichen Bereich der Siedlung gab es eine als Herrenhof bezeichnete lange Halle, ein dreischiffiges Haus von 38 m Länge, mit leicht ausschwingenden Längsseiten im Grundriss (also in der Mitte 8,4 m breit und an den Giebelenden nur 4,6 m), datiert in die späte Römische Kaiserzeit. An derselben Stelle folgte eine noch größere Halle von 46 m Länge und 9 m Breite in der Mitte, die in die Völkerwanderungszeit zu datieren ist, und nach einer Verlagerung in den südlichen Bereich eine ähnliche Halle der Vendelzeit, was eine Kontinuität über mehrere Jahrhunderte belegt.1124 Beim ersten 1122 Wilson 2007, 378 Abb. 51a; Carver 2017, 187 f., 188 Fig. 7.5 Yeavering mit Halle und Versammlungsplatz. 1123 Aspeborg 2019, 143 Fig. 2 Siedlungsplan. 1124 Aspeborg 2019, Abfolge der Fig. 3 bis 6.
4.2 Halle
349
Hallenhaus standen mehrere kleinere Gebäude, die zum Hof gehört haben. Diese hier neue Siedlungs- und Hallengestalt wird nicht einfach als Zuwanderung aus Zentralskandinavien gedeutet, weil es dort entsprechende Hausformen gab,1125 sondern als Wohnsitz von Gefolgsleuten der Herren bzw. Häuptlinge in Uppåkra. Das mag so sein, der Befund könnte zugleich zeigen, dass derartige Hallen ranghöherer Familien in jeder der Siedlungen standen und dass sie gefunden werden, wenn genug flächenhaft ausgegraben wird. Der Autor vergleicht diese Hallen von Hjärup mit allen Befunden in Skandinavien und auch mit den Hallen in Uppåkra. Der Hinweis auf die stratigraphischen Folgen von „Herrenhöfen“ auf der Feddersen Wierde an der südlichen Nordseeküste sei hier noch einmal erlaubt (vgl. S. 203). In seiner neuen Monographie von 2018 bildet P. Donat einige „Häuptlingshäuser“ aus eisenzeitlichen Siedlungen Dänemarks ab,1126 und zwar aus den Dörfern Hodde (Haus 1a), Borremose (Haus 1a), Grøntoft (Haus P VI) und Drengsted (Haus AJ1). Ein Zeichen der gegenwärtig ständig zunehmenden Ausgrabungstätigkeiten ist auch das Entdecken immer neuer Hallengebäude: Die vier Hallen von Lejre, Gudme, Storre Tyrrestrup1127 hat P. Ethelberg vorgestellt; und jetzt N. Ravn, und zwar jüngere Halle bei Erritsø in Mitteljütland,1128 an der Küste von Fünen aus dem 9. Jahrhundert. Eine Halle stand in rechteckiger Grabeneinfassung von 110 auf 110 m Abmessung, die Halle selbst war in der ersten Phase 34 m lang, wuchs auf 40 m Länge in der zweiten Phase, und hatte anscheinend auch ältere Vorgänger, wie der Fund einer sogenannten Plattenfibel mit Tierstil des 7. Jahrhunderts belegt. Eine Halle der Vendelzeit in Bereich des schwedischen Handelsplatzes in Birka, Areal Korshamn, wird als magnate’s residence der Vendelzeit beschrieben, die dann weiter bestanden hat bis in die Wikingerzeit.1129 Weitere Hallen werden ständig entdeckt und veröffentlicht, so jetzt eben auch in Birka mit – wie in der Publikation – vergleichendem Blick auf die älteren Hallen im nahegelegenen Helgö südlich Stockholm oder in Runsa Borg nördlich von Stockholm (vgl. S. 330).1130 Seit der Zeit der Feddersen Wierde konzentrieren sich beim Gehöft mit der Halle auch Handwerksplätze, nicht zuletzt die Schmiede. Im Übrigen haben die Hallen anders als die normalen Langhäuser oftmals über die Generation von 30 Jahren hinweg bestanden und wurden bzw. mussten nicht nach einer Generation schon wieder neu gebaut werden; und zwar standen sie bis zu 200 Jahre und länger (so in Järrestad und Lejre). Hallen gab es ebenso, was zu erwarten ist, in den östlichen Gebieten, so in der Przeworsk-Kultur. Ein Beispiel wurde in Rawa Mazowiecka, im oberen Rawka Fluss1125 Aspeborg 2019, 143; T. Christensen 2015. 1126 Donat 2018, 117 Abb. 30. 1127 Ethelberg 1995b. 1128 Ravn 2018. 1129 Kalmring, Runer, Viberg 2017. 1130 Lamm 2011.
350
4 Herrenhof und Festhalle
tal ausgegraben. Das dreischiffige Haus misst 115 m2 und hat zwei Herdstellen; das Nebengebäude hatte mit Vorbau 44 m2. Das Anwesen wird in die frühe Römische Kaiserzeit datiert, von der Wende von B1 zu B2 bis C1a, das sind das 1. und das 2. Jahrhundert.1131 Die Siedlung insgesamt bestand von der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr. bis zur Wende vom 2. zum 3. Jahrhundert n. Chr. Der Sinn und Zweck der großen Hallengebäude der Jahrhunderte n. Chr. sind auch erst im Verlauf der archäologischen Forschung erkannt worden. Sie gab es in fast jeder mehr oder weniger vollständig ausgegrabenen größeren germanischen Siedlung und unterscheiden sich eindeutig von den dreischiffigen (zwei- oder vierschiffigen) Wohn-Stall-Häusern. Als Festhallen waren sie – um das noch einmal zu betonen – zugleich auch Kulthallen und Gemeindehaus, Versammlungsort der Kriegergefolgschaft; das Festgelage mit Heldenlied und Umtrunk der Gefolgschaft eines Großen hatte immer auch kultisch-religiösen Charakter. Das ist zudem auch ausreichend der schriftlichen Überlieferung zum frühen Mittelalter zu entnehmen, zum Beispiel der Beowulf-Dichtung,1132 in der kultische Festveranstaltungen einer Kriegergefolgschaft geschildert werden. Teile des Textes gehen in die hier behandelte Zeit zurück, berichten zumindest über geschilderte Ereignisse bis ins frühe 6. Jahrhundert. Zu der am frühesten in den 1950er Jahren schon entdeckten Festhalle gehört das Langhaus auf der Wurt Feddersen Wierde auf dem Areal einer sog. Mehrbetriebseinheit mit Umzäunung, Werkstattareal und Wohn-Stall-Häusern. Jetzt wird diese Halle in zahlreichen wissenschaftlichen Abhandlungen mit Blick auf ihre Zweckbestimmung wieder neu diskutiert, Listen der bisherigen zahlreichen Befunde zusammengestellt, und Größen, Innengliederung und Fundstoff registriert. Ranghohes Fundmaterial, kostbare Keramik, Gläser und Edelmetall unterstützen die Erklärung als Fest- und damit auch Kulthalle. Die Traditionskette reicht ohne Zweifel wie beim Tempelbau von Uppåkra bei Lund (vgl. S. 654) – auf den im nächsten Abschnitt ausführlicher eingegangen wird – in Germanien bis in die Jahrhunderte um Chr. Geb. zurück, was nun weiterhin erlaubt, einige erst später gut nachgewiesene Erscheinungen auch in die Frühphase zurück zu projizieren. In England bei Yeavering, Northumberland, ist ein ganz anders gearteter Versammlungsplatz ergraben worden, nämlich das Segment eines Amphitheaters nach römischem Vorbild aus Holz errichtet, und zwar nahe einer großen Halle, die als „heidnischer“ Tempel gedeutet wird, datiert etwa ins 5. Jahrhundert n. Chr.1133 Die Bauten standen vor einer Befestigung aus Palisaden, die in die spät- und nachrömische Zeit datiert wird. Am Platz gab es zuvor eine eisenzeitliche Siedlung mit mehreren hundert Gebäuden und später, aber anscheinend ohne Kontinuität, eine frühe anglosächsische Ansiedlung. Die verschiedenen Phasen wurden jeweils bei einem Brand
1131 Skowron 2008; 2010, 290 Abb. 4 Rekonstruktion des großen Hallenhauses. 1132 Cramp, Farrell, Finkenstaedt 1976; Fry (mit Steppe) 1980. 1133 Hamerow 2010; Steuer 2009b, 221 Abb. 3 Rekonstruktion mit Beleg der Herkunft des Bildes.
4.2 Halle
351
zerstört. Alles ist orientiert auf einen großen Grabhügel als rituellem Zentralpunkt. Sie schriftliche Überlieferung spricht später von einer villa regia, einem Königshof. M. Carver erläuert Yeavering1134 als ein Beispiel für „early coastal kingdoms of the North Sea“ und verbindet die Phase IIIa mit König Aethelfrid (605–616), der Halle und Versammlungsplatz, Tempel und Gräberfeld genutzt habe.1135 Auf die Hallen im südlichen und westlichen Norwegen, den Schiffshäusern (vgl. S. 370) gehe ich später noch einmal ein. Als ein Beispiel aus Südostnorwegen nenne ich die Halle aus Missingen, datiert in die Römische Eisenzeit, in das 1. und 2. Jahrhundert, und gewertet als Sitz der warrior aristocracy,1136 als Sammlungsplatz für die Kriegeraristokratie und einer der ersten Belege für eine solche Häuptlingshalle. Diese Halle ist 65 m lang, hat mehrere Eingänge und Feuerstellen und keine Viehboxen. Nahebei sind Siedlungsspuren mit Zäunen nachgewiesen, auch Waffengräber in der Nachbarschaft. Rund um Missingen sind im Radius von 6 bis 7 km fünf Höhenbefestigungen registriert, im Vergleich mit den mehr als 390 Höhenbefestigungen in Norwegen insgesamt. Die ringförmigen Anordnungen von großen Häusern, Schiffshäusern oder Kriegerversammlungsbauten in Norwegen seien auch Hinweise auf Thingstätten und repräsentierten eine politische Konsolidierung in Norwegen.1137 Die Rundsiedlungen bestanden aus zwei Reihen von Häusern, wie die Rekonstruktion zeigt, und die Thingplätze werden mit (wikingerzeitlichen) Thingplätzen auf Island verglichen. Die Gehöftplätze entlang der norwegischen Küste bis Tromsø und den vorgelagerten Inseln, bis zu den Lofoten (mit Borg) sind kartiert, und tabellarisch sind neun derartige Plätze von 200 bis 400/600 n. Chr. mit ihren Maßen aufgeschlüsselt. Die riesige, aber jüngere Halle in Borg auf den Lofoten, Nordnorwegen, habe ich schon mehrfach genannt (vgl. S. 347).1138 Als Summe formuliere ich, dass die Kult- und Festhalle als herrschaftlicher Sitz in Germanien während der späten vorrömischen Eisenzeit aufkommt und sich während der Römischen Kaiserzeit massiv weiterentwickelt und häufiger wird. Von den Vorläufern während der vorrömischen Eisenzeit gewann sie bis ins Mittelalter eine wachsende Bedeutung als zentrale Wirkungsstätte in Germanien. Lars Jørgensen hat diese Kontinuität an südskandinavischen Befunden seit dem 3. Jahrhundert n. Chr. beschrieben, als aristokratische Residenzen, die in der späteren Phase dann mit kontinentalen Pfalzen verglichen werden können.1139
1134 Carver 2017, 57 Fig. 3.1, für das 7. Jahrhundert 187 f. Fig. 7.5. 1135 Semple, Buchanan, Harrington, Oliver, Petts 2017, 93 Fig. 1b Plan des Ausgrabungsareals. 1136 Bårdseth 2009, 148 Fig. 1 Halle, 155 Fig. 8 Rekonstruktion. 1137 Storli 2000; 2010, 130 Fig. 2 Karte, 139 Fig. 19 Tabelle. 1138 Stamsø Munch, Johansen, Roesdahl 2003; Storli 2016. 1139 Jørgensen 2009.
5 Zentralorte und Reichtumszentren Das allgemeine Siedlungsbild in Germanien bestimmt die Verteilung der verschieden großen Dörfer, in Sichtverbindung zu einander in der offenen Landschaft positioniert. In der frühen Phase vor und nach Chr. Geb. sind auch Befestigungen notwendig gewesen. In der Spätphase gegen 400 n. Chr. entwickelten sich zusätzlich – die Dörfer waren teilweise schon sehr groß geworden, die Zahl der Gehöfte auf über 20 angewachsen – Orte mit neuer Organisation, nämlich mit der Konzentration von besonderen hochwertigen Handwerksarten (Schmuck- und Waffenproduktion) und Handel mit Luxusgütern aus der Ferne. Die Lage an der Küste oder an wichtigen Wegekreuzungen markiert ihre überregionale Bedeutung innerhalb des Siedlungsnetzes. Auch die Zentralisierung von kultischen Handlungen gehörte zu solchen Plätzen, an denen sich – und das ist ein entscheidender Faktor – überörtliche Herrschaft herausbildete. Einerseits sind diese Siedlungen auf dem Wege zu ‚frühstädtischen‘ Organisationsformen, andererseits mit Blick auf den Aspekt Herrschaft Wurzeln entstehender Königreiche, d. h. ihre Herausbildung war mit weitgehenden gesellschaftlichen Veränderungen verbunden. Regelmäßig gehören zu einem solchen Zentralort eine oder mehrere große Hallen, die nur als Versammlungshäuser für Kulthandlungen und Festgelage gedacht waren (vgl. S. 342). Es gibt eine ganze Reihe von Versuchen, das Wesen von Zentralorten und Reichtumszentren ausführlicher zu beschreiben,1140 seitdem durch archäologische Forschung die ersten Plätze eindeutig als etwas Neues erkannt worden sind, als ‚frühstädtische‘ Siedlungen und besondere wirtschaftliche Zonen. Neu ist inzwischen ein Problem, denn durch die rasant wachsenden Geländeforschungen steigt die Zahl der Zentralorte so schnell an, dass man zu weiterer Hierarchisierung übergehen muss. Ich habe schon mehrfach die großen Fortschritte der Archäologie beschrieben, die auf jedem Feld derartig viele neue Ergebnisse vorlegt, dass sich das Geschichtsbild von den Lebensverhältnissen im Germanien dieser früheren Jahrhunderte umfassend ändert. Die Siedlungsdichte und die zunehmende Größe der Dörfer sind belegt, und damit hat sich auch die Vorstellung von der Gesamtorganisation der politischen Landschaft gewandelt. Dann hat K. Høilund Nielsen 2014 wieder die „key issues concerning central places“ aufgelistet,1141 und zuvor 2010 nannte M. Müller-Wille wiederum die Kriterien für die Zentralplätze, darunter auch die von mir seinerzeit vorgeschlagenen:1142 Lokalisierung an interregionalen Routen zu Land und zu Wasser; Konzentration von Handwerk und Handel; dichte Bevölkerung; Trennung vom ländlichen Umfeld, oft durch eine Befestigung; organisierte Infrastruktur in der Siedlung, Wegenetze, genormte Parzellierung, offene Plätze für einen Markt, Brücken,
1140 Steuer 2003d; 2007j; Näsman 2011; Thrane 2011; Kalmring 2016, 14 f. 1141 Høilund Nielsen 2014. 1142 Müller-Wille 2010b, 380; Steuer 2007j, 902 Abb. 118 Hallen von Gudme in Farbe. https://doi.org/10.1515/9783110702675-013
5 Zentralorte und Reichtumszentren
353
Kaianlagen und Hafenbauten; spezielle Bauwerke als Treffpunkt für Handwerker und Kaufleute; kultisch oder sakrale Strukturen; und schließlich ein „urbaner“ Lebensstil. Diese Definitionen können dann erweitert werden zu Beschreibung dessen, was eine Stadt ist. J. Udolph meint zudem, anhand der überlieferten Namen Zentralplätze erkennen zu können. Doch ist das ein zu weites Feld mit hunderten von Orten, die beispielsweise mit -by enden oder mit -thing, -tie sowie -tun und schließlich -wik, die zudem nicht zu datieren sind, so dass diese Namen dem Archäologen nicht viel weiter helfen.1143 Bisher sind derartige Zentralorte vor allem im Ostseebereich erforscht.1144 Ihre Entstehung fällt in die späteste Römische Kaiserzeit, die Blütezeit dann vor allem in die frühe Völkerwanderungs- und in die Merowingerzeit bzw. Vendelzeit in Südskandinavien. Manche wachsen weiter und spielen eine besondere Rolle noch während der Wikingerzeit. Das soll hier aber nicht näher beschrieben werden; es geht nur darum aufzuzeigen, dass die Wurzeln dieser Entwicklung zu Zentralorten und frühen stadtartigen Siedlungen in Germanien noch in die Epoche zurückreichen, der sich dieses Buch widmet, und zwar seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. Die gegenwärtige Zentralort-Forschung und ihre zentralörtlichen Theorien sehen vor allem Netzwerke und gehen nicht nur von einem einzelnen als bedeutendem Zentralort aus,1145 vielmehr bilden „Knoten“ in diesen Netzen die Zentralorte. Zur Definition von Zentralorten gehört deren Funktion in der „Mitte“ einer Rituallandschaft,1146 und darauf gehe später im Kapitel über Religion und Kult noch ein (vgl. S. 653). U. Näsman gibt 2011 eine Übersicht nach zwanzig Jahren Forschungen zu den Zentralplätzen im südlichen Skandinavien, nachdem neue Zentralorte wie Helgö 1950 und Gudme 1989 schon hinzugekommen waren. Eine Karte veranschaulicht die Dichte der Besiedlung bei Gudme von 400 bis 600 n. Chr. nach einem Modell von H. Thrane 1993.1147 Eine Pyramide erläutert Näsmans Auffassung vom Zentralort oberhalb der allgemeinen Siedlungen, der gekennzeichnet ist durch kontinentale Goldobjekte, prächtige Helme bei den Waffen, höchst qualitätsvolles Kunsthandwerk und ungewöhnliche Fundkomplexe, und zwar nach einem älteren Entwurf von Chr. Fabech und J. Ringtved von 1995. Es gibt weitere Modelle (Abb. 35. 1 und 2),1148 zum Beispiel anhand der Siedlungsgrabungen auf Seeland.1149
1143 Udolph 2010. 1144 Fabech, Näsman 2013; Fabech, Ringtved (Eds.) 1999; Skou Hansen 2003. 1145 Nakoinz 2009; auch U. Müller 2009. 1146 Fabech, Näsman 2013, 56–57. 1147 Näsman 2011, 187 Fig. 2; Thrane 1993, fig. 22. 1148 Näsman 2011, 186 Fig. 1; Fabech, Ringtved 1995 Fig. 1; P. Ø. Sørensen 2010; Ethelberg 2011a, 71 Fig. 1; 2001, 59 Abb. 2. 1149 Boye, Ethelberg, Lund Hansen 2009, 261 Fig. 3 anhand der Häuser von den Ingenui, Comites bis zu dem Princeps.
354
5 Zentralorte und Reichtumszentren
igi rel Vorbeugung göttlicher Ablehnung
„Töten“ der Waffen
ch
gis
olo
ch
Transformation von Beute zur Gabe
psy
ös
1
Zerstörung der gegnerischen Ausrüstung Symbolisches Zerstören des Kriegers
Profanisierung der Beute verhindern
Inszenierung von Sieghaftigkeit
sozial
2
Abb. 35: 1. Soziale Hierarchie auf Seeland während der jüngeren Römischen Kaiserzeit. 2. Modell der Sozialstrukturen in der älteren Römischen Kaiserzeit innerhalb des Oberjersdaler-Kreises.
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Die Siedlungshierarchie besteht (1) aus dem überregionalen Zentralort, (2) aus mehreren regionalen und lokalen Zentren, (3) aus der breiten Basis agrarischer Siedlungen, den Produktionsorten, Gehöften, Weilern, Dörfern. Das Forschungsprojekt „Vom Stamm zum Staat in Dänemark“ ist seinerzeit daraus hervorgegangen. Die zentralörtliche Position zeichnet sich auch in der Verknüpfung von Ortsnamen oder einem dichten Netzwerk von archäologischen Fundorten ab, ebenfalls erläutert an Kartierungen aus den späten 1990er Jahren.1150 Wichtig ist die Forderung, dass landschaftsarchäologisch zu forschen ist, wenn man Zentralorte als solche bewerten will und dass ein solcher Platz nicht isoliert beschrieben werden darf. Die Ausgrabungen der letzten Jahrzehnte haben das berücksichtigt und entsprechende Ergebnisse geliefert. U. Näsman meint außerdem, dass Plätze wie Helgö und andere Zentralorte nicht als „Vorform der Stadt“ bezeichnet werden dürften. Das interessiert mich im Rahmen dieses Buches besonders: Er meint im Gegensatz zu A. Andrén 1998, dass es zwar externe, auch römische Einflüsse – im Sachgut – auf diese Zentralorte gegeben hat, dass diese aber keine Imitationen römischer Städte sein wollten, sondern eigenständige skandinavische Entwicklungen der wirtschaftlichen, sozialen und schließlich auch politischen Strukturen des Landes, als Sitze einer neuen Elite. „Central places were a domestic adaptation of traditional rural settlement patterns to a new changing situation“.1151 Also war Helgö zwar ein Zentralort, der sich von römischen und mittelalterlichen Städten aber unterschied. Zentralorte waren somit in keiner Weise Imitationen römischer Städte, sondern eine eigenständige skandinavische Entwicklung, wodurch ein ganz neuer Siedlungstyp geschaffen wurde. Es gab den Unterschied zu den Städten des Römischen Reiches und auch zu den Frühstädten der späteren Königreiche auf dem Kontinent und im Norden. Die ersten Proto-Städte waren im Norden Birka, Haithabu und Ribe, die sich im 8. und 9. Jahrhundert entwickelten, als Mittelpunkte in Handels- Netzwerken. Denn in Skandinavien war das eine Entwicklung aus den ländlichen Siedlungen heraus, und zwar für eine hier neu entstehende Elite. Erst später ist das mit grundherrschaftlichen Sitzen oder Klöstern zu vergleichen. Auf dem Kontinent verlief diese Entwicklung anders. Die Kartierung der Zentralplätze der Römischen Kaiserzeit und des 6. Jahrhunderts spiegelt die Zunahme dieser bedeutenden Siedlungen,1152 deren Verteilung zudem zu vergleichen ist mit der Lage der zeitgleichen Horte und Heeresausrüstungsopfer. Die Zahl und Dichte dieser Siedlungen ist außerdem zu parallelisieren mit der Verbreitung der Brakteaten des Typs D in ganz Skandinavien, in England und in Mitteleuropa (vgl. S. 1022).
1150 Näsman 2011, 189 Fig. 3 a, b Zentralplatzkarte mit den abhängigen Orten anhand der Platznamen (ein Modell). 1151 Näsman 2011, 191 Zitat; vgl. Larsson, Hårdh (Hrsg.) 2002. 1152 Näsman 2011, 286 Fig. 7 (Karte zur Römischen Kaiserzeit), 260 Fig. 9 (Zentralplätze des 6. Jahrhunderts).
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Der Befund in Brokær, Südwestjütland, wurde schon vor mehreren Jahren als Reichtumszentrum der Römischen Kaiserzeit angesprochen, der zum Overjerstal Kreis gehört.1153 Der Platz wird datiert in die Stufen B2 (150 n. Chr.) und B2/C 1 (um 200 n. Chr.). Entscheidende Kriterien waren ein römischer Kettenpanzer und ein Ringknaufschwert als Grabbeigaben,1154 vergleichbar mit dem Komplex von Dollerup in Südjütland, einem reich ausgestatteten Doppelgrab der älteren Römischen Kaiserzeit, das ebenfalls zu den „Fürstengräbern“ zählt (vgl. dazu unten S. 938). Im Grab von Brokær, Südwestjütland, befanden sich römische Importgefäße, zwei Östlandkessel (Juellinge –Variante Eggers Typ 40) der Stufe B2, eine Bronzekasserolle, Kelle und Sieb in Fragmenten mit Stempeleindrücken, außerdem Beschläge von zwei Trinkhörnern (ein einfacher Endbeschlag, ein Rinderkopfendbeschlag sowie Kettenteile der Aufhängung), Reste eines Glases, außerdem Schwert, Speerspitze, Axt, Schildbuckel und drei Stuhl-Sporen, teils mit Silbertauschierung und mit umlaufenden Silberdrähten an den drei Eisensporen. Stuhlsporen mit silbertauschiertem Dorn kommen vor allem in Jütland, aber auch auf Öland und auf Gotland sowie im Unterelbegebiet und mit einigen Exemplaren in Mähren vor. Zwei Goldfingerringe, eine Riemenschnalle aus Eisen, zwei Messer, eine Schere aus Eisen wurden nahebei in einem Bootgrab mit 500 Klinkernägeln entdeckt. Ein weiteres Grab 1878 enthielt einen Bronzekessel mit Eisenrand, einen gewellten Bronzeeimer, ein gewelltes Becken, eine Situla und auch Kelle und Sieb sowie eine Kasserolle, außerdem zwei Silberbecher. Zu Fragmenten eines Silberbechers I gehört ein Pressblechfries mit Gesichtsmasken, und an den Fragmenten des Silberbechers II sind ebenfalls solche Gesichtsmasken erhalten geblieben. Dazu gibt es Parallelen an Pressblechen von Thorsberg bis zum Himlingøje-Becher, von Illerup bis Vimose (vgl. unten S. 937). Solche Pressbleche gibt es auch auf einer Rosettenfibel von Slusegård Grab 600, auf einer weiteren Rosettenfibel von Gotland und auf einem der Dejbjerg-Wagen (vgl. S. 91). Doch sei hier vermerkt, dass es bei meinem Blick auf Zentralorte vor allem um die überlieferten und archäologisch untersuchten Siedlungen mit den entsprechenden Kriterien geht. Die später zu beschreibenden „Fürstengräber“ der Römischen Kaiserzeit (vgl. S. 906) können Hinweise auf Zentralorte sein, und bei Zentralorten können auch Gräber der Elite entdeckt werden, aber eine unmittelbare Kombination und eine Gleichsetzung sollten nicht von vornherein vorgenommen werden. Warum ist Brokær ein Reichtumszentrum? Wegen der reich ausgestatteten Gräber in diesem Bereich. Der Begriff „Reichtumszentrum“ ist hier also schon recht früh in den 1990er Jahren übertragen worden auf die Gruppen von „Fürstengräbern“. Doch ich betone, das sind durchaus grundsätzlich unterschiedliche Erscheinungen zwar von gesellschaftlichem Rang, aber es gibt keine direkten Abhängigkeiten. Eine Gruppe von reich ausgestatteten Fürstengräbern gehörte zuerst einmal zu einer ländlichen Siedlung, in
1153 Rasmussen 1995, 52 Fig. 11 Karte der Stuhlsporen, 73 Fig. 28 Karte der Ringknaufschwerter. 1154 Voss 2003d, 20 Karte Nr. 1 Brokær.
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der diese Familien gelebt haben. Bei einem Reichtumszentrum mit der geschilderten wirtschaftlichen Kraft und kultischen Funktionen liegen aber nur sehr selten nahebei Fürstengräber. Zur Beantwortung der Frage nach der Ansprache als Reichtumszentrum ist das soziale Umfeld zu betrachten mit den anderen Gräbern der Phase B2,1155 und die Gräber mit Silberbechern sowie die Kombinationen der weiteren Beigaben sind zu berücksichtigen (es sind im Vergleich die außer Brokær von Mollerup, Byrsted, Hoby, Dollerup, Agersbøl, Valløby und Nordrup). Eine Graphik bringt im Histogramm die Prestigeobjekte in Gräbern mit Silberbechern, mit Waffen, Keramik und persönlicher Ausstattung, gestaffelt von 4 bis 25 Sachgütern. Am zahlreichsten sind die Gegenstände in den Gräbern von Valløby und Brokær. Betrachtet man die Verbreitung der kaiserzeitlichen Importgräber in Dänemark einschließlich Bornholm,1156 dann kann man Brokær durchaus als Reichtumszentrum einordnen. Es sind die reichen Gräber und ein Handelsplatz ähnlich wie in Lundeborg bei Gudme ab 200 n. Chr. hier an der Ribe Å gelegen, wo eine Übergangsstelle sich als Handelstreffpunkt anbietet. Brokær ist gewissermaßen ein Vorläufer von Dankirke und Ribe. Welche Rolle nun jeweils die römischen Importe gespielt haben, ob sie als Geschenke zwischen germanischen Häuptlingen ausgetauscht wurden, ist diskutiert worden. Nahe von Brokær gab es neben diesem Zentrum des Warenaustauschs vier weitere Häuptlingszentren der Stufe B2 in Südjütland, darunter auch den Platz mit einem Bootgrab und einem Schiffsfund von Gredstedbro. In Hoby auf Lolland hat das seit langem bekannte üppig mit prächtigen Beigaben ausgestattete Häuptlingsgrab (vgl. S. 276, 344 und 917) dazu angeregt – ebenso wie bei Marwedel (oben S. 222) – nach der Siedlung zu suchen. Die Ausgrabungen haben Großhäuser, darunter auch eine speziell eingezäunte „Residenz“ nachgewiesen, außerdem nahebei einen Ritualplatz. Vergleichbar mit den nachfolgend beschriebenen Zentralorten ist auch dieser Platz aufgrund der auffälligen Befunde, der reichhaltigen qualitätsvollen Funde und des Häuptlingsgrabes, datiert ins frühe 1. Jahrhundert n. Chr., schon als Vorläufer eines Zentralortes anzusehen.1157 Als wichtiger Zentralort ist Gudme auf der dänischen Insel Fünen seit etwa dem 3. Jahrhundert n. Chr. ein politisches und religiöses Zentrum gewesen.1158 Der Ort wurde schon im 19. Jahrhundert indirekt bekannt, da hier einige beachtliche Goldschätze entdeckt worden sind, darunter der Schatz von Broholm von 1833 mit 4 kg Gold aus der Zeit um 500.1159 Insgesamt wurden im Areal von Gudme 9 kg Gold gefun-
1155 Rasmussen 1995, 83 Fig. 38 Karte der B2-Gräber, 87 Fig. 41 Tabelle der Gräber mit Silberbechern, 88 Fig. 42 Graphik zu den Prestigeobjekten. 1156 Lund Hansen 1987, Karte 2–12 Gräber mit Importen. 1157 Nielsen, Randsborg, Thrane 1994; Odin, Thor und Freyja 2017, 43–46; Blankenfeldt 2011; 2016a. 1158 Sørensen 2010. 1159 Thrane, Munksgaard 1978; Thrane 1993, 22 f. Fig. 22 und 23; auch L. Jørgensen 2011, 82 Fig. 5.
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den.1160 Die Ausgrabungen haben bis ins 21. Jahrhundert immerhin rund 60 Gehöfte freigelegt, die zwischen 200 und 800 n. Chr. mehrfach erneuert worden sind, mehr oder weniger an Ort und Stelle, diesmal ohne größere Verlagerungen.1161 Instruktive Farbabbildungen sind beispielsweise im Beitrag von L. Jørgensen 2011 zu finden (oben Abb. 34).1162 Bei einem Großgehöft aus zwei mächtigen Hallenbauten sind die meisten Schätze gefunden worden, und auch bei einigen kleinen Häusern, in denen Schmiede gearbeitet haben. In der großen Halle fanden sich ebenfalls allerlei Schmuckobjekte und Barren aus Gold. Um 550 wurde die Halle zerstört und durch ein normales Gehöft überbaut. Der noch heute existierende Name Gudme bedeutet so viel wie „Götterheim“, verweist auf einen religiös-kultischen Hintergrund. Von derartigen Orten mit dem Bestandteil Götterheim gibt es im südlichen Skandinavien rund ein Dutzend. Auf die Moore wie Thorsberg (Name des Gottes Thor) in Schleswig-Holstein sowie Vimose (das heilige Moor) in Jütland wird zurückzukommen sein. In der Landschaft um Gudme sind mehrere theophore Namen überliefert, die schon genannt worden sind (vgl. S. 348). Dass hier ein sakrales Zentrum bestanden hat, wird dadurch zweifelsfrei angezeigt. Sogar wird versucht, den Platz Gudme mit dem Götterheim Asgard der mittelalterlichen isländischen Quellen näher zusammenzubringen.1163 Mehrere eigenständige Siedlungsplätze mit großen Langhäusern wuchsen gewissermaßen im Laufe der Zeit auf einem etwa 1 km2 großen Areal zusammen. Über zehn Phasen aufeinander folgende Siedlungsmuster aus dem 3. bis 6. Jahrhundert sind ergraben, mit 40 bis 50 gleichzeitig stehenden Gehöften und dazu geschätzten 300 bis 500 Bewohnern. Ein großer Teil der Gehöfte ist mit Werkstätten verbunden, besonders mit der Verarbeitung von Edelmetall. Im 4. und 5. Jahrhundert bestand als Mittelpunkt eine Festhalle mit 47 m Länge und 8 m Breite, also mit fast 400 m2 Nutzfläche, und dazu ein Nebengebäude von 250 m2, das als Kultbau anzusehen ist. Im Umfeld konzentrierte sich das Metallhandwerk, und auch besonders viele Edelmetallfunde stammen gerade von hier, vor allem auch Gold: Goldbrakteaten, Goldblechfigürchen (S. 1206 ff.), außerdem Münzschätze mit alten römischen hochwertigen Silberdenaren und Schmuck, verziert im sogenannten Tierstil I (vgl. unten S. 1236 ff.). Mit dem Metalldetektor sind in Gudme mehr als 5000 Objekte des 2. bis 10. Jahrhunderts, dazu über 1000 römische Münzen, gefunden worden in den über 50 Höfen und den verschiedenen Handwerksstätten. Die großen Bauten im Zentrum des ausgedehnten Siedlungsareals waren Hallen mit zugehörigen Kulthäusern, die meist
1160 Staffordshire Hoard 2019, 349 (Sv. Fischer). 1161 Kromann, Nielsen, Randsborg, Vang Petersen, Thomsen 1991; P. Ø. Sørensen 1994; 2003; 2010; Thrane 1999; Sundqvist 2011; Jørgensen 2011; Odin, Thor und Freyja 2017, 47 „Fürstenresidenz“. 1162 Jørgensen 2011, 81 Fig. 3 die Grabungsflächen, 83 Fig. 6 die Hauptresidenz mit dem Festhaus und dem Kulthaus; 2010, 275 Fig. 2 Ausgrabungsflächen in Farbe, 276 Fig. 3 und 4 Grabungsflächen und zehn Gehöfte, 277 Fig. 5 Hauptresidenz von Gudme mit den Langhäusern. 1163 Hedeager 2001.
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etwas kleiner sind und deutlich ohne Stallteil ihre besondere Funktion ahnen lassen. Der Reichtum dieses Zentralortes Gudme-Lundeborg ist, so wird vermutet, seinerzeit damals durch Abgaben einer abhängigen Gesellschaft der Umgebung zusammengekommen, wie bei der kontinentalen Grundherrschaft des Mittelalters. Der oben geschilderte größte Goldschatz Dänemarks mit 4 kg Gold ist nur ein Teil dieses sichtbaren Reichtums. In einem der Kulthäuser sind zwei Depots mit Gold und Silber entdeckt worden, ein Silberköpfchen und ein Goldbrakteat sind, wie ein Bauopfer, in den Fundamenten zweier Pfosten, die das Dach getragen haben, überliefert. Der Vergleich mit anderen ähnlichen Orten hat zur Bezeichnung „Das Gudme Phänomen“ geführt, weil hier bis heute am umfassendsten eine große Fläche mit den Grundrissen der Bauten dieses Zentralortes freigelegt worden sind sowie überaus reichhaltige Edelmetallfunde geborgen werden konnten. Dieser Reichtum an Edelmetall ist nicht verloren gegangen oder einfach als Schatz vergraben worden, sondern spiegelt spezielle Weihe- und Opfersitten.1164 Auffällig sind die angeführten theophoren Ortsnamen rund um Gudme/Götterheim, einem Zentralort mit mehr als 100 ha Fläche der Siedlungsareale. Nun hat M. Axboe einerseits die sonstigen Gudme-Namen im Ostseegebiet kartiert1165 und andererseits eine Bronzefigurine von einem Ort mit Namen Gudum vorgestellt, einen Detektorfund von Seeland. Die elf Plätze mit dem Namen Gudme/Gudum könnten sich alle als Zentralorte erweisen, wenn dort ausgegraben würde. Die anthropoide Figur,1166 ein Torso mit Kopf und Oberkörper, ist nur 9 cm hoch, hat eine Haartracht, einen Halsring sowie Kleidung und ist durch das Geschlechtsmerkmal als weiblich zu erkennen, ähnlich der Figur von Smøringe auf Bornholm.1167 Die Kleidung mit strengen Konturen und Ärmeln ist mit Bildern auf Goldbrakteaten zu vergleichen. Parallelen des Gesichts finden sich z. B. auf dem Halskragen von Ålleberg (vgl. S. 1223) und in Objekten des Tierstils I. An diesem Platz wurde ein Haus von 20 m Länge der Zeit 400 bis 600 ausgegraben, nahe der Kirche von Gudum. Zur Funktion meint M. Axboe, dass diese kleine Figur, die auf der Rückseite hohl ist, wie andere auch als Beschlag auf einem Schultergurt erklärt werden kann, so wie bei den Funden von Frøyhov in Norwegen und von Illerup in Jütland.1168 Die hölzerne Figur mit Halskragen von Rude Eskilstrup bei Betrachtung des Figürchens kommt in Erinnerung (vgl. S. 1226 Abb. 99.2). A. Pesch deutet derartige Figuren mit den Gesichtern und Vergleichbares auf Brakteaten versuchsweise als Odin/Wodan.1169 Zu Gudme gehört in unmittelbarer Nähe an der Küste ein Lande- und Handelsplatz mit Hafen Lundeborg, ausgegraben in den Jahren 1986 bis 1992, mit einer Kon1164 Grimm, Pesch (Hrsg.) 2011. 1165 Axboe 2018, 364 Fig. 1 Gudme-Namen, nach: Grimm, Pesch (Hrsg.) 2011a, 3. 1166 Axboe 2018, 365 ff. Fig. 2–4. 1167 Watt 2015b, Fig. 5. 1168 Axboe 2018, 373 Fig. 9. 1169 Pesch 2017a (facing faces).
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zentration von handwerklichen Betrieben und saisonal aufgesuchten Zeltplätzen für die Kaufleute und Handwerker. Diese Siedlung erstreckt sich über mehr als 5 ha, der Kernbereich am Ufer ist etwa 1,6 ha groß. Ein Bestattungsplatz mit mehr als 2000 Gräbern der Zeit von 100 v. bis 400 n. Chr. liegt zwischen Gudme und der Küste, mit dem modernen Namen Møllegårdsmarken. Der Zentralort Gudme der Römischen Kaiserzeit und frühen Völkerwanderungszeit wird mehrfach mit einem Zentralort der Folgeepoche Tissø verglichen und in einem Zuge genannt, und dieser Vergleich wird fortgesetzt mit Blick auf den Zentralort Helgö in Schweden.1170 Eine Entwicklungslinie vom sich erst herausbildenden Zentralort bis zu den grundherrschaftlichen Mittelpunktsorten, die mit frühen Pfalzen auf dem Kontinent verglichen werden, ist gegeben, wenn man die Zeitspannen aneinander knüpft. Der Zentralort Tissø auf Seeland mit Herrenhof, Kultplatz, Werkstätten und Markt sowie Waffenopfer vor der Küstenlinie im Wasser und zahlreichen Goldfunden (darunter ein 1,8 kg schwerer Gold-Halsring) entstand erst im 6. Jahrhundert und existierte dann bis ins 11. Jahrhundert. Anscheinend hat er am Ort keine älteren Vorläufer.1171 Ausgegraben wurde dieser Platz von 1995 bis 2003 und wieder von 2011 bis 2016. Eingeordnet als königliche Residenz am Göttersee wird sie also mit den Pfalzen und Königshöfen auf dem Kontinent verglichen. Eine Siedlungskonzentration im Osten auf der Insel Bornholm mit Namen Sorte Muld, Schwarze Erde (aufgrund der frühgeschichtlichen mächtigen, dunklen Kulturschicht), mit – ebenfalls wie in Gudme – rund einem Quadratkilometer Fläche geht schon auf die jüngere vorrömische Eisenzeit zurück, wurde dann in den ersten Jahrhunderten n. Chr. massiv ausgebaut.1172 Hier wurden ebenfalls zahlreiche römische Denare des 1. und 2. Jahrhunderts gefunden, außerdem ein Schatz mit Goldbrakteaten und mehr als 2300 Goldblechfigürchen, die hier als Votivgaben an einem heiligen Ort niedergelegt worden sind. Vermerkt sei, dass diese alten römischen Denare mit hohem Silbergehalt noch Jahrhunderte nach ihrer Prägung im Umlauf gewesen sein müssen bzw. gehortet worden waren und erst im 4./5. Jahrhundert in die Erde gekommen sind (vgl. S. 576). Diese Datierung ist dadurch belegt, dass sich vereinzelt entsprechend zeitgleiche jüngere Münzen in diesen Ansammlungen fanden. Das entspricht übrigens dem Münzschatz im Grab des Frankenkönigs Childerich (gestorben 482) in Tournai in Belgien, in dem ebenfalls 200 Silbermünzen aus der Prägezeitspanne vom 1. bis frühen 3. Jahrhundert, von einer Münze des Nero (54–68) bis zu einer Münze des Caracalla (211–217) und z. B. 16 Münzen des Mark Aurel (161–180), zusammen mit Goldmünzen Valentinians III. (425–455) bis Zeno (476–491) gewissermaßen in einem Schatz zusammengefasst waren.
1170 Jørgensen 2010, 275 Fig. 13 Zeittafel Gudme, Tissø, Helgö von 200 bis 1000 n. Chr. 1171 Jørgensen 2010; Odin, Thor und Freyja 2017, 79 ff. 1172 Watt 1988/89; 2005; 2009; Adamsen (Hrsg.) 2009; 2011b, 141 Fig. 2, 143 Fig. 3.
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Im Aufsatz von Margrethe Watt zu „Sorte Muld, an example of transformation and regional contacts during the 5th to 7th centuries in the Baltic Sea area“1173 geht es um die verschiedenen Phasen der Besiedlung an diesem Zentralort. Vier Hauptphasen sind abgebildet, vorrömische Eisenzeit (200 v. Chr. bis AD 1) noch mit wenigen Funden, dann späte Römische Kaiserzeit mit sehr vielen Funden, gefolgt von Völkerwanderungszeit, späte germanische Eisenzeit bzw. Vendelzeit ebenfalls mit vielen Funden und schließlich Wikingerzeit mit etwas weniger Funden als zuvor.1174 Zu Sorte Muld werden von der Autorin weitere Zentralorte der Völkerwanderungszeit auf Bornholm kartiert: Sandegård, Smørenge, Rytterbakken, Bækkegård (Klemensker), z. T. mit Goldschätzen.1175 Mindestens seit der späten Römischen Kaiserzeit sind Metallverarbeitung, Handel, Marktfunktion, Importe von Luxusgütern und Waffenopferungen nachgewiesen, seit der Völkerwanderungszeit sind mit Goldbrakteaten und Goldblechfigürchen auch die kultisch-religiösen Aspekte eines Zentralortes gegeben. Das Multifunktionale im Sorte Muld Komplex ist somit belegt, und fast alle Aspekte sind von der frühen, mehr noch der späten Römischen Kaiserzeit und weiter bis in die Völkerwanderungszeit nachgewiesen, d. h. es gibt wiederum eine beachtlich langdauernde Kontinuität über viele Jahrhunderte. Ein Problem ist das Fehlen von entsprechenden Grabstätten, um Rang und Status der Bewohner zu belegen. Parallel zur Zunahme der Siedlungsgrößen an diesen Plätzen auf Bornholm und damit der Zunahme von Bevölkerung nimmt aber die Zahl der bekannten Gräber ab. Ob das nur eine Forschungslücke aufgrund spezieller Bestattungssitten ist, bleibt offen. Andernorts auf der Insel gibt es aber reich ausgestattete Gräber, auch mit Waffen, der späten Germanischen Eisenzeit bzw. Völkerwanderungszeit. Es gibt Kontakte von Sorte Muld zu Uppåkra und anderen Orten an der Ostseeküste, außerdem nach Südosteuropa und zum Schwarzen Meer über die polnischen Flüsse, nicht zuletzt anhand von Glasfunden belegt. M. Watt weist auf die Parallelen zum südpolnischen Zentralort von Jakuszowice (vgl. S. 372) hin. Am Mälarsee in Mittelschweden war Helgö, die heilige Insel, durch die wirtschaftlichen Aktivitäten in mehreren Großgehöften der Ausgang für die Entwicklung eines Zentralortes, der später im nahegelegen wikingerzeitlichen Handelsplatz Birka seine Fortsetzung fand. Die Siedlung wurde schon in den Jahren von 1954 bis 1978 ausgegraben; sie bestand aus etwa sieben nahe beieinander liegenden Hofkomplexen mit rund 40 sich zeitlich ablösenden Hausfundamenten und Grubenhäusern. Hinzu gehören mehrere, etwa sechs Gräbergruppen. Die älteren Siedlungsphasen gehören in das 1. bis frühe 6. Jahrhundert. In dieser Epoche bestand jede Siedlungsstelle aus jeweils vier bis fünf Häusern von 20 bis 40 m Länge, einer Halle und einigen Gruben1173 Watt 2011b, 141 Fig. 2 Farbige Kartierung der Phosphatverteilung und der Funde im Siedlungsareal, 143 Fig. 3 vier Phasen in Sorte Muld. 1174 Watt 2011b, 143 Fig. 3 a-d; 145 Fig. 4 Karte von Bornholm mit den Zentralorten, 146 Fig. 5 der multifunktionale Zentralort. 1175 Watt 2011b, 145 Fig, 4.
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häusern. Den Rang der Ansiedlung spiegeln nicht zuletzt die umfangreichen Reste von Glasgefäßen, Goldblechfigürchen, Goldbrakteaten und im Tierstil I verzierte Reliefspangen sowie weitere importierte Luxusgegenstände. Herausragend ist Helgö aber während der Vendelzeit als Produktionszentrum für Schmuck, auf der Grundlage des Metallhandwerks mit Hunderten von Gussformfragmenten für Bügelfibeln und Waffenteilen der frühen Völkerwanderungszeit, sowie durch Hinweise auf Goldverarbeitung. All das spricht für ein regionales Zentrum und einen überregionalen Handelsplatz sowie einen Pilgerort mit Heiligtum.1176 Jüngst ist 2017 erneut eine zusammenfassende Auswertung der Grabungsbefunde veröffentlicht worden, unter dem Titel „Helgö revisited“.1177 Wieder abgebildet sind der Goldhort im Areal I, Bau BG 3, gefunden 1967, mit einem Solidus des Marcianus von 450–457 und schweren Goldringen (die Ringe wiegen zusammen 128,15 g) sowie Goldbarren, Drähten, Stäben und Nuggets von insgesamt 225,45 g Gewicht, eine Menge, die 51 Solidi entspricht.1178 Hinzu kommen 30 Objekte aus Silber und 1,2 kg Kupferrohmaterial. Auch 26 Goldblechfigürchen (Guldgubber) sind gefunden worden, aber keine Model zu ihrer Herstellung an diesem Ort (vgl. unten S. 1215).1179 Die Zentralplatzkategorien sind für zwei Phasen gegeben, die erste während der späten Römischen Kaiserzeit und die zweite während der frühen Vendelzeit, zusammen vom 4. bis zur Mitte und dem Ende des 6. Jahrhunderts.1180 Helgö wird als Reichtumszentrum, aristokratische Residenz, magnate manor oder farm, als Machtzentrum, Kultplatz und Heiligtum gewertet und verglichen mit Gudme, Sorte Muld, Uppåkra und Vä. Schon 1783 wurde ein Hort mit 21 Solidi und zwei goldenen Armringen dokumentiert. Im nahegelegenen Kaggeholm, 1 km westlich von Helgö, ist 1961 ein Goldhort gefunden worden, der aus 47 Solidi und einen massiven Kolbenarmring besteht. Mit insgesamt 70 Solidi im Bereich von Helgö ist damit etwa die Hälfte aller in Schweden gefundenen Solidi registriert.1181 Ein neuer Zentralort in Uppland hat einen aufschlussreichen Namen, nämlich Gödåker.1182 Im schwedischen Uppåkra bei Lund in Schonen ist über die letzten Jahrzehnte hinweg bis heute ein weiterer Zentralort archäologisch erschlossen worden, der wie Helgö auch bis ins frühe Mittelalter reicht, doch in den ersten Jahrhunderten n. Chr. schon eine wichtige Rolle gespielt hat.1183 Über den Kultbau, der kontinuierlich an derselben Stelle vom 1. Jahrhundert n. Chr. bis in die Wikingerzeit errichtet worden 1176 Arrhenius 2011; Arrhenius, Uaininn O`Meadhra (Eds.) 2011. 1177 Clarke, K. Lamm 2017, 5 Fig. 1.4 Gesamtplan mit den Häusergruppierungen und den beiliegenden Gräbergruppen; auch K. Lamm 2012, 147 ff. Gusstiegel und Gussformen für Fibeln. 1178 Clarke, K. Lamm 2017, 27, 28–29 Fig. 2.16 und 2.17. 1179 Clarke, K. Lamm 2017, 53 Fig. 3.6. 1180 Clarke, K. Lamm 2017, 55 f. Zentralplatz-Kategorien: Fabech, Näsman 2013b; 56 f., Høilund Nielsen 2014; Kalmring 2016, 14–15. 1181 Clarke, K. Lamm 2017, 97 Fig. A. 10. 1182 Anderson 2016. 1183 Hårdh 2006; Larsson (Ed.) 2004; Larsson 2011b, 178 Fig. 2.
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ist, wird in diesem Buch mehrfach berichtet (vgl. S. 348 und S. 654). Über die vielfältigen Ergebnisse der Grabungen an diesem Ort informiert fortlaufend die Serie der Uppåkrastudier,1184 so auch über die Entwicklung des Zentralortes mit seinem Hinterund Umland ab dem 5. Jahrhundert mit der Verteilung der Halsringe und Goldbrakteaten rundum Uppåkra in Schonen und auf Seeland sowie mit den Großgehöften in der Nachbarschaft.1185 Die Hierarchie der Siedlungen in Schonen wird ausführlich geschildert,1186 mit Berücksichtigung der gesellschaftlichen Pyramiden, wie U. Näsman 1998 oder Ch. Fabech und J. Ringtved 1995 vorschlagen. Dazu beschreibt B. Helgesson die Besiedlungsgeschichte, wie sie bisher erforscht werden konnte, in zeitlichen Schichten (500–100 v. Chr.; 100 v.-300 n. Chr., 300–550/600 n. Chr.), jeweils mit Blick auf den sich entwickelnden Zentralort Uppåkra. Verwunderlich ist nicht, dass die wichtigeren Siedlungen jeweils in Küstennähe rund um Schonen liegen, also mit der Anbindung an den Seehandel. Über die drei Phasen verdichtet sich die Besiedlung um Uppåkra, doch im Abstand von ca. 50 km erkennt B. Helgesson insgesamt fünf mögliche weitere Zentralorte nahe der Küstenlinie und inmitten von Schonen die Hortfundplätze von Sösdala und Sjörup. Zu den Zentralsiedlungen in Östergötland, Schweden, der Zeit von 375 bis 1000 äußerst sich M. Rundkvist und beginnt mit seiner Beschreibung noch in der Römischen Kaiserzeit bzw. der frühen Völkerwanderungszeit.1187 Für die nachfolgende Vendelzeit kann er aus diesem Gebiet sogar ein Pressmodel zur Herstellung von Goldblechfigürchen anführen, und zwar vom Fundort Sättuna in Kaga, von ihm datiert erst ins 7. Jahrhundert. Die Figur zeigt eine Frau mit langen Haaren und Fibeln an der Schulter. Von Sättuna ist zudem ein Fibelfragment im Nydam-Stil belegt, sodass der Stempel auch schon früher genutzt worden sein kann. Insgesamt sind das Hinweise auf eine Halle an diesem Ort. Auf dem Kontinent ist Sievern nahe der Wesermündung in Niedersachsen als möglicher kaiserzeitlicher und völkerwanderungszeitlicher Zentralort seit den letzten Jahren im wissenschaftlichen Gespräch.1188 Die Forschungen stehen noch am Anfang, aber der Goldreichtum der Landschaft mit zahlreichen Funden von Goldbrakteaten spricht für eine solche Einschätzung als Zentralort oder Reichtumszentrum. In der Nähe liegen in wenigen Kilometern Entfernung die schon angesprochenen Wallanlagen Heidenstadt und Heidenschanze auf der Geest und in der Marsch die Wurtenkette mit der Feddersen Wierde und der Fallward bei Wremen, wo besonders reich aus-
1184 Uppåkrastudier 1, 1998–10, 2004 ff. 1185 Helgesson 2002b, 33 Karte Fig. 1. 1186 Helgesson 2002a, 157 Fig. 34 Karte. 1187 Rundkvist 2011, 197 Fig. 3 Pressmodel von Sättuna. 1188 W. H. Zimmermann 2005a; Aufderhaar 2015; Aufderhaar u. a. 2009 (2011); I. Brandt 2015; Aufderhaar 2019, 167 Kultzentrum; ausführlich ist der Bericht in der Monographie von Iris Aufderhaar 2016 mit zahlreichen Karten; 114 Abb. 42, 209 Abb. 87, 223 Abb. 90, 248 Abb. 103, 252 Abb. 104, 255 Abb. 105, 258 Abb. 106.
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gestattete Gräber gefunden worden sind (vgl. S. 951). Im Bereich ehemaliger Landeplätze an der Weser sind die Siedlungsareale durch umfangreiche handwerkliche Tätigkeiten gekennzeichnet. Iris Aufderhaar spricht bei Sievern von der nachhaltigen Entwicklung und Bedeutung einer Region mit zentralörtlichen Merkmalen im westlichen Elbe-Weser-Dreieck. Die Funktion ist zudem über mehrere Generationen vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis ins 6. Jahrhundert zu fassen und im Kartenbild dokumentiert. Eine Phase 1 reicht vom 2./1. Jahrhundert v. Chr. bis zur Mitte des 2. Jahrhundert n. Chr., die Phase 2 von der Mitte des 2. Jahrhunderts bis zum zweiten Viertel des 4. Jahrhunderts, die Phase 3 von der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts bis zum Ende des 5. Jahrhunderts und schließlich Phase 4 bis ins 6. Jahrhundert. Dem entspricht auch die zeitliche Entwicklung der Siedlung mit dem Herrenhof auf der Feddersen Wierde und den reichen Gräbern auf der Fallward bei Wremen. Die Elbe-Weser-Region mit Sievern und auch mit Stade wird als Zentralraum gewertet.1189 Im Übrigen ist eine beachtliche Siedlungsdichte einschließlich der Gräberfelder und auch der alten Ackerfluren für die gesamte Zeit belegt. Die Kartierung der römischen Importgefäße aus der späten vorrömischen Eisenzeit und der älteren Römischen Kaiserzeit von der Weser über die Elbe bis ins südliche Schleswig-Holstein mit den Gräberfeldern (Nr. 1–38) umschreibt eine zentrale Landschaft mit den Wallanlagen und dem Brakteatenhort von Sievern, gefunden 1942 (11 Stücke: 1xA-, 2xC- und 8xD-Brakteaten) und den reich ausgestatteten Gräbern von Apensen und Issendorf (vgl. S. 965 und S. 859). Nahebei liegt die zentrale Landschaft um Stade mit dem Gräberfeld von Perlberg. H. Jöns vergleicht die Situation mit der niederländischen Wurtenlandschaft um Wijnaldum, Fundort der 18 cm langen Prunkfibel von Wijnaldum.1190 J. A. W. Nicolay1191 bringt zum Vergleich die Goldbrakteaten aus Friesland, jeweils Einzelfunde gegenüber dem Komplex von elf Brakteaten in Sievern. Somit ist der Bereich Sievern auch ein Kultzentrum, nahe der Bootsanlegestellen für den Umschlag von Gütern, der Nähe der Versammlungsorte in den Wallanlagen des 4./5. Jahrhunderts und der Goldbrakteaten und weiterer Goldfunde. Es ist ein Problem mit der Definition von Zentralorten; denn mit Zunahme der Intensität der Prospektion, vor allem mit Metalldetektoren, wächst die Zahl der wertvollen Metallfunde, die Zentralorte anzudeuten scheinen, noch bevor ausführliche Ausgrabungen durchgeführt werden konnten. So wird jetzt ein Fundort bei Freiburg, Ldkr. Stade an der Niederelbe, als großer Handelsplatz und Zentralort klassifiziert, nachdem dort erst 2016 neu mehrere Solidi, darunter ein geöster aus der Zeit des Magnentius, gefunden worden sind. Magnentius (350–353), ein Usurpator, war (halb) germanischer Abstammung.1192 1189 Jöns 2010b, 70 Fig. 2 Karte zu den römischen Importgefäßen, 80 Fig. 10 Brakteatenhort. 1190 Jöns 2010b, 94 Fig. 7 (Fibel) und 96 Fig. 9 (Terp Wijnaldum). 1191 Nicolay 2010b: Responce zu Jöns 2010b, 92 Fig. 2 Goldbrakteaten in Friesland (Hitzum, Dokkum und Achlum). 1192 Nösler 2019; Eichfeld, Nösler 2018.
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Die Runeninschrift (S. 1249 ff.) auf einem dreieckigen Kamm, datiert ins frühe 3. Jahrhundert, ist nur einer der Hinweise auf einen Zentralort in der archäologisch untersuchten Siedlung bei Frienstedt, heute Stadt Erfurt.1193 Dort gab es Werkstätten, in denen ranghohe Sachgüter produziert wurden. Ausgrabungen fanden von 2000 bis 2005 statt, 2 ha der Siedlung wurden erschlossen, die von der zweiten Hälfte des 1. bis zum Anfang des 5. Jahrhunderts n. Chr. bewohnt war. Die Baubefunde umzogen eine Grabgruppe der Bronzezeit, zahlreiche auffällige Schächte wurden nahe von diesen alten Gräberstätten eingetieft und zwar über die gesamte Besiedlungsdauer. Die Anknüpfung an die Vorgeschichte diente wohl zur Begründung einer Tradition. In den bis 3 m tiefen Schächten lagen Tierknochen, auch von Jagdtieren, als Reste ritueller Handlungen. Der Ausgräber spricht von „gigantische Ritualmählern“, weil Schlachtgerät und Tierknochen tabuisiert waren und deshalb vergraben wurden. Sie werden in die Phasen C2/C3 datiert, also ins fortgeschrittene 3. und in das 4. Jahrhundert. Eine kleine Ansammlung von Körpergräbern der Zeit um 200 mit reichen Beigaben wie in den Elitegräbern der Haßleben-Leuna-Gruppe in Thüringen (vgl. unten S. 929) liegt nahebei, datiert in die Jüngere Römische Kaiserzeit, in die Phase C1 wie auf den dänischen Inseln. Den Rang als Zentralort ist am Fundspektrum abzulesen, an den vielen römischen Münzen – zumeist aus dem 3. Jahrhundert –, den Schmuckfibeln, dem römischem Bronzeschrott und den Gussresten sowie Halbfabrikaten zu Fibeln und Schnallen.1194 Es gibt etwa 160 Münzen und 160 Fibeln, eine beträchtliche Zahl von Elbefibeln ist dabei, auch Fibeln mit Parallelen in Schweden und Norwegen. Ein Histogramm bringt die Münzen von 100 v. bis 400 n. Chr. mit einer Mehrheit aus dem Übergang von B2 /C1 zu C1/C2 (etwa um 150 n. Chr. mit einem Spitzenwert um 275) (2009: 165 Stück), und ein weiteres Histogramm zeigt die Fibeln, die einerseits mit der größten Anzahl zeitlich mit den Münzen parallel vorkommen, andererseits noch etwas länger bis in den Übergang von C2 zu C3 zu datieren sind, mit einigen Objekten auch aus der Phase D, bis in die Zeit um und nach 350 n. Chr. (2009: 124 Stück). Ähnlich verteilt ist die römische Keramik von 150 bis 400 n. Chr. (2009: 66 Stück) Sind die fehlenden jüngeren Münzen etwa zu Fibeln umgegossen worden? Ein Kreisdiagramm mit den römischen Importen veranschaulicht den Anteil vieler römischer Militaria, Bronzeblech-Fragmente und Ausrüstungsteile.1195 Von den Bestattungen enthielt eines der Gräber drei Pfeilspitzen, wie sie in den Fürstengräbern vorkommen (vgl. unten S. 927), eine Goldspirale, einen Faltenbecher sowie einen Dreieck-Kamm. Eine Tonfigur mit Einstichlöchern,1196 wie eine Tötung anmutend, und eine JupiterDolichenus-Figur gehören in kultischen Zusammenhang. Der bisher freigelegte Sied1193 Chr. G. Schmidt, Nedoma, Düwel 2012; 2013 mit Lit.; Düwel 2018b, 336 ff. mit Abb. 8; Chr. G. Schmidt 2014b 58 Abb. Runenkamm. 1194 Chr. G. Schmidt 2012; 2013a, 59 Fig. 2 Histogramm zu Münzen und Fibeln (zwischen 150 und 350 n. Chr., Phasen C1 bis C3). 1195 Chr. G. Schmidt 2013a, 67 ff. Fig. 6, 10 und 11; 2016, 840 Abb. 2 Chronologie. 1196 Tonfigur: Chr. G. Schmidt 2013a, 65 Fig. 11; 2014b, 59 Abb. 10.
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lungsplan bietet eine noch relativ beschränkte Grabungsfläche mit dem Kultplatz.1197 Die auffälligen Massierungen im erst kleinen Grabungsausschnitt von religiösen, wirtschaftlichen und wohl politischen Funktionen – die ranghohen Gräber in der Nachbarschaft – sind Definitionskriterien für einen Zentralort. Schon dieser begrenzte Grabungsausschnitt bietet einen Blick auf zufällige Lebensbilder einer germanischen Oberschicht des dritten Jahrhunderts.1198 Ein großes Rind mit einer Widerristhöhe von 140 cm könnte aus dem Rheinland stammen und hier als Zugtier gedient haben. Der Befund regte wohl auch an, zwei Nord-Süd ausgerichtete Gebäude (alle anderen waren wie üblich West-Ost ausgerichtet) als „römisch“ zu kennzeichnen, auch wegen der erkennbaren Fußmaße als Längeneinheit. Die Körpergräber des Haßleben-LeunaHorizontes beim Werk- und Kultareal mit den rituell bedeutenden Schachtanlagen sind sogar genetisch untersucht worden. Die Ergebnisse zeigen, dass es keine familiären Verbindungen bei den Gräbern gab, die Personen müssten weit außerhalb des mitteldeutschen Raumes aufgewachsen und ein Mann könnte römischer Herkunft gewesen sein. Die magische Puppe ist demnach auch der geistige Import aus dem Römischen. Die Anlage der Grabgruppe und der Ritualplatz gehen, so der Ausgräber Chr. G. Schmidt, unmittelbar auf gallorömische Vorbilder zurück, zumal die Gesamtanlage in Germanien bisher einmalig und im 3. Jahrhundert entstanden sei. In der Region gab es zudem einen kulturellen Umbruch, eine neue Herrschaft bemühte sich um Legitimation, deshalb mag „angesichts der kulturellen wie militärischen Überlegenheit Roms eine Gesellschaft im Umbruch darum gerungen haben …, ihr Eigenbewusstsein neu zu definieren“.1199 In den Siedlungen der Phasen C1/C2 gab es einen solchen Umbruch, daran ablesbar, dass erst rhein-weser-germanische Keramik benutzt wurde und dann elbgermanische. Ein weiterer Zentralort wurde in Nord-Jütland erforscht, bei Stavnsager südöstlich von Randers in Nordjütland, wo ein solcher Platz sich für die lange Epoche von 400 bis 700 und weiter bis nach 1000 auszeichnet.1200 Beachtlich ist die Kontinuität, die vom Weiler über den Zentralort zum „grundherrschaftlichen“ Anwesen reicht. Die Verbreitung der Metallfunde deckt für die Siedlung eine Fläche von rund 100 ha ab. Nach Ausgrabungen von 15 Jahren ist die Beschreibung als Zentralort aufgrund der folgenden Aspekte erlaubt: Edelmetallreichtum, spätantike römische Importe (Münzen), Prestigegüter, Schmuck, rituelle Gegenstände, handwerkliche Produktion, Handelskontakte, kriegerische Elemente, elitäre Wohnsitze mit Halle (vgl. S. 346). Der Ort zeigt also „Residenzcharakter“, war Sammelplatz für Abgaben abhängiger gesellschaftlicher Gruppen. Insgesamt verbunden mit der besonderen Größe der Siedlung liegt der Platz in einem weiten Netzwerk von Kommunikationsrouten.1201 1197 Chr. G. Schmidt 2013a, 67 Fig. 3 Grabungsfläche mit Kultplatz; 2004. 1198 Chr. G. Schmidt 2013b. 1199 Chr. G. Schmidt, Vortrag Göttingen 2018. 1200 Høilund Nielsen 2009a, b, c; 2009d; Fiedel, Høilund Nielsen, Loveluck 2011. 1201 Høilund Nielsen 2009a, 417 f. mit Anm. 4.
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Eine Siedlung mit Langhäusern und Grubenbauten des frühen 5. Jahrhunderts erfährt einen entscheidenden Wandel dann ab 530 bis zum Ende des 6. Jahrhunderts mit einer massiven Zunahme von Metallsachen; dazu gehören Fibelschmuck und Goldblechfigürchen (Gubber), Schwertknäufe, Pferdezaumzeugbeschläge und Gürtelteile von Kriegern. Schließlich gibt es –was aber außerhalb der zeitlichen Begrenzung dieses Buches liegt – einen Herrenhof ab dem Ende des 6. und im 7. Jahrhundert mit Langhaus und Halle. Beachtenswert ist wieder die Kontinuität einer solchen Siedlung als Zentralort bis ins Mittelalter. Die kontinuierliche Entwicklung über 700 Jahre vom Großhof zum Zentralort und grundherrschaftlichen Gehöft ist abzulesen an der zeitlichen Verteilung der Metallfunde, vor allem der Fibeln (und zwar über 50 kleine gleicharmige Fibeln, wie sie auch in im Süden in der Altmark vorkommen, vgl. S. 986),1202 mit einer größeren Zahl zwischen 400 und 500 und einem massiven Anstieg zwischen 500 und 600, während die Zahlen später wesentlich geringer sind.1203 Entscheidend für die Beschreibung dieses Ortes ist der Beginn noch in der Römischen Kaiserzeit. Aber um 570 zeichnet sich eine einschneidende Veränderung hin zum Zentralort ab, von den Funden nenne ich nur das Fragment eines Goldblechfigürchens (vgl. S.1215). Zu diesem Stück gibt es stempelidentische Exemplare in Sorte Muld: ein Mann mit Kleidung und Stab in der Hand. Außerdem wurden die Langhäuser größer, nahm die Zahl der Grubenhäuser zu und ebenso die Hinweise auf Metallverarbeitung und auf Fernverbindungen bis zum angelsächsischen England. Waffen belegen die Anwesenheit von Kriegern. Auf die Parallelen zum jüngeren Tissø weise ich hin (vgl. S. 741). Ein Blick in den Westen sei angeschlossen. Es geht um den Zentralort in einer Wurtenkette mit Wijnaldum in der Provinz Friesland, Niederlande.1204 Nach dem Fund einer Prunkfibel der Zeit um 600 schon 1953 legten Ausgrabungen in den 1980er Jahren und von 1991 bis 1993 rund 8000 m2 frei (nur 7% des gesamten Areals) von mehreren Siedlungen der mittleren Römischen Kaiserzeit bis in die Karolingerzeit. Es gibt Schatzfunde und Spuren vielfältiger handwerklicher Tätigkeiten. Entscheidend ist auch hier wieder die Kontinuität der Entwicklung hin zu einem Zentralort. In Norwegen werden die sogenannten Bootshäuser aufgrund ihrer politischen Bedeutung als spezielle Ausprägung von Zentralorten angesehen (vgl. auch oben S. 351).1205 Als Zentrum von organisierter Herrschaft besetzten sie die Küstenzonen. Großbootshäuser deckten die Jahrhunderte immerhin schon vom 1. Jahrhundert an und dann weiter bis zum 15. Jahrhundert ab.1206 Als Standort eines großen Schiffes für zahlreiche Ruderer bildeten sie jeweils Machtkonzentrationen; waren zahlreiche
1202 Høilund Nielsen 2019b, 287 Abb. 2 Vorkommen der gleicharmigen Fibeln, schraffiert in Skandinavien, mit Punkten in der Altmark kartiert. 1203 Fiedel, Høilund Nielsen, Loveluck 2011, 169 Fig. 7 Graphik zur Verteilung der datierbaren Funde, 171 Fig. 9 Goldblechfigürchen. 1204 Niederhöfer 2007. 1205 Myhre 1985. 1206 Grimm 2004a; 2006; 2010a, 318 Fig. 6.
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solcher Häuser in einem Kreis angeordnet, dann veranschaulichen sie die Seemannschaft einer Landschaft. Ein solcher Bootsschuppen ist z. B. in Stend, Fana, Hordaland bei Bergen, untersucht, ein Bau der späten Römischen Kaiserzeit und der Völkerwanderungszeit. Das Haus hatte die Innenmaße von 32,5 m Länge und 5 m Breite. Äußere Erdwälle und Holzwände sowie innere Pfostenreihen bildeten die Konstruktionselemente eines üblichen Langhauses. In Norwegen sind rund 300 Schiffshäuser dieser Art dokumentiert und weitere 60 in den anderen skandinavischen Ländern; datiert über den gesamten genannten Zeitraum von 1500 Jahren. Der Beginn aber liegt in den ersten Jahrhunderten n. Chr., gesichert häufiger ab dem 4. Jahrhundert. Die Funktion dieser Hallenhäuser schließt die Aufgabe als Festhalle ein (vgl. S. 346). Die Hauptaufgabe war aber die Aufnahme von Schiffen vor der Ausfahrt. Zu Anfang waren das Schiffstypen wie das Nydamschiff als Truppentransporter (vgl. S. 402). Solche Konzentrationen von Schiffshäusern bildeten denn auch Reichtumszentren und Zentralorte, verbunden über die Großschiffe auch mit dem Fernhandel. Diese und weitere Schiffshäuser in Nes auf Karmøy und in Åse auf den Lofoten mit Ringanordnung bespricht Anders Andrén.1207 Dazu gehört auch die südnorwegische Siedlung Spangereid als Zentralplatz wie auch die meisten anderen ringförmigen Anlagen.1208 Anhand der Rundsiedlungen im westlichen Norwegen von Sausjord (350–550) und Gjerland (200–600) diskutiert A. B. Olsen diese Rolle von Courtyard und Zentralort als juristische Institution.1209 In Skandinavien änderte sich anscheinend um 200 n. Chr. die Kultur des Krieges, weil von damals an diese Rundsiedlungen mit Schiffshäusern ausgebaut wurden.1210 Die neuen Ausgrabungen in Avaldsnes im südwestlichen Norwegen, seit langem bekannt durch ein „Fürstengrab“ (vgl. S. 946), haben die zentralörtliche Funktion dieser Schiffshäuser verfestigen können.1211 Hier wurden zwei derartige Bootshäuser ausgegraben, ein größeres, zweiphasiges wurde zuerst in der Römischen Kaiserzeit erbaut und in der Merowingerzeit erneuert, während das kleinere in die Merowingerzeit gehört.1212 Dicht an das Ufer reichend war das größere 5,60 m an der Öffnung und in der Mitte 7,90 m breit und noch 30 m lang. Derartige Gebäudekomplexe entwickelten sich in Norwegen zu königlichen Großgehöften, die aus eigenständigen Großhäusern bestanden. In Rogaland gab es während der Römischen Kaiserzeit drei Bauwerke, die zur Merowingerzeit hin an Größe noch zunahmen.1213 In Klauhaugane, das sich im Luftbild deutlich abzeichnet, legten die Ausgrabungen in der Nähe von großen Grabhügeln 21 um die 20 m lange Häuser frei, die im Kreis angeordnet waren;
1207 Andrén 2014, 95–98, 96 Fig. 32 und 97 Fig. 33. 1208 Stylegar, Grimm 2003, auch Storli 2000. 1209 Olsen 2017, 45 Fig. 4.2. 1210 Andrén 2014, 97. 1211 Grimm 2009; Skree (Ed.) 2018. 1212 Bauer 2018, 183 ff. 1213 F. Iversen 2018.
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in Leksaren 15 etwa 10 bis 15 m lange Häuser, ebenfalls bei alten Grabhügeln, und in Øygarden 10 rund 10 m lange im Halbkreis angeordnete Häuser. Für alle drei Zentralplätze liegen C-14-Datierungen vor, die sich über das 2. bis 7./8. Jahrhundert verteilen. Auch in Norwegen muss darauf geachtet werden, dass man jahrhundertelange Kontinuitäten – wegen begrenzter Ausgrabungsflächen und -tätigkeiten – übersieht, wie sie für Karmsund Strait mit beispielsweise der Siedlungsperiode II (350 v. Chr. bis 200 n. Chr.) und Periode III (200 n. Chr. bis 600 n. Chr.) nun veröffentlicht werden konnten.1214 O. Grimm hat in zahlreichen Karten die Position dieser Großbootshäuser zur Küste beschrieben, teils auch auf die Landschaften verteilt: Beispielsweise gibt es in Rogaland 48 Plätze, in Hordaland 28 Plätze und in Sogn og Fjordane mit Møre og Romsdal noch einmal 27 Plätze. Auch in Nordnorwegen sind immerhin 38 Orte mit Bootshäusern kartiert. Unter diesen Orten mit Bootshäusern sind zahlreiche ringförmige Anlagen. Ein Platz in Vest-Agder im südlichen Norwegen wie der schon erwähnte Spangereid wird mit Zentralorten wie Gudme auf Fünen und dem Runden Berg bei Urach in Südwestdeutschland verglichen.1215 Hier wurden mehrere Großbootshäuser der älteren Eisenzeit, also der Römischen Kaiserzeit, archäologisch untersucht, mit einem Hallengebäude bei einem großen Grabhügel sowie einer Höhenbefestigung. Der Komplex bildet eine Ringanlage mit einem Versammlungsplatz in der Mitte. Ein großes Gräberfeld gehört dazu und ein zum Wasser führender Kanal für einen (fraglichen) Hafenplatz. Nun scheint sich auch nachweisen zu lassen, dass die in Kreisen angeordneten Bootshäuser in Südwest-Norwegen nicht nur durch diese Ansammlung sich als militärische und herrschaftliche Zentralorte beschreiben lassen, sondern dass jeweils auch eines der Häuser Sitz eines Anführers gewesen ist. Für die Römische Kaiserzeit und die Völkerwanderungszeit ist in mehreren Ringanlagen das Haus eines princeps über besondere Funde, seien es Waffen oder ein goldener Fingerring zu beweisen.1216 H. Reiersen geht dabei von Befunden in Eketorp II mit 53 Häusern aus: Im Häuserkomplex in der Mitte hebt sich ein Haus 03 vor der inneren Platzanlage durch eine besondere Struktur des Eingangs, durch mehrere Feuerstätten und durch Waffenfunde heraus. Eketorp II wird ins 3./4. Jahrhundert und in die Völkerwanderungszeit bis ins 7. Jahrhundert datiert. Dazu findet H. Reiersen Parallelen im südwestlichen Norwegen, so in Sausjord, Hordaland, Haus B mit größerer Abmessung als die anderen etwa 12 Häuser und als besonderen Fund ein Bronzeschmuckstück, und ebenfalls in Klauhaugane, Rogland, unter ca. 20 Häusern ein Bau mit mehreren Herdstellen und dem Fund eines goldenen Fingerrings, sowie in Dysjane mit mehr als 15 Häusern und in einem Bau eine Silberfibel. Zugleich lässt sich zeigen, dass Orte
1214 Skree 2018a, 752 ff; Østmo 2018b. 1215 Grimm 2004a; 2006, 34, 300 Abb. 35. 1216 Reiersen 2019, 247 Fig. 3 Eketorp, 248 Fig. 4 Sausjord, 245 Fig. 1 und 250 Fig. 5 Klauhaugane.
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wie Klauhaugane oder Dysjane im Kontext zu mehreren anderen wichtigen Plätzen liegen und damit ihre Zentralfunktion spiegeln würden.1217 Diese Schiffshaus-Kreise um ein offenes Mittelfeld wurden zumeist als Thingstätten der Römischen Kaiserzeit und den nachfolgenden Jahrhunderten angesehen, egalitär ausgerichtet, sicherlich auch als Sammelplätze für militärische Unternehmungen,1218 wozu ein Anführer vorauszusetzen ist. Die hier referierte, teilweise neue Deutung von einer Ansammlung von Häusern unter einem princeps entspricht dem jedoch, wobei der Nachweis der Sonderstellung eines der Gebäude im Kreis nicht recht befriedigt und auf zu wenigen Indizien beruht; denn einige der anderen Häuser im Kreis und vor allem die dicht beieinander in Kilometer-Abstand liegenden Siedlungen haben ebenfalls auffällig „ranghohes“ Fundmaterial erbracht, auch verbunden mit großen Grabhügeln, was die Kartierungen durch H. Reiersen doch gerade auch bestätigen. Festzuhalten bleibt, dass die Ansammlungen von Häusern im Kreis zentralörtliche Funktionen gehabt haben, weil sie im Zentrum der dicht besetzten Landschaften positioniert waren. Sogar im Nordland von Norwegen auf der Insel Engeløya ist eine Rundsiedlung bei Vollmoen/Steigen schon 1941/1942 von E. N. Lund ausgegraben worden.1219 16 etwa 12 m lange Hausgrundrisse standen um einen 30 x 60 m großen ovalen Hofplatz. Die Außenwände bestanden aus Torfsoden, wohl als Schwellbalkenkonstruktion auf einem Steinfundament. Zwischen den Pfostenreihen gab es eine oder mehrere Feuerstellen. Die Lücken zwischen den Häusern waren mit Wällen verschlossen, durch die jeweils ein Durchgang führte. In der Nachbarschaft gab es ein Gräberfeld mit zahlreichen Grabhügeln. C-14-Datierungen zeigen, dass die Ringanlage rund 500 Jahre lang existiert hat und im späten 5. Jahrhundert gegründet worden ist. Nahebei bestand seit 75 v. Chr. bis um 500 n. Chr. eine ähnliche Rundsiedlung, vielleicht die Vorgängeranlage. Etwa 1 km entfernt standen am Meeresufer zwei 30 m lange Bootshäuser für Langschiffe. Lund deutete sie als militärische Sitze von Häuptlingen und als Unterkünfte für Schiffsbesatzungen. Die Vorbilder für derartige Anlagen seinen aus Rogaland eingeführt worden, und weitere Parallelen gibt es in mehreren norwegischen Landschaften (vgl. oben S. 368 f.).1220 Aus britischer Sicht mit Blick auf das südliche Skandinavien hat M. Carver Zentralorte als Verknüpfung von Handelsplätzen und Kultorten beschrieben.1221 Es sind die hier schon beschriebenen Orte, Gudme auf Fünen (mit Horte und Hallen) des 3. bis 6. Jahrhunderts, weiterhin Uppåkra in Schonen mit der Kulthalle sowie den dort gefundenen Goldbrakteaten und Goldblechfigürchen, die zudem Stempelverbindungen nach Gudme/Lundeborg und Sorte Muld bieten. Für das Kultzentrum Helgö schil1217 Reiersen 2019, 253 f. Fig. 7 und 8 Zentren Nærbø und Tinghaug. 1218 Grimm 2010a, b; Grimm, Stylegar 2004. 1219 Berglund 2005 mit Farbtafel 7 b: Steigen mit Siedlung Vollmoen Rekonstruktion. 1220 Solberg 2002, 417 f. zu Ringsiedlungen als Häuptlingssitze. 1221 Carver 2015, 3 Fig. 1 Zonen von Handelsplätzen und Kultorten, 5 Fig. 2 Kultzentrum Helgö, 6 Fig. 3 Dagfrinn Skree’s Modell, 17 Summe.
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dern B. Arrhenius und O’Meadhra eine neue Interpretation,1222 nämlich die Zuweisung der verschiedenen Hauskomplexe zu bestimmten Aufgaben, die Gruppe VI ist ein Gasthaus, die Gruppe VA eine rituelle Plattform, die Gruppen IIC, IIA, IID und VIII sind Werkstätten, die Gruppe IA wird als Tempel angesprochen und die Gruppe IIIA2 als medizinisches Zentrum mit Chirurgie. M. Carver greift auch das Modell von Dagfinn Skree zur Marktentwicklung in Skandinavien auf, wo aber alles erst ab 600 eigentlich zu fassen ist. Als Folge stehen am Anfang (teils saisonale) Zentralplätze, um und ab 600, dann kommen ab 700 lokale Märkte auf, auch saisonal betrieben, worauf sich Knotenpunktmärkte entwickeln, ebenfalls noch saisonal, während permanent existierende Städte erst ab dem späten 7. Jahrhundert bzw. um 800 entstehen. Summarisch betrachtet gibt es im 5./6. Jahrhundert in Skandinavien Zentralorte als Kultzentren, gefolgt – so M. Carver – im 7. Jahrhundert vom Odin-Kult; die Kriegsfürsten residierten in Hallen. Für mich wirkt diese Kategorisierung künstlich gebildet und vor allem chronologisch zu spät angesetzt. Hallen kamen deutlich früher auf (vgl. S. 351), und sie dienten als Kult- und Festhallen. Entscheidend ist jedoch die Formulierung des Autors, dass diese Zentralorte zugleich Handels- und Kultplätze waren und saisonal aufgesucht worden sind, zu bestimmten „Markttagen“ und „Kultfesten“, durch anreisende Leute, doch trotzdem außerdem noch eine ständige Bewohnerschaft am Ort hatten. Als Fazit zu diesem Abschnitt ist zu bemerken: Zentralorte mit herausragenden Konzentrationen von Handwerk, Handel, Herrschaft und Kultbräuchen sowie auch mit Hinweisen auf kriegerische Aktivitäten bildeten innerhalb des Netzes mehr oder weniger gleichrangiger Siedlungen die Spitze einer sich nun erst entwickelnden Hierarchie. Der Übergang von den größten ländlichen Siedlungen mit bis zu 20 Gehöften und einem herausragenden, gar mit einer Palisade befestigten Herrensitz zu Zentralorten sind sicherlich fließend, zumal erst laufende archäologische Feldforschungen diese Unterschiede offenbaren. Wenn archäologisch prinzipiell auch keine Rechtspositionen erkannt werden können, aber als existent vermutet werden sollten, so sind Rangunterschiede aber durchaus beschreibbar. Die Entwicklung von der gleichmäßigen Verteilung gleichrangiger Dörfer zur Hierarchisierung in der Besiedlungslandschaft innerhalb der ersten Jahrhunderte n. Chr. spiegelt Veränderungen in der herrschaftlichen Erfassung von Territorien, einen politischen Wandel von der Stammesgesellschaft mit Häuptlingen zu frühen „staatlichen“ Konzentrationen, die manche Forscher als erste Königreiche bezeichnen (vgl. unten Abb. 80).1223 Von den rund 60 im Rahmen des Abschnitts zum Befestigungswesen beschriebenen Höhenstationen in Südwestdeutschland sind zumindest einige auch als Zen-
1222 Arrhenius, O’Meadhra (Eds.) 2011, Fig. 1.19. 1223 Steuer 2003a; 2006a; Ethelberg 2009d; 2011a; Näsman 1998; 1999; 2006; Myhre 2000, 48 Karte in Farbe.
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tralorte zu bewerten (vgl. S. 372). Das gilt für den Zähringer Burgberg am Schwarzwaldrand über der Ebene des Breisgaus1224 und für den Geißkopf im Odenwald über der Rheinebene1225 sowie für den Runden Berg bei Urach auf der Schwäbischen Alb.1226 Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch weiter im Osten im polnischen Gebiet Zentralorte von der späten Römischen Kaiserzeit bis zur Völkerwanderungszeit erkannt werden können. So wird in Kürze ein Zentralort bei Gąski-Wierzbiczany zwischen Oder und Weichsel publiziert werden.1227 Schon länger bekannt ist die Konzentration von Siedlung und Fürstengrab bei Jakuszowice in der Woiwodschaft Kielce 50 km südlich von Krakau, seinerzeit untersucht von K. Godłowski. Während die Siedlung vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis ins 5. Jahrhundert n. Chr. bestanden hat, wird das Fürstengrab, entdeckt schon 1911, ins 5. Jahrhundert datiert.1228 Die Siedlung erstreckt sich über 7 ha, 300 m vom Fürstengrab entfernt; ihre mächtige Kulturschicht deutet auf eine lange Besiedlungsphase hin. Abgesehen von vorgeschichtlichen Spuren war der Platz während der jüngeren vorrömischen Eisenzeit und der Römischen Kaiserzeit bebaut mit einem Höhepunkt in der späten Kaiserzeit und der frühen Völkerwanderungszeit; es ist eine Siedlung der Przeworsk-Kultur. Außer Hausgrundrissen wurden vor allem Produktionseinrichtungen ausgegraben. Die Fülle der Funde erlaubt eine Bewertung als Zentralort. Um 1991/1995 lagen über 80 Fibeln vor, Gürtelteile, ein goldener Eimerberlock, drei Axtanhänger aus Bronze, Kämme sowie Scherben römischer Gläser. Die 46 römischen Münzen aus der Siedlung und die 30 aus der Ackerschicht stellten zusammen damals die höchste Konzentration von Münzen in einer Siedlung in Germanien dar.1229 Die Glasfragmente stammen von einem Trinkhorn (Typ Himlingøje), von Rippen- und Nuppengläsern, Ovalfacettschliffbechern (Typ Kowalk) und Bechern mit Fadenauflage (Typ Snartemo); außerdem wurden Perlen und Fingerringe aus Glas (wie in Haßleben) gefunden. Das Fundspektrum römischer Sachgüter am Ort ist also beachtlich.1230 Die Keramik weist Beziehungen nach Mähren, in den Donauraum und ins Karpatenbecken auf. An Handwerksarten gab es Keramikproduktion, Bernsteinverarbeitung, Eisengewinnung und -weiterverarbeitung sowie Buntmetallhandwerk der Gold- und Silberschmiede. Belege dafür sind Gusstiegel, über 200 Bruchstücke neben zwei vollständigen, außerdem über 100 Klumpen von geschmolzener Bronze sowie Bronzeschrott und mehr als 30 Halbfabrikate von Nadeln und Fibeln; und die römischen Denare des 1./2. Jahrhunderts sind teilweise angeschmolzen und dienten als Rohmaterial noch im 4. und frühen 5. Jahrhundert. Zu direkten Importen aus den mehr als 300 km entfernten römischen Provinzen im Westen und
1224 Steuer 2007b. 1225 Hoeper, Steuer 1999. 1226 Quast 2008. 1227 Kontny, Rudnicki (im Druck). 1228 Godłowski 1991, 1995; Steuer 2000. 1229 Bursche 1997. 1230 Rodzińska-Nowak 2016.
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außerdem auch aus dem Südosten zählen eine Zwiebelknopffibel, weitere Fibeln, Spiegelfragmente, die Glasfragmente, auch Glasspielsteine und die Münzen. Die Parallelen zu den Fürstengräbern (vgl. unten S. 929) und die Konzentration des vielseitigen Handwerks inmitten des dicht besiedelten Areal der Przeworsk-Kultur im Oberweichselgebiet erlauben die Einordnung als Zentralort. Benachbart liegen weitere beachtenswerte Fundorte: In Witów, 15 km entfernt an der Weichsel, wurde ein Schatz mit mehreren Solidi gefunden; in Świlcza, Woiwodschaft Rzeszów, eine Siedlung mit Bernsteinverarbeitung und nahebei ein Hort mit römischen Denaren des 2. Jahrhunderts sowie Goldschmuck der frühen Völkerwanderungszeit. Eine mit Jakuszowice vergleichbare Siedlung mit Bronzegießer- und Schmiedewerkstatt sowie umfangreicher Töpferei der jüngeren Römischen Kaiserzeit lag bei Igołomia, auch von K. Godłowski bearbeitet (vgl. S. 286). Für die Spätphase gegen 500 und im frühen 6. Jahrhundert hat Jan Schuster anhand von wertvollen Sachgütern ein Modell zu Reichtumszentren im heutigen Polen zwischen Oder und Weichsel skizziert.1231 Es sind Goldhalsringe mit überlappenden Enden, wie sie G. Mangelsdorf zwischen Mittelskandinavien und Norddeutschland zusammengestellt hat,1232 weiterhin Goldbrakteaten und Solidi des ausgehenden 5. Jahrhunderts sowie auch westliche Bügelfibeln des frühen 6. Jahrhunderts. Eine Karte umreißt das halbe Dutzend Areale, die immerhin Durchmesser von 50 km haben, in denen gehäuft die ranganzeigenden Objekte gefunden worden sind. Er betrachtet diese Region als Zwischenbereich oder Brücke zwischen dem Baltikum und dem Frankenreich, und zwar anhand der Bügelfibeln, wie sie von V. Hilberg kartiert worden sind.1233 Ausgangsfund ist eine vergoldete Bügelfibel aus Silber mit Almandinbesatz, gefunden bei Nowa Wieś im Distrikt Czarnków im nördlichen Großpolen, die aus dem Merowingerreich stammt. J. Schuster weist sie einer ranghöheren Dame zu, die in die Netze-Region gekommen sein muss, angezogen durch eines der Reichtumszentren jener Epoche.
1231 Schuster 2018, 183 Fig. 10 Karte. 1232 Mangelsdorf 2006/2007, 86 Abb. 7 Karte; hier Schuster 2018, 184 Fig. 11 A. 1233 Hilberg 2009, Karte.
6 Dichte der Besiedlung Besiedelte Räume wurden und werden zu jeder Epoche, auch im Altertum Germaniens, kulturell und sozial konstruiert, die Landschaft als Raum ist eine materielle, soziale und kulturelle Realität und Repräsentation. Somit sollte man, um die Strukturen in der Vergangenheit zu verstehen, auch nicht nur einzelne Siedlungen oder Gräberfelder vordringlich und isoliert betrachten, sondern zugleich regelhaft das Gefüge oder Netzwerk als Gesamtheit der von Menschen organisierten Landschaft. In Germanien gab es zu Anfang und in den ersten Jahrhunderten n. Chr. in der Regel nur die auf Landwirtschaft ausgerichteten Dörfer, von denen einige erst später zentralörtliche Funktionen in Herrschaft und Kult übernahmen. Es gab keine stadtartigen Siedlungen. Das Land war aber dicht bedeckt von Dörfern, in denen zehn bis zwanzig und mehr Gehöfte beieinander standen. Das ist das Ergebnis von systematischen, vollständigen Ausgrabungen von Siedlungen und manchmal ganzer Gemarkungen in den letzten Jahrzehnten. Die sorgfältige Ausgrabung eines Dorfes deckt pro Jahr etwa 1 ha ab; bei der Größe mancher Siedlungsareale von 15 bis 20 ha waren daher auch rund 15 bis 20 Jahre – wohlgemerkt ganzjähriger – Grabungen notwendig, eine Langzeitforschung. Entscheidend für ein neues Bild des Altertums in Germanien ist, dass diese Dörfer nicht verstreut wie Inseln inmitten des finsteren Urwalds gelegen haben, sondern in einer weitgehend offenen Landschaft, oft mit Sichtverbindung zueinander. Die Intensität der Ausgrabungen hat dieses dichte Netz der gleichzeitig bestehenden Dörfer nachgewiesen, die verknüpft waren jeweils durch Wege zu den Siedlungen in der Nachbarschaft und durch Fernwege über die Gemarkungen hinaus in andere ähnlich strukturierte Landschaften.1234 Der Marschweg der Varus-Legionen durch Norddeutschland und dann am Kalkrieser Berg entlang durch den Engpass zwischen Großem Moor und dem Berg führte durch eine dicht besiedelte Landschaft und nicht durch dunkle Wälder und unwegsame Sümpfe.1235 Hier am Bergfuß verlief übrigens durch alle Zeiten bis in die Gegenwart ein viel benutzter Fernweg, und es gibt verlorenes Sachgut der Reisenden aus den verschiedensten Epochen bis in die Neuzeit. Im Weichbild des Fernweges sind zudem mehrere Siedlungen derselben Zeit der Varus-Katastrophe aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. ausgegraben worden, was zeigt, dass dieser Marschweg nicht durch unübersichtliches Gelände geführt hat. Für das Gebiet um das frühe römische Lager bei Hedemünden südlich von Göttingen im Mittelgebirge an der Weser hat der Ausgräber Klaus Grote eine Karte erarbeitet, die zeigt, dass auch hier die Siedlungen beiderseits von Fernwegen nahe beieinander lagen (oben Abb. 12).1236
1234 Steuer 2007a. 1235 Harnecker 2009; 2014. 1236 Grote 2012; 2014; Steuer 2015a. https://doi.org/10.1515/9783110702675-014
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Fast jeder Ausschnitt einer gut erforschten Landschaft beweist, dass die Gegenden vollständig aufgesiedelt waren wie im Mittelalter und auch später. Die dichte Besiedlung des südwestlichen Harzvorlandes ist vielfältig belegt, außer durch die archäologische Prospektion auch durch die Vegetationsgeschichte. Die Dichte der germanischen Besiedlung des 3./4. Jahrhunderts wird auch entlang des römischen Marschweges zum „Schlachtfeld“ am Harzhorn archäologisch belegt.1237 Es kommt auf die Formulierung an, wenn man die Dichte der Besiedlung veranschaulichen will. Wenn M. Geschwinde 2019 schreibt: In germanischer Zeit blieben die Höhenlagen der Mittelgebirge weitgehend frei von Besiedlung. Als 235 n. Chr. germanische Krieger am Harzhorn bei Northeim eine römische Armee attackierten, fand dies in einer weitgehend besiedlungsfreien Landschaft statt […]. Germanische Siedlungen konzentrieren sich wieder auf die Beckenlandschaften und die Talkessel mit ihren fruchtbaren Böden,1238
dann meint das nur, die Höhenlagen waren auch zu anderen Zeit nicht besiedelt, sondern von Wald bedeckt; und gerade die Gegend beim Harzhorn nahe Northeim in Niedersachsen (vgl. S. 769), wo heute noch die Autobahn zu Füssen des Berges hindurchführt, war durchaus dicht besiedelt, das Leinetal bei Hedemünden, wie gerade beschrieben und gezeigt. Diese Beispiele entsprechen einer Regelerscheinung: Dort wo archäologisch intensiv geforscht worden ist, durch systematische Begehung aller besiedelbaren Landschaftsteile, bestätigt sich die dichte Lage der Dörfer zueinander, wie später auch während der Merowingerzeit, dem 6./7. Jahrhundert, wo die modernen Gemarkungen der Dörfer des 19. Jahrhunderts aneinanderstoßend überall auch schon eine alte Siedlung aufgenommen hatten. So verwundert es nicht, dass bei flächendeckender Erfassung aller Fundplätze diese meist nur wenige hundert Meter auseinander liegen. Das sind dann nicht gleich neue Siedlungsstellen, sondern die Hinweise, wie erläutert, auf sich verlagernde Gehöftgruppen bzw. Dörfer im Laufe der Generationen. Während der ersten nachchristlichen Jahrhunderte waren sogar die Ränder der Oikumene, wie die Wurtenzone an der Nordseeküste oder die nordfriesischen Inseln, vollständig besiedelt. Die Siedlungskammer der Wurtenzone mit der Feddersen Wierde ist knapp 16 km lang (oben Abb. 19.1); die Dörfer liegen nicht einmal 2 km auseinander. Bei den insgesamt 8 oder 9 nachgewiesenen Dorf-Wurten mit z. B. 20 Gehöften brachte das eine Bevölkerungszahl allein für diesen Streifen Land von 2500 bis 3000 Menschen, von denen bis zu 500 bis 600 Krieger gestellt werden konnten. Die niedrigen Küstenzonen und Flussmündungsbereiche sind insgesamt von den Niederlanden bis nach Jütland, also entlang der gesamten Nordseeküste mit derartigen Wurtenketten besetzt und dokumentieren schon in diesem Randbereich der besiedel-
1237 Fuhrmann, Steinmetz 2013, 135 Karte der Besiedlungsdichte. 1238 Geschwinde 2019, 41 Zitat.
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baren Landschaften Germaniens eine äußerst dichte Besiedlung,1239 die in die ersten Jahrhunderte n. Chr. zu datieren sind.1240 K. Brandt bringt die Besiedlung der Seemarsch des Landes Wursten während der Römischen Kaiserzeit mit der Feddersen Wierde und der Fallward und die Kette der Wurten im Mittelalter weiter außen zur Weser.1241 Die Besiedlung der Flussmarsch des Rheiderlandes während der älteren Vorrömischen Eisenzeit und in der Spätlatènezeit mit der Römischen Kaiserzeit vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis ins 5. Jahrhundert n. Chr. sowie im frühen Mittelalter zeigt die Verteilung mit allen im Abstand von nur 1,5 km positionierten Flachsiedlungen und Wurten und außerdem eine langdauernde Kontinuität.1242 Wurtenketten gibt es aufgrund desselben Naturraumes auch in den nördlichen Niederlanden.1243 Gleichartiges zum verdichteten Siedlungsbild ist nördlich der Elbe anhand der Verteilung von Wurten und Flachsiedlungen im Küstengebiet von Norderdithmarschen und Eiderstedt ebenso zu beobachten,1244 an der gesamten Westküstenlandschaft in SchleswigHolsteins (datiert von 250 bis 850),1245 wobei zusätzlich noch der Landverlust nach den Sturmfluten im Mittelalter zu bedenken ist. Es gibt Reste von Wurten der römischen Kaiserzeit auch in den Wattengebieten selbst.1246 Die Wurtenketten der Flussmarschen am Westufer der unteren Ems während der älteren vorrömischen Eisenzeit und der Römischen Kaiserzeit sind seit langem bekannt,1247 aber auf der anderen Seite des Flusses wird es ähnlich ausgesehen haben, seitdem die Forschung sich über dieses Fehlen klar geworden ist und nun nachgeschaut wird.1248 Die Siedlungen und Wurten liegen auch hier weniger als 2 km auseinander. Für das Bataverland zwischen Maas und Rhein während der Vorrömischen Eisenzeit und der frühen Römischen Kaiserzeit hat G. Kossack eine gleichartige Siedlungsdichte registriert. Die Katalogisierung der Grabfunde und Gräberfelder 2017 im Landkreis Cuxhaven hat wenigstens für die jüngere Römische Kaiserzeit und die Völkerwanderungszeit die Dichte der einstigen Besiedlung dokumentiert.1249 Auch auf den Nordfriesischen
1239 Zum Bespiel Schmid 2007, 347 Abb. 47; Steuer 2007a, 348 Abb. 4. 1240 Kegler u. a. (Hrsg.) 2013, 174 Abb. 2 Siedlungen entlang der Küste in Friesland, 175 Abb. 3 Moorwurtenkette Prov. Friesland Detail. 1241 Brandt 1984, 148 Abb. 4 und 153 Abb. 46. 1242 Brandt 1984, 155 Abb. 47, 157 und Abb. 48; Schmid 1985, 453 Abb. 2. 1243 Waterbolk 1996, 53 Abb. 6 Karte des Marschengebietes im Nordwesten von Groningen mit der Wurtenkette; K. Brandt 1984, 148 ff. (an der Ems), 157 Abb. 48; Wurtenkette an der unteren Ems: Berthold 2019, 17 Abb. 3 und Hüser 2018, 99 Abb. 1244 Bokelmann 1988. 1245 Lengsfeld, Meier 2000. 1246 Meier 1994; 1996, 249 Abb. 3; 2003, 41 Fig. 2–3 Wurtenkette im Land Wursten, 46 Fig. 3–5 römerzeitliche Wurtenkette in Dithmarschen und Eiderstedt. 1247 Kossack 1997, 17 Abb. 3 a und b; Berthold 2019, 17 Abb. 3. 1248 Hüser 2018, 99 Abb. Karte der Besiedlung. 1249 Schön 2017.
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Inseln gab es eine dichte Besiedlung, ebenfalls in den Marschen.1250 Im Binnenland verteilten sich die Siedlungen aber durchaus ähnlich. Die Siedlungsstreuung an der Niederelbe aus dem 2. bis 5. Jahrhundert1251 zeigt nur im Hamburger Gebiet und dem Umland 32 Fundplätze des 3. Jahrhunderts. Eine vergleichbare Dichte hat auch an der Spree während der späten Römischen Kaiserzeit geherrscht. Der Abstand der Siedlungen betrug immer nur etwa 2 km.1252 Im Gebiet der Mecklenburger Seenplatte1253 ist für die Zeit um 300 n. Chr. eine Fundplatzdichte von vier Plätzen an einem 3,5 km langen Jungmoränenrücken bewiesen worden. Im Landkreis Cuxhaven haben Sondengänger bei Midlum nicht nur Metallfunde der Römischen Kaiserzeit geborgen, sondern es wurden auch einheimische Metallsachen aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. und aus fernen Landen jüngst entdeckt. Dazu gehören eine Delphinmünze aus dem Pontusgebiet von Bug-Dnjepr und auch keltische Münzen aus Gallien.1254 Es gab hier schon früher Fibelfunde des 1. Jahrhunderts v. Chr. aus der südrussischen Zarubincy-Kultur und Lanzenfibeln vom Balkan. Wenn es sich nicht um Verluste moderner Sammler handelt, dann sind hier die Fernbeziehungen bis weit in den Südosten und nach Westen schon für die vorrömische Eisenzeit belegt. Die Elbe ist ein viel genutzter Fernhandelsweg zu allen Zeiten; und je intensiver mit Metalldetektoren gesammelt wird, desto häufiger stößt man auf Funde, auf Sachen aus allen nahen und fernen Landschaften, was die Auswertung von Kartierung zu derartigen Objekten immer fragwürdiger macht. Neue Forschungen, Prospektionen und Grabungen sowie die dazu vorgelegten Publikationen belegen nun überall die „Verdichtung“ der Siedlungsspuren.1255 Im Mündungsgebiet der Aller in die Weser haben Sondengänger jüngst 25 Fundstellen der Römischen Kaiserzeit bis Völkerwanderungszeit aufgespürt, Landungsstellen und vermutete Handelsplätze. Beim Ort Eissel wurden auf einer Kuppe in der Flussaue im Jahr 2018 Fremdgüter aus römischem Kontext, außerdem Barren und Gusszapfen als Hinweis auf die Verarbeitung von Buntmetall entdeckt; und gegenüber nahe dem Flussufer am Geestrand beim Ort Dauelsen eine gleichartige Siedlung, wo u. a. 65 römische Münzen eingesammelt worden sind. Nicht weit entfernt sind die Befunde bei Holtorf-Lunsen nahe Thedinghausen, wiederum auf einer Kuppe, zu bewerten, datiert in die erste Hälfte des 1. Jahrtausend, mit Grubenhäusern und Werkplätzen sowie einem Schmiedehaus mit Stampflehmfussboden, gelegen direkt am Flussufer. Die Änderung des Flusslaufes wird von den Archäologen berücksichtigt.
1250 Segschneider 2018. 1251 Schäfer 2014, 188 Abb. 84 Karte der Fundplätze bei Hamburg; Offergeld 2019, 116 Abb. 14 Karte der außerordentlichen Besiedlungsdichte in Angeln nach der Fundverteilung. 1252 Kossack 1997, 17 Abb. 2 (Spreegebiet)., 18 f. Abb. 4 (Bataverland). 1253 J,-P. Schmidt 2017. 1254 Hüser 2019b. 1255 Siegmüller, Precht, Brandt 2019.
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Wenn hier schon größere Flächengrabungen durchgeführt worden wären, dann müssten die Befunde von mir im Abschnitt über Landeplätze an Flussufern eingefügt werden (vgl. unten S. 405). Zwischen Elbe und Oder ist über GIS-Prospektion und Einmessungen in Norddeutschland eine hohe Besiedlungsdichte dokumentiert, wobei Kreise mit 7 km Radius aneinanderstoßen und damit die Nähe der benachbarten Dörfer bestätigen.1256 Noch weitere Beispiele für die hohe Siedlungsdichte überall in Germanien sind anzuführen: Auf der Ostseeinsel Bornholm1257 sind die Gräberfelder – und damit auch die Siedlungen – gleichmäßig über die Insel verteilt, der Abstand beträgt jeweils nur wenige hundert Meter, was für den Katalog mit 39 Plätzen zutrifft.1258 Die Verbreitung der tordierten silbernen Halsringe mit birnenförmiger Öse bildet das Kontaktnetz der führenden Familien ab. Es gibt zahlreiche derartige Objekte auf Bornholm; von hier aus sieht man die Kontakte nach Südschweden (Simris), Seeland (Skovgårde), nach Nordjütland und zum Gebiet zwischen Oder und Weichsel sowie weiter südlich nach Mitteldeutschland (Freienbessingen, Wechmar, Erfurt, Langendorf).1259 Zahlreiche Karten sind für das Gebiet um Mušov in Mähren erarbeitet, die auch dort einige ausnehmend eng besiedelte Siedlungskammern zeigen (vgl. S. 1098 ff.).1260 Über die beachtlichen Größen der Gemeinschaften geben zusätzlich die Gräberfelder Auskunft, worüber in einem späteren Kapitel ausführlich nachzulesen ist (siehe unten S. 969). Im heutigen Polen1261 belegen allein die Karten zur Verbreitung der PrzeworskKultur und der Wielbark-Kultur eine beachtliche Siedlungsdichte während der Römischen Kaiserzeit und der frühen Völkerwanderungszeit, was durch zahlreiche Detailkarten, z. B. zur Eisengewinnung und Verhüttung im Warschauer Gebiet bestätigt wird (vgl. S. 380 und Abb. 36.2). Nun ist demgegenüber von einer Jahrhunderte langen Siedlungsleere in der Lausitz zu lesen. Doch ist das, wie sich langsam herausstellt und wie zu vermuten war, nur eine Forschungslücke (vgl. unten S. 448). Mit dem Einsatz des Metalldetektors sind für mehrere Gebiete Punktkarten aller gemeldeten römischen und anderer Artefakte aus Metall erarbeitet, die ständig zu einer nachweisbaren weiteren Verdichtung der besiedelten Landschaft führt. Ein Beispiel ist Niedersachsen (Stand 2013),1262 ein zweites Schleswig-Holstein (Stand 2014),1263 mit einer großen Zahl von Karten zu Sachgütern, die durch den Einsatz des Detektors eine deutliche Verdichtung in ganz Germanien erfahren haben. Damit wird
1256 Volkmann 2015, 124 Abb. 4. Es betrifft die Phasen von C1 bis D 2. 1257 Heidemann Lutz 2010. 1258 Heidemann Lutz 2010, 77 Katalog mit 39 Plätzen, Karte I. 1259 Heidemann Lutz 2010, 212 Abb. 96. 1260 Tejral 2001a, 319 Abb. 25, weitere Karten. 1261 Latałowa 2017. 1262 Haßmann 2018, 341 Abb. 2. 1263 Schuster 2016c, 3 Abb. 1 entdeckte Fundplätze.
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Abb. 36: Dichte der Besiedlung in östlichen Gebieten Germaniens anhand der Eisenhüttenstandorte. 1. Besiedlung des südlichen Teltows in der späten vorrömischen Eisenzeit mit den Siedlungen und Öfen des Typs „Glienick“.
in Germanien eine mit den römischen Provinzen in Niedergermanien vergleichbare Punkt- und damit Siedlungsdichte erreicht.1264 Einige Beispiele erläutern zusätzlich den starken Bevölkerungsanstieg in den ersten Jahrhunderten n. Chr.1265 Auf der Feddersen Wierde steigerte sich die Zahl der bäuerlichen Betriebe von 5 Höfen im 1. Jahrhundert v. Chr. auf 23 Gehöfte im 5. Jahrhundert, also rund auf das Vierfache, was nicht nur die Zahl der aufgestallten Rinder betraf, sondern auch die Zahl der Einwohner. Das geschah auf allen der nahe beieinander liegenden Wurten. Die Siedlung Hodde in Mitteljütland wuchs von 11 auf 27 Betriebe in weniger als drei Generationen. Das wandernde Dorf Vorbasse startete mit 10 Gehöften und wuchs zum 4. Jahrhundert auf 20 bis 24 Höfe an; die Siedlung Hjemsted bestand im 2. Jahrhundert aus 6 Betrieben und wuchs zum 4. bis 6. Jahrhundert auf 20 Betriebe an. Die Siedlung Wijster in den Niederlanden vergrößerte sich von 4 bis 5 Höfen innerhalb von drei Generationen auf das Doppelte und dann nach 375 Jahren auf 19 Gehöfte.1266 Damit verbunden war zudem die Vergrößerung 1264 Kunow 1989. 1265 Steuer 2007a. 1266 Steuer 2007a, 347 ff.
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Abb. 36: 2. Zentren der Eisengewinnung im Raum Masowien westlich von Warschau; Punkte: Siedlungen mit Eisenerzeugung.
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bzw. Verlängerung der Wohn-Stall-Häuser sowie auch die Flächenzunahme der Hofparzellen. Im Durchschnitt, auch wenn fast jedes Dorf sein individuelles Schicksal hatte, wuchsen die Siedlungen von 5 Gehöften auf 20 und mehr Betriebe, also in den vier nachchristlichen Jahrhunderten jeweils auf rund das Vierfache.1267 Man erinnere sich: Die Bevölkerung Englands hat sich von 1800 bis 1850, also nur in einem halben Jahrhundert, verdoppelt, ähnliche Wachstumszahlen gibt es auch für Preußen; 1816 wurden 16 Millionen gezählt, 1895 rund 32 Millionen.1268 Das enge Netz der Siedlungen steht für eine erstaunlich hohe Bevölkerungsdichte, weshalb die Germanen daher auch beachtliche Truppenkontingente auf die Beine stellen konnten, die den Römern entsprechenden Widerstand entgegensetzten. Germanische Dörfer haben nach kontinuierlichem Wachstum schließlich eine Größe von etwa 20 bis 25 Gehöften erreicht und dann aber diese nicht mehr überschritten. Der Grund dafür ist in der vollständigen Auslastung der Wirtschaftsflächen zu suchen, da bei einem Abstand der Dörfer von wenigen Kilometern keine Möglichkeiten zur weiteren Ausdehnung bestanden haben. Der Abstand der Siedlungen betrug in der Regel nur 4 bis 5 km und weniger, der Radius des wirtschaftlich nutzbaren Rings um ein Dorf 2 bis 2,5 km. Das ist eine von der Siedlungsgeographie vielfach bestätigte Zahl für die Nutzung einer Landschaft. Wenn eine Dorfgemarkung die Fläche von 2,5 × 2,5 km (6,25 km2) oder von 3 × 3 km (9 km2) oder 5 × 5 km (25 km2) einnahm, dann gab es diesen Maßen entsprechend in einem Bereich von 25 auf 25 km (625 km2) oder von 30 auf 30 km (900 km2) oder 50 auf 50 km (2500 km2) Größe jeweils etwa 20 bis 100 Dörfer mit bis zu 20 Gehöften und – bei einer Bewohnerzahl von 10 pro Hof – damit 4000 bis 20 000 Menschen. Ein Fünftel konnte in den Krieg ziehen – wiederum eine ethnographisch belegte Konstante – das sind 800 bis 4000 Kämpfer. Diese Zahlen sollen nur die möglichen Größenordnungen angeben; man könnte weitere Rechenbeispiele anschließen, was leicht zu noch größeren Einwohnerzahlen in Germanien führen würde. Es gibt den Versuch, das gesamte skandinavische und das küstennahe kontinentale Gebiet in Kulturkreise (Zivilisationen) und „Stamvälden“ (early state modules) einzuteilen, z. B. für die Zeit um 500 n. Chr. Dann erstreckt sich Kreis dicht neben Kreis, der jeweils einen Durchmesser von etwa 30 km hatte (dazu später S. 1021).1269 Damit ist auch dieses Vorurteil der schütteren Besiedlung und der weiten Streuung der Dörfer in den unwirtlichen Wäldern Germaniens widerlegt. Daher widerspreche ich hier nachdrücklich der Meinung von B. Ludowici im Katalog „Saxones“ 2019, dass in der Zeit um 100 in Niedersachsen und Westfalen kaum mehr als einige Hunderttausend Menschen gelebt hätten.1270 Ebenso widerspreche ich nach meiner Kenntnis auch der Ansicht von Hauke Jöns, wenn er für das 1267 Kossack 1997. 1268 Meyers Konservationslexikon, 14. Bd. (Leipzig und Wien 5. Aufl. 1897) 190. 1269 Heidemann Lutz 2010, 235 Abb. 110, Vorschlag Näsman 1998, Abb. 5. 1270 Ludowici, in: Saxones 2019, 42 (im Zwischentext).
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6. und 7. Jahrhundert von einer Siedlungslücke spricht.1271 Zum Problem der Entsiedlung des Gebietes östlich der Elbe durch Germanen im 6. Jahrhundert und die Einwanderung von slawischen Gruppen nehme ich später Stellung (vgl. S. 827). H. Jöns meint also: „Im gesamten Nord- und Ostseeküstenraum bis hin zur Weichselmündung ist ab dem 5. Jh. das Ende zahlreicher Siedlungen festzustellen, die über lange Zeiträume gewachsen waren“. Es gäbe kaum noch Gräber, sondern nur noch Einzelfunde. In Angeln und Schwansen würden alle römisch-kaiserzeitlichen Gräberfelder spätestens in der Zeit um 500 enden und auch die Siedlungen würden abbrechen. Nachdem jedoch A. S. Dobat erst eine Siedlungsunterbrechung vermutete, hat er später statt der Lücke Siedlungshinweise für das 6. und 7. Jahrhundert erkannt.1272 Denn im Bereich der Schlei sind immerhin sieben Goldbrakteaten gefunden worden, es wird ein Heiligtum oder einen Zentralplatz im Übergang vom 5. zum 6. Jahrhundert gegeben haben; „das weitgehend unbesiedelte Gebiet (war) zumindest als Verkehrsraum weiterhin von Bedeutung“. Die vegetationsgeschichtlichen Analysen von W. Dörfer seit 1990 bis 2017 des 6. und 7. Jahrhunderts zeigen teilweise weitgehend aufgelassene Landschaften. Das Pollendiagram vom Belauer See, Schleswig-Holstein spiegeln von 450 bis 700 die Zunahme von Bäumen, Sträuchern und Gräsern; die bewaldeten Flächen dehnten sich aus. Auch in Jütland würde im Verlauf des 5. Jahrhunderts vielerorts ein Siedlungsabbruch und eine markante Bevölkerungsabnahme nachzuweisen sei, aber doch eine kontinuierliche Besiedlung über das 6. und 7. Jahrhundert hinweg. Die Gräberfelder von Westerwanna und Altenwalde, beide Ldkr. Cuxhaven, enden in der Mitte des 5. Jahrhunderts, und auch die Wurtenbesiedlung auf der Feddersen Wierde und auf der Fallward hörte ebenso auf, aber doch später, was aber spezielle Gründe aufgrund des Meeresspiegelstandes gehabt haben wird. Denn auf der Geest wird die Siedlung Flögeln zwar zu Beginn des 6. Jahrhunderts verlassen, aber im Verlauf des 7. Jahrhunderts entsteht eine neue Siedlung in 2 km Entfernung in Dalem. Es hat (scheinbar) höchstens eine knappe Siedlungslücke von wenigen Jahrzehnten gegeben.1273 Das Mündungsgebiet der Weser wurde ebenfalls nicht vollständig verlassen; die Siedlung Loxstedt, Ldkr. Cuxhaven, bestand durchgehend vom 4./5. Jahrhundert bis ins 7. Jahrhundert; die Siedlung von Wittstedt, Ldkr. Cuxhaven, in 10 km Entfernung existierte vom 4. bis ins 9. Jahrhundert. Im Gebiet um Sievern soll die Besiedlung ebenso zu Beginn des 6. Jahrhunderts geendet haben, aber immerhin wurden 14 Goldbrakteaten entdeckt. Die Pollenanalysen bei Sievern im Mulsumer Moor zeigen denn auch keine Hinweise auf eine Siedlungslücke. Die These von H. Jöns ist mit einem Fragezeichen versehen, wenn er sagt, dass im Elbe-Weser-Dreieck während des 5. und 6. Jahrhunderts zahlreiche Siedlungen aufgegeben worden seien und die Bevölkerung abgenommen hätte.
1271 Jöns 2019a, 224 Abb. 2 Pollendiagramm Belauer See, außerdem 225 ff. 1272 Dobat 2003; 2008. 1273 W. H. Zimmermann 1992b; 1995a.
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Es handelt sich, so meine ich, um eine ungenügende Bewertung der Forschungsergebnisse und um eine Forschungslücke; denn zu wenig wird eine tatsächlich in diesen Jahrhunderten, dem 5. und 6. Jahrhundert, stattfindende strukturelle Veränderung berücksichtigt, mit Siedlungsverschiebungen und -verlagerungen, und gesellschaftliche Umbrüche in Schweden um die Mitte des 6. Jahrhunderts werden als Parallelen herangezogen und als Bestätigung gewertet. Andererseits ahnt man Bevölkerungszunahmen; wenn die Überwanderungen aus Niedersachsen und Jütland nach Britannien mit einem Bevölkerungsdruck erklärt werden; zumindest waren das Klima und das Wetter auf der Insel auch nicht anders als auf dem Kontinent. Deutlich wird, dass Verallgemeinerungen nicht weiterführen; der Blick auf kleine Landschaften mag hier die individuelle Entwicklung samt Besiedlungsrückgang feststellen können; aber in der weiteren Nachbarschaft sieht es zeitgleich ganz anders aus. Notwendig ist die Berücksichtigung großer geographischer Räume, nicht nur die unmittelbare Küstenzone oder die Flusstäler. Ein anderes Thema ist die zwischen 536 und 660 n. Chr. nachgewiesene Abkühlung, die als kleine Eiszeit der Spätantike benannt und mit denVulkanausbrüchen 536, 540 und 547 parallelisiert wird; dann kommt die Justinianische Pest1274 im Byzantinischen Reich hinzu und der Fimbulwinter sowie Ragnarök der späteren nordischen Quellen. Die Vulkanausbrüche geschahen aber erst, als die Siedlungsabbrüche – wenn überhaupt geschehen – längst eingetreten zu sein scheinen. Diese anscheinend recht siedlungsarmen Gebiete erlebten aber zugleich einen Aufschwung der Kunst (vgl. unten S. 1229) mit dem Goldbrakteaten, den Goldblechfigürchen, der Entwicklung der Sösdala-, Nydam- und der Tierstile. Es passen die verschiedenen archäologischen Quellengruppen anscheinend bisher nicht zueinander. Doch habe ich oben im Kapitel zu den Siedlungen beschrieben (vgl. S. 289) und werde dasselbe unten bei den Gräberfeldern zeigen (vgl. S. 969), dass überall von Kontinuitäten auszugehen ist, von der Römischen Kaiserzeit über die Völkerwanderungs- und Merowinger-/Vendelzeit oft gar bis in die Wikingerzeit. Immerhin wird von mehreren Autoren diskutiert, ob es in einzelnen Gebieten doch eine Restbevölkerung geben hat und wie groß diese dann gewesen ist. Es wird eine normale, nicht geringe Bevölkerung über die gesamte Zeitspanne gegeben haben; doch wandelte sich die gesellschaftliche und politische Ordnung, und damit veränderten sich die Siedlungsstrukturen und die Bestattungsbräuche. Auch in den Niederlanden wurde versucht, im Bereich der römischen Provinzen und weiter östlich des Rheins die Bevölkerungsdichte zu berechnen; aufgrund des jetzigen Forschungsstandes, also zum Teil noch e silentio, wie man so sagt.1275 Einige weitere Versuche, die Bevölkerungszahlen in den römischen Provinzen am Rhein und in den Grenzgebieten zu Germanien zu schätzen, unterstützen eben-
1274 Brather-Walter 2019d; vgl. auch Harper 2020. 1275 Groenewoudt, van Lanen 2018; Groenewoudt, van Lanen, Pierik 2019.
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falls diese Vorstellung von der dichten Besiedlung der Landschaften in Mitteleuropa, gerade auch im Vergleich zu den römischen Provinzen. Man kann mit der Eisenzeit beginnen. Für Süddeutschland geht man für die ältere Eisenzeit (800/775 bis 450 v. Chr.) von einer Dichte von 0,77 bis 1,86 Einwohnern pro km2 aus, für das Rheinland in der älteren und mittleren Eisenzeit von 1,20 bis 2,31 Einwohnern pro km2. In Gallien lebten um die Mitte des Jahrhunderts v. Chr. 5,7 Millionen Menschen, d. h. 9,1 pro km2.1276 Mit der Romanisierung der späteren nördlichen Reichsteile waren eine erhebliche Dynamik der Siedlungsentwicklung und damit ein rasches Bevölkerungswachstum verbunden. Allein die Schätzung der Bevölkerungszahlen für das Gebiet der Bataver geht von 900 Haushalten aus, die 550 Krieger für das römische Militär stellten, also insgesamt 30 000 bis 40 000 Mann.1277 R. Gleser nennt für die europäischen Provinzen des Römischen Reichs um 165 n. Chr. folgende Zahlen: Italien hatte 8 bis 9 oder 12 bis 13 Millionen Einwohner, d. h. 26 bis 29 bzw. 39 bis 42 Bewohner pro km2; für Gallien und Germanien waren das 9 bis 12 Millionen bei 680 000 km2, also 13 bis 18 Bewohner pro km2; in den Donauprovinzen bei 660 000 km2 und rund 5 bis 6 Millionen Menschen wären das 8 bis 9 Einwohner pro km2.1278 K. P. Wendt und A. Zimmermann errechnen für das römische Deutschland und die angrenzenden Gebiete um die Mitte des 2. Jahrhundert n. Chr. 978 338 Bewohner, das sind 4,8 bis 10 Einwohner pro km2.1279 Ein Anhaltspunkt war für die römischen Provinzen die Größe der Theaterbauten und damit die Zahl der Sitzplätze. Man zählt 3918 villae rusticae mit 71610 bis 143 220 Bewohnern, 3 coloniae und 86 vici mit im Mittel 194 590 Leuten, was zu einem Durchschnittswert von 328 105 Menschen führt. Im römischen Teil in Deutschland und den angrenzenden Gebieten zählte man also 4,8 bis10 Einwohner je km2; das sind für die germanischen und gallischen Provinzen insgesamt neun bis zwölf Millionen Menschen im 2. Jahrhundert.1280 Diesen Berechnungen stellt nun Martin Grünewald für die römischen Provinzen Obergermanien und Raetien andere, in der Regel geringere Bevölkerungszahlen gegenüber.1281 Es geht um Bevölkerungsdichte und Migration in diesen Provinzen. Mit Migration sind die Verschiebungen der Kastelle vom Rhein und der Donau an den obergermanisch-raetischen Limes gemeint und damit auch der Menschen, der Kastellbesatzungen und der dazu gehörenden umliegenden Vici. Der Autor geht von den Belegungszahlen von Gräberfeldern im limesnahen Bereich vom 1. bis zur Mitte des 5. Jahrhunderts aus, bei Berücksichtigung des Limesendes im fortgeschrittenen 3. Jahrhundert n. Chr. In verschiedenen Zeitabschnitten von der Zeit des Augustus mit den Grenzen des Römischen Reichs an
1276 Beloch 1886/1968. 1277 Vossen 2003, 434 Tabellen; J. A. W. Nicolay 2007. 1278 Gleser 2015, 92 ff. Tabellen. 1279 Wendt, A. Zimmermann 2008 (2009), 214 Tab. 4, 217; A. Zimmermann, Richter, Frank, Wendt 2004, Schätzung von Bevölkerungszahlen. 1280 Scheidel 2007, 48 mit Tab. 3,1; M. Grünewald 2018 (2019), 160 Anm. 5. 1281 M. Grünewald 2018 (2019).
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Rhein und Donau über die verschiedenen Phasen des Limesausbaus bis schließlich zur Zurücknahme wieder an die Ströme ist die Lage der berücksichtigten Gräberfelder kartiert, zuletzt außerdem mit den Siedlungsgebieten der Germanen an Main und Neckar.1282 Dabei wird aufgrund der geringen Gräberzahlen von einer „sehr spärlichen Besiedlung der Alamannia des 4. Jahrhunderts“ ausgegangen, was sicherlich – so meine ich – weniger die Realität als einen Forschungsstand abbildet, auch wenn im postulierten Herkunftsgebiet der Germanen im elbgermanischen Raum Gräberfelder mit mehreren hundert Brandgräbern dokumentiert sind.1283 Während P. Wendt und A. Zimmermann also für die römischen Gebiete Deutschlands von insgesamt 637 000 bis 1,3 Millionen Personen ausgeht, geht M. Grünewald von minimal 133 020 und maximal 379 554 weniger Personen aus, indem er die Einwohnerzahl der vici deutlich geringer einschätzt. Ebenso geht er von geringeren Lagerbesatzungen aus; und vor allem berücksichtigt M. Grünwald die Mobilität als Massenmigration bei den wechselnden Grenzverläufen. Das führt zu nur 60 000 bis 200 000 Personen in den vici und civitates und für das römische Deutschland schließlich zu nur zu etwas über 500 000 Menschen, was nur noch etwa die Hälfte der bisherigen Schätzungen in der Blütephase des 2. Jahrhunderts bedeutet. Diese Berechnungen zeigen zum einen, wie schwierig es ist, ehemalige Besiedlungsdichten und Bevölkerungszahlen anhand der bisher ergrabenen archäologischen Befunde zu errechnen, und zum anderen, welche Spannweiten bei diesen Versuchen noch zu berücksichtigen sind. Das gilt für die römischen Provinzen und ebenso für Germanien insgesamt und somit auch für meine angebotenen Schätzungen. Einen weiteren Zugang zur Einwohnerzahl in Germanien gewinnt man über die Darstellungen auf der Säule des Marcus Aurelius mit den Erläuterungen von J. Rajtár.1284 Die Markomannen siedelten direkt vor dem norisch-pannonischen Limes, und nach der Dichte der Fundstellen hatte es einen erheblichen Zuwachs der Bevölkerung gegeben, die zudem mächtige Bewegungen im Inneren Germaniens ahnen ließen. In der ersten Phase des Markomannenkrieges 166/67 waren nach der schriftlichen Überlieferung 6000 Langobarden und Obier beteiligt, also Krieger aus weit entfernten Stammesgebieten, was der zugehörigen Einwohnerzahl von 30 000 Menschen entsprach, also vielleicht 150 Dörfern. Im Jahr 179 in der zweiten Phase des Krieges zogen 20 000 Römer gegen die Markomannen. Wenn diese etwa gleich stark waren, dann standen dahinter 100 000 Einwohner in 500 Dörfern. V. Turčan schildert die germanischen Siedlungsstrukturen auf der Markus-Säule. Von den 116 Szenen bringen 10 barbarische Siedlungen, brennende Dörfer, aber statt der Langhäuser wohl aus „technischen“ Gründen, die den Steinmetze gegeben waren, Rundhäuser, die nicht
1282 M. Grünewald 2018 (2019) 167–174 mit den Karten Abb. 1 bis 5. 1283 M. Grünewald 2018 (2019) 175, zu den eigenen Zahlen 183 und abschließend 186. 1284 Rajtár 2014, 107–134 ff.
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der Realität entsprachen; die Langhäuser des westlichen und nördlichen Germaniens fehlen auf der Säule.1285 Für die Diskussion um die germanischen Gegner der römischen Truppen bei den Auseinandersetzungen am Harzhorn im Jahre 235 n. Chr. (vgl. S. 769 ff.) analysiert Lothar Schulte die Verhältnisse in Sachsen-Anhalt, der Altmark und im Hannoverschen Wendland. Es geht um die Abschätzung der Siedlungsdichte und der Bevölkerungsgröße anhand der Siedlungsplätze und der Gräberfelder, um zu errechnen, welche Kriegerzahlen rekrutiert werden konnten. Der Autor meint, der Feldzug des Maximinus Thrax hätte in die Altmark geführt.1286 Er listet immerhin für den Untersuchungsraum 813 Katalog-Nummern zu Fundplätzen auf (275 bzw. 355 Siedlungen und 472 Gräberfelder).1287 Außerdem greift er meine Schätzung der Wirtschaftsgröße eines Dorfes von 2 bis 2,5 km Radius auf mit etwa 5 km2 Nutzfläche; und er übernimmt die Anzahl von 10 Gehöften pro Siedlung, wobei er größere Dörfer anführt, so Flögeln mit gleichzeitig 15 bis 20 Höfen oder Feddersen Wierde mit 11 und später mehr Gehöften. Geschätzt werden die Wehrfähigen, ausgehend von zwei Kriegern pro Hof: Bei einem Gehöft im Gesamtgebiet wären das 3096 Krieger, bei 5 Gehöften 15 480 Krieger und schließlich bei 10 Höfen dann 30 960 Kämpfer.1288 Ähnlich werden die Bestattungsplätze ausgewertet. Es geht um die Phasen C1a-C2, etwa von 150 bis 320 n. Chr., ein halbes Jahrhundert oder die Zeit von 5 Generationen. In die Phase C1b (ca. 210–260) fällt das Ereignis am Harzhorn von 235 n. Chr. Ein Besiedlungsrückgang wird konstatiert, erschlossen aus dem Rückgang der Zahlen von Bestattungen. Warum aber die Krieger aus diesem Gebiet gekommen sein sollen und der Feldzug des Maximinus Thrax zu einem Abzug der Bevölkerung geführt hätte, schildere ich weiter unten im Abschnitt Harzhorn. Die geschilderte Dichte der Besiedlung während der Römischen Kaiserzeit beiderseits der Elbe, wie sie Lothar Schulte beschreibt, hat auch Parallelen überall in Germanien. Für die Przeworsk-Kultur für die Zeit vom 2. Jahrhundert v. Chr. bis zur zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts n. Chr. in Niederschlesien.1289 Über 600 Fundstellen sind registriert, auch wenn über einen langen Zeitraum, so liegen die Siedlungen doch auch hier in Sichtweite beieinander und bilden ein dichtes Netz, und zwar in einem Areal von ca. 60 auf 60 km, erfasst mit Hilfe von GIS-Messungen. Aufgelöst nach Zeitphasen zeigen Karten die Lage der Siedlungen zum Relief, den Gewässern und der Bodengüte. Diese Verhältnisse gibt es auch andernorts; mir geht es hier vor
1285 Turčan 2014. 1286 Schulte 2019 mit zahlreichen Karten. 1287 Schulte 2019, 147–178 Liste 1 und 96 ff. Abb. 5 bis 8 und 10. 1288 Schulte 2019, 105 Tab. 2. 1289 Chmielowska 2019, 94 Fig. 2 Karte mit Liste mit über 620 Fundplatz-Nummern; S. C. Schmidt 2019 versucht, die Abstände der Siedlungsstandorte rechnerisch aus Kartenbildern zu erfassen, meist für ältere Epochen, formuliert meine Maße 2,5 bis 5 km nicht speziell; ein Graphik S. 514 Abb. 5 belegt 2,5 km Abstand schon für die Bronzezeit.
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allem um den erneuten Beleg einer außerordentlich dichten Besiedlung. Und das Ende dieser Kultur erfolgte nicht durch eine Änderung der landwirtschaftlichen Faktoren, sondern durch soziale Wandlungen und Bevölkerungswachstum. Mit der weiteren Umgebung sind diese Siedlungen zudem über Handel mit Schiefergestein für Wetzsteine etc. verbunden gewesen. Auf die Bevölkerungs- und Kriegerzahlen der Bataver am linken Niederrhein gehe ich mehrfach ein (vgl. S. 384). Innerhalb der römischen Provinz siedelnd und integriert in die römischen Strukturen wurden sie zu einem besonderen Soldatenvolk, die 5000 Krieger für die römische Armee stellen konnten, bei einer Bevölkerungszahl von 40 000 Menschen. Es wurde somit deutlich, dass sich die bekannte Besiedlung in Germanien fortlaufend verdichtet, nicht nur scheinbar durch die laufenden Forschungen heute, sondern real damals im Laufe der ersten Jahrhunderte n. Chr. Denn Jahr für Jahr werden neue Siedlungen entdeckt und wenigstens teilweise auch ausgegraben und dokumentiert. Die Forschung nähert sich also Schritt für Schritt der tatsächlichen einstigen Besiedlungsdichte immer mehr an. Nun will ich aber auch nicht unberücksichtigt lassen, dass manche Forscher meinen, in einigen Gebieten Germaniens auch langdauernde Siedlungsleeren nachweisen zu können. Das sind nicht etwa die norddeutsch-niedersächsischen Moorgebiete, in denen nicht gut gesiedelt werden konnte, die aber durch die Bohlenwege weitgreifend überschritten wurden. Vielmehr soll die Uckermark strichweise 600 Jahre siedlungsleer gewesen sein. In der Gegend von Harzhorn sind kaum oder keine Gräber bekannt, heißt es. Für die westliche Altmark ist anscheinend ebenfalls ein Bevölkerungsrückgang festzustellen.1290 Für die Zeit der Kämpfe beim Harzhorn des Jahres 235 (Phase C1b) sucht man die germanischen Gegner, wie sah das Einzugsgebiet für die Krieger gegen die Legionäre aus. Es war nach Meinung der Ausgräber auch keine eigentliche Feldschlacht, vielleicht waren die Gegner nur 300 Krieger stark, und germanische Waffen wurden auch nicht gefunden (vgl. unten S. 771), nur römische Sachen, obwohl hier Römer gegen Germanen gekämpft haben sollen. Wie anders sah es zur selben Zeit im Norden aus, wo in Jütland die Kriegsausrüstungsopfer größerer Heereseinheiten Kämpfe zwischen germanischen Verbänden abbilden. Aus wie vielen Siedlungen mussten in den Stufen C1a-C2 (150 bis 300) Krieger zusammengezogen werden, um solche Einheiten aufstellen zu können, bei 2 bis 3 Kriegern pro Gehöft (dazu oben S. 381 und unten vgl. S. 696). Die 300 germanischen Krieger beim Harzhorn müssten dann aus 100 Gehöften rekrutiert worden sein. Das wären bei 20 Gehöften pro Dorf nur fünf Siedlungen, bei 10 Gehöften aber auch 10 Siedlungen; und das wäre bei einem Abstand von 5 km der Dörfer, beim zugehörenden Umkreis einer Siedlung von 2,5 km, eine Kette von 50 km oder eine Fläche von etwa 7 km2. Damit kämen wir wieder auf eine recht dichte Besiedlung im Umkreis vom Harzhorn, auch
1290 Schulte 2019.
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wenn die Dörfer noch nicht alle entdeckt worden sind. Dem halte ich aber gegenüber, dass die Kriegerverbände eben nicht wie Wehrpflichtige aus den Siedlungen eingezogen wurden, sondern dass sich mobile Gefolgschaftsverbände gebildet hatten, mit Kämpfern aus allen möglichen Gegenden, die derartige Kriege führen konnten (vgl. S. 785).
7 Wege zu Land und zu Wasser Ein unabdingbares Element der Strukturierung einer Landschaft sind die Verkehrswege, zu Lande und auf den Gewässern, zwischen den einzelnen Siedlungen sowie über die Landschaften hinweg in die benachbarten Gebiete. Gegenüber den toposartigen Schilderungen von den undurchdringlichen Wald- und Sumpfgebieten in Germanien ist auch für dieses Thema ein anderes Bild zu entwerfen: Die Wälder in den Landschaften sind gerodet, diese sind offen und mit einem dichten Netz von Siedlungen überzogen, für die Wegeverbindungen vorauszusetzen sind.
7.1 Landwege und Wagen Es gab eine Hierarchie von Wegen. Auf einem umzäunten Gehöft mit mehreren Wohnund Wirtschaftsgebäuden führten Wege von Hauseingang zu Hauseingang und durch das Tor auch nach draußen. Auf Gehöftarealen verbanden mit Steinen gepflasterte Wege die Tore im umlaufenden Zaun und die Eingänge in die verschiedenen Gebäude miteinander, wie das für die Siedlung Archsum auf Sylt aus der Römischen Kaiserzeit archäologisch überzeugend nachgewiesen ist1291 (oben Abb. 24) und auch für die befestigte Siedlung Borremose in Dänemark1292 (oben Abb. 30) sowie für das Dorf Myrtue bei Esbjerg mit steingepflasterten Wegen zu den Häusern, datiert um Chr. Geb.,1293 und für das mehrphasige Dorf Vestervig in Nordwest-Jütland mit jeweils Pflasterwegen zwischen den Gebäuden und um die Häuser herum.1294 Dann gab es Wege durch ein Dorf mit regelmäßig angeordneten Gehöftparzellen; zwischen den Zaunverläufen sind manchmal die Wagenspuren noch nachweisbar. Die Siedlungen lagen aufgereiht an Wegen bzw. von Dorf zu Dorf führten nach allen Seiten hin gebahnte Wege, die wie die Dörfer selbst ein Netzwerk bildeten. Wie die einheimischen Wege gebaut waren, illustrieren Befunde in Dänemark, die aber nicht – wie zu lesen – nun ebenfalls wie vieles andere von römischen Wegen inspiriert sein sollen, sondern problemlos auch selbst so erdacht worden sein werden, weil sie wie erläutert häufiger vorkommen.1295 Manche dieser Verbindungen wurden zu Fernwegen. Die Hinweise auf die Bernsteinstraße von der Ostsee bis nach Aquileia am Mittelmeer – eine abstrakte Benennung der Wissenschaft nach den antiken Überlieferungen – oder auf dem mittelalterlichen Hellweg quer durch Mitteleuropa sollen hier genügen. Diese letzteren Wege setzten sich meist aus Teilstrecken zu den Fern-
1291 Steuer 2007a, 355 Abb. 9.1, nach Harck, Kossack, Reichstein 1975, 36 Abb. 3. 1292 Martens 2010a, Abb.; Nørgård Jørgensen 2003, 201 Abb. 10 Wegekonstruktionen. 1293 Stoumann 2000, 122 Abb. 4. 1294 Kaul 2006, 300 Abb. 58 für die Phase 5 von 100 bis 200 n. Chr. 1295 Nørgard Jørgensen 2003, 201 Abb. 10 c und d. https://doi.org/10.1515/9783110702675-015
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7 Wege zu Land und zu Wasser
wegen zusammen, die durch die Siedlungskammern führten und diese mit einander verbanden bzw. die überhaupt auch Teilstrecken von Straßen waren, die Germanien insgesamt durchquerten. In der Zentralsiedlung Gudme sind zum Gräberfeld Møllegårdsmarken mit Stein gepflasterte Wege freigelegt, und weitere Pflasterwege sind gar über C-14 datiert und bezeugen, dass derartig befestigte Straßen schon seit einem Jahrtausend üblich waren, aber nur selten erst archäologisch erschlossen werden konnten.1296 Die Bewohner Norddeutschlands haben außerdem oft mehrere Kilometer lange und sorgfältig konstruierte hölzerne Bohlenwege über Niederungen und Moore von einem Ufer zum anderen gebaut und auch immer wieder erneuert.1297 Sie werden seit 1988 systematisch erfasst, und bis 2013 sind etwa 350 Moorwege dokumentiert worden. Der Holzverbrauch zu diesen Moorwegen war tatsächlich erstaunlich hoch, vom Reisig für die Unterzüge bis zu den schweren Bohlen und Halblingen für den befahrbaren Weg.1298 Die Pfahl- oder Bohlenwege im Großen Moor und im Aschener-Brägeler Moor1299 sowie im Lengener Moor sind mehrfach archäologisch untersucht worden. In den Feuchtböden sind sie bis heute erhalten geblieben. Die daran anschließenden Wege auf festem Boden haben sich dann nicht im Urwald verlaufen, sondern es hat ein gut organisiertes und funktionierendes Straßen- oder besser Wegenetz im germanischen Mitteleuropa gegeben. Diese sorgfältig gebauten Bohlenwege über die großen Moorflächen wurden schon seit der Bronzezeit und kontinuierlich immer wieder neu bis ins Mittelalter über die Römische Kaiserzeit hinweg eingerichtet oder alt ausgebaut und wurden auch von Fahrzeugen benutzt, wie Radspuren belegen.1300 Und das ist nur dann verständlich, wenn man davon ausgeht, dass auf dem trockenen Land selbstverständlich ebenfalls gut befahrbare Wege unterhalten wurden. Ich gehe auch davon aus, dass die pontes longi, die Bohlenwege, die zum Feldzug 15/16. n. Chr. erwähnt werden, von Germanicus nicht gebaut, sondern nur wieder instandgesetzt worden sind.1301 Es waren germanische Verkehrsanlagen, die natürlich vom römischen Militär ebenfalls genutzt worden sind (vgl. Tacitus, Annalen I, 61 und 63).1302 Die römischen Militärs haben jedoch selber Bohlenwege gebaut bzw. Straßen, die auf Bohlenunterlage feuchte Gebiete überbrückt haben, wie
1296 Thrane 2009. 1297 Fansa, Schneider 1996; Both, Fansa, Schneider 1999; allg. auch Fansa, Both (Hrsg.) 2011; Heumüller 2018, 114 Abb. 2 Karte der Moorwege; Heumüller 2019, 23 Abb. 3 Bohlenwege im Großen Moor von 2550 v. Chr. bis 220 n. Chr. 1298 Endlich, Lässing 2007. 1299 Fansa, Schneider 1996. 1300 Bauerochse, Heumüller 2018, 48 Abb. 2 Karte der Moorflächen in Norddeutschland; auch A. Becker 2015, 31 Abb. 4: Moorfläche reduzieren die landwirtschaftliche Nutzfläche. 1301 Anders und als römisch gebaut angesehen Timpe 1989, 103 mit Anm. 38, weil pons eher Dammweg meinen würde; diese Ansicht auch nach Hayen 1989. 1302 Hayen 1989, 25 Abb. 3.
7.1 Landwege und Wagen
391
bei der Darstellung der Reiseroute des Kaisers Claudius von Britannien am Rhein und den Limes entlang nach Süden 43/44 n. Chr. in Bayern geschildert wird.1303 Hajo Hayen hat 1989 eine Zusammenfassung der chronologischen Nachweise von Bohlenwegen, den hölzernen Moorwegen und ihre zeitliche Nutzung erstellt, auch für die ersten Jahrhunderte n. Chr. bis um 500 n. Chr. Von 17 Moorwegen gibt es Daten, die den Zeitraum von der mittleren Bronzezeit (1360 v. Chr.) bis in die Römische Zeit (334 n. Chr.) abdecken, also auch die hier behandelte Epoche in Germanien. Somit sind das wegelose und schwer zu durchdringende Norddeutschland nur ein Vorurteil, und schon seit vielen hundert Jahren war das gut organisierte und genutzte Wegenetz ein allgemeiner Zivilisationsstandard. Nun wurden, gerade erst 2014 veröffentlicht, wieder einmal Bauhölzer von mehreren Moorwegen Nordwestdeutschlands dendrochronologisch untersucht. Bekannt sind allein in Niedersachsen heute über 500 derartige Bauwerke aus dem 5. Jahrtausend v. Chr. bis ins frühe Mittelalter, im Bereich Diepholz sind 20 Moorwege zwischen 3000 v. Chr. und dem 3. Jahrhundert n. Chr. verzeichnet.1304 Eine 2011 ausgegrabene Teilstrecke des 4 km langen Bohlenweges Pr 6 zwischen Diepholz und Lohne datiert in die Jahre 56 bis 43 v. Chr.1305 Beiderseits lagen Wagenräder und lange Messstäbe. Die sorgfältig verlegten Bohlen der Moorbrücke haben an beiden Seiten Aussparungen, um sie auf dem Boden zu befestigen. Der Unterbau besteht aus längslaufenden Hölzern, auf denen dann quer die Bohlen aufgelegt worden sind. Der Weg besteht aus Hölzern der Eiche, Erle, Esche, Birke und Ahorn. Der Bohlenweg durch das Ipweger Moor (Ip 12) ist mit rund 6,5 km der längste in Nordwestdeutschland, datiert in die vorrömische Eisenzeit. Im nördlichen Dümmerbecken sind allein 20 Bohlenwege der Zeit zwischen 3000 v. und dem 3. Jahrhundert n. Chr. registriert. Erstaunlich ist zudem die enorme Dichte, der parallele Verlauf jeweils mehrerer Bohlenwege. Die Moorwege waren teils 2 bis 5 m breit, so dass auf ihnen Wagen sich sogar begegnen konnten. Leider sind die Beziehungen der Wege zu Siedlungen beiderseits der Moore erst in Ansätzen bekannt. Doch kann man davon ausgehen, dass der Bau dieser Wege eine Gemeinschaftsleistung gewesen war und ein beachtlicher Aufwand, nicht nur bei der Gewinnung der Bohlen, betrieben werden musste, nicht zuletzt auch bei der Unterhaltung und Instandsetzung. Diese Bohlenwege waren Bestandteile der überregionalen Wege- und Handelsnetze und spiegeln eine erstaunliche gesellschaftliche Leistung der benachbarten Siedlungsgemeinschaften. Im Gnarrenburger Moor, Ldkr. Rotenburg/Wümme, sind als alte Funde zu Bruch gegangene Räder und Achsen von Wagen nach neuen Grabungen 2018 wieder untersucht worden. Es handelt sich um einen immerhin 5 m breiten Bohlenweg, der erstmals schon während der Bronzezeit gebaut wurde. Darüber liegen dicht unter der Oberfläche Holzbefunde von mehreren weiteren Wegen, die C-14-datiert zwischen 80
1303 Zanier 2018a; 2018b 11 Abb. Reiseroute. 1304 Heumüller, Matthes 2018; Bauerochse, Heumüller 2018. 1305 Heumüller, Matthes 2018, 29 Abb. in Farbe; ein Datum sagt: um 46 v. Chr. erbaut.
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7 Wege zu Land und zu Wasser
v. bis 400 n. Chr. entstanden sind; und hier wurde ein dreiteiliges hölzernes Scheibenrad mit halbmondförmiger Aussparung gefunden.1306 Eine ähnliche Abfolge von Bohlenwegen gibt es beim bronzezeitlichen Moorweg Su 3 im Darlater Moor, mit ein Schichtung der Wege von 1460 v. Chr. bis 180 n. Chr.1307 Manche Moorwege haben also eine sehr lange Geschichte und sind immer wieder – bei wachsendem Moor auch übereinander – neu gebaut worden. Bei Ockenhausen, Ldkr. Leer, gibt es die C-14Datierung um ca. 3500 v. Chr., kalibriert 2010 v. Chr. für einen Bohlenweg, bei dem 2,50 bis 3,00 m lange Rundhölzer im Ober-und Unterbau längs- und quergelegt verbaut worden sind; die Unterkonstruktion bestand aus Erlen- und Birkenstämmen. Nicht so gut mehr erhalten waren die jüngeren Phasen bis in die Römische Kaiserzeit.1308 In der Nachbarschaft wurden bei Karlshöfen 2018 Ausgrabungen nach 1000 Bohrungen durchgeführt und in 2 m Tiefe ein massiv gebauter Pfahlweg untersucht. Die Lauffläche besteht aus quer gelegten runden Stammabschnitten, gespalteten Halblingen, die auf dünnen Unterzügen und einer 30 cm dicken Astlage aufliegen, in 1,70 m Tiefe mit 4 bis 4,50 m Breite, datiert um 2500 v. Chr. Oberhalb fand man dann Überreste eines Weges aus der späten vorrömischen Eisenzeit oder der Römischen Kaiserzeit in nur 24 bis 40 cm Tiefe unter der Oberfläche als 3 m breite Holzlage aus Spaltbohlen und Brettern mit Aussparungen für die Verzapfungen. Die C-14-Datierung weist auf die Zeit zwischen 80 v. und 400 n. Chr. Hier liegen die Bauelemente kreuz und quer durcheinander; es waren entweder Reste von Materialien für einen Bau oder ein absichtlich zerstörter Weg, da auch Brandspuren nachgewiesen sind.1309 Der Moorkomplex bei Aschen, Ldkr. Diepholz, erstreckt sich in N-S-Richtung über fast 50 km und O-W-Richtung mit nur einer Breite von oft nur 2–3 km. Es war eine ausgeprägte Barriere, über die – bis heute entdeckt – 20 Wege aus der Zeit ca. 3000 v. Chr. bis ins 3. Jahrhundert n. Chr. meist an der schmalsten Stelle hinüber gebaut wurden. Der Weg „Pr VI“ hat an einer mehr als 4 km langen Strecke das Moor überquert und ist damit einer der längsten Bohlenwege Norddeutschlands. Zuerst 1817 entdeckt wurde er Ende der 1950er Jahre durch Hayo Hayen und Reinhard Schneider weiter ausgegraben und dokumentiert, dann wieder 1988 und 2001 durch Alf Metzler, und zuletzt fanden Ausgrabungen 2017 statt. Pflöcke sicherten die Bohlen des Wegebelages gegen seitliches Verrutschen, es gibt einen massiven Unterbau; die Dendrodatierungen sagen 51 und 46 v. Chr., auch 60–55 und 43 v. Chr. Mehrfache Reparaturen über zwei Jahrzehnte hat es gegeben.1310 Im Oldenburger Graben in Schleswig-Holstein ist in den Jahren 2017/2018 nun ebenfalls ein Bohlenweg, ein hölzerner Knüppeldamm, gefunden und teilweise aus1306 Heumüller, Hesse 2019. 1307 Bauerochse u. a. 2018, in: Haßmann, Püschel, Schultz (Hrsg.) 2018, 17 Abb. 2 Schichtung der Moorwege. 1308 Endlich, Lässing 2007. 1309 Hesse, Heumüller, 2019. 1310 Heumüller, Jüdes 2017 (2019).
7.1 Landwege und Wagen
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gegraben worden. Doppelreihen aus 2 m langen Holzpfosten und einige hundert Holzstaken, auch querliegende Hölzer die zumeist in die vorgeschichtlichen Epochen zu datieren sind, wurden freigelegt. Dabei wurden außerdem menschliche Schädel sowie Knochen von Schaf, Ziege, Rind und Schwein dokumentiert. Bemerkenswert sind besonders drei hölzerne Wagenachsen aus Eschenholz, aus der vorrömischen Eisenzeit, was die ersten Nachweise vorgeschichtlicher Wagen in Schleswig-Holstein sind.1311 Auch hier liegen wieder über mehrere Meter gestaffelt verschiedene Wegebauten übereinander. Seit den 1960er Jahren bekannt ist der in die Jahrhunderte bald nach Chr. gehörende Bohlenweg durch das Große Bruch bei Dedeleben, Ldkr. Harz, Sachsen-Anhalt, nach früherer C-14-Messung datiert um 200 +/-100 n. Chr. Nachgewiesen über 275 m sind mehr als 130 Pfähle und belegen eine Breite von 5,50 und 6 m. Nahebei ist ein weiterer Moorweg C-14-datiert auf 260 +/-120 n. Chr.1312 Zum Großen Bruch gehören auch die Wegeuntersuchungen bei Beierstedt und Jerxheim. Hier wurden Bohlenwege untersucht, die dann parallel auch eine Ergänzung in einem Steindamm erhalten haben. Diese ergrabenen Befunde sind zwar jünger; sie könnten in derselben Weise aber auch schon in den früheren Jahrhunderten so gebaut worden sein.1313 Die Erforschung frühgeschichtlicher Straßen wurde lange vernachlässigt, und die Wege nicht als archäologische Denkmäler gewertet. Dabei haben Geographen sich regelmäßig für Straßen- und Trassenführungen interessiert, vorgeschichtliche und römische Wegestrecken rekonstruiert, aber sehr selten wurde der Straßenkörper selbst untersucht. Nur römische Straßen fanden die Aufmerksamkeit der Forschung, und nicht nur ihr regelmäßiger und geradeaus führender Verlauf wurde verzeichnet, sondern der kunstvoll aufgebaute Straßenkörper wurde dokumentiert: Manchmal gab es eine Basis aus hölzernen Rundhölzern, wenn es über feuchten Untergrund ging, dann Steinschüttungen und Steinpflaster, auf die ein Sandbelag kam, um das Fahren mit Wagen bequemer zu machen und auch das Reiten für die Pferdehufe angenehmer. Noch beim modernen Straßenbau, z. B. der Reichsautobahn, wurden alte Straßenkörper übersehen, sowohl auf provinzialrömischem Boden als auch in Germanien, obgleich die Trassenführungen über die Jahrhunderte gleich geblieben sind.1314 Die Erschließung Germaniens beim Vordringen der Römer erfolgte auf den innergermanischen Wegen, auf denen die Legionen marschierten, auch zu den Schlachtfeldern von Kalkriese und Harzhorn (vgl. S. 760), und vor allem auch über die Flüsse mit Schiffen.1315 Im Übrigen sollte man sich die Straßen und Wege zur Goethezeit vor Augen führen, die nicht anders waren als im Altertum in Germanien. Die frühneuzeitlichen 1311 Briel 2019, 62. 1312 Schulte 2019, 133 mit Lit. und Kat. Nr. 813. 1313 Bernatzky, Heske 2005 mit Abb. 1314 Berg-Hobohm 2016, 397 Abb. 1 und 2. 1315 Ch. Schäfer 2009, 204 ff. zu innergermanischen Wegen.
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7 Wege zu Land und zu Wasser
Poststraßen bestanden streckenweise aus Knüppeldämmen, auf die Sand gestreut war, und manche waren schon mit einem Steinpflaster versehen. Da fuhr man aber sehr unruhig, sodass bei trockenem Wetter die sogenannten „Sommerwege“ neben den gepflasterten Strecken vorgezogen wurden. In dem Aufmerksamkeit fordernden Buch von Ulrich Raulff aus dem Jahr 2015 „Das letzte Jahrhundert der Pferde“ hat der Autor auch die noch unbefriedigenden Straßen- und Wegeverhältnisse der Goethezeit thematisiert: „Der reisende Goethe hingegen registrierte die Verschlechterung der Wege, die mit dem Wechsel des Landes oder der Konfession verbunden waren“, und was die Kutsche ins Schleudern brachte.1316 Und „jede Kutsche erzählt von einer Landschaft, mit der sie ursprünglich verbunden ist, von Handwerkern, die seit Generationen ein Wissen von Holzsorten und Metallen, von der Qualität der Zugtiere und den Anforderungen der Straße gesammelt haben“.1317 Zwar gibt es einige überlieferte Wagen und auch Wagenteile aus Germanien (vgl. unten S. 395), aber diese erlauben nur bedingt Rückschlüsse auf verschiedene Typen von Fahrzeugen oder Kutschen und auch nicht den Schluss auf den Zustand der Straßen, mit Ausnahme der Bohlenwege; und diese entsprachen durchaus „römischem“ Niveau. U. Raulff fiel auch auf, dass unsere Straßen bis heute oft willkürlich erscheinende Kurven und Richtungsänderungen aufweisen, die manchmal nach der Topographie geführt worden sind, aber mehrheitlich alte Besitzverhältnisse der Landeigner berücksichtigt haben, weshalb der Ursprung dieser Strukturierung der Landschaft (vgl. unten S. 810) in ferner Vergangenheit gesucht werden muss. Es ist also davon auszugehen, dass in Mitteleuropa außerhalb bzw. parallel zum Römischen Reich ein ausgebautes vielgliedriges Straßen- und Wegenetz bestanden hat. Alle Kartierungen von Siedlungsplätzen und von verteilten Sachgütern zeigen, dass jeder Ort in Germanien erreicht worden ist, zu Land und zu Wasser.1318 Diese Situation ist übrigens auch für die Merowingerzeit noch in derselben Weise zu belegen, denn Importgüter aus dem Mittelmeergebiet oder aus anderen fernen Gebieten wie Byzanz gelangten – wie die Beigabenaustattungen in den Reihengräberfeldern des 6./7. Jahrhunderts zeigen – in jede dörfliche Siedlung, auch in anscheinend noch heute verkehrsungünstig gelegene Orte.1319 Sogar Wegemarken, ob im Sinne von Meilensteinen oder als Kultbilder zum Schutz der Reisenden, sind beiderseits hölzerner Bohlenwege erhalten geblieben. Solche sind an der 3,4 km langen und 3,30 m breiten Brücke über das Wittemoor in der Wesermarsch aufgestellt gewesen, ausgegraben 1965 (Abb. 37).1320 Die Bretterbohlen wirken mit ihrer herausgeschnittenen Profilierung wie die schematisierten Bilder eines Mannes und einer Frau, datiert um 135 v. Chr. 1316 Raulff 2018, 60. 1317 Raulff 2018, 150. 1318 Siegmüller 2015; Siegmüller, Precht, Jöns 2015. 1319 Drauschke 2011. 1320 Steuer 2006g.; Nikulka 2019, 188 f. mit Farbbild 3.
7.1 Landwege und Wagen
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Abb. 37: Der Moorweg über das Wittemoor mit den stilisierten Menschenfiguren an den beiden Seiten.
Die Wege wurden nicht nur bei Transporten zu Fuß genutzt oder von Pferden als Reittiere und Rindern als Lasttiere, sondern auch von zwei- und vierrädrigen Wagen. Die Bohlenwege waren in vielen Fällen tatsächlich für Wagen befahrbar, was Abnutzungsspuren bezeugen; und bei Fernwegen war es sinnvoll, die Spurweiten der Fahrzeuge überregional anzugleichen, was auch hier gegeben war, wie Radspuren und gefundene Achsen bezeugen. Ausgrabungen haben nachgewiesen, dass die Wagen für derartige Wege weiträumig dieselbe Spurweite der Räder hatten, womit indirekt auch die Weiträumigkeit des Verkehrs überliefert ist. Auch Wagen selbst, zum Beispiel vierrädrige, sind in dänischen Mooren erhalten geblieben. Die beiden Wagen aus dem Moor von Dejbjerg1321 in Jütland spiegeln zwar keltischen Einfluss, was an den bronzenen Beschlägen abgelesen wird, gehörten in die Zeit um Chr. Geb., doch gibt es inzwischen zahlreiche Parallelfunde, die P. O. Schovsbo zusammengestellt und kartiert hat.1322 Vielleicht sind die Wagen von Dejbjerg gar nicht importiert, sondern im Norden selbst hergestellt worden; denn Teile der Ornamente aus Eisen sind nicht aus Bergerzeisen in Zentraleuropa, sondern aus heimischem Mooreisen gefertigt worden.1323 Es wird von Import, von Umwandlungen und verarbeiteten Anregungen von außen gesprochen.1324
1321 C. J. Becker 1984; Schovsbo 2010; Kaul 2009b. 1322 Schovsbo 1987; 2009, 154 Karte der Wagen in Dänemark; 2010. 1323 Kaul 2007, 341 ff. 1324 Schönfelder 2010.
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Werden die Dejbjerg-Wagen gern mit kultischen Vorgängen – erinnert sei an den bei Tacitus überlieferten Nerthus-Kult (vgl. S. 638) – in Zusammenhang gebracht, so gehören andere Wagenräder eher zu rein profanen Fahrzeugen. Die Umfahrt des Bildnisses der Göttin Nerthus beschreibt in der antiken Schriftüberlieferung den Gebrauch von Wagen bei den Germanen. Auf den Bohlenwegen haben zudem, so im geschilderten Weg über das Wittemoor, zahlreiche Wagenfahrten ihre Spuren hinterlassen. Zerbrochene Räder liegen beiderseits des Weges im Moor. In bergigen oder hügeligen Gebieten entstanden Hohlwege, oft als ganze Bündel, die steile Strecken markieren und durch vielfaches Befahren zu tiefen Rinnen im Gelände führten, die bis in die Gegenwart erhalten geblieben sind und befahrbar auch wieder nur dann waren, weil überregional der Radabstand, die Spurweite, gleich oder wenigstens sehr ähnlich war. Wagenräder sind zudem auch als Opfergaben in Mooren versenkt worden, wie im Moor von Rappendam auf Seeland, gefunden 1941, insgesamt 63 Wagenteile (40 Scheibenräder oder Teile davon, 18 Naben oder ebenfalls Teile davon und einige Achsenteile).1325 Im Zuge der Erforschung römischer Marschlager in Germanien aus der Zeit der frühen Germanenkriege ist es heute anscheinend möglich, Wegeverbindungen über die verlorengegangenen römischen Sandalennägel zu kartieren, wie das für den Döttenbichl bei Oberammergau, das Umfeld von Hedemünden und für das sogenannte Schlachtfeld am Harzhorn in Niedersachsen eindrucksvoll belegt wird. Doch hat sich auch gezeigt, dass natürlich nicht nur römische Soldaten, sondern auch germanische Krieger derartige genagelte Schuhe trugen, so wie sie auch „römische“ Waffen oder Pionieräxte eingesetzt haben.1326 Die Kartierung von Schuhnägeln auf Wegen belegt somit eigentlich nur die regelmäßige Benutzung dieser Trassen (zu den Schuhnägeln vgl. weiter S. 623 ff.). Es ergeben sich natürliche, sinnvolle Trassen, die von der Archäologie schon vorher vermutet worden waren, die aber nun durch den Marsch des römischen Militärs oder germanischer Krieger bestätigt worden sind. Die Truppenteile marschierten eben dort, wo solche Wegeführungen bestanden. Es ist bekannt, dass der Marschweg des Varus am Fuße des Kalkrieser Berges entlang ebenfalls eine wichtige Überlandverbindung war. Es ist bei derartigen Kriegen denn auch üblich, dass die militärischen Einheiten beim Marsch auf den Wegen durch die Dörfer sich aus dem Raum heraus versorgten und diese Dörfer dann oftmals vernichteten. Man zog also aus diesem Grund durch dicht besiedelte Landschaften, um sich leichter versorgen zu können. Immer wieder flüchteten sich die Bewohner Germaniens mit ihrem Vieh und Vorräten dann in die Wälder. Das klingt wie ein Topos, denn bis in die Neuzeit verhielten sich die Bauern so, wie Hermann Löns für die Zeit des Dreißigjährigen Kriegs schildert oder auch Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen im Simplicius Simplicissimus
1325 Kunwald 2003, 136 Abb. 16 Rekonstruktion der Wagen; Burmeister 2007a, zum Wagenbau. 1326 Geschwinde u. a. 2013, 283.
7.1 Landwege und Wagen
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oder auch Wilhelm Raabe im „Odfeld“.1327 Hermann Löns hat in seinem Roman „Der Wehrwolf“ beschrieben, wie die Dorfbevölkerung bei Celle in Niedersachsen vor den marodierenden Kriegerverbänden während des späten Dreißigjährigen Krieges sich inmitten eines Bruch bei einem „alten Ringwall“ eine Befestigung gebaut haben, mit vertieften Gräben und erhöhten Wälle und spitzen Pfählen in der Grabensohle. Aus dem Hinterhalt griffen sie die kleineren Soldatenhaufen an und vernichteten sie. Wilhelm Raabe schildert eine Episode beim Kloster Amelungsborn im Braunschweigischen während des Jahres 1761 im Siebenjährigen Krieg, mit Rückblick auf Verhältnisse im Dreißigjährigen Krieg, wie sich die Klosterbewohner in die Wälder vor der Soldateska zurückzogen und auf den Höhen und in Höhlen versteckten, ausgerüstet mit den nötigen Vorräten. In die Wälder führten anscheinend keine offenen Wege. Die antiken Autoren schrieben, dass die römischen Truppen Schwierigkeiten bei ihren Märschen zu militärischen Einsätzen in der Germania gehabt hätten. So heißt es beim Rückmarsch der Legionen des Varus, dass sie in einen Hinterhalt gerieten und wegen der engen Wegeführungen durch dichte Wälder den germanischen Kriegern schutzlos ausgeliefert gewesen wären; sie hätten ihre Stärke als Legionäre wegen mangelnder Aufmarschmöglichkeiten nicht entfalten können. Geht man davon aus, dass diese Truppen tatsächlich durch den Engpass zwischen dem Kalkrieser Berg und den nördlich anschließenden Moorgebieten zogen und dort vernichtet wurden, dann bietet die realistische geographische Lage den ersten Beleg für die Schilderung eines Vorurteils durch die alten Schriftsteller. Die Landschaft um Kalkriese war – wie gesagt – dicht besiedelt. Die Reste germanischer Gehöfte sind nahebei ausgegraben worden. Die Funde aus allen Epochen bis in ins Mittelalter und die Neuzeit setzen sich aus Objekten zusammen, die sich von der Ausrüstung von Reitern, Fußgängern, von Wagen und allgemein von der Kleidung gelöst haben und zufällig verlorengingen: Schmuckstücke, Schnallen und Pferdezeug. Von einer engen oder verborgenen Wegeführung kann also keine Rede sein. Es handelt sich um eine der üblichen Fernstraßen durch Germanien, die von der geographischen Situation vorgegeben und genutzt wurden. Ich denke auch, dass der Rückweg der Legionen des Maximinus Thrax 235 n. Chr. am Harzhorn vorbei die alte Trasse zwischen Berg und Niederung nutzen wollten; denn hier führte zu allen Zeiten die Fernstraße durch und heute noch die Autobahn. Es gibt seit langem zahlreiche Studien, die sich mit den Wegetrassen der ur- und frühgeschichtlichen Epochen befasst haben. Meist ging es um den Verlauf der Wege, selten um die konkrete Untersuchung einer Straßentrasse. Die Wegeverläufe seit der Bronzezeit bis ins Mittelalter wurden und werden an der Linie der bronzezeitlichen
1327 H. Löns, Der Wehrwolf. Eine Bauernchronik (Jena 1910; 1923) 90; weiterhin H. J. C. Grimmelshausen, Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch (1668/69, Frankfurt a.M., Hamburg1962); Wilhelm Raabe, Das Odfeld (1888, Frankfurt a.M. und Hamburg 1962).
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Grabhügel in Schleswig-Holstein bis in die Wikingerzeit akzeptiert.1328 Noch der sogenannte Ochsenweg zur Viehtrift von Jütland bis nach Westfalen in der Neuzeit nimmt denselben Verlauf, der sich zudem von der topographischen Struktur angeboten hat. Die Nutzung während der Römischen Kaiserzeit scheint dadurch gesichert zu sein. Eine vergleichbare Wegeführung bestand auf der Hohen Lieth östlich der Weser in Richtung des heutigen Cuxhaven zwischen Feddersen Wierde und Flögeln, wo ebenfalls Reihen von Grabhügeln die verschiedenen Wegestrecken begleiten.1329 Die Verkehrswege der vorrömischen Eisenzeit und Römischen Kaiserzeit im nördlichen Mitteleuropa ist als Netzwerk erarbeitet worden.1330 Anhand des Handelsgutes Mühlsteine aus Mayener Basalt vom Römischen Reich nach Germanien und deren Verbreitung hat J. Enzmann die Transportrouten rekonstruiert und bestätigen können, was eigentlich naheliegend ist, wie vom Rhein aus die Flüsse hinauf nach Osten Zugangswege waren und ebenso von der Nordseeküste die Ströme aufwärts.1331 Im Binnenland wurden die Flüsse selbstredend in beiden Richtungen mit Schiffen befahren, so von der Nordsee bis weit ins Landesinnere und vor hier aus in Gegenrichtung auch bis zur Küste. Die römischen Vormarschwege während der augusteischen Okkupationsversuche flussaufwärts durch Westfalen und Niedersachsen sind nicht nur indirekt durch die Lager und Kastelle belegt, sondern müssen zudem auch regelmäßig gangbar gewesen sein, um den Marsch der Legionen zu bewältigen. Das betrifft den Marsch der Legionen des Varus zwischen dem Kalkrieser Berg und dem Großen Moor hindurch, der nicht – wie erläutert (vgl. S. 170) – durch finsteren Wald führte, sondern durch offene Landschaften mit bäuerlichen Siedlungen; und dieser Fernweg war seit jeher und bis in die Neuzeit eine wichtige Strecke. Dasselbe trifft für die Passage zu Füßen des Harzhorns zu (vgl. S. 773).1332 Diese Marschwege für Römer und Germanen sind in Südniedersachsen bei Hedemünden nicht nur durch eine Kette von Siedlungen belegt, sondern auch durch die Sandalennägel, die von Metalldetektoren lokalisiert geborgen werden konnten. Wege sind Landschaftselemente,1333 und Wegenetze bildeten immer einen raumstrukturierenden und kulturlandschaftlichen Zusammenhang, auch während der Jahrhunderte um und nach Chr. Befestigungen und Wallburgen waren in ein Wegenetz eingegliedert. Dabei sind Flussübergänge und Furten nicht zu vergessen. Es gab regelhaft mit Holz, Schotter oder Stein befestigte Wege in Germanien, wenn sie auch selten archäologisch direkt erfasst worden sind. In Siedlungen sind wenigstens mehrfach Radspuren erkannt worden, und Spurweiten konnten vermessen werden. In der Sied1328 Willroth 1986; 1996. 1329 Siegmüller 2015, 176 Abb. 2; wieder bei Enzmann 2019, 147 Abb. 76. 1330 Schlüter 2007. 1331 Enzmann 2019, 170 Abb. 85 Karte. 1332 Timpe 1995 zu Geographie und politischer Entscheidung der Römer. 1333 Denecke 2007, 636 f., 642.
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lung Overbygård (vgl. S. 375) liegen die Häuser beiderseits einer Wegeführung mit überlieferten Radspuren.1334 Mit Steinen gepflasterte Wege in Siedlungen sind oben beschrieben worden (vgl. S. 390). In Risby auf Seeland sind in der Überquerung einer Niederung zahlreiche Wegezüge ausgegraben worden, und die Wegebauten verschiedener Zeiten liegen mehrfach unmittelbar übereinander, Bohlenwege des 8. bis 9./10. Jahrhunderts, fünf steingepflasterte Wege ab 1000 n. Chr., weshalb weitere Wege in der Tiefe vermutet werden dürfen, auch aus der Römischen Kaiserzeit.1335 Vergleichbares gilt für die Hellwegrouten quer durch Westfalen, die moderne Zentren, Städte, miteinander verbinden,1336 an deren Trassenverläufe archäologisch zahlreiche Siedlungen archäologisch belegt sind, und direkt am Hellweg wurde außerdem z. B. der Dortmunder Goldschatz entdeckt (vgl. S. 519).1337 Eine Gesellschaft wie die der germanischen Völkerschaften hatte überregionale Kontakte und konnte sich über einen organisierten Handel mit den gewünschten Luxus- und Alltagsgütern versorgen, die nicht im eigenen Gehöft oder in der eigenen Siedlung hergestellt wurden. Es bestand sogar Austausch quer durch ganz Germanien zwischen den Bevölkerungsgruppen und auch mit den Provinzen des Römischen Reichs. Es geht um den Zustand und die Herrichtung dieser Wege und Straßen. Sie unterschieden sich durchaus von den organisierten, gepflasterten, mit begleitenden Gräben versehenen Römerstraßen, an denen zudem Meilensteine standen, wie Wegweiser mit Entfernungsangaben. Aber jede Erinnerung an das frühere 20. Jahrhundert z. B. in Norddeutschland und in der Lüneburger Heide lässt die sog. Sommerwege neben gepflasterten, holprigen Straßen aufscheinen, auf denen es bequemer war, bei trockenem Wetter neben den mit Steinen gepflasterten Straßen auf diesen sogenannten Sommerwegen zu fahren. Ähnlich kann man sich die Fernwege und Verbindungen zwischen den Siedlungen zur germanischen Zeit vorstellen. Ohne reguläre Straßen zogen vierrädrige Planwagen mit mehreren Pferdegespannen viele Tagereisen in Kolonnen im „Wilden Westen“ Nordamerikas immer weiter nach Westen und überwanden schwierige Geländeabschnitte und Flüsse. Nebenbei sei bemerkt, dass man auch – wie die Legionen – zu Fuß marschieren konnte und dazu nicht unbedingt gut hergerichtete Wege brauchte. Der Migranten-Treck im Jahr 2018 aus dem südamerikanischen Staat Honduras überwand bis zum Grenzzaun Mexiko/USA zu Fuß mehrere tausend Kilometer. Die römische Welt ist bekannt für ihr exzellentes Straßennetz, die schnurgerade Entfernungen überbrückten und dabei die schwierigen topographischen Gegeben-
1334 Lund 2003, 415; Denecke 2007, 634. 1335 Steuer 2003g. 1336 Ludowici 2010, 335 Fig. 1 Hellwegrouten. 1337 Meinecke, Schilp 1999, 316 f.; auch Denecke 2007, 641.
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7 Wege zu Land und zu Wasser
heiten nicht immer umgingen, sondern überwanden. Aber wie sah es mit den Vormarschwegen für diese römischen Legionen bei ihren zahlreichen Feldzügen ins Innere Germaniens aus? Da musste sich das Militär mit den vorhandenen Wegeführungen begnügen. Nur manchmal hat es – wie oben angedeutet – vorhandene Bohlenwege instandgesetzt, um sie auch für die eigenen Truppen nutzen zu können. Gut informiert sind wir über die Vormarschstraßen entlang der Flussläufe ins Innere Germaniens, ausgehend von den Kastellen und Marschlagern an den Grenzen. Die Nachweise der Landwege vom römischen Mainz zum Lager Marktbreit sind ein Beitrag zur Wegeforschung.1338 Mit Methoden der digitalen Analysen mit GIS wird in den letzten Jahren versucht, in Germanien Wegetrassen nachzuweisen. Der hier zitierte Beitrag von A. Volkmann betrachtet das jedoch sehr einseitig nur aus römischer Sicht, wie man nämlich in Germanien das Siedlungsgebiet am mittleren Main erreichen und inmitten das Kastell Marktbreit ausbauen konnte (vgl. S. 106).1339 Das große Kastell war nur wenige Jahre von 5. bis 9 n. Chr. besetzt. Die Entfernung zwischen dem römischen Gebiet und dieser Siedlungskammer betrug vom Westen immerhin 100 km. Doch alte Wege in Germanien konnten benutzt werden: Die Landroute von Mainz nach Marktbreit beträgt 168 km, was fünf Tagesmärschen mit täglich bis zu 30 und 40 km bedeutet hat. Eine weitere Route von Gernsheim betrug nur 148 km, also etwa vier Tagesmärsche. Die Route von Süden, von Augsburg her, war wesentlich weiter. Nun konnte man auch per Schiff auf dem Main nach Marktbreit kommen, was etwa 275 km ausmachte und in drei Tagen geschafft werden konnte, da Schiffe rund 100 km zurücklegten. Diese Angaben schildern zwar die Möglichkeiten für das römische Militär, nach Marktbreit zu kommen, geben aber keine Auskünfte über bestehende Wegeverbindungen in Germanien selbst. Hingewiesen sei aber darauf, dass die Flüsse auch ohne Brücken durch Furten überschritten wurden; auffällig sind die zahlreichen Siedlungsnamen an Flüssen, die mit der Silbe -furt enden; wenn ihre Nachweise auch meist aus jüngerer Zeit stammen, bleibt die topographische Situation jedoch gegeben. Im Übrigen war es kein Problem in Germanien, Brücken auch über Bäche und Flüsse zu bauen; sie sind nur nicht erhalten geblieben, wie die Bohlenstege, die vom Moor überwachsen wurden. Es muss daher eigentlich nicht besonders betont werden, dass im Gegensatz zu den geradeaus verlaufenden gepflasterten römischen Straßen mit gefestigtem Untergrund die Bohlen- und Sandwege in Germanien den marschierenden Legionen primitiv vorkamen. Aber derartige Wege dienten in Mitteleuropa bis in die Zeit Napoleons für den überregionalen Verkehr, für Postkutschen und Reisewagen sowie auch für Truppenbewegungen, ehe man besser die Eisenbahn benutzte. Damit kann zusammengefasst werden, dass das Wege- und Straßengefüge in Germanien voll aus-
1338 Vorwerk 2010/11. 1339 Volkmann 2015.
7.1 Landwege und Wagen
401
gebildet war und als vielfach verknüpftes Netz diesen gesamten mittel- und nordeuropäischen Raum überspannt hat. Es war nur anders als das römische Wegenetz, weshalb das Vorurteil entstand. Denn es gab anscheinend keine Schwierigkeiten für vorrückende römische Truppen, kreuz- und quer durch Germanien zu marschieren. Es klang nur besser in den Ohren der römischen Leser dieser Berichte darüber, wenn größere Schwierigkeiten zu überwinden gewesen waren. Dasselbe trifft wie erläutert für das immer wieder erwähnte Wetter mit katastrophalem Regen zu, der herhalten musste als Erklärung, wenn römische Einheiten eine Niederlage erlitten bzw. keinen Sieg errungen hatten. Archäologen kartieren gleichartige Sachgüter, seien es Schmuckstücke (Gewandnadeln, die Fibeln zum Beispiel), Waffentypen oder Keramikformen. Die Verteilung dieser Sachen in kleinerem Umkreis, oft als Wirkungskreis von Werkstätten gedeutet, und die größere Entfernung mancher Fundorte vom Dichtezentrum eines Sachguts – dann als Niederschlag von Handels- oder auch Heiratsbeziehungen erklärt – spiegeln die unterschiedliche Reichweite der Kontakte und damit verschiedene Netzwerk, die ohne funktionierende Wegeführungen nicht entstanden wären. Die Verteilung beispielsweise römischer Luxusgüter, von Silber- und Bronzegefäßen bis zu Terra Sigillata-Geschirr in ganz Germanien bezeugt, dass jede Siedlung von Kaufleuten mit Waren (bzw. von zurückgekehrten Kriegern mit Beute) erreicht worden ist. Es brauchte damals anfangs keine Zentralorte für die Verbreitung und Versorgung der landsässigen Elite, sondern man war informiert und konnte über weite Bereiche hinweg für die Beschaffung mit Waren sorgen. Mit zunehmender Zahl und Großflächigkeit der Ausgrabungen wird dieses Bild immer dichter und spiegelt Regelerscheinungen. Ob einheimische Händler oder römische Fernkaufleute, sie alle zogen kreuz und quer durch Germanien, versorgten – zuerst die Elite – mit speziellen Luxusgütern und transportierten auch die örtliche Überproduktion beispielsweise von Eisen in andere Gebiete, wo Bedarf dafür bestand. Allerlei Sachgüter wie Keramik und Schmuck wurden von einem Herstellungsort aus nach allen Seiten verteilt, über Handel oder auf andere Weise, aber sicherlich transportiert auf Wegen. Die erwähnte Terra Sigillata kommt in der Zone vor dem Limes häufiger vor als in fernen Gebieten an der Ostsee, aber erreichte auch diesen Raum; andere römische Sachgüter wie Bronzegefäße kamen weit in den Norden bis Norwegen und diesmal dann sicherlich auf dem Wasserwege über das Meer. Eigentlich ist es eine Selbstverständlichkeit, dass durch Germanien Fernwege und breite Straßen überall hin führten. Allein die Märsche der römischen Legionen mit ihrem umfangreichen Tross aus Wagen und Tieren quer durch Germanien bis an die Elbe und zurück, die tatsächlich stattgefunden haben, belegen das. Die Wegeverhältnisse blieben in Germanien bis ins 19. Jahrhundert so; auch Napoleons Massenheere bis nach Russland schafften die Märsche auf den damaligen Wegen: Und erst unter Napoleon wurde begonnen, mit Steinen befestigte Straßen auszubauen, wozu in Norddeutschland zahlreiche neolithische Großsteingräber zerstört und zu Blöcken zerkleinert wurden, um mit diesen Wege zu pflastern.
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7 Wege zu Land und zu Wasser
7.2 Wasserwege und Schiffe Nicht zu unterschätzen sind die Wasserwege auch im Binnenland, die Binnenschifffahrt für den allgemeinen Verkehr und den Austausch von Waren.1340 Damit sind zwar auch die Küstengebiete und die großen Ströme wie Ems, Weser, Elbe, Oder und Weichsel gemeint, aber gerade auf den kleinen Flüssen oder Bächen verliefen der Transport von Waren am einfachsten, zumal wenn es um größerer Lasten ging. Es wird leicht übersehen, dass auf diesen Wasserstrecken mit kleinen Booten, auch Einbäumen, ein vielfältiger Verkehr bestand; denn zumeist waren Flüsse keine Hindernisse oder gar Territorialgrenzen, sondern vielmehr entscheidende Kommunikationsstrecken. Ströme wie Rhein und Donau wurden erst von Rom als Grenzen etabliert und waren zuvor und danach die besten Handelswege.1341 Die nicht wenigen Funde von Schiffen und Booten auch aus den ersten Jahrhunderten n. Chr. in den mitteleuropäischen Gewässern belegen diese Nutzung. Auch Flößerei hat es gegeben; immerhin wird vermutet, dass die Massenfunde aus den Rheinkiesen von Hagenbach und Neupotz (vgl. S. 535) von verunglückten Flößen stammen. Bei der Schilderung der Heeresausrüstungsopfer im Ostseegebiet begegnen uns wieder als Beute versenkte Kriegsschiffe.1342 Boote dienten gar als Ersatz für einen Sarg bzw. als ranghöhere „Bestattungsbehältnisse“, und bei der Schilderung der Landwehren in Jütland und den dänischen Inseln wurde schon auf die Seesperren dieser Zeit hingewiesen, wie sie beispielsweise bei der Insel Alsen archäologisch untersucht worden sind und die sicherlich zur Abwehr feindlicher Schiffe oder als Flottenbasis für die eigenen Schiffe gedient haben. Was wussten zudem die Römer über das Stromgebiet der Elbe, anscheinend kannten sie den Fluss und fuhren ihn hinauf in der Okkupationsphase.1343 Wasserwege haben ihre große Rolle deshalb gespielt, weil man auf dem Wasser größere Lasten transportieren konnte als auf dem Land (und das ist heute noch so); denn fast alle kleineren Flüsse waren mit Ruderbooten befahrbar, was man ihnen gegenwärtig nicht mehr zutraut. An den Küsten der Nord- und Ostsee gab es Landeplätze in regelmäßigen Abständen, die bei einer Tagesfahrt an der Küste entlang überwunden werden konnten;1344 zugleich wurden Landeplätze auch an der Mündung der größeren und kleineren Flüsse ins Meer gegründet. Die Archäologie hat eine Reihe davon entdeckt und ausgegraben.1345 Auf Amrum ist ein Landeplatz und Ufermarkt des 5. Jahrhunderts im Zuge der Handelsroute vom Rhein bis zum Limfjord untersucht
1340 Teigelake 2003. 1341 Dobesch 2005. 1342 Rau (Hrsg.) 2013 und darin auch Rieck 2013; dazu M. H. Hermanns, Bonner Jahrb. 214, 2014 (2015), 467–470. 1343 Johne 2012. 1344 Rieck 2003a allgemein zur Schifffahrt in der Nordsee. 1345 Scheschkewitz 2010, 291 Fig. 2 Karte der Landeplätze an der Nordseeküste zwischen Elbe und Ems mit 24 Orten.
7.2 Wasserwege und Schiffe
403
worden.1346 Zuvor aus dem 1. bis 4. Jahrhundert sind an dieser Nordseeküste kaum Funde, auch nur wenige römische Sachen entdeckt worden.1347 Immerhin gab es an der Westküste, auf Sylt die Erdwerke wie Archsumburg und Tinnumburg sowie in Jütland Trælbanken (vgl. oben S. 325),1348 und die Inseln wurden mit Schiffen erreicht. Im Wesermündungsgebiet, im schon angesprochenen Raum um die Feddersen Wierde und Sievern, hat es während der Römischen Kaiserzeit und der Völkerwanderungszeit zwischen der Wurtenkette und dem Geestrand Bootslandeplätze gegeben, und in deren Nähe liegen auch die Ringwälle Heidenstadt und Heidenschanze.1349 Alle Flusssysteme, die Elbe mit ihren Nebenflüssen, die Donau mit der March, die Oder oder die Weichsel waren zu allen Seiten Transportwege auch für den Handel. Die Routen auf Flüssen vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer werden thematisiert, um die schon und später wieder erwähnten Beziehungen zwischen Skandinavien und beispielsweise dem Südosten bis zur Krim zu begründen.1350 Die Elbe war für den Handel, u. a. mit Keramik, und der allgemeinen Kommunikation der Bevölkerung zwischen Sachsen und Böhmen bedeutend.1351 Abgesehen von den ethnischen Zuweisungen der Bewohner in der Region nördlich und südlich des Erzgebirges gibt es archäologisch einwandfreie Beziehungen, auch wenn versuchte ethnische Deutungen des Fundmaterials kaum möglich sind (vgl. S. 58 ff.).1352 Im Norden sollen Hermunduren gesiedelt haben,1353 südlich marbodzeitliche Markomannen und Quaden in Böhmen. Archäologisch gesehen gibt es einen breiten Gürtel entlang der Elbe mit einheitlichen Bestattungsformen (Brandgräber) und Gefäßkeramik, die über 700 km ähnlich erscheint, den Siedlungsraum der elbgermanischen Kultur.1354 In dieser Zone bis weit in den Süden ist die rollrädchenverzierte Keramik verbreitet (dazu vgl. S. 438), und zwar durchaus in mehrphasigen Siedlungen. Bei den Gräberfeldern gibt es ebenfalls Verwandtes. In Sachsen ist Prositz bei Meißen aus der älteren Römischen Kaiserzeit ein gutes Beispiel. Von 113 Brandbestattungen enthielten einige als Beigaben Waffen, Trinkhornbeschläge und bronzene Importgefäße, Spiegel einer wohlhabenden Oberschicht; in Böhmen ist das Gräberfeld von Tišice bei Mělník vergleichbar. In Sachsen ist Liebersee zwischen Torgau und Riese (vgl. S. 291) von der jüngeren Bronzezeit bis ins 7. Jahrhundert n. Chr. belegt. Etwa 40 Brandbestattungen werden in die ältere Römische Kaiserzeit datiert, und als Beigaben fanden sich massive schwere Augenfibeln, für die eine Pro-
1346 Segschneider 2002. 1347 Jöns 2009b, 408. 1348 Harck, Averdieck 1990. 1349 Jöns 2009b, 395 Abb. 1. 1350 Kazanski 2013 und auch 2011. 1351 Salač 1998; 2011; Jiřík 2012 mit Blick auf die Anfänge der Baiern. 1352 Rupp, Salač 2018; Salač, Ender 2019. 1353 Springer 2009: Zwischen Hermunduren und Thüringern gibt es keinen Zusammenhang. 1354 Salač 1998, 577 Abb. 1 Karte zur latènezeitlichen Feinkeramik im sächsischen Elbegebiet.
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7 Wege zu Land und zu Wasser
duktion in Böhmen unter Beteiligung römischer Handwerker gesehen wird. In Liebersee gibt es außerdem norisch-pannonische Fibeln, durchbrochene Gürtelbeschläge und bronzene Achterschnallen, die vor allem südlich der Donau und in Böhmen vorkommen. Die Vermittlung bzw. Verteilung dieser Sachgüter nördlich und südlich des Gebirges wird entweder schrittweise erfolgt sein, von Ort zu Ort über nachbarschaftliche Kontakte, oder über direkte Fernkontakte. In Sachsen-Anhalt gibt es drei Fürstengräber vom Typ Lübsow; das sind Bornitz, Quetzdölsdorf und auch Schladitz, ein früh im 19. Jahrhundert in großer Tiefe entdecktes Ensemble römischer Bronzegefäße. Böhmen war anscheinend dichter besiedelt als Sachsen (doch ist auch das wieder der Stand der Forschung): Es gibt die großen Gräberfelder wie Třebusice bei Kladno mit 900 Gräbern, Dobřichov-Pičhora bei Kolin mit 131 Gräbern, dazu sogar ausgedehnte Siedlungen in Mlékojedy bei Mělník, Soběsuky bei Chomutov und Trmice bei Ústí n. L. In der jüngeren Römischen Kaiserzeit nimmt der römische Import in Sachsen an Vielfalt und Quantität zu, in Männergräbern finden sich römische Fibeln, Militärgürtel oder Waffen. Ob der Hinweis auf die Markomannenkriege oder den Fall des obergermanisch-raetischen Limes (in den Jahren 259/260) als Erklärung über diese Ereignisgeschichte sinnvoll ist, bleibt unsicher. Eher sollte direkt von der Archäologie ausgegangen werden, um neue Gesellschaftsstrukturen mit der Haßleben-LeunaGruppe im 3. Jahrhundert zu sehen, die jedoch wiederum nur als neuartige Grabsitte gewertet werden darf. Auch gibt es solche Elitebestattungen ebenfalls in Böhmen, wo es vor allem Frauengräber sind. Im Bericht über diese Fernbeziehungen entlang der Elbe über das Gebirge heißt es, dass nach 700 Jahren eine Siedlungslücke verschwand, weil die beiden Lausitzen wieder aufgesiedelt wurden, eine unglückliche Beschreibung des Forschungsstandes. Aber von den Lausitzen gibt es klare Bezüge zur Przeworskund zur Wielbark-Kultur. Der bisher bestehende elbgermanische Formenkreis löst sich auf, Sachsen tendiert nach Osten, Böhmen nimmt eher Einflüsse aus dem Donauraum auf anstatt aus dem elbgermanischen Norden. Während der älteren Römischen Kaiserzeit spielte Böhmen also eine Vermittlerrolle von Süden nach Norden, ablesbar an den norisch-pannonischen Trachtbestandteilen, die nach Sachsen gelangten. Offen ist, ob personenbezogene Kontakte oder Handels- bzw. Beutegut für die Verteilung gesorgt haben. Noch einmal, wahrscheinlich waren es sowohl Fernbezüge, als auch Kontakte von Nachbar zu Nachbar, die für den Austausch gesorgt haben. Entscheidend aber war, dass die Elbe als Achse die Verbindungen geschaffen bzw. unterstützt hat. Rhein, Main und Donau und das System der Nebenflüsse zu diesen Strömen boten Wassertransporte für Lasten aller Art und Güter auf größeren und kleineren Binnenschiffen. Über die römischen Schiffe auf Rhein und Donau und dem unteren Main weiß man recht gut Bescheid. Wasserfahrzeuge auf dem weiteren Verlauf des Mains aus dem 1. bis 5. Jahrhundert und auch über Hafen dieser Epoche gibt es wenigstens einige Hinweise,1355 auch wenn die meisten Belege erst ab dem 6. Jahrhundert einset-
1355 Kröger, Werther 2017, 250 Abb. 1 Kartierungen, 261 Tab. 2 Befunde auch des 1.–5. Jahrhunderts.
7.3 Landeplätze an Flussufern und Meeresküsten
405
zen. Doch nach der Rückverlegung der römischen Grenzen an Rhein und Donau nach der Mitte des 3. Jahrhunderts kommen auch die anderen ehemals römisch genutzten Flüsse für Bootsfunde in Frage. Doch fehlen Untersuchungen bzw. sind mir nicht bekannt geworden. Wie größere Schiffe seinerzeit gebaut waren und ausgesehen haben, belegen die Funde aus den Kriegsausrüstungsopferplätzen vom frühen Opfer bei Hjortspring aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. und denen von Nydam aus dem 3./4. Jahrhundert n. Chr. sowie weiteren versenkten Booten (vgl. unten S. 716). Über die Verbreitung von Sachgütern, gefunden als Beigabe in Gräbern oder auch in Siedlungen unmittelbar beiderseits großer Ströme, ist die Bedeutung der Wasserstraßen erkannt und wird hervorgehoben.1356 Im hier zitierten Beitrag geht es um die Weichselroute. Kartiert sind Metallsachen von der Küste die Weichsel aufwärts (oder umgekehrt) im 5. Jahrhundert, die Memel/Njemen-Berezina Route aufwärts während der Völkerwanderungszeit und auch die Düna/Dvina Route.
7.3 Landeplätze an Flussufern und Meeresküsten „Dass die Weser und ihre Nebenflüsse während der Römischen Kaiserzeit die wichtigsten Kommunikationsadern zwischen dem Imperium und den germanischen Stämmen im heutigen Nordwestdeutschland gebildet haben, konnten u. a. bereits Berger (1992) und Erdrich (2002) herausstellen“, meint Hauke Jöns.1357 Die Flüsse waren die Einfallstore für römisches Militär von der Nordsee aus ins Innere Germaniens; an den Flüssen, die in den Rhein mündeten, wie Lippe bis Lahn, marschierten die Legionen gen Osten aufwärts. Die großen Flüsse im nordwestdeutschen Küstengebiet waren während der Römischen Kaiserzeit für die Bevölkerung in Germanien höchst wichtige Verkehrsadern und Gütertransportwege; in Ufernähe gibt es Plätze, die metallfundreich ihre Nutzung bezeugen, z. B. an der Mündung der Aller in die Weser. In diesen Siedlungen sind Metallverarbeitungsreste, Fibeln, Münzen und Bruchstücke römischer Importgegenstände in größerem Umfang nachgewiesen.1358 Beispielshaft dafür gilt die Siedlung bei Elsfleth-Hogenkamp, die archäologisch untersucht worden ist, sowohl mit Metalldetektor als auch mit ersten Ausgrabungen. Sie liegt an der Schnittstelle zwischen der nordseeküstennahen Gruppe und dem rhein-weser-germanischen Kulturkreis. Anhand der Keramik ist eine Nutzung des Platzes von der älteren vorrömischen Eisenzeit bis in die Völkerwanderungszeit belegt, also für fast 1000 Jahre. Es gibt römische Importkeramik, Terra Sigillata, 79 Fibeln und Fibelfragmente der jüngeren vorrömischen Eisenzeit bis ins frühe
1356 Kazanski 2013. 1357 Jöns 2009a, 30 Abb. 18; ähnlich Jöns 2009b, 399. 1358 Siegmüller 2015; Siegmüller, Precht, Jöns 2015, 191.
406
7 Wege zu Land und zu Wasser
6. Jahrhundert n. Chr., immerhin 183 römische Münzen vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis 5. Jahrhundert n. Chr., wobei Münzen des 2. Jahrhunderts vorherrschen (vgl. oben S. 226). Eine Pionieraxt wird häufig als Beleg für die Anwesenheit römischen Militärs gesehen,1359 wobei aber nichts dagegen spricht, dass auch einheimische Handwerker solches Werkzeug benutzt haben. Der Platz scheint eine zentralörtliche Funktion gehabt haben, wofür die Masse der Metallfunde spricht. Im Weser-Hunte-System entstand aufgrund dieser verkehrsgünstigen Lage am Wasser die Siedlung Elsfleth während der Römischen Kaiserzeit, in deren Hinterland an der Hunte eine dichte Lage von weiteren Siedlungsplätzen registriert worden ist.1360 Über die Zeiten hinweg war auch die Position an der Emsmündung ausgewählt worden für Landeplätze und Ufermärkte.1361 Man sprach gar von römischer Präsenz aufgrund vieler römischer Objekte, auch Münzen, im Bereich von Jemgumkloster und Bentumersiel (vgl. S. 221). Hier wurden von 1970 bis 1973 und wieder 2006 bis 2008 Grabungen durchgeführt. Die Befunde datieren ins 3. Jahrhundert v. Chr. bis zum 4. Jahrhundert n. Chr. Aufgefallen sind die römischen Militaria aus der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr., so dass man daraus auf die Anwesenheit von Legionären schloss. Der größte Teil der römischen Keramik und der Metallsachen gehört an das Ende des 1. Jahrhunderts und in das 2. sowie 2./3. Jahrhundert. Die Funde spiegeln also einen germanisch-römischen Kontakt über 300 Jahre. Das zeigt auch nahebei ein reich mit römischen Bronze- und Glasgefäßen ausgestattetes Brandgrab des 3./4. Jahrhunderts.1362 Zur Siedlung gehören neben Speichergebäuden auch drei dreischiffige Häuser von 12 m Länge ohne Stallteile, und zwar auf ebener Erde, während in unmittelbarer Nähe die kaiserzeitlich besiedelte Wurt Jemgumkloster liegt. Diese Siedlung wurde als Flachsiedlung im 2. Jahrhundert v. Chr. gegründet und als Wurt vom 1. bis 8. Jahrhundert fortlaufend erhöht. Der Unterschied wird darin gesehen, dass Bentumersiel nur ein Landeplatz in der Sommerzeit war, in der es keine Hochfluten gab, vor der sich das ständige Dorf schützen musste. Bohruntersuchungen haben einen ehemaligen Priel erkannt, an dem die Siedlungen gelegen haben, dessen Uferlinien mit Flechtwerk gesichert waren, um einen Landeplatz für Boote zu haben. Ein weiteres Brandgrab enthielt eine silberne Riemenzunge, wie Vergleichsstücke auch in den Opfermooren von Thorsberg und Nydam sowie im Weichselgebiet gefunden worden sind, und da sie in Norddeutschland sonst nicht vorkommen, wird dieses Stück als Hinweis auf Fernverbindungen der Kaufleute betrachtet.1363 Nahebei lag zudem bei Westerhammrich eine Siedlung des 2. bis 4. Jahrhunderts mit einem Werkstattareal für Buntmetallverarbeitung, unter den Sachgütern wurde eine Mars-Statuette gefunden (vgl. S. 221). 1359 Mückenberger u. a. 2014, 183. 1360 Jöns 2009b, 400 Abb. 2. 1361 Siegmüller 2011. 1362 Ulbert 1977; Jöns 2009b, 404; Mückenberger, Strahl 2009. 1363 Jöns 2009b, 405; 2019 für die nachfolgende Zeit.
7.3 Landeplätze an Flussufern und Meeresküsten
407
Die Position, Struktur und Funktion der Landeplätze und Ufermärkte im 1. Jahrtausend entlang der Weser sind von A. Siegmüller und H. Jöns mehrfach analysiert worden.1364 Die Funddichte an römischen Importgütern in Flussnähe belegt diese wirtschaftliche Situation. Eine Beziehung und Organisation zur und durch die Elite liegt nahe: In Elsfleth-Hogenkamp an der Huntemündung, in Leer-Westerhammrich und in Bentumersiel an der Ems, Freiburg an der Elbe oder Holtorf-Lunsen an der Weser spiegelt dieses hohe Metallfundaufkommen die Lage der Ufermärkte mit Produktionsstätten von Handwerkern. Es sind Flussmündungen, Furten und Brücken, die als Schnittstellen von Land- und Wasserwegen zum Umladen von Gütern in den Jahrhunderten n. Chr. gedient haben.1365 Dazu gehören auch Plätze im Binnenland, so am Hellweg. Eine Siedlung des 1. Jahrtausends von Gehrden am Hellweg, noch in Niedersachsen, hat einen Schwerpunkt von 2./3. bis in das 6./7. Jahrhundert. Hier wurden 40 römische Münzen, zumeist Denare, Terra Sigillata-Scherben, Fragmente von bronzenem römischen Trinkgeschirr, Gagatschnitzereien mit Löwe oder Panther von einem römischen Messergriff, im 4./5. Jahrhundert Hunderte von Scherben sogenannter Hannoverscher Drehscheibenkeramik aus lokaler Produktion nach römischem Vorbild gefunden. Buntmetallschrott diente zur Weiterverarbeitung; 60 Grubenhäuser sind ausgegraben, auch Pfostenspeicher und Langhäuser, darunter eine Halle mit 300 m2, die aber wohl erst im 5. Jahrhundert errichtet worden war, nachdem die Siedlung schon 250 Jahre bestanden hatte. Haustiere waren wie üblich, Rind, Schwein, Pferd, Schaf und Ziege; auffällig viele Wildschweinkiefer unter den Schlachtabfällen weisen auf Jagd als Standesvergnügen hin. Diese Siedlung liegt rund 220 km vom Limes entfernt am Hellweg. Ebenso wird die schon anderweitig beschriebene Siedlung von KamenWestick hier eingeordnet, ein Knotenpunkt im Wegenetzwerk. Die Ausgrabungen der 1930er Jahre und der Jahre 1998 bis 2001 haben 10 000 m2 untersucht. Das größte Langhaus hier ist 7,5 m breit und 48 m lang und gehört ins 4. Jahrhundert. Fibeln mit kastenförmigem Nadelhalter, Stützarmfibeln und Haarpfeile der Typen Wijster und Fécamp des 4. und frühen 5. Jahrhunderts wurden hier gefunden, die sonst noch zwischen Rhein und Weser und Nordostgallien vorkommen, außerdem mehr als 1000 römische Münzen. Der Metallverarbeitung dienten zerschnittene römische Metallgefäße, bei den einheimischen Fibelformen im 2. und 3. Jahrhundert überwiegt Messing, bei den späteren Fibeln Zinnbronzen (vgl. auch S. 463 ff.). Ebenso sind die frühen Markt- und Handelsplätze an den Küsten in Südskandinavien kartiert worden.1366 An den Küsten sind vielerorts Strandmärkte entstanden. Ein Beispiel des 5. Jahrhunderts liegt auf der Insel Amrum und damit an der Handelsroute 1364 Siegmüller 2013; Siegmüller, Mückenberger 2017; Siegmüller, Jöns 2011; 2012; Jöns, Mückenberger 2016; Jöns 2019b. 1365 Siegmüller, Bartelt, Könemann 2019. 1366 Ulriksen 2004; Böhme 2001.
408
7 Wege zu Land und zu Wasser
der Völkerwanderungszeit zwischen dem Rhein und dem Limfjord in Nordjütland. Der Beleg für den Fernhandel sind Scherben rheinischen Glases.1367 Auf weitere derartige Plätze wird andernorts noch eingegangen (vgl. S. 601 ff.). Es ist also zusammenfassend davon auszugehen, dass es in Mitteleuropa außerhalb bzw. parallel zum Römischen Reich ein ausgebautes vielgliedriges Straßen- und Wegenetz gegeben hat und ebenso ein intensiv genutztes System von Wasserwegen. Alle Kartierungen von Siedlungsplätzen und von verteilten Sachgüter zeigen, dass jeder Ort in Germanien erreicht worden ist, was ich nicht oft genug wiederholen kann. Archäologisch sind die Transport- und Kommunikationswege durchaus zu erschließen, d. h. für die ersten Jahrhunderte n. Chr. reicht der Einfluss der gesellschaftlichen Elite weit über ihre Nachbarschaft hinaus. Die Wege verbinden nicht nur die Siedlungen an der Küste, in der Marsch und auf der Geest nahe der Nordsee miteinander, sondern auch über allgemeine Mobilität hinaus auch die fern liegenden Gebiete. Und das ist auch im gesamten Raum Germanien so gewesen. Beim Blick auf die Verbreitung und weiten Verteilung von Luxusgütern, nicht nur von römischen Importsachen, wird sich zeigen, dass zwischen den Eliten im gesamten Germanien eine intensive Kommunikation bestanden hat, dass diese Beziehungen gewissermaßen ein weitgespanntes, eng zusammenhängendes Netz widerspiegeln (vgl. S. 969 ff.).
1367 Segschneider 2002.
8 Wirtschaft, Handwerk, Technik und Alltag 8.1 Landwirtschaft 8.1.1 Allgemein Es gibt einige ältere Handbücher über die Landwirtschaft in Germanien,1368 die noch zu Rate gezogen werden können,1369 neben den zahleichen einschlägigen Artikel im RGA. Die Landwirtschaft in Norddeutschland seit der vorrömischen Eisenzeit erläutern K.-E. Behre,1370 im mittleren Deutschland U. Willerding;1371 im zentralen Germanien allgemein P. Donat1372 und R. Urz.1373 In Germanien herrschte eine Agrarorganisation, die sich grundlegend von der in den römischen Provinzen unterschied und schon seit Jahrhunderten so gewesen ist und für weitere Jahrhunderte blieb. Der Limes markierte bis in die spätrömische Zeit die Trennlinie für die landwirtschaftliche Grundproduktion zwischen dem römischen Gutshof, der villa rustica, und der germanischen Gruppensiedlung, dem Zusammenschluss mehrerer Wirtschaftseinheiten zu einem Dorf. Der Hintergrund waren verschiedene Rechtsverhältnisse. Seit dem 4./5. Jahrhundert breitete sich das Dorf als Basis des ländlichen Wirtschaftens mit den einwandernden Germanen auch nach Westen aus, in die Gebiete ehemaliger römischer Provinzen. Die Gebiete mit Dorfstrukturen zeigten sich als besonders innovationsbereit und -fähig, agrartechnische Verbesserungen kamen nach Nordgallien mit der in diesen Räumen fassbaren, übernommenen Dorforganisation. Auch im neuen Siedlungsgebiet der Alemannen breitete sich nach Rückzug der römischen Verwaltung dieses System der Dörfer aus und bildete den Hintergrund für technisch fortschrittliche Züge im Gerätebestand, was zum Beispiel die Sensenformen, den bodenwendenden Pflug – seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. an der Nordseeküste bekannt – und die Wassermühle meint, was nur vor dem Hintergrund der neu organisierten dörflichen Strukturen erklärbar ist. So könnte man für die Dörfer des 1. bis 4. Jahrhunderts in Germanien zurückprojizierend auch mit einer größeren wirtschaftlichen Potenz dieser Gemeinschaften rechnen, als gemeinhin angenommen.1374 Mit Zunahme der Geländeforschungen, der Siedlungsgrabungen und der Auswertung der archäobotanischen und archäozoologischen Quellen, die nun regelhaft 1368 Benecke, Donat, Gringmuth-Dallmer, Willerding 2003. 1369 Lüning, Jockenhövel, Bender, Capelle 1997; Brakensiek, Kießling, Troßbach, Zimmermann (Hrsg.) 2016. 1370 Behre 2008; 2010. 1371 Willerding 2003; 2006. 1372 Donat 2003. 1373 Urz 2016. 1374 Hägermann 2004; Henning 1985; 2004b. https://doi.org/10.1515/9783110702675-016
410
8 Wirtschaft, Handwerk, Technik und Alltag
geborgen werden, wurde es möglich, regionale Entwicklungen der Landwirtschaft zu erkennen und zu beschreiben. Die Landwirtschaft der Rhein-Weser-Germanen1375 oder der Germanen in Hessen und Mainfranken sind bekannt. Die Schilderung der Vegetationsentwicklung in der Wetterau und im Lahntal hat durch den Vergleich der palynologischen Ergebnisse eine Diskrepanz zwischen den Ergebnissen der Pollenanalyse und der Archäologie erkennen lassen.1376 Ehe tatsächlich realistisch die Geschichte der Landwirtschaft in Teilgebieten geschildert werden kann, muss die Forschung ihr methodisches Vorgehen noch weiter überprüfen. Bei den naturwissenschaftlichen Methoden ist zu beachten, dass die Pollenanalysen aus Mooren nur kleinräumige Aussagen über die nähere Nachbarschaft machen; es kommt auch auf die Art der Pollen an, manche haben die „Gewohnheit“, sehr weit bei entsprechendem Wind zu fliegen. Die Großreste-Analysen der Pflanzen werten die Funde aus den Siedlungen selbst aus. Eine weiterführende Methode bietet die Anthrakologie, die Holzkohlen-Analysen. Leicht wird übersehen, dass winzige Holzkohlepartikel in Siedlungen und Gräbern ausgewertet werden können. Es müssen nicht Grubenmeiler oder andere aufgebaute Meiler sein, deren Holzkohle-Reste über den Pflanzenwuchs der Umgebung Aussagen bieten. Mit den naturwissenschaftlichen Methoden der sogenannten Pollenanalyse und der Makrorest-Untersuchungen werden sowohl das Pflanzenkleid der natürlichen Umwelt, als auch die angebauten Feldfrüchte bestimmt. Im Pollendiagramm wird erfasst, welche Blütenstaubmengen von welchen Pflanzen in zahlreichen übereinander abgelagerten feinen Erdschichten erhalten geblieben sind, und das sich ändernde prozentuale Verhältnis der Pollenanteile sagt aus, wieviele Bäume und welcher Wald jeweils in der Umgebung gestanden haben, welche Unkräuter die Wege und Feldränder säumten und welche Getreidearten, Hülsenfrüchte, Wiesenkräuter in der Umgebung der Siedlung in welchem Jahrhundert oder gar in welchem Jahrzehnt angebaut worden sind.1377 Im Laufe der vier Jahrhunderte verbesserte sich die Züchtung des Viehbestandes, neue Getreidesorten wurden eingeführt, vor allem Roggen, der besser zum Klima passte, weil er im Herbst auszusäen war. Die Einführung der Dreifelderwirtschaft erhöhte die Nahrungsmittelproduktion. Die Entwaldung und das weite Offenland, verbunden mit der Zunahme der Siedlungsplätze, spiegeln ein immenses Bevölkerungswachstum, was durchaus zu einem Wanderungsdruck geführt haben mag.
1375 Kalis, Meuers-Balke, Stobbe 2013. 1376 Stobbe 2000, 215–217. 1377 Willerding 2006, 487 Tabelle: Zahl der nachgewiesenen Unkräuter.
8.1 Landwirtschaft
411
8.1.2 Ackerbau Die Bauernhöfe im Dorfverband hatten als komplexes System ein besonders effektives wirtschaftliches Profil. Ein breites Spektrum an Geräten für die Landwirtschaft bis hin zu Pflügen ist aus den Siedlungen überliefert. Auch der Wendepflug ist in den ersten Jahrhunderten n. Chr. eingesetzt worden – nicht nur der oft den Germanen noch ausschließlich zugeschriebene primitive Haken als Gerät zur Bearbeitung des Ackers. Sogar die gewendeten Schollen sind in einem Ausgrabungsprofil bei der Feddersen Wierde von Archäologen erkannt worden. Auch die Düngung der Äcker war üblich, mit Mist und Mergel, sodass die Ackerflächen mehrfach genutzt werden konnten, ehe sie als Brache zur Erholung des Mineralienbestandes liegengelassen werden mussten. Ein Vorurteil war aber und ist, dass nur der primitive Hakenpflug gebräuchlich gewesen wäre, der tatsächlich für leichte Sandböden vorteilhaft ist, weil damit im Gegensatz zu dem schollenwendenden Pflug die zu starke Austrocknung des Bodens verhindert wurde, während bei schwereren Böden die Schollenwende für Durchlüftung und Nährstofftransport sorgt. Den Ackerbau in Norddeutschland in urund frühgeschichtlicher Zeit auf der Geest und in der Marsch hat W. H. Zimmermann ausführlich beschrieben, auch mit den überlieferten Ackergeräten.1378 Das Anwachsen der Wohn- und Wirtschaftsbauten, der Gehöfte und der gesamten Siedlungen von der vorchristlichen Zeit bis ins 4./5. Jahrhundert ist Ergebnis der intensivierten Landwirtschaft und Viehhaltung; denn mehr oder weniger dieselben Wirtschaftsflächen erbrachten – nicht nur nach Einführung neuer Düngeverfahren, sondern auch wegen besseren Saatguts – einfach mehr Erträge. Angela Kreuz hat im Jahr 2000 anhand von elf Fundplätze mit germanischen Funden in Hessen und Mainfranken, auch im Wetterauzwickel, die Landwirtschaft geschildert, also in den germanisch-römischen Kontaktzonen.1379 Die wichtigsten Getreide der germanischen Fundstellen waren Hirse, Gerste und Emmer, doch Dinkel und Nacktweizen fehlten; Linse und Erbse, Leindotter als Ölpflanze wurden angebaut, aber eigentliche Gartenkulturpflanzen fehlten ebenfalls.1380 Wichtig zur Beurteilung des Standes der Landwirtschaft ist die Frage, ob die Kulturpflanzen als Sommer- oder als Winterfrucht angebaut worden sind; Hülsenfrüchte und Ölpflanzen, auch die Hirsearten und der Saathafer sowie Emmer werden im Sommer angebaut. Auch die Gerste ist eine Sommerfrucht; bei Kelten und Römern wurden als Wintergetreide Dinkel und Nacktweizen angebaut; denn Wintergetreide bringt höhere Erträge. Zugleich ist die Futterbeschaffung für die Haustiere zu beobachten. Bei Sommerfruchtanbau sind die Brachen von Mitte/Ende August bis Ende Februar zu beweiden (sofern kein Schnee liegt); im Sommer ist auch die Wachstumsdauer kürzer, nach
1378 W. H. Zimmermann 1995b, 306 Abb. 7. 1379 Kreuz 2000, 223 Abb. 1 Lage der Siedlungen. 1380 Janssen, Willerding 1997, 453; Willerding 1992, 355 ff.
412
8 Wirtschaft, Handwerk, Technik und Alltag
weniger als einem halben Jahr gibt es einen Ertrag; Kohlehydrate liefern die Getreide (zu 60–70%) und/oder Hülsenfrüchte (zu 45–60%). Im Grenzgebiet zu den römischen Provinzen zeigt sich im Gegensatz zur Landwirtschaft der Germanen, dass Nacktweizen und Dinkel für die römische Bevölkerung zusätzliches gutes Brotgetreide geliefert haben. Aber, und das ist unter meinen Zielsetzungen in diesem Buch zu beachten: „Germanische Fundstellen erbrachten nirgendwo archäobotanische Hinweise auf eine römische oder mediterrane Beeinflussung der betriebenen Ackerbausysteme“. Die Überlegung von S. v. Schnurbein, dass die Scherbenfunde römischer Reibschalen der Hinweis auf „mediterrane Speisezubereitung“ seien, wird von A. Kreuz abgelehnt; denn das Entscheidende an den Reibschalen ist, wie der Name sagt, die rauhe Innenfläche der Schalen, was aber bei den Funden in germanischen Siedlungen gar nicht der Fall ist. A. Kreuz fragt weiter: „Gab es im germanischen Raum leistungsfähige Anbausysteme, deren besteuerbare Überschüsse einen militärisch gestützten, römischen Herrschaftsapparat tragen konnten?“ Das sei kaum vorstellbar, weshalb dies ein Argument sei, warum Rom Germanien nicht mehr erobern und zur Provinz machen wollte. Man kann das auch anders sehen; denn die Zunahme der Gehöftgrößen im Laufe der Jahrhunderte n. Chr. spiegelt zugleich einen Anstieg der Produktionsgrößen dieser Betriebe. Im Jahr 2018 hat A. Kreuz erneut eine Summe über die Erkenntnisse zur frühgermanischen Landwirtschaft geboten.1381 Sie beginnt mit dem Vergleich der Bodenarten, wo Löss zur Verfügung steht und wo mehr oder weniger nur Sand, und weist darauf, dass der Niederschlag, also Regen, im Osten Germaniens immer geringer war als im Westen. Anhand der botanischen Funde in der Siedlung Marsberg 23 (vgl. unten S. 415) können keltische Pflanzenreste gegen germanische Pflanzen verglichen werden. Es ist hier kein Kulturwandel zu erkennen.1382 Der Anbau von Roggen ist eine germanische Erfindung, weil er an Sandböden gebunden sei, ähnlich wie Hafer, dafür verschwindet Dinkel; denn Dinkel ist schlecht zu ernten mit Sichel oder Sense. Die Spelzgerste wurde in Germanien statt Nacktgerste von den Kelten übernommen. Nacktweizen war anspruchsvoll und wurde daher abgelehnt. Es wandelt sich das Verhältnis von Sommer- zur Winterfrucht. War das Verhältnis bei den Kelten 0,9:12 und bei den Römern 2,2:1 demgegenüber bei den Germanen wieder 4,1:1. Die Drehmühle wird, wenn es um die Mühlsteine aus der Eifel geht, aus dem Römischen übernommen (vgl. S. 1133 f.). Der Lein und Färberwaid wurden genutzt. Auffällig ist, dass Gartenbau nur in römischen Gebieten vorkommt, nicht im (heutigen) Hessen bei den Germanen. Darüber kann diskutiert werden, weil vielleicht auf den Gehöftflächen nebenher Gartenpflanzen und Obstbäume standen. Immerhin hat M. Rösch ausführlich erörtert, dass die Alemannen einen vielfältigen Gartenbau kannten und bildet eine Fülle von Pflanzen ab (Bohnenkraut, Sellerie, Koriander, Petersilie, Dill,
1381 Kreuz 2018; auch ausführlich 2004. 1382 Abegg, Walter, Biegert 2011, 361/368.
8.1 Landwirtschaft
413
Mangold, Kohlsorten, Flaschenkürbis, Zitronenmelisse u. a. m.)1383 Doch meint auch er, dass bei germanischen Gruppen weiter im Norden (noch) archäologische Nachweise fehlen würden, was bedeuten würde, der Gartenbau sei von den Römern übernommen worden. Das spricht entweder, so meine Meinung, dass Kontinuitäten von neuen Bewohnern an übernommenen Siedlungen dazu beigetragen hätten, oder der Kontakt über den spätrömischen Limes hinweg könnte geholfen haben, auch diese Facette landwirtschaftlichen Verhaltens zu lernen. Die Rolle des Kernobstes muss beobachtet werden. Apfelbäume wurden schon im Neolithikum (zwar noch nicht gezüchtet) gepflegt und intensiv genutzt; daran erinnere ich. Die Germanen nahmen und nutzten alle Gehölzarten: Eiche und Rotbuche, betrieben aber auch Niederwaldwirtschaft. Ein Ziel war die Öffnung der Wälder, um Vieh wie Schweine besser hineintreiben zu können. Nachgewiesen ist, dass Germanen Eicheln gegessen haben, diese und andere Sammelpflanze wegen der Vitamine. A. Kreuz betont, dass für Rom Germanien eine komplett fremde Welt war, in sich geschlossen über Jahrhunderte hinweg, auch, dass Germanen zwar Wein importiert haben, aber vieles andere bewusst nicht. In die Siedlung Gaukönigshofen (vgl. S. 1068) gelangte Wein in Tannenfässern (sofern das tatsächlich nachgewiesen ist und die Fässer nicht nur Container zum Transport anderer Sachen waren). Schon was die Kelten hatten, wollten die Germanen nicht in ihrem sonst stimmigen System. Welche Art von Brot aßen die Germanen? Hatten sie Gewürze, zum Süßen verwendeten sie Honig. Vor allem hatten sie ausreichende Fleischnahrung; und die Stallhaltung des Viehs nutzten sie zusätzlich wegen des Düngers für die Felder. Das meint A. Kreuz und nicht etwa wegen der Kälte im Winter, was richtig sein könnte; denn zuerst herrschte wie erläutert ein Klimaoptimum in Germanien (vgl. S. 168 ff.). K.-E. Behre widmete sich 2010 der Vegetation und Landwirtschaft während der vorrömischen Eisenzeit in der Norddeutschen Tiefebene.1384 Es geht um die Suche nach Änderungen in der Zusammensetzung der Kulturpflanzen. Die Kulturpflanzen sind in den Epochen von der Jungbronzezeit bis in die Römische Kaiserzeit erfasst (Tabelle 3): Emmer geht zurück, Spelzgerste bleibt, Rispenhirse nimmt zu, auch Saathafer, und vor allem Roggen kommt zusätzlich auf. Die Gerstensorten, Emmer und Rispenhirse waren die Hauptgetreide, ergänzt durch Lein, Leindotter sowie Erbse und Pferdebohne. Um 100 n. Chr. verschwand die kultivierte Nacktgerste und wurde durch Roggen ersetzt; denn Roggen wurde das neue Brotgetreide. Was die Vegetation in der Landschaft angeht, so standen während der vorrömischen Eisenzeit im Norden vor allem Eichenwälder, die Kiefer kam im Nordosten dazu, auch die Linde, aber mit geringerem Anteil. Erst später kamen die Buche und die Hainbuche hinzu. Die Menschen änderten den Wald, weil sie ihn vielfältig nutzten. Die Wälder wurden durch Waldweide und Laubfutterentnahme aufgelichtet; es kam in manchen Landstrichen
1383 Rösch 2006 mit zahlreichen farbigen Abb., 171. 1384 Behre 2010, 57–59 mit Diagrammen bzw. Tabellen.
414
8 Wirtschaft, Handwerk, Technik und Alltag
Tabelle 3: Die wichtigsten Kulturpflanzen zwischen Jungbronzezeit und Römischer Kaiserzeit in dem Norddeutschen Tiefland (Behre 2010, 58, Tab. 1). JBZ
Vorrömische EZ frühe
Röm. Kaiserzeit
späte
–800
+0
+100 Triticum dicoccon
Emmer
NW NO
∙∙∙ ∙∙∙
∙∙ ∙∙
∙ ∙∙∙
° ∙∙
Nacktgerste
NW NO
∙∙∙ ∙∙
∙∙∙∙ ∙
∙∙∙∙ ∙∙
∙∙
Spelzgerste
NW NO
∙∙∙∙ ∙∙∙∙
∙∙∙∙ ∙∙∙
∙∙∙ ∙∙∙∙
∙∙
∙∙∙∙ ∙∙∙∙
Hordeum vulgare
Nacktweizen
NW NO
∙
∙ ∙
∙ ∙
° ∙∙
° ∙∙
Triticum aestivum s. l.
Dinkel
NW NO
∙
Rispenhirse
NW NO
∙ ∙∙
∙ ∙
∙∙ ∙∙
∙∙
∙∙ ∙
Panicum miliaeceum
Saathafer
NW NO
cf. cf.
∙ cf.
∙ cf.
∙∙
∙∙ ∙
Avena sativa
Roggen
NW NO
° ∙
∙
∙
∙∙∙ ∙∙∙
Secale cereale
°
Erbse
NW NO
∙
∙
∙ ∙
∙ ∙
Pisum sativum
Linse
NW NO
∙∙
∙
∙
Pferdebohne
NW NO
∙ ∙∙
∙ ∙
∙∙ ∙∙
∙∙
∙∙ ∙
Vicia faba
Lein
NW NO
∙ ∙
∙∙
∙∙ ∙∙∙
∙∙ ∙∙
∙∙ ∙∙
Linum utisatissimum
°
NW NO
∙ ∙
∙ ∙
∙ ∙
∙
∙∙
Camelina sativa
Leindotter
∙
° ∙∙ ∙∙
Hordeum vulgare nudum
Triticum spelta
cf.
Lens culinaris
zur Verheidung. Der Ackerbau ist durch die Ausbildung der Kammerfluren auf armen Böden belegt, sichtbar in den celtic fields. Das machte eine intensive Humus- und Mineralbodendüngung zusätzlich nötig. Vielleicht kann ich dazu bemerken, was den heutigen Medien zu entnehmen ist,1385 dass der Emmer oder das Zweikorn als unterschätztes Getreide wieder modern geworden 1385 Beispielsweise cfr, Unterschätztes Korn: der Emmer. Badische Zeitung, 15. März 1919.
8.1 Landwirtschaft
415
ist. Als älteste kultivierte Getreideart im Vorderen Orient angebaut, wurde diese Art seit vielen tausend Jahren von Menschen als ein Grundnahrungsmittel genutzt. Der Emmer ist sehr widerstandsfähig und enthält mehr Eiweiß und Mineralstoffe als Weizen und Dinkel, die demgegenüber deutlich ertragreicher sind und deshalb den Emmer lange Zeit verdrängt haben. Ulrich Willerding hat 1980, 1992 und 2006 die Landnutzung in der späten vorrömischen Eisenzeit, um Chr. Geb. und für die Römische Kaiserzeit im Inneren Germaniens beschrieben.1386 In zahlreichen Tabellen, die hier nicht alle referiert oder abgebildet werden können, hat er die Pflanzenreste aus der Vorrömischen Eisenzeit und der Römischen Kaiserzeit in den unterschiedlichen Natur- und Kulturräumen zusammengestellt und die landwirtschaftliche Nutzung anhand der Kulturpflanzen und der Ernährung beschrieben.1387 An Getreidearten gab es Gerste, Rispenhirse, Emmer, Saatweizen, Roggen, Hafer und Einkorn mit unterschiedlichen Häufigkeiten, an Hülsenfrüchten wurden die Ackerbohne, Erbse und Linse angebaut sowie der Lein. Nicht übersehen werden sollten die gesammelten Wildobstarten, Wildgemüse, zum Würzen gewählte Pflanzen, Heilpflanzen und die zum Färben geeigneten Wildpflanzen. Neue Methoden der Analyse der Makroreste von Pflanzen hat A. S. A. Moltsen dargestellt, an dänischen Beispielen, auch von der Insel Seeland.1388 Was W. H. Zimmermann über Phosphatanalyse an Hausgrundrissen erreicht hat,1389 probiert Moltsen an den Resten in den Pfostenlöchern von Häusern. In den Pfostengruben fand sie Spuren von Getreidearten, Unkräutern und Weidepflanzen. Das sind unmittelbar in der Siedlung „anwesende“ Sorten. Für die „Goten“ liegt nun ebenfalls eine archäologische Studie zur Landwirtschaft 1390 vor. Damit ist real das Gebiet der Wielbark-Kultur während der Römischen Kaiserzeit und der frühen Völkerwanderungszeit samt ihrer Ausdehnung nach Südosten gemeint.
8.1.3 Viehhaltung Eine Adaption römischer Landwirtschaftsmethoden, die bei den villae völlig anders als bei den Dörfern in Germanien waren, fand nicht statt; denn eine Innovationsübernahme würde zu einer grundsätzlichen Systemveränderung führen. A. Kreuz fragt: „Wofür sollte man diese in Kauf nehmen, und wer fällte hier die Entscheidungen?“ Es
1386 Willerding 1992, 351 Tab. 1 Kulturpflanzen des Ackerlandes in der Germania magna; 2006a, 609 Tab. 2, 624 ff. und Tabellen 3 bis 7; mit weiterführender Literatur, auch wiederum von U. Willerding. 1387 Schon Willerding 1980, 133 ff. Abb. 2 bis 5 Nachweisdiagramm der Kulturpflanzen des Ackerlandes und auch der Obstsorten über die Epochen hinweg auch für die Römische Kaiserzeit in Germanien, 153 Tab. 8 Kulturpflanzen in den Siedlungen an der Nordseeküste. 1388 Moltsen 2011. 1389 W. H. Zimmermann 1986; 1988. 1390 Kokowski 2015.
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gilt also festzuhalten, dass die Struktur der Landwirtschaft in Germanien aufgrund jahrhundertelanger Entwicklung ein in sich schlüssiges und erfolgreiches System war, und dass es keinen Sinn hatte, dieses zu ändern. Das betrifft ebenso die Viehwirtschaft, die mehr auf Quantität als auf Qualität sah: „Eine Größenzunahme aller Tiere hätte unter Beibehaltung der gewohnten Individuenzahlen eine völlige Umstellung der Futterbeschaffung und Haltung bedeutet“, bis hin zu Änderungen im WohnStall-Haus, was Boxenzahl und -größe angeht. Es gehört also heute zur Auswertung einer Siedlungsgrabung, dass auch die Tierknochen immer mit bestimmt und dann tabellarisch publiziert werden. Diese können nicht alle beschrieben werden, und mein Bericht muss ein wenig willkürlich bleiben. Ein Beispiel für Mecklenburg-Vorpommern ist die Tierknochenauswertung zur Siedlung Völchow aus dem Jahr 2017.1391 Die Bestimmung der Tierknochen lässt nicht nur die Arten nach ihrem Prozentanteil in der Siedlung bzw. im Gehöft zählen, sondern auch den Züchtungsstand beschreiben, wobei die Widerristhöhen (WDH) mit den heutigen Werten als Maßstab dienen. Die Registrierung der Schlachtzeiten erlaubt, die Menge an Fleisch und Milch zu errechnen, die man erwirtschaftet hat. Zu den Widerristhöhen einst und jetzt gibt es Vergleichsbilder.1392 Die Maße bei den Rindern variierten zwischen 96 und 127 cm bei einem Mittelwert von 109 cm (heute 30 bis 35 cm mehr); bei den Hausschweine zwischen 60–65 cm und 80–83 cm, im Durchschnitt 72 cm (heute etwa 90 cm); bei den Pferden zwischen 112 und 120 cm, im Durchschnitt 125 und 135 cm, einige bis 144 cm (heute 160 cm); bei Schaf/Ziege zwischen 54 und 71 cm, mit Mittel 60 cm, wie rezente Heidschnucken, einige 67–75 cm (heute 75 cm). Die Viehhaltung und Viehzucht entwickelten sich in den ersten Jahrhunderten n. Chr. nachweislich weiter.1393 Die Qualität anstrebende Züchtung des Viehbestandes, die Einführung neuer Getreidesorten, vor allem Roggen, dessen Anbau besser zum Klima passte, weil er im Herbst auszusäen war, also als Winterfeldbau, und die Dreifelderwirtschaft führte zu einer intensivierten Ausnutzung der Landschaft. Die nachgewiesene Entwaldung spiegelt ein immenses Bevölkerungswachstum über die Zunahme der Siedlungsplätze (vgl. oben S. 289). Es gibt die Meinung, dass dieses Bevölkerungswachstum zu einem ständigen Wanderungsdruck geführt haben könnte, zu innerer Mobilität in Germanien und zu Beutezügen gegen die römischen Provinzen.1394 Im Jubiläumsbuch „60 Jahre Forschungen im Küstengebiet bei Wilhelmshaven“, ausgehend vom Niedersächsischen Institut für Historische Küstenforschung gibt es ein aufschlussreiches Kreisdiagramm zu den Haustieren in diesem Gebiet. Aufgrund von 50 000 Knochen macht das Rind 47,7%, das Schaf 27,1%, das Pferd 10,4%, das Schwein 1391 Breede, Schmölcke 2017; Saalow 2017. 1392 Krüger, Autorenkollektiv 1976, 438 ff. und Abb. 118; allgemein zu Viehhaltung und Weidewirtschaft W. H. Zimmermann, Schenk, Eichfeld 2006. 1393 Benecke 1994; 2000. 1394 Leube 1992a.
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9,7%, der Hund 4,5% aus; es gab auch einige Ziegen und Katzen, aber kein Hausgeflügel und nur 2% Wildtiere.1395 Während der vorrömischen Eisenzeit sahen die Zahlen nicht viel anders aus.1396 Es gibt schon zahlreiche Fundplätze mit Tierknochenmaterialien zwischen Rhein und Weichsel nördlich der Mittelgebirge. Die Knochenfunde in Nordhausen-Himmelgarten werden mit denen der Przeworsk-Kultur Graphik verglichen. Die Zahlen lauten: Rind 50–60%, Schaf/Ziege 30–40%, Schwein 10%, Pferd 3–4 % (nach der Knochenzahl), und diese Reihenfolge bleibt fast überall gleich. Ein anderes sehr frühes Beispiel: Die relative Häufigkeit der Haustiere in der Siedlung Leimbach, Kr. Nordhausen lautet 40% Rind, 29% Schwein, 20% Schaf/Ziege, 8,5% Pferd. Die Rinder dienten vor allem als Milchlieferant und waren Arbeitstiere; es waren in dieser Siedlung überdurchschnittlich große und gut genährte Tiere, datiert ins 3. Jahrhundert v. Chr. (Latène B2 und B3), im 2./1. Jahrhundert v. Chr. sind hier Einflüsse der Przeworsk-Kultur fassbar.1397 Die Regel ist, dass Rinder jeweils den höchsten Anteil im Viehbestand ausmachten; auffällig ist, dass je nach Zeit und Raum entweder die Schweine gegenüber den Schafen/Ziegen zahlreicher waren oder ein umgekehrtes Verhältnis herrschte. Der Größenvergleich zwischen Rindern in Gallien, in den römischen Provinzen und in Germanien wird zumeist dazu herangezogen, die höheren Züchtungsgrade der Rinder (und das betrifft oft auch die anderen Haustiere wie Schweine und Schafe) gegenüber den Tieren in Germanien wertend zu erwähnen.1398 Einzelne Befunde zeigen aber durchaus unterschiedliche Größenordnungen, kleinere Rinder im Römischen und größere im Germanischen. Außerdem zählte bei der germanischen Bevölkerung als Maß für Reichtum und damit Rang die Anzahl der Rinder einer Herde, wobei die kleineren im Übrigen im Winter leichter zu füttern waren als große Tiere. Der Haustierhaltung in Mitteleuropa und Südskandinavien widmet sich monographisch N. Benecke,1399 Tierknochen aus eisenzeitlichen Siedlungen in Mitteldeutschland wertet H.-J. Döhle aus.1400 Während der ersten Jahrhunderte um und nach Chr. waren die Haustiere grundsätzlich kleiner als in der Moderne, auch meist kleiner als die römischen Rinder und Schweine. Genannt werden aus der Spätlatènezeit tabellarisch die Widerristhöhen der Kühe mit mehrheitlich bis 106 cm, mancher Ochsen mit bis 124 cm und der Pferde von 114 bis 140, mehrheitlich 126–128 cm. Über die Viehwirtschaft bei Kelten, Römern und Germanen vor allem im Rheinland informierten nachfolgend auch Th. Becker und P. Nuviala.1401 Rinderzucht dominierte im nördlichen
1395 Behre, Schmid 1988, 45 Abb. Kreisdiagramm. 1396 C. Becker 2010, 31 Abb. Karte der Fundplätze, 40 Abb. 8 Histogramme der Prozentanteile. 1397 Knechtel 2016/2017, 86 Abb. 10. 1398 Duval, Clavel 2018; Peters 1998 zu den römischen Verhältnissen. 1399 Benecke 1994; 2000. 1400 Döhle 2006, 575 und 579. 1401 Th. Becker 2007, 143; Nuviala 2016.
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Rheinland und in den Niederlanden, während weiter südlich eine gemischte Haustierhaltung von Rind, Schaf/Ziege und Schwein herrschte. Der südliche römische Einfluss machte sich durch Einführung größerer Rinderrassen bemerkbar, was aber im rechtsrheinischen germanischen Siedlungsgebiet nicht aufgegriffen wurde. Auf die Stallhaltung und Auswinterung der Tiere wurde oben im Rahmen der Beschreibung von Gehöften schon eingegangen (vgl. S. 169).1402 Zwischen der jüngeren vorrömischen Eisenzeit und der römischen Periode wurden die Rinder in Gallien zunehmend größer und robuster. Der Zusammenhang mit der Ausbreitung der römischen Kultur ist wohl gegeben.1403 Die Gründe für die Evolution der Morphologie waren römische Zuchtmethoden und Importe von Rindern aus Italien. In Germanien sah das noch anders aus. Aber wie beschrieben worden ist (vgl. S. 170), waren die Verhältnisse anscheinend komplexer, und man sollte weitere Auswertungen von Tierknochen abwarten, ehe ein vergleichendes Urteil gefällt wird. Denn in der germanischen Siedlung an der Emscher bei Oberhausen nahe am Rhein, also in Limesnähe, waren die Rinder größer als jenseits der Grenze in der römischen Provinz. Die Rinder und Schweine waren gegenüber den heutigen und teils auch im Vergleich mit den römischen Tieren derselben Zeit tatsächlich deutlich kleiner; sie waren aber auch widerstandsfähiger, und mit einer größeren Stückzahl war die ausreichende Versorgung ebenso gesichert. Die Auswertung der Tierknochen aus den frühalemannischen Siedlungen in Wiesbaden-Breckenheim und in Groß-Gerau im südlichen Hessen, im Vorfeld des Limes, aus dem 4./5. Jahrhundert hat gezeigt, dass hier die germanische Bevölkerung die römische Rinderzucht mit großen Tieren übernommen hat, da die großwüchsigen römischen Rinder die kleinwüchsigen germanischen Tiere zahlenmäßig dominierten.1404 Insgesamt überwogen die Rinderknochen mit 53 bzw. 70% die Schweineknochenanteile von 29 bzw. 16%. Die anderen Haustiere waren nur mit wenigen Prozent vertreten. Zum Vergleich mit anderen von mir zitierten Werten: Widerristhöhen der Rinder im Mittel 125 cm, der „germanischen“ Tiere bei 110–115 cm, die der „römischen“ bis zu 145 cm. Es ging vor allem um die Fleischernährung. Von den Siedlungsresten sind dafür die Inhalte der Grubenhäuser in Groß-Gerau, aus denen das Knochenmaterial stammt, untersucht worden.1405 Zur Haustierhaltung in der vorrömischen Eisenzeit, bei den Kelten, gibt es Zahlen: Das Lebendgewicht der Rinder betrug 300 kg und die jährliche Milchleistung lag bei 1000–1200 Litern.1406
1402 Zimmermann 1999a; 1999b. 1403 Nuviala 2016. 1404 Kerth, Schallmayer, Schultze 2006, 397 Abb. 3 Kreisdiagramme, 43 Abb. 7 Histogramme zu den Widerristhöhen. 1405 Lüdemann 2006. 1406 Stöllner 2018, 172 Abb. 1.
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Die Tierknochen aus eisenzeitlichen Siedlungen Mitteldeutschlands sind 2006 publiziert worden.1407 Am häufigsten ist immer das Rind, gefolgt von Schaf/Ziege und Schwein; doch je nach Fundplatz überwiegt die eine oder andere Tierart. Außerdem sind Pferd und Hund gut belegt, Huhn und Gans demgegenüber sind selten. Die Altersstruktur des Knochenmaterials der Tiere erlaubt die Rekonstruktion des Schlachtalters, welche Tiere z. B. vor dem Winter geschlachtet werden mussten und welche im Stall gefüttert den Winter überstanden. Die Körpergröße der Haustiere wird als Widerristhöhe angegeben, die in der Regel eine größere Spannweite aufweisen. Rinder messen am meisten zwischen 104 bis 106 cm, Bullen 116–118 cm und Ochsen 122–124 cm als Zugtiere. Schafe haben zumeist eine Widerristhöhe von 56–59 cm, insgesamt von 54 bis 75 cm; Schweine messen mehrheitlich 72–74 cm mit einer Spannweite von 63 bis 82 cm. Die Pferde haben überwiegend eine Widerristhöhe von 126–128 cm bei einer Spannweite von 114 bis 140 cm. Auch wildlebende Tiere sind in den Siedlungen nachgewiesen: Rothirsch, Reh, Elch (!), Wildschwein, Ur/Wisent, seltener Wolf, Rotfuchs, Braunbär, Marder, Hermelin, Wiesel, Iltis, Dachs, Fischotter, Wildkatze, Biber und etwas häufiger Feldhase. Auch einige Wildvögel konnten bestimmt werden: Bläßgans, Ente, Seeadler, Steinadler, Birkhuhn, Elster, Dohle, Aaskrähe. Für die Römische Kaiserzeit sind die Arten der nachgewiesenen Tiere und ihre Maße sehr ähnlich. Sowohl für die vorrömische Eisenzeit, die Spätlatènezeit, als auch für die Römische Kaiserzeit sind Wildtiere der Jagd nur sporadisch, meist unter 1% des Knochenmaterials, in den Siedlungen nachgewiesen. N. Benecke hat 2000 für die rechtsrheinische Mittelgebirgszone die Tierknochen aus Siedlungen ausgewertet.1408 Er hat die Größen der Rinder aus der römischen Siedlung Rottweil und der germanischen Siedlung Haarhausen verglichen; hier gab es große und kleine Rinder nebeneinander, und große römische Rinder wurden ins germanische Gebiet gebracht. Im 2./3. Jahrhundert war das ähnlich in Gaukönigshofen und Fritzlar-Geismar, auch im Thüringer Becken.1409 Doch gab es keinen nachhaltigen Einfluss auf die Züchtung der bodenständigen Rinder; der römische Einfluss auf die Haustierhaltung war kaum messbar und also sehr gering. Eine Tabelle bringt die Wildtierarten in rechtsrheinischen Siedlungen. Die Tierreste und ihre Anteile aus der latène- und kaiserzeitlichen Siedlung von Mardorf wurden 2008 veröffentlicht worden.1410 Ausführlich sind die Tierknochenfunde des 3. bis 5. Jahrhunderts in der Germania libera (!), wie es im Titel der Publikation heißt, anhand von Befunden bei Hildesheim analysiert, und daraus wurden verallgemeinernde Schlüsse gezogen.1411
1407 Döhle 2006. 1408 Benecke 1994; 2000, 254 Abb. 3, 251 Tabelle 2 Wildtierarten. 1409 Teichert 1990. 1410 Benecke 2008. 1411 Hanik 2005.
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Ein Seitenblick sei auf die Viehwirtschaft während der frühen Römischen Kaiserzeit im Alpenvorland geworfen,1412 um die Anteile und Größen der Haustiere zu vergleichen. Während der Oppida-Zivilisation überwiegen mit 40 bis 80% Rinder, gefolgt von 20 bis 40% Schweine, während Schaf/Ziege kaum eine Rolle spielen. Nur im Alpenraum selbst – was naheliegend ist – herrschen Ziegen und Schafe vor. Was die Größen angeht, so liegen die Widerristhöhen im Oppida-Bereich für Pferde zwischen 110 und 150 cm, für Rinder zwischen 90 und 140/150 cm und für Schweine zwischen 50 und 90 cm (im Mittel bei 70 cm), jeweils mit auffälliger Schwankungsbreite. Die größeren Tiere, vor allem Rinder, sollen Importe aus dem Süden, aus Italien sein, d. h. hier ist eine Romanisierung zu registrieren. Die Bewohner Germaniens, nachgeprüft anhand der Funde im Siedlungsgebiet der Sueben,1413 lebten größtenteils von Milch und Vieh, und hier scheint die Jagdbeute doch einen merkbaren Anteil an der Ernährung gehabt zu haben. In der Siedlung Hitzacker-Marwedel1414 hat die Viehzucht neben Ackerbau und der Metallverarbeitung den Grundpfeiler des alltäglichen Lebens gebildet. Auch hier ist die Jagd auf Hoch- und Niederwild nachgewiesen, ebenso auf Wildgeflügel; doch Haustierknochen überwiegen bei weitem. Die Haustierhaltung spiegelt sich wie auch anderswo in den Wohn-Stall-Häusern. Die Fischerei ist ebenfalls gut belegt, was seit dem Einsatz von Ausschlämmverfahren bei den Ausgrabungen die Hinweise auf Fischschuppen und feine Gräten im Fundbestand ermöglicht hat. Störe, Hechte, Welse, Karpfenfische sind belegt. Die aus Flechtwerk gefügten und relativ hoch erhalten gebliebenen Viehboxen der Siedlung Feddersen Wierde zeigen, welche Zahlen an Rindern seinerzeit aufgestallt werden konnten. Die Boxen messen etwa 1,50 m in der Breite und bis zur Jaucherinne etwa 1,80 m Tiefe, so dass bei einer Widerristhöhe der Tiere von 1,10 m jeweils zwei Rinder in eine Box passten, was beispielsweise bei jeweils acht Boxen auf jeder Seite Platz für 32 Rinder bot (oben Abb. 14).1415 Nicht die Größe der Tiere, sondern die Zahl machte den Reichtum der bäuerlichen Viehwirtschaft aus, und nicht allzu große Tiere konnten auch sicherer über den Winter hinweg gefüttert werden. Die Tierbestände auf der Feddersen Wierde wurden schon 1991 monographisch ausgewertet (Abb. 38).1416 Als Beispiel der Tierknochenauswertung dieser umfangreich ausgegrabenen Siedlung mit guten Erhaltungsbedingungen für Knochen beschreibe ich die Befunde von der Wurt. Rund 50350 Knochen bzw.
1412 Trixl 2019. 1413 Hegewisch 2014, 24. 1414 C. Becker, Über germanische Rinder, nordatlantische Störe und Grubenhäuser – Wirtschaftsweise und Siedlungsstruktur in Hitzacker-Marwedel, in: N. Becker (Hrsg.), Beiträge zur Archäozoologie und Prähistorischen Anthropologie 7 (Langenweißbach 2003) 81–96. 1415 Schmid 1994, 253 Abb. 27 und 299 als Beispiel. 1416 Reichstein 1991; Behre 2008, 74 Abb. 65.
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2656 Mindestindividuenzahlen (MIZ), das sind 98 % Haustierknochen, und nur circa 260 Wildtierknochen konnten ausgewertet werden. Die Mehrheit bilden Knochen von Rind, 31800 Knochen bzw. 1215 MIZ; es folgen Schaf mit 7200 Knochen bzw. 686 MIZ, Pferd 6500 Knochen bzw. 286 MIZ, Schwein 2700 Knochen bzw. 248 MIZ und Hund 1466 Knochen bzw. 144 MIZ.
Abb. 38: Viehbestand nach Mengenanteilen auf der Feddersen Wierde. Knochengewicht KNG (3307 kg), Knochenzahl KNZ (47081), Mindestindividuenzahl MIZ (2393).
Eine breite Palette an Wildtieren sind trotz der relativ geringen Knochenzahlen nachgewiesen, und zwar 15 Arten, nämlich u. a. Rotfuchs, Fischotter, Wildkatze, Seehund, Rothirsch, Reh, Wildschwein und Ur; auch mehrere Vogelarten in Auswahl Stockende und Spießente, Graugans und Seeadler. Fische sind belegt: Stör, Flunder, Scholle, Kabeljau sowie Lachs oder Forelle.
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Die Rinder haben überwiegend eine Widerristhöhe (WDH) von 100/105 bis 120/125 cm (95%); im Vergleich gibt es dieselben Werte von der Siedlung Bentumersiel, und die mittleren Maße liegen bei den Rindern aus dem Opferplatz von Oberdorla und dem Moorfund von Skedemosse bei 108,9 bis 111,8 cm. Meist wird mit den Rindern aus den römischen Provinzen verglichen: Dort gibt es ebenso kleine Rinder, aber auch größere Rassen, so in Xanten am Niederrhein mit 120 und auf dem Magdalensberg in Noricum mit 128 cm WDH. H. Reichstein hat weitere Messwerte zusammengestellt: Die Rinder wurden mit 24 bis 34 Monaten geschlachtet, manche wurde älter als 3 Jahre. Die Kühe überwogen mit 80% die Zahl der Stiere. Auf der Feddersen Wierde wurden einige Rinder sorgfältig begraben, von neun Tieren geht man von einem Opfer aus. Die Pferde hatten Widerristhöhen auf der Wurt von 118 bis 141 cm, im schwedischen Skedemosse maßen sie 120 bis ebenfalls 141 cm; der Vergleich sind Pferde im Römischen Reich mit WDH von 120 bis 158 cm. Die Stuten wurden 2 bis 4 Jahre alt, einige gar bis 22 Jahre; während die männlichen Tiere (Hengste und Walache) 7 bis 8 Jahre alt wurden, manche sogar 15 bis 16 Jahre. Drei der sorgfältig auf der Wurt bestatteten Pferde werden als Opfer gedeutet, Pferd I war 7 bis 8 Jahre alt mit einer WDH von 135 cm, Pferd II war 4 bis 5 Jahre alt mit einer WDH von 127 cm, und im Totenhaus wurde eine 4 bis 5 Jahre alte Stute bestattet, mit einer WDH von 135 cm. Auch einige Hunde wurden als Opfer bestatte, meist besonders große Tiere.1417 Für die wirtschaftlichen Verhältnisse – die hohe Zahl der Rinder bezeugt die überwiegende Viehwirtschaft – ist das Schlachtgewicht von Bedeutung: Rind 100 kg, Schaf 20 kg, Schwein 40 kg, Pferd 150 kg; umgerechnet auf die nachgewiesene Zahl der Tiere auf der Wurt Feddersen Wierde sind das beim Rind 120 200 kg (65,6%), beim Schaf 13 660 kg (7,5%), beim Schwein 9 800 kg (5,3 %) und beim Pferd 39 450 kg (21,5%), zusammen sind das dann 183 130 kg (99,9%).1418 Gegliedert auf vier Siedlungsphasen steigt nach den Knochen die Anzahl der Rinder von 694 über 3279 und 2216 auf schließlich 2427 (insgesamt 8616), die Zahl der Schafe von 73 über 681 und 478 zu 568 (insgesamt 1800), die Zahl der Schweine von 46 über 226 und 107 zu 115 (insgesamt 494) und die Zahl der Pferde von 72 über 460 und 354 zu 303 (insgesamt 1189). Immerhin konnten auf diese Weise über 12 000 Tiere nachgewiesen werden.1419 Ein Säulendiagramm verdeutlicht das absolute Überwiegen der Rinder (die vier Phasen sind I: 1. Jahrhundert v. – 1. Jahrhundert n. Chr.; II: 1.-2. Jahrhundert n. Chr.; III: 3.-4. Jahrhundert n. Chr.; IV 4.-5. Jahrhundert n. Chr.).1420 Die zentrale Rolle der Viehwirtschaft gegenüber dem Ackerbau wird in anderen Siedlungen regelmäßig bestätigt; auf keinen Fall war der Ernährungsplan eintönig. Ob das Fleisch überwiegend gekocht, weniger gegrillt oder geröstet wurde, wie man 1417 Reichstein 1991, zitiert nach den Seitenzahlen von 27 bis 189. 1418 Reichstein 1991, 242 Abb. 3 Kreisbild zu den Anteilen von Rind, Schaf, Pferd und Schwein; 243 Tab. 94 Schlachtgewichtsanteile. 1419 Reichstein 1991, 249 Tab. 96 Häufigkeit der Tiere. 1420 Reichstein 1991, 290 Abb. 64.
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lesen kann, ist sicherlich auch landschaftlich unterschiedlich gewesen; denn es gibt Gegenden mit zahlreichen Röst- und anderen Öfen. Über die Milch, über Kuhund Schafsmilch, Käse und Quark war der Speiseplan in diesem Bereich durchaus vielseitig. Im Bereich der germanischen Siedlungen der jüngeren und späten Römischen Kaiserzeit in der Slowakei nördlich der Donau gegenüber dem Limes sind Zahlen zum Anteil der Haustiere von der Grabung von Vel’ké Zálužie bei Nitra vorgelegt worden.1421 Das Rind herrschte mit 33,6% vor, Schweine hatten einen Anteil von 15,3%, Schafe/ Ziege 13,4 %und Rotwild 10%. Hund und Pferd sind kaum belegt. Die Rinder waren mit einer Widerristhöhe von 113,7 cm relativ klein. Die Tierhaltung in anderen Gebieten, so in Nordungarn,1422 wurde in mehreren sarmatischen Dörfern untersucht, in Siedlungen am Fluss Hernád, datiert Ende 2. bis mittleres Drittel des 4. Jahrhunderts. Es ist nicht überraschend, dass hier ebenfalls wenige Wildtierknochen zu zählen sind, aber vor allem Rind, dann Schwein und nachfolgend Schaf, Ziege sowie Pferd und Hund vorkommen. Milchwirtschaft und Fleischnahrung herrschten vor. Im 3. und 4. Jahrhundert nahm die Bedeutung des Schweins deutlich zu. Es ging wie überall um Fleisch und Milch sowie Wolle. Die Gans als Geflügel auf dem Hof, wegen des Fleisches und der Federn, ist kaum in Germanien nachzuweisen. Auf der Feddersen Wierde des 1. bis 5. Jahrhunderts beispielsweise fehlen Spuren, dafür sind im schwedischen Eketorp des 4. bis 7. Jahrhunderts Gänse nachgewiesen. Das Domestikationszentrum liegt in Ägypten, und erst aus dem Römischen gelangte die Nutzung der Gans wohl auch nach Germanien.1423 Ähnlich verlief die Übernahme der Katze, ebenfalls in Ägypten zum Haustier geworden, in Mitteleuropa, wohl über die Ausweitung des Römischen Reichs über die Alpen. Seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. sind Belege bekannt, so wiederum auch von der Feddersen Wierde.1424 Die geringe Rolle der Jagd wird schließlich auch, wie jüngst erforscht, ebenfalls über die fehlende Falkenjagd bestätigt. Sie kommt im Germanischen erst seit dem 6./ 7. Jahrhundert auf,1425 und Falken erscheinen als Grabbeigabe ab 550 auf dem Kontinent und vor allem in Skandinavien.1426 Die schriftliche Überlieferung berichtet davon, dass Friesen Kühe in die römischen Provinzen abzugeben hatten.1427 Beschrieben wurde schon (vgl. S. 418), dass nachgewiesen aus den Siedlungen an der Emscher in Limesnähe große Kühe von
1421 Bielichová 2019, 61 und 67 Fig. 4 Karte der 20 Siedlungsplätze, oft nur in wenigen Kilometern Abstand; dazu auch Kolník, Varsik, Vladár 2007: Siedlung des 2. bis 4. Jahrhunderts. 1422 Vörös, Soós 2014. 1423 Reichstein 1998; Wiejacka, Makowiecki 2018. 1424 Reichstein 2000; Steuer 1994e, 656 ff. 1425 Grimm 2017 (2018); Grimm, Oehrl 2017; Oehrl 2018; Pesch 2018a; Grimm (Hrsg.) 2020. 1426 Vretemark 2018. 1427 Galestin 2009/2010.
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Germanien in die römischen Provinzen gebracht worden sind und kleine Kühe nach Germanien. Das wäre eine umgekehrte Situation, als sie anhand der Schriftüberlieferung zu erwarten wäre und was man angenommen hat. Wieder sei darauf hingewiesen, dass erst die intensive archäologische Auswertung auch der Tierknochen aus den Ansiedlungen weiterführende Aussagen gestatten würde. Ob also auch dieser lokale Befund verallgemeinert werden kann, wird zu überprüfen sein. N. Benecke hat noch einmal über Tierhaltung, Jagd und Fischfang bei den Germanen zwischen Rhein und Weichsel 2018 berichtet.1428 Nur Einzelergebnisse füge ich hier noch hinzu: Das Spree-Havel-Gebiet und der Nordseeraum sind gut erforscht, auch das rechtsrheinische Mittelgebirge. Hier bemerkt er die Widerristhöhe größerer Rinder aus dem Römischen (?), von 98 bis 148 cm, und bei Schweinen 65 bis 85 cm Widerristhöhe. Hinweise auf Wild werden immer weniger in den Siedlungen des 1. bis 3. Jahrhunderts. Die Stabilität der Tierhaltung nimmt im Laufe der Zeit etwas mehr zu. Der Autor weist darauf hin, dass auf der Feddersen Wierde bei einigen Hofeinheiten Hunde unter der Hausschwelle als Oper vergraben worden waren und dass Hunde auch gegessen wurden. Weiter zu berücksichtigen ist die Behauptung, dass für die Reproduktion des Viehstapels rund 60 Stück Rinder gebraucht wurden, bei weniger Tieren im Gehöft oder der Siedlung würde das nicht reichen. Zu Ernährung und Speisegewohnheiten geben auch die Mageninhalte der Moorleichen Auskünfte; es gibt zahlreiche Analysen.1429 Doch diese Toten sind schon während der vorrömischen Eisenzeit ins Moor gekommen, so der Grauballe-Mann und der Tollund-Mann, beide C-14-datiert um 375–210 v. Chr. (vgl. S. 644 und S. 1244).
8.1.4 Celtic fields Flächendeckend wurden in den letzten Jahren durch die erweiterten Prospektionsmethoden aus der Luft die ehemaligen Felder zu den Siedlungen beschreibbar. Die Ackerfluren oder celtic fields (weil man sie früher nur in die keltische Zeit datiert hat; der Begriff ist 1923 in England eingeführt worden) sind tatsächlich vielerorts über Luftaufnahmen erkannt worden, obwohl man eigentlich davon ausging, dass im Verlauf der Jahrhunderte die älteren Parzellierungen zerpflügt worden wären. Man hat sie in Dänemark dokumentiert,1430 in Niedersachsen im Elbe-Weser-Dreieck (Abb. 39)1431 und ebenso in den Niederlanden (mit dem Hinweis, dass diese Ackersysteme oft nicht 1428 Benecke 2018. 1429 Willerding 1980, 148 Tabelle; Harild, Robinson, Hublebusch 2007; Helbæk 1950/51; van der Sanden 1996. 1430 Nielsen 2000. 1431 Zimmermann 1976; 1985; 1995, 290 Abb. 1, 292 Abb. 3 für die Siedlungskammer Flögeln; Behre 2010, 53 Abb. 7 Celtic fields in Flögeln-Haselhörn.
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Abb. 39: Die Siedlungskammer Flögeln-Eekhöltjen bei Cuxhaven mit dem „wandernden“ Dorf, den Gräberfeldern und den Celtic fields.
genau zu datieren sind und dass derartige Formen auch schon seit der Bronzezeit vorkommen).1432 Dort sind Zahlen zu den Celtic fields genannt, 83 Felder sind in Drenthe belegt und kartiert, um 250 v. Chr. und allgemein Fundstellen für die Eisenzeit, Römerzeit und auch noch für das Mittelalter.1433 Eine neue Zusammenstellung aus dem Jahr 2018 hat eine beachtliche Zunahme von celtic-field-Befunden erbracht, und zwar nachdem über Laser-Borne-Scanning auch unter Wald die alte Oberfläche fotografiert werden kann. In vielen Wäldern sind flächendeckende gitterartig verlaufende flache Wälle als eisenzeitliche Ackerfluren erkannt worden. Die Kartierung der in Niedersachsen bisher bekannten Celtic Fields zeigt eine Häufung im Elbe-Weser Dreieck, in Westfalen1434 und im südlichen Weser-Ems-Gebiet,1435 sowie auch in Schleswig-
1432 Arnoldussen, van der Linden 2017, 148 Abb. 15, 179 Abb. 22; 2018. 1433 Springer 2014; Waterbolk 1996, 57 Abb. 9 Celtic fields bei Zeijen; Behre 2010, 53 Abb. 6 Celtic fields bei Vaassen, nördliche Niederlande. 1434 Arnold 2017. 1435 Nösler 2018a, 144 Abb. 1 Kartierung, 145 f.
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Holstein,1436 wo schon vor Jahrzehnten derartige Systeme erfasst worden sind, u. a. von H. Jankuhn. In den 1970er Jahre begann H. Zimmermann mit der Suche nach diesen alten Ackerfluren und hatte 70 Feldsysteme gefunden. Allein in der Siedlungskammer im Elbe-Weser-Dreieck bei Flögeln entdeckte Zimmermann auf 100 ha diese celtic fields. Die Wälle zwischen den Feldern waren höchstens 80 cm hoch, die Seitenlängen der Flächen betrugen 10 bis 50 m. Er beobachtete auch, dass die Wälle selbst als Ackerbeete benutzt wurden. Die Datierungen belegen zudem, dass die Flächen auch hier teilweise über viele Jahrhunderte genutzt worden sind (schon während der Bronzezeit), doch die Hauptnutzung fällt in die vorrömische Eisenzeit und die ältere Römische Kaiserzeit. Jetzt sind bei Stade 23 ha Felder neu entdeckt worden, teils mit Wallbreiten bis 17 m, nahe bei Grabhügeln und Wegespuren. Bei Beckdorf sind sogar auf heute genutzten Äckern noch mehr als 100 ha celtic fields nachgewiesen.1437 Jüngste Analysen haben die Datierungsspanne für celtic fields noch einmal erheblich erweitert, sie aber auch für die Römische Kaiserzeit weiterhin nachgewiesen.1438 Die Zahlen der Felder haben sich zudem rund um die Nordsee, in England, in den Niederlanden, an der deutschen Nordseeküste und in Jütland erheblich weiter vermehrt. Die neue Zusammenfassung bringt naturwissenschaftliche Datierungen von 800 v. bis 12 v. Chr. Der Zusammenhang zwischen Besiedlungsspuren und dem Ackerbau belegt, dass innerhalb der Feldsysteme Hausspuren die Wälle überlappen. Die Errichtung der Wälle begann schon im 13. bis 10. Jahrhundert v. Chr., und dies Verfahren blieb dann bis in die Römische Kaiserzeit üblich. Damit ist eine nachhaltige Ackerbauweise von beispielloser Zeittiefe erkannt worden, eine Jahrhunderte kontinuierliche Nutzung, und ist somit die dauerhafteste und stabilste Form der Landwirtschaft. Angebaut wurden zumeist Gerste, Weizen, Hirse und Leinen, wie aus den Begrenzungswällen der Celtic Fields nachgewiesen, ebenso sind Düngung und Brachephasen belegt. Auch die Kultivierung von Roggen, und zwar zu Beginn des Mittelalters, wurde in den Niederlanden in den Wällen von Celtic Fields erkannt.1439 Alle Angaben widersprechen also dem antiken Vorurteil, dass Rom die Versuche, Germanien zu erobern und zur Provinz zu machen, deshalb aufgegeben hätte, weil das Gebiet landwirtschaftlich von so geringem Interesse gewesen wäre und das Leben dort so ärmlich, dass sich eine Integration auch bei größerem Einsatz nicht gelohnt hätte. Die überlieferte steuerliche Belastung germanischer Gruppen durch römischen Druck widerspricht ebenso dieser allgemeinen These, wie die Ansicht, dass Vieh im römischen Bereich ausnahmslos wesentlich größer gezüchtet und damit wirtschaftlich bedeutender war als die Rinder in Germanien. Doch die Friesen wehrten sich gegen die aufgezwungene Abgabepflicht von Rindern, die also nicht so minderwertig 1436 Arnold 2011. 1437 Nösler 2018a, 147. 1438 Arnoldussen 2018a, 304 Fig. 1 Verbreitungskarte rund um die Nordsee; 326 Datierungsspanne; auch 2018b. 1439 Groenman-van Waateringe 2012.
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gewesen können. Später, für den Beginn der Völkerwanderungszeit, wurde von den berühmten thüringischen Pferden berichtet. Es wird Unterschiede gegeben haben in Raum und Zeit, was man nicht übersehen sollte, aber auch das Vieh und die Pferde in Germanien waren nicht maßlos geringwertiger als die Tiere in den römischen Provinzen.
8.2 Handwerk Bei allen Gesellschaften spielt das Handwerk in seinen vielen Facetten im alltäglichen Leben für die Versorgung mit benötigten Sachgütern eine zentrale Rolle, so auch in Germanien. Eine Vielfalt ist tatsächlich auch archäologisch gut nachweisbar, über die Werkzeuge und die Endprodukte, über Werkstätten in den Siedlungen und über die unterschiedlichen Waffen, Schmucksachen und sonstigen Alltagsgütern wie Keramikgefäßen in den Bestattungen als Beigabe. Über die Rolle des Handwerkers selbst, über seine Position in der Siedlung weiß man recht wenig. Die Funktion des Schmiedes und die Lage der Schmiedewerkstatt (vgl. unten S. 469) sind einigermaßen bekannt; auch Werkstätten lassen sich nachweisen, aber die Handwerker als Personen kaum. Selten sind Werkzeuge des Handwerkers als Beigabe in das Grab gelegt worden. Das ist bisher nur für die Grobschmiede zusammengestellt (vgl. S. 469). Inwieweit Handwerksarten auch zu einem eigenen „Handwerkerstand“ geführt haben, ist selten zu beobachten. Handwerker können – wie in späteren Zeiten – in den Jahrhunderten um und nach Chr. als Wanderhandwerker unterwegs gewesen sein.1440 Das Modell, gewissermaßen ein Märchen bzw. eine Geschichte, zu Wanderhandwerkern hat Alexandra Pesch mehrfach veröffentlicht.1441 Dabei geht es um den Goldschmied, seine Ausrüstung und seine Produktionen, um ein theoretisches Modell, wie ein Goldschmied beispielsweise in Zentralort Gudme gearbeitet haben könnte. A. Pesch stattet die Werkstatt des Meisterschmiedes auch mit einem Lehrbuben aus und richtet den Blick zu den Göttern, wenn es um die Motive geht. Nicht nur zur Herstellung und Reparatur von Waffen braucht man Werkzeuge, sondern für die gesamte Ausrüstung einer Kriegergruppe sind Werkzeuge für die Bearbeitung von Metall bis zum Leder notwendig, und so finden sie sich auch in den Heeresausrüstungsopfern in Jütland, beispielsweise im Moor von Vimose.1442 Vielseitiger Hausrat, nicht nur Keramik, die in allen Museen – wegen der Unzerstörbarkeit der Bruchstücke von Gefäßen – am häufigsten ausgestellten Funde, ist dokumentiert, darunter oft auch Werkzeuge, deren Funktionsbestimmung heute unbekannt ist.
1440 Neipert 2006; Werner 1970. 1441 Pesch 2012b, 2013b. 1442 A.E.Christensen 2005.
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Werkzeuge für die Lederbearbeitung sind mit Ahlen und Ledermessern überliefert, die ebenso für die Geweih-, Knochen- und Textilbearbeitung gedient haben. Nicht nur bei den Kampfverbänden waren derartige Werkzeug-Ensembles notwendig, auch in den Siedlungen wurden Reste der Werkstätten, Werkzeuge, Halbfabrikate und Rohmaterialien gefunden. Bei einer Zusammenschau zeigt sich wiederum, dass die Bevölkerung in Germanien nicht etwa in kärglichen Verhältnissen lebte, sondern dass ein entsprechender Qualitätsstandard überall erreicht worden ist. Die Beobachtung von Übernahmen römischer Techniken im Bereich des Schmuckhandwerks sollte nicht dazu führen, darin das einseitige Kulturgefälle zu postulieren. Vielmehr ist, davon auszugehen, dass „germanische“ und „römische“ technische bzw. handwerkliche Verfahren überall in Germanien angewendet wurden, so dass an den Erzeugnissen oft nicht zu entscheiden ist, welche Leute eigentlich jeweils tätig geworden sind, einheimische Germanen oder zugewanderte „römische“ Handwerker.
8.2.1 Holzhandwerk Alltagsgeschirre, Gefäße, waren in der Regel aus Holz geschnitzt.1443 Eimer aus Holz waren zusätzlich oftmals mit Metallbeschlägen und -bändern ausgestattet.1444 Töpfereien im Dorf lieferten die Keramikgefäße. Es ist keine Frage: Das Holzhandwerk war in Mitteleuropa in den Jahrhunderten um und nach Chr. Geb. auf hohem Qualitätsstandard, das aber schon seit Jahrtausenden. Holz-Kultur gab es zu allen Zeiten; auch die Experimentelle Archäologie hat sich diesem Naturrohstoff zugewendet.1445 Von der neolithischen Kultur der Bandkeramik, der ersten bäuerlichen Kultur in Mitteleuropa im 6. Jahrtausend v. Chr., sind sorgfältig gebaute Kastenbrunnen mit sauber gebeilten und mit Nut und Feder ineinander gefügten Bohlen erhalten geblieben.1446 Ein solcher sorgfältig gezimmerter Brunnen der Bandkeramik bei Leipzig-Plaußig ist dendrochronologisch auf 5248 v. Chr. datiert mit erster Reparatur 5144 v. Chr. Ein weiterer derartiger Kastenbrunnen ist in Zwenkau, südlich von Leipzig ausgegraben worden, dendrodatiert auf 5319–5230 v. Chr. mit einem erst ausgehöhlter Baumstamm, dann als Kastenbrunnen ab 5100 v. Chr. aus Eichenspaltbohlen in Blockbautechnik gebaut, und ein weiterer Brunnen um 5000 v. Chr. in dieser Gegend weist Zapfverbindung auf.1447 Inzwischen hat sich die Zahl dieser frühen Brunnen aus der Zeit der Bandkeramischen Kultur vervielfacht. Es gibt fünf Brunnen bei Leipzig, einen bei Dresden, und von 1997 bis 2005 sind zehn Brunnen sowie bis 2014 weitere 1443 Szydłowski 1986. 1444 Steuer 1986. 1445 Holz-Kultur 2007. 1446 Stäuble 2018; auch Archäologie in Deutschland 2019, Heft 2, 11; Lindemann 2007, Nachbau eines urgeschichtlichen Brunnens. 1447 Lindemann 2007 mit Lit. zu den ältesten Brunnen.
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sieben Brunnen ausgegraben worden. Sie sind unterschiedlich gebaut, nicht alle in perfekter Zimmermannsarbeit, aber doch die meisten. Die Datierungen erstrecken sich von 5292–5062 bis zu 5208 bis 5009.1448 Die Qualität der Holzbearbeitung blieb kontinuierlich einschließlich der „germanischen“ Zeit bis zu den Brücken und Befestigungsbauten der slawischen Bevölkerung in Mitteleuropa des 6. bis 12. Jahrhunderts bestehen, die besonders viel Holz verwendet haben und das in feuchter Umgebung erhalten geblieben ist. Ein gleichbleibender hoher Standard der Holzbauweise ist bekannt, so dass auch bei fehlenden Befunden für die germanische Zwischenzeit ein gleichartiges Niveau vorausgesetzt werden sollte. Belege sind immerhin die erwähnten manchmal kilometerlangen Bohlenwege, die Palisadenzüge der Landwehren und auch die Reste von den Holzkonstruktionen der großen Wohn-Stall-Häuser, beispielsweise von der Wurt Feddersen Wierde. Die als „Opfer“ niedergelegten Schiffe von Hjortspring auf der dänischen Insel Alsen aus der Zeit um 350 v. Chr. bis zu den Booten von Nydam und Illerup aus der Zeit des frühen 4. Jahrhunderts n. Chr. bezeugen perfekte Kenntnisse des Schiffbaus, der sich über die Zeitspanne von mehr als einem halben Jahrtausend bei hoher Qualität weiterentwickelt hat. Auf die Einbäume als Totenbehältnisse habe ich hingewiesen. Die großen Holzkammern der Fürsten- bzw. Elitegräbern über die ersten vier bis fünf Jahrhunderte hinweg bezeugen höchst komplexe Zimmermannstechniken.1449 Im Normalfall bleiben Sachgüter aus Holz in einer aufgegebenen Siedlung nicht erhalten, entweder sind sie seinerzeit mitgenommen worden, bei Schadensfeuern verbrannt oder aber später verwittert. Die Drehbank ist indirekt für die Feddersen Wierde überliefert. In den Heeresausrüstungsopfern fanden sich Hobel und andere Geräte wie Bohrer. In den Elitegräbern sind aus Holz gefertigte Möbel erhalten geblieben. In den Gräbern auf der Fallward (vgl. S. 206) standen ein Klotzsitz, ein Schemel, Stühle, Hocker und Tischchen.1450 In Grab 4 von Neudorf-Bornstein1451 fand sich ein Holzgefäß und ein Holztablett, zu dem es Parallelen gibt. Damit ist nicht das Spielbrett gemeint, zu dem römische Glasspielsteine gehören, wie ein weiteres in Grab 7 abgestellt war. Diese Spielbretter haben oftmals aus Bronze gefertigte Eckbeschläge. Außerdem fanden sich in zahlreichen Gräbern als Teil des Trinkgeschirrs geböttcherte Holzeimer, teils mit wertvollen Bronzeblechen verziert.1452 Holzmöbel der Römischen Kaiserzeit sind außerdem noch im Gräberfeld von Weklitz, Ldkr. Nordsachsen, erhalten geblieben.1453
1448 H. Stäuble aus Leipzig: Vortrag am 20. Mai 2019 in Freiburg. 1449 Abegg-Wigg, Lau (Hrsg.) 2014; Abegg-Wigg 2014b, mit Rekonstruktionszeichnungen; Lau, Pieta 2014, 344 Abb. 1 Foto der erhaltenen Doppelkammer. 1450 Schön 1995; 2000b; 2015; Schön, Düwel 2007. 1451 Abegg-Wigg 2010. 1452 Beck, Steuer 1986. 1453 Schulze-Forster 2008.
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In der Regel hat man dem Zweck entsprechend das Holz ausgewählt, was dafür am sinnvollsten war, zum Baugerüst regelmäßig Eichenholz, für feinere Geräte das leichter zu bearbeitende Weichholz. Wenn über Holgerätschaften gesprochen wird, wie in diesem Kapitel, dann sollte zugleich an die Bearbeitungswerkzeuge gedacht werden, die aus Eisen hergestellt Voraussetzung für diese Bearbeitung waren: Beile, Äxte, Löffelbohrer, Meißel, Stemmbeitel, Dechsel, Säge, Messer, Ziehmesser und Hobel sowie Hobeleisen, Löffel- und Drillbohrer, Hohl- und Breitbeitel, Raspel und Ziehmesser. Die meisten Werkzeuge fanden sich in den dänischen Heeresausrüstungsopfern, die schon C. Engelhardt in Nydam und Kragehul im 19. Jahrhundert ausgegraben und publiziert hat. Auch die jeweilige Holzart, die ausgewählt worden ist für ein Objekt, ob Möbel oder Schiffsplanken, ist – wie alle Analysen bestätigen – bewusst ausgesucht worden: Die Eigenschaften von Weich- oder Hartholz waren nach den Arten selbstverständlich bekannt, und dass schon seit Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden. Es geht um die Dichte des Verlaufs der Jahresringe. Am Bauholz sind die Bearbeitungspuren mit dem Beil oder Beitel meist gut zu erkennen.1454 Die mehrfach erwähnten Tüllenbeile, auffällig häufig in Hortfunden seit der vorrömischen Eisenzeit (vgl. S. 317), sind neben als kultisch behandelten Objekten erst einmal Holzbearbeitungswerkzeuge. Sie kommen überall vor.1455 Tüllenbeile der vorrömischen und der Römischen Kaiserzeit und der nachfolgenden Epochen gibt es beispielsweise im Baltikum, in der westbaltische Hügelgräberkultur, als Holzbearbeitungsgeräte mit rechteckiger Tülle, und auch in der Wielbark-Kultur, wo sie zusammen mit Waffen in Gräbern gefunden werden. Geschäftete Exemplare wurden in dänischen Mooren, in Hjortspring und in Vimose, geborgen. Hier wurden sie wohl beim Bau von Lagern, beim Bootsbau und im Kampf genutzt. Es ist davon auszugehen, dass jeder Heeresverband derartige Holzbearbeitungswerkzeuge bei sich hatte.
8.2.2 Herstellung von Textilien und Leder Es liegt an den Überlieferungsbedingungen, dass Kleidung selbst – außer den Accessoires, den Schmucksachen und Gürtelbeschlägen aus Bronze und Edelmetall – kaum überliefert ist. Für Textilien gelten dieselben eingeschränkten Erhaltungsbedingungen wie für Holz.1456 K. Schlabow hat einen Überblick gegeben für Befunde seit der Bronzezeit bis ins Mittelalter, mit Beschreibung der Spinn- und Webtechniken, der Gewichts-Webstühle sowie der Muster in den Textilien. Kleidung zeigen römische 1454 Holz-Kultur 2007. 1455 Kontny 2016b. 1456 Allgemein beispielsweise Banck-Burgess 2000; 2005; zuvor vor allem Schlabow 1976 mit 261 Abbildungen und ausführlicher Beschreibung der Kleidung der Germanen in den Jahrhunderten um Chr. Geb.
8.2 Handwerk
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Steindenkmäler, so die Hose der Germanen (wie zwei auch im Thorsberger Moor gefunden worden sind). Es gibt auch überliefert Frauenhosen, so von der Moorleiche von Dätgen, wie auch Rock und Bluse.1457 Nur manchmal sind in den Moorfunden Textilien erhalten geblieben, die eine ausführliche Untersuchung und Rekonstruktion der Kleidungsstücke erfahren haben, und dann handelt es sich nicht nur um Kittel (Thorsberger Moor), Hemd und Hose, sondern mehrfach um wertvolle Kleidungsstücke. Dazu gehört der Prachtmantel aus dem Thorsberger Moor bei Schleswig, ein mit Indigo blau gefärbter „königlichen“ Mantel des 3. Jahrhunderts.1458 Ein weiterer Prachtmantel kommt aus dem Vehner Moor bei Oldenburg mit vielfältigen Webetechniken und prächtigen gelbbrauner Färbung aus dem 4. Jahrhundert.1459 Hingewiesen sei auf die Bemerkung von Textilforscherinnen, dass hohe technische Fertigkeiten bei der Textilherstellung nicht immer nur auf Rom zurückzuführen seien, sondern dass auch in Germanien selbst qualitätsvolle Waren hergestellt werden konnten und wurden,1460 so beispielsweise überliefert im Mittelelbe-Saale-Gebiet. Sorgfältige Analysen von Textilresten, ankorrodiert am Metallschmuck der Beigaben, erlauben die Rekonstruktion der Webetechniken, der Stoffe und ihre Muster. Im zitierten Gräberfeld von Nowy Łowicz in Polen konnte J. Maik immerhin bis 2008 fast 80 Textilreste der Römischen Kaiserzeit, Phasen B2/C1, also vor allem des 2. Jahrhunderts, beschreiben. Grundlagen waren Flachs und Wolle, und Wolltextilien waren von besonderer Qualität in verschiedenen Diamond-Mustern, wie L. Bender Jørgensen das für den gesamten skandinavischen Norden ebenfalls dokumentiert hat.1461 In den Siedlungen sind häufig Spinnwirtel und auch Gewichte von den Webstühlen aus Ton oder anderen Materialien ausgegraben worden. Zu Spinnrocken in Germanien gibt es eine spezielle Abhandlung;1462 denn die Wirtel sind aus unterschiedlichen Materialien, auch aus Glas und Bernstein, teils mit Metallkomponenten, hergestellt worden. Nicht überall hat man auf diese Sachgruppe geachtet, doch die Funde beiderseits der Oder sind speziell registriert und kartiert worden.So weiß man inzwischen allerlei über europäische Formen von Wolle von der Eisenzeit über die Römische Kaiserzeit bis ins Mittelalter.1463 Schon seit langen sind die eisernen Kämme dieser Epoche für Wolle zusammengestellt.1464 1457 Schlabow 1976, Hose Abb. 184 und 185 sowie Bluse Abb. 250 und 251, Rock von Damendorf Abb. 249. 1458 Schlabow 1976, Frontispiz Farbtafel I; Vanden Berghe, Möller-Wiering 2013. 1459 Schlabow 1976, 64 Farbtafel II; C.H.Fischer 2000; Göttke-Krogmann 2001; Schmidt-Herwig 2007; Tidow 2000,110 Trageweise der Mäntel. 1460 Bender Jørgensen 1992. 1461 Wild, Bender Jørgensen 1988; Bender Jørgensen 1988; 1992; zu Textilresten in Polen Maik 2007; 2012; 2015. 1462 Schuster 2010b, 758 Abb. 3 Spinnrocken aus Gräbern Pommerns und Großpolens, 763 Abb. 6 allgemeine Verbreitungskarte. 1463 Ryder 1982. 1464 Werner 1990.
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Seit den letzten Jahrzehnten werden die ankorrodierten minimalen Textilreste an metallenen Schmucksachen wie Fibeln, Nadeln oder Gürtelschnallen, die in Gräbern gefunden werden, mikroskopisch untersucht, was zu vielen neuen Erkenntnissen über Webetechniken, Färbungen und Musterungen geführt hat. Beispiele werden immer wieder zusammengestellt.1465 Dadurch ist man inzwischen von den Einzelobjekten in Mooren zu regelmäßig und weit verbreiteten Belegen für die verschiedensten Techniken der Textilbearbeitung gekommen. Diese modernen Untersuchungsverfahren haben aus dem norddeutschen Gebiet, im südlichen Nordseeküstenbereich, Textilreste in Siedlungen und Gräberfeldern ergeben.1466 Es sind beispielsweise die Gräberfelder und Siedlungen von Dunum, Sievern und Flögeln sowie die Wurten Oldorf, Hessens, Midlum und Feddersen Wierde, also die meisten umfangreicher ausgegrabenen Plätze, die auch in diesem Buch beschrieben worden sind. In der Wurt Feddersen Wierde konnte sogar die stratigraphische Abfolge vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis zum 5. Jahrhundert n. Chr. in Bezug auf die Textilreste erfasst werden. Neu wurden hier Textilien der 1. Jahrhundert v. Chr. bis zweite Hälfte 5. Jahrhundert n. Chr. noch einmal untersucht. Fischgratköpergewebe herrscht vor mit sehr unterschiedlichen technologischen Merkmalen und Vliesqualitäten, vor allem in den älteren Siedlungshorizonten. Diese große Mustervielfalt belegt, dass Textilproduktion noch nicht so standardisiert war wie dann im Mittelalter.1467 Im Gräberfeld Grudna (Platz 2, Kurgan 10 mit Grab 1) in Polen mit einem Bronzegefäß und dem Stempel des Publius Cipius (Scipio) Polybius aus der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts, das aus der Gegend von Capua stammt (vgl. S. 599), wurden Textilreste in Sprangtechnik erkannt. Dabei ist noch offen, ob es sich dabei um Import oder lokale Produktion handelt. J. Maik meint, lokale oder nordeuropäische Produktion käme durchaus in Frage. Parallelbefunde sind in Polen mit dieser Technik auch schon seit 650–400 v. Chr. nachgewiesen. Sprang ist eine Textiltechnik, die seit der Bronzezeit in Skandinavien bekannt war. Es geht dabei um senkrecht gespannte Fäden, die miteinander verzwirnt werden, was ein sehr elastisches Netz hervorbringt. Diese Stretchtextilien sind geeignet für Haarnetze.1468 Bei speziellem Interesse werden in diesem Beitrag mit der angefügten Literatur vielfältige Textilverarbeitungen nachlesbar. Auf diese Weise sind sogar noch Textilien im teilweise ausgeraubten Fürsten- bzw. Königsgrab von Mušov in Mähren erkannt worden,1469 auch wenn es nur winzige Reste auf Eisenteilen und unter Bronzepatina, auch an den Sporen und dem Messer sind. Fast immer konnte Leinen, aber von unterschiedlicher Feinheit nachgewiesen werden; ob Wolle und Flachs auch dabei waren, ist unsicher. Im Vergleich mit Bestattungen aus der Hallstatt- und Latènezeit wie von 1465 Bender Jørgensen 1986; 1987. 1466 Peek, Rast-Eicher, Vanden Berghe 2017, 102 mit Abb. 2. 1467 Peek, Siegmüller 2018; 2020. 1468 Grupa 2017. 1469 Kostelníková 2002, 485.
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Hochdorf in Württemberg und dem Glauberg in Hessen möchte ich bei einem solchen einseitigen Befund fragen, ob das Leinen nicht nur zum Einwickeln aller Grabbeigaben gedient haben könnte, wie wir das aus den genannten Prunkbestattungen kennen? Neu sind die Beobachtungen an den Resten im Fürstengrab von PopradMatejovce in der Slowakei (vgl. S. 955),1470 die in niedersächsischen Laboren untersucht worden sind und in Kürze publiziert werden.1471 Für ein jütländisches Gräberfeld von Hammerum bei Herning sind nun 2019 ausführliche Textilanalysen für die frühe Römische Kaiserzeit vorgelegt worden.1472 Sieben Körpergräber sind ausgewertet worden, meist mit breiten, aber kurzen Sargresten. Einige C-14-Datierungen und die Beigaben datieren die Gräber um 200 n. Chr. Die guten Erhaltungsbedingungen erlauben die Beschreibung der Kleidungsreste, der Webetechniken und Farben von Stoffen, auch die Frisuren der Toten. StrontiumAnalysen zeigen, dass die Wolle der Kleidung von Schafen aus der Nähe stammt, ein Mädchen aufgrund der Werte aus den Haaren aber wohl gewandert ist und ihre Herkunft von Bornholm, aus Zentraleuropa oder Südschweden möglich sei.1473 Alles wurde nun analysiert, auch die DNA archäologischer Textilien, mit Blick auf die Herkunft der Schafe und damit ihrer Wolle. Für den Leser ist interessant, dass Textilien nachgewebt worden sind bzw. die Kleidung, Tücher, rekonstruiert werden konnten.1474 Ein nachgewebtes rotes, gemustertes Kleid mit hellen Längsstreifen und gedrehter Borte aus Wolle maß 94 cm in der Länge und 146 cm rundum und wurde von einer schlanken Frau getragen. Diese und andere Stoffreste bezeugen eine ausgezeichnete Qualität. Nur 8 km nordwestlich von Hammerum liegt die Siedlung Tjørring und dabei einige mit wertvollen Beigaben ausgestattete Gräber (vgl. S. 271). Hier wird der größte Hofkomplex als römisch inspirierte villa rustica rekonstruiert. Zum normalen Handwerk gehörte die Herstellung von Leder, für Schuhe, Gürtel und andere Ausrüstung, also die Gerberei.1475 Spezielle Untersuchungen zur Gerberei am Übergang von der Spätantike zum frühen Mittelalter haben gezeigt, dass während der Römischen Kaiserzeit kein Technologietransfer der Gerberei aus den Provinzen nach Germanien erfolgte; nur die Feddersen Wierde und ihr Umland bildeten eine Ausnahme. Nach dem Untergang des Weströmischen Reichs ging das Wissen um die vegetabile Gerberei in den Provinzen und im angrenzenden Germanien verloren und wurde erst im 8. Jahrhundert wieder für Herstellung von Leder eingesetzt.1476
1470 Lau, Pieta 2014, 352 Abb. 8 gelbe Farbe, 358 Abb. 15 gelbe Farbe. 1471 Štolková, Schaarschmidt, Mischke 2015. 1472 Møbjerg, Mannering, Rostholm, Ræder Knudsen (Eds.) 2019, 203 Fig. 1 Karte der nur wenige Kilometer entfernten benachbarten Siedlungen und Gräberfelder inmitten des nördlichen Jütland. 1473 Karin Margarita Frei, in: Møbjerg et al. (Eds.) 2019, 115 ff. 1474 Ida Demant, in: Møbjerg et al.(Eds.) 2019, 167–185, 183 Fig. 18. Das Kleid. 1475 Gräf 2015. 1476 Gräf 2011, 44.
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Wiederholt schildere ich bei den Sachgütern Gürtel, von den nur die Metallbeschläge und Schnallen erhalten geblieben sind; außerdem wird mehrfach auf römisches (und germanisches) Schuhwerk eingegangen, von dem in Brunnen Reste erhalten geblieben sind, und vor allem die Metallnägel der römischen Sandalen werden ausführlich besprochen (vgl. S. 621 ff.).
8.2.3 Produktion von Keramik Keramikgeschirr stellt als Scherbenbruch immer die häufigste Fundgattung bei Ausgrabungen von Siedlungen und als vollständige Gefäße als Beigaben oder als Urnen in Gräberfeldern dar.1477 Anhand dieser Sachgüter wurden die großen Formenkreise und Kulturgruppen beschrieben, wie ich sie oben als typisch für die Rhein-WeserGermanen oder die Elbgermanen erläutert habe. Diese Kreise sind zwar Konstrukte der Archäologie, aber immerhin lassen sich die Keramikformen und Muster datieren und ihre Verbreitung dann auch recht präzise kartieren. Anhand von Fibelspiralabdrücken auf manchen Keramiktypen sind diese Scherben sogar noch direkt auch auf diesem speziellen Weg zu datieren, weil die Fibeln zeitlich eingeordnet worden sind. Immerhin sind allein 20 Befunde in Südniedersachsen aufgelistet, die zumeist in die jüngere Römische Kaiserzeit gehören.1478 Es gibt eine Kartierung des Fibelspiralabdrucks auf Keramik im elbgermanischen Gebiet und im Nordseeküstenbereich. Auch Textilabdrücke kommen auf Keramik vor.1479 In der Mehrheit und zu Anfang im sogenannten Hauswerk in jeder Siedlung hergestellt wurden Gefäßform und Verzierung als mögliche Kommunikationsmittel angesehen, Keramik also als Mittel zur nonverbalen Kommunikation zwischen den Siedlungen und Landschaften, zwischen den Familien und den Frauen (eine allgemein akzeptierte These), die diese Keramik hergestellt haben. Interessant sind die Grenzzonen dieser Formenkreise, wo sich die verschiedenen immerhin großräumiger verbreiteten Form- und Verzierungsweisen berühren oder überlappen.1480 Hausgeräte wie Kochtöpfe und Tischgeschirr, und das sind die Keramikgefäße in der Hauptsache, doch gibt es auch Vorratsgefäße aus Ton, scheinen vom kulturellen Niveau einer Siedlungsgemeinschaft etwas Nebensächliches zu sein. Aber weil sie sich in Kartenbildern über ihre beschreibbaren eigenen Formen als Verbreitungsgruppen abzeichnen, soll man fragen, wie diese Verteilungsmuster zustande kommen. Allein der Begriff „Mode“ reicht dazu nicht aus, auch Heiratsverbindungen erklären das
1477 Biegert, v. Schnurbein, Steidl, Walter (Hrsg.) 2000. 1478 Teuber, Teuber 2015, 413 (Tabelle); Gall 2005, 33 Abb. 12; Jäger 2019, 184 Abb. 112 und 185 Abb. 113 Karte; schon Peschel 1970. 1479 Gall 2012, 105 f. und Karte. 1480 Nösler 2013, Karten: 172 Abb. 1, 173 Abb. 3.
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Verbreitungsmuster nicht allein, um Kommunikation über gewisse Entfernungen hinweg widerspiegeln zu können.1481 Außer Gefäßen gibt es auch noch andere aus Ton gefertige Sachgüter. Dazu gehören die scheibenförmigen, wulstigen Webgewichte, meist gefunden in Grubenhäusern, in denen die Webstühle standen. Das Holz und die Textilien sind vergangen, aber die zur Beschwerung der Kettfäden angehängten Webgewichte aus Ton liegen oftmals noch schön aufgereiht parallel zu einer Wand. Aus Ton sind in der Regel auch die kegelförmigen Spinnwirtel. Eine besonders auffällige Form sind außerdem die sogenannten Feuerböcke oder plastisch gestaltete und verzierte Tongeräte. Derartige Feuerböcke kommen vom Gebiet an der Niederelbe und Nordwestmecklenburg bis nach Rumänien vor und markieren für sich eine weitreichende Kommunikationslinie.1482 Sie liegen im Norden in Ansiedlungen der Zeit von 250 v. Chr. bis ins 2. Jahrhundert n. Chr., oder gar bei Verlagerung der Siedlung an einen anderen Ort bis ins 4. Jahrhundert n. Chr. (vgl. S. 100). Nicht nur Vorrats-, Koch-, Ess- und Trinkgefäße wurden aus Keramik hergestellt, sondern auch Lampen für die Beleuchtung in germanischen Siedlungen.1483 Zudem ist in den Jahrhunderten um und nach Chr. Geb. zu unterscheiden zwischen der traditionellen einheimischen handgeformten Keramik, dem Aufkommen von Drehscheibenkeramik in Germanien und von importiertem römischen Tongeschirr. Wie kam es zur Verteilung der Keramiksorten? Die für den nördlichen elbgermanischen Bereich typische „rädchenverzierte Keramik“ kommt dicht gestreut in der Altmark vor und breitet sich dann weiter nach Süden aus.1484 Die Verbreitung geht elbeaufwärts, und die Ware hat eine lange Laufzeit vom 1. bis ins 3./4. Jahrhundert. Ähnlich ist die Ausbreitung der sogenannten Tonsitulen nach Süden zu beobachten, von der Niederelbe bis Böhmen und zum Südwesten auf dem mehrfach schon geschilderten alten Verkehrsbahnen.1485 Eine Kontinuität in der Verzierung vom 1. bis ins 6. Jahrhundert hat M. Hegewisch registriert und kartiert.1486 Es geht um unterschiedliche Rosettengruppen, die mit Knochenstempeln in den Ton eingedruckt werden konnten. Die Verbreitung zwischen Weser und Oder in Norddeutschland spiegele, so der Autor, Handels- und Wanderrouten. Die Formen und die Verzierung der Gefäße 1481 Mohnike 2016, 46 Abb. 9 Karte der verschiedenen Grabkeramikgebiete, 54 Abb. 17 Fenstergefäße. 1482 Lütjens 2005; Selent 2017a; Steuer 1994d. 1483 Hegewisch 2010. 1484 Gall 2014, 188 Abb. 7 Verbreitungskarte. 1485 Keller 2015, 176 Abb. 70 Verbreitungskarte der Tonsitulen nach Seyer 1976, 212 Abb. 56 mit Ergänzungen durch Völling 1995, 59 Karte 9. 1486 Hegewisch 2001, 285 Abb. 1 Rosettengruppen, 288 ff. Karten Abb. 2 bis 3 zu den Phasen B1 bis C1b, 293 f. mit Abb. 4 und 5; Machajewski 2001 zu vergleichbarer stempelverzierter Keramik in Westpommern, datiert in die Phasen C3/D bis E, also 4. bis 6. Jahrhundert wie die zitierten Fundbereiche auch.
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erinnern und sind zu vergleichen mit Keramik, wie sie später von Mecklenburg und Mitteldeutschland bis ins „alamannische“ Gebiet in Südwestdeutschland gefunden werden. Die auffällige zwei- oder mehr- bis vierzeilige Rädchenverzierung auf den freihandgeformten Tongefäßen im Gebiet der Elbgermanen wurde zum chronologischen und kulturellen Kennzeichen. Die Verbreitung erreichte im Laufe der Römischen Kaiserzeit immer weiter den Süden, bis ins südliche Böhmen und Mähren und nach den neuen Studien noch weiter nach Südosten auch die heutige Slowakei.1487 Bei einer Tagung in Bratislava ging es 2016 um diese rädchenverzierte Keramik. Die südliche Verbreitung erstreckt sich bis zur mittleren Donau in Südmähren und ins slowakische und niederösterreichische Marchgebiet, hier datiert bis in die Stufe B1/C1. Die Besiedlung in Südböhmen durch die neue germanische Bevölkerung setzte in der späten Latènezeit, der Stufe A ein, und es kommt schon neben anderen Verzierungen Rollrädchenschmuck auf der Keramik vor, den scharfkantigen Trichtergefäßen, im zeitlichen Anschluss an die Punktverzierung, mit zwei- und dreizeiligen Rädchen in Mäander-Mustern und endet in der Stufe B2. Damit ist diese Keramik zeitgleich mit der in Mitteldeutschland. Die Töpfer brachten vor dem Brand in den Ton auf die Wände der Gefäße Mäander, Sparrenornamente, gebrochene horizontale und vertikale Streifen an, durch Rollrädchen mit einem bis zu fünf Zähnen. Diese Mode breitete sich rasch aus und blieb lange Zeit, vom 1. bis 3. Jahrhundert in Gebrauch. In den Publikationen wird aber oft nicht sorgfältig unterschieden, ob es sich um punktuelle Einstichreihen oder eben um Rädchenverzierung handelt. Rollrädchenkeramik gibt es in Böhmen von den Phasen A bzw. A/B1 und B1 an, über B2 bis zum Übergang von B2 zu C1a, als zuletzt auch das Swastika-Motiv erschien. In der Südwestslowakei kommt sie in der älteren Stufe B1 (zweites und drittes Viertel des 1. Jahrhunderts n. Chr.) auf und bleibt bis B2/C1 (zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts), ist zwar nicht sehr zahlreich, aber wurde regelmäßig auch als Urnen in den Gräberfeldern verwendet. Man spricht hier vom Gebiet der Quaden. An der Grenze zu Nordpannonien, nur 7 km von der Donau und nicht weit entfernt von römischen Kastellen, sind in der Siedlung von Velký Meder gewissermaßen die östlichsten Funde, datierbar vom 1. bis in die zweite Hälfte des 2. und dem Übergang zum 3. Jahrhundert.1488 Die Siedlung ist 6 bis 8 ha groß, aber nur 0,7 ha davon sind ausgegraben worden, und auf dieser Fläche wurden 43 Grubenhäuser und Hinweise auf obertägige Pfostenbauten registriert. Die älteste Phase der Siedlung gehört in die zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts, wäre also kurz vor oder während der Markomannenkriege entstanden, und wächst dann bis in die Stufe C1, dem Ende des 2. und der ersten Hälfte des 3.und weiter bis ins 4. Jahrhundert. Nur wenige rollstempelverzierte Scherben wurden gefunden, hier datierbar in die zweite Hälfte des 2. und
1487 Turčan 2017 mit den Folgebeiträgen im Band und zahlreichen Abb. 1488 Varsik 2017.
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das mittlere oder letzte Drittel des 3. Jahrhunderts, weil in einer Grube zusammen gefunden mit einer Münze des Claudius II. Gothicus (268–270). Wie ist dieses neue Gesamtbild zu interpretieren? Rollrädchenverzierte Tongefäße kommen also von Mecklenburg bis in die Slowakei vor und erscheinen eigentlich fast gleichzeitig. Es ist der Bereich der Elbgermanen, und auf dem Fernweg der Elbe aufwärts konnte sich eine solche Mode rasch verbreiten, ohne dass eine Bevölkerungsgruppe wanderte. Dazu genügten Handwerker, die sich auf diese Formen und Verzierungen spezialisiert hatten, oder es genügte auch, über Hin- und Herkommunikation eine solche Mode zu verbreiten. Die Drehscheibenkeramik als verändert hergestellte Keramik parallel und nach der normal aufgewulsteten freihandgeformten Ware bringt eine technische Neuerung, durch die es möglich wurde, in kürzerer Zeit mehr Töpfe herzustellen. Oft war der Grundkörper des Gefäßes noch wie zuvor aufgewulstet, wurde nur dann auf der Drehscheibe an der Oberfläche nachgedreht. Eigentlicher Zweck der schnell rotierenden Drehscheibe ist aber, aus der Tonmasse ein Gefäß frei hochzuziehen. Allgemeine These ist, dass damit vom Hauswerk zum Handwerk übergangen wurde und nun nicht mehr Frauen zuhause, sondern Männer in Töpfereien die Keramik produzierten, und zwar in größeren Mengen für den Handel. Zu bedenken und hier nicht näher auszuführen ist, dass schon die „keltische“ Bevölkerung der Latènezeit z. B. in Thüringen Drehscheibenkeramik hergestellt und verwendet hat, und zwar seit den Phasen Latène A/B bis C/D, also schon während der letzten Jahrhunderte vor Chr. Geb.1489 Im Südharzvorland zeigt die Kartierung der Drehscheibenware die Verbreitung nach Stufen gegliedert von Latènezeit A/B bis C/D. Werkstätten für die feine Drehscheibenware sind z. B. auf der Steinsburg und im südlichen Thüringen und im Südharzvorland ergraben worden; man geht davon aus, dass mobile Spezialisten unterwegs waren. Bekannt sind Töpferöfen für grobe einheimische Drehscheibengefäße, anders als für die der dünnwandigen Feinware. Ausgegangen wird von Kontinuitäten zwischen der Frühlatènezeit und der älteren Römischen Kaiserzeit (Phase B); eine jüngerlatènezeitliche „germanische“ Przeworsk-Siedlung ist in diesem Raum untersucht worden. Es ist das Zwischengebiet zwischen dem keltischen und dem germanischen Siedlungsraum, in einer Zeit, als Germanien sich südwärts ausdehnte und die keltische Kultur verdrängte beziehungsweise adaptierte. Die Keramik der älteren Eisenzeit in Mittelgebirgsraum zwischen Rhein und Werra lässt das erkennen,1490 und ebenso ist das anhand der Keramikchronologie der jüngeren Laténezeit im östlichen Mitteleuropa abzulesen.1491
1489 Knechtel 2016/2017, 69 Abb. 8 Karte mit 85 Siedlungspunkte, 92 Werkstätten. 1490 Verse 2006. 1491 Zeiler 2010.
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Die Anfänge der Drehscheibenkeramik in Germanien fallen dann eigentlich verstärkt in die Phase der jüngeren Römischen Kaiserzeit.1492 Diese neue Technik der spätkaiserzeitlichen und frühvölkerwanderungszeitlichen Drehscheibenkeramik wurde ebenfalls im gesamten Raum vom Niederrhein bis zum Schwarzen Meer in einer breiten Mittelzone, einst Grenzraum zwischen Kelten und Germanen, auf einer Linie von der Lippe bis zur Weichsel, eingeführt. Es gibt zeitgleich unterschiedliche Verbreitungsräume bestimmter Formen dieser Keramik, die dann als Massenware hergestellt wurde. Es gibt die Hannover-Braunschweigische Gruppe, die Hellweg-Zonebzw. Westfälische Gruppe, die Krefeld-Gellep-Gruppe, die rhein-weser-germanische Gefäße umgesetzt hat, die Gruppe Haarhausen bis Rheinfranken bzw. auch UnstrutSaale-Gruppe oder Mittelelbe-Saale-Gruppe, eine Mecklenburg-Vorpommersche und eine Brandenburgische Gruppe, eine Sachsen-Anhalt- und Altmark-Gruppe. Aus dieser werden Keramiken im Umkreis von 80 km weit verteilt, wie Tonanalysen gezeigt haben. Manche Belege reichen Hin und Her, um das wieder einmal zu betonen, zwischen der Chernjachov-Kultur bis zur Przeworsk-Kultur in Brandenburg. Zwillingsgefäße aus Brandenburg, eine sehr auffällige Spezialform, sind im Umkreis von 100 km verteilt gefunden worden.1493 Bemerkenswert ist die Keramikentwicklung im römisch-germanischen Grenzbereich und dem gemeinsamen Siedlungsraum im Rhein-Neckar-Gebiet.1494 Hier fällt die Vergesellschaftung germanisch geprägter mit provinzialrömischer Keramik innerhalb der Nordsiedlung von Heddesheim, Lobdengau (Rhein-Neckar-Kreis), auf (vgl. unten S. 1060). Keramikscherben haben Beziehungen auch zur westmecklenburgischostholsteinischen Formengruppe der Phase C1 (um 200 und frühes 3. Jahrhundert), in den unteren Elbe-Raum, also während des Übergangs von der Limes- zur NachlimesZeit. Mit Einwanderern wird gerechnet. Die Keramik am Ort des 1. bis 4. Jahrhunderts spiegelt eine deutliche technische Änderung an der Wende zur jüngeren Römischen Kaiserzeit, die Keramik zeigt enge Verbindungen zur Elbe-Gruppe, d. h. außer Zuzug von Bevölkerung ist auch ein Wechsel zur eigenen mitgebrachten Keramikproduktion gegenüber der römischen Ware zu konstatieren (vgl. zum Zuzug von Germanen S. 1057 ff.). Die Ausgrabungen 2017/2018 in der Siedlung legten Hausbefunde der Römischen Kaiserzeit und der Spätantike frei.1495 Rund zehn Grubenhäuser, die teils zwei Bauphasen aufwiesen, gehörten in die Zeit der neckarswebischen und frühalamannischen Epoche, außerdem Vierpfostenspeicher und Zaunverläufe. Mehrere West-Ost ausgerichtete dreischiffige Langhäuser wurden identifiziert; eines misst 35×7 m, ein weiteres 23,5×7 m. Damit konnten in diesem Gebiet erstmals germanische Wohn-Stall-Häuser
1492 Hegewisch 2008, 68 Abb. 1. 1493 Ludowici 2017; auch Hegewisch 2018. 1494 Jäger 2018, 33 Abb. 2, 39; 2019. 1495 Kretschmer, Rüdiger 2018 (2019).
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nachgewiesen werden. Intentionell ist zudem ein Pferd wohl als Opfer niedergelegt worden, ebenso ein Hund. Andere bemerkenswerte Keramiken sind ein Drehscheibengefäß der späten Römischen Kaiserzeit mit einem figuralem Fries auf der Mitte des Gefäßbauches von Schweinitz, Ldkr. Wittenberg (Abb. 40)1496 und engmundige Drehscheibengefäße germanischer Produktion mit Merkmalen scheibengedrehter römischer Gefäße und Graue Drehscheibenware vom Typ Waltersdorf nach Vorbildern römischer NigraProduktionen. Keramik und besonders Drehscheibenkeramik war und ist regelmäßig ein Thema für die Archäologie; denn Keramik jeglicher Art bildet die Grundlage – wegen der Fundmengen – für die chronologische Einordnung von Siedlungen und Gräbern. Mehrere Tagungen und Sammelbände zur Drehscheibenkeramik sind veröffentlicht, so 2009 ein Band mit Aufsätzen und zahlreichen Abbildungen sowie Karten zu allen Gruppen der Drehscheibenkeramik.1497
Abb. 40: Drehscheibengefäß mit figuralem Fries von Schweinitz, Ldkr. Wittenberg.
1496 Hegewisch 2005, 92 Abb. 6; 2008, 80 Abb. 13, 82 Abb. 14, 84 Abb. 15. 1497 Błażejewski (Red.) 2008a.
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Für Drehscheibenkeramik gibt es ein (Fund-) Dichtezentrum im Thüringer Becken und im Braunschweiger Raum.1498 Die Drehscheibenkeramik zwischen Mittelelbe und Oder hat Jan Schuster 2004 bei der Neubearbeitung der Siedlung von Herzsprung mit den dortigen Funden vorgelegt.1499 Die einheimische Keramik in Polen der frühen römischen Kaiserzeit ist 2009 nach Formen, Chronologie und kultureller Zuordnung publiziert worden, und ebenso 2010 die freihandgeformten großen Vorratsgefäße.1500 Vor diesem Hintergrund heben sich dann die Formen der späteren Drehscheibenware deutlich ab, auch was die jeweilige Verbreitung betrifft, die damit andere Kommunikationsräume spiegelt. Die Drehscheibenkeramik des Typs Weklice, bezeichnet nach dem großen Gräberfeld Weklice bei Elbing/Elbląg (vgl. S. 890), gehört zur WielbarkKultur, datiert in die Phase B2/C1 (1./2. Jahrhundert), und die weite Verbreitung von Keramikgefäßen dieses Typs ist inzwischen erschlossen worden.1501 Während der späten Römischen Kaiserzeit und der frühen Völkerwanderungszeit setzte die Massenproduktion für den Handel mit Grauer Keramik ein.1502 Etwa 200 Plätze mit Überresten von Töpferstätten für Graue Keramik sind in Germanien bekannt, mit über 300 Öfen, die meist vereinzelt stehen, aber auch zwei oder drei Öfen beieinander sind ausgegraben worden. Sie gehören zur Przeworsk-Kultur. In Zofipole in Kleinpolen sind 57 Öfen, in Krakow-Pleszow an vier Fundstellen 31 Öfen ausgegraben worden und andernorts weitere. Damit sind aber noch keine großen Produktionszentren mit gleichzeitig betriebenen Öfen entdeckt worden, sondern die Befunde spiegeln eine lange Dauer der Produktion, in Zofipole beispielsweise über 180 Jahre, vom Beginn des 3. Jahrhunderts bis zum letzten Viertel des 5. Jahrhunderts. Die Autorin vermutet eine Koexistenz der Leute der Przeworsk-Kultur und der freien Daker in Nordwestrumänien und damit provinzialrömischen Einfluss. Ein weiteres seltenes Beispiel von mehreren Töpferöfen der PrzeworskKultur für Drehscheibenkeramik ist 2016 aus dem Raum Krakow publiziert worden.1503 Auch in Nordostungarn ist Keramik von Norden gekommen, jedenfalls als Einflüsse.1504 In den Jahren 1959 und 1960 wurde im Hernád Tal eine Siedlung ausgegraben, mit Funden der Przeworsk-Kultur. Drei Phasen heben sich heraus, eine keltische Phase, die Hauptbesiedlung während der Römischen Kaiserzeit (und eine dritte árpádische Phase). Die Keramik datiert in die Phasen B2/C1 (2. Jahrhundert) sowie in die Phasen C1/C2 und C3 (bis spätes 4. Jahrhundert bzw. um 400); es gibt Terra
1498 Gall 2012, Abb. 42. 1499 Schuster 2008c, 132 Abb. 1; 2004. 1500 Lasota 2009; 2010. 1501 Natuniewicz-Sekula 2008, 58 Fig. 6 Karte. 1502 Dobrzańska 2008, 203. 1503 Bulas, Link-Lenczowski, Okońska 2016. 1504 Soós 2014; 2019, 68 Fig. 1 Karte der Fundorte im Karpatenbecken, 79 Fig. 6 Fibeln. Knochenkämme, Glasfragmente; vgl. auch die Karte bei Dąbrowska, Mączyńska 2003,558 Abb. 94 Schraffur im Karpathenbogen (M. Måczyńska).
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Sigillata und Drehscheibenkeramik des 3. Jahrhunderts und facettierte Gläser. Neue Siedlungsgrabungen in Hernádvéce-Nagy-rét, Garadna-Kovács-tanya, MezőzomborTemető, Bodrogkeresztúr und Garadna-Kastély-zug bestätigen die Befunde, auch wenn eigentlich nur Vorratsgruben und Grubenhäuser sowie Herdstellen erkannt worden sind. Die Siedlungen erstrecken sich entlang der Flüsse, die Keramik besteht aus hart gebrannter, schwarzpolierter Ware und gröberen Drehscheibengefäßen. Evident sind auch bei der Verzierung der Keramik Kontakte mit den sarmatischen und quadischen Nachbarn. Diese zitierten Formulierungen weisen darauf hin, wie wenig sinnvoll ethnische Zuordnungen von Sachgütern aus Siedlungen sind; das ist überholte Forschungstradition. Der „germanische“ Bereich grenzt an den Raum des dakischen Limes, ist auch vom sarmatischen Gebiet in der ungarischen Tiefebene getrennt sowie – etwas unklar –und vom Siedelgebiet der Quaden. Man erkennt, die archäologischen Kulturgruppen werden ethnisch etikettiert, so wie die Przworsk-Leute als Vandalen benannt werden. Das Ende dieser Siedlungsphase fällt in die frühe hunnische Epoche. Später wird noch darauf zurückzukommen sein, dass die Drehscheibenkeramik „römischer“ Formen aus Haarhausen in römisch anmutenden Töpferöfen gebrannt (vgl. S. 507), doch kein direkter römischer Import von Werkstatt und Handwerkern war, sondern eine einheimische Adaption mit größeren Ähnlichkeiten zu den römischen Vorbildern, gewissermaßen Kopien nach eigener Vorstellung. Bei der Diskussion zu den Kultur- und Formenkreisen sowie der Siedlungskonzentrationen in Germanien, archäologisch konstruiert anhand der Verbreitung von Keramikformen und Grabsitten, habe ich auf die Verbreitungsbilder dieser Keramikkreise und ihre vielfältigen Überschneidungen hingewiesen (vgl. S. 93). Darauf möchte ich hier nicht weiter eingehen. Über den Zusammenhang von germanischen Töpfereien und eigener sowie importierter Drehscheibenkeramik berichtet die Erforschung der Siedlungsentwicklung durch die Zeiten zum Beispiel für Brandenburg.1505 Mit dem Aufkommen von Drehscheibenkeramik in Germanien, zuerst auf keltische Anregung der späten Latène- bzw. der frühen römischen Kaiserzeit, dann als Einfluss provinzialrömischer Technik, entstehen teilweise neue Muster. Aber ebenfalls lassen sich grob umgrenzbare Gebiete beschreiben, in den z. B. „Niedersächsische“ oder „Nordharzer“ Drehscheibenkeramik verbreitet ist. Nach der Entdeckung der Töpfereien im thüringischen Haarhausen,1506 in denen römische Keramikformen nachgeahmt und produziert wurden, kann man an der Ausbreitung dieser speziellen Töpfereierzeugnisse den Einflussbereich erkennen, da diese Ware immerhin zahlreiche Siedlungen im Umfeld erreicht hat (dazu auch S. 507).
1505 J. Brather, Hegewisch, Stapelfeldt 2011. 1506 Dušek 1992 / 1999a, b.
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Eine andere Aussage erlauben die leicht zu erkennenden Terra Sigillata-Scherben in den Siedlungen überall in Germanien. Das Interesse der Bewohner an dieser fremden Luxusware wird daran erkennbar, auch wenn es meist nur wenige Scherben sind, die übergeblieben sind. Damit wird indirekt auch das existierende weiträumige Handelsoder Kommunikationsnetz abgebildet, da jedes Gebiet tatsächlich erreicht wird. In der nahen Rheinzone ist das Fundaufkommen größer als in den Siedlungen, die einige hundert Kilometer entfernt vom Limes liegen. Und an der Küste entlang finden sich Terra Sigillata-Scherben in den Wurtensiedlungen häufiger als im Binnenland, ein Hinweis auf den Handel über das Meer. Man hat übrigens sogar Terra SigillataScherben als Spielsteine verwendet, andere durchbohrt und als Anhänger genutzt. Über die importierte römische Keramik wird an anderer Stelle ausführlich berichtet (vgl. S. 1116). Römische Faltenbecher wurden in Töpfereien Germaniens nachgeahmt.1507 Die Karte mit den Plätzen, an denen „intended beakers“, Faltenbecher, gefunden worden sind, bildet einen dichten Streifen von Mitteldeutschland über Polen und vor allem die Slowakei und Mähren ab.1508 In der Siedlung von Groß Meckelsen gibt es verschiedene Nachahmungen römischer Metall- und Glasgefäße in Keramik, erkennbar an den tiefen Rillen am Boden der Gefäße.1509 Das lenkt den Blick auf entsprechende Parallelen. In allen drei Kulturgebieten Germaniens an Elbe, Rhein und Weser gibt es aus dem Rahmen fallende Keramikgefäße, die sich an römische Formen anlehnen und diese nachahmen, als identische Kopien und in Übernahme von Details. Eine Mustertafel bringt das breite Spektrum dieser Nachahmungen (Abb. 41). Es gibt Bodenrillen wie bei römischen Becken und Kasserollen aus Bronze. Wenn germanische Keramik Drehrillen am Boden zeigt, war vielleicht die Unterseite zur Schauseite geworden, meist älterkaiserzeitlich datiert. Der Spezialist für Drehscheibenkeramik in Germanien M. Hegewisch gibt regelmäßig einen Überblick über den Stand der Forschung, so auch wieder 2018 bei einer Tagung in Berlin.1510 Eine Gesamtkarte der Drehscheibenkeramik ist vorgelegt (vgl. S. 1118). Zu beachten ist, dass der Anteil an Drehscheibenware in den Siedlungen durchaus sehr unterschiedlich ist. Während in Brandenburg dieser Anteil nur 2–3% ausmacht, liegt er in der Chernjachov-Kultur immerhin bei 90%.1511 Doch reihen sich an der Weichsel die Keramikbrennöfen wie an einer Kette auf. Die Massenherstellung mit Hilfe der Drehscheiben wird möglich, auch wenn noch Aufwulsten und Nachdrehen weiter angewendet werden. Es sind sehr verschiedene Gruppen von Drehscheibenkeramik, die aufgrund der Mengenherstellung weit um die 1507 Zuch 2009, 462 Fig. 1 Karte. 1508 Hegewisch 2005, 90 Karte 4; 2005 (2006) Abb. 38; Jäger 2019, 230 Abb. 143 Karte. 1509 Baier 2018, 77 ff. mit Abb., 84 Abb. 5 Mustertafel nach Hegewisch 2005 (2006), Abb. 11, 89 Abb. 9 nach Hegewisch 2005 (2006), Abb. 49 und 50 Voss 2020b. 1510 Hegewisch 2018 (Referat). 1511 M. Meyer 2018 (Referat).
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Abb. 41: Original und Nachahmung: Römische und germanische Formen in Metall und Keramik.
Töpfereien verteilt werden. Römische Töpfereien und die im thüringischen Haarhausen werden verglichen, und es zeigt sich, dass in Haarhausen gegenüber den genuin römischen innen rauhwandige Reibschalen doch andere, innen gegen die Kochgewohnheit glatte Schalen produziert wurden. Einiges Römisches wurde damals also missverstanden. Die Verteilung der Ware erreichte Siedlungen rundum im Abstand bis zu 50–60 km. Die Produkte aus Öfen an der Oder hatten Reichweiten bis 100 km. Doch auch während der ersten Jahrhunderte n. Chr. werden nicht nur Frauen in häuslichem Gewerbe Töpferei betrieben haben, wie konventionell gesagt wird. Denn in anderen Kulturen ist beispielweise über Fingerabdrücke an den Scherbenfunden nachgewiesen worden, dass auch Männer beteiligt waren und sich in den Dörfern eine Arbeitsteilung entwickelt hatte. Ohne Zweifel wurde in den germanischen Siedlungsgebieten Töpferei „industriemäßig“ für den Handel als Massenproduktion betrieben, worauf an anderer Stelle hingewiesen wird (z.B. S. 1119).
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8.2.4 Eisengewinnung Schon seit der frühen Latènezeit, ebenso in der Jastorf-Kultur wurde in Germanien Eisen gewonnen und zu Werkzeug und Waffen verarbeitet.1512 Sowohl Rennöfen, Verhüttungsöfen, als auch Schmiedegräber der Vorrömischen Eisenzeit sind im nördlichen Mitteleuropa ausgegraben worden.1513 Den Forschungsstand bis 1989 hat R. Pleiner im RGA zusammengestellt.1514 Experimentelle Archäologie hat diese frühe Eisengewinnung belegen können.1515 Im Folgenden schildere ich den gegenwärtigen Stand der recht umfangreichen Eisengewinnung in Germanien. Einige Siedlungsbefunde sind besonders aufschlussreich für diesen Wirtschaftszweig, da es in und bei ihnen eine Massierung von Eisengewinnungsöfen gegeben hat, aufgereiht außen an den Gehöftzäunen. Schon seit den späten vorchristlichen Jahrhunderten und verstärkt in der nachfolgenden Epoche wurde zunehmend in allen bäuerlichen Siedlungen Eisen aus nahebei anstehendem Raseneisenerz für den Eigenverbrauch gewonnen. Das Verfahren mit freistehenden Schachtöfen blieb über die nachfolgenden Jahrhunderten ungefähr gleich.1516 Doch einige Siedlungen produzierten Eisen eindeutig über den lokalen Bedarf hinaus für den Handel. In der bei Snorup nahe Ribe in Süd-Jütland ausgegrabenen Siedlung von über 1 km2 Fläche wurden in einem 35 ha großen Eisenproduktionszentrum 4000 bis 5000 Eisenverhüttungsöfen nachgewiesen, meist aufgereiht außen an den Zäunen der Gehöfte (Abb. 42.1).1517 Rund 25 Höfe mit 40 mehrphasigen Langhäusern und Scheunen sowie eine große Anzahl von Grubenhäusern sowie Schmiedeplätze gehören an dieser Stelle nacheinander in das 4. bis 6. Jahrhundert. In einer Phase standen sechs Gehöfte gleichzeitig, dabei ein 35 m langes Haus. Die vielen Eisengewinnungsöfen sind nicht einmal etwas Besonderes; denn bei zahlreichen anderen sorgfältig ausgegrabenen Ansiedlungen finden sich ebenfalls diese Batterien von Öfen. Man schätzt, dass hier in Snorup 24 Tonnen Luppeneisen (Roheisen, das noch weiter ausgeschmiedet werden musste) gewonnen worden sind, pro Jahr 600 kg zur Weiterverarbeitung zum Beispiel zu normierten Eisenbarren. Das spricht für eine Produktion für den Handel, nicht nur für Eigenbedarf, wie bei den meisten anderen Siedlungen.
1512 Brumlich, Meyer, Lychatz 2012; Stöllner et al. 2010, Eisengewinnung im Siegerland schon während der Latènezeit. 1513 Brumlich 2005; 2011; 2014; 2018a. 1514 Pleiner 1989a, b; Stöllner 2018.175 Abb. 3 Karte der Erzreviere in Mitteleuropa. 1515 Nikulka 1995. 1516 Jöns 1993, 65 Abb 59; Behre 2010, 272 Abb. 243; Jäger 2019, 352 Abb. 194. 1517 Carlsen, Nørbach 2005; Nørbach 1999, Pläne.
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2 Abb. 42: 1. Eisenverhüttungsöfen rund um in der Siedlung Snorup bei Ribe in Jütland. 2. Rekonstruktion eines Eisenverhüttungsofens: 1 Rennfeuerofen vor dem Betrieb, 2 Rennfeuerofen nach Beendigung des Verhüttungsprozesses, 3 Überrest eines Rennfeuerofens nach Entnahme der Luppe.
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Ähnlich umfassend war die Eisengewinnung in der Siedlung Joldelund, Kr. Nordfriesland,1518 und in anderen Dörfern in Schleswig-Holstein.1519 Auch die zugehörigen Schmiede sind über ihre Bestattungen mit Werkzeug fassbar.1520 In Schleswig-Hostein hat man seit Jahrzehnten Eisenöfen kartiert und ausgegraben, vorangetrieben von Hans Hingst. Aufgegriffen wurde das dann durch die Forschungen von Hauke Jöns durch mehrjährige Arbeiten, angefangen in der Siedlung Joldelund (Abb. 42.2).1521 Zwei weitere Zentren lagen bei Schuby und Süderschmedeby.1522 Bei Hvidhøjgård bei Haderslev in Jütland wurden bei Grabungen ab 1994 auf 6000 m2 mehrere Phasen einer Siedlung mit einigen Gehöften (7 Langhäuser und 5 Speicher sind im Plan eingezeichnet) und 71 Schlackengruben freigelegt. Die massenhaften Eisenöfen standen in Batterien bzw. Reihen bei den Häusern. Zwei Phasen lassen sich herausarbeiten, wobei die ältere über Dendrodaten um 460 n. Chr. liegt.1523 In Nordwestdeutschland wurden Rennfeueröfen in Heek-Nienborg, Kr. Borken, ausgegraben,1524 sowie im nordwestlichen Elbe-Weser-Raum. Auch für die Siedlung Flögeln-Eekhöltjen zeigt die Kartierung, in welchen Gehöftarealen und in welchen Grubenhäusern Eisen verarbeitet und geschmiedet worden ist, und das ging von der frühen bis zur späten Phase der Wandersiedlung, jedoch jeweils konzentriert.1525 Die ausführlich beschriebene Siedlung von Groß Meckelsen im Landkreis Rotenburg (Wümme) war neben anderem auch ein intensiv genutzter Eisenverhüttungsplatz, so wie auch an anderen Orten in Norddeutschland.1526 Die Verhüttungsöfen für Eisen wurden im Lahntal bei Wetzlar-Dalheim in den Jahren 2006 bis 2012 ausgegraben.1527 Freigelegt wurde eine rechteckige Anlage mit 13 Öfen und einer Grubenhütte darin. Anhand der Keramikfunde ergab sich als kurze Datierung für die Aktivitäten das dritte Viertel des ersten Jahrhunderts n. Chr. Zu beachten ist, dass die erste Radiocarbon-Datierung völlig in die Irre führte, und erst als man nur Proben von der Basis der Öfen genommen hatte, bestätigte sich die Datierung auch über den archäologischen Befund in die frühe Römische Kaiserzeit. Die Eisenproduktion in Dänemark in den fünf Jahrhunderten n. Chr. hat O. Voss erforscht und die Vorkommen von Eisenöfen kartiert; 1990 waren 52 Plätze bekannt, manche mit bis zu 10 Öfen. In der oben beschriebenen Siedlung Vorbasse (vgl. S. 191)
1518 Jöns 1997; 1999a; . 1519 Jöns 2007. 1520 Jöns 1995; Müller-Wille 1983, Henning 1991; 2004a. 1521 Jöns 1997; 1999a; 2007. 1522 Jöns 1999b. 1523 Andersen 1998, 156 Fig. 3 Plan der Siedlung. 1524 Nikulka et al. 2000. 1525 de Rijk 1996; 2007, 191 Abb. 86. 1526 Bock 2017. 1527 Gassmann, Schäfer 2018, 310 Fig. 1 Karte mit den Zentren der Eisengewinnung in Germanien, 311 Fig. 2 Plan der Grube mit den 13 Öfen; Schäfer 2014.
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sind Schlackengruben des 4. Jahrhunderts dokumentiert, ebenso in der Siedlung Mølleparken.1528 Eisengewinnung gab es in derselben Weise auf Seeland1529 und an vielen anderen Orten. Die Eisenproduktion in Nordschweden1530 ist ebenfalls mit den behandelten Siedlungen verbunden. An der Küste lagen die Siedlungen von Gene und Högom (vgl. S. 282), und die Verbindung zum Hinterland mit Eisengewinnung für Högom ist belegt. Die Überproduktion wird über spatenförmige Eisenbarren und ihrer Verbreitung fassbar. Eisengewinnung war in den skandinavischen Ländern in derselben Weise verbreitet, und die produzierte Menge reichte problemlos für die Herstellung von Werkzeug und Waffen. Als Beispiel sei noch auf die systematische Eisengewinnung, die es in Norwegen gab, verwiesen.1531 In den römischen Provinzen geschah übrigens die Eisenverhüttung in vergleichbarer Weise, auch die Öfen waren ähnlich konstruiert.1532 Neu sind auch die flächendeckenden Untersuchungen zur Eisengewinnung weiter im Osten Mitteleuropas. Fabian Gall nennt mehrere Siedlungen mit umfangreicher Eisenproduktion in der Altmark, in Mecklenburg und Vorpommern.1533 In Diedrichshagen in Vorpommern gab es eine frühkaiserzeitliche Produktionsstätte zur Eisengewinnung, gegraben in den Jahren 2010 und 2011. In der Nähe der Raseneisenerzlagerstätten sind 75 Rennfeueröfen, Grubenöfen, Ausheiz- oder Röstherde dokumentiert. Datiert werden die Befunde bis zu einem scheinbaren Niedergang in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts, oder gab es eine Siedlungsverlagerung bzw. eine Produktionsänderung? Der Eigenbedarf – so F. Gall – war durch die Nachweisdichte im Raum Greifswald flächig gedeckt, aber der Umfang an Verhüttungsplätzen weist wie andernorts auch auf eine klare Überproduktion für den Handel hin.1534 Die Eisenverhüttung im westlichen Odergebiet ist ebenfalls untersucht und publiziert worden.1535 Ausführlich sind solche Plätze nunmehr auch in Mecklenburg ausgegraben worden, wo die Zahl der Schlackengruben auch in die Tausende geht. In Wolkenberg, Ldkr. Spree-Neiße, sind Werkstattareale mit Meilern, Eisenerzlager und Verhüttungsöfen des 1. bis 4. Jahrhunderts dokumentiert. Hier wurde von 1991 bis 2001 das größte Eisenverhüttungszentrum der Römischen Kaiserzeit in diesem Raum erforscht, und zwar auf einem Areal von 2,2 auf 1,7 km Erstreckung.1536 Etwa 44 Werkplätze mit 1340 Rennfeueröfen und 52 Holzkohlemeilern sind erfasst. Pro
1528 Lund 1991,167 Fig. 3 Vorbasse, 168 Fig. 4 Mølleparken. 1529 Bendix Matthisen 2011. 1530 Ramqvist 1991, 315 Fig. 6 Karte der Eisenbarren. 1531 R. Jørgensen 2011; Stenvik 1997. 1532 Braun u. a. 2017. 1533 Gall 2012; 2014; 2013 (2015). 1534 Jöns 2009a; 2010a; Jöns, Wollschläger 1998. 1535 Schneeweiss 1996. 1536 Spazier 2001; 2006; 2007.
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Werkplatz standen 9 bis 100 Öfen, im Mittel knapp 20 bis 30 Öfen, und zu den Werkplätzen konnten jeweils auch die Meiler zugeordnet werden (Holzarten waren Eiche und Kiefer, kaum Buche oder Eberesche). In 80 bis 100 Jahren wurden ca. 14,5 Tonnen Eisenluppe, das sind 9, 6 Tonnen Eisen produziert, wozu 160 Tonnen Erz und 240 Tonnen Holzkohle gebraucht wurden. Die Dendro- und C-14-Daten belegen das zweite Drittel des 3. und die Mitte bis Ende des 4. Jahrhunderts. Im Gegensatz zu anderen Befunden lag dieses Eisenproduktionszentrum anscheinend weit ab von den dörflichen Siedlungen.1537 Eisengewinnung auf Fundplätzen des Teltows mit Rennöfen und Hammerschlag, als Hinweis auf die Schmiede, ist belegt (vgl. oben Abb. 36.1). Die Besiedlungsdichte während der vorrömischen Eisenzeit war hier beachtlich; Plätze sind mindestens alle 5 km nachgewiesen.1538 Im Teltow wurde Eisen schon vom 6./5. bis zum 1. Jahrhundert v. Chr. gewonnen. Nachgewiesen sind 400 Plätze; die Öfen, von denen es zwei Typen gibt, wurden anscheinend zehnmal wiederverwendet.1539 Ebenfalls umfangreich ist inzwischen in der Lausitz Eisengewinnung erforscht.1540 In Merzdorf, Oberlausitz, ist ein Eisenproduktionsplatz des 3. und 4. Jahrhunderts wohl mit mehr als 600 in Reihen angeordneten Schlackengruben entdeckt worden. Immer standen etwa vier Öfen nebeneinander, wie bei den Öfen in Großpolen (vgl. S. 451); in Reichwalde ist ein Verhüttungsplatz mit 16 Öfen aus dem späten 3. und dem 4. Jahrhundert (Phasen C2-C3) erfasst worden; in Spreewitz wurden 1997 auf einer kleinen Fläche von nur 11 auf 25 m immerhin 59 Rennfeueröfen in vier Gruppen ausgegraben (ebenfalls C2-C3); in Klein Göritz sind von 2007 bis 2009 über 100 Verhüttungsöfen, datiert vom 1. bis zum Ende des 4. Jahrhunderts, registriert und dokumentiert. Allgemein zur Eisenproduktion schon während der späten Eisenzeit in der JastorfKultur hat M. Brumlich mehrere Studien und Grabungsberichte vorgelegt.1541 Für diese Jahrhunderte ist der Forschungsstand noch knapp. Kartiert werden die Gräber mit Eisenschlacken oder Raseneisenerz, außerdem die Bestattungen mit Schmiedewerkzeugen und, zentral, die nachgewiesenen Rennöfen mit sieben Fundorten. Seit der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. ist eine voll entwickelte Eisenproduktion anzunehmen und belegt für den jeweiligen Eigenbedarf. Größere Öfen für höhere Eisenausbeute sind jedoch auch überliefert, und zwar durch die Ausgrabungen in Glienick, Ldkr.Teltow-Fläming, mit acht Rennöfen und 11,8 Tonnen Verhüttungsschlacke. Zu diesem Fundort Glienick 14 gibt es nun eine sehr ausführliche Veröffentlichung mit breiter Dokumentation der Verteilung der Verhüttungsschlacken und der
1537 Leube 1992b. 1538 Brumlich 2018a, 55 Abb. 54 Besiedlung des südlichen Teltows. 1539 M. Meyer 2018b; Brumlich 2010. 1540 Koch-Heinrichs (Hrsg.) 2014, 144–195 Oberlausitz, 175 f. mit Abb. 16 und Info-Feld: Merzdorf (G. Wetzel), 181 f. mit Abb. 19: Reichwalde (G. Wetzel), 186 f. mit Abb. 21: Spreewitz (P. Schöneburg, F. Koch-Heinrichs); 196–253 Niederlausitz, 232 mit Abb. 18: Klein Görigk (U. Grünwald). 1541 Brumlich 2014, 156 Abb. 1 Schlacken, 157 Abb. 3 Schmiedegräber, 160 f. Abb. 5 Rennöfen.
8.2 Handwerk
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an der Ackeroberfläche eingemessenen Ofenschachtfragmente, datiert in die vorrömische Eisenzeit.1542 Zahlreiche Fundplätze der vorrömischen Eisenzeit am Rande der Glienicker Platte mit Funden der Eisenverhüttung und -verarbeitung sind kartiert.1543 In der Mitte hat diese landschaftlich beschreibbare Platte einen Durchmesser von 7 km und an der Kante findet sich die Aufreihung der Öfen, ebenso auch auf anderen nahebei gelegenen Höhenflächen. Ein weiterer Fundplatzliegt bei Groß Schulzendorf 18, wo die Eisengewinnung über C-14 auf 400–200 v. Chr. und 200–150 v. Chr. datiert werden konnte. Das Modell zur Organisation der Eisenverhüttung mit dem Ofentyp „Glienick“ erläutert einen Vier-Jahres-Zyklus mit dem Wechsel zu verschiedenen Siedlungen in diesem Gebiet, jeweils mit den Netzwerken in den Siedlungen (Abb. 43).1544 In den nachfolgenden ersten Jahrhunderten n. Chr. ist die Massenproduktion nicht anders gewesen. Siedlungen mit einer solchen Überproduktion sind auch andernorts ergraben worden, so im Westen in den Niederlanden bei Heeten, Prov. Overijssel, wo im frühen 4. Jahrhundert mit über 1000 Rennfeueröfen rund 15 Tonnen Luppeneisen gewonnen worden sind.1545 Mehrere Eisenverhüttungszentren einschließlich der Analyse von Schlackenresten, beispielsweise bei Oss-Schalkskamp, Nord Brabant, wurden oben im Rahmen der Siedlungsbeschreibungen erläutert (vgl. S. 234 f.).1546 Eisengewinnung im Harz wird erst jüngst beschrieben.1547 Es ging hier um Brauneisensteinverhüttung während der Römischen Kaiserzeit, wovon mehrere Schachtöfen freigelegt sind. Eisenerzabbaugebiete lagen am Iberg und im Rammelsberg am Harz.1548 Auch hier gab es anscheinend keine Siedlungen in der Nähe; das Erz als Rohstoff wurde vielleicht saisonal abgebaut. In Elbingerode am Nordharzvorland wurde ebenfalls während der Römischen Kaiserzeit Eisen gewonnen, Rohstoff war hier Roteisenstein.1549 Im polnischen Góry Świętokrzyskie östlich von Kielce (dem Heiligkreuzgebirge) wurden auf 800 km2, auf einer Fläche von fast 30x30 km, ungefähr 6000 metallurgische Plätze mit Tausenden von Öfen in Reihen, bei rund 50 Siedlungen ausgegraben, datiert ins 3. und 4. Jahrhundert. Dort gab es außerdem Untertagebergbau auf Eisen. Die Masse des produzierten Eisens diente zur Versorgung der Kriegerverbände mit Rohstoff für Waffen und wurde vielleicht in die römischen Provinzen verhandelt. Zentral diente 1542 Brumlich 2018b, 82 Abb. 38 Glienick 14:Verteilung der Verhüttungsschlacken, 83 Abb. 39 Verteilung der Ofenschachtfragmente, 223 Abb. 181 Lage der neun erkannten Rennöfen vom Typ „Glienick“. 1543 Brumlich 2018b, 481 Abb. 489; 485 Abb. 492 und 493 Groß Schulzendorf, 490 Abb. 495 Modell. 1544 Dazu auch Meyer, Wulf, Dembinski, Kirschbaum 2004, sowie für Eisengewinnung in Dänemark Lingstrøm 2008, 20 (Ofen vom Typ Glienick); Brumlich 2018a, 57 Abb. 56 Rennofen Typ Glienick. 1545 Verlinde, Erdrich 1998. 1546 Brusgaard et al. 2015. 1547 Alper 2016, 247 Abb. 3 C-14 Datierungen der Öfen. 1548 Fuhrmann, Steinmetz 2013, 139. 1549 Klatt 2016.
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Abb. 43: Modelle zur Organisation der Eisenerzverhüttung auf der Glienicker Platte. 1. Organisation der Eisenerzverhüttung mit dem Ofentyp „Glienick“ – Beispiel eines Vierjahreszyklus mit den Siedlungen.
dieses Eisen aber auch zur Herstellung landwirtschaftlicher Gerätschaften wie Sicheln und Pflugscharen, parallel zum Anstieg der landwirtschaftlichen Produktion.1550 Nach dem Bericht schon von 1992 ging die Erforschung zur Eisengewinnung in diesem Gebirgsareal weiter, und neue Ergebnisse wurden 2016 publiziert.1551 Bei Grabungen
1550 Leube 1992b. 1551 Orzechowski et al. 2016.
8.2 Handwerk
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Abb. 43: 2. Zwei Modelle zur Organisation der Eisenerzverhüttung für vier Siedlungen.
1995 wurden einige Schmelzöfen mit mineralogischen und metallurgischen Verfahren untersucht und detailliert analysiert. Parallel dazu wurden viele Dutzend Öfen im Gruppen, z. B. zu 18 Öfen, insgesamt 466 Öfen mit Schlacken entdeckt, einschließlich der notwendig zu benutzenden Blasebälge (tuyeres). Die Öfen waren hier wie anderswo auch aus Lösslehm aufgebaut, mit ihnen wurden Temperaturen von 200° bis 700° und 600° bis 900° C erreicht, so dass der Lehm innen schon glasierte. Metallisches Eisen war natürlich noch selten direkt beim Ofen verblieben, aber es konnte Fayalit, Hercynit und Wüstit als Rohstoff nachgewiesen werden. Um dieses Eisengewinnungszentrum hat sich zugleich eine Konzentration von Siedlungen und Gräberfeldern entwickelt und damit auch einen administrativen und politischen Mittelpunkt der Przeworsk-Kultur gebildet in den Phasen B2 bis C1 (spätes 1. bis Mitte 3. Jahrhundert). So gibt es hier auch eine Kriegerbestattung bei Sandomierz-Krakówka der Phase B2a (um 100 n-Chr.) mit Waffen, zahlreichen römischen Bronzegefäßen, wobei eine Situla als Urne diente, und Silberartefakten, weitgehend zerschmolzen,Werkzeugen und Alltagsgerät sowie Keramikgefäßen, die teils importiert sind. Das zeigt ein weitreichendes Netzwerk der Elite innerhalb Germaniens. Diese Brandbestattung gehört somit zur Gruppe der „Fürstengräber“ (vgl. S. 962).1552 In den letzten Jahren ist die Eisengewinnung in der Przeworsk-Kultur auf breiter Basis archäologisch erforscht worden. Die Przeworsk-Kultur, die von etwa 200 v. Chr. 1552 Koswalczyk-Mizerakowska 2013/2014, 171.
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bis in die Mitte des 5. Jahrhunderts n. Chr. bestand, war nach Meinung der polnischen Forschung das größte und am längsten existierende „politische System“ in diesen Regionen, das nach alter Vorstellung zu den Lugiern und Vandalen als Stammesgruppierungen gehört hat.1553 Die alten und neuen Zentren sind zusammengestellt. Eine Kartierung zeigt die größeren und kleineren Verhüttungszentren auf dem Gebiet der Przeworsk-Kultur,1554 im Heiligkreuz-Gebirge (Świętokrzyskie mountains), in Masowien bei Warschau und in verschiedenen Arealen in Schlesien. Es gab also Zentren einer Massenproduktion von Eisen, die aber durchaus auch jeweils verschiedenen organisiert waren. Dabei ging es nicht nur um die Versorgung der Nachbarschaft,1555 sondern auch um eine Überschussproduktion für den Handel in die Gebiete ohne eigene Produktion. Die erschmolzenen Eisenluppen mussten zudem weiterverarbeitet und ausgeschmiedet werden. Allgemein wird gesagt, dass die Leute der PrzeworskKultur einen besonderen Hang zum Eisen gehabt hätten; sie sei eine Kultur des Eisens und stellten nicht nur Waffen und Werkzeug aus Eisen her, sondern auch Kleidungsaccessoires, während die Leute der Wielbark-Kultur eher auf Buntmetall fixiert waren. Aber das ist teilweise auch nur eine statistische Unterscheidung.1556 Die besonders eindrucksvolle Dichte von Verhüttungsplätzen ist in Masowien westlich von Warschau dokumentiert worden (vgl. oben Abb. 36.2).1557 Dort bildete Milanówek/Falęcin ein Zentrum während der späten vorrömischen und der Römischen Kaiserzeit, entdeckt in den 1960er Jahren auf 9 bis 12 Hektar. Auf nur 1500 m2 wurden rund 1000 Schlackengrubenöfen, vier Kalköfen und eine Reihe von Gebäudegrundrissen freigelegt, auf 100 m2 etwa 180 Öfen. Über Geomagnetik sind bis zu 15 000 weitere Verhüttungsöfen nachgewiesen. Im Gebiet von Masowien begann also die Massenproduktion von Eisen während der späten vorrömischen Eisenzeit, hatte den Höhepunkt in den ersten beiden Jahrhunderten n. Chr. und endete zu Anfang des 3. Jahrhunderts. Wie auch andernorts haben Archäologen auch hier experimentell Eisen verhüttet, die Öfen rekonstruiert und die Ausbeute geschätzt.1558 Die Versorgung mit Eisen und die Gewinnung von Eisen war für die Bewohner in Germanien also nirgends und zu keiner Zeit ein Problem, was gegen die These römischer Autoren wie Tacitus spricht, dass die Germanen unter Eisenknappheit gelitten hätten.1559 Es gab also genug Eisen, um Werkzeuge für die Landwirtschaft, für die verschiedenen Handwerke und zur Herstellung von Waffen in Schmieden zu
1553 So auch Andrzejowski 2010. 1554 Orzechowski 2018, 393 Fig. 1 Verschiedene Verhüttungszentren im Gebiet der Przeworsk-Kultur, 394 Fig. 2 die Massen-Ofenbatterien im Heiligkreuzgebirge. 1555 Pleiner 1989a; 1989b; 2000. 1556 Gauß 2008. 1557 Woźniak 2018, 364 Fig. 1 Karte und 365 Fig. 2 Siedlung mit den Öfen; Janiszewski 2018 zur Datierung: späte vorrömische Eisenzeit und Przeworsk-Kultur. 1558 Madera, Kik, Suliga 2018. 1559 Müller-Wille 1983, 218 f. mit Karten Abb. 1 und 2.
8.2 Handwerk
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produzieren. In vielen Gebieten gab es das Roherz in Gestalt der Eisenablagerungen in Boden, dem Raseneisenerz, hinzu kamen an anderen Orten Manganvorkommen. Kleine nur meterhohe Erzschmelzöfen gab es überall, Gehöfte in zahlreichen Dörfern waren umgeben von einem Ring derartiger Öfen. Diese wurden zwar zumeist nicht alle gleichzeitig betrieben, zeigen aber vielmehr stattdessen die kontinuierliche Produktion von Eisen. Andere Eisenerzreviere wurden abseits der Siedlungen ausgebeutet. In Zentralpolen wurde auf diese Weise Eisen als Massenangebot produziert, wie die hunderte freigelegten, in Reihen aufgestellten Öfen bezeugen, die gewissermaßen kleine Industriegebiete bildeten.1560 Die Überproduktion an diesen Orten wurde sicherlich auch exportiert. Bergmännisch gewonnenes Eisenerz erbrachte derartig viel Eisen, dass die Abgabe an den Fernhandel ins Römische Reich möglich war, wie überliefert ist. Es gab wohl tatsächlich Export von Eisen in die römischen Provinzen.1561 Ich könnte die Listen über Eisengewinnungsreviere ständig noch erweitern. Eisen wurde tatsächlich fast in jeder Siedlung ausreichend gewonnen, oftmals sogar mit Überproduktion; auch Lagerstätten wurden fernab von Dörfern ausgebeutet. Damit ist wiederum ein Topos antiker römischer schriftlicher Überlieferung widerlegt, nämlich dass es den Germanen an Eisen mangelte. Einige Mengenangaben sind aufschlussreich, die wir F. Nikulka aus dem Jahr 1995 und H. Jöns aus dem Jahr 1997 verdanken.1562 Ausgangspunkt ist die Menge an Eisen, die in diesem Falle eine Legion von 5000 bis 6000 Mann und Kohorten und Alen mit jeweils 500 Soldaten brauchen würden. Ein römischer Legionär enthielt in seiner Rüstung neben anderen Materialien immerhin 16,4 kg Eisen. Für das Truppenkontingent des Varus werden 200 000 kg Eisen bzw. 200 Tonnen, berechnet. Nach Nikulka braucht man für 200 000 kg Eisen rund 300 000 kg Luppe, 1 666 666 kg Schlacke und 24331 Rennöfen (die jeweils 68,5 kg Eisen liefern konnten.) Nach Jöns braucht man für 200 000 kg Eisen rund 736 800 kg Luppe, 3 508 000 kg Schlacke und 51212 Rennöfen (bei 65,5 kg Produktion pro Ofen). Die Zahlen sind also unterschiedlich, geben aber durchaus eine realistische Vorstellung vom Produktionsaufwand. Weitere Zahlen gibt es für die gebrauchte Erzmenge, die nötige Holzkohle, das Holz für die Gewinnung der Holzkohle und den Wald für diese Mengen. Das sind 624 ha bzw. 6,24 km2, also Waldareale von 2,5 auf 2,5 km. Eine Kartierung von Verhüttungsnachweisen der vorrömischen Eisen- und der Römischen Kaiserzeit in Nordwestdeutschland bildet den Hintergrund, wenn römisches Militär aus dem Land heraus das Eisen gewinnen wollte und das nicht aus den Provinzen mitgenommen hat. Die Krieger in Germanien, die Gegner der Legionäre, müssen über ähnliche Eisenmengen verfügt haben, wenn sie den Kampf annehmen konnten. 1560 Bielenin 1996. 1561 Godłowski 1973. 1562 Nikulka 1995; Jöns 1997; zitiert und ausgewertet bei M. Meyer 2012b, 153 Tabelle römischer Legionär und Eisen, 157 Abb. 5 Karte der Verhüttungsnachweise in Nordwestdeutschland.
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Erwähnt sei, dass es außer den Eisenverhüttungsöfen auch andere technische Einrichtungen und Öfen während der Römischen Kaiserzeit im Norddeutschen Tiefland und in Polen gegeben hat, und zwar Kalkbrennöfen, Räucher- und Darranlagen, Holzkohlemeiler, Backöfen und erwartungsgemäß in nicht geringer Anzahl Töpferöfen zur Produktion von handgeformter Ware und von Drehscheibenkeramik.1563 Als Beispiele seien die Kalkbrennöfen in der Lausitz in Briesnig genannt1564 und zwischen Weser und Weichsel allgemein.1565 Außerdem sind Teerschwelgruben häufiger gefunden und ausgegraben worden. Auch ihre Funktion ist wie bei den experimentellen Rennfeueröfen ausprobiert worden. Im Schema gibt es zwei Typen dieser Teerschwelgruben, der eine braucht ca. 500° Grad Celsius und der Teergrubenmeiler ca. 400– 700° Grad.1566
8.2.5 Salzgewinnung Über die Gewinnung von Salz in Germanien, einer lebensnotwenigen, alltäglich benötigen Ergänzung zur Ernährung, ist wenig bekannt, aber vorauszusetzen; denn für die Menschen ist Salzbedarf immanent. In Bad Nauheim sind die keltischen Salzpfannen aus Blei gut dokumentiert, Namen wie Halle (an der Saale) weisen auf Salzgewinnung hin, ebenso jüngere Spuren in Soest. Die Saline Bad Nauheim hat während der Okkupationszeit gearbeitet, wie Dendrodaten ergeben haben, und die jährlichen Produktionsmengen lagen bei 16 Tonnen schon während der Latènezeit.1567 Die Forschung war lange der Ansicht, Salzgewinnung sei nur eisenzeitlich zu beweisen. Doch jetzt sind klare Belege für Kochsalzgewinnung über die Funde von Säulenbriquetagen ausgegraben worden, Keramikgerätschaften, die man für Salzpfannen brauchte.1568 Briquetagen wurden seit der Bronzezeit verwendet, um Sole aus Quellen zu sieden. Bei Wiedemar, Ldkr. Nordsachsen, an der Grenze zu Sachsen-Anhalt, wurden 2007 und 2008 auf 9000 m2 Grabungen durchgeführt und dabei der Teilausschnitt einer Siedlung der frühen bis späten Römischen Kaiserzeit aufgedeckt mit Brunnen, Vorratsgruben und Feuerstellen, darunter Salzsiedeöfen. Immerhin ist ein vergleichbarer Befund in Tangermünde in der Altmark belegt. Die allgemeine Situation schildert 2004 und wieder 2018 Th. Stöllner.1569 Die Karte bringt tatsächlich für Germanien zwischen Rhein und Weichsel keine Fundstellen, außer einige kleine Hinweise auf
1563 Uschmann 2004. 1564 Volkmann 2014, 139 Abb. 8. 1565 Uschmann 2006. 1566 Todtenhaupt, Kurzweil 2007, 191–193 mit Abb. 2 bis 4. 1567 Rothenhöfer, Bode 2015, 326 f.; v. Kurzynski 2018, 180 f. 1568 Döhlert-Albani 2018, 507 Abb. 1 und 520 Abb. 12 Briquetagen, vgl. auch Zeiler 2013. 1569 Stöllner 2004, 371 Abb. 42 Karte; 2018, 177 Abb. 5 Karte der Salzgewinnung bis 1. Jahrtausend n. Chr.
8.2 Handwerk
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Meeressalinen an der Nordseeküste, im römischen Schwäbisch Hall, wie der Name schon andeutet, und vielleicht im südlichen Polen bei Wieliczka. Die Verteilung von lokalen Salzressourcen war in der Germania magna wohl kleinräumig. Die Verbreitung von Weser-Ems-Briquetagen weist darauf hin;1570 von den rund zehn Fundstellen sind nur wenige in die ersten Jahrhunderte n. Chr. zu datieren. Immerhin meint E. Först, „dass sich im nordwestdeutschen Küstengebiet Anzeichen eines ‚Salzhandels‘ während der römischen Kaiserzeit ergeben haben, der in ‚Briquetage‘-Funden faßbar wird“. Eine binnenländische Gewinnung von Salz wird in Korrelation von kleinen Bleibarren und Solequellen des 1. bis 3. Jahrhunderts gesehen. Aus der kurzen Phase der römischen Okkupation liegen zwar noch keine Befunde vor, dafür in Soest sind Siedepfannen ab dem 5. Jahrhundert nachgewiesen. Im Jadebusengebiet wurde Salztorf abgebaut,1571 was durchaus ein Eingriff in die natürliche Landschaft war und diese nachhaltig veränderte. Briquetagenfunde aus Siedlungen an der unteren Weser bestätigten diese Salzgewinnung und den Salzhandel in Germanien.1572 In der Wurtensiedlung Einswarden wurden Fragmente von Briquetagen gefunden (vgl. S. 198).1573 Da Salz lebensnotwendig ist und auch für die Konservierung benötigt wurde, wird es eine durchaus umfangreiche Salzgewinnung in Germanien gegeben haben.
8.2.6 Bleigewinnung Blei brauchte man in Germanien unter anderem für die Schmuckherstellung, beispielsweise um Formen zu schaffen. Die Gewinnung durch die einheimische Bevölkerung von Blei und die Produktion von Bleibarren und Gerätschaften ist ein vielfach diskutiertes Problem, weil das den Leuten in Germanien lange nicht zugetraut wurde und davon ausgegangen wird, dass Blei nur unter der Regie Roms gewonnen worden sein kann; und zwar jenseits der Grenze auch im Siegerland von den römischen Provinzen am Rhein aus. Mit der Bleigewinnung hängt indirekt, weil immer mit dem Bleierz verbunden, auch die mögliche Silbergewinnung zusammen. Die Hinzufügung von Blei zur Bronze senkt den Schmelzpunkt, wodurch diese sich besser gießen lässt. Die Spuren des Bergbaus während der Römischen Kaiserzeit sind 2006 in einer Monographie zusammengestellt.1574 Im Römischen Reich gab es in vielen Gegenden rund ums Mittelmeer Bleibergwerke, und Blei wurde in mächtigen Barren über weite Strecken verhandelt; aus gesunkenen Schiffen sind davon zahlreiche dokumentiert worden.1575 1570 Först 1988, 357 Abb. 1. Fundorte mit Briquetagen, 363 Zitat, auch Leidinger 1983, Briquetagen. 1571 Siegmüller, Bungenstock 2010. 1572 Siegmüller, Hübener 2010. 1573 Siegmüller 2018. 1574 Köhnen, Reininghaus, Stöllner (Hrsg.) 2006. 1575 Davies 1935/1979; S.W. Meier 1995.
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„Germanisches Blei für Rom. Zur Rolle des römischen Bergbaus im rechtsrheinischen Germanien im frühen Principat“, so heißt ein Aufsatz von 2005;1576 die Autoren gehen davon aus, dass dort für Rom vielleicht mit römischen Bergleuten gearbeitet wurde oder mit Germanen für den Handel mit den Römern. Wer die Bleigewinnung im Siegerland und an anderen Stellen außerhalb des Limes in Germanien aber betrieben hat, ob tatsächlich nur römische Bergleute und Handwerker das übernommen hatten oder ob nicht auch einheimische Leute diese Kenntnisse besaßen und erlernt hatten, sollte bedacht werden. Es gibt eine Reihe von schweren Bleibarren, auf deren Beschriftung es „Plumbum Germanicum“ heißt. Gleich wo sie im römischen Handelsnetz gefunden worden sind, oft in Schiffswracks, wird das so gedeutet, dieses Blei stamme aus Germanien, aus der Provinz Germania inferior, aus der Eifel oder aus dem rechtsrheinischen Gebiet, dem Bergischen Land und dem Siegerland. Aber was GERM in der Inschrift tatsächlich bedeutet, ist doch noch offen; C. Domergue meint beispielsweise, es sei einfach ein Markenzeichen und meint „echt, authentisch“. Aus einem Schiffswrack vor Sardinien stammt ein Barren von 64,3 kg Gewicht, was etwa 196,3 römischen librae entspricht. Datiert in die Jahrzehnte 20/10 v. bis 14 Chr. trägt der Barren die Inschrift: AVGVSTI CAESARIS GERMANICVM. Die Isotopenanalysen weist auf Bleiminen in der Eifel oder in Westfalen, und die Ausbeutung soll während der damaligen Militärkampagne ins Germanische dort erfolgt sein. Ein zweiter Barren, ebenso datiert 20/10 v. bis 14 n. Chr., wiegt 78,6 kg, was 240,03 römischen librae entspricht, und die Inschrift heißt: PVDENTIS GERM(ANICVM PLVMBVM); die Isotopenanalysen weisen ebenfalls in die Eifel oder ins Sauerland.1577 Im Museum von Arles liegen Bleibarren, die ebenfalls aus einem Wrack stammen. Zwei der Barren wiegen 52,7 kg und 52 kg. Das Schiff wurde 1989 geborgen und daraus etwa 100 Barren mit einem Gesamtgewicht von 5,5 t eingesammelt. Die dabei gefundenen Amphoren datieren in die Mitte oder vielleicht in die 2. Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr. Die Inschriften dieser Barren lauten: VERVCLAE PLVMB GERM und IMP CAES. Aufgrund der Isotopenanalysen und ähnlicher Bleifunde aus Deutschland geht P. Rothenhöfer davon aus, dass dieses Blei GERM(ANICVM) seinen Ursprung in Germanien hätte.1578 Ein weiterer Barren wurde in der Rhone gefunden, datiert in die zweite Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr. Er wiegt 63,3 kg, was 193 römischen librae (zu 327,45 g) entspricht. Hier lautet die Inschrift: SOCIORVM PLVMB GER und die Auflösung SOCIORVM PLVM(BVM) GER(MANICVM).1579 P. Rothenhöfer hat zudem u. a. einen Bleibarren untersucht und analysieren lassen, der bei St. Aldegund an der Mosel mit einem weiteren Barren zusammen 1576 Hanel, Rothenhöfer 2005. 1577 Genovesi 2009. 1578 Sintes 2009. 1579 Marty 2009.
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gefunden worden ist und ins 5. Jahrhundert n. Chr. anhand der kaiserlichen Stempelungen datiert werden kann. Es handelt sich wahrscheinlich um Stempel unter Valentinian III. (425–455). Die Isotopenanalysen sprechen für die Herkunft aus der Nordeifel (also nicht aus Germanien). Stimmt die Lesung, dann folgt daraus, dass römische Herrschafts- und Verwaltungsstrukturen in der spätantiken Provinz Germania secunda1580 noch nach 425 funktioniert haben. Die Relationen zwischen den Bleibarren mit hohen Gewichten aus Schiffswracks, dem Bleiverbrauch im Römischen Reich mit den Provinzen und den bisher in Germanien nachgewiesenen Mengen sollten auch bei den Bewertungen bedacht werden. Ich weise auf die Sarkophage aus Blei hin, die in manchen Gebieten des Römischen Reiches üblich waren, so beispielsweise in Nordgallien, und die von beachtlichem Gewicht sind.1581 Eine erstaunliche Menge an verzierten Bleisarkophagen ist besonders in der Normandie aus einer Werkstatt bekannt geworden, und es gibt Hinweise auf Musterplatten aus Britannien, die als Vorbild gedient haben. Auch für die Salzgewinnung wurden große Bleipfannen benötigt, wenn es darum ging, Salzsode zu sieden. Nun sind jüngst zahlreiche weitere Isotopenanalysen angefertigt worden,1582 die bestätigen, dass das Blei aus der Eifel oder aus den rechtsrheinischen Gebirgen stammt, aus dem Bergischen Land und dem Sauerland.1583 Zu beachten ist, dass es regelmäßig Eifel oder Sauerland heißt, dass also die Analysen nicht genau unterscheiden können. Es ging dabei aber um die Analysen des Bleis an römischen Großbronzen, an Reiterstatuen. Das Blei in der Legierung der beiden sehr ähnlichen Pferdeköpfe von Waldgirmes und Augsburg (vgl. S. 1092)1584 kommt in erster Linie aus der Eifel oder aus den Sauerland bzw. dem Bergischen Land: Das bedeutet, dass die deutschen Lagerstätten den römischen Handwerkern zur Herstellung von Bronzelegierungen für den Statuenguss schon während der römischen Okkupation zur Verfügung standen. Kleinere Vorkommen wie in Wiesloch […] haben vor allem in der späten Kaiserzeit für den lokalen Bedarf gedient.1585
Nach der Bleiisotopenanalyse setzte der römische Bleibergbau1586 in diesen Gebirgen offenbar gleich nach den Gallischen Kriegen in den beiden letzten Jahrzehnten v. Chr.
1580 Rothenhöfer 2007b. 1581 Gillet, Millereux-Le Béchennec 2017, mit weiterführender Literatur. 1582 Zur Bleiisotopenanalyse auch Rothenhöfer, Bode, Hanel 2018, 36 Analysendiagramme als Beispiele. 1583 Willer, Schwab, Mirschenz, Schneider 2016 (2017) mit 112 f. Karte mit den Fundorten von Großbronzen, jenseits des Rheins Dorsten-Holsterhausen und Waldgirmes. 1584 Willer u. a. 2016 (2017) 61 Abb. 3 a-b (Augsburg) und 79 Abb. 13 (Waldgirmes), 121 Abb. 31 a-b Augsburg und Waldgirmes. 1585 Willer u. a. 2016 (2017) 93. 1586 Zur römischen Bleigewinnung allgemein Hanel, Rothenhöfer 2013.
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Geb. ein.1587 In den Abbaugebieten in der Nordeifel wurde Blei und Silber gewonnen; und Bergbau auf Blei ist im Bergischen Land bei Rösrath-Lüderich, Engelskirchen und Königswinter-Oberpleis belegt; für das Sauerland gibt es aber noch keinen archäologischen Nachweis, jedoch Barrenfunde bei Brilon mit der Inschrift: PLUM(BUM) GERM(ANICUM) und IMP CARS, was also ein Hinweis auf dortige Bleiproduktion unter Augustus ist.1588 Am Lüderich ist immerhin römischer Blei- und Silberbergbau nachgewiesen, der dann weiter bis in die Karolingerzeit betrieben wurde.1589 Der römische Bergbau mit Schächten auf dem Lüderich bei Rösrath im Rheinisch-Bergischen Kreis wurde durch Grabungen 2000 bis 2002 untersucht, nachdem hier schon 1997 eine frührömische militärische Bergbausiedlung mit Verhüttung entdeckt worden war.1590 Funde belegen die Bleiproduktion, und auch die Extraktion von Silber durch Kuppelation. Römische Keramik datiert die Aktivitäten in die augusteisch-tiberische Zeit, in die ersten beiden Jahrzehnte des 1. Jahrhunderts n. Chr., somit im germanischen Gebiet, wenn auch in unmittelbarer Nähe zur römischen Provinz. Doch gibt es noch spätere Spuren von Bergbau am Ort. Mehrere Verhüttungsplätze zwischen wohl jüngeren Pingen und der römischen Siedlung mit Schlackenhalden sind bisher nicht datiert; es könnte sich aber auch um von Germanen weiter betriebene Bleigewinnung handeln. Auf einer Karte sind am Rand des Bergischen Landes zum Rhein hin rechtsrheinisch mehrere Fundstellen mit Bergbau der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr. verzeichnet. An einigen Stellen wurde schon während der späten Eisenzeit Bergbau auf Bleierz betrieben. Anscheinend waren die Erträge der Bleibergwerke in der Eifel bei Mechernich, die auch schon in vorrömischer Zeit ausgebeutet wurden, nicht mehr ergiebig genug, so dass auf die andere Rheinseite übergegangen werden musste. Wurde also schon vor dem Engagement römischer Bergleute hier in den Gebirgen rechts des Rheins Blei gewonnen und konnte das auch später wieder so gewesen sein, oder ist Bleigewinnung nur unter römischer Regie denkbar. Zur Fertigung von Schmuck und anderen Sachgütern über das Gussverfahren brauchte man nachweislich in den Weiten Germaniens überall Blei, um Formen herzustellen. Woher sollte das Blei dafür stammen? Auch nur über den Handel mit Rohstoffen wie beim Buntmetall aus der römischen Einflusszone, oder gab es nicht doch eine Tradition der eigenen, nicht so schwierigen Bleigewinnung? Bei Königswinter-Bennerscheid im Bergischen Land gibt es Pingen, Spuren von Bergbau. Im Graben eines Ringwalles, datiert ins 1. Jahrhundert v. Chr, lag ein 45 kg schwerer, fladenförmiger Bleibarren, an anderer Stelle ein Ringbarren aus Blei, und nahebei gelegen wurde eine Schmelzstätte aus augusteischer Zeit (30 v. bis 14 b. Chr.) dokumentiert, wo Keramikscherben aus
1587 Cochet 2000. 1588 Willer u. a. 2016 (2017) 92. 1589 Schönfeld 2018. 1590 Körlin, Gechter 2003, 246 Abb. 8.
8.2 Handwerk
459
römischer Produktion dieser Zeit gefunden wurden.1591 Im nördlichen Sauerland lief der Bleierzbergbau der Römischen Kaiserzeit unter plumbi nigri origo duplex est.1592 Wenn man beurteilen will, welche Bleigewinnung durch römische Handwerker in die frührömische Okkupationszeit fällt und wie es dann später mit der Gewinnung von Blei weitergegangen ist, dann muss die Datierung der Bleifunde selbst berücksichtigt werden; denn zum einen ist Bleigewinnung schon während der vorrömischen Eisenzeit auch rechts des Rheins belegt und schließlich zum anderen weiterhin noch im 1. und 2. Jahrhundert n. Chr. im Siegerland und im Sauerland. Es ist zu akzeptieren, dass während der Okkupationsphase tatsächlich römische Bergleute unter Regie der Provinzverwaltung Blei in Germanien produziert haben oder auch germanische Bergleute unter römischer Anleitung. Doch scheint die Fundüberlieferung eine längere Kontinuität dieser Erzgewinnung zu bezeugen, die dann durchaus von der einheimischen Bevölkerung bewältigt worden sein kann. Gerade die Bleigewinnung im Sauerland und im Bergischen Land, bei Soest in Westfalen ist in den letzten Jahren nicht nur vielfältig erschlossen worden, sondern wurde auch entsprechend diskutiert. Die These, dass diese Bleigewinnung regelhaft unter römischer Regie geschehen sein müsse, weil die Germanen keinen Bedarf an Blei gehabt hätten, ist ein Schluss e silentio und in keiner Weise zu begründen, wie anfangs schon kurz angedeutet wurde und später noch einmal aufgegriffen wird (vgl. S. 600). Wie sehen die Sachgüter und Befunde in Germanien tatsächlich aus? Zum einen gibt es Belege für Plumbum Germanicum im benachbarten Nordgallien,1593 wie zahlreiche Bleibarren mit dieser Inschrift bzw. abgekürzt GERM erkennen lassen, die von Aachen bis an die Maas über 100 km Erstreckung gefunden worden sind. Isotopenanalysen konnten aber noch nicht unterscheiden zwischen Blei aus der Eifel und aus Spanien, wobei GERM hier die römische Provinz Germania inferior meint, vielleicht die Lagerstätten in der Eifel, nicht das rechtsrheinische Bergland. Die Soester Bleifunde werden von Archäologen ausführlich beschrieben.1594 Es gibt in der Siedlung Soest den Nachweis der Bleiverarbeitung während der frühen Römischen Kaiserzeit. I. Pfeffer sieht zudem den gesamten mittleren Hellwegraum als Produktionsraum an.1595 Das Plumbum Germanicum soll nach ihm allein für Rom, zusammen mit Salz und regionalen Steinsorten, gedacht gewesen sein und damit verbunden hätte das zur Folge die Versuche sogar für eine Geldwirtschaft in Germanien gegeben. Germanische Bleigewinnung im nördlichen Sauerland während der römischen Kaiserzeit ist jetzt mehrfach nachgewiesen;1596 iam et plumbum excoquere docuimus? sagt
1591 Claßen, Rünger 2019. 1592 Straßburger 2007. 1593 Domergue et al. 2016; Raepsaet-Charlier 2011. 1594 Voss 2016b zu Pfeffer 2012; Melzer, Capelle (Hrsg.) 2007; Melzer (Hrsg.) 2010. 1595 Pfeffer 2012, 155–163; Melzer, Pfeffer 2008; auch Rothenhöfer 2003a; 2004; 2005; 2007a; Rothenhöfer, Bode 2015; Hanel, Rothenhöfer, Genovesi 2005; Hanel, Rothenhöfer 2007. 1596 Rothenhöfer 2007a.
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P. Rothenhöfer, und er hat sich mit den Wirtschaftsstrukturen im südlichen Niedergermanien am Rande des Imperium Romanum intensiv beschäftigt, hat auch über einen römischen Großunternehmer in Germanien im Gebiet von Soest geschrieben.1597 Der Bergbau auf Blei soll also nach allgemeiner Meinung ausschließlich im Auftrag Roms betrieben worden sein. Aber an verschiedenen Orten in Westfalen selbst wurden Bleibarren geborgen. In der Hellwegzone und der Warburger Börde sind seit den 1980er Jahren bisher 70 kleine Barren entdeckt worden, die zwischen 302 und 628 g oder 166 bis 751g wiegen.1598 In Zusammenarbeit von Archäologie und Materialwissenschaft wurde die frühkaiserzeitliche Bleiproduktion in Germanien rekonstruiert.1599 Ein Bleibarrenfund nahe den Bergbauspuren von Sundern-Bönkhausen wiegt mit 600 g fast zwei römische Pfund, wobei dieses Gewicht auch ein Zufall sein kann. Das Hochsauerland liegt jedenfalls recht weit von der römischen Grenze entfernt. Doch geht man davon aus, dass bis Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. hier Blei für das römische Absatzgebiet gewonnen wurde. Nahebei bestand das Römerlager Rüthen-Kneblinghausen, dicht beim Bleiabbaugebiet von Brilon im Hochsauerlandkreis; in Lennestadt-Elspe, Kreis Olpe, wurde ein Kleinbarren mit dem Gewicht von 569 g und einer eingeritzten Kreuzsignatur gefunden, außerdem Bleigussfragmente, was als der südlichste Nachweis der Bleiverarbeitung im Sauerland gilt. Aber dort gibt es auch germanische Ansiedlungen, in denen die Endprodukte angefertigt worden sein können. Es waren gewissermaßen Stationen am Hellweg für den überregionalen Güteraustausch. Waren römische Berg- und Hüttenleute selbst daran beteiligt, fragt Manuel Zeiler wieder noch im Jahr 2017?1600 Oder kann man von einheimischen Bergleuten ausgehen, die Blei produziert und Handwerker, die es dann weiter gebraucht haben? Wesentlich weniger Eisengewinnung ist in diesem Gebiet nachgewiesen gegenüber der Bleigewinnung und -verarbeitung und anderer Buntmetalle. Einige Fundstellen westlich von Soest haben immerhin insgesamt 51,5 kg Blei gebracht. Bronzeschrottfragmente, auch Gefäßreste, Kleingeldersatz, analog zum „Hacksilber“ werden unter der Vorstellung diskutiert, dass damit eine römische Präsenz in Soester Gebiet beweisbar sei, zumindest ein römischer Technologietransfer oder vor Ort tätige römische Handwerker. Barren und Platten als auch Model und Modelle aus Blei sind nur Zwischenprodukte der Herstellung von Schmucksachen, die Bleimodelle bildeten die Vorstufe für den Guss in verlorener Form, waren keine Endprodukte, und wurden somit auch in der Schmuckproduktion in Germanien vielerorts benötigt. Die Verwendung des römischen Gewichtssystems ist kein ausreichender Beweis für die Anwesenheit von Römern. Oben wurde geschildert, dass in der Siedlung Groß Meckelsen im nördlichen Niedersachsen eine römische Waage samt
1597 Rothenhöfer 2003b; 2005. 1598 Melzer, Capelle (Hrsg.) 2007, 76 f. 1599 Bode, Hauptmann, Mezger 2007; Bode 2006; auch Bergmann 2015, 109 Abb. 42. 1600 Zeiler 2017; 2018.
8.2 Handwerk
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Gewichten zum Abwägen von Edelmetallen gefunden worden ist. Römer waren in jener Siedlung weitab vom Limes nicht anzutreffen (vgl. S. 217). Die Metallverarbeitung ist in der Siedlung Ickern in Westfalen im zwei- oder dreischiffigen Haus I der Hofstelle I, somit in einem „Handwerkerhaus“ aus der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts belegt. Die Kerngröße des Gehöftes wird mit 5300 m2 angegeben, der gesamte Aktivitätsbereich mit 22 500 m2. In der Siedlungskammer bestanden mehrere Hofstellen, sechs in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts, drei während der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts. Ebenfalls nicht zu belegen ist die These, dass hier die einschiffigen Gebäude römischen Einfluss zeigen würden.1601 Der Handel mit westfälischem Blei zwischen Römern und Germanen kann durchaus von Bedeutung gewesen sein. Die vorgelegten Befunde zur Bleiverarbeitung sind auch kein Einzelfall, aber ob das Indizien für die Anwesenheit römischer Truppen während der Okkupationszeit waren, wird offen bleiben müssen. Die Frage ist, ob der Bleierzabbau von den Römern initiiert und von den Germanen auch nach der Okkupationszeit eventuell sogar bis ins 3. Jahrhundert hinein andauernd weiter betrieben worden ist. Das Gebiet war für römische Händler frei zugänglich, und Blei, Salz und andere Waren konnten gegen römische Güter eingetauscht werden. Schließlich wird regelmäßig nach der Bedeutung der bekannten Barren mit der Inschrift PLVMB GERM gefragt. Die Herkunft aus den Lagerstätten um Brilon oder in der Eifel ist immer noch nicht sicher zu bestimmen. Zwei Erzreviere in den römischen Provinzen Germania selbst waren eindeutig unter Kontrolle des Römischen Reichs, in der Eifel und im Raum Aachen, und für das westfälische Bergbaugebiet wird deshalb ebenfalls ein römischer Einfluss – wenn nicht sogar römischer Bergbau – in der kurzen Okkupationszeit angenommen, der dann in Vergessenheit geraten sein soll, als der Handel mit dem Römischen Reich zum Erliegen kam.1602 Schon 1910 wurde bei Bad Sassendorf-Heppen ein Bleibarren gefunden, datiert um Chr. Geb., mit einer von P. Rothenhöfer ergänzten Inschrift: L FLAVI VERvCLAE PLVMB GERM und daraus wird seither über PLVMB(VM) GERM(ANICUM) auf Blei aus Germanien geschlossen.1603 Im Rahmen der Landesausstellung „Saxones“ 2019 wurde nun ebenfalls die Bleigewinnung am Hellweg beschrieben, einerseits als mögliche römisch-germanische Joint-Ventures, andererseits als eigenständige germanische Gewinnung, gekoppelt mit der Darstellung der wirtschaftlichen Verhältnisse überhaupt.1604 Abgebildet sind die Bleibarren in Form eines Webgewichtes aus Sundern mit 600 g Gewicht und vom Typ Garbeck mit einer kreuzförmigen Markierung. Es gibt – wie zuvor schon teilweise geschildert – Bleiartefakte und Bleibarren aus dem 1./2. Jahrhundert in der Hellwegzone, vor allem Kleinbarren. Neufunde haben das Verbreitungsgebiet bis 1601 Dazu auch Pape 1993. 1602 Melzer, Capelle (Hrsg.) 2007, 77. 1603 Pfeffer 2009; 2012, auch Ecke 2015, 27 Abb. 3. 1604 Ebel-Zepezauer 2019, 57 Abb. 1 und 2, 58 f. Zitate.
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nach Lennestadt erweitert, bis zur Nordgrenze des Siegerländer Bergbaureviers. Eine Fundhäufung frühkaiserzeitlicher Kleinbarren aus Blei gibt es im Hochsauerland. Die Untersuchung der Funde in den bekannten römischen Lagern weist jedoch für dieses Blei meist auf eine Herkunft aus anderen Bergbaulandschaften hin; dort in den Lagern gibt es denn auch fast keine Kleinbarren. Deshalb kann gefragt werden, ob die Bleifunde in der Hellwegzone nicht für den Fernhandel gedacht waren, sondern für die eigene Nutzung. Denn die Meinung ist fälschlich: „Andererseits gibt es kaum erkennbare Verwendungszwecke für die in germanischen Siedlungen gefundenen Bleimengen“. Blei wurde jedoch allgemein im Kunsthandwerk in Germanien benötigt (vgl. S. 493). Ebenso ist es wohl auch kaum richtig, wenn es heißt: „Der gesamte Mittelgebirgsraum wird in dieser Zeit als Wirtschafts- und Lebensraum für Jahrhunderte weitgehend aufgegeben und das dürfte kein Zufall sein“. Einerseits ist das Gebiet nicht siedlungsleer, und andererseits spielt auch der Forschungsstand ein ungenaues Bild vor. Es ist eine nicht zu belegende Behauptung: „Die römische Eroberung zerstörte das komplexe einheimische und keltisch beeinflusste Wirtschafts- und Handelssystem der Hellwegzone komplett“, was auch töricht gewesen wäre, da sich aus dem Land versorgt wurde. Die Nutzung der Lippe war ein Transportweg, doch römische Truppen marschierten in erster Linie auf dem Land und nutzten die „selbstverständlich schon vorhandenen Wege“. Die einheimischen Siedlungskonzentrationen wurden berücksichtigt, denn ihnen galten die militärischen Aktionen. Die Lager Oberaden und Beckinghausen wurden an einem Verkehrsknotenpunkt und über einem älteren Siedlungszentrum errichtet, und unter dem Lager von Kneblinghausen finden sich ausgedehnte germanische Siedlungsschichten der Übergangszeit. Andere Ursachen hatte es im Hellwegraum vielleicht im Wandel der Landwirtschaft. Der zur keltischen Zeit übliche Anbau von Wintergetreide wurde aufgegeben, Weizensorten befanden sich auf dem Rückzug; und ein Wechsel von den Grubenspeichern, in denen zwei bis vier Jahre lang Vorräte aufbewahrt werden konnten, zu den gestelzten Speichern fand statt, „in denen sich Saatgetreide nur zwischen Ernte und dem nächsten Frühjahr“ aufbewahren ließ. Das spiegelt einen Wechsel von der „keltischen“ zur „germanischen“ Siedlungs- und Wirtschaftsweise, also wohl tatsächlich einen Wechsel der Bevölkerung. W. Ebel-Zepezauer stimmt dem auch zu: „Am Ende der Drususfeldzüge in die Germania (12–8 v. Chr.) wurde die Oberschicht der Sugambrer deportiert“ und „eine Germanisierung“ dieser Gebiete am Hellweg erfolgte. Als Ergebnis wird formuliert: Die Herstellung von Kleinbarren in Webgewichtsform und Bleiplatten und der Nachweis von recyceltem römischen Blei aus dem Bergischen Land sowie Gewichten aus Blei spanischer Herkunft werfen jedenfalls ein bezeichnendes Schlaglicht auf die von Seiten Roms geplante wirtschaftliche Erschließung der bereits gewonnen geglaubten Gebiete östlich des Rheins.
8.2 Handwerk
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Die Belege für Bleihandel sind inzwischen auch bei dem Projekt der Hafenforschungen am Rhein mehrfach dokumentiert.1605 Michael Bode geht davon aus, dass die Masse der Bleifunde allgemein den römerzeitlichen Bergwerken des nördlichen Rheinischen Schiefergebirges (Nordeifel, Sauerland) und dem Bergischen Land zugeordnet werden kann. Das römische Militär hätte direkt nach der Eroberung Germaniens Zugriff auf die nahegelegenen Bleierzlagerstätten, ehe später Blei aus Britannien hinzugekommen sei. Blei aus den Lagerstätten des Mittelmeerraumes oder des Donaugebietes sei nördlich der Alpen nicht gehandelt worden. Nicht übersehen werden darf, dass aus der Zeit nach Augustus und Tiberius bisher auch keine plumbum Germanicum-Barren mehr bekannt geworden sind.
8.2.7 Rohmaterialien und Schrott Die Schmiede und die Handwerker, die Bunt- sowie Edelmetall verarbeiteten, brauchten Rohstoffe für ihre Produkte. Wie erläutert, war es kein Problem, sich Roheisen für die Weiterverarbeitung zu beschaffen. Die Gewinnung von Blei und Buntmetall sowie das Goldwaschen aus Flüssen hat es gegeben. Aber anscheinend war das oft zu mühsam und arbeitsaufwendig und man bediente sich einfacher anhand der aus dem Römischen Reich importierten oder erbeuteten Materialien. Die Belege von Metallschrott aus dem Römischen Reich sind inzwischen sehr zahlreich und zeigen, dass man es in Germanien deshalb gar nicht nötig hatte, selbst Buntmetall zu gewinnen, weil der Import aus dem Überfluss des Römischen Reichs und der nahen Provinzen für den Bedarf ausreichte. Münzen aus Gold, Silber, Kupfer, Bronze und Messing gelangten nach Germanien,1606 und deren Spuren in umgeschmolzenen Objekten sind sogar in römischen Statuenfragmenten nachgewiesen (vgl. S. 1095). Metallgefäße aller Art sind nicht nur als Geschirrbeigaben in die Elitegräber gestellt worden, andere dienten als Urnen, so dass Ausgangsmaterial sichtlich in ausreichendem Maße überall in Germanien vorhanden war, bis hoch nach Norwegen. Beispielsweise wurde nahe, nur wenige hundert Meter entfernt, von den Fürstengräbern von Zohor ein Hort mit Bronzeschrott aus Bronzegefäßbruchstücken zur Weiterverarbeitung gefunden.1607 Gezielt wählten Buntmetallhandwerker aus dem Schrottangebot Messing statt Bronze aus, weil diese Legierung eine leichtere Gießarbeit ermöglichte und außerdem durch den Goldglanz wirkte. Anhand der Sachgüter aus den Fürstengräbern von Marwedel ließ sich das nachweisen (vgl. S. 921).1608
1605 Mirschenz 2013, 33 ff.; Bode 2016. 1606 Bemmann 2005a, 58: Schrott zur Weiterverarbeitung. 1607 Elschek 2002. 1608 Gaetke-Eckardt 1999.
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M. Baumeister hat das Metallrecycling über das gesamte erste Jahrtausend n. Chr. verfolgt.1609 Er schreibt dazu: Die benachbarten Germanen gewöhnten sich an einen – zwar vom römischen Markt abhängigen – Import von Gütern. Mit dem allmählichen Niedergang der römischen Wirtschaftsstrukturen und primären Materialversorgung in der Spätantike kam es dann auch in Germanien zu korrespondierenden Versorgungsengpässen. Eine zunehmende gewaltsame Materialbeschaffung germanischer Gruppen war eine der Folgen. Nach anfänglichen Überfällen und Raubzügen von Kriegerverbänden kam es erst später zu den Niederlassungen innerhalb der Provinzen und zu einer Ausschlachtung römischer Kulturreste vor Ort.1610 Zu den auf den ersten Blick als nebensächlich eingestuften Sachgütern römischer Provenienz, die als Rohstoff verwendet wurden, gehört beispielsweise auch der Rest eines Spiegels, der Handgriff.1611 Anhand eines Fundstücks von Kurzątkowice in Polen, 30 km südlich von Warschau, zeigt die Karte der Vergleichsstücke die Funde der Spätlatènezeit und der frühen Römischen Kaiserzeit, nämlich die Bronzespiegel mit offenem Griff, vor dem Hintergrund der frühen Przeworsk-Kultur der Phase A2-A3 der späten vorrömischen Eisenzeit. Damit werden die Kontakte nach Niederschlesien schon im 1. Jahrhundert v. Chr. belegt, die Importe von der mittleren Donau bei Bratislava aus keltischen Werkstätten schon vor den Römern, um auf diese Weise Rohmaterial für die Weiterverarbeitung zu bekommen. Im Übrigen sei es ein „Vorurteil, dass die Bevölkerung in Germanien alles Metall aus dem römischen Reich importiert habe, über Handel und Raub“. Eine eigene Produktion sollte in Erwägung gezogen werden. Beispielsweise – wie erläutert – wurde Eisen überall selbst erzeugt, auch teilweise in einem Übermaß, so dass Eisen exportiert werden konnte. Buntmetalle, Kupfer und Zinn, wurden schon während der Bronzezeit in großem Umfang in den Erzrevieren des späteren Germanien gewonnen und von dort aus weiter verbreitet, was die überaus zahlreichen Hortfunde eindrucksvoll belegen (auch wenn die Erklärung für diesen massenweisen Entzug von Metallwert aus dem Wirtschaftskreislauf noch nicht stimmig ist, aber das Phänomen spricht für eine noch bei weitem umfangreichere Metallgewinnung als durch die Horte indirekt belegt wird). Warum sollten diese Fähigkeiten vollständig verloren gegangen sein? Zwar lagen die alpinen und westlichen Lagerstätten später innerhalb des Römischen Reichs, aber es gibt auch Areale in Germanien, im Erzgebirge und im Harz, wo eine Metallgewinnung möglich war. Gold konnte auch in Germanien aus den Flüssen gewaschen worden sein, auch wenn der Import römischen Goldes als Münzen leichter war. Die Bleigewinnung ist ebenfalls belegt, so im Bereich von Soest. Bleierze enthalten Silber, und mit dem Kuppelationsverfahren ist auch daraus Silber darstellbar gewesen. Silberhaltige Erze wurden im Harz ebenso frühzeitig gewonnen, und zwar
1609 Baumeister 2004; auch Klemet 2016. 1610 Baumeister 2004, 198. 1611 Dulęba 2018, 76 Fig. 6 Verbreitungskarte, 81.
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nachgewiesen spätestens für das 3./4. Jahrhundert.1612 Für das Harzer Gebiet wird davon ausgegangen, dass hier Erze durch die einheimische Bevölkerung gewonnen wurden, nicht nur Eisen, sondern auch Buntmetalle,1613 Blei und wahrscheinlich in diesem Zusammenhang zusätzlich Silber. Auch wird überlegt, ob Metalle nicht nur aus dem Imperium beschafft wurden, sondern dass auch römische Bergleute – so wie bei der Keramikproduktion von Drehscheibenware – in Germanien tätig wurden. Für die grenznahe Bleigewinnung wird das postuliert, bzw. von hier gelangte Blei auch ins Römische Reich (vgl. S. 455). Reclycing war also allgemein üblich, die Materialversorgung der germanischen Feinschmiede war kein Problem;1614 Klasse und Masse liegen als Bruchstücke vor.1615 In den römischen Provinzen gab es übrigens in den Kastellen und Legionslagern durchaus ebenfalls Ansammlungen von Buntmetallschrott zur Weiterverarbeitung.1616 Römische Sachgüter gelangten jedoch nicht zu allen Zeiten gleichmäßig nach Germanien. In der Stufe C 2 (im weiteren Sinne um 300 n. Chr.) gelangten Importe in Gräber und Siedlungen, hier auch als Bruchstücke, und man kann eine bewusste Auswahl römischer Sachen für die Gräber am Ende des 3. Jahrhunderts beobachten. Im späten 3. und zu Anfang des 4. Jahrhunderts versiegte der Import zeitweilig fast vollständig, was in Mitteleuropa auch mit dem Zusammenbruch des Postumus-Sonderreiches zusammenhängen könnte; aber auch im Norden, so in Südskandinavien, und im Süden im Bereich der Chernjachov-Kultur fehlten in diesen Jahren Bronzegefäße. Dafür finden sich aber überall zahlreiche Gläser. Obgleich mit starken germanischen Söldnertruppen für Rom gerechnet werden muss und auch weiterhin viele Einfälle in die Provinzen geschahen, müssen andere Faktoren für das Ende des Importstromes verantwortlich sein. M. Erdrich hat in mehreren Arbeiten diesen unterschiedlichen Zustrom beschrieben und auch auf den vom Zustrom unabhängigen nachfolgenden Austausch im Inneren Germaniens selbst Aufmerksam gemacht.1617 Nach den Detektorfunden sind gegenwärtig laufend mehr römische Gefäß-Typen in den Siedlungen als in den Gräbern zu finden. In manchen Siedlungen lag beachtlich viel Schrott als Rohmaterial, andernorts hatte man römische Gefäße aus dem Rhein.1618 Das sind Hinweise auf Eliten an diesen Orten. Zerschnittene Bleche waren die Regel unter dem geborgenen Metallschrott, sei es in einer Siedlung wie Michelfeld oder auch noch auf den spätantiken Höhenstationen wie dem Zähringer Burgberg.1619 Auch über
1612 Bartels, Klappauf 2012, 122; Segers-Glocke (Hrsg.) 2000; Klappauf u. a. 1994. 1613 Brockner, Klappauf 1993. 1614 Voss 1998a. 1615 M. Becker 2003. 1616 Sarnowski 1985. 1617 Erdrich 1995a; 1995b; vor allem auch 2012 und 2014. 1618 M. Becker 2009, 367 Abb. 6 (Naumburg-Kleinjena), 368 Abb. 7 Lingenfeld. 1619 Steidl 2013.
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das Fibelmaterial des Pyrmonter Brunnenfundes (vgl. S. 631) und im Moorfund von Strückhausen in der Wesermarsch gibt es Hinweise zur Herkunft der Rohstoffe.1620 Ein Eisengeräte-Hort von Hönow, Ldkr. Märkisch-Oberland, wurde nicht wieder geborgen und als Rohmaterial recycelt.1621 Das Depot mit landwirtschaftlichen Sachen wurde innerhalb einer Siedlung der späten Bronzezeit bis zur späten Römischen Kaiserzeit vergraben und enthielt eine Kurzstielsense, drei Sicheln, zwei Beitel und ein Sech eines Pfluges, die zusammen wohl in einem Beutel verborgen waren, Altmaterial eines Schmiedes oder eines Hofbesitzers. In der Siedlung wurden Buntmetallfibeln und römische Münzen gefunden, ein Sesterz des Antoninus Pius von 156/157 und ein Denar des Septimius Severus von 193/196. Welche umfangreichen Metallmengen nach Germanien gelangten, spiegeln einerseits die zahlreichen Schätze und die Massenflussfunde wie Neupotz und Hagenbach (vgl. S. 536) und andererseits die ebenfalls massenhaft als Urnen und Grabbeigaben verwendeten Gefäßtypen wie Hemmoorer Eimer (Abb. 44)1622 oder Westlandkessel (Abb. 45),1623 über die ich weiter unten ausführlich berichten werde (vgl. S. 601 und 592). Sie gelangten in alle Landschaften Germaniens bis weit hinauf nach Norwegen. Aus jedem einzelnen dieser Gefäße konnte eine größere Zahl von Schmuckfibeln, Nadeln oder Gürtelbeschläge gegossen werden. Im Flussfund von Neupotz aus dem 3. Jahrhundert, der sogenannten „Alamannenbeute“, der im Rhein versunkene Komplex bei Germersheim in Rheinland-Pfalz, lagen 10 kg Silber, 197 kg Buntmetall, 1,5 kg Zinn, mehr als 220 kg Eisen und auch Messing (aurichalcum).1624 Damit konnte schon eine ganze Landschaft mit Metallen versorgt werden. Aus einem einzigen Metalleimer ließen sich durchaus 200 Fibeln fertigen. Ähnlich umfangreich ist der Flussfund von Hagenbach, und aus dem Rhein bei Xanten werden regelmäßig beim Kiesabbau römische Metallsachen, beispielsweise auch Bronzegeschirr geborgen.1625 Die Metallanalysen an Kupferlegierungen (65 Stücke), an Silber (37 Stücke) und Gold (12 Stücke) an einigen Beispielen (insgesamt 296 Analysen), auch ausgehend von den Funden auf Seeland, hat als Rohstoff umfassend römisches Material belegt.1626 Der Vergleich beruht auf mehr 7600 Analysen römischer Artefakte, die aus Messing und Bleibronze bestehen, wobei Gehalte an Zink und Zinn bestimmt wurden. Vier Gruppen von römischen Fibeln mit Bronzesorten zwischen 2.5 bis 15% Zinn sind festgestellt worden. Die Metallzusammensetzung von Hemmoorer Eimern sowie von Østland- und Westlandkesseln unterscheidet sich im Zink-und Zinngehalt
1620 Teegen 1997. 1621 Biermann, Brather, Hille 2019, 51 Abb. 1622 Steuer 1999d; Rau 2012, 349 Abb. 1; Luik 2013 (2015) 118–119 Abb. 3 Verbreitungskarte (Doppelseite). 1623 Hoeper 2006. 1624 Voss 2008a, 347 f. 1625 Kunow 2016, 16 Abb. 3. 1626 Jouttijärvi 2009, 218 Fig. 8 Die drei Bronzegefäßtypen.
8.2 Handwerk
Abb. 44: Verbreitung der Hemmoorer Eimer im Römischen Reich und in Germanien.
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Abb. 45: Formen und Verbreitung der Westlandkessel.
8.2 Handwerk
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jeweils deutlich. Bleche aller Art und römische Statuetten wurden zu Ausgangsmaterial. Messing findet sich davon in den Objekten aus Werkstätten in Germanien regelmäßig wieder. A. Jouttijärvi kann 32 jeweils in sich einheitliche Metallgruppen identifizieren. Dabei sind die Objekte in einem Grab als Beigaben oft aus demselben Material, aber auch aus verschiedenem Metall, sogar bei Fibelpaaren. Demgegenüber findet sich gleichartige Metallzusammensetzung in verschiedenen Gräbern in größeren Entfernungen zueinander, zudem manchmal chronologisch leicht abweichend. Die wieder eingeschmolzenen Ausgangsobjekte und Erbstücke spiegeln verschiedenes Verhalten der Werkstätten, Familienzusammenhänge und außerdem allerlei andere Möglichkeiten. So verschieden die Ausgangsmaterialien aus dem Römischen Reich, so verschieden auch die neue Verwendung nach dem Ein- und Umschmelzen. Doch sind derartige naturwissenschaftliche Begleituntersuchungen mit zunehmender Datenmenge ein spannender Zugang zur damaligen Wirtschaftsgeschichte mit Handel und Handwerk.
8.2.8 Grob- und Feinschmiedehandwerk Eisen war die Grundlage für ein ausgeprägtes Schmiedehandwerk. Alles Werkzeug von der Pflugschar bis zur Hobelklinge, von der Sichel bis zum Bohrer, vom Tüllenbeil bis zur Axt, vom Schlüssel zu den Schlossbeschlägen1627 wurde vom Dorfschmied gefertigt, auch Lanzen- und Pfeilspitzen sowie einschneidige Hiebschwerter und einfache Schwertklingen. In mehreren Siedlungen sind die Schmiedeplätze ausgegraben worden. Wie es mit der Produktion von Waffen ausgesehen hat, wird nachfolgend noch erörtert und Beispiele werden beschrieben (vgl. S. 661). Der Schmied spielte im Dorf immer eine besondere Rolle, was nicht nur in Sagen und Legenden überliefert ist. In den Siedlungsplänen sind die Schmiedehütten oftmals eingezeichnet worden, die in den meisten Siedlungen irgendwo wegen der Brandgefahr am Rand errichtet waren.1628 Siedlungspläne mit der Position der Schmiede gibt es für Grønbjerg Skole, Omgård, Hodde, Vorbasse und Joldelund.1629 Die Schmiede bekamen auch eigene Bestattungen; die Schmiedegräber mit den Werkzeugen als Beigaben sind mehrfach zusammengestellt1630 und speziell analysiert worden.1631Anhand eines WerkzeugHortes, wohl von einem Schmied verborgen, hat Achim Leube eine zeitliche Verteilung publiziert.1632 Gräber mit Schmiedewerkzeuge kommen vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis ins 5./6. Jahrhundert n. Chr. vor, mit einem zahlenmäßigen Höhepunkt in 1627 Kokowski 1997; darunter auch römisches Material. 1628 Müller-Wille 1983, 227 Abb. 5 (Hodde), 231 Abb. 6.3 und 234 Abb. 7 (Vorbasse). 1629 Jöns 1995. 1630 Müller-Wille 1983; Henning 1991. 1631 Jöns 2007; Brumlich 2005; Henning 2004a. 1632 Leube 1996b, 73 Abb. 14 Histogramm, 72 Abb. 15–17 Karten nach Henning 1991, 79.
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den Phasen der Römischen Kaiserzeit B1 und B2 (0 bis 150 n. Chr.). Die Depots enthielten unterschiedlich zusammengesetzte Werkzeugbestände, die tabellarisch aufgelistet sind. Eine gewisse Korrelation zwischen Rang und Schmiede wird über die Gräber erkannt.1633 Im militärischen Bereich wurden Waffen wie Lanzen und Speere in Werkstätten der Gefolgschaftsführer in verschiedenen Gegenden Germaniens als Serienprodukte hergestellt, doch die qualitätsvolleren Schwertklingen erbeutete man lieber im römischen Reich oder handelte sie sich auch ein, ehe man sie dann mit Griffen, Scheiden und Schwertaufhängungen nach eigenem Geschmack versehen hat. Oft ist nicht zu unterscheiden, welche Teile an der Bewaffnung, gefunden in den Mooren, zum Beispiel welche Ortbänder von der Schwertscheide nun römische Erzeugnisse waren oder Kopien nach römischen Vorbildern durch germanische Handwerker oder schon durch eigene Fabrikationen. Die besonderen Waffen aus den Moorfunden, wie Gesichtshelme oder das Kettenhemd von Vimose,1634 werden darauf hin untersucht, was mit dem Stück nach dem Import oder der Erbeutung aus den römischen Provinzen geschehen ist und was germanische Schmiede hinzugefügt haben.1635 An den beiden Zierscheiben aus dem Thorsberger Moor, einst römische Orden, sind die Ergänzungen deutlich erkennbar und haben zu mancherlei Studien über die Verzierungen und Bilder angeregt.1636 Werkstätten und Werkzeuge für die Schmiede sind gut erforscht worden.1637 Nur als Topos wird die Diskussion beherrscht von der Annahme, dass die römische Welt das Handwerk in Germanien bestimmt habe, gewissermaßen als Voraussetzung für die verschiedenen Verfahren. Man muss aber differenzieren: Römischen Einfluss hat es durchaus gegeben, und darüber wird in einem späteren Kapitel umfassend berichtet werden. Aber ebenso sollte gewertet werden, dass in den bisher nachgewiesenen Werkstätten in Germanien von einheimischen Handwerkern fast alle Techniken auch des Goldschmiedehandwerks beherrscht wurden. Die ganze Palette der Werkzeuge und Geräte ist von G. Jacobi in zwei Arbeiten zusammengestellt.1638 Alle Arten von Hämmern, Zangen, Ambossen, Feilen, Zieheisen oder Lötkolben und weiteres Werkzeug der Schmiede sind also häufig unter den archäologischen Funden; sie ähneln den modernen Werkzeugen, weil sie denselben Zwecken dienten. Ein Depot der späten Römischen Kaiserzeit im Gebiet von Eisenhüttenstadt, Oder-Spree, in Brandenburg und nahe der Oder bietet einen Bestand an Geräten des Schmiedes.1639 Ein Schmiedeplatz der Zeit um Chr. Geb. von Neunkirchen, Kr. Siegen-Wittgenstein, bietet
1633 Tobias 2009. 1634 Wijnhoven 2015. 1635 Wijnhoven 2015. 1636 v. Carnap-Bornheim 1997; 2004; 2008c; 2014b. 1637 Voss 2006. 1638 Jacobi 1974; 1977. 1639 Geisler 1976.
8.2 Handwerk
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das Spektrum des Notwendigen;1640 ausgegraben 1981 und 1982 wurden Urnengräber, ein Wohnpodium und ein Schmiedepodium sowie ein Eisenverhüttungsplatz. Beim Schmiedepodium ist zum Schmiedeofen auch ein Köhlerplatz nachgewiesen, alles datiert durch reichlich Keramik. Was wurde nicht alles aus Eisen hergestellt. Im Bereich der Przeworsk-Kultur ist kennzeichnend die Fabrikation von Fibelschmuck aus Eisen. Kämme, meist aus Knochen oder Geweih geschnitzt, sind sogar in dieser Kultur aus Eisen geschmiedet worden.1641 Ihre Verbreitung und die Typologie der Formen sind erarbeitet. Die Aussage „Fremd- nützlich-machbar. Römische Einflüsse im germanischen Feinschmiedehandwerk“ betrifft einige Aspekte des Handwerks, längst nicht alle Facetten.1642 Hans-Ulrich Voss beschreibt den Unterschied von Spezialhandwerkern und All-round-Handwerkern sowie Feinschmieden und Goldschmieden. Schon im 1. Jahrhundert n. Chr. waren in Germanien die Goldschmiede bzw. Feinschmiede Vollzeitspezialisten.1643 Eine Klassifizierung der Funde und Befunde zur Bunt- und Edelmetallverarbeitung bietet eine Übersicht über die Verzierung ausgewählter Schmuck-und Ausrüstungsgegenstände aus einigen spätkaiserzeitlichen Körpergräbern Mitteldeutschlands, aus Gommern, Emersleben, Leuna, Haßleben und Dienstedt. Angewendet wurden an Goldschmiedetechniken Filigran und Perldraht, Granulation (nur in Haßleben), Pressblech, Vergoldung, Plattierung und Glaseinlagen. Im Raum Lübsow ist ein Innovationsgebiet zu erkennen.1644 Die Verteilung von Goldschmiedewerkstätten bzw. Handwerkern scheint in Germanien unterschiedlich gewesen zu sein. Die Fibelproduktion schon der frühen Römischen Kaiserzeit war ein Handwerk mit Qualitätserzeugnissen.1645 Diese Handwerker waren Polytechniker und Spezialisten im 1. und vor allem im 2. Jahrhundert n. Chr. Die Thorsberger Zierscheiben bestätigen das (vgl. S. 481), auch die versilberten oder verzinnten Schnallen aus dem Thorsberger Komplex, ebenso das verarbeitete Edelmetall in den Fürstengräbern von Lübsow bis Mušov1646 oder die Hakenkreuzfibeln als Luxuserzeugnis.1647 Der früher von der Forschung angenommene Gegensatz zwischen Alleskönnern in Eisen, Bunt- und Edelmetall sowie Holz- und Glasverarbeitung und spezialisierten Werkstätten besteht jetzt anscheinend nicht mehr. Es gibt Spezialwerkstätten und spezialisierte Handwerker.1648 Es bleibt die Frage, ab wann und wo jeweils die neuen Techniken eingeführt worden sind. Bei den Berlocks (vgl. S. 498) wird überlegt, ob
1640 Laumann 1985, 51 Abb. 1 Plan, 52 Abb. 2 Schmiedeplatz. 1641 Hoeper 2003, 90 ff. Abb. 29 Verbreitung, 30 Typenspektrum. 1642 Voss 2008a. 1643 Voss 2012, 102 Tab. 1 und 2 (nach Voss et al. 1998, 132 Tab. 4); 2020a. 1644 Voss 2012, 106 nach Schuster 2010a, 67 ff., 303. 1645 Cosack 1979; Voss 2018b, Vortrag Berlin. 1646 Schuster 2013. 1647 Przybyła 2008; 2009; 2018, Vortrag Berlin. 1648 Voss 2012, früher Weski 1983; Capelle 1997; Henning 2004a bzw. Pesch 2006; 2011e.
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sie tatsächlich im Norden hergestellt worden sind oder vielleicht doch Importe aus dem Schwarzmeerraum waren. Es gab qualifizierte und ins bestehende Kommunikationsnetz eingebundene Werkstätten seit dem 1. Jahrhundert n. Chr.1649 H.-U. Voss stellt die Silbergefäße in Gräbern des 1. bis 3. Jahrhunderts zusammen, gegliedert in die Zeitphasen I (1–160), II (150/160–200), III (160/180-310-320), zusätzlich unterschieden nach Beigaben in Körper- und Brandgräbern; aufgeführt werden auch die germanischen Imitationen nach römischen Gefäßen.1650 Ihm gelingt zudem eine Übersicht über die Differenzierung des germanischen Feinschmiedehandwerks in Abhängigkeit von den Auftraggebern auf der Grundlage archäologischer Funde und Befunde.1651 H.-U. Voss, der sich in den vergangenen Jahren am intensivsten mit diesem Thema beschäftigt hat, sieht auch die andere Seite, wenn er Überlegungen zu Material und Herstellungstechnik im germanischen Feinschmiedehandwerk in der Römischen Kaiserzeit anstellt.1652 Was ist unabhängig von Rom in Germanien seit jeher bekannt und traditionell beherrscht worden. B. Armbruster hat sich als Goldschmiedin vielfach mit dem Feinschmiedewerkzeug beschäftigt, das im Übrigen über Jahrhunderte gleich geblieben ist und nicht etwa typisch sein muss für die Römische Kaiserzeit.1653 Das Ensemble eiserner Werkzeuge eines Feinschmieds des 3. Jahrhunderts aus dem Mooropferfund von Vimose auf Fünen wird verglichen mit glattgebogenen Fragmenten von Schlangenkopfarmringen sowie Anhängern und Berlocks aus Thorsberg. Spezialwerkzeuge für die Herstellung von Perldrähten kommen aus dem Opfermoor von Illerup Âdal.1654 Es fehlen zwar weitere Werkzeuge für all die notwendigen Arbeiten, was aber möglicherweise ein Fundproblem ist. Darauf hat auch I. Aufderhaar hingewiesen, dass viel zu wenig Werkstattfunde bisher bekannt geworden sind; und sie bietet Rekonstruktionsversuche zu solchen Einrichtungen sowie zum Arbeitsablauf und den Bestandteilen einer Werkstatt, für die man real nicht viel Ausrüstung braucht (vgl. dazu auch 362).1655 In demselben Tagungsband mit den beiden vorangehend zitierten Beiträgen hat M. Axboe das Problem aufgegriffen und auf die knappe Ausstattung hingewiesen,1656 die nur nötig war: Ein Goldschmied brauchte für die Schmuckherstellung nur einen kleinen, tragbaren Satz von Werkzeugen, darunter Punzen, einen kleinen Herd, also Spuren, die bei Grabungen leicht übersehen werden können. Wandernde Schmiede hinterlassen keine Spuren, Tiegel
1649 Voss 2012, auch nach A. Rau 2005b; 2010. 1650 Voss 2012, 113 Abb. 5. 1651 Voss 2012, 116 Abb. 11 in Farbe. 1652 Voss 2016b. 1653 Armbruster 2012, 77–79 zur Römischen Kaiserzeit. 1654 v. Carnap-Bornheim 2001. 1655 Aufderhaar 2012, 87–90 Fig. 1 und 2. 1656 Axboe 2012, 125 Fig. 2 Größe der Zentralorte im Vergleich: Gudme, Vorbasse, Sorte Muld und Uppåkra.
8.2 Handwerk
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und Gussformen aus Ton zerfallen schnell. Zusätzlich berichtet er über die Werkstattfunde in Zentralorten, entdeckt jetzt mit Hilfe von Metalldetektoren. Es gibt solche Werkstattreste in Gudme, Uppåkra, Torstorp Vesterby und auch in Kværndrup, wo Gusstiegel gefunden wurden; es handelt sich jeweils um große Siedlungen, von denen bisher immer nur ein Teil ausgegraben und publiziert worden ist, so dass noch manches hinzukommen kann. Die Werkstätten fand man in Gudme und Lundeborg in Grubenhäusern, nur Hinweise dazu auf den anderen genannten Plätzen. Es war jeweils eine spezialisierte Werkstatt, und er meint zudem, dass diese Schmiede, die mit Gold und Silber arbeiteten, auch in Bronze und Eisen geschickt waren. Das hat H.-U. Voss ebenfalls bestätigt1657 (vgl. oben S. 471). Kristina Lamm bietet dazu einen Aufsatz im Sammelband von 2012, und zwar zu den Goldschmiedewerkstätten in Helgö.1658 Ab später Römischer Kaiserzeit bis zum Ende des ersten Jahrtausends mit einem Schwerpunkt während der Völkerwanderungszeit gab es hier Manufakturen, nicht nur Goldschmiede, sondern auch Handwerker für Bronzeguss, Eisenschmiede und Perlenproduktion, deren Produkte weit in der Ostsee verbreitet wurden. Aus der Völkerwanderungszeit ist reichlich Rohmaterial, sieben Barren und 37 Stangen aus Kupferlegierung in einem Gehöftareal geborgen worden; sie vergleicht Helgö mit den Funden auf dem Runden Berg bei Urach in Süddeutschland, von wo nur vier Barren stammen, während in Klein Köris (vgl. S. 247) nur Bleche zur Verarbeitung lagen. Bekannt sind aus Helgö die Massen an Gusstiegeln und Gussformen, rund 10 000 Fragmente mit 94 kg Gewicht an Gussformfragmenten für Fibeln mit rechteckiger Kopfplatte im Tierstil I liegen vor (aber keine Stücke im Tierstil II). Für Fibeln gibt es 30 Varianten, außerdem eine Gussform für Schwertgriffe. Da es jeweils um Guss in verlorener Form ging, blieben diese Mengen an Fragmenten zurück. Dazu kommen 56 000 Gusstiegel, 233 kg in Hausgruppe 3, in Hausgruppe 2 nur 12 kg. In den Tiegeln finden sich Spuren der Metalle, in 286 Reste der Kupferlegierung, 26 von Silber und 196 von Gold. Auch Kupellationsgefäße, d. h. Scheidegefäße, um Gold und Silber zu trennen, gibt es ausreichend, Kupellationsbehälter, und Kupellen aus Gruppe 3, mit etwa 1–2 und bis 4 cm Durchmesser, neun vollständige und 60 Fragmente in Hausgruppe 3 aus Ton und einige aus Stein. Gussformen für Fibeln gibt es auch anderswo, aber kein Gießplatz ist bisher dort erkennbar. In Helgö aber bestand permanent eine Werkstatt über 100 Jahre, so dass hier einige Generationen von Goldschmieden und Bronzegießer gearbeitet haben, wodurch der Platz zusätzlich als ein Macht- und Kultzentrum bewiesen ist. Der Höhepunkt der Produktion liegt (jedenfalls bisher) in der Völkerwanderungszeit, während in Uppåkra schon in der Römischen Kaiserzeit die Feinschmiedearbeiten begannen. In Helgö sind drei zeitgleiche Werkstattzentren ausgegraben worden. Hier wurden zudem Goldblechfigürchen entdeckt, aber am Ort keine Model für ihre Herstellung. Im Uppland gibt es eine weitere Metallwerkstatt, die
1657 Voss 2012. 1658 K. Lamm 2012, 147 ff.
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mit Helgö zu vergleichen ist. In einem Großgehöft (manor) sind Werkstätten und Herde mit geschmolzenem Metall aus der beginnenden Völkerwanderungszeit ausgegraben worden. Es ist das erste vollständig untersuchte Werkstattgebäude in Schweden mit den Maßen von 7 auf 4 m und war ebenerdig auf dem Felsuntergrund errichtet.1659 Außer Werkstätten gibt es direkt Gräber von Goldschmieden, erkennbar an den Werkzeugen.1660 Es muss weitere zentrale große Werkstätten in Schweden gegeben haben, in denen die prächtigen Schmucksachen wie die Goldhalskragen (vgl. S. 1223) geschmiedet worden sind. Statt von permanenten, ortsfesten Werkstätten auszugehen wie in Helgö werden temporäre Werkplätze vermutet, so in Bäckby an der Nordseite des Mälarsees nahe Västerås, wo Gold- und Silberspuren in den Gussformresten belegt sind. In Schweden gab es anscheinend außer Helgö sieben weitere Werkplätze, wie 2001 auf dem damaligen Sachsensymposium berichtet, mit Gusstiegeln und Gussformen der Völkerwanderungszeit und sechs aus der Merowingerzeit. Bis 2012 sind weitere Plätze dazu gekommen, so in Skeke, nordöstlich von Uppsala mit einem Gussherd, Behälter mit Holzkohle, einem Platz für Blasebälge und Fragmente von Gussformen aus dem 5. Jahrhundert. Belegt bzw. analysiert ist die unterschiedliche Zusammensetzung von Metallgegenständen schon der frühen Römischen Kaiserzeit, des 1. und 2. Jahrhunderts, von germanischer und römischer Herkunft.1661 Festgestellt wurden sechs unterschiedliche römische Kupferlegierungen in germanischen Objekten, eine weitere Kupferlegierung mit hohem Silbergehalt fand sich nur bei germanischen Objekten. Mehrteilige Schmucksachen aus Gold-, Silber- und Kupferlegierungen waren jeweils aus ganz unterschiedlichen Legierungen hergestellt, von Berlocks über Nadeln bis zu Fibeln. Im Folgenden führe ich einige, auch ältere Siedlungen mit Buntmetallwerkstätten auf, bei denen zumeist importierter römischer Schrott weiterverarbeitet wurde. Zuerst wurde die Siedlung Klein Köris im Kreis Königswusterhausen zu diesem Thema 1989 publiziert, und inzwischen liegen auch die Analysen der Feinschmiedeabfälle vor.1662 Es folgten bald die Befunde in der Siedlung der jüngeren Römischen Kaiserzeit von Neunheiligen im Unstrut-Hainich-Kreis 15 km nördlich von Mühlhausen.1663 Geborgen wurden über 450 Metallobjekte, und der Platz wurde von der Mitte des 2. bis in die erste Hälfte des 4. Jahrhunderts genutzt. Hier hat sich gezeigt, wie zielgerichtet das zu verwendende Altmetall selektiv ausgewählt wurde, je nachdem, welche neuen Objekte produziert werden sollten. In der Siedlung Herzsprung (vgl. S. 244) gibt es 1659 Hjärtner-Holdar 2012. 1660 Kristoffersen 2012. 1661 Geisler 2001. 1662 Gustavs 1989; 1998, zum Siedlungsumfeld Gustavs 1987. 1663 Klemet 2016, 834 f. mit Abb. 17 und 18 Verteilung des Buntmetallschrotts bzw. der Werkstattabfälle.
8.2 Handwerk
475
eine Metallwerkstatt,1664 beim Fürstengrab von Dienstedt ist ein Herrenhof mit Werkstatt dokumentiert, in Pahsolecj bei Mušov wurden Gussformen für Fibeln mit hohem Nadelhalter, ein Typ sogenannter „sarmatischer Fibeln“ geborgen. Eine germanische Handwerkersiedlung ist bei Borken untersucht.1665 Auf die Funde und die Metallverarbeitung in der Siedlung Kamen-Westick1666 wird noch ausführlicher eingegangen werden (vgl. unten S. 494). Grabungen fanden hier schon früh in den 1920er und 1930er Jahren statt, dann wieder 1998 bis 2001 und 2004. Mehr als 1300 Bunt- und Edelmetallobjekte des 1. bis 6. Jahrhunderts mit einem Höhepunkt im 4. und frühen 5. Jahrhundert wurden geborgen. Die germanischen Objekte bestehen aus Legierungen, aus Schmiedebronzen mit bis zu 14% Zinn und aus antikem Messing; Gussbronzen mit mehr als 5% Blei waren kaum vertreten.1667 P. Könemann hat Fundplätze mit Buntmetallverarbeitung im regionalen und überregionalen Vergleich zu Kamen-Westick 2018 aufgelistet. Sie sind demnach nicht auf zentrale Orte beschränkt, aber kommen auch nicht in allen Siedlungen vor. Im Thüringer Becken sind es mehrere Plätze der zweiten Hälfte des 3. und des frühen 4. Jahrhunderts, in der Hellwegzone vor allem des 5. Jahrhunderts. Nur in WarburgDaseburg, eine Siedlung mit zahlreichen Grubenhäusern, der späten Römischen Kaiserzeit sind alle Verarbeitungsschritte vom Rohmaterial bis zum Fertigprodukt lückenlos nachgewiesen. Spätkaiserzeitliche germanische Metallverarbeitung ist in Bathmen-Bergakker, Niederlande, belegt und ausgewertet worden.1668 Ausgegraben wurde 1995 ein kleiner Teil einer langdauernden Siedlung der Römischen Kaiserzeit im Süden des Sallands mit den Funden der zweiten Hälfte des 4. und des frühen 5. Jahrhunderts, die Bronzeund Eisenverarbeitung belegen., und zwar über Rennfeueröfen einerseits und Bronzeschrott (200 Reste), Schmelz- und Gusstiegel (180 Fragmente) sowie Gussformen (84 Fragmente), die zur Herstellung von Kleinbronzen gehören, andererseits. Gegossen wurden Riemendurchzüge von Gürteln oder Attaschen von Beschlägen eines Holzeimers sowie Nadeln. Die Werkstatt befand sich wohl in einem der Grubenhäuser, in dem außerdem ein vollständiger kupferner Kessel stand. Nur zwei Wohn-Stall-Häuser und drei Grubenhäuser sowie ein Brunnen wurden freigelegt, in denen verstreut die Hinweise auf die Werkstattreste kartiert sind. Wie üblich bei germanischen Siedlungen außerhalb, hier nördlich des Limes, besteht die Keramik mehrheitlich aus handgeformten Gefäßen, nur 5% sind auf der Drehscheibe hergestellt. Der Brunnen ist dendrodatiert auf 173 n. Chr., eines der Langhäuser stammt schon aus der Mitte des 2. Jahrhunderts, das andere datiert ins späte 2. und frühe 3. Jahrhundert, d. h. 1664 Kyritz 2014. 1665 Gaffrey, Remme 2000; zu den Fibeln: Hellstöm 2018. 1666 Könemann 2014–2015. 1667 Könemann 2018, 206 Warburg-Daseburg. 1668 Groenewouldt, Erdrich 1997, 303 Abb. 2 Kartierung der Funde von der Bronze- und Eisenverarbeitung.
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die Siedlungsspuren gehören in eine ältere Phase der (sich verlagernden) Siedlung, ehe dann der Handwerksbetrieb an diesem Platz entstand. Dieser Befund wird hier so ausführlich beschrieben, weil in der Provinz Overijssel schon 40 Siedlungen der Römischen Kaiserzeit dokumentiert werden konnten (1997), in denen Produktionsschlacken gefunden worden sind. In Siedlungen wie dem umwehrten Platz Heeten, Gem. Raalte,1669 und in Wesepe, Gem. Olst, sowie weiteren Plätzen sind außerordentlich umfangreiche Relikte der Eisengewinnung und Verarbeitung gefunden worden (vgl. oben S. 449), datiert in die erste Hälfte des 4. Jahrhunderts. Es wirkt wie eine zentral organisierte Produktion, parallel zu einem Bevölkerungswachstum bei den Siedlergruppen hier in Germanien, dem Herkunftsgebiet der salischen Franken. Die Fibelherstellung in Germanien, nur wenig nördlich der Donau, ist an einigen Plätzen anhand von Gussformen, Halbfabrikaten und Fehlfabrikaten nachgewiesen.1670 Zur Kartierung der germanischen Besiedlung im mittleren Donaugebiet an der March und nördlich anschließend im 2. und 3. Jahrhundert sind die Fundstellen mit der Fibelherstellung verzeichnet. Es handelt sich um sechs Orte, von denen einige noch in anderen Abschnitten meiner Darstellung beschrieben werden, und zwar um Pasohlávky1671 und um Zlechov, beide im Norden gelegen, dann nahe der Donau Bratislava-Devínska Nová Ves, Zohor, Zvončín und Nitra. Meistens sind es zweigliedrige Armbrustfibeln mit hohem Nadelhalter der Typen Almgren VII. In Pasohlávky fand man über 10 Fragmente von Tongussformen zu diesem Fibeltyp, mit äußerer und innerer Sehne, datiert ans Ende des 2. bis zur Mitte des 3. Jahrhunderts. Weitere Feinschmiedewerkstätten im Mitteldonauraum veröffentlichte J. Tejral,1672 H. Teubner ausführlich die genannte germanische Gießereiwerkstatt in Pasohlávky bei Břeclav.1673 Auch im Norden Germaniens gibt es weitere untersuchte Werkstätten, so schon auf der Feddersen Wierde, wo die Organisation der Metallverarbeitung beschrieben ist.1674 Belege für Gold- und Silberschmiede im südlichen Skandinavien der späten Römischen Kaiserzeit stellte M. Axboe zusammen, darunter auch Werkstätten in der Siedlung Kværndrup auf Fünen mit drei Grubenhäusern und Hinweisen auf Goldschmiede und die Einrichtung mit Schmelzöfen, Blasebälgen, Holzkohlelager, Gussformen (darin Goldreste), Probierstein, Schlacken und Bronzebarren;1675 und solche Metallwerkstätten, auch der Goldschmiede, gab es wie ausführlich erläutert im Zentralort Helgö.1676 1669 Verlinde, Erdrich 1998. 1670 Bazovský 2009, 434 Abb. 1 nach Tejral, Elschek und Pieta mit Lit., 435 Abb. 2 Kartierung. 1671 Tejral 2006. 1672 Tejral 2015b. 1673 Teubner 2006. Neu publiziert ist eine Gussform für Fibeln des Typs Almgren 132 der Zeit der Markomannenkriege aus Ostböhmen, die weitgestreut in Germanien bis in die Gegen von Posen und Warschau vorkommen: Vích, Kmošek 2020 mit Fig. 4 Karte. 1674 Schuster, de Rijk 2001. 1675 Axboe 2012, 133 Fig. 4 Plan mit den Grubenhäusern. 1676 Lamm 2011; 2012, 145 Fig. 1 Siedlung mit den Hausplätzen.
8.2 Handwerk
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Auf Seeland ist eine Metallwerkstatt von Hørup aus der Römischen Kaiserzeit und der frühen Völkerwanderungszeit publiziert.1677 Sogar die Werkzeuge aller Art, die ein Heer beim Kriegszug brauchte, sind in den Heeresausrüstungsopfern vorhanden und detailliert beschrieben.1678 Der besonderen sozialen Position der germanischen Goldschmiede widmet C. v. Carnap-Bornheim eine Studie.1679 Was alles in den Werkstätten produziert wurde, wird im nächsten Abschnitt skizziert werden. Was in Germanien nicht selbst hergestellt werden konnte oder wurde, waren also Gefäße aus Metall, aus Bronze oder Messing und aus Silber, außerdem Gläser. Dazu fehlten eigentlich nicht die Rohstoffe, sondern eher die technischen Kenntnisse oder der Willen dazu, wie schon seit Jahrhunderten zuvor und noch für weitere Jahrhunderte bis zur frühen Karolingerzeit. Gefäße aus Metall aller Art wurden importiert. Aber auch Schmucksachen, Kleidungsaccessoires wie Gewandnadeln, d. h. Fibeln, Nadeln, Ringe oder Anhänger aus Bunt- oder Edelmetall konnten anscheinend mehrheitlich nur aus importiertem Metall gegossen, geschmiedet oder getrieben werden. Man hat diesen Rohstoff bei kriegerischen Beutezügen gewonnen und auch über Handel erworben. Gefäße wurden zerschnitten, andere Objekte zerbrochen und aufgeteilt, bis die Teile so klein waren, dass man diese in Öfen einschmelzen konnte. In mehreren Siedlungen der ersten Jahrhunderte n. Chr. wurden solche Ansammlungen von Metallbruchstücken, also Schrott, gefunden, manchmal in Grubenhäusern, die als Werkstätten gedient haben. Hinzukommen Werkzeuge und Gussformen für Gewandschmuck, für Fibeln und Nadeln, deren Produkte in größeren Zahlen als Grabbeigaben geborgen worden sind. Fibeln sind in einer außerordentlich variantenreichen und großen Menge ausgegraben worden, die es erlauben – neben ihrer Aussage zur chronologischen Stellung der zugehörigen Siedlung oder der Gräber – Verteilungsmuster in Karten abzubilden. Archäologen werten dann diese Bilder mit Blick auf Nah- und Fernverbindungen, Bevölkerungsbewegungen und Handelsbeziehungen sowie allgemeiner Kommunikation aus.
8.2.9 Schmuckproduktion So wie Edel- und Buntmetalle in Germanien aus dem Römischen Reich frühzeitig importiert wurden, hat man auch manche Techniken der Verarbeitung rasch übernommen oder aufgrund alter Kenntnisse wieder angewendet. Die Entwicklung des qualifizierten Kunsthandwerks lässt sich seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. kontinuierlich verfolgen. Die meisten Schmuckformen waren relativ einfach herzustellen. Aber es gab auch einige Arten, die zusätzliche technische Kenntnisse erforderlich
1677 S. A. Sørensen 2000; 2006. 1678 Dobat 2008b. 1679 v. Carnap-Bornheim 2001.
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machten, nämlich zum Beispiel die Anbringung von Filigran und Granulation. Im Verlauf des 1. Jahrhunderts wurde die Tauschiertechnik übernommen – das Einlegen von Silber als Schmuck in Vertiefungen der Eisenobjekte –, nach den Markomannenkriegen am Ende des 2. Jahrhunderts ist die Anwendung der sog. Diffusionsbindung, um vergoldete Pressbleche herzustellen, durch Objekte belegt, bald darauf während der Spätantike wurde die Feuervergoldung, die Niello-Verzierung, der Feinguss und die Lötung aufgegriffen. Das Aufkommen dieser üblichen Techniken des Goldschmiedes ist archäologisch nur dann zeitlich festzustellen, wenn entsprechende Objekte, als Grabbeigaben meist, geborgen werden können, d. h. manches Aufkommen von Techniken ist vielleicht früher anzusetzen, wenn neue Grabungsergebnisse vorliegen werden. Ein heftig diskutiertes Thema ist daher die Frage nach der Übernahme und Verbreitung innovativer Techniken bei Herstellung germanischer Fibeln.1680 Die NielloEinlage, also die schwarz wirkende Silberlegierung als Verzierung in Schmucksachen, ist schon seit der Eisenzeit in Germanien, in Dänemark beispielsweise, bekannt.1681 Zu allen diesen Techniken hat H.-U. Voss ausführliche Überlegungen geliefert. Silber- und Messing-Tauschierung war in Germanien ab 1. und 2. Jahrhundert üblich, wurde in zahlreichen Werkstätten bis nach Südskandinavien praktiziert. Plattierung mit Goldblech ist z. B. auf dem Gräberfeld von Hagenow in Grab I/1899 für die erste Hälfte des 2. Jahrhundert belegt, im Königsgrab von Gommern für das zweite Drittel des 3. Jahrhunderts ist erstmals Blattvergoldung am Schildbuckel überliefert. Die Anfertigung von Goldberlocks mit Granulation ist seit dem 1. und 2. Jahrhundert in Germanien belegt; ebenso nachfolgend im 3. und 4. Jahrhundert die Verzierung von Prunkfibeln mit Granulation.1682 Goldberlocks1683 treten unvermittelt auf und lassen von Anfang an eine große technische und künstlerische Vollkommenheit erkennen (Abb. 46). Es gibt keine Vorbilder in Nordeuropa, es müssen frühe Kontakte zu dem südrussisch-skythischen Kulturgebiet gewesen sein. Zu unterscheiden sind mehrere Typen der älteren Römischen Kaiserzeit. Typ II wird in die Phase B1 (20/10 v. bis 70/80 n. Chr.) datiert und kommt kaum noch in B2 (70/80–160/180 n. Chr.) vor; Typ III gehört in die Phase B2 und noch in den Anfang der Phase C1, also in die Zeit vom Beginn um 100 n. Chr. bis ans Ende des 2. Jahrhunderts. Sie sind tatsächlich fast immer aus Gold, und nur wenige aus Silber kennt man, die dann auch leicht vergoldet sind. Das Gewicht liegt zwischen 3,0 und 8,5 g. Trotz der komplizierten Technik hat es anscheinend mehrere Herstellungszentren gegeben, da verschiedene Verzierungsweisen angewendet wurden (oder waren es reisende Handwerker?). Im Gräberfeld von Sörup II (vgl. S. 854) sind die
1680 v. Carnap-Bornheim 1998. 1681 Stemann Petersen 1994–1995. 1682 Voss 2008a, 352 f. 1683 J.-P. Schmidt 2006, 121 Werkstätten.
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Abb. 46: Karte der Vorkommen von Goldberlocks in Skandinavien (hier sogenannter Müller Typ III).
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Berlocks aus Grab 81 und 160 A vom selben Goldschmied gefertigt, während das dritte Stück von diesem Ort Parallelen auf den dänischen Inseln und auf Bornholm hat. Vergleichbar kostbar und feinschmiedetechnisch aufwendig sind die Stuhlsporen in einigen der „Fürstengräber“ hergestellt worden, mit Edelmetalleinlagen, Golddraht in Filigrantechnik, so in Marwedel Grab II und in Mušov; und diese Sporen waren nicht nur Zierde, sondern die Abnutzungsspuren zeigen, dass sie real verwendet wurden.1684 Vorher und parallel zu den Arbeiten von H.-U. Voss hat sich Kent Andersson sowohl mit den verschiedenen Schmucktechniken befasst und diese detailliert beschrieben, als auch das zeitliche Aufkommen in Germanien thematisiert, die Goldschmiedetechniken allgemein1685 und die höchst kunstfertig mit Granulation verzierten Berlocks.1686 Die Arbeitsschritte für die Vergoldungsverfahren wie Plattierung, Blattvergoldung, Diffusionsbindung und Feuervergoldung sind beschrieben.1687 Eindrucksvolle Beispiele sind ein Gürtelblech aus dem Thorsberger Moor mit Köpfen in Profildarstellung in Blattvergoldung oder die Schildbrettbeschläge mit mehr als 70 vergoldeten Gesichtsmasken aus Illerup. Der Feuervergoldung1688 und die Tauschierung1689 sowie weitere Ziertechniken widmeten sich handbuchartig K. Anheuser und J. Wolters. Gold und Silber wurden in großem Umfang verwendet, und das Zitat bei Tacitus „Silber und Gold haben ihnen die Götter versagt“, betrifft wohl nur die eigene Gewinnung als Bodenschätze, denn sonst ist das Edelmetall ausreichend vorhanden.1690 Direkte Anregungen und importierte Gegenstände aus dem Römischen Reich, über Söldner, die in Auxiliareinheiten „intensive militärische Kooperation unter den polyethnischen Angehörigen“ des Heeres erfahren hatten und das römisches Bürgerrecht sowie materielle Abfindungen erhielten, sorgten für die Zufuhr an Silber und Gold. In der jüngeren Römischen Kaiserzeit nahm Gold gegenüber Silber deutlich zu, und eine Steigerung erfolgte dann noch im 3. und 4. Jahrhundert, wie im Abschnitt über die Goldhorte noch ausführlich beschrieben wird. Für höchste Qualitätsansprüche blieben Granulation und Goldplattierung zur Herstellung von Prestigegütern.1691 Die weite Verbreitung der mit Silbertauschierung verzierten Gegenstände, darunter anscheinend auch einfache Sporen, drückt aus, dass zahlreiche Werkstätten im gesamten mitteleuropäischen Germanien, vom unteren Elbegebiet bis nach Südskandinavien, ebenso diese Technik beherrschten,
1684 Gräf 2013, 76 Abb. 6 und 83 Abb. 14. 1685 Andersson 2008; 2011. 1686 Andersson 1995, 21 ff.; 1997. 1687 Allg. v. Carnap-Bornheim 2006b, 89 Abb. 1 Arbeitsschritte bei den Vergoldungsverfahren; nach Hammer, Voss, Lutz 1998, Abb. 24 Verfahren der Vergoldung. 1688 Anheuser 1999,17 ff.; J. Wolters 1998; 2006; 2007; R. Wolters 1986. 1689 J. Wolters 2007. 1690 Blankenfeldt, Matešić 2006, 100. 1691 Andersson 2008, 25–32 zu den Goldschmiedetechniken.
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wie die Handwerker in den Werkstätten der römischen Provinzen. Die prächtigen mit Filigran und Granulation verzierten birnenförmigen „Goldberlocks“ des 1. und 2. Jahrhunderts waren typische germanische Schmucksachen, aber in eigentlich fremder, römischer (?) Technik hergestellt (Abb. 46).1692 Goldberlocks sind als Beigaben in Frauengräbern gar nicht so selten.1693 Dazu gehören auch die mit Granulation verzierten oft goldenen Prunkfibeln des 3./4. Jahrhunderts. Mit Blattvergoldung war der Prachtgürtel im „Fürstengrab“ von Gommern in Sachsen-Anhalt aus dem 2. Drittel des 3. Jahrhunderts geschmückt (vgl. unten S. 928). Nicht nur eine direkte Übernahme römischer Techniken und Objekte fand statt, sondern eine bewusste Auswahl von Sachgütern, Formen, Materialien und handwerklicher Verfahren, die nach eigenen Bedürfnissen angepasst und umgesetzt wurden. Das Stilempfinden der germanischen Elite wählte sichtlich spezielle Aspekte der Granulation, des Filigrans oder der Vergoldung aus. Sehr deutlich zu beobachten ist das unter den Fundmaterialien anhand von Umarbeiten an bedeutenden Objekten. Aus dem Moor von Thorsberg in Angeln bei Schleswig stammen zwei Zierscheiben, Phalerae, also römische Orden, datiert ins frühe 3. Jahrhundert n. Chr. (220–240 n. Chr.).1694 Zwischen die ursprünglichen Verzierungen auf den Randstreifen dieser römischen Scheiben wurden von Kunsthandwerkern, den Edelmetallschmieden, in Germanien zusätzlich Tierfiguren nachträglich aufgesetzt, auf der ersten Scheibe acht Figuren, darunter auch Fische bzw. Delphine, auf der zweiten flächendeckend ein Fries aus gehörnten Vierbeinern mit Wassertieren, und dazwischen einem Delphin. Zwei Zierstile, ein römischer und ein germanischer, wurden zusammengefasst, was die Frage nach dem Handwerker oder der Werkstatt aufwirft, der die beiden Objekte „verschönert“ hat. Claus von Carnap-Bornheim fragt 1997: „Handelt es sich um eine römische oder eine germanische Werkstatt oder muss hier mit einem römischen Handwerker in germanischen Diensten oder gar mit einem germanischen Handwerker mit römischer Ausbildung gerechnet werden?“1695 Als Vergleich können Silberbecher aus Südostseeland in Dänemark, von Himlingøje auf Seeland, betrachtet werden. Die beiden Gefäße ahmen römische Becherpaare nach, die zusätzlich unter dem Rand einen Fries aus vergoldetem Silberblech mit Menschen- und Tiermotiven bekommen haben.1696 Die Prunkschilde aus dem reich ausgestatteten Grab von Gommern in Sachsen-Anhalt und aus dem Moor von Illerup in Jütland tragen stempelidentische Gesichtsmasken, die auch – da ein wenig älter – als Vorbilder für die Thorsberger
1692 Andersson 2008, 38 Karte in Farbe. 1693 J.-P. Schmidt 2009. 1694 v. Carnap-Bornheim.1997, 70 Abb. 1 a und 72 Abb. 2 a und 74 Abb. 3 Zeichnung Scheibe 2; Eggers, Kunst der Welt 1964, 58 Fig. 13 a SW-Fotos; auch Sieg und Triumpf 2003, 412 Kat. 5.10 b-c. 1695 v. Carnap-Bornheim 1997. 1696 Zwei Silberbecher von Himlingøje mit Bildfries: Eggers, Kunst der Welt 1964, 59 Fig. 13 c1 und c2 Abrollung, 56 Farbtafel einer der Becher, und von Valløby: Sieg und Triumpf 2003, 397, 4.15.
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Scheiben gedient haben könnten, die ebenfalls Gesichtsmasken tragen; vergleichbar sind außerdem die Schildrandbeschläge von Illerup und Gommern (Abb. 47). Der Schildbuckel im Grab von Gommern ist zudem ein umgearbeitetes römisches Silbergefäß, an dessen verdeckten Teilen noch die Muster des früheren Zwecks erhalten geblieben sind (dazu vgl. S. 927). Schließlich gibt es auf den Pferdezaumzeugen in den großen Opferniederlegungen in Jütland Kombinationen von römischen und germanischen Zierelementen. Gewissermaßen wird hier eine kunsthandwerkliche Mischkultur seit der Zeit um 200 fassbar. Das Frauentrachtzubehör, die Accessoires aus Metall oder Knochen und Geweih, bestand aus Fibeln, Nadeln und Gürtelteilen, aus Perlenketten am Hals und am Arm,
1
2 Abb. 47: Schildrandbeschläge vergleichbarer Art finden sich jeweils in Illerup und Gommern. 1. Schild SAAB von Illerup Ådal. 2. Schildbuckel aus den Königsgrab Gommern.
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aus Hals- und Arm- sowie Fingerringen.1697 Besonders zu beachten sind die germanischen Scheibenfibeln,1698 die mancherlei Vergleiche zu römischen Fibeln dieser Art erkennen lassen, vor allem wenn es um Emaileinlagen geht. Beim Kleidungszubehör sind bei Frauen und Männern die besonders variationsreichen Fibeln (Gewandnadeln) in vielen tausend Exemplaren archäologisch ausgewertet worden. Dabei gibt es ebenfalls derartige Verbindungen zwischen den Kulturen. Unterschiede in der Ausstattung der Kleidung mit Metallschmuck, mit Fibeln, Nadeln oder Gürtelbeschlägen, scheinen bei einer Kartierung gewisse Kommunikationsareale erkennen zu geben, können zugleich aber auch – wenn Objekte weiter verbreitet und einzeln vorkommen – überregionale ferne Kontakte abbilden. Ob das bei mehr oder weniger deutlichen Varianten eines Fíbeltyps schon so weitgehend interpretiert werden sollte, stelle ich in Frage. Wir wissen zu wenig über die Organisation des Handwerks und über die Mobilität von Handwerkern oder gar über den Erwerbund Verteilungsmodus derartiger Sachgüter.1699 Ich gehe nachfolgend etwas ausführlicher auf die Gliederungen und Kartierungen der Fibeln ein, um damit zu beschreiben, wie weit aufgefächert die archäologische Forschung dieser nach der Keramik ebenso zahlreichen Massenfunde gediehen ist, wobei die antiquarische Beschreibung beeindruckt, aber die kulturgeschichtliche Auswertung kaum neue Aspekte bietet, mit Ausnahme der Typen, für die tatsächlich ein Produktionsort gefunden worden ist. Es entsteht der Eindruck, dass fast alle Formen, Typen und Untertypen jeweils allgemeiner verbreitet vorkommen, je mehr ausgegraben und publiziert wird. Eine auffällig und zahlreiche Fibelform sind die sogenannten Augenfibeln – nach augenartigen Aussparungen über der Spirale, die für die Spannung der Nadel sorgt. Sie sind in ihrer weiten Verbreitung seit O. Almgren vielfach zusammengestellt worden.1700 Die frühen Augenfibeln hat J. Kunow 2001 kartiert, sie kommen vom Rhein bis zur Oder und Warthe in Norddeutschland vor,1701 aber durchaus in zwei Untertypen getrennt, der Typ Haltern vom Rhein bis zur Weser und in Böhmen und andere Typen von der Weser nach Osten. Von den Augenfibeln der preußischen Nebenserie Almgren1702 Gruppe III (so die archäologische Nomenklatur) sind 200 Exemplare registriert, darunter sind Fundstücke von Halbfabrikaten, die zeigen, dass derartige Fibeln im Römischen Reich, in Augusta Vindelicorum / Augsburg produziert worden sind, um dann bis nach Nordostgermanien ins Weichselgebiet verbreitet, also
1697 Tempelmann-Mączyńska 1985; 1989. 1698 Thomas 1967. 1699 Przybyła 2018a. 1700 Almgren 1897 (!), 2. Aufl. 1923; Kunow (Hrsg.) 1998/2002. 1701 Kunow 2001, 344 Abb. 1 und zu Untertypen 345 f. Abb. 2 und 3. 1702 Beiträge zu diesen Augenfibeln, und zu den berühmten Rollenkappenfibeln, Fibeln der Gruppe Almgren V, Serie 8, etc.; Kunow 1998, Hauptserie der Augenfibeln Gruppe III; Machajewski 1998; Leube 1998c, Rollenkappenfibeln Almgren Gruppe II zwischen Weser und Parseta, Typologie.
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über 1000 km, verhandelt zu werden. Es gibt keinen Hinweis auf germanische Produzenten am Ort in Augsburg oder anderswo in Germanien, so dass von einem weitreichenden Handel ausgegangen werden kann, nach ganz Germanien östlich der Elbe bis ins Baltikum und nach Schweden (oben Abb. 10).1703 Multielementbestimmungen von Augenfibeln aus Kupferlegierung im östlichen Baltikum verkomplizieren die Beantwortung der Frage, wo derartige Schmucksachen hergestellt worden sind.1704 Ob es sich in allen Fällen um Importe aus römischen Provinzen gehandelt hat, ob es ein sekundäres Produktionszentrum in Ostpreußen gegeben haben könnte, von wo die Fibeln dann ins Baltikum gekommen sind, ist offen. Da es sich um die ältesten Fibeltypen handelt, die während der frühen Römischen Kaiserzeit ins Baltikum gelangt sind, wird danach mit Recht gefragt. Es gibt drei Typen von Augenfibeln hier, nach den Typen Almgren 57 bis 61, und datiert von 50 bis 150 n. Chr. (Hauptserien), 50 bis 600 n. Chr. (estnische Serien) und 100 bis 200 n. Chr. (preußische Serien). Rund 90 Fibeln sind analysiert worden, mit der Frage, wo diese kleinen und leicht weithin transportierbaren Schmucksachen produziert und wie sie wohl verteilt worden sind. Fibeln der Hauptserien entsprechen den Funden nahe der römischen Grenzen, wobei nun wieder nicht sicher ist, ob die Fibeln selbst so weit transportiert wurden oder ob die Stücke andernorts aus Rohmaterial erst andernorts gegossen worden sind. Die Preußische Serie stammt tatsächlich und hauptsächlich aus der Provinz Raetien, auch wenn es eine spätere Produktion im Norden, in Preußen gegeben haben kann, so wie die estnischen Serien lokale Kopien importierter Augenfibeln sind. Somit sind die Antworten vielfältig, bestätigen aber die Fernbeziehungen zwischen dem Baltikum und der römischen Welt. Auch umgekehrt entstandene Verbreitungsbilder, nämlich aus dem Norden, von der Elbe stammende Fibeln, kommen im Süden, im römischen Grenzbereich vor. Im römischen Gräberfeld beim Lager von Günzburg an der Donau gibt es eine germanische, sogenannte Kniefibel, die zu den Typen Almgren 144 und 147 gehört. Diese Fibeln kommen vereinzelt in Mitteleuropa überall vor, aber massiert von der Niederelbe bis zum Mittelelbe-Saale-Gebiet. Hat es nun einen Germanen in die römische Armee verschlagen oder stammen derartige Fibeln u. U. – Werkstätten sind bisher nicht nachgewiesen – doch aus südlichen, gar römischen Werkstätten. Immerhin lassen sich typologische Unterschiede, also Werkstattbesonderheiten, feststellen. Die Kniefibeln mit halbrunder Kopfplatte weisen am obergermanisch-raetischen Limes eine Spiralkonstruktion mit unterer Sehne auf, im norisch-pannonischen Raum demgegenüber mit oberer Sehne.1705 Das betrifft auch andere Fibeltypen, so die Scharnierfibeln und andere Typen, beiderseits des spätantiken Limes. Ihre Verbreitungen
1703 Voss 2008a, 343 Fig. 57/58–60, 345 Abb. 1 Karte. 1704 Roxburgh, Olli 2018 (2019), 214 Fig. 2 Fundorte der analysierten Fibeln in Estland und Lettland, 216 Fig. 3 Die drei Typen von Augenfibeln. 1705 Mączyńska, in: Voss, Müller-Scheessel (Hrsg.) 2016.
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belegen ein weitreichendes Netzwerk der germanischen Eliten am Ende des 3. und bis ins 4. Jahrhundert, wie Karten zeigen.1706 Das Augsburger Beispiel, das gerade von mir beschrieben worden ist, macht nachdenklich und lässt fragen, wo denn alle diese Fibeltypen hergestellt worden sind (vgl. oben Abb. 10).1707 Ebenso gibt es Gießereiwerkstätten für Fibeln in Germanien selbst, zum Beispiel die erwähnte Gießereiwerkstatt in Pasohlávky, Bez. Břeclav, aus der Zeit nach den Markomannenkriegen.1708 Auch wurden aus dieser Zeit nach dem Rückzug der Römer am Ende der Markomannenkriege bei Mušov in Mähren, 2 km südwestlich der alten römischen Befestigung, Gussformreste für Fibeln mit hohem Nadelhalter der Almgren Gruppe VII und s-förmigem Bügel ausgegraben. Die Verbreitungskarte zeigt, wie weit ins östliche Germanien bis zur Ostseeküste auch diese Fibeln verhandelt worden sind.1709 Germanische Fibeln sind in den römischen Kastellen Saalburg und Zugmantel entdeckt worden, wohl von germanischen Söldnern im römischen Heer, und so konnten auch „germanische“ Fibeln in römischem Kontext produziert worden sein.1710 Mit dem Fibeltyp mit hohem Nadelhalter hatte sich A. Leube 1999 für das nördliche Elbegebiet befasst, diese nach verschiedenen Untergruppen gegliedert und kartiert.1711 Sie sind zwischen Elbe und Oder verbreitet, mit verschiedenen Untertypen und Serien, was auf sehr unterschiedliche Werkstatt-Traditionen hinweist. Sie kommen Ende 2./Anfang 3. Jahrhundert auf, als für eine „Adelskultur in der Kultur breiter Schichten“ typisch, wie A. Leube meint, verbunden mit neuen Techniken und Ausdrucksformen, auch wenn die Grundtypen mit hohem Nadelhalter bleiben, kombiniert aber mit provinzialrömischen Kulturelementen. Im recht kleinen Arbeitsgebiet konnten immerhin 555 Exemplare katalogisiert werden, von denen 531 aus Bronze (96%), 13 aus Eisen (2,3%) und 11 aus Silber (1,7%) hergestellt sind. Diese letzteren stammen aus reichen Gräbern des 3. Jahrhunderts. Die Fibeln mit hohem Nadelhalter, von L. Schulte wieder 2011 bearbeitet, sind nun 2018 erneut monographisch ausgewertet worden (somit 20 Jahre nach den Analysen von A. Leube),1712 und zwar für alle Funde im nördlichen Europa. Der Fibeltyp wurde während der späten Römischen Kaiserzeit hergestellt und getragen. Marzena Przybyła geht dabei nach der Liste der Typendefinitionen von O. Almgren 1897/1923 über M. Mackeprang 1943 bis L. Schulte
1706 Schierl 2016, 531 Abb. 2 Scharnierfibeln des 3. Jahrhunderts, 540 Abb. 7 Karte der Zwiebelknopffibeln. 1707 C. S. Sommer, Faber, Riedl 2020, 37 Abb. Karte der Kniefibeln. 1708 Teubner 2006. 1709 Schulte 2011. 1710 Voss 2008a, 345 Abb. 1, 344 Karte. 1711 Leube 1999b. 1712 Przybyła 2015, 365 Fig. 1; 2018a, 21 Fig. 2 Zahlentabelle, 123 Fig. 80 farbige Karte zum Vorkommen der Gruppe III 1–9, 147 Korrespondenzanalysen.
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2011 vor und gliedert das Material wie die Vorgänger und sie selbst in zahlreiche Untertypen und beschreibt in Kartenbildern ihre jeweilige Verbreitung. Sie bietet erst am Schluss ein generelles Modell, wie diese Fibeln nun über weite Teile Germaniens verbreitet worden sind, die vor allem in Gräbern gefunden werden, weniger in Siedlungen und ebenfalls in den Mooropfern in Jütland. Die zu bearbeitenden Zahlen sind beachtlich und die Verbreitung weiträumig. Diese Fibeln gibt es aus 914 Gräbern auf 124 Friedhöfen, in 95 Siedlungen (vor allen in den Niederlanden und in den römischen Provinzen), auch Moor- und Gewässerfunde sowie als Objekte ohne Fundzusammenhang. Insgesamt werden 1391 Fibeln ausgewertet. Die Angaben zur näheren Aufgliederung würden zu weit führen; es gibt immerhin Dutzende von Kartierungen der einzelnen Untertypen (Abb. 48), und es gibt weiterhin Karten speziell zur Verbreitung der Verzierung auf dem hohen Nadelhalter und an anderen Stellen der Fibeln mit Linien-, Tremolo- oder Zickzack-Muster sowie Bögen als Hinweis auf verschiedene Werkstatt-Traditionen. Die gesamten Verbreitungen dieser Fibeln erstrecken sich von Mittelschweden bis zum Main und bis zum Hochrhein. Die Datierung wird u. a. über Korrespondenzanalysen erarbeitet mit ansprechenden Parabeln. Die Phasen I und II, III und IV, V– VII vom Beginn der späten Römischen Kaiserzeit bis zum Beginn der Völkerwanderungszeit brauchen die Synchronisation zu den bekannten Phasen, die noch einmal feiner unterteilt werden in C1b1, C1b2, C2a,C2b, C3a,C3b,D1a, wobei die Phasen
Abb. 48: 1. Verbreitung von Fibeln mit hohem Nadelhalter.
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Abb. 48: 2. Gussformen in der Werkstatt Pasohlávky, Bez. Břeclav.
sich durchaus überlappen. Das ist auch archäologisch anders kaum möglich; denn Phasen, die weniger als 25 Jahre umfassen, gehen an der vergangenen Lebensrealität vorbei und sind nur mathematisch geschaffene Konstrukte; außerdem lassen sich die verschiedenen Fibeltypen meist auch nur auf zwei dieser Phasen eingrenzen, die sich dann trotzdem noch mit anderen überlappen. Diesen Fibeln mit hohem Nadelhalter, Gruppe Almgren VII, hat L Schulte eine Monographie gewidmet und sich mit kulturgeschichtlich bemerkenswerten Details beschäftigt.1713 Es geht um Reparaturen an Fibeln, die oft bei Beschädigungen nicht einfach weggeworfen wurden, sondern durch Löten wieder brauchbar gemacht
1713 Schulte 2011, 187–190, zur Fibel 189 Abb. 122, 3; auch Keiling 1999, 241 Abb. 3, 5.
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wurden und dann auch als Grabbeigaben dienen konnten. Ein spezielles Fundstück ist die Fibel aus einem Urnengrab in Pätow-Steegen bei Schwerin (vgl. unten S. 858). Sie ist aus mehreren Teilen zusammengesetzt, aus zwei verschiedenen Bügelhälften aus Bronze und einem Nadelapparat aus Eisen, fast einmalig. Auf eine lange Umlaufzeit weist eine Nydamfibel hin, mit der das Exemplar zusammen gefunden worden ist. Nur bei 0.4% der Fibeln mit hohem Nadelhalter (von über 1100 Exemplaren) gab es Reparaturen, während bei 1500 Fibeln der älteren Römischen Kaiserzeit fast 20% Reparaturen aufweisen. Auf der Feddersen Wierde waren von 49 Fibeln drei repariert. Je wertvoller das Material der Fibel und je prächtiger die Herstellung, so bei einer Rosettenfibeln, desto naheliegender war eine notwendige Reparatur. Die verschiedenen Fibeltypen und ihre Verbreitung haben zur Frage nach den Werkstätten geführt. Kann es gelingen, Absatzgebiete und ihre Erstreckung einer Werkstatt zu erkennen? Manchmal scheint es möglich zu sein; andererseits sind die Verteilungsgebiete oftmals so weiträumig, dass die Herkunft kaum festzustellen ist. Es gibt mehrfache Versuche und Aussagen zu diesem naheliegenden Problem, denn die Typenvielfalt an Fibeln und die Fundmengen sind so groß,1714 dass eigentlich ein Zugang möglich sein sollte (vgl. S. 483).1715 Wie gezeigt, geht es jedoch nur, wenn die Werkstätten selbst ausgegraben werden konnten; und auch dann ist nicht auszuschließen, dass andernorts Fibeln in entfernter Gegend nachgeahmt, kopiert wurden. Die Verteilungsbilder sind Quellen zum Studium interregionaler Kontakte, deren Zustandekommen zu diskutieren ist. Nun gibt es die Verbreitung der aurei des gallischen Sonderreichs; Sterne markieren die Fundplätze mit den Münzen der gallischen Kaiser, die Quadrate die Münzen der zentralen Kaiser.1716 Die Schlussbemerkungen zeigen über die Gesamtverbreitung auf der Basis von Mackeprang 1943 (der Gruppen II und III), dass diese andere als die von L. Schulte 2011 vorgeschlagenen überregionalen Kontakte zu erkennen geben. Die Verteilungen entstehen über die sozialen Netzwerke der Handwerker und über die sozialen Netzwerke der Klienten, d. h. der Abnehmer der Fibeln. Einerseits sind Gebietsmoden im Kleidungsschmuck und andererseits Areale der Handwerker zu entdecken. Diese Muster kommen über die Mobilität der Individuen, über Exogamie, über Hypergamie, über Geschenke-Tausch zustande. Die Fibeln in den Kriegsausrüstungsopfern (vgl. unten S. 706) kommen aus weiterer Ferne nach Jütland, die Fibeln im Brunnenopfer wie in Bad Pyrmont aus der Umgebung (vgl. unten S. 631). Die Kriegsbeuteopfer bündeln die Ausrüstung von Kriegern über größere Distanzen. Aber die Fibeln sind nicht typisch für Seeland und Fünen, wie noch zu lesen,1717 sondern kommen vom Unter- und Mittelrhein und von der Unter- und Mittelelbe, nur wenige aus Mecklenburg, dem östlichen SchleswigHolstein oder aus Jütland. Der weitergehende Schluss sagt dann, dass also keine 1714 Müller, Steuer (Hrsg.) 2000 Studienausgabe. 1715 Cosack 1979; Mączyńska 2003a; Schulte 2011, 190. 1716 Bemmann 2014; Steidl 2000a. 1717 Zu lesen so noch bei Grane 2007; Schulte 2011.
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Krieger aus Seeland im römischen Militärsystem gedient haben, sondern Kontakte in andere Gebiete Germaniens, in die Altmark und in das Gebiet zwischen Weser und Niederrhein hatten. Dahin in den Westen Norddeutschlands weist eine Fibel als Besonderheit in Grab 1/1894 von Himlingøje, die absolut einzig auf Seeland ist (eine Fibel des sogenannten Typs IIE). Es fehlt, sofern ich das nicht überlesen habe, die Berücksichtigung der Gussformen in Mähren für die Fibeln mit hohen Nadelhalter (vgl. oben S. 487). Doch ging es insgesamt trotz der Masse an über 1000 Fibeln um das nördliche Europa. Hinter dieser Auswertung eines Fibel-Konvoluts steht ein sehr großer Arbeitsaufwand, der jedoch kaum tatsächlich kulturgeschichtlich weiterführende Ergebnisse bringt, außer den chronologischen Feinheiten. Aber der einzelne Fibelfund hilft – so sehe ich das – kaum zu einer klaren Datierung des Befundzusammenhanges, ob Grab oder Grubenhaus, noch zu einer sicheren räumlichen Zuordnung; denn die vielen Verbreitungsbilder decken jeweils größere Räume ab und setzen sich meist aus Dutzenden von Fibeln zusammen. Kaum gibt es Konzentrationen, die auf ein Werkstattzentrum hinweisen. Die Augenfibeln der sogenannten prussischen Serien im Samland weisen ebenso eine derartige Variationsbreite auf, dass von der Herstellung in mehreren Werkstätten ausgegangen werden kann.1718 Sie kommen vor und haben sichtbaren Anteil an den Gemeinschaften der Wielbark-, Przeworsk- und der westbaltischen Kultur während der frühen und der jüngeren Römischen Kaiserzeit. Die verschiedenen Typen der Augenfibeln sind in allen diesen Arealen der siedelnden Bevölkerung verbreitet. In der Phase B2 (80–150) sind es die populärsten Fibeln, mehr als 200 Exemplare kommen z. B. in der Dollkeim-Kovrovo Kultur im Samland vor, die frühen Formen Almgren 57–59 mit 20 Exemplaren, Almgren 60–61 mit über 100 Exemplaren, die Varianten 62, 63 und 64 – wiederum eine sehr diffizile Aufgliederung – sind demgegenüber seltener. Im Bereich der Wielbark-Kultur als eines der Zentren ist von der Herstellung dieser Fibeln in der Dollkeim-Kovrovo Kultur auszugehen. Mehrere Fibeln sind repariert worden, auch einmal ist eine Achse der Spirale durch Eisen an dem Bronzeobjekt ersetzt worden. Mit den anderen Kulturen gibt es eine stilistische Einheit; d. h. die prussischen Serien unterscheiden sich von den anderen Serien der Augenfibeln in Germanien nur in Details. Die Fibeln sind, so die Autorin, auf dem Weg über die Bernsteinstraße in den Norden gelangt, durch das Gebiet der PrzeworskKultur, vor allem in den Phasen B2 bis C1a (2. Jahrhundert). Vergleichbar problematisch ist die Einordnung der Fibeln vom Typ Almgren 101, der weiterentwickelten kräftig profilierten Fibeln der jüngeren Römischen Kaiserzeit, von denen es eine germanische und eine römische Ausprägung gibt. Die Karte zeigt eine Massierung im römischen Rhein-Main-Mündungsgebiet und eine Massierung beiderseits der Niederelbe und im südlichen Jütland. Diese bestehen teils vollständig aus
1718 Chilińska-Früboes 2017; 2013–2014, 195 Fig. 10 Karte der neun Gräberfelder mit derartigen Fibeln.
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Silber und haben gerippte Silberapplikationen.1719 Sind sie importiert worden, oder hat ein germanischer Edelmetallschmied diese hier nach römischem Vorbild angefertigt? Aus Zagórzyce in Kleinpolen ist eine Matrize überliefert, mit denen Fibeln der Stufe B2-C1a (etwa 100 bis 220) erzeugt wurden, die eine Dekoration mit gepressten Mustern einer Blechauflage aus Silber haben, meist als Filigrandraht.1720 Die Verbreitung solcher Fibeln erstreckt sich von Norwegen über Jütland und Polen bis ins Karpatenbecken; es war also eine allgemein bekannte Mode zur Fibelherstellung der Typen Almgren IV und V, und auch andernorts wird es Matrizen gegeben haben. Vom Gräberfeld Kowalewko, Platz 12, der Wielbark-Kultur gibt es Fibeln aus Bronze mit Folie aus Silber, manchmal vergoldet, gestempelt und teils mit Filigran geschmückt, auch Spuren von Zinn sind nachgewiesen. Die Mobilität der Metallhandwerker – wenn tatsächlich welche so gearbeitet haben – war während der Römischen Kaiserzeit in Germanien beachtlich; hingewiesen wird auf die Augenfibeln der Preußischen Nebenserie, die in Körper-, und auch in Brandgräbern gefunden werden (vgl. oben S. 103). Geblieben sind am Ort Schmelzspuren, eine Schablone und eine Patrize, also fand die Produktion für pressblechverzierte Fibeln hier statt. Seit Oskar Almgrens Studien zu Fibelformen von 1897 werden – meist mit Bezug auf seine Nomenklatur – bis heute fortlaufend, da der Fundbestand rasant wächst, die Fibeln neu katalogisiert, kartiert und kulturgeschichtlich auch auszuwerten versucht, so beispielsweise die eingliedrigen Fibeln Almgrens Gruppe VI, Fibeln des Typs A 158, in der Przeworsk-Kultur.1721 Jedenfalls gibt es auch eine Reihe von Belegen, dass die verschiedenen Fibeltypen in Werkstätten Germaniens selbst hergestellt worden sind, denn die Gussformen dazu sind gefunden worden. Als Beispiel sei die bronzene Gussform von Neunheiligen im Unstrut-Hainich-Kreis genannt, die zusammen mit anderen Zeugnissen des Gießerhandwerks geborgen werden konnte.1722 Der Abnutzungsaspekt bzw. die Gebrauchsspuren an Fibeln sind nicht nur für die Kleidungsgeschichte von Bedeutung, sondern weisen auf ein Problem der Datierung hin; denn lange Zeit getragene Fibeln kommen dann in einer anderen Zeitphase als Grabbeigabe in die Erde, als sie sonst datiert werden.1723 Allein deshalb erscheinen Fibeln jeweils in mehreren der archäologisch definierten Zeitphasen, weil die Lebensalter der Bestatteten über die enge Chronologie von 20 bis 30 Jahren von Phasen hinausgehen. Das begrenzt prinzipiell den Blick auf eine kulturgeschichtliche Aussage auf die einstige vergangene Lebensrealität. Nach Einführung von Mehrfach- und Dauerformen zum Guss von einfachen Fibeln hat sich die Produktion in Serie eingebürgert.1724 Lange wurde das Verfahren des Gusses in „verlorener Form“ angewendet, 1719 Schuster 2016c, 19 f. mit Karte Abb. 22. 1720 Grygiel, Przybyła 2017, 311 Fig. 4 Verbreitungskarte. 1721 Jakubczyk 2013–2014. 1722 Walther 1996. 1723 v. Richthofen 1992; 1994. 1724 Voss 2008a, 350.
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wobei man eine Form mit einem Modell (z. B. aus Blei oder Wachs) aus Lehm herstellte und im sogenannten Wachsausschmelzverfahren die Form entleerte, um dann Bronze hineinzugießen. Nach dem Erkalten wurde diese Form zerschlagen, um das Objekt herauszulösen; die Form war also verloren. Im archäologischen Ausgrabungsbefund müssten derartige Formfragmente in größerer Zahl gefunden werden. Am Beispiel Helgö in Mittelschweden, für die dort während der frühen Völkerwanderungszeit dort produzierten Bügelfibeln habe ich das geschildert. Es erscheint einfach, Fibeln zu kopieren, in dem ein erworbenes Exemplar in Lehm oder Blei abgedruckt nachgeschmiedet oder gegossen worden ist. Doch ist das bei den zusammengesetzten Typen nicht ganz so einfach, wenn Achse, Spiralen, Nadel und ein Fibelkörper als Details hergestellt und später ineinander gefügt werden mussten. Blei konnte zur Formgebung eine entscheidende Rolle in Germanien gespielt haben, wenn es darum ging, Fibeln, Nadeln und Gürtelbeschläge sowie Sporen und Schwertbeschläge in Serie herzustellen. Denn Fibeltypen sind sich oft tatsächlich so ähnlich, dass sie aus einer Werkstatt zu kommen scheinen (oder über „Wanderhandwerker“ durch mitgenommene Formen an verschiedenen Orten hergestellt werden konnten); zahlreiche Kartierungen spiegeln zudem die eng- und weiträumige Verbreitung verschiedener Fibeln und anderer Sachgruppen. Zu jedem Typ von Oscar Almgrens Fibelformen von 1897 gibt es Kartierungen älteren und neueren Jahrgangs, und sie dienen nicht nur als Abbild von Kommunikationsräumen, sondern sind bis heute Grundlage für Datierungen von Befundzusammenhängen.1725 Es würde hier zu weit führen, nun noch alle Kleidungsaccessoires ausführlicher vorzustellen. Die Forschung hat das unternommen; für alle Arten der Schmuckstücke, von den Fibeln1726 über die Nadeln der Haartracht, der Haube und der sonstigen Kleidung, über Hals-, Arm- und Fingerringe (auf deren Ausführungen in Gold noch eingegangen wird, vgl. S. 552) bis zu den Gürtelschnallen und Gürtelbeschlägen, darunter auch Doppeldornschnallen mit rechteckigem Rahmen, von denen hier beispielhaft nur eine Karte zur Römischen Kaiserzeit und der frühen Völkerwanderungszeit erwähnt wird.1727 Ein Gürtelteil, die sogenannte Omegaschnalle, wirkt nebensächlich, bietet aber andererseits im kulturgeschichtlichen Sinne einen neuen Zugang zur damaligen Gesellschaft: Sie kommen als Grabbeigabe von Gotland über Dänemark bis zur Elbe und Weichsel, also auch im südlichen Ostseegebiet, in getrennten Gebieten verdichtet vor. Sie sind für die Männerkleidung typisch, und da in der Wielbark- sowie der Chernjachov-Kultur die Waffenbeigabe nicht üblich war, lassen sich auf diese Weise also Männerbestattungen identifizieren.1728 Kleine, eigentlich unscheinbare 1725 Fibel und Fibeltracht 1994/2000; Godłowski 1994a; Voss 1994a; Jørgensen 1994; Cosack 1979. 1726 Verwiesen sei noch einmal auf die Arbeiten seit Almgren 1897: Völling 1994, Kunow (Hrsg.) 1998/2002. 1727 Madyda-Legutko 1987, 289 Abb. 2; auch 1990. 1728 Madyda-Legutko 2001, 374 Abb. 1 Karte und Fundlisten, Datierung in die Phasen C1 und C2, also zweite Hälfte 2. und 3. Jahrhundert; 2015, mit den Abb. 1 bis 3 zu der Rekonstruktion der Gürtel mit
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Accessoires, nämlich sogenannte Schließhaken für Ketten und Halsschmuck sind mit ihren verschiedenen Typen nach Gruppen analysiert und kartiert worden. Anhand des Formenspektrums dieser Schmuckart sind aber ebenfalls Kontakte und Gruppen von Feinschmiedehandwerkern in weiten Bereichen Germaniens zu erschließen.1729 Über weitere Schmucksachen wie Hals- und Armschmuck informieren spezielle Stichworte im RGA.1730 In anderem Zusammenhang dieses Buche wird auf goldene Arm- und Halsringe noch eingegangen (vgl. S. 510 und 552 ff.). Ein hoch qualifiziertes Feinschmiedehandwerk ist für Germanien zu akzeptieren, ob beeinflusst oder eingeführt durch die „Nachbarn über Jahrhunderte“, die römische Welt und das Mittelmeergebiet oder auch durch Traditionen, die in frühere Epochen zurückweisen, was tatsächlich weiter untersucht werden sollte. Einfach zu sagen ist, dass Römer und Germanen oder Germanen durch die Römer mit einem Kulturgefälle konfrontiert waren, das nahezu alle Bereiche handwerklicher Produktion umfasste.1731 Der Technologietransfer war sichtlich vielgestaltiger als bisher angenommen; die Germanen, so H.-U. Voss, passten die Schmuckerzeugnisse ihren eigenen Bedürfnissen an und behielten ihr eigenes Stilempfinden. Die komplexen Schmucktechniken sind über die Sachgüter in den ranghohen Gräbern überliefert. Der Prunkgürtel im Königsgrab von Mušov (aus der Zeit der Markomannenkriege 166–180 n. Chr.) bietet goldplattierten Silberfiligran, wie es so auch in den Heeresausrüstungsopfern wie Illerup A an Prunkausrüstungen (3. Jahrhundert) mit vergoldetem Silberpressblech erhalten ist. Das Grab 9, 1995 in Hagenow enthielt einen Prunkgürtel mit goldplattierten und figürlichen Darstellungen auf den Silberplatten. Die Thorsberger Zierscheiben wurden schon beschrieben (vgl. S. 481), und auch der Schildbuckel und der Prunkgürtel aus Gommern, die erste Beleg für Feuervergoldung und auch Blattvergoldung sind. Auch zeigte sich, dass seit der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts provinzialrömische Werkstätten dem germanischem Stilempfinden wie selbstverständlich Rechnung trugen (dazu gleich mehr S. 496).1732 Die Materialuntersuchung belegt zudem direkt, dass römisches Rohmaterial regelmäßig umgeschmolzen wurde: Die Klassifizierung der Bronzelegierungen beschreibt Messing mit 5–30% Zink, bis 5% Blei und sonst mit Zinn.1733 Den zeitlich gegliederten Vergleich der Herstellungstechniken zwischen dem Römisches Reich und Germanien, auch mit Granulation, bietet eine Tabelle von H-U. Voss. Die Feinschiede in Germanien verfügten, woher die Kenntnisse auch immer kamen, aus der Vergangenheit oder aus dem Römischen Reich, über ausgefeilte Herstellungsverfahren für die Schmucksachen. Im fernen Memelgebiet haben nun
ihren Beschlägen, Schnallen und Zierriemenzungen. 1729 Patalan 2016 (2017); 2017 (2018) a. 1730 Capelle 1999. 1731 Voss 2008a, 356 ff., 359. 1732 Voss 2008a, 361. 1733 Voss 2008a, 364 ff. und die Tabellen 1 bis 3.
8.2 Handwerk
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für das Gräberfeld von Oberdorf im heutigen Litauen1734 Analysen gezeigt, dass Schmuckstücke an der Oberfläche verzinnt wurden, um den Eindruck von Silber hervorzurufen.1735 Von den Grabbeigaben des im ausgehenden 19. Jahrhundert untersuchten Gräberfeldes mit 452 Bestattungen aus der zweiten Hälfte des 2. bis zum 11. Jahrhundert wurden 25 kaiser- bzw. völkerwanderungszeitliche Metallobjekte ausgewählt, Beschläge, Nadeln und Anhänger. Von diesen wurde bei der Mehrzahl eine Oberflächenveredelung mit Zinn erkannt, teilweise auch eine Bleiverzinnung. Das Blei senkt den Schmelzpunkt. Die Verzinnung wurde über Tauchen oder Aufwischen des schmelzflüssigen Zinns erreicht,1736 nicht etwa über Amalgamierung, auch wenn andernorts Feuervergoldung durchaus bekannt war.1737 Beobachtet wurde auch, dass bei eigentlich paarigen Stücken nicht jeweils dasselbe Verfahren verwendet wurde, d. h. man hat verschiedene Nadeln zu einem Paar kombiniert. Aber auch die vier Beschläge eines Zaumzeugs vom Pferdegeschirr1738 waren unterschiedlich verzinnt. Wie die Goldschmiede sich das Zinn besorgt hatten, ist noch unbekannt. Wird germanisches Stilempfindens in Werkstätten auf römischem Provinzboden betrachtet, dann sind vor allem die Kartierungen und Erläuterungen von H. W. Böhme zu berücksichtigen.1739 Es geht dabei um die spätere Phase des 4. und 5. Jahrhunderts und die damals modischen Fibeln. Dazu gehören bestimmte Typen von frühen Scheibenfibeln1740 und um die späten sogenannten Tutulusfibeln,1741 deren früheste Verbreitung im Elbe-Weser-Dreieck und am Niederrhein zu gefunden wurde und die Tutulusfibeln auch in Nordfrankreich (vgl. dazu S. 1164 ff.). Diese Fibeln wurden am Peploskleid von Sächsinnen und Fränkinnen getragen, die ihre Männer begleitet haben, so seine Deutung; und „Ausreißer“ im Kartenbild spiegeln Truppenverlegungen. Das Tragen dieser Tutulusfibel im späten 4. und frühen 5. Jahrhundert war anscheinend für die Frauen ein sichtbares Zeichen ihrer auf Tradition setzenden Identität als Reichsbewohner fränkischer Herkunft.1742 Die Auswertung der Kartenbilder zu diesen mit Kerbschnitt verzierten Schmucksachen erlaubt demnach weitreichende ereignisgeschichtliche Erkenntnisse daran zu knüpfen.1743 Die sogenannten Stützarmfibeln westlich des Rheins und im Elbe-Weser-Dreieck, die trapezförmigen Kerbschnittfibeln im Elbe-Weser-Dreieck und in Kent belegen auf diese Weise die enge Verbindung beider Landschaften, ein Beweis für die Abwanderung sächsischer 1734 Banyté-Rowell 2013. 1735 Fütterer u. a. 2018, 339 Tab. 3 mit den analysierten Objekten. 1736 J. Wolters 2006. 1737 Anheuser 1999. 1738 Reich 2009. 1739 Böhme 1974, Karten. 1740 Bode 1998b. 1741 Böhme 2017, 289 Abb. 6 und 292 Abb. 9. 1742 Böhme 2017, 294 f.; 290 Abb. 7 Prunkausführung einer Tutulusfibel von Ortbrook, Lkr. Oldenburg. 1743 Böhme 1999b, 65 Abb. 14 und 68 f. Abb. 17 und 18.
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Gruppen nach England (dazu vgl. S. 819). Die mit Kerbschnitt verzierten gleicharmigen Fibeln kommen sowohl im Elbe-Weser-Dreieck massiert vor, aber auch in England, in einzelnen Stücken ebenso im Westen. Ein Exemplar ist nun etwas weiter im Süden im Binnenland im Landkreis Stade bei Goldbeck entdeckt worden, ein Hinweis auf Kommunikation in unvermuteter anderer Richtung.1744 Es wird zudem vermutet, dass diese Fibeln wegen ihres Kerbschnittdekors, vergleichbar mit der Verzierung auf römischen Militärgürtelbeschlägen, von römischen Handwerkern auf sächsischem Gebiet hergestellt worden sein können. Getragen von ranghöheren Frauen im ElbeWeser-Dreieck entspricht die Verzierung auch der auf den Holzmöbeln von der Fallward, die nach meiner Ansicht von einheimischen Handwerkern aus örtlichem Holz hergestellt worden sind (vgl. dazu S. 206). Aufschlussreich für die Mobilitäten sind die Vorkommen einzelner gleicharmiger Fibeln und verwandter Typen nicht nur im Elbe-Weser-Dreieck, sondern auch an der mittleren Weser und in Seeland.1745 Die Herstellung von Buntmetallobjekten schien bisher in Germanien auf einige Siedlungen begrenzt gewesen zu sein, ist jetzt aber für eine ständig wachsende Reihe von Siedlungen nachgewiesen und wird zur Regelerscheinung, d. h. dieses Metallhandwerk war in den Siedlungen lokalisiert, entweder ständig oder durch „vorbeikommende“ Handwerker (und Händler). Doch wurde ein solches Qualität und Kenntnisse erforderndes Handwerk nicht überall betrieben.1746 Es gab jeweils eine lokale, eine regionale sowie auch eine Verteilung über größere Entfernungen all der Sachgüter und Schmuckformen. Patrick Könemann hat als ein Beispiel für Schmuckherstellung die Bunt- und Edelmetallfunde der römisch-kaiserzeitlichen Siedlung von Kamen-Westick vorgestellt, und zwar anhand des Metallimport aus dem römischen Gebiet, dem Metallrecycling und der anschließenden Produktion einheimischer Güter (vgl. S. 475).1747 Mehr als 1300 Bunt- und Edelmetallobjekte der römischen Kaiserzeit sind katalogisiert, aus dem Zeitraum vom 1. bis 6. Jahrhundert. n. Chr., wobei die Masse der Funde in die Jahrzehnte von 160/170 bis 310/320 und von 300 bis 450 gehört, mit dem Höhepunkt im 4. und frühen 5. Jahrhundert. Das Inventar besteht aus Kleidungszubehör wie Fibeln, Haarpfeilen, Gürtelteile, aus Reitzubehör, aus Teilen von Metallgefäßen, aus Geräten und Kastenbeschlägen. Die Objekte spiegeln über Parallelen sogar innergermanische Kontakte wider, bis zur kimbrischen Halbinsel und zum elbgermanischen Raum. Ein vergoldeter Pressblechbeschlag,1748 ein rückwärts blickender Hirsch, hat Vergleichsstücke in Norddeutschland und in Südskandinavien. Rund 55 Objekte sind mit dem Massenspektrometer analysiert worden; weshalb hier noch einmal auf diesen Komplex eingegangen werden soll. Davon sind 38 einheimische germanische 1744 Nösler 2017a. 1745 Hines 1999b. 1746 Voss 2001, 2008a; Gustavs 1989; 1998; Voss, Hammer, Lutz 1998. 1747 Könemann 2014–2015. 1748 Könemann 2014–2015, Abb. 88.
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Fibeln und Haarpfeile aus Legierungen römischer Herkunft hergestellt worden, aus Metallgefäßen, die aus Schmiedebronze und Messing bestanden haben. Gussbronzen sind kaum vertreten, demgegenüber gibt es aber römisches Kleingerät aus Metall mit guten Gusseigenschaften. Wie sieht das aus? Konnten die „Germanen“ besser schmieden und die Römer besser gießen? Die germanischen Objekte bestehen also hauptsächlich aus Legierungen, die sich gut schmieden und nacharbeiten lassen. Die Schmiedebronzen enthielten bis zu 14% Zinn und antikes Messing, die Gussbronzen mit mehr als 5% Blei waren kaum vertreten. „Die germanische Rohstoffauswahl für Kleidungsaccessoires verhält sich damit weitgehend konträr zu der Materialverwendung für römische Kleinobjekte, bei denen ab dem 2. Jahrhundert Legierungen mit guten Gusseigenschaften zunehmen“.1749 Die germanischen Objekte waren vor allem aus Metallgefäßen hergestellt worden, die Reste römischer Fundstücke wiesen Schnittspuren auf. Da bisher sichere Nachweise einer primären Bunt- und Edelmetallgewinnung im germanischen Raum fehlen würden – so P. Könemann – kommt den römischen Metallwaren neben einer Funktion als Gebrauchsgegenständen überall in Germanien diese bedeutende Rolle als Rohstoff zu. Doch diese Behauptung muss zukünftig geprüft werden, da für den Harz Buntmetallgewinnung während der ersten Jahrhunderte n. Chr. zu belegen ist (vgl. S. 464), und Gold konnte aus vielen Flüssen gewaschen werden, oder die vielen importierten römischen Goldmünzen dienten als Ausgangsmaterial für die Weiterverarbeitung. Dieselbe Art der Metallverarbeitung wie in den Siedlungen mit Werkstätten, die ich aufgeführt habe, ist auch auf den spätantiken Höhenstationen des 4./5. Jahrhunderts belegt, so auf dem Zähringer Burgberg und den verwandten Plätzen.1750 Zahlreiche Buntmetallschmuckteile, vor allem Gürtelbeschläge, waren zerschnitten oder zeigten gar angeschmolzene Kanten, um nach dem Einschmelzen zu neuen Sachen umgegossen zu werden. Thomas Völling hat antiquarisch-formenkundlich die Schmuckproduktion aufgegliedert. Fünf Horizonte I bis V hat er nach Fibelformen definiert, die jeweils 25 bis 30 Jahre umfassen, und zwar nur für die frühe Zeit von etwa 60 v. bis 60 n. Chr.1751 Die Kartierungen der weiten Verbreitungen zeigen, dass eine enge Kommunikation über ganz Germanien schon zu dieser Epoche bestanden hat: Wie wäre es sonst verständlich, dass vom Mälarsee bis zur Saale und Weichsel beispielsweise zunächst Fibeln mit geknicktem, dann mit geschweiften Bügel getragen wurden, man also in allen germanischen besiedelten Regionen die Kleidung sicherlich unterschiedlicher Machart und auch wechselnden Aussehens dennoch einheitlich verschloss?1752
1749 Könemann 2014–2015, 74. 1750 Steuer 1994b. 1751 Völling 1992/93, posthum 2005. 1752 Völling 2005, 241.
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Fraglich ist aber, ob damit bereits ein Bewusstsein der Zusammengehörigkeit verbunden war, mit einer daraus resultierenden Abgrenzung zu anderen Kulturgruppen. Die „Germanen“ orientieren sich während der Horizonte I und II an keltischem Vorbild, sie haben Anregungen in den Sachbesitz übernommen und noch bei der „germanischen“ Landnahme keltische Restbevölkerungen überschichtet, so nach Th. Völling, und zwar im Saalegebiet, in Mainfranken, besonders in Böhmen. Mit den Kriegszügen gelangte römisches Sachgut nach Germanien, im Horizont III. Die Legionäre lagen in Winterquartieren, Städtegründungen wie Waldgirmes (vgl. S. 1090) fanden statt. Ein Wechsel der Lebensweise fiel nicht schwer, sie fühlten die Veränderung nicht einmal (so auch Cassius Dio 56, 18,2–3). Das römische Vordringen führte als Gegenreaktion zu überregionalen Zusammenschlüssen „germanischer“ „Stämme“ unter Arminius und Marbod. Beide waren zuvor in Rom bzw. in römischen Diensten gewesen und versuchten – so Völling 1992/93 noch – über ethnisch oder kulturell Trennendes hinweg die Gründung frühgermanischer „Reiche“; sie standen „an der Schwelle historischen Bewusstsein zu Beginn des 1. Jahrhunderts. n. Chr.“ (dazu auch S. 798). Das archäologische Fundbild der Horizonte III und IV zeigt zwar überregional verbreitetes Sachgut, lässt zudem untereinander ein ähnliches Kriegerideal im Grabbrauch und damit auch Kontakte erkennen, nämlich über die Fürstengräber der Führungsschicht.1753 Die Fähigkeiten der Goldschmiede in der Wielbark-Kultur werden anhand der Objekte aus dem Gräberfeld von Weklice bei Elbing/Elbląg beispielhaft beschrieben.1754 Ausgang sind Metallanalysen an den drei Materialgruppen Gold und Silber sowie an Kupfer-Legierungen, für die all die verschiedenen Verfahren (Guss, Schmiede, Filigran, Granulation, Vergoldung, Löten) nachzuweisen sind. Man beherrschte also dort alle diese Handwerksarten mit höchster Perfektion. In Weklice und Umgebung gab es eine Kombination von lokalen Traditionen und kreativen Impulsen vom Mittelmeergebiet; römische Stilelemente und lokales Design wurden souverän kombiniert. Man kann eine dynamische Entwicklung dieser hochrangigen Werkstätten an Zentralorten beobachten und parallel dazu noch Produktionsstätten mit einfacheren technischen Verfahren. Die wertvollen Schmucksachen dienten der Versorgung der Elite; gefragt ist, ob es soziale Normen gab, also wer welche Art und Qualität von Schmuck tragen konnte bzw. durfte. Eine interregionale und überregionale Verbreitung der Schmucktypen unterschiedlicher Qualität ist überall festzustellen. Speziell zu den frühen Fibeltypen (Almgren 18b1 und 18b) „Titelberg“ aus der späten vorrömischen Eisenzeit wurden jetzt Verbreitungskarten vorgelegt, die zeigen, dass derartige Formen von Gebieten westlich des Rheins bis weit in den Osten in das Gebiet um Warschau vorkommen.1755
1753 Völling 2005, 242 f. 1754 Natuniewicz-Sekula 2017. 1755 Woźniak 2017, 245 Abb. 5 Karte zu den oben genannten Fibeltypen.
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Was bedeutet gegenwärtig eine solche Beschreibung mit Blick auf die Schmuckproduktion? Losgelöst von der historischen ereignisgeschichtlichen Erklärung anhand von Hinweisen in den Schriftquellen erfordert die weiträumige Verbreitung gleichartiger Fibelformen eine Erklärung. Es wird noch besprochen werden, ob diese Verbreitung durch Kaufleute, durch die Mobilität der Träger des Schmucks, durch Wanderung von Handwerkern hervorgerufen worden ist, oder in zahlreichen Werkstätten, zwischen denen die Handwerker gewandert sind, z. B. über den Austausch von Gussformen (vgl. S. 580). Welche Rolle spielte einfach Mode und Nachahmung. Eine besondere Art der Verzierung von Schmuck ist die Emaillierung, eigentlich ein römisches Verfahren und eine römische Mode. Doch es wurde auch im fernen Germanien ausgeführt.1756 Emaillierte Schmucksachen werden zwischen dem Finnischen Meerbusen und Russland und dem Schwarzem Meer gefunden. Die Datierung weist sie den Stufen B2/C1-C1a zu, dem späten 2. bis 5. Jahrhundert mit einigen Belegen noch im frühes 6. Jahrhundert. Als Erklärung für diese Kontakte zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer werden reisende Emailleure vermutet, auch wenn bisher kein Juwelier-Grab gefunden, aber stattdessen durchaus genug Goldschmiede- und Schmiedegräber in Germanien. Wie bei anderen Goldschmiedetechniken können es trotzdem, so meine ich, örtliche Handwerker in verschiedenen Siedlungen gewesen sein, die derartige Emaillierungsverfahren erlernt hatten. „Sarmatische“ bzw. dort gefundene Prunkfibeln mit bis zu drei Spiralen sind, da eine Gussform von Porolissum entdeckt worden ist, dort auch hergestellt worden. Ihre Verbreitung reicht aber von der Ukraine bis Neunheiligen in Mitteldeutschland.1757 Die Verbreitung der Rosettenfibeln der jüngeren Römischen Kaiserzeit erstreckt sich vom Zentrum mit der Funddichte in Jütland und auf den dänischen Inseln über das ostpreußische Gebiet weiter nach Südosten in Richtung Ukraine und Schwarzes Meer.1758 Dasselbe Fundbild von den Inseln und Jütland nach Südosten zeigt auch die Bestattungssitte mit Bootgräbern. Es ist derselbe Weg, wie die Wielbark-Kultur sich auszudehnen scheint. D. h. auch mit diesen Sachgruppen wird eine Fernbeziehungsachse markiert, die immer wieder Bewegungen von Leuten, Sitten und Sachen erlebt, im Übrigen auch in beiden Richtungen, nicht unbedingt nur nach dem Südosten. Rosettenfibel gehören in die Phase C1b und den Beginn von C2, gefolgt von vierarmigen Swastika-Fibeln in C2 und der fünfarmigen Version in C3, das ist die Zeit vom späten 3. Jahrhundert bis um die Mitte des 4. Jahrhunderts.1759 Über diese intensiv wirkenden Fernverbindungen zwischen Skandinavien sowie dem nördlichen Mitteleuropa und dem Schwarzen Meer mit der Krim wird in einem weiteren Kapitel später noch ausführlich berichtet werden (vgl. S. 893). 1756 Bitner-Wróblewska 2011, 12 Fig. 1 Karte. 1757 Cociş, Bârcă 2014, 20 Fig. 7 Karte der Fibeln (Almgren VII, Serie I). 1758 Lund Hansen, Przybyla 2010. 1759 Voss 2012, vgl. auch Mączyńska 2013a zur Goldfibel.
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Hans-Ulrich Voss hat 2012 erneut nach 2008 eine Übersicht zur Verzierung ausgewählter Schmuck- und Ausrüstungsgegenstände spätkaiserzeitlicher Körperbestattungen Mitteldeutschlands geboten, die Verteilung der Silbergefäße in Gräbern des 1.-3. Jahrhunderts, was die Feinschmiede in Abhängigkeit von den Auftraggebern auf der Grundlage archäologischer Funde und Befunde zeigt.1760 Archäometallurgische Untersuchungen vergleichen die Zusammensetzung der römischen und der germanische Buntmetallfunde an Sachgütern aus elbgermanischen Körpergräbern des 2./3. Jahrhunderts.1761 Es wird deutlich, dass römisches Metallgeschirr, Silbergefäßfragmente, Münzen und andere Sachen verwertet wurden. Am Ende der hier behandelten Epoche werden seit dem 4.und der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts sogenannte Blechfibeln Mode, Bügelfibeln aus Bronze und vor allem aus dünnem Silber, bei einigen Typen mit bunten Steinen besetzt. Entwickelte Formen kommen dann im gesamten 5. und noch in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts vor. Sie werden als donauländisch bezeichnet und ihre Herkunft dort gesehen. Sie kommen aber von der Ukraine über den Donauraum bis in die Normandie und auf der Iberischen Halbinsel vor. Ich erwähne sie deshalb noch, weil man diese zeitliche Mode als Niederschlag von gotischen Bevölkerungsgruppen sehen wollte und will, denn man könnte dann scheinbar deren Wanderungen archäologisch nachweisen.1762 Die Feinschmiede für Schmuck haben anscheinend auch die Heeresverbände in Germanien begleitet. Barbara Armbruster hat die Belege für germanische Feinschmiede der römischen Kaiserzeit in Norddeutschland und Dänemark zusammengestellt und gezeigt, dass zum Heeresausrüstungsopfer von Vimose des 3. Jahrhunderts ein umfassendes Ensemble von Werkzeugen des Feinschmieds gehört hat, hier also eindeutig im Gefolge eines Kriegerverbandes, dazu gehören auch Punzen aller Art.1763 Man konnte damit Schlangenkopfringe als Hals-, Arm- und Fingerringe herstellen oder Schmuck wie aus dem Grab von Gommern (siehe unten S. 927). Schmuckstücke aus Blech mit Filigran und Granulation verziert, im polychromen Stil wie die Zierscheiben und die silberne Gesichtsmaske aus dem Thorsberger Moor, auch von Berlocks konnten also in Germanien selbst gefertigt werden. Ob das nun mit Hilfe „römischer“ Handwerker geschah, die ein gutes Geschäft in Germanien suchten oder als Kriegsgefangene gearbeitet haben, oder ob germanische Handwerker diese Techniken auch selbst erlernt haben, ist archäologisch kaum nachzuweisen, aber durchaus anzunehmen, wie ich mehrfach betont habe. Die Produkte und Reste in einer germanischen Gießereiwerkstatt in Pasohlávky (Bez. Břeclav) belegen Fernhandelsund Kulturbeziehungen nach den Markomannenkriegen (vgl. auch S. 487).1764
1760 Voss 2012, 104 Tab. 2, 113 Abb. 5 und 116 Abb. 11. 1761 Voss, Hammer, Lutz 1998, 350 ff. Fundlisten. 1762 Gauß 2009, 405. 1763 Armbruster 2012, darin: Römische Kaiserzeit 76–80. 1764 Teubner 2006.
8.2 Handwerk
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Kent Andersson hat sich vielfach zum Goldschmuck in Skandinavien geäußert, die Verbreitung von Goldschmuck im Norden insgesamt kartiert, die Goldblechperlen mit Granulation und Filigrandraht, auch die Berlocks. Rund 1850 Goldfunde in Skandinavien wurden erfasst (1991).1765 Höchst qualitätsvolle Goldschmuckarbeiten gab es in Germanien also wie erläutert seit dem 1. bis ins 3. Jahrhundert n. Chr. überall. Schon an sogenannten Rollenkappenfibeln – so aus dem Grab von Hoby (vgl. S. 917) – findet sich zusätzlich am Silber goldener Filigrandraht, datiert ins frühe 1. Jahrhundert n. Chr. Am prächtigsten finden sich diese Goldschmiedetechniken an den anfangs kugel- und später birnenförmigen Anhänger, den sogenannten Berlocks bzw. Berlocken, die vom elbgermanischen Raum bis ins Ostseegebiet und Südskandinavien, z. B. auf der Insel Öland, gefunden werden. Sie sind mit Granulation bedeckt, oder Filigrandraht fasst die Form ein, und traubenförmige Kügelchen bilden den unteren Abschluss (vgl. oben S. 479 und Abb. 46). Es kann davon ausgegangen werden, dass die besonderen Techniken wie Löten, Vergolden und die Fertigung von Filigrandraht und Granulation an zentralen Orten in Germanien durch perfekte Kunsthandwerker beherrscht wurden, wie oben erläutert worden ist (vgl. S. 480). Das konnten die Handwerker ohne Rom, wenn auch vielleicht diese im Mittelmeergebiet seit langem bekannten Verfahren durch Vermittlung über das Römische Reich nach Norden gelangten. Man bevorzugt oft als Erklärung, dass erbeutete, gefangene Handwerker in Germanien gearbeitet haben; aus dem Römischen Reich stammende Handwerker mögen auch als Geschenke an die Fürstenhöfe bzw. Zentralorte in Germanien gekommen sein, so wie noch im frühen Mittelalter unfreie Handwerker an befreundete bzw. politische Partner geschenkt wurden. Die auf den Ostseeinseln weit verbreiteten Rosettenfibeln1766 mit hohem Nadelhalter, auf denen manchmal Runeninschriften eingeritzt worden sind, zeichnen sich ebenso durch die besondere Techniken aus wie die sogenannten Tutulusfibeln oder andere Prachtfibeln der späten Römischen Kaiserzeit, die aus Edelmetall, sowohl aus Silber als auch aus Gold, hergestellt wurden und mit Perldraht verziert sind.1767 Die Hakenkreuz- und Scheibenfibeln mit Granulation1768 sind in ihrer Verbreitung in Dänemark, vor allem auf Seeland kartiert, und nur ein Exemplar ist außerhalb in Häven Grab 7 in Mecklenburg gefunden worden. Granulationsverzierung gibt es außer bei anderen Prunkfibeln ebenfalls auf den Prachtschilden von Gommern und Illerup. Regelmäßig wird römischer „ideologischer“ Einfluss auf Germanien gesehen,1769 sogar bei den vier verschiedenen Typen von Rosettenfibeln, direkt fassbar vielleicht am ehesten bei der Silberschale mit „Facettschliff“ aus Hågerup. Bisher wurde angenom1765 Andersson 1991, 214 Fig. 1, 220 Fig. 8; 1995; 1997; 2011. 1766 Lund Hansen, Przybyla 2010. 1767 Skjøld 2009. 1768 Przybyła 2009, 38 Abb. Karte. 1769 Skriver Tillisch 2009.
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men, dass ein starker römischer ideologischer Einfluss auf Teile Germaniens gewirkt hätte, auf militärischem und kultischem Gebiet. Aber Skriver Tillisch meint stattdessen als Ergebnis zu sehen, dass der römische Einfluss in Südskandinavien nur „eher indirekt als direkt“ anzusehen ist. Direkte Romanisierung möge es in einigen grenznahen Gebieten gegeben haben, während das für das ferne Südskandinavien keinesfalls zutreffen würde. Denn was haben die Germanen von den bildlichen Symbolen direkt verstanden? Oder haben sie darauf überhaupt nicht geachtet? Die Importsachen wurden als exotische und damit als Prestigegüter gewertet, weshalb man manches in die Gräber legte, und vieles war einfach Schrott. Zu dieser kritischen Ansicht bemerke ich, übersehen wird oftmals, dass sowohl das Römische Reich als auch Germanien keine Einheitlichkeit bildeten, sondern jeweils ein Vielvölker-Konglomerat waren, so dass Übernahmen und Akkulturationen landschaftlich durchaus gewechselt haben werden. Die Übernahme römischer Motive auf Fibeln in Germanien durch Handwerker in Germanien ist an der Scheibenfíbel aus Hungen-Inheiden, Hessen, unmittelbar abzulesen, auf der ein Medusenkopf in der Mitte angebracht ist. Diese einheimische Scheibenfibel des 2./3. Jahrhunderts ist eine Kombination mit römischer Pressblechauflage CONCEPES RACAM PVERO ROGAT PERSEVS auf einer germanischen Grundform.1770 Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang der Schatzfund von Havor auf Gotland, 1961 entdeckt bei der Ausgrabung in einer Burganlage, einst vergraben um 100 n. Chr.1771 Er besteht aus einer römischen Situla, aus Kelle und Sieb, drei Kasserollen, zwei Bronzeschellen und einem sehr großen goldenen Halsring mit voluminösen Endknöpfen und einem gedrehten Körper. Dieser Ring ähnelt den keltischen Torques und ist bedeckt mit Filigran- und Granulationsverzierung; es sind die ältesten Belege dieser Techniken im Norden Germaniens. Auffällig sind achtförmige Drahtfiguren sowie eingesetzte Stierköpfe. Man geht von einer Herstellung auf Gotland aus. Bekannt sind nur wenige Parallelen, ein Moorfund von Dronninglund in Dänemark und ein Exemplar von Vittene in Västergötland, das erst 1995 entdeckt wurde.1772 Diese Halsringe zeigen vergleichbare Filigranverzierungen wie einige Berlocken, sind wohl schon an das Ende des 1. Jahrhunderts v. Chr. zu datieren, mit deutlichen Fernbezügen nach Südosten in Richtung des Schwarzen Meeres. Vergleiche gibt es auch zum Kessel von Gundestrup, auf dem entsprechende Halsringe abgebildet sind. Der Schatz von Vittene, gefunden an verschiedenen Stellen, besteht aus fünf unterschiedlichen goldenen Ringen, die bis auf das Exemplar mit den Stempelenden zerschnitten sind. Der Ring ist gedreht und wiegt 655 g. Weitere Parallelen nennt F. Kaul, so von Voldbro (Nord Jütland), Bredkær Mose (Falster) und Bo Gård (Öland, Schweden), ebenfalls mit Stempelenden und betont die keltischen Einflüsse.1773 1770 Schopper 2018, 363 Abb. 4. 1771 Nylén 1999. 1772 Nyman, Rasch 2006. 1773 Kaul 2007, z. B. 331 Fig. 6 Bo Gård.
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Diese Halsringe erinnern an die Hortfunde von Snettisham in England, in denen jeweils mehrere derartige Ringe in Gruben beieinander lagen (vgl. dazu S. 532). Torques wie in Havor und wie die Berlocks in Skandinavien wurden aber auch im Süden am Dnjepr gefunden.1774 Zu Granulation1775 und Vergoldung1776 in Germanien gibt es ausführliche Darstellungen, auch zur Granulation dieser auffällig wirkenden Schmuckanhänger, den tropfen- oder birnenförmigen Goldberlocks des 2. bis 4. Jahrhunderts. Im Schatzfund von Årslev auf Fünen, datiert um 300 n. Chr., tragen Fingerring, Bügelfibeln, Ziernadel und Zierbleche Granulation. Zahlreiche Fibeln des 2. Jahrhunderts andernorts weisen diese Granulation auf, auch einige Sporen und Waffenteile. In den Fürstengräbern von Sakrau, Stráže und Ostrovany aus dem 4. Jahrhundert (vgl. unten S. 935), der jüngeren und späten Römischen Kaiserzeit, sind die Zwei- und Dreirollenfibeln bzw. Doppel- oder Dreifachspiralfibeln und die Prunkfibeln mit halbkreisförmiger Kopfplatte und die sogenannten Schmetterlingsfibeln mit Granulation und Filigran verziert sowie Halsschmuck und halbmondförmige Anhänger.1777 M. Biborski hat vor kurzem die Gold- und Silberobjekte vom Przeworsk-Gräberfeld Opatów einer Materialanalyse zur chemischen Zusammensetzung unterzogen. Goldsachen bestanden aus 20,69 Karat, das sind 86%, in einem anderen Fall aus 15,4, Karat, das sind 64,4 %. Die Silberobjekte bestehen aus 96,7% oder 95,8 bzw. 93,4 % aus dem Edelmetall, und enthalten kaum Kupfer. Das fast reine Silber stammt wohl von römischen Münzen der guten vollwertigen Prägungen.1778 Für die Lagerstätten mit Buntmetall- und silberhaltigen Erzen im Harz vermutet man inzwischen auch eine mindestens ins 4. Jahrhundert zurückreichende Ausbeutung (vgl. oben S. 464), wenn dort nicht sogar noch wesentlich früher Metall gewonnen wurde, weil es Hinweise auf Erzgewinnung in der Bronzezeit gibt. Im Harz müssen es, zumindest so weit im Inneren Germaniens, nun nicht ebenfalls römische Bergleute gewesen sein, auch wenn sie die technischen Kenntnisse geliefert haben mögen. Bei der Keramikproduktion in römischer Manier mit römischen Gefäßformen wie in Haarhausen bei Erfurt in Thüringen, worauf noch eingegangen werden soll, kann man sich ebenso vorstellen, dass römische Handwerker als Kriegsgefangene in Germanien arbeiteten oder sogar aus freien Stücken gekommen waren, weil sie gute Verdienstmöglichkeiten sahen. Eine spekulative Bemerkung schließe ich an. Da noch heute durch die archäologische Bodenforschung aus den früheren Epochen wie der Bronzezeit beachtliche Mengen an Buntmetall entdeckt werden, nämlich die ehemals vergrabenen Schätze, 1774 Shchukin 2003. 1775 Andersson 1995; Wolters 1998 mit den Taf. 22. 3–4 und 23. 1776 Aufderhaar 2009. 1777 Godłowski 1995, 486 ff. mit Abb. 99, 100 und 102. 1778 Biborski 2015, 127–128.
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sollte man davon ausgehen, dass die Bewohner Germaniens ebenfalls vielfach auf solche Metallansammlungen gestoßen sind und diese weiterverwendet haben. Nicht immer kann entschieden werden, aus welchen Gründen während der Bronzezeit große Metallkomplexe, genormte Gegenstände wie Beile und Halsringe zu Hunderten, aber auch Schrott, vergraben worden sind und nicht wieder aufgenommen wurden. Es kann sich um Opfer gehandelt haben, wie das für die Goldschätze in Germanien der ersten Jahrhunderte n. Chr. angenommen wird, aber es könnte sich auch um Händlerdepots und Verstecke zu Schutz der Waren gehandelt haben. Bernstein, das fossile Harz,1779 spielte in Germanien und im Römischen Reich eine auffällige Rolle als Schmuck. Die Bernsteinstraße existierte und wurde begangen schon mindestens seit der Bronzezeit, nicht etwa erst später, um nun das Römische Reich mit diesem Schmuck zu versorgen.1780 Eine Besonderheit in Germanien ist die eigene Bernsteinverarbeitung, nicht nur der Handel zum Mittelmeer, sondern auch die einheimische Verwendung.1781 Drei Hortfunde mit Rohbernstein sind auf einer Fläche von 50 auf 50 m in Wrocław-Partynice (ehem. Breslau-Hartlieb) ausgegraben worden, 1906 rund 500 kg, 1936 weitere 275 kg und noch einmal 600 kg. Die Stücke weisen fast keine Bearbeitungsspuren auf. Es war ein Zwischenlager für den Handel über eine größere Distanz. In der Nähe standen Häuser der Spätlatènezeit. Noch weitere Horte in Kurowo in Großpolen und Basonia bei Lublin mit mehreren hundert Kilogramm Bernstein wurden entdeckt, datiert in die frühe Völkerwanderungszeit. Der Handel verlief von der Ostsee nach Carnuntum am Limes und weiter zum Mittelmeer nach Aquileia. Im Vertrieb und der Nutzung von Bernstein gab es einen Wandel durch die Markomannenkriege (166–182), so wird mit Blick auf die Ereignisgeschichte vermutet. Damals verlor der Ort am Ende der Bernsteinstraße nach Süden zum Mittelmeer, Aquileia, an Bedeutung. Dafür entwickelten sich nun am Niederrhein hochwertige Bernsteinschnitzereien in Köln und anderswo. Es sieht so aus, dass von hier aus Bernstein über die dänischen Ostseeinseln nach Seeland mit Himlingøje ins Innere Germaniens wieder zurück verhandelt wurde. Bernstein wurde in Germanien gedrechselt, es entstanden tropfenförmige Berlockperlen aus Bernstein. Man findet sie im Weichselgebiet, so im Gräberfeld von Weklice (vgl. S. 890), in Litauen1782 und auf den dänische Inseln. Aus der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts sind in Germanien auffällig große Bernsteinobjekte bekannt, so aus den Fürstengräbern vom Typ Haßleben (vgl. S. 929), in mehreren Prunkgräbern, die als Beigaben vor allem römischen Import, Glas-, Bronze- und Silbergefäße, enthielten. Ob Bernstein
1779 Ganzelewski, Slotta (Hrsg.) 1996, umfassend zu allen Lagerstätten und ihrer Ausbeutung; Quast, Erdrich (Hrsg.) 2014. 1780 Wielowiejski 1996 zu latènezeitlichen und frührömischen Fundstellen; allgemein zur Vor- und Frühgeschichte des Bernsteins: Weisgerber 1996. 1781 Quast 2014c; Quast, in Hilgner, Greiff, Quast (Hrsg.) 2017, 612 spricht von den 1,5 Tonnen Bernstein in Schlesien. 1782 Bliujienė 2011a.
8.2 Handwerk
503
zu verwenden nun eine römische Mode war, die auch in Germanien übernommen wurde, bleibe dahingestellt. Auf jeden Fall ist der 18 cm große Anhänger mit Gesichtern aus Haßleben in Germanien gefertigt worden. Bernsteinrocken aus Lubowicz in Pommern und Aquileia und auch Köln sind gleichartig. In Germanien war Masse statt Klasse beliebt – so Dieter Quast 2014 –, denn möglichst große Ketten mit großen Perlen wurden im 4. und 5. Jahrhundert angefertigt. Dass aber dieser Prunkschmuck über römische Werkstätten zu germanischen Trägerinnen gekommen sein soll, wage ich zu bezweifeln; denn man erinnere sich an die üppigen Bernsteinperlen-Ketten aus der Bronzezeit, die auch im eigenen Land hergestellt worden sind. Es findet sich Bernstein auf Opferplätzen in Germanien, so in Serachowicze in der westlichen Ukraine mit viel Bernstein und außerdem 165 Denaren, als Gewässerfund von Buczek (ehem. Butzke, Westpommern) aus den 1880er Jahre mit 800 Bernsteinperlen und 1000 Glasperlen aus römischen Werkstätten und drei Denaren bis Antoninus Pius (138–161), datiert wohl ins 2./3. Jahrhundert. Bernsteinstücke wurden auch als Charonspfennig Toten beigegeben, so in Simris in Schonen in einem Kammergrab des 3. Jahrhunderts mit kompletter Waffenausrüstung aus Speerspitzen, Schwert und Schild sowie mit zwei goldenen und einem silbernen Fingerring und einem Brettspiel. Seit 500 kamen beachtliche große Schwertperlen aus Bernstein als magische Anhänger an der Waffe auf. Die Kulturen als Herkunftsgebiete des Bernsteins,1783 lassen sich mit vielen Karten zur Verbreitung von Fibelformen und Reitersporen, z. B. dem westlichen Typ Leuna, im östlichen Baltikum, verbinden. Die tatsächliche Herkunft von Bernstein zu bestimmen, bereitet Schwierigkeiten, es gibt sehr viele Sorten und über 200 Fundorte,1784 allein in Spanien sind 120 Fundstellen bekannt und noch heute wird Bernstein in „wilden“ Bergwerken in der Ukraine gewonnen, weitere Lagerstätten gibt es in Rumänien und Österreich sowie in Südschweden. In Mitteleuropa gibt es Bernstein auch in Jütland sowie im Gebiet von Bitterfeld in Goitzsche und Delitzsch, der heute noch gewonnen wird, in SachsenAnhalt und in der Lausitz, auch an der Küste von Vorpommern und in Polen. Somit müssen nicht alle Bernsteinfunde, die archäologisch dokumentiert werden, baltischer Bernstein aus dem Samland und über die Bernsteinstraße in den Süden gelangt sein. Diskutiert werden Bernsteinstraßen von der Ostsee weichselabwärts bis ins Mittelmeergebiet und dort weiter bis Ägypten. Eine zweite Straße soll über die Elbe und den Rhein von Jütland aus bis zur Rhone und auch über die Donau bis in an die Adria geführt haben. Der Name „Bernsteinstraße“ oder „Amber Road“ stammt im Übrigen nicht aus der Antike, sondern aus dem 18. und 19. Jahrhundert, und eine reale existierende Bernsteinstraße hat es nie gegeben. Es wird sich auf ein Bündel der alten überlieferten Verbindungswege bezogen, auf denen Sachen, Ideen und Menschen sich immer bewegt haben, von Norden nach Süden und umgekehrt, in beide Richtun-
1783 Kontny 2017, Fig. 2 Karte. 1784 G. und B. Krumbiegel 1996, 32 Abb. Kartierung der Vorkommen von Bernstein.
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8 Wirtschaft, Handwerk, Technik und Alltag
gen. Baltischer Bernstein, Succinit,1785 ist sein einigen Jahrzehnten physikalisch eindeutig zu bestimmen, weshalb es auch möglich war, nachzuweisen, dass die Mehrheit der archäologisch geborgenen Bernsteinobjekte aus dem Baltikum stammt. Über die umfangreichen Zwischenlager wurde oben berichtet. Offen ist eigentlich, was als Gegengabe für den Bernstein gedient hat. Unterbrochen wurde der Bernsteinhandel während der Markomannenkriege, in dem germanische Kriegerverbände auch Norditalien überfallen haben, erholte sich dann kurze Zeit, ehe er im frühen 3. Jahrhundert zum Erliegen kam.1786 In weiterem Sinne gehörten auch die Ausstattung der Trinkhörner mit Endstücken, oft in Tierkopfform aus Bronze, und die Ketten für die Aufhängung zu einer Art Schmuckherstellung1787 (vgl. dazu auch unten im Abschnitt über frühe Bilderkunst S. 1184). Der Vergleich der Trinkhörner aus dem Königsgrab von Mušov hat zur Zusammenstellung bestimmter Typen von Beschlägen im Kartenbild geführt, von Südskandinavien mit wenigen Parallelen, Gotland mit vielen, Dänemark ebenfalls mit vielen, elbeaufwärts bis Böhmen und Mähren jeweils auch mit recht vielen Exemplaren und leichter Streuung nach Osten, d. h. auch die Verteilung dieses Sachgruppe hat ganz Europa erreicht. Auffällig ist an der Verteilung in Europa jedoch die besonders dichte Streuung in Dänemark und dann die gesamte Elbe aufwärts bis Böhmen und Mähren, datiert in die Stufen B1 und B1 (1. bis Mitte 2. Jahrhundert). W. Janssen hatte aus den Bruchstücken in einem Brandgräberfeld von Mehrhoog, Kr. Wesel, Grab 15 eine Rekonstruktion erarbeitet, die neben dem Endbeschlag und der Aufhängekette außerdem auf dem Horn selbst gestempelte Bronzebeschläge zeigt.1788 R. Rasmussen hat die rinderkopfförmigen Trinkhornbeschläge kartiert und ihre Funktion näher beschrieben.1789 Sie kommen von Gotland und Öland über die dänischen Inseln und Jütland bis zur norddeutschen Küstennähe vor. Datiert werden sie vor allem in die Phase B1, also in die erste Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr., einzelne kommen noch in B 2 und C1 vor, also noch im späteren 2. Jahrhundert. Die Anregung wird im keltischen Umfeld gesehen; doch werden die Rinderabbilder, Bovidenstatuetten auch allgemein im Germanischen üblich,1790 wie auch Kessel im Norden wie die von Gundestrup und Rinkeby oder die Halsringe wie der von Havor belegen. Eine Beziehung in den sakralen Bereich scheint sich anzudeuten. Ob tatsächlich Vorbilder auch im römischen Mithras- oder Jupiter-Kult gesehen werden dürfen, sollte zurückhaltend
1785 Ganzelewski 1996; C. W. Beck 1996. 1786 Erdrich 2014b (aus dem Internet). 1787 Andrzejowski 2002 mit Kartierung; Steuer 2006c, 247 Abb. 4 Rekonstruktionen von Trinkhörnern anhand der Beschläge mit Lit Nachweisen, 249 Abb. 45 (nach Andrzejowski 2002, 312, Abb. 1); Ament 1997/2003, 69 Abb. Trinkhornkette von Keilstrup, Jütland, 1./2. Jahrhundert n. Chr. mit mehreren vollplastischen Tierfiguren. 1788 Janssen 1980, 157 Abb. 7 Rekonstruktion, 168. 1789 Rasmussen 2007, 193 Abb. 2 Karte mit 26 Einträgen. 1790 Thrane 1989; Rasmussen 2007, 209 Tab. 4 mit Fundstücken aus Gudme und Lundeborg.
8.2 Handwerk
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bedacht werden. Rinderköpfe erscheinen auch noch in einem ganz anderen Zusammenhang, beispielsweise an Fibeln mit Rinderprotomen.1791 Die Fibeln kommen vor allem im Osten vor, in der Dollkeim-Kowrowo- und der Bogaczewo-Kultur ab den Phasen B2/C1 und C1b (ab ca. 150 bis 250 n. Chr.), haben Beziehungen zur WielbarkKultur mit Ausstrahlung bis zur Oder im Westen. Eine solche Westwirkung spiegeln außerdem die Fibeln mit umgeschlagenem Fuß und Perldrahtgarnituren der „preußischen Variante“. Zum Schmuck gehörten Perlenketten, die1985 für ganz Germanien untersucht und kartiert worden sind,1792 speziell die Perlen vom östlichen Seeland der jüngeren Römischen Kaiserzeit1793 sind 2009 ausgewertet worden. Perlen aus Glas können wie die Spielsteine aus Glas auch Importe aus den römischen Provinzen sein. Eine Frage ist, ab wann es Glasherstellung in Germanien gegeben hat. Dabei geht es nicht etwa um Gefäße, sondern schlicht nur darum, ab wann Glasperlen in eigener Produktion hergestellt worden sind. Damit kommt man immerhin schon in die vorrömische Eisenzeit, und zwar mit Belegen zwischen Elbe und Rhein im gesamten germanischen Gebiet. Neue Funde auf der Grundlage früher Zusammenstellungen wurden jüngst veröffentlicht, die sich auf örtliche Produktion beziehen und nicht etwa keltische Importe meinen.1794 Als Material sind Knochen und Bein, Geweih, umfassend verwendete Rohstoffe, aus denen vielerlei Güter des täglichen Bedarfs angefertigt wurden. Dazu gehören Kämme unterschiedlicher Form,1795 manchmal mit Runen versehen (vgl. S. 1252), oder auch Schmucknadeln.1796 Fibelschmuck wurde während der jüngeren Römischen Kaiserzeit bzw. der frühen Völkerwanderungszeit auch mit Granat bzw. Almandin, Karneol, Onyx und Bernstein in Gestalt von Schmucksteinen verziert.1797 Dazu gehören die sogenannten Schildfibeln mit Glaseinlagen der späten Römischen Kaiserzeit.1798 Karneolperlen sind in Germanien Importe. Sie kommen in den Gräbern der Wielbark-Kultur vor als „Souvenirs from the Black Sea“.1799 Im Schmuck sind sie kombiniert mit Bernsteinperlen und Glasperlen. In ganz Osteuropa gibt es verstreut Karneolfunde, vor allem in der Przeworsk-Kultur und der Wielbark-Kultur. Seit der frühen Völkerwanderungszeit wechselte die Schmuckproduktion von Bernstein und Email, was eine besondere Rolle im römischen Kunsthandwerk gespielt hat, zur Verwendung von importierten Granat bzw. Almandin; der Halbedelstein 1791 Schuster 2001b, 419 Fibeln mit Rinderköpfen, 420 Abb. 3 Verbreitungskarte zu den Trinhornbeschlägen und Fibeln, 424 Abb. 5 Fibeln mit umgeschlagenem Fuß und Perldrahtverzierung. 1792 Tempelmann-Mączyńska 1985. 1793 Lund Hansen 2009. 1794 Eichfeld 2018, 36 Abb. 3 Karte für Germanien bis zur Elbe; Zepezauer 1993. 1795 Thomas 1960. 1796 Steuer 2002b. 1797 v. Carnap-Bornheim 1998a; auch 1998b. 1798 v. Carnap-Bornheim 2000d. 1799 Prochowicz 2013, 311Fig. 5 Karte der Karneolfunde.
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8 Wirtschaft, Handwerk, Technik und Alltag
wurde zum Kennzeichen von Reichtum bis weit in die Merowingerzeit.1800 Es gibt zahlreiche Materialanalysen der Steine, um ihre Herkunft aus Indien oder auch von der Balkanhalbinsel sowie aus Böhmen nachweisen zu können.1801 An den Zentralorten wie Gudme, Ribe, Sorte Muld, Slöinge und anderer jüngerer Orte wurde Almandin verarbeitet.1802 Auch in Gamla Uppsala sind zwei Werkstätten über C-14-Datierungen für die Zeit um 400 n. Chr. (oder doch erst 7. Jahrhundert) belegt.1803 Viele Granatplättchen und Gold-Cloisonné-Bruchstücke nördlich und südlich des Hallenhauses sind in den zwei Werkstätten gefunden worden, und vielleicht war das schon skandinavischer Granat. Bei der Almandin- oder Granatverwendung in der Schmuckherstellung ging man längere Zeit davon aus, dass diese roten Halbedelsteine über den Handel aus Indien nach Europa gekommen sind.1804 Chemische Analysen der Materialien geben Anlass, auch europäische Granatlagerstätten zu berücksichtigen, so in Böhmen und nun sogar auch in Skandinavien. Granathandel von 400 bis 700 in den Nordseeraum und nach Skandinavien geht davon aus, dass seit der Mitte des 7. Jahrhunderts der europäische Granat bzw. Almandin verwendet wurde.
8.3 Alltägliches Die Ausstattung der Wohnhäuser mit alltäglichen Sachgütern hat die Bevölkerung perfekt und in alter Tradition für sich selbst und vielfach auch auf dem eigenen Gehöft hergestellt. Die hervorragende Zimmermannstechnik beim Haus- und Brunnenbau ist unmittelbar am erhaltenen Holz und anhand der Werkzeugspuren zu beobachten. Was beim Aufgehenden der Häuser zwar kaum möglich ist, weil alles vergangen ist, ist aber im Grundwasserbereich der Brunnen – das Gefüge der Holzteile für den Rahmen des Brunnenkastens – erhalten geblieben. Die besondere Ausnahme, nämlich die erhaltenen Wandteile und Pfostenstellungen der Bauernhäuser in den Wurtensiedlungen wie in Ezinge oder auf der Feddersen Wierde in den feuchten Marschgebieten an der Nordseeküste, wurde schon mehrfach beschrieben. Der Brauch, in manchen Gebieten Germaniens Güter in Mooren und Seen als Opfer niederzulegen bzw. zu versenken, hat nicht nur Waffenteile wie Schildbretter, hölzerne Schwertscheiden und verzierte Lanzenschäfte erhalten, sondern auch Gefäße aller Art aus Holz und Gerätschaften sowie Werkzeug vom Hobel bis zur Drehbank und sogar Wagen und die dazu gehörenden Scheiben- und Speichenräder sowie schließlich auch die Drehscheibe in den Töpferwerkstätten. Aus den Gräbern der Elite sind
1800 Quast, Schüssler 2000, mit Literatur. 1801 Quast, Hilger, Greiff 2018a; 2018b.; Jordan 2015. 1802 Hamerow 2017, 75 Fig. 3. 1803 Ljungkvist, Sarén Lundahl, Frölund 2017, 99 Fig. 8. 1804 Hilgner, Greiff, Quast (Hrsg.) 2017, dazu Rez. A. Gilg 2017 (2018).
8.3 Alltägliches
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als einheimische Produkte metallbeschlagene Holzeimer bekannt, die neben den importierten römischen Bronze- oder Silbergefäßen gestanden haben.1805 Natürlich hat es einen Technologietransfer zwischen den römischen Provinzen und Germanien gegeben, dazu war die Nachbarschaft zu nahe und zu eng. Aber weil man sich nicht vorstellen kann, dass Handwerker in Germanien sich die anfangs fremden Techniken auch selbst aneignen konnten, spricht man gar von Verschleppung römischer Reichsbewohner nach Germanien, die dann dort Drehscheibenkeramik römischer Formgebung oder andere Sachgüter produzierten. Nach Germanien zurückgekehrte Söldner hatten in den römischen Militäreinheiten sicherlich auch Handwerkstechniken gelernt. Immerhin war die dortige Bevölkerung aufnahmebereit für die „fremden“ Formen. Die im Wesentlichen autarke Wirtschaftsweise der Bevölkerung in Germanien, basierend auf einer expandierenden Landwirtschaft, hinderte nicht daran, tatsächlich technisch höher organisierte Produktionen aus dem Römischen Reich zu übernehmen. Wie zu allen Zeiten wurde Gefäßkeramik in vielfältigen Formen hergestellt. Dabei ist die Nachahmung römischer Gefäßtypen in heimischer Machart zu beobachten, worüber noch später zu sprechen sein wird (S. 441 und S. 1103 ff.); ebenso wurde die Nutzung der Drehscheibe in den Töpfereien überall eingeführt, was ebenso auf den älteren „keltischen“ Einfluss zurückgegangen ist. Römische Handwerker oder im römischen Reich ausgebildete Germanen, haben inmitten Germaniens also Töpfereien betrieben, die Gefäße nach römischer Mode mit römischer Technik hergestellt haben. In Haarhausen bei Erfurt in Thüringen wurde ein Töpfereizentrum zur Produktion grauer Drehscheibenkeramik aus dem späten 3. Jahrhundert n. Chr. ausgegraben, das in den Formen und der Technik provinzialrömische Verfahren übernommen hatte.1806 Drei Töpferöfen, Tonaufbereitungsanlagen und Gebäude wurden freigelegt. Bei ganzjährigem Betrieb konnten in einem Ofen rund 7000 Gefäße herstellt werden, in den drei Öfen bis zu 70 000 Gefäße. Diese „römische“ Keramik fand sich in einigen der umgebenden Siedlungen bis zu 55 km Entfernung und auch als Beigabe in reich ausgestatteten Gräbern. Da aber solche Keramik römischer Mode auch in anderen Elitegräbern gefunden worden ist, die nicht zum Formenspektrum von Haarhausen gehören, spricht das für weitere noch unbekannte Töpfereien, die in „römischem“ Stil gearbeitet haben. Oft ist nicht mehr zu entscheiden, ob es sich z. B. um importierte römische oder um in Germanien produzierte Becher handelt. In Haarhausen wurden keine sogenannten Faltenbecher römischer Form getöpfert, aber es gibt freihandgeformte germanische Faltenbecher mit heimischer Verzierung. Die drei Töpferöfen sind rekonstruiert, ebenso auch anhand von Pfostenstellungen eine Trockenhalle für die produzierte Keramik.1807
1805 Anke Becker 2006; Steuer 1986, 587–591 mit Karten Abb. 98–100. 1806 Dušek 1992/1999a, auch 1999b, Taf. 17 b Foto Töpferofen III nach S. 234. 1807 Dušek 1992, Abb. 1–3 Öfen I–III, Abb. 4 Trockenhalle; wieder abgebildet bei R. Müller 2006a, 30 Abb. 14 (Öfen I.III), 28 Abb. 12 (Trockenhalle).
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8 Wirtschaft, Handwerk, Technik und Alltag
Nur rund 250 m nordwestlich der Töpferei wurde die gleichzeitige Siedlung in den Jahren 1992–1993 und 1995–1997 teilweise archäologisch untersucht. Graue Drehscheibenkeramik und römische Importsachen bestimmen das Fundbild. Ein Brunnen aus dem ausgehöhlten Baumstamm ergab als dendrochronologisches Datum die Jahre zwischen 256 bis 276, was zur Datierung der Töpferei passt (zu Haarhausen vgl. auch S. 507). Über germanische Nachahmungen römischer Metall-, Glas- und Keramikgefäße wurde 2005 ausführlich berichtet.1808 Tönerne Rippenschalen als Nachahmung römischer Glasschalen sind bekannt, die Verbreitung der „germanischen“ Faltenbecher spiegelt die Übernahme dieser römischen Gefäßform; ebenso sind Faettschliffbecher des 4./5. Jahrhunderts, Flaschen sowie auch allerlei Metallkessel in Ton nachgebildet worden. Primitive, also qualitätslose Nachahmungen römischer Massenprodukte jedoch zeigen sich eher nicht. Vielmehr wurden Anregungen kreativ aufgenommen, übernommen und germanisch abgewandelt. Die Adaption der römischen gewellten Bronzeeimer wird zu einer der beliebtesten elbgermanischen Zierweisen auch an Keramik. Die Kannelierungen verselbständigten sich und erschienen auf Tongefäßen der unterschiedlichsten Formen. Die bisher (hier 2005) nachgewiesenen Adaptionen sind aber nicht gleichmäßig in Germanien verteilt. Rippenschalen kommen vor allem zwischen Oder und Weichsel bis in den Süden zur Slowakei vor, Metallgefäße überwiegend im Bereich der Elbgermanen bis nach Süden nach Böhmen und in die Slowakei und beispielsweise Faltenbecher im Harzgebiet und bis zur Weichsel. Man sagt: Adaptierung steht auf germanischer Seite für ein kreatives Plagiieren mit abschließendem Überprägen durch das vitale eigene Profilgut. Es ist jedoch kein Beleg einer Akkulturation oder gar Romanisierung. Die Vitalität und große regionale Eigenständigkeit bei der Herstellung germanischer Keramik andererseits war Resultat der dominierenden Siedlungen innerhalb der Germania magna. Man sollte nicht übersehen, dass die wenigen imitierten römischen Keramikformen auch nur einen geringen Prozentsatz der Gesamtausstattung mit diesem Alltagsgut ausmachten. Aber nicht nur Keramik, sondern auch ganz andere römische Importe gab es in germanischen Siedlungen an der Nordseeküste, z. B. Holztäfelchen aus der Terp Tolsum, oder Götterbilder aus Bronze und römische Fibeln. Ähnlich sieht es auch in den anderen niederländischen Gebieten aus, nahe den römischen Provinzen. Jan Lichardus meint sogar, (römische) Schreibgeräte in frühgermanischen Gräbern der Markomannen und Quaden gefunden zu haben.1809 Auch musikarchäologische Quellen könnte man näher beschreiben,1810 Musikinstrumente aller Art,1811 selten 1808 Hegewisch 2005, 81 Abb. 1 Rippenschalen, 82 Karte 1 Verteilung der Rippenschalen, 83 Karte 2 Verbreitung der Nachahmung römischer Metallgefäße, 84 Abb. 2 Vergleich der römischen Metallgefäße und der germanischen Adaptionen, 87 Abb. 4 Faltenbecher und Schliffbecher etc.; 2005 (2006). 1809 Lichardus 2002. 1810 Gringmuth-Dallmer 2006. 1811 K.-P. Koch 2002.
8.3 Alltägliches
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aber so gut erhalten wie die Leier aus Trossingen, die jedoch schon in die Merowingerzeit gehört, datiert ins 6. Jahrhundert.1812 Zu medizinischen Aspekten einschließlich von hat die Archäologie ebenfalls Befunde beigetragen.1813 Besondere herrschaftliche Sitzgelegenheiten wie Klappstühle gibt es zwar schon seit der Bronzezeit, sie wurden aber im Germanischen akzeptiert, angeregt durch die römischen Vorbilder1814 oder aus alter Tradition. Die Grabausstattungen der Elite, die sogenannten Fürstengräber, zeigen die Mischung von germanischen und römischen Gefäßen im Rahmen des Ess- und Trinkgeschirrs; und das geschah sichtlich nicht deshalb, weil nicht genug römische Güter zu erhalten waren, sondern weil diese Leute nicht völlig romanisiert waren, sondern nur den eigenen traditionellen Lebensstil zu ergänzen wussten. Wie der weitere Wandel in Technik und Gesellschaft im Übergang von der Spätantike zum frühen Mittelalter in Germanien verlaufen ist, soll aber nicht Thema dieses Buches sein.1815
1812 Theune-Grosskopf 2006a, b; 2010; ein Kriegergefolge ähnlicher Art auch später auf einem Bildstein von Smiss bei Stenkyrka auf Gotland: Høilund Nielsen 2009d, 26 mit Fig. 14; weiterer Fund einer Leier aus dem Prittlewell-Grab in Essex: Blackmore, Blair, Hirst, Scull 2019, 231 ff., 245 Fig. 226. 1813 Lund Hansen 2015. 1814 Mráv 2013. 1815 Hägermann 2004.
9 Gold und Schätze in Germanien Auffällig – aber das entspricht auch Situationen beispielsweise während der Bronzezeit – sind die zahlreichen ausgegrabenen Sachgruben großen Wertes. Allgemein wird dabei von Schätzen und Horten gesprochen, die vergraben wurden, entweder um sie vor Räubereien und anderen ähnlichen Gründen zu schützen oder um sie bewusst der Weiternutzung zu entziehen, als Opfergaben oder auch – wie später aus dem Mittelalter des Nordens überliefert – als persönliche Ausstattung fürs Jenseits. Neutral wird ebenfalls von Reichtums-Verstecke (wealth-deposits) gesprochen, um jede im Wort verborgene Interpretationen auszuschließen, wie das Ester Oras für Funde im Baltikum des 1. bis 9. Jahrhunderts vorschlägt.1816
9.1 Gold Die Macht des Goldes ist auch während der ersten Jahrhunderte n. Chr. von zentraler Bedeutung gewesen; wie zu allen Zeiten aufgrund seines Materialwertes, seines Glanzes und als Symbol des Göttlichen.1817 Gold war und ist Zeichen nicht nur von Reichtum und Prestige, sondern auch von Macht, Repräsentation und Herrschaft.1818 Antike Schriftsteller wie Tacitus (Germania c. 5) haben zum Edelmetall in Germanien ein weiteres Vorurteil geschaffen. Er behauptet nämlich: Argentum et aurum propitiine an irati dii negaverint (Silber und Gold haben ihnen die Götter versagt, ob aus Gnade oder Zorn, lasse ich dahingestellt). Es heißt im Kapitel weiter, weil man nicht danach geschürft hätte; und silberne Gefäße, die sie als Geschenke von römischen Gesandten erhielten, hätten bei ihnen keinen anderen Wert als Tongefäße.1819 Das eine, nämlich was Gold betrifft, und das andere, was die Silbergefäße angeht, beides sind Irrtümer. Gold wird gehortet und von der Elite als schwerer Schmuck an Hals und Arm gehängt, Silbergefäßpaare wollte die Elite haben und ließ sie in die Gräber stellen, sogar als Nachahmungen. Die Rolle bzw. Funktion des Goldes schon in der älteren Römischen Kaiserzeit ist häufig Thema der Archäologie.1820 Denn Rangzeichen in den Fürsten- bzw. Elitegräbern sind goldene Halsringe und goldene Kolbenarmringe,1821 und auch bei Männern und Frauen goldene Fibeln. Das Edelmetall Gold kann auf einfachem Wege aus Flüssen in den weiten Germaniens gewaschen worden sein, denn es gibt genug Gebirge, vom Harz bis zum Erzgebirge 1816 Oras 2015, mit Rez. Dworschak 2018 (2019) 394. 1817 Sahm, Heizmann, Millet (Hrsg.) 2019, 13. 1818 Hardt, Heinrich-Tamáska (Hrsg.) 2014; Hardt 2017, 526 Abb. 1 Europa-Karte mit Horten, dazu Lit.; jetzt auch Pesch 2019a. 1819 Blankenfeldt, Matešić 2006, 100 f. 1820 Roggenbuck 1988, ist stark zu ergänzen, so Voss 2012, 106 Anm. 8; Fonnesbech-Sandberg 1991. 1821 Lund Hansen 2001. https://doi.org/10.1515/9783110702675-017
9.1 Gold
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und wohl auch in Skandinavien, aus denen Gold in Flüssen transportiert worden ist. Aber einfacher war es, sich römische Goldmünzen oder auch andere Goldobjekte zu beschaffen und diese umzuschmelzen. Schätze allgemein1822 und Gold und Herrschaft über die Zeiten1823 sind daher ein zentrales Thema der wissenschaftlichen Erörterung. Um die nachfolgenden Größenordnungen an Goldmengen und Goldgewichten werten zu können, weise ich auf den Trierer Goldmünzenschatz aus dem Jahr 1993 hin. Er besteht aus 2650 Aurei mit einem Goldgewicht von 18,5 kg. Das entspricht 265 000 Sesterzen, und damals betrug das Jahresgehalt des in Trier residierenden Finanzprokurators der Provinzen Gallia Belgica, Germania superior und inferior 200 000 Sesterzen. Die meisten Münzen wurden zwischen 63 und 168 n. Chr. geprägt, zumeist in Rom; später wurden noch einige Münzen zwischen 193 und 196 n. Chr. hinzugefügt. Es wird wohl ein staatliches oder militärisches Depot gewesen sein, aus dem immer wieder Münzen hinzugefügt oder entnommen wurden. Verborgen wurde der Schatz in Bürgerkriegszeiten.1824 Er ist der größte Goldmünzenschatz der gesamten Antike. Für einzelne Landschaften wie Öland ist beispielsweise die ganze Spannweite der Goldfunde von der Kleinkunst, den Berlocks, bis zu schweren Goldringen 2001 in einem Katalog mit vielen Farbtafeln veröffentlicht worden.1825 Kent Andersson hat in seinem Sonderheft zur Zeitschrift „Archäologie in Deutschland“ 2008 nun das Gold des Nordens, die skandinavischen Goldschätze von der Bronzezeit bis zur Wikingerzeit, und damit auch für die Römische Kaiserzeit und die Völkerwanderungszeit mit prächtigen Farbtafeln vorgelegt.1826 Welche Rolle das Horten und Deponieren von wertvollen Sachen während der Frühgeschichte seit der Römischen Kaiserzeit gespielt haben, hat M. Hardt erst wieder 2017 bewertet.1827 Ausgewählte Horte zwischen Römischer Kaiserzeit und früher Karolingerzeit in Mitteleuropa werden vorgestellt, darunter der spätrömische Schatzfund mit Silbergeschirr von Kaiseraugst und der Hortfund von Dortmund mit 430 Solidi (geprägt zwischen 335 und 441), dabei 13 barbarische Nachahmungen, 16 Silbermünzen sowie mit drei goldenen Ösenhalsringen (dazu S. 519). In ganz Germanien sind nach dem heutigen Stand in den ersten vier nachchristlichen Jahrhunderten 71,5 kg Silber (und dazu noch 54 kg allein im Hildesheimer Silberschatz) und 13 kg Gold gefunden worden. Über welchen Reichtum beispielsweise an Gold, wenn auch unterschiedlichen Karats, aber die Bevölkerung in Germanien verfügt hat, spiegeln weniger die gefundenen Aurei, Medaillons oder Solidi, die zwar auch insgesamt in vielen hundert Stücken registriert worden sind, als vielmehr die einzelnen Goldschätze. Eine Graphik zeigt den massiven Anstieg der Solidi im gesam1822 Hardt 2004. 1823 Hardt, Heinrich-Tamáska 2013. 1824 Gilles 2013; 2014. 1825 Ölandsguld 2001. 1826 Andersson 2008. 1827 Hardt 2017, 526 Abb. 1, 527 Abb. 2 (Schatz von Kaiseraugst), 528 Abb. 3 (Schatz von Dortmund).
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9 Gold und Schätze in Germanien
ten Germanien zwischen 300 und 600 n. Chr. mit einer absoluten Spitze in der Mitte des 5. Jahrhundert mit fast 300 Münzen.1828 Es hat früh erstaunt, dass ausgerechnet auf Öland und Gotland außerordentlich viele byzantinische Goldmünzen gefunden worden sind, 1949 von Joachim Werner veröffentlicht.1829 J. Fagerlie hat dann 1967 die Solidi in Schweden und Dänemark ebenfalls katalogisiert,1830 und O. Kyhlberg hat 1986 diese weiter ausgewertet, wobei er von den Goldmünzenfunden in Helgö ausging.1831 Diese Goldexporte nach Germanien im 4. bis 6. Jahrhundert, vor allem als Solidi, sind ebenso von J. Iluk summarisch behandelt worden1832 und für Dänemark die spätrömischen und byzantinischen Münzen wieder durch H. W. Horsnæs.1833 H. W. Horsnæs beziffert die Zahl der Solidi bis 2007 in Dänemark auf 264 Stück. Die meisten, nämlich 223, wurden auf Bornholm entdeckt, vergleichbar mit der Situation auf Öland und Gotland; deutlich weniger aus dem übrigen Dänemark, d. h. der Zustrom wird auf verschiedenen Wegen und aus unterschiedlichen Anlässen erfolgt sein. Ständig kommen neue Hortfunde hinzu, so z. B. der Hort mit Goldmünzen der Konstantinischen Periode von Boltinggård auf Fünen.1834 Die Solidusfunde südlich der Ostsee wurden bis zu den Goldmünzen des 4. und 5. Jahrhunderts vor wenigen Jahren wieder kartiert und aufgelistet.1835 Ein Hort des 5.Jahrhunderts mit TheodosiusMünzen,1836 verstreut gefunden, mit 17 Solidi und dem terminus post quem 451 hat zu einer neuen Kartierung der Solidi auf Öland geführt. Es hat anscheinend gereizt, gerade die Goldmünzen lokal und überregional in Germanien zu registrieren. Alle Goldmünzen des 1. bis 5. Jahrhunderts zwischen Rhein und Vorderem Limes sind zusammengestellt,1837 ebenso wie ost- und weströmische Goldmünzen aus dem 5. Jahrhundert im fernen Karpatenbecken.1838 Renata Ciołek bietet zudem 2009 einige Tabellen über den Gesamtfundbestand:1839 Danach waren 1967 etwa 754 Solidi in Skandinavien dokumentiert worden, und im Text heißt es weiter, dass den 3 kg Solidifunden in Schweden 55 kg nichtmonetäres Gold gegenüberstanden. Im Pommern betrug 2009 die Anzahl 358 Solidi. Außerdem
1828 Randsborg 1997, 200 Fig. 2. 1829 Werner 1949. 1830 Fagerlie 1967. 1831 Kyhlberg 1986. 1832 Iluk 1985; 1987. 1833 Horsnæs 2009, 232 Fig. 1 Karte der Solidusfunde auf Bornholm, 235 Fig. 2 Solidusfunde in Dänemark. 1834 Henriksen, Horsnæs 2006. 1835 Ciołek 2005, 2009, 2010; Bursche 2003a, 2003b (Solidus-Hort von Zagórzyn). 1836 S. Fischer, Lopez Sanches, Victor 2011, 192 Fig. 2. 1837 Pfahl 2013. 1838 Prohászka 2009. 1839 Ciołek 2009, 218 Tab. 1 nach Fagerlie 1967, 219 Tab. 2 Pommern, 221 Zahl der Nachahmungen, 222 Abb. 1 Karte der Solidusfunde.
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waren sechs oder sieben Solidusnachahmungen aus fünf Fundkomplexen bekannt geworden. Die Verteilung der Solidusfunde reicht von der Odermündung an der Küste entlang bis zur Weichsel mit dortiger Verdichtung der Fundstellen. Der Zufluss war, wie auch in Skandinavien, eigentlich auf 50 Jahre begrenzt, von der Mitte des 5. bis zum Beginn des 6. Jahrhunderts. Die Autorin verknüpft diesen zeitlich begrenzten Zufluss mit Tributzahlungen an gotische Stämme durch Byzanz, also mit einem ereignisgeschichtlichen Geschehen. T. Talvio resumiert 2009 die Summe der Solidi in Schweden und Dänemark auf 900 Münzen,1840 und aus Norwegen, Finnland und Estland sind es nur einzelne Stücke. Jüngst 2016 ist dann die Menge der Solidi besprochen worden, die aus Konstantinopel ins westliche Römische Reich und nach Germanien als Tribute oder Subsidien geflossen sind.1841 Ebenfalls unerhört massenweise ist Gold als Tribut in der frühen Völkerwanderungszeit, zur Zeit der Hunnen, aus dem oströmischen Reich bzw. dem byzantinischen Reich nach Mittel- und Südosteuropa gelangt. Einige Zahlen mögen genügen.1842 Attila Kiss bietet 1986 zwei Graphiken, die aufzeigen, einerseits welche Goldmengen seit 400 im Karpatenbecken gefunden wurden und andererseits, welche Mengen an die barbarischen Königtümer als Goldtribute ausgezahlt worden sind. Von 400 bis 500 n. Chr. erreichte das gefundene Gold an Gewicht im Karpatenbecken Größenordnungen von 3 bis 6,8 kg. Weitere Zahlen zu Tributen nennt M. Hardt 2009: Alarich I. forderte 407 in Epirus bzw. nach dem Eindringen nach Noricum 4000 Pfund Gold als Ausgleich für römische Untreue (das waren etwa 288 000 Solidi), und bei der Belagerung Roms forderte er u. a. 5000 Pfund Gold und 30 000 Pfund Silber; durch einen Sieg auf dem Balkan gegen römische Truppen erreichten die Hunnen als Einmalzahlung 6000 Pfund Gold und die Erhöhung der Jahrgelder auf 2100 Pfund; umgerechnet in Solidi waren 5000 Pfund rund 360 000 Solidi. (Wiederum kann registriert werden, welch geringen Prozentsatz die archäologischen Funde ausmachen). Dazu hat später P. Guest 2008 in Bezug auf die Hunnenkönige die Goldtribute registriert anhand der Solidihorte des späten 4. und 5. Jahrhunderts.1843 In Skandinavien sind bis jetzt über 1000 Goldsolidi dokumentiert.1844 Das viele Gold römischer Herkunft, aus umgeschmolzenen römischen Münzen, wurde in Germanien geschätzt und in größeren Gewichtsmengen auch gehortet. Dabei ist nicht zu erschließen, ob einzelne Menschen oder eine Gruppe die teils überaus großen Horte vergraben haben. Denn die Objekte wie Hals- und Armringe oder Fibeln wurden als Grabausstattung meist nur einzeln beigegeben, weil sie zur Kleidung und zum Körperschmuck gehörten. Schlangenkopfarmringe aus Gold wiegen zwischen 1840 Talvio 2009, 271. 1841 S.Fischer, López-Sánchez 2016. 1842 Kiss 1986, 110 f. Abb. 1 und 2; Hardt 2009, 23 f. und weitere Angaben; Mischa Meier 2020; 2016. 1843 Guest 2008. 1844 Heizman 2019, 302; Fagerlie 1967; Kyhlberg 1986; Fonnesberg-Sandberg 1989; Henriksen, Horsnæs 2006.
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160 und 227 g, Kolbenarmringe des 3. bis 5. Jahrhunderts aus Männergräbern bis 200 und 300 g. Auf Öland wurden im Opfermoor von Skedemosse goldene Schlangenkopfarmringe mit stilisierten Tierkopfenden, sieben zusammengerollte Arm- bzw. auch Halsringe, als Hort von 1,3 kg Gold, ausgegraben. Die sieben Votivringe sind damit der größte frühgeschichtliche Goldhort auf der Insel, und die Ringe sind wohl vom selben Goldschmied gefertigt worden.1845 Der Schatz von Timboholm,Vätsergötland, Schweden, 1904 gefunden, umfasst über 7 kg Gold und besteht aus 26 ineinander gehängten spiraligen Ringen (um die 165 bis 172 g Gewicht) in zwei Ketten und aus zwei Barren, datiert ins 3. bis 4. Jahrhundert n. Chr. und nach den Gewichtsmaßen wohl aus Südosteuropa stammend.1846 Ein noch größerer Goldschatz wurde bei Tureholm, Södermanland, Schweden, schon 1774 entdeckt.1847 Die Objekte wiegen zusammen, nach unterschiedlichen Angaben in der Überlieferung, zwischen 12 und 15,5 kg. Nur einige Teile liegen heute noch vor, ein mit Halbmondstempeln verzierter Halsring aus zwei zusammengefügten Stäben mit einem Gewicht von 985 g (etwas weniger als 3 römische Pfund) und vier verzierte Teile vom Knauf und der Scheide eines Prunkschwertes sowie das Mundblech einer weiteren Schwertscheide. Die Objekte sind mit Granulationsverzierung bedeckt, im sogenannten Tierstil I (vgl. dazu S. 1236), wozu es Parallelen im Zentralort Gudme gibt, datiert gegen 500 n. Chr. Bei Gudme wurde der Goldfund von Broholm schon früh 1833 ausgepflügt, mit 51 Gegenständen, mehreren Halsringe und kleinere Ringen sowie 7 Goldbrakteaten und auch zerschnittenen Objekten und Barren, mit einem Gesamtgewicht von 4,15 kg (vgl. oben S. 357).1848 Nur zum Vergleich nenne ich noch einmal den Münzfund aus Trier von 2650 Auei, mit 18,5 kg Gold ist das der größte erhaltene Goldfund aus dem Römischen Reich.1849 Die fünf Goldringe von Vittene, Västergötland, von zusammen 1,9 kg Gewicht,1850 sind in die Römische Kaiserzeit zu datieren. Sie wurden an verschiedenen Stellen gefunden, sind bis auf das Exemplar mit den Stempelenden, der immerhin 655 g wiegt, zerschnitten. Die Gewichtsmengen entsprechen umgerechnet auf die 4,55 g Sollgewicht der römischen Goldmünzen immerhin jeweils rund 285, 423, 880, 1538 und 2637 bzw. 3297 Solidi. (Die älteren Horte müssten entsprechend auf Aurei bezogen werden, mit 8,2 g und mit im Laufe der Zeit sinkendem Gewicht). Beachtlich ist diese in einem der zufällig entdeckten Schätze zusammengekommene Wertmenge. Die fünf Ringe im Hort von Vittene sind über mehrere Generationen, über 350 Jahre hin angesammelt worden.1851 Einer der Ringe ist über Vergleichsfunde in das 2. Jahrhundert n. Chr.
1845 Andersson 2008, 46 Farbabb.; Pesche 2019, 17. 1846 Lamm 2005; Andersson 2008, 58 mit Farbabb.; Pesch 2019a, 25. 1847 Lamm 2006; Andersson 2008, 56 mit Farbabb.; Pesch 2019a, 25. 1848 Pesch 2019a, 23 f. mit Abb. 2 Stahlstiche von 1878. 1849 Wigg-Wolf 2019, 255 Abb. 9 in Farbe. 1850 Rasch 2006; Herschend 2001; Andersson 2008, 19 mit Farbabb. 1851 Pesch 2019, 17 (einer der Ringe ist mit dem Ring von Havor zu vergleichen).
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zu datieren. Zu erwähnen ist, dass bei Vittene inzwischen eine Siedlung und Gräber erforscht werden konnten, sodass der Hort nicht mehr isoliert zu betrachten ist.1852 Die Goldschätze in Dänemark sind in mehreren Ausstellungskatalogen mit reichem Bildmaterial veröffentlicht worden, teils über die Zeiten hinweg vom Altertum bis zum Mittelalter.1853 L. Hedeager hat 1991 die Golddepots der Römischen Kaiserzeit und frühen Völkerwanderungszeit in Dänemark ausgewertet, die unterschiedliche Dichte in Dänemark zwischen 100 g und 1000 g pro Verwaltungskreis kartiert.1854 In derselben Weise hat sie die Goldhalsringe und die goldenen Armringe zusammengestellt, die korrespondierend mit der Dichte der allgemeinen Goldverbreitung vor allem im westlichen Jütland und auf den Inseln Fünen und Lolland vorkommen.1855 In einer Liste werden 30 Halsringe und 27 Armringe aufgeführt. Schließlich werden für 1991 auch die Goldbrakteaten (vgl. unten S. 1206) kartiert und in einer Liste der 38 Fundorte mit wenigen und bis zu 20 Stücken aufgelistet. Sie wendet sich der Deutung mit der doppelten Frage zu, ob es sich um Opfer, die auf Dauer weggegeben wurden, oder um Schätze, die also wieder aufgenommen werden sollten, handeln würde. Hals- und Armringe wurden einzeln oder bis zu fünf Exemplaren deponiert; ebenso wurden auch die Brakteaten teils in größeren Zahlen vergraben. Die Halsringe werden im Vergleich mit den Goldhalskragen und der Figur von Rude Eskilstrup auf Seeland (vgl. unten S. 1226) sowie den Goldstatuetten von Nyborg auf Fünen in der Sphäre der Götterbilder verortet und die Niederlegungen daher als Opfer gesehen. Andere Depots mögen aus profanen Gründen entstanden sein. Über weitere mögliche Gründe wird später (S. 614) nachgedacht, und die Überlegungen, ähnlich denen von L. Hedeager, werden in der Folgezeit immer wieder aufgegriffen. Die Hortverteilung mit Goldobjekten zeigt die Zunahme des Goldes von der Phase B 2 (2000 Stücke) über C1b (2200) und C 2 (2300) sowie C 3 (6200) bis D (10 000).1856 Das Verteilungsmuster in der Gesamtlandschaft Dänemark, auch mit den Brakteaten des 5./6. Jahrhunderts, hebt die Sonderrolle von Gudme mit einem Kulthaus und dem Langhaus der Halle B-D daneben heraus.1857 Das Kulthaus ist klein, misst 13,5 zu 6 m in der ersten Bauphase von 220 bis 245 n. Chr.; der Fußboden darunter aus der Zeit von 210 v. Chr. bis um 30 n. Chr. legt nahe, dass hier schon zuvor ein Kultgebäude gestanden hat. Der Befund ist mit dem Kultbau in Uppåkra zu vergleichen (vgl. S. 654). Eine Reihe weiterer beachtlicher Goldhorte gibt es in Dänemark, den von Boltinggård Skov und den von Brangstrup aus der späten Römischen Kaiserzeit.1858 Der Fund
1852 Artelius 1999; Fors, Viking 1999. 1853 L. Jørgensen, P.V. Petersen 1998. 1854 Hedeager 1991a, 74 Fig. 1–3. 1855 Hedeager 1991a, 77 Fig. 2 (Halsringe), 78 Fig. 3 (Armringe); 1991b; 2005b, 515–517. 1856 Høilund Nielsen 2015a, 25 Fig. 2 (Hortverteilung) und 29 Fig. 5 (Zeitabfolge). 1857 L. Jørgensen 2010, 277 Fig. 5; 2011, 81 Fig. 3, 83 Fig. 6; Steuer 2007j, 902 Abb. 118; P. Ø. Sørensen 1994. 1858 Henriksen 2010.
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von Brangstrup auf Fünen bestand aus Goldschmuck, aus Ringen und 48 Aurei und Solidi von Decius (249–251) bis Konstantin II. (Schlussmünze 336), teils zu Anhängern umgearbeitet, so dass als Datierung von der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts ausgegangen werden kann. Zum Schmuck gehörten außerdem noch Weinblätter aus Gold, mondförmige Anhänger mit antithetischen Löwen und Beschläge mit Granulation.1859 Der Brangstrup-Fundkomplex wird 2010 erneut von M. B. Henriksen analysiert und mit den sonstigen Golddepots auf Fünen der späten Römischen Kaiserzeit und der Völkerwanderungszeit verglichen.1860 Auch wird eine Verbindung zwischen den gestempelten Goldanhängern aus dem Brangstrupfund, anderweitig datiert in die Phasen C2-C3 oder schon D (also Anfang bis Ende 4. Jahrhundert n. Chr.) mit den jüngeren Goldblechfigürchen gesehen. Die anthropomorphen und zoomorphen Ornamente vergleicht K. Myzgin mit Fundverbreitungen bis in die Ukraine und nach Südrussland.1861 Der Hortfund von Bendstrup, Todbjerg sogn, im Amt Randers in Jütland, gefunden 1841, enthielt die größere Zahl von immerhin vier Kolbenarmringen (vgl. S. 555).1862 Der Hortfund von Slipshavn im Amt Odense wurde 1981 gefunden, zuerst die kleine Goldstatuette (vgl. unten Abb. 99.1), außerdem drei Brakteaten, ein Hängeschmuck mit Filigrankreuz, ein S-Haken sowie ein Solidus des Valerian (256–258) sowie Hackgold und Schmelztropfen, insgesamt an Gold 147 g. Weiterhin gehörten auch Hacksilber zum Schatz sowie Fibeln aus Bronze. Besonders zu beachten ist das 6,7 cm hohe Goldfigürchen von 15,2 g Gewicht; es ist hohl aus Blech gefertigt und trägt als Symbole einen goldenem Halsring und ein Stirnband.1863 Im Bereich Gudme enthielt der Schatz von Broholm (vgl. S. 357) goldene Hals-, Arm- und Fingerringe, Bruchgold, Goldbrakteaten und auch Silberbarren.1864 Solidi von Valentinian III. (425–455) und Zeno (474–491) datieren den Schatz recht spät im Rahmen der Geschichte dieses Zentralortes. Es gibt in Gudme einen weiteren SolidiSchatz mit Münzen von etwa 340 bis 353, also aus den Zeiten der Kaiser Konstantin, Constantius II., Constans und Konstantin II. sowie Magnentius. Auch ein Hacksilberkomplex aus Barren, Ringen und zerschnittenen Sachen von insgesamt 1,28 kg wurde gefunden. Die Entdeckung des Goldschatzes und die Funde weiterer Schätze waren der Anlass zum Beginn der Ausgrabung in einem frühen Zentralort (vgl. S. 342). Kent Andersson hat 2008,1865 nachdem er sich schon oftmals mit Goldschmieden im Norden befasst hat, die Goldschätze zusammengefasst vorgestellt.1866 Für die
1859 Klindt-Jensen 1978; Heizmann 2019, 395 und Abb. 1. 1860 Henriksen 1992; 2010. 1861 Myzgin 2019. 1862 Hardt 2019, 45 nach Andersson 1993, 108 Nr. 546 a, e-f.; Hedeager, Kristiansen 1981. 1863 Thrane 2005a, mit Taf. 2 b; Thrane 2005b, 35 Fig. 9 und weitere kleine Figuren. 1864 Thrane 1993 mit Farb-Abb. 1865 Andersson 2008. 1866 Andersson 1995.
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ersten Jahrhunderte n. Chr. gibt er gute Beispiele, die ich zuvor schon aufgeführt habe (vgl. S. 499). Als Ausnahme sei noch der sogenannte „Mopedring“ von Östra Hoby in Schonen beschrieben, der tatsächlich – ehe er im Museum landete – als Verschluss eines Gatters und zur Mopedreparatur benutzt wurde, nachdem er 1987 gefunden worden war. Das Gold wiegt immerhin 780 g.1867 Der größte Teil der 50 bis 55 kg Goldfunde in Schweden wird in die Zeit von 375 bis 550 n. Chr. datiert, darunter etwa 800 Solidi. Der Schatz von Åby bei Sandby auf Öland ist der größte Solidihort, der auf der Insel entdeckt worden ist. Einige der Münzen sind gelocht.1868 Die größte Ansammlung von Solidi auf dem schwedischen Festland wurde in und bei Helgö gefunden (vgl. S. 362). Außerdem seien noch der Schatzfund von Gudhem (Götterheim), Västergötland, mit zahlreichen goldenen zusammengerollten Ringspiralen aufgeführt, der gepunzte spiralig zusammengedrehte Halsring von Flackarp in Schonen, der ungefähr 1 kg wiegt, und der Schatzfund von Värmskog in Värmland, der aus mehreren, teils punzverzierten Halsringen aus Gold besteht. Das Fragment eines Halsrings von Köinge in Halland erlaubt die Schätzung der einstigen Größe; er hatte nämlich einen Durchmesser von 30 cm, was zu groß ist, um von einem Menschen getragen zu werden, war aber vielleicht für ein Kultbild gedacht.1869 Leider sind nicht immer die Gewichtsangaben mit publiziert. Die beachtlich schweren Goldhalskragen1870 des 5./6. Jahrhunderts oder die beiden Hörner von Gallehus1871 „bündelten“ ebenfalls entsprechenden Reichtum an Gold. Darüber berichte ich im Kapitel über Kunst ausführlicher (vgl. unten S. 1223). Aus Norwegen nenne ich den Schatzfund mit Goldschmuck von Tornes, Romsdal.1872 Er enthielt einen Brakteaten, Goldblechfigürchen und Hackgold. Es ist ein Detektorfund von 2014. Der Goldbrakteat gehört zur Gruppe mit „Gott-Eber-Motiv“. Zum Komplex gehört weiter ein (zusammengefaltetes) rechteckiges Goldblech mit Bildmuster etwa der Größe von 8,5 zu 7,4 cm und 4,9 g Gewicht und noch kleine Fragmente von 0,77 g Gold. Die Verzierungen bilden eine Gesichtsmaske und mehrere Tiere. Die Funktion der Bleche könnte die Goldblechverkleidung eines Schwertgriffes gewesen sein wie am Schwert von Snartemo (vgl. S. 954). Das Gesicht auf diesem Blech mit Haarwellen findet sich auch auf einem Brakteaten von Fure bei Bergøy bzw. bei Ryfylke in Rogaland. Weitere Vergleiche sind mit Goldblechfigürchen möglich und auch mit der Patrize für solche Figürchen von Neble, Sjælland. Andere Teile des Schatzes sind Hackgold in Gestalt einer Stange und Draht sowie noch ein vergoldeter Silberbeschlag, der mit dem Schwert von Högom vergleichbar ist (vgl. S. 946).
1867 Andersson 2008, 50 (der Mopedring mit Bild). 1868 Andersson 2008, 53: 50 kg Gold, Abb. (Åby bei Sandby). 1869 Andersson 2008, 58 ff. mit Abb.; 83 mit Farbbild. 1870 Pesch 2015a; 2015b; Andersson 2008, 70–83 mit Farbbildern. 1871 Axboe, Heizmann, Nielsen 1998; Andersson 2008, 54 mit Abb.; Magnus (Ed.) 2001; Magnus (Text) 2005 und o. J. 1872 Ringstad 2015.
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Als Datierung der Vergrabung ergibt sich demnach etwa die Zeitspanne von 525–550 n. Chr., die Zeit des Tierstils I. Vergleiche sind schwierig, um den realen Wert der Goldschätze in der damaligen Gesellschaft Germaniens abschätzen zu können. Aber wenn man der Überlieferung glauben darf, dann zahlte später Theoderich d. Gr. (471–526) seinem Gefolge pro Krieger ein Jahresgehalt von 5 Solidi, d. h. wiederum mit 5000 Solidi aus dem Schatz eines Kriegsfürsten in Germanien konnte dieser 1000 Krieger für ein Jahr bezahlen, wenn er über so viel Gold verfügte.1873 Für dieses Donativum, das jeder Gote persönlich in Ravenna abzuholen hatte, hätte er die jährliche Getreidemenge, also die Ernährung, für acht bis zehn Personen kaufen können. Wie später noch von mir beschrieben wird, zählen die Heere der Kriegsfürsten etwa 3000 Mann, was wiederum 15 000 Solidi erfordern würde. Eine weitere Zahl: Alarich verfügte, als er Rom bedrohte, über 4000 Goldpfund bzw. 288 000 Solidi, wovon seine Stammesgefolgschaft ein Jahr hätte leben können und was einem Heer von 20 000 Mann entsprochen haben soll.1874 H. Wolfram nennt weitere Schätzungen, wonach eine Armee von 30 000 Kriegern rund 900 000 Solidi kosten würde, und wenn das jährliche Donativum von 5 Solidi betrug, dann könnte man mit 900 000 Solidi theoretische 180 000 Foederatenkrieger bezahlen.1875 Mit 800 in Schweden gefundenen Solidi (Stand 2008) (etwa 3,7 kg) könnten etwa 160 Krieger ein Jahr lang entlohnt werden; ein Hort wie der von Skedemosse mit 1,3 kg Gold, was etwa 286 Solidi entspricht, reichte für 57 Krieger. Diese Zahlenangaben verschaffen wenigstens eine gewisse Vorstellung vom Wert der Goldschätze. Mit Blick auf Verhältnisse im gotischen Italien des frühen 6. Jahrhunderts ist dieser Wert noch überschaubar und liegt im Bereich des Besitzes von einzelnen Personen oder Familien, nicht in dem eines Anführers. Aber im Norden Germanien, auch auf dem Kontinent, kann das Wertverhältnis ganz anders gewesen sein, konnte vielleicht das Doppelte oder mehr ausgemacht haben. Es bleibt bei der groben Schätzung. Diese gewichtigen Goldschätze sind Zufallsfunde, zwar auffällig, aber nicht singulär. Man sollte davon ausgehen, dass auch zur Anzahl dieser Horte ein Vielfaches hinzugedacht werden muss, mindestens das Hundertfache, wahrscheinlich noch mehr bis zum Tausendfachen. Etwa 10 kg stünden bei dieser Annahme dann mindestens für 1000 kg, für 1 Tonne Gold, bzw. für 10 000 kg, rund 10 Tonnen, verteilt in den Ländern rund um die Ostsee. Auch derartige Mengen sprechen für den hohen Reichtum der Elite in Germanien, gewonnen durch eigene wirtschaftliche Kraft, sicherlich nicht nur über Söldnerdienste in der römischen Welt. Es ist und bleibt erstaunlich, welche Goldmengen zum einen nach Germanien und in den Norden gelangt sind, in
1873 Wolfram 1979, 370; 1990, 298 (jeweils nur Schätzungen). 1874 Steuer 1982, 65, nach Wolfram 1979, 182 f. 1875 Wolfram 1979, 207 Anm. 4.
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welcher Form auch immer, und zum anderen – es wurde zudem erläutert, dass wir nur einen Bruchteil der einst vergrabenen Schätze heute finden – warum man diese Werte dem Wirtschaftskreislauf bzw. auch dem Alltagsleben entzogen hat. Es gab entweder einen Überfluss oder der kultische Zwang zu „opfern“ war zu groß oder man brauchte einfach nicht so viel Gold und konnte darauf verzichten. Ob es sich bei all diesen Schätzen mit Gold und anderen Edelmetallsachen mehrheitlich um Opfer gehandelt hat oder vielleicht auch um Goldschmiededepots, beispielsweise der späten Römischen Kaiserzeit, wird überlegt.1876 Ein Schatz von Cottbus, Brandenburg, 1934 entdeckt, datiert in die zweite Hälfte des 3. Jahrhunderts (Stufe C2)1877 besteht aus vier Armreifen, drei Kolbenarmringen mit Gewichten von 195,9 g, 194,7 g und 183, 45 g, einem Schlangenkopfarmring mit 190,0 g und einem Halsring von 89,95 g; das Gold wiegt also insgesamt 856 g. Bleibt man beim Gold, dann gehören auf dem Kontinent die Schätze mit Ringen vom Typ Beilen-Velp dazu, datiert in die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts als Symbole der Macht. Es sind die Schätze von Beilen,1878 Dortmund,1879 Körbecke, Nijmegen, Östrich-Remathe,1880 Olst, Rhenen,1881 Velp1882 und Westerkappeln, also insgesamt neun Fundkomplexe. Die Schätze vom Typ Rhenen und Velp sind mehrfach kartiert worden und ihre Verteilung mit dem Gebiet von den Stämmen, die zu Franken wurden, verglichen (Abb. 49).1883 Der Schatz von Velp in den Niederlanden, 1851 entdeckt (heute in Moskau), enthält sieben Halsringe, sechs verzierte und einen schlichten, zwei Fingerringe und weiteres Gold; der Schatz von Beilen, 1955 gefunden, mit sechs verschiedenen Halsbzw. spiralig aufgewickelt als Armringe sowie 23 Solidi wiegt zusammen 457,6 g Gold, was rund 100 Solidi entspricht.1884 Der 1907 entdeckte Schatz von Dortmund1885 ist einer der größten Komplexe mit spätantiken Solidi nördlich der Alpen und enthielt 444 Goldmünzen und 16 fragmentierte Silbermünzen, außerdem drei goldene Halsreifen. Die datierbaren Münzen decken die Zeit um 335 (Konstantin I.) bis 407/411 (Konstantin III.) ab. Die Schatzbildung wird um 407 bis 425 gewesen sein. Allein die Goldmünzen wiegen mehr als 2 kg.
1876 Zapolska 2014. 1877 Koch-Heinrichs (Hrsg.) 2014, 267 f. Kat. 13 (U.L. Uta Lische); Archaeologica et Praehistorica 50, 2018, 53 Abb. 7, heute kriegsbedingt verlagert ins Puschkin-Museum Moskau. 1878 Zadoks-Josephus Jitta 1976. 1879 Berghaus 1986. 1880 Steuer 2003b. 1881 Heidinga 1990, 14 Fig. 5; Böhme 1999b, 55 Abb. 5 Karte der Schatzfunde vom Typ Velp. 1882 Steuer 2006d. 1883 Heidinga 1990, 14 Fig. 5 goldene Halsringe von Rhenen, 17 Fig. 6 Karte der Torques vom Typ Velp; neu Quast 2017b. 1884 Waterbolk, Glasbergen 1955; Heidinga 1990, 17 Fig. 6 Karte der Halsringe vom Typ Velp; Steuer 2006d; Quast 2009b; Beliën 2008. 1885 Berghaus 1986 mit Taf. 9 und 10.
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Abb. 49: Karte der Goldschätze vom Typ Beilen-Velp.
Der Hort von Rhenen-Achterberg, Prov. Utrecht, enthielt zwei verzierte Halsringe mit Mittelrippe und ein mit Steinen besetztes Fragment. Auf diesem Fragment steht rückseitig eine komplexe Inschrift ERE.F.-V./yXXII.M./PRO.CLV,1886 also römischen Ursprungs. Ein neuer Fund von der ehemaligen Insel Walcheren, 2016 bei Veere mit dem Metalldetektor entdeckt, gibt Anlass zur erneuten Betrachtung dieser Gruppe von Schatzfunden (vgl. auch S. 518).1887 Es handelt sich um einen aufgebogenen Golddraht, 5 bis 6 mm stark und 47, 2 cm lang; als Halsring hätte er einen Durchmesse von 20 cm. Eine punktierte Inschrift VICTORINVSFVIMB ist zu lesen als: „von Victorinus hergestellt, mit einem Gewicht von sechs Unzen, bestellt oder kontrolliert von MB“, was sein könnte MINSTRATOR BABARICARIAE, also Manager der barbarischen Werkstatt. Die Legierung des Ringes entspricht dem Münzgold von 220 bis 346, also lässt
1886 Heeren, Deckers 2019, 152 Fig. 6. 1887 Heeren, Deckers 2019, 150, 157 Inschrift, 153 Gewichtsangaben, 158 Gaben für Offiziere, 158 f. goldene römische Mantelfibel.
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sich der Ring in die erste Hälfte 4. Jahrhunderts datieren, und im 4./5. Jahrhundert wird er vergraben worden sein. Interessant sind die Gewichtsangaben zu den Ringen in den Hortfunden: Das Ringfragment von Veere wiegt 153 g, die sechs verzierten Ringe von Velp nur zwischen 57,3 und 87,7 g, der einfache Ring wiegt 41,6 g; die beiden verzierten Ringe von Beilen wiegen zwischen 67,8 und 195 g, der undekorierte 43,2 g. Also ist das hohe Gewicht des Ringrestes von Veere erstaunlich. Die Gewichte werden meist in Bezug auf eingeschmolzene Solidi gerechnet,1888 aber S. Heeren und P. Deckers meinen, es sei besser den Bezug zum römischen Pfund, geteilt in 12 Unzen, zu wählen; denn ein halbes Pfund bzw. 6 Unzen sind 163 g, was nahe beim Gewicht des Ringes von Veere mit 153 g liegt; das fehlende Gold war der verlorene Verschluss. Wie noch andernorts zu berichten (vgl. S. 556), waren goldene Hals- und Armringe Gaben für hohe Offiziere und vor allem „ausländische“ Kriegsfürsten, denn sie werden nur außerhalb der römischen Provinzen gefunden, überall von Irland, Schottland, Dänemark und dem östlichen Deutschland bis zur Ukraine. Diskutiert wurde und wird die Frage, ob die Ringe erst in Germanien aus Solidi eingeschmolzen worden sind oder schon in Werkstätten innerhalb des Römischen Reichs. Die Inschriften sprechen für römische Werkstätten, und die Ringe dienten als diplomatischer Austausch und Bezahlung für Söldnerdienste, auch für die Foederaten, waren aber im Germanischen, so in den Fürstengräbern, einfach auch Rangzeichen, so dass wohl von Anfertigungen innerhalb und außerhalb des Römisches Reichs ausgegangen werden sollte. Von Veere/Walcheren ist noch eine 2008 gefundene goldene Armbrustfibel des späten Typs (5. Jahrhundert), eine Soldatenfibel, anzuführen, wie sie der magister militum Stilicho (362–408) getragen hat.1889 Die Goldfunde auf Walcheren weisen auf einen römischen Zentralort hin, auf eine Festung zur Sicherung der Küste im Rahmen des litus Saxonicum (vgl. S. 1026 f.). Zum einem anderen Schatz von Beelen, Kr. Warendorf, dessen Inhalte in die Mitte des 2. Jahrhunderts und um 500 datiert werden, gehört eine Merkurstatuette aus Bronze, 11 cm hoch, mit Silbereinlage und in der rechten Hand einen Geldbeutel. Außerdem gehören dazu mehrere mit Stempelmustern versehene Halsringe: Ein Goldring mit Dreieckspunzen, drei rundstabige Silberringe und 3 Silberringe aus Blechstreifen sowie zwei Bronzestäbe (Orakelstäbe). Der Hort war in einem einheimischen Tongefäß vergraben.1890 In Beelen gibt es einen kleinen Friedhof seit dem 3. Jahrhundert mit einer reichen Süd-Nord ausgerichteten Frauenbestattung aus der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts, die als Beigaben einen Terra Sigillata-Krug, einen gläsernen Sturzbecher1891 aus dem Rheinland, fünf Fibeln (zwei eiserne Armbrustfibeln, eine Scheibenfibel mit großem goldenem Pressblech mit Tierstil I–Verzierung 1888 Quast 2009b, 215. 1889 van Thiemen 2017. 1890 Stiegemann, Wemhoff (Hrsg.) 1999, 207. 1891 Zu den Spitzbechern des 5. Jahrhunderts in Norddeutschland Aufderhaar, in: Aufderhaar, Grünewald, Ludowici 2019, 179–181.
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und zwei weitere Scheibenfibeln aus Bronze, mit einer Kette verbunden) enthalten hat.1892 Der 1928 gefundene Hort von Beelen ist gewissermaßen ein Hausaltar des 5. Jahrhunderts mit der alten Statuette des Merkur aus dem 2./3. Jahrhundert (der wohl umgedeutet als Wotan/Odin betrachtet wurde). Zu den Goldringen gibt es Parallelen aus der Zeit um 400 und zu der Punzverzierung gibt es die einzigen Vergleichsstücke in England um 500. Die Ringe sind zu klein als Halsring und unbrauchbar als Armring, und es sind im Schatz Antiquitäten, die aber hier weder Altmetall noch Reichtümer, sondern Kultgegenstände waren. Ich weise darauf hin, dass in diese Phase der Goldsolidi-Horte im Westen auch die von Joachim Werner als Besonderheit schon 1958 zusammengestellten Kriegergräber in diesem Raum, datiert in die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts gehören.1893 Darauf komme ich zurück (vgl. S. 1156). Aus Gützkow, Ldkr. Vorpommern-Greifswald, wurde 2019 ein Hort veröffentlicht, der aus einem massiv aufgewickelten Draht aus Gold besteht. Auf diesen waren 5 spätrömische Solidi und ein Anhänger eingefügt.1894 Das Gewicht beträgt insgesamt über 93 g, der Spiraldraht wiegt allein knapp 70 g, was etwa 16 Solidi entspricht. Bisher sind in Mecklenburg-Vorpommern nur 5 Solidi des 5. Jahrhunderts bekannt geworden, jeweils oströmische Prägungen. Der neue Fund besteht aus zwei Solidi des Honorius (geprägt 402–423 in Ravenna), zwei Solidi des Valentinian III. (geprägt 426 bis ca. 430 bzw. ca. 430–445, ebenfalls in Ravenna), einem Solidus des Libius Severus (geprägt 462 in Rom). Lotspuren einer Aufhängung sind an einem der Solidi des Valentinian III. zu erkennen. Nahebei bestand eine Siedlung, in deren Umfeld dieser Schatz verborgen worden ist. Im 4./5. Jahrhundert sind diese Solidushorte im Grenzbereich zwischen den ehemaligen römischen Provinzen und Germanien, dem Gebiet der Franken, als wertvolle Bezahlung von Söldnern und zugleich als „Opfer-Niederlegungen“ aufzuführen. Eine Karte der römischen Solidi von 309 bis 425 vom Rhein bis zur Elbe bietet H. W. Böhme und deutet alle diese Münzen als Bezahlung für sächsische Söldner im römischen Heer,1895 wie schon vor Jahren Joachim Werner.1896 Rangzeichen jener Epoche in Germanien waren außerdem die verschiedenen anderen Ausformungen der Halsringe. Als goldene Gabe für die Götter enthalten die Horte der vorrömischen Eisenzeit Torques und Münzen.1897 Ich nenne die Ringe noch einmal in diesem Zusammenhang mit den Goldschätzen. Am Anfang stehen Hals-
1892 Grünewald, in: Aufderhaar, Grünewald, Ludowici 2019, 177 Abb. 2 (Grabbeigaben) und 178 Abb. 3 (Hausaltar, Hort von Beelen) mit Lit. 1893 Werner 1958. 1894 Saalow, Wigg-Wolf 2019, 56 Abb.; auch Bodendenkmalpflege in Mecklenburg-Vorpommern Jahrbuch 65, 2017 (2018), 231 f. Abb. 125. 1895 Böhme 1999a, 53 Abb. 1 auf der Basis von Karten bei F. Berger und W. Schlüter. 1896 Werner 1958. 1897 Fitzpatrick 2005.
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ringe vom Typ Havor auf Gotland aus der frühen Kaiserzeit;1898 und sie sind verwandt mit „keltischen“ Ringen des Torques-Typs, wie sie beispielsweise in Snettisham geopfert worden sind. Darüber wurde oben gesprochen (vgl. S. 501). Der Ring von Havor, 800 g schwer, wurde 1961 entdeckt bei der Ausgrabung in einer Burganlage, wo er einst um 100 n. Chr. vergraben worden ist, und lag zusammen mit römischen Bronzegefäßen, mehreren Kellen und Sieben sowie Glöckchen in einem großen Bronzeeimer aus Süditalien. Man geht tatsächlich von einer Herstellung auf Gotland aus. Bekannt sind nur wenige Parallelen, ein Ring aus dem Moor von Dronninglund in Dänemark, einer der Ringe aus dem Hort von Vittene in Västergötland,1899 der erst 1995 entdeckt wurde (vgl. oben S. 514 f.). Der Schatz von Echt, Provinz Limburg, mit spätrömischen Solidi enthielt außerdem noch einen Anteil an Hacksilber.1900 Er wurde 1990 entdeckt und der Fundplatz 2014 nachuntersucht. Der Schatz besteht aus 12 Solidi, einem kleinen Goldfingerring, mehreren Hacksilberfragmenten und einem Silberbarren, die zusammen 163 g wiegen, ein halbes römisches Pfund. Einige der Fragmente stammen von einer mit Perlrand verzierten Schale aus 98 % Silber, die vergoldet war und einen Durchmesser von 70 cm hatte, was erlaubt, ein ehemaliges Gesamtgewicht von 5 bis 6 kg zu schätzen. Die Solidi wurden unter Valentinian I. (364–367) und Valentinian II. (388–392), Theodosius I. (393–395) und Konstantin III.(407–411) geprägt, und sie wiegen alle um die 4,5 g; die jüngsten sind prägefrisch. Die Autoren des Beitrags zu diesem Fund versuchen eine Verknüpfung mit der Ereignisgeschichte, mit dem politischen Chaos im frühen 5. Jahrhundert und weisen den Schatz einem germanischen Kriegsherrn zu. Sie sehen die Vergrabung als eine Art „Opferung“ an, wie auch die zum Vergleich herangezogenen Parallelbefunde. Dazu gehört der Hort von Xanten-Hagebusch mit mehr als 400 Solidi.1901 Die Solidi von Echt kommen zumeist aus dem Osten. Die Münzen des Schatzes von Dortmund demgegenüber kommen zu 69% aus dem Westen und nur 30% aus dem Osten, die im Schatz von Großbodungen zu 90% aus dem Westen und nur 10% aus dem Osten. Die Autoren fragen, wo denn die Krieger militärisch engagiert waren, die mit dem Schatz von Echt bezahlt worden sind, in der östlichen Armee? Aber diese Beziehungen zur Ereignisgeschichte müssen Spekulationen bleiben. Zu beachten ist mit Blick auf das Hacksilber der Hinweis auf die Notitia dignitatum des frühen 5. Jahrhunderts, in der ein Bild Säckchen mit Goldmünzen, silberne Platten bedeckt mit Goldmünzen und silberne Teller zeigt.1902 Hacksilber war als Gewichtsgeld im militärischen Bereich der Spätantike schon regulär geworden.
1898 Nylén 1999; Kulakov 2015; Andersson 2008, 17 ff. mit Detail-Abb.; Pesch 2019a, 16 mit Anm. 10: Der Havorring wurde 1986 aus dem Museum in Visby gestohlen und ist bis heute verschwunden. 1899 Andersson 2008, 19 und Farbabb. 1900 Roymans, Heeren 2015, 552 Farbtafel und 553 f. weitere Farbtafeln, 556 Fig. 7 Karte der Horte des 5. Jahrhunderts. 1901 Roymans, Heeren 2015, 558 mit Lit.; Martin 2009. 1902 Roymans, Heeren 2015, 559 Fig. 8; 557 Verteilung der Schätze.
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In Liengen, Provinz Gelderland, wurde ein Schatz in Teilen in den Jahren 2012 und 2016 und zuvor schon einmal Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckt, neu wieder durch Sondengänger. Der Fundkomplex hat mindestens 42 Münzen der Spanne von 375 bis 461 enthalten.1903 Es ist der späteste Münzfund mit spätrömischen Prägungen; die Schlussmünze wurde unter Kaiser Majorian (457–461) geprägt. Um 460 sind diese Solidi in das Flussgebiet des Rheins gelangt und haben vielleicht einem fränkischen örtlichen Anführer gehört. Als Teil des Netzwerkes von Majorian waren dessen Generale immerhin Aegidius und König Childerich. Zwischen der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern 451 und dem Ende des Weströmischen Reichs 476 sind die Münzen einzuordnen. Es gibt zudem im Niederrheingebiet und dem benachbarten Westfalen jetzt 34 Goldhorte, die sich zeitlich aufschlüsseln lassen in die Abschnitte 364–394, 395–412, 425–455, und um 460, wozu der Hort von Liengen gehört. Die meisten Horte, etwa 20, lassen sich in den Abschnitt 395 bis 412 datieren. Mit diesen Goldmünzen wurden die fränkischen Kriegsfürsten, die Anführer von Kriegerverbänden bezahlt.1904 Ob es gerechtfertigt ist, diese Horte eng mit der Ereignisgeschichte zu verknüpfen, wie es die Autoren versuchen, mag man überdenken; denn zu viele historische Querbezüge sind möglich: Kaiser Majorian wird von Ricimer beseitigt, dieser setzte Libius Severus als Nachfolger ein, dann wurde auch Aegidius ermordet, und Childerich kehrte aus Thüringen zurück. Zu bemerken ist noch, dass Münzen der byzantinischen Kaiser Leo (457–474) und Zeno (474–491) im Hort fehlen, die aber im Grabschatz des Childerich (gest. 482) vorkommen. Deshalb soll, so die These, das Solidus-Paket unter Majorian (457–461) an einen Kriegsführer gezahlt worden sein. Die Verbreitung der Horte zeigt eine besondere Konzentration in der Zone an der Niederrheinfront des Römischen Reichs. Eine Phase vom Ende der Herrschaft Roms am Rhein lässt sich gegen 406 datieren, weil damals germanische Gruppen den Rhein überschritten. Kaiser Konstantin III. (407–411) kam 407 nach Gallien und herrschte bis 411. Die Kontrolle der Grenze gelang nicht mehr durch besetzte Kastelle mit römischen Truppen, vielmehr setzte Constantin germanische Truppen gegen andere germanische Verbände unter verschiedenen Kriegsfürsten ein, die mit Gold und Silber bezahlt wurden. Die Verteilung der Schätze – so meinen die Autoren der Veröffentlichung in direkter Kombination mit der Ereignisgeschichte – reflektiert den letzten Versuch der römischen Autorität, das Mosel- und Rheintal zu kontrollieren und dort Foederaten-Truppen zu rekrutieren unter individuellen Kommandeuren. Auffällig ist, dass zum Hort von Echt vor allem Münzen gehören – um noch einmal auf die Herkunft der Münzen aus dem Osten oder Westen zu kommen, wie beim Schatz von Liengen –, die im Osten geprägt worden sind (58%), im Hort von Kessel sind 54% östlicher Herkunft, im Hort von Dortmund aber nur 39% und im Schatz von Großbodungen 10% und in Menzelen 22%. Das kann aber nicht daran liegen,
1903 Roymans, Heeren 2017, 401 Tab. 1 Die Münzen; 407 Fig. 8 a, b Karten zu den 34 Horten. 1904 Martin 2009.
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dass die Söldner erst im Osten gewesen sind, ehe sie im Rheintal eingesetzt wurden. Zudem ist Echt der erste Hort in den Niederlanden mit Hacksilber, wie in Großbodungen. Anscheinend war Silber schon zum Zahlungsmittel nach Gewicht geworden, und man konnte so germanische Krieger bezahlen. Bei Ammianus Marcellinus (20, 4, 18) heißt es, dass Kaiser Julian jedem Soldaten 5 Solidi und ein Pfund Silber bei seiner Inauguration versprochen hat.1905 Aber diese Kombination von Ereignisgeschichte und einem archäologisch geborgenen Solidusschatz halte ich für „persönlich“, und man sollte mit derartigen Festlegungen zurückhaltender sein, um damit nicht andere Lösungen auszuklammern. Es muss denn auch gefragt werde, warum diese Söldnerführer dann ihren Verdienst vergraben haben, mit dem sie eigentlich auch Gefolgsleute bezahlen sollten. Oder hat die gesamte Gefolgschaft ihren Sold aus semireligiösen Gründen vergraben? Parallel zu den Schatzfunden mit gewichtigem Gold gibt es auch Grabfunde (dazu später ausführlicher S. 917 ff.), die beachtliche Mengen an Goldschmuck enthalten haben. Im reichsten Frauengrab Schwedens, dem von Tuna in BadelundaVästmanland, entdeckt zu Anfang der 1950er Jahre, aus dem 3. Jahrhundert n. Chr., lagen ein großer Schlangenkopfhalsring, zwei Spiralarmringe mit Schlangenköpfen sowie ein spiraliger Fingerring, ebenfalls mit Tierkopfenden, und zwei verzierte Nadeln. Alle Schmucksachen sind aus Gold, die Ringe zudem mit Punzmustern verziert. Zur Ausstattung gehörten u. a. noch zwei Hemmoorer Eimer und zwei Silberlöffel, eine Bronzeschüssel sowie ein Glasbecher mit Schlangenfadenauflage.1906 Das Grab gehört zu einem Gräberfeld, das vom 3. Jahrhundert bis um 1050 belegt worden ist. Aus dem zerstörten Kammergrab wurden die Goldfunde geborgen, mit einem Gesamtgewicht von 340 g. Am schwersten sind die Halsringe in einigen der „Fürstengräber“ in Germanien, beispielsweise im Grab von Gommern. Dieser Ring wiegt allein über 500 g, wo zu noch anderer Goldschmuck kommt.1907 In Osztrópataka1908 wiegt der Halsring in Grab1 etwa 589 g und ein Kolbenarmring 191,5 g; in Grab 2 lagen ebenfalls Hals- und Armring aus Gold. Der einzelne Ring, gefunden 1913, von Peterfitz bei Kolberg1909 wiegt bei einem Durchmesser von 20 bis 20,5 cm sogar 1880 g, von der Größe her nicht für einen Menschen, sondern eher für ein Kultbild gedacht. Die Analyse ergab übrigens 722 Teile Gold und 250 Teile Silber. Er ist spiralig umgebogen und weist auf der Vorderseite auf den beiden Goldstäben Stempelverzierung auf, und die Enden zieren stilisierte Tierköpfe. Zu diesem Ringtyp gibt es Vergleichstücke von über 50 Fundorten, 28 Ringe in Schweden, 21 Fundorte in Dänemark, 9 Ringe in Norwegen und 2 in Nord1905 Roymann, Heeren 2015, 560 Anm. 27. 1906 Andersson 2008, 42 f. mit Farbabb.; Schönbäck 2006; Holmqvist 1973. 1907 M. Becker, in: Fröhlich (Red.) 2001, 129. 1908 Ioniţă 2003, mit Farbtafel 12. 1909 Mangelsdorf 2003, mit Farbtaf. 20, 626 mit Aufzählung aller Parallelen.
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deutschland sowie 5 in Polen. G. Mangelsdorf bietet Verbreitungskarten dieser goldenen Halsringe mit verdickten und übergreifenden Enden in Südskandinavien und südlich der Ostsee (je größer die Signatur, desto mehr Ringe an einem Ort) und zur Verbreitung der einteiligen und zweiteiligen Goldhalsringe.1910 Es gibt Fragmente und vollständige Ringe, insgesamt etwa 72, die fast alle, als Einzelfunde entdeckt, wohl als „Opfer“ niedergelegt worden sind. Die Punzornamentik des Ringes von Peterfitz entspricht dem Sösdala-Stil und kommt auch auf Goldbrakteaten in Sorte Muld vor, was diesen Ring ins späte 5. oder frühe 6. Jahrhundert datiert. Diese aufgezählten Ringe sind an die oben beschriebene Gruppe von Tureholm anzuschließen. Der Runenreif aus Aalen, datiert um 400, besetzt mit Almandinen und anderen Steinen in der flachen Ausprägung des Reifs, wiegt bei einem Durchmesser von 18,7 bzw. 19,1 cm etwa 152,5 g.1911 Die vier Runen könnten einen Männernamen meinen, noru, da derartige Halsringe Rangzeichen für Männer waren. Man denkt unwillkürlich an den berühmten Runenring aus dem Schatzfund von Pietroassa aus Rumänien.1912 Gefunden 1837 und datiert in die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts lagen in jenem Schatz noch erhalten 22 Gegenstände ausschließlich aus Gold, an Goldgefäßen ein großer Teller (eine lanx), eine Kanne, eine Schüssel und zwei Henkelbecher (für ein herrschaftliches Gastmahl), vom Schmuck mehrere Fibeln, darunter eine Adlerfibel, zwei Ösenhalsringe und ein breiter Halskragen. Einer der Ösenhalsringe, zerbrochen, trägt die Runeninschrift GUTANIOWI HAILAG. Im Vergleich zum Runenring von Aalen lassen sich zahlreiche Parallelen mit Schlüsselloch-Öse als Verschluss und Varianten aufführen, kartiert sind 62 derartige Halsringe.1913 Darunter ist auch der dreigliedrige goldene Halsreif von Wolfsheim, Kr. Mainz- Bingen, datiert um 400. Die beiden Teilschätze von Szilágysomlyó enthielten mindestens 8 kg Gold. Dazu gehören 15 römische Goldmedaillons des späten 3. und 4. Jahrhunderts (Nachahmungen römischer Vorbilder), Goldschalen und neben anderen singulären Sachen eine Kette mit 52 Miniaturanhängern (Werkzeuge, ein Boot mit plastischer Figur und blattförmige Anhänger).1914 Um in diesem ehemaligen Lebensbereich die Kontinuitäten von der Römischen Kaiserzeit bis in die Völkerwanderungszeit zu zeigen, werden jüngere Fundkomplexe angeführt. Eine Reihe von Grabschätzen und Horten der weiblichen Eliten hat D. Quast zusammengestellt.1915 Es sind die bekannten Schätze von Airan in Nordfrankreich bis Kerč auf der Krim; von Regöly, Szilágysomlyó und Untersiebenbrunn. Bei
1910 Mangelsdorf 2006/2007, 86 Abb. 7 und 92 Abb. 9, 101 ff. Liste 1 mit 52 Katalog-Nummern. 1911 Wamers u. a. 2000. 1912 Harhoiu et al. 2003, mit den Farbtafeln 6 bis 8 und in Schwarz-Weiß der Runenring Taf. 9 bis 12; Schmauder 2002; 2003. 1913 Wamers u. a. 2000, 39 Abb. 16 Verbreitungskarte der rund 62 Halsringe. 1914 Seipel 1999; Capelle 2005; Pesch 2019a, 26 mit Lit.; Heizmann 2019, 307. 1915 Quast 2011c.
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den späten Elitebestattungen komme ich darauf zurück (vgl. S. 951).1916 Weiterhin zählen dazu die Schatzfunde im Karpatenbecken und in Norditalien, Desana, Reggio Emilia in der Poebene, dann Cluj-Someşeni, Feldioara und, wie erwähnt, Pietroassa. Zu beachten ist auch die Zusammensetzung einiger dieser völkerwanderungszeitlicher Schatzfunde, in Biňa lagen 108 Solidi, in Szikancs sogar 1439 Solidi; in Crasna 15 Goldbarren, in Feldioara 5 Goldbarren,1917 in Szilágysomlyó unter anderen Sachen 3 Goldschalen, in Pietroassa neben anderen Objekten immerhin 5 Goldgefäße und riesige weibliche Ibisfibeln, im italienischen Reggio Emilia Goldschmuck und 60 Solidi. Diese Komplexe werden als Königsschätze wegen des vielen Goldes bewertet, aber meist handelt es sich um weibliches Zubehör, während Waffen und männliche Ausrüstungen fehlen. Mehrheitlich kann man wohl von Opfern ausgehen, nicht einfach nur von Verstecken.1918 Um noch eine andere Größenordnung aus späterer Zeit zu nennen: Der Goldschatz von Nagyszentmiklós (Sânnicolau Mare), Ungarn, 1799 gefunden, zu datieren ins 7./8. Jahrhundert, enthielt 23 Gefäße mit fast 10 kg Gold.1919 Von spätrömischen und byzantinischen Solidi, geprägt zwischen 395 und 565, lagen nach der erwähnten Zusammenstellung von J. Fagerlie 1967 damals nur 883 Exemplaren vor. Auf Öland waren das aus 8 Depots 85 Solidi, auf Gotland kommen aus 11 Depots 60 Münzen und auf Bornholm aus 6 Depots 36 Solidi. Die Zeit des Hauptzustroms in den Norden war das 4. Jahrhundert. Diese Goldmünzen scheinen direkt in den Norden gekommen zu sein, abgelesen an den Stempelidentitäten, und wichtig ist die Beobachtung, dass die Münzen somit schon als Schätze zusammengestellt waren, gedacht für eine Söldnerbezahlung, wie allgemein angenommen wird. Die Goldmünzen des 4./5. Jahrhundert im südlichen Ostseegebiet wurden 2010 neu vorgelegt und ebenso die Solidifunde in Pommern kartiert.1920 2012 behandelte eine Tagung diese spätrömische Goldzirkulation zwischen Schelde und Elbe mit den jüngst entdeckten Goldhortfunden. Gold gehortet in einem Schatz war die Grundlage für Herrschaft, weil es dazu diente, Gefolgsleute zu bezahlen und überhaupt zu repräsentieren. Noch im Mittelalter waren es Schätze, die Könige machten, und der Gewinn des Schatzes aus dem Besitz des Gegners bei einem militärischen Sieg oder der Raub stärkte die Macht des einen und vernichtete Macht und Ansehen des anderen. Die zeitliche Konzentration mancher Schätze mit Gold in anscheinend „rituell organisierten“ Landschaften führt im Übrigen auch zu Deutungen, die weniger mit Sozialstrukturen und Herrschaft zu tun haben, sondern mit „übernatürlichen“ Ereignissen wie Sonnenfinsternissen oder Vulkanausbrüchen mit nachfolgenden Klimaverschlechterungen. Der Vulkanausbruch oder ein vergleichbares Geschehen 536 fällt 1916 Quast 2011c, 121 Abb. 1 Karte und 122 Abb. 2; Pesch 2019a, 26. 1917 Curta 1990; Wiegels 2014; 2015; 2018c, mit Ergänzungen weiterer Lit. 1918 Quast 2011c, 123 Tabelle 1 und Anm. 13. 1919 Daim 2004; Daim et al. 2018. 1920 Ciołek 2010, 378 Abb. Karte.
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nicht mehr in den Rahmen dieses Buches, wird aber mit den späten GoldbrakteatenHorten zusammengebracht.1921 Zuvor gab es Sonnenfinsternisse um 413, zu einer Zeit, als die Goldhörner von Gallehus (vgl. S. 1234) vergraben wurden. Das strahlenden Gold wird mit der Sonne und deren mythischer Kraft, auch als Symbol für Fruchtbarkeit, parallelisiert: Doch sollte eine Kontinuität bis in die Bronzezeit in Skandinavien nicht zu ernst genommen werden.1922 Andere Gründe sollen die Pest 541/544 zur Zeit des Justinian (527–565) gewesen sein. Mit Schatzvergrabung wollte man wohl die Gottheiten besänftigen. Doch wird inzwischen weiter darüber diskutiert, und Karen Høilund Nielsen weist 2015 nun wieder auf die Tradition der Opferung von Gold und Silber in Germanien über die Zeiten hinweg hin. Ein Histogramm zeigt die Zunahme des entdeckten Goldes aus Depots und Schätzen im Verlauf der Römischen Kaiserzeit und der frühen Völkerwanderungszeit in Skandinavien.1923 In der Phase B2 (2. Jahrhundert) waren es schon 2 kg, in C1b (vor Mitte 3. Jahrhundert), 2,2 kg, in C3 über 6 kg (4. Jahrhundert) und in Phase D dann schließlich mehr als 100 kg (5./6. Jahrhundert) (Abb. 50). Die später zu besprechenden Goldbrakteaten (vgl. S. 1206) wurden in dieser Zeit vergraben, und zuvor schon die schweren goldenen Arm- und Halsringe (vgl. S. 557). Die Verfasserin beschreibt in ihrem Beitrag zusätzlich ausführlicher die Opferplätze von Sløttrupgaard und Sparregaard in Farsø mit Goldhalsringen sowie vom Tømmerby, Kirchspiel Them, mit einer 50 cm hohen Statue eines Kaisers als Sol invictus, eine Kupferlegierung des 4. Jahrhunderts aus Byzanz. Zum ebenfalls später noch anzusprechenden sogenannten Tierstil I von der Mitte des 5. bis ins frühe 6. Jahrhundert – zeitlich parallel zu den Goldbrakteaten – wird von Teilen der Forschung angenommen, das sich dahinter auch die Kosmologie jener Zeit verbirgt, die – nicht immer nachzuvollziehen – auch Kontinuitäten bis ins Mittelalter aufweisen würde. Tiere und Menschen(köpfe) finden sich auf Goldbrakteaten der Gruppen B und D. Eine Aufreihung der Katastrophen von 393 (Sonnenfinsternis) bis 536 bietet also den Hintergrund für wiederholte Opferphasen, mit denen die reichen Hortfunde eine Erklärung finden könnten. Die Verbindung der Hortsitte in Germanien bzw. im südlichen Skandinavien mit Endzeiterwartungen im christlichen oströmischen Reich zu parallelisieren kann nur als eine vorläufige These angesehen werden. Doch genügt es anzunehmen, dass die Naturkatastrophe 536 nicht der erste Grund für die Goldopferungen gewesen sein kann; denn diese setzten deutlich früher ein. Doch ist zu bemerken, dass die Epoche der üppigen Goldhorte – man spricht vom Goldzeitalter während der Römischen Kaiserzeit und der frühen Völkerwanderungszeit – im 6. Jahrhundert endete, weil der Zustrom aus dem Süden, dem römisch-byzantinischen Reich aufgehört hätte. Es wird jedoch andere Gründe gegeben haben; denn wenn die schriftliche Überlieferung
1921 Axboe 1999c; 2001a, b, c; Näsman 2012; Gräslund 2012; Heizmann 2019, 311 f., 315. 1922 Heizmann 2019, 311 f. 1923 Høilund Nielsen 2015a, 25 Fig. 2.
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Abb. 50: Histogramm der Menge an Goldschätzen vom 2. bis ins 5./6. Jahrhundert.
überprüft wird, hat es an Gold nicht gefehlt, und das Münzwesen der Merowingerzeit beruhte nur auf Goldmünzen. Das Katastrophenjahr mit dem gewaltigen Vulkanausbruch 536 wird also nicht als Ursache für die Vergrabung von Goldschätzen im germanischen Norden akzeptiert, was einige Archäologen zeitweilig gemeint haben. Es gibt zwar die oben schon angesprochene Zunahme an Goldschätzen, sie setzen aber früher ein und nehmen dann kontinuierlich zu. J. Moreland meint ebenfalls, dass die Archäologen das Datum 536 fälschlich zu Erklärungen heranziehen.1924 Stattdessen hätte K. Randsborg schon 1991 eher als einen Grund für die Schätze den Übergang von der Völkerwanderungszur Merowingerzeit vermutet, mit den gravierenden gesellschaftlichen Veränderungen. Wenn die Graphik von 500 bis 700 mit Blick auf das Klima und die historischen Ereignisse betrachtet wird, dann hebt sich das Datum des Vulkanausbruchs eben nicht heraus. 1924 Moreland 2018, 95 Fig. 1.
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Wie dem auch sei, berechtigt ist die Frage nach den Gründen, warum derartig viel Reichtum dem gesellschaftlichen Nutzen entzogen wurde. Facettenreich sind die Erklärungsversuche, aber keiner kann überzeugen. Das ist – wenn in die Ur- und Frühgeschichte geblickt wird – nicht einmalig, sondern es gab mehrere Epochen mit massenweisen Vergrabungen von Schätzen. Während der frühen bis späten Bronzezeit, der Urnenfelderzeit, sind genormte Gerätschaften wie Äxte, Spangenbarren1925 und Ringe, in außerordentlichen hohen Zahlen vergraben, archäologisch entdeckt und dokumentiert worden, ohne dass bisher eindeutig Gründe dafür genannt werden können; neben Händler- und Handwerkerdepots (aber warum dann so viele) werden kultische Gründe vermutet (aber welcher Art; denn der Hinweis „kultisch“ ist recht abstrakt); und wiederum hat es wohl beachtlich mehr Horte gegeben, über die von der Forschung in der Gegenwart geborgenen Zahlen hinaus. Man muß fragen: was haben im Übrigen die Menschen in all den Epochen nach der Bronzezeit wohl auch schon an Horten und Schätzen wiedergefunden und dann das Material weiterverwendet. Die zahlreichen Hacksilber- und Silbermünzenschätze der Wikingerzeit im skandinavischen Norden und im Siedlungsraum der Slawen südlich der Ostsee stellen ebensolche Rätsel dar, denn der Hinweis auf eine bestimmte Währungssituation reicht nicht aus, wenn das Vermögen vergraben wird. Die Erklärung für die vielen Schatzfunde bietet die Statistik. Zu den bisher entdeckten Horten und ihrem Inhalt ist als Ausgang eine wesentlich höhere Zahl einst verborgener Schätze zu zählen, vielleicht bis zum Hundertfachen. Davon wurden viele nicht wieder gehoben, weil die Umstände das mit sich brachten: Tod oder Wegzug des Besitzers des Hortes. Die Opfergabe kommt in Frage, aber sicherlich nicht als Hauptgrund für die Horte, die in der Erde blieben. Statistik in der Gegenwart bestätigt das; denn in jeder Bank gibt es seit Jahrzehnten vergessene Safes mit Inhalt an Gold und Schmuck. In Abständen werden diese Tresore geöffnet und der Inhalt registriert. Was heute geschieht, geschah auch in früheren Jahrhunderten. Außerdem sollte noch berücksichtigt werden, dass in den bald 2000 Jahren seit der Epoche in Germanien Goldschätze wie auch Horte der Bronzezeit zufällig gefunden und der Inhalt dann eingeschmolzen weiterverwendet worden ist. Ergebnis dieser Überlegungen ist, dass der gegenwärtige Bestand an Goldhorten aus den ersten Jahrhunderten n. Chr. gewissermaßen ein normales Bild bietet. Eine gute Übersicht über die Schätze auch den ersten Jahrhunderten n. Chr. für ganz Europa bietet die Publikation des Schatzfundes von Staffordshire, Mercia (mit mehr als 5 kg Gold, vgl. S. 560).1926 Eine weitere Zusammenstellung kombiniert in
1925 Krause u. a. 2018, 167–169, fast 800 Barren mit einem Gesamtgewicht von 82 kg Bronze, datiert um 1650/1600 v. Chr. 1926 Stafforshire 2019, 334 Fig. 9. Darin M. Hardt zu 32 Schätzen von Berthouville über Kaiseraugst, Großbodungen und Hildesheim bis Pietroassa.
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zwei Karten die Heeresausrüstungsopfer mit den großen Goldhorten in Skandinavien, von Broholm bis Timboholm und Tureholm und den Goldhalskragen (vgl. S. 514) mit den Zentralorten von Gudme und Sorte Muld bis Helgö (vgl. S. 347 ff., S. 360 ff.).1927
9.2 Schatzfunde – ein Auswahlkatalog 9.2.1 Große Schatz- bzw. Depotfunde Um das Volumen der Waren ahnen zu können, die aus dem Römischen Reich nach Germanien flossen, ist ein Blick auf die großen Schatz- und Sachkomplexe sinnvoll. Es geht jetzt nicht um die Mengen an vergrabenem Gold, sondern um Sachgüter an sich. Erst dadurch gewinnt man eine Vorstellung von den Größenordnungen, unabhängig von den vielen kartierten einzelnen Funden und Befunden. Im Folgenden geht es besonders um große Silbermengen. Obwohl die vergrabene Menge an Gold beeindruckend wirkt und die Frage nicht befriedigend zu beantworten ist, warum so viel wertvolle Güter auf Dauer der realen Lebenswelt entzogen wurden, sollte man sich bewusst machen, dass im Vergleich zu den Goldmengen in der schriftlichen Überlieferung, den Königsschätzen, die Menge doch noch überschaubar ist. Das trifft auch noch zu, wenn man von meiner These ausgeht, dass wir bisher nur wenige Prozent des tatsächlich einst Vergrabenen entdeckt bzw. dokumentiert haben. Denn sicherlich sind in früheren Jahrhunderten seit der Zeit um und nach Chr. immer wieder einmal Schätze entdeckt und eingeschmolzen worden. Die geborgenen Goldobjekte der Schätze sind selbst auch schon aus eingeschmolzenem, recyceltem Gold hergestellt worden.1928 Trotzdem muss gefragt werden, wem das Gold denn eigentlich gehört hat, der es zur Vergrabung freigeben konnte, einzelnen Personen oder einer Gruppe? Zu den Thesen, warum Gold und Silber vergraben und nicht wieder gehoben wurden, gehört eine rituelle, tabuisierte Beerdigung, eine eigene Ausstattung fürs Jenseits, so in Edda-Texten überliefert,1929 oder profan der Schutz vor Raub und Diebstahl, gewissermaßen die Erde als Funktion eines Tresors, das Vergessen des Vergrabungsortes durch den Tod der Besitzer. Die Tresoraufgabe wird auch dadurch bestätigt, dass Schätze oft über längere Zeit zusammengesammelt, ihnen Teile entnommen und andere wieder hinzugefügt worden sind; und am Schluss konnten sie dann doch nicht mehr gehoben werden. Das trifft z. B. auch für den Schatz von Hoby auf Fünen zu, der aus nach und nach gesammelten Stücken besteht, ehe er um 100 n. Chr. vergraben wurde.1930
1927 Staffordshire 2019, 345 fig. 9,14, i und ii (Sv. Fischer). 1928 Pesch 2019, 15. 1929 Snorri, Heimskringla, Ynglinga saga Kap. 8 (Pesch 2019a, 29 Anm. 47). 1930 Pesch 2019a, 16.
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Der große Kessel von Gundestrup aus Dänemark, ein Import aus Südfrankreich oder aus dem thrakischen Gebiet, wiegt allein fast 9 kg Silber.1931 Im Norden wird er während der vorrömischen Eisenzeit nicht hergestellt worden sein, obgleich es dort mehrere Kessel gegeben hat und mancherlei Einfluss aus „keltischem“ Milieu zu spüren ist, auch bei den genannten Wagen von Dejbjerg (vgl. S. 91), an denen ein Teil der Ornamentik trotz des fremden Vorbilds in Jütland gefertigt sein soll. Im englischen Snettisham (vgl. auch S. 523 und 616),1932 entdeckt zuerst 1948, enthalten die vergrabenen Depots zusammen 30 kg Metall, Gold, Silber und Bronze, darunter immerhin 20 kg Edelmetall. Neue Ausgrabungen fanden 1990 bis 1992 statt, bei denen zu den ersten vier Horten weitere fünf gefunden wurden, mit Hilfe des Metalldetektors. Zuvor war ein Hort gestohlen worden, zu dem in einem Silbergefäß 6000 Silber- und Goldmünzen lagen. 1992 wurde außerdem ein Umfassungsgraben entdeckt, der das ganze Areal trapezförmig eingeschlossen und damit ein Heiligtum gebildet hat. Der Graben war anscheinend noch offen in römischer Zeit, und es konnte bisher nicht datiert werden, wann er erstmals eingetieft worden ist. Die zahlreichen Horte mit Torques oder Depots mit Fragmenten wurden sorgfältig dokumentiert und publiziert. In Hort F lagen immerhin 600 Artefakte. Manche Horte enthielten Münzen von der Mitte 2. Jahrhunderts v. Chr. bis gegen 60 v. Chr. Der Hort M konnte mit der C14-Methode datiert werden, und zwar in die Zeit von 1–130 n. Chr. Manche Torques waren schon 50 bis 100 Jahre alt, als sie vergraben wurden, und zeigen viele Tragespuren. Insgesamt sind 60 komplette Torques, 158 fragmentierte Halsringe in diesem Heiligtum in Schächten vergraben, d. h. wohl „geopfert“, worden. In ganz Groß Britannien sind nicht mehr als 50 weitere Torques bekannt, in Europa etwa 275. Der Platz war ein Heiligtum, ein heiliger Hain, dessen Graben erst ab 100 n. Chr. verschlammte. Aber die Torques waren tabuisiert, waren aus dem Verkehr gezogen und blieben als Depots vergraben. Ian Stead geht von einem Stammesschatz aus. Noch im 4. Jahrhundert ist ein Hortfund wie der von Kaiseraugst bei Basel,1961/62 entdeckt und 1995 mit Ergänzungen späterer Bergungen (aus Privatbesitz) vergrößert, mit insgesamt 270 Objekten von 58 kg Gewicht, meist silbernes Tafelgeschirr, unverhältnismäßig umfangreicher als alles gleichartige überlieferte Fundmaterial sonst in Germanien zusammen, das als Beigabe in Gräbern entdeckt wurde.1933 Silberschätze gibt es auch in fast allen zentralen römischen Orten, so auch in Trier.1934 Um 420 wurde die Trierer Münze zeitweilig wieder in Betrieb genommen, in Trier gestempelte Silberbarren gibt es aus dem zweiten Viertel des 5. Jahrhunderts. Auch Bleigewinnung in der Eifel ist wieder aufgenommen worden, und in der Notitia dignitatum (eine Fassung auch um 420 zu datieren) steht Trier in der Liste der in
1931 Steuer 2004c, 602. 1932 Stead 2005; Joy 2015,19 Plan der Einhegung mit den neun Niederlegungen. 1933 Cahn, Kaufmann-Heinimann (Red.) 1984; Guggisberg (Hrsg.) 2003; Martin 1977. 1934 Kaufmann-Heinimann, Martin (+) 2017 (2018).
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Gallien gelegenen Waffenfabriken an erster Stelle. Im Beitrag geht es aber eigentlich um einen 1628 gefundenen großen Hortfund mit Tafelsilber. Ein ebenfalls großer Schatzfund, entdeckt 1942/43, von Mildenhall in Suffolk aus dem 4. Jahrhundert enthielt 34 Objekte von römischen Tafelservicen, von großen Platten bis zu Löffeln, reich dekoriert mit bacchischen Szenen.1935 Hier interessiert weniger der künstlerische und allgemein der kulturgeschichtliche Wert, sondern schlicht die Materialmenge. Das Gewicht der Schüsseln beträgt 1718 g, zwischen 1271 und 1320 g; und eine große Platte wiegt 5023 g und allein die Neptun-Platte mit 60,5 cm Durchmesser sogar 8256 g; der gesamte Schatz umfasst deutlich über 20 kg Silber. Der Hacksilberfund von Traprain Law,1936 nahe Edinburgh, Schottland, 1919 gefunden, aus dem 4. oder dem frühen 5. Jahrhundert, enthielt nur noch wenige vollständige Gefäße; die zerteilten 240 Fragmente aus Silber gehörten zu 160 Objekten, waren als Hacksilber noch komplett vorhanden, außerdem als zusammengefaltete Bleche zum Einschmelzen und Weiterverarbeiten gedacht, sofern man Hacksilber in dieser Zeit nicht auch schon anstatt von fehlenden Münzen als Gewichtsgeld abgewogen hat, während die mit Gewichtsangabe gekennzeichneten Barren ohne zu wiegen den Besitzer wechseln konnten. Es geht auch um den Gebrauch von Silber nach dem Ende des Römischen Reichs auf den Britischen Inseln. Der Schatzfund von Norrie’s Law, seit 1819 bekannt, aber von den 12 kg Silber sind nur ca. 750 g. geblieben, wird regelmäßig mit dem Schatz von Traprain Law verglichen. Ein weiterer zu erwähnender Silberschatzfund des 5. Jahrhundert stammt von Corelaine in Nord Irland, gefunden 1854, datiert durch die einst über 1500 Münzen in die Jahre 407/408.1937 Der Schatz aus einem Merkurtempel von Berthouville, Dept. Eure, Normandie, von 1830 enthielt eine ungeheure Menge an Sachen, um die 93 Objekte. Dazu gehören Kannen, Schalen und reliefierte Becher des 1. Jahrhunderts n. Chr. und außerdem zwei großen Silberstatuetten des Merkur, die eine 56,3 cm (datiert 150–225) und die andere 40,5 cm hoch. Unter den Objekten ist auch ein Skyphos mit Centauren, der allein 1,6 kg Silber wiegt, 11,4 cm hoch ist und 15 cm im Durchmesser beträgt. Der Schatz mit den vielen Gefäßen und Figuren wiegt insgesamt 27,3 kg. Er ist neu bearbeitet und in Arles ausgestellt. Geopfert war er wohl für den Gott Merkur, dem Gott des Handels, denn er war bei einem Heiligtum, einem gallorömischen Tempel von Canetonum bei Lisieux vergraben worden.1938 22 Objekte tragen sogar die Weiheinschrift für Mercurius.1939
1935 Painter 1977; Johns 2002; Hobbs 2012; 2016.; Marzinzik 2017, 56 Fig. 2. 1936 Hunter 2006; Painter 2013; Hunter, Painter 2013; Niermeyer 2018, 98 f. Abb. 86: Der gesamte Schatz. 1937 Marzinzik 2017, 55 Fig. 1. 1938 Lapatin (Hrsg.) 2017; Chevallier 2017. 1939 Künzl u. a. 1998, 31. 35.
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Der Schatz von Lyon-Vaise, Dept. Rhône, entdeckt 1930, datiert ins 3. Jahrhundert, enthält neben Goldschmuck ebenfalls Statuetten aus Silber, die 23, 27,5 und 18,7 cm hoch sind und jeweils ein beachtliches Gewicht haben.1940 Nun erwähne ich noch den neuen Schatzfund der Spätantike von Vinkovci bei Zagreb.1941 Er wurde 2012 gefunden und enthielt 48 Silbersachen und Halbedelsteine, insgesamt von 38 kg Gewicht. Darunter sind drei große Platten, weiterhin Krüge, Flaschen, Trinkgefäße, Löffel, ein Sieb und ein Kandelaber. Ein geschriebener Name Antoninus aus Aquileia datiert den Komplex in die Mitte des 4. Jahrhundert, weshalb er vielleicht nach der Schlacht bei Adrianopel 378 vergraben worden ist. Bedeutend ist auch der Schatz von Seuso, dessen wirklicher Fundort unbekannt ist; vielleicht ist er am Plattensee in Ungarn gefunden worden. Der Seuso-Schatz1942 besteht aus 14 spätrömischen Silbergegenständen in einem großen Kupferkessel (83 cm Durchmesser, 32,5 cm Höhe). Die Objekte wiegen zusammen etwa 68,5 kg, was – wie im Ausstellungskatalog nachzulesen ist – 4,57 kg Gold entspricht, also rund 1020 Solidi. (Im Beitrag wird erfreulich berichtet: Ein normaler Beamter verdiente jährlich 9 Solidi, was dem Jahressold eines Reitersoldaten gleich war, während das Spitzengehalt eines Beamten 46 Solidi betrug und Großgrundbesitzer jährliche Einnahmen von 1500 bis 2000 Solidi hatten; die reichsten Senatoren hatten Jahreseinkommen bis zu 288 000 Solidi.) Zum Schatz gehören vier große Teller oder besser Platten mit Bildern in der Mitte und Inschriften in Niello, fünf Kannen, zwei kleine Eimer, eine Schale, ein Grillo, ein Kästchen. Insgesamt ist der Komplex vergleichbar mit dem Schatzfund von Kaiseraugst und wird in die zweite Hälfte des 4. bzw. in die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts datiert. Der Buntmetallkessel ist aufgrund seiner Herstellungsweise ins 3. Jahrhundert zu datieren und ist dann weiter im 4. Jahrhundert oder später verwendet worden.1943 Nach den Inschriften gab es mindestens drei Besitzer (mit Namen Seuso/Sevso, Syrianus und Syrikanos). Der Fundort ist also fraglich; er lag wahrscheinlich in der römischen Provinz Pannonien, am Plattensee, wofür u. a. ein Ortsname Szabadbattyán spricht, wo das größte römische Einzelgebäude in Ungarn entdeckt worden ist. Erste Stücke tauchten 1980 auf, 2014 und 2017 gelangten die Stücke nach Ungarn, wo der Schatz 2017 in Budapest ausgestellt wurde. Beachtlich sind die Maße und Gewichte der Teller: Die Platte mit geometrischer Verzierung misst 64 cm im Durchmesser und wiegt ca. 7 kg; die Achilles-Platte mit 72 cm Durchmesser wiegt 11,9 kg; die Meleagros-Platte mit 69,4 cm Durchmesser wiegt 8,6 kg; die Dionysische Kanne ist 43 cm hoch und wiegt 3 kg; eine Amphore mit 38,5 cm Höhe wiegt 2,5 kg, eine weitere Kanne mit Tierfiguren, die etwa 4 Liter fasst, ist 51 cm hoch und wiegt ca. 4 kg. Zwei gleich große Kannen, die geometrisch verziert sind, wiegen bei einer Höhe von ca. 70 cm etwa 2,6 bzw. 2,8 kg. 1940 Lapatin 2017; Niemeyer 2018, 62 Abb. 51 (Berthouville) und 61 Abb. 50 (Lyon-Vaise), 66 Abb. 56. 1941 Vrkič, Skelac 2016 (2017), 163 Abb. 9 Gesamtfoto der Silbersachen. 1942 Dági, Mráv 2018; Mango 1990; 1994; Visy, Mráv (Hrsg.) 2012; Niemeyer 2018, 82. 1943 St. Bender 1992, 322.
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Derartige Sachgüter sind in Siedlungen natürlich nicht zu finden. Die beiden großen Flussfunde in alten Rheinschleifen aus dem letzten Drittel des 3. Jahrhunderts von Hagenbach (entdeckt 1961–1973) mit 346 Gegenständen (darunter 25 Schmuckstücke aus Silber, 8 Silbergefäße, 41 Bronzegefäße)1944 und Neupotz1945 (entdeckt 1967 bis 1997) und als Baggerfund nach und nach zusammengekommen mit immerhin über 760 kg Metall (ca. 498 kg Eisen, 197 kg Kupferlegierungen und 11,6 kg Silber und Zinn), etwa 1100 Sachen, enthalten ebenfalls derartig viel Edelmetall wie Silber sowie Bronzegefäße und Eisengeräte, dass ihre Zahl ausreichen würde, gleichmäßig verteilt ein neues Fundbild im gesamten Germanien zu konstruieren.1946 Nebenbei bemerkt weise ich auf die parallel dazu bekannten Horte mit Eisengerätschaften hin, wie sie auf römischem Boden gefunden wurden und ebenfalls als Alamannenbeute gedeutet werden: ein Hort von Knittelsheim (Kr. Germersheim) mit 30 Wagenbestandteilen aus Eisen, datiert Mitte 4. Jahrhundert, oder der Eimerhortfund von der Saalburg, datiert nach dessen Auflassung um 260 n. Chr., mit Hausgerät, Werkzeugen, Waffen, Wagenbestandteilen und anderen Beschlägen; es ging sichtlich um das kostbare Eisen.1947 Die großen Westlandkessel aus Buntmetall (vgl. S. 468), die in beachtlicher Zahl in Norwegen gefunden worden sind, waren im Römischen Reich Kochgefäße, dienten in Germanien als Graburnen oder als Beigaben in Körpergräbern. Im Flussfund von Neupotz bildeten die Westlandkessel die größte Gruppe des Küchengeschirrs.1948 Die Auswertung des Inhalts dieser großen Flussfunde hat gezeigt, woher das Raubgut stammt, das Germanen bei einem Plünderungszug aus den römischen Provinzen mit über den Rhein ins Innere Germaniens bringen wollten. Eine Kartierung der Einzugsgebiete für die Funde von Neupotz und Hagenbach illustriert die weit ins Innere der gallischen Provinzen reichenden Kriegszüge, datiert in die Zeit des Gallischen Sonderreichs (260 bis 274 n. Chr.) (Abb. 51).1949 Überliefert sind mehrfach Germaneneinfälle1950 im 3. Jahrhundert,1951 die sämtlich hier mit zu berücksichtigen sind. Die 1062 Objekte im Komplex von Neupotz werden durch die Münzreihe datiert, die bis 260 n. Chr. reicht. Der Fund von Hagenbach, gelegen zwischen Karlsruhe und Worms, enthielt außer allerlei Gefäßen und Geräten 1944 Bernhard, Engels, Engels, Petrovsky 1990; Petrowsky 2015b. 1945 Der Barbarenschatz 2015; Bernhard u. a. 1990; 2015a, b; Steuer 1999b; Künzl 2002; Petrovsky 2015b; R. Wolters 2013b, 159 Abb. 5 Foto des Fundkomplexes. 1946 Hanemann 2005, 106 f. Abb. 1 und 2 (Hagenbach: Votivbleche, Edelmetallschmuck). 1947 Hanennann 2005, 108 Abb. 4 (Knittelsheim), 109 Abb. 5 (Eimerhortfund von der Saalburg); 2014: Eisenhorte in der Pfalz aus dem 4. Jahrhundert. 1948 Petrovszky 2009; Bernhard 2015; Petrovszky, Bernhard 2016 zum Typenspektrum. 1949 Moosbauer 2018, 148 Abb. 25; Petrovszky, Bernhard 2016 zu den Plünerungsgebieten und -wege germanischer Gruppen, 248 f, Abb. 4 a, b, c und 5: Hortfunde von Neupotz, Hagenbach, Lingenfeld sowie Otterstadt. 1950 Bernhard 2015a. 1951 Heimberg 2015.
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Abb. 51: Karte zu den Einzugsgebieten der Beute in den Flussfunden von Neupotz und Hagenbach.
auch Votivgaben und Silberbleche, deren Herkunft aus Aquitanien belegt, dass der Beutezug über rund 1000 km geführt hat, was bedeutet, dass für Hin und Zurück immerhin mehr als 2000 km Entfernung durch Märsche überbrückt worden sind. Ähnlich reich an Bronzegefäßen aller Art ist auch der Massenfund von Lingenfeld/Mechtersheim, Rheinland-Pfalz,1952 der ebenfalls aus dem Rhein geborgen
1952 2000 Jahre Varusschlacht Konflikt 2009, 368, Abb. 7.
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worden ist. Der Bestand reicht von einem großen Bronzekessel über Eimer, Schüssel und Schalen bis zu mehrfachen Kessel- und Sieb-Garnituren. Der Schatzfund von Xanten mit einem Silberschälchen, drei Löffeln, Gold- und Silberschmuck enthielt 390 Silberdenare, war insgesamt aber immer noch recht bescheiden. Ein Meisterwerk antiker Silberkunst ist die Schale von Altenwalde, Kr. Cuxhaven.1953 Die vielfältigen Beschläge vom Prunkportal in Ladenburg sind von erheblichem Gewicht an Bronze. Es gibt darunter Büsten, Tierfiguren und Zierbleche, hergestellt wohl in der Mitte des 2. Jahrhunderts. Sie wurden in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts abmontiert und wohl in einer Kiste zusammengepackt, um vor räuberischen Germanen versteckt zu werden oder waren schon von derartigen Banden als Beute zusammengebracht worden.1954 Das Gewicht an Eisen und Kupferlegierung beträgt insgesamt mehr als 80 kg, eine beachtliche Rohstoffmenge. Der Schatz von Großbodungen, Kr. Eichsfeld, 1936 entdeckt, enthält neben 21 Solidi vor allem Reste römischer Silbergefäße und sieben Fragmente einer zerschnittenen Kaiserplatte von einst 26 cm Durchmesser, insgesamt 809 g Hacksilber.1955 Die Münzen datieren den Schatz in die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts. Die zerteilten Silbergefäße zusammen mit den Münzen sind als Zahlungs- und Hortungsmittel zu werten. Der Komplex ist gewissermaßen eine Parallele zu den Schatzfunden mit alten römischen Denaren, die noch im 5. Jahrhundert gesammelt und zur Verfügung standen (vgl. unten S. 576). Was im Römischen Reich kaiserliche Geschenke (largitiones) waren und in die Schätze gelangten, waren in Germanien Ergebnisse von Beutezügen. Im Schatz von Großbodungen lagen die zerschnittenen Teile einer Largitionsschale, die den Kaiser auf dem Thron umgeben von Kriegern zeigt. Es handelt sich dabei um Hacksilber, weil erbeutetes Geschirr unter den Kriegern wohl aufgeteilt und – je nach Zahl der „Teilnehmer“ – dann entsprechend zerschnitten wurde, vor allem im 3. und 4. Jahrhundert. So liegt auch zerschnittenes oder zerhacktes Silbergeschirr, Platte und Becher, im Flussfund von Hagenbach; der Scyphos war übrigens schon eine Antiquität und über 250 Jahre alt. Neue Überlegungen kommen zu der These, dass die großen Schalen wie in Großbodungen nicht erst von räuberischen Germanen zerteilt worden waren, sondern schon im Ausgangsgebiet zerschnitten wurden, um damit zu zahlen. Der Schatz von Szilágysomlyó im heutigen Rumänien (Şimleul Silvaniei) besteht aus zwei sicherlich zusammengehörenden Komplexen, entdeckt 1797 und 1889.1956 Im ersten Schatz lag eine 177,5 cm lange Kette aus Gold mit 52 Anhängern, darunter viele Waffen und Gerätschaften, ein geöster Aureus des Maximinian I. und 13 mit Ösen versehene römische Medaillons (darunter einige barbarische Imitationen), deren jüngste von Gratian (367–383) stammt. Dazu kommen noch mit Almandin verzierte Anhän1953 E. Künzl 1988. 1954 Künzl u. a. 1998, 13. 1955 Grünhagen 1954: Berghaus 1999. 1956 Seipel 1999; Capelle 2005; Spuren des Menschen 2019, 207 Abb. 8.
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ger. Im zweiten Schatz lagen völlig andersartige Sachen, mehrere Prunkfibeln und drei Goldschalen. Das größte Stück ist eine Onyxfibel (eine sogenannte Kaiserfibel) von 17,1 zu 11,4 cm Abmessungen. Dazu gehören weiterhin zwei goldene Scheibenfibeln mit getriebenen Löwenfiguren, zwei Bügelfibeln mit halbrunder Kopfplatte und angesetzten Tierköpfen, wohl wieder Löwen, und zahlreiche weitere große goldene Fibeln. Der Schmuck ist sichtlich für germanische Trägerinnen gefertigt worden, und zwar in einer höchst perfektionierten (römischen) Werkstatt. Die Goldschalen wiegen 184, 344 und 347 g; sie sind am Rand mit dreieckigen Beschlägen besetzt, verziert mit Filigran und Halbedelsteinen. Noch ein schwerer goldener gedrehter Ring gehört zu diesem zweiten Fund, der nach den Abnutzungsspuren in der Hand getragen bzw. gehalten worden war (vgl. dazu unten S. 559). Diese beiden Schätze sind über einen längeren Zeitraum zusammengetragen worden, bis ins 4. und in die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts, zu dieser Zeit ist auch die Kette gefertigt worden. Die Schätze enthielten rund 5,5 kg Gold und 2,5 kg Silber, und ihre Inhalte wirken wie diplomatische Geschenke mit höchsten Statussymbolen. Die germanische Elite, der diese Schätze gehörte, hatte enge Kontakte zur spätrömisch-byzantinischen Welt. Im Vergleich zu den altbekannten Fundkomplexen bietet sich der neue von einem Sondengänger entdeckte Schatz an, der 2013 im ehemaligen Grenzgebiet des Römischen Reichs bei Rülzheim, Kr. Germersheim, in der Südpfalz an der Straße von Mainz nach Straßburg geborgen worden ist.1957 Der Fund besteht nur aus Edelmetallobjekten. Das prächtigste Stück ist eine massive Silberschale mit eingearbeiteter Kaiserfibel im Zentrum und Almandinverzierungen am Rand; der Onyx ist vergleichbar mit denen der Fibel aus dem älteren Fürstengrab von Osztrópataka (vgl. S. 937) und von Szilágysomlyó oder auch mit dem großen Achat, gefunden in der Füllung des Grabes 1135 unter dem Kölner Dom.1958 Weiterhin gehört zum Schatz ein großer Silberteller, zerschnitten in eine Hälfte und zwei Viertel; wiederum handelte es sich um ein Altstück, das wohl schon in der Antike aufgeteilt worden ist; er wiegt 3,1 kg. Außerdem gehören zum Schatz mehrere Silberfigürchen und Beschläge von einem Klappstuhl, einem herrschaftlichen Reisestuhl, und eine Menge von 84 Goldapplikationen für ein Prunkgewand, sowie noch einige Frauenstatuetten (vom mit Silber ummantelten Gestell des Klappstuhls). Der Schatz wird in die Mitte des 5. Jahrhunderts datiert und weist hunnisch-ostgermanische Komponenten in den Applikationen auf, im Übrigen auch allgemein zum römischen Kulturkreis. Auch mit Beigaben in den Elitegräbern von Wolfsheim und Alt-Lußheim sowie von Mudolfsheim und Hochfelden in diesem geographischen Raum bietet sich der Vergleich an.1959 Ob der Schatz einst in einer 1957 Himmelmann 2015; Himmelmann, Petrovszky 2017; Prien 2017, 204 f. Abb. 84 a, b, c Figuren vom Klappstuhl, Goldappliken und Silberschale mit Mittelmedaillon; Krausse, Scheschkewitz 2018, 199–201 mit Abb. 10 bis 12; neu Himmelmann, Petrovszky 2028 (2019) zum Klappstuhl. 1958 Hauser 1982, 54 f. mit Abb. 2 un 3 (rund und 3 cm im Durchmesser). 1959 Prien 2017, 207 ff. Abb. 85 (Wolfsheim), Abb. 86 (Alt-Lußheim Spatha), Abb. 87 (Mudolfsheim Sattelbeschläge); Abb. 88 (Hochfelden).
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Holzkiste vergraben wurde oder doch einer Grabstätte zuzuordnen war, ist nicht mehr zu klären. Die Deutung denkt an Totenopfer und betrachtet die Zerstörung der Sachen als einen Schutz vor Räubern. Als Vergleich werden die Schalen von Mildenhall und im Schatz von Szilágysomlyó gesehen.1960 Der Ansicht kann man zustimmen, dass die Zerschneidung der Schale, wie schon 1954 Wilhelm Grünhagen für Großbodungen vermutet hat, schon auf provinzialrömischem Gebiet und dann durch „Römer“ erfolgt war und nicht erst durch Germanen, was durchaus bei anderen Funden belegt ist. B. Niemeyer erläutert diesen Befund anhand der Komplexe von Neupotz im Vergleich mit Rülzheim, denn in diesen Schätzen seien die Teile der zerschnittenen Platten noch beisammen und nicht auf mehrere Leute verteilt worden.1961 Der Schatz wird als Besitz einer Adligen angesehen, wegen des teils vergoldeten, mit Silberblech überzogenen Klappstuhls, vielleicht gar aus dem Umkreis des Hunnenherrschers Attila, also aus hunnisch-ostgermanischem Kontext des Karpatenbeckens. Der silberne Klappstuhl stammt aus einer römischen Werkstatt, datiert ins 4. Jahrhundert. Die Silbermenge aus dem Hildesheimer Silberfund des frühen 1. Jahrhunderts n. Chr. (zwischen 9 und 70 n. Chr. vergraben), entdeckt 1868, ist mit 54 kg nach Gewicht größer als alle sonstigen in Germanien aus dieser Epoche bekannten silbernen Schmucksachen und Gefäße zusammen.1962 Es handelt sich um griechisches und römisches Tafelgeschirr augusteischer Zeit. Die 77 Gefäße gehören ausschließlich zum Tafelgeschirr sowie zu Dreifuss-Tischchen; sie bestehen alle aus Silber, das teils vergoldet ist. Er wird nach unterschiedlichen früheren Versuchen der Datierung nun doch in die Zeit der Germanenkriege 12–16 n. Chr. gesetzt (vgl. unten S. 996).1963 Der Schatz wurde in moderner Zeit vielfach kopiert und an Bürger verkauft: „Vom Römerschatz zum Bürgerstolz“,1964 so erinnerte 1997 eine Ausstellung in Hildesheim. In der Jubiläumsschrift von 2018 zu „Römische Silberschätze – 150 Jahre Hildesheimer Silberschatz“1965 hat Barbara Niemeyer eine neue Gesamtübersicht geboten, worin sie andere Funde in Germanien berücksichtigt hat. Sie datiert den Schatz ins frühe 1. Jahrhundert n. Chr. und ist eine ausgewiesene Kennerin der Herstellungstechniken; und so blickt sie nicht nur als Archäologin, sondern auch als Edelmetallschmiedin auf die Objekte. Die Werkzeugspuren sagen aufgrund ihrer trassologischen Untersuchungen, dass zahlreiche Gefäße aus derselben Werkstatt stammen.1966 Vier Gefäße weisen Besitzerinschriften auf; ein L. Mal. Boccus war in Cordoba bekannt, ein Offizier, der in den Legionen am Rhein gedient hat. Regelmäßig weist sie darauf
1960 Precht 2014; v. Berg, Himmelmann, Schultz, Zeeb-Lanz 2014. 1961 Grünhagen 1954; Niemeyer 2018, 97 f. 1962 S. Künzl 1997a; Steuer 2004c, 603; Bursche 2008a, b; Stupperich 2014. 1963 Niemeyer 2018, 37. 1964 Boetzkes, Stein (Hrsg.) 1997. 1965 Niemeyer 2018. 1966 Niemeyer 2004b.
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hin, dass in den Schatzfunden und Elitegräbern mehrfach Silbergefäße als Altstücke beigestellt worden sind, aus längerem Umlauf und aus Familienbesitz, noch im Römischen Reich so behandelt oder erst in Germanien. Sogar die Athena-Schale aus dem Hildesheimer Fund ist umgearbeitet, und das Bildnis der Göttin hat in der Zeit des Augustus eine neue Fassung aus Silber bekommen. Im Jahr 2018 hat M. C. Blaich nach 150 Jahren ebenfalls den Hildesheimer Schatz erneut betrachtet und sich auf B. Niemeyer bezogen.1967 Die Gefäße waren oft nicht paarig, wie es im Römischen üblich gewesen wäre, was ihn dazu veranlasst hat zu vermuten, dass der Schatz zuvor aufgeteilt worden sein wird. Die Datierung kurz nach Chr. Geb., wie auch B. Niemeyer meint, bringt den Schatz mit den Feldzügen des Germanicus in den Jahren 12 bis 16 n. Chr. zusammen, mit einer Zeit, in der auch das Lager bei Wilkenburg errichtet worden ist (vgl. S. 1001). Eine Tabelle bringt die Zusammensetzung von großen frührömischen Silberservice aus Boscoreale, Pompeji und Hildesheim; man erkennt die unvollständigen Serviceteile. Eine zeitgleiche nur wenige hundert Meter entfernte Siedlung und auch der Fund einer Merkurstatuette passen zur Vergrabung des Schatzes 14–16 n. Chr.1968 Zeitlich ist das also zu verbinden mit dem Marschlager von Wilkenburg, das von 12 v. Chr. bis 9 n. Chr. einzuordnen ist. Die Datierung des immensum bellum von 1 bis 5 n. Chr. unter Germanicus passt zum Lager, das übrigens in einer dicht besiedelten Gegend angelegt worden war, um sich aus dem Umland versorgen zu können. Oder eine andere Überlegung von M. C. Blaich bringt den Hildesheimer Silberfund direkt mit den Zügen des Tiberius 1–5 n. Chr. zusammen. Ein Beispiel aus anderer Gegend sei noch angefügt: Ein Hort, gefunden nahe Borochice, Ukraine, gefunden 1928, barg einen Silberschatz, zwei Silbergefäße von 3000 bis 9000 g Gewicht und außerdem 1685 Denare von 10 kg Gewicht, Münzen bis Septimius Severus (193–211) und weitere Stücke bis 363 (Julian Apostata oder Iovianus). Die Mengen und Gewichtsangaben der großen Schatzansammlungen relativieren – wie gesagt – die Bewertung der vereinzelten Silberfunde in Germanien. Unabhängig von den Gewichten, die in den antiken Quellen genannt werden, genügt der Blick auf die Realitäten. Im Fundkomplex aus dem Haus des Menander in Pompeji (gefunden 1930) wiegt das 118teilige Service 23,5 kg und das in der Villa rustica von Boscoreale (gefunden 1895)1969 30 kg Silber bei 109 Objekten. Aber immerhin ist der Hildesheimer Fund mit ungefähr 54 kg Silber der schwerste Schatz des 1. Jahrhunderts n. Chr., der zudem nach den Gewichtsinschriften insgesamt – wenn alle Stücke beieinander wären – sogar 80 kg gewogen haben muss, wovon eben doch Teile nicht erhalten geblieben oder ins Museum gekommen sind. An das Schicksal des großen
1967 Blaich 2018b, 110, Abb. 4 Tabelle. 1968 Blaich 2018a. 1969 Niemeyer 2018, 43 Abb. 34.
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Schatzfundes in Kaiseraugst sei erinnert. Im 4. Jahrhundert nehmen die Gefäßgrößen und damit die Gewichte zu; die schwersten großen Platten mit Durchmessern von 70 bis 74 cm wiegen 10 bis 15 kg.1970 Silber stand in Menge zur Verfügung und war auch anscheinend auch erschwinglich. Die Silberbecherpaare in den später zu behandelnden Fürstengräbern (vgl. S. 917) in Germanien sind mehrheitlich römische Trinkbecher.1971 Sie kommen in zwei Formen vor, als cantharus mit ohrenförmigen Griffen und als scyphus mit waagerecht am Rand ansetzenden Griffen, aber es gibt auch grifflose Becherpaare. Es heißt, die germanische Elite habe römische Ess- und Trinksitten übernommen, im alltäglichen Leben und bei den Bestattungsfeierlichkeiten; wozu auch die entsprechenden Service aus Silber und Bronze in den Gräbern gestanden haben – aber sie wurden doch oftmals durch einheimische Behältnisse wie mit Bronzezierblechen beschlagene Holzeimer und Keramikgefäße ergänzt. Eine Tabelle über römische Zweier-, Dreier- und Vierersätze an Silbergefäßen zeigt die üppige Anzahl und erlaubt den Vergleich mit der eingeschränkten Ausstattung in den Elitegräbern Germaniens.1972 Eine zweite tabellarische Zusammenstellung von Barbara Niemeyer bringt die zwei- und dreiteiligen Gedecke des 3. Jahrhunderts in Fürstengräbern Germaniens: Emersleben, Hågerup, Leuna Grab 3, Sakrau Grab 3, Haßleben Grab 8, Mušov, Osztrópataka und Straže Grab 2 (zu den Elitegräber vgl. unten S. 929) und in den Schatzfunden in Germanien, in Xanten, Hagenbach und Neupotz.1973 Silber ist außerdem in Gestalt von römischen Votivblechen in Germanien überliefert, und diese wurden ebenfalls als Raubgut gehortet, um weiterverarbeitet zu werden. 600 sind insgesamt bekannt, viele lagen im Schatz von Hagenbach (mit 129 Stücken und vermutlich mit Plünderungen in den Jahren 275–277 in Gallien zu verbinden) und im provinzialrömischen Weißenburg (vermutlich mit Alamanneneinfällen 232/233 im Zusammenhang zu sehen und damals vergraben).1974 In Weißenburg wurden 1979, bei den Thermen, mehr als 100 Gegenstände, aus Bronze, Silber und Eisen gefunden, darunter 18 Götterstatuetten, 11 Votivbleche, 1 Klappstuhl, 3 Gesichtsmasken und ein Hinterhauptshelm.1975 Im römischen Lauriacum (Enns-Lorsch) sind Schätze wie in Weißenburg (vgl. S. 643) oder Kaiseraugst vergraben worden. Ein Silbergeschirrdepot wurde 1981 entdeckt mit einem Bildbecher (307,48 g), datiert ins 3. Jahrhundert n. Chr., mit
1970 Niemeyer 2018, 9. 1971 Jan Schuster 2016c, 73 Abb. 89. 1972 Niemeyer 2018, 48 f. und dazu Abb. 38: die beiden Silberbecher und das Kasserollenpaar aus dem Fürstengrab von Marwedel. 1973 Niemeyer 2018, 54 f. (aufgeführt ist eine Auswahl aus der Reihe von oben nach unten). 1974 Niemeyer 2018, 67–69. 1975 Kellner; Zahlhaas u. a. 1993; Hüssen 2006, 419; E. Künzl 1996.
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einer Kasserolle, zwei unverzierten Bechern, zwei Tellern, einer rechteckigen Platte und einem Spiegel (insgesamt waren es neun Gefäße). Mehrteilige Silberschätze des 3. Jahrhunderts wurden weiterhin in Manching oder Xanten gefunden.1976 Im Kapitel „Römisches und Indigenes in fürstlichen Gräbern“ widmet sich B. Niemeyer den Silberbechern in Germanien.1977 Nicht nur in den Körpergräbern, sondern auch in Brandgräbern wie denen von Apensen und Profen (vgl. S. 962) wurden zerschmolzene Reste von solchen Silbertrinkbechern gefunden, die also mit auf dem Scheiterhaufen gelegen haben. Wie schon M. Erdrich herausgearbeitet hat, gab es in der Frühphase importierte Silberbecher (Hoby, Lübsow-Sandberg 1/1908, Wichulla), bewertet als diplomatische Geschenke. Die nächste Importwelle gab es dann wieder im 3. Jahrhundert (Haßleben-Leuna, Gommern). In der Zwischenzeit wurden die Silberbecher, weil man sie kannte und schätzte, einheimisch durch Silberschmiede nachgeahmt. Das Becherpaar aus dem Grab von Lubieszewo/LübsowTunnehult 2/1925, heute verschollen, war unter dem Rand mit einem Fischgrätband und Dreieckspunzen verziert. Das einheimisch hergestellte Becherpaar aus dem Grab 2 von Łęg Piekarski ist ebenfalls mit Fischgrätmuster verziert. Bei anderen Bechern sind die Griffe erst in einheimischen Werkstätten in Germanien angesetzt worden. Neben Nachahmungen und Ergänzungen gibt es auch Reparaturen. Im Grabfund von Byrsted in Dänemark sind die zwei scyphoi von einem einheimischen Schmied durch Standringe ergänzt worden. Der umgearbeitete Schildbuckel von Gommern war zuvor eine römische Silberschale, von der die Verzierung noch erkennbar ist. Schließlich werden im 3. Jahrhundert die Silberbecher durch andere Silbergefäße ersetzt, beispielsweise durch Silberplatten und durch Hemmoorer Eimer, die manchmal auch aus Silber hergestellt sind wie im Grab von Gommern, und Silberlöffel kommen nun als Grabbeigabe auf. Die allgemein in der Forschung als Fürsten- oder Elitegräber aus den vier Jahrhunderten n. Chr., die geographisch aber nicht gleichmäßig in Germanien verteilt entdeckt worden sind – der Befund wird später noch näher erläutert (vgl. S. 969) – sind im Wesentlichen über die kostbaren Beigaben definiert, über das Ess- und Trinkgeschirr römischer Herkunft. Dabei geht es einerseits sicherlich um die Nachahmung römischer Sitten, römischen Lebensstils, und andererseits um Statussymbole, die anscheinend dann auch innerhalb der weiträumig verteilten Elite ausgetauscht wurden. Dazu gehören die Paare von Silberbechern, die über diese Paarigkeit fremden Einfluss, eine spezielle römische Trinksitte in der Gemeinschaft, spiegeln, außerdem bemalte Glasbecher und allerlei Typen von Bronzegefäßen. Mehrfach zeigte sich dabei, dass auch Altstücke, tatsächlich Antiquitäten, aufgehoben und irgendwann zu Grabbeigaben wurden. Im Königsgrab von Mušov in Mähren standen zwei große
1976 Niemeyer 2018, 59 Abb. 47 (Manching), 66 Abb. 56 (Xanten). 1977 Niemeyer 2018, 70–74 mit Abb. 61 (Scyphus-Paar aus Lübsow); Abb. 62 (Scyphus aus Łęg Piekarski Grab 2/1936).
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eiserne Feuerböcke keltischen Typs, die am Ende des 2. Jahrhunderts, die Zeit der Grablege, ebenso wie zwei Trinkhörner und einiges des Silbergeschirrs schon über 100 Jahre alt waren. Auch die immer wieder als Norm aus den Elitegräbern geborgenen Silberbecher-Paare sind teilweise schon mehr als eine Generation alt. Daher spricht manches dafür, dass römische Sachgüter nach Germanien nicht kontinuierlich zugeströmt sind, sondern aus bestimmten, wohl auch kriegerischen Anlässen, in einer begrenzten Zeitphase als Beute ins Land kamen und dann über die Jahrzehnte hinweg untereinander ausgetauscht wurden.1978 Auf diese Weise wurden mehrfach schon Altsachen, gewissermaßen Antiquitäten, aus den Hausschätzen der Elite als Beigaben in die Gräber gestellt (vgl. beispielsweise Mušov, S. 925 ff.).
9.2.2 Kleinere Schätze Zu den häufigsten Fundkomplexen in Germanien gehören die Ansammlungen römischer Münzen,1979 die in einem Gefäß oder einem anderen Behälter aus organischem Stoff einst wohl an einem markanten Punkt vergraben worden sind. Es waren oft beachtlich wertvolle Schätze. Eine zweifache Deutungsmöglichkeit bietet sich für die zahlreichen späten Horte römischer Denare in Germanien an – wie später noch näher erläutert (vgl. S. 576) –, die erst im 5. Jahrhundert in der Erde vergraben wurden. Entweder wurden die Münzen des 1./2. Jahrhunderts nur wegen des guten Silbers bis in die späteren Jahrhunderte aufbewahrt, oder aber sie hatten doch eine – bisher nicht recht greifbare – Funktion als Münzgeld im Handel gehabt und wurden erst am Ende zu einem Schatz zusammengefasst. Denn viele der Silbermünzen sind stark abgenutzt, was für vielfältigen Umlauf von Hand zu Hand spricht. Ob das in römischem Umfeld früh geschehen ist oder erst im Laufe von Jahrzehnten in Germanien, bleibt ungeklärt. Auch Komplexe aus Buntmetallmünzen gab es, ebenfalls spät datiert. Waren das nur Metallansammlungen oder doch Ergebnis von Münzgeschäften? Nach der Zurücknahme des Limes an die Rheingrenze um und nach 260 n. Chr. liefen im Vorland weiterhin einfache Münzen um, die für Nutzung als Geld sprechen.1980 In Kalkriese wurde u. a. 1987 ein Denarhort beim Lutterkrug entdeckt, zu dem 161 Denare gehören (etwa 600 g),1981 die versteckte Börse eines Legionärs oder die Opfergabe eines siegreichen Germanen? Es kamen bis dahin auch 44 Kupfermünzen zutage, meist Asse, 7–3 v. Chr. in Lyon geprägt, auch einige mit dem Gegenstempel des Varus. Bis 2009 hatte Frank Berger aus dem Bereich Kalkriese 802 Denare, 751 Kupfer1978 Erdrich 2012. 1979 Die Fundmünzen der römischen Zeit in Deutschland (FRMD), 1960 ff., z. B. Alföldi-Radnoti (Hrsg.) 2003. 1980 Stribrny 1989. 1981 Berger 2009, 142 Abb. 2.
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münzen (plus 13 halbe) und 21 Goldmünzen katalogisiert, die aus größeren Barschaften der Legionäre stammen werden. Geschätzt wird, dass die drei Legionen zur Zeit des Varus von nominell 18 000 Mann „Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende von Münzen bei sich gehabt haben“ müssen. Der intensive Gebrauch von Münzgeld in römischer Zeit spiegelt sich auch darin, dass in den Siedlungen bei Ausgrabungen in den Provinzen regelmäßig größere Mengen an Münzen gefunden werden, die dann aber in den Siedlungen in Germanien nur vereinzelt vorkommen, sofern es sich nicht um Schätze handelt. Inzwischen hat sich die Zahl der Münzen in Kalkriese ständig vergrößert, und außerdem sind ein weiterer Denarhort und ein kleiner Schatz Aurei entdeckt worden (vgl. S. 764). Im Jahr 2019 sind rund 1800 römische Münzen in Kalkriese registriert, 15 Goldmünzen, jeweils 49,5% Silber- und Kupfermünzen, was gewissermaßen dem Soldatengeld entsprach.1982 Von Sievern an der Weser gibt es einen kleinen Hort mit 10 Denaren der Prägungen von Vespasian (Prägungen 69–71) bis Septimius Severus (Prägung 205). Der Schatzfund von Jever von 1850 enthielt immerhin 2500 bis 4500 Silbermünzen, von denen nur wenige noch erhalten sind. Die jüngste Münze wurde unter Septimius Severus 198 n. Chr. geprägt. Die Menge der Münzen entspricht 10 bis 18 Jahresgehältern eines Legionärs.1983 In Laatzen bei Hannover wurde 1967 ein Drehscheibengefäß mit 78 römischen Silbermünzen gefunden.1984 Die 68 Denare enden mit dem Prägedatum des Commodus 192 n. Chr., dabei lagen eine plattierte Münze und immerhin fünf barbarische Nachahmungen nach Vorbildprägungen von 145/175. Vier weitere Silbermünzen sind unter Julian und Constantius II. (337–361) geschlagen und Mitte des 4. Jahrhunderts hinzugelegt worden. Zu beachten ist, dass dieser Ende des 2. Jahrhunderts zusammengestellte Schatz aufbewahrt worden war und um oder nach 360 noch weiter aufgefüllt worden ist. Die Nachahmungen entstanden schon zur Zeit des Augustus in größerer Zahl, zumal Nachahmungen der Münzen späterer Kaiser nicht so häufig sind. Wo diese Nachbildungen entstanden und welche Handwerker diese Münzen geprägt haben, ist noch zu diskutieren. Römische Münzen sind in verschiedenen Wellen in die Gebiete östlich des Rheins gelangt, Denare und Kupfermünzen der römischen Republik und des Augustus, parallel zum Ausgreifen der römischen Legionen in die Germania, dann in einer zweiten Phase in den Jahren von 170 bis 195 n. Chr., nach den Markomannenkriegen, schließlich ein Schatzfundhorizont in spätrömischer Zeit, von 360 bis 410, und endlich spätrömische und frühbyzantinische Goldmünzen (450–560) im Ostseegebiet.
1982 Burmeister 2019, 24. 1983 Erdrich 2009, 163 Abb. 1. 1984 Berger 2001; Saxones 2019, 130 Abb. 3.
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Das Gebiet beiderseits des Hellwegs ist durch mehrere derartige Münzhorte charakterisiert, als Hinweis auf die Nutzung dieser Trasse auch während der Römischen Kaiserzeit. Zwar ist der Name Hellweg erst im frühen Mittelalter überliefert, aber seit dem Neolithikum war er eine stetig genutzter Fernweg.1985 Die Münzreihe von Sunrike, Kr. Höxter, mit 59 antiken Münzen, die zwischen 2003 und 2007 gefunden wurden, besteht aus einigen Denaren, einem Sesterz des 2. Jahrhunderts und vor allem aber aus Bronzemünzen der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts bis Magnentius (350/353) sowie noch einer Kleinbronze des späten 4. Jahrhunderts. Weitere Münzschätze mit größeren Mengen an Kleingeld gibt es in Kamen-Westick, Kr. Unna, in Soest-Ardey, Kr. Soest, in Dortmund-Oespel, in Castrop-Rauxel/Zeche Erin, Kr. Recklinghausen, in Borken-West, Kr. Borken. Ob aber aufgrund dieses Kleingeldes aus Buntmetall schon auf eine Münzgeldwirtschaft im 4. Jahrhundert in diesem Gebiet geschlossen werden darf, also rechts des Rheins, bleibt eine offene Frage. Bronzemünzen, sogenannte Folles waren das Kleingeld des Alltags. Doch seit 340/350 ist ein Abbruch dieses Münzumlaufs zu registrieren. Auf Münzgeldwirtschaft in diesem Gebiet wird jedoch deshalb geschlossen, weil tatsächlich schon zur keltischen Zeit im 1. Jahrhundert v. Chr. hier Münzen im Umlauf waren und auch Münzen während der Okkupationszeit unter Augustus benutzt wurden. d. h. die Bewohner kannten Münzgeld. Doch die Buntmetallmünzen können auch hier nur Rohmaterial zur weiteren Verwendung gewesen sein. Zu diesen Schätzen gehört denn auch der Münzhort von Laatzen (vgl. S. 1122). Eine Parallele zu Laatzen ist ebenso der Fund vom nahegelegenen Lashorst, Kr. Minden, mit 160 Denaren des 2. Jahrhunderts. In Norddeutschland sind insgesamt mehr als 35 derartige Schatzfunde bekannt, sämtlich aus der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts. Sie werden gedeutet als Soldzahlungen in der Zeit des Mark Aurel während der Markomannenkriege. Der Münzschatz von Schwabhausen, Ldkr. Gotha, von 1957 enthielt 29 Denare des 2. und frühen 3. Jahrhunderts. Hier wurden Analysen vorgenommen, und gemessen wurden die Silbergehalte der Münzen aus der Prägestätte Rom von 195 bis 236 dieses und weiterer Schätze. Die Münzen spiegeln die Abnahme von 90 bis 70% Silber um 195 bis zu 60 bis 30 % und weniger um 236.1986 Ein Münzhort in einem Tongefäß mit römischen Denaren von Lausitz, Ldkr. Bad Liebenwerda, entdeckt 1931, enthielt einst 53 Münzen, mit Prägungen zwischen 31 und 155 n. Chr. Die Datierung ins späte 2. Jahrhundert (B2/C1) folgt aus den Münzen, geprägt unter Vespasian (69–79) bis Antoninus Pius (138–161) mit der Schlussmünze von 154/155.1987 Der Hortfund von Jesau bei Kamenz, Ldkr. Bautzen, mit 478 römischen Kupfermünzen, gefunden 1996, wurde Ende des 4. Jahrhunderts vergraben, an
1985 Kötz, Ludowici 2019, 127 ff. 1986 D. Henning, Mecking 2007. 1987 Koch-Heirnichs (Hrsg.) 2017, 277 f. Kat. Nr. 28 mit Abb.
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den Übergang von C3 zu D1, wie die Schlussmünzen 371/372 nahelegen. Die Münzen stammen von Gallienus (253–268) bis Gratianus (367–383) bzw. mit den Schlussmünzen des Valentinian I. und Valens (371/372).1988 74% der Münzen stammen aus Siscia in Pannonien, weitere aus Sirmium und Thessalonicia. Der Münzschatz von Schwepnitz, Ldkr. Bautzen, wurde mit 145 römischen Denaren Ende des 2. Jahrhundert niedergelegt. Dieser Münzhort ist 1985 in zwei Etappen entdeckt worden. Die ersten 56 Münzen wurden 1985 geborgen, bald darauf weitere 65 Stück, und 2006 wurden vom Museum der Westlausitz noch einmal 24 aufgenommen, so dass insgesamt 145 Denare vorliegen. Die ältesten wurden unter Nero (54–68) und die Schlussmünze unter Marc Aurel (163/164) geprägt, vor allem sind es Münzen der Kaiser Vespasian (69–79), Traian (78–117) und Hadrian (117–138). Einige Münzen können verloren gegangen sein. Die Vergrabung erfolgte also spätestens Ende des 2. Jahrhunderts (Phase C1). Vielleicht war es Söldnergeld aus der Zeit Mark Aurels während der Markomannenkriege, so wird vermutet?1989 In diesem Zusammenhang sollte auch der Schatz von Lengerich, Kr. Emsland in Niedersachsen, genannt werden, gefunden 1847 und erstmals 1854 veröffentlicht, der aus unterschiedlichen Anteilen besteht, die jeweils unter einem mächtigen Stein, einem Findling, versteckt waren.1990 Er wird ins 4. Jahrhundert datiert. Unter dem ersten Stein lagen römische Silbermünzen, bedeckt von einer kleinen Bronzeschale, unter dem zweiten Stein lagen goldener Schmuck und Goldmünzen, und unter dem dritten Stein weitere römische Silbermünzen. Wenn der Bericht vom Finder stimmt, dann haben wir es hier sicherlich mit einem mehrfach aufgesuchten Kultplatz zu tun. Der erste Fundkomplex bestand aus mindestens 1147 Denaren (von denen heute nur noch 18 erhalten sind); zum zweiten Fund gehörten zehn Goldmünzen (von denen nur noch ein Stück übrig ist), eine goldene Zwiebelknopffibel, zwei offene Armringe aus Gold und mehrere Fingerringe; verloren ist auch ein goldener Halsschmuck; im dritten Komplex lagen unter einer Silberschale über 70 Silbermünzen, prägefrische Denare des Magnentius und ein Silbermedaillon des Constantius II., bis auf eine Siliqua des Magnentius ebenfalls alles verschollen. Die Schlussmünzen des ersten Fundes datieren bis Septimius Severus 194 n. Chr., die Münzen der beiden anderen Komplexe waren Trierer Argentei der Zeit um 350 n. Chr., die erhaltene Goldmünze des dritten Fundes ist ein 327 n. Chr. geprägter Solidus. Die goldene Zwiebelknopffibel mit Inschrift gehört in die Zeit 370–400 n. Chr. Die Abfolge der Schatzniederlegungen war also jeweils frühestens 194, 327 und 350 n. Chr. Doch geht man heute davon aus, dass alle drei Schätze in den 360er Jahren versteckt worden sind, einst Soldzahlungen oder Geschenke, die ein hochrangiger germanischer Militär verborgen hat, der 1988 Koch-Heinrichs (Hrsg.) 2014, 107 Abb. 31, 159 Nr. 69, 273 f. Kat. Nr. 22 mit Abb. (F.-K-H. Friederike Koch-Heinrichs). 1989 Koch-Heinrichs (Hrsg.) 2014, 79 Abb. 2, 81 Histogramm, 303 Kat. Nr. 50 mit 302 Abb.(F.-K.-H.). 1990 Hässler 2001b; 2003, 78 ff. mit Abb. 25 und 26; Schmauder 1999a; 1999b; J.A.W. Nicolay 2009, 265 Abb. 7.
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unter dem Usurpator Magnentius gekämpft haben könnte und der 353 n. Chr. besiegt worden war. Noch einige Angaben: Der Goldschatz von Lengerich enthielt eine Zwiebelknopffibel mit der eingepunzten Inschrift auf dem Querbalken ROMANVS F(ecit) REMIS (Romanus hat sie gemacht in Reims) oder ROMANV / S F(ecit) P(ondo) (uncias) II M (wohl als Summe scripula) „Romanus stellte [die Fibel]“) her. Das Gewicht beträgt etwa 53 g, was 2 Unzen und 2 Scripula, das wären 56,85 g, entsprechen könnte. Die Armringe wiegen 64,6 und 45,8 g, der Fingerring 17,1 g. Der Schatzfund von Bissendorf-Ellerbeck, Ldkr. Osnabrück, brachte in einer Bronzebüchse 25 Solidi. Die jüngsten stempelfrischen Exemplare wurden in den Jahren 364–367 n. Chr. unter Valentinian I. geprägt. Die Solidi entsprechen einem Legionärssold für 5 bis 6 Jahren.1991 Ein Schatz des 5. Jahrhundert von Lienden-Den Eng, Niederlande, enthielt zusammen 41 Solidi von Valentinian II. (375–392) bis Maiorianus (457–461).1992 Bei der Auswertung wird eine Karte der Goldschätze von 364–394 bis circa 460 beigegeben und ein weiterer Schatz von Echt-Pey mit 12 Solidi und Hacksilber beschrieben.1993 Diese beiden Schatzfunde sind unter anderen Aspekten oben besprochen worden (vgl. S. 234). Jüngst haben Hobbyschatzsucher bei Mönchengladbach-Rheindalen mehr als 1300 antike Münzen am 12. Oktober 2018 gefunden, und zwar Kleingeld, Buntmetallmünzen des 4. und 5. Jahrhunderts. Es sind Münzen des Arcadius (383–408) und Honorius (393–423). Der Schatz, datiert um 400 n. Chr., und eine Merkurstatuette lagen nahe bei einem ebenfalls neu ausgegrabenen Hausgrundriss von 40 m Länge und 10 m Breite. Die Fundstellenleiterin Kerstin Kraus weist darauf hin, dass dieses römische Kleingeld (nur) den Wert von sieben Tageslöhnen eines Landarbeiters gehabt hätte.1994 Der Wechsel vom Gold zum Silber spiegelt sich auch in den späten Schatzfunden; einige wurden oben beschrieben (vgl. S. 531). Mehrere Hacksilberhorte der Spätantike wurden in Dänemark geborgen, gefunden bei Hardenberg (Lolland), Høstentorp und bei Simmersted.1995 Datiert ins 5./6. Jahrhundert fanden sich die darin erkennbaren römischen Sachen ansonsten in keinem anderen Fundkomplex in Dänemark; es sind spätantike Typen. Der Schatz von Hardenberg wurde 1849 ausgepflügt; er enthält Münzen von Constantius II. (337–361), Gratian (367–383), Valens (364–368) oder noch Honorius (393–423). Der Hort von Simmersted wurde 1945 ausgegraben mit Silberblech- und Relieffibeln und wird in die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts datiert. Der Komplex von Høstentorp wurde zu Anfang des 6. Jahrhunderts vergraben. Diese Schätze werden mit den Horten von Traprain oder Großbodungen (vgl. S. 523) verglichen; und sie fallen in Dänemark aus dem Rahmen. Die Silberinhalte müssen 1991 Häßler 2003, 83 f. mit Abb. 27; J. A. W. Nicolay 2009, 266 Abb. 8. 1992 Heeren, Roymans, Bazelmans, de Kort 2017b, 4; auch dieselben 2017a. 1993 Heeren, Roymans, Bazelmans, de Kort 2017b, 8 Karte und Abb. (Schatz von Echt-Pey). 1994 Kraus 2019, 4 mit Abb. 1995 Munksgaard 1955; Steuer 2004c, 604; O. Voss 1954.
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früh schon nach Dänemark gekommen sein und wurden erst später vergraben. Zu beachten ist, dass zu dieser Zeit die zahlreichen Goldhorte des 5. und 6. Jahrhunderts niedergelegt wurden, außerdem die Horte mit den alten Denaren des 5. Jahrhunderts. Waren die Silberhorte auch Votivopfer oder die Sicherung des Reichtums als neues Zahlungsmittel? Unter dem Aspekt „Silber, Rang und Gesellschaft“ veröffentlicht A. Rau vergleichbare Horte mit Hacksilber der spätrömischen Kaiserzeit.1996 Ein solcher Hacksilberhort ist in Gudme-Stenhøjgård 1, Fünen, geborgen worden. Die Verwendung von Silber außerhalb des Römischen Reichs, während der Spätantike und der Völkerwanderungszeit, führte von der Chernjachov-Kultur bis nach Skandinavien mit Blick auf die gewichtigen spätantiken Silbergefäße vom Gold hinweg auf eine neue Ebene der Silberwährung als Zahlungsmittel. Die Münzen kamen seit der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts nach Dänemark. Die Horte von Smørenge und Sorte Muld enthalten neben den Denaren auch einzelne Solidi, die eine Vergrabung erst im späten 5. Jahrhundert bezeugen (vgl. unten S. 576). Außerdem spiegeln auch die Siedlungsfunde diese Spannweite. Das Münzspektrum von Sorte Muld auf Bornholm besteht neben den alten Münzen des 2. und 3. Jahrhunderts aus Prägungen der Kaiser Theodosius II. (408–450), des Valentinian III. (425–455) und des byzantinischen Kaisers Zeno (475–491). Doch gibt es noch einen früheren Münzschatz, nach dem Ginderup-Schatz, der in den 1930er gefunden worden ist, und zwar den Skellerup-Schatz von Ost-Fünen bei Odense und Nyborg ausgegraben auf einer Fläche von 20 auf 30 m. Darin lagen 28 Sachen, davon 20 Denare. Der Fund ist aufgrund der Münzen augusteisch zu datieren, die älteste Münze ist 138 v. Chr. geprägt, die jüngste aber 13 v. Chr. H. Horsnæs bietet ein Diagramm der Münzen dreier Schätze, von Skellerup, vom fernen Magdalensberg und von Ginderup.1997 Der Schatzfund von Ginderup, Thisted Kommune, in Jütland, publiziert 2008, enthielt 31 Münzen, republikanische und bis Vespasian geprägte Denare sowie einen unter Nero geprägten Aureus.1998 Der Hortfund von Skellerup in Ostfünen1999 ergänzt den Schatz von Ginderup, gefunden in einem Haus der Eisenzeit in Thy in den 1930er Jahren; er enthielt 100 Münzen, die meisten Denare der Römischen Kaiserzeit, geprägt zwischen 64 und den 190er Jahren, und dabei auch älteste Münzen, geprägt 138 v. Chr., die also republikanisch waren. Im Schatzfund von Sindarve, Hemse, auf Gotland von 1870 lagen 1500 Denare des Nero (54–68) bis Septimius Severus (193–211), die alle gleichzeitig gesammelt in den Norden gelangt sind. In dieser Zeit gab es Denare von der Nordsee und dem Rhein bis zum Donezbecken überall in Germanien.2000 1996 Rau 2016 (2017); 2017 (2018); 2018 (2019). 1997 Horsnæs 2018, 10 Farbabb. Diagramm. 1998 Højberg Bjerg 2011 (2013) 231; Bjerg 2008. 1999 Horsnæs 2018. 2000 Lind 2005.
9.2 Schatzfunde – ein Auswahlkatalog
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Ob zerteilte Münzen und Hacksilber, also zerschnittene Silberobjekte auch schon als Zahlungsmittel eingesetzt wurden, also ob es zeitweilig und dann wo und wann eine Gewichtsgeldwirtschaft gegeben hat, ließe sich nur anhand von Gewichten und kleinen Waagen beweisen, wie das oben schon angesprochen worden ist (vgl. S. 217).2001 Spätantike Hacksilberhorte überall in Germanien mögen auf eine derartige Gewichtsgeldwirtschaft hinweisen.2002 Hacksilberfunde sind ebenfalls zahlreich im südlichen Skandinavien und Dänemark.2003 Immerhin liefen dort noch größere Mengen an Silberdenaren der frühen Jahrhunderte um, als der Silbergehalt noch hoch war, oder waren gehortet worden; denn sie finden sich in Schätzen des 4. und 5. Jahrhunderts (vgl. S. 576). Auf den großen Hacksilberschatz von Traprain Law sei noch einmal hingewiesen (vgl. S. 533). Ich nenne noch den Silberschatz des 4. Jahrhunderts von Wilsum in der niederländischen Provinz Friesland.2004 Schon in die Völkerwanderungszeit, ins frühe (oder späte) 6. Jahrhundert, gehört der Hortkomplex von Djurgårdsäng bei Skara, Västergötland in Schweden, gefunden 1880. Das Edelmetall wiegt 1,7 kg. Zu den 15 Goldobjekten gehören ein Barren von 160 g, ein spiralförmiger Armring mit verzierten Enden, 133 g schwer, und ein Schwertanhänger mit Fassungen für ehemalige Granateinlagen. Das Gold enthält übrigens recht viel Kupfer. Neun auffällig große Silberbarren, die im Schnitt 160 g wiegen, rund zwölf Silberschmuckfragmente, also Hacksilber, 60 kleine Silberringe sowie Silberund auch Golddraht vervollständigen das Ensemble, zu dem noch zwei oder drei Goldbrakteaten der Gruppe D gehören, die 3,6 bzw. 2,3 g wiegen. Das Silber macht den Fund zu einem einmaligen Schatz in Schweden, der mit den drei zuvor genannten dänischen Hacksilberschätzen zu vergleichen ist. U. E. Hagberg deutet ihn als Goldschmiedefund aus „fürstlichem“ Umfeld.2005 Der Hortfund von Łubiana in Ostpommern2006 wurde 1986 ausgepflügt, und zwar eine Bronzeschüssel angefüllt mit etwa 14 kg Bronzematerial, Fibeln und Fragmenten von zerschnittenen Bronzegefäßen, Nadeln, Gürtelzubehör, Trinkhornbeschlägen und sonstiges Gerät wie Kosmetikutensilien, darunter auch einige Halbfabrikate von Fibeln und Rohgüsse. Außerdem lagen oben auf der Schüssel 27 Lanzenspitzen, die zusammen 4 kg wiegen. Für die Datierung helfen drei Bronzemünzen, von denen eine unter Kaiser Aurelian (270–275) geprägt ist. Die Sachen waren teils angeschnitten, verbogen und angeschmolzen, was alles wie ein Handwerkerdepot wirkt, Schrottmaterial von 4 kg Gewicht. Die meisten Objekte stammen aus der älteren Römischen Kaiserzeit, aus den Phasen B2b und C1a (zweite Hälfte 2. Jahrhundert), waren also schon rund zweihundert Jahre alt. Denn einige Fibeln und Gürtelteile sind deutlich 2001 Painter 2013; Rau 2013d, e. 2002 Rau 2013d, e. 2003 Munksgaard 1955; Fonnesbech-Sandberg 1989. 2004 Galestin 1993. 2005 Hagberg 1983; 1984b; Sv. Fischer in: Staffordshire Hoard 2019, 349. 2006 Mączyńska 2008, 69 Farb.Taf., Kat.-Nr. 471–535; 2009 (2011).
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9 Gold und Schätze in Germanien
jünger und werden in die Phase C3/D 1 (Ende des 4. und frühes 5. Jahrhundert) datiert. Die unfertigen Fibeln sind die spätesten Formen. Die Vergrabung des Hortes erfolgte wohl um 400 oder kurz danach und liegt noch im Bereich der Wielbark-Kultur, auch wenn einige Fibeln und die Lanzenspitzen eher zur Przeworsk-Kultur gehören. Der Hort mit den Altsachen ist sicherlich seinerzeit über Grabraub zusammengekommen. Jedenfalls scheint die Verarbeitung des Materials zu Beginn des 5. Jahrhunderts abgeschlossen gewesen zu sein. Zwar lag der Hort auf dem Gebiet der späten Wielbark-Kultur, aber das Einzugsgebiet der Fibeltypen war teils lokal gut begrenzt, andererseits auch weitgestreut. Aufgrund der zeitlichen Spannweite scheint es so zu sein, dass ältere Gräberfelder ausgeraubt worden sind, um das viele Schrottmaterial zusammen zu bekommen, und zwar im Grenzgebiet der Wielbark- und der PrzeworskKultur. Sogar „sarmatische“ Fibeln lagen in diesem Schatz von Łubiana.2007 Erinnert sei an die Denarfunde im Ostseegebiet, die auch erst im späten 4. und frühen 5. Jahrhundert in den Boden gelangt sind (vgl. unten S. 576). Man besaß altes Material, hier Silber in Form von Münzen, dort Bronze aus beraubten Brandgräbern. Weitere ähnliche Horte sind auf dem Gebiet des heutigen Polen gefunden worden. Ein Münzschatz von Żulice im Lubelskie-Gebiet, um 1970 zufällig entdeckt, enthielt über 406 Denare von Nero (54–68) bis Antoninus Pius (138–161) und weitere bis Mark Aurel (161–180), also datieren in die Stufe B2/C1 (nach 169 n. Chr.), und der Hort wird mit dem Bernsteinhandel in Zusammenhang gebracht, ist zudem als Beispiel für zahlreiche Denarhorte des ausgehenden 2. Jahrhunderts und der älteren einzelnen Münzen zu sehen, die im 1. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts das Gebiet erreicht haben.2008 Ein Hort mit Denaren in einem Topf ist in Resko, Łobrz District, 1924 gefunden worden, zu datieren nach der Mitte des 4. Jahrhundert.2009 Von 240 Denaren sind 160 erhalten, geprägt von Vespasian (69–79) bis Septimius Severus (193–211). Besonders der Übergang zu Silber bzw. überhaupt auch die Verwendung von Silber in Horten gehört in die späte Römische Kaiserzeit und frühe Völkerwanderungszeit, wobei es nicht nur um römische Denare geht.2010 Ich nenne noch einmal anders gereiht die Schatzfunde mit Silber. Es gibt mehrere Hacksilberhorte aus Silber in Dänemark, u. a. in Gudme und in Nydam, auf Seeland in Høstendorp, auf Lolland in Hardenberg, in England Traprain Law, auf dem Kontinent in Winsum, Lengerich 3 und Großbodungen (vgl. oben S. 547). Zu Nydam IV gehört ein kleiner Hacksilberhort, auch mit Barrenteilen, mit nur 63 g Gewicht und datiert um 470/480. Der Hacksilberhort von Fraugde Kærby auf Fünen enthält auch Barren und wurde in der Siedlung gefunden. Fibelfragmente lagen im Hort Høstentorp, verziert mit Tierstil I, die über eine längere Zeit zusammengesammelt worden waren, zu datieren in die 2007 Mączyńska 2003, 312 f. Karte 1 Verbreitung von der Donaumündung bis zur Ostsee. 2008 Erdrich 2014, 79 Abb. und 81; Die Vandalen 2003, 442 Katalog mit Abb. 2009 Mączyńska 2017, 37 Fig. 5 (sieben Häufchen auf dem Foto). 2010 Rau 2013e, 190 Fig. 1 Karte der Hacksilberhorte in Dänemark.
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Stufen C3 und D (C3 / 310–410 und D1 / 410–460, D2 / 460–540). Der Inhalt übergreift somit über 100 Jahre. Der Schatz von Høgbrogård, 2009 ausgegraben, enthielt Fragmentreste von Gefäßen und Siliquae; die 150 Stücke sind beschnitten. Zum Hort von Lengerich 3 gehören über 70 Silbermünzen, meist siliquae, die unter Magnetius (350–353) geprägt worden sind. Der Hort von Großbodungen besteht aus vier Silbergefäßen und 21 Solidi, die drei Bezahlungen aus verschiedenen Gebieten des Römischen Reichs zwischen 350 und 411 dokumentieren; auch dieser Schatz ist also über längere Zeit, in über 60 Jahren, zusammengesammelt worden. A. Rau deutet diese Horte als dynastische Familienschätze und meint, es müssten deshalb nicht unbedingt Handwerkerhorte gewesen sein. Römische Sachgüter sind im innergermanischen Netzwerk der Prestigegüter des 4. und 5. Jahrhunderts gefiltert bzw. jeweils anders zusammengesetzt und verteilt worden. Als vergleichbar sieht A. Rau diese Verteilung von typischen Objekten des späten 4. und 5. Jahrhunderts als Spiegel persönlicher Mobilität vom und zum Römischen Reich, wozu die Zwiebelknopffibeln2011 zu zählen sind, ebenso wie metallene Gürtelteile. Anscheinend lagen die skandinavischen Leute aber außerhalb dieser Kontakte, wozu A. Rau sich 2012 mit Blick auf die Krise des 3. Jahrhunderts im Römischen Reich geäußert hat.2012 Im Jahr 2009 wurde erneut ein Hacksilber-Hort gefunden, und zwar in Høgsbrogård in der Nähe von Ribe, vergraben im späten 5. Jahrhundert.2013 Der Schatz umfasst 146 Stücke Hacksilber und Goldfragmente mit einem Gewicht von 535 g. Der Goldanteil macht noch 36 Fragmente und 42 g aus. Gefunden wurde er im Bereich von Hausgrundrissen einer erst angegrabenen Siedlung in vier Teilausgrabungsschnitten. Zum Hort gehören einige Siliquae einiger Kaiser wie Valens, Maximus bis Eugenius aus Trier und werden zwischen 364 und 423 datiert. C. Feveile führt die 13 weiteren Bruchsilberschätze aus Dänemark an, die hier genannt werden sollen, auch wenn einige anderweitig schon beschrieben worden sind: Høstentorp (4453 g), Uhrenholt (2800–3000 g), Stenhøjgård (1282 g), Simmersted (968 g), Engelsborg (über 800 g), Hardenberg (490 g) und weitere mit geringeren Gewichten, darunter Gudme I Vest (159 g) oder Nydam IV (?). Zum Vergleich sind die Horte mit Denaren des 1. und 2. Jahrhunderts, die im Norden erst im 5. Jahrhundert vergraben worden sind, heranzuziehen (vgl. unten S. 576). Ein neuer Fund in Lejre enthielt 1500 Stücke mit mehr als 3,5 kg Gewicht, die in einem Tongefäß gesammelt waren. In den viel jüngeren Hacksilberschätzen finden sich oftmals Fragmente sehr alter Objekte, die mehrere Jahrhunderte früher hergestellt worden waren, darunter z. B. zerschnittene römische Silberschalen des 3. Jahrhunderts. Auch diese Befunde zeigen wie die Denarhorte des 5. Jahrhunderts,
2011 Böhme 2012a. 2012 Rau 2012, im Rahmen der Krise des 3. Jahrhunderts im Römischen Reich. 2013 Feveile 2010, 113 Fig. 4 Siedlungsausschnitt, 114 Fig. 5 Foto vom Schatz, 120 Fig 8 Tabelle aller Schätze (nach Runge, Andreasen 2009) mit Ergänzungen; 2011.
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dass dieses Edelmetall lange im Besitz der Familien aufbewahrt worden sein muss2014 (sofern es sich nicht um damals zeitgenössisch entdeckte alte Horte und ihr Inhalt gehalten hat). Ein Hortfund, und zwar der von Świlcza im nördlichen Karpatenvorland aus dem 5. Jahrhundert,2015 ist ein gutes Beispiel für die allgemeine weite Verbreitung bestimmter Sachgüter, auch von Schmucksachen. Sie erscheinen auch dort, wo sie bisher nicht vermutet worden sind, bei neuen archäologischen Ausgrabungen. Der Hort, 1976 entdeckt, war in einem Grubenhaus verborgen, wohl in einer Ledertasche, und enthielt Münzen, Hacksilber und eine Niemberger Fibel, eine Fibel vom Typ Wiesbaden und zwei Prunkfibeln. Die Niemberger Fibeln sind vor allem im ElbeSaale-Gebiet verbreitet,2016 und nun gibt es einen „Ausreißer“ nördlich der Karpaten. Die Verbreitung der Fibeln vom Typ Wiesbaden streut weit über Mitteleuropa; sie werden speziell von Pommern über Mitteldeutschland bis ins Main-Gebiet gefunden. Die Fibeln im Hort überspannen außerdem einen größeren Zeitrahmen. Die Niemberger Fibeln gehören in die Phase D1 (370–410), die Wiesbadener Fibeln in D2 (400–450),2017 die Prunkfibeln in D2/D3 (420–460), und diese jüngste Angabe wird durch ein Dendro-Datum 433 +/-10 gestützt. Das Paar Prunkfibeln im Hort besteht aus teils vergoldetem Silber mit Kerbschnitt auf den rhombischen Fußplatten und vier Reihen Perldraht auf dem Bügel; die Länge misst 8,6 cm und das Gewicht 19,9 und 19,3 Gramm. Die erwähnte Datierungsspannweite beträgt wohl mehr als ein halbes Jahrhundert, die alten Niemberger Fibeln weisen Tragespuren auf. Der Hort war entweder, so wird vermutet, ein Versteck in Kriegszeiten oder ein „häusliches Opfer“.2018 Feuerspuren sprechen für hastiges Verbergen, und zwar profanes Verstecken wie in Südwestdeutschland auf dem Runden Berg oder in Dänemark, in Sandegård und Dalshøj. In Sorte Muld gibt es ebenfalls einen Komplex, datiert ins späte 5. und frühe 6. Jahrhundert, der in der Nähe niedergebrannter Häuser entdeckt wurde. Woher der Reichtum dieses Schatzes weit im Süden stammt, kann nur vermutet werden, vielleicht durch den Handel auf der Bernsteinroute. Doch sind bisher keine Werkstätten für Bernsteinverarbeitung in der benachbarten Siedlung gefunden worden, und somit ist diese noch nicht als Reichtumszentrum ausgewiesen.
9.2.3 Rangzeichen Goldringe und Goldschmuck, Hals- und Armringe sind nicht erst aus dem Römischen als Orden übernommen worden, sondern schon in den Jahrhunderten zuvor, seit der 2014 Pesch 2019a, 27. 2015 Schuster 2016b, 250 Fig. 25 Zeittafel für die Fibeltypen. 2016 Schuster 2016, 234 Fig. 9 Karte der Niemberger Fibeln nach Bemmann 2001. 2017 Schuster 2016, 235 Fig. 10 Karte der Fibeln vom Wiesbadener Typen. 2018 Beilke-Vogt 2007, 91 ff.
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Bronzezeit und in der eisenzeitlichen Jastorf-Kultur wurde Ringschmuck in Germanien geschätzt, aus Edelmetall und aus einfachen Materialien wie Bronze und auch Eisen.2019 Germanische und römische Ringe wurden in den ersten Jahrhunderten n. Chr. also parallel getragen, als Rangzeichen und als Auszeichnungen im militärischen Bereich. Recht häufig sind Halsringe in Depots und Gräbern der vorrömischen Eisenzeit, von denen die einen Typen in Jütland und dem nördlichen Deutschland verbreitet sind bis an der Elbe und die anderen südlich der Elbe im übrigen Norddeutschland.2020 Hals- und Armringe aus Gold waren regelmäßig Rangzeichen, wie später in der der spätantiken und frühmittelalterlichen Literatur und Dichtung vielfach „besungen“.2021 Kennzeichen der Gräber der Elite in Germanien ist dieser goldene Schmuck; schwere Halsringe und Armringe, zuerst Schlangenkopfarmringe im Ostseegebiet, dann Kolbenarmringe im Norden und auf dem Kontinent sowie kunstvoll mit perfekter Goldschmiedetechnik verzierte Fibeln. Es sind ohne Zweifel Prestigegüter und damit Rangzeichen.2022 Sie kommen auch in anderen Zusammenhängen vor, manchmal ebenfalls in Brandgräbern und vor allem auch in Schatz- und Mooropferfunden, was wegen ihrer Seltenheit den Charakter als Statussymbol und Opfergabe bestätigt. Die allgemeine Funktion des Goldes in all seinen Ausprägungen während der Römischen Kaiserzeit, in Dänemark als ältere germanische Eisenzeit bezeichnet, und seine Verteilung hat beispielsweise E. Fonnesbech-Sandberg 1991 kartiert.2023 Karten bieten die Verteilung der Halsringe bis 1000 g oder die der Kolbenarmringe bis über 500 g und auch die Goldbrakteaten. Besonders schwere Ringe wurden bei großem Radius sicherlich „Götterfiguren“ aus Holz um den Hals gelegt, andere gewichtige Ringe wurden in der Hand gehalten. Solch einen Ring hält auf dem Kessel von Gundestrup ein Hirschgott in der Hand vor sich, ein Ring in der Hand ist in derselben Weise auf mehreren Goldbrakteaten zu sehen.2024 Die nachfolgend anzusprechenden Schlangenkopfringe und Kolbenarmringe kommen oftmals gemeinsam in Horten vor, wobei die Ringe vielfach spiralig oder anderweitig zusammengebogen sind, so dass sie keinen praktischen Zweck mehr haben konnten und sollten.2025 Schlangenkopfringe Die Schlangenkopfarmringe der älteren und der jüngeren Römischen Kaiserzeit in Germanien, gefertigt aus Bronze, Silber und vor allem auch aus Gold, kommen in dichter 2019 Allgemein Adler 2003. 2020 Harck 2007, 228 Abb. 1 und 2. 2021 Hardt 2019, 45. 2022 Lund Hansen 2001. 2023 Fonnesbech-Sandberg 1991, Fig. 2, 4 und 8. 2024 Capelle 2015. 2025 Quast 2017b, 113.
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Verbreitung von Mittelschweden über die dänischen Inseln bis nach Schleswig-Holstein vor (Abb. 52);2026 sie werden nach Typen gegliedert und zeigen damit eine gewisse Spannweite der Grundform.2027
Abb. 52: Verbreitung der Schlangenkopfarmringe (und Kolbenarmringe).
2026 Lund Hansen 1998b; 2001; 2004. 2027 Lund Hansen 2004, 147 Abb. 35 Typen von Schlangenkopfarmringen.
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Ihren Namen haben sie von den Tierköpfen an den Enden der einfachen oder spiral aufgedrehten Ringe. Sie fanden sich vor allem in den Fürstengräbern der jüngeren Kaiserzeit auf Seeland und wiegen bei den Männern um und über 160 g, die Ringe der Frauen sind leichter. Fünf der sechs Ringe aus dem Moor von Skedemosse wiegen circa 205, 185, 183, 182 und 175 g. Die Mehrzahl der bekannten Schlangenkopffingerringe konzentriert sich auf den dänischen Inseln, auf Seeland sind allein 32 Ringe dokumentiert. Verbreitungskarten der Schlangenkopfarmringe bieten K. Andersson 1995 und U. Lund Hansen 2004.2028 K. Andersen listet für den Norden elf Horte mit meist mehreren derartigen Ringen auf, auch manchmal kombiniert mit Kolbenarmringen, für die D. Quast die Kartierung für den Kontinent bringt.2029 Das Vorbild für diese Ringe mag in römischen Militärauszeichnungen, dona militaria,2030 ebenfalls Schlangenringen, gesehen werden, für die A. Pesch eine heilende und schützende Wirkung annimmt, da Schlangen in Äskulap-Heiligtümern lebten oder als Genienschlangen an römischen Hausaltären abgebildet waren.2031 Doch ist nicht auszuschließen, dass in Germanien die Idee der Schlange als schutzbietendes Wesen auch unabhängig aufgegriffen werden konnte und später in den germanischen Tierstilen häufig erscheint. Kolbenarmringe Die schlichten Kolbenarmringe – es sind offene, rundgebogene Goldstäbe mit kolbenartig verdickten Enden – werden zugleich auch als Goldbarren angesprochen,2032 die gespeicherten Reichtum anzeigen. Ihr Gewicht ähnelt jeweils einem Mehrfachen des römischen Solidus von 4,55 g, was nicht verwundern muss, da sie sicherlich aus Goldmünzen eingeschmolzen sind. Auch für die älteren Schlangenkopfarmringe der jüngeren Kaiserzeit (C1b und C2) ist das Gewicht auf die römischen Münzen bezogen worden, die dem mehrfachen Gewicht von Aurei zu 1/72 römischem Pfund (libra) entsprechen, das Diokletian 284 eingeführt hatte. Die Kolbenarmringe des 3. bis 5. Jahrhunderts wiegen je nach Größe zwischen 70 und 230 g und der (verlorengegangene) des Königs Childerich sogar geschätzte 300 g (dazu an anderer Stelle S. 524).2033 Über diese auffälligen Ringe als Rangzeichen hat vor vielen Jahren Joachim Werner berichtet und den Ringschmuck in Germanien von den römischen Ringen (armillae) als Orden hergeleitet und außerdem als Zeichen der Angehörigen einer stirps regia gewertet, was zwar nicht näher beweisbar ist, aber die Ranghöhe durchaus trifft.2034 Ich 2028 Andersson 1995,70 Abb. 47; 2008, 44 Karte: Verbreitung der Schlangenkopfringe in Skandinavien; Lund Hansen 2004, 149 Abb. 36 Karte, 154 Abb. 37. 2029 Quast 2013, 177–181 Abb. 8 Anm. 34; 2009b. 2030 Töpfer 2011. 2031 Pesch 2019a, 18; 2015a, 397 f. 2032 Steuer 2003e. 2033 Koch 2001; Quast 2013. 2034 Werner 1980; dazu Steuer 1982, passim (Index).
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habe dazu später eine andere Meinung vertreten und die Ringe eher als Bezahlungsgeld an Kriegsfürsten und an deren Gefolgsleute gesehen.2035 Die Kolbenarmringe sind zumindest ein Zeichen von Reichtum. Sie kommen sowohl auf dem Kontinent, als Grabbeigabe am Handgelenk des Toten, bis in die frühe Merowingerzeit vor und in Skandinavien, wo ihre Zahl am größten ist (auch Abb. 52).2036 Der älteste Fund um 200 n. Chr. ist ein Grabfund von Himlingøje auf Seeland. Später wurden sie als Opfer in den Mooren von Illerup und Thorsberg niedergelegt und außerdem in Schweden im Schätzen vergraben, dort zusammen mehrfach mit Schlangenkopfarmringen, und dort auch bis in die Völkerwanderungszeit. Ihre Verbreitung ist mehrfach für ganz Europa kartiert.2037 Im Schatz von Skedstad auf Öland lagen mehrere aufgebogene Kolbenarmringe und das Fragment eines Schlangenkopfarmrings, der damit auch Kent Andersson dazu bringt, bei der Interpretation in Bezug auf Ränge zurückhaltend zu sein, da die zeitliche und räumliche Streuung dieser Ringe und Ringfragmente doch so groß ist, dass kaum mit einer bleibenden einheitlichen Bewertung zu rechnen sei, auch wenn diese Ringe wohl in irgendeiner Weise immer Rangsymbole gewesen sein werden.2038 Ein kleiner Goldhort der jüngeren Römischen Kaiserzeit sogar in der Ukraine aus Černivci enthielt einen goldenen Kolbenarmring, der D. Quast 2013 dazu angeregt hat, diese goldenen Ringe erneut als Gruppe zu betrachten.2039 Das heißt nun nicht unmittelbar, in den Hals- und Armringen in Germanien römische Auszeichnungen bzw. Orden zu sehen. Das kann der Fall sein, denn zu den Ehrenzeichen im römischen Militär gehörten neben den sogenannten Phalerae (ich weise auf die beiden Zierscheiben im Thorsberger Moor hin, vgl. S. 481) auch Ringe aus Gold. Bei den schmucklosen Hals- und Armringen ist eine Entscheidung kaum möglich; aber die Schlangenkopfarmringe, bei denen die manchmal auch spiralig aufgedrehten offenen Enden der Ringe als stilisierte Schlangenköpfe ausgebildet sind, sollte man als Produkte der einheimischen Goldschmiede betrachten. Bei einigen der Kolbenarmringe ist die Herkunft unmittelbar aus römischen Werkstätten jedoch belegt, da mehrere Ringe aus dem 4. Jahrhundert mit gepunzten Gewichtsangaben und Stempeln versehen sind,2040 was den Barrencharakter unterstreicht. D. Quast sieht daher alle goldenen Fibeln, Finger-, Arm- und Halsringe als eine Art individueller Besoldung für die Elitegesellschaft in Germanien durch die römische Reichsverwaltung an, in einer prämonetären Gesellschaft, gewissermaßen parallel zu den Zahlungen in Solidi. J. Martens überlegt, ob es sich immer um Halsringe gehandelt hat oder nicht auch um eine Art Diademe.2041 Als Julian Apostata (355/361–363)
2035 Steuer 1982, 247 ff., 347, 448 f., 457; so auch Hardt 2019, 45 „Gaben an den comitatus“. 2036 Andersson 2008, 47. 2037 Lund Hansen 2004, 149 Abb. 36. 2038 Lund Hansen 2001, 160 Fig. 3. 2039 Quast 2013. 2040 Quast 2013, 181–185 Abb. 10. 7; Quast 2009b. 2041 Martens 2011b.
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im Paris zum Augustus, also zum Kaiser, ausgerufen wurde, wandte man das germanische Ritual der Schilderhebung an, und da ein römisches Diadem fehlte, nahm ein (germanischer) Offizier seinen Halsring (torques) und setzte diesen dem Kaiser auf das Haupt (Ammianus Marcellinus 20, 4, 17).2042 Julian versprach danach übrigens jedem Krieger fünf Aurei und ein Pfund Silber (quinos omnibus aureos argentique singula pondo promisit). Es wird regelmäßig versucht, die Bestatteten dieser Elite mit den Goldringen verschiedenen Stämmen zuzuweisen, von den Vandalen über die Langobarden, allgemein den Ostgermanen oder den Franken. Doch gerade die Ähnlichkeit in der Ausstattung zeigt doch, dass der Rang entscheidend ist, und die Elite über alle ethnischen Bindungen hinweg zu einer gleichartigen gesellschaftlichen Gruppe gehört hat. Die Kolbenarmringe des 3. Jahrhunderts wiegen zwischen 120 und 200 g, während die späteren des 5. Jahrhunderts ein Gewicht unter 100 g oder über 200 g haben, was aber kaum chronologisch relevant ist, sondern wohl direkt vom Umfang der Arme der Bestatteten abhängt; denn im Knabengrab von Fürst liegt ebenfalls ein Kolbenarmring (69 g) für ein kleines Handgelenk. Der Schatzfund von Cottbus, Brandenburg, entdeckt 1934, datiert in die Stufe C2, also ins ausgehende 3. Jahrhundert, enthält sowohl einen Schlangenkopfhalsring, einen spiralig zum Armring aufgedrehten Halsring mit birnenförmiger Öse und drei Kolbenarmringe mit einem Gewicht zwischen 183 und 196 g, die zusammen 855 g wiegen.2043 Der Schatz liegt heute im Puschkin-Museum Moskau. In diesem Zusammenhang weise ich noch auf einen Goldarmring von Helgoland hin, der mit einem Sanduhrmuster als Verzierung gestempelt ist. Er ist schon 1862 gefunden worden, wiegt 48,8 g Gewicht, hat einen Durchmesser von 6,6 cm und ist spiralig aufgedreht. Aber die Datierung ist offen, entweder stammt er aus der Römischen Kaiserzeit oder ist wikingerzeitlich. Das Problem ist der Verschiebeverschluss.2044 Schwere Halsringe Eine weitere Gruppe von rangbezeichnenden Halsringen wird um den Ring von Havor im Kirchspiel Hablingo auf der Insel Gotland gebildet, der in einem Schatzfund im Bereich einer Burganlage 1961 entdeckt worden ist (vgl. oben S. 523).2045 Zum Schatz gehört ein umfangreiches Trinkgeschirr, eine römische Situla mit Weinsieb und -schöpfer, drei Kasserollen (alle mit Fabrikstempeln), außerdem zwei Bronzeschellen, ein Bronzering und vor allem ein beachtlich großer goldener Halsring von 24 cm Durchmesser, gewissermaßen der Variation eines keltischen Torques. Kennzeichen
2042 Pack 2000, 116. 2043 Quast 2017b, 11 Abb. 3 die Ringe. 2044 Neumayer 2010. 2045 Nylén 1999; vgl. Shchukin 2003; Lamm 1987.
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9 Gold und Schätze in Germanien
sind die stempelförmigen massiven Enden. Der Ring von Havor ist die älteste nordische Goldschmiedearbeit mit üppiger Filigran- und Granulationsverzierung an den Stempelenden der konischen Endknöpfe des gedrehten Körpers. Das Ornament zeigt achtförmige Drahtfiguren und Stierköpfe. E. Nylén geht davon aus, dass dieser Ring auf Gotland hergestellt worden ist, trotz möglicher „keltischer“ Vorbilder. 1988 hatte er fünf Gegenstücke, einen im Moor von Dronninglund in Dänemark, zwei in der Nähe von Kiew und einen weiteren aus der Gegend von Odessa am Schwarzen Meer, beschrieben. Erst 1995 wurde ein weiterer Ring dieser Art in Vittene, Västergötland, gefunden (vgl. oben S. 500). Die Ringe erinnern an die Abbildungen auf dem Kessel von Gundestrup aus Dänemark, von dem man auch nicht genau weiß, wo er hergestellt worden ist. Vergleichbare Goldschmuckstücke sind die in Nordmitteleuropa und im Norden gefundenen sogenannten Berlocks mit reicher Filigranverzierung, eimer- oder birnenförmige Anhänger, für die ebenfalls eine Herstellung in Skandinavien angenommen wird, was eine Datierung des Ringes von Havor in die Mitte oder an das Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. erlaubt. Verblüffend ist die weiträumige Verbindung zwischen Skandinavien und dem Schwarzen Meer. In der Burganlage von Havor fand man außerdem eine Keramikscherbe mit der Reliefabbildung eines gedrehten Halsrings, was die Annahme der örtlichen Herstellung des Havor-Ringes im Norden unterstützt. Nahebei gibt es ein Gräberfeld der vorrömischen Eisenzeit, das zusammen mit der Burg und der Siedlung von 1961 bis 1980 archäologisch komplett untersucht worden ist. Die Siedlung bestand von der vorrömischen Eisenzeit bis ins frühe Mittelalter, eine beachtliche Kontinuität am Ort. Die untersuchten Gräber des Bestattungsplatzes in der Nähe reichen zeitlich mindestens von der jüngeren vorrömischen Eisenzeit bis in die Vendelzeit (was der Merowingerzeit auf dem Kontinent entspricht). Die Burg gehört zu den mehr als hundert vergleichbaren Anlagen (siehe oben S. 329) auf Gotland und besteht aus einem kreisrunden Steinwall von 50 m Durchmesser mit zugehöriger Palisade und Graben, die zudem mehrere Nutzungsphasen aufweist. Der Schatzfund selbst mit den römischen Importgefäßen ist wohl um 100 n. Chr. im Wall vergraben worden; der gesamte Komplex wirkt wie die Ausstattung einer der späteren, hier mehrfach beschriebenen Fürstengräber. Die schweren Halsringe in den Fürstengräbern, darunter der von Gommern, wurden von Männern und Kriegern, auch von Frauen und Knaben getragen, während der spätrömischen Kaiserzeit und noch in der Spätantike.2046 Das spricht gegen die Erklärung als römisches militärisches Rangzeichen, was die importierten Ringe zuvor gewesen können, aber sichtlich in Germanien andere Bedeutungen, eben als Rangzeichen, gewonnen haben. Mehrfach wird darauf noch eingegangen (vgl. S. 917 ff.).
2046 M. Becker 2007a; auch in M. Becker 2008a, b.
9.2 Schatzfunde – ein Auswahlkatalog
559
Auch weitere Grabfunde einer ranghohen Oberschicht mit Halsringen sind zu nennen, beispielsweise in der Przeworsk-Kultur und auch in der Wielbark-Kultur,2047 datiert in die Phase C1 und C2 (etwa 3. Jahrhundert n. Chr.), und zwar aus Gold, Silber und Kupferlegierung, sämtlich zu betrachten als Symbole von Macht und Herrschaft und damit als Kennzeichen des sozialen Status. Die Goldringe von den Gräberfeldern der Wielbark-Kultur von Czarnówko (C1a, um 200 n. Chr.) und Dobrocin wiegen bis 150 g, vergleichbar dem Ring aus dem Elitegrab von Neudorf-Bornstein (C2, zweite Hälfte 3. Jahrhundert bzw. um 300 n. Chr.) (vgl. S. 933). Die großen Halsringe aus Gold und Edelmetall werden verschiedene Funktionen im Rahmen von Rangabzeichen gehabt haben.2048 Manche Halsringe waren offen, andere hatten einen Verschluss, der vernietet ist. Der Goldring von Straarup, Store Dalby, Hatting, Vejle, Dänemark trägt eine Runeninschrift wie im Süden der Runenring von Aalen und der von Pietroassa (vgl. S. 1253). Die Ringe wurden um den Hals getragen, von Menschen oder u. U. von hölzernen Kultfiguren. Sie waren Regalia, jedenfalls keine Diademe. Die Ausnahme bildete die beschriebene Krönung des Caesars Julian Apostata 360 n. Chr. durch einen germanischen Kriegsfürsten, der als Diadem seinen Halsring abnahm und dem Kaiser auf das Haupt legte (vgl. S. 556). Außerdem wurden zahleiche einzelne wertvolle Objekte aus Gold archäologisch registriert. Für Niedersachsen beispielsweise hat H.-J. Häßler das Gold über die Zeiten hinweg zusammengestellt, auch das der Römischen Kaiserzeit und der Völkerwanderungszeit.2049 Die größeren Schätze sind zumeist schon im Vorausgehenden beschriebene worden. Aber betont sei trotzdem noch, dass neben den zahlreichen Solidi nicht selten goldene römische Fingerringe geborgen werden konnten, die z. B. 4,2 g oder 6,82 g oder 7,4 g oder 8,5 g oder 9 gewogen haben. Auch zwei Goldberlocks des 1./2. Jahrhunderts aus dem Urnengräberfeld von Darzau, Ldkr. Lüchow-Dannenberg, 3,8 cm hoch, einer noch mit 5,4 g Gewicht, sind aus „langobardischen“ Brandgräbern an der unteren Elbe geborgen worden. Die zahlreichen Goldbrakteaten in Niedersachsen (dazu unten S. 1206 auch mit der Gruppenbildung A bis F) nenne ich hier noch einmal mit den Gewichtsangaben. Vier Brakteaten (Durchmesser 2,2 und 3,5 cm) und eine Münze sind in Landegge, Ldkr. Emsland, 1838 und 1859 gefunden worden (vielleicht zusammengehörend?). Es sind drei C-Brakteaten von 3,54 g, 4,62 g, 2,96 g Gewicht und ein D-Brakteat sowie eine gehenkelte Münze des Valentinian I., geprägt um 364–367. Die elf Brakteaten von Nebenstedt, Ldkr. Lüchow-Dannenberg, mit größtem Durchmesser von 2,9 cm wurden 1859 gefunden. Ihr Gewicht beträgt zwischen 2,1 g und 4,85 g; es sind fünf B-Brakteaten, vier D-Brakteaten und zwei F-Brakteaten. Zwei Stücke tragen eine Runeninschrift „Ich (der Runenmeister), der Glanzäugige, weihe die Runen“ und
2047 Andrzejowski 2014, 102 Fig. 6 Verbreitungskarte nach v. Carnap-Bornheim, Ilkjær 1996. 2048 Martens 2011, 192 Fig. 3 b Goldring von Straarup. 2049 Häßler 2003, 87 ff. Römische Fingerringe; 116 ff. Goldbrakteaten.
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9 Gold und Schätze in Germanien
„Lauch (=Gedeihen), Eigentum, Gott-Roß, Schutz“. Es sind zumeist stempelgleiche Stücke. Es gibt zwei Horte von Sievern I und II, Ldkr. Cuxhaven. Im Schatz von Sievern I, gefunden 1942, lagen elf Brakteaten der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts: ein A-Brakteat mit der Runeninschrift „Runen ritze ich“ (rwriji), zwei stempelgleiche C-Brakteaten und acht D-Brakteaten, davon sechs stempelgleich. Ihr Gewicht beträgt insgesamt rund 70 g. In Sievern II wurde 1950 und in Nordholz nahebei 1977 je ein D-Brakteat gefunden. Das Fragment eines Brakteaten und das Stückchen eines goldenen Halsringes wurden auch im Gräberfeld von Liebenau, Ldkr. Nienburg/Weser, und ein B-Brakteat im Körpergrab 3557 von Issendorf, Ldkr. Stade, entdeckt. Bente Magnus hat die kleinen Figuren aus Buntmetall oder Gold, die einen Halsring tragen, zusammengestellt:2050 Männliche Figuren aus Kupferlegierung von Brednebjerg auf Fünen, 12,6 cm hoch, und von Kymbö, Västergötland, 3,4 cm hoch, sowie von Slipshavn, Fünen, 6,5 cm hoch, diesmal aus Gold (unten Abb. 99.1). Zeitlich aus dem Rahmen fällt der Blick auf den überwältigenden „königlichen“ Schatzfund von Staffordshire, Mercia, in England.2051 Entdeckt 2009 von einem Sondengänger ist 2019 eine umfassende Auswertung und Würdigung vorgelegt, zusammen mit der Berücksichtigung auch das Spektrum der älteren Horte in Skandinavien und auf dem Kontinent. Einbezogen werden die Zentralorte seit dem 4. Jahrhundert (vgl. S. 352) und die Heeresausrüstungsopfer im Ostseeraum (vgl. S. 713). Der Schatzfund besteht aus zahlreichen ranghohen – anscheinend absichtlich zerstörten – Objekten von Kriegsausrüstungen mit ca. 4 kg Gold und ca. 1,7 kg Silber. Zum Fund gehören Reste von etwa 100 Schwertern, dabei 74 Schwertknäufe und Bildbeschläge eines Prunkhelmes und auch Bruchstücke von christlichen Kreuzen und Symbolen. Die Verzierungen zeigen angelsächsischen Tierstil II, womit die Zahlen der bekannten Objekte mit diesem Schmuck verdoppelt werden. Datiert wird der Schatz in mehrere Phasen; das meiste stammt aus der Zeit um 570 bis 660 n. Chr., als Vergrabungszeitraum werden die Jahre 650 bis 675 vorgeschlagen. Manche Sachen sind also schon rund 100 Jahre alt gewesen und werden – so die Meinung der Autoren – zirkuliert sein durch Schenkungen von Königen an ihre Gefolgschaft; die Zerkleinerungen sind kaum als Ziel des Recyclings anzusehen, eher als „Zerstörung von Macht“.
2050 Magnus 2019. 2051 Staffordshire Hoard 2019, xxix–xxx und xxxiv Map 1: Die Lage des Fundortes und Schlachtfelder der Zeit; 33 Fig. 2.4 Anzahl der Waffenteile und des Anteils von Gold und Silber.
10 Das römische Geld Nachdem zuvor häufig von den römischen Münzen, den Denaren, Aurei und Solidi, gesprochen wurde, ist es nun sinnvoll, auf das römische Geld unmittelbar einzuge hen. Unnötig ist es, von römischen Münzen oder römischen Denaren zu reden, da es nur dieses römische Geld in Germanien gab. Münzen und Denare sind immer römi scher Herkunft gewesen; über die späteren Kopien und Nachahmungen von Gold münzen ist weiter unten nachzulesen (vgl. S. 574). Welche Metallmenge über die Münzen nach Germanien geflossen ist, hängt vom Zeitpunkt und den Arten der Ausprägung ab. Deshalb nenne ich hier noch einmal einige Werte, die den Angaben im Neuen Pauly entnommen sind.2052 Doch nicht immer kann man dann schnell anhand der Denare und ihrer verschiedenen Prägezeiten oder auch der Aurei und später der Solidi ohne größeren Aufwand die Gewichtsmengen an Metall abschätzen. Oft fehlen die Angaben in der Literatur, und es bleibt bei den Anzahlen von Münzen. Es geht somit jeweils nur um allgemeine Größenordnungen. Zum Denar aus Silber: Um 200 v. Chr. wurde der Denar zu 1/84 Pfund ausgeprägt und wog 3,8 g bei hohem Silbergehalt von 99%. Unter Kaiser Nero im Jahr 64 n. Chr. wurde das Gewicht auf 1/96 Pfund gesenkt, auf 3,4 g bei 93% Silber. Im 2. Jahrhundert n. Chr. verringerte sich das Gewicht des Denars weiter auf 3 g und mit nur noch 73–72% Silbergehalt. Unter Septimius Severeus (193–211) schließlich sank der Silbergehalt auf gerade noch 50% und unter Kaiser Caracalla (211–217) wurden stattdessen neu Antoniniane als zweifache Denare geprägt. Eine Kupfermünze, ein As, wog zur Zeit des Augustus etwa 11 g. Zu den Goldmünzen, dem Aureus und dem Solidus: Unter Caesar wog im Jahr 48 v. Chr. der Aureus 8,56 g, das Gewicht sank dann bald auf 8,02 g und sollte 25 Denare im Wert entsprechen. Unter Augustus wurde der Aureus zu 1/72 Pfund geprägt, also zu 7,72 g und unter Nero im Jahr 64 n. Chr. verringerte sich der Wert auf 1/45 Pfund zu 7,4 bis nur 7,25 g. Kaiser Caracalla (211–217) ging weiter runter auf 1/50 Pfund zu 6,55 g und noch im 3. Jahrhundert auf 1/72 Pfund. Kaiser Diocletian (284–305) setzte den Aureus wieder auf 1/70 Pfund fest mit dem Gewicht von 4,6 g und immerhin mit 99% Goldgehalt und hob im Jahr 294 das Gewicht des Aureus wieder auf 1/60 Pfund an und damit auf das Gewicht von 5,5 g. Der große Sprung geschah unter Kaiser Konstantin (306–337), der im Jahr 309 eine neue Gold münze einführte, den Solidus zu 1/72 Pfund und 4,45 g, was dann eine gewisse Dauer haben sollte.
2052 R. Wolters 2003b zum Römischen Münzwesen allg. https://doi.org/10.1515/9783110702675-018
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10 Das römische Geld
Das römische Geld bestand also aus dem aureus (Gold, später nach Konstantin dann der solidus), dem denarius, sestertius und dupondius aus Silber, dem as, semis und quadrans aus Kupfer. Nach der Regentschaft von Maximinus Thrax (235–238) endete die über 400 Jahre währende Ausprägung von Denaren. Unter Gordian III. (238–244) setzte sich der Antoninian als Silbernominal durch.2053 Für die Zeit des Augustus kann schematisch aufgeführt werden: 1 Aureus = 25 Denarii = 100 Sesterzii = 200 Dupondii = 400 Asses = 800 Semisses = 1600 Quadrantes; oder2054 1 Aureus = 25 Denarii / 1 Denarius = 4 Sesterzii (Messing) / 1 Se stertius = 4 Asses (Kupfer) (d. h.1 Aureus = 400 Asses). Oder Wert in Asses:2055 aureus = 400 asses, 200 quinarius aureus, 16 denarius, 8 quinarius, 4 sestertius, 2 dupondius, 1 as, ½ semis, ¼ quadrans. Der Name denarius bedeutete gleich denizehn, ab 144 n. Chr. wurden das dann 16 asses, und die quadrans sind aus Kupfer, der sestertius, dupondius und semis aus Messing. Seit Konstantins Zeit (324 n. Chr.) galt: 1 Solidus = 2 Semisses = 3 Tremisses = 18 Miliarensia = 36 Siliquae. 1 Solidus (Gold) wog etwa 4,55 g, also 1/72 des Pfundes von 327,45 g. Einige Bezahlungswerte in einfacher Form führe ich an: Unter Augustus betrug die Höhe des Jahressolds eines Legionärs 900 Denare, die er auch in Silber, aber vor allem in Buntmetallmünzen erhielt.2056 Die Auszahlung wurde oftmals durch Gegenstempel des Kommandeurs, z. B. des Varus, bestätigt. Bekannt ist, dass der Silbergehalt des Denars im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte immer mehr absank, bis um 270 n. Chr. nur noch 1% Silber geblieben war. Nicht nur deshalb ist es nicht leicht zu erläutern, was die Münzfunde in Germanien zu welcher Zeit denn nun für einen „Wert“ hatten, vom Material abgesehen. Ein Legionär bekam pro Jahr 250 Denare = 10 Aurei, (oder auch 225 Denare, das sind 9 Aurei oder täglich 10 Kupferasse). Ein Centurio erhielt das 12 oder gar 15fache, also 3000 bzw. 3750 Denare = 120 bzw. 150 Aurei. Als Abfindung bekam ein römischer Legionär beim Ausscheiden aus dem Militärdient 3000 Denare, das sind 6,36 kg Silber oder 530 g Gold. Soldatensold hat in Germanien eine Rolle gespielt, und zwar bei den Söldnerdiensten von Germanen in der römischen Armee. Nach dem Ende des Dienstes haben diese Söldner derartige Münzen mit zurück in die Heimat gebracht.
2053 Z.B. Springer 2014, 35. 2054 Wiegels 2018, 10 f. 2055 WiggWolf 2019, 255. 2056 WiggWolf 2019, 255.
10 Das römische Geld
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Der Jahressold (unter Domitian 81–96) betrug für die Militäreinheiten in Denaren:2057 Legionen miles eques centurio primuspilus
Hilfstruppen 300 350 4500 15300
miles cohortis eques cohortis eques alae centurio cohortis decurio cohortis decurio alae praefectus alae
250 300 350 1250 1500 1750 15000
Frank Berger schreibt über Geld der römischen Soldaten 1993,2058 dass größere Mengen Kupfergeld ein Gewichtsproblem dargestellt haben können: „Ein Kilogramm Asse in Kupfer entsprach ca. 6 Denaren zu insgesamt 23,4 g Silber, dem Aureus in Gold stehen 4,4 kg Asse gegenüber“. Das gesamte Geld zur Bezahlung der Truppen konnte als Kup ferasse kaum transportiert werden. Es sind die Fundmünzen aus verschiedenen römi schen Stationen daraufhin betrachtet worden. Aus dem Bonner Legionslager liegen Mengenangaben und Gewichte vor, abgebildet in Histogrammen,2059 und zwar für die Zivilsiedlung Köln bis 403, für das Kastell KrefeldGellep ebenfalls bis 403, für das Legi onslager Bonn mit den Daten für die Jahre von 330 bis 378, auch 403, beim Kastell Deutz für die Jahre 318/330 bis 378 und auch 403. Die Besoldung römischer Soldaten stieg nur wenig, unter Augustus erhielt – wie gesagt – ein Legionär als Jahressold 225 Denare, was unter Domitian auf 300 Denare erhöht und später noch weiter etwas gesteigert wurde. Für das Bonner Lager wird das Transportgewicht errechnet, was bemerkenswert ist: Der Jahressold einer Legion maß 5 Tonnen in Denaren und 265,2 Tonnen in Assen. Die Münzreihen zeigen deutlich, dass tatsächlich auch in Bronzegeld gezahlt wurde, was bedeutet, beachtliche Tonnengewichte mussten auf Wagen mittransportiert werden. Die Wertrelation der Münzmetalle zueinander betrug im Römischen etwa 1:13 für Gold zu Silber und für Kupfer anfangs 1:120 und später zur Zeit des Augustus 1:45 für Silber zu Bronze und Kupfer. Ob das auch die Bevölkerung Germaniens so gesehen hat, wissen wir nicht. Diese Zahlenangaben bieten nur ungefähre Hinweise, da die Münzgewichte und die sonstigen Währungsverhältnisse ständig geändert wurden. Wichtig ist nur, eine Vorstellung davon zu bekommen, was hinter den Fundzahlen von Münzen an Metallgewicht und Wert steht. Über den Abfluss der Münzen nach
2057 Wiegels 2018a, 11, nach Speidel 1966; Gorecki 1997, 148 f. Tabellen 1 und 2 zum Jahressold der römischen Armee und der Truppeneinheiten in Sesterzen. 2058 Berger 1993, 227. 2059 Otte 2016 (2017); Gorecki 1997 zu den Kosten der Militärbesatzung z. B. der Saalburg.
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Germanien anhand der Schriftquellen berichtet P. Kehne. Schriftquellen aber sind nicht Thema dieses Buches.2060 Diese Wertveränderungen, was Gewicht und Feingehalt an Silber beispielsweise anging, konnte bei der Betrachtung der Münzen nicht unmittelbar erkannt werden. Wenn man mehr wissen wollte, war von den Prägejahren auszugehen. Da die Kai serangaben auf den Münzen vermerkt sind, konnte durch Rundspruch und über Erfahrungswerte immerhin der Silbergehalt und damit der Wert geschätzt werden, auch durch die Leute in Germanien. Auch Waagen aus römischer Herstellung sind in Germanien gefunden worden, so dass hier und da – über die wirklich vorhandene Menge von Münzwaagen gibt es keine Vorstellung – die Silber und Goldmünzen auch gewogen werden konnten. Wie es mit der Kenntnis und dem Prüfen des Feingehaltes sich verhalten hat, bleibt unbekannt; denn allein über Probiersteine kommt man da auch nicht sehr weit.2061 Münzen dienten bei den kleinen Geldwaagen auch selbst als Gewichte und dienten dem Vergleich mit dem abzuwiegenden Material.2062 Immerhin berichtet Tacitus in der Germania c. 5, und das ist real so gewesen, dass die Leute in Germanien noch in späteren Jahrhunderten wussten, nur die frühen Denare bis zur Zeit Kaiser Neros (54–68) waren aus hochprozentigem Silber geprägt. Er nennt die Serrati mit gezähntem Rand, wodurch ein Blick ins Innere der Münze möglich war, und Bigati (mit einem Zweigespann auf dem Münzbild), die serratos bigatosque. Es bleibt also trotz vieler Äußerungen zu den Münzfunden in Germanien immer eine grobe Schätzung, wieviel Wert ein Münzschatz denn gehabt hat. Geht man für das 2. Jahrhundert von 3 g Denargewicht aus, dann machen 100 Denare eben rund 300 g aus, aber bei nur noch knapp 75% Silber waren das neben dem neuen Kupfer gehalt nur noch 225 g Silber. Viele Münzen sind von der numismatischen Forschung auch auf ihre Materialzusammensetzung analysiert worden, aber bei unseren allge meinen Betrachtungen führt das nicht sehr viel weiter, wenn Werte geschätzt werden sollen. Die Legierungen wurden eingeschmolzen und mit ihrem Mischgehalt dann umgegossen zu neuen Objekten. In Germanien wurden zu jeder Zeit auch römische Münzen in erster Linie als Materialquelle geschätzt. Sie wurden eingeschmolzen und zu Schmuck weiterverar beitet, aus Kupfer, Bronze, Messing und Silber sowie aus Gold. Ein Fund in der Sied lung von Østervang auch Seeland2063 mit angeschmolzenen Denaren belegt, dass diese Münzen aus gutem Silber tatsächlich eingeschmolzen wurden. Es ist damit zu rechnen, dass die Mehrheit der nach Germanien gelangten Münzen nur als Rohma terial sekundär verwendet worden sind. Die verstreuten einzelnen Funde sind daher der Hinweis, wohin überall in Germanien neben sonstigen römischen Sachgütern Münzen gelangt sind. Eine Ausnahme bilden größere Schatzfunde, die über alle Jahr 2060 Kehne 2008b. 2061 Steuer 2007 i mit Lit. 2062 Tempel, Steuer 1999. 2063 Højberg Bjerg 2011 (2013) 268 Anm. 109.
10.1 Münzen in Germanien
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hunderte angesammelt und vergraben worden sind. Die Numismatik und Wirtschafts wissenschaft haben seit langen immer wieder diese so leicht erkennbaren Sachgüter in der „fremden“ Umwelt außerhalb des Römischen Reiches gesammelt und katalogi siert. Es gibt für einzelne Landschaften und Länder Zusammenstellungen. An dieser Stelle weise ich darauf hin, dass alle Mengen, die gefunden und publiziert worden sind, nur einen Bruchteil der damals nach Germanien gelangten Münzen ausmachen. Um eine realistische Vorstellung vom Umfang zu bekommen, sollte man die Zahlen mit 100 oder teils auch mit 1000 multiplizieren. Erst dann ahnt man, welche unwahr scheinlichen Größenordnungen an Münzen und allen anderen römischen Sachgütern aus den Provinzen des Römischen Reichs nach Mittel und Nordeuropa gelangt sein werden.
10.1 Münzen in Germanien Seit jeher war klar, dass die römischen Fundmünzen in Germanien für die frühe Wirt schaftsgeschichte von entscheidender Bedeutung sind, nicht nur als Basis für chrono logische Fragen und als importierter Rohstoff für eine Weiterverarbeitung des Silbers oder Buntmetalls, sondern auch indirekt mit Blick auf die Geldfunktion an sich.2064 Im Rahmen des Vorhabens FMRD hat H. Chantraine 1985 eine Gesamtübersicht vor gelegt, noch aufgrund der damaligen politischen Lage auch in Tabellen getrennt für Westdeutschland und die DDR zahlenmäßig bilanziert, in mehreren Tabellen auch die Goldmünzen des 1. bis 3. und des 4. Jahrhunderts aufgelistet, dazu auch die Münz schätze aufgeführt. Nach 35 Jahren haben sich die Fundmengen beachtlich vergrö ßert, und eine breite Literatur zur Auswertung der Bestände ist entstanden. Im vielbändigen Sammelwerk „Die Fundmünzen der römischen Zeit in Deutsch land“ oder „Die Fundmünzen der römischen Zeit in Polen“ (abgekürzt FMRD bzw. FMRP) findet sich über die Jahrzehnte gestreckt die Grundlage für weitere kulturgeschichtliche Auswertungen. Hingewiesen sei auf die Kataloge der römischen Münzen in Pommern und Schlesien, heute Polen.2065 In Schlesien sind rund 10 000 Münzen von knapp 450 Fundstellen registriert worden, zumeist Denare. Sie sind vor allem am Ende des 2. Jahrhunderts ins Land gekommen. Ab Mitte und Ende des 3. Jahrhunderts folgten dann Aurei. Die griechischen, römischen und frühen byzantinischen Münzen in Böhmen liegen auch als Katalog vor.2066 Für die Slowakei nördlich des pannonischen Limes wurden 2008 rund 5500 römische Münzen aufgelistet.2067 Die meisten Münzen wurden in den germanischrömischen Zentralplätzen, der Kontaktzone, gefunden 2064 Chantraine 1985, 422 ff. Hortfunde; vgl. dazu Laser 1980. 2065 Ciołek 2007; 2008; 2016, 139 Abb. Karte der Münzverteilung. 2066 Militký 2019. 2067 Kolníkóva 2016, 150 Abb, 1 Karte der Verteilung der Münzen.
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und im Militärlager Iža. Sie sind in Wellen gekommen, während der zweiten Hälfte des 2., der zweiten Hälfte des 3. und der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts. Die rund 100 römischen Goldmünzen (und zwei gemischte Horte) des 1. bis 3. Jahrhunderts im germanischen Karpatenbecken von der Zeit des Augustus bis Carinus (283–285) sind ebenfalls 2016 katalogisiert und als Geschenk, Sold und Jahresgeld bzw. Tribut ins Land gelangt.2068 Das gesamte Projekt wurde mit ersten Publikationen 1960 begonnen, und der Einsatz des Metallsuchgeräts hat die Münzzahlen so rapide ansteigen lassen, dass derartige Kataloglisten kaum mehr auf neuestem Stand sein können. Darüber hinaus gibt es Kataloge römischer Münzen in Museumssammlungen, so in Posen für Polen und die Ukraine.2069 Funde von 40 Orten sind aufgeführt, darunter auch Horte und Siedlungsfunde vom 2. Jahrhundert v. Chr. bis zum 5. Jahrhundert n. Chr., neben allem anderen darunter auch Nachahmungen von Denaren und Solidi. Auch griechische Münzen kamen nach Germanien,2070 nach Zentral, Ost und Nordeuropa. Im Folgenden geht es aber um die Münzen aus dem Römischen Reich in Germanien. Dazu wurde oben, als es um Schätze ging, schon einiges beschrieben (vgl. S. 543). Münzen sind so leicht im archäologischen Fundstoff zu erkennen und zu bestimmen, dass wie selbstverständlich diese Gattung an Sachgut seit langem und intensiv aufgearbeitet worden ist. Das liegt nicht zuletzt daran, dass über diese Münzen absolute Datierungen von Bestattungen und Siedlungshorizonten zu gewinnen sind, wenn man die entsprechende Quellenkritik beachtet: Zustand der Münze, frisch oder abgegriffen oder gar zu einem Schmuckstück umgearbeitet, Prägezeitspanne und Umlaufgebiet. Legionäre und germanische Söldner in römischem Dienst wurden mit gültigen zeitgenössischen Münzen bezahlt. Durch die Mobilität der Menschen, und darüber hinaus sicherlich auch über gewisse Handelspraktiken, verteilte sich römi sches Geld über ganz Mittel und Nordeuropa. Da es aber in diesem Buch nicht in erster Linie um dieses römische Zivilisationsgut geht, werde ich im Folgenden nur summarisch aufzeigen, was alles zusammengestellt worden ist, und vor allem werde ich einige Kartierungen zur Information heranziehen. Was Tacitus in seiner Germania zur Funktion der Münzen in Germanien gesagt, zu ihrer Wertschätzung und Auswahl, wurde schon beschrieben (vgl. S. 564).2071 Mit der archäologischen Realität stimmt überein, dass in Germanien gern eine Auswahl bevorzugt wurde, nämlich die älteren Münzen mit hohen Silbergehalt, nicht zu akzeptieren aber ist die Behauptung, die Bevölkerung in Germanien hätte nur wenig Interesse an Münzen und Edelmetall. Das ist wieder ein Vorurteil gewesen. Erinnert sei daran, dass es sich tatsächlich in den Jahrhunderten n. Chr. ausschließlich um römische Münzen handelt, sodass eigentlich nicht immer auch durch die Fachwissen 2068 Prohászka 2016 mit Listen. 2069 Galęzowska 2016. 2070 Mielczarek 1989. 2071 Kolendo 2008, auch 2010.
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schaft von „römischen Münzen“ gesprochen werden müsste. In der späten vorrömi schen Eisenzeit sind jedoch noch keltische Münzen nach Germanien gekommen, und nach dem Ende des weströmischen Reichs oströmische bzw. byzantinische Münzen, später auch sassanidische Drachmen. Aber bei diesen Münzsorten handelt es sich um Ausnahmen, die den Kern des Problems, nämlich das Verhalten der Bevölkerung in Germanien gegenüber römischem Münzgeld in den ersten Jahrhunderten um und n. Chr. nicht betrifft. Es beginnt mit republikanischen Münzen in Germanien vor und um Chr. Geb.2072 In der PrezworskKultur sind während der vorrömischen Eisenzeit zum Beispiel fünf republikanische Denare in einer Siedlung wohl aus einem zerpflügten Hort gefunden worden, aus der zweiten Hälfte des 2. und dem 1. Jahrhundert v. Chr., die erst spät ver graben worden sind (B2/C1, gegen 200 n. Chr.), was belegt, dass frühe Münzen lange in Benutzung waren und schon recht früh relativ weit nach Norden gelangt sind.2073 Keltische Münzen und republikanische Bronzemünzen im polnischen Gebiet sind zusammengestellt;2074 und es wird überlegt, ob diese gemeinsam oder unabhängig voneinander um Chr. Geb. verwendet wurden. Frühe Münzen der DrususÄra, also alle Prägungen in Gold, Silber oder Kupfer, vor 9 v. Chr., kommen schon recht zahlreich in Germanien vor; natürlich zuerst einmal in den Kastellen und Marschlagern während der Angriffskriege, aber auch weit gestreut zwischen Rhein und Weser und inzwischen auch im Osten.2075 Aurei und Denare sind weiter verbreitet als Kupfermünzen derselben Epoche, letztere mar kieren deutlicher die Vormarschrichtungen entlang der Lippe bis in die Gegend von Hedemünden und weiter bis Richtung zur Elbe. Es war das normale Geld der Legi onäre. Allgemein für ganz Germanien sind die römischen Münzen mit Blick auf die Zustromwege, die zeitliche Verteilung, den Fundzusammenhang sowie die jeweilige Funktion gewertet worden.2076 Ein Tagungsband 2008 befasste sich mit den römischen Münzen außerhalb des Römischen Reichs und legte damit verschiedene Zusammenstellungen und Kartie rungen zur Verbreitung vor.2077 Auch für die meisten Teillandschaften gibt es solche Kataloge und Karten: Römische Münzen zwischen Rhein und Saale,2078 oder Münzfunde der römischen und germanischen Eisenzeit in Jütland.2079 Die Münzen dienten zugleich als Quelle für die Frage nach möglicher Münzgeldwirtschaft außerhalb des Römischen Reiches;
2072 Bodeek, Bulas, Grygiel, Pikulski 2016. 2073 Dymowski 2014. 2074 Dymowski 2014; 2015. 2075 Berger 1992; 2015, 186 Abb. 2 Karte der Denare und Aurei; 187 Abb. 3 Karte der Kupfermünzen. 2076 Bursche, Ciołek, Wolters (Hrsg.) 2008. 2077 Bursche, Ciołek, Wolters (Hrsg.) 2008. 2078 Schubert 2011. 2079 Højbjerg Bjerg 2011.
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denn auch in Germanien wurden „römische“ Münzen nachgeahmt, das aber vor allem erst während und nach der Spätantike. Was brauchte die Elite für ihre Reprä sentation und ihre Wirtschaft?2080 Für Nordwestdeutschland wurden die römischen Münzen mehrfach registriert und kartiert, einschließlich der Münzfunde im Bereich des Schlachtfeldes von Kalk riese.2081 Die jüngste Kartierung findet sich bei F. Berger 2015.2082 Berger hat auch statistische Untersuchungen zu römerzeitlichen Münzfunden in Nordwestdeutsch land, in Niedersachsen und Westfalen, vorgelegt.2083 Für Westfalen sind die Münzen des 2. Jahrhunderts von Chr. Reichmann zusammengestellt, ausgehend vom Fernhan delsplatz Gelduba (KrefeldGellep).2084 Auf die römischen Münzen im rechten Rheinvorland, dem aufgegebenen Deku matland, bin ich noch eingegangen (vgl. S. 597).2085 Nutzten noch zurück geblie bene römische Siedler wie bisher das Münzgeld im Kaufhandel, oder hatten sich die zugewanderten Germanen auch schon daran gewöhnt? Kartierungen liegen weiterhin vor, beispielsweise für Oberfranken für die Römische Kaiserzeit und die Völkerwanderungszeit aus dem Jahr 2000;2086 neue Münzfunde aus dem Umfeld der Ehrenbürg bei Forchheim, der Höhensiedlung des 4./5. Jahrhunderts, und die germanischrömischen Beziehungen im völkerwanderungszeitlichen Oberfranken wurden nun 2016 erörtert,2087 gegliedert in die Epochen der Soldatenkaiser (235–284), der Konstantinischen Dynastie (306–363) und der Valentinianischen Dynastie bis Theodosius (364–395). Horst Wolfgang Böhme hat in seinem Beitrag „Franken oder Sachsen“ einige Karten zur Verbreitung römischer Münzen in Germanien bis zur Elbe zusammengestellt, zu den Kupfermünzen von 294–361 sowie die Solidi von 309 bis 425 und parallel dazu auch die spätantiken Goldhorte des 4./5. Jahrhunderts kartiert (vgl. dazu auch die Goldhorte vom Typ Velp, oben S. 520).2088 Schon in der einsti gen DDR wurden 1980 die Münzen erfasst2089 und in Nordostdeutschland wieder 2008.2090 Für SachsenAnhalt ist im Rahmen der „Fundmünzen der römischen Zeit in Deutschland“ der Band im Jahr 1993 vorgelegt.2091 Zu Mitteldeutschland liegen
2080 WiggWolf 2008; 2016. 2081 Berger 1992; 1996; 2008; 2009; 2015; Erdrich 1995a; 2001a; Kartenbilder aufgegriffen auch bei Böhme 1999a, b. 2082 Berger 2015. 2083 Berger 2008. 2084 Reichmann 2001. 2085 Stribrny 1989. 2086 Haberstroh 2000. 2087 M. Zimmermann 2016. 2088 Böhme 1999a, 48 Abb. 2 (Kupfermünzen), 59 (Solidi); 54 ff. (Goldhorte wie Velp); 1999b, 53 Abb. 1 (Solidi). 2089 Laser 1980. 2090 Komnick 2008. 2091 AlföldiRadnoti (Hrsg.) 2003, bearbeitet von R. Laser und K. Stribrny.
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für das 1. Jahrhundert v. Chr. bis zum 3. Jahrhundert n. Chr. aus dem Jahr 2016 neue Münzauswertungen vor.2092 Als Beispiele weise ich nur auf die römischen Münzen außerhalb des Imperiums in Österreich2093 oder die Münzen auf Bornholm hin.2094 Kulturgeschichtlich auf schlussreich ist die Analyse der kaiserzeitlichen Denare auf den Gebieten der Prze worsk, Wielbark und ChernjachovKultur sowie auf den Ostseeinseln anhand der Horte.2095 Bis hinauf in das westliche Baltikum sind römische Münzen gelangt.2096 Die römischen Münzen zwischen Rhein und Saale sind 2011 gelistet und kartiert worden.2097 Allgemein geht es um die Beziehung zwischen der spätrömischen Welt und Germanien im Lichte der Münzfunde in den Arbeiten von A. Bursche.2098 Spät römische Münzhorte im nördlichen Karpatenbecken sind 2009 registriert worden.2099 Nicht alle Katalogisierungen führe ich an; ebenso bilde ich keine der zahlreichen Ver breitungskarten ab. Münzen gab es überall in Germanien, und das wird deutlicher mit zunehmender Funddichte. Es sind speziell zusätzlich die Münzen eines Museums, des Germanischen Nati onalmuseums Nürnberg, 2014 vorgelegt und dazu einige instruktive Kartierungen angefertigt worden.2100 Katalogisiert sind beispielsweise dort 600 römische Fund münzen, 17 Aurei, 347 Silbermünzen, darunter 342 Denare, vier Antoniniane, 282 Kupfermünzen, 14 barbarisierte Denare und zwei Medaillons. Aufgeführt wird die Häufigkeit der Silbermünzen aus Einzelfunden in Mitteldeutschland in Abschnitten 64–78 n. Chr., dann 99–141, es folgt ein starker Anstieg nach 148 und nach einer Lücke ein weiterer Anstieg von 218–225. Kartiert werden15 Fundstellen mit barbarisierten Denaren, alle Denarhorte und alle Goldmünzen. Es muss also demnach jeweils um spezielle Fragestellungen gehen, wenn es noch einen Sinn haben soll, Münzen zu katalogisieren. Die Münzverteilung entlang der Bern steinstraße liegt vor,2101 oder der Münzfluss während und nach den Markomannen kriegen nach Germanien, den A. Bursche analysiert hat und dazu Karten vorlegt.2102 Die allgemein Zirkulation der Münzen in Nordeuropa während der Spätantike,2103 ebenso die Kontakte zwischen dem spätrömischen Reich und Nordeuropa im Spiegel
2092 Richter 2016. 2093 Dembski 2008. 2094 Horsnæs 2010, 2013a. 2095 Dymowski, Myzgin 2014, Fig. 5 Karte der Fundorte, differenziert nach Schätzen. 2096 Zapolska 2013. 2097 Schubert 2011. 2098 Bursche 1992; 1994; 1997; 2002; 2006; in der Spätantike 2008c; 2017. 2099 Kolníková, Pieta 2009. 2100 Springer 2014. 54, 55, 57 Karten. 2101 Natański 1997. 2102 Bursche 1994. 2103 Bursche 2002.
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der Münzen und anderer Sachen sind ebenfalls von ihm ausgewertet.2104 Sein Thema sind genauso die spätrömischen Kontakte zwischen den römischen Provinzen und Germanien in Zentraleuropa im Spiegel der Fundmünzen.2105 Römische Münzen nahe der südlichen Ostseeküste legte A. Bursche 1992 vor,2106 wobei es um die Kontakte über die See nach Norden in den nachfolgenden Beiträgen geht. Nur besondere Fundkontexte sind weiterführend. Die Münzen in Mooren, d. h. in den Heeresausrüstungsopfern, zeigen, welche Barschaften die germanischen Krieger bei sich hatten.2107 Römische Münzen aus Gräbern, sowohl aus Brand als auch aus Körpergräbern, hat Jan Bemmann 2005 für Mittel und Nordeuropa katalogisiert und dazu zahlreiche Kartierungen aller Grabfunde mit Münzen bis an die Weichsel beige fügt, aufgegliedert nach Zeitphasen.2108 Dabei geht es um die Sitte des Obolus, des „Fährgeldes“ ins Totenreich, eine eigentlich antike Sitte, die in Germanien übernommen worden ist und am häufig sten in den Fürstengräbern der jüngeren Römischen Kaiserzeit vorkommt.2109 Das war die Beobachtung, die Joachim Werner seinerzeit bei der Gruppe der HaßlebenLeuna Gräber angestellt hatte und mit Söldnerdiensten im Reich des Postumus erklären wollte. Zurückgekehrte Söldner hätten auch diesen Brauch zuvor kennengelernt.2110 Die Gesamtsicht auf die Münzverteilung im mittleren Europa durch J. Bemmann hat nun demgegenüber gezeigt,2111 dass diese These nicht mehr haltbar ist, sondern dass diese Münzen in vergleichbarer und gar höherer Anzahl auch weiter nördlich vorkom men (vgl. S. 488). Zuvor hatte schon J. Gorecki2112 die Münzbeigabe in römerzeitlichen Körpergräbern zwischen Rhein, Mosel und Saar, also auf römischem Provinzboden, dargestellt. In fast jeder Siedlung in Germanien sind bei den Ausgrabungen neben allem anderen Sachgut ebenfalls Münzen gefunden worden. Dabei fällt auf, dass in römi schen Siedlungen innerhalb des Reiches regelhaft deutlich größere Mengen an ver lorenem Münzgeld registriert werden kann, in den Siedlungen Germaniens sind die Zahlen wesentlich geringer. Auf der Feddersen Wierde wurden 34 römische Münzen, auch in der Geestsiedlung Flögeln wurden einige Denare gefunden.2113 In Nieder sachsen gibt es weitere 14 Siedlungen mit zusammen etwa 160 römischen Münzen, aufgespürt mit dem Metalldetektor. In Sievern wurde ein kleiner Hort mit 10 Denaren 2104 Bursche 1996a. 2105 Bursche 1996b. 2106 Bursche 1992. 2107 Horsnæs 2003. 2108 Bemmann 2005a, 4 Abb. 2 alle Grabfunde bis an die Weichsel; 24 Abb. 15 Körpergräber mit Münzen. 2109 Bemmann 2005a, 25 Abb. 16 ObolusGräber, 28 Abb. 17 Tabelle der Gräber mit ObolusBeigabe. 2110 Werner 1973 und dazu jetzt Bemmann 2005a. 2111 Bemmann 2014. 2112 Gorecki 1965. 2113 Højberg Bjerg 2011 (2013), 259 ff.
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gefunden. Aus der Siedlung ElsflethHogenkamp, Kr. Oldenburg stammen allein 110 Münzen, weshalb der Ort als Handelsplatz gewertet wird.2114 Hier wurden außer den Denaren auch noch 41 Bronzemünzen, darunter 21 halbierte gefunden. Dabei handelt es sich nicht um Söldnergeld, sondern um Münzen als Tauschmittel. Es könnte sich hier weit vom Limes entfernt in Germanien um eine lokale differenzierte Münzwirtschaft gehandelt haben. Denare waren abzählbar, ohne dass man sie im Handel wiegen musste. Eine Zusammenstellung der Münzen in Westfalen hat P. Ilisch vorgelegt.2115 Wie schon angesprochen (vgl. S. 568), spiegelt im Limesvorland in Südwest deutschland die Verbreitung der Münzen die Fortdauer einer gewissen Geldwirt schaft. Ob diese von verbliebenen „Römern“ weiter betrieben worden ist oder von zugewanderten Germanen übernommen wurde, bleibt eine Frage.2116 Der Münzkomplex von Deesen, Westerwaldkreis, mit 62 Denaren, geprägt zwi schen 69 und 175 n. Chr., gefunden 15 km jenseits des Limes, war wohl der Inhalt einer Geldbörse,2117 und dieser wird als Hinterlassenschaft bei „tragischem Tod in der Fremde“ des einstigen Besitzers erklärt. Dabei handelt es sich um den üblichen Sold eines zurückgekehrten Söldners, der die Erde als „Tresor“ genutzt hat, aber das Geld nicht wieder aufnehmen konnte oder wollte. Wir können aber auch an eine Opfer niederlegung denken (vgl. unten S. 614). Die Publikation geht hier in die Einzelhei ten: Danach spricht die Fundverteilung dafür, dass wilde Tiere einen Leichnam mit Bekleidung und seiner Geldbörse umhergeschleift und gefressen hatten, ein indivi duelles Schicksal. Der Inhalt spiegelt die normale Entnahme der Münzen aus dem Münzumlauf des Römischen Reichs wider, was der Vergleich der Münzen von Deesen mit den Funden von Niedergirmes, Stadt Wetzlar, und anderen Münzfunden in Ger manien bestätigt. Ein Histogramm bietet die Münzverteilung von Otho (69 n. Chr.) über Trajan und Antoninus Pius bis Marc Aurel (161–180). Für das heutige Dänemark gibt es mehrere Zusammenstellungen und Kartie rungen der römischen Münzen, meist der Denare aus Silber (insgesamt um die 5000 Denare).2118 Speziell für Jütland sind die Denare sorgfältig nach ihren Fundkontex ten katalogisiert,2119 was als Beispiel hier aufgeführt werden soll: Von Sondengän gern gesammelt (41), ausgepflügt (10), Zufallsfunde (8), bei Bauarbeiten entdeckt (41) und aus regulären archäologischen Ausgrabungen (332). Das sind immerhin 432 Münzen. Ihre Verbreitung in Jütland bieten mehrere Karten. Auf die Denare bis Mitte
2114 Mückenberger 2013. 2115 Ilisch 2007. 2116 Stribrny 1989. 2117 Henrich 2018a; 2018b, 219 Abb. 7. 2118 Rausing 2010; Staffordshire Hoard 2019, 347 (Sv. Fischer). 2119 Højberg Bjerg 2011 (2013), 258 Tab. 6 und die Karten Abb. 10 bis 16, in Zusammenhang mit sons tigen römischen Importen Abb. 17.
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des 5. Jahrhunderts folgten Siliquae und parallel dazu dann Solidi in den Zentralorten wie Gudme. In der Siedlung Dankirke (vgl. S. 260) sind 38 Denare (republikanisch bis Ves pasian und ein unter Probus [276–282] geprägter Antoninian) geborgen worden, später werden in dieser Siedlung – eine Kontinuität der Besiedlung – Sceattas und merowin gische Trienten der Zeit um 600/700 gefunden. Wie andernorts skizziert, wurden von den 4 ha nur 3000 m2 der Siedlung ausgegraben, wobei sieben Häuser der Zeit von 200 v. bis 750 n. Chr. dokumentiert wurden. Die Münzen sind anscheinend erst spät deponiert bzw. verloren worden, aber ein Denar stammt sicher aus einem B2Befund (also um 50 bis 150 n. Chr.). Von der Siedlung Kathrinelund bei Silkeborg, etwa 4 ha groß, sind zwei bis drei Reihen von 12 bis 14 dicht beieinander gefügten Gehöften mit insgesamt rund 25 Gebäuden, darunter neun Langhäuser des 3./4. Jahrhunderts bis ins 5. Jahrhundert freigelegt worden. Gefunden wurden dort nur sieben Denare. Die Münzen waren Prestigeobjekte, vielleicht auch Tauschmittel bei Handelsaktionen. In den großen Heeresausrüstungsopfern sind ebenfalls Münzen in nicht geringer Zahl im Rahmen der Ausgrabungen und bei der Analyse des breiten Fundspektrums ausgewertet worden, so im Moor von Illerup;2120 es gibt weitere Münzen in Mooren.2121 Der Fund von Råmose auf Seeland mit 428 Denaren ist nach den Schlussmünzen gegen 180 n. Chr. in die Erde gekommen ist. Auf Bornholm2122 sind damals 2010 ins gesamt 495 Münzen, auf Fünen und Seeland 457 Münzen und im östlichen Jütland 149 Münzen dokumentiert worden.2123 Auf Bornholm sind inzwischen – vor allem mit Metalldetektoren – schon rund 2500 römische Münzen geborgen worden. Die Zahlen sind – hier für Dänemark – unterschiedlich, je nach Jahr der Publika tion. Es heißt, in Dänemark wurden insgesamt nur 2750 Münzen registriert. Im heutigen Dänemark waren es 1989 insgesamt rund 2232 Denare, also weniger als ein einziger Legionär für den Ruhestand bekommen hat. Die Zahl setzt sich auch aus einigen Schät zen mit mehr als 9 Denaren zusammen. Spätere römische Münzen in Dänemark sind 331 der jüngeren Siliquae seit dem 4. Jahrhundert (unter Kaiser Konstantin um 323 aus gegeben), 43 Aurei und 230 Solidi. F. Herschend hat die Münzen für das Ostseegebiet und für Polen 1991 ausge wertet,2124 und er bietet ChronologieKarten mit der Datierung der römischen Münzen für das 2. Jahrhundert v. Chr., das 1. Jahrhundert v. Chr., dann das 1.bis 4. Jahrhundert n. Chr. in vier Karten, und zwar nicht mit der jeweiligen Anzahl der Münzen, sondern die Verbreitung einzelner Typen je nach Gebiet, und in farbigen Blautönen. Je höher
2120 Bursche 2011. 2121 Horsnæs 2003. 2122 Horsnæs 2010, 440 Fig. 9. 2123 Wiechmann 2005, 142; Zahlen: Stand nach Lind 1988; für SchleswigHolstein z. B. kommen ab 1994 neu 67 Münzen zum Altbestand von 485 bzw. 700 Münzen: Offermann 2019 mit Verteilungen auf die Nominale und die Kaiser. 2124 Herschend 1991, 34 f. Fig. 1 a–h.
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die Zahl und je dunkler die Farbe, desto enger soll die Verbindung zum Römischen Reich gewesen sein. Diese Karten sind wieder abgebildet von B. Storgaard 20032125 und zeigen, dass das südliche Jütland die intensivsten Kontakte hatte, nicht etwa die Insel Seeland mit den „Fürstengräbern“. Eine jüngere Auswertung der römischen Münzen im südlichen Polen hat J. Bodzek 2009 veröffentlicht, wobei das Schwerge wicht auf Münzen des 4. und 5. Jahrhunderts, darunter byzantinische Solidi, gelegt wird.2126 Es handelt sich um 36 Fundkomplexe des 3./4. Jahrhunderts. Die Funde in Schweden sind 1988 katalogisiert.2127 Im Jahr 2013 waren es schon mehr als 1000 Denare. Auf Gotland wurden damals 6500 (2019: über 7000, in Süd schweden 900, auf Öland 130 und im Mälargebiet 80 Denare etwa aus der Zeit des Nero bis Septimius Severus gefunden; 2019: Schweden insgesamt 8000 Denare).2128 Die Silbermünzen sind wohl auch vor allem im 2. und 4. Jahrhundert in den Norden gelangt, auf allerlei unterschiedlichen Wegen und Funktionszusammenhängen über das zentrale Germanien. Römische Münzen gelangten im 2./3. Jahrhundert bis ins ferne Baltikum nach Litauen. Immerhin sind 1800 bis 1850 Münzen registriert, davon 1079 in der SteinkreisgrabKultur, in denen jeweils einzelne Münzen in den Gräbern lagen. Doch gibt es auch Horte. Dass die Münzen dahin kamen und zwar meist zu den ranghöheren Leuten, wird wie sonst auch über Handel, Belohnung und sogar Lösegeld erklärt.2129 Alle Typen kommen vor, Kupfermünzen, Denare und Sesterzen, die – so die Autoren – gewissermaßen auch als Pachtzins ihre Funktion erfüllten. Wenn hier noch einmal der Bericht des Tacitus (Germania c. 5) eingefügt wird, als Illustration zum archäologischen Befund, dann erblickt man einen Aspekt der Rolle von Münzen in Germanien. Allerdings wissen unsere nächsten Nachbarn wegen des Handelsverkehrs mit uns Gold und Silber zu schätzen, und sie kennen bestimmte Sorten unseres Geldes und nehmen sie gern; doch im Innern herrscht noch einfacher und altertümlicher Tauschhandel. Von unseren Münzen gelten bei ihnen die alten und seit langem bekannten, die gezahnten und die mit dem Bilde eines Zweigespanns (serratos bigatosque). Silber schätzen sie mehr als Gold, nicht aus beson derer Vorliebe, sondern weil sich der Wert des Silbers besser zum Einkauf alltäglicher, billiger Dinge eignet.
Das ist im Fundmaterial nicht in dieser Detaildarstellung nachweisbar, erläutert aber die Situation der Denare im Umlauf bis ins 5. Jahrhundert. 2125 Storgaard 2003, 107 Abb. 1. 2126 Bodzek 2009, 157 Fig. 1 Karte zu den archäologischen Kulturen des 3./4. Jahrhunderts in Polen, also zur Wielbark und PzreworskKultur, 167 Fig. 2 Karte zu den Fundmünzen (von 364 bis 408), 174 Fig. 3 Karte zu den Fundmünzen ab frühem 5. Jahrhundert, mit einer Massierung im Weichselmün dungsgebiet. 2127 Lind 1988. 2128 Staffordshire 2019, 347 (Sv. Fischer). 2129 Bliujienė, Butkus 2017.
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Leute, die näher am Limes lebten, waren besser informiert über Münzgeld, als die Bewohner in weiter Ferne von der Grenze; in der Nähe war man an den Umgang mit Geld gewöhnt. Die Kartenbilder von K. Stribrny zur Verbreitung von römischen Münzen nach 260 n. Chr. östlich des Rheins zeigen, dass die Bevölkerung hier noch an Münzgeld gewöhnt war, gleich, ob es sich noch verbliebene römische Bevölkerung oder um zugewanderte germanischen Gruppen gehandelt hat.2130 Ähnlich wird es beiderseits des Gebiets am Niederrhein gewesen sein. Überhaupt sollte man davon ausgehen, dass mobile germanische Krieger und Händler auch Münzgeld brauchten, wenn sie über die Grenze ins Römische Reich reisten. A. Bursche geht von einer allgemeinen Subsistenzgesellschaft aus, die keine Marktfunktionen oder mechanismen besaß und dass die Beziehungen zwischen den Personen auf der Basis von Ehre, Tradition und Prestige geregelt waren. In einer solchen Gesellschaft ist die Funktion der Münzen eine andere als im ökonomisch komplexer entwickelten Römischen Reich.2131 Die Sitte, Verstorbenen den Charonspfennig in den Mund zu legen, spiegelt aber sichtlich eine Geldvorstellung; man sah die verwendeten Münzen also als Zah lungsmittel an. Da die Bestattungen zudem importierte oder mitgebrachte römische Bronzegefäße als Beigaben enthalten haben, kann man davon ausgehen, dass diese Leute römische Verhältnisse aus eigenem Erleben kannten. Immerhin gibt es auch Nachahmungen bzw. Kopien römischer Münzen, die in Germanien hergestellt worden sind.2132 Es wurden vor allem römische Münzen in Gold nachgeahmt,2133 und zwar römische Münzen aus Bronze in Gold. Bei gotischen Goldmünzen verwundert das hohe Gewicht der Nachahmungen nicht. Es gab die Plünderung einer Münzstätte durch Barbaren im Mittelmeerraum; Prägestempel wurden in die gotische Heimat in der Ukraine mitgeführt, wo die Nachahmung der Münzen von einheimischen Handwerkern erfolgte, wobei außerdem noch Ausbesserungen und Änderungen der Stempel vorgenommen wurden.2134 Darin zeigt sich beispielshaft, dass wohl auch ver schleppte Handwerker, Schmiede, Feinschmiede, Glashersteller, Münzer, Drechsler mit ihren Geräten und Werkzeugen wichtige Faktoren für die Ausbreitung neuer Tech nologien im Norden in Germanien während der jüngeren Kaiserzeit gewesen sind.2135 Ich meine, wir sollten nicht übersehen, dass es freiwillige Übersiedlungen von Hand werkern gegeben haben wird und dass die einheimischen Handwerker über eigenes Können verfügt und die neuen technischen Möglichkeiten schnell erlernt haben. Außer Münzen wurden auch römische Goldmedaillons in Germanien nachge ahmt; solche Objekte kommen von Dakien bis Jütland vor. Eine Graphik zeigt die 2130 Stribrny 1989. 2131 Bursche 2008c; 2011. 2132 Berghaus 1976. 2133 Bursche 2014; Bursche, Myzgin 2017, 447; Horsnæs 2013b. 2134 Bursche, Myzgin 2017, 449. 2135 Bursche, Myzgin 2017, 450.
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Medaillons mit ihren Gewichten (A Gewicht bis 15 g, B. Gewicht bis 50 g, C Gewicht bis 200 g, D Gewicht über 200 g).2136 Sie wurden später zu Vorbildern für die Gold brakteaten (vgl. unten S. 1206). Der Zufluss römischer Münzen geschah ebenso in Wellen, wie auch der gesamte Import von Sachgütern (vgl. S. 94). Nach den Markomannenkriegen kamen keine Münzen mehr in größerer Menge nach Germanien.2137 Aber andererseits gab es Sied lungen mit einem hohen Anteil an Fundmünzen im thüringischen Raum, die nur in der späten Römischen Kaiserzeit, ungefähr vom Ende des 2. bis zum beginnenden 4. Jahrhundert existierten. Münzen strömten nach den Markomannenkriegen erst später also doch zahlreicher in manche Regionen Germaniens ein, weil die Germanen jetzt einen für die römischen Händler akzeptablen Gegenwert besaßen – römisches Geld.2138 Erst mit dem gallischem Sonderreich (260–274) gab es wieder eine Zunahme an Importen. Die engen späten Kontakte zwischen Germanien und dem Römischen Reich im Spiegel der Münzen, nun sind es die Goldmünzen, Solidi, hat A. Bursche mehrfach beschrieben.2139 Die zahlreichen Horte in Germanien bilden durchaus indirekt den Münzumlauf des Römischen Reich in Germanien ab. Die Münzfunde prägen in Germanien zwei unterschiedliche Bereiche: In einer Pufferzone von ca. 200 km hinter der Grenze finden sich besonders viele Bronzemünzen, die auf Handel und Kontakte mit dem Reich hinweisen; außerhalb weiter entfernt herrschten vor allem Edelmetallmünzen vor, die dort einen symbolischen Wert als Prestigeobjekte hatten.2140 Die römischen Münzen als hortbares Gut, als Rohmaterial zur Weiterverarbeitung nach dem Einschmelzen und in Teilräumen im eingeschränkten Sinne auch mit einer gewissen Geldfunktion im Zahlungswesen, wurden schon ausführlich gewürdigt (vgl. S. 561), so im grenznahen Bereich2141 oder im Norden während der Römischen Kaiserzeit und der Völkerwanderungszeit, wofür die starke Abnutzung sprechen würde, so bei Münzen, gefunden in Dankirke, Gudme und Lundeborg.2142 Für welche Produkte interessierte sich die Bevölkerung in Germanien? Warum haben sie die Waren nicht selbst produziert? Gefäße, Trachtbestandteile, Waffen, Werkzeuge und Geräte, Möbel, Statuetten, Münzen kamen aus den römischen Provin zen zu den Germanen, und diese benutzten sie einerseits wie die Römer, andererseits als Rohmaterial zur Weiterverarbeitung. Die Markomannen und Quaden, also die Bewohner in Böhmen und Mähren, haben die Funktion der Münzen als Zahlungsmit
2136 Bursche, Myzgin 2017, 446 Abb. 10 Karte, nach Bursche, Myzgin (nicht in der Bibliographie) 2013, Karte. 2137 Erdrich 2001a, 74. 2138 R. Wolters 1991, 86 f.; Erdrich 2001a, 104–108. 2139 Bursche 2003a; 2006. 2140 Kehne 2008b. 2141 Stribrny 1989; 2003. 2142 FonnesbechSandberg 1989, 447; Nielsen 1987, 159 f.
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tel akzeptiert und verwendeten sie sogar im internen Handel, so die Meinung einiger Forscher;2143 in anderen Gebieten der Slowakei kamen die Münzen nur in Schätze. Die Funktion der römischen Münzen war also bei den Germanen sehr verschie den. Sie waren Rohstoff für die Metallverarbeitung zu Schmuck und Zierobjekten, sie waren Schatz und Hortungsmittel von Reichtum und regional auch anscheinend begrenztes Zahlungsmittel. Münzen als Grabbeigabe waren Wegepfennige, Charons pfennige. Im Fürstengrab von Gommern waren fünf Denare in einem Beutel, der am Gürtel aufgehängt war wie eine Geldbörse, aufbewahrt; außerdem lag im Mundbe reich ein Aureus als Charonspfennig, also auch ein Zahlungsmittel. Edelmetallstücke, also Hackgold beispielsweise, wurde zum Bezahlen verwendet.2144 Von den Münzen nutzten sie vor allem die Silbermünzen statt Gold, weil die größere Zahl beim Einkauf bequemer war (Tacitus, Germania c. 5.3). Ein Gabentausch, wie mehrfach erwähnt, innerhalb der germanischen Führungsschicht bezog sicherlich auch die römischen Münzen mit ein.2145 In Haarhausen haben vielleicht römische Handwerker gearbeitet und Münzen mitgebracht; Hermunduren haben in den Truppen des gallischen Sonderreichs Söld nerdienste geleistet, wie die Angehörigen der Elite, die später in den Gräbern von Haßleben und Leuna bestattet worden sind mit einem Aureus als Charonspfennig. Zurückkehrende Söldner aus römischen Diensten wussten, was Münzgeld bedeutete. Die Personengruppen bei Haarhausen hatten in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts sich für längere Zeit im Römischen Reich aufgehalten. Die Beigaben römischer Waffen im Gräberfeld von Wechmar, Ldkr. Gotha, zwischen 180 und 260/270 zu datieren, sind wie andernorts Hinweis auf einen Dienst in römischen Auxiliartruppen. In den Fürsten gräbern lagen römische Münzen, die als Spielsteine neben Glasstücken gedient haben.
10.2 Alte Denare im 5. Jahrhundert Wie nachfolgend gezeigt wird, waren die guten alten Denare der frühen Römischen Kaiserzeit über lange Zeit noch in Germanien vorhanden und kamen erst im 5. Jahr hundert in die Erde (als verstecktem Schatz oder als Grabbeigabe). Wo und wie diese Silbermünzen über Jahrhunderte aufbewahrt worden sind, in privaten Hausschätzen unterschiedlich ranghoher Familien bis zum königlichen Niveau, bleibt der Spekula tion überlassen. Ob diese Münzen auch für uns unerkannt als Zahlungsmittel sogar im Ostseegebiet eine Rolle gespielt haben können, bleibt ebenfalls ungeklärt. Römische Münzen dienten – außer als Rohmaterial zur Weiterverarbeitung – auch als Schmuck stücke, als Charonspfennig in den „Fürstengräbern“ der HaßlebenLeunaGruppe des 2143 Hmčiarik 2013. 2144 Springer 2014, 71 f. Anm. 1905: Steuer 2002a, 333; Bursche 2002, 121–125; Bursche 2008c; Steuer 1999c, 514 f., 535, 538. 2145 Springer 2014.
10.2 Alte Denare im 5. Jahrhundert
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3. Jahrhunderts. Vor allem die älteren Denare des 1. und 2. Jahrhunderts mit hohem Silbergehalt wurden gehortet und blieben in gewisser Weise weiter im Umlauf. Der Wert römischer Denare aus gutem Silber für die Bewohner Germaniens ist nur indirekt abzuschätzen, vor allem, was das in Germanien denn tatsächlich bedeutete. Man hat sie jedoch erkannt und aussortieren können, um sie zu horten. Ob das über die Kai serbildnisse, die Inschriften – wer alles konnte lateinisch lesen? – oder den Münztyp geschah, wissen wir nicht (vgl. unten S. 1249 zur Runen und zur lateinischen Schrift). Max Martin meinte anhand der späten Denarschätze, die oft sehr abgenutzte Münzen enthalten haben, dass mit einer partiellen Monetarisierung bzw. irgendeiner Art Münz ökonomie in gewissen Schichten der Bevölkerung, eben der Elite, zu rechnen sei.2146 Im Grab des Frankenkönigs Childerich (gestorben 482)2147 lagen noch 200 alte Denare und mehr als 100 Goldmünzen (bei einem SolidusGewicht von 4,55 g wären das 455 g Gold).2148 Es gibt im Ostseeraum einige Münzhorte, wie ein solcher ins Grab des Childerich gelegt worden war, die wohl auch überwiegend erst in der frühen Völkerwanderungs zeit vergraben worden sind. Einen ähnlichen spät vergrabenen Hort2149 mit alten Denaren stammt von Vedrin, auch in Belgien, vergraben ab 491. In Smørenge auf Bornholm wurde1983 ein großer römischer Denarschatz nach einigen Turbulenzen relativ komplett geborgen.2150 Er besteht aus 498 Münzen sowie zwei kleinen Barren und ist somit der größte Denarfund in Dänemark. Die Zusam mensetzung ist chronologisch interessant gestaffelt; nach einzelnen Münzen seit Ves pasian (69–79) springt die Zahl mit Münzen des Trajan (98–117) auf 20, des Hadrian (117–138) auf 43 und dann mit Münzen des Antoninus Pius (138–161) auf 135 sowie des Marcus Aurelius (161–180) auf 177, um dann mit Münzen des Commodus (180–192) auf 102 zu sinken und mit 12 Münzen des Septimius Severus (193–211) zu enden, wobei nur noch vereinzelte barbarische Imitationen dazugehören. Für die Datierung des Fundes aber ist eine Goldmünze, ein Solidus, des Kaisers Anthemius (467–472) ent scheidend; denn damit ist der Schatz erst in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts nach langer Aufbewahrung vergraben worden. Ähnlich ist das Depot II von Gudme, eigentlich ein Goldschatz, in dem auch ein sehr abgegriffener FaustinaDenar des 2. Jahrhunderts mit angesetzter Öse lag, was auf eine lange Umlaufzeit hinweist (vgl. S. 342). Bei der großen Halle wurden römi sches Hacksilber und 115 Denare neben anderen bedeutenden Objekten gefunden, im Zusammenhang datiert ins 5. Jahrhundert.2151 Einen ebenso datierten Münzkomplex
2146 Wiechmann 2005, 142 f.; Martin 1987; 2004; 2009. 2147 Quast (Hrsg.) 2015a. 2148 Martin 2004; 2009; S. Fischer, Lind 2015. 2149 Stafforshire Hoard 2019, 348 (Sv. Fischer). 2150 Kromann 1984; Wiechmann 2005; Lind 1988. 2151 Jørgensen 2011, 83 zu den Denarfunden; Kromann 1987; 1994; Kromann et al. 1991; Vang Peter sen 1987.
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10 Das römische Geld
gibt es in Sorte Muld auf Bornholm (vgl. S. 360).2152 Auch auf Gotland gibt es solche Horte mit frühen Denaren und späteren Solidi, weshalb sie gut zu datieren sind.2153 Ein weiterer Hortfund von Fromborg/Frauenburg an der unteren Weichsel war schon 1911 zutage gekommen. Er bestand aus Münzen, 24 Denaren, einem As und einem Sesterz aus der Zeit von Titus (79–81) bis Mark Aurel (161/169–180) und dazu einem Solidus des Theodosius II. aus den Jahren 430 bis 440. Dabei, wohl in einem Beutel, lagen je ein Dutzend Fibeln und Schnallen sowie Halbfabrikate. Es war wohl ebenfalls der Besitz eines Bronzegießers der Stufe D 2, der erst vor der Mitte des 5. Jahrhunderts vergraben worden ist.2154 Im Jahr 2003 hat H. Mäkeler eine aufschlussreiche Zusammenstellung der Einzel und Schatzfunde mit Münzen aus den Zentralorten veröffentlicht, die zeigt, dass alte Denare des 1. und 2. Jahrhundert nicht nur bis ins 5. Jahrhundert in Skandinavien in Umlauf waren, sondern sogar bis ins 8. Jahrhundert.2155 Histogramme zeigen die Spannweite der einzelnen Münzen im Zentralort Gudme auf Fünen in den Flächen I, II und IV von den Kaisern Vespasian (69–79) bis Zeno (476–491) und im Depotfund von Gudme III, vor allem mit Münzen Constantius II. (337–361) und Nachprägungen des 4. Jahrhunderts. Im Hafenplatz zu Gudme in Lundeborg reichen die römischen Münzfunden von Nero (54–61) und wieder bis Constantíus II. Im Zentralort Dankirke in Jütland gibt es Münzen von Hadrian (117–138) und Probus (276–282), in Sorte Muld auf Bornholm von Vespasian bis Zeno unter den Einzelfunden und im Depot. Eine Tabelle fasst diese Befunde noch einmal übersichtlich zusammen für Münzen von der Republik über das 2. und 4. bis ins 5. Jahrhundert. Dabei überwiegen Münzen des 4. Jahrhunderts.
10.3 Geldfunktion in Germanien Zum Abschluss des Kapitels über römische Münzen in Germanien bleibt die Frage, wann und wo diese Münzen in Rahmen eines Zahlungswesens mit Geld bei der Bevöl kerung gedient haben könnten. Einige Beispiele wurden oben genannt, die immer mit einem Fragezeichen versehen werden mussten. Eine weitere Frage bleibt außer dem noch: Wie steht es mit einem eigenen Zahlungswesen, wenn es nicht nur um Geschenke ging, sondern um einen Art Markthandel. Die wertvollen Goldringe, von den Fingerringen an bis zu den Arm und Halsringen, waren viel zu teuer, um damit
2152 Watt 1988/89. 2153 Staffordshire Hoard 2019, 348 (Sv. Fischer). 2154 Mączyńska 2008, 68. 2155 Mäkeler 2003, 91 Abb. 1 und 2 (Gudme); 93 (Lundeborg), 96 Abb. 5 (Dankirke) und 97 Abb. 6 (Sorte Muld), 101 Tab. 1 chronologische Abfolge; auch Nielsen 1987, der sogar Umlauf der Denare als Zahlunsgmittel im Norden annimmt, und Kromann 1987, der eher von Bruchsilber ausgeht; und FonnesbechSandberg 1989.
10.3 Geldfunktion in Germanien
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Alltagsgüter bezahlen zu können. Basierte die Wirtschaft auf Tauschhandel? Weisen die Hacksilberhorte der Zeit von 340 bis 500 auf eine Gewichtsgeldwirtschaft hin, wie sie später zur Wikingerzeit allgemein üblich war?2156 Die Horte der Völkerwande rungszeit enthalten noch römische Komponenten.2157 Während der Merowingerzeit dienten alte römische Münzen als Gewichte und lagen bei den kleinen Edelmetall waagen, die nicht selten Grabbeigaben waren.2158 Für die Gegenden, in denen recht viele Münzen registriert werden konnten, wird von einer wenn auch eingeschränkten Münzgeldwirtschaft in Germanien gesprochen. Das war im Oberrheingebiet so, wie die Kartierungen zeigen (vgl. S. 568), und wird für die dänischen Inseln angenommen, nicht zuletzt wegen der abgenützten alten römi schen Denare in den Schätzen des 5. Jahrhunderts. Ein bemerkenswertes Phänomen sind in Germanien nachgeahmte Münzen des Römischen Reichs.2159 Sowohl römische Kupfermünzen wurden in Gold nachgeprägt oder Goldmünzen mit originalen, aber auf einer Seite veränderten Prägestempeln hergestellt. Nach der Plünderung einer Münzstätte im Imperium wurden Prägestem peln mitgenommen und ergänzt durch eigene Motive, was die Intentionen einer eigenen germanischen Münzprägung schuf, und zwar während der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts an der unteren Donau und in der heutigen Ukraine, also im gotischen Kulturkreis, einer germanischen Welt.2160
2156 Rau 2013e. 2157 Rau 2013e. 2158 Steuer 2007i; 2013. 2159 Bursche 2014. 2160 Bursche, Myzgin 2017, 449.
11 Güterverteilung und Handel 11.1 Güterverbreitung Nicht alle im Haushalt und für die allgemeine Lebensführung benötigten Sachgüter, Lebensmittel, Verbrauchsmaterialien, Werkzeuge, Geräte und Waffen sowie Einrichtungs- und Ausstattungsobjekte wie Keramik-, Glas- und Metallgeschirr wurden in den Siedlungen selbst hergestellt. Zwar produzierte man Holzgerät und Keramik vielfach im eigenen Haushalt, wurden Eisengerätschaften wie Pflugscharen zentral vom „Dorfschmied“ für die Gehöfte der Siedlung geschmiedet. Ich habe oben gezeigt, dass die einzelnen Siedlungen zumindest für den Eigenbedarf Eisen selbst in Rennöfen gewonnen haben. Aber die Verbreitung von anderen Sachgütern gleicher Art in größeren Arealen Germaniens ist durch unterschiedliche Vorgänge zustande gekommen. Wenn man von Güterverteilung und Handel spricht, sind damit durchaus sehr verschiedene Verteilungswege und -vorgänge gemeint. Das Wort Handel ist da schon mehrdeutig. In ursprünglichen Gesellschaften gab es den Tauschhandel, bei dem Ware gegen Ware von Hand zu Hand wechselte. Das erzeugt ein nachbarschaftliches Muster von Verbrauchsgütern in Kartenbild der Archäologie. Das Weitergeben von Sachen kann und wurde auch als Kettentausch organisiert, z. B. wenn es um Geschenke ging, die man nicht behielt, sondern bei gegebenem Anlass auch weiterschenkte. Für römische Prestigegüter in Germanien wird das angenommen. Das Beispiel sind die Silberbecherpaare (dazu S. 915), die als Ehrengabe an die Elite in Germanien gelangten und dann innerhalb Germaniens von „Herrensitz“ zu „Herrensitz“ weitergegeben worden sind, ehe sie am Ende als Grabbeigabe in die sogenannten Fürstengräber des Typs Lübsow oder Haßleben-Leuna gestellt wurden.2161
11.2 Handel vom Römischen Reich nach Germanien Blicken wir zuerst auf die Handelsbeziehungen zwischen dem Römischen Reich und Germanien, die sicherlich über die vier bis fünf Jahrhunderte hinweg sehr unterschiedlich waren. Nicht immer gab es Krieg, sondern auch Jahrzehnte lang friedliche Kontakte, was die Wirtschaft förderte. Die römischen Sachgüter, leicht zu erkennen, kamen auf verschiedene Weise nach Germanien, wobei es auch auf den „Rang“ der Sachgüter ankam. (1) Beute in kriegerischen Zeiten brachten Sachgüter aus den römischen Provinzen auch weit ins Innere Germaniens;
2161 Erdrich 2012. https://doi.org/10.1515/9783110702675-019
11.2 Handel vom Römischen Reich nach Germanien
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(2) Söldner nahmen aus dem Dienst in der römischen Armee Sachgüter und Ideen mit in die Heimatgebiete; (3) Güter aus Germanien im Tausch bzw. über regulären Kauf erreichten die römischen Provinzen, und als Gegenleistung wurden andere Güter nach Osten geliefert; (4) Auf hoher Ebene der Eliten gelangten auch Geschenke der römischen Offiziere, Diplomaten und Gesandte auf die herrschaftlichen Gehöfte in Germanien; (5) Kaufleute aus den römischen Provinzen besuchten die Zentralorte (Märkte) in Germanien und boten die gewünschten Waren an, Metallgeschirr, Gläser und auch Waffen; (6) Als Gegengaben werden üblicherweise Sklaven, Felle und Häute, Federn und Frauenhaare – nach der schriftlichen Überlieferung – und, weil gut nachweisbar, Bernstein genannt, die das Römische Reich erreichten. Römisches im rechtsrheinischen Germanien belegt einen intensiven Warenaustausch an der Grenze zum Römischen Reich.2162 Die römische Antike kannte Warenetiketten und Notizen auf Blei.2163 Diese messen 2 bis 4 cm und sind nur 1 mm dick und gelocht, um sie an der Ware anbinden zu können. Die unterschiedlichen Amphorentypen, für Wein oder Garum und andere Inhalte, waren auf der Wandung beschriftet, und so kann man den Handelsweg vom Produktionsort der Amphore mit ihrem Inhalt bis zum Zielort verfolgen. Nur wenige derartige Objekte sind aber bisher in Germanien gefunden worden. (Die Militärdiplome zur Entlassung römischer Soldaten, die vereinzelt in Germanien gefunden werden, meist fragmentiert, waren sicherlich nur erbeutetes Rohmaterial zur Weiterverwendung und wurden nicht gelesen.).2164 Die Bevölkerung in Germanien kannten diese Bräuche der Kennzeichnung von Transportbehältern nicht, und so muss die Archäologie andere Interpretationsmuster erarbeiten, um die Verteilung von Gütern bewerten zu können. Wie engmaschig das überregionale Handelsnetz in Germanien strukturiert gewesen ist, lässt sich aus der Verteilung vieler Arten von Sachgütern, beispielweise von Keramikformen und Fibeltypen, erschließen, abgebildet auf den zahlreichen Kartierungen, die von der Archäologie erstellt worden sind. Wir wissen, dass beispielsweise römische Metallgefäße alle Gegenden Germaniens bis in den hohen Norden und entfernten Osten erreicht haben, zwar vielleicht nicht immer kontinuierlich, dann aber in regelmäßigen zeitlichen Wellen. Wenn sie nicht überall gefunden werden, dann hängt das in erster Linie an den Bedingungen der Überlieferung. Darauf wird hingewiesen (vgl. S. 592). Dasselbe trifft für Münzen aus den verschiedenen Metallen
2162 Larlsen 2018a. 2163 Schwinden 2018. 2164 Wiegels 2012.
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11 Güterverteilung und Handel
zu. Sie werden in den meisten Siedlungen gefunden, seit dem Einsatz des Metalldetektors in wachsenden Mengen, als Beigaben in Gräbern, sowohl als Charonspfennig als auch in Form von Schmuckanhängern, und sie werden gesammelt als Schätze vergraben. Von diesen abstrahiert muss es seinerzeit noch wesentlich mehr Münzen in Germanien gegeben haben, als wir bisher registrieren konnten. Eine Ahnung bekommt man davon, wenn man sich vorstellt, wie viele Münzen eine Legion für die Bezahlung der Legionäre ständig gebraucht hat, oder wenn man an die Ausgrabungen römischer Siedlungen und Lager denkt, bei denen regelmäßig beachtliche Mengen an einst verlorengegangenen Münzen gefunden werden. Dabei hängt die Zahl normalerweise vom Münzmetall ab; Kupfer-, Messing- und Bronzemünzen sind am zahlreichsten verloren gegangen, seltener schon sind die silbernen Denare, vor allem die älteren mit besserem Silbergehalt, und weniger häufig sind die Goldmünzen, anfangs Aurei und später Solidi. Edelmetallmünzen versuchte man wieder zu finden, auf kleine Kupfermünzen konnte man verzichten. Das Wertverhältnis zwischen Gold und Silber betrug etwa 1 zu 12, worauf oben eingegangen wurde (vgl. S. 563). Das Gewichtsverhältnis ist dann noch wieder anders; denn wenn ein Denar 2 g wiegt und ein Aureus 6 g – nur als zeitweiliges Maß hier ausgewählt –, dann beträgt die gleichwertige Gewichtsmenge der Silbermünzen schon 24 g; in Kupfermünzen für die Zahlungen an Legionäre sind das dann schon beschwerliche Gewichtsmengen. Man sollte sich Gedanken machen über den Materialbedarf und wie man ihn schätzen kann.2165 Es geht um die Bunt- und Edelmetalle in Germanien, die weitgehend zuerst aus keltischen und dann in den ersten vier Jahrhunderten n. Chr. aus römischen Gebieten importiert worden sind. M. Becker stellt derartige Überlegungen zum Bedarf an neuem Material an, bezogen auf das gesamte germanische Gebiet und auf eine Generation. Wenn nur – eine Annahme – die Hälfte der Bevölkerung mit einer schlichten Ausstattung aus Buntmetallfibeln begraben worden war, dann wären das bei 10 Millionen Germanen als Bewohner des Landes und bei einem Fibelgewicht von 10 g für die Hälfte der Leute, also für 5 Millionen, ca. 7,5 Millionen Einheiten an ein bis zwei Fibeln zu10 g pro Person (also gerechnet 1,5 Fibeln), das sind 75 Millionen Gramm, also 75 Tonnen Buntmetall für die angenommenen 30 Jahre als Generationslänge. M. Becker rechnet als notwendigen Ersatz für den durch Beigaben dem Wirtschaftskreislauf entzogenen Bedarf mit jährlich 2,5 Tonnen. Im Flussfund von Neupotz lagen ca. 220 kg Buntmetall, woraus folgt, dass mindestens 10 bis 12 derartige „Lieferungen“ pro Jahr nach Germanien gelangt sein müssten, um den erkennbaren Bedarf jeweils zu ergänzen. Weitere Überlegungen sind: Bei dem Jahresbedarf von 1 kg Lotmetall und einen Schmied auf 2000 Leute, werden bei 10 Millionen Einwohnern rund 5000 Schmiede und 5 Tonnen Lotmetall erforderlich sein.
2165 M. Becker 2011, 53 f.; dazu Steuer 1982, 66 ff.
11.2 Handel vom Römischen Reich nach Germanien
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Schon früh haben Importe, Sachgüter aller Art, aus dem Römischen Reich weit entfernte Gebiete in Germanien erreicht.2166 Teile von Spiegeln aus Bronze, kaum wegen der Funktion, aber eher wegen des Rohstoff, haben seit der Latène- und frühen Römischen Kaiserzeit die Przeworsk-Kultur in Polen erreicht, nicht vereinzelt, sondern in einer Anzahl, dass die Verbreitung dieser Bronzespiegel kartiert werden kann. Der vollständige Spiegel, gefunden in Zadowice, ist in einer der Werkstätten von keltischen Handwerker in einer der Spätlatène-Siedlungen an der mittleren Donau, wohl bei Bratislava, gefertigt worden. Das geht über die gesamte Epoche der vier Jahrhunderte weiter. So wurden Beschläge aus Bronze, die zum Verschluss einer Tasche gehörten, ebenfalls weit nach Osten, mit einem Einzelstück sogar bis ins Innere Russland, vertrieben. Gestaltete Metallteile, von der Kleidung oder eben auch von Taschen, sind für die archäologische Forschung die Basis für das Studium von Verteilungsmustern und Netzwerken.2167 Die Verbreitung der Rechteckbeschläge mit wellenförmigem Dorn von spätrömischen Gürteltaschen, an deren Riemenenden außerdem scheibenförmige Riemenzungen hingen, ist auffällig. Es gibt sehr weit im Osten Funde. Das Auftreten von einem elbgermanischen Gürteltaschenbeschlag weit im Osten in Russland wird immer ein Rätsel bleiben, meint J. Schuster.2168 Als Deutung bleibt nur die individuelle Mobilität von Einzelpersonen. Für das Gebiet der Herstellung entsprechender Taschenschließen wird der Raum zwischen Harz und oberer Donau angenommen, vielleicht auch Böhmen, abgelesen an der Verbreitung dieses Objekttyps. Aber was bedeutet dann ein Halbfertigprodukt von Salzkotten am Hellweg? Solche Halbfabrikate geben öfter ein Rätsel auf. Eine ältere halbfertige Fibel der Form Almgren 153 wurde in der Siedlung Soest-Ardey geborgen, deren eigentliche Verbreitung auch weiter östlich ist. Gussformen für Riemenzungen einer bestimmten Form (Raddatz Typ J II 7) in der Werkstatt von Pasohlávky in Mähren ist vor allem im südlichen Ostseegebiet verbreitet.2169 Die Gussform für eine Fibel mit hohem Nadelhalter vom sog. Sarmatischen Typ wurde in einer Metallwerkstatt im thüringischen Neunheiligen entdeckt.2170 Wie schwierig eine überzeugende Erklärung für die Verbreitungsmuster von derartigen Sachen ist, wurde anhand der Werkstattfunde, ebenfalls mit Halbfabriken, von Augsburg (Augusta Vindelicorum), offenbart (vgl. oben Abb. 10). Die dort hergestellten Augenfibeln der sogenannten preußíschen Nebenserie kommen vor allem 1000 km weiter im Norden nahe der Ostsee an der Weichsel vor (vgl. S. 103). Dazu noch weitere allgemeine Beschreibungen, die verdeutlichen, wie wenig wir eigentlich bisher tatsächlich erklären können. Die Vielfalt der Fibeltypen und ihre sehr unterschiedlichen Verbreitungen bieten bei Fragen nach der Organisation des Handwerks 2166 Dulęba, Wysocki 2016; Dulęba 2018, 76 Abb. 6. 2167 Schuster 2001a; 2017b, 370 Abb. 1; Bemmann 2007b. 2168 Schuster 2017b, 372 Abb. 3 Karte. 2169 Tejral 2006, 138 ff.; Blankenfeldt 2015, 157 f. Abb. 87. 2170 Walther 1996.
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11 Güterverteilung und Handel
und des Handels bzw. der Verteilungsmodalitäten ein fast unerschöpfliches Material. Allein die Auswertung der Detektorfunde der Römischen Kaiserzeit und der Völkerwanderungszeit in Schleswig-Holstein der Jahre 2006 bis 2014 durch Jan Schuster aus dem Jahr 20162171 bietet sehr unterschiedliche Muster, was die Anzahl und die Reichweite der von ihm kartierten Fibeln angeht. Ausgangspunkt sind die neuen Funde in Schleswig-Holstein, die mit der Gesamtlage in Mitteleuropa korreliert werden. Einerseits ergänzen die neuen Fundstücke das alte Verbreitungsmuster, andererseits gibt es nun auch neue Fundpunkte abseits der bisherigen Verteilungen. Ich zitiere einige Beispiele und nenne hier im Text die Seitenzahlen und die Karten des Buches: Die Rollenkappenfibel Almgren 24 (S. 12 Abb. 6) kommt in Jütland und in Mecklenburg sowie in weiterer Entfernung in Böhmen vor. Die Fibeln Almgren 25 (S. 13 Abb. 10) haben dieselbe Grundverteilung, aber eine enge Ballung zwischen Elbe und Lübecker Bucht einerseits und andererseits ebenfalls in Böhmen; ist nun der Herstellungsort in dem nördlichen Raum mit kaum 50 km Durchmesser zu suchen? Die Fibeln Almgren 101 (S. 20 Abb. 22) kommt jetzt neu in Schleswig-Holstein vor, dann beiderseits der Niederelbe und im Rhein-Main-Dreieck sowie mit einer Variante geballt südlich der Donau bei Wien. Die sogenannten Kniefibeln (S. 22 Abb. 24) kommen massiert beiderseits der Elbe von der Hamburger Gegend bis zur Saale und dann ebenfalls wieder in Böhmen vor, aber außerdem weit gestreut am Rhein und an Main und Neckar, mit freien Räumen dazwischen. Auch bestimmte Fibelformen werden nur östlich der Weichsel gefunden (S. 33 Abb. 39), aber mit Einzelstücken auch auf Bornholm und bei Lübeck. Die sogenannten Raupenfibeln (S. 38 Abb. 45) gibt es häufig östlich der Weichsel und bis zum Samland und andererseits weiter im Westen östlich an der Niederelbe. Kreuzförmige Fibeln des 5. Jahrhundert mit quergerippter Kopfplatte in verschiedener Form (S. 41 Abb. 50) kommen in weit auseinanderliegenden Gegenden, dann aber jeweils dicht geballt vor, mit einer Form in Holstein mit Ablegern in England, mit einer zweiten Form in Südnorwegen und mit einem Stück im Weser-Aller-Mündungsgebiet. Auch bei Berücksichtigung der chronologischen Abfolge ergibt sich kein erklärbares Muster; alles wirkt willkürlich. Die Fibeldefinitionen bemühen sich seit O. Almgren2172 um möglichst gute Übereinstimmungen bei der Typenbildung, aber es sind immer nur Näherungen, was mit der Herstellung zusammenhängt. Es sind die Beschreibungen der Archäologen, die Gruppen bilden, diese also konstruieren. Noch gibt es zu wenige Gussformen oder Halbfabrikate, die in lokalisierten Werkplätzen gefunden werden und zu denen dann auch eine Verbreitung passt. Bilden die Verbreitungen weniger Werkstattorte ab, sondern eher die Reisegebiete von Kaufleuten (oder Wanderhandwerkern)? Von Heiratskreisen kann man in diesem Falle nicht ausgehen, dafür sind die Fundzahlen zu groß. Verschiedene Modelle werden diskutiert: Ein Kaufmann reist beispielsweise von Augsburg durch Germanien und hat einen
2171 Jan Schuster 2016c, viele Karten. 2172 Almgren 1897 / 1923.
11.2 Handel vom Römischen Reich nach Germanien
585
Beutel voll gleichartiger Fibeln mit, die er unterwegs oder nur an einem fernen Zielort „verkauft“. Ein Handwerker hat ein Modellstück und reist ebenfalls von Siedlung zu Siedlung und stellt dort neue Fibeln über den Guss in verlorener Form her. Dann kann man sich auch leichte Veränderungen und Abweichungen am Grundtyp vorstellen. Auch könnte ein ortsansässiger Handwerker eine Fibel aus der Ferne von einem durchreisenden Kaufmann erworben haben und hat diese dann als Modell benutzt und wieder abgeformt. Doch gibt es ein weiteres Problem: Die Suche nach Erklärungsmustern für die Produktion und Verteilung von Schmuck wie beispielsweise Fibeln geht üblicherweise vom Kartenbild der Verbreitung aus, und zu leicht wird vergessen, welch winzigen Ausschnitt wir eigentlich von der ehemaligen Realität nur haben. Es sind eben nicht nur einige Dutzend oder Hundert Fibeln eines Typs, um die es geht, sondern der Filter der Überlieferung verbirgt uns, dass mit einigen Tausend gleichartiger Fibeln gerechnet werden muss, also mit einer Massenproduktion. Die Werkstatt von Augsburg lässt das ahnen, oder auch die Werkstätten im Zentralort Helgö in Mittelschweden (vgl. S. 360), wo die Fragmente der leicht vergänglichen Tonformen für den Guss vom Fibeln in verlorener Form, die also kleinteilig zerschlagen wurden, zu Zehntausenden gefunden worden sind. Auch zum Handel mit römischen Gütern nach Germanien sind die Bestände aus dem Germanischen Nationalmuseum Nürnberg von T. Springer zusammengestellt und ausgewertet worden.2173 Es geht um wertvolle römische Importgegenstände, die besonders weit entfernt von den Reichsgrenzen nach Germanien gelangt sind. Eine weitere Konzentration von Importen gab es in Böhmen im Marbod- und Quadenreich, dann eine Häufung in Dänemark sowie später wieder zur Zeit der Markomannenkriege. Nach diesen Kriegen ist um 200 ein signifikanter Rückgang des Imports zu registrieren; es finden sich kaum noch Objekte aus der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts, worauf M. Erdrich mehrfach hingewiesen hat.2174 Die Überlegungen, wie die Objekte nach Germanien gekommen sind, nennen wie üblich römische Fernhändler, innergermanischen Austausch, Tribut und Beute und die Mobilität germanischer Söldner. So kann man im Katalog des Museums eine knappe Zusammenfassung des gesamten Problems des Handels finden. Der Handel zwischen den römischen Provinzen und Germanien, jegliche Geschäftsbeziehung, war abhängig von der politischen Situation und wies ohne Zweifel wellenförmige Intensitäten auf, was am archäologischen Befund festzustellen ist.2175 Eine hohe Zeit der direkten Fernhandelsbeziehungen entwickelte sich unter den Antoninen und Severern im 2. und frühen 3. Jahrhundert.2176 Damals wurden vor allem Glasperlen, Tafelgeschirr aus Bronze, Gläser und Terra Sigillata, auch Bronzefibeln sowie Waffen verhandelt; verbunden war damit die Versorgung mit Metallen, mit Edel- und 2173 Springer 2014, 35–38. 2174 Erdrich 2001a; 2001b. 2175 Erdrich 2001a; b; Bursche 2008a, b. 2176 Bursche 2008a, 98 ff.
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11 Güterverteilung und Handel
Buntmetall, und auch Wein in Fässern. Der begehrte Bernstein führte dazu, dass in den Herkunftsarealen an der unteren Weichsel und im Samland sich auch eine große Konzentration römischer Importwaren ansammelte. In der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts änderten sich die Fernhandelsrouten, wie man meint, als Reaktionen der Bewegungen während der Markomannenkriege. Von den Provinzen aus wurde nun der Seeweg bevorzugt, vom Niederrhein an der Nordseeküste entlang zu den dänischen Inseln und weiter nach Osten durch die Ostsee. Das wird abgelesen an der Dichte der römischen Importgüter in Jütland, auf Fünen und Seeland, vorwiegend als Beigaben in den Fürstengräbern der jüngeren Römischen Kaiserzeit. Die politischen Wirren des 3. Jahrhunderts führten zu einem Niedergang des Fernhandels, vor allem in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Unter den Tetrarchen und Konstantin d. Gr. im späten 3.und frühen 4. Jahrhundert entwickelten sich die Handelsbeziehungen wieder erneut. Eine neue Fernhandelsroute führte vom Südosten nach Norden durch Germanien bis Nordeuropa; doch auch die Ostseeroute wurde weiter befahren. Damals entstanden die ersten Zentralorte wie Dankirke im südlichen Jütland im Westen und Jakuszowice bei Krakau im Binnenland. Auffällig ist der umfangreiche Import von Solidi in den Ostseeraum, an der südlichen Küste und auf den großen Inseln, und er wird nur durch besondere politische Kontakte erklärt, was wie Tributzahlungen wirkt oder aber näherliegend durch massive Söldnerleistungen in Auxiliareinheiten und als Foederaten (vgl. oben S. 512 und S. 527). Eine ausgezeichnete und immer noch lesbare Darstellung des römischen Handels in die Germania libera (!) aufgrund der archäologischen Quellen hat Kazimiersz Godłowski 1985 veröffentlicht.2177 Auf der Basis von Kartierungen verschiedener Sachgüter entsteht ein plastisches Bild von der Reichweite und Intensität dieser Handelsverbindungen. Die Karte der gewellten Eimer (die Formen Eggers 44–49) des 1./2. Jahrhunderts zeigt, dass sie fernab vom Limes auf den dänischen Ostseeinseln und südlich der Ostseeküste in Polen vorkommen. Ganz anders sieht die Karte zur Verbreitung der Terra Sigillata aus. Sie wird (vgl. auch S. 602) nahe des Limes seit der Mitte des 2. Jahrhunderts zunehmend südlich der Nordseeküste und im Süden gegenüber der Donau, aber auch zwischen Oder und Weichsel im Bereich der PrzeworskKultur gefunden. Wiederum anders verteilt sind römische Schwerter, die elbeabwärts bis Jütland und Fünen kartiert werden, auf dem von mir immer wieder erwähnten allgemeinen Verkehrsweg von Süden nach Norden (oder umgekehrt), und zwar in den Stufen B2/C1, C1 und C2, also etwa von 150 bis nach 300 n. Chr. Es handelt sich dabei nämlich um Ringknaufschwerter der Stufe B und lange Spathen, die mit Klingeneinlagen auch weiter im Norden, in Skandinavien, und im Osten zwischen Oder und Weichsel entdeckt werden. Ergänzt wird diese Abhandlung aus dem Blick von Osten,
2177 Godłowski 1985, 347 Abb. 1 (gewellte Eimer), 348 Abb. 2 (Terra Sigillata), 349 Abb. 3 (römische Schwerter), 352 Abb. 4 (Schwerter mit Klingeneinlagen).
11.2 Handel vom Römischen Reich nach Germanien
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quasi von Polen aus, durch den Beitrag von Jürgen Kunow im selben Band von 1985 „Zum Handel mit römischen Importen in der Germania libera“ (!).2178 Ihm geht es um die Ursprungsgebiete der Metallgefäße und wohin sie vor allem verhandelt worden sind, und zwar aufgeteilt nach Zeitphasen. In der Phase A/B1 (bis 50 n. Chr.) erreichten Güter aus Süditalien die Elbe abwärts oder aufwärts das mittlere Germanien, in der Phase B1 (bis 80 n. Chr.), ebenfalls noch aus dem Süden, fast ganz Germanien bis in den Ostseeraum und hoch bis Gotland. Eine weitere Karte bringt die Verteilung der Importe in der Phase B1 aus Werkstätten in den westlichen Provinzen, die interessanterweise auch den Norden, die dänischen Inseln und Gotland, erreichten und vor allem die Niederelbe und Böhmen. In der Phase B2 (80 bis 200 n. Chr.) sind die Importe aus Italien und die aus westlichen Werkstätten in der Verbreitung gleichartig und erreichten fast alle Gebiete in Germanien. Der Export römischer Waffen nach Germanien2179 ist sehr unterschiedlich in der Fundüberlieferung dokumentiert; es sind einerseits die Grabbeigaben mit römischen Schwertern im Osten, in der PrzeworskKultur, und andererseits die Heeresausrüstungsopfer in Jütland. Gehandelt bzw. nach Germanien geschafft wurden anscheinend im Römischen nicht mehr gebrauchte Sachen. Es sind geflickte und veränderte römische Gefäße.2180 J. Kunow bietet einen Vergleich der Transportmöglichkeiten und -kosten. Die Ladekapazität in Zentnern betrug auf dem Land 5 bis 6, auf dem Fluss 60 bis 140 und auf dem Meer 600 bis 2000; im Vergleich dazu maßen die Tagesleistungen in Kilometern 18 bis 22, 30 bis 40 oder 45 bis 65. Er rechnet das auch um in die Transportkosten als Vielfaches des Seetransportes, der mit 1 gesetzt wird. Die Kosten auf dem Land betrugen demnach das 62,5fache, auf dem Fluss das 5,9fache. Der eigentliche Handel im modernen Sinn wurde auch damals von Händlern bzw. Kaufleuten übernommen.2181 Das waren einerseits Einheimische, andererseits Kaufleute aus dem Römischen Reich, die mit ihren römischen Sachgütern genügend erfreute Abnehmer in Germanien fanden. Das klingt alles recht theoretisch und muss es auch bleiben, weil bisher kein direkter archäologischer Nachweis für einen Händler oder auch nur einen Markt, wo ein Warengeschäft abgewickelt worden sein kann, entdeckt worden ist. Auch die Produktionsstellen sind noch recht selten erforscht. Erst wenige Töpfereien oder Buntmetallwerkplätze sind untersucht und mit Blick auf die Produktion für den Warenaustausch betrachtet worden, verbunden mit Kartierungen zur Reichweite dieses Handels (vgl. S. 103). Die archäologische Forschung erschließt in der Regel nur einen Endzustand, nämlich Sachgüter als Grabbeigaben oder als Abfall in Siedlungen, manchmal aber auch als Opfergabe an Kultorten, wie am umfassendsten die Heeresausrüstungsopfer von Hunderten von Kriegern in den 2178 Kunow 1985, auch 1983. Beide Autoren sprechen wie damals üblich von Germania libera. 2179 Kunow 1986; 1985, 433 Abb. 2 zu den Transportkosten; neu jetzt zu den Kosten im Römischen Reich Palkoska 2019, mit einigen Tabellen. 2180 Ekengren 2009. 2181 Kunow 1980.
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jütländischen Mooren zeigen (dazu S. 738). Stationen der Kaufleute auf den Reisewegen oder Warenlager an der Strecke sind archäologisch selten zu fassen. Auf die großen Bernsteinlager wurden oben näher eingegangen (vgl. S. 502), die als Beispiel dienen können. Aber das gelingt nur deshalb, weil die Herkunft des Bernsteins bekannt ist und auch die Zielrichtung. Horte mit anderen Materialien wie Eisenbarren, Keramikstapel oder Schmuckensembles sind keine Händlerdepots, eher Opferniederlegungen, wie während der Bronzezeit. Die großen Flussfunde wie Neupotz und Hagenbach sind Beutekomplexe und keine Handelswaren. Damit gehe ich zu den Verteilungsbildern von germanischen Sachgütern in Germanien über. Die Kartierungen von gut beschreibbaren Typen des Gewandschmucks, der Fibeln, zeigt immer wieder eine über weite Strecken reichende Verteilung. Wie diese zustande kommen kann, wurde schon thematisiert (vgl. S. 103). Zudem gibt es über die Jahrhunderte hinweg genutzte Fernverbindungen kreuz und quer durch Germanien (oben Abb. 5), nicht nur die Bernsteinroute zwischen der Ostsee und dem antiken Aquileia am Mittelmeer.2182 Hin und Her bestanden die Kontakte von der Przeworsk-Kultur zu den römischen Provinzen Noricum, Pannonia und Raetia als Händler-Kontakte. Auf dieser Fernstraße wurden denn auch Fibelformen transportiert und weiträumig verteilt.2183 Ein instruktives Beispiel gibt die germanische Gießerwerkstatt von in Pasohlávky im Bezirk Břeclav, die Jaroslav Tejral 2006 veröffentlicht hat (vgl. S. 487).2184 Die Produkte dieser Werkstatt, zumeist Fibeln mit hohem Nadelhalter, spiegeln die weiten Fernhandels- und zugleich Kulturbeziehungen nach den Markomannenkriegen bis hoch in den Norden. Die Verteilung der Alltagssachen und der ortsfremden sowie der importierten römischen Güter in verschieden weiten Bereichen Germaniens erlauben es, die Austausch- und Handelssysteme oder einfach die normalen Beziehungen zwischen den Bewohnern näherer und ferner Nachbarn zu rekonstruieren. Die innergermanischen Austauschsysteme sind inzwischen an hunderten von Kartierungen für Keramikformen, Schmucksachen oder Waffentypen – parallel zu der ebenfalls unterschiedlichen Verteilung der jeweils speziellen Hausformen, die oben beschrieben worden sind – abzulesen, deren verschiedenes Verbreitungsbild die Reichweiten der Kommunikation spiegeln. Ob das Heiratsbeziehungen waren oder der Nah- bzw. Fernhandel, hängt vom Zweck und der gedachten Verwendung der Objekte ab. Heimisch produzierte Keramik erreicht die näheren Nachbarn, in römischer Manier in Spezialwerkstätten getöpferte Gefäße werden im Netz der Elite weiterreichend verteilt, im Umkreis von 80 bis 100 km, was für gehobenen Edelmetallschmuck mit komplizierter Goldschmiedetechnik sicherlich ebenso gilt; denn diese Handwerker haben nicht irgendwo in einem Dorf gearbeitet, sondern eher an den sogenannten „Herrenhöfen“. 2182 Erdrich 2014. 2183 Dulęba, Wysocki 2016. 2184 Tejral 2006, 139 Abb. 7 Gussformfragmente zu Fibeln mit hohem Nadelhalter, 143 Abb. 11 Verbreitungskarte zu diesen Fibeln nach Mączynska 2003a.
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Römische Luxuswaren wie Silber- oder Bronzegefäße und Gläser oder auch Waffen wurden entweder von Fernhandelskaufleuten, oder aber durch die Kommunikation zwischen den Gehöften der Elite verteilt und erreichten – um das noch einmal zu betonen – jede Landschaft in Germanien und im skandinavischen Norden. Auch das ist übrigens – wie auch oben schon skizziert – ein Beleg für das ausgebaute und funktionierende Wegesystem, an das alle Dörfer also angeschlossen waren. Die Kartierungen von klar beschreibbaren Keramikformen oder Fibeltypen, aber auch manchmal von Grabsitten – erst in jüngster Zeit auch von Hausformen, nachdem die Anzahl der Hausbefunde enorm angewachsen ist – decken jeweils Flächen ab, die man früher gern mit einem Stammesgebiet gleichsetzen wollte, mit einem Namen aus der antiken Schriftüberlieferung. Aber viel naheliegender ist es, diese Verteilungsmuster als Reisewege der Händler, vielleicht auch der Wanderhandwerker zu erklären, denn es sind wirtschaftliche Vorgänge, die hinter diesen Kartenbildern stecken; und abgebildet sind als Endzustände von Handel zusammenhängende Kommunikationsräume. Die Kartierungen von Sachgütern dokumentieren aber noch ein anderes Phänomen. Es gibt über die Epochen hinweg quer durch Europa Kommunikationslinien, die Handelssysteme und vielleicht auch Bevölkerungsbewegungen beschreiben (oben Abb. 5). Keramik und Bestattungsbräuche der archäologischen PrzeworskKultur breiten sich in den letzten Jahrzehnten vor Chr. Geb. vom Zentrum in Großpolen über Mitteldeutschland bis zur Wetterau im Westen aus, oft interpretiert als Wanderzüge von Sueben oder anderer germanischer „Stämme“. Doch handelt es sich um einen Fernverbindungsweg in beiden Richtungen, auf dem auch in gleicher Weise in anderen Epochen Sachen, Sitten oder Menschen sich bewegten. Eine ähnliche Route verbindet zu verschiedenen Zeiten die Elbemündung mit Böhmen, führte entlang des Stromtales der Elbe, für das 2. Jahrhundert n. Chr. oft interpretiert als Marschwege während der Markomannenkriege. Doch auch in diesem Falle geht es um die sich über die Epochen hinweg wiederholenden Fernverbindungen, spiegeln also Kommunikationsbezüge. Eine weitere Route dieser Art reicht nun von der Weichselmündung an den Karpaten vorbei nach Südosten über die Ukraine bis zur Krim (dazu ausführlich unten S. 893). Recht intensiv ist die Verbindung beispielsweise von Litauen bis ins Karpatenbecken.2185 In diesem gesamten Korridor finden sich in den Jahrhunderten n. Chr. Fibeltypen, zum Beispiel sogenannte Rosettenfibeln des 3. Jahrhunderts, in größerer Zahl im Norden auf den dänischen Inseln, dann aber auch bis weit in den Süden. Eine andere Art von Sachgütern, sogenannte Feuerböcke aus Ton (vgl. S. 100), kommen nun häufiger im Südosten vor, erreichen im Korridor aber auch die südliche Ostseeküste. Waren das Niederschläge von Handel mit diesen Sachgütern, die Ausbreitung verschiedener Sitten und Sachen, von Bewegungen einiger größerer und kleinerer Menschengruppen, Veränderungen des politischen Gefüges,
2185 Bliujienė, Curta 2011.
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oder spiegelt das einfach einen vielfach benutzten Fernweg in beiden Richtungen. Das Ausweichen auf den Begriff „Kommunikationslinien“ bietet aber noch keine Antworten darauf, welche Arten diese postulierten Kommunikationen spiegeln, von denen einige im Satz zuvor aufgezählt worden sind. Entscheidend ist jedoch, dass nicht als erste Deutung Wanderungen und Ausweitungen von Stammesterritorien als Lösung gewählt werden. Man braucht sich doch nur in anderen Zeiten umzuschauen, auch in der Gegenwart, um komplexe Verteilungsmuster von Zivilisationsgütern zu sehen, wie sie sich herausbilden, ausbreiten, wieder eingestellt werden und durch andere Objekte abgelöst werden. Das in derartigem Zusammenhang oftmals geschilderte Phänomen der Verbreitung der Mode, Nietenhosen bzw. Jeans zu tragen und haben zu wollen: In den USA erfunden, kamen sie nach Europa und überwanden auch den Eisernen Vorhang zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Nur die Sache wanderte, keinesfalls Menschen. Und man kann sogar die „Wanderung“ dieser Ware und dieser Kleidungssitte beschreiben, wie sie nach der Erfindung sich erst nach einiger Zeit in Europa ausbreiteten und dann in Schritten von Jahren bzw. Jahrzehnten auch immer weiter nach Osten kamen. Über die Handelswege quer durch Germanien und in Verbindung mit dem Römischen Reich lässt sich noch mehr sagen. Einen Fernhandel aus dem Römischen Reich ins Innere Germaniens gab es schon während der Latènezeit bis zur Oksywie Kultur an der Ostseeküste.2186 Der Handel an der Nordseeküste entlang spiegelt sich sowohl in den Wurten als auch in den Grabbeigaben.2187 An der Grenze am Rhein lag Gelduba als Handelsplatz,2188 und von hier führte ein Handelsweg dem sogenannten Hellweg entlang nach Osten durch Westfalen mit den Siedlungen Zeche-Erin, Kamen-Westick und Soest-Ardey. Die Kartierung der Münzen des 2. Jahrhunderts bildet diesen Weg gewissermaßen ab. Reliefverzierte Terra Sigillata der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts erreichte besonders häufig die Wurtenzone an der Nordseeküste und kam auch weiter in den Osten, in das Gebiet zwischen Oder und Weichsel; im Fundbild zeichnen sich zwei getrennte Bereiche ab.2189 In der Mitte Germanien war die Elbe ein Verkehrsweg zu Wasser, aber parallel auch am Land, der Böhmen mit Sachsen verbunden hat, und zwar mindestens auch schon seit der Latènezeit, der späten vorrömischen Eisenzeit.2190 Das zeigt unmittelbar die Verteilung der Feinkeramik im sächsischen Elbegebiet, so dass von einem Keramikaustausch ausgegangen werden kann. Es waren nachbarschaftliche Handelskontakte in Etappen, keinesfalls ethnische Bewegungen. Viele andere Waren sind wie üblich archäologisch nicht nachweisbar, beispielsweise als Handelsgut Salz, Getreide, Vieh und nicht zuletzt auch Sklaven. 2186 Harasim 2013. 2187 Schmid 1985. 2188 Reichmann 2001, 483 Abb. 2189 Erdrich 2009, 164; Koch-Heinrichs (Hrsg.) 2014, 81 Info-Feld mit Karte. 2190 Salač 1998, 577 Abb. 1.
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Der bekannte Handelsweg, die Bernsteinstraße,2191 führte quer von Norden nach Süden durch den Kontinent als Weg in die Ferne und aus der Ferne zurück. Beide Richtungen sollte man berücksichtigen und auch davon ausgehen, dass nicht – etwa wie beim Bernstein – der Transport der Güter auf einem solchen Fernweg vom Anfang an der Ostsee bis zur Adria in einem Zuge erfolgte, sondern ein so allgemeiner Verkehrsweg wurde natürlich auch streckenweise benutzt. Denn was sich hinter der Bernsteinstraße oder den Bernsteinstraßen, deren Verlauf von Carnuntum die Oder und Weichsel abwärts oder umgekehrt zu formulieren geschildert wird, tatsächlich vielfältig verbirgt, ist nicht eindimensional zu erklären.2192 Dass Bernstein in Mitteleuropa, als Apotropaion und Prestigeobjekt, auch vielerorts in Germanien selbst genutzt wurde, habe ich auch oben erläutert (vgl. S. 502).2193 Die zahlreichen römischen Importe im östlichen Germanien sollen vor allem das Ergebnis des Bernsteinhandels von der Ostsee über die römischen Orte an der Donau in das Imperium nach Aquileia sein. Bernstein als ehemaliges Baumharz ist leicht, aber trotzdem in großen Mengen transportiert worden. Es gibt den 300 kg schweren Depotfund überwiegend mit Perlen und Rohmaterial von Basonia bei Lublin im Südosten Polens und drei Depots, gefunden 1906 und 1936 bei Wrocław-Partynice, mit zusammen 1,5 Tonnen Bernstein, datiert in die letzten Jahrzehnte v. Chr. (vgl. oben S. 502). Allein diese Zahlen lassen ahnen, welchen Umfang damals Handelsunternehmen von Germanien aus gehabt haben. Bernstein war im Römischen Reich sehr begehrt, doch auch die Germanen zuhause fertigten für sich Ketten aus großen Bernsteinperlen an. Bernstein ist in der Przeworsk-Kultur, also nahe am Herkunftsgebiet des Harzes, für allerlei Schmuck verwendet worden.2194 Bernsteinhandel von der Ostsee bis ans Schwarze Meer spiegelt sich darüber hinaus in der Verbreitung spätrömischer Fibeln und auch von Sporen einer Variante des Typs aus den Fürstengräbern von Leuna vom Samland bis ans Schwarze Meer.2195 Insgesamt jedoch, so Michael Erdrich, gibt es keinen fassbaren Zusammenhang zwischen umfangreichem Bernsteinhandel und entsprechenden römischen Sachgütern als Gegengabe.2196 Importe von Terra Sigillata, Bronzegefäßen und Münzen sind nicht kontinuierlich, sondern nur in einem engen zeitlichen Rahmen nachweisbar, zum Beispiel im späten 2. Jahrhundert, der Zeit der Markomannenkriege. So könnten diese Importe weniger mit einem Handel als vielmehr mit der Anwerbung von Söldnern zusammenhängen. Aber immerhin ist zu beobachten, dass der Bernsteinhandel nach Aquileia zur Zeit dieser Markomannenkriege abbrach. Ausnahmsweise nenne ich die von A. Bursche zitierten schriftlichen Quellen zum Bernsteinhandel im 2191 Wożniak 1996; Quast, Erdrich (Hrsg.) 2014; Erdrich 2014. 2192 Madejski / Niemirowski 2014, 48 Abb. Karte. 2193 Nüsse 2011b. 2194 Wielowiejski 1996. 2195 Kontny 2017, 125 Fig 9 Verbreitung der Sporen. 2196 Erdrich 2014.
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4./5. Jahrhundert, nämlich das Edikt Diokletians (284–305) und ein Schreiben Theoderichs des Großen (um 454–526), was den Stellenwert in der römischen und frühmittelalterlichen Welt betont.2197 Wie unterschiedlich die Versorgung mit römischen Gütern in den verschiedenen Gebieten Germaniens beispielsweise gewesen ist, zeigen die entsprechenden unterschiedlichen Kartenbilder. Wie oben beschrieben gelangten die sogenannten Westlandkessel aus den westlichen römischen Provinzen bis hoch nach Norwegen (oben Abb. 45) (vgl. S. 468), und die Facettschliffgläser aus dem Südosten Europas über eine weite Strecke zu den dänischen Inseln und Norwegen. Die Hemmoorer Eimer erreichten als Handels- und Beutegut Germanien, und sie kamen dann als Graburne in die Erde oder als Trinkgeschirr in die Fürstengräber, aber nicht überall in derselben Weise. Eine neue Verbreitungskarte zeigt die Fundorte innerhalb der römischen Provinzen und in Germanien, hier mit Verdichtungen beiderseits der Weser, im Elbe-Saale-Gebiet und auf den dänischen Inseln sowie auch in Norwegen (oben Abb. 44).2198 Eine Tabelle bringt das Histogramm zu den Durchmessern der Eimer und zeigt, dass diese allgemeine Grundform ganz unterschiedlich groß und damit auch verschieden zu verwenden waren, und zwar betragen die Maße 16 bis 30 cm, wobei die Mehrheit 22 bis 24 cm Durchmesser aufweist.2199 Diese Hemmoorer Eimer sind eine Leitform der jüngeren Römischen Kaiserzeit; sie werden in die zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts datiert, aber auch einen Produktionsbeginn erst um 200 wird genannt, während der Komplex von Neupotz um 259/260 anzusetzen ist und eine Ende der Produktion um 250.2200 Die Eimer sind aus Messing (und nur einige sind aus Silber) und stammen aus dem heutigen Raum Aachen, wie auch Materialanalysen belegen. Vor Jahren schon hat Klaus Raddatz 1976 die unterschiedliche Verteilung dieser Hemmoorer Eimer beiderseits der Weser kartiert und damit gezeigt, wie sehr Kartenbilder von den Überlieferungsmöglichkeiten, hier den Grabsitten abhängen.2201 Dieses Problem der Quellenfrage zur Überlieferung römischer Sachgüter aus Siedlungen, Brand- und Körpergräbern ist wieder von M. Becker 2006 thematisiert worden.2202 Und schon W. Wegewitz hat 1986 die Bestattungen in importiertem Bronzegeschirr in den Urnenfriedhöfen beiderseits der Niederelbe mit ihrer unterschiedlichen Verteilung beobachtet,2203 ebenso wie später wieder F. Laux 1995.2204 M. Becker meint, die Hemmoorer Eimer seien beispielswiese nach Hemmoor entweder von Westen über 2197 Bursche 2008a, 104. 2198 Luik 2013 (2015), 118 f. Abb. 3 Gesamtverbreitungskarte; M. Becker 2016b, 14 Abb. 6 Karte und Fundliste 3 mit 268 Nr.; 2019, 97 f. Karte der Hemmoorer Eimer (Stand 2008). 2199 Luik 2013 (2015) 120 Abb. 5. 2200 Luik 2012 (2015) 126. 2201 Raddatz 1976. 2202 M. Becker 2003; 2006; 2016b. 2203 Wegewitz 1984/1985 (1986). 2204 Laux 1995, 81 Abb. 3 Plan des Gräberfeldes von Putensen mit den Bronzeurnen; 83 Abb. 2 Plan des Gräberfeldes von Harsefeld mit den römischen Importgefäßen als Urnen.
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den Hellweg oder von Norden auf dem Wasserweg über die Weser ins Land gekommen. Oftmals ist eine getrennte Niederlegung von Leichenbrand in einem Hemmoorer Eimer und der Scheiterhaufenresten nachweisbar. Brandbestattungen in römischen Bronzegefäßen gibt es von Südschweden über Mitteleuropa und – wohl eine Ausnahme – bis in die Ukraine (mit dem Gräberfeld von Mutina),2205 mit Waffenbeigaben schon seit der späten vorrömischen Eisenzeit und der frühen Przeworsk-Kultur. Die ukrainischen Gräber werden als Bestattungen von im Kampf gefallener Krieger aus Gefolgschaften gedeutet, wie sie in der Przeworsk- und der Oksywie-Kultur sowie in der Großromstedter Gruppe vorkommen. Ein weiterer Aspekt soll in diesem Zusammenhang noch einmal erörtert werden. Wie steht es mit der Überlieferungsdichte und den Zahlen an Sachgütern, auf die die Archäologie ihre Interpretationen stützt. Man geht oftmals von einzelnen Funden aus, um daraus auf allgemeines Verhalten zu schließen. Das mag zwar berechtigt sein; aber nachweisbar ist, dass die jeweils entdeckten und ausgegrabenen Fundarten weniger als ein Prozent, oft nur ein Promille des einst Produzierten, des einst Vorhandenen ausmachen. Ein römischer Dolch-, ein Gladius-Fund in der Germania steht dann für 1000 derartige Waffen, die in das rechtsrheinische Gebiet gelangt sind. Nach der Niederlage des Varus in der Schlacht am Teutoburger Wald sind eigentlich weit mehr als 10 000 Gladii erbeutet worden, da jeder Legionär eine solche Waffe führte. Viele Gladii mögen geopfert worden sein, auch wenn die Opferplätze dafür noch nicht entdeckt sind. Aber eine Mehrheit wurde von den Teilnehmern an der Schlacht weiträumig verteilt. Davon sind bisher nur einige Dutzend gefunden worden. Die 300 römischen Schwertklingen aus dem Moorfund von Illerup in Jütland stehen dann gewissermaßen für 300 000 derartige Waffen, die einst produziert und von denen viele davon nach Germanien gelangt sind. Von den Helmen römischer Legionäre sind nur wenige Exemplare überliefert, obgleich zu jeder Legion einige 1000 Helme gehört hatten. Das Metall der Helme wurde später anderweitig verarbeitet, manche Helme gingen verloren oder wurden in Flüsse versenkt, aus denen im Übrigen heute die größte Anzahl an Helmen geborgen werden konnte. Die hohe Verlustrate an Sachgütern ist in jeder Hinsicht auch mit Blick auf moderne Verhältnisse beschreibbar. Von mehreren hunderttausend frühen VW-PKWs gibt es heute nur noch einzelne Exemplare als Oldtimer. Von den beispielsweise in der frühen Neuzeit produzierten 300 000 Münz- und Goldwaagen aus Kölner Produktion – das ist an den Zetteln ablesbar, eingeklebt in die Schatullen der Aufbewahrung, und ist speziell untersucht und bestätigt worden – sind heute nur noch nach intensiver, weltweiter Recherche in Museen und Sammlungen (die ich einst von Köln aus durchgeführt habe) in vielen Museen und anderen Sammlungen nur gerade 300 Exemplare nachweisbar, also ein Promille.
2205 Terpilovskiy, Hharov 2013–2014, 137–155, 147 Fig. 9 Karte und Fig. 5 Fotos der Bronzegefäße mit den Beigaben im Inneren.
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Es entsteht hier der Eindruck, als ob es immer nur um den Handel von Sachgütern aus den römischen Provinzen ins Innere von Germanien gehen würde. Der Umfang des römisch-germanischen Handels täuscht aber eine zu hohe Intensität vor; denn es ist leicht, Römisches in Germanien zu identifizieren, weshalb dieser Eindruck auch durch den Aufbau des Corpus der römischen Funde im europäischen Barbaricum zusätzlich unterstrichen wird.2206 Die Intensität des Handels mit in Germanien produzierten Waren über größere Distanzen ist, weil es oftmals Güter aus organischem Materialien waren, die vergangen und archäologisch nicht nachweisbar sind, kaum abzuschätzen. Die oben erwähnten Bernsteinhorte (vgl. S. 588) lassen vielleicht etwas über den Umfang des Warentransports ahnen. Auch der Handel aus Germanien in die römischen Provinzen ist zu beachten, und der war sicherlich – abgesehen auch von den Söldnern als „Handelsware“ – nicht gering, wobei es um Nahrungsmittelversorgung ging, um Felle und Pelze, aber auch wie gezeigt, um Importe von Eisen, Blei und Bernstein.2207 Dieser Waren- und Dienstleistungsaustausch zwischen dem Römischen Reich und Germanien und umgekehrt spiegelt durchaus enge Kontakte – und man sollte nicht immer nur die kriegerischen Auseinandersetzungen in den Blick nehmen.2208 Handel oder Beute als Motivation germanischer Kriegsführung, wie M. Meyer kurz sagt, hostium aviditas (Gier des Feindes)2209 sind parallel zu betrachten. Man war benachbart und nahm sich zur Kenntnis und ging aufeinander ein, auch wenn es nicht dazu gereicht hat, Germanien schließlich zur Provinz zu machen. D. Quast hat versucht, einige germanische Importe der jüngeren Römischen Kaiserzeit in die Provinz Germania inferior zusammenzustellen, um die Gegenrichtung belegen zu können.2210 Es sind Prunkgürtelbeschläge, Sporen, Pressblechbeschläge und Scheibenfibeln, wie sie in derselben Technik auf den Schilden von Gommern und Illerup belegt sind. Die (wenigen) Objekte fanden sich beispielsweise in vier Gräbern, und es sind qualitativ hochwertige germanische Importe in die Provinz. Sie spiegeln zugleich die engen Bezüge, vielleicht eine dichte Vernetzung der Goldschmiede beiderseits des Limes? D. Quast weist auf einen Sachverhalt hin, den M. Erdrich ebenfalls beschrieben hat. Er „geht aufgrund des gehäuften Vorkommens von germanischen Fibeln mit hohen Nadelhalter (Almgren VII)2211 in der niederländischen Provinz Zuid Holland sogar davon aus, dass es bereits im 3. Jahrhundert zu Verträgen zwischen Barbaren und dem Imperium kam und Rom fränkische Siedlungen auf Reichsgebiet tolerierte“.
2206 Corpus der römischen Funde, die Bände erscheinen ab 1994. 2207 Tausend 1987. 2208 Wolters 1990 und 1991. 2209 M. Meyer 2012b. 2210 Quast 2017c, 357, 365 Zitat nach Erdich 2005, 178. 2211 Schulte 2011, Beilage 1.
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C. v. Carnap Bornheim betont, dass der Charakter der Kontakt- und Grenzzone weiterhin bis in die Spätantike und in die frühe Völkerwanderungszeit blieb, wie die kaiserzeitlichen germanischen Traditionen im Fundgut des Grabes des „Chef militaire“ von Vermand und dem Childerich-Grab zeigen würden.2212 Das ist aber zugleich ein anderer Sachverhalt. Ich weise darauf hin, dass Germanen – wie an ihren Häuser und der Keramik abzulesen – bis hin zur Normandie seit dem 3. Jahrhundert auf Provinzboden siedelten bzw. angesiedelt wurden (vgl. oben S. 239). Im 4. und 5. Jahrhundert zeichnet sich in den Grabbeigaben im Raum Nordostgallien zudem eine Bevölkerungsgruppe über eine neue Bestattungssitte und außerdem eine neue Kleidungsmode mit besonderem Fibelschmuck aus, die deshalb von einigen Forschern als eingewanderte Germanen gedeutet werden und von anderen als eine Bevölkerung, die sich neue Gebräuche angewöhnt hat und damit zugleich eine veränderte gesellschaftliche Ordnung spiegelt. Darüber werde ich noch berichten (vgl. S. 1164). Römische Sachgüter aus Metall wurden in großen Mengen gebraucht, weil auf diese Weise bequem das Rohmaterial für die Produktion des Schmucks nach eigenem Geschmack möglich wurde. Bronzegefäße wurden jedoch als solche gebraucht, Kessel und Eimer, Kelle und Sieb, als Tafelgeschirr wie bei den Römern. Diese Objekte wurden aber auch zerschnitten und dann als Rohstoff eingeschmolzen. Dasselbe geschah mit silbernen Gegenständen. Metallgefäße als Handelsgut sind von der Forschung nach Zeitphasen aufgeteilt und katalogisiert worden, auch mit Hinweis auf die Herkunftsräume im Römischen Reich, entweder aus den südlichen Werkstätten in Italien oder aus den westlichen Werkstätten, gestaffelt nach den Phasen der Archäologie für die Römischen Kaiserzeit vom Anfang bis zum Ende (vgl. oben S. 585).2213 Eindeutig ist der erfassbare Import – ich erinnere an die Überlieferungsmöglichkeiten als Grabbeigaben oder als Siedlungsfunde – in Wellen ins Innere Germanien gelangt.2214 Das häufigste Ausgangsmaterial zur Weiterverarbeitung bildeten aber Münzen (dazu oben S. 656), die als Kupfer-, Messing, Silber- und Goldmünzen zu gewinnen waren. In diesem Kapitel zum Handel erinnere ich an die oben gebrachten Erörterungen zur Frage, ob Münzen auch als Geld eine Rolle gespielt haben und als solche akzeptiert und verwendet wurden. Außerdem bestanden die kleinen römischen Götterfiguren aus Buntmetall, die in größerer Zahl in Germanien gefunden worden sind. Auch bei diesen Objekten erhebt sich die Frage, ob die Figuren wieder nur als Rohstoff gebraucht wurden oder ob nicht im Zuge einer interpretatio Germanica diese Bildnisse für die eigenen Götter umgedeutet und verehrt wurden. Sie sind eingehandelt und aufbewahrt worden, weil sie länger behalten und eben nicht eingeschmolzen wurden (vgl. dazu unten S. 638). Vieles andere wurde verhandelt, zum Beispiel im 3. Jahrhundert römische Mühlsteine
2212 v. Carnap-Bornheim 1999d. 2213 Kunow 1983; 1985. 2214 Erdrich 2001a; 2001b.
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aus Mayener Basalt für Handdrehmühlen, die erst zu dieser Zeit auch in Germanien üblich wurden. Mit ihnen ließ sich Getreide wesentlich leichter und auch schneller mahlen, als mit den älteren Typen.2215 Zusammenfassend kann ich mit H.-J. Karlsen (früher H.-J. Nüsse) sagen, Römisches im rechtsrheinischen Germanien bildet durchaus Handel und Warenaustausch über die Grenze des Römischen Reichs ab.2216 Nach Tacitus (Germania c. 5) wussten die Grenznachbarn in Germanien Gold und Silber zu schätzen, was die Handelsbeziehungen förderte. Prestigeobjekte wechselten als diplomatische Geschenke nach Germanien.2217 Ich erinnere an das Silberbecher-Paar aus Hoby nicht nur wegen der antiken Sagendarstellungen zu Achilles, sondern wegen der Inschrift eines römischen Beamten am Rhein SILIUS (vgl. S. 917), ein frühes Diplomatengeschenk aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. Antike Schriftsteller berichteten über Kaufleute in Germanien. In den Quellen wird auch gefragt, welche Gegengaben, archäologisch nicht erkennbar, ins Römische Reich wechselten, Felle, Gänsefedern und Frauenhaar. Wichtig war die Kategorie der Gebrauchsgüter aus den römischen Provinzen, nämlich was davon nach Germanien zwischen Rhein und Weser gelangten. Das spiegeln die Fundplätze bei Castrop-Rauxel, die teilweise beschriebenen Siedlungen von Ickern und Erin sowie Borken-West. In der Siedlung von Ickern des 1. bis 4. Jahrhunderts gibt es Funde von Terra Sigillata, Scherben von Amphoren und Spruchbechern sowie provinzialrömische Drehscheibenware, auch Bronzegefäße wie Siebe und Halbdeckelgefäße, jedoch ebenfalls Drehscheibenware germanischer Herkunft, germanische Nigra aus mehreren rechtsrheinischen Töpfereien. Diese Funde sind ein Hinweis auf innergermanischen Austausch nahe der Grenze, verbunden mit Ideentransfer, weil die schnelldrehende Töpferscheibe eingesetzt wurde.2218 Emailscheibenfibeln waren um 200 n. Chr. in Germanien Importe, auch wenn einige von diesen in örtlichen Werkstätten verändert wurden. Der Ort Erin war sowohl ein Handels-, als auch ein Opferplatz, denn archäologisch erfasst sind rituelle Niederlegung ganzer Tiere (Hund, Rind, Pferd). Zu den Funden zählen 200 römische Münzen, Eisen- und Buntmetallschrott, und das Recycling belegt einen Schrotthandel mit der römischen Provinz. Eine gewisse Geldwirtschaft in dieser Grenznähe ist nicht ausgeschlossen. In Erin fanden sich Glasscherben, außerdem ist das Einschmelzen römischen Glases in Westfalen bezeugt, wohl um Perlen zu schaffen.2219 In der Siedlung Bielefeld-Sieker sind ebenfalls römische Glasgefäße als Fragmente gefunden worden; in Borken-West sieht man Altmetallhandel bezeugt, da mehrere hundert Bronze-Objekte und Schmelzreste
2215 Nüsse 2013, 133; Cosack 2002. 2216 Karlsen 2018a. 2217 Erdrich 2001a. 2218 Agricola u. a. 2012. 2219 Vogt 2002.
11.2 Handel vom Römischen Reich nach Germanien
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geborgen wurden, sogar zerteilte römische Inschriftenplatten sind darunter.2220 Von der Siedlung Borken-West, die vom 2. bis zum 4. Jahrhundert bestanden hat, sind es nur 30 km bis zum Limes. Auch hier gibt es Mengen an Metallschrott, römische Drehscheibenware, Münzen, und zwar kleine Nominale, die eine Geldwirtschaft mit dem Reich andeuten, so wie es für das Gebiet im von Rom eigentlich verlassenen Decumatland am Oberrhein ebenfalls belegt ist (vgl. S. 568). Diese Kontaktstrukturen sind ein Aspekt der kulturellen Aneignung fremder Güter, wie es immer wieder zu beobachten ist.2221 Auf den Pelzhandel in Nordamerika zwischen Trappern und Indianern gehe ich im Anhang 3 noch ein. Die Indianer wollten im 18./19. Jahrhundert als Waren Waffen, also Gewehre, Werkzeuge, Mehl, Nähnadeln, Angelhaken, Messer, Kessel, Äxte, Flintensteine und Munition, sogar auch Nahrungsmittel und Kleidung. Ein ähnliches Modell hat 1980 schon J. Kunow für Germanien diskutiert.2222 Er parallelisiert dieses Modell des Trappers mit dem Kleinhändler in Germanien. Beim aufmerksamen Lesen dieser Zeilen fällt aber auf, dass hinter dem Modell noch die alten Vorurteile der dünn besiedelten, schlichten Landschaften stehen, die ich in diesem Buch widerlegt habe. Andere Modelle ähnlicher Art bieten sich aber auch an (vgl. Anhang 3). Noch einmal zurück zur Frage der Händler in Germanien und zum Kontakt mit dem Römischen Reich. Die Verbindungen zwischen der Germania und dem Imperium bestanden nicht nur über Handel, abgesehen von den kriegerischen Auseinandersetzungen, sondern es gab weitere Kultur- und wirtschaftliche Kontakte. Auf germanischer Seite hatte man Interesse an römischen Importen, im Imperium aber zugleich Interesse an Waren aus Germanien.2223 Es gab also beiderseitige Interessen, nicht nur aus römischer Sicht, um Söldner zu gewinnen, sondern von den Germanen aus zu Handelbeziehungen ins Römische Reich.2224 Es gab somit einen Technologietransfer, aber trotzdem eine Reserve gegenüber Neuerungen, denn es bleibt unklar, warum die Bevölkerung in Germanien beispielsweise nicht an der Blüte der Tierzucht der Römer teil hatten oder diese Kenntnisse übernommen haben. Darauf wird am Schluss wieder zurückgekommen (vgl. S. 415, 1265).2225 Es ist der Versuch wert, sich von dem Bild, das von der älteren Forschung verbreitet wurde, eines kulturellen Gefälles zwischen dem Imperium und Germanien zumindest teilweise abzusetzen. Das Ruhrgebiet und der Hellweg waren eine überregionale Handelsroute, sodass die römischen Händler den Blick auf die ökonomischen Potenziale im rechtsrheinischen Gebiet hatten. Auf die Siedlung Kamen-Westick mit den zahlreichen römischen Importen wurde schon 2220 Wiegels 2012. 2221 Schreiber 2013; 2018. 2222 Kunow 1980. 2223 Grassl 2004. 2224 Mirschenz 2015 (2016). 2225 Stoll 1997.
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11 Güterverteilung und Handel
eingegangen (vgl. S. 227), die man als Umschlagplatz im römisch-germanischen oder germanisch-römischen Handel betrachten sollte. Güter aus Germanien waren Pökelwaren, Fisch, Gewürze, Kräuter, Waldprodukte, Wild, Leder, Felle und Pelze, Seife, Haarfärbemittel, die in die Provinzen aus Germanien verhandelt wurden (und das steht so in den antiken Schriftquellen). Man kann mehrere Resistenzen in den römerzeitlichen Siedlungen von Germanen in der Wetterau gegenüber der Übernahme römischer Kultureinflüsse beobachten,2226 nicht nur an der mittelwüchsigen Mischrasse in der Rinderzucht. Auch die einheimische Kleidung wurde bevorzugt. Es scheint eine absichtsvolle Verweigerungshaltung gegenüber römischen Kultureinflüssen gegeben zu haben. In anderen ferneren Bereichen Germaniens gab es Strukturen, die für eine Nachfrage römischer Güter sorgten, da durch den Erwerb auch der soziale Status von Eliten abgesichert werden konnte, jedoch immer nur als Ergänzung zu den eigenen Ausstattungen und mit spezieller Auswahl. Nicht alles Römische wollte die Bevölkerung in Germanien haben oder übernehmen. Im unmittelbaren rechtsrheinischen Gebiet lassen sich in manchen Zonen keine scharfen Trennungen zwischen einzelnen Kulturräumen, -elementen und -impulsen ziehen. Darin zeigt sich, dass zwischen einzelnen Räumen des römisch-germanischen Grenzgebietes differenziert werden muss. Wie sehr die Bewohner Germaniens bis nahe an den Rhein bei ihren traditionellen Lebensweisen trotz der Jahrhunderte der engen Nachbarschaft blieben, was auch für den Hausbau und die Grabsitten zutrifft, habe ich immer wieder in den verschiedenen Kapitel hervorgehoben, weil es ein Hauptanliegen dieses Buches ist, die Eigenständigkeit Germaniens zu beschreiben (vgl. S. VIII, 508, 1149, 1282, 1288). Als neues methodisches Mittel, diese Zusammenhänge beim Handel bzw. bei jedweden Austausch- und Verteilungsmustern zu erschließen, bieten sich Netzwerkanalysen an, wie sie Ulrich Müller, Oliver Nakoinz und andere für verschiedene Epochen vorgeschlagen haben.2227 Das geht einen wesentlich Schritt weiter über die früher angewendeten, errechneten bzw. konstruierten Thiessen-Polygone hinaus. Die Dichte der Verflechtungen, die Knotenbildungen und die quantifizierende Abschätzung ergeben neuartige Raumentwürfe; und bei entsprechend kritischer Quellenkritik wird auf diese Weise tatsächlich am ehesten ein Zugriff auf die Kommunikationsstrukturen in Germanien der ersten Jahrhunderte n. Chr. gewonnen. Mir sind aber noch keine derartigen Publikationen bekannt. Inzwischen werden Handel und Kommunikationsnetzwerke im nördlichen Mitteleuropa mit Zentralorten, Küstenmärkten und Handelsplätzen in Kolloquien behandelt, um mit diesen Ansätzen neue Einsichten zu gewinnen.2228 Einige Bemerkungen zum Handel als kultureller Aspekt des Alltags in Germanien schließe ich noch an, auch wenn schon zuvor dazu Fakten beschrieben worden sind.
2226 Mirschenz 2015 (2016) 361. 2227 U. Müller 2009; Nakoinz 2009; 2017. 2228 Ludowici, Jöns, Kleingärtner, Scheschkewitz, Hardt 2010.
11.2 Handel vom Römischen Reich nach Germanien
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Das Beispiel der sogenannten Augenfibeln der preußischen Nebenserie (vgl. oben S. 227) ist auch für die Forschungsgeschichte höchst aufschlussreich. Dieser Fibeltyp hat seinen Namen bekommen, weil er in der größeren Anzahl südlich der Ostsee und an der Weichsel gefunden worden war. Nun wurde aber in Augusta Vindelicorum / Augsburg (oder AELIA AUGUSTA als raetische Hauptstadt) ein Hort mit 125 Fibeln der Jahre 69/70 n. Chr. zusammen mit 200 Augenfibeln samt Halbfabrikaten entdeckt. Früher hätte man postuliert, irgendwo im Norden wären diese „germanischen“ Fibeln hergestellt worden (vgl. oben Abb. 10). Nun muss man von einem Handel von Augsburg über fast 1000 km in den Norden ausgehen. Ein solcher Fundkomplex verschiebt grundsätzlich die Erklärungsmuster des Kartenbildes für eine Typenverteilung. Auch 30 000 Fragmente eines Glasmassenfundes sind in Augsburg dokumentiert, Reste einer Werkstatt, die wohl auch für den Handel produziert hat.2229 Hier wiederhole ich meine Überlegungen zu den Mengen an überlieferten Sachen in Relation zu den einst vorhandenen: Im nördlichen Germanien sind vielleicht bisher insgesamt nur etwa gleich viele Fibeln dieses Typs Augenfibeln aus einem längeren Zeitraum gefunden worden, wie nun allein punktuell in einer Augsburger Werkstatt dokumentiert sind (vgl. oben Abb. 10). Bemerkenswert ist doch auch, dass – bei den Fibeln – im Grenzbereich einer römischen Provinz direkt für den Fernhandel nach Germanien dieses Sachgut als Massenprodukt hergestellt worden ist. Welche anderen Güter sind innerhalb des Römischen Reichs unmittelbar nur (!) für den Export nach Germanien angefertigt worden, vielleicht auch Gruppen der Westlandkessel, die nach Norwegen gelangt sind? Wie identifizierbare Objekte, beispielsweise römische Bronzegefäße des Publius Cipius Polybius, in Germanien vielerorts gefunden worden sind, bezeugt der Stempel des Bronzeschmiedes aus Capua. Datiert werden diese Gefäße in Phase B2, also ins 2. Jahrhundert.2230 Die Gefäße wurden jedoch nicht direkt für Germanien gefertigt, sondern wurden mehrheitlich in den römischen Provinzen benutzt. Aber nicht wenige wurden nach außen verhandelt; und oft waren auch bei diesen Bronzegefäßen mehrfach reparierte Stücke, die man in Germanien trotzdem noch schätzte oder aber eingeschmolzen hätte. Ein solches Bronzegefäß wurde neben insgesamt drei Gefäßen in der Siedlung der Przeworsk-Kultur in Powodów Drugi ausgegraben,2231 eine Bronzekelle mit der Stempel-Inschrift Publius Cipius Polybius, hier datiert B1b-B2 (50–150 n. Chr.), vom Typ Eggers 142. Die Karte zur Verbreitung der Bronzegefäße mit der Markierung Polybius bringt einige im Römischen Reich und daher auch in Britannien, viele in Jütland und auf den dänischen Inseln (etwa 15) sowie einige im Elbeverlauf und an der Oder (vgl. auch S. 432). Das sind alles Grabfunde bis auf diesen einen Siedlungsfund in Polen und ein Stück im Hort von Havor. Aber nicht bei
2229 Bakker 2002, 263 Abb. 2 und 3. 2230 Kołoszuk 2015, 226 Fig. 5 Verbreitungskarte der Bronzegefäße mit dem Stempel des Polybius. 2231 Jakubczyk, Siciński 2017, 283 Fig 3. Bronzekelle mit Stempel, 285 Fig. 4 Verbreitungskarte.
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11 Güterverteilung und Handel
jedem Bronzegefäßtyp ist somit wie bei diesem der Herstellungsort, die Herstellungszeit und das Handelsnetz so überzeugend fassbar. Th. Grane sieht zu den Beziehungen zwischen dem Römischen Reich und Südskandinavien vor allem militärisch-politische Verbindungen während der ersten drei Jahrhunderte n. Chr. Den Niederschlag beobachtet er in den Bestattungen in Dänemark, auf den Inseln, mit römischen Objekten schon in der Stufe B1a (0–40 n. Chr.),2232 also zeitlich vor den zahlreichen Fürstengräbern, die U. Lund Hansen vielfach behandelt hat, und auch vor den Heeresausrüstungsopfern der nachfolgenden Epochen im südwestlichen Ostseegebiet. Was hat da eine entscheidende Rolle gespielt, der Handel mit Sachgütern oder eher schon Dienste von Söldnern, die dann etwas an Sachgütern mit zurückgebracht haben? Th. Grane unterscheidet bei der Zufuhr von römischen Importen in den Norden Handel, Subsidien und Beute, und er meint, Beute sei doch nie in die Fürstengräber gestellt worden. Das entspräche nicht ihrem Rang, wie der von Silbergefäßen. Auch ein römischer Dolch (pugio) wie im Grab A 4103 von Hedegård bei Vejle aus der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr.: Derartige Dolche sind selten in Germanien (vgl. S. 70); sie sind etwas Besonderes, spiegeln persönlichen Kontakt zum Römischen,2233 oder – so meine ich – könnten doch Beutestücke von der Varusschlacht gewesen ein. Lothar Schulte hat unter dem Titel „Rom trifft Germanien“ zum beiderseitigen Handel 2018 zusammenfassende Bemerkungen geboten, die ich hier wiederholend – auch als eine Zusammenfassung des Bisherigen – noch einmal zitiere.2234 Er nennt die Küstenhandelsplätze Bentumersiel, Elsfleth-Hogenkamp, Dankirke, Lundeborg, Stevns, Sorte Muld, Uppåkra und außerdem Zohor in der Slowakei. Anhand der Reste eines römischen sowie einiger germanischer Bleibarren und Bleifunde aus Soest geht er auf feste Handelsplätze im Binnenland an der Grenze ein und auf Markttage für die Germanen (wie das in den Schriftquellen zu finden sei). Es gab nach der schriftlichen Überlieferung eine Sonderrolle für die Hermunduren, die sich frei in den römischen Provinzen bewegen durften, Zugang hatten über Tore im Limes auf dem Weg nach Augsburg. Amphoren spiegeln den Weinhandel nach Germanien; der Sklavenhandel verlief in beide Richtungen, was auch anhand von Eisenfesseln dokumentiert ist. Handelsgüter aus Germanien in die Provinzen waren, wie schon mehrfach hier beschrieben, Bernstein, Haare, Seifenschaum und Gänse, wegen der Federn. Er sieht die Bleigewinnung zuerst unter römischer Ägide ab 20 v. Chr. in der Eifel und um 0 im Sauerland, wo es Bleibergbau gegeben hat: Der Bleibergbau wurde […] im Sauerland nach Abzug der römischen Truppen aus den Gebieten rechts des Rheins bis in das 2. Jahrhundert fortgeführt, wobei sich sowohl die Form der Barren als auch der Abnehmerkreis änderten.
2232 Grane 2007a, b, c, d; 2011, 102 Fig. 1; 2013; Ethelberg 2011b, 120 mit einem Kommentar zu Grane. 2233 Grane 2016, 982 Fig. 3 (pugio). 2234 Schulte 2018, 27 Karte der Handelsplätze, 25 Zitat zur Bleigewinnung.
11.3 Handel im Inneren Germaniens
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Den Handel im Inneren Germaniens bezeugen 84 kg Blei in der Siedlung Soest-Ardey. Blei brauchte man in Germanien bei der Bronzeverarbeitung und der Schmuckherstellung zur Erleichterung beim Gießen und zum Löten. Der Bernsteinhandel stagnierte im 2. Jahrhundert und ging im 3. Jahrhundert deutlich zurück, wegen der Markomannenkriege 166–180. Am Anfang der Bernsteinstraße im Weichselmündungsgebiet spiegeln 60 000 römische Münzen den Gewinn aus diesem Handel. L. Schulte schildert auch die vorindustrielle Massenproduktion an Eisen, den Buntmetallschrott in Frienstedt und Gudme, weist darauf hin, dass Hemmoorer Eimer und Silberdenare eingeschmolzen wurden. Kupfer wurde seit dem 3. Jahrhundert in Germanien selbst gefördert, im Harz bei Düna und Derenburg, 4000 Rennfeueröfen zur Eisengewinnung des 4. bis 6. Jahrhunderts gab es bei Snorup, dann im Osten und Süden Polens; und in der Lausitz waren es, hochgerechnet, sogar mehrere 100 000 Rennöfen, was zu Zehntausenden Tonnen von Schlacken führte (vgl. oben S. 444). Zu Beginn der jüngeren Römischen Kaiserzeit ist anhand der Eisenbarren in der Siedlung Lundeborg der überregionale Eisenhandel aus Südskandinavien zu erschließen. Weil zuhause genug Eisen produziert wurde, gibt es kaum römische Eisenbarren in Germanien. Weiteres römisches Handelsgut aber waren Mahlsteine aus Basaltlava der Eifel, die ab dem 1. und 2. Jahrhundert bis nach Thüringen und Südpolen gelangten, nach Südskandinavien jedoch erst im 3. sowie 4. Jahrhundert auf die dänischen Inseln kamen.
11.3 Handel im Inneren Germaniens Nun weiter zum innergermanischen Handel: Die steilwandigen kleinen und größeren Hemmoorer Eimer wurden als Teil des römischen Tafelgeschirrs aus Bronze, Messing sowie aus Silber vom 2. bis ins frühe 4. Jahrhundert hergestellt, je nach Rang im römischen Haushalt.2235 Sie gelangten als Importe nach Germanien. Auf welche Weise diese Eimer und auch die Westlandkessel in so großer Zahl nach Germanien kamen, ist offen, über einen regulären Handel mit Metallgefäßen, transportiert von Kaufleuten, oder wie erläutert als Beute wie im Flussfund von Neupotz belegt. Das scheint aber nicht ausgereicht zu haben, wenn man sich an die theoretisch anhand der dokumentierten Zahlen errechneten Mengen erinnert. Die Eimer standen in üppig ausgestatteten Körpergräbern und dienten gar andernorts als Aschenurnen. Das führte beispielsweise zu einer speziellen unterschiedlichen Überlieferungsdichte in Germanien, da anfangs beiderseits der Niederelbe Hemmoorer Eimer als Urnen genutzt wurden, und erst später, nachdem dort die Sitte aufgegeben worden war, vor allem westlich der Weser wieder aufkam. Das ist ein überzeugendes Beispiel dafür, wie über Handel alle Gebiete in Germanien mit römischen Sachen versorgt werden
2235 Erdrich 1995b.
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11 Güterverteilung und Handel
konnten, aber nur bestimmte unabhängig davon praktizierte Verhaltensweisen – hier beim Bestattungsbrauch – für eine Überlieferung bis heute sorgte, so dass alle Verbreitungskarten der Archäologie sehr quellenkritisch ausgewertet werden müssen.2236 Allein im Fürstengrab von Gommern, Sachsen-Anhalt, des späten 3. Jahrhunderts standen u. a. ein Westlandkessel und sogar zwei bronzene und ein silberner Hemmoorer Eimer (mit einem Gewicht von 1,5 kg), neben Glasgefäßen und einheimischen Holzeimern. Vor der unmittelbaren Deutung des Kartenbildes mit beispielsweise diesen Eimern, der abgebildeten Punktestreuung, sollte man sich hüten, nämlich das damit ein Abbild des einst nur in diesen Landschaften vorhandenen Materials gewonnen sei (vgl. oben S. 467). J. Bemmann zeigt dies anhand der Verteilung von Münzen oder Terra Sigillata, die in verschiedenen Gebieten unterschiedlich intensiv überliefert sind.2237 Ähnlich sieht es mit der Verbreitung von reliefverzierter Terra Sigillata in Germanien aus, die ebenfalls nicht gleichmäßig verteilt ist, sondern Schwerpunkte aufweist (Abb. 53).2238
Abb. 53: Verbreitung von Relief-Sigillata in Germanien.
2236 Raddatz 1976; Steuer 1999d, 378. 2237 Bemmann 2005a, 59 Abb.; auch Voss 2006 (2007) 59 Abb. 3. 2238 Schücker 2016 mit zahlreichen Karten.
11.3 Handel im Inneren Germaniens
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Das bedeutet aber eben nicht, dass auf diese Areale ein spezieller Handel ausgerichtet gewesen wäre; vielmehr müssen die Gründe erkannt werden, warum gerade diese Sachgüter zu dieser Zeit in den Boden gelangt sind, die Scherben wurden in Siedlungen gefunden, die Münzen als Beigaben in Gräbern. Die damaligen Verhaltensweisen der Bewohner einer Landschaft, im Bestattungsbrauchtum oder in Opfersitten, bestimmen die Möglichkeit der Überlieferung bis heute; denn regelmäßig ist zu beschreiben, dass römische Sachen zwar alle, auch abgelegene Siedlungen in Germanien erreicht haben, aber in unterschiedlichen Befundzusammenhängen entdeckt werden. Die leicht erkennbaren römischen Sachgüter täuschen einen erstaunlich intensiven Handel aus den römischen Provinzen nach Germanien vor, aufgrund der Tatsache, dass römische Objekte datierbar und beschreibbar sind. Schon seit langem hat das dazu geführt, diese Handelsbeziehungen in umfangreichen Studien zu beschreiben – so ein Blick in die Forschungsgeschichte. Den Anfang bildete 1951 Hans Jürgen Eggers mit seiner Studie „Der römische Import im Freien Germanien“;2239 1987 schloss sich das Buch von Ulla Lund Hansen „Römischer Import im Norden. Warenaustausch zwischen dem Römischen Reich und dem freien Germanien während der Kaiserzeit unter besonderer Berücksichtigung Nordeuropas“ an.2240 Michael Erdrich hat 2001 in der Monographie „Rom und die Barbaren. Das Verhältnis zwischen dem Imperium Romanum und den germanischen Stämmen vor seiner Nordwestgrenze von der spätrömischen Republik bis zum gallischen Sonderreich“2241 detailliert erläutert, wie zu sehr unterschiedlichen Zeiten römische Münzen und Sachgüter nach Germanien gelangt sind, dass zum Beispiel der Zustrom von verschiedenen Terra Sigillata-Arten und von Münzen vor dem Ende des 2. Jahrhunderts versiegt ist. Erdrich spricht von Importschüben und von „einer innergermanischen Übertragung von Gegenständen aus den persönlichen Schätzen jüngerkaiserzeitlicher Eliten im Rahmen einer Konfliktbeilegung, Sühneleistung oder weniger dramatisch einer Mitgift“, also auch als Gastgeschenke. Die Silberbecher-Paare aus den Gräbern der Oberschicht sind ebenfalls nicht kontinuierlich nach Germanien gekommen, sondern innerhalb einer kurzen Zeit und sind dann innerhalb dieser Schicht der Elite nach und nach weiter verteilt worden und haben dann zu verschiedenen Zeiten als Grabbeigaben gedient. Es gibt verschiedene Darstellungen zu diesem Handel mit römischen Sachgütern auch im Inneren Germaniens, wie H.-U. Voss zum Beispiel schildert und kartiert.2242 Dicht gestreut kommen Münzen im Havel-Spree-Gebiet vor und im Elbe-Saale-Areal sowie in Thüringen, auch zeitlich differenziert von 100 bis 300 bzw. 400 n. Chr. Die Unterschiede zwischen den Gebieten westlich und östlich der Elbe und Saale sollen unterschiedlichen Kontakt zum Römischen Reich spiegeln, wird aber doch eher 2239 Eggers 1951, auch 1955. 2240 Lund Hansen 1987. 2241 Erdrich 2001. 2242 Voss 2001, 442 Abb. 1 Römische Münzen des 1. bis 4. Jahrhunderts in Siedlungen und Gräbern (Stand 2000), 444 ff. ausführliche Katalog-Listen.
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11 Güterverteilung und Handel
dem Forschungsstand geschuldet sein. Der Hinweis auf die rapiden Änderungen bei Berücksichtigung der Metalldetektorfunde lässt das ahnen. Dieser innergermanische Handel, den es in großem Umfang ebenfalls gegeben hat, ist sehr viel schwieriger zu beschreiben. Die zahlreichen Kartierungen heimischer Sachgüter, nicht nur von Keramik, sondern auch aller Arten von Metallsachen bilden Verteilungsgebiete ab, die durch Güteraustausch zustande gekommen sein können, aber auch andere Faktoren, wie Familienzusammenhänge, Bevölkerungsbewegungen oder kriegerische Ereignisse haben zu derartigen Kartenbildern geführt. Wo, an welchen Plätzen Handel und Austausch abgewickelt wurden, bleibt noch recht ungewiss; über reguläre Märkte wissen wir noch wenig. Wandernde Kaufleute mögen von Siedlung zu Siedlung gezogen sein, um ihre Waren anzubieten. Aber wie auch in späteren Zeiten wird sich die Bevölkerung zum Tausch an bestimmten Orten getroffen haben; beispielsweise entstanden an Wegekreuzungen „Marktplätze“, die saisonal aufgesucht worden sein werden. Manche leichte Befestigungen bzw. Wallanlagen, die ich beschrieben habe (vgl. S. 321), werden als Versammlungsplätze gedeutet, an denen auch Märkte abgehalten worden sein werden. Ebenso hat es Ufermärkte an der Küste, auf den Inseln und an Flüssen gegeben, die ebenfalls kurz beschrieben worden sind (vgl. S. 405). Die sich erst in den späteren Jahrhunderten herausbildenden Zentralorte (vgl. oben S. 352) waren sicherlich neben Kultorten und den dort ausgeübten Praktiken zugleich auch Marktorte. Die im eigenen Abschnitt beschriebenen Kultplätze unterschiedlicher Zurichtung zogen bei den Opferhandlungen ebenfalls auch Kaufleute an und boten sich wie zu allen Zeiten zugleich auch als Handelsplätze an (vgl. unten S. 614). Ein 2012 und 2013 näher archäologisch untersuchter Kultplatz Västra Vång in Blekinge hat einen aufschlussreichen Befund gebracht, nämlich nicht nur einen steingepflasterten Weg (siehe oben S. 252), sondern eine provinzialrömische Bronzebüste und parallel dazu eine einheimische Nachahmung. Das zeigt, ein solches Götterbild wird umfunktioniert und vervielfältigt. Der Platz hat weitere Masken aus Bronze erbracht und aus späterer Zeit zahlreiche Goldblechfigürchen, diente kontinuierlich als Kultort; denn bei früherer Forschung hatte man dort schon einen Schatz mit 4000 Münzen, Hacksilber und Schmuckteilen, insgesamt von 6,2 kg Gewicht, gefunden.2243 Ein solcher Kultort war zugleich ein Zentralort und sicherlich auch ein Sammelplatz, an dem gehandelt wurde. Mobilität war ein Grundaspekt des damaligen Lebens und ist das bis heute. Man besuchte überregionale Kultplätze, traf sich im Übrigen auch zu kriegerischen Ereignissen, zu kleinen Feldzügen, und zum Austausch und Kauf von Gebrauchsgütern an verschiedenartigen Plätzen. Kommunikation ermöglichte das Netz der Wege und Straßen, in das alle Siedlungen eingebunden waren. Die Bewohner der Dörfer waren auch informiert, was es an Fremdgütern aus dem Römischen Reich und mehr noch, was innerhalb Germaniens zu erwerben war. Man holte sich die Schmucksachen, die
2243 Henriksson, Nilsson, Watt 2016.
11.3 Handel im Inneren Germaniens
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später als Beigaben mit ins Grab kamen, und brachte u. U. eigene Überschussprodukte, beispielsweise Eisen, zum Tausch an „Marktplätze“. Auf diese Weise entstanden die Verbreitungsbilder der archäologischen Forschung, in dem Sachgüter weitergegeben wurden. Sich ausweitende oder sich verschiebende Kulturkreise sind somit nicht in erster Linie als das Ergebnis der Wanderung von Menschen zu bewerten, sind zwar unmittelbar Spiegel von Mobilität, aber am ehesten Abbild von Kommerz, Handel und Austausch. Auf diese Weise breiteten sich Aspekte des alltäglichen Lebens aus, Sachgüter und Sitten, und führten zur Ausweitung des Vorkommens dieser Elemente, um es abstrakt auszudrücken, und das führt die archäologische Forschung hin zu den vielen Kartenbildern, die anscheinend Ausbreitungen zeigen. Das Netz dieser Kommunikation, abzulesen an den Kartenbildern zur Verbreitung von Sachen und Gebräuchen dieses innergermanischen Austauschs, ist unterschiedlich weit ausgespannt. Einerseits werden die Dörfer einer Landschaft auf diese Weise als miteinander „bekannt“ archäologisch bestätigt, andererseits werden über Handel und Tausch große Entfernungen überbrückt und im Kartenbild dann zusammengeschlossen. Von der Weichselmündung bis zur Donau wird die Distanz überbrückt, ebenso von der Weichsel bis zum Rhein oder von Mitteleuropa über die Ostsee zu den Inseln und über die Nordsee nach Norwegen. Wenn ohne weitere Überlegung von Kaufleuten gesprochen wird, dass diese alle Gegenden erreicht haben, und von Söldnern, die losgezogen waren von den Ostseeinseln und aus ganz Mittel- und Osteuropa, um in der römischen Armee Kriegsdienst zu leisten, dann sagt man indirekt – ohne dass besonders zu betonen –, Entfernungen spielten sogar damals keine Rolle. Germanien war insgesamt, auch mit Einschluss Skandinaviens, im Vergleich zur Erstreckung des Römischen Reichs geographisch überschaubar. Im Abschnitt über das Heerwesen komme ich darauf zurück (vgl. S. 673). Krieger waren häufig und weit unterwegs, und zwar in größeren Zahlen als Kaufleute, die vergleichsweise dieselben Distanzen überwunden haben. Krieger und Söldner kamen, wenn sie überlebten, wieder zurück und sorgten ebenfalls für die Verbreitung von Sachen und Sitten, während Händler Sachen brachten und mitnahmen. Auf das externe Heiraten, wodurch einzelne Menschen ebenfalls größere Entfernungen überbrückten, wie zu jeder Zeit, ist mehrfach eingegangen worden. Aber hier wird der Radius geringer gewesen sein und eher in die benachbarten Dörfer geführt haben und Fernheiraten werden die Ausnahme gewesen sein und mehrheitlich dann die Eliten miteinander verbunden haben (vgl. S. 906). Als Abschluss halte ich fest, dass der interne Handel und der Austausch von Sachen und Ideen in Germanien höchst intensiv gewesen sind, ebenso wie die innergermanischen Kriege. Das zeigen nachdrücklich Hunderte von archäologisch erarbeiteten Verbreitungskarten zu den verschiedensten Gütern und Bräuchen in erster Linie.2244 Nicht archäologisch zu erschließen ist, ob die Kaufleute nun Germanen oder Römer waren, sicherlich sowohl als auch.
2244 Cieśliński, Kontny (Eds.) 2014.
12 Religion: Bestattungsbräuche, Heilige Haine und Opferplätze, Götterbilder und Kultbauten 12.1 Religion Um klar zu sagen, anhand der archäologischen Quellen sind keine speziellen Gottheiten mit ihren Namen in Germanien der ersten Jahrhunderte n. Chr. erkennbar, nur über die Runeninschriften und Brakteaten gibt es einige Hinweise (vgl. unten S. 1206) und über die – aber zumeist deutlich jüngeren – Orts- und Flurnamen. Doch gibt es Bildwerke, die als Darstellungen von Gottheiten gesehen werden. Andererseits besteht ein sehr großer Teil aller archäologischen Quellen in den Ergebnissen von kultischen Handlungen und Bräuchen, die durch Ausgrabungen erschlossen und beschrieben und in manchen Aspekten auch gedeutet werden können. Alles, was mit dem Totenkult und den Bestattungsbräuchen zusammenhängt, gehört in den Bereich des Religiösen. Ein breites Spektrum von Möglichkeiten, wie und warum Sachgüter in der Erde vergraben oder in Seen versenkt wurden, ist zu beschreiben, von einfachen Tongefäßen mit Inhalt an Lebensmitteln wie Butter bis hin zu Kilogramm schweren Goldhalsringen sowie Beutel mit hunderten von Silber- und Goldmünzen. Religion, religio, meint in erster Linie den Vollzug kultischer Handlungen: Was Menschenopfer und Waffenniederlegungen in Mooren oder Kultfeste in heiligen Hainen für die Beteiligten wirklich bedeutet haben mögen, ist aufgrund der augenfälligen Andersartigkeit dieser religiösen Praktiken für uns heutige überaus schwer nachzuvollziehen.2245
Andere Formen der kultischen Verehrung, wie etwa Prozessionen, Tanz, Gesang und Gebet sind archäologisch in der Regel nicht zugänglich. Nur manchmal zeigen Sachgüter über darauf eingeprägten Bilddarstellungen einige Details von Kultzeremonien. Im Vergleich zu den komplexen Darstellungen auf den Situlen der Hallstattzeit bringen Objekte aus den ersten Jahrhunderten n. Chr. aber keine so ausführliche Schilderungen. Der Hinweis auf die Goldbrakteaten, bei denen aber die runde Fläche jeweils zu einer Begrenzung der szenischen Darstellungen geführt hat, oder auf die Leier von Trossingen aus der Merowingerzeit mit der doppelten Kriegerprozession mag hier vorerst genügen (zu Aspekten der Kunst vgl. unten S. 1241 ff.). Strukturen der und Gründe für Religion in Germanien der ersten Jahrhunderte um und nach Chr. Geb. sind unter verschiedenen Aspekten ganz allgemein zu betrachten:2246 Es gibt die dogmatische und philosophische Dimension (umfasst die Lehre), die mythische und erzählende Dimension (umfasst die Göttervorstellungen), die ethische und rechtliche Dimension (umfasst die Konsequenzen für das individuelle
2245 Rubel 2016, 11 ff.; zur Religion und Götterwelt auch Simek 2006; Krause 2006; Hasenfratz 1992. 2246 J. Hansen 2006, 123. https://doi.org/10.1515/9783110702675-020
12.1 Religion
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Leben), die soziale und institutionelle Dimension (umfasst die Organisation der gesellschaftlichen Einrichtungen), die erfahrungsmäßige und gefühlsmäßige Dimension (umfasst die persönlichen Vorstellungen von Gottheiten und dem Göttlichen), die rituelle und praktische Dimension (umfasst die Gebete, Opfer und Andachten) und allgemein die materielle Dimension (umfasst die Architektur, die Kultbauten, die Kunsterzeugnisse und die Bildnisse). Im Folgenden gehe ich darauf nur stichwortartig ein und bleibe im Allgemeinen, betone nur dann einen der Aspekte, wenn er direkt archäologisch zu belegen ist. Eine Archäologie der Religionsgeschichte in Germanien hat die Einflüsse von älteren Epochen und aus der Nachbarschaft zu berücksichtigen. Aus dem Keltischen sind Objekte wie die in Dänemark gefundenen Kessel von Gundestrup und Brarup oder die beiden im Wasser versenkten Wagen von Dejbjerg Träger anderer Darstellungselemente, deren „fremde“ Herkunft offensichtlich ist. Die Forschung hat zudem zeitweilig von der keltischen Eisenzeit in Dänemark gesprochen, womit sowohl ein chronologischer Abschnitt als auch der äußere Einfluss gemeint sind, nicht etwa neue ethnische Gruppen im Norden. Ob und in welcher Art eine religiöse Information damit nach Jütland gekommen ist, ist uns kaum oder nicht zugänglich.2247 Man kann über „Iron Age Myths and Materiality“ handeln.2248 Religiöse Traditionen werden von einem Teil der Forschung in Skandinavien bis in die Bronzezeit zurückverfolgt, und zwar vor allem über die Felszeichnungen, die auch in den Jahrhunderten um und nach Chr. Geb. zumindest teilweise sichtbar gewesen sein werden. Andererseits werden religiöse Vorstellungen aus der hochmittelalterlichen Literatur in Island und Norwegen oftmals zurückprojiziert in die ersten Jahrhunderte nach Chr. Geb. Das erfordert kritische methodische Überlegungen, was davon möglicherweise berücksichtigt werden kann. Ähnliches gilt natürlich auch für die antike Überlieferung, zuförderst von Tacitus, der aus der römischen in eine fremde Welt geblickt hat bzw. sich über diese hat informieren lassen. Spuren altnordischer Kosmologie, wie sie Anders Andrén sucht und interpretiert, weiter nachzugehen, würde hier jedoch zu weit führen.2249 Germanische Religionsgeschichte wird in einem Tagungsband von 1992, parallel zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde erschienen, ausführlich und interdisziplinär behandelt.2250 Die Archäologie hat zu Kult und Religion in Germanien wie bei den Siedlungen inzwischen doch eine Fülle von Befunden erschlossen, die es erlauben, ein facettenreiches Bild zu entwerfen. Germanische Kultorte2251 und
2247 Birkhan 1970. 2248 Hedeager 2011. 2249 Schier 1992; Andrén 2014. 2250 Beck, Ellmers, Schier (Hrsg.) 1992; Ellmers 1992. 2251 Egeler (Hrsg.) 2016.
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12 Religion: Bestattungsbräuche, Heilige Haine und Opferplätze
Opferkulte der Germanen haben breite Darstellungen gefunden, auf die im Folgenden zurückgegriffen wird.2252 Bemerkt wurde, dass bei der Darstellung dieser Götterwelt der Germanen, wie räumlich und zeitlich unterschiedlich sie in den Weiten Germaniens mit Südskandinavien auch gewesen sein wird, zwischen der Zeit des Tacitus und den nordischen Quellen im Mittelalter, vor allem aus Island, recht unbekannt ist, ob und in welcher Weise es vielleicht eine teilweise Kontinuität zwischen Antike und Mittelalter gegeben haben könnte. Auf methodisch sicherem Boden befinde ich mich, wenn ich meine Betrachtung auf die Jahrhunderte um und nach Chr. Geb. begrenze und zeitlich nicht weiter ausgreife. Zwar möchte man das gern, weil es unbefriedigend bleibt, die so umfassend überlieferte, jüngere Götterwelt der „Germanen“ unberücksichtigt zu lassen. Klaus Böldl meint in seinem Handbuch: Von einer homogenen, die gesamte Germania umfassenden Religion kann also wohl zu keinem Zeitpunkt die Rede sein, vielmehr haben wir es mit einem zeitlich und geographisch höchst variablen Ensemble von Ritualen, Sitten, Vorstellungen und Mythen zu tun, bei denen bestimmte Gottheiten und kosmologische Konzepte eine verbindende Grundstruktur gebildet haben mögen.2253
Der Ausstellungskatalog „Odin, Thor und Freyja“ aus dem Jahr 2017 bündelt das Wissen von skandinavischen Kultplätzen über das ganze erste Jahrtausend. Doch ist unklar, ab wann diese im Titel genannten drei Gottheiten und wo sie verehrt wurden. Ein Zugang öffnet sich über die Namen der Wochentage – und damit wird auf schriftliche und nur randlich auf archäologische Überlieferungen zurückgegriffen. In den germanischen Sprachen wurden die römischen Namen der Antike übernommen, so die meisten Monatsnamen; aber einige Wochentagsnamen enthalten germanische Wurzeln, darunter Dienstag (von Gott Thiu), im Englischen Wednesday (Wodanstag für Odin), Donnerstag (vom Gott Thor) und Freitag (von der Göttin Freyja). Aber wann ist das geschehen? A. Rubel meint 2016, dass diese Übernahme im 3./4. Jahrhundert erfolgt sei.2254 Aber es fehlen die Belege. Andere meinen (nach Rückfrage bei Klaus Düwel, Robert Nedoma und Rudolf Simek), ebenfalls ohne überzeugende Belege, allgemein im 4. Jahrhundert.2255 Es scheint doch mehr Kontinuität gegeben zu haben, als bisher zu begründen war. Denn bei den Runeninschriften aus den dänischen Mooropferfunden gibt es Namen, die schon früh während der ersten Jahrhunderte n. Chr. genannt sind und viel später zu den überlieferten nicht weniger bis 200 Beinamen des Gottes Wodan/Odin gehören. Damit ist man im 4./5. Jahrhundert oder gar schon im 3. Jahrhundert, wenn der Name auf einem Schildbuckel aus dem 2252 Müller-Wille 1999. 2253 Böldl 2013, 13. 2254 Rubel 2016, 46, 135. 2255 Email-Briefwechsel 8./9./10. Mai 2017, vgl. Ernst 2007; Hermodsson 1969/70; Strutynski 1975.
12.1 Religion
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Thorsberger Moor aisgz/Rh bzw. ais(i)g(a)Rh, der „Wütende, Rasende“ meint, einer der Beinamen Odins.2256 Noch weitere Runeninschriften können Odin bzw. Wodan gemeint haben, so auf einer Schnalle des 3. Jahrhunderts aus dem Moor von Vimose, auf der eine Weihung der Asen geschrieben steht, und Odin ist der oberste der Asengötter. Aus dem späten 6. Jahrhundert sind durch die Runeninschrift auf der Fibel von Nordendorf bei Augsburg (um 550 n. Chr.), also in Süddeutschland, Wodan, und auch Donar überliefert. Über die Runen wird in einem späteren Kapitel berichtet werden (vgl. S. 1249 ff.). Die Namen der Götter in Germanien sind zumeist auch nur über den Blickwinkel der römischen Welt zu erschließen. Es gibt die interpretatio Germanica oder umgekehrt die interpretatio Romanica.2257 Es war eben üblich, so wie das schon die Römer mit ihren und den griechischen Göttern taten, zu versuchen, die eigenen Götter über ihre Zuständigkeiten und Eigenschaften mit den Göttern der anderen Kulturwelt zu parallelisieren. Klaus Böldl hat in seinem Buch über „Götter und Mythen des Nordens“ diese Wurzeln ebenfalls angesprochen.2258 Odin als Pendant zum römischen Merkur, die Gleichsetzung von Thor mit Jupiter und Freyja mit Venus. Die Abbildung des Kaiser Konstantin, mit vergrößertem Kopf über einem Pferd auf Münzen des 4. Jahrhunderts, wird auf den Goldbrakteaten des 6. Jahrhunderts wiederholt. Karl Hauck fand in den Bildchiffren der Goldbrakteaten darin Odin,2259 dem sich Alexandra Pesch wenigstens teilweise angeschlossen hat.2260 Es ist daher auch zu überlegen, was mit den zahlreichen römischen Götterstatuetten aus Bronze und Silber, die in Germanien gefunden worden sind, damals geschehen sollte. War das gute Metall nur Rohstoff zum Einschmelzen oder kannte man die Figuren als Darstellungen von Gottheiten, die dann auch mit den eigenen gleichgesetzt und weiter verehrt werden konnten. Die mehr als 1000 Goldbrakteaten des 5./6. Jahrhunderts bilden über ihre Verteilung ein eng gespanntes Kommunikationsnetz im südlichen Skandinavien und Norddeutschland ab (dazu später mehr S. 1211). Damit greife ich chronologisch zwar über die Zeitspanne bis zum 5. Jahrhundert schon hinaus, fasse aber erste Belege für die Kontinuität von älteren germanischen Gottheiten zu den späteren Jahrhunderten. Einen neuen diachronen Ansatz über die Zeiten hinweg hat A. Andrén2261 beschrieben, ähnlich wie zuvor L. Hedeager.2262 Es geht um eine Langzeitperspektive und den ständigen Wandel kosmologischer Vorstellungen, eines Weltbildes. Andrén sieht den verehrten Weltenbaum in den Jahrhunderten von 200 bis 550 n. Chr. auch
2256 Düwel 1992, 346 ff. 2257 Vierck 1981, der zumeist jüngere Beispiele diskutiert, aus der Merowingerzeit, doch auch die römischen Goldmedaillons berücksichtigt. 2258 Böldl 2013. 2259 Hauck 2011. 2260 Neben anderen Beiträgen Pesch 2017b; 2018. 2261 Andrén 2014, 311; dazu Böldl 2017 (2018). 2262 Hedeager 2001; 2011.
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12 Religion: Bestattungsbräuche, Heilige Haine und Opferplätze
in den dreieckigen Steinsetzungen auf Gräberfeldern von 500 v. bis 500 n. Chr. Sogar Ismanstorp, den mächtigsten Ringwall auf Gotland von 410 m Länge und mit 95 Gebäuden, wird zur Ringburg mit neun Eingängen, gleich den neun Welten im Blick auf die Edda. Frühe gotländische Bildsteine des 5. und der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts, nach S. Oehrl spätestens seit 400 n. Chr.,2263 sind mit den Sonnenrädern der Bronzezeit und beispielsweise dem Wagen von Trundholm, ebenfalls Bronzezeit, zu vergleichen und mit mancher Ikonographie der gleichzeitigen Goldbrakteaten. Zahlensymbolik kann kultisch-religiös zu deuten sein: Ich erinnere an das zwölftorige Jerusalem, das in den verschiedenen großen Radleuchtern wie in Hildesheim oder gar in den zwölf Toren der Befestigung der Stadt Köln aus der Zeit um 1200 gesehen wird und bewusst dargestellt worden ist. In wieweit Tiere als heilig angesehen und in den religiösen Vorstellungen eine Rolle gespielt haben, wäre ein weiteres Thema, das ich jedoch nur mit diesen Notizen anspreche: Es wird „heilige Tiere“ gegeben haben,2264 und manche Tiere wurden auch vielfach dargestellt und abgebildet. Das Ebersignum im Germanischen hat H. Beck beschrieben; unter den archäologischen Sachgütern gibt es Ebergefäße, beispielsweise von Greußen aus der Zeit um 200 n. Chr. oder von Liebenau. Somit weise ich auf die unterschiedlichen, sich ablösenden Kultbräuche hin, die von äußeren Erscheinungen religiöser Verhaltensweise „berichten“, auch wenn der Hintergrund und eine Götterwelt nur fragmentarisch zu erahnen sind. Auszugehen ist also davon, dass sich die religiösen Vorstellungen geändert haben und nicht etwa einheitlich waren, bis christlicher Einfluss bemerkbar wurde. Da sind die Massenopfer an Heeresausrüstungen in Seen und Mooren, die Runeninschriften mit Namen, die auf Götter hinweisen, die Goldbrakteaten und die Goldblechfigürchen, neben denen auch kleinere Statuetten in Nachahmung römischer Bildnisse erscheinen. Auf den gemeingermanischen Hintergrund der Tierstile, vom Nydam-Stil bis zum Tierstil I, gehe ich später noch ein (vgl. S. 1229 ff.).
12.2 Bestattungsbräuche Schon aus forschungsgeschichtlichen Gründen besteht die Literatur der Archäologie aus einer kaum noch zu übersehenden Zahl von Darstellungen zu den unterschiedlichsten Bestattungsbräuchen in Germanien in den Jahrhunderten um Chr. Geb. Ging es zeitweilig auch mehr um die Einordnung, chronologisch und ethnisch, der Beigaben aus den Brand- und nachfolgend den Körpergräbern, so wurde und wird bei der Veröffentlichung der Gräberfelder auch die Bestattungsform selbst in ihrer ganzen
2263 Oehrl 2017; 2018 (2019) 369 in der Rez. zu A. Rubel. 2264 Reichert 1999, 179, Taf. 11 Ebergefäß von Greußen, 179 Taf. 12 Ebergefäß von Liebenau; allgemein Beck 1965.; R. Müller 1999a zum Fundkomplex von Greußen.
12.2 Bestattungsbräuche
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Variationsbreite dokumentiert, modern auch anthropologisch untersucht, sowohl die Skelette, als auch – was komplizierter ist – die Leichenbrände, ehe dann die Sachgüter eingeordnet und mit ihrem Verbreitungsbild geschildert werden. Ausführlich wird in einem nachfolgenden Abschnitt darauf eingegangen (vgl. S. 832 ff.). Ich weise darauf hin, dass mit dem Blick auf den Totenkult und die Bestattungsbräuche nicht nur das Endresultat, nämlich das von der Archäologie freizulegende Grab berücksichtigt werden sollte. Vielmehr gilt es, sich eine Vorstellung von dem gesamten Vorgang vom Tod und der Aufbahrung bis zum Schließen des Grabes und den später nachfolgenden Besuchen der Hinterbliebenen am Grab zu machen. Es sind ebenso die Formationsprozesse archäologischer Befunde mit menschlichen Überresten vom Tod eines Individuums bis zur Auffindung durch Archäologen.2265 Für alle Epochen der Ur- und Frühgeschichte und der zugehörigen Archäologie gilt, Bestattungen sind ein wesentlicher Teil einer Erzählung über die Vergangenheit. S. Brather hat die Aspekte Memoria und Repräsentation, Erinnerung, Erwartung und Tradition sowie das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit Blick auf das Bestattungswesen der Merowingerzeit erörtert, die ebenso für die ersten Jahrhunderte n. Chr. zu bedenken und zu berücksichtigen sind.2266 Zu allen Zeiten waren Grabsitten, Totenbrauchtum und Bestattungsbräuche die Auseinandersetzung des Menschen mit dem Tod, und es waren Versuche und Realisierungen dieser Überlegungen, wie man damit fertig werden konnte. Bestattungsbräuche als ein Teil der religiösen Vorstellungen spiegeln Vorstellungen vom Übergang aus dem Diesseits ins Jenseits. Dabei sind für die hier zu behandelnden Jahrhunderte in Germanien das Neben- und meist zeitliche Nacheinander von Brand- und Körperbestattungen beherrschend, und darauf wird ausführlich eingegangen. Welche Rolle spielten all die verschiedenen Ausstattungen der gestorbenen Person auf dem Scheiterhaufen oder im Sarg bzw. der Grabkammer, die Kleidung samt Schmuck des Toten selbst und die zusätzlichen Beigaben? Sie zeigen Rang und Reichtum und Aspekte des alltäglichen Lebens, in den Gräbern der Elite vor allem die Versorgung mit Lebensmitteln, Speise und Trank, und die dazu benötigten Ess- und Trinkgeschirre, oft nicht nur für den Toten, sondern für eine kleine Gemeinschaft. Wenn auch nicht weiter darüber spekuliert werden soll, was sich die damalige Gesellschaft eigentlich vorgestellt hat, mit dem Blick auf ein Jenseits, beschreiben die Ausstattungen mit Tafelgeschirr sowie mit den Getränken und Speisen (die inzwischen auch in Spuren archäologisch nachzuweisen sind), wie damals gelebt wurde, zumindest bei besonderen Anlässen. Dabei fallen die zahlreichen römischen Importgefäße aus Bronze und Silber sowie die Gläser auf, die damit zeigen, dass Aspekte des römischen Lebensstils übernommen worden sind, durchaus auch mit Anpassung und Kombination mit den eigenen Tischsitten.
2265 Weiss-Krejci 2018, 20. Abb. 2.; Šeiner 2018, auch zur Römischen Kaiserzeit; auch Brather 2008b; 2015. 2266 Pabst 2018; Brather 2009, 281 Abb. 10 zum kulturellen Gedächtnis.
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12 Religion: Bestattungsbräuche, Heilige Haine und Opferplätze
Ob auch Lebensmittel importiert worden sind, ist nicht so leicht feststellbar, auf jeden Fall Getränke wie Weine. Auf diese Facetten ehemaligen Lebens in Germanien gehe ich später noch mehrfach ein. Offen soll die angedeutete Frage bleiben, was sich die Gesellschaft vorgestellt hat; denn die Sinnlosigkeit materieller Dinge im Grab muss ihr bewusst gewesen sein, nämlich das eigentlich alles verwitterte und verging und nur Reste längere Zeit im Boden verblieben. Die spätere Graböffnung und die Wiederaufnahme von Beigaben ist für die ersten Jahrhunderte n. Chr. kaum belegt, spielt nachfolgend während der Völkerwanderungs- und Merowingerzeit dann eine auffällige Rolle. Auf einige Besonderheiten will ich hier aber schon hinweisen. Noch ist in manchen Ausgrabungsberichten zu lesen, dass es Gräberfelder getrennt für Männer und Frauen gegeben haben soll. Dabei ging es um Urnengräberfelder im weiteren Bereich der Niederelbe, wo man Gräberfelder vom Typ Darzau und vom Typ Rieste unterschieden hat, wobei auf der einen Art Frauen und auf der anderen Männer bestattet sein sollten.2267 Erkennbar war das an den Beigaben, beispielsweise Spinnwirtel bei den Frauen und Rasiermesser sowie Waffen bei den Männern. Es war anscheinend auch gut begründet, aber die Forschung ist aufgrund eingeschränkter Ausgrabungstätigkeit auf vielen dieser Gräberfelder, die nicht komplett erforscht werden konnten, zumindest einer Täuschung zum Opfer gefallen. Denn inzwischen hat sich gezeigt, dass es tatsächlich daran gelegen hat, dass Gräberfelder nur teilweise ausgegraben und dokumentiert worden waren. Aber immerhin folgt aus diesen Befunden, dass viele Urnengräberfelder in der Regel nicht nach Familienzusammenhängen belegt wurden, sondern dass für Männer und Frauen jeweils eigene Areale auf einem Friedhof ausgewählt worden sind. Es ging also tatsächlich in manchen Landschaften um eine Unterscheidung nach Geschlecht, aber nicht in der rigorosen Weise, dass überhaupt getrennte Gräberfelder angelegt wurden.2268 Und doch wird gegenwärtig noch von nach Geschlechtern getrennten Gräberfeldern der vorrömischen Eisenzeit, der Jastorf-Kultur, geschrieben. Im Bereich der Stadt Geesthacht im Kreis HerzogtumLauenburg wurde auf 1 ha Fläche ein Gräberfeld mit 487 Bestattungen ausgegraben. Im Bericht heißt es: „In dieser Kultur war es üblich, getrennt nach Geschlechtern zu bestatten. Sehr wahrscheinlich handelt es sich hier um ein reines Frauengräberfeld“, obwohl Familienbeziehungen angenommen werden. Neben einfachen Urnenbestattungen ohne Steinschutz waren andere Urnen mit einem Steinschutz umgeben.2269 Auch wurden nicht nur Menschen bestattet, sondern auch Tiere, vor allem Hunde, in manchen Gegenden auch Pferde, und zwar auf dem gemeinsamen Gräberfeld bei den Menschen.2270 2267 Schön, Tempel 1995, 191 Abb. 22 Karte mit Unterscheidung der Gräberfelder des Typs Rieste oder Darzau für das Gebiet an der Unterelbe. 2268 v. Carnap-Bornheim 2015a. 2269 M. Kühlborn 2018, 56 Zitat. 2270 Makiewicz 2000; Steuer 2003c.
12.2 Bestattungsbräuche
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Hundebestattungen in Siedlungen während der vorrömischen Eisenzeit und der Römischen Kaiserzeit waren nicht selten, wie eine Karte für ganz Germanien zeigt.2271 Hundegräber unter der Türschwelle sollten das Haus dauerhaft schützen. Doch auch Rinder- und noch häufiger Pferdebestattungen in den Siedlungen selbst kommen vor, wie beispielsweise ein Pferd auf der Feddersen Wierde in einem eigenen Totenhaus und auf der Wurt Barward,2272 ebenfalls in einem Totenhaus, außerdem in BremenRekum am Nordrand der Siedlung mehrere Pferdebestattungen.2273 Knochendeponierungen der unterschiedlichen Tierarten waren eine weitere sorgsame Entsorgung von gestorbenen oder getöteten Tieren, und die Deponierungen zeigen, dass es nicht um einfache Entsorgung ging, sondern um ein kultisch begründetes Verhalten.2274 Die Siedlungen der vorrömischen Eisenzeit und der Römischen Kaiserzeit mit Hundeskelettniederlegungen gibt es von Jütland bis zum Schwarzen Meer.2275 In den Bereich des Bestattungswesens gehören außerdem noch die sogenannten Totenhäuser auf Gräberfeldern. Erhalten sind quadratische Pfostensetzungen (meist drei auf drei Pfosten), in deren Mitte einst die Urne gestanden hat. Sie gibt es während der ersten vier Jahrhunderte n. Chr., doch auch schon in vorgeschichtlichen Epochen wie dem Neolithikum und der Bronzezeit und auch später wieder während der Merowingerzeit. Hier geht es nur um die Totenhäuser der „germanischen“ Epoche, und zwar in Skandinavien wie auch auf dem Kontinent. Als Wohnungen eines Toten und auch als Kulthäuser kommen sie vor.2276 Totenhäuser gibt es während der Spätlatène- und frühen Römischen Kaiserzeit in der Przeworsk-Kultur als Sanktuarien von 13 bis 60 m2 Grundfläche, teils mit aus Steinen gepflasterten Böden. Weiterhin kommen sie in Jütland und auf den dänischen Inseln, so auf Fünen, als Acht-Pfosten-Bauten vor. Genannt werden die Gräberfelder (vgl. unten S. 870) von Østergârd, Møllegårdsmarken, in Bytoften und Køstrup. Spätkaiserzeitlich sind die Totenhäuser in Polen auf Gräberfeldern wie dem von Masłomęcz, Woj. Zamość.2277 Mit Blick auf die Ereignisgeschichte wird ein Zusammenhang mit den Gotenwanderungen aus Skandinavien über das Weichselgebiet nach Süden als These genannt, dem aber ich nicht zustimmen kann, weil wieder Teilaspekte des Bestattungsbrauchtums mit Fernwanderungen als völlig anderer Sachverhalt der damaligen Wirklichkeit verbunden werden. Die Verwandtschaft mit kultisch genutzten Häusern ist jedoch gegeben (vgl. unten S. 869 ff.).
2271 Müller-Wille 2010a, 98 Abb. 1. 2272 Siegmüller 2017a, 175. 2273 Müller-Wille 2010a, 100 Abb. 3. 2274 Deschler-Erb 2015. 2275 Makiewicz 2000, 223 Abb. 35; Müller-Wille 2010a, 98 Abb. 1 Karte. 2276 R. Müller 2006b, 87 ff. mit Abb. 27. 2277 Mączyńska 1998, 88 Abb. 27 Totenhäuser im Norden, Abb. 28 Totenhaus von Masłomęcz.
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12 Religion: Bestattungsbräuche, Heilige Haine und Opferplätze
12.3 Heilige Haine und Opferplätze Pragmatisch ist zu unterscheiden zwischen Plätzen, wo tatsächlich etwas geopfert wurde, also zwischen Opferplätzen in engerem Sinne, und versteckten Schätzen irgendwo in der Landschaft sowie regulären Kultbauten. Weiterhin ist nach Götterbildnissen zu fragen, die es in unterschiedlicher Ausgestaltung aus Holz oder Metall (Bronze) und sogar Lehm gegeben hat. Es wurde schon erwähnt, dass in Germanien recht zahlreich römische Götterfiguren gefunden worden sind, aus Bronze und auch aus Silber bzw. mit Attributen aus Silber, die sogar nachgeahmt wurden. Derartige Umwidmungen fremder Gottheiten setzten sich in den späteren Jahrhunderten fort, denn die Goldbrakteaten hatten als Vorbilder, die umgeformt wurden, Goldmedaillons und Goldmünzen mit dem Abbild römischer Kaiser (dazu S. 1209).2278 Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass die Bevölkerung überall in Germanien für sie jeweils heilige Plätze kannte, an denen auch vielfältige kultische Handlungen vollzogen wurden. Davon hat die Archäologie aber kaum solche Vorgänge selbst erschlossen, als vielmehr nur das Endergebnis. Aus religiösen Gründen vergrabene Schätze liegen eben nur als Schatzfunde vor, deren Deutung anhand der beobachteten Spuren der Vergrabung einerseits und andererseits anhand des Inhalts der Schätze erfolgen muss. Dabei ist die Bezeichnung „Schatz“ nur ein Hilfswort, neben den Ausdrücken Hort und Depot; denn wir wissen nicht, in welchem Sinne die einstigen Besitzer die meist wertvollen Objekte geschätzt und bewertet haben, so wie man heute aufgrund des Materials und der künstlerischen Arbeit von einem Schatz spricht. Helmut Geisslinger hat vor Jahren (1967) eine gründliche Studie zu Horten als Geschichtsquelle erarbeitet, die bahnbrechend war und noch heute nützlich zu lesen ist; und er hat 1984 eine neue Fassung geboten,2279 auf die ich mich auch noch stütze. Für kultische Handlungen hergerichtete Opferplätze – der Name Opfer ist schon eine Interpretation – sind sehr unterschiedlich gewählt worden: Es gibt Seen und Moore (heute meist verlandete Seen), feuchte Niederungen oder einfach nur eingehegte Areale. Kurz erwähnt seien hier als Beispiele nur die großen Heeresausrüstungsopfer in jütländischen Seen und die Ansammlung von Goldblechfigürchen (Goldgubber) in der schwarzen Erde von Sorte Muld auf Bornholm oder die Ansammlung von hölzernen Kultbildern bei Oberdorla in Thüringen. Diese Plätze werden jeweils einzeln beschrieben (vgl. S. 638). Auf die frühen Versuche aus dem Jahr 1970, Heiligtümer und Opferplätze über den archäologischen Quellenbestand zu erkennen und zu beschrieben, sei nur hingewiesen;2280 denn inzwischen ist deutlich mehr über diese kultische Vergangenheit zu sagen.
2278 Methodisch interessant: Bradley 2017. 2279 Geisslinger 1967; 1984. 2280 Jankuhn (Hrsg.) 1970.
12.3 Heilige Haine und Opferplätze
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Ausgeschlossen werden sollte nicht, dass Opfergaben innerhalb einer Siedlung, innerhalb eines Hauses vergraben wurden. Nur ist das nicht leicht zu erkennen und nachzuweisen. Man sprach von Bauopfern, als ein Kinderskelett unter der Hausschwelle auf der Feddersen Wierde gefunden wurde oder bei den erwähnten Hundeskeletten. In Südskandinavien sind mehrfach Opfer in Siedlungen belegt,2281 unabhängig von möglichen Kultbauten (vgl. S. 635). Es scheint ein weiteres Klischee in der antiken Literatur zu sein, dass Germanen entweder – wie Caesar meinte – keine Götterwelt gehabt oder dass sie ihre Götter nur in heiligen Hainen verehrt hätten. Dem entsprechen zwar die Funde grober, primitiv wirkender Götterbilder aus Holz, überliefert und entdeckt in Mooren, deren religiöser oder gesellschaftlicher Rang aber unbekannt ist und den ich deutlich niedriger als die meisten Forscher ansetzen möchte. Über ihre Schlichtheit und „Primitivität“ führt das in ein anderes gesellschaftliches Milieu, als wir aus der gleichzeitigen Kleinkunst mit ihrer hohen Qualität erkennen können. Die Quellen behaupten, die Germanen hätten keine gebauten Heiligtümer, nur Naturheiligtümer, Brandopferplätze oder Kultschächte in der Natur. Damit korrespondieren ebenfalls die großen Heeresausrüstungsopfer in den jütländischen und südskandinavischen Mooren, jeweils am Rande einer Siedlungskammer gelegen, wo Waffenausrüstungen mehrerer hundert Krieger versenkt worden sind (vgl. S. 706). Sie wurden schon im 19. Jahrhundert entdeckt, sind aber erst umfassend in diesen letzten beiden Jahrzehnten weiter ausgegraben und neu erforscht worden. Warum sie vor allem aus Jütland bekannt sind, kann hier nicht diskutiert werden; es liegt am vorgegebenen Naturraum. Nach dem Sieg des Arminius über die drei römischen Legionen werden derartige Waffenweihungen und Opferungen von getöteten Römern auf trockenem Boden im Wald in den antiken Berichten aus römischer Sicht auch für die Germanen beschrieben. Die antike Welt Griechenlands und Roms kannte selbst Waffenweihungen in Tempeln oder Siegesdenkmälern, den Tropaea.2282 Die Germanen verehrten ihre Gottheiten in heiligen Hainen, so Tacitus und andere römische Schriftsteller, und sie würden keine Tempel kennen. Auch diese These entspricht also nur teilweise der archäologisch erschlossenen ehemaligen Realität. Es gilt zu unterscheiden: Sicherlich wurden Naturerscheinungen wie Haine, Bäume, Seen und Moore sowie andere auffällige Geländeformationen als Kommunikationswege zu den Göttern gesehen, weshalb an solchen Plätzen häufig verborgene Goldschätze entdeckt worden sind. Schlichte Götterfiguren aus Holz wie im Moor von Brake oder die als Mann und Frau schematisierten Stelen beiderseits des Bohlenwegs im Wittemoor in der Wesermarsch kennzeichnen derartige Plätze als heilig und dienten wohl der Verehrung von Gottheiten (vgl. unten S. 1241). Anscheinend wurden auch auffällige Mahnmale in
2281 J. Hansen 2006. 2282 Steuer 2006 f.
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12 Religion: Bestattungsbräuche, Heilige Haine und Opferplätze
der Landschaft, die seinerzeit auch nicht zu übersehen waren, beispielsweise neolithische Großsteingräber oder bronzezeitliche Grabhügel als heilige Plätze betrachtet, an die nicht nur eigene Gräberfelder angelehnt, sondern bei denen wohl auch kultische Handlungen vollzogen wurden. Die zahlreichen versteckten Horte oder Schätze, die Edelmetallschmuck oder Gold- und Silbermünzen enthalten, sind also sicherlich nicht willkürlich irgendwo in der Landschaft vergraben worden, sondern man hatte sich damals auch an markanten Geländemerkmalen orientiert, und zwar auch dann, wenn nicht die Absicht bestand, die wertvollen Sachgüter wieder an sich zu nehmen. Man hatte sie den Göttern überlassen oder, wie eine spätere Überlieferung sagt, als eine Selbstausstattung fürs Jenseits vorgesehen. In mancher Hinsicht sind diese Hortniederlegungen wohl mit den Beigabenausstattungen in Gräbern zu vergleichen, die ja nicht von einem Verstorbenen selbst, sondern von den Hinterbliebenen ins Grab gelegt worden sind. Es gibt Phasen, in denen die Toten kaum oder keine Beigaben erhalten haben, dafür nimmt zur selben Zeit der Brauch zu, wertvolle Güter, Schmuck und Edelmetall, als einzelne Handlung irgendwo zu vergraben. Dabei sind derartige Opfer nicht nur von einem Menschen niedergelegt worden; manchmal muss eine Gruppe sich zusammengefunden haben, denn die üppigen oben beschriebenen Schätze mit vielen Kilogramm schweren Goldringen werden kaum jeweils nur einer Person gehört haben. In Snettisham, Norfolk, England, hegte ein breiter Graben eine trapezförmige Fläche von rund acht Hektar (also im Mittel 300 auf 400 m Ausdehnung) ein, in die nur ein Eingang führte, datiert ins 1. Jahrhundert v. Chr. (vgl. auch S. 532).2283 Innerhalb dieses Areals wurden zahlreiche (etwa neun) mehrere Kilogramm schwere Schätze mit silbernen und goldenen Hals-. Arm- und auch Fingerringen, Edelmetallbarren und Münzen vergraben, die allgemein ins 1. oder schon ins 2. Jahrhundert v. Chr. datiert werden. Etwa 60 vollständige Torques, 158 Fragmente derartiger Ringe und auch Schrott, insgesamt rund 30 kg Gold, Silber und Bronze wurden vergraben. Dieser Platz könnte somit gewissermaßen als heiliger Hain gedeutet werden, in dem wiederholt Göttern geopfert wurde, oder aber die schon teilweise sehr alten Ringe wurden nun endgültig einer weiteren Zirkulation entzogen, so wie etwa jüdisches Kultgerät nach Aussortierung nicht zerstört werden durfte, sondern vergraben werden muss. Einige der Ringe weisen deutlich Abnutzungsspuren auf, waren also getragen worden. Wegen der Fülle und dem Wert der Schmuckringe wird von Stammesschätzen gesprochen. Erstmals ist an diesem Platz mit der Palisade und ihrem trapezoiden Verlauf die Einhegung eines Kultplatzes erkannt und dokumentiert worden. Ein ähnlicher Schatzfund ist 2016 bei Staffordshire entdeckt worden, ebenfalls mit drei Torques und einem verzierten Armreif aus Gold. Die Objekte sind verbogen und beschädigt und werden in die letzten Jahrhunderte v. Chr. (400–250 v. Chr.)
2283 Stead 2005; Joy 2015.
12.3 Heilige Haine und Opferplätze
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datiert, als ältester eisenzeitlicher Goldschatz in Britannien, dessen Inhalt wohl vom Kontinent stammt.2284 Aufgrund der Einhegung von Snettisham könnte nun daraus geschlossen werden, dass auch einige der geschilderten Wallanlagen in Germanien, in Jütland und Norddeutschland, weniger als Befestigung, sondern eher als Einhegung eines Opferplatzes gedient haben. Darüber hinaus könnten dann ebenfalls die verschiedenartigen Kultplätze in Seen und späteren Mooren (vgl. S. 703) als eingehegt betrachtet werden, denn die Uferverläufe mögen indirekt als Grenze gewirkt haben. Damit waren die Kult- und Opferplätze in Germanien regelhaft aus der Umgebung herausgenommen und als sakrale Orte ausgezeichnet. Ähnlich zu bewerten sind die Befunde auf der Schnippenburg im Landkreis Osnabrück in Niedersachsen (vgl. S. 317).2285 Werkzeuge und Geräte aller Art, Sensen, Sicheln, Bohrer, Zangen und vor allem 40 Tüllenbeile, auch Waffen und Waffenteile, vor allem Lanzenspitzen des 2. und 3. Jahrhunderts, und außerdem Frauenschmuck aus Bronze, sind in unterschiedlich tiefen Gruben bzw. Schächten vergraben worden. Die Objekte zeigen Einflüsse der südlich anschließenden keltischen Latène-Kultur. Während die Eisenobjekte oberflächennah abgelegt worden zu sein scheinen, ist auffällig, dass Schmuck und Keramik in Löchern und Mulden sowie in teils bis 1,80 m tiefen Schächten versenkt worden sind. Das Ganze wirkt auch hier wie ein eingehegter Kult- und Opferplatz. Eine Reihe weiterer Burganlagen im südlichen Niedersachsen (vgl. oben S. 320) hat vergleichbare Befunde erbracht, versteckte Gerätschaften aus Eisen und eingetiefte Gruben mit auffälligem Inhalt wie auf der Schnippenburg, die ebenso als Ergebnis von Opferhandlungen gedeutet werden können und nicht als Reaktionen auf kriegerische Bedrohung.2286 Ein Blick in andere Landschaften Mitteleuropas an der zeitlichen und räumlichen Grenze zu keltischen Welt bestätigt, das damals Eisengerätschaften sowohl nur leicht versteckt, als auch in tiefen Gruben verborgen wurden, was auch als Ergebnis von Opferhandlungen gewertet werden kann. Zur Schnippenburg sind also als Parallelen von Werkzeugdepots einige weitere Fundkomplexe anzureihen.2287 Im Marburger Hinterland gibt es zahlreiche eisenzeitliche Höhenbefestigungen und ebenso eine Reihe von eisenzeitlichen Werkzeugdepots, die aber nicht innerhalb der Befestigungen, aber in der Nähe entdeckt worden sind. In der Gemarkung Hommertshausen wurden 2002 zwei Werkzeugdepots gefunden. Der erste Hort wurde am Hang der Kuppe Eckenloch am Bolzeberg entdeckt; er besteht aus fünf Tüllenbeilen, die nur 10 cm tief unter Humus vergraben waren. Der zweite Komplex wurde in nur 500 m Entfernung auf einer weiteren Kuppe aufgefunden und besteht aus 16 Objekten, drei Sensen, Sichel, Bügelschere, Ledermesser, drei Tüllenmeißeln und Steckamboss. Ein 2284 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2.3.2017; British Archaeology, May June 2017, 4 f. 2285 Möllers 2007; 2009. 2286 Cosack 2008; 2014. 2287 Meiborg 2016 (2017).
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12 Religion: Bestattungsbräuche, Heilige Haine und Opferplätze
weiterer Fund stammt aus dem Burgwall bei Wetter-Oberrosphe am Hang des Malsteins. Die Sachen waren wieder nur 10 cm unter dem Humus vergraben und bestehen aus drei Tüllenbeilen und zwei Sicheln. Hier liegen die Objekte also nicht in tiefen Schächten wie auf der Schnippenburg, bestehen aber aus ähnlichen Geräten, wobei Tüllenbeile die Mehrheit ausmachen, gefolgt von den landwirtschaftlich zu nutzenden Sicheln und Sensen. Die Bearbeiterin Christa Meiborg listet Parallelen auf: Vom Dünsberg bei Gießen als Platz keltischer Kulte,2288 mit Hinweis auf die Schnippenburg, 40 Tüllenbeile,2289 von der Burg bei Diethölztal-Rittershausen mehrere Tüllenbeile und ebenso aus der Befestigung „Oberwald“, beide im Lahn-Dill-Kreis; von der Altenburg bei Neuental-Römersberg ein Tüllenbeil, von der Altenburg bei Niedenstein, beide im Schwalm-Eder-Kreis, zwei Tüllenbeile. Weitere Deponierungen von Tüllenbeilen – um diese Gruppe hervorzuheben – gibt es von der Amelungsburg und der Barenburg. Im Mittelsgebirgsraum „Einenköpfle“ ist – wie überhaupt typisch für jene Zeitphase und Region – eine außerordentliche Dichte von Ringwallanlagen registriert, auch wenn nicht unbedingt alle in die fortgeschrittene vorrömische Eisenzeit, in die mittlere und späte Latènezeit, zu datieren sind. Bei den meisten fehlt die genauere Datierung noch. Der Abstand beträgt nur rund 5 bis 10 km, was natürlich auch der Struktur der Berglandschaften entspricht. Während für die Befunde auf der Schnippenburg die rituelle Deponierung außer Frage steht,2290 ist das sonst bei den anderen Niederlegungsarten noch umstritten. C. von Nicolai sieht darin beabsichtige Niederlegungen von materiellen Überresten nach speziellen Ritualen,2291 ebenso R. Spehr für die Niederlegungen von Waffen und Werkzeuge im Steinsburg-Oppidum bei Römhild, während E. Cosack eher von Notverbergungen in kriegerischen Zeiten ausgeht.2292 Eine eigene Rolle haben offenbar Tüllenbeile gespielt, auch unter Flussfunden.2293 Im Tollensetal zwischen Tückhude und Altentreptow im Bereich der Mecklenburgischen Seenplatte sind eiserne Tüllenbeile von 54 Fundstellen dokumentiert, datiert von der frühen vorrömischen Eisenzeit bis in die Römische Kaiserzeit und Völkerwanderungszeit. Ein Waffenhort nach keltischen Vorbild wurde am Römersberg, Schwalm-EderKreis, in der „Altenburg“, datiert 260–150 v. Chr. geborgen. Rund 12 kg Eisengerätschaften, 77 Objekte, Waffen, Pferdegeschirr und Wagenteile, Lanzenspitzen und Schwerter. Die Ansammlungen dieser Sachen wirken wie die Reste an einem Waffenopferplatz, vergleichbar im Alpengebiet mit dem namengebenden Ort Latène, ist aber
2288 Jacobi 1977; Nickel 2007. 2289 Möllers 2009, 37–43. 2290 Möllers 2009. 2291 C. v. Nicolai 2014; auch Spehr 2007. 2292 Cosack 2008a. 2293 Schanz, Darjes 2018, 25 Abb. 18 Liste, nach J.-P. Schmidt 2010 mit Ergänzungen.
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auch vergleichbar mit den verborgenen Waffen und Geräten in der Schnippenburg. Die Waffen waren im Kampfe verwendet worden.2294 Im keltischen Milieu waren derartige Horte mit Werkzeugen keine Seltenheit.2295 Die hier zitierten Horte aus Südpolen, datiert in die Stufe Latène C, enthielten landwirtschaftliche Geräte, Kurzsensen, Sicheln, Dechsel, eine Pflugschar und Tüllenbeile. Sie waren nicht tief vergraben, also nicht in einem Schacht versenkt, waren aber nach Meinung der Ausgräber keine Rohstoffdepots, sondern wurden allem Anschein nach aus Ritualgründen deponiert, nicht etwa von Handwerkern, sondern von den lokalen Eliten. Im gesamten Keltengebiet von der Donau bis zum Rhein gibt es derartige Versteckfunde. In Mähren sind Horte während der Spätlatène-Zeit mit Sensen, Messer, Äxten und Tüllenbeilen vergraben worden.2296 Die jüngst publizierten Depotfunde vom keltischen Oppidum auf dem Linzer Gründberg bestätigen dies.2297 Das Oppidum wurde 1994 bis 1998 von E. M. Ruprechtsberger und O. H. Urban ausgegraben, und im Südwall wurden in situ vier Horte entdeckt. Sie waren geopfert worden und wurden zuletzt von der Wallkrone aus in Schlitzen bzw. langrechteckigen Kisten im bestehenden Befestigungswerk deponiert. Die Fundkategorien in den Depots sind Barren und Schmiedewerkzeuge, Standarten, Schwertklingen, Wagenbeschläge, Kessel und Herdausstattung wie Bratspieß und Fleischgabel und weiterhin Gerätschaften wie Ambosse, Äxte, Tüllenbeile, Hämmer, Schmiedezange. Die Sachen bestätigen den hohen Stand keltischer Schmiedekunst; denn hier liegt der älteste Beleg für Stahl in Linz vor. Die vier Depots sind gleichzeitig mit derselben Absicht niedergelegt worden, und zwar während der jüngeren Spätlatènezeit. Solche Komplexe sind in diesem Bereich der Latène-Kultur typisch, so auch in Tschechien und in der Slowakei. Das Vergraben der Horte in der Befestigung selbst erinnert durchaus an die Befunde vom „römischen Lager“ bei Hedemünden an der Werra, wo römische Dolabrae und anderes Schwergerät ebenfalls innerhalb bzw. unterhalb der Wallanlage gefunden worden sind, also in diese eingegraben waren (vgl. S. 781). Die auffälligsten Kultorte sind jedoch die Moore und ehemaligen Seen in Jütland darüber hinaus im gesamten Ostseeraum (vgl. S. 713 ff.). Hier wurden die Ausrüstungsgegenstände verschieden großer Heeresverbände niedergelegt bzw. im Wasser versenkt. Die Objekte waren teilweise zuvor zerstört oder auch verbrannt worden, Schäden, die nicht in der Schlacht, im Kampf, sondern vor der Opferung entstanden sind. Dazu gehören auch vollständige Kriegsschiffe, so in Hjortspring auf der Insel Alsen, datiert um 300 v. Chr., und in Nydam im südlichen Jütland, datiert ins 3. bis 5. Jahrhundert n. Chr., außerdem Reiterausrüstungen und Pferdezaumzeuge, Waffen aller Art und persönliche Güter am Gürtel oder in einer Tasche, ausschließlich 2294 Görner 2016. 2295 Bochnak, Kotowicz, Opielnowska 2016. 2296 Čižmář, Jarůšková 2017; Rybová, Motyková 1983 (Hort von Kolin). 2297 Urban 2019.
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Männerausstattungen, während Frauenschmuck fehlt oder einem anderen Zusammenhang zugeordnet werden muss, auch Tier- und Menschenopfer. Doch gibt es Ausnahmen, die belegen, dass in der Frühphase der Moor- und Seeopfer auch menschliche Leichen bzw. Skelette im Moor versenkt wurden (vgl. S. 660). Im Moor von Illerup sind bei den Ausgrabungen im Jahr 2009 Knochenreste von 200 Individuen, 2012 und 2013 noch einmal weitere Knochen, insgesamt von rund 1000 Menschen gefunden worden. Sie sind im 1. Jahrhundert n. Chr. geopfert worden, also deutlich vor den Waffendeponierungen.2298 Bevor die Menschen bzw. ihre Knochen im Moor oder See versenkt wurden, müssen sie an der Oberfläche nach einem vorausgegangenen Ritual niedergelegt worden sein, wie einerseits zusammengebundene Langknochen und andererseits Nagespuren von Tieren an den Knochen belegen. Der Vergleich mit keltischen Massenopfern von Menschen in den Jahrhunderten v. Chr. bietet sich an (vgl. unten S. 663 und S. 715). Die Deutungsspannweite für die Erklärung der Waffenansammlungen ist inzwischen recht groß und alternativ: Aber Übereinstimmung herrscht darüber, dass es sich um Kriegerausrüstungen handelt, über deren Herkunft es verschiedene Thesen gibt. Es handelt sich um Waffen besiegter Gegner aus der Ferne oder auch aus der Nachbarschaft, die nach Angriff besiegt worden sind; es handelt sich um die eigenen Waffen, die vor einem Kampf nach einem Sieg den Göttern geweiht worden waren; es handelt sich um Waffen, die als Beute nach einem erfolgreichen Kriegszug aus der Ferne mitgebracht worden sind. Was man zu diesen Erklärungen sagen kann, wird an anderer Stelle noch diskutiert (vgl. unten S. 738). Bei dieser Frage ist entscheidend, dass es „heilige“ Plätze gab, die auch dauerhaft als solche angesehen wurden und in Erinnerung blieben; denn an Opferplätzen wie Illerup Ådal oder Nydam in Jütland hat es wiederholt Niederlegungen von Kriegsausrüstungen gegeben, auch nach längeren zeitlichen Unterbrechungen im Generationsabstand. Nur die Ausstattungen von vielen hundert Kriegern wurden geopfert, in keinem Fall die (besiegten) Krieger oder ihre Reitpferde selbst, wobei offenbleiben muss, ob damit alle am Kampf und an der Schlacht beteiligten Krieger erfasst wurden, oder ob die Heere aus einem Mehrfachen an Kämpfern bestanden haben. Man kann sich nun vorstellen, wie ein Verband von Männern diese Kriegerrüstungen von einem Boot aus im Wasser versenkt oder von einem Steg oder vom Ufer aus sie hineingeworfen hat. Jedenfalls geht der Befund, die zu Tausenden niedergelegten Waffen, auf einen komplexen Opfervorgang an einem Kultplatz zurück. Während derartige Opferplätze in Seen oder Mooren im westlichen Ostseegebiet fast für jede Siedlungskammer nachgewiesen und archäologisch erforscht worden sind, ist die Zahl der bekannten Plätze an der östlichen und südlichen Ostseeküste deutlich geringer, aber schon die Tatsache, dass wenigstens einige derartige Plätze untersucht sind, kann als Beleg dafür dienen, eine gleichartige Sitte auch für diese
2298 Mehler 2009; Rubel 2016, 36 mit Hinweis auf das Skanderborgmuseum im Internet.
12.3 Heilige Haine und Opferplätze
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Gebiete anzunehmen. Wie mag aber eine vergleichbare Opfersitte ausgesehen haben, wie sind Opfer durchgeführt worden, in den geographischen Zonen ohne solche Seen in der Ebene. Es bieten sich dafür in den Mittelgebirgen Höhenlagen an, die weithin sichtbar gewesen sind. Zwei Fundkomplexe mit zahlreichen römischen Waffen, die gegenwärtig meist als Reste einer Schlacht gedeutet werden, können nach meiner Ansicht gleichartig auch als Opferplätze gewertet werden. Hingewiesen sei auf die neuen Befunde vom Harzhorn des 3. Jahrhunderts südlich von Northeim in Harznähe und auf die schon länger bekannten Massenfunde vom Döttenbichl bei Oberammergau aus der augusteischen Zeit. Zum Döttenbichl bei Oberammergau zweifelt sogar der Ausgräber W. Zanier, ob auf dem Berg ein Schlachtfeld oder eher ein Opferplatz oder beides nacheinander zu sehen ist. Bei manchen anderen sogenannten Schlachtfeldern besteht dieses Erklärungsproblem (vgl. unten S. 769).2299 Ich beschreibe die Situation auf dem Berg deshalb hier unter „Opferplätzen“ und gehe später nur kurz auf die Facette „Schlachtfeld“ ein. Die im weiten Tal liegende kleine Anhöhe Döttenbichl ist seit 1901, besonders seit 1991 mit vier Grabungskampagnen 1992–1993 und 1996–1997 durch zahlreiche Funde bekannt geworden, die zu systematischen Ausgrabungen aber nur auf 270 m2 geführt haben.2300 Die durch Prospektion erforschte Fläche von etwa 2,4 ha hat 1200 Metallfunde erbracht (1000 aus Eisen, 200 aus Bronze und einige aus Silber), die vom Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. bis zur Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. zu datieren sind, Werkzeuge, Geräte und Waffen. Zu den Funden gehören verschossene Pfeile und in einem Opferfeuer beschädigte Waffen, Ausrüstungen einheimischer Bevölkerung und römischer Soldaten. Einheimisch sind Schmuck und Kleiderbesatz, Werkzeuge und Geräte wie Sensen, Sicheln und Meißel; römisch sind Münzen, Schuhnägel, Helmbuschhalter, Dolche und 20 massive Geschoßspitzen sowie dreiflügelige Pfeilspitzen. Drei der vier Katapultpfeilspitzen tragen Stempel der Legion LEG XIX, die unter Varus in der „Schlacht am Teutoburger Wald“ im Jahr 9 n. Chr. vernichtet worden ist. Text gestrichen. Ein etwa 1,44 ha messendes Areal wurde von Anfang an als Kultplatz gedeutet,2301 weil rund 380 Metallsachen bei der Prospektion mit dem Metalldetektor auffällig senkrecht im Boden steckend gefunden wurden oder unter Steinen auch paarig niedergelegt waren; und zwar Schmuck- und Kleidungsbestandteile, Messer, Metallgefäße, Schlüssel-, Schloss- und Kastenteile, Werkzeuge, Erntegerät, Lanzenspitzen und Reit- sowie Wagenteile, die insgesamt einen breiten alltäglichen Ausschnitt des ehemaligen Lebens widerspiegeln. Die Sachgüter sind durch ein Feuer mit einer Brandpatina bedeckt, was die Opferthese unterstützt. Dafür spricht auch die Position der Sensen, von denen eine senkrecht in den Boden gesteckt war über einem Armring. W. Zanier geht von maximal zehn verschie-
2299 Moosbauer 2015, 397. 2300 Zanier 2016; Zanier et al. 2016; Gschößl 2016. 2301 Zanier et al. 2016; Zanier 2016; Gschößl 2016.
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denen Deponierungen aus. Eine kontinuierliche Nutzung des Platzes von der jüngeren Eisenzeit bis in die frühe Römische Kaiserzeit ist belegt, wobei die Mehrheit der Funde in die augusteische Zeit gehört. Aber nachdem inzwischen mehrere Schlachtfelder der römisch-germanischen Auseinandersetzungen entdeckt worden sind, vermutet der Ausgräber Werner Zanier in einem zweiten Komplex die Reste eines römischen Überfalls auf diesen Platz. Rund 700 Waffen und Ausrüstungsteile des römischen Militärs der Zeit von 27 v. – 14. n. Chr. sind registriert, darunter 439 dreiflügelige Pfeilspitzen, 223 Sandalennägel, einige Münzen, ein Dolch und weitere 15 Geschossspitzen sowie die Katapultpfeilspitzen, ein Schleuderblei und zwei Helmbuschhalter. Er bringt diese Sachen mit dem Alpenfeldzug 15 v. Chr. zusammen, vor allem wegen des Stempels LEG XIX. Seit drei Generationen oder länger war zuvor der Döttenbichl ein Opferplatz. So spricht doch einiges dafür, dass auch weiterhin geopfert wurde, nun Sachen aus Kämpfen mit römischen Einheiten. Warum sollten römische Legionäre ausgerechnet einen Opferplatz auf einer Höhe angreifen. Aus der Verteilung der Metallsachen und der Schuhnägel kann das nicht geschlossen werden, denn auch germanische bzw. keltische, d. h. in diesem Falle raetische Krieger trugen solche Schuhe. Auch die römischen Waffen – einheimische Tüllenpfeilspitzen fehlen – wurden verbrannt mit Temperaturen von 700 bis 850 Grad Celsius, ein beachtliches Großfeuer, was so gedeutet wird, dass die Raeter ihr entehrtes Heiligtum säubern wollten. Und noch ein halbes Jahrhundert wurde auf dem Döttenbichl weiter geopfert. Auch auf der benachbarten Kälberplatte wurden Sachgüter derselben Epoche gefunden. Werner Zanier bringt in der jüngsten mehrbändigen Publikation die Fundzusammensetzung auf dem Döttenbichl mit zeitgleichen anderen Plätzen in Germanien zusammen, um den Stellenwert und die Größenordnung herauszuarbeiten, mit vielen vergleichenden Details, die indirekt wieder wichtig werden bei der Frage, um was für einen Platz es sich beim Döttenbichl denn eigentlich gehandelt hat, auf dem 1200 Metallobjekte geborgen wurden. Der gewinnbringende Einsatz von Metalldetektoren wird so veranschaulicht:2302 Auf dem spätantiken Geißkopf bei Offenburg am Schwarzwald aus dem 4./5. Jahrhundert wurden 1994 und 1995 rund 1300 Metallobjekte auf 15 000 m2 registriert,2303 auf der Schnippenburg aus der Zeit um 300 v. Chr. in den Jahren von 2000 bis 2005 rund 1700 Metallobjekte;2304 in Kalkriese sind etwa 1800 Münzen und über 5000 andere antike Metallobjekte geborgen worden; im frührömerzeitlichen Lager Hedemünden (11/10 bis 8/7 v. Chr.) nahe Göttingen bis 2012 ungefähr 2600 gesicherte römische Objekte und schließlich auf dem Areal des „Schlachtfeldes“ am Harzhorn ab 2008 bis 2011 immerhin 2000 Objekte aus den Jahren der Schlacht von 235 n. Chr.
2302 Zanier et al. 2016, 82 f. 2303 Hoeper 1998; 2003; Hoeper, Steuer 1999b. 2304 Schlüter 2004; Möllers 2009.
12.3 Heilige Haine und Opferplätze
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Wie die einzelnen Plätze auch eingeordnet werden, die Zahl der Metallobjekte ist groß und gut auswertbar. Für Hedemünden gibt es eine andere Deutung (vgl. S. 781), als das es ein frührömisches Lager gewesen ist, nämlich die intentionellen Deponierungen beispielsweise der schweren Eisengeräte unter, in und an einer älteren latènezeitlichen Befestigungsanlage sprechen auch hier für einen, mindestens zeitweiligen, Opferplatz.2305 W. Zanier hat hilfreich weitere Parallelbefunde und Fundkomplexe zu den einzelnen Fundgruppen auf dem Döttenbichl als Vergleich zusammengestellt.2306 Auf dem Döttenbichl wurden 439 dreiflügelige Pfeilspitzen, 223 Schuhnägel, nur 5 Münzen, 15 Geschoßspitzen mit Tülle und die vier genannten Katapultpfeilspitzen mit Dorn dokumentiert. Es gibt Vergleichszahlen zu den Pfeilspitzen: Im Kastell Xanten-Vetera gab es in einem Magazin 1946 Exemplare dieser Art. Das gibt Anlass zu weiteren interessanten Überlegungen. Er rechnet nun anschaulich, dass 100 Bogenschützen mit je 30 Pfeilen im Köcher dann insgesamt 3000 verschossen hätten; wenn der Köcher zweimal gefüllt wurde, dann konnten schon 6000 Pfeile verschossen werden. Weitere Zahlenspiele nennen bei 200 Bogenschützen 2000 Pfeile, bei 500 Bogenschützen 30 000 Pfeile, die verschossen werden konnten. Nach den Kämpfen wurden die Pfeile in der Regel wieder eingesammelt, auch wenn einige unbrauchbar waren, so dass noch 1,8% bis 7% liegen geblieben waren. Die skythischen Bogenschützen brauchten 50 bis 100 Schuss für einen tödlichen Treffer, also 1–2%. Dann ist die Zahl der Pfeile auf dem Döttenbichl – so meine Ansicht – als Reste von Kämpfen zu gering. Aufschlussreich sind die Zahlen zu den römischen Schuhnägeln, die gemeinhin als Hinweis auf die Anwesenheit und den Marsch römischer Legionäre angesehen werden.2307 Auf dem Döttenbichl scheinen von verbrannten Schuhen die Nägel in einem Beutel gesammelt und geopfert worden zu sein. Interessanter sind wiederum die berechneten Zahlen an verschiedenen anderen Orten: In Alesia wurden über 1000/1154 Nägel gesammelt, auf dem Döttenbichl 224, in Hedemünden immerhin 1188 Exemplare, von denen nur 30 restauriert wurden (datiert 11/10 bis 8/7 v. Chr.), und in Kalkriese circa 300. Die Schuhnägel sind aber nicht überall gleich gestaltet; es gibt keinerlei Gemeinsamkeiten zwischen den Schuhnägeln von Kalkriese und denen vom Döttenbichl, obwohl sie zeitlich nicht weit auseinander lagen. Es gibt von W. Zanier eine aufschlussreiche Berechnung. Von Kalkriese stammen zwei erhaltene Schuhe mit 104 bzw. 86 Nägeln in der Sohle. In der Regel hatte – so W. Zanier – ein Paar Schuhe beispielsweise 160 Nägel. Dann bedeutet das bei einer Legion von 5500 Mann 880 000 Nägel, die in Gebrauch waren, mit Reparatur sogar 1,1 Millionen Nägel pro Legion, bei zwei Paar also schon 2 Millionen Nägel. Bei einem Gewicht von 3,5 g pro Nagel brauchte man für 1,1 Millionen Nägel immerhin 3850 kg Eisen. Aus
2305 C. v. Nicolay 2014. 2306 Zanier et al. 2016, 344. 2307 Zanier et al. 2016, 376 ff.
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römischem Zusammenhang bieten die Lederfunde vom Kultplatz Osterburken eine Vorstellung von der Nagelung der Schuhsohlen und der Position der Nägel.2308 Es gibt nicht wenige Publikationen zu römischen Schuhen, die mit dem Leder erhalten geblieben sind, so beispielsweise aus einem Brunnen in Dieburg, Hessen, in der römischen Lagersiedlung. Es sind Schuhe des 3. Jahrhunderts; denn um 260 n. Chr. wurde die Siedlung verlassen, und anschließend siedelten hier Germanen, wohl Alamannen im 4. Jahrhundert in den antiken Ruinen.2309 Zu den Sandalennägel (clavi) der Militärsandalen (caligae) seien noch einige Bemerkungen erlaubt. Eine Sandale hat bis zu 90 kegelförmige Nägel, im Durchschnitt immerhin etwa 40 bis 50. Beim Marsch gehen einzelne der Nägel leicht verloren. Deshalb meint die Archäologie also, überall die Marschrouten und Truppenkonzentrationen der römischen Legionäre erkennen zu können. K. Grote hat beispielsweise Wege bei Hedemünden rekonstruiert. Aber ob das methodisch überzeugt, muss weiter überlegt werden. Denn Jahrhunderte lang wurden solche Schuhnägel hergestellt, und zwar sehr variantenreich. Sie zeigen unterschiedliche Prägemuster aus Kreuzen und Punkten. In Hedemünden (11/10 v. bis 8/7 v. Chr.) wurden Nägel mit 4, 5 und 6, selten mit 7 Noppen und solche ohne Muster verwendet. Im neu entdeckten Lager bei Barkhausen nahe der Porta Westfalica wurden 57 Nägel mit 23 Prägemustern und 5 bis 14 Noppen gefunden, die erhebliche Abnutzungsspuren zeigen und deutliche Größenunterschiede. Truppen hatten einen enormen Bedarf und brauchten dazu spezialisierte Schmiede. Das Problem der Schuhnägel, der Nägel von vermeintlich römischen Sandalen hat breite Aufmerksamkeit dadurch gewonnen, dass man durch die verlorenen Stücke die Marschwege von Legionären und allgemein von Kriegern rekonstruieren kann.2310 Bei der großen Zahl von Nägeln pro Sohle blieb es nicht aus, dass beim Marsch dann und wann einzelne Nägel herausfielen und liegen blieben. Es gibt eine differenzierte Typologie der Nägel vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis in die Spätantike und Untersuchungen zur Verbreitung der Nägel innerhalb der römischen Provinzen und in Germanien. Dabei stellte sich schließlich heraus, dass derartige Nägel auch zu anderen Zeiten verwendet wurden, so dass man nun nicht mehr ausschließlich römerzeitliche Spuren damit wiederfinden kann. Aber unabhängig davon, wie sich diese Schuhnägel über die Zeit entwickelt und verändert haben, bleibt es wichtiger zu registrieren, dass nicht nur römische Legionäre, sondern auch germanische Söldner und ganz allgemein Krieger auch in Germanien, nicht nur zurückgekehrte Söldner aus römischen Diensten, solche Schuhe trugen und damit marschierten. Einerseits gelangten römische Waffen, nicht nur Schwertklingen, in germanische Hände, und waren Militärverbände wie die eigentliche römische Auxiliareinheit des Arminius wie römisches Militär ausgerüstet. 2308 Knötzele 2014, 712 ff. 2309 Knötzele, Schallmayer, Zink 2017 (2018). 2310 le Forestier 2013; Martin-Kilcher 211, 53–55 Schuhnägel; van Driel-Murray 2000; Knötzele 2007; Müsch 2014 (2015); Benítez de Lugo Enrich u. a. 2012, 113–115.
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Andererseits ist es auffällig, dass auf den „Schlachtfeldern“ Kalkriese, Döttenbichl und Harzhorn kaum einheimische „germanische“ Waffen und Ausrüstungsteile gefunden wurden, in großer Mehrheit immer nur „Römisches“. Es gibt archäologische Belege dafür, dass auch in rein „germanischem“ Umfeld derartige Schuhnägel nachgewiesen sind, zum Beispiel in Gräbern dieser Zeit in Mitteldeutschland: Die Vorstellung, dass Germanen römische Schuhe trugen oder Schuhe nach römischer Art selber fertigten, erscheint nicht abwegig. Mittlerweise liegen derartige Nägel auch aus Fundzusammenhängen der letzten vorchristlichen Jahrhunderte in den Mittelgebirgen vor, so dass es möglicherweise schon eine eisenzeitliche Tradition genagelter Schuhe in Mitteleuropa gab.2311
Dass aber die Krieger in Germanien mehrheitlich auch Waffen eigener Herstellung hatten, dass es keinen Mangel an Eisen gab, wurde ausführlich erläutert (siehe S. 444), und das beweisen die Massenopfer in den jütländischen Mooren als Resultate interner militärischer Auseinandersetzungen. In der großen Monographie aus dem Jahr 2016 werden für die Befunde auf dem Döttenbichl von W. Zanier nun zwei Möglichkeiten der Deutung parallel vorgeschlagen.2312 Bisher ging er von einem Opferplatz aus. Nachdem nun häufiger von Schlachtfeldern geredet wird, bietet er als Deutung an, dass nach einer Schlacht oben auf dem Berg weitere Opferhandlungen folgten; denn der Döttenbichl war vorher und später noch sichtlich ein Opferplatz der umwohnenden Bevölkerung. Die erste Deutung geht davon aus, dass nach einem andernorts ausgefochtenen Kampf zwischen einheimischen Raetern und römischem Militär die Raeter die Waffen vom Schlachtfeld aufgesammelt und auf dem Kultplatz Döttenbichl geweiht haben. Das klingt für mich überzeugend. Die zweite Erklärung denkt, dass innerhalb des heiligen Bezirks auf dem engen Berg ein Gefecht stattgefunden hatte zwischen angreifenden römischen Truppen und verteidigenden Raetern und dass die Waffen, teils mit Brandpatina, dort liegengeblieben sind oder auch noch geopfert wurden. Die Fiktion eines Schlachtfeldes auf der eigentlich unzugänglichen Höhe überzeugt nicht, es ist nur Mode, so archäologische Befunde zu deuten. Zur Opferplatz-These wird ausgeführt, dass im Alpenfeldzug 15 v. Chr. Bogenschützen und Artilleristen der 19. Legion dort gekämpft hätten. Von den Eisenspitzen seien die Holzschäfte für die Weihung abgezogen worden, um nur die Spitzen zu opfern; nach der Varusschlacht (Tacitus, Annalen I, 59, 3) hätten die Germanen ebenso die Opferungen der Feldzeichen in heiligen Hainen vorgenommen. W. Zanier meint daher:2313 Nach Th. Kissel wurde mit der Vernichtung der feindlichen Waffen das besiegte Heer seiner ‚magisch-destruktiven‘ Energieträger beraubt. Die crematio armorum markierte das Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen im Felde.
2311 Geschwinde, Lönne, Brangs, Schwarz 2013, 283 mit Lit.; Fellmann Brogli 2013, 269. 2312 Zanier et al. 2016, 549 f. 2313 Zanier et al. 2016, 351 nach Kissel 1997, 506.
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Und die Waffen sollten durch ihre Zerstörung und Opferung „getötet“ und damit die Identität der besiegten Krieger vernichtet werden.2314 Diese Deutung wird heute auch für die zerstörten Ausrüstungsgegenstände und Waffen in den jütländischen Opfermooren akzeptiert. Das sind durchaus überlegenswerte Thesen, auch wenn sie aufgrund der Schriftüberlieferung aus anderen Zusammenhängen genommen worden sind und somit Spekulation bleiben müssen. Zur Schlachtfeld-These auf dem Döttenbichl gehört zudem,2315 dass auf dem Berg 730 Waffen und Ausrüstungsteile dokumentiert sind, von römischer Seite mindestens 692 Objekte, von raetischer Seite 37 Tüllenpfeilspitzen, „während die übrigen knapp 380 Metallfunde (ca. 34%) sich auf eine etwa 150 Jahre dauernde Opfertätigkeit verteilen“. Die auf römischer Seite verwendeten dreiflügeligen Pfeilspitzen überwiegen mit 439 Exemplaren die 37 raetischen Tüllenpfeilspitzen fast um das Zwölffache, heißt es. Und viele Waffenspitzen lagen nicht da, wo sie hin verschossen worden waren, sondern waren zum Zwecke kultischer Handlungen aufgesammelt und später wieder niedergelegt worden. Aus diesen zitierten Gründen ist der Schlusssatz für mich nicht nachvollziehbar: „Überzeugender sind die Argumente, die für einen auf dem Döttenbichl ausgefochtenen Kampf sprechen“. Durch den Kampf sei der Opferplatz entehrt worden, aber immerhin wurde auf dem Döttenbichl doch vom Ende des 2. Jahrhunderts v. bis etwa zur Mitte des 1. Jahrhunderts. n. Chr. auf dem 1,44 ha großen Areal geopfert. W. Zanier weist noch auf einen anderen Opferplatz hin:2316 Die Deponierungen im Brandopferplatz auf dem Ochsenberg in Wartau bei St. Gallen bestehen aus Lanzenspitzen, Schwertfragmenten und Messer; es könnten die Opfer durch die einheimischen Raeter nach einem Sieg gegen römische Auxiliareinheiten im Zuge der Alpeneroberung 16/15 v. Chr. gewesen sein oder auch Reste eines Kampfes am Ort. Eine in den Anmerkungen von W. Zanier zum Döttenbichl abgelegte Kommentare sollen hier noch angeführt werden: Das Varusheer bündelte 200 000 kg Eisen (also 200 Tonnen), wenn zusammenrechnet wird, was alles mitgenommen werden musste, weil die Germanen so viel nicht hätten und es auch selbst nicht herzustellen in der Lage gewesen wären.2317 Es wurde oben schon erläutert, dass dies – nämlich die Gewinnung von Eisen – durchaus jedoch vielerorts der Fall gewesen ist (vgl. S. 444). Das Werk von W. Zanier hat eine Reihe von Rezensionen ausgelöst, aus denen einige Bemerkungen hier aufgeführt werden. M. Geschwinde, der Ausgräber des „Schlachtfeldes“ am Harzhorn (vgl. S. 769) hat aufgrund der vergleichbaren Geländesituation und der ebenfalls ähnlichen Prospektionsmethoden folgendes vermerkt:2318 Beachtlich ist die archäologische Leistung im Gelände, weil anhand von Detektorfunden eine 2314 Carnap-Bornheim, Rau 2009, 31. 2315 Zanier 2016 et al., 552. 2316 Zanier et al. 2016, Anm. 1449. 2317 Zanier et al. 2016, Anm. 1446; M. Meyer 2012b. 2318 Geschwinde 2018 zu Zanier et al. 2016.
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methodisch sorgfältige Auswertung erfolgen muss, da ein archäologischer Befundzusammenhang fehlt. Der Vergleich zu Kalkriese und Harzhorn führt zur Aussage, dass nicht unbedingt von Schlachtfeldarchäologie ausgegangen werden sollte, vielmehr wird auf die Möglichkeit hingewiesen, dass von asymmetrischen Kriegsereignissen ausgegangen werden sollte. W. Zanier habe schon 1992 als Deutung ein Brandopferplatz vorgeschlagen, der später dann Schauplatz eines römischen Angriffs 15 v. Chr. geworden sei. Auf dem Döttenbichl sind 2,4 ha systematisch begangen worden; dabei sind (nur) zehn römische Münzen und 32 Fibeln aus den vier Jahrzehnten um Chr. Geb. bzw. zum Jahr 15 v. Chr. registriert worden. Ein Drittel der Fibeln ist intentionell zerstört worden, weil sie wohl zuvor an geopferten, aufgehängten Kleidungsstücken befestigt waren. Unter den Tüllenpfeilspitzen, den Katapultpfeilsitzen oder den Geschossen armbrustähnlicher Handwaffen sind vier pyramidale Geschoßspitzen mit identischen Stempeln der 19. Legion, die dann 9 n. Chr. in der Varusschlacht vernichtet worden ist. Von den dreiflügeligen Pfeilspitzen mit Dorn und Widerhaken sind manche beschädigt durch einen Aufprall, andere aber intentionell beschädigt worden, was wiederum ihre Brandpatina zeigt. Das Résumé des Rezensenten ist ebenfalls zweideutig, nämlich dass im Zentrum ein indigener Opferplatz bestand, wobei der Berggipfel weniger bewaldet war als heute und die felsige Oberfläche mit wenig Humus keine archäologischen Befunde hat entstehen lassen. Ob die Brandpatina erst sekundär bei der römischen Militäraktion hinzugekommen sei, fragt M. Geschwinde, während W. Zanier doch eher von Opferfeuern ausgeht, zumal der lokale raetische Opferplatz über 150 Jahre hinweg der Bevölkerung gedient hat, während die römische Aktion nur das eine Jahr 15 v. Chr. ausmacht. Von W. Zanier und ebenso von M. Geschwinde wird ein ereignisgeschichtliches Szenario entwickelt, wobei durchscheint, wie sehr die Deutungen noch spekulativ sind. Dasselbe werde ich nachfolgend zu den Befunden am Harzhorn erörtern. Bei der endgültigen Betrachtung der Befunde auf dem Döttenbichl schwankt W. Zanier also zwischen den zwei Deutungsmöglichkeiten; dabei geht es auch um die römische Okkupation des Alpenvorlandes und um den Alpenfeldzug 15 v. Chr. sowie um die Siedlungskontinuität nach dem Ende der Oppida-Kultur. 1. Nach einem andernorts ausgefochtenen Kampf zwischen einheimischen Raetern und römischem Militär haben die Raeter die Waffen vom Schlachtfeld aufgesammelt und auf dem Kultplatz Döttenbichl geweiht. 2. Innerhalb des heiligen Bezirks auf der Höhe hatte ein Gefecht stattgefunden zwischen angreifenden römischen Truppen und verteidigenden Raetern. Einige Objekte haben Brandpatina. Seine Begründung liest sich wie folgt. Ich fasse noch einmal zusammen: Zu 1 als Opferplatz: Nach dem Alpenfeldzug 15 v. Chr. mit Bogenschützen und Artilleristen der 19. Legion wurden die Eisenspitzen von den Holzschäften abgezogen für die Weihung, so wie nach der Varusschlacht (Tacitus, Annalen I, 59, 3) Opferungen der Feldzeichen in heiligen Hainen stattgefunden haben. Zanier bietet dazu die
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12 Religion: Bestattungsbräuche, Heilige Haine und Opferplätze
erwähnten Zitate.2319 Nach Claus v. Carnap-Bornheim und Andreas Rau sollten die Waffen durch ihre Zerstörung und Opferung „getötet“ und damit die Identität der besiegten Krieger vernichtet werden.2320 Zu 2 als Schlachtfeld: Rund 730 Waffen und Ausrüstungsteile wurden also auf dem Döttenbichl gesammelt, von römischer Seite mindestens 692 Objekte, von raetischer Seite nur die 37 Tüllenpfeilspitzen, „während die übrigen knapp 380 Metallfunde (ca. 34%) sich auf eine etwa 150 Jahre dauernde Opfertätigkeit verteilen“. War der Döttenbichl ein durch den Kampf entehrter Opferplatz? Es heißt in der Publikation: „Die auf römischer Seite verwendeten dreiflügeligen Pfeilspitzen überwiegen mit 439 Exemplaren die 37 raetischen Tüllenpfeilspitzen fast um das Zwölffache“, was einen Kampf nur dahingehend erklären könnte, dass man nach dem Kampf die (eigenen) Pfeile wieder eingesammelt hat. Die Waffenspitzen lagen nicht dort, wohin sie verschossen worden waren, sondern waren zum Zwecke kultischer Handlungen aufgesammelt und später wieder niedergelegt worden. Es bleibt dabei: Auf dem Döttenbichl bestand Jahrzehnte bzw. Jahrhunderte ein raetischer Opferplatz, und zwar vom Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. bis etwa zur Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. auf einem 1,44 ha großen Areal. Das ist für einen Heiligen Ort plausibel, aber weniger für einen Kampfplatz. Die Menge der römischen Waffen, einschließlich der Katapultgeschosse, die auf dem „Schlachtfeld“ am Harzhorn bei Northeim in Südniedersachsen geborgen worden ist (vgl. S. 769), datiert um 235 n. Chr., braucht nicht einer römischen Heereseinheit gehört zu haben, die offensiv gegen Germanen gekämpft und ihre Pfeile verschossen hat bzw. die auf dem Marsch von germanischen Einheiten aus dem Hinterhalt angegriffen worden ist, sondern könnte ebenso die Ausrüstung germanischer Truppen bzw. die Beute z. B. ehemaliger Auxiliarverbände gewesen sein, die bei internen Kämpfen einem Kriegerverband den Sieg beschert haben. Im Grenzraum zwischen Römischem Reich und Germanien liegt das Heiligtum der Vagdavercustis auf dem Kalkarberg bei Kleve, wo einer germanischen Gottheit Waffen geopfert wurden.2321 Immerhin sind auch (fast) alle Schwerter in den dänischen Mooren, hunderte an Zahl, römischer Provenienz und werden kaum von einer besiegten römischen Militäreinheit stammen. Darüber wird im Abschnitt „Schlachtfelder“ noch ausführlicher berichtet werden. Im Mittelschweden war der Zentralort mit Werkstattarealen Helgö im Mälarsee (vgl. S. 361) ein Heiligtum, „a pagan sanctuary complex“.2322 Bei den Langhäusern wurden einige Solidi-Horte sowie mehrere Goldbrakteaten gefunden. Nahebei liegt eine Höhenbefestigung, bei der gefragt wird, ob diese nicht auch ein „sacred enclosure“ gewesen sei. Da weise ich auf die zwar älteren Parallelen in 2319 Kissel 1997, 506. 2320 v. Carnap, Rau 2009, 31. 2321 Bödecker 2010. 2322 Arrhenius, O’Meadhra (Ed.) 2011; Arrhenius 2011.
12.3 Heilige Haine und Opferplätze
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Norddeutschland hin, beispielsweise auf die Schnippenburg. Ulla Lund Hansen hat die Glasfragmente von Helgö neu bewertet2323 und mit den Glastypen anderer Zentralorte wie Uppåkra, Sorte Muld, Gudme, Lundeborg, Dankirke und Jakuszowice verglichen, was den gleichartigen Rang dieser Plätze zeigt. Helgö begann etwa um 200 und erlebte eine erste Blüte im 4. Jahrhundert. Eine zweifache Rolle spielte Helgö noch mit einem anderen Aspekt, nämlich außer als Opferplatz auch zugleich als Platz für ärztliche Behandlungen, wie an gefundenen Instrumenten ablesbar ist, die jedoch nicht alle in die frühe Zeit gehören.2324 Einen weiteren Kultort, aber zumeist mit jüngeren Befunden, bietet die Konzentration von mächtigen Grabhügeln, dabei auch einem Gräberfeld, weiterhin einer großen Festhalle, einer Befestigung und später auch einer Kirche in Gamla Uppsala (Alt Uppsala), und diese Befunde beschreiben die zentrale Bedeutung dieses Kultortes über Jahrhunderte hinweg. Die drei hohen Grabhügel bilden eine Zeitfolge, der älteste gehört ins frühe 6. Jahrhundert, die beiden anderen ins mittlere und ins späte 6. Jahrhundert, nach Wladyslaw Duczko; doch gibt es zur Datierung verschiedene Meinungen. Die Kirche steht am Platz eines paganen Tempels, über den Adam von Bremen im 11. Jahrhundert berichtet. Archäologische Spuren gehen an diesem Platz bis in die ersten Jahrhunderte n. Chr. zurück. Die Halle von etwa 50 m Länge und 12 m Breite wurde vom frühen 7. bis ins späte 8. Jahrhundert genutzt, stand über den Resten eines älteren Kultbaus. Die Befestigung hatte anscheinend weniger eine fortifikatorische als mehr eine symbolische Funktion und wurde im frühen 7. Jahrhundert errichtet. Der Kultort ist also von den ersten Jahrhunderten n. Chr. bis ins Mittelalter von Bedeutung gewesen.2325 Als entscheidende Beobachtung ist somit festzuhalten, dass bei den Germanen – wie bei den Kelten – Kultplätze für Opferhandlungen, teils „Tempelbauten“, teils heilige Orte regelhaft vorhanden waren. Schon für die Folge der Varus-Schlacht ist überliefert, dass von den siegreichen Germanen römische Offiziere getötet, geopfert und ihre Gebeine, vor allem die Schädel an Bäumen festgenagelt worden sind (Tacitus, Annalen I, 61, 2–3). Das fand am Ort der Schlacht selbst statt, nicht anderswo an einem bestimmten Kultort. Aber auch für die Opferungen von Waffen an solchen ausgewählten Plätzen gibt es die schriftliche Bestätigung von römischer Seite, wobei von den Schriftstellern leicht vergessen wird, dass die Römer in früheren Zeiten sich kaum anders verhalten und besiegte Gegner und ihre Waffen geopfert haben.2326 Wenn ein besiegter Gegner wie z. B. Vercingetorix bei einem Triumphzug mitgeführt, gezeigt – oft nach langer Gefangenschaft – und anschließend noch getötet wurde, dann ist das auf ähnlicher Ebene zu bewerten und einzuordnen.
2323 Lund Hansen 2011a. 2324 Frölich 2011a; 2011b, 161 ff. 2325 Arrhenius, Nyman 2006; Duczko 1998. 2326 Steuer 2006 f.
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12 Religion: Bestattungsbräuche, Heilige Haine und Opferplätze
Zu den Kultbauten wie in Uppåkra gehören in der Landschaft bei Lund auch weitere Orte, an denen Relikte von Kulthandlungen dokumentiert worden sind.2327 Es sind die Plätze bei Östra Karaby, Vä, Degeberga und Maletofta mit Ravlunda. Bei Degeberga sind jeweils eine Pfostenlochlinie, eine Grubenlinie und eine Herdlinie bei einem Weg nebeneinander dokumentiert worden, die sichtlich die Spuren von Versammlungen und wiederholte Kulthandlungen an diesem Ort sind (zu den Linien von Herden und Feuerstellen vgl. S. 636). In den folgenden Jahrhunderten bezeugen Horte mit den Goldbrakteaten und später dann mit den Goldblechfigürchen anhand ihres Fundortes die vorangegangenen mehrfachen Opferhandlungen an einem Kultort. Diese Objekte haben jeweils unterschiedliche Bildinhalte (vgl. dazu 1206 und S. 1215), zeigen teils eindeutig Götterbilder, und die Goldblechfigürchen kommen im gesamten Ostseeraum bis Nordnorwegen vor, nicht aber auf dem Kontinent. Ihre Winzigkeit, aber auch ihr Wert aufgrund des Goldes, macht sie zu einer Art „Votivgabe“ oder „Tempelgeld“. An einigen der zahlreichen Fundorte ist auch der Charakter des Kultplatzes zu ahnen. Viele hundert, gar mehr als zweitausend, Goldbleche wurden in Sorte Muld auf Bornholm in einer kleinen Niederung dicht beieinander gefunden, weitere lagen im Tempelbau von Uppåkra, an einem Langhaus in Gudme, in Helgö in Mittelschweden oder auch in Borg in Nordnorwegen. Sie sind insgesamt Hinweise auf einen Kultplatz oder einen Kultbau bzw. vor allem auf vorangegangene Kulthandlungen. Im mittleren Jütland bei Fæsted wurde ein sogenanntes Kulthaus bei einem Gräberfeld der Eisenzeit 2018 entdeckt, das von 500 v. Chr. bis um Chr. Geb. belegt wurde, in weiteren Phasen von 0 bis 500 n. Chr. Die Keramik lässt sich ansprechen für die Zeit von 200 v. bis 200 n. Chr. Auffällig sind die Reste von Beschlägen eines Wagens wie dem von Dejbjerg (vgl. oben S. 395). Es gibt einige besondere Befunde, Gold wurde geborgen, in einem Pfostenloch Waffen, so dass von Opfern ausgegangen wird. Hinzu kommen zwei Waffendepots mit etwa 50 Stangenwaffen, zusammengebundenen Schwertern und einem gestempelten Goldblech. Kochsteingruben in langer Linie sprechen am Ort für einen Kult- und Opferplatz. Ein Schatz der Wikingerzeit enthielt neun Schwertknaufdepots und sieben Schwerter, ein Hinweis auf die kontinuierliche Nutzung dieses Kultplatzes.2328 Die Opferplätze der vorrömischen Eisenzeit und der Römischen Kaiserzeit im heutigen Polen beschreiben eine breite Palette von Möglichkeiten.2329 Zu den 19 FundNummern zählen der Waffenopferplatz von Żarnowiec (Zarnowitz), Woi. Gdańsk (Danzig), der Opferplatz von Otalążka bei Radom, mit den besonderen baulichen Anlagen aus Steinpflastern. An diesem Platz der Przeworsk-Kultur gab es unterschiedliche Tieropfer, darunter Rinder (40,1%), Pferde (3,3%), Schweine (7,6%) und 2327 Helgesson 2015, 160 Fig. 1 Kultorte, 165 Fig. 5 Pfosten-, Gruben- und Herdlinien. 2328 Grundvad 2019; außerdem früher Skalk 2016, Heft 5 und 2017, Heft 3. 2329 Makiewicz 1988, 84 Abb. 1 Karte; 1997, 85 Abb. 2 Plan von Otalążka, 89 Tieropfer; Makiewicz 1997, Waffen als Opfergaben; Bednarczyk 1988.
12.3 Heilige Haine und Opferplätze
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Schaf/Ziege (16,0%); die Haustiere machen zusammen 67%, die Wildtiere zusammen 11%, und hinzukommen Wildvögel mit 20%. Es gibt anscheinend sogar Hinweise auf Menschenopfer. Am Waffenopferplatz Zarnowitz wurden Lanzenspitzen und ein Tüllenbeil sowie Werkzeuge niedergelegt, die Feuerpatina an den Waffen spricht für besondere Opferhandlungen der Wielbark-Kultur. In Inowrocław, Kujawien, untersuchten Ausgrabungen ein Heiligtum und eine zugehörige Siedlung, die von der vorrömischen Eisenzeit bis in die Völkerwanderungszeit bestanden hat. Eine Grube von 55 m2 Fläche enthielt eine Pferde- und eine Hundebestattung sowie an Sachgut ein Eisenschwert und zwei Sporen. Zu den heiligen Orten und Opferplätzen in Germanien zählen auch Quellen.2330 Besonders beachtenswert ist in dieser Kategorie der Quellopferfund von Bad Pyrmont, der schon 1863 entdeckt, in den Jahren 1999/2003 neu aufgearbeitet und ausgewertet worden ist.2331 In Pyrmont waren bei den Sanierungsarbeiten an den Heilquellen mehrere Brunnen erforscht worden. Dabei handelt es sich nicht um einfache Wasserquellen, sondern um Brodelbrunnen mit Kohlensäureausstoß, was eine Besonderheit darstellt. Damals im 19. Jahrhundert waren in einer der Quellen rund 500 Fibeln, römische Münzen und eine römische emaillierte Schöpfkelle gefunden worden, auch hölzerne Schöpfgefäße wurden als Funde notiert. Bei einem damals in den Jahrhunderten n. Chr. mehr als 200 Jahre alten Baum, einer Linde, wurden in feucht-sumpfigen Untergrund die Opfergaben niedergelegt. Die chronologisch unterschiedlichen Fibeltypen sprechen für mehrfache Opfervorgänge, die sich über einige Jahrhunderte von der augusteischen Zeit bis um 400 n. Chr. erstreckten. Heute sind von den Fibeln etwa 250 Stücke bekannt und 228 auch noch vorhanden. Die geopferten Fibeln waren zuvor lange in Gebrauch gewesen und deutlich abgenutzt. Die Schöpfkelle und die erwähnten Holzgefäße legen es nahe, dass auch damals das Schöpfen des Wassers mit dem Kult zusammenhing. Zeitspanne und Zahl der Fibeln sprechen dafür, dass es sich um einen vielfach und kontinuierlich bekannten Opferbrauch gehandelt hat, der aber nur von wenigen Leuten praktiziert worden ist, oder aber in größerem Abstand fanden immer wieder Opferfeste statt. Das Fibelspektrum ist nur eine begrenzte Auswahl der damals üblichen Formen, die aber doch aus allen Himmelsrichtungen gekommen und die zuvor auch von Frauen und Männern getragen worden sind. Einige Fibeln aus Silber sind mit Beigaben aus den Fürstengräbern zu vergleichen und deuten höheren Rang der Opfernden an, andere kommen aus dem provinzialrömischen Gebiet. Ein ähnlicher Opferfund wurde in einer heißen Quelle in Dux (Duchcov), Tschechien, nordwestlich von Prag 1882 entdeckt.2332 Die Bronzegegenstände gehören zumeist in die Latènezeit. In einem Schacht wurde in 5 m Tiefe ein Bronzekessel
2330 Näsström, Teegen 2003. 2331 Teegen 1999; Spuren des Menschen 2019, 290 Abb. 17 Brunenfund in Farbe. 2332 Motyková 1986, mit Taf. 26 und 27 (Fibeln und Armringe).
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12 Religion: Bestattungsbräuche, Heilige Haine und Opferplätze
entdeckt, der zahlreiche Fibeln, Armringe und andere Gegenstände enthielt. In 9 m Tiefe kam noch eine Lanzenspitze hinzu, die in die Bronzezeit zu datieren ist. Die genaue Zahl der geopferten Gegenstände ist nicht überliefert; man spricht von 1200, 2500 oder bis zu 4000 Objekten. Dokumentiert sind 850 Fibeln, 650 Armringe und 100 Fingerringe. Der beschädigte Bronzekessel hat einen Durchmesser von 46 cm und fasst 34,2 Liter, war ein Altstück und ungefähr ein Jahrhundert in Verwendung, ehe er als Brunnenfassung gedient hat. Die einheitliche Fibelform hat zum allgemeinen Namen Duxer Fibel für diesen Typ geführt. Die Armringe sind demgegenüber von unterschiedlicher Form. Doch kommen die Sachen aus einheitlichen Werkstätten der Nachbarschaft, und die Fibeln sind teils neu und teils abgenutzt, was für einen längeren oder wiederholten Opferbrauch einer größeren Gemeinschaft spricht. Es gibt eine Vielfalt der Opferbräuche und Opferplätze im heutigen polnischen Gebiet, vor allem südlich der Ostseeküste, während der vorrömischen Eisenzeit und der Römischen Kaiserzeit.2333 Zu den niedergelegten „Gütern“ in Mooren gehören aber noch ganz andere Objekte. Tierknochen als Speiseopfer wurden in allen diesen Jahrhunderten geopfert, oftmals in und bei Keramikgefäßen. Sie werden als „private“ Opfer einzelner Personen oder von Familien gedeutet und kommen überall vor, auch in den Mooren mit den gewaltigen Kriegsbeuteopfern (vgl. S. 706).2334 Die Niederlegungen von Geschirr können wie bei den Grabbeigaben als Überbleibsel umfangreicher Totenfeiern und Totenmahlzeiten gedacht werden, die entsorgt bzw. besser gesagt tabuisiert weggelegt werden mussten. Einige der allgemein sogenannten „Moorleichen“ gehören in die Jahrhunderte um und nach Chr. Geb.2335 Ob die Plätze, an denen sie gefunden worden sind, als Opferplätze zu bezeichnen sind, hängt davon ab, wie man die Hintergründe für das Versenken von Menschen im Moor erklärt. Es gibt Unglücksfälle, Verbrechen, die Strafe des Versenkens im Moor wegen eigener Verbrechen als Rechtshandlung. Aber darüber ist zu wenig Sicheres bekannt. Moorleichen (bog bodies) könnten auch eine spezielle Bestattungssitte gewesen sein, wie für Befunde von Seeland diskutiert wird. Aus den Jahrzehnten von 400 v. Chr. bis 340 n. Chr. sind 16 Fundplätze mit zumeist einer, doch bis zu 2, 3, 5 und 15 Moorleichen bekannt.2336 In der Epoche der ersten Jahrhunderte n. Chr. haben Leute in Germanien ihren Gottheiten als besonders wertvoll geltende Sachgüter als Opfer – das sei an dieser Stelle so formuliert – vergraben, und zwar mit der Absicht, diese nicht etwa nur zu verstecken, sondern sie für alle Zeiten wegzugeben. Vergraben wurden mehrheitlich
2333 Makiewicz 1988. 2334 Bemmann, Hahne 1992. 2335 Gebühr 2002. 2336 Ravn 2011, 85 Fig. 2 Datierte Moorleichen von Seeland.
12.3 Heilige Haine und Opferplätze
633
Metallsachen, Münzen und Schmuck, Fibeln, Arm- und Halsringe aus Edelmetall, meist aus Silber und Gold (vgl. oben S. 531 ff.). Aber es bleibt die Frage, warum tatsächlich derartiger Reichtum vergraben worden ist und nicht mehr der Gemeinschaft zur Verfügung stand und deshalb eigentlich auch regelmäßig ersetzt werden musste. Denn auch die nächste Generation wollte anscheinend ähnlich Schätze vergraben. Das allgemeine Erklärungsbündel geht von profanen und von kultischen Anlässen aus. (1) Schätze wurden vergraben, weil die Eigentümer die Erde als Tresor benutzten; aus irgendwelchen anscheinend recht häufigen Anlässen konnten die Schätze nicht mehr wieder gehoben werden. (2) Händler und Kaufleute haben ihren Besitz zeitweilig vergraben und hatten dann auch keine Gelegenheit, sie wieder zu heben. (3) Schätze wurden als Opfer für die Götter vergraben und sollten auch nicht mehr zurückgenommen werden. (4) Schätze wurden vergraben, damit sie im Jenseits dem Eigentümer wieder zur Verfügung standen; für die Wikingerzeit sind derartige Begründungen schriftlich überliefert. (5) Schätze wurden der Erde statt als Grabbeigabe auf diese Weise anvertraut, weil sie sicherer vor Grabberaubung waren als in der Bestattung. (6) Während Beigaben von den Hinterbliebenen ausgewählt und ins Grab gegeben wurden, sind die Schätze vom Besitzer selbst vergraben worden. (7) Schätze wurden vergraben, weil man zu viel davon hatte und sie weder im Wirtschaftskreislauf noch als Tauschmittel wie Geld oder als Geschenke verwenden konnte oder wollte. Sicherlich gibt es noch weitere Begründungen, aber hier soll im Allgemeinen von einem Opfer, an wen auch immer, ausgegangen werden. Eine ganz andere Art der Erklärung für die zahleichen wertvollen Goldhorte haben Morten Axboe2337 und Karen Høilund Nielsen2338 in die Diskussion gebracht, wobei sie aus chronologischen Gründen erst an die spätere Zeit dachten, als auch Goldbrakteaten vergraben wurden. Für die Spätphase im 6. Jahrhundert, während der im südlichen Skandinavien auffällig viele Goldschätze verborgen wurden, wählte man das Jahr 536 zur Begründung aus. Ob Sonnenfinsternisse oder ferne Vulkanausbrüche, beides konnte zu schlechten Ernten führen, was nur zu überwinden war, wenn man die jenseitigen Gottheiten besänftigen konnte. Dabei ging man davon wohl aus, dass dies nur mit dem wertvollsten Material geschehen konnte (sofern man nicht
2337 Axboe 1999c; 2001a, b, c. 2338 Høilund Nielsen 2005; 2015a, b; Solheim, F. Iversen 2019 für das südliche Norwegen; BratherWalter 2019d sieht einen Zusammenhang mit der Justinianischen Pest.
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Menschen opfern wollte), und das war Gold. Beim ersten Gedanken könnte man eine solche Deutung in Erwägung ziehen. Doch schnell wird einem klar werden, dass dies nicht die Lösung sein kann; denn Goldschätze wurden lange vor dem 5./6. Jahrhundert und später noch vergraben (vgl. S. 531). Das Spektrum der Deutungsmöglichkeiten für diese Hortfundsitte wird vielfältiger sein müssen. Ob das Klima, soziale Krise oder politische Konflikte zum Verbergen von Gold und Münzen geführt haben, wird weiter diskutiert werden.2339 Anders Andrén versucht, eine Kontinuität von der Bronzezeit bis ins frühe Mittelalter zu sehen, wenn es um kosmologische Vorstellungen und Götter geht,2340 und schließt damit auch die Epoche der ersten Jahrhunderte n. Chr. ein (vgl. S. 609). Er bringt Beispiele: Beim Dorf von Valnäs auf Öland aus der späten Römischen Kaiserzeit und der frühen Völkerwanderungszeit (200 bis 550 n. Chr.) gibt es eine dreieckige Steinsetzung, bei der es nicht um eine Grabstelle, sondern um einen Kultplatz geht, von A. Andrén als Standplatz eines zu verehrenden Baumes gedeutet. Die Hausgrundrisse bilden Steinfundamente, die Gehöfte werden von Steinmauern gegeneinander abgegrenzt.2341 Eine weitere Siedlung von Rönnerum in Högsrum auf Öland (200 bis 550 n. Chr.) 2 km westlich von Ismanstorp (vgl. oben S. 327) weist einen großen Herrenhof mit 55 m Länge auf, deren Bewohner den Ringwall errichtet haben sollen, neben anderen Gehöftgrundrissen mit Handwerkerhäusern.2342 Es geht um den Weltenbaum in der Rolle der altnordischer Religion, was ich hier aber nicht weiter verfolgen werde, da diese Erklärungen nur über jüngere Schriftquellen überliefert sind, aber als archäologisch fassbare Befunde in der genannten Siedlung werden sie zurück in die Vergangenheit projiziert. Einige Schatzfunde mit Metallgerätschaften werden germanischen Plünderern zugewiesen, die es mit ihrer Beute nicht zurück in die Heimat geschafft haben. Sie zeigen ebenfalls, welche Menge an Metallgefäßen und wieviel Metall zur Weiterverarbeitung in der Hand einzelner gekommen war (vgl. oben S. 535). Es gibt einen Silberschatz, gefunden in Manching, aus der Mitte des 3. Jahrhunderts, auf die Alamanneneinfälle 233 n. Chr. zurückgeführt, entdeckt 1955, der das Essgedeck einer Person enthält. Da das aber nicht einheitlich im Dekor ist, scheint es zusammengeraubt zu sein. Es enthält ein ovales Silbertablett, mit einem Durchmesser von 34 cm und 443 g Gewicht, eine Kasserolle, zwei Schälchen und mehrere Silberlöffel. Eine andere Art von Opferstätten sind recht tiefe Schächte und Gruben, die in umhegten, befestigten Arealen wie auf der Schnippenburg oder in Snettisham entdeckt worden sind, oder auch inmitten von Siedlungen. Jüngst 2017 wurde beim alten Grabungsareal der Töpferei in Haarhausen erneut eine Ausgrabung durchgeführt, die u. a. fünf Häuser aus der Römischen Kaiserzeit freigelegt hat. In deren Bereich 2339 S. Fischer, Victor, Wicker (Eds.) 2009. 2340 Andrén 2014. 2341 Andrén 2014, 62 Fig. 19. 2342 Andrén 2014, 82 Fig. 27.
12.3 Heilige Haine und Opferplätze
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konnten Fibeln, Geräte, Fragmente von römischem Pferdegeschirr und zwei Münzen geborgen werden, darunter eine Münze der Lucilla (geboren 147/149), Tochter Mark Aurels und der Faustina, geprägt in den Jahren von 165 bis 170 n. Chr., außerdem Haarhausener Drehscheibenkeramik und Terra Sigillata. Zwei Gruben wirken wie Opfergruben, die eine war 2,30 m tief und barg ein menschliches Skelett, die andere war 3 m tief und enthielt Keramik, Haarhäuser Ware, eine Elbefibel, Eisennägel und Tierknochen.2343 Diese Befunde erinnern an die tiefen Gruben in der Siedlung von Frienstedt (vgl. S. 226), die allein wegen ihres Inhalt als Opfergruben inmitten des Dorfes gedeutet werden.2344 Nicht nur an auffälligen Geländeerscheinungen, Felsen, Bäume und Seen sowie Mooren, in der Landschaft wurden Opfer niedergelegt, sondern auch in den Siedlungen selbst (vgl. S. 615). Es gibt Bauopfer unter der Hausschwelle. Das sind Gefäße mit Inhalt, aber auch Tiere, z. B. Hunde, und sogar Menschen bzw. Kinder, wie auf der Feddersen Wierde. Nun hat J. Hansen gemeint, dass ein größerer Teil aller Funde, die bei Ausgrabungen von Siedlungen gemacht werden, keine Verluste oder weggeworfener Abfall zerbrochener Objekte waren, sondern bewusst niedergelegte, vergrabene Opfergaben.2345 Als Beispiel beschreibt er die Situation in der Siedlung von Nørre Tranders bei Aalborg in Jütland (vgl. oben S. 187) aus der vorrömischen Eisenzeit und der Römischen Kaiserzeit. In der ausgegrabenen Siedlungsfläche mit einer großen Zahl sich überlagernder Hausgrundrisse, die eine Vielphasigkeit (13 Phasen) spiegeln, werden zu 150 Häusern 393 Opfer kartiert, darunter 279 Bauopfer mit manchmal 5 bis 15 Opfer unter einem Haus. Manche Opfer scheinen auch für die gesamte Siedlung gedacht gewesen zu sein. Die Opfer sind Knochen (von Tieren), Fossilien und Keramik und sogar drei Kinderskelette. Eine größere Zahl von verbrannten und unverbrannten Tieropfern aus den verschiedenen Siedlungsphasen ist ebenfalls als Opfer kartiert.2346 Zu den Tierknochen in der Nachbarschaft des Zeremonialbaus von Uppåkra in Schweden wird überlegt, ob diese Ansammlung auf rituelle Schlachtungen hinweisen, die bei saisonalen Festen, bei Begräbnisfeierlichkeiten oder bei erfolgreichen anderen Handlungen vorgenommen worden waren (vgl. auch unten S. 654).2347 Beim Kultbau erreichen die Rinderknochen 64 bis 76% am Fundbestand, während sonst in den normalen Siedlungen die Prozentwerte deutlich niedriger zwischen 28 bis 45, im Mittel bei 37% liegen. Derartige Bauopfer2348 werden auch in anderen Fundstätten nachgewiesen. In der Siedlung Sejlflod in Nordjütland (vgl. auch S. 273) mit 110 freigelegten Hausgrund-
2343 Reichardt 2018. 2344 Chr. G. Schmidt 2012; 2013; 2014a, b. 2345 J. Hansen 2006, 146 Fig. 15. 2346 J. Hansen 2006, 152 Fig. 19. 2347 Magnell 2011, 200 Fig. 15.3 Knochenlager; Magnell et al. 2013, auch Larsson 2019, 21 F. mit Table II Radiocarbon-Daten. 2348 Beilke-Vogt 2007; 2009, 69 ff.
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risse aus der vorrömischen Eisenzeit bis in die Wikingerzeit mit einem Schwerpunkt im 4. bis 5. Jahrhundert sind 24 Säuglingsbestattungen entdeckt worden, eines davon im Wandgraben eines Hauses, bei dem sogar als Beigabe ein Bronzering lag. In der Feddersen Wierde sind vier Kinderskelette ausgegraben worden, entweder direkt in einem Haus oder mit einem deutlichen Bezug zum Haus, im Haus 10 fand man Skelettreste eines Kleinstkindes unter dem Herd des Hauses. Ein weiteres Kinderskelett lag als Bauopfer in der Wurt Tofting. Unter dem Mittelgang eines Stallteils war ein 80 cm langer Holztrog, als Wiege zweitverwendet, denn darin lag die Bestattung eines Kleinstkindes mit einer Tasse als Beigabe, datiert ins 2. Jahrhundert. Offen ist bei einem solchen Befund aber, ob es sich tatsächlich um ein Bauopfer gehandelt hat und nicht vielleicht um eine heimliche Entsorgung. Als Beispiel für die zahlreichen Opfer von Haustieren in Mooren und Siedlungen zitiere ich das Rinderopfer in Vestervig, Dänemark.2349 H. Jankuhn sagte dazu 1967: Bemerkenswert ist die rituelle Auswahl bestimmter Körperteile, nämlich Extremitäten und gelegentlich des Schädels. Die anderen Reste finden sich in Mooren kaum. Der Ritus erforderte nur die Niederlegung bestimmter Teile, deren Auswahl […] über ein großes Gebiet, nämlich von Schweden bis Mitteldeutschland, nach gleichen Gewichtspunkten getroffen wurde.
Kopf und Beine waren meist noch im Verbund mit der Haut, vielleicht ein Opfer zur Erhaltung des Viehbestandes. Wieder ein anderer Hinweis auf Kult- oder Opferhandlungen sind lange Feuerstellenreihen, die jedoch nicht nur in die vorrömische Eisenzeit und in die Römische Kaiserzeit datiert werden, sondern schon früher während der Bronzezeit und auch später noch vorkommen. In Niedersachsen ist bei Trelde im Landkreis Harburg ein über 11 m langer und 0,6 m breiter Graben freigelegt worden, der auf der gesamten Länge mit Holzkohle, gebrannter Erde und durchgeglühten Feldsteine verfüllt war; er liegt benachbart zu einer Siedlung der Römischen Kaiserzeit. Diese Feuerstellenreihe wird eine „spezielle“ Funktion gehabt haben.2350 In Degeberga in Schonen2351 sind über 200 m Reihen von Dutzenden von Gruben und Feuerstellen sowie Reihen von Pfostenlöchern freigelegt worden, datiert von der frühen römischen Kaiserzeit bis in die Völkerwanderungszeit, von 400 bis 600 (vgl. oben S. 630). Eine lange Reihe von Kochgruben wurde ebenso auf Seeland gefunden, so bei Nordkilde Bakke, von denen einige C-14-datiert sind in der Phase 380 bis 310 v. Chr. Sie spiegeln wohl Versammlungen aus rituellen, politischen und sozialen Gründen; sie mögen eine multifunktionale Bedeutung gehabt haben. In der Nachbar2349 Capelle 2007, 241 Abb. 2, ebenfalls das Zitat H. Jankuhn 1967, 129. 2350 J. Brandt 2018, 130 Abb. 138. 2351 Helgesson 2015; Björk, Wickberg 2015, 243 Abb. der Reihen; Grønneberg 2011, 234 Fig. 1 für Seeland.
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schaft gibt es auch Bestattungsplätze. Parallelbefunde in Schweden gehören in die Zeit von 400 bis 700 n. Chr. Auf Seeland sind bei Bombakken auf einem Feld etwa 400 kultische Kochgruben aufgedeckt worden; und Radiocarbon-Datierungen liegen für rund 40 Kochgruben von verschiedenen Orten vor, die sich von der Zeit von 100 v. Chr. bis 500 n. Chr. verteilen, was also einen allgemeinen Brauch belegt.2352 Nun sind derartige parallele Reihen von Dutzenden von Kochsteingruben schon während der Bronzezeit angelegt worden, und ihre Erklärung ist, dass sie Versammlungsplätze gewesen sind, ob zu kultischen oder profanen Zwecken wird diskutiert.2353 Es lohnt sich in diesem Zusammenhang zu erwähnen, dass diese Versammlungsplätze rund 1000 Jahre, vom 15. bis 5. Jahrhundert v. Chr. genutzt wurden, eine erstaunliche Kontinuität, die für die jüngeren Kochgrubenreihen ähnlich anzunehmen ist. Andernorts habe ich erläutert, das beim Kultort und dem Kultbau in Uppåkra, Schweden, ebenfalls eine Kontinuität von mehr als 1000 Jahren nachgewiesen worden ist (vgl. S. 654). Das trifft dann indirekt auch für die Siedlung bzw. die Besiedlung zu. In Niedersachsen sind seit der frühen Eisenzeit bis in die Römische Kaiserzeit ebenfalls diese Befunde von vielen Dutzend Feuerstellen, Gargruben oder Kochgruben in langen Reihen ausgegraben und dokumentiert worden; es waren wohl auch hier Treffpunkte bei einem Kultplatz zur Verpflegung der versammelten Menschen. Dicht an dicht liegen hier mehr als 100 Feuerstellen im Bereich der Siedlungen bei Süpplingen, veröffentlicht 2018. Sie liegen in Reihen oder auch leicht verstreut; es sind nur wenig eingetiefte rechteckige oder ovale Brandgruben voller Holzkohle mit etwa 1 m Durchmesser und darin liegenden ausgeglühten Steinen.2354 C-14-Datierungen weisen in die (frühe) vorrömische Eisenzeit. Noch größer ist die Ansammlung unterhalb der Hünenburg bei Watenstedt mit rund 500 solcher Stellen, gedeutet als Gargruben, in denen Speisen mit Hilfe heißer Steine gegart wurden. Hier bei Watenstedt sind in unmittelbarer Nachbarschaft Deponierungen mit gegossenen Bronzebecken gefunden worden, noch in die späte Bronzezeit zu datieren. Einmal erkannt, findet man derartige Feuerstellenreihen, Gar- und Herdgruben, kaum kultische Feuer, an vielen Orten. Sie wurden im Großraum Hamburg und in Naschendorf, Ldkr. Nordwestmecklenburg, gefunden und 2011 publiziert.2355 Bei den neuen Ausgrabungen in Hoby (vgl. S. 276) sind nun auch hier mehrere größere Kochgruben entdeckt worden, die aufgrund der Befunde in den Gruben, Knochen und Speiseabfälle, als Anlagen im Rahmen von Kulthandlungen erklärt werden. 2352 Aarsleff, Appel 2011, 59 Fig. 9 Das Feld der Kochgruben; 58 Fig. 8 Radiocarbon-Datierungen; auch bei Grønneberg 2011, 235 Fig. 2. 2353 Kruse, Matthes 2019, 209 Abb. 3 Mögliche Versammlungsplätze in Nordschleswig/Südjütland, 252 f. Anhang 1; C-14-Datierungen. 2354 Bernatzky, Heske 2018, 96 Abb. 4 Geomagnetikplan der Gargruben bei Watenstedt; mit Lit. 2355 Hüser 2011; Mewis, Schmidt 2011.
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12 Religion: Bestattungsbräuche, Heilige Haine und Opferplätze
12.4 Götterbildnisse und römische Statuetten Caesar meinte, die Germanen verfügten über gar keine „echte“ Religion im Sinne der Römer, da sie keine personifizierten Gottheiten verehrten, sie beteten lediglich Naturerscheinungen an. Ein großer Irrtum, ein weiteres Vorurteil, wie mehrere Autoren gezeigt haben.2356 Im feuchten Untergrund von Mooren sind Axtgabelidole und nur grob zu menschlichen Figuren zugeschnittene Hölzer erhalten geblieben, und das aus allen Epochen der Ur- und Frühgeschichte, von der Bronzezeit bis ins frühe Mittelalter. Nur einige gehören in die hier behandelte Phase der ersten Jahrhunderte n. Chr. Oftmals ist nicht zu entscheiden, ob und was bei irgendwie zugeschnittenen, bearbeiteten Holzbrettern oder -bäumen als Kultbild anzusehen ist. Es liegt natürlich auch an der ausgezeichneten Überlieferungsmöglichkeit, dass organisches Material in ehemaligen Seen und Mooren gut erhalten ist, was ein sicherlich einseitiges Bild von Kultanlagen in Germanien erzeugt und was nicht erlaubt, Kultplätze an auffälligen Geländedenkmälern auf „trockenem“ Boden auszuschließen. Nur auf den ersten Blick denkt man, dass eben Seen und Moore, feuchte Flussniederungen wegen der Wassernähe aufgrund der damaligen Vorstellungen sich besonders als Kultorte anboten. Auch zu dieser Vorstellung hat die antike Überlieferung beigetragen, da im Rahmen des Nerthuskultes (S. 396) am Ende der Umfahrt der Wagen mit dem Götterbild in einem See versenkt wird. Unter den Idolen aus Holz sind weibliche und männliche Figuren, wie an den deutlich ausgebildeten Geschlechtsmerkmalen erkennbar ist. Man wird den damaligen Holzschnitzern auch nicht gerecht, wenn die Bildnisse als primitiv beschrieben werden; denn zumeist wurden natürlich vorgegebene Äste und Astgabeln ausgewählt. Zeitgleich gibt es qualitätsvolle Kunstwerke, sogar aus Holz wie Figuren aus dem Moor von Oberdorla oder die Köpfe aus dem Moor von Nydam und vor allem dann in der Metallkunst. Es war anscheinend Absicht, ein Stück Natur zu verwenden. Bei den oft niedergelegten Holzidolen in Mooren und Seen – nur hier können sie erhalten geblieben sein – erhebt sich schließlich auch die Frage, wurden hier die Figuren oder wurde den Figuren geopfert. Überhaupt ist zu fragen, waren die Holzbildnisse Stellvertreter höherer Wesen oder indirekt auch diese selbst.2357 Torsten Capelle hat 1995 eine konzentrierte Zusammenstellung der anthropomorphen Holzidole in Mittel- und Nordeuropa veröffentlicht und noch einmal zusammen mit Wijnand van der Sanden 2001 weitere Aspekte dazu beschrieben. Dabei werden neu auch die bisher gemessenen Radiocarbon-Daten aufgelistet, nach denen u. U. einige der weiter unten aufgeführten Bildnisse älter oder jünger sind, als bisher vermutet, was aber wiederum zeigt, wie ähnlich über die Jahrhunderte in Germanien derartige hölzerne Bildnisse gefertigt wurden. Die näheren Fundumstände sind
2356 Simek 2006; Krause 2006; jetzt Rubel 2016, mit der Rez. von S. Oehrl, Germania 96, 2018 (2019). 2357 Rubel 2016, 45.
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zumeist unbekannt, mit Ausnahmen wie beim Moor von Oberdorla,2358 vom Wittemoor2359 oder den großen Mooren wie Ejsbøl, Nydam oder Illerup Ådal mit den Heeresausrüstungsopfern. Hier sind wenigstens die Fundstellen belegt. Das hat zur Frage geführt und wird ausführlich diskutiert, ob diese Figuren an offenen Kultstellen oder gar bei Tempeln aufgestellt gewesen sind. In den Mooren der vorrömischen Eisenzeit und auch nachfolgend gab es Tiere als Deponierungen als Begleitung von hölzernen Idolen,2360so beispielsweise in Klein Schönwalde und Bad Doberan. Es gibt bei den Bildnissen durchaus einen deutlichen Überlieferungsschwerpunkt aus der Römischen Kaiserzeit, also aus den ersten Jahrhunderten n. Chr.2361 Im Rahmen der Darstellung von Religion und Kult bei den Germanen hat Alexander Rubel 2016 diese Idole ausführlich behandelt2362 und von den schlichten Astgabelidolen oder „Pfahlgötzen“ der Eisenzeit bis hin zu klar definierten Götterdarstellungen auf den Goldbrakteaten den Bogen gespannt. Zu den beeindruckenden Figuren zählen die beiden Bildnisse, Mann und Frau mit Dutt, – die Männerfigur ist immerhin 2,75 m hoch und die Frau noch 2,29 m – aus dem Aukamper Moor bei Braak in Schleswig-Holstein, entdeckt 1946. Es ist ein sorgfältig ausgearbeitetes Paar. Unbekannt ist, wo und wie sie aufgestellt waren, aber bei der beachtlichen Größe waren die beiden Figuren weithin sichtbar. Sie wurden bisher in die letzten Jahrhunderte v. Chr. datiert, nach neuer C-14-Datierung könnten sie auch schon aus der späten Bronzezeit stammen oder aus der Zeit um 400 v. Chr.2363 Aus der mittleren vorrömischen Eisenzeit stammen aus dem Wittemoor in Niedersachsen bei Oldenburg, einem 3500 m langen Bohlenweg XII (Ip), zwei Figuren A und B, die jeweils an einer Seite des Bohlenweges einander gegenüber standen (oben Abb. 37). Aus Eichenbohlen sind die Figur A, ein Mann, 105 cm hoch, und die Figur B, eine Frau, 90 cm hoch. Es gibt weitere Figuren C mit 171 cm Höhe und D mit 193 cm Höhe sowie E, nur 85 cm hoch. Alle Figuren haben scheibenförmige Köpfe.2364 Die Position der beiden Figuren beiderseits des Bohlenweges sprechen von einer besonderen, vielleicht Schutz verheißende Funktion an diesem Weg über das Moor.2365 Beim Bohlenweg XV im Moor bei Aurich wurde ein rundes Idol mit ausgearbeitetem birnenförmigen Kopf gefunden, 62,5 cm hoch. Zwei profilierte Planken, mehrfach gekerbt und mit einer Art Kopf, 90 cm hoch, kommen aus einem Brunnen von Oss-Ussen,
2358 Behm-Blancke 2002; Dušek 2002. 2359 Steuer 2006g. 2360 Nikulka 2017a. 2361 Capelle 1995b, 29 ff.; van der Sanden, Capelle 2001, 57: C-14-Liste, nach denen u. U. einige der weiter unten aufgeführten Bildnisse nun anders datiert werden; Capelle 2000; Capelle, van der Salden 2001; 2002. 2362 Rubel 2016. 2363 Capelle 1995b, 13; van der Sanden, Capelle 2001, 17 Fig. 11; Dietrich 2000. 2364 Steuer 2006g. 2365 Van der Sanden, Capelle 2001, 49 f. Fig. 52.
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gefunden 1981 und sind wohl in die späte vorrömische Eisenzeit zu datieren.2366 Zwei gegliederte profiliert gestaltete Planken stammen auch aus dem noch mehrfach zu nennenden Moor von Kragehul (vgl. S. 734).2367 Es gibt eine weitere nur 47 cm hohe Figur mit ausgearbeiteten Beinen, die darauf hinweisen, dass das Bild irgendwo aufgesteckt war. Die Figuren waren vielleicht sogar bemalt gewesen. Dass durchaus Farben auf Holz vorkommen, bezeugen beispielsweise die Schilde aus dem Moor von Nydam.2368 Die nachfolgend aufgeführten Wagenräder und Achsen sind nun nicht beiderseits von Moorwegen gefunden worden, sondern unabhängig davon in Mooren bzw. verlandeten Seen. Im Moor von Rappendam auf Seeland, Dänemark, wurden 1941 ganze Haufen von Holzteilen entdeckt, vor allem Wagenräder, weitere Wagenteile, aber auch Pflugscharen sowie Menschenskelette und auch Tierknochen von Pferden und Schafen.2369 Die Reste von Wagen bestehen aus 40 Scheibenrädern, 18 Naben und einigen Achsen. Es waren verschiedene Niederlegungen, die sich auf die Zeit um Chr. Geb. bis ins 3. Jahrhundert n. Chr. verteilen. Auch anderswo, so im Moor von Alt-Bennebek im Kreis Schleswig wurden sieben Wagenräder entdeckt, die mit der RadiocarbonMethode teils noch in die Jahrhunderte n. Chr. datiert werden konnten. Die sechs Räder im dänischen Blegholm Moor auf der Insel Langeland gehören in die vorrömische Eisenzeit. Teils handelt es sich um veraltete oder um überhaupt nicht benutzte Räder. Das alles weist darauf hin, dass hinter der Niederlegung von Wagenrädern ein ganz bestimmter Opferbrauch und eine auf das Fahrzeug bzw. das Fahren bezogene Vorstellung gestanden haben. So gehören vielleicht die beiden im Moor von Dejbjerg, Westjütland, versenkten und schon 1881 und 1883 entdeckten Prachtwagen in eine vergleichbare Vorstellungswelt. Diese vierrädrigen Wagen, beschlagen mit kostbaren und aufwendigen Bronzeornamenten einschließlich von Gesichtsmasken, sind in 6 m Abstand getrennt voneinander irgendwann während der späten vorrömischen Eisenzeit „geopfert“ worden. Auch hier wurden außerdem zwei Wagenachsen gefunden. Welche Vorstellungen tatsächlich hinter der Opferung von Wagen und Wagenteilen gestanden hat, bleibt ungeklärt und erlaubt nur Spekulationen. Die Fixierung auf die antike Überlieferung hob regelmäßig den sogenannten Nerthus-Kult als Deutung in den Vordergrund. Nur Tacitus (Germania c. 40) berichtet über die Nerthus, dass diese Göttin von einigen Stämmen an der südwestlichen Ostsee verehrt würde. In einem heiligen Hain stände ein geweihter und verhüllter Wagen, und wenn die Göttin anwesend sei, wurde der Wagen von Kühen gezogen umhergefahren; es herrschte dann Frieden, alle Waffen wären verschlossen, und am Schluss der Umfahrt würden der Wagen und die Göttin in einem versteckten See von Sklaven gewaschen, die dann in diesem See verschluckt würden. Die archäologische Forschung hat nun Wagen und 2366 Van der Sanden, Capelle 2001, 38 Fig. 36; 2002. 2367 Van der Sanden, Capelle, 2001, 45 f. Fig. 45 und 46; 2002. 2368 E. Jørgensen, Vang Pedersen 2003, 268 Abb. 10. 2369 Kunwald 2003, 135 § 7 Verwandte Funde.
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verschiedenartige hölzerne Bildnisse von Gottheiten gefunden und dokumentiert, außerdem seien auch anderweitig mehrfach kultische Umfahrten überliefert. Erinnert sei daran, dass der mythische König der Merowingerdynastie Merowech in einem Ochsenkarren sein Land durchfahren habe, von Pfalz zu Pfalz und auch zum Märzfeld. Doch sollte man zurückhaltend sein, die archäologischen Befunde direkt mit den bruchstückhaften, oft anekdotisch anmutenden Schilderungen antiker Schriftsteller gleichzusetzen, die nach dem Hörensagen verstümmelt sicherlich allerlei über kultisch-religiöse Bräuche in Germanien erfahren hatten. In Rappendam ist vor wenigen Jahren zudem die Moorleiche einer Frau gefunden worden, so wie jüngst viele Menschenknochen in den Mooren von Illerup entdeckt worden sind. Damit ist das Problem der Interpretation der Moorleichen weiter zu diskutieren.2370 Die vielfältigen Befunde im Oberdorlaer Rieth in Thüringen nahe der Stadt Mühlhausen, spiegeln eine andere Auffassung von Opferplatz und Opferhandlungen.2371 Die Kultstätte wurde 1951 entdeckt und von 1957 bis 1967 von Günter BehmBlancke ausgegraben. Während der frühen Eisenzeit ein Moor und erst später ein See, wurden hier über Jahrhunderte, fast tausend Jahre lang, von 500 v. Chr. bis 500 n. Chr., seit der Hallstattzeit im 6. Jahrhundert v. Chr. und bis in die Ottonenzeit (10./11. Jahrhundert),2372 fortlaufend kultische Handlungen vorgenommen, auch in den ersten Jahrhunderten n. Chr., und zwar jeweils an mehreren, an bis zu 80 einzelnen Plätzen. Aufgestellt waren weibliche oder männliche Idole. Kultpfähle und Schiffssetzungen, Symbole der Jagd und des Krieges versammeln hier derartig vielfältige Gebräuche, das mehrfach versucht wurde, diese mit den von antiken Schriftstellern, beispielsweise von Tacitus, überlieferten Nachrichten zur Götterwelt und den „heiligen Hainen“ zu verbinden. Im Moor von Oberdorla ist die Vorstellung von Heiligtümern in Germanien umgesetzt worden in Rekonstruktionen; Areale werden mit Flechtwerkzäunen eingehegt, Astgabel-Idole werden darin aufgestellt.2373 Ein Bild ist immerhin 1,38 m hoch, stammt aus der römischen Eisenzeit, und mehrere Holzidole von 1,05 m, 1,28 m bis 1,50 m Höhe kommen hinzu. Die sogenannte Jagdgottheit, der römischen „Diana“ entsprechend, von Oberdorla ist nur 32,5 cm groß und wurde im Kontext mit einem Rotwildgeweih gefunden, es ist ein Stabidol mit Kopf und Brüsten. Im gesamten Opferplatz sind keinerlei Waffen, dafür aber Tier- und Menschenopfer dargebracht worden, höchstens 40 Individuen aus einer weiten Spanne von fast tausend Jahren Opferhandlungen. Die Tieropfer waren Hunde, Rinder, Schafe/Ziegen, Schweine und Pferde sowie Hirsche. Bei der Suche nach Spuren der germanischen Religion im mitteldeutschen Raum in der Spätantike stößt Christoph G. Schmidt auf 2370 Gebühr 2002; Randsborg 2015. 2371 Chr. G. Schmidt 2004, 14 Abb. (Farbe); Plan des Moores. 2372 Schierl 2019. 2373 Dušek 2002; Behm-Blancke 2003; Chr. G. Schmidt 2004; Pesch 2013a; Capelle 1995b, 31; van der Sanden, Capelle 2001, 19 Fig. 14.
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12 Religion: Bestattungsbräuche, Heilige Haine und Opferplätze
den Opferplatz von Oberdorla und bildet eine Rekonstruktion des Heiligtums ab, das durch Flechtwerkzäune begrenzt ist, außerdem auch hölzerne Götterfiguren.2374 In Oberdorla wurden außerdem gewaltsam zerstörte Figuren aus Holz entdeckt, eine weibliche Figur mit stilisierten Brüsten. Welcher Eingriff in religiöse Bräuche hier stattgefunden hat, wird unbekannt bleiben.2375 Im Ausstellungskatalog „Germanen in der Lausitz“ wird in einem Beitrag weiteres zu Oberdorla geboten, und zwar zahlreiche bearbeitete hölzerne Stäbe und Gerätschaften, darunter neben den Pfahlidolen auch Holzschalen.2376 Bei Possendorf nahe Weimar wurden 1859 im Moor, einem Kesselmoor oder eine Teichmulde, allerlei Sachen gefunden, ein Metallkessel, mehrere Tongefäße und eine Gestalt aus Eichenholz, etwa 85 bis 90 cm hoch, ein Pfahlidol aus Eiche mit einem Kopf samt Frisur und angesetzten, hochgereckten Armen aus Eschenholz, wobei es sich dabei um eine nicht mehr zu überprüfende Rekonstruktion handelt. Datiert etwa ins letzte Jahrhundert v. Chr. sieht man in dieser Figur keltische Einflüsse.2377 Im Jahr 1880 wurde im Moor von Broddenberg eine Eichenholzfigur gefunden mit einem ausgeprägten Männerkopf, 88 cm hoch, aus einer dreifachen Astgabel. Ein Teil der Gabel ist ein riesiger Phallus. Sie stand neben einem künstlich angelegten Steinhaufen, bei dem Tongefäße abgestellt waren.2378 Die Grimstad-Figur, 1,16 m hoch, mit gestalteter Haarfrisur, wiederum wie bei der Frau aus dem Aukamper Moor ein Dutt, gehört zu einigen wenigen Bilder aus dem – südlichen – Norwegen.2379 Bei Roos Carr in Holderness, England wurden 1836 einst acht Statuetten aus Holz gefunden, von denen jetzt noch fünf 40 cm hohe Figuren erhalten sind, die in ein leicht gebogenes 50 cm langen Holz in Schiffsform eingesetzt waren. Die birnenförmigen Köpfe haben als Augen eingelegte Quarzstücke; es sind Männer, wie man am einst eingesetzten Phallus erkennen kann. Zwei der Männer waren bewaffnet mit einem Schild.2380 In den jütländischen Mooren mit Heeresausrüstungsopfern sind ebenfalls hölzerne Bildnisse überliefert, so drei bis zu 40 cm hohe übermenschlich große Köpfe mit ausgeprägten Gesichtern aus Nydam, datiert in die 1. Hälfte des 4. Jahrhunderts, gefunden 1993 und 1997. Sie gehörten wahrscheinlich als Aufsätze zur Bordwand des Nydamschiffs aus Eiche, weil sie im unteren körperartigen Bereich gekerbt sind (vgl. S. 718).2381 Im Uferbereich des Moors von Ejsbøl sind zwei Holzidole, 78 cm und 2374 Chr. G. Schmidt 2004, 13 ff., 14 Abb. in Farbe, 19 Abb. vier Rekonstruktionen von Heiligtümern; 2014b, 50 Abb. 3 (Rekonstruktion), 51 Abb. 4 (Götterfiguren). 2375 Chr. G. Schmidt 2014b, 54 Abb. (zerstörte und rekonstruierte Figur). 2376 Koch-Heinrichs (Hrsg.) 2014, 289 ff. Kat.Nr. 41 (mehrere Farbfotos der Holzteile) (U.L. Uta Lische). 2377 Van der Sanden, Capelle 2001, 33 Fig. 32: Peschel 2003. 2378 Capelle 1995b, 23; van der Sanden, Capelle 2001, 18 Fig. 13. 2379 Van der Sanden, Capelle 2001, 21 f. und Fig. 16; Capelle 2007, 241 Abb. 1 Holzidol. 2380 Capelle 1995b, 19 ff.; van der Sanden, Capelle 2001, 32 f. mit Fig. 31. 2381 Rieck 2003b, 307 Abb. 18; Müller-Wille 1999, 53 Abb. 56 a und b.
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116 cm hoch, aus rundlichen Eichenstämmen erhalten. Auch von einer 4 m hohen Figur kann man lesen.2382 Aus dem Moor von Rude Eskilstrup auf Seeland, Dänemark, etwa 75 m vom Ufer entfernt, stammt eine aufrechte, 42 cm hohe vollplastische männliche bekleidete Figur in sitzender Haltung, wie einst auf einem Thron.2383 Ein ausgearbeiteter Kopf mit Bart trägt einen dreifachen Halskragen, wie sie als goldene Objekte (vgl. S. 1225) in Schweden auch real überliefert sind und ins späte 5. Jahrhundert bzw. frühe 6. Jahrhundert datiert werden. Ein Schatzfund von Weißenburg in Bayern, gefunden 1979, aus der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts, enthielt 114 Objekte, zahlreiche Götter-Statuetten, Bronzegefäße, Geräte und Werkzeug sowie auch elf silberne Votivbleche, die aus einem römischen Tempel stammen. Die Silbervotive zeigen römische Gottheiten wie Apollo, Minerva, Merkur und Mars, die Mondgöttin Luna und einen Herkules, außerdem Bleche mit der Siegesgöttin Viktoria und der Glücksgöttin Fortuna. Gedeutet wird der Komplex als germanisches Plünderungsdepot, das aus Hausinventaren, mehreren Hausheiligtümern, einem Tempelschatz und aus dem Weißenburger Lager zusammengeraubt war. Die 17 einzigartigen Götterfiguren aus Bronze, teils vergoldet, sind ungefähr 15 bis 30 cm hoch, und stehen zumeist auf einem Sockel.2384 Der Schatz wurde wohl bei Alemanneneinfällen Mitte des 3. Jahrhunderts verborgen.2385 Diese Statuetten bieten eine Vorstellung davon, wie derartige Figuren auch nach Germanien gelangt sein werden, ehe sie dort weiter verteilt wurden, als Rohmaterial eingeschmolzen oder umgedeutet wurden zu den eigenen Gottheiten. Es kommen erstaunlich viele römische Bronzefiguren,2386 die römische Gottheiten darstellen, in Germanien vor. Diese importierten römischen Götterfiguren haben ganz Mitteleuropa und auch das Ostseegebiet erreicht. Ähnlich wie die genannten Votivbleche aus Silber von Weißenburg gehören solche Bleche auch zum Plünderungskomplex aus dem Rhein von Hagenbach, Kr. Germersheim. Dort sind es 129 Bleche aus dem südlichen Aquitanien. Im Grenzgebiet noch innerhalb der römischen Provinzen sind viele Götterstatuetten in Horten vergraben worden, teils werden diese ebenfalls als Alamannenbeute gedeutet.2387 Im Komplex von Saarlouis-Fraulautern lagen drei Statuetten der frühen Kaiserzeit, die wohl aus einem Hausheiligtum mit dem jugendlichen Jupiter und der Minerva stammen. Im Umkreis von 50 km2 sind mindestens sechs weitere Hortfunde mit Statuetten bekannt. Im Vicus von Schwarzenacker lagen im Säulenkeller sechs
2382 Van der Sanden, Capelle 2001,13 Fig. 5 und 20 Fig. 17. 2383 Nydam, Thrane 2003, mit Taf. 12; Capelle 1995a; 1995b, 46; van der Sanden, Capelle 2001, 43 Fig. 42, 53 Fig. 56. 2384 Künz1 1996; Kellner, Zahlhaas u. a. 1993; Steidl 2019. 2385 Kellner, Zahlhaas u. a. 1993; E. Künzl 1996; Stephan 2017. 2386 Nuber 1988: Es gibt rund 100 Statuetten in Baden-Württemberg, hier auf römischem Boden; Stupperich 1991: Frühkaiserzeitliche figürliche Bronzen im nordwestlichen Germanien; zur Umdeutung auch Hüser 2020, 65. 2387 Miron (†), Kaufmann-Heiligmann 2018, 94 ff.
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Statuetten, im Metallhort von Detzem (Kr. Trier) fanden sich Möbelbeschläge, Gefäßfragmente, Pferdegeschirrteile und eisernes Werkzeug sowie mehrere Statuetten, auch eine Schnellwaage des 4. Jahrhundert. Aber nicht nur als versteckte Beute von Alamannen und anderen Plünderern sind diese Horte zu deuten, sondern auch allgemein können römische Bronzegießer solche Verwahrkomplexe vergraben haben. Die Fundzahlen der Götterstatuetten in Germanien wachsen ständig. Im Nordseeküstenbereich sind sieben Statuetten angeführt.2388 Eine Figur davon scheint sogar eine germanische Nachbildung zu sein, datiert ins 3. Jahrhundert.2389 Eine weitere Nachbildung ist schon seit über einem Jahrhundert bekannt und ist erst jetzt 2018 ausgewertet worden; sie stammt von Wallendorf bei Schkopau, Saalekreis.2390 Diese „rätselhafte Figurine“, die sitzende nackte Figur mit waagerecht ausgebreitenden Armen wiegt 114,5 g und ist 7,1 mm hoch, ist unproportioniert mit einem zu großen Kopf. Sie besteht aus Bronze und Blei, im hohlen Inneren gibt es Eisen, und sie war irgendwie aufgesteckt. Ulla Lund Hansen hat 1987 die Statuetten in Skandinavien aufgezählt, sechs aus Jütland, elf aus Fünen-Langeland, drei von Seeland, eine von Lolland, eine aus Schonen, eine aus Uppland, drei von Gotland und sechs von Öland (insgesamt also 32 Statuetten).2391 Aus demselben Raum gibt es ebenfalls einheimische Nachbildungen aus Bronze und Ton.2392 Von Öland sind solche einheimischen Nachahmungen erhalten.2393 Neu vorgestellt werden 2018 zehn römische Bronzestatuetten auf Fünen und Lolland,2394 mit Blick auf die anderen Statuetten in Dänemark, so dass heute 20 Figuren bekannt sind. Sie werden in Südostjütland in die Zeit von etwa 100 bis 300 n. Chr. datiert. Bei der Statuette von Torslundminde bei Voldtofte auf Fünen, 9,9 cm hoch und ohne Arme, wird überlegt, ob eine eigene örtliche Herstellung angenommen werden könnte. Als Hausaltarfiguren werden Merkur, Mars, Jupiter und Apollon (in Odense gefunden) wohl in lokale Götter umgedeutet. Nicht immer wurden die römischen Götterstatuetten, im fernen Germanien gefunden, gleich als echte archäologische Objekte akzeptiert. Zu ungewöhnlich erscheint eine solche fremde Figur im neuen Kontext. Eine Amorfigur,2395 wie sie aus römischen Siedlungen vielfach überliefert ist, wurde in Südostpolen, in Huczwice,
2388 Gehrig 1995 mit Taf. und Kat. Nt. 8, 10–15 und 17; vgl. auch Hüser 2020. 2389 Gehrig 1995, 320 f. Kat. Nr. 8.16 mit Taf.; Biborski 2017, 406 Datierung der Statuetten oft unklar, vielleicht meist 2./3. Jahrhundert, Hinweis auf Eggers 1951, Karte der Statuetten der Phasen B und C, also 1. bis 4. Jahrhundert. 2390 Muhl, Wunderlich 2018, 49 ff. mit Abb. 1 bis 4, 53 Abb. 7 Germanische Bronzestatuetten aus Dänemark. 2391 Lund Hansen 1987, 228; Sieg und Triumpf 2003, 390 Kat. Nr. 4.2a (im Bild acht Statuetten). 2392 Thrane 1975; 2005; Sieg und Triumpf 2003, 390 Kat. Nr. 4.2b (im Bild sechs germanischen Statuetten). 2393 Ölandsguld 2001, 6–7, Fig. 6–9. 2394 Henriksen, Pentz 2018, 29 Karte, 31 Zahl der Statuetten; dazu auch Michaelsen 1994 (Statuette aus Gudme). 2395 Hiller 2002.
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Distrikt Lesko, westliche Karpaten, gefunden, anfangs als moderne Nachahmung gewertet ist sie über die Parallelisierung mit den vielen anderen römischen Götterstatuetten in Germanien inzwischen als echt akzeptiert worden.2396 Schon 1951 hatte Hans Jürgen Eggers eine Kartierung zur Verbreitung dieser Bronzestatuetten erstellt,2397 die nun M. Biborski wieder mit Ergänzungen vorlegt. Im 2. und 3. Jahrhundert dominieren Merkur, Mars und Jupiter, ein Amor ist selten. Bei einer Metallstatuette aus Ostpreußen, wurde also gefragt, ob es sich tatsächlich um ein römisches Objekt handelt.2398 Und römische Götterstatuetten wurden in Germanien kopiert und auch in Keramik nachgeformt. Ein Tonfigürchen aus Frienstedt zeigt Einstiche, ist hohl und konnte wie eine Rassel verwendet werden. Es sieht aber so aus, dass diese Tonfigur schon so aus dem Römischen Reich importiert worden ist, wo sie zu einem Beschwörungszauber gehört hat; denn es gibt solche Figürchen aus römischen Militärstandorten. In Frienstedt lag das Figürchen in einer 2,6 m tiefen Grube, war tabuisiert wie eine Voodoo-Puppe begraben worden. Germanen haben anscheinend solche Puppen in den Provinzen erworben; ein weiteres Stück stammt aus Beutow bei Lüchow-Dannenberg, andere Fragmente wurden in Hodorf (Schleswig-Holstein), Dortheasminde und Holvris (beide Jütland) und Blučina in Mähren gefunden.2399 Die anthropomorphen Kultfiguren römischer Provenienz von Frienstedt und andernorts wurden deshalb mehrfach betrachtet, weil es um die Herkunft aus den römischen Provinzen oder um Herstellung in Germanien geht.2400 Wie ist zu lesen: Tacitus notierte, Merkur, der römische Gott der Händler und Diebe, sei der beliebteste göttliche Schutzherr bei den Germanen.2401 Boviden- oder Stierfigürchen, aber auch Pferdefiguren, haben anscheinend auch eine Rolle im Kult gespielt.2402 Sie kommen in Norddeutschland, zwischen Elbe und Oder sowie auf Fünen in größerer Zahl vor, in Gudme, und auf Öland.2403 Sie werden zumeist in die jüngere Römische Kaiserzeit datiert und gehören in die Zeit vor dem Erscheinen der Goldbrakteaten. Die Figürchen sind zwischen 5 und 10 cm lang, und dem entsprechend ist auch die Höhe. Sie sind anscheinend geopfert worden, in Siedlungen und Mooren, und waren nur manchmal auch Grabbeigabe. Einzelne Figürchen sind als Amulette getragen worden, andere hatten einen Platz am Herd, ehe sie geopfert wurden. Die rituelle Bedeutung des Stieres als göttliches Symboltier ist
2396 Biborski 2017, 404 Fig. 4 . 2397 Eggers 1951, Karte 63. 2398 Nowakowski 2013a. 2399 Nüsse 2011a, 134 f. Abb. 1 und 2, 135; v. Carnap-Bornheim 2016, 849 Abb. 3. 2400 Sukalla 2005. 2401 Ludowci 2019, 42. 2402 Thrane 1989, 390 Fig. 14 Stierfiguren auf Fünen; 393 Fig. 15 Stierfiguren allgemein; Hultgård 2005, 633. 2403 Ölands guld 2001, 4–6 Bovidenstatuetten.
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vielleicht mit dem Kriegs- und Himmelsgott Tyr zu verbinden, indirekt mit Mars als interpretatio romana.2404 Bisher wurden von mir nur die äußeren Erscheinungen als Ergebnisse ehemaliger kultischer Handlungen beschrieben. Welche Götter aber in Germanien verehrt wurden und wie sich das Spektrum der Gottheiten im Laufe der Jahrhunderte geändert haben mag, ist archäologisch nur sporadisch über Fakten zu erläutern. Die schriftliche Überlieferung der antiken Autoren beschreibt die Parallelisierung der römischen Gottheiten mit den – von den Römern so verstandenen – Göttern in Germanien, die interpretatio germanica. Die allgemeine Literatur, auch der Wissenschaft, vermengt laufend verschiedene zeitliche Ebenen miteinander. Da sind die römerzeitlichen Götter der ersten drei/vier Jahrhunderte, es folgen die in der frühen „germanischen“ Überlieferung genannten Götter bis zum 8./9. Jahrhundert mit entsprechenden Rückblicken, und schließlich steht die altnordische Literatur mit der Edda und den isländischen Sagas zur Verfügung. Es gibt die Versuche, Kontinuitäten von der Zeit der frühen Germanen um Chr. Geb. bis zum Mittelalter nachzuweisen. Dabei verdrängt der Wunsch nach dieser Kontinuität leicht jedes Gegenargument (vgl. oben S. 531). Im archäologischen Quellenbestand findet man aus den frühen Jahrhunderten keine Namen von Gottheiten. Seit wann gibt es die Götter Odin bzw. Wodan, Thor oder Freyja? Es gibt die theophoren Ortsnamen im Ostseebereich: Odense, Tissø, Thorsberg, Vimose, Gudme und in Deutschland Donnersberg (Donar) oder Godesberg. Aber aus welcher Zeit stammen sie? Es gibt die Wochentagsnamen wie Dienstag (Tiu), Wednesday (Wodan), Freitag (Freyja/Frigg) (vgl. S. 608). Doch wann wurden die römischen Wochentagsnamen in Germanien durch germanische Benennungen ersetzt, wurde oben schon gefragt? Allgemein geht man bei den Wochentagen vom 3./4. Jahrhundert aus, auch wenn es dafür keine überzeugende Quelle gibt.2405 Herwig Wolfram meint, die Übernahme der griechischen Namen für die Wochentage durch die Goten zeigt, dass diese keinen Wodan kannten (vgl. oben S. 608). Unter den Runeninschriften aus den jütländischen Mooren gibt es einige Namen, die auch später als Beinamen Odins überliefert sind. Wodan wird mit dem römischen Gott Merkur gleichgesetzt, Donar mit Herkules, Thor und Thyr bzw. Tiu mit Mars.2406 So denkt man auch, dass Bronzefiguren römischer Gottheiten bei den Bewohnern Germaniens entsprechend nur umgedeutet wurden. Zu beachten ist die Überlegung von A. Rubel auf die Rolle von weiblichen Gottheiten neben den Kriegsgöttern Odin und Thor in der Götterwelt Germaniens, mit dem Hinweis auf die im Rheinland überlieferten Matronengottheiten
2404 Hultgård 2005, 634. 2405 Hermodsson 1969/70; Wolfram 2005, 103 f.; Rubel 2016, 48. 2406 Rubel 2016, 42–46.
12.4 Götterbildnisse und römische Statuetten
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oder die Nehallenia (vgl. S. 650), was eine unstatthafte Verengung sei, wenn nur auf die spätere nordische Götterwelt geschaut würde.2407 Alexandra Pesch hat sich mit den archäologischen Zugängen zu den kriegerischen Göttern Germaniens befasst. Sie weist ebenfalls auf unsere Wochentage hin, die auf frühe Jahrhunderte zurückgehen würden, wechselt zu archäologischen Funden wie den Holzgöttern vom Kultplatz Oberdorla, darunter auch die beschriebene rekonstruierte Frauenfigur des späten 3. Jahrhunderts, die als eine germanische Diana gedeutet wird wegen der Beifunde an Tieropfern, schließt aber auch einen Bezug zur bei Tacitus geschilderten Göttin Nerthus nicht aus.2408 Eine der beiden römischen Ordensscheiben von Thorsberg aus der Zeit um 200, ergänzt durch germanische Goldschmiede mit heimischen Applikationen (vgl. S. 481), zeigt aber viermal den römischen Kriegsgott Mars, eine Umdeutung für Germanien, da sie aus einem Heeresausrüstungsopfer stammend den Zusammenhang nahelegt. A. Pesch greift in ihrem Beitrag zum Katalogband über das „Schlachtfeld“ von Harzhorn des frühen 3. Jahrhunderts auch zu jüngeren Bildnissen, hier auf die Helmbleche aus einem Bootgrab von Vendel in Mittelschweden aus dem 7. Jahrhundert mit dem Reiter, der einen Eberhelm trägt, um auf den Eber als göttliches Bildnis hinzuweisen, das mit Kampf und Krieg zu verbinden ist.2409 Religiöse Mentalitäten verbinden Götter und Goldschmiede in Germanien, wie es die Goldbrakteaten bezeugen (vgl. unten S. 1206).2410 Alexander Rubel hat zudem mit Rückgriff auf die in Steinmonumenten überlieferten Inschriften mit Götternamen im Rheinland eine größere Reihe lokaler Gottheiten der indigenen germanischen Bevölkerung zusammengestellt.2411 Wenn ich hier darauf eingehe, finde ich damit einen Kompromiss zwischen der Archäologie, von der ausgegangen werden soll, und den in Stein schriftlich überlieferten Namen. Im Rheinland, in der Kontaktzone vom Römischen Reich mit Germanien und umgekehrt, mit einer Vorbevölkerung aus Kelten und Germanen gibt es im germanischen oder keltischen Sprachbestand kombinierte Namen, z. B. Hercules Magusanus, Mercurius Cimbrianus, Hercules Saxanus. Inschriften für Hercules Magusanus sind in Xanten, Köln und Bonn erhalten, es ist der Stammesgott der Bataver mit eigenen Heiligtümern wie dem Tempel von Empel.2412 Zur Zeit der andauernden Auseinandersetzungen mit den Römern entstand in Germanien die Kriegergesellschaft, so J. F. Drinkwater, und deshalb wurden auch die kriegerischen Götter, wie der keulenschwingende Hercules oder der todbringenden Kriegsgott Mars besonders verehrt.2413
2407 Rubel 2016, 97–115 und in der Rez. Oehrl 2018 (2019) 371. 2408 Pesch 2013a, 182, 184 f. mit Abb. 1 und 2, 186 f. mit Abb. 3 und 5. 2409 Beck 1965. 2410 Pesch 2012a. 2411 Rubel 2016, 90 ff. 2412 Rubel 2016, 93 nach Roymans 2004; 2009; Roymans, Derks (Red.) 1994. 2413 Drinkwater 2007; Werner 1964; Rubel 2016, 95.
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S. Oehrl erinnert bei der Nennung von Mars Thingsus und seiner Verbindung mit Wasservögeln an die Zierscheiben aus dem Thorsberger Moor (vgl. S. 481), germanische Herstellung mit Beziehung zu Mars.2414 Römischen Gottheiten begegneten die Krieger in Germanien auch auf den importierten Schwertklingen, in die das Bild des Mars Ultor oder ein Adler eingelegt sind.2415 Derartige Waffen kommen von Norwegen bis zum Schwarzen Meer vor, vor allem östlich der Oder bis zur Weichsel. Es gibt Beziehungen zu den jütlandischen Mooropferplätzen und zur Przeworsk-Kultur mit den Waffengräbern des 2. und 3. Jahrhunderts. Eine frühe Wodan-Odin-Darstellung will man an der Huntemündung in Elsfleth-Hogenkamp entdeckt haben, über ein Gesicht auf einem Schnallendorn, das zwei verschiedene Augen zeigt, im Jahr 2000 gefunden und datiert in den Beginn des 6. Jahrhunderts.2416 Damit kommt man in die Zeit der Fibel von Nordendorf in Bayr. Schwaben mit einer Runeninschrift, die Wodan nennt (vgl. S. 609). Die Jupitersäulen in römischen Siedlungen der nordwestlichen Provinzen sind mehrheitlich zerstört, teils in Brunnenschächte versenkt worden, oft mit abgeschlagenen Köpfen.2417 Der römische Gott ist also tief gefallen; wer aber hat die Denkmäler zerstört? Waren es Germanen, wie man lange angenommen hat, die als Akt des Terrors zur Einschüchterung der Bevölkerung bei ihren Einfällen im 3. Jahrhundert die Götterbilder zerstört hätten. Das aber scheint die Germanen gar nicht interessiert zu haben. Auch dass es römische Christen waren, schließt man inzwischen aus.2418 Vielleicht hat das Versenken in Brunnen zusätzlich ein bestimmtes Ziel gehabt, weil einmal auch ein Rothirschgeweih dabei lag: Wurden die Brunnen zu Opferschächten mit Annäherung an die Unterwelt? Die alte These, dass es Germanen waren, die Juppiter stürzten, lebt aber noch 2018 weiter.2419 Germanen zerschlugen Weihedenkmäler des Juppiter Optimus Maximus, diese sogenannten Gigantensäulen, und warfen die Reste in Brunnen. Es waren „grausame Überfälle“, so nimmt G. Moosbauer schlicht Partei für die römische Bevölkerung. Dabei wird offensichtlich, dass römische „Bürgerkriege“ dabei eine Rolle gespielt haben. Also es waren nicht äußere Feinde Roms oder germanische Stämme, die die Gesichter der Götterreliefs bewusst zerstört haben, nicht frühe Christen, sondern es ging gegen das Symbol des Kaisers oder des römischen Staats und war ein Aufstand der einheimischen Bevölkerung.2420 Die Zerstörung von Kastellen wie Niederbieber um 290 n. Chr. im Zuge der Bürgerkriege führte zum Sturz und Tod des Postumus 269, sein Nachfolger Marius herrschte nur bis 270 und
2414 Oehrl 2018 (2019) 371 in der Rez. zu Rubel 2016. 2415 J.-P. Schmidt, Voss 2017, 217 Abb. 6 Karte. 2416 Mückenberger 2013, Abb. 5. 2417 Bauchhenss, Noelke 1981; Noelke 2005; 2006; 2011. 2418 Reis 2018, 28 (Zitat). 2419 Moosbauer 2018, 64 und 152. 2420 Aufgedeckt 2019, 61–68: Sturz der alten Götter? Die Jupitergigantensäule aus Obernburg am Main. Um 250.
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der Nächste Treticus bis 274 n. Chr. Danach wurden die Limeskastelle aufgegeben, so M. Reuter, und Mainz erhielt 253 n. Chr. eine Stadtmauer. Germanen nützten nur die Situation aus, als die römische militärische Organisation anderweitig beschäftigt war, und brachen zu Plünderungszügen auf.2421 Gesprochen wird vom Schmelztiegel der Religionen, vom Göttertausch bei Kelten, Römern und Germanen. Die Matronennamen am Rhein sind in der Wortbildung zum größten Teil keltisch, im Lautstand aber teilweise germanisiert.2422 Rund 160 Gottheiten, römische und einheimische, viele weibliche Gottheiten wie die Matronen werden genannt. Es gibt auch rund 700 Inschriften mit römischen und germanischen (oder auch gallischen) Namen; römisch-germanische Götter-Vorstellungen verbinden beide Kulturwelten, und 850 Weihungen sind bekannt.2423 In der zweiten Hälfte des 1. und zu Beginn des 2. Jahrhunderts erscheinen die frühesten Votivaltäre für Matronae im Gebiet der Colonia Claudia Ara Agrippinensium. Diese Altäre sind dann am zahlreichsten in Niedergermanien errichtet worden, wobei die Anregungen durch Soldaten übermittelt wurden, die aus dem Süden kamen, aus der Narbonensis und aus Oberitalien, so die Meinung von G. Bauchhenss, wohin 80 Matronen-Namen weisen würden. Im Heiligtum von Pesch sind Reste von 300 Altären dokumentiert worden.2424 Dem gegenüber meint S. Ortisi, dass die Entstehung einer Kultlandschaft, der Matronenkult, in Niedergermanien zu belegen sei. Die Göttinnentrias der Matronen sei verbunden mit den germanischen Ubiern, einem Teilstamm der Chatten, die hier in augusteischer Zeit angesiedelt worden waren. Der Kult sei autochthonen gallo-germanischen Ursprungs, die Beinamen seien geographisch gewählt worden oder durch Personengruppen von Stämmen, entweder bei kleinen Siedlungen oder aber bei einem zentralen Heiligtum wie dem der Aufanischen Matronen in Bonn, und zwar um die Mitte des 2. Jahrhunderts. Dedikanten kamen aus der provinzialen Oberschicht und aus dem Militär. Der Tempelbezirk in Nettersheim galt den Aufanischen Matronen, wo über einem älteren Brandopferplatz der Matronenaltar aufgestellt worden ist. Eine Karte der Matronenkulte von H. Derks 1998 im Gebiet der Ubier in Niedergermanien nach deren Umsiedlung zeigt den Beginn des Kultes. Die Matronensteine bringen Bildnisse der Damen in unrömischer, also einheimischer Kleidung mit den entsprechenden Accessoires aus Fibeln. Die matronae/matres/ matrae, eine Göttinnentriade, war Teil eines eisenzeitlichen und spätrömischen Kultes, der vom 2.bis 5. Jahrhundert in Niedergermanien herrschte. Von diesen Matronensteinen sind über 800 Inschriften publiziert. Die Matronen haben dann oftmals germanische Beinamen, wie Matronae Frisavae oder Matronae Suebae in Köln.2425 2421 Nuber 2005. 2422 Gschößl 2006; Scheungraber 2015, 250. 2423 Thomas 2014; Neumann 2001. 2424 Vorträge von G. Bauchhenss und S. Ortisi in Göttingen 2018. 2425 Rubel 2016, 99; Simek 2014; K. Frank, Archäologie in Deutschland 2014, Heft 5, 27 Matronae Suebi in Köln.
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Eine zweite zahlreiche Gruppe sind die Nehallenia-Steine mit über 20 Inschriftenaltären, insgesamt über 300 Altären und Statuen und weiteren 250 Inschriften.2426 Sogar die Anzahl der Inschriften im Vergleich zu allen anderen Gottheiten wurde festgestellt: Die Weihungen in Niedergermanien für Nehallenia betragen 15% und die für die Matronen sogar 50%, was also zwei Drittel aller Weihungen ausmacht. Zu den niederrheinischen Matronen gibt es jetzt neue Beiträge. Genannt werden die Matronen: Vacallinehae, Austriahenae oder Aufraniae.2427 Ausführlich geht H. Birkhan auf diese römischen Gottheiten mit germanischen Beinamen ein, deutet sie und zitiert von den Matronenweihesteinen die Matronae Amfratninehae (die Bewirkenden), die Matronae Alusneihiae (die Erlenmütter), die Matronae Alaferhviae (etwa Eichenmütter, Mütter der Kraft, der Welt, der Menschen) oder die Matronae Aufaniae (mit ungeklärtem germanischen Namen).2428 Ein Weihealtar der Iulia Candida ging an die Aufanischen Matronen.2429 Das Aufaniae-Heiligtum beim Lager in Bonn2430 wurde erst unter Antoninus Pius (138–161) erstellt, wodurch sich die zeitliche Einordnung des Aachener Weihesteins bin nach dem zweiten Drittel des 2. Jahrhunderts verschiebt. Bärenfelle, Bärenkrallen und Bärenzähne finden sich als Beigabe in Brand- und Körpergräbern von der vorrömischen Eisenzeit bis in die Völkerwanderungszeit in Mittel- und Nordeuropa, so S. Beermann.2431 Es gibt Bärenfelle als Unterlage oder Bedeckung der Toten, vor allem nach 200 n. Chr., beispielsweise auch in den Elitegräbern in Mušov in Mähren und in Varpelev auf Seeland. Die Beigabe in Gräbern war jedoch nicht nur eine Luxusausstattung, sondern Bären spielten eine zentrale Rolle im Kult Germaniens. Aus etwas späterer Zeit, der Epoche mit Goldblechfigürchen des 6./7. Jahrhunderts, bringt eines der vier Pressmodel von Torslunda auf Öland, gefunden 1870, zwei Bären, die einen Krieger flankieren,2432 ein anderes bringt einen als Wolf verkleideten Krieger, wie auch auf dem Pressblech von Gutenstein. E. Wamers hat diese Studien bis ins Mittelalter fortgeführt,2433 doch zuvor auch die Wolfs- und Bärenkrieger der Römischen Kaiserzeit betrachtet. So erscheinen Krieger mit Tierköpfen zu den Dakerkriegen auf der Trajanssäule. Weiterführend aber war schon seine Karte der Gräber mit Bärenfell-Beigabe in Gräbern von 1. Jahrhundert v. Chr. bis um 1000 (vgl. auch unten S. 901).2434 Aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. bis ins 1. Jahrhundert n. Chr. dominieren derartige Gräber an der Elbe; es gibt sie aber auch im Norden. Im
2426 Rubel 2016, 102–107. 2427 Vennemann 2018. 2428 Birkhan, Egeler 2018. 2429 Wiegels 2017 (2018) 117 Abb. 4–7 und 118. 2430 Bauchhenss 2007b, 270 ff. mit Abb. 2431 Beermann 2014; 2016. 2432 Hagberg, Nyman 2006. 2433 Wamers 2009 (2010), 5 Abb. 1. 2434 Wamers 2009 (2010), 9 Abb. 5 Karte.
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2. bis 5. Jahrhundert überwiegen die Funde in Skandinavien, vor allem in Norwegen und Mittelschweden sowie auf Gotland und auf den dänischen Inseln. Es sind nicht nur die Gebiete, in denen Bären sehr häufig lebten, sondern eigentlich kannte die Bevölkerung überall in Germanien diesen Brauch. Den Bärenkult gab es circumpolar fortdauernd bis in spätere Zeit. Der Aufsatz behandelt die Bärenkämpfer auf den Bilddenkmälern von Torslunda, Gutenstein, Obrigheim, Sutton Hoo und Eschwege, Bilder des 7. Jahrhunderts. Das Motiv des Kriegers zwischen zwei Bären kommt häufiger vor. Vielleicht spielt auch hier das römische Vorbild eine Rolle; denn in den römischen Arenen gab es Bärenkämpfe, die auch bildlich dargestellt worden sind. E. Wamers bildet eine Löwenkampfszene vom Diptychon des Aroebindus (506 n. Chr.) und den Bärenführer von einer der Torslunda-Patrizen ab, die in Haltung des Tieres und des bewaffneten Menschen höchst ähnlich sind. Diese Parallelität erinnert an römische Grabsteine im Vergleich mit der Scheibe von Pliezhausen, auf denen ein berittener Kämpfer einen besiegten Gegner überreitet (dazu aber weiter unten S. 1239 im Abschnitt Bilderkunst). Als Symbole für Götter werden kleine stabförmige Anhänger gedeutet, aus Knochen oder anderen Materialien, die als Herkuleskeule und DonarAmulett bekannt geworden sind.2435 Noch ein weiterer Opferbrauch ist jüngst beschrieben worden, und zwar die Vergrabung von menschlichen Schädeln in den Wurten an der Nordseeküste.2436 Bauopfer von Tieren, z. B. Hunden, oder auch von Kleinstkindern unter der Türschwelle von Häusern sind mehrfach beobachtet worden (vgl. S. 615). Dieser Brauch, Schädel zu vergraben, ist anscheinend für eine breite Zeitphase von 600 v. Chr. bis 300 n. Chr., also auch während der ersten Jahrhunderte vor und nach Chr. belegt. Schädel im oder unter dem Haus zu vergraben, ist im Sinne eines „Ahnenkultes“ bei viele Kulturen üblich gewesen. Als Beispiel hier werden die in der Wurt Englum nahe Groningen entdeckten acht Schädel genannt, dabei auch allerlei andere Menschenknochen, gefunden in einer Schicht aus Kuhmist, gedeutet als ein Ritual bei der Erweiterung und Erhöhung der Wurt als. Damit zusammen sollen Tierknochen Reste einen rituellen Mahlzeit sein, mit Trankopfern, belegt durch Gefäße mit durchlochten Böden. Die Abdeckung der Schädel und Reste der Mahlzeit wurden dann verbrannt, wodurch die Toten zu Ahnen geworden seien, die den Schutz der Wurt sicherten. Die Menge der Speisereste belegen eine große beteiligte Gruppe. Das ist alles sicherlich nur eine These und ein Hinweis auf einen speziellen mehrphasigen Bestattungsbrauch. Der Befund ist nicht einzigartig, denn ähnliche Reste von Ritualen sind schon in den 1920er und 1930er Jahren von Grabungen in der nahebei gelegenen Wurt Ezinge dokumentiert (vgl. S. 197). Dieses breite Spektrum erlaubt eine ganz andere Beschreibung der religiöskultischen Organisation in Germanien als die spärlichen, einseitigen und einlinigen
2435 Werner 1964. 2436 Nieuwhof 2018 (2019) mit Rez. von F. Mohrwinkel.
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Hinweise in der antiken Literatur. Die religiöse Vielfalt im Bereich der germanischen Götterwelt können wir nur mit Namen und Zahlen in der germanisch-römischen Kontaktzone erkennen und müssen ein ähnlich breites Spektrum auch für ganz Germanien vermuten, worunter viele weibliche Gottheiten gewesen sein werden, wie wir sie auch aus den viel späteren skandinavischen Quellen kennen, aber auch aus der antiken Literatur. Auf die Versuche, Asgard, das Götterreich der Edda in die älteren Zeiten zurück zu projizieren, habe ich schon hingewiesen; Anders Andrén hat das in seinem weitgespannten Buch „Tracing Old Norce Cosmology“ von 2014 versucht, das von der Bronzezeit bis in die Wikingerzeit führt,2437 und Lotte Hedeager hat bei der Erklärung der Befunde von Gudme auf Fünen an Asgard gedacht.2438 Es geht auch immer wieder um die Entstehung der Odinsreligion, für die als Vorbild der römische Kaiserkult gedacht wird, weil Goldmedaillons der Zeit des Konstantins aus dem 4. Jahrhundert als Vorbild für eine Gruppe der Goldbrakteaten im 6. Jahrhundert gedient haben und damit eine Kontinuität ahnen lassen, vom Kaiserbild zum Bild des Gottes Odin.2439 Kann man akzeptieren, dass auf den Goldbrakteaten mit dem großen Kopf über einem Pferd und überhaupt mit Kopfdarstellungen Odin gemeint sein wird? Andere Brakteaten zeigen einen Mann, der von einem Mistelzweig getötet wird, was für Baldur überliefert ist. Haben wir da die Kontinuität zum Mittelalter? In der isländischen Literatur ist überliefert, dass nordische Könige zu Odins Ehre eine ihn darstellende goldene Statue hätten anfertigen lassen, die Frigga wieder einschmelzen ließ, um Schmuck daraus zu machen. Nicht weiter verfolge ich die Diskussion um die Ablösung der alten Götter durch die Durchsetzung des Christentums und über den Prozess, wie dieser in Germanien und im Norden abgelaufen ist.2440 Odin wird archäologisch in Friesland aufgespürt,2441 und zwar als Einfluss aus Skandinavien über die Nordsee, aber doch erst während der Völkerwanderungszeit und der frühen Merowingerzeit, im späten 5. und 6. Jahrhundert. Es ist ein Kopf, die auf Fibeln mit rechteckiger Kopfplatte aufgebracht ist oder auf Schnallendornen. Dazu zählt auch die mit Almandin besetzte, 18 cm lange Fibel mit rechteckiger Kopfplatte von Wijnaldum. Außerdem gibt es einige Goldbrakteaten (vgl. dazu unten S. 1206) aus dem niederländischen Friesland. Der silbervergoldete Schnallendorn von Elsfleth-Hogenkamp trägt ein Gesicht, das als Odin gedeutet wird.
2437 Andrén 2014. 2438 Hedeager 2001; auch 2011. 2439 Böldl 2013, 88, 90, 149. 2440 Ruhmann, Brieske (Hrsg.) 2015. 2441 J.A.W. Nicolay 2017, 507 Fig. 6 Goldbrakteaten, 511 Fig. 7 Schnallendorn von Elsfleth-Hogenkamp.
12.5 Kultbauten
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12.5 Kultbauten Als Kultgebäude können einerseits die großen Hallen in den Siedlungen mit „Herrenhöfen“ betrachtet werden, da die festlichen Veranstaltungen oftmals auch einen kultischen Hintergrund hatten (oben S. 346).2442 Andererseits hat es spezielle Kultbauten, Tempel für ihre Götter, in Germanien jedoch auch gegeben; sie waren bisher nur nicht entdeckt oder nicht erkannt worden, obwohl Befunde und Grundrisse vorlagen. Es gibt jetzt einige bauliche Befunde, die ohne Zweifel eine Art Tempel waren, wie zum Beispiel der mit einer mittelalterlichen Stabkirche in Norwegen vergleichbare Vierpfostenbau von Uppåkra bei Lund in Schweden, der fast ein Jahrtausend immer an derselben Stelle erneuert worden ist.2443 Die ersten der zahlreichen Bauphasen gehören in die Jahre um oder kurz nach Chr. Geb. und die späten in die Wikingerzeit. In diesem Bau und um ihn herum sind unterschiedliche Opfergaben vergraben worden:2444 Es gibt an diesem Ort trotz der langen Tradition und Kontinuität durchaus wechselnde Phasen der Kultbräuche im Verlauf der Jahrhunderte; zeitweilig wurden Waffen niedergelegt und zu anderer, späterer Zeit die 115 Goldblechfigürchen; es gibt Stempelverbindungen von Uppåkra nach Bornholm und Lundeborg auf Fünen.2445 Auch weitere Goldobjekte wie Goldblechstreifen als Männerfiguren wurden hier gefunden. Der Silberbecher, mit Goldblechstreifen umkleidet, um 500 hergestellt, bringt auf diesen Bändern Details im Tierstil I, und wegen der aufgelegten Blechstreifen gibt es den Blick auf die älteren Silberbecher von Himlingøje.2446 Es gibt vergleichbare Kontinuitäten im Kultbau-Bereich in anderen Teilen der Erde: „Das höchste Heiligtum des shintoistischen Japan, in der Nähe von Kyoto errichtet, stammt in seiner heutigen Form aus dem 7. Jahrhundert. Genauer: Es ist seine Form, die fast 1300 Jahre alt ist. Denn alle 20 Jahre wird die Tempelanlage komplett in exakt gleicher Form und in streng festgelegten traditionellen Techniken neu errichtet, nebenan; danach wird der alte abgerissen, die hölzernen Teile der Gebäude werden verbrannt, die unbrennbaren vergraben“.2447 Unsere Kirchen werden auch in vielen Phasen, teilweise seit dem Beginn der Christianisierung, immer wieder an demselben Platz neu errichtet, aber meist größer und mit anderen Grundrissen. Das Bewahren traditioneller Strukturen wurde und wird dabei nicht angestrebt. Zurück nach Uppåkra (Abb. 54): Beim Kultbau standen ein Haus A (AD 310–535, C-14 cal. datiert), bei dem drei Goldbrakteaten gefunden worden sind, und die große
2442 Donat 2018. 2443 Hårdh 2010, 103 Fig. 3 (Kulthaus und Rekonstruktion als Stabkirche); allg. Larsson 2015a, 146 Fig. 2; 2008 (2009) zu rituellen Strukturen im südlichen Skandinavien. 2444 Hårdh 1999, 2006; Larsson 2004; 2008 (2009) Fig. 14 Kultbau; 2011a, b; 2013; 2015; Larsson, Hårdh 1998; Larsson, Lenntorp 2004. 2445 Watt 2004, 167, 211 Fig. 36 Patrize, 215 Fig. 38 Stempelverbindungen. 2446 Hårdh 2004a, 50–51 mit Fig. 1 a, b und 56 Fig. 9 (Himlingøje); 2004b. 2447 Groebner 2018, 165 Zitat.
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12 Religion: Bestattungsbräuche, Heilige Haine und Opferplätze
Abb. 54: Uppåkra: Zentrum mit Kultbau und mehrfach überbautem Langhaus westlich vom Zeremonialbau.
Halle mit über 45 m Länge (mit den Bauphasen B–D) (Halle B ca. AD 130–585 und AD 380–600, C-14 cal. datiert) mit mehreren Herdstellen.2448 Es gibt den Hinweis auf vergleichbare Stabbauten2449 in Møllebækvej auf Ostseeland aus dem 3. Jahrhundert, der 11,4 m lang ist, und auf einen ähnlichen Bau nördlich von Uppåkra, wo es einige Siedlungen mit Bauten dieser Art gibt, beispielsweise ein Gehöft C mit 9,3 m Länge und leicht konvexen Seiten. Somit ist der Kultbau von Uppåkra kein Sonderfall, sondern in Schweden bei Siedlungen üblich. Mit „Power by Fire“ werden die Veränderungen, Transformationen und Kontinuitäten an diesem Kultplatz beschrieben.2450 Neben dem Kulthaus D lag rechts davon ein mehrphasiges Langhaus E, Waffenniederlegungen nördlich bei G und F und südlich bei G, insgesamt mehr als 200 Speerspitzen. 2448 Larsson 2015a, 146 Fig. 2. 2449 Larsson 2008 (2009); 2015a, 147. 2450 Larsson 2011b, 178 Fig. 2 Lage der Ausgrabungsflächen um das Kulthaus mit den Waffenniederlegungen D und F, 179 Fig. 3 die drei übereinander errichteten Hallenbauten.
12.5 Kultbauten
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Weiter westlich sind noch die Reste eines Hauses A freigelegt worden; dann südwestlich vom Kulthaus ein mehrphasiges Haus in Resten bei B. Unter dem Titel „Sacred cows or old beasts?“ wird untersucht, ob die Tierknochen beim Kultbau Hinweise auf rituelle Opferungen erkennen lassen. Westlich neben dem Kulthaus stand das mehrphasige dreischiffige Langhaus (die Halle B bis D) als politisches Zentrum.2451 Eine weitere Hausspur A ist Nord-Süd ausgerichtet, aber in derselben Richtung wie das Kulthaus, so dass alle Bauten aufeinander bezogen waren. Die besonderen, rituell begründeten Funde rund um das Kulthaus bestehen aus der Massierung von Goldobjekten, zumeist Goldblechfigürchen, im „Tempel“ und eine zweite Häufung weiter im Westen, Menschenknochen unmittelbar westlich des Kultbaus und Lanzen- bzw. Speerspitzen in einer großen Verdichtung weiter im Norden.2452 Es gibt eine neue ergänzende Beschreibung zu den Befunden rund um den Kultbau. Im Plan sind die dichten Waffenniederlegungen (im Norden) und (im Süden) markiert. Ausgrabungen 2008 und 2009 sowie 2012 westlich vom Kulthaus haben das dreischiffige Hallenhaus der Zeit um 400 mit den drei Bauphasen B-D übereinander freigelegt, wovon ein kleiner Westteil schon1934 ergraben worden war, sowie andere Spuren von verbrannten Häusern.2453 Das Bruchstück eines goldenen Halsringes mit Stempelmuster wurde auf dem Boden eines Pfostenloches in diesem dreischiffigen Pfostenbau gefunden, ebenso ein goldener ringförmiger Anhänger und zwei Goldbrakteaten unmittelbar über den verbrannten Hallengrundrissen. Besonders auffällig sind ver- oder angebrannte Menschenreste, die mit dem Haus verbrannt worden zu sein scheinen.2454 Es sind Menschenknochen von mehreren Individuen (wohl drei), die zeitgleich mit den Waffenopfern nördlich des Kulthauses datiert werden, wo auch zwei verbrannte Menschen gefunden worden sind. In dem großen Haus sind also fünf Menschen mit verbrannt. Das bzw. die Hallenhäuser sind genauso ausgerichtet wie das Kulthaus, und wenn dieses im 3. Jahrhundert oder noch früher errichtet wurde, dann beeinflusste diese Ausrichtung auch die späteren Gebäude. Alles ist in einem kultischen Zusammenhang zu sehen. Das Kulthaus wurde oftmals in derselben Weise über 700 Jahre neu errichtet, während im Wohnbereich sich ein Brandereignis innerhalb von zwei Jahrhunderten dreimal ereignete. Nach L. Larsson spiegelt das eine instabile Gesellschaft bei stabilem Ritual und Zeremonial bei dem Kulthaus. Der Grund für die Brandereignisse war entweder ein Überfall, da hier ein lukratives Zentrum Beute versprach, und dass es kriegerische Ereignisse in jener Zeit gab, belegen die Waffenniederlegungen, datiert von der Römischen Kaiserzeit bis in die Völkerwanderungszeit. Es wird gefragt, warum bei Angriffen dann das Kulthaus unzerstört blieb, und warum erhielten die verbrannten Toten keine Gräber. Große zentrale Hallen zeigen auch andernorts Brandspuren, so in den Zentralorten von Dejbjerg, Dankirke und in Helgö. 2451 Hårdh 2017, 139 Fig. 2. 2452 Magnell 2011, 200 Fig. 15.3. Diese Kartierung ist mit weiteren zu vergleichen. 2453 Larsson 2015a, 146 Fig. 2. 2454 Larsson 2011b, 180 ff.; auch 2009; dazu ebenfalls Sv. Fischer 2005.
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12 Religion: Bestattungsbräuche, Heilige Haine und Opferplätze
Oder es gibt auch eine andere Erklärung, mit Blick auf die altnordische Literatur. Vielleicht war das auch die Folge einer Brenna, die Auseinandersetzung samt Rache zwischen ranghohen Familien. Der feindliche Familienverband wurde in die Halle getrieben und dann zusammen mit dieser niedergebrannt, wenn es nicht sogar ein nächtlicher Überraschungsangriff war. Es war die Zeit von instabilen „Königtümern“, die nicht länger als ein oder zwei Generationen ihre Herrschaft wahren konnten. Man spricht von Kleptokratie in kriegerischer Gesellschaft, wobei es um Beute ging. Die Vernichtung einer Halle oder einer Familie, die Verbrennung der Halle und die Tötung der Mitglieder der Familie schafften für einen neuen Herrscher die Möglichkeit neuer Macht, und so war das Ganze eine politisch-kultische symbolische Handlung. L. Larsson hat 2019 erneut eine Übersicht über die Ergebnisse der Forschungen in Uppåkra gegeben und ergänzt durch Listen der C-14-Datierungen.2455 Die Daten für den Kultbau reichen von den Jahrzehnten um Chr. Geb. bis ins 10. Jahrhundert, die für den Waffenopferplatz und Knochen im Norden von etwa 400 bis ins 9. Jahrhundert, die für die Knochenreste rund um den Kultbau und dem westlich anschließenden Areal etwa von 400 bis nach 600 n. Chr. sowie für einige stratigraphische Niveaus des langen Hauses 24 vom 1. bis zum 5. Jahrhundert. Auch für das Werkstattareal sind C-14-Daten vorgelegt, von etwa 0 bis 1000 n. Chr. Auf dem Platz des Hauses 24 standen zuvor schon die etwas kürzeren Häuser 22 und 23, aber jeweils doch über 50 m lang.2456 Nach Norden schließt noch ein Grundriss des Hauses 21an, in dem Goldbrakteaten gefunden worden sind. Im Kultbau wurden nicht nur Goldblechfigürchen geopfert, sondern anscheinend ist an einem der starken Posten eine Kuh mit einem Eisenring angebunden gewesen, wie aufgrund des Fundes eines Schädels geschlossen wird. Nahe beim Zeremonialzentrum sind Siedlungsspuren durch Radar-Prospektion registriert worden. Pfostensysteme markieren mindestens 70 Hausgrundrisse. StrontiumAnalysen haben bestätigt, dass die Leute in der Umgebung von Uppåkra gelebt haben, nur wenige scheinen aus ferneren Gegenden gekommen zu sein. Die Knochen von Hunderten von Rindern, die bei Feierlichkeiten geopfert und verspeist worden sind, weisen auf Importe aus weiterer Entfernung hin.2457 Ein ähnlicher Befund, eine Halle und dabei Waffenopfer, senkrecht in die Erde gesteckte Schwerter, wurde nordöstlich von Ribe in Jütland bei Fæsted ausgegraben.2458 Die Waffen lagen gewissermaßen in Pfostenlöchern des Gebäudes; die Waffen waren außerdem zerstört, und insgesamt wurden rund 70 Teile geborgen. Die Datierung ist jüngere germanische Eisenzeit. Es gibt einen Vergleich mit dem Kultbau von Uppåkra und den dortigen Waffenniederlegungen auf trockenem Boden in der Siedlung. Auch ein Goldbrakteat des 6. Jahrhunderts ist in diesem Bereich entdeckt worden. 2455 Larsson 2019, 16 Tab. I, 22 Tab. II, 25 Tab. III, 27 Tab. IV, 29 Tab. V. 2456 Larsson 2019, 24 Fig. 10. 2457 Magnell 2011; Magnell et al. 2013. 2458 Grundvad, Egelund Poulsen, Dollar 2020, 22 ff. Fig. 3 (Hallengrundriss), Fig. 4 (Waffen).
12.5 Kultbauten
657
Bisher sind nur wenige derartige Bauwerke eindeutig archäologisch untersucht und eingeordnet; aber das ist wie vieles andere nur eine Frage der Zeit, dass durch die fortschreitende intensive archäologische Forschung Parallelen gefunden werden, nämlich Tempelbauten, was die antike Schriftüberlieferung ausschließen wollte. Hinweise auf ihre Lage können die zahlreichen Schatzfunde mit goldenen Objekten geben, die einst nur scheinbar isoliert vergraben worden sind. Die systematischen Flächengrabungen des Zentralortes und Reichtumszentrums Gudme auf Fünen oder von Sorte Muld auf Bornholm haben gezeigt, dass die Opfergaben im Nahbereich des Kultortes verborgen worden sind, wo es dann auch Kultbauten gegeben hat. In Gudme ist ein solches Haus an derselben Stelle ebenfalls mehrfach erneuert worden. Auch in Helgö, Mittelschweden, sind mehrere der Langhäuser als Kultbauten zu deuten, von denen einige in die Völkerwanderungszeit gehören, und der gesamte Komplex war ein Heiligtum.2459 Im Ort wurde eine sehr große Menge an Gussformfragmenten ausgegraben, was Helgö zu einem Produktionszentrum überregionaler Bedeutung gemacht hat, der vielleicht unter einer königlichen Kontrolle stand. Hergestellt wurden neben vielen anderen Sachgütern wie Gürtelschnallen und Nadeln vor allem kostbare Bügelfibeln eines skandinavischen Typs im Stil I der Merowingerzeit (vgl. S. 1236). Für die Siedlung mit Großhof von Hodde, in dessen Umfeld wertvollere Keramik und anderes qualitätsvolles Material gefunden worden ist als sonst in der Siedlung, wird ein Haus als Kultgebäude interpretiert, was die hervorgehobene Stellung des Herrenhofes unterstreicht. Das doppelt eingezäunte relativ kleine Gebäude auf diesem zusätzlich befestigten Herrenhof hat einen besonderen, durch einen schweren Pfosten noch einmal unterteilten Eingang, in dem nur Menschen einzeln passieren konnten (vgl. S. 269). Den Tempel von Empel in den Niederlanden am Niederrhein im Bereich der Bataver ist in keltisch-römischer Tradition als Vierseit-Umlauf-Bau errichtet worden. Er kann in diesem Zusammenhang auch als ein Kultbau in germanischem Milieu gewertet werden.2460 Noch einmal weise ich darauf hin, dass Festhallen, wie sie oben beschrieben worden sind, zugleich auch Kulthäuser gewesen sind. In Hoby oder Gudme erkennt man diese Sonderrolle der Hallenhäuser auch daran, dass sie exponiert auf dem Grundstück des Gehöftes lagen, in Nachbarschaft zum Wohn- und Wirtschaftsgebäude. Diese Situation setzt sich, Kontinuität wohl auch in mehreren Aspekten des Religiösen, bis ins Mittelalter fort, so in Tissø, Lejre und Uppåkra.2461 Der jüngst publizierte Befund in Blekinge ist als Kultplatz mit Kultbau bei einer Kontinuität von den ersten Jahrhunderten um Chr. bis in die Wikingerzeit zu deuten.2462 2459 Arrhenius 2011; Kalmring u. a. 2017, 132 Fig. 11 mit weiteren Beispielen von schwedischen Hallenhäusern in der Vendelzeit / Völkerwanderungszeit, 127 zu Helgö als Produktionsort. 2460 Roymans, Derks (Red.) 1994; Bauchhenss 2007a, 118 Abb. 81. 2461 Søvsø 2014. 2462 Henrisson, Nilsson, Watt 2016.
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12 Religion: Bestattungsbräuche, Heilige Haine und Opferplätze
Um einen Hügel, dem Vånghøjen, wurde 2004, 2012 und 2013 etwa 5 Hektar besiedelter Landschaft untersucht, mit Langhäusern und einem Machtzentrum mit Kultfunktion, verbunden mit einem Steinpflasterweg. Die Bronzebüsten, eine römische und parallel eine lokale Nachbildung wurden oben im Abschnitt über Götterbilder schon genannt (vgl. S. 604). Vier Gesichtsmasken, jeweils 8 cm hoch, waren an einem Gefäß befestigt. Jünger sind die Goldgubber, zu denen es stempelgleiche Parallelen gibt, datiert ins 6./7. Jahrhundert, in Eketorp, Sorte Muld und Smørenge, so dass auch an diesen Orten indirekt Kultbauten nachgewiesen sind. Weitere Häuser werden im Zusammenhang mit rituellen Diensten durch Frauen als Kultbauten geschildert.2463 In der Siedlung Danda bei Sanda, Uppland, wird ein Kulthaus K 84 beschrieben, aus der Vendelzeit, das weiter besteht bis in die Wikingerzeit. Vielleicht gibt es ältere Vorläufer am Ort. In Gamla Uppsala2464 sind die Siedlungsstrukturen während der Bronzezeit, der vorrömischen und frühen Eisenzeit, also der Römische Kaiserzeit, ergraben worden. Während der frühen Römischen Kaiserzeit gab es eine dichte Besiedlung mit C-14-darierten Hausgrundrissen, Gruppen von Gehöften, die dicht beieinander lagen und erst jüngst bei Luftaufnahmen erkannt worden sind mit Hinweisen auf Handwerk. Damit waren die Grundlagen für die spätere Entwicklung gelegt. Hallenhäuser als Kultbauten gehörten in diese Siedlungskonzentration, wie sie von Gudme und Sorte Muld seit längerem untersucht sind, wo ebenfalls zentrale Hallengebäude als Kultbauten erklärt werden können. In Gamla Uppsala werden sie später in der schriftlichen Überlieferung bei Adam von Bremen beschrieben. Die schon länger bekannte Siedlung des 3. bis 5. Jahrhunderts liegt unter dem Wall Norra gärdet/Kungsgården aus dem 7. Jahrhundert.2465 Neues gibt es vom Kultplatz Guldhullet von Bornholm (vgl. S. 1218 f.).2466 Eine Zusammenfassung aus historischer, sprachgeschichtlicher und religionswissenschaftlicher Sicht zur Religion der Germanen mit Einschluss der archäologischen Funde bietet H. Birkhan zusammen mit M. Egeler2467 im Reallexikon für Antike und Christentum unter dem Stichwort „Religion, germanische“. Es ist gewissermaßen auch eine (Teil-)Zusammenfassung meiner Darstellung zuvor. H. Birkhan vertritt eine teilweise andere Sicht, als sie hier von mir erläutert worden ist, regt aber zum Nachdenken an. Das Erscheinen von Germanen nimmt er ab 600 v. Chr. an, schon fast vor dem Aufkommen der Jastorf-Kultur. Das Merkmal des Germanischen, die germanische Lautverschiebung, erlebt ihren letzten Akt um 200 v. Chr. parallel zur Latènezeit. Da es keine Kulturbrüche gegeben hat, könnte man die Bronzezeit als prägermanisch bezeichnen, eine erstaunlich revisionistische Auffassung noch (oder wieder) 2018. Tacitus (Germania c. 2) bringt die Götterwelt der Mannus- Söhne mit Ingväonen, 2463 Ljungkvist 2011a, 254 Fig. 3 (Kulthaus); Åqvist 1996; 2004, 50 Fig. 40. 2464 Ljungkvist 2011b, 573 Fig. 2. 2465 Duczko 1998, 416. 2466 Lauran 2018; Zachrisson 2019, 112 Fig. 7 und 8; Watt 2015a. 2467 Birkhan, Egeler 2018; nach Egeler 2013; 2018.
12.5 Kultbauten
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Herminonen und Istaevonen. Archäologisch erscheint als erster in „germanischer“ Sprache der Helm B von Negau mit der Inschrift harigasti teiva (göttlicher Heergast) in einem Alpenalphabet; es könnte aber auch eine profane Besitzerinschrift sein. Die Wochentage gehen auf alte germanische Bezeichnungen zurück (vgl. aber oben S. 608), auf den Mondgott, den Kriegsgott, den Toten- und Donnergott und auf Frija. Die Erfindung der Runeninschrift erfolgte im Laufe des 1. Jahrhundert n. Chr.; Beleg sei die Inschrift von Meldorf, bei der aber fraglich ist, ob es sich tatsächlich um Runenzeichen handelt. Die Lanzenspitze von Øvre Stabu, datiert in die zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts, trägt die Inschrift raunijaR (Erprober); das Ortband von Thorsberg owlđuđewaR, niwajemariR (Diener des Gottes Ullr, nicht wenig Berühmter) und der Schildbuckel von Thorsberg aisgRh (der Herausforderer oder der Wütende). Dabei bezieht sich H. Birkhan auf K. Düwels Lesung. Jünger ist der Ring von Pietroassa aus dem 4. oder dem Anfang des 5. Jahrhunderts mit der Inschrift gutaniowihailag (der Goten Erbbesitz geweiht, unverletzlich) (vgl. S. 526). Auch er stimmt der These zu, dass die Runenmeister sich selbst nennen als erilaR oder irilaR, was sprachlich später zum Namen der Heruler oder zum nordischen Jarl (englisch Earl) passen würde. Nun gibt es in Norwegen eine Runeninschrift des 5. Jahrhunderts, die einen iril als Runenschreiber nennen, zu der es zahlreiche Parallelen gibt. Man deutet iril wie Jarl als Bezeichnung des militärischen Führers eines größeren Kriegerverbandes unter einem „König“,2468 so wie derartige Kriegerverbände archäologisch nachzuweisen sind, nicht nur über die Heeresausrüstungsopfer. Germanische Religion wird über die skandinavischen Ortsnamen fassbar, die bis heute überliefert sind: Ódinsvé (Heiligtum des Óđin); Fröstúna (eingefriedetes Heiligtum des Freyr), Torsåker (Acker des Thor), auf dem Kontinent sind das Namen wie (Bad) Godesberg und Gustav, wobei dieser Name zurückgeht auf Gaustafr, auf ein Pfahlidol Wodans. Die Opferplätze heißen *lauka- (zu lat. Lucus), und dazu bringt G. Birkhan den archäologischen Opferplatz von Niederdorla, mit „eingehaselten“ Bereichen, also gewissermaßen Sakralgehege aus Flechtwerkzäunen. Dazu kommen dort die anthropomorphen Kultpfähle auf aufgeschütteten Steinhaufen mit Tier-, Pferdeund rund 40 Menschenopfern. Die Pferdeschädel waren einst auf Stangen gesteckt. Nach dieser Beschreibung wird historisch gedeutet: Es ist seit dem 1. Jahrhundert v. Chr. der zentrale Opferplatz der Hermunduren. Eine weibliche Holzplastik hat Bezüge zu den Kelten und der Latène-Kultur (vgl. oben S. 641). Schriftlich überliefert sind die Waldheiligtümer der Nemeter, und der Name der bekannten Veleda ist eine Art Amtsbezeichnung für keltische Seherinnen.2469 Das Thorsberger Moor war der zentrale Opferplatz der Angeln, ebenfalls vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis zu Beginn des 5. Jahrhunderts n. Chr. Es gab dort Tier- und Speiseopfer, Waffen mit Runen, die römische Reitermaske, Prunkmäntel und eine Hose. Weitere Kultorte gab es bei Dejbjerg,
2468 Iversen et al. 2019. 2469 Egeler 2018; Dobat 2009b denkt bei den Kriegsbeuteopfern mit an die Veleda.
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12 Religion: Bestattungsbräuche, Heilige Haine und Opferplätze
Rappendam, Nydam, Vimose, Kragehulmose, Ejsbøl, Valmose und in Schweden Sösdala, Sjörup und Skedemosse. Moorleichen sind dem zwischen 4. Jahrhundert v. bis zum 4. Jahrhundert n. Chr. überliefert, so bei den Mooren Elling, Huldremose, Yde (weiblich), Damendorf, Dätgen, Grauballe, Jührdenerfeld, Neu Versen, Tollund und Windeby (vgl. oben und unten S. 431 und S. 1244 ff.). Spätes Heidentum wird über den Silberkelch von Himlingøje aus dem 3. Jahrhundert fassbar und über die Goldhörner von Gallehus sowie die Goldbrakteaten, die vorwiegend von Frauen getragen wurden. Die Runeninschriften wie „alu“ (Schutz), „lađu“ (Aufladung) und „laukaR“ (Lauch, Zeichen von Lebenskraft und Potenz) kommen mehrfach vor. Im Westen in den römischen Rheinprovinzen, zu denen H. Birkhan auch noch kommt, ist der Matronenkult – in Steininschriften – mit mehr als 1000 Weihesteinen gut belegt, obwohl es keinerlei literarische Zeugnisse dazu gibt. Zum Bataveraufstand des Civilis gehört ein Bankett, bei dem dieser die Führer der Bataver zur Erhebung gegen Rom anstachelt, und zwar in einem Heiligen Hain (Tacitus, Historien IV, 14). Der umfangreiche Artikel im Lexikon endet mit der Christenverfolgung durch den gotischen Herrscher Athanarich, bei der dieser ein Götterbild auf einem Wagen zu den Zelten fahren ließ, was unbedingt an die Wagenumfahrt der Nerthus erinnert (vgl. S. 396).
13 Waffen und Bewaffnung, Kriegswesen und Rekrutierungsräume Die Ausrüstung der Krieger in Germanien mit Waffen ist auf mehrfache Weise archäologisch überliefert. Zu verschiedenen Zeitabschnitten und auch unterschiedlich von Gegend zu Gegend hat man den gestorbenen Männern Waffen als Beigabe mit ins Grab gelegt. Diese Formulierung besagt, dass die Waffenausstattung beim Toten nicht die Regel war, gleich was die antiken Schriftsteller dazu geäußert haben. Körpergräber sind zudem sehr selten, kommen erst später auf, und gerade in diesen Gräbern fehlen zumeist Waffen als Beigaben. Doch eine Kultur wie die Przeworsk-Kultur kannte die Waffenbeigabe, eine andere wie die Wielbark-Kultur hatte eigentlich den Toten keine Waffen ins Grab mitgegeben. Mehrheitlich wurden die Toten verbrannt, und in den Brandbestattungen (Urnengräber und Brandschüttungsgräber) kommen Waffen vor, aber oftmals durch das Feuer beschädigt. Schließlich sind Waffen, Lanzen und Hiebschwerter, absichtlich verbogen und damit beschädigt worden, einerseits um sie zu tabuisieren, also für andere nicht mehr einsatzbar zu machen, und andererseits ganz profan, damit sie besser in die Urne oder um die Urne zu legen waren. Die aussagekräftigsten Quellen sind die im nächsten Abschnitt geschilderten Heeresausrüstungsopfer in den jütländischen verlandeten Seen und Mooren. Es ist einfach die Menge der Waffen, die eine Vorstellung von der Ausrüstung von kleineren und auch größeren Kriegerverbänden gibt. Die bildliche Überlieferung im römischen Umfeld ist wenig aufschlussreich und arbeitet mit Klischees und Schematisierungen.
13.1 Waffen und Waffenbeigabe im Bestattungsbrauch Die Bewaffnung der Krieger in Germanien ist sehr häufig behandelt worden. Für die ersten vier Jahrhunderte hat K. Godłowski 1994 die Ausrüstungen beschrieben.2470 Zuvor hat K. Raddatz 1966 und1976 Übersichten publiziert.2471 Die Angriffswaffen bestanden aus Stoßlanzen und Wurfspeeren, diese oft mit Widerhaken, ein- und zweischneidigen Schwertern, seltener gehörten dazu auch Äxte, Keulen oder auch Pfeil und Bogen. Zudem muss ein zeitlicher Wandel berücksichtigt werden. Die Ausstattung änderte sich von der vorrömischen Eisenzeit über die Römische Kaiserzeit bis zur frühen Völkerwanderungszeit. Als Schutzwaffe ist der runde Schild von unterschiedlicher Größe bzw. Durchmesser üblich. Helme oder Ringpanzer gab es nicht; die wenigen Funde sind römischen Ursprungs, ebenso wie die römischen Legionärsdolche und Gladii, die an verschiedenen Orten in Germanien gefunden worden sind.
2470 Godłowski 1994b. 2471 Raddatz 1966; 1976; Rau 2013a (zum 3. Jahrhundert). https://doi.org/10.1515/9783110702675-021
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13 Waffen und Bewaffnung, Kriegswesen und Rekrutierungsräume
Lanzen- und Speerspitzen stellte man in Germanien selbst her. Auch dörfliche Schmiede waren dazu in der Lage. Aber die oftmals offensichtliche Normung, was Abmessung, Umriss, Tülle oder Dorn zu Befestigung des Lanzenschaftes angeht, weist darauf hin, dass derartige Waffen zentral hergestellt worden sind; man spricht von den Gefolgschaftsführern oder Kriegerfürsten, die für die Ausrüstung ihrer Kämpfer gesorgt und dazu eigene Waffenfabriken eingerichtet haben. Die einschneidigen Schwerter sind ebenfalls heimische Produkte, während die zweischneidigen Schwertklingen sowohl heimisch gefertigt sein können, aber sehr häufig aus dem Römischen Reich stammen, weil sie aus besserem, teils damasziertem Stahl geschmiedet worden sind. Kennzeichen sind Handwerkerzeichen auf der Klinge, darunter das Symbol der Victoria oder des Mars Ultor oder ein Adler. Jetzt ist zudem nachgewiesen, dass derartige Klingen samt Zeichen in Germanien gefertigt, also nachgeahmt wurden. Ob die römischen Klingen in den Händen germanischer Krieger erbeutet, eingehandelt oder geschenkt worden sind, bleibt eine offene Frage; ebenso ob die „nachgeahmten“ Klingen von einheimischen Schmieden oder von römischen Handwerkern in Germanien geschmiedet worden sind.2472 Die Typologie, Chronologie und die Identifizierung dieser römischen Erzeugnisse in Germanien sind gut erforscht, von M. Biborski und auch die römische Schwertbewaffnung von C. Mirks.2473 Schwerter steckten in Scheiden aus Holz mit Lederüberzug, versehen mit kunstvoll verzierten Ortbändern, Scheidenmundblechen und Tragebügel sowie Schnallen aus Buntmetall an den Lederriemen. Man trug das Schwert am Schultergurt. Überhaupt legte man je nach Rang und Reichtum (oder militärischem Verdienst) wert auf kostbar geschmückte Waffen; die Metallteile waren nicht nur aus Eisen, sondern auch aus Buntmetall oder gar Silber. Das Zahlenverhältnis der Schildbuckel einer Einheit war – als Näherungswert – 1 aus Silber, 10 aus Bronze und 100 aus Eisen. Ein kleiner Teil der Krieger in Germanien war beritten, nicht mehr als ein Zehntel. Die Ausgestaltung der Sporen veränderte sich in den Jahrhunderten. Doch wie bei den Schildbuckeln waren sie aus unterschiedlich wertvollem Metall, aus Eisen und dann mit Silbertauschierung, aus Bronze oder ebenfalls manchmal aus Silber. Ähnlich verhält es sich beim sonstigen Reitzeug. Prächtige Zügelketten kennzeichnen Ranghöhe der Reiter. Die häufigste Bewaffnung bestand aus Lanze, Speer und Schild; Hiebwaffen waren schon seltener. Unabhängig vom Umfang der Bewaffnung musste vor dem Einsatz regelmäßig trainiert werden, worüber aber archäologisch kaum etwas zu erfahren ist. Plausibel ist, dass jeder Mann als Einzelkämpfer vom frühen Alter an das Waffenführen geübt haben muss, was aufwändiger wurde, wenn man in einer strukturierten Einheit kämpfen sollte. Folglich muss davon ausgegangen werden, dass der Waffeneinsatz in jedem Dorf für die einzelnen Männer einerseits und in jedem Kriegerverband als Gruppe geübt wurde. Darüber berichten die antiken Autoren kaum
2472 Biborski 2004a, b; 2009; Biborski, Ilkjær 2006. 2473 Biborski 1993; 2009; 2017; Mirks 2007.
13.1 Waffen und Waffenbeigabe im Bestattungsbrauch
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etwas, und die Archäologie kann dafür auch keine überzeugenden Belege beibringen, außer diesen Plausibilitätserklärungen. Es hatte sich eine standardisierte Infanterieausrüstung im Verlauf der vorrömischen Eisenzeit entwickelt, mit Lanzen/Speeren und Schilden und zunehmend auch mit Schwertern. Die Kämpfe wurden im Nahkampf in enger Formation geführt, im Sinne einer Phalanx-Kriegsführung wie im klassischen Griechenland,2474 überliefert in den „keltischen“ Fundkomplexen Frankreichs, in Ribemont-sur-Acre und Gournaysur-Aronde im 3. Jahrhundert v. Chr. sowie am Ort La Tène (vgl. S. 715) und auch in Hjortspring (vgl. S. 713).2475 Kampf und Krieg waren Teil des alltäglichen Lebens, nicht nur in den Auseinandersetzungen mit den nach Germanien eindringenden römischen Legionen oder bei den eigenen Beutezügen in die römischen Provinzen, sondern auch innerhalb Germaniens wurde anscheinend häufig Krieg geführt.2476 Das bezeugen nicht nur im Kampf beschädigte Waffen, die später als Grabbeigaben gedient haben oder in den Mooropfern lagen,2477 sondern auch – für diese Epoche aber seltener zu belegen – Hiebverletzungen an den Skeletten und Schädeln, wie das bei anthropologischen Untersuchungen mehrfach registriert worden ist. Für die Bereiche Kampf, Krieg und Bewaffnung, nicht nur die Waffen bieten die entsprechenden Stichworte im Reallexikon der Germanischen Altertumskunde sowie im Handbuch „Die Germanen“ von 1976 und 1983 Übersichten, und zwar dort von Achim Leube im Beitrag „Bewaffnung und Kampfesweise“.2478 Die archäologische Überlieferung ist dabei zweiseitig recht gut. Einerseits bieten die Waffen in den Gräbern einen Zugang zur Bewaffnung und Ausrüstung, auch wenn die Waffenbeigabensitte erst nach und nach üblich wurde und längst nicht alle Männer Waffen mit ins Grab bekommen haben. Andererseits haben die großen Waffenausrüstungsopfer in den dänischen Mooren eine außerordentliche Vielfalt zu Waffen und Bewaffnung sowie über die dadurch erkennbaren Rangunterschiede geliefert (vgl. S. 738). Schließlich wurden Waffen auch andernorts bei Kultplätzen und Siedlungen geopfert.2479 E. Schultze geht es um die Waffenbeigabe in den Gräbern über den gesamten hier zu behandelnden Zeitraum, wobei überlegt wird, ob und wie die Beigaben unmittelbar die tatsächliche Bewaffnung im Kampfe widerspiegeln.2480 W. Adler hat in seinen Studien zur germanischen Bewaffnung, der Waffenbeigabe und Kampfesweise im Niederelbegebiet und im Übrigen „Freien“ Germanien um Christi Geburt
2474 Roymans, Fernández-Götz 2018, 23 ff.; Brunaux 2018; Randsborg 1995; Kaul 2003b. 2475 Kaul 2003b; vgl. Brunaux 1998; 2018; Steuer 2006 f. 2476 Tausend 2009. 2477 Gebühr 1980. 2478 Leube 1976/1983. 2479 Steuer 2006 f. 2480 Schultze 1986 (1987); 1989 (1990).
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13 Waffen und Bewaffnung, Kriegswesen und Rekrutierungsräume
geforscht.2481 Um den Krieger im Grab geht es auch J. Kleemann für die ersten Jahrhunderte n. Chr.2482 K. Godłowski widmete sich, wie oben gesagt, der Chronologie der germanischen Waffengräber in der jüngeren und späteren Kaiserzeit.2483 J. Bemmann hat die spätere Phase, die Waffenbeigabensitte und die Waffenformen während der jüngeren Römischen Kaiserzeit und der Völkerwanderungszeit in Mitteldeutschland erarbeitet.2484 Er bietet Karten zum Vorkommen dieser Beigabensitte, z. B. auch zur Verteilung von Gräbern mit Schwertern und eine Liste mit 40 Spathagräbern von Mecklenburg bis Böhmen der Phasen C1 bis C3. Es gibt Karten zur Schwertbeigabensitte von Polen bis zum Rhein-Main-Mündungsgebiet und zur Verbreitung der zweischneidigen Langschwerter der jüngeren Römischen Kaiserzeit zwischen Rhein und vor allem Elbe und Oder.2485 Auch wird die Anzahl der Pfeilspitzen pro Brand- und pro Körpergrab in Silber (2 bis 5 nur in Körpergräbern) tabellarisch aufgeführt.2486 Das untere Odertal hat dahingehend speziell B. Rogalski untersucht.2487 Er gliedert chronologisch in einer Graphik die Waffenkomplexe von den Phasen A3 (späte vorrömische Eisenzeit) bis C1b (Römische Kaiserzeit, bis 250 n. Chr.) anhand der Beigaben in einem Gräberfeld: Stufe B1 (Reiter, Lanze, Schild), B2 (Schwert, Lanze, Schild, dabei ein einschneidiges Schwert), B2-C2 (wenige Bewaffnungen, aber Schwert, Lanze, Schild und Lanze mit Schild), C1 (nun wieder weniger Bewaffnete im Grab, Lanze und Schild). Auffällig sind diese zeitgebundenen Veränderungen, die kaum mit einem raschen Wandel der realen Kampfesweise zu erklären sind. Alle Schwerter stammen aus Brandschüttungsgräbern, darunter sind auch importierte römische Schwerter vom Typ Vimose-Illerup (nach den Funden in den Kriegsausrüstungsopfern). Es gibt bei einer Übersicht zu den Nachbargebieten Unterschiede in den Bereichen der Przeworsk-, der Wielbark- oder der elbgermanischen Kultur. Wenn P. Łuczkiewicz 2003 über die Bewaffnung der Vandalen während der jüngeren vorrömischen Eisenzeit schreibt, dann meint er die Leute der frühen Przeworsk-Kultur.2488 Wahrscheinlich ist im Kontext der Expansion des kulturellen Modells der Wielbark-Kultur, das die Waffenbeigabe nicht kennt, auch das Fehlen der Waffenbeigabe bei den Nachbargruppen zu erklären. Am Rande der germanischen Welt gibt es jedenfalls auch Gräber mit Waffenbeigabe, aber ohne Schwerter.2489 Ausführlich beschreibt J. Kleemann die Entwicklung der Waffenbeigabe vom 2. Jahrhundert v. Chr. bis zum 6. Jahrhundert n. Chr., über rund 700 Jahre und anhand
2481 Adler 1993. 2482 Kleemann 2009a, 91 Abb. 2 Entwicklung der Waffenbeigabensitte. 2483 Godłowski 1994b; v. Carnap-Bornheim (Hrsg.) 1994. 2484 Bemmann, Hahne 1994; Bemmann 2007a, 251 Abb. 3 nach Schulze-Dörrlamm 1985, Abb. 4. 2485 Vgl. auch Tejral 2015a. 2486 Bemmann 2007a, 263 Abb. 14 a, b. 2487 Rogalski 2014, 176 Abb. 7; 177 f.; Kleemann 2009a, 93. 2488 Łuczkiewicz 2003. 2489 Nowakowski 1994.
13.1 Waffen und Waffenbeigabe im Bestattungsbrauch
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von fast 3000 Grabfunden;2490 das Aufkommen der Waffenbeigabe im südlichen Skandinavien während der späten vorrömischen Eisenzeit hat J. Martens erläutert.2491 Das erste Auftreten der Waffen in Grab im 2. Jahrhundert v. Chr. registriert Kleemann in der Przeworsk-, und Oksywie- Kultur und nachfolgend später in der WielbarkKultur. Ein starker zahlenmäßiger Anstieg der Waffenbeigaben bis in die ältere Römische Kaiserzeit zeichnet sich ab und dann wieder eine deutliche Abnahme nach den Markomannenkriegen. Besonders häufig sind Waffengräber fast ausschließlich entlang der Elbe und von Schleswig-Holstein bis Böhmen; es gibt also deutliche räumliche und zeitliche Unterschiede dieses Beigabenbrauchs, und die Grabsitten sind kein Indikator für den realen Gebrauch.2492 Der Filter bei den Brandbestattungen muss sorgfältig bedacht werden; denn wann und welche Waffen kamen in die Urne? Bestattungen mit Waffen in den Bronzegefäßen aus der jüngeren vorrömischen Eisenzeit auf dem mitteleuropäischen Gebiet Germaniens fallen besonders auf.2493 Es gab somit unterschiedliche Konventionen vom Krieger im Grab, um diesen mit Waffen zu kennzeichnen.2494 Waffen im Grab, so Heinrich Härke, spiegeln zumeist einerseits nicht die tatsächliche Kriegerfunktion, sondern nur den symbolischen Kriegerstatus, und andererseits anscheinend vor allem Gebräuche innerhalb von Familien, wie er das für Gräberfelder in England nachgewiesen hat.2495 Um auf weitere Abhandlungen zu den Waffen im archäologischen Fundbestand hinzuweisen, nenne ich folgende Publikationen, ohne näher den Inhalt wiederholend zu beschreiben: Den Beginn der Bewaffnung der Germanen in den letzten Jahrhunderten v. Chr. findet man in einem Sammelband von 2002 dargestellt;2496 und die Spätphase ist mehrfach seit 1994 erörtert worden: Die Waffengräber der jüngeren römischen Kaiserzeit in Norwegen,2497 die Chronologie der germanischen Waffengräber in der jüngeren und späten Kaiserzeit,2498 oder die späten Waffengräber der jüngeren Römische Kaiserzeit bis frühen Merowingerzeit 2004.2499 Das Verhältnis von Bewaffnung und Gesellschaft hat für Seeland Jes Martens dargestellt.2500
2490 Martens 2002. 2491 Kleemann 2009a, 90 ff. und Abb. 2 (Zahl der Waffengräber pro Phase A1 – E3, 185/170 v. Chr. – 540 n. Chr.). 2492 Kleemann 2009a, 95. 2493 Łuczkiewicz, Terpilivskij 2012, 147 Karte, 166 Abb. 11; auch Terpilovskij, Žarov 2013/14, 147 Fig. 9 Karte, 148, Fig. 5 (Gräberfeld von Mutin). 2494 Kleemann 2009a, 89. 2495 Härke 1992. 2496 v. Carnap-Bornheim, Ilkjær, Kokowski, Łuczkiewicz (Hrsg.) 2002. 2497 Bemmann 1994. 2498 Godłowski 1994b. 2499 Kleemann 2004. 2500 Martens 2011a, zu den Schwertern 161 ff.
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13 Waffen und Bewaffnung, Kriegswesen und Rekrutierungsräume
Kataloge stellen die Waffen aus Gräbern, aus Feuchtgebieten wie im Moor von Hjortspring (vgl. S. 713) und aus Siedlungen zusammen, die einschneidigen und zweischneidigen Schwerter und die Lanzenspitzen, dazu auch die zahleichen aus Knochen von Bjorreberg. Eine auffällige Rolle spielen als Wahr- und Rangzeichen die Schwerter der späten vorrömischen Eisenzeit, wozu eine Typologie geboten wird und eine Einschätzung der Schwerter aus dem Moorfund von Hjortspring. Margarete Watt hat die Waffengräber in Dänemark in der Zeit von 100 v. Chr. bis um 400 n. Chr. ausgewertet und festgestellt, wie einerseits sich regional die Waffentypen unterschieden und andererseits wie die Beigabe in Abhängigkeit von den wechselnden Bestattungsbräuchen gesehen werden muss. In Schaubildern hat sie gezeigt, wie die Bewaffnung in Jütland und auf den dänischen Inseln in den verschiedenen Phasen der späten vorrömischen und der römischen Kaiserzeit zusammengestellt war und speziell noch einmal für die jüngere Römische Kaiserzeit auf Seeland.2501 Um zusammenzufassen: Waffengräber – nicht überall und zu verschiedenen Zeiten statistisch zu erfassen – spiegeln die Militarisation der germanischen Gesellschaft und speziell die kriegerischen Beziehungen zwischen Germanien und dem Römischen Reich bis weit in den Norden, aber nur indirekt. Erste Waffengräber kamen in der späten vorrömischen Eisenzeit überall in Germanien auf, dann vor allem in der älteren Römischen Kaiserzeit in den Urnengräbern beispielsweise an der unteren Elbe, sowie im Norden auch in Dänemark, auf Bornholm und in Norwegen. Während der Römischen Kaiserzeit (den Phasen B-C, 0–350 n. Chr.) und während der Völkerwanderungszeit (D) gab es die älteste Gruppe der Waffen in Körpergräbern östlich der Oder. Die Ursprünge sieht man auch für die Körpergräber in der späten vorrömischen Eisenzeit im Gebiet der oberen und mittleren Weichsel. H.-U. Voss hat im Corpus der römischen Funde für Mecklenburg-Vorpommern speziell die römischen Waffen aufgelistet.2502 Ebenso sind die römischen Militaria in den Opferplätzen besonders bearbeitet worden.2503 Man kann auch den Blick werfen auf ein Kriegergrab der jüngeren vorrömischen Eisenzeit in der Ukraine, ein Brandgrab, in dessen Nachbarschaft weitere derartige Gräber gefunden worden sind.2504 Hier wurden in einem umgestülpten Tongefäß die verbogenen Waffen (Schwert, Lanze, Schildbuckel) und eine Bronzesitula abgelegt. Die Bestattung mit Waffen in einem Bronzegefäß kommt während der jüngeren vorrömischen Eisenzeit europaweit vor, häufiger (aufgrund des Forschungsstandes) im Niederelbegebiet sowie in Mitteldeutschland und auch bis nach Skandinavien. Auf einige Besonderheiten sei noch hingewiesen: Es gibt überdimensi-
2501 Watt 2003a, mit 180 Abb. 1 und 191 Abb. 14. 2502 Voss 1994b. 2503 v. Carnap-Bornheim, Matešić 2015. 2504 Łuszkiewicz, Žovskij 2012, 166 Abb. 11 Verteilungskarte.
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onierte Lanzen(spitzen) in der Eisenzeit2505 und auch mit Runen- bzw. Tamgazeichen verzierte Lanzenblätter der jüngeren Römischen Kaiserzeit.2506 Die germanische Armee, gestaffelt nach Kriegern und Offizieren, wird allgemein und vor allem anhand der Ausrüstungen in den Waffenopfern geschildert. Die normalen Krieger, aus den Siedlungen, haben ihre Waffen und Waffenkombinationen persönlich erworben, mehr oder weniger aus lokaler Waffenherstellung; die „Soldaten“ in den Kampfverbänden unter Gefolgschaftsführern wurden mit standardisierten Waffentypen ausgerüstet, die von den Anführern gestellt und die zentral in Werkstätten hergestellt wurden; vermutete Wehrpflichtige bei der Verteidigung des eigenen Territoriums wurden mit Waffen ausgerüstet, die sowohl aus lokaler Produktion als auch von den Anführern aus zentralen Werkstätten gestellt wurden.2507 Anschaulich hatte J. Engström 1992 die keilförmigen Formationen germanischer Kriegerverbände skizziert, mit denen feindliche Linien durchbrochen werden sollten, oder auch den Angriff von Reitern in die Flanken gegnerischer Einheiten (Abb. 55).2508 Die Hierarchie der Krieger wird während der Römischen Kaiserzeit nicht nur durch eine komplette Waffenausstattung in verschiedenen Metallausführungen, von Eisen über Bronze bis zum Edelmetall ausgedrückt, sondern auch dadurch, dass einige Krieger beritten waren. Die Prunkpferdegeschirre in den Kriegsausrüstungsopfern des südwestlichen Ostseegebiets bestätigen das ebenso wie Reitergräber in Litauen.2509 Es wird gefragt, ob es sogar skandinavische Auxiliareinheiten in der Römischen Armee gegeben hat; und man vermutet das.2510 Denn Gräber mit römischem Militärimport, also mit Waffen, gibt es während der Römischen Kaiserzeit im Norden und im polnischen Gebiet, nicht nur in den Heeresausrüstungsopfern.2511 Römische Schwertklingen, teils auch vollständige Schwertausstattungen mit Scheide und Gehänge, sind über Waffenhandel und Beute nach Germanien gelangt und waren sehr begehrt.2512 Die vollständigen Schwerter mit verzierter Scheide aus dem Moor von Nydam lassen ahnen, wie sorgsam und aufwändig die Waffen geschmückt sein konnten.2513 Schwertgriffe in skandinavischem Stil sind im Norden produziert worden, anscheinend außerdem auch an der südlichen Ostseeküste im Bereich des Fundortes von Lübsow/Lubieszewo in Polen, was an einem Streufund abgelesen wird.2514 2505 Klimscha, Blaschke, Thiele 2012. 2506 Hachmann 1993. 2507 Pauli Jensen, Jørgensen, Lund Hansen 2002, 312 Graphik. 2508 Engström 1992; Pauli Jensen, Jørgensen, Lund Hansen 2003, 326 f. Abb. 20 und 21. 2509 Bliujienė, Butkus 2007. 2510 Stylegar 2011. 2511 Pauli Jensen 2015. 2512 Biborski 1996; 2004b; Steuer 2004d, 580 Abb. 124. 2513 Jørgensen, Vang Petersen 2003, 266 Abb. 7, 273 Abb. 23, 275 Abb. 25, 276 Abb. 29. 2514 Rau, Blankenfeldt, Schuster 2015, 195 Fig. 5 Karte der Schwerter mit den Funden südlich der Ostseeküste; gute Typentafel der Schwertgriffe vom 1. bis 5. Jahrhundert in Biborski, Ilkjær 2006, Textband 162 Abb. 115.
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Abb. 55: Die keilförmigen Formationen germanischer Kriegerverbände.
Nicht weniger prunkvoll waren die Schilde bzw. die Schildbuckel und die Randbeschläge verziert, so im Moor von Illerup und im Prunkgrab von Gommern (vgl. S. 482 und 925). Es bietet sich an, die Befunde in Germanien auch mit den römischen Offiziersausrüstungen zu vergleichen, die in den Provinzen an Rhein und Donau gefunden werden, zwar nicht in Gräbern, weil Rom die Waffenbeigabensitte eigentlich
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nicht kannte, aber in militärischen Anlagen.2515 Es gab sogar römische Militärgürtel mit Edelmetallbeschlägen, so wie sie auch in einigen Exemplaren nach Germanien gelangt sind, eben in die ranghöchsten Gräber.2516 Der Kontakt lief über die Söldnerdienste in den römischen Legionen und über Auxiliareinheiten. Im 4./5. Jahrhundert wurde es Mode, die Männergürtel vielfältig mit verzierten Metallplatten und -schnallen zu schmücken, eine Sitte oder besser Mode, die von Germanen übernommen wurde und beispielsweise auf den Höhensiedlungen in Südwestdeutschland vor dem spätantiken Limes an Rhein und Donau in größerer Zahl gefunden werden sowie in den Bestattungen vom Elbe-Weser-Dreieck bis Nordostgallien (vgl. S. 1164). Die meisten Gürtelschnallen mit Tierkopfenden und viele Beschläge mit geometrischen Kerbschnitt- oder Punzmustern sind aus Bronze, aber auch silberne Ausführungen kommen vor. Manche Beschlagplatten bringen Tierkampfszenen und andere naturalistische Darstellungen (Abb. 56).
Abb. 56: Gürtelbeschläge mit Tierkampfszenen vom Geißkopf und vom Kügeleskopf bei Offenburg.
Römische Gladii, wie sie nach den Niederlagen römischer Einheiten, nicht nur in der Varusschlacht, von Germanen erbeutet wurden, sind relativ selten in Germanien gefunden worden. Sie passten denn auch eigentlich nicht zur Bewaffnung und Kampfesweise in Germanien.2517 Römische Helme kommen nur in Form von Sonderanfertigungen vor, beispielsweise als Maskenhelm aus dem Moor von Thorsberg, obwohl in den Legionen eine große Zahl von Helmen vorhanden war und getragen wurde. Im Jahr 1988 wurden 12 spätrömische Segmenthelme in einem Depotfund bei
2515 Th. Fischer 1988. 2516 Th. Fischer 2013a. 2517 Oldenstein 1998; Watt 1994.
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Koblenz am Rhein entdeckt. Die Verteilung dieser und anderer Kammhelme entlang der Grenze des Imperiums zeigt, dass sie auch von der Limitanarmee getragen wurden.2518 Ansonsten werden römische Helme einzeln oder in kleinen Ansammlungen in Flüssen gefunden. Auch Kettenhemden, wie das aus dem Moor von Vimose sind höchst selten, und kompliziert sowie zeitaufwändig ist ihre Herstellung.2519 Die Ausrüstung römischer Auxiliareinheiten des 2. und 3. Jahrhundert sollte auch für germanische Einheiten in Germanien berücksichtigt werden.2520 Ich denke da auch an das „Schlachtfeld“ vom Harzhorn (vgl. S. 625 und 769). Die römische Schwertbewaffnung2521 und die römischen Schilde2522 bis hin zur bildlichen Überlieferung in der Notitia dignitatum aus dem frühen 4. Jahrhundert stehen mit guten Veröffentlichungen zum Vergleich mit den Schwertern bei den Germanen zu Verfügung.2523 Eine diachrone Darstellung zum Schwert von der vorrömischen Eisenzeit bis ins frühe Mittelalter hat F. E. Grünzweig 2009 vorgelegt, aus dem ich zitiere. Zuerst herrschte das einschneidige Schwert während der älteren und jüngeren vorrömischen Eisenzeit vor; das zweischneidige Schwert folgte in der älteren Römischen Kaiserzeit und blieb dann vorherrschend bis zum Übergang und während der jüngeren Römischen Kaiserzeit. Zeittafeln sind für 500 v. bis 100 v. Chr., für 100 v. bis 150 n. Chr. mit den einschneidigen Schwertern vorgelegt, für die zweischneidigen Schwerter von 0 bis 450 n. Chr. (B1a bis D2). Grünzweig stellt, praktisch zu nutzen, die Runeninschriften auf Schwertzubehör zusammen, auch die aus dem Moor von Nydam.2524 Zu den geschnitzten und mit Ornamenten verzierten Holzscheiden aus dem Moor von Nydam berichte ich später (vgl. S. 719 Abb. 60). Waffen wurden kaum käuflich erworben; denn Großmärkte für derartige Güter gab es nicht. Die einfachen Lanzen und Speere wurden einerseits in den Siedlungen durch Schmiede in den Dörfern hergestellt und dienten zum allgemeinen Training mit der Waffe; andererseits kamen diese Waffen – wie an den großen Heeresausrüstungsopfern abzulesen – aus zentralen Werkstätten von Heerkönigen oder Gefolgschaftsführern, was die gleichartigen genormten Formen spiegeln. Prunkwaffen wie kostbar mit Edelmetall verzierte Schilde, prächtige Schwerter und schmuckes Pferdezaumzeug zeichneten ranghöhere Krieger aus. Solche Ausrüstungen waren Geschenke zwischen den Eliten und kamen aus speziellen, zentralen Hofwerkstätten an Macht-
2518 Miks 2014. 2519 Wijnhoven 2015. 2520 Oldenstein 1976. 2521 Miks 2007. 2522 Nabbefeld 2008. 2523 Grünzweig 2009, 41 ff., 56–67, 72–82. 2524 Grünzweig 2009, 83–106, 121–126.
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mittelpunkten, die selbst jedoch bisher archäologisch nicht erfasst werden konnten. So stammen die fünf gleichartigen Prunkschilde aus dem Moor von Illerup aus demselben Werkstattmilieu, aus einem Herrschaftsbereich. Runeninschriften auf Lanzen waren entweder Hersteller- oder Besitzerinschriften. Die Hierarchie von Gehöften in einem Dorf mit Herrenhof und einfacheren, vielleicht abhängigen Höfen spiegelt sich auch in der Rangfolge der Waffen und sonstigen Ausrüstungen. Die sehr ähnlichen Prunkwaffen aus dem Moor von Illerup Ådal in Jütland und aus dem Fürstengrab von Gommern (S. 482 mit Abb. 47) in Thüringen mit Schildbeschlägen aus Silber und Edelsteinen kennzeichnen die Anführer einer „Hundertschaft“ aus 60 bis 80 Kriegern. Die eigene Waffenproduktion stützte sich auf das überall vorhandene Eisen, das für Lanzen und Pfeile, so in den Moorfunden erkennbar, ausreichte, während die Mehrheit der Schwertklingen schon frühzeitig aus römischen Fabriken stammen. Nur die älteren einschneidigen Hiebwaffen waren ebenfalls heimische Produktion. Die Herkunft der erfassbaren Kriegergruppen (über die Heeresausrüstungsopfer) ist anhand der Waffen und anderer Objekte manchmal erkennbar. Ihre Ausrüstung ist jeweils recht einheitlich und anscheinend durch einen Kriegsherrn bzw. Gefolgschaftsführer zur Produktion in Auftrag gegeben und dann an die Krieger verteilt worden. Die Truppen, die in Jütland eine Niederlage erlitten und deren Waffen in den Seen geopfert wurden, kamen wohl aus Süd-Norwegen, West-Schweden oder Norddeutschland, wie früher vermutet und in Karten publiziert ist, oder aber, wie jetzt auch angenommen wird, aus der näheren Umgebung des heutigen Dänemark (vgl. unten S. 708 mit Abb. 58).2525 Zusammenfassend muss ich einräumen, dass zwar umfangreiche Beobachtungen zur Bewaffnung in Germanien unser Wissen beachtlich erweitert haben, dass aber zugleich auch festgestellt werden sollte, wie einseitig durch die Bestattungssitten das Bild entsteht und wie wenig tatsächlich über den Umgang mit den Waffen im alltäglichen Leben auf den Gehöften, in den Dörfern und dann bei kriegerischen Auseinandersetzungen gesichert ist. Man erfährt durch die archäologische Forschung zuerst ein facettenreiches Bild des Toten- und Bestattungsbrauchtums. Es geht um die Grablege des Mannes, manchmal auch als Krieger; nicht um die Darstellung von Kampf und Krieg. Darüber erhält man wesentlich direkter Informationen über die Heeresausrüstungsopfer im Ostseegebiet. Die vordergründige Deutung der Waffenbeigabe in Männerbestattungen als Hinweis auf Kriegertum ist also eigentlich nicht einfach zu übernehmen. Dazu ist die Bestattungssitte zeitlich wie geographisch zu unterschiedlich und lässt keine Systematik erkennen, was Kampfbereitschaft schildern könnte. Wenn schon auf einem Gräberfeld nicht alle Familien für ihre Männer die Waffenbeigabe kennen und dass die Sitten auch noch über die Zeit wechseln, dann ist damit kein Blick auf die Waffenfähigkeit einer Siedlung zu gewinnen. Mehrfach habe ich gesagt (vgl. S. 381),
2525 Ilkjær 1990.
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dass ein Fünftel der Bewohnerschaft einer Siedlung Waffen- bzw. Kriegsdienst leisten konnte – bei den Männern mindestens sicherlich die Hälfte, seit relativ jungen Jahren, vielleicht im Alter von 12 bis 15 –, dann müsste sich das im Grabbrauch widerspiegeln, wenn man überhaupt im Sinne hatte, das auszudrücken. Es wird auch weiter spekuliert, dass nur die Männer Waffen mit ins Grab bekommen haben, die tatsächlich in einem Krieg oder wenigstens im Kampf gewesen waren. Wenn es Gefallene wären, könnte man das beim Toten erkennen, zwar schwierig bei Brandbestattungen, aber besser an den Verletzungen am Skelett. Doch konnte man selten Erschlagene über weite Strecken transportieren; das ergab sich nur nach nachbarschaftlichen Fehden und Kriegen. Waffen aus römischen bzw. römerzeitlichen Einzelsiedlungen rechts des Rheins im Limeshinterland können eher über den Stand der Bewaffnung der Männer etwas aussagen.2526 Sicherlich kann man aus der Quersumme aller der Berichte über Waffenbeigaben in Gräberfeldern Rückschlüsse auf die Standardbewaffnung schließen. Dabei ist mit den Rangunterschieden zu rechnen, die angedeutet worden sind und auf die ich bei der Schilderung der Heeresausrüstungsopfer wieder zurückkomme (S. 706 ff.). Die Staffelung ist schlicht so zu formulieren: Reitausrüstung mit Sporen, Schwert, Lanze und Schild (wobei zum Kampf oft vom Pferd abgestiegen ist), dann Schwert, Lanze, Schild, und dann einfach Lanze bzw. Lanze und Speer sowie Schild. Ein Schild gehörte sinnvollerweise immer dazu; liegt im Grab nur ein Schild bzw. der Schildbuckel aus Metall, dann kann die andere Bewaffnung auch aus Holz gewesen sein. Bei den ersten beiden Gruppen ist zudem zu berücksichtigen, dass diese Krieger je nach Reichtum und Vermögen auch mit Edelmetall, Gold und Silber, zusätzlich verzierte Waffen gehabt haben, wie das oft durch die archäologischen Befunde bewiesen ist. Aufmerksamkeit verdienen die Pferdegeschirrbeschläge vom Sattelzeug und dem Kopfgeschirr, die ebenfalls aus Buntmetall gewesen sind und die vergleichbare Rangstaffelung zeigen wie die andere Bewaffnung; sie gehörten aber grundsätzlich zur oberen Schicht der Berittenen.2527 Die Verbreitung der muschelförmigen Pferdegeschirrbeschläge – als ein Beispiel – in Germanien aus der römischen Militärwelt reicht von der Rhein-Main-Mündung bis ins Swebengebiet, in den Berliner Raum und den Bereich der westlichen Przeworsk-Kultur, gestreut entlang wie an einer Fernstraße. In den Heeresausrüstungsopfern wurden jeweils einige Prozent an prunkvollem Pferdegeschirr gefunden.2528 Erst 2017 wurde eine Spezialstudie zu römischen Schwertern und germanischen Kriegern an der unteren Oder vorgelegt.2529 Es gibt acht Fundplätze mit Waffen, mit Schwertklingen, Äxten und Lanzenspitzen, an der Uecker südlich von Pasewalk, Ldkr. Vorpommern-Greifswald. Hier gibt es zudem Schädelfunde mit Hiebverletzungen 2526 Pfahl, Reuter 1996. 2527 J.-P. Schmidt 2017, 31 Abb. 3. 2528 Sieg und Triumpf 2003, 324 Abb. 18; Lau 2018. 2529 J.-P. Schmidt, Voss 2017, 211 Abb. 2 und 217 Abb. 6 Karte und zu den Zitaten 221.
13.2 Kriegswesen
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von einem Kampf; insgesamt wurden 16 Skelette gefunden, sodass es wie nach einer Schlacht bzw. einem Kampf in dieser Gegend aussieht. Die dichte Lage der kaiserzeitlichen Fundplätze am Fluss entlang, an der Uecker südlich von Pasewalk, wird verglichen mit der Karte zu Schwertklingen mit einer Mars Ultor- bzw. Adler-Darstellung. Es gibt 18 Fundorte zwischen Jütland und Oder und Weichsel, von den Heereswaffenopferungen bis zur Przeworsk-Kultur in Waffengräbern des späten 2. und frühen 3. Jahrhunderts. Verbunden damit ist die Frage nach der Herkunft der Besiegten in Jütland und zur „germanischen Konflikt-Landschaft“ der Römischen Kaiserzeit. Ich greife hier vor, wenn ich zitiere, dass die Heereswaffenopfer das oder ein „finales Stadium machtpolitischer Auseinandersetzungen“ markieren,2530 der Zusammenhang mit den Markomannenkriegen und um 180/200 n. Chr. wird gesucht und die Professionalisierung der germanischen Gefolgschaftskrieger bzw. der „Kriegereliten“ gesehen.2531 Die Autoren meinen, dass es eine Neuordnung der Beziehungsgeflechte germanischer Eliten als Folge der Markomannenkriege unter römischer Einflussnahme auf die innergermanischen Verhältnisse gegeben habe, Ziel war die discordia hostium. Erneut mahne ich dazu aber, dass der unmittelbare Zugriff auf die politischmilitärische Ereignisgeschichte vom archäologischen Befund der Grabsitten aus nicht überzeugt.
13.2 Kriegswesen Ein neuer Zweig der archäologischen Forschung nennt sich Konflikt-Archäologie und befasst sich mit den erst jüngst entdeckten antiken Schlachtfeldern auch in Germanien (dazu Abschnitt 15, vgl. S. 759). Der Krieg war in der germanischen Gesellschaft alltäglich.2532 Und das war nicht erst das Ergebnis der Konfrontation mit Rom; schon Jahrhunderte vorher – zur Zeit der „Kelten“ – war die Situation ähnlich, was nicht zuletzt am kulturellen Einfluss von Süden und Westen nach Norddeutschland und zur westlichen Ostsee ablesbar ist, sondern auch unmittelbar an den Waffen. Die Ausstattung der Krieger im Schiff von Hjortspring auf Alsen in der Ostsee (vgl. S. 713) verkörpert das am eindrucksvollsten, nämlich was die Form und den Aufbau der Schilde betrifft, die im keltischen Milieu in großer Zahl bildlich und archäologisch überliefert sind. Da ein Zeitraum von einem halben Jahrtausend betrachtet wird, sollte man davon ausgehen, dass auch alles, was mit Kriegen zusammenhängt, sich gewandelt hat. Real sind wir über die Organisation des römischen Heeres mit seinen Legionen gut informiert, auch über die Veränderungen von der Zeit des Augustus bis in die Spätantike. Die Truppenstärke samt Tross pro Legion liegt zu Anfang bei
2530 Rau, v. Carnap-Bornheim 2012, 529. 2531 v. Carnap-Bornheim, Ilkjær 2000, 53. 2532 v. Carnap-Bornheim 2008a, b; Voss 2015.
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13 Waffen und Bewaffnung, Kriegswesen und Rekrutierungsräume
6000 Mann, später werden die Zahlen geringer. Es ist ein stehendes Heer, das ständig exerziert und immer weiß, was auf dem Marsch und beim abendlichen Lagerbau zu tun ist. Bei gleichartigen Gegnern, wie das bei den Bürgerkriegen der Fall war, wussten auch alle Legionäre und ihre Kommandeure, wie der Kampf mit dem Gegner zu führen war und ablief. Man stellte sich auf dem Schlachtfeld einander gegenüber, weil das die Konvention war. Die Kriegerverbände in Germanien waren demgegenüber zu Anfang sicherlich anders organisiert. Die Männer übten von Jugend an, mit den Waffen umzugehen, den Lanzen und Speeren, den Hiebmessern und Schwertern. Da es im Inneren Germanien auch immer Kriege gegeben hat, wird es auch Übungen im Verband gegeben haben. Doch wann sammelte man sich in einem Verband, und wie rekrutierte sich der Verband aus den ländlichen Siedlungen. In den Einheiten unter einem Kriegsfürsten, die sich ihm aus unterschiedlichen Gegenden angeschlossen hatten, sorgte jeder Krieger zuerst für die eigene Ausrüstung selbst und brachte sie mit; andererseits sorgte auch der Anführer aus eigenen Waffenfabriken für eine gleichartige Bewaffnung, wie das bei den Kriegsausrüstungsopfern nachzuweisen ist (vgl. oben S. 671 und unten S. 739). Gründe für die Kriege untereinander und gegen Rom war, wie M. Meyer das formuliert, hostium aviditas, die Gier nach Gütern der anderen, die Beute.2533 Wie germanische Kriegerverbände gegen einander kämpften, kann die Archäologie nicht nachweisen; den Berichten der antiken Schriftsteller sollte man nicht trauen. Der Rückgriff auf die Reliefs der Trajanssäule zu den Dakerkriegen und der Markussäule zu den Markomannenkriegen könnte eine Vorstellung von den Kämpfen liefern, die jedoch nur aus der Sicht römischer Bildhauer entstanden sind und ganz bestimmte Aussagen vermitteln wollten (vgl. S. 650). Wie sie gegen römische Legionen kämpften, spiegeln die Befunde auf den Schlachtfeldern wie in Kalkriese oder Harzhorn (S. 760, 769). Es waren anscheinend Kämpfe aus dem Hinterhalt, Partisanenkämpfe, wie das heute auch als asymmetrische Kriege bezeichnet wird. Auch diese mussten organisiert und geübt werden. Andererseits scheint das Vorbild der römischen Legionen durchaus gewirkt haben, in dem man sich nach deren Strukturen richtete, was beispielsweise die Größe der Einheiten anging. Da nur die ersten Jahrhunderte um und nach Chr. von mir betrachtet werden, bleibt unberücksichtigt, dass in Mittel- und Nordeuropa Kampf und Kriege schon immer eine große Rolle gespielt haben. Die Felszeichnungen in Skandinavien bilden Schiffe mit vielen Ruderern, wohl Kriegsschiffe ab; auch Kämpfer mit Keulen und Äxten werden wiedergegeben. Die prächtigen Schwerter der Bronzezeit, parallel dazu Beile und Äxte, Lanzen- und Speerspitzen, auch Reste von Schilden, diese gar aus Bronzeblech, sind gut überliefert; die Einschränkung der Überlieferung hat in Norddeutschland dazu geführt, das lange Schwerter wie die der Hallstattzeit nicht oder kaum überliefert sind. Wie dem auch sei, es geht hier jetzt nicht darum, Bewaffnung und Kriegswesen in den Jahr-
2533 M. Meyer 2012b.
13.2 Kriegswesen
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hunderten zuvor zu beschreiben. Vielmehr soll es genügen darauf hinzuweisen, dass die Bewaffnung in den vorangegangenen Jahrhunderten prinzipiell nicht anders war als in den ersten Jahrhunderten n. Chr. Dasselbe trifft denn auch für die Kriegsführungen zu. Das Kriegswesen wird von der Größe der Truppeneinheiten, von den Truppenstärken bestimmt. Darüber habe ich mehrfach Berichte vorgelegt, zuletzt im Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 2007.2534 Zu germanischen Kampfverbänden und ihre Zusammensetzung gibt A. Rau ebenfalls eine Übersicht im Zusammenhang mit dem „Schlachtfeld“ beim Harzhorn.2535 Es sind immer dieselben Zahlen aus der Schriftüberlieferung, die auch ich schon zusammengestellt habe. Die von Caesar (De bello Gallico 4, 1, 4) zu den Sueben genannten 100 000 Mann sind unrealistisch, was aufgrund der Bevölkerungsdichte und der erforderlichen Logistik nicht zu akzeptieren ist. Nach einem siegreichen Germanenkrieg des Kaisers Probus (276–282) hat dieser 16 000 Krieger unter neun verschiedenen Kriegsfürsten ins römische Heer eingegliedert, d. h. auf jeden König kamen rund 1700 Krieger. Ähnlich sah das Heer des Alamannenkönigs Chnodomar aus, der in der Schlacht von Argentorate im Jahr 357 n. Chr. rund 35 000 Krieger unter mindestens 16 Anführern in die Schlacht führte, was pro Kriegsfürst etwa 2000 Kämpfer bedeutete. Zu Anfang des Markomannenkrieges werden zum Jahr 166 n. Chr. nur 6000 Krieger unter elf Anführern aufgeführt, d. h. nur 500 bis 600 unter einem Kriegsfürsten. Von den Heeresausrüstungsopfern im Ostseegebiet werden Waffen von mehreren hundert bis 1000 Mann ausgegraben. Nun erinnere ich daran, dass in der Varusschlacht drei Legionen mit bis zu 18 000 Mann vernichtet wurden, Arminius wird auf der germanischen Seite nicht viel weniger Krieger angeführt haben. Und Marbod soll sogar 70 000 Fußsoldaten und 400 Reiter nach römischer Weise exerziert haben. Doch werden die Kriegerverbände unter den Kriegsfürsten in Germanien, also ihre Gefolgschaften, nur begrenzte Größen gehabt haben können, etwa bis 3000 Mann, weil diese sonst auch nicht zu bezahlen (aus der Beute) gewesen wären (vgl. oben S. 518). Zu den Rekrutierungsräumen und wieviele Krieger eine Landschaft mit einer bestimmten Zahl von Dörfern stellen konnte, berichte ich später (S. 696). Nur so viel sei hier schon gesagt, dass aus einem Gebiet von 60x60 km rund 3000 Krieger rekrutiert werden konnten.2536 Standen in den Dörfern durchschnittlich gar mehr als 25 Gehöfte in den rund 150 Dörfern in diesem Areal, dann erhöhte sich die Kriegerzahl noch einmal deutlich. Weitere Angaben in der Forschungsliteratur regen zum Nachdenken an: „Riesige germanische Verbände“ drangen unter Marc Aurel über die Grenze an der Donau ins Reich nach Italien ein.2537 Immer wieder werden außerdem germanische Kontingente in den Reihen der Römer in den Feldzügen Caracallas 213 n. Chr. für Kriegszüge in 2534 Steuer 1982, 65; 2001a; 2007g; Hoeper, Steuer 1999a. 2535 Rau 2013b; Steuer 2007h, 279 f. 2536 Steuer 2007h, 277. 2537 Moosbauer 2018, 155, 156 Zitat.
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13 Waffen und Bewaffnung, Kriegswesen und Rekrutierungsräume
die Gebiete nördlich der Donau und andere Hilfstruppen in den Legionen genannt. G. Moosbauer spricht von einem „gewaltigen“ Heer von 10 000 Soldaten.2538 Kaiser Probus (276–282) gliederte 16 000 fränkische Krieger in die römische Armee ein, nahm neun barbarische Fürsten als Geiseln. Von welchen Größenordnungen ist in Germanien bei Kriegszügen auszugehen. Auf die Kriegermengen, deren Ausrüstungen in den Kriegsausrüstungsopferplätzen versenkt worden sind, gehe ich noch später ein (vgl. S. 706), doch kommt man nicht über Größenordnungen um 1800 Kämpfer hinaus. Auch die Zahlen für die Kämpfe am Harzhorn beschränken sich auf kaum mehr als 200 germanische Krieger (vgl. S. 769), während die Zahl des römischen Heeres unbestimmt bleibt. Doch ist jede Legion auch in der späteren Zeit zahlenmäßig größer als diese einheimischen Truppenansammlungen in Germanien. Bei der Varusschlacht 9 n. Chr. wurden drei Legionen vernichtet; das waren sicherlich bis zu 18 000 Mann. Wie stark waren die Einheiten des Arminius, da er siegreich sein konnte? Seine meuternde Auxiliareinheit mag etwa 600 Mann (480 Fußtruppen und 120 Reiter) umfasst haben, und wenn er gleich viele Kämpfer zusammengezogen hat, dann müssten es rund 300 Auxiliareinheiten bzw. germanische Kontingente gewesen sein. In welchem Umfang konnten im Norden „im Schatten des Römischen Reichs“ germanische Verbände zusammengezogen werden, um gegen mehrere Legionen eine Chance zu haben?2539 Die Größe der Kriegerverbände, die später gegen die römischen Verbände stießen, betrug etwa 20 000 Mann, wie die Goten an der Donau, mit 6000 Reitern dabei. Damals gab es schon kleine römische Legionen zu nur noch 1000 Mann (so unter Konstantin d. Gr. 306–337), obwohl im Römischen Reich 60–70 Millionen Menschen lebten.2540 Die Völkerschaft der Goten bestand aus 200 000 Menschen, davon waren 35 000 Männer Krieger, was ein Fünftel bis ein Sechstel bedeutete (vgl. dazu auch S. 381). Zurück zu den Jahrhunderten um und nach Chr. Geb. So, wie eine römische Legion in Centurien gegliedert war und diese wiederum in weitere Untereinheiten, waren auch die Kriegerverbände in Germanien alsbald gegliedert. Da Germanen von der Zeit des Augustus an als Leibgarden und als Söldner in der römischen Armee gedient haben, kannten sie auch die Struktur des römischen Militärs. Es gibt zudem Hinweise, dass auch schon in vorrömischer Eisenzeit die Truppenverbände in Germanien ähnlich wie später die römischen gegliedert waren. Vergessen werden sollte nicht, dass germanische Anführer wie Arminius und Marbod zeitweilig Auxiliareinheiten geführt und sich mit ihren Einheiten dem römischen Militär zur Verfügung gestellt haben. Es kämpften dann gewissermaßen römische gegen römisch ausgebildete Einheiten mit derselben Waffen-Ausstattung. Somit muss es auch nicht verwundern, dass weder bei den Ausgrabungen in Kalkriese noch auf dem Harzhorn
2538 Moosbauer 2018, 48 Zitat. 2539 Jørgensen, Storgaard, Thomsen (Eds.) 2003a, b. 2540 Campbell 1999, Sp. 9.
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germanische Waffen und Ausrüstungselemente in merkbaren Anteilen gefunden worden sind, weshalb gleich ob vermeintlicher Sieg oder eine Niederlage, die Funde keine Unterscheidung erlauben. Einerseits sind Heereseinheiten zu allen Zeiten ähnlich gegliedert worden, von der untersten Einheit von 9 oder 10 Mann bis zu den größeren Verbänden; andererseits – und darauf soll hier mit Nachdruck hingewiesen werden – zwangen gewissermaßen die ständigen Vorstöße römischer Legionen ins Innere Germaniens die Bevölkerung dazu, sich darauf einzustellen und entsprechend zu organisieren. Somit waren auch die germanischen Heeresverbände eine Reaktion auf die römischen, und Rom war der Grund für die Militarisierung der Gesellschaften in Germanien in großem Stil. Rom provozierte zur „Völkerwanderung“, die keine Wanderung von Völkern war, sondern der Vorstoß immer besser ausgerüsteter und geübter Kriegerverbände über die Grenze des Römischen Reichs in die Provinzen. Die Schriftüberlieferung hat dasselbe berichtet: Wie gesagt, Arminius befehligte gegen Varus unter anderen seine eigene „römische“ Auxiliareinheit, die er zusammengestellt und Rom als Hilfstruppe angeboten hatte. Deshalb spricht man auch von einer Meuterei und Revolte der Truppen des Arminius gegen die römischen Legionen. Dass Marbod in Böhmen bei seiner Befestigung eine große Zahl von Kämpfern, 70 000 Fußsoldaten und 4000 Reiter werden genannt, nach römischem Vorbild gegliedert und exerziert hat, ist ebenfalls ausführlich beschrieben worden (Velleius Paterculus 2, 109, 4);2541 doch werden diese großen Zahlen als Fiktion betrachtet, die nicht der Realität entsprochen haben können. Die archäologischen Quellen beschreiben diese militärischen Gliederungen, ranggestaffelt von dem Anführer über zehn Offiziere bis zu achtzig Kriegern, wie eine römische Centurie. Ob Rom tatsächlich dabei immer Vorbild war, oder sich diese Unterteilung und Strukturierung gewissermaßen „natürlich“ ergeben hat, muss nicht entschieden werden. Um die Kriegerverbände aus und in Germanien als Kampfverbände einschätzen zu können, gilt es, sich darüber Vorstellungen zu machen, um welche Art vom Kämpfen und Kriegen es sich jeweils handeln könnte. Die Aufstellung von Legionen und Heereseinheiten in offenem Gelände einander gegenüber war in der antiken Mittelmeerwelt üblich, sogar bei römischen „Bürgerkriegen“. Germanische Söldner lernten in Auxiliareinheiten auch diese Art von Krieg kennen. Doch seit den Zeiten der Varusschlacht verhielten sich die beiden Seiten unterschiedlich; die römischen Truppen waren in ihren alten Vorstellungen gefangen, während die germanischen Kriegerverbände aus dem Hinterhalt angriffen wie Partisanen. Ich wiederhole: Herwig Münkler hat dafür den Begriff des „asymmetrischen“ Krieges eingeführt, der in der modernen Welt der Gegenwart in den verschiedensten Teilen der Welt üblich geworden ist.2542 Die nächste Stufe sind hybride Kriege ohne Kriegserklärung, bei denen
2541 Goetz, Welwei (Hrsg.) 1995, 118 f. 2542 Münkler 2002/2009; 2013.
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offene Aktionen neben verdeckten Einsätzen stehen. Auch das war in den ersten Jahrhunderten nach Chr. Geb. zwischen Verbänden aus Germanien der Fall, die in die römischen Provinzen eindrangen, und dem Versuch der römischen Seite, Abwehr zu organisieren. Ziel ist und war die Destabilisierung staatlicher Strukturen. Die gefährlichste Phase ist heute inzwischen die Ausbreitung der terroristischen Kriegsführung. Dabei handelt es sich nicht um Aufstände aus der Mitte der Bevölkerung eines Gebietes heraus gegen die Obrigkeit, sondern um Anschläge von eingeschleusten Zellen aus den verschiedensten Herkunftsgebieten, die aus weltanschaulichen Gründen wahllos Unruhe und Vernichtung erreichen wollen. Der hybride Krieg verbindet ein Territorium, also einen politischen örtlich festgesetzten Verband, mit dem Terror-Netzwerk überall verteilter Zellen. Das Irreguläre muss auch gedacht werden, wenn man die militärischen Ereignisse in Germanien bewerten will. Gegner und Verbündete in Nordeuropa während des 1. bis 4. Jahrhunderts2543 sind zu jeder Zeit und überall in Germanien aufgetreten. Die Kriege zwischen den unterschiedlichsten Verbänden in Germanien selbst, weitab vom Römischen Reich, sind gestaffelt gewesen, je nachdem, gegen wen gekämpft werden sollte. Es begann bei nachbarschaftlichem Streit zwischen Familien, führte zu Kriegen zwischen Dörfern, zu Kriegszügen in andere Landschaften, auch der Beute wegen. Die Kämpferverbände konnten aus wenigen Kriegern bestanden haben, bei Streit und Rache zwischen Familien, sie konnten einige Dutzend Krieger zählen, wenige hundert bis zu den archäologisch und anhand der Schriftquellen erfassten Kriegerverbänden von einigen hundert und wenigen tausend Kämpfern. Der archäologische Niederschlag von Krieg sind einerseits die Heeresausrüstungsopfer, andererseits die Waffen, die als Beigabe in Gräber gelegt wurden (vgl. S. 661). Denn vernichtete und niedergebrannte Dörfer als Kampfzerstörungen sind archäologisch kaum fassbar, und außerdem sind Brände von Schadensfeuern oder von Kriegsfolgen nicht zu unterscheiden. Kampfgeschehen waren mit Sicherheit auch nicht eine der Ursachen für die ständige Verlagerung von Dörfern – bei teils beibehaltenem Grundriss. Überfälle, nicht nur – wie in den Schriftquellen überliefert – durch römische Legionen, sondern häufiger durch Kriegerbanden der näheren oder weiteren Nachbarschaft aus dem Inneren Germaniens führten sicherlich häufig zu verbrannten Dörfern, die wieder aufgebaut wurden, nachdem die Feinde abgezogen und die Bewohner aus ihren Verstecken hervorgekommen waren. Die Kriegsausrüstungsopfer in Jütland wurden von 350 v. Chr. bis etwa 525 n. Chr. niedergelegt, allein von 200 bis 475 fanden rund 30 Opferungen statt. Da diese Opferungen, die man bisher kennt, nur die Siege überliefern und mit Niederlagen und unentschiedenen Kämpfen gerechnet werden muss, wird insgesamt von mindestens 120 Schlachten ausgegangen. Mit den Opferkomplexen von Nydam IV (nur noch das Opfer einer kleinen Kriegermannschaft von 30 Schilden, Schwertern und 90
2543 Ilkjær 1997.
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Lanzen) und vom Opferplatz Kragehul 5 (nur noch 11 Lanzenspitzen, Teile von sieben Schwertern) werden die jüngsten Opferhandlungen erfasst, die nicht mehr von größeren Kriegereinheiten versenkt wurden wie die älteren Opferungen von Ausstattungen einiger hundert Kriegern. Es änderten sich damals die Opferbräuche im westlichen Ostseegebiet.2544 Die Gründe werden verschieden gewesen sein; es können sich entweder die religiösen Vorstellungen verändert haben oder die gesellschaftlich-politischen Strukturen, verbunden mit einer anderen Art der Kriegsführung. Der bisher bekannten insgesamt 50 Deponierungen in Mooren oder Seen im südlichen Ostseegebiet rufen den Eindruck hervor, dass diese Epoche der drei Jahrhunderte durch interne Aggressionen und politische Instabilität gekennzeichnet gewesen ist. Andererseits findet man in den archäologischen Befunden aber selten Brandhorizonte in Siedlungen, keine Massengräber, keine Zerstörung und vor allem auch keine Unterbrechung in der Entwicklung der ländlichen Siedlungen. Ich habe darauf hingewiesen, dass die überlieferten Befestigungsanlagen (vgl. oben S. 308) alle älter als die Massenopfer von Heeresausrüstungen sind und dass die kultisch-wirtschaftlichen Zentralorten wie Gudme,2545 Dankirke2546 oder Sorte Muld2547 sich erst später ausbildeten. Der Brauch, Heeresausrüstungen zu opfern und damit die Waffen eines Gegners dem weiteren Gebrauch zu entziehen, in dieser Zwischenzeit scheint damit keine dauerhaften Kriegszustände zu spiegeln, sondern punktuelle machtpolitische Auseinandersetzungen um persönliche Verbindungen zwischen den Kriegereliten der militarisierten Gesellschaften. Damit zeichnet sich die Aufspaltung der Gesellschaft in Gruppen mit kriegerischem Lebensstil und politischen Ambitionen ab gegenüber einer noch „rechtlich freien“ Bauernschaft im Sinne eines archaischen Staatsmodells.2548 Parallel zur frühen Epoche der Kriegsausrüstungsopfer liefen militärische Auseinandersetzungen mit dem Römischen Reich, und zwar die Markomannenkriege (166–180 n. Chr.), die Gründung des sogenannten Gallisches Sonderreichs des Postumus mit Anwerbung von Söldnern aus Germanien (259–268 n. Chr.) und das Verlassen des obergermanisch-raetischen Limes, verbunden mit der Zurückverlegung der Grenze an den Rhein und an die Donau (259–274 n. Chr.). Damit war zeitlich auch verbunden die Besetzung Südwestdeutschlands durch Kriegerverbände aus dem Inneren Germaniens (seit 233 n. Chr. schriftlich überliefert), die sich später zum Stamm der Alamannen zusammentaten, sowie die Einfälle der Franken über den Rhein mit der Besetzung und Zerstörung Kölns. Das Ende dieser großen Massenopferungen wird durch den Fund von individuellen Prunkwaffenteilen im Moor von Nydam IV um 470/480 markiert. Es folgte dann gewissermaßen – wiederum eher individuell – als neue Kultpraxis die Opferung von Goldbrakteaten (dazu S. 1206), die Kopien spät2544 Ilkjær 2001b; 2003, 56 f. 2545 Jørgensen 2010; 2011; Stoklund, Thrane 1999. 2546 Bendixen u.a 1984; Højberg Bjerg 2011(2013). 2547 Watt 2005. 2548 Rau 2016.
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antiker kaiserlicher Goldmedaillons des 4. Jahrhunderts sind, als Spiegelung einer sichtlich veränderten Götterwelt und parallel dazu wohl auch einer geänderten politischen Umorganisation der ehemaligen Stammesgesellschaften zu beginnenden Königs- und Territorialherrschaften. Der örtliche Widerstand der Kleinlandschaften führte zuvor zum Bau von Grenzbefestigungen, Gräben und Palisaden.2549 Dass die anhand der Elitegräber lokalisierbaren Reichtumsmittelpunkte wie die Halbinsel Stevns auf Seeland mit den Gräbern um Himlingøje 2550Ausgangspunkte von Kriegszügen waren, wie auch überlegt wurde, ist unwahrscheinlich. Dann müsste mit nachbarschaftlichen Kriegen gerechnet werden, die auch von Jütland aus rückwirkend wieder diese Mittelpunkte angegriffen hätten. Was die Kampfesweise betrifft, so haben sich G. Domański über die Zunahme der militärischen Kräfte der barbarischen Völker Mitteleuropas bis zu den Markomannenkriegen2551 und K. Randsborg über die skandinavischen Armeen bzw. über die militärische Organisation vor der Wikingerzeit Gedanken gemacht.2552 Zu registrieren ist, dass anscheinend – im Widerstand gegen die römischen Soldaten messbar – von der Zeit der Varusschlacht unter Arminius und später bei Marbod bis zu den Markomannenkriegen die militärischen Kräfte in Germanien ständig zunahmen. Das lag einerseits am Anstieg der Bevölkerungsdichte, damit auch an der steigenden Zahl der zu rekrutierenden Krieger und andererseits sichtlich an der Qualitätszunahme der Waffen und des militärischen Exerzierens. Die in den Zahlen begrenzten Kriegsausrüstungsopfer in Jütland standen damit in keinem Verhältnis zu den wesentlich größeren Kontingenten, die zu rekrutieren nun möglich waren. Wie in der Schlacht bei Straßburg 357 die mehr als 30 000 Krieger auf der germanischen Seite nicht unter einem Kommando zusammengekommen waren und befehligt wurden, ist das auch für die militärischen Strukturen im Inneren Germaniens annehmen: Es handelte sich um Koalitionen von zahlreichen, vielleicht zehn Kriegsfürsten, die jeweils 3000 Kämpfer um sich versammeln konnten. Schon Arminius hatte gegen Varus solche Koalitionen mehrerer Anführer zu einem Bündnis gewinnen können. Sowohl archäologisch als auch über die schriftliche Überlieferung ist der Sonderfall der Bataver westlich des Niederrheins von 50 v. bis 450 n. Chr. interessant, die Ausbildung und Existenz einer sesshaften Kriegergesellschaft unter dem Schirm der römischen Kontrolle. Man kennt die Zahl der Bewohner dieser Gruppe und die Menge der zu stellenden Krieger (vgl. oben S. 384).2553 Sogar eine eigene Münzprägung wurde in ihrem Gebiet entwickelt.2554 Von den Batavern standen etwa 5000 Soldaten 2549 Nørgård Jørgensen 2003. 2550 Lund Hansen 1995; 1999. 2551 Domański 2003. 2552 Randsborg 1997. 2553 J. A. W. Nicolay 2007; Roymans 1990; 2004; 2009. 2554 Roymans 2001.
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im römischen Militärdienst. Die Gesamtbevölkerung dieser Bataver wird im 1. Jahrhundert n. Chr. mit rund 40 000 Menschen, also rund 20 000 Männer angesetzt, d. h. rund ein Viertel konnten Kriegsdienst leisten.2555 Die Karte der Verbreitung von römischen Militaria und von Pferdezaumzeug zeigt ein sehr dicht besiedeltes Gebiet; die Siedlungen werden in Blickverbindung zueinander gelegen haben, noch nicht Villen, sondern Dörfer mit Wohn-Stall-Häusern. Bataver stellten zudem zeitweilig die kaiserliche Leibgarde. Bei der Umsiedlung aus dem Westen vom Rhein nach Böhmen soll es sich um die „Wanderung“ der Markomannen und Quaden gehandelt haben, um neue Siedlungsräume zu besetzen.2556 Es geht um die erste Einwanderungswelle von Germanen in ein zuvor keltisch besiedeltes Land, nach Böhmen, und zwar waren das die Quaden, was die schriftliche Überlieferung aussagt. Erst später folgten die Markomannen unter Marbod nach. Beide „Stämme“ kamen, so der Archäologe V. Salač – nach den Schriftquellen und den archäologischen Befunden – aus Gebieten nördlich des Thüringer Waldes. Schuld an den Bewegungen hätten die Züge des Drusus vom Rhein ins Innere Germaniens nach den Jahren 12 und 9 v. Chr. gehabt. Diese Nachricht aus den Schriftquellen wird nun parallelisiert mit archäologischen Befunden, der Verbreitung der sogenannten Großromstedter Situlen, einer Keramikform, in Mitteleuropa, in dem kartiert werden (1) die frühen Formen, (2) die späten Formen, (3) die zeitlichen Mischformen.2557 Die Ausbreitung der Form dieses Tongefäßes von diesseits der Niederelbe nach Süden in Richtung Südwesten und Richtung Südosten nach Böhmen wird mit einer Bevölkerungsbewegung gleichgesetzt (dazu oben S. 121 meine andere Ansicht). Auch die Gräberfelder der Stufen der Römischen Kaiserzeit (B1) bis 80 n. Chr. würden diese Verschiebung der räumlichen Beziehungen von Thüringen nach Böhmen belegen. V. Salač betont noch 2016 den direkten Widerspruch zur gegenwärtigen Fachliteratur, dass nämlich Marbod sich mit seinen Markomannen im Gebiet der Quaden niedergelassen habe, verbunden mit der Zerstörung der keltischen Zivilisation durch diesen Einbruch der Germanen von Norden. Das habe ich deshalb so ausführlich geschildert, weil hier wieder oder immer noch die Vermischung von historischen Nachrichten und den archäologischen Sachquellen erfolgt, ohne das tatsächlich methodisch begründen zu können. Aber nach Meinung anderer Forscher siedelten schon vor Marbods Ankunft dort Germanen, die Träger der Großromstedter Kultur, weiter im Süden. Wie problematisch der Versuch der ethnischen Zuordnung ist, wird dadurch offenbar, dass V. Salač meint, die Quaden im Königreich des Vannius in der Südwestslowakei seinen nicht dieselben (!) Quaden gewesen, die
2555 Roymans 2009, 87 Abb. 2 römische Militaria, 90 Abb. 5 Kartierung der ländlichen Siedlungen mit Wohn-Stall-Häusern. 2556 Salač 2016, 514 Abb. 1 A und B. 2557 Salač 2016, 508 Abb. 12 (Karte nach Völling 1995).
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sich 70 Jahre früher aus dem Gebiet nördlich des Thüringer Waldes auf den Weg nach Böhmen begeben hatten: Um die Zeitenwende siedelten die Quaden während einiger Generationen in drei verschiedenen Gebieten, allmählich verschoben sie ihre Siedlungen um mehr als 600 km, assimilierten die keltische Bevölkerung in Böhmen, vermischten sich mit anderen germanischen Stämmen und schafften es, ihre materielle Kultur zu verändern (Großromstedter Kultur und Kultur der Stufe B1 der Römischen Kaiserzeit). Es kann also die Frage gestellt werden, was von ihrer ursprünglichen Identität eigentlich außer dem Namen übrig bleiben konnte.2558
Dieser Versuch, Schriftquellen und archäologische Quellen für eine längere Zeitspanne parallel zu schalten, kann also nicht gelingen. Es sieht doch so aus, dass unter den Namen Quaden oder auch später Markomannen verschiedene Kriegerverbände, keine Völkerschaften, unterwegs waren. Ich widerspreche als Archäologe der geschilderten andersartigen Deutung, weil unterschiedliche Seinsbereiche verquickt werden, und auch der Historiker – im zweiten Kommentar – zeigt zudem, dass diese herangezogenen Schriftquellen auch anders verstanden werden können, dass nämlich die Quaden kein Teil der Sueben nahe der Elbe gewesen sein werden, und dass Bouiaimon (als Böhmen betrachtet) bei Strabo ein Königssitz war und kein Territorium.2559 Was sehe ich: Es ist weder deutlich zu machen, was hinter den Namen Quaden oder Markomannen für eine gesellschaftliche Einheit steht; die vagen Vorstellung von „Stamm“ helfen ohne weitere Definitionen nicht weiter. Noch ist nicht beschrieben, was eigentlich eine Keramikverbreitung im Kartenbild zeigt, was das als gesellschaftliche Realität gewesen sein könnte. Vielleicht waren das nur Verwandtschaften von Frauen, die ihre Art und Weise, Töpfe zu formen, durch Verheiratung in die Nachbarschaft mitgenommen haben. Dazu habe ich mich oben ausführlich geäußert (vgl. S. 434 ff.). Jetzt sollte hier nachfolgend untersucht werden, was sich hinter den Markomannenkriegen unter Kaiser Marcus Aurelius (161–180) verbirgt, wenn die schriftliche Überlieferung nicht herangezogen wird, sondern nur archäologische Befunde dieser knappen zwei Jahrzehnte bzw. einer etwas erweiterten Spanne zuvor und danach berücksichtigt und näher betrachtet werden. Dazu wird etwas später Stellung genommen (vgl. S. 685 ff.). Germanen erscheinen in der Überlieferung von Anfang an als Kriegerverbände, nicht als sesshafte Bauern. Von den Kimbern und Teutonen (Züge und Auswanderung aus dem Norden), die Rom zwischen 120 und 102 v. Chr. bedrohten, bis zu Ariovist und den Sueben, die den Häduern Ende der 70er Jahre v. Chr. zu Hilfe kamen und 58 v. Chr. von Caesar besiegt wurden und weiter zu den frühen Markomannen zur Zeit Marbods und den Markomannenkriegen von 166–180 n. Chr. geht es immer um Bewegungen größerer Militärverbände. Zwar berichtet die Schriftüberlieferung darüber vielfältig, aber weder die Wanderungen, noch die Kriegsschauplätze sind archäologisch zu 2558 Salač 2016, 531 (deutsche Zusammenfassung). 2559 Prchlik 2016, 532.
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erkennen. Der Zugang zum Kriegswesen in Germanien muss auf andere Weise gewonnen werden. Das gelingt weniger über die Beigaben von Waffen in Gräbern, aber mehr über die Opferniederlegungen von Heeresausrüstungen.2560 Auch zur Gesellschaft in Germanien gehörte gewissermaßen als anthropologische Konstante die ständige Gegenwart von Krieg. Tacitus berichtet (Germania c. 38) – dies sei als Ausnahme zu zitieren erlaubt, da gleich wieder die Brücke zur archäologischen Überlieferung geschlagen wird –, dass eine spezielle Haartracht, der Swebenknoten, eigentlich typisch für Krieger der Sueben war, aber von anderen wegen des Kriegerruhmes der Sueben übernommen worden sei. Dies bestätigen archäologische Quellen schon seit längerem. Köpfe mit Swebenknoten in der Haartracht sind in Jütland, in den Niederlanden und andernorts als Moorleichen gefunden worden, also außerhalb des eigentlichen Swebengebietes.2561 In den letzten Jahrzehnten sind drei große Bronzekessel römischer Herstellung in reich ausgestatteten Germanengräbern entdeckt worden, deren Henkelattaschen als Männerköpfe mit Swebenknoten geformt sind, also die Haartracht des germanischen Kriegers zeigen, und zwar einerseits im Süden nahe der Grenze zum Römischen Reich in Mähren, andererseits im Norden an der Ostseeküste und schließlich im Osten. Auch diese Fundorte liegen außerhalb des eigentlichen Swebengebietes, wenn man das überhaupt sinnvoll mit Grenzen beschreiben kann (vgl. oben S. 72) (oben Abb. 4). Betrachtet man die kriegerischen Auseinandersetzungen der Germanen, dann sind zwei grundsätzlich verschiedene Situationen zu berücksichtigen, einerseits die Kriege gegen die römischen Provinzen sowie die Einfälle römischer Truppen nach Germanien und andererseits innergermanische Kämpfe. Zu letzteren gehören als Niederschlag die Heeresausrüstungsopfer, die im nächsten Abschnitt geschildert werden (vgl. S. 706), und über römische nach und in Germanien bzw. germanische Einfälle in die Provinzen spreche ich anschließend (vgl. S. 989). Von römischer Seite aus sind Kriegszüge bis etwa 250 km ins germanische Binnenland, ins mittlere Deutschland überliefert, aber auch Züge vom Rhein bis an die Elbe waren möglich, also über 300 km Entfernung (geringer waren die Vormarschwege von der Donau nach Norden, nach Mähren). Das alles waren Marschzeiten, geht man von rund 15 km pro Tag aus, von zwei oder drei Wochen, einschließlich des Rückweges dann vier bis sechs Wochen. Nicht vergessen werden sollten auch die Unternehmungen über See, also beispielsweise die Fahrten an der südlichen Nordseeküste entlang und die Elbe hinauf. Im Vergleich zur gewaltigen Ausdehnung des römischen Reichs und von Truppenverschiebungen aus Syrien bis nach Gallien gegenüber Germanien war das ein recht überschaubarer Zeitaufwand. Die innergermanischen Feldzüge überbrückten sicherlich meist noch geringere Entfernungen.2562 Es heißt, die überlieferten Kriegsereig-
2560 Randsborg 2015. 2561 Steuer 2007 f. 2562 Tausend 2009.
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nisse, so die Markomannenkriege, hätten Spuren überall in Germanien hinterlassen. Aber davon ist direkt im archäologischen Befund nichts erkennbar. Was man wohl an der Verbreitung archäologischer Funde und Befunde erkennen zu glauben meint, sind Besiedlungsvorgänge oder immer wieder beschrittene Fernwege, beispielsweise im Verlauf der Elbe von der Mündung bis nach Böhmen, aber nicht unmittelbar Truppenbewegungen. Ich mache regelmäßig auf diese Art der archäologisch-historischen Mischargumentation aufmerksam, die ein anscheinend klares Kartenbild mit immer nur derselben Auswahl aus der Ereignisgeschichte nach den Schriftquellen verknüpft. Wie oben erläutert (S. 87 ff.), ist auf der Seite der archäologischen Quellen eigentlich nicht geklärt, was die Verbreitungskarten von Sachgütern und Sitten denn tatsächlich aussagen und wie sie zustande gekommen sind, als Konstrukt der Wissenschaft; und auf der Seite der Schriftquellen ist nicht eindeutig auszumachen, welcher Aspekt der Ereignisgeschichte denn zum Kartenbild passen könnte. Die kriegerischen Ereignisse waren auch immer so kurzfristig; sogar die Markomannenkriege dauerten nur knapp 20 Jahre, dass die Archäologie mit ihren – oft schon übertrieben zeitlich engen – Phasengliederungen aus ihrem Material heraus diese wenigen Jahre nicht erfassen kann. Die Kerngebiete kleiner Herrschaften in Germanien (vgl. unten S. 806) hatten Durchmesser von 30 bis 50 km, die in zwei bis drei Tagesreisen durchzogen werden konnten, d. h. auch Kriegerverbände, römische oder germanische, marschierten in der Regel durch mehrere derartige Siedlungsareale, aus denen sie sich auch versorgten. Auf die Größe der jeweiligen Streitkräfte kam es an, ob das umliegenden Gebiet für diese Selbstversorgung ausreichte oder ob im Tross das meiste mitgeführt werden musste. Für Kriegerverbände in Germanien mit einigen hundert bis tausend Mann war das etwas ganz anderes, als wenn mehrere römische Legionen marschierten. Der Versorgungsbedarf einer Legion von 6000 Mann lag bei 19 Tonnen Getreide pro Tag, was nicht in jedem Dorf aus den Speichern konfisziert werden konnte. Wenn es im Katalog zur Ausstellung „Germanicus“ 2015 heißt, anders als etwa in Gallien (mit ihren stadtähnlichen Oppida) genüge die Subsistenzwirtschaft in Germanien nicht in Ansätzen dazu, die riesigen [römischen] Heere zu ernähren,2563 weshalb alle Versorgungsgüter im Tross mitgeführt werden mussten, dann sollte man eine solche Aussage trotzdem wieder nur als Vorurteil ansehen; denn die wirtschaftliche Kraft der ländlichen Siedlungen in Gallien oder in Germanien war zwischen beiden Kulturwelten nicht unterschiedlich, und in Germanien ist eine von Jahrhundert zu Jahrhundert steigende Wirtschaftskraft anhand der Siedlungsbefunde erkennbar. Nur waren in den einzelnen Dörfern nicht derartig umfangreiche Getreidemengen gespeichert, um Legionäre zu versorgen. Das war jedenfalls nicht der Zweck der Speicher.
2563 Voss 2015, 54.
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Das Eingreifen des Römischen Reichs in Germanien in der Okkupationsphase wird durch neue archäologische Entdeckungen immer deutlicher fassbar. Die Zahl der römischen Marschlager wächst ständig und bestätigt die theoretisch bzw. anhand der Schriftquellen postulierten Marschwege. Es ist natürlich bekannt, dass beim Vordringen der Legionen alle 15 bis 20 km ein Marschlager für die Übernachtung gebaut werden musste. Damit wird die Durchdringung durch römisches Militär aber unmittelbarer nachvollziehbar, und zugleich ist der erfolgreiche Widerstand besser zu bewerten. „Roms vergessener Feldzug“, um den sich die Wissenschaft erst gekümmert hat, nachdem man das vermeintliche Schlachtfeld bei Harzhorn entdeckt hatte und in die Zeit um 235 n. Chr. datieren kann, muss ebenfalls zahlreiche Marschlager hinterlassen haben, da man weit vom Limes entfernt sich inmitten Germaniens bewegt hat.2564 Und zwischenzeitlich hat es immer wieder Feldzüge ins Innere Germaniens gegeben, so beispielsweise die Chatten-Feldzüge in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts. Die einst unter ihrem König Marbod nach 9 v. Chr. in Richtung Böhmen ausgewanderten Markomannen, denen sich andere Kriegerverbände bzw. „Stämme“ anschlossen, entwickelten sich zu einer für Rom bedrohlichen Macht nahe der Grenze. Eine Folge waren später die langjährigen Markomannenkriege (verschiedene Phasen zwischen 166–180) unter Kaiser Marc Aurel (161–180), an denen auch Langobarden, Quaden und Obier teilnahmen, und diese möchte die Forschung in verschiedenen archäologischen Befunden erfassen können. Die Mannschaftsstärken dieser Kriegerverbände sind bekannt:2565 Für das Jahr 166/167 wird von einem Heer von 6000 verbündeten Markomannen, Langobarden, Obiern und anderen Gruppen berichtet. Können sie überhaupt archäologische Spuren hinterlassen haben, wenn man beispielsweise ihre Herkunftsgebiete bzw. ihre Siedlungsräume nicht kennt. In der ersten Phase etwa von 166 bis 171 befand sich Rom in der Defensive, in der nächsten Phase von 172 bis 175 führte die römische Seite erfolgreiche Offensiven durch, und in der dritten Phase von 177/78 bis 180 bzw.182 gab es weitere Auseinandersetzungen trotz der Versuche, Frieden zu finden. Insgesamt sind das aber nur knapp 15 Jahre, eine enge Spanne, die am archäologischen Fundstoff chronologisch kaum so genau erfasst werden kann, weil die Datierungsmöglichkeiten methodisch begrenzt sind (vgl. S. 150). Es geht dabei auf römischem Gebiet um Münzschätze mit entsprechender Datierung der jüngsten Münzen. In Germanien geht es dabei nicht um Schlachtfelder, sondern um die Bewegungen der römischen Armeen. Von der Donau die March aufwärts finden sich – wie im Westen in der früheren Phase die Lager an der Lippe – römische Vormarschlager und Militärstützpunkte bis in das Gebiet um Mušov in Mähren (vgl. unten S. 1007 und S. 1082) (vgl. auch Abb. 78 und 84). Römische Ausrüstungsgegenstände von Mähren über Böhmen die Elbe abwärts bis zur Nordsee und nach Jütland werden auf diese Ereignisse während der und nach
2564 Pöppelmann u. a. (Hrsg.) 2013. 2565 Steuer 2007h, 281.
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den Markomannenkriegen zurückgeführt, indem man darin die Züge germanischer Kriegerverbände nach Südosten und wieder zurück sehen will. Die Sachgüter sind erst nach dem Tod ihrer Eigentümer als Beigaben in die Gräber gelangt, was sicherlich eine längere Zeitspanne ausgemacht hat, und ab wann und auf welche Weise sie in ihren Besitz gekommen sind, bleibt ebenfalls unbekannt. Das wird in der Regel überhaupt nichts mit den Kriegszügen zu tun gehabt haben. Man kann gerade diesen Fundniederschlag auch so deuten, dass hier eine über die Jahrhunderte bestehende Fernbeziehung – in beiden Richtungen – widergespiegelt wird; denn die römischen Sachgüter im Germanischen stammen aus Gräbern oder Mooren: Römische Kettenpanzer und Ringknaufschwerter beispielsweise, die auf dieser Diagonale konzentriert gefunden werden, oder die tauschierten Sporen, wie sie im Grab von Mušov gleich in großer Zahl gelegen haben, verbreitet sind bis nach Jütland und gar Südschweden.2566 Das sind nicht Spuren aus unmittelbarem Kampfgeschehen. Im Bereich der Elbgermanen werden gewöhnlich die Langobarden, Sueben, Hermunduren, Markomannen und Quaden lokalisiert. Indirekt werden auch die Darstellungen auf der Markussäule herangezogen. Ansonsten wird allgemein davon ausgegangen, dass derartige kriegerische Ereignisse das Innere Germaniens ebenso verändert hätten, wie man Spuren in der römischen Grenzverteidigung findet. Denn ungefähr zeitlich parallel verlaufen Änderungen der archäologischen Kulturen, in der Verschiebung der WielbarkKultur nach Südosten, dem Ende zahlreicher Gräberfelder der Przeworsk-Kultur in der Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. Im Zuge der Vormarschwege der Römer wurden die Bauwerke bei Mušov spätestens gegen 200 n. Chr. zerstört.2567 Doch betrachtet man demgegenüber das „Königsgrab“ von Mušov, nur 1,5 km vom einstigen Römerlager entfernt, mit seinen reichen Beigaben als Niederschlag von Akkulturationsvorgängen, dem Wunsch, sich römischer Lebensweise anzupassen. Auch andere Bestattungen dieses Gebietes zeichnen sich durch besondere Beigaben römischer Provenienz aus. Es muss klar sein, dass relativ kurzfristige kriegerische Ereignisse sich im archäologischen Quellenbestand kaum nachweisen lassen, weil jeweils auch ganz andere Erklärungsmuster benannt werden könnten, um dasselbe Fundbild zu erreichen. Archäologisch datierte Zeithorizonte – immer aber mindestens von einigen Jahrzehnten – können durch gleichartige Sachaltertümer markiert werden, besagen dann aber auch nicht mehr als diese Gleichzeitigkeit in einer längeren Zeitspanne aufgrund ihrer Produktion oder der gleichartigen Niederlegungssitte beim Grabbrauch. Schon der Versuch, für den Machtbereich des Arminius und den des Marbod eine Beziehung im archäologischen Befundmaterial zu finden, gelingt – im Prinzip – nicht, weil sich die archäologischen Konstrukte von Kulturbereichen, hier die Rhein-WeserGermanen für Arminius und die südlichen Elbgermanen in Böhmen für Marbod und ihre jeweilige Anhängerschaften zwar unterscheiden, aber doch wird resigniert fest-
2566 Böhme 1975. 2567 Tejral 2001a.
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gestellt, dass sich die Herrschaftsbereiche der beiden Anführer von Kriegerverbänden nicht im archäologischen Verteilungsbild abzeichnen: „Die materielle archäologische Kultur spiegelt hierbei also offensichtlich nicht die jeweilige Machtsituation wider“, heißt es im Katalog „Mythos“ zur Vasusschlacht von 2009.2568 Eine Fülle von Begriffen gehört zum allgemeinen Sprachgebrauch, nicht nur im Bereich der wissenschaftlichen Diskussion, die eigentlich definiert sein sollten. Was wird mit Stammesbildung, Ethnogenese gemeint, überhaupt mit den Begriffen Stamm und Volk? Was verstand man und versteht man heute unter „Völkerwanderung“? Was für Gruppen bewegen sich damals, was wanderte, Ideen oder Menschen? Züge von Kriegerverbänden, Wanderungen, Umsiedlungen, Landnahmen sind mit Mobilität von Menschen verbunden. Was kann die Archäologie davon nachweisen? Nach meiner Ansicht ist es bisher nicht gelungen, Wanderungen von Völkerschaften bzw. von Kriegerverbänden in archäologischen Fund- und Befundbildern zu erkennen; dasselbe betrifft die in den Schriftquellen überlieferten Umsiedlungen. Diese Prozesse sind zeitlich zu begrenzt, als dass unsere Datierungsmethoden das überhaupt erkennen könnten, zumal Kartierungen von Sachgütern und auch von militärischen Befunden immer nur eine Momentaufnahme, im Bild eine Gleichzeitigkeit abbilden und kein Nacheinander, keine Prozesse der Mobilität, die erst nach chronologischer Aufschlüsselung erahnt werden können. Bei Landnahmen von Gruppen bzw. dauerhaften Ansiedlungen in neuen Landschaften scheinen jedoch Ergebnisse von Mobilität fassbar zu sein, wobei zumeist nicht erkennbar ist, dass alte Siedlungsgebiete komplett oder von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung verlassen worden sind. Im Nachfolgenden werden derartige Vorgänge jeweils angesprochen und bewertet werden. Wie sollte man folgendes Ereignis bezeichnen? Ein erfolgreicher Kriegsherr sammelt eine militärische Gefolgschaft von jungen Kämpfern aus verschiedenen Siedlungsgebieten, Wohnarealen von Stämmen (?), und zieht über die Grenzen des Römischen Reichs, entweder um Beute zu machen oder sich als militärische Einheit einer römischen Armee als Söldner bzw. Hilfstruppe anzubieten oder sich in neuen Gebieten niederzulassen, und das entweder aufgrund eigener Macht oder gebilligt über ein Bündnis mit der römischen Verwaltung – als Foederaten. Die antiken Quellen beschreiben dazu mehrere, unterschiedlich zu bewertende Möglichkeiten: Der Kriegerverband zieht in freies, schon vorher entsiedeltes Gebiet oder zwischen die Siedlungen der nur noch locker besetzten Landschaften, oder lässt sich als Einquartierung in bestehende Strukturen nieder und dabei unterstützen durch Lebensmittelversorgung oder durch Geldzahlungen (Tribute). Früher gehörten solche Vorgänge zu den „Völkerwanderungen“, heute sieht man das – wie gerade erläutert – wesentlich differenzierter und betrachtet die geschilderte Variationsbreite der Erklärungsmöglichkeiten. Die Formen der Niederlassungen sind verschieden, und ebenso
2568 Kehne, Salač 2009, 121.
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differenziert sind die jeweiligen Strukturen der Kriegerverbände zu berücksichtigen. Wie müssten die archäologischen Fundkarten dazu aussehen? Was waren das für Heere der Germanen, und wie rekrutierten sie sich? Die Ausrüstung der meisten Krieger bestand aus zwei Stangenwaffen (Lanze und Speer) sowie dem Schild als Grundausstattung, ergänzt nur bei einem Teil der Krieger durch das Schwert, und einige wiederum waren auch beritten. Der Kampf mit diesen Waffen setzte ständige Übung voraus und das Zusammenwirken als Heereseinheit in der Schlacht zusätzlich das Trainieren der gemeinsamen Handlungen. Nun war sicherlich jeder Mann von früher Jugend an in jenen insgesamt kriegerischen und militarisierten Zeiten in Germanien an der Waffe geübt, auch wenn er später zumeist in der Landwirtschaft tätig war. In späteren Jahrhunderten, der Epoche der Alemannen, Franken, Thüringer und Sachsen der Merowingerzeit, bekamen fast alle Männer bei ihrem Tod in ihrer dörflichen Gemeinschaft ihre Waffenausrüstung, oft sogar zwei Hiebwaffen, das zweischneidige Schwert und den einschneidigen Sax mit ins Grab. Auch diese Gesellschaft des 5. bis 8. Jahrhunderts war durchgehend „militarisiert“, und jeder Mann konnte mit den Waffen umgehen, wurde zu Kriegszügen gerufen und musste zuvor regelmäßig zuhause auch geübt haben. Die Beteiligung an nachbarschaftlichen Fehden oft mit tödlichem Ausgang ist vielfach sogar archäologisch überliefert.2569 Ebenso wird es in den vorangegangenen Jahrhunderten gewesen sein, auch wenn damals die Waffenbeigabe im Grab noch wesentlich seltener üblich war. Die Beigabe von Waffen in den Bestattungen während der Epoche vom 1. bis zum 4./5. Jahrhundert war aufgrund der Grabsitte nicht die Regel wie später zur Merowingerzeit, sondern wie geschildert auch außerordentlich variabel in der Zeit und von Ort zu Ort verschieden (vgl. oben S. 661 ff.).2570 Vor diesem Hintergrund und im Vergleich mit ethnographischen Beobachtungen sowie mit modernen Zahlenangaben wird davon ausgegangen, dass ein Fünftel, also 20%, der Bewohner eines Gehöftes, einer Siedlung und einer Landschaft zu Krieg und Kampf zusammenkommen konnten, zur Verteidigung der eigenen Lebenswelt gegenüber fremden Angreifern. Doch sind auch andere Kriegshandlungen in den antiken Berichten überliefert; denn Heeresverbände aus Germanien haben immer wieder das Römische Reich bedroht, seit den Zügen der Kimbern und Teutonen im späten 2. Jahrhundert v. Chr. und dann regelmäßig seit dem 3. Jahrhundert n. Chr. Das waren keine Verteidigungskriege, sondern sie galten Eroberungen und dem Beutemachen. Was die antiken Quellen über diese Grenzbedrohung berichten, ist nur die eine Seite; denn ebenso hat es solche Kriege auch vielfach innerhalb Germaniens gegeben. Das waren keine Verbände, die aus den Dörfern zur Verteidigung oder zu Angriffen rekrutiert wurden, sondern durchorganisierte Gefolgschaftsverbände, die sich aus allen Teilen Germaniens bei erfolgreichen Kriegsfürsten zusammenfanden.
2569 Steuer 2008; T. Schneider 2008; 2018. 2570 Adler 1993; Bemmann, Hahne 1994; Watt 2003a; Bemmann 2007a; Rau 2013b; Stylegar 2011.
13.2 Kriegswesen
689
Es zeichnet sich ab, dass es also mindestens drei Arten von Kriegen in Germanien gegeben hat, (1) den Verteidigungskrieg, zu der sich alle kampferprobten Männer einer Siedlungslandschaft zusammentaten, wenn sie angegriffen wurden, (2) den Krieg zur Erringung einer Herrschaft in einem Gebiet oder über einen Personenverband, zu dem sich Kämpfer einem Anführer, auch Gefolgschaftsführer genannt, zusammenschlossen, meist aus den Siedlungen in der Nachbarschaft, und (3) den Beutezug in die Ferne, zu dem ein Anführer, ein Warlord, Krieger aus vielen Gebieten Germaniens anwarb, die über Beute bezahlt wurden. Der militärische Anführer eines Verteidigungskrieges (1) konnte durch den Sieg Ansehen erringen, der Anführer eines Krieges um territoriale Herrschaft (2) wurde durch den Sieg zum Gefolgschaftsführer, der Anführer in einem erfolgreichen Beutekrieg (3) blieb Gefolgschaftsführer, so lange er Beute bot. Unterschiedlich waren die Einzugsbereiche für das jeweilige Heer, im Verteidigungskrieg (1) war es naturgemäß die männliche, wehrfähige Bevölkerung am Ort, im Krieg um Herrschaft (2) kamen ausgewählte Kämpfer einer Landschaft zusammen, während im Krieg (3), um zu Rauben und Beute zu machen, Kämpfer von überall her sich einem Anführer anschlossen. Es ging bei dieser Abstufung gewissermaßen von der Entwicklung vom Stamm, einer örtlich sesshaften Bevölkerungsgruppe aus Familienverbänden, zum Personenverbandsstaat, einer im Anfangsstadium frei sich bewegenden Kriegerschar, die sich weitgehend von der Herkunft und einem Heimatgebiet löste und durch Anwerbungen weiter wuchs.2571 Dieser Prozess führte im großen Zusammenhang gesehen schließlich zur Bildung von Königtümern in Germanien und weiter zur Transformation des Römischen Imperiums durch Integration germanischer Königreiche auf dem Boden der römischen Provinzen zu größeren Reichsbildungen, am Anfang zum Reich der Franken unter der Dynastie der Merowinger. Im Inneren Germaniens herrschte ständig Krieg, von denen die antiken Schriftsteller weniger erfuhren oder berichteten. Nun muss also auch hier zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Arten von Kriegen und Heeren unterschieden werden, die archäologisch fassbar sind. Auf der einen Seite waren das also Verteidigungs- und Nachbarschaftskriege, für die Männer aus den Dörfern rekrutiert wurden, mit dem Ziel, die eigenen Siedlungen, ein Territorium zu schützen oder zu erweitern. Direkte Belege sind die kilometerlangen Palisaden-Linien, die wie in Jütland Kleinlandschaften befestigten. Auf der anderen Seite gab es die Heereszüge in die Ferne, um Beute zu machen. Unter Heerkönigen gesammelte Krieger, herausgelöst aus ihrer lokalen Herkunft, zogen auch quer durch die Länder Germaniens und nicht nur gegen die römischen Provinzen. Nach dem Ende solcher Kriegszüge in die Ferne kamen die Krieger wieder zurück in ihre heimatlichen Dörfer, und wurden dort nach ihrem Tod bestattet. Sie hatten Sachen und Wissen mitgebracht, nicht nur aus der römischen Welt, sondern auch aus vielen Gebieten in Germanien.
2571 Steuer 2003a; 2006a; Ethelberg 2009d; 2011a.
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13 Waffen und Bewaffnung, Kriegswesen und Rekrutierungsräume
Archäologisch nachweisbare Heeresstärken bieten immer wieder die Zahlen um 600 oder 900, um 400 oder 800 Krieger. Zahlen, die schriftlich überliefert werden, nennen 30 000 oder 60 000 Mann, 3000 oder 6000 Krieger.2572 Diese größeren Heere kamen zusammen, wenn Koalitionen aus den verschiedensten Militärverbänden, die solche Stammesnamen tragen, die wir aus der Überlieferung kennen, gebildet wurden. Die einzelnen germanischen Kriegsfürsten sammelten jeweils 2000 bis 3000 Mann, die sie einer Koalition zuführen konnten. Solche Koalitionen unter jeweils eigenen Anführern sind für Ariovist (sieben Verbände), Arminius (sechs Verbände) und Marbod (mehr als zehn Verbände) in den ersten Jahrzehnten nach Chr. Geb. in den Schriftquellen überliefert, für die Alamannenkönige Vadomar oder Chnodomar für das 4. Jahrhundert und speziell für den Krieg 357 sind für Chnodomar in der Schlacht bei Straßburg, dessen Heer 30 000 Krieger gezählt haben soll, 17 Verbände aufgezählt worden. Die verschiedenen Fundkonzentrationen im Moor von Ejsbøl in Jütland spiegeln wohl die militärische Aufteilung eines kleineren Heeres der Römischen Kaiserzeit in einzelne Einheiten.2573 Gegen die drei Legionen, mit den Hilfstruppen aus drei Alen und sechs Kohorten des Varus, mit dem Tross mehr als 18 000 Mann, hatte Arminius also 9 n. Chr. – wenn man schätzt – von den Cheruskern 3000 bis 6000 Krieger und aus weiteren Stämmen etwa ebenso viele zusammengezogen, um ungefähr eine vergleichbare Stärke wie die Legionen zu haben. Wenn Arminius eigentlich vom römischen Militär kam und Auxiliartruppen angeführt und zur Meuterei gebracht hatte, dann müsste er zahlreiche weitere Einheiten von jeweils beispielsweise 600 Mann, in der Regel wohl etwa 480 Fußsoldaten und 120 Reiter, befehligt haben. Der Markomannenkönig Marbod organisierte 5 n. Chr. in Böhmen mit seiner Gefolgschaft und der dortigen „keltischen“ Bevölkerung eine Streitmacht von 70 000 Fußsoldaten und 4000 Reiter, die sich aus einer entsprechend größeren Zahl von angeworbenen Verbänden gebildet hatte und – wie es in den Quellen, so bei Tacitus (Velleius 2, 109, 2; vgl. Kehne 2001b, 259; Goetz, Welwei [Hrsg.], 118 f.) heißt – nach römischen Vorbild ausgebildet worden waren. Was geschah nach antiker Überlieferung (Tacitus, Annalen I, 61) auf dem VarusSchlachtfeld nach der clades Variana, das Germanicus 15 n. Chr. wieder aufgesucht und aufräumt hat? Er fand zerbrochene Waffen und Maultiergerippe (war das nach 7 Jahren überhaupt noch möglich oder handelt es sich nur um eine Erzählung ohne Wahrheitsgehalt?). Er sah die Altäre der Barbaren, an denen sie die Tribunen und die Centurionen ersten Ranges geschlachtet hatten. Die Ranghöchsten wurden geopfert, was gewissermaßen den geopferten Prunkausstattungen in den dänischen Mooren entspricht (vgl. unten S. 712). An Baumstämme waren Schädel genagelt. Das waren also Siegesfeiern und -rituale der Germanen in Germanien. Archäologen fanden auf dem Schlachtfeld bei Kalkriese eine Gesichtsmaske – die zum musealen Symbol für
2572 Steuer 2007h; Hoeper, Steuer 1999; Pack 2000. 2573 Nørgård-Jørgensen 1996.
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das Ereignis geworden ist –, von der die Silberverkleidung abgerissen worden war: Ging es dabei um Plünderung von Edelmetall oder spiegelt das auch eine kultische Komponente; war die Maske nur noch wertloser Schrott, während das Silber weiterverarbeitet worden konnte? Nirgends ist im Übrigen nachzulesen, wie hoch die Verluste auf germanischer Seite gewesen sind; denn auch das Heer des Arminius wird nicht 18 000 Römer vernichtet haben ohne eigene Gefallene. Was ist mit diesen geschehen? Sie wurden kaum zuhause auf den heimischen Gräberfeldern mit ihren Waffen bestattet; das wäre eine zu einfache Erklärung, die auch kaum nachgewiesen werden könnte. Größere germanische Heere entstanden also durch Koalitionen auf Zeit. Die 100 Gaue der Sueben, die Caesar (Bellum Gallicum 4.1) nennt und die jährlich 1000 Bewaffnete zu Kriegszügen aus dem Land führten, mögen ein Reflex dieser Situation sein. Caesar fährt aber fort, das die übrigen Krieger zuhause blieben, um die Landwirtschaft für den Unterhalt der Familien zu betreiben, dann aber im folgenden Jahr an der Reihe waren. Die Siedlungsgemeinschaft verfügte also über noch mehr Krieger, die beispielsweise bei einem Angriff von außen für die Verteidigung zur Verfügung standen. Welche Zahlen an Kriegern zusammenzubringen waren, welche Kriegerzahlen aus den Siedlungen rekrutiert werden konnten, wird an mehreren Stellen von mir erläutert (vgl. S. 386 und S. 675). Bei den geschilderten Größenordnungen von 600 bis 1000 Kriegern, die sich in den Heeresausrüstungsopfern spiegeln, kann man ohne Zweifel von durchorganisierten Militärverbänden ausgehen, die gemeinsam zu kämpfen geübt hatten. Es bleibt problematisch, aus den archäologischen Befunden, die das Ergebnis kriegerischer Vorgänge sind, so weitgehende Schlüsse zur politischen und sozialen Struktur in Germanien zu ziehen. Was allein mit Blick auf die drei Jahrhunderte der Massenopfer plausibel erscheint, relativiert sich, wenn man einen größeren Zeitraum überblickt. Deshalb wird hier auch das Massenopfer von Waffen und Booten von Hjortspring2574 mit vier Schiffen und entsprechend vielen Kriegern um 350 v. Chr. beschrieben (vgl. unten S. 713), und es wird auf den Zug der Kimbern und Teutonen ab 120 v. Chr. – der archäologisch nicht nachweisbar ist – hingewiesen und als Parallelen die deutlich älteren Kriegeropferungen in den keltischen Umgangstempeln der Latènezeit erläutert: Spiegeln die archäologischen Ergebnisse vergleichbare sozialpolitische Verhältnisse wider, oder täuschen das nur die Befunde vor? Dass die Kriegerverbände auch über das Wasser kamen, bezeugen die Boote, die wie die Waffen im See versenkt worden sind. Im Moor von Nydam wurden drei Boote, hergestellt in verschiedenen Gegenden, entdeckt, darunter eines aus Kiefernholz, das von der südlichen Ostseeküste gekommen sein muss.2575 Die rituelle Vernichtung der Boote, die
2574 Randsborg 1999; 2003b; Kaul 2003b. 2575 Rau (Hrsg.) 2013d mit Rieck 2002 und Jørgensen, Vang Petersen 2003.
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nachweislich aus der Ferne gekommen waren, bezeugt besonders deutlich den Willen der Sieger, die Besiegten grundsätzlich und nachhaltig zu vernichten. Permanenter Krieg spiegelt sich in den ständigen Einfällen in die römischen Provinzen; aber das ist nur die eine Richtung. Innerhalb Germaniens gab es parallel dazu also ebenso viele kriegerische Unternehmungen. Das ist indirekt den schriftlichen Überlieferungen antiker Autoren abzulesen, was Klaus Tausend 2009 ausreichend zusammengestellt hat.2576 Archäologisch direkt sind dafür nur die zahlreichen Heeresausrüstungsopfer die Beweise. Sonst lassen sich Kriege archäologisch in Germanien eigentlich nicht erkennen, sofern man nicht verschiedene Befunde als Schlachtfelder interpretiert, so wie in Kalkriese und am Harzhorn (vgl. S. 759). Als Endergebnis einer für die eine Seite siegreichen Schlacht sind die hunderte von gleichartigen, aber ranggestaffelten Waffen Abbild von organisierten, trainierten Kriegerverbänden. Ob der Gegner nun nur die örtliche wehrhafte Bevölkerung war oder ein anderer Verband, ist nicht zu entscheiden. Aber sicherlich ging es nicht um die Eroberung eines Territoriums; denn das hätte man nach einer Niederlage der örtlichen Bevölkerung inzwischen an der Veränderung der Siedlungslandschaft auch archäologisch ablesen können. Doch zu jeder These gibt es auch eine (neue) Gegenthese. Da inzwischen die Siedlungen im Umfeld des Moores von Nydam erforscht sind, mit über die Zeit hin sich verändernden Hausgrundrissen, wird der Befund in der Richtung gedeutet, dass es Bevölkerungsverschiebungen gegeben hat.2577 Es sei jetzt möglich, so wird argumentiert, die Bewohner über die Haustypologie anhand von C14- sowie Dendrodatierungen mit den verschiedenen zeitlich getrennten Opfervorgängen zu parallelisieren. Die Opferungen 1 bis 3 in Nydam hingen mit Angeln zusammen, die Opferungen 4 und 5 mit Jüten, die Opferung 6 mit Jüten oder vielleicht Dänen und die Opferung Nydam IV mit Leuten aus Südskandinavien und Norddeutschland. Das Ganze sei nun ein Beleg für große Bevölkerungsverschiebungen in diesem Gebiet während der Römischen Kaiserzeit und der Völkerwanderungszeit. Als Erklärungen böten sich Vertreibungen, Emigrationen, Assimilationen oder Völkermord (also ethnische Säuberungen) an. Die Häuser machen in Korrelation zu den Waffenopfern im Nydam-Moor eine Entwicklung bzw. Veränderung im Laufe der Zeit durch. Im Umkreis von 7 km und 13 km sind 20 Siedlungen entdeckt und teilweise untersucht worden. Die jüngsten Häuser gehören ins 5. Jahrhundert und sind bis zu 42 m lang. An diesen Überlegungen stört mich, dass die Veränderungen an den Hausgrundrissen einerseits zwar in der chronologischen Abfolge beschrieben werden, dass sie andererseits aber direkt ethnisch mit historisch überlieferten Stammesnamen parallelisiert werden, wobei dann die zeitlich begründeten Veränderungen nicht mehr als solche berücksichtigt werden. Das ist doch wieder eine spezielle Art der ethnischen Deutung
2576 Tausend 2009. 2577 Andersen, Ethelberg, Kruse, Madsen 2017, 192 Abb. 4.
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archäologischer Befunde, die ohne Beweis, nur als Behauptung, formuliert wird. Die Opferhandlungen der „siegreichen“ Kriegerverbände zeigten demnach, dass die örtliche Bevölkerung vernichtet worden ist und sich an deren Stelle die zugezogenen Gruppen hier niedergelassen haben. Aber dann müssten die geopferten Waffen doch von der örtlichen Bevölkerung stammen und nicht aus der Ferne gekommen sein. Da bleiben Widersprüche. Weniger die Auswertung der Waffenformen als vielmehr des Kleingeräts, die ebenfalls geopferten persönlichen Ausrüstungen vom Feuerstahl bis zum Kamm oder den Gürtelschnallen,2578 bis zu den großen Objekten wie die Schiffe hat nachgewiesen, dass die Heeresverbände, die jütländische Gegenden angegriffen haben, aus dem nicht so weit entfernten Umfeld gekommen sind. Der Vergleich mit den insgesamt zahlenmäßig geringen Waffenbeigaben aus Gräbern bestätigt diese Analysen. Für die Beutezüge ins römische Reich legte man demgegenüber wesentlich größere Entfernungen zurück. In diesen Wandlungen zeichnet sich der Weg von der vielgliedrigen Stammesgesellschaft zu Frühformen einer staatlichen Organisation ab, was man als Häuptlingoder kleine Königtümer bezeichnen mag. Während die germanischen Verbände und zugleich Heereseinheiten wie Vandalen, Goten oder Franken unter ihren Königen, die auf dem Boden des Römischen Reichs anfangs römische Ämter in der politischen Verwaltung der Provinzen übernahmen, nach und nach alle Positionen in den bestehenden Organisationsformen besetzt haben, lagen in Germanien keine vergleichbaren Muster vor, sondern ranghöhere Zusammenschlüsse mussten erst entwickelt und erstritten werden. Archäologisch wird das seit dem 4. und 5. Jahrhundert fassbar durch die Forschungen in den sich herausbildenden Zentralorten, an Siedlungskonzentrationen mit Großgehöften und am Ort auffälliger Goldschätze. Manche Forscher sprechen von einem Sakralkönigtum,2579 was man als Archäologe aber nicht direkt nachweisen kann, obwohl geopferter Goldschätze bis hin zu den Goldbrakteaten eine Götterwelt voraussetzen, aber nicht gleich ein sakrales Königtum. Auch vermutet man bei den Kriegszügen ständige Auseinandersetzungen als permanente Konkurrenz zwischen den mehr oder weniger gleichrangigen politischen Einheiten auf dem Weg vom Stamm zum Staat (unten Abb. 64). Die politisch-soziale Entwicklung führte also von den schweifenden, mobilen Kriegerverbänden zur Territorialisierung von Herrschaft, was zur Änderung auch der Opfersitten und Kulthandlungen geführt hat. Zuvor waren die Häuptlinge Kriegsherren und bildeten Koalitionen und Allianzen miteinander. Das erinnert an die Frühzeit, als auch Arminius von den Cheruskern und später Marbod von den Markomannen die mächtigen Streitkräfte mit verschiedener Stammesherkunft zusammenbrachten, um erfolgreich gegen römische Legionen zu kämpfen. Bei diesen germanischen Kriegern kann es ich aber nicht einfach um
2578 Ilkjær 1993. 2579 Erkens 2004; Steuer 2004b; Dick 2008.
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13 Waffen und Bewaffnung, Kriegswesen und Rekrutierungsräume
jeweils frisch einberufene Mannschaften aus den Dörfern handeln; denn zum möglichen Sieg brauchte man Erfahrung und zuvor häufiges Exerzieren. Schon über die große Armee des Markomannenkönigs Marbod in Böhmen von 70 000 Mann schreiben die Quellen denn auch, dass die Krieger – also schon in der Zeit um Chr. Geb. – nach römischem Muster ausgebildet wurden. Das dies aber nur eine Erzählung ist, ein Topos in den antiken Quellen, um den Gegner zu erhöhen und Siege glorreicher zu machen, ist bemerkt worden (vgl. S. 677). In meinem Modell stelle ich mir das so vor, dass neben den dörflichen Siedlungsgemeinschaften, die durchaus auch wehrhaft waren, davon losgelöst sich größere militärische Verbände zusammenfanden, und zwar aufgrund der zunehmenden Bevölkerung und damit freiwerdender Jungmannschaften. Als Gefolgschaften schlossen sich diese den Heerkönigen oder Kriegsfürsten an, die Kriegszüge unternahmen, um Beute zu machen, damit sie ihre Gefolgschaft auch bezahlen konnten. Erfolg vergrößerte die Gefolgschaft, die wiederum mehr Bezahlung brauchte, was erneut zu Kriegszügen führen musste. Die Krieger waren professionell, gut ausgebildet und einheitlich bewaffnet. Leider weiß man bisher immer noch nicht, wo – sicherlich an Mittelpunktsorten – die gleichartigen Waffen in Serie produziert worden sind; denn die Herstellung durch viele dörfliche Schmiede hätte zu größeren Unterschieden bei den einzelnen Waffen geführt. Die geopferten Waffen und die übrige Ausrüstung zeigen auch, dass manche Kämpfer dieser mobilen Kriegerverbände, die oberhalb bzw. außerhalb der Siedlungsgemeinschaften zusammengekommen waren, ganz unterschiedlicher geographischer Herkunft gewesen sind, sich aus der Ferne einem erfolgreichen fremden Anführer angeschlossen hatten, vergleichbar den Söldnern, die sich in römischen Einheiten verdingt haben. Später nach dem Ende der Opfersitte um 500 wurden die Waffen anscheinend nicht mehr zentral, sondern regional weiterentwickelt und unterschieden sich in Form und Herstellung. In diesem Abschnitt habe ich ausführlich über die kriegerische Gesellschaft in Germanien geschrieben. Die Gefolgschaftsverbände, mit Rekrutierung auch aus fernen Gebieten, waren gewissermaßen auch gleichartige Söldnergruppen, so wie sich andere den römischen Heereseinheiten angeschlossen haben. Nach ihrer Rückkehr in die Heimat verteilten sie sich auf sehr unterschiedliche Gebiete und brachten gleichartige Erfahrungen, Sachen und Sitten, in ein größeres Gebiet in Germanien, Wurden sie damit bestattet, dann konnte auf diese Weise ein Verbreitungsbild von Sachtypen entstehen. Diese aufgegliederte Gesellschaft in Germanien in „Stämme“, Stammesführer, Kriegsfürsten und Krieger meinen manche Archäologen, schon im ersten Jahrhundert n. Chr. in den auffallend üppig ausgestatteten Gräbern abgebildet zu sehen. H.-U. Voss zieht dazu das Grab Hoby aus der Zeit um Chr. Geb. heran, ein Waffengrab von Diersheim aus dem 1. Jahrhundert, ein Brandgrab von Voerde-Mehrum/Kreis Wesel, datiert nach Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr., mit 4 römischen Bronzegefäßen und einem Schild, ein Waffengrab von Hamburg-Marmsdorf mit der Urne und der beigefügten
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Lanzenspitze darunter und schließlich als weiteres Waffengrab die Bestattung 150 von Putensen aus dem 1. Drittel des 1. Jahrhunderts n. Chr.2580 C. von Carnap-Bornheim formuliert: Kriege und kriegerische Auseinandersetzungen prägten ganz wesentlich die germanische Gesellschaft des 1. bis 4. nachchristlichen Jahrhunderts. Waren sie zunächst überwiegend durch regionale Konflikte geprägt – die Koalition des Arminius im Vorfeld der Varusschlacht stellt im germanischen Raum eine Ausnahme dar –, so erkennen wir spätestens seit dem Ende des 2. Jahrhunderts eine großräumige überregionale Organisation, die sich in Allianzen von Großstämmen und komplexen innergermanischen Auseinandersetzungen bis hin zu Kriegen gegen Rom äußert […] (was) die rasante Entwicklung auf militärischem Gebiet (bedingte). Dies betrifft sowohl die Ausrüstung und Logistik, aber wohl auch Taktik und Strategie. Die hierarchischen Strukturen und Abhängigkeiten gefolgschaftlicher Systeme bestimmen die Lebenswirklichkeit der Krieger und damit die männliche Lebenswelt. 2581
Wie J. F. Drinkwater meint, war es aber immer wieder Rom, das die Kriege nach Germanien hineintrug, und auch die sogenannten Markomannenkriege waren u. U. verursacht durch einen Vorstoß Marc Aurels (161–180) über die Donau weit nach Norden.2582 Man kann also auch sagen, dass eben diese römischen Kriege, hineingetragen nach Germanien, die dortigen Bewohner dazu zwangen, sich zu wehren und die kriegerische Gesellschaft zu etablieren und zu institutionalisieren.2583 Das Zitat von P. Geary (vgl. S. 63), die germanische Welt sei eigentlich die wichtigste Erschaffung Roms, kann in diesem Sinne interpretiert werden.2584 Verschiedene Aspekte auf römischer Seite lassen sich dazu heranziehen, beispielweise die Kriegsdarstellungen auf der Trajans- und der Markussäule oder auf vielen anderen Kunsterzeugnissen; als Beispiel seien hier nur die Szenen einer Schlacht zwischen Römern und Germanen auf dem Gürtel von Brescia genannt.2585 Wenn ich mehrheitlich von Kriegsfürsten und Warlords spreche, die Kriegereinheiten zu Kämpfen in Germanien und zu Beutezügen in die römischen Provinzen führten, dann soll nicht vergessen werden, dass während der spätantiken Jahrhunderte auch auf römischer Seite Warlords unterwegs waren; ich nenne Aegidius, Syagrius, Ricimer, Gundobad, Orestes und Odoaker.2586 Erinnert sei hier auch daran, dass seit 212 n. Chr. unter Caracalla (Kaiser 211–217) in der Constitutio Antoniniana jeder freie Einwohner im Imperium das römische Bür-
2580 Voss 2015, 55 Abb. 2 (Hoby), 56 Abb. 3 (Diersheim), 57 Abb. 4 (Voerde-Mehrum), 58 Abb. 5, 59 (Putensen); Bridger 2007 (Mehrum). 2581 v. Carnap-Bornheim 2008a 77, b 139. 2582 Drinkwater 2007 passim. 2583 Steuer 2003a; 2006a. 2584 Geary 1996. 2585 Rosso 2008, 164 Abb. Cat. No. I 45; Chauvot 2008, 109 Abb. 5 (Farbfoto). 2586 MacGeorge 2002; Sarti 2016, 273 ff. mit Lit.
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13 Waffen und Bewaffnung, Kriegswesen und Rekrutierungsräume
gerrecht erhalten hat.2587 Damit verbunden war, dass alle, gleich woher sie kamen, Latein gesprochen haben. So unterhielten sich in Latein die Kriegergruppen aus Germanien in römischen Diensten und Germanen und Römer miteinander. Wie weit das Lateinische allgemein gebräuchlich war und auch in Germanien verstanden wurde, entzieht sich unserer Kenntnis. Aber immerhin gibt es Metallgefäße und andere Sachgüter mit lateinischen Inschriften in Germanien, auch auf Waffen und Münzen. Nach Einführung der Runenschrift wurde diese in derselben Weise zu Handwerkermarken verwendet wie die lateinischen Markierungen (vgl. unten S. 1256). Derartige Sprachkenntnisse waren dann auch später bei der Ansiedlung als Foederaten auf provinzialrömischem Boden nützlich, und ebenso im Rahmen möglicher Klientelstaaten in den Grenzbereichen, wie sie P. Kehne als externae gentes und regna intra fines betrachtet hat.2588 Latein ermöglichte damit Kontakte über die Grenze ins Römische und auch nach draußen nach Germanien.
13.3 Rekrutierungsräume, Mobilitäten, Zahlen Die Kerngebiete kleiner Herrschaften in Germanien (dazu vgl. unten S. 806) hatten Durchmesser von 30 bis 50 km, die in zwei bis drei Tagesreisen durchzogen werden konnten.2589 Die Herrschaftsgebiete oder Rekrutierungsräume für die Kriegerverbände betrugen etwa 1000 bis 2500 km2 (ca. 30 × 30 bzw. 50 × 50 km), was aufgrund der Größe der Heere ebenso zu erschließen ist, wie durch die Verteilung der sogenannten Fürstengräber, also der reich mit Beigaben ausgestatteten Körpergräber der Elite in Germanien als Hinweise auf Mittelpunkte von Macht (vgl. unten S. 807). Aus welchem Einzugsbereich Kriegergruppen von 300 oder 600 Mann rekrutiert werden konnten, ergibt sich aus der Größe und der dichten Lage der Dörfer. Die „Fürstengräber“ und die wohl dazu postulierenden Fürstensitze sind im Abstand von 20 bis 30 km über die Landschaft verteilt. In dem jeweils zugehörigen Territorium bestanden durchschnittlich etwa 25 Dörfer zu etwa 10 Gehöften mit jeweils 10 Bewohnern. Das sind 2500 Menschen, von denen nach allgemeiner Schätzung bis zu 500 Krieger gestellt werden konnten. Bei einer Fläche von 30 auf 30 km, also 900 km2 wäre das eine Bevölkerungsdichte 2,7 bis 3 Einwohner pro km2, was eine untere Dichte gewesen sein wird. Im Übrigen scheint es ein ausgeglichenes Verhältnis von Siegen und Niederlagen gegeben zu haben, denn die Heeresausrüstungsopfer fanden in durchschnittlichen Intervallen von 15 bis 25 Jahren statt, mit wechselnder Intensität in den Kleinlandschaften, nicht kontinuierlich, sondern in zeitlichen Abständen.
2587 Pferdehirt, Scholz, in: Caracalla 2013, 47 ff. 2588 Kehne 2000. 2589 Steuer 2007a; 2009; 2015a.
13.3 Rekrutierungsräume, Mobilitäten, Zahlen
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Wie lassen sich die Größe der Heerhaufen und die dementsprechenden Rekrutierungsgebiete über archäologische Quellen weiter abschätzen? Die Bevölkerungsdichte war größer als nach antikem Klischee vermutet. Das geht aus der nachbarschaftlichen Lage der ländlichen Siedlungen hervor, die mit Ausnahme der Gebirge und Moorgebiete flächendeckend die Landschaft bedeckten und mit einem weit gefächerten Wegenetz miteinander verbunden waren. Es gibt nun in der wissenschaftlichen Diskussion sehr unterschiedliche Schätzungen. Die Bevölkerungszunahme in Germanien ist belegbar. In der Forschung geht man davon aus, wie eben gesagt, dass ein Fünftel einer Gemeinschaft Krieger waren; dann ist zu berechnen, wieviele Krieger ein Dorf stellen konnte. Wenn eine Siedlung 20 Gehöfte umfasste, darunter die Hälfte als Mehrbetriebseinheiten, also insgesamt 30 Anwesen, in denen jeweils beispielsweise entweder nur fünf Erwachsene wohnten oder mit abhängigem Personal auch zehn Leute, dann stellte ein solches Dorf durchaus 30 oder 60 Krieger für einen zeitlich begrenzten Feldzug; abgesehen davon, dass einige junge Männer auszogen und sich einer Gefolgschaft anschlossen für weiterreichende Kriegszüge. Mit diesen Erörterungen wird nur gezeigt, dass der auf den ersten Blick knappe und nüchterne archäologische Befund in einer Siedlungsgrabung doch vielfältig über die ehemalige Gesellschaft berichten kann. Aufgrund der zahlreichen Ausgrabungen kompletter Dörfer und anhand der sorgfältigen Analyse zum Charakter der Landschaft – wo stand Wald, wie ausgebreitet waren die Acker- und Wiesenflächen und wieviel Fläche brauchte eine Siedlung zum Leben – kann die Bevölkerungsdichte geschätzt werden, zumal auch der Abstand zwischen den Dörfern, von nur 2 bis 4 km oder 3 bis 5 km, bekannt ist. Nun noch einige Zahlen zur Erläuterung der Schätzung von Besiedlungsdichten. Auf der römischen Seite lagen in der Provinz Germania inferior links des Niederrheins die römischen villae rusticae etwa 1 bis 2 km in Blickverbindung benachbart, bewirtschafteten jeweils 50 bis 70 oder manchmal 100 ha.2590 In einer Villa mit 50 ha Wirtschaftsareal lebten etwa 10 bis 20 Personen, bei 100 ha etwa 25 bis 50 Personen einschließlich der „Arbeiter“. Für die Provinz kommen dazu noch die Einwohner von Städten, Dörfern (vici) und Militärlagern. Das Ergebnis der Berechnungen bzw. die Schätzungen liegen insgesamt bei 640 000 bis 1,3 Millionen Personen in der Provinz, was einer Bevölkerungsdichte von 4,8 bis 10 Einwohnern pro Quadratkilometer entspricht. Nach anderen Angaben sind für das römische Rheinland sogar 10–18 Einwohner pro km2 errechnet worden. Ethnographische Parallelen gehen immerhin von möglichen 60 Einwohnern pro Quadratkilometer aus. Bei 25% besiedelbarer Fläche in Germanien wären das 3 bis 4 Millionen Menschen. War die Fläche Germaniens zu 50% besiedelbar, dann könnte man schon von 6 bis 8 Millionen Menschen ausgehen. Bei einem Fünftel Krieger, die eine solche Bevölkerung stellen konnte, wären das dann 1,2 bis 1,6 Millionen Kämpfer. Aber diese konnten nicht aus den weiten des
2590 Wendt, Zimmermann 2008 (2009).
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13 Waffen und Bewaffnung, Kriegswesen und Rekrutierungsräume
Raumes rasch rekrutiert werden, wenn es gegen römische Legionen im Westen oder Süden ging. Damals waren 33 % der Fläche Germaniens von Wald bedeckt, vielleicht dann 17% von Gebirgen und Moore eingenommen und somit nicht richtig besiedelbar, dann blieben 50% für die Verteilung der Dörfer. (Die Flächennutzung in Deutschland heute teilt sich auf: 50,8% Landwirtschaft, 29,8% Wald und 14,3 % Siedlungen und Verkehr, 2,3% Gewässer und 2,8% Sonstiges.) Meine eigenen Berechnungen gewissermaßen für den Rand der Oikumene, für die Wurtenzone an der Wesermündung, ergeben ganz andere, noch höhere Zahlen:2591 Bei 23,5 km2 Fläche und anhand der Zahl der Gehöfte geschätzten 2400–3800 Leuten kommt man schon bei nur 3000 Einwohnern auf immerhin 128 Einwohner pro km2, mit Einbeziehung eines weiteren Umlands noch auf rund 40 Leute pro km2. Die ältere wissenschaftliche Literatur geht für Germanien von 25 Einwohnern pro km2 aus, man nahm beispielsweise Preußen im 18. Jahrhundert als Vergleich, für das mit 29 Bewohnern pro km2 gerechnet wurde. Das sind also nach den oben angeführten Zahlenreihen 18, 60, 128 und 25 Einwohner pro Quadratkilometer. Die Anzahl der Krieger, die in einer ländlichen Gesellschaft rekrutiert werden konnte, wird über ethnographische Vergleiche mit 20–25% der Gesamtbevölkerung, also einem Fünftel bis einem Viertel, angesetzt. Einige Wissenschaftler rechnen aber nur mit 10% der männlichen Bevölkerung, weil die anderen in der Landwirtschaft gebraucht wurden. Bei 5% der Gesamtbevölkerung, also bei 10% der Männer kommen dann nur 1000 Krieger auf 20 000 Einwohner bzw. auf 10 000 Männer aus 2000 Gehöfteinheiten mit 10 Einwohnern pro Gehöft. Bei Dorfgrößen von 10 Höfen sind dann also 200 Siedlungen als Rekrutierungsbereich notwendig, bei 15 Höfen rund 130 Siedlungen und gar bei 20 Höfen nur 100 Siedlungen. Flächendeckend sind dann dazu notwendig bei Gemarkungsgrößen von 2,5 × 2,5 km, also 6,25 km2, oder von 3 × 3 km, also 9 km2 für 200 Dörfer rund 1250 bzw. 1800 km2, was gleichmäßig besiedelte Landschaften von 35 × 35 km oder 42 × 42 km bedeutet. Das entspricht gewissermaßen den oben erläuterten Herrschaftsbereichen von 30 bis 50 km Durchmesser und Besiedlungsdichten von 16 bzw. 11 Leuten pro Quadratkilometer. Wählt man als Beispiel die Siedlung Vorbasse in Jütland mit der Phase des 3. Jahrhunderts und 13 Gehöften mit je 10 Bewohnern, also 130 Leute, davon 65 Männer, dann kommt man so für 1000 Krieger als Einzugsbereich auf 100–150 Siedlungen. Für Vorbasse kann man als Wirtschaftsfläche 10 km2 annehmen, bei 100–150 Siedlungen sind das dann 1000–1500 km2 bzw. bis 2000 km2. Das ergibt eine Bevölkerungsdichte von 10–13,3 Einwohnern pro km2. Man kann lesen, dass die Insel Öland seinerzeit 1000 Krieger aufbieten konnte, nach anderer Meinung bei 9000 Einwohnern sogar 1800 Krieger, also wieder ein Fünftel der Bevölkerung, was 40% Männer bedeuten würde. Die Distanz zwischen den Opferplätzen in Jütland beträgt 35–50 km, die Größe der gesamten Siedlungslandschaft dazu jeweils etwa 960–1900 km2. Das dänische Jütland umfasst insgesamt 30 000 km2, bei 5–7 Personen
2591 Steuer 2007a.
13.3 Rekrutierungsräume, Mobilitäten, Zahlen
699
pro km2 bzw. bei 5–7% Kriegern sind das 7500–14700 Krieger. Die Ausrüstungen in den Opferniederlegungen der vier Jahrhunderte n. Chr. gehörten zu Kriegergruppen von 200 bis 600 Mann, die nach der Qualität der Waffen in Hundertschaften, gegliedert gewesen sind. Ob diese Zahlen nun komplette Heereseinheiten spiegeln oder – wie im Mittelmeerraum üblich – nur ein Zehntel des besiegten Heeres, kann nicht entschieden werden. Das Spiel mit den Zahlen bietet wenigstens Größenvorstellungen, die regelmäßig beweisen, welch starke Kriegerkontingente in Germanien aufgestellt werden konnten. Einige Zahlen aus archäologischer Forschung und aus der schriftlichen Überlieferung sollen noch folgen. Nico Roymans berichtet von 35 000 Römern gegen 35 000 Tenkterer, was bei einem Verhältnis von Kriegern zur Bevölkerung nach ihm von 1:4 also 140 000 Bewohner bedeutet.2592 Diese Zahl passt nicht zu Caesars Angaben, der von 430 000 Umsiedlern spricht. Übrigens scheint man hier das Schlachtfeld gefunden zu haben, und zwar bei Rossum (vgl. S. 783), wo man im Flussbett Reste der Kämpfe entdeckt hat und nicht von einem Opferplatz spricht; denn es wurden viele Schwerter und eingeschlagene Schädel geborgen.2593 Zosimos berichtet (I, 42–43 und 46), dass 320 000 Goten ins Römische Reich eindrangen, und zwar über das Schwarze Meer mit 2000 Schiffen. Das wären 160 Personen (Krieger, Frauen, Alte, Kinder) auf einem Schiff. Von Augustus bis Theodosius (395) sprechen die Quellen von rund 40 Übersiedlungen von Barbaren ins Imperium, ein von Rom kontrollierter Vorgang.2594 Im Jahr 8 v. Chr. kamen 40 000 Sueben und Sigambrer nach Gallien. Unter Nero wurden 100 000 Transdanubier mit Frauen und Kindern, Häuptlingen und Königen in Moesia angesiedelt (im Gebiet des heutigen Serbien, Bulgarien). Unter Konstantin wechselten im Jahr 334 rund 300 000 Sarmaten, Männer und Frauen allen Alters, über nach Thrakien, Scythien, Makedonien und Italien. Ein anderer Aspekt sind große Gruppen von Kriegsgefangenen auf beiden Seiten. Es gab gefangene Römer und gefangene Germanen. Auf dem Semnonen-Juthungen-Stein von Augsburg wird berichtet, dass beim Rückmarsch einer germanischen Heeresgruppe diese von römischen Milizen besiegt und aus ihrer Gewalt „viele tausende gefangene Italer“, MVLTIS MILIBVS ITALORUM CAPTIVOR(rum), befreit wurden.2595 Der Vandalenkönig Geiserich zog im Jahr 429 mit 80 000 Menschen, Männern, Frauen, Kindern und Alten auf zahlreichen Schiffen nach Nordafrika. (Zur Zahl 80 000 als Topos vgl. S. 81 Anm.). Zahlen, die über die 100 000 gehen, werden in der Regel Übertreibungen gewesen sein. Logistisch sind Menschenmengen von 400 000 Umsiedlern nicht zu betreuen bzw. zu verpflegen und auch nicht wieder rasch anzusiedeln gewesen.
2592 Roymans 2009. 2593 N. Roymans in einem Vortrag in Göttingen 2017. 2594 Modéran 2008a, b. 2595 Bakker 1993; 1995, 97; Stickler 1995.
700
13 Waffen und Bewaffnung, Kriegswesen und Rekrutierungsräume
Die germanisch sprechenden Franken waren im 3/5. Jahrhundert eine Minderheit im Vergleich mit der römischen Provinzialbevölkerung. W. Pohl betont: Dass Völker das Ergebnis historischer Prozesse sind, in deren Verlauf sie sich weiter veränderten, ist in der Wissenschaft heute weitgehend unumstritten, in der Öffentlichkeit aber noch nicht allgemein bekannt. Biologische Definitionen ethnischer Gruppen sind weiterhin im Bewusstsein vieler Gebildeter verankert.2596
Aber wie komplex und vielseitig die Beziehungen waren, ist auch überliefert. Die schon anfangs zitierte Grabinschrift aus Aquincum (Budapest) sagt: Francus ego cives, miles Romanus in armis (Franke bin ich der Herkunft nach, als Soldat in Waffen Römer).2597
Priskos beschrieb einen hunnischen Krieger bei Attila, der zuvor ein römischer Händler war und in griechischer Sprache antwortete; Paulus Diaconus berichtet, dass den König Alboin 568 bei der Ankunft in Italien nicht nur Langobarden, sondern auch Gepiden und Sueben, Samaritaner und Bulgaren begleiteten. Wenn in der antiken Literatur militärische Verbände genannt wurden, dann waren diese regelmäßig aus unterschiedlichen Gruppen mit jeweils eigenem Namen zsuammengekommen.2598 Typisch war die Truppenzusammensetzung in der Schlacht auf den katalaunischen Feldern unter Aetius gegen Attila im Jahr 451. Bei Aetius auf römischer Seite kämpften Römer, Westgoten, Franken, Burgunder, Sachsen und Alanen, bei Attila auf hunnischer Seite Hunnen, Ostgoten, Gepiden, Rugier, Skiren, Heruler, Sueben, Sarmaten und Thüringer und auf beiden Seiten wahrscheinlich Kontingente der Alamannen.2599 Langobarden leisteten Kriegsdienste für andere germanische Fürsten. Odoaker hat sich 476 zum rex Italiae (also über ein Gebiet, nicht über Leute) ausrufen lassen; später wurde auch Theoderich zum König ausgerufen. Versorgungszahlen sind aufschlussreich, rund 85 Tonnen Getreide brauchte der Zug des Theoderich nach Italien an jedem Tag. Etwa 20 000 gotische Krieger kamen nach Italien mit ihren Familien, und sie bekamen Land oder Anteile an den staatlichen Steuern; ein Drittel des Landes in Italien ging an die Eroberer, ohne dass die römische Elite merkbar größere Einbußen erdulden musste. Geschätzt werden in Italien 100 000 Eroberer zu 5 Millionen Römer. Andere Zahlen für Goten in Italien oder Franken in Gallien sehen als Bevölkerungsanteil nach Einwanderung und Ansiedlung 3% neue Siedler zu 97% Alteingesessenen. Als die Schwester Theoderichs Amalafrida den Vandalenkönig heiratete, begleiteten sie 1000 gotische Leibwächter sowie 5000 normale Krieger. Diese Zahlen könnten sogar einmal relativ korrekt sein.
2596 Pohl 2008a 312, 2008b. 2597 Speidel 2009, 244. 2598 Quast 2009a 103, 121 ff., 136. 2599 Geuenich 2005, 67 f., 163.
13.3 Rekrutierungsräume, Mobilitäten, Zahlen
701
Mobilität wird regelmäßig über die Bewegung der Gruppen der Przeworsk-Kultur nach Südwesten postuliert.2600 Dagegen habe ich oben argumentiert; doch gibt es einen weiterführenden Ansatz (S. 96 f. und Abb. 8).2601 Die Forscher möchten unbedingt eine Wanderung archäologisch beschreiben können. Dazu dient das Bild der Ausbreitung kultureller Elemente der Przeworsk-Kultur in ihren sekundären Verbreitungsgebieten. Drei solche sekundären Gebiete sind im Westen zu beschreiben: das Saalemündungsgebiet, Nordthüringen und die Wetterau mit speziellen Erscheinungen in Grabformen und Beigabenausstattung. Hier haben zwei verschiedene Populationen neben- und durcheinander gesiedelt, darunter die Einwanderer aus dem Przeworsk-Gebiet. Die typische Keramik wurde am neuen Ort, wie Analysen gezeigt haben, auch neu produziert. M. Meyer postuliert die Einwanderung kleiner, demographisch aber überlebensfähiger Gruppen, und geht von Migration und Adaption aus. Der Wunsch bzw. das gewünschte Ergebnis ist der Vater des Gedankens. Methodisch hat schon R. Hachmann vor 50 Jahre (1956/57) gesagt, so zitiert ihn St. Burmeister: „Es fehlen bislang klare Methoden, die es erlauben, einen archäologischen Wanderungsnachweis zu führen“ (zu Wanderungen und Mobilität auch oben S. 65 ff.).2602 Die „Völkerwanderungen“ waren keine Flüchtlingsströme aus dem Elend, sondern Züge organisierter Kriegerverbände in Richtung von Reichtum, der zu erbeuten war. In den ersten Jahrhunderten zogen diese Kriegergruppen wieder in ihre Herkunftsgebiete zurück, und erst seit dem 4. Jahrhundert bot es sich an, als Foederaten oder anderweitig als Bundesgenossen im Bereich römischer Provinzen angesiedelt zu werden. Die Ursachen für die Mobilitäten in jener Epoche sind vielfältig; jedenfalls haben Germanen nicht das Römische Reich zum Zusammenbruch gebracht, sondern die internen Veränderungen, unter anderem auch eine Bevölkerungsabnahme, haben dazu geführt, dass einerseits Gruppen aus Germanien angeworben wurden, nicht nur für das Militär, sondern auch, um verödete Landstriche wieder zu besiedeln und zu bewirtschaften, und andererseits wurden durch den verbliebenden zivilisatorischen Standard in den ehemaligen römischen Provinzen Leute angelockt, die durchaus gebraucht wurden.2603
2600 M. Meyer 2008; Burmeister 2013, 252 f.; schon Hachmann 1956/57. 2601 Knechtel u. a. 2019. 2602 Burmeister 2017c. 2603 Demandt 2014.
14 Mooropfer, Heeresausrüstungsopfer und Flussfunde In den vorangegangenen Kapiteln wurde mehrfach vorgreifend auf die Heeresaus rüstungsopfer2604 in Jütland und im Ostseeraum eingegangen, die nun ausführlicher beschrieben werden sollen. Sie sind die aussagekräftigsten archäologischen Befunde und Ansammlungen von Sachgütern, die gegenwärtig zur Verfügung stehen. Die Op ferplätze wurden schon im 19. Jahrhundert entdeckt, teilweise damals auch ausgegra ben und die Ergebnisse publiziert; aber in den letzten beiden Jahrzehnten sind fast alle diese Opferplätze erneut durch Ausgrabungen weiter erschlossen worden. Damit verbunden sind intensive Auswertungen, und ein breiter Fächer an Deutungsmustern ist erarbeitet. Als Ergebnis komplexer kultischer Handlungen bieten sie zudem einen unmittelbaren Einblick in die „geistigen“ Denkmuster der damaligen Bevölkerung, wie sonst kaum eine andere archäologische Befundgruppe. Zwar herrscht das Krie gerische vor, was aber der damaligen Lebenswelt durchaus entspricht, wie gezeigt worden ist (vgl. S. 673). Die so zahlreich ausgegrabenen und untersuchten Siedlun gen in Germanien sind immer nur die verlassenen, verfallenen und verwitterten Reste des damaligen Lebens, im Gegensatz zu den detailreichen Ergebnissen dieser Opfer handlungen.
14.1 Mooropfer Zuvor schildere ich jedoch noch die anderen Arten von Opfervorgängen, in Mooren und Flüssen, und werfe einen Blick in die weiter zurückreichende Vergangenheit. Opferbräuche, auch in „feuchter“ Umgebung, gab es schon früher und lange vor den Jahrhunderten um und nach Chr. Geb. Der Hinweis, dass es Waffendeponierungen während der Bronzezeit2605 gegeben hat und ebenso in der Epoche der Antike,2606 mag zu dem Thema genügen. Auch habe ich im Reallexikon der Germanischen Altertums kunde zum Stichwort „Waffenopfer“ eine diachrone Zusammenstellung geliefert,2607 mit Beschreibung antiker Opferbräuche und Befunde seit dem Neolithikum bis zu den keltischen Opferplätzen der Latènezeit und dann weiter auch der noch jüngeren Waffenopfer nach den hier zu behandelnden Jahrhunderten. Dabei habe ich auch die Besonderheiten der Waffenfunde in Flüssen berücksichtigt. Speziell für Dänemark
2604 Sieg und Triumpf 2003 zu fast allen Heeresausrüstungsopfern; AbeggWigg, Rau 2006. 2605 Huth 2016b. 2606 Egg, Naso, Rollinger (Hrsg.) 2016. 2607 Steuer 2006 f. https://doi.org/10.1515/9783110702675-022
704
14 Mooropfer, Heeresausrüstungsopfer und Flussfunde
ist eine solche diachrone Beschreibung und Analyse der Waffenopferungen von 350 v. Chr. bis 1200 n. Chr. vorgelegt worden.2608 In Forlev Nymølle ist ein Opferplatz der jüngeren vorrömischen Eisenzeit unter sucht worden. Er liegt nicht weit vom Illerup Moor nördlich von Skanderborg.2609 Bei ersten Ausgrabungen 1947 wurden Tongefäße der Zeit um 400 n. Chr. geborgen. Dann folgten Grabungen von 1960 bis 1966 an mehreren Stellen, insgesamt auf 325 m2. Dabei wurden ältere Opferniederlegungen, die mit einem Fruchtbarkeitskult zusam menhängen, dokumentiert. Zu den Funden gehören Keramikscherben, Knochen von Haustieren, hölzerne Gerätschaften (und Steine, konzentriert in kleinen Anhäufun gen, und zwar nahe am damaligen Uferbereich). Rund zehn Fundkonzentrationen (dabei auch als Befund X die Tongefäße von 1947) ließen sich beschreiben, die zwi schen 1,5 und 9 m2 umfassten und auf die Phasen 200 bis 150 v. Chr. oder 100 bis 50 v. Chr. sowie 50 bis 0 v. Chr. zu datieren sind. Zu erwähnen sind ein Holzidol sowie in Flachsbündel (in Konzentration I), Tonge fäße in den Konzentrationen I und III, Steinhaufen in den Konzentrationen IV und V. Zum Holzidol der Konzentration I werden von J. Lund die Parallelen von Roos Carr (1836) mit vier menschlichen Figuren, der Mann von Broddenbjerg, die beiden AstgabelFiguren aus dem Aukamper Moor bei Braak und die zwei Bretterfiguren aus dem Wittemoor sowie von Oberdorla aufgeführt. Als vergleichbare Plätze mit „Frucht barkeitsopfern“ werden Hedelisker, Varbrogård, Bukkerup und ValmoseRislev in Dänemark herangezogen sowie Käringsjön in Westschweden und ebenfalls Oberdorla in Thüringen. Es gibt zwar an jedem dieser Orte besondere Eigenheiten, aber sie sind völlig anders strukturiert als die späteren Waffenopferplätze. In Forlev Nymølle schei nen verschiedene kleine Gruppen zu unterschiedlichen Zeiten geopfert zu haben. Aber auch anderes und anders wurde in Mooren bzw. Seen geopfert, verbunden mit weiteren Behandlungen der zu opfernden Objekte;2610 die Opferhandlungen sahen auch Zerstörungen, Verbrennen neben dem Vergraben oder eben Versenken vor. Häufig waren es Tongefäße, gefüllt mit Nahrungsmittel wie beispielsweise Butter,2611 so im Moor von Käringsjøn2612 in Halland, Schweden, das etwa 90 auf 120 m misst, einst ein See, der nach und nach verlandet ist. Manches erinnert an die Befunde im thüringischen Opfermoor von Oberdorla (vgl. S. 614 und 638). Beim Torfabbau hatte man schon seit 1917 Sachen entdeckt; Ausgrabungen 1941 haben dann am Ufer rundum unterschiedliche Spuren der Opferhandlungen dokumentiert. Vielfach
2608 Nørgård Jørgensen 2009. 2609 Lund 2002c, 165 Fig. 17 Chronologie der neun Konzentrationen zwischen 200 und 0 v. Chr., 166 Fig. 18 Holzidol aus Konzentration I. 2610 Pauli Jensen 2009. 2611 C. J. Becker 1971 (1972). Eine Parallele: Zahlreihe Fundorte von Moorbutter in Irland: Archaeolo gy in Ireland, Summer 2019, 27–29 (M. O´Sullivan, L. Domney). 2612 Lundborg 2000, 157 Abb. 16 Plan des Moores mit den Opferstellen am Rande; dazu Taf. 2 bis 4; Carlie 2009.
14.1 Mooropfer
705
sind es Tongefäße, rund 100 Töpfe einheimischer Ware, datiert ins 3. und 4. Jahrhun dert n. Chr. (200 bis 400 n. Chr.), oder verschiedene Holz und Horngegenstände und dann vor allem auch Konzentrationen von Baumstämmen, Zweigen und Steinen, die von Menschen eingebracht worden sind. Die Tongefäße enthielten Fleischreste oder Grütze. Ein zylindrisches Holzgefäß und ein rechteckigen Gefäß mit Ornamentik und roter Bemalung fallen auf, außerdem ein Spaten, Grabstöcke, zwei Harken und anderes Gerät, die sämtlich zu einem friedlichen bäuerlichen Milieu gehören und wohl Äußerungen eines Fruchtbarkeitskults gewesen sind. Einst ins Moor geworfene weiße Kieselsteine, die manchmal mit Leinen umwickelt waren, oder verbrannte Hölzer, Zweige, was auf nächtliches Opfer hinweisen könnte, gab es auch anderswo im skan dinavischen Norden und in Dänemark. Man erkennt hier, dass Kulthandlungen zu verschiedenen Jahreszeiten, im Frühling und im Herbst, und zu verschiedenen Tages zeiten, am Tag und in der Nacht, stattfanden. Es handelt sich insgesamt um einen Opferplatz im Sinne von Fruchtbarkeitkulten. Das Ende dieser Opferhandlungen um 400 wird mit einem Wandel der allgemeinen religiösen Vorstellungen erklärt. Statt bäuerliche Fruchtbarkeitsopfer entwickelten sich aristokratische Opfervorstellungen, verbunden mit der Niederlegung von Waffen und später von Goldbrakteaten und Goldblechfigürchen (vgl. S. 1206). X. Pauli Jensen hat diesen Übergang vom Fruchtbar keitsopfer zu den Waffenniederlegungen dargestellt.2613 „Mosepotter“, also in Mooren mit speziellem Inhalt sichtlich als Opfer versenkte Tongefäße, wurden an vielen Orten entdeckt.2614 Im Opfermoor von Butzke in Pommern, der „Alte See“, ein Torfmoor von etwa 1 ha Größe,2615 entdeckte man beim Torfstechen seit 1886 immer wieder Funde, Hunderte von Perlen aus Bernstein und Glas, auch Metallsachen und Tongefäßscherben, konzentriert oftmals am Rande des Sees. Es sind Spuren mehrfacher Niederlegungen. Auch bearbei tete Hölzer und künstlich deponierte Baumstämme wurden dokumentiert, die vielleicht Plattformen gebildet hatten, sowie Hinweise auf rituelle Feuerstellen sind beobachtet worden. Man entwässerte 1888 die Seemitte und fand dort weitere Perlen und Metall sachen. Fibeln, Riemenzungen, achterförmige Berlocks und Ösenringanhänger der älteren und der jüngeren Römischen Kaiserzeit (der Stufe B2 und C2, erste Hälfte 2. und zweite Hälfte des 3. Jahrhunderts) sowie Denare der beiden Kaiser Vespasian und Hadrian sowie der Faustina maior (138–140/41). Fibeln wurden anscheinend nur in der Stufe B2 deponiert. Nahe beim Moor gab es ein Urnengräberfeld, ein waffenführendes Brandgräberfeld der späten vorrömischen Eisenzeit und Gräber der älteren Römischen Kaiserzeit, also eine dichte Besiedlung. In diesem Gebiet wurde Bernstein verarbeitet, wie die zahlreichen Halbfabrikate im Moor nahelegen.
2613 Pauli Jensen 2009. 2614 C. J. Becker 1972. 2615 Raddatz 1994; Geisslinger 1981.
706
14 Mooropfer, Heeresausrüstungsopfer und Flussfunde
14.2 Heeresausrüstungsopfer Zu den bedeutendsten neuen archäologischen Fundgattungen mit den am breitesten gefächerten Deutungsmustern gehören die Opferfundkomplexe mit umfangreichen Heeresausrüstungen,2616 im wahrsten Sinne des Wortes mit den Ausrüstungen grö ßerer militärischer Einheiten von 600 bis 1000 Mann, deren Bewaffnung, Waffenteile und persönliche Ausstattung in Seen oder Mooren, d. h. meist in ehemaligen Seen, versenkt worden sind. Vieles wurde bewusst erst nach dem Kampfgeschehen zerstört, und die persönlichen Ausstattungen von Kriegern wie Gürtel, Taschen mit Feuerzeug oder auch Pferdezaumzeug geben indirekt einen besonders intensiven Einblick in das Handeln und Denken der damaligen Menschen. Die Verteilung der Opferplätze ist mehrfach kartiert worden, teils nur geogra phisch vermerkt, teils chronologisch gegliedert, in SchwarzWeiss und auf Farb Karten wiedergegeben. Es gibt viele Facetten der Deutungen, die gewissermaßen mit H. Jankuhn beginnen, und den Wechsel der Rituale und den Bezug zu kriegerischen Vorgängen erörtern (vgl. dazu unten mehrfach S. 738). Anfangs ging man von kon tinuierlichen Opferungen, zuerst von Fruchtbarkeitsopfern und dann der Waffennie derlegungen aus, und es hatten neue Ausgrabungen bedurft, um zu erkennen, dass damals große Massenopferungen in Etappen vorgenommen worden sind und eben keine ungebrochene Kontinuität bestand.2617 Es gibt diese Opfer in Jütland, auf den dänischen Inseln in der westlichen Ostsee, in Südschweden, auf Bornholm sowie auf Öland und Gotland (Abb. 57).2618 Ihre Erforschung begann im 19. Jahrhundert, und eine neue Intensität gab es nach 1950.2619 Südlich der Ostseeküste sind einige, weniger gut erforschte Waffen opferplätze hinzugekommen. Außerdem gibt es zahlreiche Karten, die darzustellen versuchen, woher die Krieger gekommen sind, deren Waffen und Ausrüstungen im See oder Moor versenkt worden sind (Abb. 58).2620 Dazu hat sich die Interpretation schon mehrfach wieder geändert, nach den ersten Vorschlägen von J. Ilkjær 1994 bis in die letzten Jahre. Auch werden Tabellen geboten, in denen die wiederholten Niederlegungen pro Opferplatz zusammengestellt sind.2621 Eine neue Karte kombiniert zudem die See bzw. Mooropfer mit den Waffenopfern 2616 Lau, Rau 2013 Online. 2617 Fabech 2011, 28 Fig. 2 Karte der Waffenausrüstungsopferplätze und alte Interpretation durch H. Jankuhn 1982. 2618 Hagberg 1987; Ilkjær, in: Sieg und Triumpf 2003, 45 Abb. 1 (Farbe); Rau, v. Carnap 2012, 516 (SW); Blanckenfeldt 2013, 27 Fig 1 farbige Karte; Matešić 2015, Bd. 2 Abb. 2 (Farbe) differenziert nach 1–2, 3–4, über 4 Deponierungen; Steuer 2006 f, 38 Abb. 3. 2619 Blankenfeldt, Rau 2009, 133 Abb. 2; Blankenfeldt 2013b, 55 Abb. 1. 2620 Lund Hansen 2003b, 88 Abb. 4, nach Ilkjær 1993, 377 ff. mit Abb. 152, 153 und 157; Rau, v. CarnapBornheim 2012, 524–525 mit Abb. 2 ad (Nydam); Rau 2015, 35 Abb. 3, 39 Abb. 7, 40 Abb. 8. 2621 Ilkjær, in: Sieg und Triumpf 2003, 46 Abb. 2 nach Ilkjær 1990, 332, Abb. 201; Blankenfeldt 2013, 63 Abb. 4 Zeittafel B1a bis C3.
14.2 Heeresausrüstungsopfer
707
Abb. 57: Karte der Heeresausrüstungsopfer im Ostseegebiet.
auf dem Festland, wie Uppåkra, Fulltofta und Sösdala in Schonen. Svante Fischer sieht zudem einen Zusammenhang zwischen Waffenopferplätzen und Zentralorten, beispielsweise zwischen Kragehul und Gudme.2622 Doch in Mitteleuropa hat es ebenfalls Mooropferplätze gegeben, so beispielsweise in Łagiewniki, Woiwodschaft Leszno, in Polen.2623 Hier sind Pfahlkonstruktionen, wohl von einem Steg, beobachtet worden, die abgebrannt sind, aber sicherlich mit den Opferhandlungen zu tun hatten. Und hier wurden Fibeln und ein 42 g schwerer Halsring aus Silber, datiert ins 4. bzw. frühe 5. Jahrhundert, gefunden. Im Beitrag gibt es dazu eine Karte der Mooropferplätze in Mitteleuropa für die vorrömische Eisen zeit und die Römische Kaiserzeit, auf der sowohl die Mooropferplätze in Jütland und Südschweden aufgenommen sind, als auch Plätze in Norddeutschland und Polen, diese meist zur PrzeworskKultur gehörend. Der Charakter der Opferplätze auf dem Kontinent ist aber ein anderer als der bei den nördlichen Waffenopfern. Es handelt sich anscheinend oftmals um individuelle Niederlegungen von Schmuck, Keramik, hölzernen Ackergeräten, auch um Idole aus Holz (wie in Oberdorla oder Possendorf) (vgl. dazu S. 642). Im östlichen Mitteleuropa gibt es ebenfalls Waffenopferplätze der späten vorrömischen Eisenzeit.2624 Kartiert sind 2007 immerhin neun Plätze mit waf fenführenden Depots, in denen Langschwerter, Lanzenspitzen, Tüllenbeile, Bogen 2622 Staffordshire 2019, 345 Fig. 9.14 ii (Sv. Fischer). 347 Opferplatz und Zentralort. 2623 Makiewicz 2001. 2624 Łuczkiewicz 2007a, 212 Abb. 1 Karte, 216 Abb. 5 Histogramm.
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14 Mooropfer, Heeresausrüstungsopfer und Flussfunde
1
2 Abb. 58: Herkunftsgebiete der Kriegerverbände, deren Ausrüstungen im Moor (früher See) von Nydam geopfert worden sind (1–2).
14.2 Heeresausrüstungsopfer
3
4 Abb. 58: Herkunftsgebiete der Kriegerverbände, deren Ausrüstungen im Moor (früher See) von Nydam geopfert worden sind (3–4).
709
710
14 Mooropfer, Heeresausrüstungsopfer und Flussfunde
sicheln und auch Schildbuckel lagen. Manches erinnert hier an die Hortfunde der vorrömischen Eisenzeit weiter im Westen (vgl. z.B. S. 617 ff.). In der eigentlich recht kleinen Landschaft an der westlichen Ostsee mit Jütland und den (heutigen) dänischen Inseln, bei einer NordSüdErstreckung von 350 km, sind in über 20 Opferplätzen rund 60 NiederlegungsVorgänge (bisher) dokumen tiert. Sie decken eine Zeitspanne von etwa 300 Jahren ab, was bedeutet, dass im Durchschnitt alle 5 Jahre dort irgendwo ein Kriegsereignis stattgefunden hat, das als Konsequenz eine Großopferung zur Folge hatte, in einem der mehrfach dazu aufge suchten Opferplätzen. Germanien insgesamt ist aber wesentlich größer. Wie wurden da Kriege beendet? Wo wurden die Waffen und Ausrüstungen besiegter Gegner geop fert? Nicht überall gab es entsprechend den jütländischen Gegebenheiten Moore bzw. verlandete Seen. Einige Hinweise, also archäologische Befunde, sind für die östlichen küstennahen Gebiete zwischen Oder und Weichsel gegeben. Aber für die weiten übrigen Landschaften ohne solche Moore und Seen muss man fragen, wie dort Opferungen größerer Beutemengen durchgeführt werden konnten. Ich sehe das in Örtlichkeiten, die als Schlachtfelder erklärt werden. Darauf wird im nächsten Kapitel eingegangen (vgl. S. 759 ff.). Vom 3. bis 5. Jahrhundert wurden in Jütland und dem gesamten südwestlichen Ostseegebiet ungeheure Mengen an wertvollen Gütern auf diese Weise der weiteren Nutzung entzogen und vernichtet. Diese Mooropfer kennt die Wissenschaft zwar schon seit langem, frühe Grabungen fanden in den1860er Jahren des 19. Jahrhun derts statt und wurden von Conrad Engelhardt (1825–1881) zügig und mustergültig exakt veröffentlicht. Aber erst in den letzten 20 Jahren haben umfangreiche neue Ausgrabungen den Fundbestand erheblich vergrößert, was erweiterte Deutungen ermöglicht hat. Dazu sind Serien voluminöser Kataloge und Publikationen mit diesen neuen Auswertungen erschienen, zum Beispiel besonders zu den Funden aus dem Moor von Illerup mit vierzehn Bänden (1990 bis 2011), auf deren Grundlage eine breite Facette von Überlegungen und Deutungen zur Verfügung gestellt wird (verfasst von Claus von CarnapBornheim, Jørgen Ilkjær und weiteren Autoren).2625 Aus dem Nydam Moor wurden die älteren Funde 1998 (Jan Bemmann)2626 und jüngst (2010) die personengebundenen Gegenstände der neuen Grabungen von 1989 bis 1999 vorgelegt und auch die Schiffsfunde (Andreas Rau)2627 oder das Holzhandwerk an den Waffen (Griffe und Scheiden) sowie an anderer militärischer Ausrüstung des 3. bis 5. Jahr hunderts n. Chr. (2012). In mehreren Bänden bis 2015 sind die Funde und Befunde aus dem Moor von Thorsberg publiziert (R. Blankenfeldt; C. von CarnapBornheim;
2625 Ilkjær 1990 (Illerup Ådal 1–2); 1993 (Illerup 3–4); 2001 (Illerup 9–10); v.CarnapBornheim, Ilkjær 1996a (Illerup 5); 1996b (Illerup 6–7); Biborski, Ilkjær 2006 (Illerup 11–12); Pauli Jensen, Nørbach 2009 (Illerup 13); Bursche 2011 (Illerup 14). 2626 G. und J. Bemmann 1998. 2627 Rau 2014 (2015); 2013 und F. Rieck 2014.
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S. Matešić).2628 Fibeln, die einem Stück aus Thorsberg ähneln, kommen außer einigen Exemplaren in SüdSchweden vor allem die Elbe aufwärts bis Mitteldeutschland vor und deuten somit Fernbeziehungen an.2629 Unsere Kenntnisse zu dieser Zeitphase und zu diesem speziellen, aber für die Kulturgeschichte in Germanien entscheidenden Ausschnitt aus dem täglichen Leben wachsen somit noch ständig. Krieg gehörte auch damals zum Alltäglichen und ebenso die Kommunikation mit der Götterwelt. Die Runen auf einigen der Waffen und Gerätschaften sind systematisch gelesen und gedeutet worden (zu den Runen später S. 1249). Denn ein solches Brauchtum, verbunden mit speziellen Ritualen, muss zu ganz bestimmten gesellschaftlichen Strukturen gehört haben. Mit der Antwort auf diese Frage kommen zugleich weitere Fragen hinzu, einerseits nämlich warum waren die Massenopfer nur in diesen Jahrhunderten üblich, was war vorher und was folgte danach, andererseits warum entstanden diese Sitten nur in einem begrenzten Gebiet innerhalb Germaniens, und wie löste man die besonderen gesellschaftlichen Struk turprobleme, die sich in den Mooropfern fassen lassen, in anderen Landschaften? Ehe auf die Waffenkomplexe noch näher eingegangen wird, seien einige Vorbe merkungen methodischer Art eingefügt. Der Befund in den Seen bzw. heute zumeist in Mooren ist der Endzustand eines vorangegangenen vielgestaltigen Vorgangs. Es geht in einigen Fällen um die Ausrüstungen von hunderten von Kriegern, die teils mit Kampfspuren gezeichnet waren oder vor der Opferhandlung mutwillig beschä digt wurden und die sämtlich zu gleicher Zeit versenkt worden sind. In manchen Mooren fand ein solcher Vorgang im Abstand von Jahrzehnten mehrfach statt. Kei nesfalls gab es eine kontinuierliche Niederlegung über Jahrzehnte oder Jahrhun derte hinweg, wie das von der Forschung zeitweilig angenommen wurde. Es waren einmalige Großhandlungen, und die Niederlegung wird als Opfervorgang gewertet, nicht etwa als Entsorgung von unbrauchbaren Sachen. Was ging der Versenkung in den See von einem Boot oder Steg aus oder dem Hineinwerfen vom Ufer voraus? Ohne Zweifel gab es Kämpfe an anderem Ort zwischen relativ großen Kriegerver bänden – wenn man davon ausgeht, dass nicht einmal alle Waffen eines besiegten Gegners geopfert wurden, dann waren die Heere noch größer. Ob fremde Heere in der Nähe der Seen und Moore nach einem Überfall auf die örtliche Bevölkerung besiegt worden sind, ob aus der Ferne sieghafte Kriegerverbände nach Rückkehr die gesamte Beute der überwundenen Gegner opferten, ob die Kämpfe zwischen benachbarten Bevölkerungsgruppen stattgefunden haben, bleibt in der Diskussion. Jüngste sorgfäl tige Untersuchungen der Waffentypen sowie der Fibeln und Gürtelteile von der Klei dung haben erkennen lassen, woher die fremden Kriegerverbände aus der Ferne wohl gekommen sein könnten (oben Abb. 58).
2628 Blankenfeldt 2013b; 2015a; 2015 (2016); v. CarnapBornheim 2004; 2008c; Matešić 2010; 2015; v. CarnapBornheim, Matešić 2015; v. CarnapBornheim (Hrsg.) 2014a. 2629 Blankenfeldt 2013b, 65 Abb. 13 Karte.
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Jedenfalls wird es zu Anfang eine erbitterte Schlacht gegeben haben. Wo fand diese statt, wurde ein Schlachtfeld verabredet, oder waren es auch asymmetrische Kämpfe? Von den besiegten Gegnern war eine größere Anzahl der Krieger getötet worden, andere wurden gefangen und versklavt oder waren geflüchtet. Man hat aber von den Erschlagenen im Bereich der Opferplätze keine Hinweise gefunden, auch nicht von den getöteten Pferden; jedenfalls wurde die Ausrüstung von den Kämpfern getrennt. (Die nun im Tal von Illerup an anderer Stelle entdeckten Knochen vieler Toten kamen zeitlich vor den Waffenopfern in die Erde, vgl. S. 733). Das Schlacht feld wurde gewöhnlich aufgeräumt, in der Regel sammelte man die Waffen ein und fügte sie dem eigenen Ausrüstungslager hinzu, um sie wieder zu verwenden. Aber bei diesen Heeresausrüstungen war das sichtlich nicht der Fall; man hat sie geopfert. Warum man das tat, ist den Funden nicht direkt abzulesen, und nur in Analogie zu anderweitigen Beobachtungen vermutet man zum Beispiel, dass die Waffen besiegter Gegner mit einem Tabu belegt waren und kein Glück mehr bringen konnten, wenn man sie weiter einsetzte. Der antiken und mittelalterlichen Literatur kann man ent nehmen, dass vor der Schlacht den Gottheiten bei einem Sieg die Waffen der Gegner als Opfer geweiht worden waren. Aber noch anderes reizt zu weiteren Überlegun gen: Die Waffen von 600 oder 1000 überwältigten Kriegern wurden von den Siegern geopfert. Ob sich nun ebenfalls so viele Krieger am Ufer des Sees versammelt hatten, um die Waffen zu versenken, ob nur eine ausgewählte Gruppe, dann aber schwer beladen, zu den Opferhandlungen schritt, ob ein großes Fest dem Ganzen mit spezi ellen Ritualen vorausgegangen war, bleibt unerkannt. Der Phantasie ist da viel Spiel raum gegeben, wie man sich eine solche Massenopferhandlung ausmalen kann. Aber ohne den archäologischen Befund wüsste man überhaupt wenig über innergermani sche Kriege, über die Größe der Heereseinheiten, die daran beteiligt waren, über die Mobilität von Kriegerscharen in den weiten Germaniens und über damit verbundene Kultbräuche. Dazu sagt die antike schriftliche Überlieferung nur wenig aus.2630 In der antiken Welt errichtete man nach einem Sieg in der Schlacht ein Siegesdenkmal und stapelte dort die erbeuteten Waffen auf. Ein solches Tropaion/Tropaeum haben die Germanen nach der Varusschlacht vielleicht aufgebaut, das später dann von Germa nicus wieder beseitigt wurde, wie in den antiken Berichten nachzulesen ist. Es gibt zahlreiche Rekonstruktionszeichnungen zu den Vorgängen, die an den Seen stattgefunden haben werden. Der Ausstellungskatalog „Sieg und Triumpf – Der Norden im Schatten des Römischen Reiches“ aus dem Jahr 2003, zusammengestellt in Kopenhagen und Schleswig, schlägt diese Brücke wieder zum Römischen, und das schon im Titel. Einerseits haben sich in den Waffenkomplexen auch zahlreiche römi sche Objekte gefunden, vor allem sind fast alle Schwertklingen – jedoch nicht alle Scheiden oder Schwertaufhängungen – römischer Herkunft; andererseits vergleicht man die Opferung in Seen mit den römischen Triumphzügen, bei denen ebenfalls die
2630 Tausend 2009.
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Waffen der besiegten Gegner mitgeführt und später an dem Siegesdenkmal, ausge stellt wurden. Mit Blick auf die Zahl der Kämpfer einer römischen Legion von bis zu 6000 Mann waren die Heere in Germanien anscheinend also zahlenmäßig deutlich kleiner, ver gleichbar eher mit einer Auxiliareinheit aus Kohorten der Fußtruppen und den alae der Reiterei von etwa 480 bis 500 Mann, später auch von 800 bis 1000 Mann. Die auxiliae waren in Centurien von jeweils 80 Mann untergliedert. Das sind Größenord nungen, die es auch in Germanien gegeben hat. Oben habe ich berichtet, dass die germanischen Kriegerverbände unter ihren jeweiligen Kriegsfürsten sich zu größeren Einheiten verbündeten, wenn es gegen römische Legionen ging, so dass dann auch Heere von 30 000 Mann zusammenge kommen sind. Die Heeresausrüstungen in den Opfermooren gehörten aber zu den kleineren Grundeinheiten von 800 bis 1000 Kämpfern, was dafür spricht, dass die innergermanischen Kriege, auf die diese Opfer zurückgehen, nur in diesen Größen ordnungen stattfanden.
14.2.1 Waffenausrüstungsopfer – ein Auswahlkatalog Am bedeutendsten, weil am besten archäologisch untersucht, sind die nachfolgend kurz beschriebenen Mooropferplätze. Der älteste Fundkomplex aus der Serie der Mooropfer ist wesentlich früher ver senkt worden als die dichte Folge in den nachchristlichen Jahrhunderten, beweist aber die lange Tradition dieses kultischen Brauches. Im Moor von Hjortspring2631 auf der Insel Alsen in der Ostsee wurde ein Schiff für 22 Paddler und Krieger in den Jahren 1921 und 1922 ausgegraben, ein leichtes, nur 500 kg wiegendes und 19 m langes Boot aus dünnen Planken mit dem zeittypischen doppelten Steven, außerdem mit Waffen und weiteren Ausrüstungen, in die Zeit um 350 v. Chr. zu datieren, also in die vor römische Eisenzeit. Die Sitzordnung der Bänke erlaubt den Schluss auf 18 einfache Krieger, 2 Kommandeure und 2 Steuermänner. An Hand der Gesamtzahl der im Moor gefundenen Waffen bestand einst diese besiegte Streitmacht aber aus vier derartigen Booten. Die Waffenfunde setzten sich ungefähr zusammen aus 10 Kettenhemden und 11 Schwertern und Schwertteilen der „Offiziere“ sowie 169 Lanzen bzw. Speersitzen (die einfachen Krieger führten regelmäßig zwei oder drei Langwaffen) und entspre chend über 50 Schilde. Das Mooropfer spiegelt also eine hierarchisch aufgebaute, gut organisierte Streitmacht mit Kriegern und Anführern, über 80 Männer – andere Archäologen sagen mindestens 92 Mann –, vergleichbar mit der Größenordnung einer römischen Centurie des späteren römischen Militärs. Ältere Offiziere trugen ein
2631 Randsborg 1995; 1999; CrumlinPedersen, Trakades (Eds.) 2003; Kaul 2003b, 218 (4 Boote); 2013; Harck 2007, Abb. 3 bis 5 Schilde und Schildbuckel aus Holz.
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Kettenhemd und führten ein Schwert und die jüngeren Krieger zwei Waffen, einen Wurfspeer und eine Stoßlanze. Zu jedem der Anführer gehörten also etwa 9 Krieger; zwei derartige Gruppen und Schiffsführer sowie Steuerleute bemannten ein Boot; die Grundeinheit bildeten somit zehn Krieger. Vielfältiges Exerzieren war Voraussetzung für ein sicheres Manövrieren im Kampf zur See und beim Landen am Ufer. Die aus Ferne in die Ostsee gekommene Streitmacht wurde besiegt und ihre Ausrüstung, Schiffe und Waffen von den Inselbewohnern geopfert. Woher kamen die Krieger? Die Ausrüstung entspricht der Bewaffnung der Kämpfer auf dem gesamten Kontinent. Sie gehörte einer höchst mobilen Kriegerelite, die mit ihren Schiffen weitreichende überraschende Angriffe unternehmen konnte. Die Formen der zahlreichen Ausrüs tungsstücke – neben den Waffen – aus Holz, vom Löffel über die Schüssel bis zu fein gedrechselten Gefäßen sind im Norden völlig unbekannt, haben Parallelen auf dem Kontinent. Eine Dose, eine sogenannte Pyxide, ahmt Keramik nach, die es nur im Gebiet südlich von Hamburg gibt und nur dort. Somit scheint die Streitmacht aus dem Elbegebiet in die Ostsee und weiter nach Nordjütland gezogen zu sein, über mehr als 200 km (Luftlinie) und war vielleicht Teil einer größeren militärischen Operation. Der Fund eines hölzernen Schildbuckels in der Siedlung von Kvärlöv, Schonen, und die Zusammenstellung der zahlreichen Knochenspitzen, beides vergleichbar mit den Waffen im HjortspringFund, legen nahe, so Jes Martens, dass diese Krieger einheit im südlichen Skandinavien vielleicht doch nicht vom Festland gekommen war. Die qualitätsvolle Ausstattung einiger Krieger mit Kettenpanzer gibt Anlass zur Vermutung, dass hier keine normale Dorfbevölkerung die Bootsbesatzungen bildete, sondern Krieger aus einem größeren Gebiet zusammengekommen waren als ein über den Siedlungsgemeinschaften stehender Gefolgschaftsverband.2632 Außer diesem großen Waffenfund sind aus der vorrömischen Eisenzeit zahlreiche weitere Opferkomplexe nachgewiesen, die jedoch nur unvollständig erforscht sind, aber immerhin zeigen, dass derartige Kampfverbände häufiger unterwegs waren und auch damals Krieg zum Alltag gehört hat. Mehrfach zeichnen sich Gruppengrößen von 20 Kriegern ab (z. B. in den Funden von Krogsbølle auf Fünen). Die hochovalen Schilde aus Holz mit einer speziellen Mittelrippe zur Verstär kung ähneln den zeitgleichen Schutz und Abwehrwaffen der Kelten. Der Vergleich mit dem keltischen Kulturraum zu dieser Zeit erhellt die Befundsituation im Norden weiter. Parallel zu der Seeopfersitte von Kriegsausrüstungen, die im Ostseeraum vom 3. Jahrhundert v. Chr. mit diesem Boot und Waffenkomplex von Hjortspring und schwerpunktmäßig bis zum 3. bis 5. Jahrhundert n. Chr. reicht, sind für die Latène zeit in Gallien zahlreiche Waffenopferplätze archäologisch untersucht worden. Sie bestehen in der Regel aus einem zentralen viereckigen Bauwerk inmitten einer Ein hegung aus Wall, Graben und Palisaden, also sichtlich eine Kult oder Tempelanlage. In den Gräben dieser Anlagen finden sich in Mengen die geopferten Waffen besiegter
2632 Martens 2001a.
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Kriegerverbände. Im Gegensatz zu den Befunden in Germanien – wo Menschenopfer fehlen – werden in diesen keltischen Kultplätzen außer den kompletten Waffenaus rüstungen die Krieger selbst, teils nur ihre Köpfe, die Schädel, teils als enthauptete Leichname in größeren Zahlen geopfert bzw. aus und aufgestellt. Bei diesen Plätzen hat die Analyse der Waffenformen gezeigt, dass die feindlichen Kriegerverbände jeweils aus allen Teilen Galliens kamen. Einige Beispiele schildere ich ausführlicher.2633 Der berühmte Waffenfund an der Brücke am Ausfluss des Neuenburger Sees in der Schweiz bei Latène,2634 namenge bend für die Epoche der Latènezeit 1872, untersucht ab 1857, wurde anfangs als Ergeb nis einer Wetterkatastrophe gedeutet, dann als Kampfplatz und heute – aufgrund mehrerer Parallelbefunde – als gezielte Opferniederlegung. Hier wurden mehr als 166 Schwerter, 270 Lanzenspitzen und Reste von vielen Schilden geborgen. In Gournay surAronde, Dép. de l’Oise, wurde zwischen 1975 und 1980 das erste keltische Hei ligtum einer größeren Gemeinschaft vollständig ausgegraben,2635 eine rechteckige 45 × 38 m messende Einfriedung, die vom 4. bis 2. Jahrhundert v. Chr. mehrfach umge staltet worden ist; zum Bau des 3. Jahrhundert v. Chr. gehören eine Palisade vor dem Graben und vor dieser ein neuer zweiter Graben als neue Einfriedung, während im inneren Graben deponiert wurde, Überreste von Opfern und Trophäen. Am Eingangs portal waren die Häupter geköpfter Feinde befestigt worden, an Pfählen komplette Rüstungen aus Schwertern und Schilden, mehr als 2000 Waffen, insgesamt rund 500 komplette Ausrüstungen aus einem längeren Zeitraum. Offen ist, ob die Waffen von den Kriegern, die sie trugen, den Göttern geopfert wurden oder die Ausrüstung von besiegten Gegnern. Im Heiligtum von RibemontsurAncre, Dép. Somme,2636 über wiegen Wurfwaffen gegenüber Schwertern und Schilden, die zumeist Kampfspuren tragen. Diese Waffen sind offensichtlich von einem oder mehreren Schlachtfeldern aufgesammelt und dann am Opferplatz ausgestellt worden. 5000 späteisenzeitliche Waffen und Waffenteile stammen von einem größeren Areal von 3 ha, zumeist aus zwei rechteckigen Grabeneinfriedungen. In einer fanden sich mehr als 300 Waffen und Knochen von rund 140 Individuen, meist nicht mehr im Verband und ohne Köpfe, von Kriegern im Alter von 15 bis 40 Jahren, datiert in den Anfang des 3. Jahr hunderts v. Chr. Die Leichen wurden zergliedert, die Gebeine zerschlagen und dann aufgestapelt. 50 000 Menschenknochen und 5000 Waffen einer einzigen massiven Niederlegung waren Überreste von einem nahegelegenen Schlachtfeld, von rund 1000 gefallenen Kriegern, oft des Schädels beraubt. Die Leichen wurden auf Podien zur Schau gestellt. Die Ähnlichkeit der Waffen bei den Kriegern in Gallien und denen im Ostseeraum im Fund von Hjortspring in dieser Epoche zeigt zugleich, dass an derartigen Sach 2633 Steuer 2006e. 2634 Müller 2001; Steuer 2006 f, 29 mit Abb. 1. 2635 Brunaux 1998; Steuer 2006 f, 30 Abb. 2. 2636 Brunaux 2003; 2018.
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14 Mooropfer, Heeresausrüstungsopfer und Flussfunde
gütern „Kelten“ und „Germanen“ nicht zu unterscheiden sind, dass vielmehr eine großräumige Einheitlichkeit des kulturellen Zuschnitts bestanden hat. Die Forschung sprach zeitweilig von einer keltischen Eisenzeit in Dänemark, weitab von Gallien, und vielfach bestätigen Objekte diese Etikettierung (vgl. S. 113): Der berühmte Kessel von Gundestrup,2637 dessen Herstellung ab 150 v. Chr. datiert wird, ein Behälter zusam mengesetzt aus Silberplatten mit kultischmythologischen Bildern und irgendwo zwischen Südfrankreich oder dem Balkan im Süden gefertigt, wurde auseinanderge nommen im dänischen Moor von Gundestrup gefunden. Zwei Prunkwagen aus dem Moor bei Dejbjerg in Westjütland, datiert in die späte vorrömische Eisenzeit, waren mit Beschlägen geschmückt, die keltische Ornamentik zeigen (vgl. oben S. 91 f.). Die späteren Opferplätze aus dem 3. bis 5. nachchristlichen Jahrhundert sehen anders aus als diese „keltischen“. Aus dem Moor von Nydam in Nordschleswig, Dänemark, werden schon seit dem 18. Jahrhundert bis heute, also über rund 200 Jahre, Funde registriert und Ausgra bungen vorgenommen.2638 Conrad Engelhardt (1825–1881)2639 hat dort 1859, 1862 und 1863 gegraben und schnell seine Ergebnisse 1865 publiziert. Nachfolgend wurde das Moor immer wieder untersucht, 1929 und erneut 1977 sowie 1984 und 1985 (Nydam III); und systematisch wurde ab 1989 weiter im Gelände gearbeitet (Nydam IV). Das Nydamer Moor ist ein Feuchtgebiet von 12 ha, entstanden aus einem einstigen See, der heute verlandet ist. Allein das Projekt 1989 bis 1999 brachte auf nur 600 m2 etwa 15 000 Funde. Mindestens fünf Opferniederlegungen sind zwischen 250 und 480 n. Chr. nachgewiesen. Mehrere große klinkergebaute Ruderschiffe wurden geborgen; ein zerhauenes Eichenholzschiff, gebaut 190 n. Chr. und geopfert um 240/250 n. Chr., ein 18 m langes Kiefernholzschiff, datiert um 320 n. Chr., und das berühmte schon 1863 von C. Engelhardt ausgegrabene knapp 24 m lange Eichenholzschiff, dessen Bau auf 310/320 n. Chr. datiert wird und das um 340/360 n. Chr. im Moor geopfert wurde (es ist heute ausgestellt im Archäologischen Landesmuseum in Schleswig).2640 Das zer hackte Schiff, das älteste aus dem Moor, war vor der rituellen Versenkung auseinan dergenommen worden, Hiebspuren von Äxten zeigen den Gewalteingriff; es ist zudem noch weitgehend im Moor verwahrt. Das Seitenruder aus dem NydamMoor zeigt, wie die Schiffe gelenkt wurden.2641 Ob tatsächlich mit diesen Schiffen belegt werden kann, dass die vorrömische Schifffahrt im NordOstseeraum zu einer Rezeption des nordi schen Schiffbaus in der römischen Welt geführt hat, bleibt eine Forschungsfrage. Mindestens sechs, eher aber sieben bis acht Niederlegungen in Intervallen von 25 bis 50 Jahren sind für Nydam belegt. Datiert wird Opferung 1 = zweite Hälfte 3. Jahr hundert (Opfer 7 und 8); Opferung 2 = 330–360; Opferung 3 und 4 = Ende 4. Jahrhun 2637 Hachmann 1990/1991. 2638 Rau 2010; Rau (Hrsg.) 2013; 2013c. 2639 C.J. Becker 1989. 2640 AbeggWigg 2014a; Rieck 2002; 2003b; zu den Schiffen jetzt Rieck 2014. 2641 Bockius 2010 (2012), 82 Abb.
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dert; Opferung 5 = die besonderen Schwertscheidenbeschläge der Komplexe Nydam II und III aus dem 5. Jahrhundert; Opferung 6 = eine kleine Niederlegung als Nydam IV 470/480: Der Vergleich der Niederlegungen mit den zeitgleichen Grabbeigaben hat zu diesen Datierungen geführt. Die Niederlegung – nach alter Bezeichnung – Nydam III (380–420 n. Chr.) besteht aus silbervergoldeten prunkvollen Schwertscheidenbeschlägen im sogenannten Nydamstil (vgl. unten S. 1229). Schließlich wurde 1989 noch der Fundkomplex IV (um 475 n. Chr.) entdeckt, in dem auch Menschenknochen vorkommen. Dieser Opferkom plex Nydam IV mit mehr als tausend Waffenteilen war besonders sorgfältig niederge legt, kreisförmig waren 36 Schwerter in den Torf gesteckt worden, aus den Scheiden herausgezogen mit bewusst rituell zerstörten Schneiden. Lanzen wurden ebenfalls systematisch in Kreisverteilung abgelegt (Abb. 59).2642
Abb. 59: Im Moor von Nydam systematisch geordnete Niederlegung von Waffen (Niederlegung IV).
2642 Vang Petersen 1998, 258 Abb. 101; MüllerWille 1999, 60 Abb. 67; Steuer 2006 f, 39 Abb. 4.
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14 Mooropfer, Heeresausrüstungsopfer und Flussfunde
Die genannten drei Boote markieren drei verschiedene Großopferungen. Teile des Kiefernholzschiffs waren mit schönem Schnitzwerk verziert, Zirkelornamentiken und Radwirbel wie auf den ältesten gotländischen Bildsteinen, vom großen Eichenholz schiff von 1863 sind drei fast naturgroße Männerköpfe aus Erlenholz, die das Boot an der Reling schmückten, bei jüngeren Grabungen in den 1990er Jahren hinzuge kommen. Beim Kiefernboot lag ein komplettes Schwert mit völlig erhaltener hölzer ner Scheide, innen mit Fell ausgekleidet, und auf dem Mundblech stand in Runen der Name Harkilar; vielleicht war dieser Krieger der Anführer der Besatzung des Kie fernbootes. In der Nähe des Bootes fand man gut erhalten zahlreiche Schildbretter, auf denen noch die einstige Bemalung erkennbar ist. Auf einem Axtschaft steht die Runeninschrift eines weiteren Männernamens WagagastiR. Den erstaunlich guten Erhaltungsbedingungen für Holz verdanken wir hier als Besonderheit aus unterschiedlichen Opferniederlegungen die vollständigen Schwert scheiden aus Holz mit ihren üppigen Verzierungen. Teils wurde das Holz selbst ornamental geschnitzt, teils mit kostbaren Metallbeschlägen besetzt. Auch die Lan zenschäfte sind mit geschnitzten Flechtbändern versehen.2643 Man bekommt dadurch einen Einblick an die überaus vielfältigen Verzierungen des Kunsthandwerks auch in Holz, was sonst nirgends erhalten geblieben ist, so besonders bei den Schwertschei den (Abb. 60). Es wird vermutet, dass das Moor von Nydam seinen Charakter im Verlauf der Jahr hunderte verändert hat, und zwar vom überregionalen Opferplatz zum regionalen Heiligtum; denn pollenanalytische Untersuchungen haben gezeigt, dass in der Spät phase das Moor unmittelbar von Siedlungen und bebauten Feldern umgeben war. Wurden zu Anfang anscheinend die Waffen besiegter Feinde niedergelegt, opferte man später wertvolle militärische Ausrüstungsteile vielleicht der örtlichen Elite. Über die zeitliche Parallelisierung der einzelnen Opferkomplexen mit den Hausformen der Siedlungen in der Umgebung und der ethnischen Deutung habe ich berichtet (vgl. S. 254). Viele der Beobachtungen, die bei der Auswertung gemacht wurden, helfen bei der näheren Erklärung der einst stattgefundenen Vorgänge. Die Lanzenspitzen vom Ende des 4. Jahrhunderts aus Nydam haben Vergleichsobjekte im spätantiken provin zialrömischen Gebiet, also keine skandinavischen Parallelen, wie das bei der Mehr heit der Lanzen und Speerspitzen in den anderen Opfermooren wie Illerup der Fall ist. Dasselbe gilt auch für Schaftlochäxte, 55 Exemplare unter den Äxten weichen von den Funden in den übrigen skandinavischen Opferplätzen ab.2644 Die Opfervorgänge in Nydam decken den Zeitraum 250 bis 480 n. Chr. ab. Andreas Rau fragt – wie das mit zusätzlichen Überlegungen bei allen OpferPublikationen 2643 Jørgensen, Vang Petersen 2003, 273 Abb. 23, 275 Abb. 25, 278 f. Abb. 31 und 32 (Lanzenschäfte und Bogenfragmente von Nydam), 281 Abb. 35, 283 Abb. 39 (Pfeilschäfte); die anderen Abb. zeigen Schwertscheiden; Capelle 1980. 40 ff. mit Abb. 29–31 (Lanzenschäfte von Kragehul). 2644 Rau 2010, 33.
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Abb. 60: Verzierte Schwertscheiden aus dem Moor von Nydam.
und den verschiedenen Autorinnen und Autoren der Fall ist, so dass heute zeitgleich verschiedene Deutungsmuster nebeneinander stehen –, was eigentlich einst hier stattgefunden hat, wie man sich die Befunde erklären kann. Was wurde geopfert, die Ausrüstung besiegter Angreifer nahe Nydam oder die mitgebrachten eroberten Waffen durch siegreiche Heimkehrer? Führten sie einen Triumphzug zuhause durch? Jedenfalls waren die unterlegenen Einheiten keine Aufgebote ethnischer oder terri torialer Einheiten, sondern trainierte Kämpfer, die einen relativ geringen Anteil an der Gesamtpopulation in Germanien ausmachten. Nicht die räumliche, sondern die persönliche Nähe zum Befehlshaber war ausschlaggebend, was die Herkunfts bestimmung an Hand der Sachtypen problematisch macht.2645 Aus der Größe der Kampfverbände kann man also nicht etwa erschließen, wie groß die Siedlungsare ale gewesen sein würden, um das Kontingent zu stellen. Die Waffen bieten demnach auch keinen Hinweis auf die Herkunft aus Regionen, die weit entfernt von Südjütland 2645 Rau 2010, 466, 496 ff.
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liegen. Die Opferung 4 spiegelt jedoch kontinentalnorddeutsches Milieu, während das Kiefernholz der Pfeilschäfte die skandinavische Halbinsel als Herkunftsregion erwarten lässt.2646 Nach der Zahl der Opferplätze im Moor bzw. der Opfervorgänge hat es im Abstand von 15 bis 25 Jahren größere Kriegshandlungen gegeben, die einer Herrschaftskonsolidierung in den militarisierten Gesellschaften in Germanien des 3. bis 5. Jahrhunderts gedient hätten, meint Andreas Rau. Die Heeresausrüstungsopfer seien Resultat angekündigter Kampfhandlungen mit vorheriger Absprache der Ent waffnung der Unterlegenen, die möglicherweise die rituellen Zerstörungen selbst vornehmen mussten. Nicht die physische Vernichtung des Gegners wäre das vorran gige Ziel, sondern die Zerstörung der herrscherlichen Sieghaftigkeit sowie der Iden tität der Unterlegenen als Krieger. Dies könnte auch das Fehlen von Hinweisen auf menschliche Leichname erklären. Jedenfalls handelte es sich nicht etwa um symboli sche Vorgänge, sondern um reale Kampfhandlungen; denn die Kampfspuren an den Waffen vor der nachfolgenden rituellen Zerstörung belegen die vorausgegangenen Kämpfe.2647 Natürlich, so ein Rezensent, bleibt es fraglich, ob Gefolgschaften oder Personenverbände, die unabhängig von einer rechtlich freien und an Kämpfen nicht beteiligten Bauernschaft agiert haben, überhaupt möglich war.2648 Mit der Stufe D2 (also um 500) ist an diesem Ort die Endphase der großen Opferungen erreicht. Wenn die Deutung, dass nämlich die Opferungen zur Herrschaftslegitimation gedient hätten, akzeptiert werden soll, dann bleibt zu fragen, wie diese Festigung der Herrschaft in der nachfolgenden Epoche ohne Waffenopfer hat gewonnen werden können. Andreas Rau sieht diese in den jetzt aufkommenden Goldbrakteaten, die nach römischem Vorbild im Sinn einer kaiserlichen Allmacht gestaltet sind (siehe unten S. 1206). Ein Schaubild erklärt die sakralen, sozialen und psychologischen Erklärungsmöglichkeiten für dieses und andere Opfermoore (Abb. 61).2649 Noch ein Aspekt wird diskutiert: Wie groß war jeweils die Zahl der besiegten Krieger insgesamt, stehen die Waffen vielleicht nur für die Zahl der Gefallenen.2650 Auffällig ist, dass es eine Diskrepanz zwischen den Zahlen der personengebundenen Gegenständen und der Anzahl der Waffenausstattungen gibt. Erstere machen nur 30 bis 40% aus. Demnach muss ein Drittel der Kämpfer tot oder verwundet auf dem Schlachtfeld verblieben sein und konnte entwaffnet und entkleidet werden, die rest lichen Zweidrittel flohen ohne Waffen oder mussten sie abgeben. Diese Zahlen sollten erklärt werden können; aber vorerst bieten sich nur Spekulationen an. Inzwischen ist das Umland von Nydam mit Blick auf die normale Besiedlung untersucht worden, was zu einer ganz andersartigen Erklärung für die „ethnische“
2646 G. und J. Bemmann 1998. 2647 Gebühr 1980; Gundelwein 1994a, b. 2648 Rau 2010, Rez. PeterRöcher 467. 2649 Rau 2016a und b; 2016/2017. 2650 Rau 2011 (2013).
Transformation von Beute zur Gabe
gis
Vorbeugung göttlicher Ablehnung
721
olo ch ps y
rel igi ös
14.2 Heeresausrüstungsopfer
ch
Zerstörung der gegnerischen Ausrüstung Symbolisches Zerstören des Kriegers
Profanisierung der Beute verhindern
Inszenierung von Sieghaftigkeit
sozial Abb. 61: Schaubild über die Aspekte der Deutungsmöglichkeiten für die Waffenopfer.
Zuordnung der Opfernden geführt hat (vgl. auch oben S. 254).2651 Die zeitgleiche Bebauung zu den Opferungen von 200 bis 500 n. Chr. ist nun bekannt, und zwar vom 1. bis 5. Jahrhundert. Innerhalb eines Radius von 7,5 km um das Moor sind 14 Plätze mit zeitgleichen Gebäuderesten nachgewiesen, bei 13 km Radius sind es schon 20 Fund plätze. Der Abstand der Dörfer beträgt etwa 2 bis 2,5 km. Je dichter am Moor gelegen, desto mehr Siedlungsplätze waren es. So ist es auch beim Opfermoor von Ejsbøl, wo 2016 eine große Hofanlage ausgegraben werden konnte (vgl. S. 262). Die Opferungen in Nydam erfolgten anscheinend tatsächlich durch die Umwohner.2652 Es sind sechs Opferungen dokumentiert, wobei die Datierung der Opfer später liegt als die der den drodatierten Bootsteile, d. h. wie oben gesagt, dass die Boote schon einige Zeit lang benutzt worden waren. Die Opferung 1 bis 4 ist in den Siedlungen mit Häusern vom OsterrönfeldHausTyp 2 bis 4 zu parallelisieren; danach haben Angeln die Niederle gungen 1 bis 3 geopfert, zur Opferung 2 gehört das Kiefernboot. Das wurde bisher aus Norwegen oder Schweden hergeleitet; jetzt soll es aber aus Dänemark allgemein oder 2651 Andersen, Ethelberg, Kruse, Madsen 2017, 188 ff., 190 Abb. 3 Karte der Siedlungen im Umkreis von 7 km und 13 km, 192 Abb. 4 Haustypologie in Korrelation zu den Waffenopferungen; Kruse 2017, 173 Fig. 3. Siedlungen im Umfeld vom NydamMoor. 2652 Rau 2010, 33.
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speziell aus Angeln stammen, und damit wären die geopferten Sachen aus Angeln selbst gekommen. Wenn die Opferungen 1 bis 3 den Angeln zuzuordnen wären, dann wäre Opferung 4 von jenen, die die Angeln verdrängten haben, durchgeführt worden. Die Bootsopferungen gehörten zu den Angeln, auch das berühmte Nydam Boot. Diese detaillierte auch oben beschriebene Auswertung (vgl. S. 721) erschließt große Bevölkerungsverschiebungen ín diesem Raum, die aufgrund kriegerischer Aus einandersetzungen zu den Opferungen geführt hätten. Ein solches Deutungsmuster ist weitreichend und bleibt spekulativ: Es wäre ein Streit unter den Germanen, was zur Vertreibung von ganzen Stämmen aus ihrem Siedlungsgebiet geführt zu haben scheint, zur Emigration oder zu Fusionen kleinerer Stämme, also zu Assimilationen, oder gar zum Völkermord. A. Rau meint und listet auf, dass Opfer 1 um 250–275/300 die Ausstattung von Leuten aus Angeln, Fünen und Holstein sowie Mecklenburg enthält, Opfer 2 um 330–360 von Leuten aus Dänemark und auch Angeln bringt, Opfer 3 um 360–390 ebenso aus Dänemark und Angeln, Opfer 4 um 385–400 ebenfalls und Opfer 5 des 5. Jahrhunderts Materialien aus Skandinavien allgemein, ein Opfer 6 ist nicht näher zu behandeln.2653 Das Moor liegt in Angeln und die Siedlungen haben eigene Hausfor men, und die These von A. Rau geht davon aus, (siehe oben Abb. 61), dass Bewaffnun gen von Kriegern aus Angeln, also aus der näheren Umgebung hier geopfert worden sind, d. h. dass ein Heeresverband der Angeln eine Schlacht verloren hätte, und es heißt außerdem, dass die Haustypen der Angeln verschwunden sind, dass also ein Bevölkerungswechsel stattgefunden haben muss. Im recht kleinen Kesselmoor, einst ein Toteisloch, von Thorsberg bei Süder brarup in SchleswigHolstein von 140 auf 300 m Abmessung (2 ha) begann Conrad Engelhardt 1858 und 1860/1861 mit den Grabungen, nachdem immer wieder Funde bekannt geworden waren; seine Ergebnisse hat er schon 1863 veröffentlicht. Der Name Thorsberg war eine neue Benennung und sollte nicht als Hinweis auf den Gott Thor betrachtet werden. Für das Jahr 1683 ist als Name Toßberg oder Taßberg am benachbarten Hügel überliefert, also nicht der Name des alten germanischen Gottes. Conrad Engelhardt sprach noch 1863 vom Taschberger Moor, wechselte dann aber zu Thorsberg und weckte damit die fälschlichen Assoziationen. Es hat dann in der Gegenwart wieder Ausgrabungen gegeben.2654 Niederlegungen um 100, um 250 und um 300 n. Chr. lassen sich unterscheiden.2655 Dabei ist umstritten, ob die Sachen in eine offene Wasserfläche versenkt worden sind oder vom Rand in feuchte Bereiche eines Moors geworfen wurden.2656 Mehr als 1800 Waffen (nur Griffteile von Schwer tern, denn in diesem Moor war das Eisen vergangen, so dass auch rituelle Zerstörun 2653 Kruse 2017, 174 Fig. 5 nach Rau 2010 und Jørgesen, Vang Petersen 2003 mit noch leicht abwei chenden Datierungen. 2654 Blankenfeldt 2013a, 27 Fig. 2 Karte: Grabungen rote Punkte vor 1950, grüne Punkte nach 1950. 2655 v. CarnapBornheim 2008c; 2014b; v. CarnapBornheim (Hrsg.) 2014a, b. 2656 Lau 2014 und Dörfler 2014, 384, so Ruß, RußPopa 2016, 305 mit Anm. 4.
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gen im Laufe der Opferzeremonien nur indirekt erkennbar sind), Gürtelbeschläge und Pferdgeschirrteile sind registriert.2657 Herausragend sind zwei Phalerae,2658 römische Ordensscheiben, die von heimischen Kunsthandwerkern mit zusätzlichen Bildble chen besetzt wurden (vgl. dazu S. 481), ein Maskenhelm und ein mit Indigo gefärbter Prachtmantel2659 sowie mit Silber beschlagene Ledersandalen und manche weitere Objekte römischer Herkunft für die heimische Elite, die zum Teil für diese speziell umgearbeitet worden waren. Sowohl die römischen Sachgüter als auch die Herkunft der Fibeln von der Kleidung aus den Zentralgebieten Germaniens zwischen Rhein und Elbe deuten an, woher die Krieger gekommen sind. Die Funde und Befunde dieses Opfermoores wurden jetzt neu ausgewertet. Als Band I (2014) hat Nina Lau schwer punktmäßig die Pferdegeschirre, das germanische Zaumzeug und die Sattelgeschirre als Zeugnisse kriegerischer Reiterei im mittel und nordeuropäischen Barbaricum aus gewertet.2660 Möglicherweise sind die frühesten Zügelkettenzaumzeuge in römischen Militäranlagen aufgrund von spätlatènezeitlichen, frührömischen und germanischen Elementen entstanden und durch germanische Reiter nach Germanien vermittelt worden, wo das Geschirr dann sichtlich noch weiterentwickelt wurde. N. Lau hat die verschiedenen Ausprägungen dieser Geschirre als Typen mit den Funden aus den anderen Opfermooren verglichen und mit Namen versehen. Der Typ Vimose soll aus dem Süden gekommen, sei in germanischen und norddanubischen Siedlungen pro duziert worden, sei dann durch elbgermanische Krieger in den Norden gelangt und schließlich dort geopfert worden. Der Typ Illerup (Phase C2, spätes 3. Jahrhundert und um 300) sei aus Skandinavien gekommen, der Typ Thorsberg (als jüngste Form) (der Phasen C2 und C3, 4. Jahrhundert) aus Südostschweden. Diese Zuordnungen beschreiben die Verflechtung der Kriegerverbände in alle Richtungen. Die Einfüh rung von Sätteln bei den Germanen soll auf römische Vorbilder zurückgeführt werden können, oder sarmatische Einflüsse spielten auch eine Rolle. Im Thorsberger Moor gab es drei Niederlegungen, zwei kleine Deponierungen während der ersten Hälfte bis Mitte 2. Jahrhundert und um 300, eine große Opferung (Phase C1b) zwischen 220 und 240, wieder eine kleine Deponierung mit Objekten, deren Herkunft zwischen Rhein und Weser zu sehen ist. Die 1. Niederlegung gehört in die Zeit der Markomannenkriege (Phasen B2/C1a) und stammt von Kriegern aus Kontinentaleuropa; die 2. als umfangreichste Niederlegung (Phase C1b) belegt die Herkunft der Krieger aus der Altmark, aus Norddeutschland, Jütland und von den dänischen Inseln, die 3. Niederlegung mit Objekten hohen Status entstand im ersten Drittel des 3. Jahrhunderts (Phase C2C3) und enthält zahlreiche skandinavi sche Komponenten. Aus der Phase C1b kommen mindestens 18 Pferdegeschirre der 2657 Blankenfeldt 2013a, 33 Fig. 4 mit Karte (farbig) der Herkunft von Kriegern nach Ilkjær 2003, 29 fig. 21; 2013b ebenso; WilbersRost 1994 zum Zaumzeug mit Zügelketten. 2658 v. CarnapBornheim 1997. 2659 Tidow 2000. 2660 Lau 2014a; 2016.
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Typen Vimose und Illerup, die fast alle eindeutig germanische Produktionen sind, aber auch römische Einflüsse in Details erkennen lassen. Die Produktionsstätten vermutet N. Lau in germanischen Großsiedlungen in Westdeutschland in Nähe der römischen Provinzen, was die Einflüsse über Kontakte erklären könnte. Die Pferde geschirrteile der Phase C2/C3 sind anscheinend aus Südschweden, Bornholm und Gotland gekommen. Aber noch gibt es keine Nachweise der Produktionsgebiete im Norden. Die Zaumzeuge lagen in den Mooren, die nicht zu den Herkunftsgebieten der besiegten Krieger weisen, sondern aus der Ferne kommen. N. Lau ist zudem aufgefal len, dass die Zügelketten bzw. das gesamte Zaumzeug der Pferde in bestimmter Weise zerstört worden ist und das nicht nur in Thorsberg, sondern in derselben Weise eben falls in den anderen Opfermooren.2661 Die Ausgestaltung der Pferdegeschirre spiegelt römischgermanische Kontakte bzw. es gibt eine Vermischung provinzialrömischer und germanischer Formen während der jüngeren Römischen Kaiserzeit.2662 Die kriegerische Reiterei der Germanen spiegelt sich auch in den später aufkom menden Goldbrakteaten des 4./5. Jahrhunderts, auf denen vergleichbare Kanda rengebisse abgebildet sind. Germanische Krieger trugen oftmals zwei Gürtel, einen „privaten“ innen mit den persönlichen Sachen wie Kamm und Pinzette in und an einer Tasche und einen äußeren für Waffen und Rangabzeichen. Die Zügelketten machten es möglich, die Pferde mit der einen Hand zu reiten und mit der anderen die Waffen zu führen.2663 G. Moosbauer weist darauf hin, dass die Opferungen in Thors berg mit Waffen und Pferdegeschirrteilen, datiert zwischen 220 und 240 n. Chr., mit der schriftlich überlieferten Ereignisgeschichte zu parallelisieren seien, mit den Ein fällen in die römischen Provinzen Obergermanien und Raetien im Jahr 233 n. Chr. und den Ereignissen am Harzhorn 234 n. Chr. In einem zweiten Band hat Ruth Blankenfeldt die persönlichen Ausrüstungen aus dem Thorsberger Moor ausgewertet.2664 Die Gegenstände aus Bunt und Edel metall, aus Holz, Leder, Glas und Keramik sind erhalten, solche aus Eisen, Geweih oder Knochen dagegen sind fast ganz vergangen. Das Opferritual hat einige Objekte symbolisch zerstört, andere aber blieben unberührt, und sehr reiche, mit Edelmetall versehene Objekte höherrangiger Leute sind besonders stark beschädigt worden. Vor allem die Schlangenkopfarmringe waren rituell zerstört und verbogen worden. Das gleiche Bild bieten auch die persönlichen Sachen in den Mooren von Illerup Ådal, Nydam und Ejsbøl Nord. R. Blankenfeldt vermutet, dass die öffentliche Präsentation der Beute und die anschließende Übergabe an die Gottheiten mit der rituellen Zerstö rung verbunden waren. Besonders betroffen waren Sachen der Reiterei und der Besit zer von goldenen Schlangenkopfarmringen. Die Deponierung war das Endstadium 2661 Lau 2008; 2009. 2662 Lau 2018; Lau, in: Voss, MüllerScheessel (Hrsg.) 2016, 697–709; 2016. 2663 Moosbauer 2018, 120 f. 2664 Blankenfeldt 2015 (2016), dazu Rez. Lund Hansen; 2016 zu den figürlich verzierten Metallarbei ten (vgl. auch unten S. 1101 ff.).
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eines politischen Konflikts und die Opferung ein wichtiges soziales Ereignis. Die Wahl des Ritualplatzes brauchte eine Bühne für eine größere Menschenansammlung. Die Herkunft der Krieger wird anhand ihrer Fibeln erschlossen. Sie kamen danach aus dem Gebiet der Elb und RheinWeserGermanen, aus der Lüneburger Heide und der Altmark, von Fünen und Südjütland, Holstein, Mecklenburg und Prignitz bis West friesland, einige aus dem ElbeWeserDreieck, also aufgrund der Verbreitungskar ten aus allen Landschaften rundum. Es gibt Vergleiche zu den Fibeln aus dem Bad Pyrmonter Quellopfer oder aus dem Hort von Łubiana (vgl. S. 549) in Pommern mit mehr als 700 Fibeln. Das waren aber Opfer von Frauen und kleinen Gemeinschaften, während die meisten Fibeln im Thorsberger Moor von Männern getragen wurden. Doch auch die Opfergaben unmittelbar von Frauen werden indirekt aus bestimmten Fibeltypen erschlossen (vgl. S. 750) Zur These, woher die Krieger gekommen waren, deren Ausrüstungen geopfert wurden, blickt die Verfasserin also besonders auf die Verbreitungskarten der Fibelty pen. Das halte ich nicht für einen erfolgversprechenden Weg; denn wir wissen nicht, wie die Verteilung der jeweiligen Fibeltypen zustande gekommen ist, die das Kartenbild zeigt (vgl. dazu oben S. 580). Es ist nicht ausgeschlossen, dass es Herstellungszentren gegeben hat, von denen aus die Fibeltypen durch andere Mechanismen verteilt worden sind. Das Einzugsgebiet des Kampfverbandes und die Verteilungswege der Fibeln sind zwei sehr unterschiedliche Vorgänge, die nicht zusammenpassen müssen, auch wenn das auch einmal der Fall sein könnte, zumal wir davon ausgehen können, dass Kriegerverbände eines Gefolgschaftsführers aus unterschiedlichen Landschaf ten rekrutiert wurden. Gefunden wurden auch zusammengerollte Textilien, eine Tunika, zwei lange Hosen und Mäntel.2665 Die Krieger trugen wie beschrieben oftmals zwei Gürtel, je einen unter und einen über der Kleidung, oder auch einen Schultergurt. Die Schnal len weisen ins nördliche Polen und in elbgermanische Regionen, andere Gürtel haben Vergleichsstücke in Skandinavien, in Süd und Südostschweden, auf Gotland, Öland und in Jütland, wieder andere Typen in Jütland, auf Fünen und auf Bornholm. Die Feuerstahle weisen auf Parallelen im Polnischen Gebiet zwischen Oder und Elbe. Die Schlangenkopfarmringe im Thorsberger Moor sind ebenfalls ortsfremd. Es sind mili tärische Auszeichnungen, die von den unterlegenen Kriegern anderswo gewonnen worden sein müssen. Die beiden Zierscheiben, kaiserzeitliche Kunst in Germanien, sind ohne Frage statuskennzeichnende Objekte, die aus einer Werkstatt kamen, die römische Verzierungsdetails mit germanischen Stilelementen verbunden hat.2666 Man kann einen germanischen Handwerker mit römischer Ausbildung (Phase C1b) vermuten, einem solchen ist auch die Gesichtsmaske aus dem Moor zuzuweisen.
2665 MöllerWiering 2011. 2666 v. CarnapBornheim 1997.
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In Band 4 hat J. Gräf auch die zahlreichen rund 80 Leder und Fellreste beschrie ben,2667 ein einzigartiger Komplex aus der Römischen Kaiserzeit. Das liegt an den speziellen Erhaltungsbedingungen in diesem Moor. Die Lederproduktion und Lederverarbeitung, die Tierarten und die Gerbungsmethoden sind ablesbar sowie die Bearbeitungsmethoden an den Objekten. Das sind Schuhe, Schwertzubehör und Gürtel sowie Pferdegeschirr und Riemenzeug. Meist handelt es sich um Kalbs und Rindsleder, für die Schwertgurte und die Gürtel wurde Ziegenleder gewählt. Im Moor lagen auch die Werkzeuge für die Lederbearbeitung, scharfe Messer, Scheren und Ahlen. Manche Ledersachen kamen von Tieren aus der Umgebung (anhand der StrontiumAnalyse bestimmt). Auffällig ist, dass überwiegend linke Schuhe im Moor gelandet sind, eine rituell beeinflusste Entscheidung, die auch anderswo beobach tet worden ist. An einigen Riemenstücken sind sogar noch Spuren von Vergoldung erkennbar, als Palmettenzier, die von Gürteln oder Schwertgurten stammen können. Beim Leder vom Pferdegeschirr bietet sich ein Vergleich mit Funden von Högom an (vgl. S. 946). In diesem Band 4 schildert W. Dörfler die paläoökologische Situation beim Moor und in seiner Umgebung.2668 Es geht um Großreste und Pollenanalyse. Ein Übergang vom Niedermoor zu einem regenwasserspeichernden Hochmoor hat stattgefunden. In vorrömischer Eisenzeit standen in der Umgebung Birken, Buchen und Hainbu chen sowie Linden, um Chr. geht der Buchenanteil zurück und die Erlen nehmen zu, außerdem ist Getreideanbau in der Nähe nachgewiesen. Das Moor war von einem Waldgürtel umgeben, der vom Siedlungsareal trennte. Ab 200 n. Chr. nehmen die Siedlungsanzeiger deutlich zu; es ist die Zeit der ersten Opferung im Moor. Ab 370 n. Chr. schieben sich die Siedlungen näher an das Moor heran; Getreidepollen nehmen zu. Es ist die Zeit der letzten, der dritten Deponierung. Der Wald blieb über die ganze Zeit bestimmendes Landschaftselement, gegen 600 nimmt er zu und die Siedlungsanzeiger gehen gegen 620 n. Chr. deutlich zurück. Die Bemerkungen zur sich leicht ändernden Chronologie der Phasen, in die alle Sachgüter der Römischen Kaiserzeit gegliedert werden, seien hier nur randlich ver merkt (vgl. auch Tabelle 1): Nach Andreas Rau 2010 liegt der Beginn der Phase C1a (171–180, also nicht bei 150 n. Chr.) bei den Markomannenkriegen, Phase C1b beginnt um 210 und dauert bis 245/250, und Phase C2 dauert bis 310/320. Der Übergang von C1b zu C2 um 250 bietet auch neue Daten für das Gräberfeld von HaßlebenLeuna (vgl. S. 929). C. v. CarnapBornheim datiert die drei Deponierungen wie folgt, Thors berg 1 (Phase C1a), Thorsberg 2 (C1b), die umfangreichste Opferung und mit starker provinzialrömischer Komponente, Thorsberg 3 (C2C3). Nicht immer stimmen die Aussagen in den verschiedenen Publikationen überein, Wandlungen in den Erklärungen kommen vor, zumal was die Herkunft der Kriegerver
2667 Gräf 2014, 231–345; Ruß, RußPopa 2016, 305–307, zu v. CarnapBornheim (Hrsg.) 2014. 2668 Dörfler 2014, 347–389, in: v. CarnapBornheim (Hrsg.) 2014; Ruß, RußPopa 2016, 308.
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bände betrifft, deren Ausrüstungen geopfert worden sind. Die Herkunft der Niederle gung Thorsberg 2 in C1b weist in den nördlichen elbgermanischen Raum, während die anderen eher nach Südskandinavien und in den westlichen Ostseeraum tendieren. Zu Thorsberg 2 gehören römische Waffen, Schwertgarnituren und Klingen, Schildbu ckel, Kettenhemden, Helme und die beiden bekannten Zierscheiben (Phalerae). Eine dritte Aufarbeitung zu den Funden aus dem Thorsberger Moor legt Susana Matešić vor. Sie behandelt die militärischen Ausrüstungen mit vergleichenden Untersuchungen zur römischen und germanischen Bewaffnung.2669 Die meisten Waffen gehören ins frühe 3. Jahrhundert (Phase C1b), kleinere Mengen in die Zeit um 300–330 (Phase C2/C3). Die Schwerter sind römischer Herkunft, aber haben germa nische Griffe lokaler Herstellung.2670 Auch von den Schwertscheiden ist ein Drittel römischer oder provinzialrömischer Herstellung. Die Adoption verschiedener römi scher Elemente in den germanischen Militaria ist zu registrieren. Die Waffen spiegeln römischgermanische Interaktionen, auch Interaktionen zwischen den verschiedenen germanischen „Stämmen“, meint die Autorin. Die Schwerter werden im 3. Jahrhun dert auf der rechten Seite mit Schultergurt getragen. Die Schilde sind vom Material her nach Rang gestaffelt. In Thorsberg sind die eisernen Schildbuckel vergangen, aber 36 aus Kupferlegierung liegen vor und 2 aus Silber. So könnte man auf mehr als 300 einst vorhandene eiserne Schildbuckel schließen. Es gibt zum Vergleich in Illerup Ådal 350 eiserne Schildbuckel, 36 aus Kupferlegierung und 4 aus Silber. Es gibt außerdem römische Schildbuckel, anders als in Illerup oder Vimose, d. h. diese Krieger kommen noch einmal von woanders her. Die (zwei) Helme wurden sicher lich von germanischen Kriegern getragen (Spangenkappe und Gesichtsmaske),2671 die zuvor in römischen Diensten waren, ebenso die Kettenhemden, von denen drei römisch sind, eines germanisch überarbeitet wurde. Die reichsten Ausrüstungsgegen stände im 3. Jahrhundert sind an meisten zerstört, was auf eine sorgfältig geplante Opferzeremonie hinweist. Zu erwähnen sind Inschriften, eine mit römischen Lettern, nämlich Aelius Aelianus auf dem Rand eines Schildbuckels, und zwei Runeninschrif ten (vgl. S. 1255). Die größte Niederlegung aus der Phase C1b, dem frühen 3. Jahrhun dert, liegt zum Vergleich zeitlich zwischen Illerup A und Vimose 3: Die Opfervorgänge in den jütländischen Mooren sind zeitlich gestaffelt.2672 Auch für diesen Mooropferplatz werden allgemeine Überlegungen über das Zustandekommen und die Hintergründe, wie in den vorausgegangenen Bänden, ein gefügt, die zum Nachdenken anregen. Was waren das für Kriegerverbände? Sie kamen nicht aus irgendwelchen germanischen Stammessystemen; denn die Gruppen waren keine wilden Krieger, die sonst Bauern waren. Der Import qualitätsvoller römischer 2669 Matešić 2015, dazu Rez. Pauli Jensen. 2670 v. CarnapBornheim 2004. 2671 Matešić 2010, zu Helmen und Gesichtsmaske; 2016 zur Spangenkappe mit Fotos zur Herstel lungstechnik. 2672 Sieg und Triumpf 2003, 46 Abb. 2.
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Schwerter in Kombination mit germanischen Waffenschmieden spricht für organi sierte, professionalisierte Krieger. Die Deponierungen waren visualisierte Rituale auf hohem Niveau, mit hoher politischer Bedeutung. Kriege und Kulthandlungen waren miteinander verbunden. Schließlich legt Claus von CarnapBornheim mit anderen außer der Fund und Forschungsgeschichte zum Thorsberger Moor auch naturwissenschaftliche und materialkundliche Untersuchungen vor.2673 Es geht im Band um besondere Material gruppen. Julia Gräf (vgl. auch oben S. 726) vermutet, dass einige der qualitätsvoll sten Ledersachen wie viele der Waffen importierte römische Objekte waren; und sie meint, über StrontiumAnalysen die Herkunft der Tiere aus Norwegen und Südschwe den nachweisen zu können. Aus Leder sind Schuhe, Schwertscheiden, Schultergurte, Pferdezaumzeug und Pelze der Kleidung. Über 20 Schuhe und Schuhfragment sind überliefert, die mit römischen Schuhen zu vergleichen sind. C. v. CarnapBornheim bevorzugt als zentrale These der Deutung dieser Moorop fer, dass das Ziel der Opferungen die Zerstörung der Identität der besiegten Krieger war und dass die Zeremonien mit römischen Triumpfzügen und paraden zu verglei chen seien. Die Opferhandlungen erfolgten nicht etwa geheim, sondern in breiter Öffentlichkeit. Er weist auf die Schlachtfelder von Kalkriese (9 n. Chr.) und Harzhorn (235/236 n. Chr. hin) (vgl. dazu S. 759) und vergleicht die dortigen Befunde mit den Heeresausrüstungsopfern, weil in allen Fällen die komplexe militärische Organisa tion auch der Germanen erkennbar würde. Die Opferungen spiegeln militärische und gesellschaftliche Konfliktsituationen und zugleich militärisch effektive Verbände in Germanien, wie sie auch am Limes erschienen sind. Im Rahmen der Ausstellung „Bewegte Zeiten – Archäologie in Deutschland“ 2018 in Berlin hat C. v. CarnapBornheim die Befunde im Thorsberger Moor mit dem Titel „Sieg und Niederlage. Spannende Archäologie vor dem Hintergrund dramatischer Zeitläufte“ beschrieben.2674 Gezeigt und erläutert werden der römische Helm aus dem Thorsberger Moor, die Gesichtsmaske und die berühmten Zierscheiben (vgl. S. 481). Erinnert wird, dass Grabungen in den 1850er und 1860er Jahre schon etwa 5500 Gegenständen geborgen haben, Sachgüter vor allem der ersten Hälfte des 3. Jahrhun dert, darunter Massen an römischen Waffen, die zerstört worden sind (und die in die Zeit der Schlacht am Harzhorn 235 gehören). Eine neue Interpretation der Heeresaus rüstungsopfer wird geboten: Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Besiegten an ebendiesen Ritualen hatten teilnehmen müssen. So wurde mit dem Demolieren ihrer Waffen zugleich die Identität der Krieger zerstört […].
Von Thorsberg ausgehend wird zusammengefasst, dass diese Opferkomplexe in die nördliche elbgermanische Region und zu provinzialrömischen Gebieten weisen, 2673 v. Carnap (Hrsg.) 2015 (2016), dazu Rez. N. L. Wicker, mit Hinweis auf Raddatz 1957 und 1987. 2674 v. CarnapBornheim 2018, 315 Zitat; Blankenfeldt, v. CarnapBornheim 2018.
14.2 Heeresausrüstungsopfer
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während die Komplexe von Illerup Ådal und Vimose Beziehungen nach Südskandi navien, die von Nydam zur westlichen Ostsee als Herkunft der Krieger haben. Bei den Luxusobjekten ist nicht klar zu erkennen, von wem sie gemacht wurden und wem sie gehörten. Entscheidend war die militärische Kontrolle des Rohmaterials und der provinzialrömischen Werkstätten für die Produktion von Waffen und der wei teren militärischen Ausrüstung. Die besonderen Stücke spiegeln die Verbindung zwi schen dem provinzialrömischen und dem germanischen Handwerk. Es sollte aber erst ausführlich gewertet werden, so meine ich, ob immer zu Anfang das Provinzialrömische genannt werden sollte und dann in zweiter Linie das Germanische. Der Maskenhelm belegt den östlichen Einfluss auf die Ausgestaltung der römischen Auxiliarhelme, wenn dazu die Thorsberger Gesichtsmaske mit der von Kalkriese verglichen wird. Bei der Thorsberger Maske, gefunden 1854, ist der Nackenschutz aus Lamellen untypisch und, entspricht eher sarmatischen Helmen des 1. und 2. Jahrhunderts.2675 Im Moor von Ejsbøl bei Hadersleben im mittleren Jütland mit einer Fläche von 300 × 1000, also 300 000 m2 Fläche, tauchten die ersten Funde 1955 auf;2676 seither wurde dort immer wieder bis 1998 und auch in den nachfolgenden Jahren ausgegraben und nach und nach mehrere Opferniederlegungen erkannt, ein großes Waffenopfer (EjsbølNord) aus den Jahren um 300 n. Chr. und ein weiteres um 400 n. Chr. (Ejsbøl Süd). Auf 1700 m2 wurden rund 2400 Objekte gefunden. Eine Verstärkung des Seeufers mit Pfählen markiert den Platz, von wo die Opfergaben bis 40 m in den See hinaus fächerförmig verteilt worden sind. Die Waffen und Ausrüstungsteile wurden zuvor gewaltsam zerstört, auseinander gerissen und verstreut. Manche Sachen aber wurden auch gebündelt, zusammengepackt und ineinander gesteckt in den See geworfen. Andererseits sind zusammenpassende Objektbruchstücke über 20 m voneinander ent fernt gefunden worden. In Teilbereich EjsbølNord wurden 60 Schwerter, etwa gleich viel Gürtelteile und 200 Speerspitzen und 189 Lanzenspitzen, weiterhin Pfeilspitzen und Schildbeschläge, außerdem Sporen und Pferdezaumzeug sowie Sattelteile gebor gen. Diese Ausrüstungen gehörten etwa 60 Kriegern mit einem Schwert, von denen 10 Reiter gewesen sind, und weiteren 200 einfachen Kämpfern. Es ist das Modell eines Kriegerverbandes, der besiegt worden war und dessen innere Organisation dann gewissermaßen komplett durch Opferung der Ausrüstung im See gelandet ist. In den letzten Jahrzehnten sind im Moor von Ejsbøl weitere voneinander getrennte Opferplätze entdeckt und untersucht worden,2677 die als Ejsbølgård A bis F benannt werden, vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis 400 n. Chr. Waren es zuerst klei nere Einzelopferungen (Platz A und B), kam dann um 250/300 n. Chr. die Ausrüstung eines Heerführers mit mehr als einem halben Kilo Gold hinzu, in Form zerbrochener Halsringe (Platz C). Im Opferplatz D um 300 n. Chr. wurden gebündelte Klinkernä 2675 Negin 2015. 2676 Ørsnes 1988; 1989; Ilkjær 2003, 52–55; Andersen 2003; Nørgård Jørgensen, Andersen 2014, dazu Rez. O. Harck. 2677 Rau 2016, 180 Abb. 6.
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14 Mooropfer, Heeresausrüstungsopfer und Flussfunde
gel an zwei verschiedenen Stellen von zwei zuvor verbrannten Booten niedergelegt. Auf dem Platz E, ebenfalls um 300 n. Chr., hat man die Klinkernägel eines weiteren Bootes gefunden, außerdem zahlreiche Waffen und prächtige Pferdegeschirrteile. Die Opferung wurde von einem Hügel aus vorgenommen, und die Sachen fächerförmig in den See ausgebreitet. Schließlich brachte Platz F eine prunkvolle Riemenschnalle der Zeit um 400 n. Chr. Fortlaufende Grabungen haben das zu Anfang einfache Bild von zwei Opferungen im See in einen deutlich komplexeren Verlauf von kultischen Handlungen verändert, die hier über ein halbes Jahrtausend stattfanden und Konti nuität als Tradition belegen. Zudem bezeugen die Bootsnieten, dass auch hier Schiffe regelmäßig mit geopfert wurden, die aber hier anders als in Nydam zuvor verbrannt worden sind. Ranghöhe zeigen die neun Silberbeschläge mit aufgelegten Pressblechen aus Gold, das Riemengehänge mit Abdruck eines römischen Silberdenars (geprägt um 150 n. Chr.) und ein Prachtgürtel, anscheinend das Hauptopfer um 300 n. Chr. eines (besiegten) Heerführers. Die vier Konzentrationen von Schiffen mit 958 Schiffs oder Bootsnägel zur Zeit der Hauptniederlegung um 300 belegen, dass nach der Verbrennung die Nieten in Säckchen für die Opferung eingesammelt wurden. 674 Nägel bzw. Nieten gehörten zu einem Schiff mit prächtigen Planken, die Ansammlung 284 Nieten zu einem kleineren Schiff. Ein NydamSchiffTyp aus Eiche brauchte 1500 Nägel, das ist eine Menge an Eisen, die über eine halbe Tonne wiegt. Drei zu unterscheidende Opferphasen hat es gegeben: Ejsbøl Nord und Süd (datiert 1. Jahrhundert n. Chr. bzw. B1), Ejsbøl 2 (datiert um 300 n. Chr. bzw. C2/C3) und Ejsbøl 3 (datiert um 400–410 bzw. C3/D1). Um 300 wurden die Waffen und Ausrüs tungen von rund 150 Kriegern geopfert, die nach Rang gestaffelt ausgestattet waren: Ein Anführer mit Reitpferd, elf Berittene mit Schwert und die übrigen mit schlich ten Lanzen und Speeren. Nach der Gestalt dieser Waffen kamen die Krieger aus Ost schweden und dem Baltikum, jedenfalls war es auch hier eine aus unterschiedlichen Regionen zusammengesetzte Kriegerschar. Das jüngste Opfer Ejsbøl 3 umfasst den zweitgrößten Waffenkomplex aus 87 Lanzen, Speeren, Schildbuckeln, Gürtelausrüs tungen und fünf bis sechs Schwertern des frühen 5. Jahrhunderts. Wie bei allen hier besprochenen neuen Publikationen zu den großen Heeresaus rüstungsopfern haben die jeweiligen Autoren, auch die zum Moor Ejsbøl, auch eigene Interpretationen beigesteuert. Die verschiedenen Opferplätze in Jütland sind in Bezie hung zu setzen zu den Befunden von Landwehren, den kilometerlangen Verteidi gungswällen und den Seesperren in Südjütland, die seit der Zeit um Chr. Geb. gebaut worden sind. Dass diese Anlagen nun tatsächlich auf römische Vorbilder zurück gehen sollen, kann man auch bezweifeln; denn derartige Sperrwerke und Wälle zu bauen war schon seit Jahrhunderten auch im Norden bekannt. Sie waren übrigens meist gegen Angreifer vom Süden gerichtet. Was waren diese umfangreichen mili tärischen Bewegungen? Keinesfalls „Völkerwanderungen“, auch kaum Kämpfe um Rohstoffe wie Raseneisenerz, eher regionale oder gar überregionale Machtkämpfe,
14.2 Heeresausrüstungsopfer
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nicht um Territorien, sondern um Herrschaft. Es bleibt ein Rätsel, warum sich dreimal Angriffe innerhalb von rund 400 Jahren gegen die Lokalbevölkerung von Ejsbøl ereig net haben. Wer waren eigentlich die siegreichen Verteidiger, ähnlich strukturierte Heeresverbände, sicherlich nicht einfach nur die bäuerliche Bevölkerung der Umge bung des Opfermoores? In dem über 50 000 m2 großen Vimose, 10 km nordwestlich von Odense auf Fünen (zwei theophore Namen: Vimose zu vi = heilig und Odense zu OdinSee der Name des Gottes Odin) wurde eines der umfangreichsten Kriegsausrüstungsopfer ausgegraben und erforscht.2678 Nach früheren Funden wurden von 1848 bis 1859 systematisch Objekte geborgen, und 1865 dokumentierte Conrad Engelhardt 2200 Gegenstände auf 600 m2. Seine Grabungen hat er schon 1869 publiziert. Heute liegen über 5600 Objekte vor, insge samt aus der Zeit von 1–600 n. Chr. Große Opferungen fanden um 100 n. Chr. (Vimose 0, Phase B1), um 160 (Vimose 1, 2a und 2b, Phase B2 und C1a) und um 225 (Vimose 3, Phase C1b) statt, und zwar in einem offenen See. Die Mehrheit der Waffen gehörte zur dritten, jüngsten Opferhandlung. Insgesamt 410 Lanzen und 228 Speerspitzen, 180 Schildbuckel, 18 einschneidige Schwerter der älteren Phase und 60 zweischneidige Schwerter der jüngeren Phase, über 300 Beschläge von Schwertscheiden, aber auch erhaltene Langbögen und Pfeile, außerdem wurden Pferdegeschirre, Trensen, Zügel ketten und persönliche Ausrüstungen wie Gürtelteile, Kämme und Feuerzeuge sowie Sporen geborgen. Auffällig sind zwei Schwerter komplett aus Holz, gegenüber den meisten zweischneidigen Klingen römischer Herkunft: Waren es Übungswaffen, oder spielten sie im Opferkult eine Rolle? Ein schon im 19. Jahrhundert gefundenes Ketten hemd ist sorgfältig analysiert und seine Konstruktion beschrieben worden,2679 wie auch die anderen römischen Waffenausrüstungen analysiert worden sind.2680 Nach Vimose 1 bis 3 folgen neu Vimose 4 (zweite Hälfte 3. Jahrhundert, Phase C2), Vimose 5 (gegen 400 n. Chr., Phase D) und noch eine Phase 6 (gegen 600, Völkerwanderungszeit). Die Bearbeiterin Xenia Pauli Jensen schildert eine neue Deutung der Opferungen von Vimose2681 unter der Überschrift „Wessen Brot ich esse, dessen Geschichte erzähle ich“. Was meint sie damit? Zuerst stellt sie tabellarisch die sechs Opferniederlegun gen dar, die eben zitiert sind. Dann zeigt auch sie, dass in Vimose 3 die Waffen zerstört worden sind, die Lanzen verbogen, ehe sie geopfert wurden. Traditionell seien bisher die Waffen als Opfer von Kriegern gesehen worden, die eine erobernde Truppe besiegt hätten. Aber X. Pauli Jensen sieht das differenzierter: Die Opfertradition beginnt in Vimose mit nichtmilitärischen Sachgütern, es gibt Spuren von Plattformen, Tier knochen und Keramik aus der Zeit vor Chr. Geb. Um Chr. Geb. ereigneten sich die
2678 Ilkjær 2003, 57; Pauli Jensen 2003; 2007; 2008; 2010, 27 Fig. 4 Zeittabelle der Niederlegungen von Vimose 0 bis Vimose 6; 2016; Ilkjær, Nielsen, Stoklund 2006.; Stoklund 2006. 2679 Wijnhoven 2015. 2680 Pauli Jensen 2016. 2681 Pauli Jensen 2010, 24 Fig. 1 Karte der südwestskandinavischen Waffenopferungen 1–450 n. Chr.
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14 Mooropfer, Heeresausrüstungsopfer und Flussfunde
ersten noch wenig zahlreichen Waffenopferungen, die keine Kriegsbeuteopfer seien. Es könnten kultische Handlungen bei der der Bildung von Allianzen vor oder nach einem Kampf gewesen sein. Im späten 2. und im 3. Jahrhundert entwickelten sich die Kriegerverbände Germaniens zu professionellen Truppen; die Ausrüstung wurde nor miert, die Waffen waren Massenprodukte. Gleichzeitig änderte sich die Gesellschaft der Römischen Eisenzeit in Germanien, während die militärischen Allianzen und Handelsnetze zwischen der Elite Germaniens und dem Römischen Reich zunahmen. Die germanische Elite musste ihre Position durch kriegerische Aktivitäten sichern, und zwar durch Kriegerverbände als effektive Instrumente. Die großen Waffenopfer des 3. Jahrhunderts mit sichtlichen bewusster Zerstörung der Tausenden von Waffen waren – so die Autorin – eine perfekte Demonstration von Macht und der Beweis für die Absicherung der Position des Kriegsfürsten in seinem eigenen Territorium für eine lange Zeit. Nahebei gibt es noch ein weiteres kleineres Mooropfer bei Villetofte, 4 km von Vimose entfernt in 10 km Entfernung von Odense. Es wurde 1849 entdeckt, es kam zu einer Nachuntersuchung 2007; gefunden wurden Kämme, Pferdegeschirre sowie Gürtelteile und Schildfesseln.2682 Acht Opferungen reichen vom 1. bis in den Beginn des 7. Jahrhunderts, als Ergebnis von kleinen Kampfhandlungen als Teil größerer Aus einandersetzungen, die z. B. zu Vimose 2b oder 3 (C1b) geführt haben. Es gibt eine Verbreitungskarte für Dänemark dieser Zweilagenkämme mit halbrunder Griffplatte mit 15 Fundorten. Illerup Ådal im östlichen Jütland, früher ein See, der bis zu 25 m tief war, wurde durch Verlandung zu mehreren kleineren flacheren Seen, von denen nur einer der archäologisch bedeutende Fundplatz ist. Bei Entwässerungen des Tales kamen 1950 die ersten Objekte zu Tage, und von 1950 bis 1956 und wieder 1975 bis 1985 wurden in 18 Jahren rund 40 000 m2 archäologisch untersucht. Auf einem Areal von 400x200 m kamen rund 15 000 Waffen aus einem Zeitraum von 200 bis 500 n. Chr. zutage, als Ergebnis von vier großen Opfervorgängen, um 200 (allein 12 000 Objekte), um 225, um 375 und um 450 n. Chr. Die Fundtypen würden zeigen, so die Deutung früher, die Krieger waren aus Norwegen, aus dem Gebiet des OsloFjords, gekommen, erkennbar an der Form der Feuerstähle und Kämme. Gegenwärtig wird darüber anders gedacht (vgl. S. 738). Zu den Funden aus diesem Moor sind die meisten Monographien geschrie ben worden (vgl. oben S. 710): Alle Waffentypen, Schwerter, Lanzen, Äxte; Pfeil und Bogen sowie die persönlichen Gegenstände und auch die Prachtausrüstungen,2683 sind von J. Ilkjær und C. v. CarnapBornheim beschrieben und bewertet worden. Die Waffen zeigen den Rang der Krieger, ablesbar am Metall beispielsweise der Schildbu ckel aus Silber, Bronze oder Eisen; die überregionale Verbreitung der Schildbuckel
2682 Pauli Jensen, Henriksen 2017, 200 Lage des Moores, 203 Fig. 4 Kartierung der Kämme. 2683 Andersson, Ilkjær, Stoklund 2000; v. CarnapBornheim, Ilkjær 1996a, b; Ilkjær 2003, 47–51.
14.2 Heeresausrüstungsopfer
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nach Ranggruppe 1 und 2 ist kartiert.2684 Die Metallbeschläge der Prachtschilde sind als Gesichtsmasken gestaltet.2685 Sogar einige Textilien konnten geborgen und analy siert werden.2686 Auf den Waffenteilen sind mehrere Runeninschriften aus den Jahren um 200 n. Chr. erkannt worden. Auf dem Schildfesselbeschlag 1 steht: swarta (der Schwarze), auf dem Schildfesselbeschlag 2: niðijo tawide (ein Nithijo machte), auf dem Schild fesselbeschlag 3: laguðewa (Sumpfdiener), sowie auf einem Feuerstahlgriff: gauðz (Beller) und auf Lanzenspitzen: wagnijo (Beweger Wagenmacher). Zur Datierung tragen auch die Münzen bei, die von A. Bursche in einem Histogramm gezeigt werden.2687 Münzen kommen nach den Prägungen ab 64 bis 187 vor, mit einer Mehr heit einerseits von 70 bis 79 und andererseits von 148 bis 160, dem nahen Beginn der Markomannenkriege. Als neuer Befund, der erst in jüngster Zeit erkannt und entdeckt werden konnte, gehören Menschenopfer im Niederungstal von Illerup,2688 Skelette, die höchstwahr scheinlich noch nicht mit den Waffenfunden der älteren Grabungen zusammen hängen und schon vorher ins Moor kamen. Die Fundstelle liegt 2 km entfernt an der Einmündung vom IllerupFluss in den See Mossø (Alken Enge) in 2 m Tiefe auf dem Boden des alten Flussbettes: Nachgewiesen sind 200 Individuen, junge Männer, mög licherweise waren es bis zu 1000 (im Jahr 2013 kamen einmal 285 und dann 1708 Men schenknochen, dazu einige Waffen zutage). Unter 380 registrierten Toten wurden bei 82 Skeletten 78% 15 bis 40 Jahre alte Männer festgestellt. Die Toten wurden erst zer stückelt, dann deponiert; denn kein einziges vollständiges Skelett wurde gefunden. Die Hüftknochen waren aufgefädelt, die Gebeine lagen offen, wie am Viehverbiss zu erkennen.2689 Es handelt sich eindeutig um rituelle Menschenopfer, datiert über C14 ins 1. Jahrhundert n. Chr., in die Jahre um 50–70 n. Chr.; einige gehören wohl schon in die Zeit vor bzw. um Chr. Geb., d. h. sie sind früher niedergelegt als die Waffenopfer, die zwischen 200 und 450 zu datieren sind. Diese Menschenopfer im Kontext von Waffenniederlegungen lassen sich mit den großen keltischen Kultplätzen mit hunder ten von geopferten Kriegern vergleichen im 3. Jahrhundert v. Chr. (siehe oben S. 663) und – zieht man die Schriftüberlieferung heran, auch mit den Ereignissen nach der Varusschlacht (vgl. unten S. 760). Inzwischen liegen nähere Analysen der Knochen reste vor, die eine Manipulation der Gefallenen und später auch an den Skeletten nach der Schlacht zeigen.2690
2684 Ilkjær, R. B. Iversen 2009, 142 Abb. 2 Karte. 2685 Ilkjær 2017, 181 f. und Abb. 1 und 2 (22 + 2 Maskenschildbeschläge). 2686 MöllerWiering 2008, auch 2011. 2687 Bursche 2010, 199 Abb. 3; 2011. 2688 Mehler 2009; Rubel 2016; auch v. CarnapBornheim, Rau 2018. 2689 Egeler 2018; KählerHolst et al. 2018, 2 Fig. 1 Lage der Grabungen, 3 Fig. 2 C14Daten; J. Wellen hof 2018. 2690 KählerHolst et al. 2018 als www.pnas.org/cgi/doi/10.1073/pnas.1721372115.
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14 Mooropfer, Heeresausrüstungsopfer und Flussfunde
Auf Fünen gibt es im Südwesten der Insel das Kriegsbeuteopfer von Kragehul,2691 einem Kesselmoor von 10 000 m2 mit dem zentralen Areal der Opferungen auf 1500 m2. C. Engelhardt hat von dort 1867 die ersten Funde publiziert, von denen die frühesten schon 1761 beschrieben worden sind. Seine eigenen Grabungen erfolgten 1864 bis 1877. Die speziellen Erhaltungsbedingungen konservierten hier Eisen, während Tex tilien und Leder vergangen sind, aber Holz teilweise erhalten ist. Die Objekte wurden auch hier vor der Niederlegung sekundär zerstört. Der Waffenkomplex besteht aus einigen Schwertern mit Schwertscheiden, Scheidenbeschlägen, Ortbändern und Riemenbügeln, und aus rund 80 Lanzen und Speerspitzen sowie Schaftfragmente mit Flechtbandverzierung. Dazu kommen einige Äxte und Axtschäfte, zwei Bögen, 20 Pfeilspitzen aus Eisen und Knochen, teils mit Schäften, sowie Schildfragmente. Wie in den anderen Mooropferkomplexen gehören außerdem persönliche Ausstat tungsstücke dazu, wie Messer, Feuerstahle und Feuerschlagsteine sowie Pinzetten. Die Formen der Speer und Lanzenspitzen spiegeln die Chronologie der Niederlegun gen. Die erste erfolgte am Übergang von der älteren zur jüngeren Römischen Kaiser zeit, also in der Mitte bzw. im späten 2. Jahrhunderts (B2/C1a), die zweite am Ende der Periode C2, also bald nach 300, die dritte am Übergang von C3 zu D1, also gegen 400 (typisch sind Schwerter mit sanduhrförmigem Griff und Knäufen mit Tierköpfen), und die jüngste vierte Opferung aus der Phase D fand im 5. Jahrhundert statt (typisch sind die 30 Lanzen und Speere, deren Schäfte mit Flechtbandmustern verziert sind). Trotz der frühen Erforschung und der ungenügenden Grabungsdokumentation erlau ben die Funde die Parallelisierung mit den anderen genannten Plätzen. Die erste Nie derlegung entspricht Vimose 2, die nächste Ejsbøl Nord oder auch Thorsberg sowie Nydam und dem Mooropfer von Skedemosse auf Öland (C2) und Nydam (D). Zwei von mehreren Runeninschriften sind aus der Phase D erhalten: Ein Messergriff mit Tier ornament trägt vielleicht einen Männernamen, ein Lanzenschaft ek erilar … Ek erilaR A(n)sugislas muha haite (Ich Asgisls ‚eril‘ heiße /werde genannt Muha) (?). Aufgeführt wird noch der Opferfund von Porskær im mittleren Jütland bei Horsens, nicht weit von Illerup,2692 da hier die Fernbeziehungen über einige Schmuckelemente und Waffen beobachtet werden konnten, über Silberblechfibeln, die Schwertaufhän gung vom PorskærTyp und Facettschliffgläser sowie einige weitere weit verbreitete Parallelen.2693 Erste Untersuchungen wurden in den Jahren 1879/80 auch von Conrad Engelhardt durchgeführt. Die Fundstelle liegt in einem schmalen Tal in einem Areal von 300 000 m2. Auch hier gab es mehrere Opferungen, die älteste entspricht den IllerupNiederlegungen der Phase C1b (um 250), die jüngere fand in der Phase D statt (um und nach 400). Die Objekte waren absichtlich zerstört worden, aber nicht durch
2691 Ilkjær 2001b; Stocklund 2001; Ilkjær 2003, 56–57; und jetzt R. B. Iversen 2010. 2692 Ilkjær 2003, 51; Nørgârd Jørgensen 2008. 2693 Tejral 2013.
14.2 Heeresausrüstungsopfer
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Feuer beschädigt. Erhalten waren die Sachgüter aus Edel und Buntmetall, auch die aus Knochen und aus Eisen sind erhalten geblieben. Nicht nur in Jütland, sondern auch in anderen südskandinavischen Gebieten gibt es die Heeresausrüstungsopfer. In Skedemosse, einem Moor auf Öland, wurden von 1959 bis 1962 ebenfalls 2500 Objekte militärischen Charakters von etwa sechs Opfer vorgängen dokumentiert,2694 die sich über die Zeit vom 1./2. Jahrhundert n. Chr. bis um 500 n. Chr. erstrecken (genauer; es gab Opferhandlungen im 1./2. Jahrhundert, um 250, um 325, um 350, um 425, um 500 n. Chr.), was bestätigt, dass über mehrere Jahrhunderte die Tradition, hier Waffen zu opfern, auch bei zeitlichen Abständen von einer und mehreren Generationen, bekannt geblieben war. Zum Niederlegungs horizont II gehören Lanzen und Speerspitzen, Schildbuckel, Schwerter, Dosenort bänder, Balteusschließen, auch persönliche Ausrüstungen und zehn Denare sowie Leibgürtelteile, außerdem versilberte Beschlagplatten, teilweise vergoldet und mit figürlichen Pressblechen verziert, vom Sattelgeschirr und weitere Beschläge von Pfer degeschirren. Hervorzuheben sind sieben goldene Armringe (Kolbenarmringe) als Rangzeichen. Viele Objekte weisen Brand und andere Zerstörungen auf. Datiert wird dieser Horizont um 240–280 n. Chr., entsprechend dem Übergang von C1b zu C2. Zum Horizont III gehören ebenfalls Lanzen und Speerspitzen der Zeit um 300 n. Chr., außer dem bronzene Bestandteile von mehreren, wohl sechs, Gürteln und Feuerschlagsteine sowie sechs Sätze von bronzenen Pferdegeschirren (des Typs Thorsberg) einer mittle ren militärischen Rangstufe. Der Opferhorizont IV aus der Mitte des 4. Jahrhunderts brachte wiederum Lanzen und Speerspitzen, Schildbuckel und Schwertteile. Zwei Deponierungenhorizonte V und VI gehören zur Völkerwanderungszeit, um 400 bis 450 und vom Ende des 5. Jahrhunderts bzw. noch vom Anfang des 6. Jahrhunderts, mit Lanzenspitzen, Waffenbündeln, Schildbuckeln, Schwertteilen und wertvollen Schwertperlen aus Glas und Chalzedon. Die Waffentypen lassen sich gut mit den jüt ländischen Formen vergleichen und spiegeln zudem die Entwicklung der Objekte, beispielsweise bei den Schildbuckeln bis hin zu ausgezogenen hohen Stangen und den Schwertern mit pyramidenförmigen Knäufen. Horizont VI lässt sich mit Nydam IV vergleichen, also gab es Ähnlichkeiten über eine recht große Entfernung über See. Viele Sachgüter lassen sich nicht bestimmten Horizonten in Skedemosse zuweisen, so beispielsweise eiserne und knöcherne Pfeilspitzen, Schaftlochäxte und Tüllenbeile, einzelne Klinkernägel von Schiffen, auch eiserne Pferdegeschirrteile und mehr als 100 fragmentierte Schwerter.2695 Trotz der allgemeinen Schwierigkeiten durch die Überlagerungen ist eine Herkunft der Krieger, deren Ausstattung geopfert worden ist, aus dem benachbarten Raum, aus Südostschweden, Bornholm und Gotland anzu nehmen, was auch der Herkunft der Krieger von Illerup um 300 entspricht. Alles in 2694 Hagberg 1984; Hagberg, Rau 2005; a, § 4. Kriegsbeuteopfer; Monikaner 2010 (Gewalt und Wasser). 2695 Rau 2005a, 634 a und Taf. 13 a mit der Kartierung der verschiedenen Niederlegungshorizonte I bis VI.
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allem wurde in Skedemosse über vier Jahrhunderte hinweg geopfert, und die zahl reichen Niederlegungen stehen für häufige Kriege zwischen den Leuten von Öland und den anderen skandinavischen Landschaften. Es liegt nahe, die Kriegsopfer auch mit den zeitgleichen Ringwällen auf Öland als Widerspiegelung militärischer Verhält nisse zu sehen. Der Kriegsausrüstungsopferplatz von Finnestorp in Schweden ist seit langem bekannt, doch Ausgrabungen fanden erst 1980 und 2000 bis 2004 statt.2696 Finnestorp liegt zentral in der Landschaft Västergötland, die durch weitere – kaum erforschte – Opferplätze und bedeutende Goldfunde gekennzeichnet ist. Dazu gehören die Gold funde von Timboholm und Vittene sowie die Goldhalskragen von Ålleberg und Möne und außerdem mehrere beachtlich große Grabhügel (vgl. oben S. 514 und unten S. 1223). Hier stand der älteste Runenstein Västergötlands, datiert um 500 n. Chr., als Epitaph für einen Krieger. Der Opferplatz erstreckt sich als ehemaliger See über etwa 4 ha, und außer den Opferfunden sind eine langgestreckte Holzkonstruktion am Rand und mehrere Feuerstellen entdeckt worden, die mit den Kulthandlun gen zusammenhängen. Rund 300 Objekte aus Bronze, Silber und Gold, nur einige aus Eisen, stammen aus der Zeitspanne von 350 bis 550/600 n. Chr. Es handelt sich um Trachtbestandteile wie Gürtelschnallen, Schwerter (27 Klingenfragmente) mit Zubehör wie Schwertperlen (und dabei fünf Prachtriemenschnallen), etwa 30 Lanzen und Speerspitzen, sowie um Ausstattungselemente für das Pferd, vom Sattel bis zum Kopfzeug. Die Mehrheit der Metallfunde gehört ins 5. Jahrhundert, Verzierun gen im SösdalaStil und Tierstil I stammen aus dem späten 5. Jahrhundert (vgl. unten S. 1229). Wie andernorts waren die Objekte zerhackt und damit zerstört worden. Eine größere Zahl von vollständigen Pferdeskeletten wurde hier gefunden, die – nicht wie andere Knochen von Rind, Schwein und Schaf/Ziege Nahrungsreste waren – als voll ständige Tiere geopfert wurden. Bei den Menschenknochen, C14datiert, könnte es sich um Ergebnisse von Menschenopfer handeln, die auch hier wie in Illerup dann vor den Waffen in den See gelangten. Weitere bisher aber kaum erforschte Opferplätze in dieser Landschaft sind Bla ckegården mit 17 Lanzenspitzen, Käringsjön (vgl. S. 704), Vännebo mit Waffen und Bronzebeschlägen sowie Teil der Pferdeausstattung, Jönköping mit Bronzebeschlä gen vom Sattel und Nedersten, Bohuslän, mit einem Schwert und 36 Speer und Lanzenspitzen. Neben diesen meist in Mooren bzw. verlandeten Seen entdeckten Waffenkom plexen gibt es in ganz anderen Lanschaften in „festem“ Boden vergrabene Horte mit Waffen (vgl. S. 618). Im Erzgebirge bei Hrádečná wurde ein solcher Hort 2003 als Detektorfund entdeckt.2697 Es lagen beieinander 21 Eisengeräte mit einem Gewicht von 2,3 kg, ein Schwert, 11 Lanzen/Speerspitzen, Reste von mehreren Schilden (4 spitze
2696 Nordqvist 2004/2005 (2007), 221 Abb. 1 rechts, Karte. 2697 Půlpánova, Půpán, Ondráčková 2018, 579 Fig. 8 Karte.
14.2 Heeresausrüstungsopfer
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und Stangenschildbuckel, 5 Griffe, datiert B1C, d. h. 1./2. Jahrhundert n. Chr.), die intentionell zerstört waren. Der Fundort liegt abseits von einer Siedlung oder einem Gräberfeld und wird an den Übergang von der älteren zur jüngeren Römischen Kai serzeit, in die Phasen B2bC1a, also um 150 n. Chr. datiert. Die Karte zur Verteilung der Siedlungen und Gräberfelder, die oft nur 2 km auseinander liegen, belegt, dass der Hort außerhalb des besiedelten Gebietes vergraben wurde. Gefragt wird, ob es sich um Opfer gehandelt hat wie andernorts bei der elbgermanischen Kultur oder um Kenotaphe. Ein ähnlicher Fundkomplex ist bei JevíčkoPředmĕstí mit zerstörten Waffen und abseits gelegen dokumentiert. An der südlichen Ostseeküste hat es ebenfalls Waffenopferplätze gegeben, die erst in jüngerer Zeit registriert und mit den jütländischen Mooropfern verglichen werden. In Pikule ist aus der späten vorrömischen Eisenzeit ein solch militärischer Opferplatz beschrieben worden (noch bei der Deutung mit einem Fragezeichen versehen).2698 B. Kontny kann eine Reihe von Waffenopfern aus Mooren an der gesam ten ostbaltischen Küste anführen, in denen das Spektrum aller Waffen vertreten ist, Äxte, Schildbuckel, Lanzen und Speerspitzen sowie Schwerter, so im WolkaSee2699 oder im Lubanowo See (früher HerrnSee).2700 Aus dem WolkaSee, etwa 100 km südlich von Königsberg, wozu auch H. Jankuhn seinerzeit geforscht hatte, liegen etwa acht Schwerter, zahlreiche Schildbeschläge, Trensen, Sporen und ein Tüllenbeil sowie Arm und Fingerringe vor. Die Schwertklingen sind ausschließlich römischer Herkunft. Die Datierung weist in die jüngere Römische Kaiserzeit. Noch 1993 musste K. Raddatz feststellen, dass dieser und vergleichbare Fundplätze unerkannt geblie ben waren und vergleicht sie mit den Kriegsausrüstungsopfern in Jütland.2701 Als Par allelen führt er den Waffendepotfund von Hofzumberge, Kurland, an, wo u. a. zehn Schildbuckel der Phase C, also der jüngeren Römische Kaiserzeit, gefunden worden sind, weiterhin den großen Fundkomplex von Līgotnes, Kr. Kuldīga (früher Dobels berg, Kurland) mit 1200 Gegenständen, darunter zahlreiche Lanzenspitzen und Tül lenäxte, den Fundort Vecmokas (AltMorken), Kr. Tuckums, mit 47 Eisen und sieben Bronzegegenständen, darunter Tüllenbeile, Sicheln und Sensen und Lanzenspitzen, den Fund von Haakhof am Südufer des Finnischen Meerbusens mit u. a. 21 Lanzen spitzen, zehnTüllenbeilen und 14 Sicheln.2702 Oftmals weisen diese Altfunde auf kleinere und größere Kriegsausrüstungsopfer hin, die in Südskandinavien wie in Illerup, von wo die Sitte beeinflusst sein kann, in die Phasen B2 bis D zu datieren sind, also ins 2. bis 5. Jahrhundert, aufzugliedern in verschiedene Niederlegungen in dieser Zeitspanne. Die Opfer geschahen im Bereich 2698 Kokowski, Łuczkiewicz 2002. 2699 Raddatz 1992/1993; Kontny 2015, 317 f.; Bliujienė 2011b; Tamla 1995; Oras 2010. 2700 Nowakiewicz (Red.) 2016. 2701 Raddatz 1992,/93, 170. 2702 Raddatz 1992/93 zitiert zu diesen Fundorten A. Friedenthal von 1929 und bringt zudem Kartie rungen zu den Tüllenbeilen und den Sicheln (jeweils ca. 50 Fundorte) im ehemaligen Ostpreußen.
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der WielbarkKultur, z. B. in Żarnowiec, Puck Distrikt, und an weiteren Plätzen im Gebiet zwischen den Flüssen Düna/Daugava und Niemen/Nemunas, in Litauen bis Estland. Dabei stammen derartige Waffenfunde aus Epochen von der Römischen Kai serzeit über die Völkerwanderungszeit bis ins Mittelalter. In Czaszkowo, Piek Distrikt, ist jüngst ein Mooropfer entdeckt und publiziert worden.2703 Die Zeit der Waffenopfer entspricht der Entstehung neuer Gesellschaftsstruktu ren, deren Funktion andernorts besprochen wird (vgl. S. 785 ff.).
14.2.2 Deutungsversuche Die geschilderte Auswahl unter den großen Heeresausrüstungsopfern erlaubt es, eine Quersumme zu ziehen und zusammenzufassen,2704 was aus den Befunden als allge meine Erklärung für die aufwändige, „kostenintensive“ Opfersitte folgt. Wer meine Beschreibungen im Vorangegangenen nacheinander gelesen hat, der hat erfahren, dass einerseits im Verlauf der Forschung und andererseits in jeder neuen Bearbeitung geänderte Deutungsvorschläge eingebracht bzw. hinzugefügt worden sind. Bei der Durchsicht der Rezensionen zu den monumentalen Monographienrei hen über die Heeresausrüstungsopfer in Jütland oder über die Kammergräber dieser Epoche der Römischen Kaiserzeit in Germanien, ist zu lesen, dass zwar einerseits berechtigt Fernbeziehungen konstatiert werden, dass aber andererseits für jede neue Erscheinung römisches Vorbild behauptet wird. Dazu sollte jedoch folgendes bedacht werden. Trotz prinzipieller Tradition spiegeln alle Opferhandlungen doch auch individu elle Vorgehensweisen wider, einerseits zwischen den verschiedenen Opferplätzen, andererseits aber auch an einem Ort zwischen den verschiedenen aufeinander fol genden Opferprozessen, zwischen denen meist einige Jahrzehnte vergangen sind. Die speziellen Bräuche vor der Versenkung waren durchaus verschieden, in Nydam waren die Waffen und andere Sachgüter bewusst später, also nicht im Kampf, zerstört worden, in Illerup wurden die Sachen vor der Opferung verbrannt. Auch wurden die Waffen nicht wahllos ins Wasser oder Moor geworfen, sondern oftmals in entsprechen den Konzentrationen niedergelegt, so Schilde oder Lanzenspitzen. Die chemischen Verhältnisse haben in manchen Mooren wie Thorsberg das Eisen aufgelöst, dafür Textilien und Leder erhalten, die in anderen wie das Holz (oder es war vorher ver brannt) vergangen sind. Erhalten geblieben sind alle Sachen aus Bunt und Edel metall, Bronze, Messing, Silber und vergoldetem Silber. Diese OpferfundKomplexe mit den überaus zahlreichen Sachgütern der Bewaffnung und der Kriegerkleidung
2703 Kontny 2015, 307 Anm. 1 zu Nowakiewicz, RzeszotarskaNowakiewicz 2012. 2704 AbeggWigg, Rau (Hrsg.) 2008 mit Rezensionen M. Erdrich, H.J. Nüsse; Blankenfeldt, v. Carnap Bonrheim 2018.
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sowie der Pferdeausrüstungen, die in die vielen Hunderte bis Tausend gehen, sind für die Kulturgeschichte in Germanien von herausragender Bedeutung, vielleicht ver gleichbar mit der Rolle der großen romanischen und gotischen Kathedralen für die Kunst und Kirchengeschichte sowie Religions und Kultgeschichte des Mittelalters. Mit den modernen Auswertungsmethoden werden sie weiterhin eine Basisquelle für die archäologische Forschung bleiben. Deshalb werden einige der Mooropferplätze seit Jahren und bis heute weiter ausgegraben. Die Heeresausrüstungsopfer werden durchaus verschieden interpretiert. Jørgen Ilkjær, der Ausgräber des Moores von Illerup Ådal, über das er eine stattliche Reihe von Publikationen mit allen Details vorgelegt hat, erkennt anhand der speziellen Formen der Waffen die Herkunft der besiegten Kriegergruppe aus Norwegen oder auch aus dem mittleren Schweden. Einheitliche Waffenausstattung spräche für Ausrüstung durch einen Gefolgschaftsführer aus seiner Waffenkammer mit gleichartigen Lanzen. Die Schwertklingen sind römischer Produktion und als Beute oder auf andere Weise in die Hand der germanischen Krieger gelangt.2705 Andere, so Andreas Rau früher, meinen,2706 statt um die Niederlegung der erbeuteten Waffen besiegter Gegner kann es sich aber auch um Opfer einer zurückgekehrten Kriegerschar gehandelt haben, die bei innergermanischen Kämpfen oder gegen römische Einheiten gesiegt hatte. Man fände nämlich im Fundmaterial gar keine eindeutigen Parallelen in Norwegen, sondern eher in der Nachbarschaft auf Jütland. Lars Jørgensen sieht ebenfalls keine von weither gekommenen Kriegerverbänden, die eine Niederlage erlitten hätten, vielmehr opferten die im Gebiet lebenden Krieger eigene oder erbeutete Waffen.2707 Die Diskussion wird also weitergehen, aber die Befunde in den Mooren mit der unge heuren Zahl von Waffen und Ausstattungsstücken bleibt als auffälliges Phänomen bestehen. Bekannt sind heute etwa 25 bis 30 Opferplätze und rund 60 verschiedene Nie derlegungen und Versenkungen von Waffen in den ehemaligen Seen oder Moore in Südskandinavien, vor allem in Jütland und auf den dänischen Inseln (oben Abb. 57). Erst wenige Opferniederlegungen gehören in das 1. und 2. Jahrhundert, die Mehrheit in das 3. und 4. Jahrhundert, um im 5. Jahrhundert dann wieder stark abzunehmen. Diese chronologische Verteilung beschreibt die Zeitgebundenheit dieses Opfer brauchs, nicht etwa die Zahl der innergermanischen oder gegen Rom gerichteten Kriege. Das bezeugt schon die deutlich ältere Überlieferung der antiken Schriftstel ler zu den Opferbräuchen nach der Varusschlacht. Manchmal sind bis zu sechs und mehr Opferhandlungen im Abstand von Generationen an einem Ort, aber mehr oder weniger gleichzeitig mehrere solche Opferungen an Plätzen in näherer und weiterer Nachbarschaft abgelaufen. Daraus folgt denn auch, dass die Tradition lebendig geblie
2705 Ilkjær 1990. 2706 Rau 2015; Rau, v. CarnapBornheim 2012. 2707 Jørgensen, Vang Petersen 2003.
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ben war und man sich an frühere Opfervorgänge erinnert hat. Die Plätze liegen auch nur 20 bis 30 km auseinander, und wenn die Erinnerung in der Bevölkerung sich auch auf das Gebiet der Nachbarn erstreckte, dann waren Kriege und Siege relativ häufig, wobei man aber nicht weiß, was eigentlich bei einer Niederlage gegen die fremden Eindringliche mit den Besiegten am Ort geschah. Damit ergeben sich wiederum zwei gegensätzliche Deutungsmöglichkeiten: Es könnten auch die fremden Sieger am Ort des Sieges geopfert haben, nicht die örtlichen Bewohner; umgekehrt könnten die Einwohner am Ort nach einem Sieg in der Ferne die Beutewaffen mitgebracht und geopfert haben. Also gibt es mindestens zwei Möglichkeiten, wie die großen Hee resausrüstungskomplexe zustande gekommen sind: Entweder opferten fremde oder aber einheimische Sieger am Ort. Man sollte die Überlegungen auch nicht überstrapa zieren; denn sicherlich kennen wir noch längst nicht alle Waffenopferplätze, um eine detaillierte Kriegsgeschichte in Jütland oder auf den Inseln für diese Jahrhunderte zu schreiben. Im Verlauf der Forschung in den letzten Jahrzehnten hat sich bei der Frage nach der Herkunft der Krieger der Einzugsbereich ständig weiter zusammengezogen. Statt Norwegen, Mittelschweden oder das weitere Norddeutschland als Herkunfts gebiet anzunehmen, wird jetzt die nähere Umgebung, die südwestliche Ostsee und Jütland selbst, in Betracht gezogen. Die älteren Deutungen beruhen auf der Bewer tung von Verbreitungsmustern der Sachgüter, beispielsweise der Fibeln, zu deren variationsreichen Kartenbildern ich oben Stellung genommen habe, mit der Hinweis, dass nicht einmal die Werkstattzentren erkannt werden können (vgl. S. 580). Bisher ist nicht zu klären, wo eigentlich die jeweilige Schlacht überhaupt stattge funden hatte und über welche Entfernung man dann die Waffen der Besiegten trans portieren musste, um einen geeigneten See oder ein Moor für die Opferhandlungen zu finden. Betrachtet man die landschaftliche Gliederung Jütlands durch die fjordarti gen Täler und dazu die während der ersten Jahrhunderte n. Chr. gebauten Palisaden und Grabenbefestigungen als Landwehren (vgl. S. 335) zwischen den kleinteiligen Siedlungskammern, dann fällt auf, dass größere militärische Auseinandersetzungen nicht auf eine solche Kleinlandschaft begrenzt gewesen sein müssen, sondern weitere Teile Jütlands betroffen haben. Die verbrannten, zerstörten und dann geopferten Schiffe waren die Transport mittel der angreifenden Krieger, die also – das passt zur Landschaft – über die See gekommen waren. Die Waffen und Schmucktypen weisen als Herkunftsgebiete die südschwedische Küste, auch Südnorwegen aus, die Kiefernboote kamen wohl von der südlichen Ostseeküste. Man kann also ahnen, in welchem geographischen Umkreis Kommunikationsnetze bestanden haben, die aber nicht als Herkunft der Krieger gesehen werden sollten, wie oben erläutert. Sicherlich waren die Bewohner Jütlands und der Inseln nicht nur Opfer, sondern Kriegerverbände aus ihrer Bevölkerung ebenso Täter in die anderen Richtungen, wenn germanische Heerhaufen zum Beute machen auszogen, so wie sie auch in die römischen Provinzen eingefallen sind und mit reicher Beute zurückkehrten. Diese Heere in Germanien unter Heerkönigen, war lords, agierten als Anführer von Gefolgschaften (vgl. S. 785); und für die Sicherung
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und Bestätigung der Position eines solchen Kriegsherrn waren erfolgreiche Kämpfe mit Beute als Ergebnis die notwendige Grundlage. Die Deponierungen von Heeresaus rüstungen waren gleichsam ein tagesaktueller, aber nicht ungefilterter Ausschnitt der männlichmilitärischen Lebenswelt.2708 Dabei ist ein Widerspruch zu thematisieren: Wenn alle Ausrüstungen und Waffen nach dem Sieg geopfert wurden, dann verschwand die Beute, die der Anführer eigent lich brauchte, um seine Krieger zu bezahlen. Womit konnte er sie sonst entlohnen. Eine Folge daraus ist, es handelt sich bei den Opfernden bzw. Siegreichen nicht um einen Kriegerverband unter einem Anführer, sondern anscheinend – das über zeugt eher – um eine Siedlergemeinschaft, die sich erfolgreich gewehrt hat und den Gefolgschaftsverband vernichten konnte. Immerhin sind auch nicht wenige Münzen, Denare, als Sold für Krieger in den Opferkomplexen gefunden worden.2709 Die hierarchische Struktur der Verbände, die anhand der Qualität der Waffen erschlossen werden kann, nämlich zu einem Anführer gehörten Unterführer und zu diesen normale Krieger im Verhältnis von 1:10: 60, wird meist als Abbild römischer Einheiten gesehen, den Centurien. Bei genauerer Betrachtung ergeben sich zudem Zahlenverhältnisse von 1: 9: 36: 350, abgelesen am Material der Schildbuckel, der Ausrüstung mit Schwertern oder der Rüstungsteilen und der Qualität des Pferdezaum zeugs. Doch der Rückblick auf das viel ältere HjortspringOpfer auf Alsen2710 (vgl. oben S. 713) zeigt, dass schon ein halbes Jahrtausend vorher im germanischen Gebiet dieselben Größenordnungen bei der Gliederung der Kampfverbände vorkamen. Da man solche Zahlenverhältnisse zudem bis in die Moderne verfolgen kann, sollte von mehr oder weniger sich natürlich ergebenden Truppengrößen ausgegangen werden, die sich in der Praxis bewährt haben. Welchen Gottheiten die Waffen der besiegten Gegner dargebracht wurden, ist den Objekten nicht anzusehen, wahrscheinlich einem Gott oder mehreren Göttern des Krieges. Beim dem jüngeren Siedlungsplatz Tissø auf Seeland, gelegen an einem See, des 6. bis 11. Jahrhunderts wurden unmittelbar vor dem Anwesen, gelegen an der Küste, im Meereswasser seit etwa 600 zahlreiche Waffen versenkt. Der Name des Ortes geht zurück auf den See des Tyr, eines Kriegsgottes. Die Prachtgürtel aus dem Opfermoor von Ejsøl und aus den Fürstengräbern von NeudorfBornheim Grab 3 und 7 (vgl. unten S. 933) mit den aufgeprägten Tierfiguren als Ausstattung der militärischen Elite verknüpft überzeugend Mooropfer und Grab funde, was in ähnlicher Weise bei den Schilden aus dem Moor von Illerup und dem Prunkgrab von Gommern erkennbar ist.2711 Römische Gürtel und Gürtelteile in den Heeresausrüstungsopfern hat A. Rau zusammengestellt,2712 und zwar für die meisten 2708 Rau 2016. 2709 Horsnæs 2016. 2710 Randsborg 1995; 1999; Kaul 2003. 2711 v. CarnapBornheim 2003b. 2712 A. Rau 2016b, 628 Abb. 2 Übericht über die Niederlegungen, 630 Abb. 4 Karte der BalteusTypen, mit Fundlisten.
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Niederlegungen von B2/C1 (bis 180 n. Chr.) bis D2 (um 510), wobei vermerkt ist, wann und wo provinzialrömische und provinzialrömisch inspirierte Gürtel niedergelegt worden sind: In Illerup, Thorsberg, Vimose in den frühen Phasen, in Skedemosse und Porskær in der mittleren Phase (C2) und in Nydam noch in D1(spätes 4. Jahrhun dert). Kartiert werden zum Vergleich Balteusverschlüsse verschiedener Varianten, die auch überall in Mitteleuropa und im südlichen Skandinavien vorkommen, also alle Gebiete Germaniens vereinzelt erreicht haben. In den Opfermooren liegen vor allem Schwertscheidenaufhängungen römischer Herkunft des 3. Jahrhunderts, und festzu halten sei, „dass römische Gurte/Gürtel zumindest im 3. Jahrhundert bis auf wenige Ausnahmen eher den Status erreichbarer Standardware einnehmen, hingegen wird statusindizierende Ausrüstung vor allem aus einheimischen Produkten gebildet“.2713 Nur indirekt weisen einige Runeninschriften, die sicherlich zuvor auf den Waffen eingeritzt worden sind und nicht erst kurz vor der Versenkung im See (aber ist das sicher?), auf Gottheiten hin. Zumeist sind es Männernamen, aber teils auch Beinamen von Gottheiten (vgl. S. 1249 f.). Die unterschiedlichen Szenarien, die man über die Hintergründe und den Verlauf der Opferhandlungen entwickeln kann, sind immer im Zusammenhang mit Krieg zu sehen. Dabei waren die Organisatoren der Opferungen sichtlich bestrebt, Waffenaus rüstungen zu vernichten, durch Verbrennen, Zerschlagen und Versenken und damit der Wiederverwendung nachhaltig zu entziehen. Überlegt wird auch, ob hinter dem ganzen Geschehen tatsächlich keine großen Schlachten standen, sondern dass rituell die Unterlegenen ihre Waffen abgaben, die dann durch das Opfer vernichtet wurden und damit auch Rang und Position des „besiegten“ Kriegers auslöschten. Beim Versuch, diese Bräuche zu erklären, sollte beachtet werden, dass dieses Verhalten durchaus mit einem erheblichen Verlust an Sachgut verbunden war, das anderweitig wieder neu hergestellt werden musste. Damit wird indirekt auch bewie sen, dass in Germanien eine hoch ausgebildete Wirtschaftsorganisation herrschte, für die eine derartige Massenproduktion von Waffen und persönlichen Ausrüstungen keine Schwierigkeiten bedeutet hat, also vielmehr Zeichen von hoher Blüte und Über fluss war. Die Besonderheit des Wassers und der Moore hat die Bewohner der Landschaften an der Ostsee angezogen und diese zu mythischen Plätzen gemacht. Es sind keine „heiligen Haine“, wie sie die antike Schriftüberlieferung für die Germanen voraus setzt, sondern Ausnahmen in der Landschaft. Andernorts wurden Opfer – sofern es nicht einfach nur Verstecke waren – an herausragenden, wieder erkennbaren Gelän deformationen vergraben. Das waren dann zumeist aber Handlungen von einzelnen Personen, und geopfert wurden nur wenige Objekte, oft aus Gold. Das Besondere an den Heeresausrüstungsopfern in den Mooren oder Seen in Südskandinavien ist, dass sichtlich eine größere Ansammlung von Menschen bei der Vorbereitung und Durch
2713 A. Rau 2016, 646 Zitat.
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führung der „Opfer“ beteiligt war. Ob das nun die Kriegerverbände der Sieger waren oder die Siedlergemeinschaften der Gegend, einer ganzen Landschaft, wissen wir nicht. Wenn die neuen Überlegungen aber zutreffen würden, dass die Einwohner der Siedlungen in einem Radius von einigen Kilometern diese Opfervorgänge organisiert hatten, dann sind das Vorgänge in Landschaften von weniger als 30 bis 40 km Durch messer. Meine oben angestellten Berechnungen, wieviele Krieger in einem Gebiet zu rekrutieren waren, könnten das bestätigen. Doch hätte eine solche Deutung weitere Folgen: Dann wäre nämlich jede der Dorfgemeinschaften mit der großen weiten Welt viel enger im Kontakt, als allgemein zu vermuten ist, um nämlich all die wertvollen Sachgüter einschließlich der Waffen erwerben oder auf diese verzichten zu können. Außerdem wäre das „friedliche“ Bild der Besiedlung mit nahe beieinander stehen den Dörfern zu revidieren und stattdessen von einem militaristischkriegerischen Dauerzustand auszugehen; und dieser wäre dann zugleich ein Modellbild für ganz Germanien. Ein normales bäuerliches Leben wäre dann eine Ausnahme. Wir sind aber noch weit entfernt davon, um die Lebenswirklichkeiten jener Jahrhunderte tat sächlich aufgrund der archäologischen Ergebnisse widerspruchsfrei beschreiben zu können. Nahe beim erwähnten Kultbau in Uppåkra (vgl. S. 653) stieß man bei der Aus grabung etwas weiter nördlich und südlich der Gebäudespuren auf Waffen – mehr als hundert Lanzen bzw. Speerspitzen, auch Teile von Schwertern, Metallbeschläge von Schilden sowie Pfeilspitzen und Reste eines Helms –, die hier in fester Erde auf einer Steinunterlage abgelegt worden waren. Zahlreiche Waffen waren absichtlich zerstört worden. Gedeutet werden auch diese Waffendeponierungen als Opfer nach erfolgreicher Rückkehr von einem Kampf, und die mitgebrachten Waffen wurden „getötet“ und begraben, ein Kult von Kriegern. Vielleicht waren die Waffen zuvor im oder am Kulthaus aufgehängt, ehe sie nach einiger Zeit draußen abgelegt wurden. Die Mehrheit der Waffen waren Lanzen und Speerspitzen unterschiedlicher Formen aus verschiedenen Zeiten, vom 1. Jahrhundert v. bis zum 4./5. Jahrhundert n. Chr., also aus einem halben Jahrtausend. Es war also keine Massenniederlegung, sondern Opfergaben einzelner in einer längeren Zeitfolge bei gleichbleibender ritueller Tradi tion, so wie auch der Kultbau selbst fast ein Jahrtausend bei regelmäßiger Erneuerung Bestand gehabt hat. Es gibt zwei grundsätzliche Möglichkeiten, dieses Phänomen der Massenopfer zu erklären. Die eine ist die sorgfältige Beschreibung, die genaue Beobachtung des Geländebefundes in den Mooren bzw. Seen, und die Analyse der geborgenen Sach güter, der Waffen und besonders auch der persönlichen Ausrüstungsgegenstände, wie Gürtel mit kostbaren Beschlägen oder auch der Schmuck an der Kleidung. Die Beobachtung schließt die Rekonstruktionsmöglichkeiten ein, was schließlich zu dem archäologisch festgestellten Befund geführt hat, dem Endzustand eines sicherlich recht komplex abgelaufenen Vorganges dieser kultischen Opferhandlung. Die andere Möglichkeit besteht – was eigentlich in diesem Buch nicht geschehen sollte – mit Blick auf einige Hinweise in der schriftlichen Überlieferung bei antiken Autoren
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diese Berichte zur Erklärung zu akzeptieren. Das durch die Beschreibung des archäo logischen Befundes gewonnene Bild der Archäologie könnte, in diesem Falle also umgekehrt, durch antike Berichte beleuchtet und gedeutet werden, obgleich dann aus einem fremden Umfeld heraus über Analogien ein Weg beschrieben würde, den religiösen Hintergrund der Heeresausrüstungsopfer in Germanien zu erahnen. Die antiken Quellen, zum Beispiel des Orosius, hat seinerzeit U. Hagberg ausführlich zusammengestellt.2714 Ein Massenfund ist das endgültige Ergebnis eines komplexen Systems von ver schiedenen Ritualen. Die Waffen und alle sonstigen Gerätschaften und Sachgüter sind oft vor dem Versenken auch – wie erläutert – bewusst zerstört worden und wurden damit aus der Nutzung für alle Zeit herausgenommen. Man sagt, die Waffen sind „getötet“ worden. Dass es sich um Heeresausrüstungen handelt, daran besteht kein Zweifel. Am Anfang stand also eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen wenigstens zwei Kriegerverbänden, von denen der eine Verband besiegt wurde und der andere die Ausrüstung der Gegner zusammengesammelt und dann geopfert hat. Es wird gesagt, als Dank an die Gottheiten, die den Sieg gegeben und denen vielleicht zuvor auch die gegnerischen Waffen versprochen worden waren. Wo die Schlacht stattfand, ist unbekannt; woher die Gegner kamen, kann teilweise rekon struiert werden, oft mit Schiffen über die See, was in diesem geographischen Raum auch zu erwarten ist. Nur der Ort, wo die Sieger opferten, ist bekannt, und so werden die siegreichen Krieger auch in der Gegend gelebt haben, in denen das Opfermoor liegt. Der Bezug auf Wasser als Opferplatz fällt auf; denn es gäbe ja noch andere Mög lichkeiten, dass nämlich in der Nähe des Schlachtfeldes oder auf dem Kampfplatz, wo die Heere aufeinander trafen, die Waffen geopfert wurden, aufgestellt als Sieges denkmal, wie ein antikes Tropaion. Der Transport zu einem ausgewählten und wie beschrieben traditionellen Opferplatz an einem See, erfordert also durchaus noch weitere Erklärungen. Hinweise auf den weiten Einzugsbereich der Krieger, die somit nicht nur aus der näheren Umgebung kamen, unter einem Anführer ergeben sich – so eine These – gerade aufgrund der sorgfältigen Analyse und Kartierung aller Sachgüter, zum Beispiel der Tascheninhalte mit Feuerzeugen und Gewandfibeln. Die Ausrüstungs bestandteile sind variationsreich zusammengesetzt und kommen einzeln weit ver breitet in Germanien vor und lassen ahnen, dass sich Krieger aus fernen Gebieten sammelten und dann von Anführern auch weiter ausgerüstet wurden. Manche Typen der Schwertriemenbügel aus dem Moor von Nydam haben Parallelen überall in Ger manien, von Norwegen bis zu den Mittelgebirgen und nach Polen. Aber ich habe zu begründen versucht, und die Bearbeiter der Opfermoore sehen das gegenwärtig auch so, dass die weite Streuung im Verbreitungsbild der Sachen nicht den Einzugsbe reich der Krieger spiegelt, sondern nur das allgemeine Kommunikationsnetz jener
2714 Hagberg 1967.
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Zeit, in der die Sachen eben Hin und Her ausgetauscht worden sind. Es lässt sich in beide Richtungen argumentieren; denn andererseits geht man gegenwärtig davon aus, das sich die Kriegerverbände unter einem Anführer als Gefolgschaft aus allen Teilen Germanien sammelten und bei dessen Erfolg mit ihm Kriegs und Beutezüge unternahmen. Welcher Deutung man nun den Vorrang einräumt, damit ändert sich durchaus auch die Beschreibung der Art dieser Kriege. Aus Angriffskriegen aus der Ferne denkt die Forschung jetzt auch eher an Kämpfe um Vormachtstellungen von Gruppen oder einzelnen Kriegsherren am Ort, in einem „heimischen“ Territorium. Die Ausrüstungen sind von ihrer Qualität her sehr unterschiedlich wertvoll: Es gibt Prunkschilde, die mit Ornamenten aus Edelmetall besetzt waren, Prachtgürtel mit silbervergoldeten Beschlägen und üppig gestaltetes Pferdezaumzeug, neben einfachen Waffen aus Eisen und Bronzegürteln. Reiter mit wertvoller Ausrüstung können Anführer sein, die anderen Kriegergefolge. Es wird versucht, die militärische Hierarchie der Verbände daran abzulesen, wie am Beispiel der Fundzusammenset zung im Moor von Ejsbøl. Aber anders gesehen ist der Wert einer Ausrüstung auch durch eigene Leistung zusammengekommen, und mit seiner selbst gewonnenen bzw. beschafften Ausstattung schloss der Krieger sich dann einem Anführer an, während andere Krieger sich vom Kommandeur ausstatten ließen. Dafür sprechen die normier ten Lanzen und Speerspitzen, die zentral hergestellt aus einer Waffenkammer genom men und verteilt worden sind. Ebenso sind Gürtelgarnituren der Krieger oft einander so ähnlich, dass sie aus einer Werkstatt gekommen sein werden. Die Schwertklingen, die zumeist römischen Ursprungs waren, wurden zur vollständigen Waffe mit Griffen und Aufhängegurten mit Beschlägen in heimischen Werkstätten aufgerüstet. Die Deutungsvorschläge werden stetig erweitert: Mit Blick auf einen herrschaftsso ziologischen Hintergrund ging es um die Zurschaustellung einer personengebundenen Sieghaftigkeit, um das finale Stadium einer machtpolitischen Auseinandersetzung, wie Andreas Rau erläutert.2715 Bei der Schlacht musste der Kampfplatz von beiden Seiten akzeptiert werden, auch wenn es sich um Machtkonflikte zwischen räumlich gar nicht sehr weit entfernt lokalisierbaren Gruppen gehandelt hat. Jede Schlacht war auch ein Rechtsakt, der Kampf eine Rechtshandlung.2716 Die militarisierte und politisch agierende Gesellschaft war von den übrigen Mitgliedern der jeweiligen Siedlungsgemeinschaft deutlich unterschieden. (Eine neue Deutung sieht das auch ganz anders, wie beschrieben. Hier sind es stattdessen die Nachbarn zu den Opfer plätzen aus den Dörfern.) Die Opferhandlung wird auch als Zeichen der gemeinsa men Anerkennung des Sieges durch den eigenen Heerführer bzw. Anführer und dem Gegner betrachtet. Die Prunkausrüstung des besiegten ranghöchsten Gegners wurde besonders intensiv zerstört, die Rüstung vernichtet, der unterlegene Krieger wurde
2715 A. Rau 2011 (2013). 2716 Scheibelreiter 1999, 314 f., 339 (beschrieben für Verhältnisse der Merowingerzeit).
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seiner Kriegeridentität beraubt. Das Gegenteil wäre eine im römischen Sinne deditio gewesen: Einem als Konfliktgegner aufgesuchten Herrscher bot man durch die eigene Erniedrigung die Unterwerfung an, eben durch Zerstörung und unwiederbringliche Niederlegung der eigenen Waffen und der Prachtausrüstung, was öffentlich vollzo gen wurde. So ist überlegenswert, welche Kriegerverbände oder welche Kommandeure jeweils die Kriegerausrüstungen immer wieder an den zahlreichen bisher bekannten Orten und in sich vielfach wiederholenden Opferhandlungen versenkt haben. Die Landschaften mit den großen Deponierungen in Jütland und auf Fünen waren zu jener Zeit nicht nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich und kulturell besonders potente Regionen; denn man vermutet hier auch die Entstehung der Runenschrift und mancher auffällig prächtigen Kunsterzeugnisse in Gold (vgl. unten S. 1249 ff.). Wenn nun die Meinung vertreten wird, dass das Verbrennen der Waffen des Feindes typisch römisch sei, so ist diese kaum überzeugend; denn für viele Epochen der Ur und Frühgeschichte ist das Verbrennen der feindlichen Waffen überliefert. In den Heeresausrüstungsopfern auf der jütländischen Halbinsel sind die Waffen oftmals zerstört und manches verbrannt worden; überliefert ist das für die die Schiffe, aber auch für andere Waffen. Deshalb ist die Ansicht, diese Rituale hätten die Ger manen von den Römern übernommen, nicht nachvollziehbar, weil es allgemeiner Brauch von Siegern gewesen ist.2717 Die Opferung der Waffen besiegter Gegner kann über das Verbrennen, das ander weitig Zerstören und schließlich auch durch das Versenken in Seen und Mooren geschehen. Die eroberten Waffen wurden eben meist nicht gleich von den eigenen Kriegern übernommen und eingereiht, sondern sie unterlagen einem Tabu, wurden entweiht; denn sie hatten verloren. Die großen Opferungen in Seen bei Anwesenheit einer größeren Zuschauermenge waren wie eine Triumphveranstaltung. Für andere Epochen und Räume sind Brandopferplätze überliefert, die an Stelle des Versenkens von Waffen in einem See auf diese Weise die Waffen einer weiteren Nutzung entzo gen, weil sie vernichtet worden sind. Gute Parallelen sind die beschriebenen Massen opferplätze im keltischen Milieu in Gallien, die deutlich älter sind (vgl. S. 715). Doch die Berücksichtigung des Waffenopfers von Hjortspring aus der Zeit um 300 v. Chr. im Ostseebereich verbindet den Brauch der „Kelten“ mit dem der Bevölkerung in Germanien. Dass Waffen absichtlich zerstört wurden, Schwerter verbogen und mit Einhieben versehen, Schildbuckel zertrümmert und mit vielen Hieben zerhackt, war ein germa nischer Brauch,2718
2717 Tagliamonte 2016. 2718 Rau 2016a, 173 Abb. 1 Karte der skandinavischen Opferplätze.
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Einkerbungen als geplante Zerstörung sind von Kampfspuren gut zu unter scheiden.2719 Andreas Rau hat in einem Schaubild die verschiedenen Dimensionen der Zer störung von erbeuteten Waffen gezeigt, die religiösen, psychologischen und sozialen Aspekte aufgeführt (oben Abb. 61): Das umfasst die Inszenierung des Sieges, die sym bolische Zerstörung des besiegten Kriegers, das Töten der Waffen selbst, die Verhin derung der Profanierung als Beute und die Vorbeugung göttlicher Ablehnung.2720 Die nähere Analyse der Zerstörungs und Kampfspuren an Waffen und Ausrüstung in den großen Seeopferkomplexes erlaubt Einblicke in die Vorstellungswelt der damaligen Kriegergesellschaft. Waffenniederlegungen gibt es außerdem auch in zeitgleichen Zentralsiedlungen von Sorte Muld auf Bornholm und in Uppåkra in Schonen. Die irre versiblen Deponierungen von Sachgütern, die „von einer kohärenten sozialen Gruppe getragen, verwendet, und gegenseitig ‚besehen‘ werden konnten“,2721 bilden also ein kollektives Verhalten ab, anders als die individuellen Grabausstattungen, die jedoch auch unter den Augen einer Gemeinschaft ausgerichtet wurden. Allgemein in Germanien war es aber auch Brauch, und das schon seit der vor römischen Eisenzeit, dass aus ähnlichen verwandten Gründen bei den Brandbestat tungen die Waffen ebenfalls zerstört wurden. Schwerter und Lanzenspitzen wurde verbogen, geknickt und mit Scharten versehen, nicht nur, um für die Sachen einen Platz in oder unter der Urne zu finden, sondern sichtlich auch mit der Absicht, diese Waffen grundsätzlich unbrauchbar, nicht wiederverwendbar zu machen. Ziel der Archäologie ist die Rekonstruktion der Kriegerschar, deren Ausrüstung geopfert wurde, und der Kriegerschar, die opferte. Schwerter und Schildbuckel, weniger Lan zenspitzen weisen rituelle Zerstörungen in Form von Einhieben und Verbiegungen auf, Lanzenspitzen sind oftmals vom Schaft gewaltsam abgebrochen worden. Die Scharten sind nachweislich keine Hinweise auf Kampfspuren, sondern sind nach träglich durch gewaltsame Hiebe, auch mit der Axt, erzeugt. Ähnlich sind die Spuren ebenso an latènezeitlichen Schwertklingen beobachtet worden. Auch Pferdegeschirr wurde gewaltsam zerhackt. Je kostbarer, so vom Material her, die Objekte, desto stärker sind die Zerstörungen. Nun fällt auf, dass zur Beschädigung und Zerstörung oftmals Äxte verwendet wurden, die aber in der Bewaffnung selbst eigentlich kaum eine Rolle gespielt haben, ob das nun ein überregional bekanntes Zerstörungsritual war oder einfach aus praktischen Gründen zur Axt gegriffen wurde, weil man seine eigenen Waffen nicht beschädigen wollte, mag man diskutieren. (Es gibt zudem eine Überlieferung, so im ethnographischen Bereich, dass im Diesseits Sachen, die zer stört wurden, im Jenseits wieder heil und vollständig wurden, dass also eine Zerstö rung oder auch Opferung den Sinn haben könnte, im Jenseits wieder verwendbar zu
2719 Gebühr 1980; Gundelwein 1994a, b. 2720 Rau 2016a, 183 Abb. 7. 2721 Rau 2016a, 174 Zitat.
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sein. Ob also eine Kriegerschar aus Sicherheitsgründen die eigene Waffenausrüs tung im See versenkte, also dem Gebrauch entzog, um sie dann im Jenseits wieder zu bekommen?) Es kann darüber nachgedacht werden, wie leicht es der Gesell schaft anscheinend gefallen ist, derartige viele qualitätsvolle Waffen zu zerstören und zu versenken. Der Umfang an regelmäßiger Waffenproduktion ist also erheblich gewesen, und der „Nachschub“ bzw. die Ergänzung stellten keine Probleme dar, was die Fertigung oder den Erwerb durch Handel und Beute betraf, um jede Generation mit Ausrüstungen zu versorgen. Die – manchmal – geopferten Kriegspferde des Gegners wurden durch überzäh lig viele Schwert und Axthiebe getötet, und zwar im Flachwasserbereich der Seen unmittelbar am Ort. Ebenso fanden die sonstigen Zerstörungen auch am Opferplatz statt; die Waffenteile wurden gebündelt und teilweise in Säcken verpackt versenkt. Die Sachen waren zuvor sorgfältig zusammengeschnürt und dann in qualitätsvollen Textilien verpackt worden. Die Ausrüstung eines besiegten Anführers wurde beson ders stark zerstört und extra versenkt. Als Beispiel wird ein Komplex aus dem Moor von Ejsbøl Vest (250–310 n. Chr.) beschrieben, ein Prachtgürtel aus Silber mit vergol deten, figürlich verzierten Pressblechen, ein weiterer bronzebeschlagener Gürtel, ein gelochter Aureus und 14 Goldstangen von 576 g Gewicht: Körperschmuck und Besitz eines ranghohen Kriegers, vergleichbar der Ausstattung im Fürstengrab von NeudorfBornstein Grab 7 (vgl. S. 933).2722 Anderorts wurden, so in Porskær, von den Schwertscheiden die Ortbänder abgerissen, oder, wie in Skedemosse, die goldenen Schlangenkopfringe verbogen. Andernorts wurde für die Opferhandlung auch nach Sachgruppen selektiert. Im Opferkomplex von Porskær wurden 77 Schwertscheidenortbänder des späten 5. Jahrhunderts ohne die anderen Teile versenkt, Mundbleche, Klingen und Griffe fehlen.2723 In einigen Opferplätzen wurden unmittelbar zeitgleich an verschiedenen Stellen die Sachen niedergelegt, so in Ejsbøl an vier Stellen im Abstand von 50 bis 200 m.2724 Hier opferten anscheinend verschiedene Gruppen, oder man opferte für verschiedene Gottheiten, und das Ganze war der Abschluss eines längeren Prozesses der Vorbereitung nach dem Sieg, die Übergabe der Beute aus dem profanen Bereich in die sakrale Sphäre, und zwar endgültig, denn eine Wiederaufnahme der Waffen war nicht möglich bzw. erlaubt, zumal diese oftmals zuvor zerstört worden waren. Da das Verhalten der opfernden Verbände an den verschiedenen Plätzen zwar nicht überall gleichartig, aber im Wesentlichen doch vergleichbar war, spiegelt sich darin eine allen bekannte Normung. Da keine menschlichen Reste gefunden wurden, denkt Andreas Rau daran, hier eine gewaltsame Trennung vom Krieger und seiner Waffe zu sehen, eine Entlassung aus dem Kriegerstatus, was leicht spekulativ anmutet;
2722 Rau 2016a, 179. 2723 Rau 2016a, 180. 2724 Rau 2016a, 180 Abb. 6.
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denn Waffen und sonstige Ausrüstung des Gegners wurden zwar nach dem Sieg – aus Tabu und anderen Gründen, was die Ausrüstung selbst betraf – dem Nutzungsbe reich entzogen, ebenso wie das bei der Waffenbeigabe im Grab geschah, mit anderer Motivation jedoch. Zu sagen, die „Zerstörung von Waffen (käme) der Zerstörung eines Selbstverständnisses des Trägers als Kriegerperson gleich“,2725 geht aber wohl doch zu weit; denn die Waffen waren es, die nicht gesiegt haben; der Krieger konnte in einem neuen Verband mit neuen Waffen durchaus weiter kämpfen. Wo sind sie sonst geblieben, als Gefangene und Sklaven? Gerade deshalb kann die Trennung von den alten Waffen eine Befreiung gewesen sein. (In der Neuzeit wurde eine Schwertwaffe nach der Tötung eines Gegners im Duell auch nicht mehr verwendet, sondern rituell bestattet oder vor allem in einem Fluss versenkt oder auch zerbrochen.) Andreas Rau betont denn auch, dass Waffen Dinge mit eigener Identität waren, Namen hatten, die in Runen geschrieben waren, im 3. Jahrhundert. Schwerter hatten, literarisch aus führlich überliefert, einen Namen, unter dem sie auch bekannt waren. Somit wurde die Waffe als Waffe durch Zerstörung und Versenkung getötet und beseitigt, so wie bei Tieropfern das Tier getötet und zerteilt wurde. Der Inszenierungsprozess bei diesen Waffenopferungen war ritualisiert und mit einer Tradition verbunden, die über Gene rationen Bestand hatte, ein Spiegel immaterieller Prozesse, die wir nur indirekt und deshalb mit eigener Phantasie näher beschreiben und erklären können. Es ist das Verhalten einer größeren Gruppe, die aus einem bestimmten Anlass, vielleicht eines „Sieges“ im Kampf, Opferungen vorbereitete, an den Handlungen teilnahm und auch selbst handelte. Noch ungeklärt ist, wie die Bewohnerschaft am Ort „feierte“ und wie das mit dem Kriegerverhalten zusammenhing, ob es Versammlungsplätze gab oder ob sich das sonst Entscheidende in den Fest und Kulthallen ereignete.2726 Der regelmäßige Blick auf römische Verhältnisse hilft nicht weiter, um einen Erklärung für die Waffenopfer zu finden. Die Parallele zum römischen Triumphzug passt nicht, da Waffenopfer von Hjortspring und Krogsbølle im 4. und 3. Jahrhundert v. Chr. schon viel früher entstanden sind, ohne Kontakt mit Rom. Wenn überhaupt Vorbilder gefunden werden müssen, dann sucht man sie eher im keltischen Milieu. Kontinuitäten der Bräuche sind auffällig; über mehrere hundert Jahre pflegte man die Opferung von Waffen, und zwar immer an denselben Orten. Doch an diesen Orten waren auch schon zuvor kultische Handlungen mit anderem Hintergrund vollzogen worden. Wie in La Tène fanden sich auch in Thorsberg weibliche Trachtbestandteile von andersartigen und zeitlich anders zu datierende Opferungen. Auffällig ist, dass es keine Menschenopfer im Zusammenhang mit den Waffenopfern gegeben zu haben scheint. Die Skelette in Skedemosse und von Illerup Ådal gehören in einen anderen zeitlichen Zusammenhang.
2725 Rau 2016, 181. 2726 Weitere Literatur: Andersson 2012; Kontny 2009; v. CarnapBornheim, Ilkjær 1996a, b.
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Aufmerksam hat R. Blankenfeldt die Individualität in den Deponierungen beob achtet.2727 Jedes Nasenblech des Pferdekopfgeschirrs aus dem Thorsberg Moor ist ein Unikat. Drei Lanzenspitzen des Typs Vennolum aus dem Moor von Illerup Ådal tragen eine geritzte bzw. gestempelte Runenschrift des Waffenschmiedes Wagnijo.2728 Sogar Linkshänder unter den Kriegern sind nachweisbar, erkennbar an der Art der Befiede rung der Pfeile, und zwar sind das 3 von 100 Exemplaren. Individuell ist die reiche Ausstattung der Anführer, erkennbar an dem besonderen Ringschmuck, beispiels weise an den Fragmenten von Schlangenkopfarmringen oder dem goldenen Spiral ring aus dem Thorsberger Moor. Individualopfer sind wohl auch manche Fibeln, die ebenfalls im Thorsberger Moor gefunden worden sind, aber nicht in den Hauptgra bungsflächen. Die Opferplätze hatten auch eine „multifunktionale“ Bedeutung. Es gibt weib liche Fibeltracht in Illerup Ådal, und zwar vom Platz A Fibeln mit hohem Nadelhal ter. Man kann davon ausgehen, dass es Deponierungen von einzelnen Personen zur gleichen und zu anderen Zeiten im Moor gab. Besondere Gruppen, wie Ärztinnen bzw. Heilerinnen, die sich ebenfalls beim Heer aufgehalten haben, können geopfert haben, in den Heeresbeuteopferplätzen finden sich medizinische Geräte2729 und die Bündelung von Sachen, die nach der zeremoniellen Behandlung in Gewändern einge wickelt waren.2730 Ein Grabfund bei Abenraa in Jütland barg ein medizinisches Gerät, geeignet für Trepanationen, datiert auf 210 bis 250 n. Chr.; es wird sich um bei der Toten eine Ärztin gehandelt haben.2731 Aus dem Moor von Thorsberg stammen, seit langem bekannt, eine Hose, eine vollständige Tunika und mehrere große rechteckige Mäntel, Fibeln saßen noch an den Textilien, die zu Frauen gehörten. Die beiden Prachtfibeln von Illerup Ådal entsprechen der Fibeltracht jütländischer Frauen, wie sie in Vorbasse, also in der Nähe, durch Grabbeigaben belegt ist. Weiterhin gibt es Fibeln fremder Herkunft, auch von Frauen. Dass in Ejsbøl zur selben Zeit vier ver schiedene Niederlegungen vorgenommen wurden, spiegelt das Verhalten von eigen ständigen, individuellen Gruppen in diesem Zusammenhang. R. Blankenfeldt vertritt diese These, dass die Schlachtenverläufe und Unterwerfungsgesten nach strengen Mustern abgelaufen sein werden, wobei nicht Hunderte von Kriegern ihr Leben lassen mussten. Es gibt eine neue Zusammenfassung von 2018, die anlässlich einer Ausstellung zur Geschichte des Schwertes erschienen ist.2732 Bei den Waffen in den Heeresausrüs tungsopfern in Jütland handelt es sich nach einhelliger Meinung um Niederlegung 2727 Blankenfeldt 2013, 55 Abb. 1 Farbkarte zu den Opferplätzen, 56 ff. die Beispiele mit Abb. 2728 Imer 2007. 2729 Frölich 2003; 2011. 2730 MöllerWiering 2008, 210. 2731 Moberg Riis, Frölich 2020. 2732 Feickert 2018.
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der Waffen besiegter Gegner. Diese Niederlegungen erfolgten, wie erläutert, in grö ßeren Abständen, teils in zeitlichem Abstand von mehreren Generationen, d. h. die Opferplätze blieben im kulturellen Gedächtnis der Gruppe. Die römischen Schwer ter waren entweder komplett importiert oder andere römische Klingen wurden im Nachhinein mit einheimischgermanischen Griffen versehen. Intentionell waren die Zerstörungen der Waffen, auch teilweise ihre Verbrennungen, beim Pferdezaumzeug fällt die gleichartige Zerstörung an verschiedenen Opferplätzen auf. Entscheidendes Ergebnis ist, dass Ansehen und Machtanspruch von Anführern wurden nachhaltig vernichtet. Es gab festliegende Muster und Abläufe der Deponierungen. Im zitierten Beitrag wird auf die schriftliche Überlieferung hingewiesen: Tacitus (Annalen XIII, 57) berichtet, dass beim Krieg zwischen Chatten und Hermunduren im Falle eines Sieges nach einem Gelübde Pferde, Männer und alles der Vernichtung preisgegeben würde. Orosius berichtet zur Schlacht bei Arausio, dass von Kimbern und Teutonen die gesamte Beute geopfert worden sei. Ich zitiere das hier, weil zu klären sein sollte, wo denn nach diesen Schlachtereignissen geopfert wurde, im Vergleich zu Jütland muss es also andersartige Opferplätze gegeben haben. Ich komme darauf zurück, wenn ich mich den Befunden vom Harzhorn zuwende (vgl. S. 769). Zusammenfassend als Übersicht resumiere ich, dass im südlichen Skandinavien aus 30 Mooren Kriegsausrüstungsopfer bekannt sind, aus Dänemark allein 20. Etwa 60 verschieden große Niederlegungen militärischer Ausrüstungen stehen für Auswer tungen zur Verfügung, mehr als 40 000 Waffen.2733 Anhand der Waffenkombinatio nen sind die Stärken der Heereseinheiten abzuschätzen, deren Ausrüstung geopfert worden ist. Die beschriebenen Opferungen stehen für 300, 600 und 1000 Krieger.2734 Rangstaffelungen für Illerup Ådal Komplex A bieten 5 silberne Schilde, 30 bronzene und etwa 350 eiserne, d. h. ein Verhältnis von 1: 6:70. Aber unbekannt bleibt, ob die gesamte besiegte Streitmacht über die Opferniederlegungen erfasst wird oder nur ein Teil der Krieger. Weitere Angaben nennen 12 Anführer, 100 mittleren Ranges und 750 Krieger, das ist eine Folge 1: 10: 60/62. Ist nur eine Hälfte im Opfer fassbar, könnten die Zahlen 24: 200: 1500 lauten, wozu bei den Anführern die Prunkschwerter und Reitausrüstungen gezählt werden müssen, und auch eine entsprechende Anzahl von Pferden. Das sind Größenordnungen wie die römische Centurie oder die Auxiliarein heit, aber längst noch keine Legion. Unbekannt sind zu diesen Heeresausrüstungsop fern immer noch die Schlachtfelder, sofern es überhaupt offene Schlachten gegeben hat und nicht etwa Kriege aus dem Hinterhalt. Dagegen sprechen aber die Schiffe, mit denen Kriegereinheiten eingetroffen sind, die gestaffelte Gliederung der Verbände und die erkennbaren Strukturen noch in der Niederlage, d. h. in den Opfern. Auch erinnere ich daran, dass Schiffe im Bestattungsbrauchtum häufig eine besondere Rolle gespielt haben. Es gibt schiffsförmige Steinsetzungen um Bestat
2733 Steuer 2006 f, 37. 2734 Steuer 2001a, 359.
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14 Mooropfer, Heeresausrüstungsopfer und Flussfunde
tung herum, und reale Schiffe wurden statt Kammer oder Sarg als Behältnisse für den Toten gewählt, und nicht erst seit der Wikingerzeit. Der oben gebrachte Hinweis auf das Heiligtum der Göttin Vagdavercustis bel Kalkar, Kr. Kleve, bietet einen Waffenopferkomplex, der mit denen in Ostseegebiete teilweise vergleichbar ist (vgl. S. 628).2735 Es fanden sich Reste zahlreicher römischer Schutz und Angriffswaffen, mehr als 2000 Buntmetallfunde, zahlreiche Militaria, das gesamte Spektrum des 3. Jahrhunderts. Ortbänder, Schwertriemenhalter und Balteusschließen weisen auf Weihung von ganzen Schwertgarnituren hin, von der Schutzbewaffnung gab es Panzerknebel, Schildrandbeschläge, Reiterhelmtypen und Pferdegeschirre. Fragmente vergoldeter Bronzestatuen wurden 1999 geborgen, auch der Schrott von fünf Großplastiken, die zerschlagen worden waren, sowie zerhackte Reiterhelme des 3. Jahrhunderts und Pferdegeschirrfragmente wie im Tempel von Empel im Gebiet der Bataver sind registriert worden. Da es in der Nähe eine Siedlung mit WohnStallHäusern belegt ist und der Name der Göttin germanische Wurzeln hat, ist ein Bezug zum Waffenopferkult von Germanen zu berücksichtigen. Also ist das Ergebnis dieses Kapitels: Ein Teil der damaligen Gesellschaft der ersten Jahrhunderte in Germanien war außerordentlich kriegerisch organisiert. Dieser Teil führte Krieg durch, und die Sieger opferten die Masse der Waffen der überwundenen Gegner in Seen oder Mooren. Das ist zwar nur eine der zahlreichen Deutungen, aber sie trifft irgendwie doch den Kern. Diese Opferorte lagen in der Nachbarschaft, am Rande der dicht besiedelten Siedlungskammern mit einer großen Zahl von Dörfern. Bisher ist nicht erkennbar, wie das Nebeneinander von üppiger Agrarlandschaft und großen Kriegerverbänden, von Kriegen und Massenopferhandlungen funktioniert hat. Die bäuerliche Gesellschaft erlebte die Kriege mit, und ob sie an den Opferhand lungen beteiligt war, wissen wir nicht. Früher wurde in der Forschung von „Kriegs beuteopfern“ gesprochen, heute wählt man stattdessen neutraler die Bezeichnung „Heeresausrüstungsopfer“. Die Deutung als Opferhandlung wird weiter akzeptiert, aber die Suche nach Erklärung für das auffällige Phänomen wird vorsichiger, facet tenreicher und theoretischer. Zu beachten ist der Wechsel der Rituale im Verlauf der Jahrhunderte, der Über gang von Opfern wie den Wagen von Dejbjerg oder den Fruchtbarkeitsopfern zu den Waffenopfern.2736 Herbert Jankuhn erkannte anfangs vor vielen Jahren zwar schon die mehrfachen Opferungen und schloß daraus, dass es um einen Stammesopferplatz mit jährlichen Opferungen handeln würde. So meinte er in den 1930er Jahren zum Thorsberger Moor. Das sah damals die dänische Forschung, anders als die schwedi sche, – man ging von einer vorbelasteten Deutung Jankuhns während der Zeit des Nationalsozialismus aus –, die nicht akzeptieren wollte und dafür die Deutung als
2735 Bödecker 2010. 2736 Fabech 2011, 28 Fig. 2 Skandinavische Waffenopferplätze, 29 Liste der Beobachtungen an den Plätzen.
14.2 Heeresausrüstungsopfer
753
aufgesammelte Waffen von einem Schlachtfeld annahm, so der dänische Archäologe Johannes Brøndsted 1940. Charlotte Fabech fordert nach dieser Forschungsgeschichte und den nachfolgenden Publikationen mit der Auswertung all der Realien, weil die Zeit reif dafür sei, andere Aspekte des reichhaltigen Fundmaterials zu berücksichti gen, mit Blick auf Szenen des Kultes und der Rituale an diesen geheiligten Plätzen, und sie resumiert 2011: Die Waffenopfer umfassen die vollständige Ausrüstung einer Armee, also die Waffen, das Reitzeug und die persönlichen Sachen der Krieger. Die Funde datieren zwischen AD 1 und 600 n. Chr. Die Ausrüstungen sind in Seen und Mooren, in offenem Wasser oder in Mooren versenkt worden. An manchen Ufern wurden spezielle Konstruktionen vorgenommen. An manchen Plätzen sind außerdem schon einfache, schlichte, wohl ältere, Idole aus Holz gefunden worden. Die Plätze wurden bis zu fünfmal aufgesucht. Bis zu 150 Jahren können an einem Platz zwischen den Opferhandlungen als zeitlichem Abstand bestanden haben. Die Sachen wurden oftmals zerstört vor der Niederlegung. Manche Objekte wurden zusammengesammelt sowie zusammengebunden und gemeinsam abgelegt. Die Objekte wurden vom Ufer aus in den See geworfen oder von einem Boot aus versenkt. Zumeist waren die Objekte nicht verbrannt worden (inzwischen hat sich das aber als häufigere Zerstörung gezeigt). An vielen dieser Plätze wurden runde Steine in dasselbe Gebiet geworfen. Bemerkenswert ist, dass die Seen mit Plattformen, Uferbefestigungen und Brücken versehen wurden, und vor allem, dass die Plätze über viele Jahrzehnte als Opferorte in Erinnerung geblieben sind. Vor der Versenkung der Ausrüstungen müssen unter schiedliche Rituale stattgefunden und zahlreiche Leute werden daran teilgenommen haben. Es ist zu fragen, wer der Organisator war und das Ganze überwachte, zumal die Rituale lange Jahrzehnte weiter bekannt geblieben waren. Die Opferhandlungen müssen wohl bald nach der Schlacht durchgeführt worden sein, um die eigene Krie gereinheit zusammenzuhalten. Ch. Fabech fragt weiter, warum gerade diese Seen und Moore ausgewählt wurden, gab es eine Beziehung zwischen dem Schlachtfeld und dem Opferplatz? Ein Wandel zeichnet sich ab von den Opferungen von Waffen an sich, darunter auch Schwerter, bis hin zur Auswahl von nur höchst qualitätsvollen Schwertern am Ende im 4./5. Jahrhundert. Man hat die Waffenopferungen mit dem römischen Triumph verglichen, aber dann hätte wohl auch anderes Plünderungsgut außer Waffen dabei sein müssen, das man aus der Ferne vom Schlachtfeld mit nach Hause gebracht hätte. Vielmehr entspricht ein solcher Opferplatz eher dem Bau eines Siegesmonuments (wie dem römischen Tropaeum Trajani) nahe am Schlachtfeld, wie das Tacitus (Annalen I, 61) auch über den Sieg des Arminius in der Varusschlacht beschreibt. Entscheidend ist die Nähe zwischen Schlacht und heiligem Platz. Dass die Kämpfe nahe oder unmittelbar an einer Straße oder einem Fernweg stattfanden, ist naheliegend, wo sonst; denn reguläre Aufstellungen auf einem Schlachtfeld sind nicht sicher überliefert. Aber diese Schlachtfelder hat man bisher nicht entdecken können, betone ich. Die Waffen von Elitekriegern, wie in Nydam IV bezeugt, die prunkvollen Grabkomplexe von Sösdala mit den silbernen Pferdezaumzeugen spie geln reiternomadische Einflüsse (vgl. S. 1229). Mit der Waffenausstattung von Sjörup
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14 Mooropfer, Heeresausrüstungsopfer und Flussfunde
und den Waffen aus den Opfermooren bis hin zum Fundkomplex von Finnestorp in Västergötland zeigten die skandinavischen Krieger, dass sie zur europäischen Elite gehörten, eine durchaus wichtige Feststellung, der ich mich anschließe, was auf die weitreichenden Kommunikationsnetzwerke verweist. Bei der Deutung geht es um Schlachtfelder und militärische Handlungen, die im 4. bis 6. Jahrhundert einen grundsätzlichen Wechsel der politischen und sozialen Strukturen widerspiegeln. In der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts gab es noch 22 Waffenopferungen in Südskandinavien, davon fünf von der Zeit um 400 und 17 von 450 bis 475, womit der Höhepunkt dieser Bräuche erreicht war. Ch. Fabech meint sogar, dass Kriegerverbände, beteiligt an der Schlacht von Nedao 454 in den hunni schen Kriegerkoalitionen, zurückgekehrt waren. Diese Verbände seien von anderem Zuschnitt gewesen als die aus den alten Stammesgesellschaften. Die Ursache für die Ausbildung dieser Kriegerverbände sieht wie andere auch Ch. Fabech im übermäch tigen Römischen Reich, das zur Desintegration in Germanien geführt hat, und zwar über die Entstehung neuer Königreiche im weströmischen Reich. Im Norden führte das zu neuen Gefolgschaften aus Kriegern, die um die Macht und die Gründung von Herrschaftsgebieten kämpften, um größere politische Einheiten zu schaffen als sie zuvor bestanden haben; und deshalb wären nach dem 5. und im frühen 6. Jahrhun dert Waffenopfer überflüssig geworden. Die Interpretationen der Heeresausrüstungsopfer werden ständig erweitert und ergänzt, zumal solche Opferplätze nun auch südlich der Ostseeküste bis zum Balti kum dokumentiert sind (vgl. S. 737).2737 Die Waffenopfer werden mit den überlieferten Heeresgrößen in den antiken Schriftquellen verglichen.2738 Die Zahlen von Ammianus Marccellinus zur Schlacht von 357 werden nicht akzeptiert, wozu es heißt milia triginta et quinque ex variis nationibus. Zu groß sei eine solche Zahl von 35 000 Kriegern im Vergleich zu den Waffen in den Opfermooren. Aber – so meine ich – das passt gerade, denn die einzelnen Truppenteile haben fast die Größen der Waffenansamm lungen in den Mooren. Die Herstellung und Verteilung der Waffen wird als Problem gesehen: Die Truppen sind mit Standardausrüstungen einer Serienproduktion der Lanzen ausgestattet worden, d. h. wenn die genormten Lanzen aus Werkstätten der Gefolgschaftsführer kamen, dann weist das auf die einzelnen Kriegerverbände hin. Ich erwähnte dazu die norwegischen Ringsiedlungen mit den Schiffshäusern, die eine Rekrutierung widerspiegeln. In Illerup Ådal sind erst 40% ergraben, das sind dann insgesamt hochgerechnet auf das ganze Moor 925 bis 1025 Krieger um 210 n. Chr.; in Ejsbøl werden 260 bis 275 oder 300 bis 325 Krieger gezählt und im jüngeren Nydam IV werden Waffen von immer weniger Kriegern niedergelegt. In der älteren römischen Kaiserzeit herrschte eine Vielfalt von Waffen vor, in der jüngeren Römischen Kaiser
2737 Łuczkiewicz 2007a, 212 Abb. 1 Karte, 216 Abb. 5 Histogramm; Kontny 2015, 307 Anm. 1. 2738 v. Carnap, Rau 2018.
14.2 Heeresausrüstungsopfer
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zeit von 160 bis 360 gab es weniger Typen, wohl eben die genormten Waffen, während es in der Völkerwanderungszeit wieder eine Aufsplitterung gegeben hat. Die Versorgung der Truppen mit Waffen ist aber noch komplizierter gewesen, denn Lanzen aus Nydam aus der Zeit von 360 bis 400 kamen aus verschiedenen Eisenquellen, was dadurch zu erklären ist, dass die rekrutierten Gruppen sich aus ver schiedenen Gefolgschaften zusammensetzten, so meine ich, und sie wurden weniger „tribal“ organisiert zusammengerufen. Außerdem bemerken die Autoren, dass Pferde wohl lokal rekrutiert wurden, nicht mit den Schiffen gebracht worden seien, also nicht etwa aus Norwegen mitgenommen wurden. Aber während der Wikingerzeit ist durchaus belegt, auch auf dem Teppich von Bayeux, dass Pferde von den Kriegertrup pen auf den Schiffen mitgenommen worden sind. Positiv erkannt ist, dass nicht norwegische Kämme aus Elch oder Rentier nach Jütland in die Moore gekommen sind, sondern die Kämme sind aus anderem Material gefertigt; es ging um regionale Kriege. In Illerup Ådal zeigen die zusammenpassenden Stücke der Ausrüstung ein Netz des Gleichzeitigen; keine individualisierten Waffen ausrüstungen sind zusammen versenkt worden, wie sie in den Gräbern als Beigaben vorkommen. Schließlich hat es Kriege innerhalb von Germanien gegeben, und bei denen werden die Truppen diese entsprechenden Größen gehabt haben (vgl. S. 663). A. Rau hat schon 2010 auf die Rangstaffelung von Gold bis Eisen hingewiesen, als Abfolge von Anführern und Gefolge als Begleiter, und je wertvoller die Ausrüstung war, desto stärker wurde sie zerstört, in einem öffentlichen Akt;2739 es ging somit um die individuelle Zerstörung des (besiegten) Kriegers. Das Thorsberger Pferdegeschirr zeigt die gleichartigen Zerstörungen wie das Geschirr der Pferde in anderen Opfer mooren.2740 Wie sind also der Hintergrund und das Ziel der großen Deponierungen zu erklä ren? Summe ist, es ging um die Auslöschung der Identität der besiegten Krieger, ihre Waffen wurden getötet, nicht die Krieger selbst. Wo diese geblieben sind, bleibt offen. Es ging um eine charismatische Herrschaftslegitimation, indem der militäri sche Erfolg in einen politischen umgewandelt wurde. Die Parallelität zum römischen Triumphzug wurde schon genannt. Hinzu kommt, dass es sich um wiederholte Ereig nisse und Rituale gehandelt hat, die Spanne betrug in Thorsberg mehr als 200 Jahre, in Nydam 270 Jahre und in Illerup 450 Jahre. Die Funktion der Fibeln ist aufschlussreich. Gewöhnlich wies man sie den Männern zu. Doch es kam als Deutungsmuster hinzu, dass Fibeln durchaus auch als Ver schluss von Tuchwaren und Kleidern gedient haben können, die geopfert wurden. Fibeln können Opfergaben von Frauen gewesen sein; denn gerade die Paarigkeit geopferter Fibeln weist auf Frauen hin. Solche Befunde gibt es in Thorsberg und vor allem in Illerup Ådal. Derartige Opfer werden dann auch unabhängig von den Kriegs
2739 Rau 2010. 2740 Lau 2009; Blankenfeldt, v. CarnapBornheim (Hrsg.), 2018.
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ausrüstungsopfern ins Moor bzw. in den See gekommen sein.2741 Wie sich das nun bei den Fibeln mit hohem Nadelhalter verhält, ist in der Diskussion. Diese Fibeln sind in größerer Zahl in den Opferplätzen geborgen worden, in Thorsberg 41 Exemplare, in Nydam 22 Stück, in Ejsbøl 1 Stück, in Illerup 17 Exemplare und 2 Fragmente und in Vimose 9 Stück. R. Blankenfeldt ordnet sie nach der Arbeit von L. Schulte2742 ein, und von M. Przybyła werden von Fibeln ihrer Gruppen II und III (nach Mackeprang) mit hohem Nadelhalter aus Thorsberg 26 Exemplare, aus Illerup 9 Exemplare und aus Vimose 1 Exemplar tabellarisch aufgelistet. Sie erklärt anhand dieser Fibeln auch die Herkunft der Kriegerverbände in den Opfermooren anders als L. Schulte und damit auch anders als R. Blankenfeldt (vgl. S. 738). Die Verbände kommen nicht aus dem Ostseegebiet, aus Fünen oder Seeland, sondern eher vom Rhein und von der unteren und mittleren Elbe. Es ist naheliegend zu fragen, was bei jeder Analyse versucht wird zu beantwor ten, nämlich woher nun die Kriegerverbände jeweils tatsächlich gekommen sind, deren Ausrüstungen in den Opfermooren und seen versenkt worden sind. Darüber ist im Vorangehenden Verschiedenes referiert worden. Antworten werden über die Ausrüstungen versucht, über die Form der Waffen oder der Fibeltypen und auch über die anderen Sachgüter. Und die Antworten ändern sich mit dem Fortschritt der Forschungen, so dass beachtet werden muss, aus welchem Jahr die Veröffentlichun gen stammen. Es wechselt zwischen der Herkunft aus dem Süden, also vom Konti nent, oder vom Norden und Nordosten, also aus dem Ostseegebiet. Die Herkunft der Objekte in den Opferkomplexen des 2. bis 4. Jahrhunderts ist sicherlich verschieden. In der Frühzeit kamen Sachen aus einem großen Gebiet von den Karpaten bis nach Süddänemark, später ist eine Verkleinerung der Herkunftsgebiete auf Norddeutsch land und Süddänemark festzustellen, im 4. Jahrhundert scheinen Kriegerverbände wieder aus weiterer Entfernung gekommen zu sein, aus Südschweden.2743 Schließlich verengt sich das Herkunftsgebiet auf die unmittelbaren Nachbarschaften. Es bleibt aber bei widersprüchlichen Aussagen, wie ich zuvor erläutert habe. Immer jedoch fanden die Opferhandlungen öffentlich statt unter der Teilnahme größerer Bevölke rungsgruppen. Anhand der Pferdegeschirre der jüngeren Römischen Kaiserzeit, des 3. Jahr hunderts n. Chr., aus den Heeresausrüstungsopfern in Jütland, vor allem aus dem Thorsberger Moor, hat N. Lau die Beziehungen zum weit entfernten Donauraum ana lysiert.2744 Die Beeinflussung durch römische Vorbilder fällt auf. Die erste ihrer Karten zeigt die weite Verbreitung der Zaumzeugbestandteile des Typs Vimose über ganz Mitteuropa und eine Massierung von Siedlungsfunden in Mähren bis südlich an die 2741 Rez. Ruß 2017, 363, zu Blankenfeld 2015c. 2742 Blankenfeldt 2015a; Schulte 2011; jetzt Przybyła 2018a, 206 Fig, 132 und 215. 2743 Blankenfeldt, v. CarnapBornheim 2018, dazu Rez. D. Kern 2018, 341. 2744 Lau 2018, 344 Abb. 1 mit Ergänzungen zu älteren Kartierungen, vgl. Lau 2014b, Abb. 29; auch Guštin 2019.
14.3 Flussfunde
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Donau, also in den norddanubischen Raum. Was bedeutet nun diese weite Verbrei tung, wie wird sie zustande gekommen sein? Als Erklärung nennt N. Lau allgemei nen kulturellen Austausch über Handelskontakte, Kontakte zwischen den Eliten und möglicherweise auch Mobilitäten von Leute, eben von Kriegern, im 2. und 3. Jahrhun dert, was aber wegen des noch begrenzten Quellenbestandes nicht überinterpretiert werden sollte. Immerhin betont sie, dass bislang die einzige Produktionsstätte von Zügelketten in Südmähren und Niederösterreich nachgewiesen sei, in Nachbarschaft zum Römischen Reich. Es gibt bei der Betrachtung aller Befunde aus den Opfermooren auch spezielle Beobachtungen, auf die ich noch eingehen möchte, dass nämlich im Thorsberger Moor in Enge fast nur linke (!) Schuhe gefunden worden sind, was Monosandalis mus genannt wird. Derartige Sitten gibt es schon seit dem griechischen Altertum; es sind Hinweise auf symbolischgeistige Vorstellungen, die man als pars pro toto nur beschreiben, aber hier nicht erklären kann. Dem Hinweis, dass alle Sachen beim Opfervorgang nur pars pro toto seien, da Menschenopfer fehlen würden, wie sie aber in der Nähe bei Illerup/Alken Enge nun belegt seien (vgl. S. 733), möchte ich so nicht gleich folgen.2745 Der Autor T. Baranowski veröffentlicht im selben Band Archeologia Polski eine umfangreiche Rezension in polnischer Sprache zu den umfangreichen neuen Veröffentlichungen über die Kriegsausrüstungsopfer im Ostseeraum.2746
14.3 Flussfunde Waffen, vor allem Gerätschaften, die eine Schneide haben, wurden zu allen Zeiten in Flüssen geopfert, zumindest findet man sie in fließenden Gewässern aus urgeschicht lichen Epochen wie dem Neolithikum und der Bronzezeit.2747 Flussfunde kennt man aus der Latènezeit im Bereich der Kelten bzw. aus der vorrömischen Eisenzeit im nördlichen Mitteleuropa; die Flussfunde der keltischen Epoche sollten mit den zeit gleichen Hortfunden parallelisiert werden (vgl. S. 715). Nachdem die vordergründigen Erklärungen, es handele sich um Ergebnisse von Unfällen oder von Kampfhandlun gen am Fluss oder einfach um abgeschwemmten Kulturschutt, aufgegeben worden ist, nahm man die Deutung als Opfer in den Blick. Auffällig ist, dass Waffen nicht allgemein im Fluss gefunden werden, sondern regelmäßig gehäuft an einigen Stellen und dort oftmals mit einer Kontinuität über die Zeiten hinweg. Die Motivation ist unbekannt, erwogen werden allgemeine Tabugründe, dass bei bestimmten Arten der Tötung eingesetzte Waffen nicht weiterverwendet werden sollten. Waffen als einzelne Stücke wurden anscheinend auch von Einzelpersonen versenkt. Flussopfer
2745 Baranoswski 2018. 2746 Archeologia Polski 63, 2018, 198–218 mit 57 Literaturzitaten in den Anm. 2747 Steuer 2006 f, § 5, 42–43; Torbrügge 1970/71 (1972); Wegner 1995; Kurz 1995, Fluss und Hortfunde.
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14 Mooropfer, Heeresausrüstungsopfer und Flussfunde
sind beispielweise in MecklenburgVorpommern in der Warnow, Kr. Rostock, von der vorrömischen Eisenzeit bis in die slawische Zeit belegt.2748 Von hier stammen drei Schwerter, vier Lanzenspitzen, eine Pfeilspitze und eine Axt aus der Römischen Kai serzeit und fünf Schwerter und eine Lanze aus der Völkerwanderungszeit. Aus der Oder bei Schwedt, Kr. Angermünde, kommen drei bronzene, vier silbervergoldete Scheidenbeschläge und ein silberner Schwertknauf aus dem 5. Jahrhundert. Sie sind mit den Objekten von Nydam II, Ejsbøl II, Sjörup und Porskær zu vergleichen. Aus dem Bereich der späteren polnischen Herrscherpfalz auf der Insel Ostrów Lednicki sind bei zwei Brücken nicht nur mittelalterliche Waffen in großer Zahl, sondern schon solche aus der Latène und der Römischen Kaiserzeit geborgen worden. Auch die Waf fenfunde am Ausfluss des Neuenburger Sees in der Schweiz, dem Fundort LaTène, können als Flussfunde gewertet werden, da sie anfangs anscheinend auf einer Brücke aufgehängt waren und dann später ins Wasser gestürzt sind. Hinzuzufügen sind die neuen Befunde an der Uecker nahe der unteren Oder.2749 Die Kartierung am Fluss südlich von Pasewalk bringt acht Fundplätze an und in der Uecker aus der Römischen Kaiserzeit mit Schwertern, teils römischer Herkunft mit Klingeneinlagen, die den Kriegsgott Mars zeigen, und Schädel mit tödlichen Schwert hieben. Gefragt wird, ob man nicht nur von einem Opfer, sondern auch von Relikten einer Schlacht ausgehen könnte. Diese Funde im Flusssystem in Mecklenburg Vorpommern aus der Uecker bei Pasewalk beschreibe ich noch etwas ausführlicher: Drei römische Schwertklingen und weitere Waffen und die menschlichen und tie rischen Skelette mit Hiebverletzungen werden in das späte 2. Jahrhundert datiert. Auch beim Fundplatz „Schwaan“ in der Warnow bei Werle, Ldkr. Rostock, stammen spätkaiserzeitliche und völkerwanderungszeitliche Funde, Waffen und Ausrüstungs gegenstände, außerdem Bestandteile von Tracht und Schmuck sowie menschliche Skelettreste. Dieser Schwaaner Waffenfund von 1927/28 besteht aus 45 Schädeln und Langknochen (auch von Frauen und Kindern), der von Helga SchachDörges 1970 und 1997 publiziert worden ist. Zum Befund gehört eine Holzkonstruktion aus zwei Reihen Pfosten, datiert dendrochronologisch auf 434 +/–10 n. Chr. Die von 1997 bis 2018 hinzu gekommenen Schwerter, Lanzen, Äxte, Schwertriemendurchzüge zeigt eine Karte nach A. Rau, der den Bezug zu den südskandinavischen Heeresausrüstungsop fern herstellt. Eine weitere vergleichbare Holzkonstruktion wurde bei Papendorf 18 bei Pasewalk an der Uecker freigelegt, dendrodatiert auf 163 +/–43 n. Chr. Dabei lagen getötete Pferde und Knochen von 8 bis 15 Männern. Die beiden Autoren Schmidt und Voss verknüpfen nun diese Befunde von Pasewalk mit dem Ereignishorizont der Mar komannenkriege (160/166–180), dem ich nicht folgen möchte.
2748 Geisslinger 1967, 97 ff. 2749 Schmidt, Voss 2017, 211 Abb. 2 Funde an und in der Uecker bei Pasewalk, 212 Abb. 3 Schädel mit Hiebverletzungen, 217 Abb. 6 Karte der römischen Schwertklingen mit Mars Ultor oder Adler Einlagen entlang des Oder und Weichselgebietes.
15 Schlachtfelder oder (auch) Opferplätze Kriege waren in diesen fünf Jahrhunderten vor, um und nach Chr. Geb. Teil des Alltags. Innergermanische Kämpfe zwischen Stämmen oder Kriegerverbänden von Gefolgschaften waren die Regel. Besser überliefert sind die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen römischen Legionen und der Bevölkerung in Germanien. J. F. Drinkwater hat mit Recht ausführlich erläutert, dass es die römische Seite war, die ständig die Bewohner Mitteleuropas durch die Ein- und Überfälle der Legionen bedrohte, weil Rom prinzipiell auf Eroberungen aus war. Es galt immer, die jeweiligen Außengrenzen zu sichern; und vorgeschobene Grenzen führten zu vorgeschobenen Kriegen.2750 Dass Vordringen der Germanen seit den Kimbern und Teutonen hatte andere Ursachen und Ziele als die Kriege der Römer, und zwar anfangs Zweck, Beute zu machen und später, sich in und bei den römischen Provinzen anzusiedeln. Die archäologischen Spuren von Kämpfen und Schlachten zwischen Germanen und Römern sind in der Regel nicht aufzufinden. Erst in den letzten Jahren sind mehrere fundreiche Plätze archäologisch erforscht worden, die – weil besonders aktuell in der öffentlichen Diskussion – als Schlachtfelder beschrieben werden.2751 Es sind der Fundort zu Füßen des Kalkrieser Berges bei Osnabrück, der als Ort eines Teils der Varusschlacht aus dem Jahr 9 n. Chr. betrachtet wird, der kegelförmige Berg Döttenbichl bei Oberammergau aus der Zeit der römischen Alpenfeldzüge unter Augustus sowie der weiträumig erforschte Ort auf dem Höhenzug Harzhorn bei Northeim zu Ereignissen aus den Jahren 230/235 n. Chr. In diesen Fällen geht es immer um Kriege zwischen römischen Legionen und einheimischen Kriegerverbänden. Ein Schlachtfeld zwischen Kampfverbänden germanischer Krieger ist bisher nicht entdeckt worden, nur indirekt spiegeln die Heeresausrüstungsniederlegungen das Ergebnis einer geschlagenen Schlacht wider.2752 Über den speziellen Charakter dieser Kriege zwischen Germanen und Römern haben Historiker wie Herwig Münkler mehrfach geschrieben, und zwar mit dem Blick auf die Verhältnisse der Gegenwart in weiten Teilen der Welt, nicht nur im Vorderen Orient.2753 Die Kriege wurden nicht als offene Feldschlachten geführt, sondern arbeiteten mit mehreren Hinterhalten, und gingen nicht auf die Kampfesweise des Gegners ein, beispielsweise der römischen Legionen. Heutige Kriege werden jenseits geltenden Rechts von privat finanzierten Armeen geführt, in denen „Warlords“ auf eigene Rechnung plündern, rauben und brandschatzen lassen. Auch die eher populäre Literatur widmet sich diesem Thema.2754
2750 Drinkwater 2007, passim. 2751 Schlachtfeldarchäologie 2011; Brock 2015; Brock, Homann 2011; Fernández-Götz, Roymans (Hrsg.) 2018; Rost 2009; Roymans, Fernández-Götz 2018. 2752 Rau 2011 (2013a). 2753 Münkler 2009; 2013. 2754 Brock 2015; Brock, Homann 2011; Rost 2009. https://doi.org/10.1515/9783110702675-023
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15 Schlachtfelder oder (auch) Opferplätze
Kommen wir noch einmal auf die großen Mooropfer zurück. Die Zahlenverhältnisse zwischen der Qualität der Ausrüstung (Edelmetall, Bronze, Eisen) wird zur Gliederung des Kampfverbandes genommen. Unter einem Anführer stehen beispielsweise acht ranghöhere Krieger und 64 Fußkämpfer. Das sind 73 Mann, was ungefähr einer römischen Centurie entspricht. Das Verhältnis von 1: 8 spiegelt die römische Heeresgliederung, acht Infanteristen bildeten eine Zeltgemeinschaft. Aus eigener Erfahrung kann ich berichten, dass auch moderne Armeen diese Gliederung haben, eine Rotte besteht aus acht Mann. Aber was ereignete sich vor dem Ereignis der Opferung dieser großen Mengen an Waffen anscheinend besiegter Gegner in Seen? Das Aufeinandertreffen der damaligen Heere unterlag sicherlich auch bestimmten Regeln der Kriegsführung, wie etwa der gemeinsamen Wahl des Schlachtfeldes. Es folgten ritualisierte Abläufe oder symbolische Unterwerfungsgesten, auch bei den Kriegen, die niemand notierte.2755 Doch die nachfolgend beschriebenen Kriege und „Schlachten“ fanden nicht auf einem Schlachtfeld statt, sondern waren Kämpfe aus dem Hinterhalt. Als Bemerkung zur Ausrüstung und Bewaffnung der Legionäre füge ich an,2756 dass sich von der Zeit des Augustus bis zur Spätantike – zudem bei einer Dienstzeit von 20 Jahren zusätzlich – allerlei Wandlungen im Rhythmus der Generationen in der Waffenausstattung und Kampfesweise ergeben haben, was bei der Betrachtung und Bewertung der Truppeneinheiten auf germanischer und römischer Seite der „Schlachtfelder“ berücksichtigt werden sollte (vgl. oben S. 661 ff.).
15.1 Das Varus-Schlachtfeld bei Kalkriese Allgemein am bekanntesten ist das Schlachtfeld der Niederlage des Varus gegen Arminius im Jahr 9 n. Chr.,2757 das von Germanicus im Jahr 15 n. Chr. wieder aufgesucht wurde.2758 Die Befunde und Funde werden in einer Serie von Monographien veröffentlicht.2759 Gegenwärtig geht man davon aus, dass nur eine Teilstrecke dieser weiträumigen militärischen Auseinandersetzung zwischen den Kriegerverbänden des Arminius und den drei Legionen des Varus tatsächlich bei Kalkriese im Kreis Bramsche in Niedersachen entdeckt worden sind. Damals wurden durch Arminius und seiner Koalition germanischer Krieger drei römische Legionen unter ihrem Feldherrn Varus vernichtet, also geschätzt 18 000 Legionäre, samt Tross bis
2755 Blankenfeldt, Rau 2009. 2756 Burandt 2019. 2757 Schlüter 1999; Varus-Gesellschaft (Hrsg.) 2017; Moosbauer 2009; Rost, Wilbers-Rost 2012b; Rost, Wilbers-Rost 2015, 43 Abb. 1 Wallanlage mit Knochengruben und Funde unter dem Wallversturz (Stand 2014); Wells 2003. 2758 Schlüter 2018a; Baltrusch, Hegewisch, Meyer, Puschner, Wendt (Hrsg.) 2012; Wiegels (Hrsg.) 2007; Schlüter, Wiegels (Hrsg.) 1999; Wolters 2008; 2017. 2759 Kalkriese 2004; 2007; 2008; 2011; 2012.
15.1 Das Varus-Schlachtfeld bei Kalkriese
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zu 20 000 Mann. Ob dieses Gebiet, wo heute ein Museum steht, tatsächlich Kernstück des Schlachtfeldes oder nur ein Teil der Örtlichkeit des Kampfes war, der sich über viele Kilometer hingezogen haben wird, ist nebensächlich. Entscheidend ist, dass erstmals hier ein Schlachtfeld aus den Kriegen zwischen Römern und Germanen erkannt und untersucht worden ist. Die Germanen – so sagen die einen – haben am Waldrand zu Füßen des Kalkrieser Berges in einer gewellten Linie einen Wall aus Rasensoden errichtet, der Schutz zu Beginn des Angriffs bieten sollte; andere meinen 2017, dass dies der letzte Versuch des Varus gewesen sei, ein Lager zu errichten (Abb. 62), worauf W. Schlüter schon im Beitrag zum RGA im Jahr 2000 hingewiesen hat, und zwar ein etwa 6 ha großes Marschlager.2760 Nach dem Kampfgeschehen verfiel der Wall und bedeckte zahlreiche Waffenteile, die sich von der Ausrüstung der Kämpfer gelöst hatten oder bei der späteren Plünderung von den Waffen abgerissen wurden. Außerdem wurden Gruben mit „verlochten“ menschlichen Skeletten und solchen von Maultieren gefunden. Das Schlachtfeld war nach Beutestücken abgesucht und die Toten vergraben worden, vielleicht diese auch erst nach dem Besuch des Schlachtfeldes durch Germanicus sechs Jahre später. Auffällig ist, dass unter den tausenden Fragmenten von Waffen und Ausrüstung nur Material römischer Herkunft gefunden worden ist, kaum eindeutig germanische Waffenteile. Das hat zum Nachdenken gezwungen, lässt sich aber dadurch erklären, dass die germanischen Krieger des Arminius genau so ausgerüstet waren wie die römischen Legionäre bzw. deren Auxiliartruppen; denn Arminius befehligte Hilfstruppeneinheiten auf römischer Seite, und seine Erhebung wird als Militärrevolte erklärt.2761 Schlachtfelder werden geplündert, die Toten ihrer Waffen und Kleidung beraubt. Seinerzeit wurde den Göttern nach dem Sieg geopfert, Gefangene und Waffen; manchmal wurden auch schon vor dem Kampf die Besiegten samt Waffen den Göttern geweiht. Die Archäologie fragt, wo die erbeuteten Waffen der Besiegten aus der Varus-Niederlage geblieben sind, ob sie geopfert (verbrannt auf Scheiterhaufen oder versenkt und vergraben), in die eigene Ausrüstung übernommen oder in ganz Germanien verkauft und verteilt wurden. Dann könnten sie in anderen Zusammenhängen, z. B. als Grabbeigaben, wieder erscheinen. Doch statt der mehr als 10 000 Gladii der Legionäre des Varus sind bisher nur wenige Kurzschwerter als Beigaben gefunden worden, bei denen es sich zudem um Waffen anderer Herkunft und anderer Datierung handelt (vgl. oben S. 661). Eine Fülle von Berichten zu den Funden und Befunden von diesem Kampfplatz wurden und werden publiziert. Manche umstrittene Interpretation des Platzes bei Kalkriese hat im Verlauf der weitergehenden Ausgrabungen und der fortschreitenden Auswertungen der Funde und Befunde eine Veränderung erfahren.2762 Die Ergebnisse der numismatische Auswer-
2760 Schlüter 2000a, 192; 2011; 2018a, b; 2018b; Ortisi 2017; 2018. 2761 Timpe 1970; 2012. 2762 Derks 2015; Tolksdorf, Elburg, Reuter 2015; auch Derks 2017.
1
35
34
16
3
46 14
Knochengrube
vorgelagerter Graben
Drainagegraben 0m
Römischer Fund
15
2
18
8
21
Grabung
33
22B
22
22A
Prospektion
17
32
22P
22D
22C
6
Pfosten
4
rekonstruierter Wallverlauf
Wallversturz
40
38
41 42
5
50 m
47
20
N
7
19
9 10
11
19A
13
12
29
39
28
27
23
24
25
37
26
31
36
30
44
45
762 15 Schlachtfelder oder (auch) Opferplätze
Abb. 62: Der gekurvte Wall von Kalkriese, wohl der letzte Versuch, noch ein Lager zu bauen, mit allen römischen Funden.
15.1 Das Varus-Schlachtfeld bei Kalkriese
763
tung aller Münzfunde von Kalkriese waren und sind Anlass, das Schlachtfeld nicht mit den Kämpfen gegen Varus 9 n. Chr. zu verbinden, sondern eher mit dem Besuch des Germanicus 16 n. Chr., der dort ein Grabmal für die gefallenen Römer errichtet haben soll, wie die schriftliche Überlieferung sagt, und der ebenfalls in Kämpfe mit Arminius verwickelt war.2763 Ob der Feldzug des Caecina 15 n. Chr. über die pontes longi Richtung Kalkriese stattgefunden hat und ob überhaupt ein Grabhügel errichtet worden ist oder nur ein Kenotaph, den man nicht nachweisen könnte, bleibt eben zu diskutieren.2764 Geklärt ist jedoch noch nicht die Frage, wer eigentlich den wellenförmig verlaufenden Wall errichtet hat. Sorgfältige Analysen der älteren Grabungsbefunde hat Wolfgang Schlüter dazu gebracht, sich für den Bau des Walles am Fuß des Berges durch die Legionäre des Varus als letzten Versuch, ein Lager zu errichten, zu entscheiden.2765 Die Funde vorgeschichtlicher Keramik im Wall belegen zudem, dass hier einst nicht Wald gestanden, sondern eine Siedlung der vorrömischen Eisenzeit bestanden hat. Neue Grabungen auf der gegenüberliegenden Seite zum Moor hin durch D. Salvatore Orsini haben den Gegenpart des Walles nun ebenfalls nachgewiesen. Das Marschlager maß demnach 395 bis 400 m in West-Ost sowie 140 bis 150 m in Süd-Nord-Richtung, war also 5,5 bis 6,3 ha groß und lag direkt auf dem Weg, den die römischen Truppen benutzten. Und danach wurde es von Varus, und nicht etwa von Caecina 15 n. Chr. angelegt. Jüngste Untersuchungen und umfangreichere Grabungen unter erneuter Hinzuziehung von Geologen und Bodenkundlern kommen anscheinend zu dem Ergebnis, dass es einen Wall vielleicht überhaupt nicht gegeben hat – errichtet weder von germanischer noch von römischer Seite. Geologische Erscheinungen und Abläufe können den Befund nur vorgespiegelt haben.2766 Ein erneuter Auswertungsversuch der Knochengruben auf dem Oberesch von Kalkriese führt zu einem Spannungsverhältnis zwischen archäologischem Befund und schriftlicher Überlieferung, was noch nicht recht aufgelöst ist.2767 Schon vor einigen Jahren hat Nils Müller-Scheessel in der Rezension des Bandes Kalkriese 6 von A. Rost und S. Wilbers-Rost die Deutungen des Kampfgeschehens relativiert und wieder auf die frühere These von C. von Carnap-Bornheim hingewiesen, der Opferhandlungen im Fundniederschlag zu erkennen glaubte, eben im Vergleich mit den Heeresausrüstungsopfern im Norden, und den „Oberesch“ als einen sakrosankten Opferort vermutet. Eine sorgfältige Analyse der auffällig unterschiedlichen Fundverteilung von Münzen, Schilden und Pila spricht gegen Kampfgeschehen am Wall.2768 2763 Werz 2016; allg. dazu jetzt Burmeister, Ortisi (Hrsg.) 2018; Wolters 2018 zu den Münzen. 2764 Neldner 2019. 2765 Schlüter 2018a; Kehne 2015. 2766 Ortisi 2018; 2019. 2767 Rost, Wilbers-Rost 2007; 2018. 2768 Müller-Scheessel 2012, 112 f. Abb. 1 und 2.
764
15 Schlachtfelder oder (auch) Opferplätze
Das könnte sich nun dadurch besser erklären lassen, wenn davon ausgegangen wird, dass gar kein Wall existiert hat. Einige Nebenergebnisse sind außerdem anzumerken. Zum einen hat es ältere Gruben gegeben, die von jüngeren aus der Zeit des „Kampfgeschehens“ überdeckt wurden und für eine Besiedlung am Ort sprechen; zum anderen könnte Leichenbrand auf zerstörte Brandgräber hinweisen. Beide Befunde belegen, dass dieses Gebiet nicht in finsterem Wald gelegen hat, sondern in einer normal besiedelten Landschaft (vgl. oben S. 170). W. Schlüter hat dafür ebenfalls die Begründungen geliefert.2769 Es geht um die mögliche Deutung der verschieden verteilten Sachgüter, Waffen und Münzen, am Wall. Gab es also ein Siegesmonument der Germanen, das dann Germanicus später zerstört hat. War also das Schlachtfeld ein sakrosankter Opferort? Die verschiedenen Münzhorte waren keine Verstecke römischer Legionäre, sondern Opfer der germanischen Sieger, so wie auch eine silberbeschlagene Gladiusscheide oder verzierte Militärgürtel,2770 wie C. von Carnap-Bornheim schon vor Jahren für die Münzen zu bedenken gegeben hat. Einige der tiefen Gruben könnten, wie auf der nur wenige Kilometer entfernten Schnippenburg, Opferschächte gewesen sein (vgl. unten S. 766). Im Jahr 2016 sind acht Aurei der Prägejahre 2 v. bis 4/5 n. Chr. (Jahressold eines Legionärs: 150 Denare, gleich 7 Aurei; oder ein Aureus der Monatslohn für eine Familie) gefunden worden.2771 Nun liegen insgesamt 15 Aurei vor. Das wird noch für die weitere Deutung des Platzes wichtig. Münzbestände wurden am Körper getragen, nicht im Marschgepäck, und 100 bis 200 Denare mit Kupfergeld zusammen waren die Barschaft des Legionärs. Im Jahr 2017 ist außerdem wiederum ein Schatz mit über 200 Denaren, also ungefähr dem Jahressold eines Legionärs, bei den Grabungen gefunden worden.2772 Die Münzen sind während der späten Republik geprägt worden, die jüngste Münze ist vom Typ Caius/Lucius aus dem 2. und 1. Jahr v. Chr. Schon 1987 waren 162 Denare, geprägt zwischen 194 v. Chr. bis 2 n. Chr., gefunden in der Nähe des Lutterdamms in Kalkriese, zum Münzbestand hinzugekommen.2773 Die neue Zusammenstellung der Münzfunde in Kalkriese von 2017 gibt einen guten Überblick. Es liegen bisher insgesamt vor: 31 Aurei, 880 Denare, 8 Quinare und 905 Aes-Stücke verschiedener Nominale.2774 Es werden die verschiedenen Nominalsysteme tabellarisch erläutert. Der im Jahr 2017 zutage gekommene Hortfund mit 221 Münzen, darunter ein Aureus und zwei Asses, erweitert den Bestand auch chronologisch.2775 Die jüngsten Prägungen stammen aus dem Jahr 2/1 v. Chr. aus Lugdunum, die älteste Münze ist
2769 Schlüter 2018a; v. Carnap-Bornheim 1999a. 2770 Schlüter 2011, 26. 2771 Archäologie in Deutschland 2016, Heft 5, 4–5; Werz 2017; 2018a; Wiegels 2007; 2016; Ortisi 2017, 49 Abb. 1 Die bei den Grabungen 2016 gefundenen acht Aurei. 2772 Archäologie in Deutschland 2017, Heft 4, 4. 2773 Schlüter 2018b, 27 Abb. 1 Münzschatz von 1987. 2774 Werz 2017, 17 Abb. 4. 2775 Rappe, Fehrs 2017.
15.1 Das Varus-Schlachtfeld bei Kalkriese
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139 v. Chr. geprägt worden, der Aureus um 40 v. Chr. und zeigt den jungen Octavian. Über 1800 Münzen sind in Kalkriese bis 2018 gefunden worden.2776 Die Kartierung dieser Münzen zeigt die Verteilung beiderseits des Walles auf dem Oberesch. Die zahlreichen Münzschätze im Bereich des Schlachtfeldes und in dessen Nachbarschaft in der moorigen Niederung können unterschiedlich gewertet werden. Solche Barschaften gingen nicht zufällig komplett verloren. Vielleicht haben Legionäre in höchster Not noch versucht, ihr Geld zu vergraben, um es später wieder an sich zu nehmen, oder sie haben die Münzen als Opfer niedergelegt. Auch Germanen haben vielleicht die Münzen geopfert, nachdem sie tote Legionäre ausgeplündert und dabei die Börsen gefunden haben. Dann wurde das Schlachtfeld auch zum Opferplatz, eine These, die Claus von Carnap-Bornheim schon früh vertreten hat, zumal einige Münzschätze im Moorbereich entdeckt worden sind, nicht auf dem Areal des Schlachtfeldes.2777 Im benachbarten Kalkriese-Dröge sind in die Siedlungsbefunde mit Langhäusern ebenfalls römische Münzen dokumentiert.2778 Die Kartierungen all der Kleinfunde auf dem Oberesch sind mehrfach zur Interpretation und Rekonstruktion des Kampfgeschehens ausgewertet worden,2779 so auch die Waffen auf dem Schlachtfeld.2780 Unter dem Titel „Triumph als Provokation: Die Verhöhnung des besiegten Gegners“ sind weitere Kartierungen veröffentlicht worden, und zwar zur Verteilung der Waffen (Schienen- und Kettenpanzerfragmente, Schildbeschläge, Helmteile und Gürtelfragmente) beiderseits und unter dem Wall auf dem Oberesch.2781 Das Untersuchungsgebiet Kalkriese mit prospektierten Flächen und allen römischen Funden ist wesentlich größer, als nur das Areal vom Oberesch. Hier geht der Fernweg zwischen dem Großen Moor und dem Kalkrieser Berg durch, zwischen Bramsche und Schwagstorf, und das Kriegsgebiet erstreckt sich vom Fluss Hase im Westen bis zur Hunte im Osten über 30 km2.2782 Wie andernorts geschrieben, führte der Engpass auch nicht durch finsteren Wald, sondern war zum einen ein Fernweg durch alle Zeiten bis in die Moderne, und andererseits befanden sich in dem Bereich während der Jahrzehnte um Chr. dort dörfliche Siedlungen mit Gehöften und Langhäusern,2783 und zwar die Fundstellen als Teil einer Siedlung 105 und 106 (vgl. oben S. 374). Deshalb ist auch zu bedenken, dass einige der römischen Münzen 2776 Rost 2018, 96 f. mit Abb. 13 und 14: Kartierung aller römischen Funde beiderseits des Walles, auch der Münzen. 2777 v. Carnap-Bornheim 1999a; 2002b. 2778 Rost 2018, 103 Abb. 23. 2779 Rost, Wilbers-Rost 2012a; Müller-Scheessel 2012. 2780 Rost, Wilbers-Rost 2010. 2781 Rost, Wilbers-Rost 2014; auch wieder Rost, Wilbers-Rost 2015/2016; 2018. 2782 Rost, Wilbers-Rost 2012b, 164 Abb. 1, auch mit dem abweichenden Fluchtweg über das Große Moor. 2783 Harnecker 2009; Harnecker, Lienemann-Tolksdorf 2004; Hegewisch 2012, 191 Abb. 9; noch 2020 wird von regendurchnässtem deutschen Herbstwald gsprochen, in dem die Schlacht stattgefunden hätte: Geschwinde 2020, 21.
766
15 Schlachtfelder oder (auch) Opferplätze
nichts unmittelbar mit dem Kampfgeschehen zu tun haben müssen, sondern kurz zuvor oder bald danach in die Erde kamen; denn der Fernweg wurde weiter benutzt und sicherlich nicht etwa deshalb gemieden, weil hier ein Kampf stattgefunden hatte. Nach den Kämpfen erfolgte die Plünderung des Schlachtfeldes und eine Beuteschau am Wall wurde inszeniert. So fragt Wolfgang Schlüter, ob die Beuteschau eine kultische Deponierung war, und wurde der Platz damit ein sakrosankter Ort. Er vergleicht die Befunde mit den Opfergruben auf der Schnippenburg in nur 5 km Entfernung, wo jedoch die Opfer ins 3. Jahrhundert v. Chr. gehören. Die zahlreichen Münzschatzfunde im näheren und weiteren Umfeld waren keineswegs Verwahrfunde geflüchteter römischer Legionäre, sondern am ehesten – wie gerade geschildert – Opferniederlegungen der siegreichen Germanen. Beim Wiederbesuch des Platzes ließ Germanicus das germanische Siegedenkmal abbauen und die größeren Waffen wie Helme, Panzer, Schwerter und Dolche abtransportieren, um damit die Spuren der Niederlage zu beseitigen. Späteres Ziel war auch, die drei Legionsadler des Varus, die aufgrund dieser Niederlage verlorengegangen waren, zurück zu bekommen, was 15 und 16 n. Chr. und schließlich 40/41 n. Chr. auch gelungen ist.2784 Diese Rückgewinnung eines Legionsadlers durch Germanicus ist auch auf Münzen abgebildet.2785 Auffällig ist, dass ein Großteil der Kalkrieser Funde absichtlich zerstört worden ist, Bleche wurden zusammengefaltet, das Silber von der Gesichtsmaske abgerissen.2786 Daher sind von den Zehntausenden an Gladii oder auch von den vielen Helmen keine in den germanischen Siedlungen und Gräbern (als Beigaben) aufgetaucht; denn sie waren von den siegreichen Germanen am Schlachtort belassen und erst von Germanicus dann abtransportiert worden. Die in die Hunderte und Tausende gehenden Waffen in den späteren großen Heeresausrüstungsopfern in dänischen Mooren (siehe oben S. 706) wurden ebenfalls nicht wiederverwendet, sondern als Opfer versenkt und mehrheitlich zuvor mutwillig beschädigt. Nach der Niederlage des Varus im Jahr 9 n. Chr. haben also – wie der antiken Überlieferung zu entnehmen ist – die siegreichen Germanen ein Siegesdenkmal, im römischen Sinne ein Tropaeum errichtet. Am Rasensodenwall wurden die Waffen der besiegten Römer aufgestapelt, gefangene Offiziere an die Bäume genagelt und erbeutete Münzbestände, auch Goldmünzen (Aurei), geopfert. Im Jahr 15 n. Chr. suchte Germanicus, der neue Oberbefehlshaber der römischen Legionen in Germanien, das Schlachtfeld wieder auf, ließ dann, so heißt es in den Quellen, die Gebeine der Gefallenen bestatten und räumte das Siegesmal der Germanen ab, d. h. er nahm die noch vorhandenen Waffen und Ausrüstungen mit.2787 2784 Schlüter 2018a, 32; Burmeister, Kehne 2015, 63–65; Derks 2015, 43. 2785 Klages 2007, 231 Abb. 175. 2786 Derks, Burmeister 2016. 2787 Dazu Burmeister, Kehne 2015; Burmeister, Rottmann (Hrsg.) 2015; Burmeister, Ortisi (Hrsg.) 2018, darin Wiegels 2018b.
15.1 Das Varus-Schlachtfeld bei Kalkriese
767
Die Diskussion darüber, ob es sich um das Varus-Schlachtfeld handelt oder erst um die Ereignisse unter Germanicus, führt 2018 zur neuen Betrachtung der Münzen. Es wird gefragt: Gibt es einen „Germanicus-Horizont“ im Fundmünzenaufkommen?2788 Neue Gedanken gibt es in diesem Kontext zu Waldgirmes (vgl. S. 1090), Haltern und Kalkriese,2789 wie sind die spätesten Kontermarken auf den Buntmetallmünzen zwischen Varus und Germanicus zu bewerten.2790 Zur Illustration, um auch zu verstehen, was bei den Heeresausrüstungsopfern im Ostseegebiet alles geschehen sein könnte, zitiere ich einige Berichte aus den antiken Schriftquellen, wie mit den besiegten Legionären des Varus verfahren wurde. Bei Florus (Anfang des 2. Jahrhunderts n. Chr.) (2, 30, 37/38) heißt es:2791 Manchen (stachen) sie die Augen (aus), anderen schnitten sie die Hände ab, einem nähten sie den Mund zusammen, nachdem sie ihm zuvor die Zunge abgeschnitten hatten, die ein Barbar in der Hand hielt und dabei sagte: ‚Endlich, Natter, hast du aufgehört zu zischen‘. Sogar den Leichnam des Konsuls, den die Soldaten in ihrem Pflichtgefühl bestattet hatten, wurde ausgegraben. Noch heute besitzen die Barbaren Feldzeichen und zwei Adler (signa et aquilas duas), den dritten riss der Bannerträger los, bevor er in die Hände der Feinde fiel, trug ihn verborgen unter seinem Wehrgehenk und versank damit im blutigen Sumpf. (37. Aliis oculos, aliis manus amputabant, unius os sutum, recisa prius lingua, quam in manu tenens barbarus ‚tandem‘, ait, ‚uipera, sibilare desisti.‘ 38. Ipsius quoque consulis corpus, quod militum pietas humi abdiderat, effossum. Signa et aquilas duas adhuc barbari possident, tertiam signi fer, prius quam in manus hostium ueniret, euolsit mersamque intra baltei sui latebras gerens in cruenta palude sic latuit.)
Zu den Legionsadlern gibt es auch Berichte bei Tacitus (55–120 n. Chr.) (Annalen I, 59, 3; I, 60, 3; II, 25, 2). Frontin (Ende 1. Jahrhundert – Mitte 2. Jahrhundert) schreibt in den Strategemata (2, 9, 4):2792 Der Germanenführer Arminius ließ in ähnlicher Weise die Köpfe derer, die er getötet hatte, aufspießen und vor den Wall der Feinde bringen. (Arminius dux Germanorum capita eorum, quos occiderat, similiter praefixa ad uallum hostium admoueri iussit.)
Die schriftlichen römischen Quellen erzählen so detailliert, dass eigentlich Augenzeugen entkommen und später dann berichtet haben müssten; denn als Germanicus wieder auf dem Schlachtfeld erschien, waren so viele Jahre vergangen, dass diese Einzelheiten keineswegs mehr erkennbar waren.
2788 Werz 2018b. 2789 Wigg-Wolf 2018. 2790 R. Wolters 2018. 2791 Goetz, Welwei 1995, 52 f. 2792 Goetz, Welwei 1995, 64 f.
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15 Schlachtfelder oder (auch) Opferplätze
Hier schließe ich an, dass im Gegensatz zu den sonstigen antiken Schilderungen vom Schlachtgeschehen in dunklen Wäldern und Sümpfen bei strömendem Regen bei Cassius Dio als einzigem keine Sümpfe erwähnt werden,2793 aber durchaus schwer passierbare Waldgebiete und Gebirge voller Schluchten, was aber ebenfalls nicht zutrifft. Die schriftlichen Quellen und Überlieferungen zur Varus-Schlacht sind in mehreren Monographien der Althistoriker neu dargestellt und ausgewertet worden, nicht nur in den Ausstellungs-Katalogen zum Erinnerungsjahr an 9 n. Chr. im Jahr 2009. Ich nenne die Monographien von Wiegels, Woesler (Hrsg.) 1995, von R.-P. Märtin 2008; von M. Sommer 2009, von G. Moosbauer 2010, von R. Wolters 2008/2017 und von R. Wiegels 2018.2794 Bemerkenswert ist, dass nur M. Sommer seine Publikation „Arminiusschlacht“ nennt, während alle anderen Autoren im Sinne der antiken Überlieferung von Varus-Schlacht sprechen (clades Variana). Der Kopf des Varus und dessen weiteres Schicksal haben auch Archäologen beschäftigt, obgleich darüber nur aus der Schriftüberlieferung etwas zu erfahren ist.2795 Anhand von nur wenigen Funden in germanischen Siedlungen hat E. Cosack versucht nachzuweisen, dass zwischen den römischen Einheiten und ihren Militärlagern sowie den Cheruskern nicht nur eine enge Beziehungen bestanden hat, sondern dass tatsächlich eine cheruskische Auxiliareinheit im Lager Haltern stationiert war.2796 Genuin römische Kochtöpfe aus zerbrechlicher Keramik sind der Hinweis, die in den Standlagern in größeren Zahlen hergestellt und verwendet wurden, aber nicht beim Marsch wegen ihrer Empfindlichkeit transportiert werden konnten und stattdessen metallene Kochgefäße gewählt wurden. In drei germanischen Siedlungen bzw. den zugehörigen Scheiterhaufengräberfeldern von Mehle bei Hildesheim, Lemgo bei Detmold und Kirchlengern bei Herford wurden diese römischen Kochtöpfe aber entdeckt, im Nordwesten des möglichen cheruskischen Siedlungsgebietes. Während dieser frühen Phase, als das Gebiet schon wie eine römische Provinz betrachtet wurde,2797 hatte in gewissem Grade die Romanisierung (vgl. S. 1032) hier begonnen. Auf Arminius als „erstem Deutschen“ und zum deutschen Mythos im 19. und 20. Jahrhundert werde ich in diesem Buch nicht weiter eingehen.2798 Auch in den Nachbarländern Frankreich und England hat der Arminius-Hermann-Mythos eine Rolle gespielt.2799 Nicht zu übersehen ist, dass bis in die Gegenwart die Deutschen
2793 Nach Zerjadtke 2018, 16 und 20: Cassius Dio 56, 18, 1–24,5 bzw. 56, 20, 1. 2794 Wiegels, Woesler (Hrsg.) 1995; Märtin 2008; M. Sommer 2009; Moosbauer 2010; R. Wolters 2017; Wiegels 2018. 2795 Salač, v. Carnap-Bornheim 2009. 2796 Cosack 2014b, 149 Abb. 9 Karte. 2797 Eck 2009. 2798 Puschner 2012; J. Roth 2011; Sénécheau 2015; Kehne 2009b; auch Steuer 2004e. 2799 De Gemeaux 2012; Holsten 2012, mit Gedichten und Dichtungen in englischer Sprache.
15.3 Auf dem Harzhorn bei Northeim
769
als unmittelbare Nachfolger der Germanen betrachtet werden – ein weiterlebender Topos –, dass auch die Geschichtswissenschaft erst im Mittelalter, dem 9. und 10. Jahrhundert von den Deutschen spricht (vgl. auch S. 78 ff.).2800
15.2 Der Döttenbichl bei Oberammergau Beim Varus-Schlachtfeld 9 n. Chr. im Mittelgebirgsbereich erstreckte sich die feuchte Niederung neben dem Fernweg zu Füssen des Kalkrieser Berges, in der Opfergaben versenkt werden konnten. Mit dem Döttenbichl im Alpenvorland aus der Zeit des Augustus wählte man einen weithin sichtbaren Berggipfel als Platz für die Niederlegung von römischen Waffen und Gerätschaften aus (vgl. ausführlich oben S. 621).2801 Die erste These durch W. Zanier um 2002 sprach eindeutig nur von einem Opferplatz.2802 Nach der Entdeckung des Fundplatzes auf dem Harzhorn bei Northeim in Niedersachsen und die Deutung als Schlachtfeld des frühen 3. Jahrhunderts, wo Germanen gegen römische Einheiten unter Kaiser Maximinus um 235 n. Chr. verlustreich gekämpft haben sollen, konnte sich der Ausgräber des Döttenbichls nicht recht entscheiden und sprach in einem Hin und Her sowohl von einem Opferplatz der einheimischen Bevölkerung als auch von einem Schlachtfeld von Römern gegen Germanen.2803 Im Abschnitt „Opferplätze“ ist ausführlich der Befund auf dem Döttenbichl beschrieben worden (oben vgl. S. 621–628).
15.3 Auf dem Harzhorn bei Northeim Die jüngere Ansammlung von römischen Waffen aus dem frühen 3. Jahrhundert auf dem Höhenrücken von Harzhorn, gegenwärtig also als Schlachtort gedeutet, könnte ebenfalls als spezieller Ort für die mehrfache Niederlegung andernorts gemachter Beute entstanden sein (vgl. oben S. 621) (Abb. 63.1 und 2).2804 Ähnlich wie bei den Mooropferplätzen in Jütland sind mehrere getrennte Gruppierungen von Waffen festgestellt worden, die als Ergebnis verschiedener Kampfereignisse gesehen werden, aber ebenso auch unterschiedliche Opferhandlungen spiegeln können. Es gibt noch weitere Gründe für eine solche These gegen ein Schlachtfeld und für einen Opferplatz. Dass sowohl in Kalkriese als auch am Harzhorn kaum „germanische“ Waffen oder Sachgüter gefunden worden sind, vielmehr fast ausschließlich römi2800 Diskussion bei Münkler 2009; Borchmeyer 2017; Demandt 2007a. 2801 Zanier et al. 2016; Zanier 2016. 2802 Zanier 2002. 2803 Zanier 2016 (2017). 2804 Pöppelmann, Deppmeyer, Steinmetz (Hrsg,) 2013, 63 Abb. 5 oder 297 Abb. 2; Moosbauer 2018, 98 Abb. 16; Lönne Buberti 2016; jetzt auch Geschwinde, Lönne, Meyer 2018, Abb. 5 oder 297 Abb. 2.
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15 Schlachtfelder oder (auch) Opferplätze
1
2 Abb. 63: Gesamtplan von Harzhorn. 1. Schussrichtungen der Katapulte. 2. Fundstreuungen.
15.3 Auf dem Harzhorn bei Northeim
771
sche Waffen, ist nicht verwunderlich, da auch die Kriegerverbände in Germanien – nicht nur, wenn sie zuvor als Einheiten im römischen Heer gedient haben – überwiegend mit Waffen römischer Herkunft ausgerüstet waren. Erinnert sei daran, dass in den dänischen Mooren ein Großteil der Schwertklingen römische Produktionen gewesen sind, vielfach aber mit Griffen im einheimischen Stil versehen worden waren. Die Ansammlungen fast ausschließlich römischer Waffen am Harzhorn im frühen 3. Jahrhundert müssen daher nicht unbedingt die Reste eines Schlachtfeldes sein, sondern sie sind als Opfer niedergelegte, dem allgemeinen Weiterbenutzen entzogenen Ausrüstungsteile römischer Einheiten. So wie die Sieger in Jütland die Waffen der besiegten Gegner in das Wasser geworfen haben, können die Sieger im Leinetal die Pfeile mit den Katapulten bergauf geschossen haben, um sie auf diese Weise zu opfern. Auffällig ist zudem, dass die Pfeile, deren Flugrichtung aufgrund der noch im Boden steckenden Geschosse zu erschliessen war, nicht nach dem Kampf wieder herausgezogen wurden, da man die Schäfte noch sehen konnte. Sondern man ließ sie im Berg stecken, um sie eben nicht wieder zu verwenden (so wie man die Schwerter und Lanzen in den Mooropfern auch nicht wiederverwenden wollte). Neben einigen Münzen ist vor allem eine Dolabra2805 mit der Inschrift der entscheidende Beleg für die Datierung der Schlacht, weil die Legion der Zeit des Maximinus Thrax genannt wird, die aus dem Osten durchaus nach Germanien verlegt worden sein kann. Doch die Dolabra vom Harzhorn ist keineswegs der eindeutige Hinweis auf die Anwesenheit von diesen römischen Legionären am Harzhorn. In der germanischen Siedlung Elsfleth-Hogenkamp fern an der Weser wurde ebenfalls ein solches Stück gefunden,2806 und mehrere sind im Lager und Kultplatz von Hedemünden südlich von Göttingen dokumentiert (vgl. S. 781). Und auch eine PilumSpitze lag in einem germanischen Kindergrab in Wechmar, Ldkr. Gotha, Grab 217. Der Einsatz des Pilum eignete sich im Übrigen nur in geschlossener Formation, kaum bei einem Kampf, wie er für Harzhorn beschrieben wird, von dem aber immerhin zehn Exemplare hier gefunden wurden. Sie waren noch geschäftet und hätten leicht geborgen werden können. Vom Harzhorn wurden einige der wenigen Waffen germanischen Ursprungs untersucht, 37 Militaria, zumeist Lanzenspitzen aus Eisen mit leichten Nickel- und Kupfergehalten. Ausgangsmetalle waren Bergerze sowie recyceltes Material. Einige als germanisch angesprochene Lanzenspitzen sind mit derartigen Messingeinlagen verziert, wobei die Qualität des Messings die Bearbeiter erstaunt hat und dieses als römisch gewertet wird.2807 Entweder waren es doch auch römische Waffen, oder sie wurden in römischer Manier bzw. aus römischen Legierungen von römischen Handwerkern für germanische Krieger angefertigt.
2805 Wiegels, Moosbauer, M. Meyer, Lönne, Geschwinde 2011. 2806 Mückenberger u. a. 2013; Geschwinde 2020, 19. 2807 Lehmann, Merkle, Avraam 2018, 84 f. mit Abb. 17 und 18.
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Münzen sind noch recht selten am Harzhorn geborgen worden.2808 F. Berger wertet sie aus mit Blick auf den Münzausstoß der Jahre 40 bis 260 und der Entwertung der römischen Silberwährung. Aufgrund der Funde von datierbaren Münzen (insgesamt sind es nur 16 Münzen mit dem jüngsten Prägedatum 225 n. Chr.) und der Dolabra, einer Pionieraxt, mit der eingeschriebenen, aber leicht unvollständigen Inschrift LEG IIII (mögliche Ergänzung Flavia Felix), kommt man also jahrgenau auf Maximinus Thrax und seinen vergessenen Feldzug. Die Suche in der schriftlichen Überlieferung wurde fündig; man stieß auf einen Feldzug, den man bisher nur in Rheinnähe vermutet hat und der nicht so weit, 250 km in „Feindesland“, ins Innere Germaniens geführt hätte, bis zu einem Platz Harzhorn im südlichen Niedersachsen. Es gibt Münzen des Kaisers mit der Inschrift VICTORIA GERMANICA (Germanenbesieger). Nach der Entdeckung 2008 wurden etwa 2700 Sachgüter geborgen, von römischen Schuhnägeln über Speer- und Pfeilspitzen sowie Katapultgeschosse von Torsionsgeschützen bis zu Äxten und Kettenhemdstücken. Auch Karrenresten wurden sorgfältig ausgegraben und eingemessen. Was soll also am Harzhorn geschehen sein? Längerdauernde Kämpfe oder Opferniederlegungen.2809 Bei sichtlich weit voneinander entfernten Landschaften ist im Übrigen kaum davon auszugehen, dass Opferhandlungen gleichartig gewesen sind; vielmehr ist an lokale Varianten zu denken. Das war auch bei den verschiedenen jütländischen Heeresausrüstungsopfern so. Man muss davon ausgehen, dass Schlachtfelder und Opferplätze grundsätzlich verschieden sind. Überliefert ist, dass die siegreichen Verbände nicht nur die Beute vom Schlachtfeld unter sich verteilten, sondern dass auch die Waffen und Sachgüter der besiegten Krieger und diese selbst als Opfer behandelt wurden. Auf dem Schlachtfeld des Varus wurden die besiegten Offiziere getötet und ihre Schädel an Bäume genagelt. Unter den Befunden bei Kalkriese gibt es Münzkollektionen und wertvolle Tascheninhalte, die von flüchtenden Römern im Moor verloren gegangen sein sollen, wie eine Deutung meint, während eine andere diese Objekte als von siegreichen Germanen abgelegt und damit wohl als Opfer gewertet werden. Die vermutliche Marschroute der römischen Legionen 235 n. Chr. ins Innere Germaniens bis an die Elbe und den Rückweg über Harzhorn an der Leine skizziert G. Avraam; der Marschweg führte durch das Gebiet der Hermunduren und der Sueben und zurück.2810 G. Moosbauer vertritt eindeutig die These vom Schlachtfeld, so wie die meisten Archäologen.2811 Er bietet deshalb dazu ausführlich eine Geschichte der Germanenkriege seit dem 2. Jahrhundert und erläutert das Scheitern der römischen Germanenpolitik. Der Feldzug 234/235 zeigt nun, dass Rom immer noch weiter nach
2808 Berger 2013, 286 Abb. 1 Münzausstoß, Abb. 2 Entwertung der Silberwährung; R. Wolters 2013a: Zu den Münzen vom Harzhorn. 2809 Callies 2012. 2810 Avraam 2018, 207Abb. 2. 2811 Moosbauer 2018.
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Osten nach Germanien vordringen wollte und konnte, als man bisher vermutet hat.2812 Es gab die Zwänge, unter denen das Grenzregime am Limes stand, weil Truppen nach Südosten und in den Orient verschoben werden mussten. Daher sei Harzhorn gewissermaßen ein Präludium für den epischen Untergang des weströmischen Reichs. Bei Harzhorner Ereignissen ist nicht eindeutig zu erkennen, wer eigentlich wen angegriffen hat, wenn tatsächlich Truppen über den Kamm der Harzhorner Berge marschiert sein sollen (vgl. Abb. 63.2).2813 Erste Funde auf dem Berg wurden von Metalldetektor-Sucher im Jahr 2000 gemacht, und 2008 setzten dann systematische Forschungen durch die Archäologie ein. Die sorgfältige Auswertung der Fundlagen von Katapultstandorten und vor allem der Streuung der Geschosse beschreibt Truppen auf dem Kamm, die vom Hang aus, also von unten nach oben beschossen worden sind, d. h. auf dem Kammweg müssten germanische Krieger marschiert sein, die von römischen Legionären mit Katapulten angegriffen worden sind. Anders heißt es, dass Germanen die römischen Einheiten auf ihrem Marsch aus dem Hinterhalt angegriffen hätten. Nachzufragen ist zudem, ob Hang und Kamm seinerzeit entwaldet, also offen und weithin sichtbar waren oder ob die Kämpfe in einem Wald – ähnlich dem heutigen – stattgefunden haben. Handelt es sich tatsächlich um ein Schlachtfeld, dann ist – wie gesagt – zu fragen, warum später nach Abzug der römischen Legionäre und auch der germanischen Krieger die verbliebenen Waffen nicht an sich genommen wurden. Wie beim Engpass des Varus-Schlachtfeldes zwischen dem Kalkrieser Berg und dem Großen Moor handelt es sich beim Harzhorn ebenfalls um eine natürliche Engstelle für einen Fernweg. Der Engpass zu Füßen des Harzhorn und auch beim nahegelegenen Kahlberg ist nur 300 m breit, und hier führen heute die Bundesautobahn 7, die Bundestraße B 3 und zuvor die 1780 gebaute Chaussee hindurch.2814 Warum Römer aus unterlegener Position vom Hang eine marschierende Truppe oder Krieger, die sich dort festgesetzt hatten, angegriffen haben sollen, ist kaum zu erklären. Aus einer klar ungünstigen Situation heraus anzugreifen, die nicht unbedingt ausgewählt worden sein müsste, war nicht nötig, da es in der Nähe geeignete geographischen Situationen gegeben hat. Erst recht ist eigentlich erstaunlich, dass überhaupt der Kamm des Harzhorns als Marschweg betrachtet wird; denn die reguläre seit je bestehende Wegeführung verlief am Fuße des Berges im Tal zwischen Berg und feuchter Niederung durch einen schmalen Korridor. „Überregional betrachtet liegt die Fundstelle an einem Engpass, durch den die Hauptverkehrslinie von Norddeutschland über das Leinetal und die hessische Senke in die Wetterau führt“.2815 Warum sollten marschierende Einheiten 2812 Zum Feldzug 235 schon lange vor den Entdeckungen am Harzhorn: Lippold 1984. 2813 Lönne, Buberti 2016; Pöppelmann, Deppmeyer, Steinmetz (Hrsg.) 2013; Römer und Germanen im Kloster Brunshausen 2016; Moosbauer 2018. 2814 Geschwinde, Lönne, Meyer, in: Bewegte Zeiten 2018, 287. 2815 Berger u. a. 2010 (2013), 315.
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von einer normalen Wegetrasse auf einen Kamm hinaufsteigen, um dann auf diesem weiter zu marschieren. Als weiteres Szenario kann man sich vorstellen, dass einheimische Krieger andernorts erbeutete Katapulte – die sie nach Erfahrung in der römischen Armee – und die dazu gehörenden Geschosse gewissermaßen auf den Berg hinaufgeschossen haben, um die Waffen auf diese Weise kultisch niederzulegen, zu opfern. In der Regel wurden Katapulte von römischen Einheiten bei Belagerungen, aber kaum auf dem Marsch in ungünstigen Geländen eingesetzt.2816 Es heißt, Germanen führten einen Überfall auf den Tross der römischen Armee aus, von einer Truppe, die zahlenmäßig und ausrüstungstechnisch unterlegen gewesen sei.2817 Ein kilometerlanger römischer Heerwurm aus Fußsoldaten, Reitern, Sklaven, Vieh, Versorgungskarren, Torsionsgeschützen wäre auf dem Bergkamm entlang gezogen, nachdem die normale Wegeführung am Fuß des Berges durch Germanen gesperrt worden war.2818 Im Gegensatz zum dünn besiedelten Harzrand in der Region um Hannover, Hildesheim und Braunschweig gab es hier aber zahlreiche germanische weilerartige Ansiedlungen, beispielsweise die Siedlung bei Bielefeld-Sieker des 2. bis 5. Jahrhunderts.2819 Die ins Innere Germaniens vorgestoßene römische Armee hätte zwischen 10 000 und 25 000 Bewaffnete umfasst, gegen die der germanische Gegner aus dem Hinterhalt angegriffen haben soll, sicherlich in wesentlich geringerer Mannschaftsstärke. Harzhorn bringt nicht die Relikte von einer Schlacht, sondern von einem Überfall während des Marsches. Der Kampfplatz war 2 km lang und mehrere hundert Meter breit. Die Römer marschierten in Richtung Süden (abgelesen an der Verteilung der Sandalennägel). Die Einschläge der römischen Geschosse markieren die germanischen Stellungen, entlang des Hauptkammes. Es waren mindestens 1000 römische Kämpfer, aber auch 10 000 seien möglich, so die Ausgräber; doch neben den vielen römischen Funden gibt es kaum germanische Sachen. Thomas Brock meint denn auch: „Weshalb die Römer nicht den üblichen Weg durch den Pass nahmen, ob Germanen diesen verstellt hatten und sie deshalb auf die Hänge auswichen, ist unklar. Zwar lässt sich das Geschehen auf römischer Seite einigermaßen rekonstruieren, dasjenige auf germanischer Seite bleibt jedoch weitgehend im Dunkeln“.2820 Eine Zusammenfassung zu den Ereignissen vor der Schlacht am Harzhorn mit den weiten Marschwegen und dem Kampfgeschehen, wiederholend abzulesen an der erschlossenen Richtung der Geschosse, vor allem der Torsionsgeschütze, erlaubt immer noch nicht, auch bei mir die Zweifel auszuräumen, ob es sich tatsächlich um eine Schlacht gehandelt hat oder ob nicht doch das Ganze ein Opferplatzgelände gewesen sein könnte.2821 Ich habe 2816 Baatz 1966; 2007; Koehn, Simonis, Wallschlag 2012. 2817 Pöppelmann u. a. (Hrsg.) 2013. 2818 Geschwinde, Lönne 2015. 2819 Nüsse 2013,132. 2820 Brock, Homann 2011. 2821 Avraam 2018, 209 Abb. 4.
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zitiert, dass in der schriftlichen Überlieferung mehrfach geschildert wird, wie Germanen nach dem Kampfgeschehen die Waffen der besiegten Gegner – zuvor den Göttern geweiht – geopfert hätten, so wie in den jütländischen Mooren. Hier hat man stattdessen wie beim Döttenbichl eine Höhe gewählt, um an verschiedenen Stellen Opferniederlegungen zu organisieren. Vielleicht waren überhaupt keine Römer beteiligt gewesen, sondern diese Opferplätze sind ein Spiegel innergermanischer Kriege wie sie zu derselben Zeit für weite Teile Germaniens, nicht nur in Jütland, nachgewiesen sind. Aus dem Rahmen fallen tatsächlich an diesem Platz die zahlreichen Geschosse von Torsionsgeschützen. Diese wurden nachgebaut, und man experimentierte damit, schon für das Museum in Kalkriese.2822 In einem Beitrag mit dem Titel „Der leise Tod. Das Imperium Romanum und die asymmetrische Kriegsführung“ wird darüber berichtet;2823 aber gerade solche Geschütze haben im Bereich asymmetrischer Kriegsführung eigentlich keine überzeugende Funktion. Die Reiter Roms an Germaniens Grenzen im frühen 3. Jahrhundert werden von R. Wiegels zur zusätzlichen Begründung der Ereignisse am Harzhorn herangezogen.2824 Die Taktik im Alltag asymmetrischer Kriegsführung hat M. Geschwinde ebenfalls zur weiteren Vertiefung der Geschehnisse erörtert.2825 Die Soldaten des Maximinus Thrax, die Einheiten und ihre Bewaffnung beschreibt Th. Fischer,2826 die Helme, Schienenpanzer, Beinschienen, Schilde und Schwerter. Der Gladius war schon längst außer Gebrauch,2827 auch Infanteristen trugen wie die Reiterei das (germanisch beeinflusste) Langschwert, die Spatha, außerdem Dolche, Stangenwaffen, also Speere und Lanzen. Die beteiligte Gruppe bei der Erforschung der Befunde vom Harzhorn aus dem Jahr 235 soll noch einmal hier mit ihrem Beitrag aus dem Jahr 2018 in der Berliner Ausstellung „Bewegte Zeiten“ zu Worte kommen.2828 Zeitlich parallel dazu ist 2018 eine kleine Monographie zur Schlacht am Harzhorn erschienen. In diesen beiden Veröffentlichungen werden die Deutungen differenzierter und zurückhaltender vorgetragen. Man geht von anderen Schlachtfeldern aus. Im Jahr 251 wurde der römische Kaiser Decius bei Abritus (im heutigen Bulgarien) von den Goten in ein Sumpfgebiet gelockt und verlor die Schlacht und sein Leben. Die Befunde dort sind stark von Raubgräbern gestört worden.2829 Auf dieses „Schlachtfeld“ gehe ich später auch noch ein (vgl. S. 783). Als nächstes wird der Döttenbichl genannt, den sie deuten als Erstürmung eines indigenen Heiligtums durch römische Legionäre im Zusammen-
2822 Koehn, Simonis, Wallschlag 2012; Altmann, Schäfer 2017. 2823 Koehn, Erkelenz 2014; Moosbauer 2013. 2824 Wiegels 2013. 2825 Geschwinde 2014. 2826 Th. Fischer 2013b, 201 Abb. 1 Rahmenschnallengürtel aus teilvergoldetem Silber. 2827 Th. Fischer 2013b, 204. 2828 Geschwinde, Lönne, M. Meyer 2018; Bewegte Zeiten 2018. 2829 Radoslava, Dzanev, Nikolov 2011.
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hang mit dem Alpenfeldzug im Jahr 15 v. Chr., um dann zum Harzhorn zu wechseln: Entdeckt 2008 wurden über 1000 Funde in dem zwei bzw. mehrere Quadratkilometer großen Waldgebiet mit Hilfe der Metalldetektoren und bei sorgfältigen Ausgrabungen geborgen. Nach Meinung der Autoren war es ein germanischer Überfall auf eine römische Marschkolonne, keine Schlacht, sondern nur ein Gefecht. Römische Anwesenheit wird anhand der Hipposandalen für Maultiere als bewiesen betrachtet, da diese nie von Germanen für die Tiere verwendet wurden, weder Maultiere noch Hipposandalen. Aber, so frage ich, woher weiß man das denn so genau, wenn germanische Kriegereinheiten weitgehend römisch ausgerüstet waren. Römische Waffen waren im Kampf beschädigt worden, verbogene Pila und Lanzenspitzen sowie die Projektile der Katapulte. Aber, so gebe ich zu bedenken, wenn mit Katapulten bei einem Opfervorgang diese Pfeile in den Berg geschossen wurden, dann wurden sie auch verbogen. Im Tross, der über den Nachbarberg gezogen sein soll, wurden weitere Hipposandalen, Maultierschirrungen, Wagenteile, Werkzeuge, Geräte einer Feldschmiede, Teile einer Schusterwerkstatt, Getreidemühlen, zwei Stechzirkel und ein Tintenfass-Deckel gefunden. Aber, so weise ich darauf hin, auch derartige nichtmilitärischen Sachgüter wurden in den Heeresausrüstungsopfern in Jütland geborgen. Zur Datierung tragen bei Münzen des Commodus 180 und die spätesten Münzen des Severus Alexander, geprägt zwischen 225 und 228. Ein weiterer römischer Feldzug nach Germanien führte unter Caracalla 213 in die Gebiete nördlich der oberen Donau, der vielleicht nur ein Prestigeunternehmen war, um den Titel Germanicus maximus zu bekommen. Kaiser Maximinus Thrax zog mit seinen Legionen 235 bis zu 500 Meilen weit in Feindesland, wie eine neue Interpretation alter Schriftüberlieferung (nach der Entdeckung von Harzhorn) zu beweisen scheint. Als Ziel des Ganzen, der Sinn, war wie bei Caracalla nicht der Versuch, eine Provinz zu erobern, erklärt mit dem alten Topos, dass „das vergleichsweise arme Germanien für Rom nur geringe wirtschaftliche Attraktivität“ besitzen würde. Alle 25 Jahre sei eine Strafexpedition nach Germanien üblich gewesen, jede Generation der germanischen Krieger sollte Roms militärisches Potenzial erkennen. So hat das auch J. F. Drinkwater 2007 ausführlich begründet. Die Engstelle am Westrand des Harzes, durch die noch heute die Bundesautobahn, die Bundestraße B3 und die 1780 erbaute Chaussee von Göttingen nach Braunschweig führte, war nur ein 300 m breiter Korridor (vgl. oben S. 773), und hier bereiteten Germanen den Hinterhalt vor. Sie sperrten den Durchgang und attackierten später auf dem Berg den Tross der Römer, die dorthin ausgewichen waren, wie paarweise gefundene Achsnägel zweirädriger Karren mit Maultierschirrung am Nordhang des Harzhorns belegen würden; ein Karren rutschte über die Hangkante ab (kurios, sagt man selbst), und die Sachen waren dann über 70 m weit verstreut worden. Gründlicher widmete man sich dann dem Problem der Schuhnägel, die früher ohne Zweifel als Beleg für die Marschwege römischer Soldaten genutzt wurden. Aber heute wird man vorsichtiger, weil zwar Römer, aber auch Germanen Schuhe mit solchen Nägeln getragen haben, die zudem bis in die Neuzeit vorkommen. Auf dem Harzhorn haben
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beispielsweise Arbeiter in den Mergelgruben des 19. Jahrhunderts solche Schuhe mit Nägeln getragen. Zu beachten ist also, dass die Autoren den „römischen“ Schuhnägeln also nicht mehr die Aussagekraft zum Nachweis römischer Marschwege zubilligen wie bisher.2830 Die sorgsamen Grabungen haben die Richtungen der Pfeile von den Bögen und von den Katapulten anhand der Einschüsse dokumentieren können, eine bewundernswerte Leistung (Abb. 63.1).2831 Es zeichnen sich über die verschiedenen Fundkonzentrationen sogenannte Hotspots auf dem Passbereich ab. Die Römer waren auf dem Rückmarsch nach Süden ins Leinetal Richtung Mainz und griffen nun ihrerseits in asymmetrischer Kriegsführung, da eine Feldschlachtaufstellung nicht möglich war, vom Hang aus die Germanen an, die sich auf dem Kamm gesammelt hätten und dort marschierten, also schossen sie den Hang hinauf mehrere Salven. Den Berichterstattern kommt das auch irgendwie seltsam vor, und deshalb sagen sie nun, dass diese Darstellung nur ihre schlichte Erzählung zum Kampfablauf sei, und zwar allein eine These. Rund 1,5 km weiter südlich am Kahlberg war der vordere Teil des römischen Trosses angegriffen worden, hier wurden römische Kavallerie-Wurflanzen, die römische Pionieraxt mit der nicht ganz vollständigen Inschrift der 4. Legion flavia felix gefunden. Das Fazit lautet bescheiden: Diese Rekonstruktion der dramatischen Ereignisse am Harzhorn birgt in sich die Gefahr, für einen realen historischen Ablauf gehalten zu werden. Eine solche Einschätzung wäre aber grundlegend falsch, denn die gesamte Rekonstruktion beruht auf archäologischen Funden und der Analyse vergleichbarer Ereignisse […]. Die Archäologie kann eben doch nicht Geschichte schreiben.
Im Jahr 2018 hat der „provinzialrömische“ Archäologe Günther Moosbauer ein Buch zur Schlacht am Harzhorn veröffentlicht, und darin u. a. auch die Markomannenkriege behandelt, gewissermaßen als Hinweis auf die ständigen Kriege gegen die Germanen und die fortlaufenden Einfälle ins Innere Germaniens, auch lange nach den Kriegen unter Augustus oder Caracalla.2832 Damit bestätigt er indirekt ohne ihn zu zitieren die Beschreibungen von J. F. Drinkwater.2833 Auf einige Aspekte des Buches ist noch einzugehen; zumal bis heute kaum ein Gegenargument zur Deutung der Funde und Befunde auf dem Harzhorn als Schlachtfeld diskutiert worden ist. Dabei gibt es in dieser jüngsten Darstellung der Ereignisse aufgrund von archäologischen Befunden und der phantasievollen Einschübe zum Ablauf des Geschehens selbst erkannte Widersprüche und Unklarheiten, für die eine Erklärung tatsächlich ausgespart wird. 2830 Geschwinde, Lönne, Meyer, in: Bewegte Zeiten 2018, 288 f. 2831 Pöppelmann u. a. 2013, 339 Abb. 40; Saxones 2019, 76 Abb. 1; Bewegte Zeiten 2018, 292 nachfolgendes Zitat. 2832 Moosbauer 2018. 2833 Drinkwater 2007.
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Für mich gibt es einige Beobachtungen, die nicht zu einem Schlachtfeld passen. (1) Die für den Rückmarsch der Truppen des Maximinus Thrax bis heute benutzte Passage zu Füssen des Harzhorn zwischen Feuchtgebieten soll von Germanen gesperrt gewesen sein, weshalb Römer und Germanen, die sich bekämpften, auf den Höhenweg ausgewichen sein sollen, was zu einer anderen Situation geführt hat als in Kalkriese bei der Varusschlacht. (2) Die Ergebnisse der Kämpfe haben zu verschiedenen Konzentrationen von Waffen geführt, die als Hotspots bezeichnet werden. Statt eines kontinuierlichen Kampfes soll sich das Ganze in Einzelgefechte aufgelöst haben. Der archäologische Befund entspricht aber eher unterschiedlichen, aber gleichzeitigen Niederlegungen in manchen Mooren im Norden, wozu auch die Situation am Kahlberg passt. (3) Die Schussrichtungen der Katapulte sind als bergauf gerichtet kartiert, d. h. oben marschieren die Germanen, und von den Hängen greifen Römer an, ein Sturm auf den Hauptkamm?2834 Irgendwie scheint das spiegelverkehrt zu sein. Die Geschosse haben mit ihren Holzschäften anscheinend noch aus der Erde geragt und sind nicht später wieder herausgezogen worden, auch ein Hinweis darauf, dass diese mit einem Tabu belegt dort bleiben sollten. Auf einem Schlachtfeld hätte man später geplündert. Es gibt bei G. Moosbauer Zweifel zu den Ereignissen auf dem Kamm: „Das bedeutet …, dass wir uns quellenkritisch einzugestehen haben, dass wir nur noch Episoden aus dem Verlauf der Kämpfe nachweisen können. Vor diesem Hintergrund müssen unterschiedliche Interpretationsrahmen über das Geschehen gelegt werden. Plünderungen des Schlachtfeldes nach dem Kampf haben für eine massive Ausdünnung der archäologischen Fundreste gesorgt … Wir wissen also nicht, ob der Hauptkamm Schauplatz des Hauptgefechtes wurde oder wir an dieser Stelle einfach nur den am besten erhaltenen Bereich vor uns haben“.2835 Im Nachfolgenden referiere ich Aufzählungen von G. Moosbauer, ohne aber die einzelnen Seitenzahlen zu zitieren. Auf dem zweiten Berg mit Fundkonzentrationen, dem Kahlberg, wurden 17 römische und 5 germanische Lanzen, 2 Pila, 3 Äxte und 2 Dolabrae, sowie 2 Helm- und Beinschienenfragmente gefunden, außerdem Wagenzubehör (vgl. auch oben); deshalb sei hier ein Teil des Trosses angegriffen worden. Das ist auch die Meinung der Ausgräber. Zu den Legions- und Hilfstruppen und der Feldzugvorbereitung für das Jahr 234 wird berichtet, dass vor allem die Reiterei auf römischer Seite hervorzuheben sei, darunter wären sicherlich auch Germanen gewesen, die bekannt waren für ihren guten Kampf zu Pferde. Bei den Hilfstruppen gab es als Bewaffnungseinheiten auch Bogenschützen. Viele Germanen besaßen römische Waffen, etwa Schwerter, und sie trugen vereinzelt auch genagelte Schuhe. Langschwerter wurden im römischen Heer seit dem 2. Jahrhundert regelmäßig beim Einsatz im Nahkampf geführt. Beim Feldzug 235 waren vor allem Rhein-Weser-Germanen Partner und zugleich Gegner, denn die Legionen zogen
2834 Moosbauer 2018, 91 und 94. 2835 Moosbauer 2018, 96 Zitat.
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durch deren Siedlungsgebiete vom Rhein bis zum Harz, und östlich davon lebten die Elbgermanen. Es fällt auf, dass G. Moosbauer hier ständig archäologische Kulturgebiete mit schriftlich überlieferten Stämmen vermengt, was – wie meinen Darstellungen weiter oben zu entnehmen ist – methodisch heute nicht mehr zu begründen ist. Eine Karte des Feldzuges zeigt den Marsch nach Osten bis zur „Schlacht im Moor“ nahe der Elbe und zurück zum Harzhorn, herausgelesen aus spärlicher schriftlicher Überlieferung.2836 Eingetragen sind zudem die römischen Lager von Hachelbich und Hedemünden (vgl. S. 999). Der Marschweg wird kartiert auf dem Hintergrund der archäologischen Kulturkreise; Harzhorn liegt gerade auf der Grenze zwischen den Verbreitungsgebieten der Elbgermanen und der Rhein-Weser-Germanen, während Kalkriese auf der Grenze zwischen Nordseegermanen und Rhein-Weser-Germanen eingetragen ist. Offen bleibt jedoch die Frage, ob die Verbreitung dieser archäologisch konstruierten Kulturkreise einen Bezug, und dann welchen, zu den schriftlich überlieferten Ereignissen hatten. Es sei natürlich auch nur Phantasie, dass die Germanen die verschiedenen Hilfstruppen auf römischer Seite aus Bogenschützen, Speerschleuderern und vielleicht Panzerreitern nicht kannten, doch stellten sie selbst solche Einheiten für römische Hilfstruppen. Moosbauer geht erneut auf das grundsätzliche Problem einer sicheren archäologischen Datierung der Ereignisse auf dem Harzhorn ein: Die meisten Stücke, die von den Gefechtsfeldern des Harzhorns stammen, lassen sich zeitlich nur schwer einordnen. Wenige Fibeln, ein Thekenbeschlag, d. h. eine Messerscheide, und zwei Visierfragmente eines Helms vom Typ Niederbieber vom Kahlberg weisen ins ausgehende 2. und in die ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts n. Chr.
Die 13 Denare mit der Schlussmünze des Severus Alexander und die C14-Datierung am Pferdeskelett weisen in die Jahre 230/240 n. Chr.; die Legio IIII soll von Severus Alexander aus dem Osten an den Rhein abkommandiert worden sein, damit dann über diese Vermutung der Fundplatz datiert werden kann.2837 In der Datierung stimmen Ausgräber und G. Moosbauer überein. Das Datum 235 wird jedoch nur durch Indizien gestützt, die zwar recht überzeugend sind, aber auch eine andere Deutung des Platzes nicht ausschließen. Dieselbe Fundkollektion könnte auch im zweiten Drittel oder der Mitte des 3. Jahrhunderts durch Opferhandlungen zusammengekommen sein. Lothar Schulte hat 2019 Überlegungen veröffentlicht, von wo aus der Feldzug des Maximinus Thrax 235 zum Harzhorn geführt haben wird, und zwar aus der Altmark im weiteren Sinne. Breite Studien zur Besiedlungsdichte und Bevölkerungsstärke sowie zur in der jüngeren Kaiserzeit einsetzenden Entsiedelung dieses Gebietes habe
2836 Moosbauer 2018, 76 Abb. 10 Karte des Marschweges, übernommen von Mischa Meier 2020, 311 Karte 13. 2837 Moosbauer 2018, 99 f. Zitat.
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ich oben referiert (vgl. S. 374). Hier folgen nur noch seine Überlegungen, ob auch Funde diese These der Herkunft auch der Krieger aus dem Raum Altmark belegen können.2838 Die Kartierung der römischen Münzfunde der Jahre 236 bis 274 und der älteren Münzen von 97 bis 222 n. Chr. spiegeln den Kontakt zum Römischen. Einige Waffenfunde im Umfeld des Harzes und die zuvor berechneten Kriegerstärken, die diese Landschaft stellen konnte, sind sicherlich sorgfältig erarbeitet; doch die Verbindung mit den Ereignissen am Harzhorn bleibt nur eine Vermutung. K. Sippel überlegt, welche römischen Funde in Norddeutschland mit dem Feldzug des Maximinus Thrax 235 zusammenhängen könnten.2839 Das sind Äxte (sogenannte Schaftlochäxte) und Lanzenspitzen aus Witzenhausen-Kleinalmerode, schon 1937 gefunden, die mit Parallelen vom Harzhorn verglichen werden und die womöglich schon damals von dort in die archäologischen Sammlungen gelangt sind, vielleicht aber auch von einem anderen Ort. Ihre römische Provenienz steht außer Frage. In der Berliner Ausstellung „Bewegte Zeiten – Archäologie in Deutschland“ 2018 gibt es einen Beitrag „Eingefrorene Zeit. Das Harzhorn-Ereignis – Archäologie einer römisch-germanischen Konfrontation 235 n. Chr.“ Im Text steht nicht zuerst „römisch“, sondern es heißt: Über tausend Funde in zwei mehrere Quadratkilometer großen Waldgebieten halten die dramatische Geschichte eines germanischen [!] Überfalls auf eine römische Marschkolonne fest.2840
Es ging nicht um eine Schlacht, sondern nur um ein „Gefecht“. Ob es tatsächlich so allgemein gültig ist, dass Germanen nie Hipposandalen verwendet haben, ist doch nur eine Behauptung, denn wieviele Germanen dienten in römischen Einheiten auch als Reiter, die sicherlich diese Hipposandalen kannten. In der Schilderung der möglichen Ereignisse findet sich aber kein Hinweis darauf, wann, warum und wie die römischen Einheiten vom Weg zu Füssen des Harzhorns auf den Berg hinauf ausgewichen sind. Es wird allgemein jetzt von einem „asymmetrischen Krieg“ gesprochen, d. h. die Germanen marschierten auf dem Grat, und die Römer greifen vom Hang aus nach oben bzw. die Germanen griffen den Hang hinab die römischen Soldaten an. Wie dem auch sei, Schlachtfeld oder Opferplatz. Im allgemeinen Geschichtsbewusstsein der Althistoriker und auch der Bürger hat sich die These vom Schlachtfeld schon fest verwurzelt und wird kaum noch durch eine andere Deutung ersetzt werden können.2841 M. Meyer hat die beiden „Schlachtfelder“ aus den Jahren 9 n. Chr. und 235 n. Chr. miteinander verglichen.2842 2838 Schulte 2019, 122 ff. mit 124 Abb. 16 Karte und Liste 3 sowie 126, Abb. 17 Karte; dazu auch Bemmann 2014, 182 Abb. 2. 2839 Sippel 2018 (2019). 2840 Bewegte Zeiten 2018, 283. 2841 H. Heuer (Northeims erster Kreisrat), Göttinger Tageblatt vom 18. April 2018, 14: „Harzhorn – Präsentation wird erweitert. Zehn Jahre Römerschlachtfeld – Erforschung im Landkreis Northeim“. 2842 M. Meyer 2018a.
15.4 Hedemünden an der Weser in Südniedersachsen
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15.4 Hedemünden an der Weser in Südniedersachsen Der Befund von Harzhorn ist vielleicht tatsächlich verschieden zu deuten, so wie auch wieder die Anlagen bei Hedemünden an der Weser (vgl. S. 1001). In jahrelanger Geländeforschung hat Klaus Grote von 2003 bis 2011 bei Hedemünden im Werratal ein mehrteiliges römisches Militärlager der augusteisch-frühtiberischen Zeit entdeckt und ausgegraben, so seine Deutung.2843 Topographisch günstig an Fernwegen gelegen wurde von ca. 11/10 bis 8/7 v. Chr. hier anscheinend ein römischer logistischer Stützpunkt entwickelt, der in die Zeit der Feldzüge des Drusus gehört. Befestigungsreste und Hinweise auf Zelte legen nahe, dass hier ein Standlager vermutet werden kann, und auch das Fundspektrum spiegelt militärischen Lageralltag. In der Umgebung gab es weitere befestigte Plätze und Wachposten. Die römischen Sandalen- bzw. Schuhnägel, aufgespürt mit dem Metallsuchgerät und kartiert, markieren die Marschwege. Nun hat Dietwulf Baatz 2014 argumentiert, dass der Ringwall auf dem Burgberg bei Hedemünden kein „Römerlager“ gewesen sei, was schon die Zusammensetzung des Fundspektrums zeigen würde.2844 Vielmehr würden die Funde besser zu vergleichen sein mit denen vom Schlachtfeld bei Kalkriese oder mit denen vom Döttenbichl bei Oberammergau, einem Opferplatz. Die oberflächennah verteilten Sachgüter wurden erst später durch den Ringwall irgendwann im 1. Jahrhundert n. Chr. überbaut. Die augusteische Fundschicht rühre eher von einem germanischen Opferplatz her, und der spätere Ringwall könne als Einhegung eines kultischen Areals gewertet werden. Der Autor führt zudem eine Reihe von Nachrichten in der schriftlichen Überlieferung auf, die von derartigen germanischen Opferplätzen berichten. Doch werde ich die Schriftquellen hier unberücksichtigt lassen. In ähnlicher Weise argumentierte auch Siegmar von Schnurbein 2015 gegen eine Deutung als Römerlager, schon allein aufgrund des anormalen Grundrisses.2845 Eher handele es sich um einen heiligen Opferort in Germanien, der von römischen Militärs zeitweilig besetzt worden ist. Der Entdecker und Ausgräber nahm zu diesen Gegenargumenten Stellung und blieb aber bei seiner Deutung.2846 Nicht zu übersehen sind die Fundmengen, ebenso wie die niedrigen Wallanlagen und die zugehörenden Gräben, deren Funktion erklärt werden muss. Aber um eine römische Anlage, um ein Marschlager, handelt es sich anscheinend nicht, denn der Befund weicht – so S. von Schnurbein überzeugend – von allen sonst bekannten römischen Lagern am Rhein oder auf den Vormarschlinien ab. Die sorgfältige Analyse der Geländebefunde in den Grabungsschnitten hat ihn dazu gebracht, die Ansammlung der römischen Metallgegenstände und die Wallanlage zeitlich voneinander zu
2843 Grote 2006; 2012; 2014. 2844 Baatz 2014. 2845 v. Schnurbein 2002; 2014 (2015). 2846 Grote 2014.
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trennen, auch wenn anscheinend nur ein kurzer Zeitabstand zwischen den beiden Phasen besteht. Die römischen Werkzeuge und Bronzeteile können auch von Germanen dort niedergelegt (geopfert?) worden sein, und es müssen nicht Reste eines Marschlagers von Legionären sein. Eine weitere Deutung zu Hedemünden bietet Nicolai 2014; er sieht die schweren Eisenfunde, auch mehrere Pionieräxte (dolabras), als intentionelle Deponierungen unter, in und an latènezeitlichen Befestigungsanlagen an, entscheidet sich also für eine kultische Begründung.2847 Die Wissenschaft hat zwar eine gute Vorstellung davon, wie sich Römer, römisches Militär und römische Militärbegleiter verhalten haben. Im Gegensatz dazu aber fehlen noch immer ausreichende Vorstellungen darüber, wie sich die Bevölkerungsgruppen in Germanien auf Kriegszügen verhalten haben, sofern wir nicht nur auf Siedlungsstrukturen und Wohnbauten schauen oder Bestattungen in Urnen oder Körpergräbern untersuchen. Versammlungsplätze, Kultorte oder eigene Garnisonen sind in einigen Beispielen vorgestellt worden, aber das werden nicht die einzigen Konzentrationen von Aktivitäten gewesen sein. Es reicht eben nicht aus, die Verhältnisse in Germanien auch als Archäologe immer nur aus römischem Blickwinkel beschreiben zu wollen. Es ist Aufgabe, von den Befunden auszugehen und Lösungen zu suchen, beispielsweise über Analogien oder Vergleiche über größere Distanzen. Es könnte sich also – so meine Hypothese – auf der Bergkuppe von Hedemünden um einen Opferplatz handeln, auf dem zu Anfang gezielt römische Sachgüter in einem offenen Areal niedergelegt worden sind, ehe sich die Nutzung verändert hat und der Platz für gewandelte Kultbräuche mit einem Begrenzungswall eingefasst wurde: denn Wall und Graben scheinen kaum einen fortifikatorischen Sinn gehabt zu haben. Die Einhegung in Gestalt eines vielseitigen Palisadenzuges schließt die verschiedenen Kultschächte mit Halsringen, sogenannten Torques, aus Edelmetall im englischen Snettisham ein. Auf der ältereisenzeitlichen Schnippenburg bei Osnabrück grenzt ebenfalls der Wallverlauf ein Plateau ein, auf dem sich zahlreiche sehr tiefe Gruben, wohl Opferschächte mit Keramikniederlegungen und eisernen Beilen befunden haben. Dabei kann es sich nicht um schnell versteckte Sachgüter handeln, die bei einem feindlichen Überfall gesichert werden sollten; denn nirgendwo sonst sind Verstecke welcher Art und welchen Inhalts auch immer in so übergroße Tiefen versenkt worden. Auch in der Siedlung bei Frienstedt, Stadt Erfurt, finden sich derartige tiefe Schächte, deren Inhalte als Opfergaben betrachtet werden. Wie ich erläutert habe, halte ich auch die Funde und Befunde vom Harzhorn nicht für die Relikte eines Schlachtfeldes, sondern für einen ausgedehnten Opferplatz mit mehreren unterscheidbaren Niederlegungen. Das Problem unserer wissenschaftlichen Gesellschaft ist, dass eine These als plausible Erklärung eines Befundes nach mehrfachem Zitieren den Grad der Gewissheit erlangt und selten nur noch in Frage
2847 C. v. Nicolay 2014, 83.
15.5 Das Schlachtfeld von Abritus
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gestellt wird. So hat auch ein anderes Schlussbild inzwischen rasch Eingang gefunden in die Vorstellungswelt der Allgemeinheit: Die Bleischeibe aus dem frührömischen Kastell am Hochrhein bei Dangstetten, auf der eine Ritzung auf Varus hindeutet, dessen Legionen zeitweilig auch dort stationiert waren. Doch ist diese Ritzung entweder kaum zu erkennen oder gar nicht vorhanden. Die wissenschaftliche Gemeinschaft hat aber die Erklärung akzeptiert, mit Ausnahme bisher nur einer klaren Gegenstellungnahme.2848
15.5 Das Schlachtfeld von Abritus Noch ein weiteres Schlachtfeld sei genannt, das aber ebenso besser als Opferplatz gedeutet werden könnte.2849 Im Sommer 251 n. Chr. gab es eine Schlacht bei Abritus in der Dobrudscha in der Provinz Moesia inferior unter Kaiser Decius (249–251) gegen Goten unter König Cniva, in dem Decius und sein Sohn fielen, und zwar – so heißt es in den Quellen – hatte Cniva die römische Armee in ein Sumpfgebiet gelockt, eingekesselt und vernichtet. Archäologen haben in der Gegend in einem solchen Sumpfgebiet Altfunde kartiert, zu denen neben Horten aus Gold- und Silbermünzen auch Waffen und Ausrüstungsgegenstände gehören, Klingen von Langschwertern, Bolzen-, Lanzen- und Pfeilspitzen. Auch Schuhnägel, Wangenklappen von Helmen und Helmbügel wurden dokumentiert, sowie die Spitze eines Feldzeichens der legio XIIII Gemina. Das ganze Ensemble mutet wie ein Heeresausrüstungsopfer an, wie solche im Ostseegebiet aus Mooren und Seen derselben Zeit beschrieben werden (vgl. S. 706 ff.). Zeugnisse der Bataverschlacht bei Xanten (70 n. Chr.) im Zuge des Civilis-Aufstandes sollen die zahlreichen römischen Waffen, Geräte und Metallgefäße aus den Kiesgruben bei Xanten-Wardt sein. Dieser Massenfund sei das Ergebnis von Bürgerkriegen; den Aufstand der Bataver und ihrer Verbündeten konnte Vespasian (69–79) niederschlagen. Doch die Fundkomplexe sind ebenfalls kaum das Relikt einer Schlacht, sondern mit den Flussfunden von Neupotz und Hagenbach zu vergleichen, Beutekomplexe aus dem Rhein, wenn nicht überhaupt nur Sammelfunde über Jahrzehnte des Kiesabbaus.2850 Demgegenüber sind die Hinweise auf eine Schlacht im Gebiet der Bataver bei Rossum, wo Schwerter und Schädel mit Schlagmarken gefunden worden sind, vielleicht überzeugender (vgl. oben S. 699). Ebenfalls als Niederschlag einer Bataverschlacht werden beim Gräberfeld von Krefeld-Gellep bzw. beim römischen Lager einige Befunde im Bereich der Toranlage gedeutet: Helme und zahlreiche Pferdeskelette sowie Scheiterhaufenplätze und verstreute Menschenknochen.2851 2848 Strobel 2009 (2012), 495 f. 2849 Bursche 2013; Moosbauer 2018, 137, 140. 2850 Kunow 2016, 14 ff., hier 16 f. mit Abb. 3. 2851 Reichmann 1999b; 2007.
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Die Vernichtungsschlacht Caesars gegen die Tenkterer und Usipeter, wie sie im Bellum Gallicum (Buch 4) beschrieben ist, wird in einem niederländischen Fluss, Teilarm des Rheins, vermutet.2852 Es gab großräumige Verwüstungen und Massenversklavungen sowie Massaker bei der Ausbreitung des Römischen Reichs, was von Caesar marginalisiert wurde. Lokalisiert wird die Schlacht am Zusammenfluss von Maas und Waal, eines Rheinarms. Zu den Funden zählen 722 menschliche Knochen von 70 Individuen, dann Schwerter, Gürtelhaken und römische Ausrüstungsteile. Wie Schlachtfelder oder Kampfplätze archäologisch zu finden sind, haben N. Royman und M. Fernández-Götz methodisch erläutert: Die Grabungsstrategien sollen die Landschaftsrekonstruktion bedenken, die Suche mit Metalldetektoren intensivieren, Studien an Waffen, Befestigungsanlagen, Lagern, Heiligtümern und Opferplätzen, auch in Flüssen betreiben. Dazu gehören außerdem forensische Untersuchungen an den menschlichen Überresten, Isotopen- und aDNA-Analysen. Schließlich – und das sollte bei den Schilderungen der Schlachtfelder von Kalkriese oder Harzhorn beachtet werden – die Theorie der mittleren Reichweite beiderseits des Schlachtfeldes, nämlich die Aktivitäten vor, während und nach den Kampfhandlungen müssen einbezogen werden. Dazu hat M. Meyer erläutert:2853 Zuerst einmal sollte von einem Kampfplatz gesprochen werden, weniger von einem Schlachtfeld, denn die Archäologie hat bisher immer nur einen Ausschnitt der Kämpfe erfassen können. Große Kampfgeschehen zwischen organisierten Armeen auf begrenztem Raum werden als Schlacht bezeichnet. Es heißt also besser KampfplatzArchäologíe mit unterschiedlichen Phasen am Kampfplatz. Zu berücksichtigen sind die Landschaft und die Bewohner, die unter einem Kampfgeschehen zu leiden haben. Bei Kalkriese sind Spuren der Dörfer ausgegraben (vgl. S. 170). Nach dem Kampf folgten das Bergen und die Bestattungen von Opfern, das Einsammeln der verlorengegangenen Ausrüstungsgegenstände, auch Plünderungen und gar der Aufbau einer Gedenkstätte, wie das Germanicus nach der Varusschlacht unternommen hat. Es ging in diesem Abschnitt nicht darum, als Schlachtfelder bekannt gewordene archäologische Fundplätze unbedingt anders zu erklären. Aber in der Regel sind Schlachtfelder in allen Epochen der Geschichte von Waffen geräumt worden und bringen bei den Ausgrabungen nicht derartig zahlreiche Sachgüter zutage, Geschosse und Hiebwaffen, wie von den erläuterten Plätzen. Die Niederlegungen von Heeresausrüstungen in den Mooren und ehemaligen Seen an der Ostsee werden einhellig als Opfer betrachtet, nicht etwa als Reste von Kämpfen in diesen randlichen Arealen der Landschaft. Wo derartige Moore aber fehlen, wurden seinerzeit geographisch auffällige Plätze wie Berggipfel oder Höhenzüge als Opferplätze gewählt.
2852 Slofstra 2002; Roymans 2018; Roymans, Fernández-Götz 2018; nach Rez. von Daniela Kern 2018, 336 ff. 2853 M. Meyer 2018a; dazu Rez. D. Kern 2018, 341.
16 Gefolgschaftswesen Die wissenschaftliche Literatur kennt als Kern für die größeren Kriegerverbände nicht nur in Germanien die sogenannten Gefolgschaften. Was soll man sich darunter vorstellen?2854 Der Begriff „Gefolgschaft“ ist von der neuzeitlichen Geschichtsforschung geprägt worden, um bestimmte gesellschaftliche Strukturen der Kriegergesellschaft zu beschreiben. Die Bezeichnung ist im Kern vielseitig und deshalb zugleich nichtssagend, aber vergleichbar mit der Nennung in antiken Quellen wie comitatus, comes oder princeps. Es sind allgemeine Begriffe ohne präzisen Inhalt, denn auch Tacitus kennt gleichzeitig mindestens zwei verschiedene Arten von comitatus, Gefolgschaft; und auch Gefolgschaft als Übersetzung ist nur ein begrenzt brauchbarer Begriff. Aufgrund der Situation, dass es sich bei Gefolgschaften um zwischenmenschliche Beziehungen gehandelt hat, müssen in diesem Abschnitt ausnahmsweise auch die schriftlichen Nachrichten berücksichtigt werden; denn der Versuch, allein von archäologischen Quellen aus auf die Suche nach Gefolgschaften zu gehen, hätte keinen fassbaren Ausgangspunkt. Doch will ich zeigen, dass zum kriegerischen Gefolgschaftswesen die Auswertung der archäologischen Funde und Befunde doch Wesentliches aussagen kann;2855 und ich habe mich mehrfach ausführlich zu diesem Thema und Problem geäußert.2856 Auch im keltischen wie im germanischen Kriegerwesen kann man in dieser Weise offen definierte Gefolgschaften erkennen.2857 Karl Peschel hat in einem Beitrag „Frühe germanische Kriegerordnung und keltische militärische Gemeinschaftsformen“ das Problem von Kriegerordnungen und dem Gefolgschaftsphänomen anhand von Gräbern mit einer Waffenbeigabe diskutiert und damit die Waffe als Grabbeigabe zu einem Abzeichen von herausragenden Kriegern interpretiert. Er hat diese Befunde auch mit der schriftlichen Überlieferung bei Caesar verglichen, mit den Ereignissen um Ariovist. Quellenbasis sind Gräber der Zeit vor und um Chr. Geb. der Przeworsk-Kultur, beispielsweise in Masowien, Dobrzankowo, pow. Przasnysz, und in Mitteldeutschland mit den elbgermanischen Gräberfeldern Großromstedt, Kr. Weimarer Land, und Schkopau, Kr. Merseburg-Querfurt, (zu diesen beiden Gräberfeldern vgl. unten S. 866).2858 Ein Histogramm zeigt die Verteilung der Waffen auf den Urnenfriedhöfen Großromstedt, 173 Befunde von 579 Ausstattungen, also 30%, und Schkopau, 81 Befunde von 289 Ausstattungen, also 28%, aus der Zeit von 50/40 v. bis 15/20 n. Chr. Aufgetragen sind Gräber mit Vollbewaffnung aus Schwert, Lanze und Schild, dann Gräber mit Lanze und Schild oder nur mit einer Lanze, Gräber mit Schild und Schildteilen. Es überwiegen jeweils die Nachweise des
2854 Kroeschell 2008. 2855 Landolt, Timpe, Steuer 1998; Timpe 1998. 2856 Steuer 1992; 1998c; 2009. 2857 Peschel 2006. 2858 Peschel 2006, 181 Abb. 15. https://doi.org/10.1515/9783110702675-024
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Schildes vor Lanze und Schild und vor dem Schwert.2859 K. Peschel sieht als Vorbild für diese Gliederung in drei Ränge die antik überlieferte Ordnung bei den Kelten, wobei eine derartig normal wirkende und auch später immer wieder überlieferte Staffelung eigentlich keine Vorbilder braucht, so denke ich, sondern sich aus der Situation des Möglichen ergeben hat. Zu den Gefolgschaften zählten im Kern alle auf Verabredung beruhenden Kriegerverbände, die das militärische Handeln der ersten Jahrhunderte n. Chr. bestimmten. Das begann wohl schon bei den Leibgarden der römischen Kaiser seit Augustus. Es waren keine ethnischen Einheiten, sondern politische Gruppen. Ich sehe die überlieferten Stammesnamen der ersten Jahrhunderte n. Chr. als Bezeichnungen für Kriegerverbände (vgl. S. 690); denn mit diesen kamen römische Militäreinheiten, die nach Germanien eingedrungen waren, in Kontakt. Die Namen derartiger Kriegerverbände unter einem Anführer, der den Grund für den Namen gab, hatte um sich mehrere Gruppen unterschiedlicher Herkunft gesammelt; es waren Zweckverbände, keine fest umrissenen territorialen Siedlergruppen (aus den „Stämmen“); denn die Namen wanderten mit den Kriegergruppen und erschienen an verschiedenen Orten gleichzeitig, seien es Heruler, Quaden, Markomannen, Langobarden oder andere. Die Heeresausrüstungsopfer sind Abbilder solcher Gefolgschaftsverbände.2860 In dieser Schrift aus vorwiegend archäologischer Sicht wird von der Definition ausgegangen, dass Gefolgschaften verschieden große Verbände von Kämpfern waren, die sich unter einem Anführer, modern gesagt einem Kriegsherrn, zu Kriegszügen der Beute wegen zusammengetan haben. Eine Definition lautet etwa: Die Gefolgschaft ist ein Herrschaftsinstrument, dessen Stütze Krieger sind, die materiell entschädigt werden. Die Gefolgschaft ist eine mobile gesellschaftliche Gruppe.2861 Die größeren Gefolgschaften waren in sich nach Rängen gegliedert. Man könnte auch die alte Definition von Hans Kuhn nehmen: Die Gefolgschaft ist „ein Verband durchweg freier Männer im ständigen, aber gewöhnlich nicht lebenslänglichen Dienst eines Mächtigeren, seinem Haushalt angehörend und nur für den Waffendienst und Repräsentation bestimmt, in geachteter Stellung und im gegenseitigen Treueverhältnis zu ihrem Führer“.2862 Die archäologische Spurensuche geht in erster Linie von der Gemeinschaft von Kriegern aus, die – unabhängig von inneren personalen Bündnissen – entweder anhand äußerer Symbole erkennbar wurde oder sich in bestimmten Verhaltensweisen manifestierte. In diesem Sinne hat es Gefolgschaften unter Heerkönigen zu allen Zeiten und bei allen vor- und sogar frühstaatlichen Gesellschaften gegeben. Es hat keine typisch keltischen oder gar typisch germanischen Gefolgschaften gegeben. Es gibt also auch 2859 Zu der Überlieferung von Waffen in Brandgräbern auch Adler 1993 und Weski 1982. 2860 v. Carnap-Bornheim 1992; Niezabitowska 2003, Karte der verschiedenen Lokalisierungen von Herulern. 2861 Schulze 1985, 43. 2862 Landolt, in: Landolt, Timpe, Steuer 1998, 533 nach Kuhn 1956, 12.
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archäologisch betrachtet keinen prinzipiellen Unterschied zwischen keltischer oder germanischer Gefolgschaft. Noch in frühen Reichsbildungen gehörten sie zu den bestimmenden Elementen, wie im „Personenverbandsstaat“ mit Lehnswesen und Vasallentum des hohen Mittelalters. Kriegsfürsten als Anführer derartiger Kriegerverbände, die sich außerhalb und gewissermaßen auch oberhalb der Stämme organisierten und handelten, bestimmen noch heute gegenwärtig militärpolitische Auseinandersetzung in Gebieten, in denen Stammesstrukturen gegenüber staatlichen Einrichtungen vorherrschen, so in Afghanistan, im Irak oder im Sudan (zu derartigen Analogien und ihrem methodischen Stellenwert vgl. S. 1293). In der antiken schriftlichen Überlieferung, bei Caesar und Tacitus, sind Gefolgschaften immer mit Waffen und Kriegertum, mit Kampf und Heereszügen verbunden. Diese Schriftquellen beschreiben regelmäßig zwei verschiedene Formen von Gefolgschaft. Es gab die zahlenmäßig kleine persönliche Gefolgschaft oder Leibgarde eines Heerkönigs oder Anführers, als Leibgarde und als Kampf-, Tisch- sowie Festgemeinschaft. Diese sammelten sich in Germanien beispielsweise in den großen Hallen bei den „Herrenhöfen“. Außerdem gab es die große, dann zumeist auch ranggestaffelte Gefolgschaft als Kriegerverband, Heerhaufen, Auxiliareinheit oder Söldnertruppe. Es bleibt die Frage, was sich von diesen beiden Arten von Gefolgschaften, von ihren Zeichen und Verhaltensweisen, im archäologischen Quellenbestand spiegeln könnte. Die Beantwortung der Frage nach der „Archäologie der Gefolgschaft“ hofft dabei, dass sich Eigenschaften von Gefolgschaften überhaupt im archäologischen Quellenbestand spiegeln, was aber nicht der Fall sein muss. Während der späten vorrömischen Eisenzeit und der Römischen Kaiserzeit, den ersten Jahrhunderten n. Chr., ist also mit einem Kriegertum unterschiedlicher Einbindung in die Gesellschaft jener Zeit und zugleich mit verschiedener Entstehungsgeschichte zu rechnen. Nach Tacitus bildeten sich Gefolgschaften unter einem Anführer innerhalb, aber auch zwischen bzw. oberhalb der Stämme, jeweils mit Ziel kriegerischer Unternehmungen (Germania c.14 und 15). In beiden Ausprägungen ging es weniger um Kampf gegen die Nachbarn, sondern mehr um weitausgreifende Beutezüge. Parallel dazu verteidigten Stammesgesellschaften ihr Territorium, was sich archäologisch vielfältig nachweisen lässt, wie erläutert worden ist: Zum einen wurden größere Gebiete nach außen, also zu den unmittelbaren Nachbarn mit Befestigungen gesichert (vgl. S. 335). Zum anderen spiegeln Kriegergräber mit Waffenbeigabe auf den örtlichen Gräberfeldern die Wehrhaftigkeit der Gemeinschaft. Schließlich sind die großen Waffenopfer in Mooren und Seen im Ostseeraum das Ergebnis von kriegerischen Ereignissen. Diese verschiedenen Erscheinungsformen lassen sich nicht immer eindeutig einer der Facetten des kriegerischen Alltags jener Epoche zuordnen; manches spricht für Gefolgschaften, doch gibt es keine eindeutigen Beweise. Gerade für die Zeit um Chr. Geb., für die Zeit des Arminius und des Marbod, fehlen für Gefolgschaften im archäologischen Quellenbestand überzeugende Belege. Deshalb werden nachfolgend auch Beispiele aus älteren und jüngeren Epochen beschrieben, die als Analogien gelten müssen. Das heißt, auch wenn mit Sicherheit in
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jenen Epochen der ersten Jahrhunderte nach Chr. Geb. in Germanien von Gefolgschaften ausgegangen werden kann, muss die Archäologie wahrscheinlich weitgehend auf klare Antworten verzichten. Was die Archäologie an Befunden bietet, wird an „dichten Beschreibungen“ abzulesen sein. Befunde, wie Waffen, Bewaffnung, Kampfesweise und Kultbräuche, die immer wieder als unmittelbare Abbilder von Gefolgschaften betrachtet werden, könnten aber durchaus auch anderen gesellschaftlichen Strukturen zugeordnet werden. Es gilt, mehrere Aspekte zu berücksichtigen. Zu beschreiben sind Leibgarden einerseits und Prunkgräber andererseits (dazu vgl. S. 917). Die kleine, persönlich eng mit dem Anführer verbundene Gefolgschaft aus Kriegern spiegelt sich über mehr als ein Jahrtausend immer wieder in prunkvollen Grabausstattungen. Diese sind durch aufwändiges Ess- und Trinkgeschirr für das Festgelage der Tischgemeinschaft, durch Schlacht- und Küchengerät sowie durch Waffen- und Reitausrüstung gekennzeichnet. Die Festmahlgemeinschaft war ein Ausdruck gefolgschaftlicher Beziehungen zwischen der kleinen Gruppe von Kriegern und ihrem Anführer. Das „Königsgrab“ von Mušov in Mähren (vgl. S. 925), datiert in die Jahre parallel zu den Markomannenkriegen (166 bis 182 n. Chr.) oder etwas jünger um 200 n. Chr., ist ein alt beraubtes Prunkgrab, das bei der zufälligen Entdeckung 1988 zusätzlich gestört wurde. Doch lassen Grabbau und Beigaben ahnen, wer dort mit welcher Ausrüstung bestattet worden war.2863 In einer großen Grabkammer wurde z. B. die Ausstattung für ein Festgelage gefunden. Dazu gehören eiserne Herdgeräte und Küchenutensilien, zwei große eiserne Feuerböcke, Fleischgabel und Feuerzange, außerdem silbernes und bronzenes Tafelgeschirr, Eimer, ein Kessel (mit den vier Attaschen in Form von Köpfen mit Swebenknoten), weiterhin Trinkhörner und komplette Sätze von 15 Glasgefäßen (Flaschen, Griffschalen), ergänzt durch reichhaltige Fleischbeigaben (Kalb, Spanferkel, Gans, Haushuhn, Schaf). Von den Waffenbeigaben sind u. a. Reste eines Schuppenpanzers, ein Schwert oder Kampfmesser, aber auffälligerweise außerdem sieben Lanzen, mehrere Gürtelgarnituren und 17 teils silbervergoldet tauschierte Sporen (acht oder neun Paare) erhalten geblieben. Über aDNA sind mehr als ein Toter im Grab nachgewiesen. Der ranghöchste Tote ist anscheinend als Anführer einer kleinen Gefolgschaft von etwa neun Kriegern mit deren Ausrüstung (Sporen, Lanzen) bestattet worden, die beim Festgelage bewirtet werden konnten. Diese Gruppenausstattung erinnert einerseits an das Grab des keltischen Fürsten von Hochdorf, Kr. Ludwigsburg, Württemberg, aus der Zeit um 550 v. Chr.,2864 und andererseits an das angelsächsische Königsgrab von Sutton Hoo in Suffolk, England, aus der Zeit um 625 n. Chr.,2865 eine Spannweite für diesen Brauch von über 1000 Jahren. In der Grabkammer von Hochdorf befand sich nicht nur ein bronzenes Sofa,
2863 Peška, Tejral 2002; Peška 2008; Tejral 2002a; 2004. 2864 Biel 2000. 2865 Evans, Williams 2005.
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eine Kline, auf dem der Tote mit seinem reichen Goldschmuck niedergelegt war, und ein vierrädriger Wagen, sondern zur Ausstattung gehörten Schlachtgerät, ein riesiger Kessel, gefüllt mit Bier, neun Trinkhörner sowie neun Bronzeteller und drei Vorlegeplatten für Speisen. Waffen wurden der Sitte der Zeit entsprechend nicht beigegeben, nur ein prächtiger Dolch. Aber die übrige Ausrüstung spiegelt ein Festgelage für neun Personen. Im Hügel 1 von Sutton Hoo mit einem 30 m langen Schiff waren mittschiffs neben dem üppigen Goldschmuck und den Prunkwaffen (Schwert und Helm) des Königs die Zurüstungen für das Festgelage aufgebaut. Dazu gehörten von der Küchenausstattung mehrere Kessel, Bottiche und Eimer, außerdem Schlachtgerät, weiterhin Ess- und Trinkgeschirr, zehn silberne Schalen, sechs mit Silber beschlagene Trinkbecher aus Holz, ein Paar mächtiger Trinkhörner und große Vorlegeplatten aus Silber. Die drei Prunkgräber aus einem Jahrtausend sind Bestattungen von Kriegern, die für eine Gefolgschaft teils die Waffen, vor allem aber die Ausrüstung für ein standesgemäßes Festgelage bei sich hatten. Ob an ein Gelage im Jenseits gedacht war oder ob gewissermaßen nach dem Totenmahl die Ausrüstung ins Grab gestellt wurde, ob die Neun-Zahl nur zufällig oder von Bedeutung war, bleibt offen. Doch am deutlichen Abbild einer Gefolgschaft, die sich zum Festgelage zusammensetzt, ändert das nichts. Die Schriftüberlieferung nennt für den Swebenkönig Ariovist im 1. Jahrhundert v. Chr. eine Leibgarde von 50 Mann, für den Alemannenkönig Chnodomar im 4. nachchristlichen Jahrhundert eine solche von immerhin 200 Kriegern. Zeitgenössische Abbilder von Kriegergefolgschaften bieten für das 7. Jahrhundert die Pressmodel von Torslunda (der Gott Thor ist im Namen enthalten, ebenso ein Hain bzw. kleiner Wald) auf Öland,2866 die Zierbleche an skandinavischen Kammhelmen wie Valsgärde XIV,2867 wobei teils sogar zwischen Anführer und Gefolge unterschieden wird, oder die Abbilder auf der Leier von Trossingen Grab 58 in Süddeutschland aus der zweiten Hälfte des 6. Jahrhundert (dendrodatiert um 580 n. Chr.).2868 Auf dem Deckel des Schallkörpers schreiten zwei Kriegergruppen auf eine Fahnenlanze zu und der vordere Krieger umfasst den Schaft der Lanze. Das ist ein höchster Ausdruck des Gefolgschaftslebens, eine profane oder eine mythologische Schwurszene. Der tote Sänger war ein lokaler Großer, was aus der Strontium-Isotopenanalyse folgt, die Leier ist aber kaum im ländlichen, sondern eher in einem städtischen Umfeld in der Francia hergestellt worden. Die Antwort auf die Frage, ob derartige kleine oder auch die größeren Kriegergefolgschaften manchmal spezielle Abzeichen trugen, bleibt spekulativ. Für
2866 Hagberg, Nyman 2006. 2867 Quast 2002; Ljungkvist 2007; Wamers 2018a zu den Bootsgräbern von Vendel und Valsgärde mit den Bilddarstellungen an den Helmen; zur Rekonstruktion von derartigen Bildblechen aus Fragmenten von einem Helm bei Hallum in den Niederlanden: Nicolay, Pelsmaewker 2018. 2868 Theune-Grosskopf 2006; 2010; 2018, 206 f.; Speidel 2015; Helmbrecht 2019b, 299 Fig. 9; eine spätere Kriegergefolgschaft auf dem gotländischen Bildstein von Stenkyrka: Høilund Nielsen 2009d, 26 Fig. 14.
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das 3. bis 5. Jahrhundert n. Chr. bewertet man die gleichartige Rüstung aus einer Waffenkammer des Anführers als solches Zeichen, z. B. gleichartige Lanzentypen, die in den Heeresausrüstungsopfer gefunden worden sind, weiterhin Ringschmuck (armillae), goldene sogenannte Schlangenkopf- oder Kolbenarmringe2869 sowie prunkvolle Gürtelgarnituren, manchmal auch den Swebenknoten (vgl. S. 49 und S. 1242) und nicht zuletzt prächtiges Pferdegeschirr aus Buntmetall.2870 Vom römischen Militär abgeschaut, könnten zudem auch Gewandnadeln zum Schließen des Umhangs, sogenannte Zwiebel- oder Bügelknopffibeln auch bei Germanen zu Kennzeichen von Militäreinheiten und Kriegerrängen geworden sein, damit auch zu Abzeichen von Gefolgschaftsverbänden.2871 Für die späte Völkerwanderungszeit und die frühe Merowingerzeit werden goldene Ringpaare,2872 die am Knauf von Prunkschwertern nachträglich angesetzt worden sind, als solche Symbole diskutiert, auch manche Aspekte der germanischen Tierstile (dazu unten S. 1236) werden in diesem Sinne gedeutet. Die silbernen Schwertscheidenbeschläge des Fundes Nydam II wurden bisher als Gemeinschaftszeichen und Gefolgschaftsopfer – gar wiederum von neun Kriegern – gedeutet,2873 was jedoch nach den jüngsten Grabungen mit neuen Fundstücken zahlenmäßig so nicht mehr überzeugen kann. Die drei silbernen Schildrandfassungen in der Grablege von Mušov (vor 200 n. Chr.) sind die frühesten Belege für Schilde, die mit silbernen Accessoires beschlagen sind, als militärische Rangzeichen, und erlauben den Vergleich mit den mindestens fünf silbernen Schildgarnituren im Opfermoor von Illerup Ådal (mit einem Dendrodatum von 205 n. Chr.).2874 Die sechs Gürtel im Grab von Mušov sind germanischer Provenienz, darunter können die zwei silbernen Prachtgürtel wie auch die prächtigen tauschierten Sporen als Gruppen- und Rangabzeichen bewertet werden, die vom Gefolgsherrn verliehen wurden. Die zwölf Pferdegeschirre von Illerup Ådal betonen die Bedeutung der Kriegspferde als Rangzeichen.2875 Ihre Ausrüstung und ihr Training sowie der sinnvolle militärische Einsatz fanden im Rahmen von Gefolgschaften statt. Was in Mušov die acht Sporenpaare waren, sind in Illerup die zwölf Pferdezaumzeuge. Der silberne Gesichtshelm aus dem Thorsberger Moor, vielleicht eine germanische Anfertigung wie der Schild aus Gommern, Sachsen-Anhalt, darf als Rangzeichen eines Gefolgschaftsführers bewertet werden. Ein weiterer Lebensbereich der Gefolgschaft ist die Tischgemeinschaft in der Festhalle. Die Treffen der Gefolgschaften fanden in der großen Festhalle des Anführers statt. Archäologisch sind große Hallengebäude für die Jahrhunderte vor und nach
2869 Koch 2001; Andersson 1995; Quast 2013b. 2870 v. Carnap-Bornheim, Ilkjær 1996a, b. 2871 Steuer 2007d; Böhme 2012a. 2872 Steuer 2003e. 2873 Rieck 2002; Rau 2010; 2013a. 2874 Ilkjær 2001a. 2875 v. Carnap-Bornheim, Ilkjær 1996a, b.
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Chr. Geb. vielerorts nachgewiesen, als Versammlungsort meist aber nur dadurch gekennzeichnet, dass eine Unterteilung in Wohn- und Stallteil fehlt, d. h. es gab keine Viehboxen, stattdessen eher zentrale Feuerstätten. Die Hallenhäuser werden im Lauf der Zeit immer größer. Die Halle des sog. Herrenhofs auf der Feddersen Wierde ist im 1. Jahrhundert n. Chr. etwa 22 m lang, während Hallen während der späten Völkerwanderungs- und der Wikingerzeit in Skandinavien 60 bis 90 m lang sein können (in Lejre auf Seeland 48,50 m; in Borg auf den Lofoten 83 m) (vgl. oben S. 347). Die archäologische Erforschung einer ständig zunehmenden Zahl dieser großen Versammlungshallen bei „Herrenhöfen“, die gleichzeitig Fest- und Kulthallen gewesen sein werden, hat gezeigt, dass die Halle und der Saal als äußeres Kennzeichen die Existenz von Gefolgschaften bestätigen; und diese größer werdenden Hallen spiegeln auch eine größer werdende Gemeinschaft von Kriegern, die zu Festen und Kulthandlungen zusammenkamen. Die Schriftüberlieferung bietet – wenn auch meist für jüngere Epochen, zum Beispiel in der angelsächsischen Dichtung des Beowulf – mancherlei Darstellung vom Leben und Treiben der Krieger in diesen Festhallen, die sich immer um das Verhalten auch ranggestaffelter Gefolgschaften drehen. Zum Fest in der Halle gehört der Sänger mit der Leier, der die Taten der Gefolgschaft und des Gefolgsherrn preist. Ein überzeugendes Beispiel ist die erwähnte Leier von Trossingen, auf deren Schallkörper Kriegergefolge beiderseits einer Fahne eingeritzt sind. Harfen- oder Leierinstrumente wird es auch zuvor in Germanien gegeben haben, auch wenn es an archäologischen Funden noch mangelt. Der Schluss von der Größe der Hallenbauten auf die Zahl der Gefolgschaftsmitglieder bleibt zwar sehr vage; doch werden sich mehr Krieger als bei den zuvor beschriebenen persönlichen Gefolgschaften von neun bis zehn Kriegern versammelt haben. Andererseits sind Leibgarden von 200 Kriegern kaum noch in einer solchen Halle unterzubringen. Den Größen der Halle entsprechen Schiffsbesatzungen während der vorrömischen Eisenzeit und den ersten Jahrhunderten n. Chr., archäologisch gut erfasst in den kreisförmig angeordneten Schiffshallen in Norwegen (vgl. S. 368). Das Grabschiff spiegelt die Halle im Totenkult.2876 Opferhandlungen und Siegesfeiern gehen auf Gefolgschaften zurück. Die beschriebenen großen Moorfunde seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. im Ostsee-Umfeld sind als Heeresausrüstungsopfer gedeutet und werden mit dem Gefolgschaftswesen verbunden. Diese Opferbräuche sind nicht neu; denn keltische Waffen- und gar Kriegeropfer in Flüssen oder Heiligtümern von den Jahrhunderten vor Chr. Geb. sind vielfältig archäologisch untersucht worden, wie oben erläutert. Die Zusammensetzung dieser Opferkomplexe spiegelt strukturierte militärische Einheiten, wahrscheinlich tatsächlich Gefolgschaftsheere. Für die großen Heeresausrüstungsopfer im westlichen Ostseegebiet geht eine der vielen Erklärungen davon aus, dass es sich um die im Wasser versenkten Waffen eines aus verschiedenen Gebieten zusammengekommenen Gefolgschaftsheers gehandelt hat, das eigentlich keinen fest umrissenen
2876 Herschend 1999.
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Ausgangsort hatte, wenn man nicht das Herkunftsgebiet des Anführers dazu erklärt. Heeresaufgebote einer Siedlungsgemeinschaft haben zwar feindliche Angriffe abgewehrt, sind aber nicht geschlossen auf ferne Kriegszüge gegangen. Die Homogenität der geborgenen Waffen, Lanzen, Speere und Schilde in diesen großen Opferungen spricht dafür, dass sie aus einem Arsenal stammen, aus dem der Heerführer oder Gefolgschaftsführer die Waffen auslieferte und an die Krieger verteilte. Anhand des Materials und der Qualität der Schildbuckel zeichnen sich für Platz A im Moor von Illerup Ådal fünf Heerführer (principes, reges), 40 Offiziere/Gefolgschaftsführer (comites, optimates) und 300 Infanteristen (pedites, armatores) ab; je einem der fünf Heerführer unterstanden acht Offiziere und 60 Infanteristen. Zu einem Offizier gehörten also acht Fußkrieger (zusammen neun Krieger), was dem römischen contubernium, der Zeltgemeinschaft entspricht (vgl. oben S. 792).2877 Das Verhältnis 1: 9 begegnet so schon im Fund von Hjortspring sowie in Sutton Hoo. Jedem Heerführer unterstand die Einheit zu 68 Mann, was auch etwa der Größe einer römischen Centurie (in der Regel 80 bis 100 Mann) entspricht. Entscheidend ist der Nachweis einer Rangstaffelung innerhalb dieser Kriegergefolgschaften. Die archäologischen Befunde erlauben nur Schätzungen zur Größenordnung, da selten alle niedergelegten Waffen auch geborgen wurden und außerdem nicht klar ist, ob die Ausrüstung der gesamten besiegten Streitmacht oder die gesamte Kriegsbeute am Platz geopfert wurde. In den Moorfundkomplexen sind Heereseinheiten zwischen 200 und 600 bis 1000 Mann erfassbar (vgl. S. 706). In Vimose sind drei große Waffenniederlegungen untersucht, am Platz Vimose 3 entsprechen 300 Schwertscheidenbeschläge 300 Kriegern. Die Schildbuckel spiegeln wiederum die Rangstaffelung; sie sind mehrheitlich aus Eisen, einige aus Bronze und zwei aus Silber und Bronze. In Ejsbøl Nord liegen aus der Zeit um 300 n. Chr. die Waffen von 200 Mann vor, von denen 60 mit Schwert und 12 bis 15 zusätzlich mit exklusiver Ausrüstung, kostbarem Pferdegeschirr sowie Sporen ausgerüstet waren. Welchen Lebensstil der Anführer einer Einheit von 60 bis 80 Kriegern pflegte, zeigt das 1990 entdeckte „Königsgrab“ von Gommern, Sachsen-Anhalt, datiert um 300 n. Chr. (vgl. S. 927) und ist daher mit Funden aus dem Moor von Illerup Ådal aus derselben Zeit zu vergleichen.2878 Auch diese Bestattung ist durch die Beigabe von reichhaltigem Geschirr aus Silber und Bronze, Holz und Keramik ausgezeichnet und besteht sowohl aus einheimischen Erzeugnissen, als auch aus römischem Import, der Ausstattung für ein festliches Gelage. Neben gewichtigem Goldschmuck gehörten zu den Beigaben drei silberne Pfeilspitzen mehr symbolischer Funktion, ein silbernes Sporenpaar und ein übergroßer Schild von 1,30 m Durchmesser mit einem silbernen Buckel von 16,9 cm Durchmesser. Dieser Schildbuckel ist aus einem römischen Silbergefäß hergestellt worden und wurde dann mit germanischen Ornamenten besetzt
2877 A. Becker 2015, 29. 2878 M. Becker 1998; 2008a, b; 2014.
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(vergoldete Pressbleche aus Silber sind teils Münzabschläge nach Severus Alexander, 222–235 n. Chr.), wie sie auch von Prunkschilden aus dem Moor von Illerup bekannt sind.2879 Der Bezug zwischen Kriegszügen und Stammeswelt ist sozial und politisch von Bedeutung. Die Wechselwirkung zwischen den Unternehmungen von Gefolgschaftsverbänden und der Stammesbildung in der Germania magna ist offensichtlich. Die Stammesbildung aus mobilen, eigentlich nur auf Zeit gebildeten Gefolgschaften wurde gar durch den Druck der Römer gefördert. So diente der Name einer Gefolgschaft in der Folge als Benennung eines Stammes. Auxiliareinheiten im römischen Heer waren, so schon unter Arminius, Gefolgschaftsverbände. „Man wird daher auch die Herrschaft des Markomannen Marbod nicht als eine Staats- oder gar Reichsbildung bezeichnen können, auch wenn römische Geschichtsschreiber geneigt sind, die Begriffe für die römischen Institutionen auf die Germanen zu übertragen. Marbods Heerkönigtum basierte auf Klientel- und Gefolgschaftsverhältnissen, die er zwar erheblich auszuweiten, nicht aber in eine weiträumig durchorganisierte Herrschaft zu transformieren vermochte“.2880 Gefolgschaftsführer besaßen Möglichkeiten und Mittel, die zu einer Herauslösung aus der alten Stammesgesellschaft führten und parallel mit Landnahmen zu neuen Stammesbildungen führen konnten. Germanische Stammeseinheiten und Gefolgschaftsverbände fanden Aufnahme auf römischen Territorien und wurden hierdurch in das gestaffelte Grenzschutzsystem integriert. Andere Auxiliareinheiten kehrten zurück in die Ausgangsgebiete. So werden anhand der als Charonspfennige verwendeten Solidi die Bestatteten in Gräbern der HaßlebenLeuna-Gruppe (vgl. dazu unten S. 929) als zurückgekehrte Söldner aus dem spätantiken Sonderreich des Postumus (259–268) gedeutet.2881 Die in der Überlieferung bei antiken Schriftstellern genannten Namen meinten weniger die sich als Abstammungsgemeinschaften bzw. als Verwandtschaften fühlenden beieinander siedelnden bäuerlichen Familien, sondern in erster Linie Kriegerverbände, Gefolgschaften, weil für die antiken Autoren meist nicht erkennbar war, ob und wo Stämme in fest begrenzten Territorien so benannt wurden.2882 Schon die vielfach in den antiken Texten erwähnten Gaisatoi, Speermänner aus allen Gegenden Galliens, wurden nicht als Stamm, sondern als mobiler Kriegerverband gesehen.2883 Gaesaten sind Krieger von Rang, ähnlich werden die Namen der Heruler und Sueben gedeutet. Den Kampfverband eines Anführers bildete oftmals eine Koalition aus mehreren Gruppen mit eigenen Benennungen unter unabhängigen Kommandeuren. Ich habe erläutert, dass
2879 Prunkschild-Buckel von Gommern und Illerup: Gold für die Ewigkeit 2000, 133 Schildbuckel; v. Carnap-Bornheim, Ilkjær 1996, Taf. 205 Schildbuckel 118/66; Saxones 2019, 106, Abb. 4 Schild insgesamt von Illerup. 2880 Kehne, Salač 2009; Kehne 2009a, b. 2881 Werner 1973. 2882 Steuer 2003a; 2006a. 2883 Schmeja 1998.
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die Heere des Ariovist, des Arminius oder des Marbod und später die der Alemannenkönige des 4. Jahrhunderts wie Chnodomar sich so aus mehreren Gefolgschaften zusammensetzten. Anführer brachten ihre Gefolgschaft als Auxiliareinheiten in die römische Armee ein, so schon Arminius, oder auch in den größeren Verband einer Koalition mehrerer derartiger Gruppierungen. Eine andere Bedeutung hatten lokale Kriege in Germanien. Kriege von Gefolgschaften konnten innerhalb eines Stammes stattfinden, zwischen benachbarten Stämmen und – und wie zuvor diskutiert – als Beutezüge in der Ferne. Kriege innerhalb eines Stammes sind archäologisch anhand folgender Befunde zu erkennen: Manch Anführer lebte, wie auch archäologisch nachgewiesen, in einem befestigten Gehöft. Tacitus berichtet über die Belagerung und Befreiung des Segestes durch Germanicus (Annalen I, 57, 1–3) (vgl. oben S. 308). Ähnlich schildert er den Sturm auf die Befestigung des Marbod (Annalen II, 62, 1–2): Catualda … überfiel die Königsburg und die nahegelegene Festung des Marbod (regiam castellumque iuxta situ). Kriege zwischen Stämmen als Siedlungsgemeinschaften sind anhand der erwähnten zahlreichen See- und Landbefestigungen im westlichen Ostseeraum und in Jütland, zu denen Tacitus in Norddeutschland den Angrivarierwall nennt (Tacitus, Annalen II, 19, 2) nachgewiesen (auch S. 339): Schließlich wählten sie einen Ort aus, der von Fluss und Wäldern eingeschlossen war und im Innern eine enge, feuchte Ebene (bildete); auch die Wälder umgab ein tiefer Sumpf, nur an einer Seite hatten die Angrivarier einen breiten Wall aufgeschüttet, durch den sie von den Cheruskern getrennt wurden. (nisi quod latus unum Angrivarii lato aggere extulerant, quo a Cherusci dimirementur).
Caesar erläutert ebenfalls gewissermaßen Verteidigungsanlagen der eigenen Stammesterritorien, indem Ödlandgürtel rund um das Gebiet geschaffen wurden. Mehrmals wurde schon darauf hingewiesen, dass es Waffenkammern für zentrale Ausstattung gegeben haben muss. Wenn archäologisch belegt werden kann, dass Waffen normiert sind und deshalb aus Arsenalen stammen, dann ist der Schluss auf Gefolgschaftsherren, die darüber verfügten, naheliegend. Tacitus (Germania c. 44) nennt eine solche Waffenkammer bei den Suiones, aber betont die Besonderheit. Während bei allen anderen Stämmen die Waffen an die Krieger verteilt sind, sind sie dort unter Bewachung eines Wächters verschlossen. Im Prinzip hatten alle Männer Waffen erhalten, als Mitglieder einer Gefolgschaft vom Anführer. Der princeps hat die comites mit Ross und Speer auszurüsten, die ökonomische Grundlage für diese Leistung sind Krieg und Raubzug (Tacitus, Germania c. 14, 2): Sie verlangen nämlich von der Freigebigkeit ihres Fürsten das bekannte Schlachtross und den blutgierigen und siegreichen Speer (exigunt enim principis sui liberalitate illum bellatorem equum, illam cruentam victricemque frameam). Allein die Notwendigkeit, gemeinsame Kampfesweisen zu üben, sei es für den Schwert- oder Lanzenkampf, sei es für den Reiterkampf, spricht für Gruppenbildung,
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meist im Sinne von Gefolgschaften. Der Anführer sorgt für die Bewaffnung seiner Leute und über Geschenke und Beuteanteile auch für den sonstigen Unterhalt. Bei Velleius Paterculus (Anfang 1. Jahrhundert n. Chr.) (2, 109, 2) heißt es: „… durch fortdauernde Übung (perpetius exercitiis) [hat das Heer des Marbod] fast das Gepräge römischer Zucht gewonnen …“. Das Heer bestand aus 70 000 Fußsoldaten und 4000 Reitern, die zudem in ständigen Kriegen gegen die Nachbarn die Übung für eine größere Aufgabe sahen. Zuvor habe ich darauf hingewiesen, dass diese sehr hohe Zahl von Kriegern ein Topos sein wird und nicht der Realität entsprochen hat (vgl. S. 677). Die prächtig mit Schnitzereien auf den Holzblättern der verzierten Schwertscheiden – in Form unterschiedlicher Schlangenornamente –2884 oder die Ornamentik der Metallbeschläge an den Schwertern des 4./5. Jahrhunderts aus Nydam sind sichtbar in zentralen Werkstätten bzw. Waffenschmieden der Elite hergestellt worden, ähnlich wie die mit auffälligen Schnitzereien verzierten Lanzenschäfte aus Nydam III. Auch die Boote für die Überfahrten zum Kriegseinsatz werden sicherlich seit der Zeit des Fundes von Hjortspring, datiert um 350 v. Chr., – wo man anhand der ausgegrabenen Reste vier Boote errechnet hat – bis zu den Schiffen von Nydam von den Gefolgschaftsführern gestellt und ausgerüstet. So sind inzwischen anhand der archäologischen Quellen Ausrüstung, Mobilität und innere Struktur einer Kriegergefolgschaft zu erläutern. Auch die 300 Schwertriemenbügel aus Vimose, von denen 60% römischer Provenienz sind, gelten als Beleg der Ausrüstung von Kriegern aus der zentralen Waffenkammer, in denen die „importierten“, erbeuteten oder gekauften Waffen gelagert waren. Schon die Versorgung mit waffentauglichem Eisen lag in der Hand des Gefolgschaftsherrn. Die einzelne eiserne germanische Bewaffnung (ohne die römischen Schwerter) aus Speer, Lanze und Schild in Illerup Ådal wiegt 500 bis 750 g. Eine Truppe von 600 Mann benötigte 3 bis 4,5 t Waffen aus Eisen. Anführer kontrollierten die Rohstoffquellen und Waffenwerkstätten. Kontrovers bleibt die Bewertung der Waffen in Gräbern (dazu oben S. 661). Zwar schreibt schon Tacitus in seiner Germania (c. 13.1): In öffentlichen wie in privaten Angelegenheiten aber machen sie nichts unbewaffnet… (nihil autem neque publicae neque privatae rei nisi armati agut).
Somit war der germanische Mann auch während seines alltäglichen Aufenthalts zu Hause in seinem Stammesgebiet immer bewaffnet, nicht nur bei Feldzügen. Aber die Waffenbeigabe im Grab war trotz aller umfassenden Zusammenstellungen durch die Archäologen in keiner Gesellschaft in Germanien tatsächlich die Regel. Die Mehrheit der Männer bekam nämlich keine Waffen mit ins Grab. War die Waffe im Grab zu jener Zeit immer eine Auszeichnung? War sie nur für „Berufskrieger“, nur für die Mitglieder einer Gefolgschaft üblich?
2884 E. Jørgensen, Vang Petersen 2003, Abbildungen.
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Ohne Zweifel sind die großen Waffenopfer mit ihren einheitlichen, zusammengehörenden Ausstattungen der Niederschlag von Krieg, Heereseinheiten unter der Führung von Kriegsfürsten und damit von Kriegergefolgschaften. Aber ob diese ausschließlich bei ihrem Tod und zur Bestattung auf heimatlichen Gräberfeldern Waffen als Beigaben ins Grab mitbekamen, ist einfach nicht zu klären. Zwar weisen Waffen in der Bestattung darauf hin, dass die Toten einst mit Kampf und Krieg zu tun hatten. Doch handelt es sich in erster Linie nur um eine Bestattungssitte, wenn Toten Waffen beigelegt wurden, entweder weil der Tote ein Anrecht darauf hatte, nach Meinung der Bestattenden sie im Jenseits benötigte oder um seinen Rang zu zeigen. Meist war die Bewaffnung in Abhängigkeit vom Alter des Gestorbenen zusammengesetzt, was der Rolle in der realen Welt entsprach. Gehörten somit die im Tod bewaffneten Krieger – meist wesentlich weniger als 50% der Männer auf einem Gräberfeld – einer militärischen Einheit an, also einer Gefolgschaft, als sie starben, und waren die anderen Männer keine Krieger? Die systematische Analyse der Gräberfelder in England der Angelsachsen hat gezeigt, dass hier die Waffenbeigabe in dieser Epoche ein spezieller Bestattungsbrauch bestimmter Familien gewesen ist und weniger mit Kriegswesen zu tun hatte (vgl. oben S. 665).2885 Für die Spätlatènezeit wurde versucht, anhand der weitläufigen Verbreitung gleichartiger Waffentypen und Bewaffnungen, wobei „keltische“ Waffen in Gräbern von Germanen lagen, einen überregionalen Zusammenhang zwischen diesen Kriegern herzustellen, der auf Gefolgschaften hinweisen würde. Doch darf man eigentlich nur sagen, dass ein weitreichender Kontakt in der Schicht der Krieger bestanden haben wird, der zu ähnlichen Rüstungen und Grabsitten geführt hat. Bei der Elite sind solche weitreichenden Kontakte in jeder Epoche gegeben, die als eine Möglichkeit auch auf eine gemeinsame Beteiligung an Kriegszügen im Rahmen einer Gefolgschaft zurückgehen könnten. Als Ergebnis bleibt festzuhalten, dass Gefolgschaften für die ersten Jahrhunderte n. Chr. in der Germania magna existiert haben und anhand archäologischer Befunde mit größerer Wahrscheinlichkeit nachzuweisen sind. Sie sind als Organisationsform vorstaatlicher Gesellschaften in den Phasen der Anführer und Häuptlinge von Stammesgesellschaften der Beginn von Herrschaftsbildungen. Während der Römischen Kaiserzeit, den ersten Jahrhunderten n. Chr., entwickelten sie sich vordringlich als Reaktion auf die römische Bedrohung. Nachdem Gallien seit Caesar in das Römische Reich integriert worden war, wuchs der Druck auf die verschiedenen Siedlungsgemeinschaften in Germanien rechts des Rheins. Römische Herrscher, Kaiser und ihre Generäle, brauchten Kriege gegen germanische Gruppen, um durch leichte und garantierte Siege ihre Machtposition zu sichern.2886 Die Folge waren die Festigung der Stammesstrukturen auf der Gegenseite, um zur Verteidigung bereit zu sein, die Chance für militärische Führer als Gefolgschaftsherren, schlagkräftige Gefolgschaften
2885 Härke 1992, 217. 2886 Drinkwater 2007.
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aufzubauen, und die Zunahme von Kriegszügen, der Beute wegen zur Finanzierung dieser Gefolgschaften. Diese Kriegszüge waren gegen Rom gerichtet, wo man gern Waffen und Luxusgüter erbeutete, aber auch gegen nahe und ferne Nachbarn. Denn ein solidarisches Denken aller Germanen gab es nicht; dafür gibt es keinerlei Hinweise, und jeder Stammesverband und jede Gefolgschaft war sich selbst am nächsten. Die allgemeine Zunahme römischer Sachgüter in Germanien, der Wandel der Sozialstrukturen, das Aufkommen von Körperbestattungen mit reichen Beigaben zumeist römischer Herkunft an der Stelle der sonst üblichen Brandbestattung, der Ausbau der Herrenhöfe mit Versammlungshallen, wurden entscheidend beschleunigt durch den Druck des Römischen Reichs auf die Gebiete rechts des Rheins. Gefolgschaften waren die Katalysatoren für den gesellschaftlichen Wandel, und über römische Zivilisationsgüter werden sie im archäologischen Quellenbestand leicht fassbar. Diesen Weg „vom Stamm zum Staat und Krieg“ habe ich in der Graphik zu schildern versucht (Abb. 64).2887 Gefolgschaften bestimmten das Leben, waren in jenen Epochen ständiger kriegerischer Auseinandersetzungen zugleich Lebensstil und Weltanschauung, und sie waren die Grundlage für neue Machtkonzentrationen, die später über Landbesetzungen auch territorialisiert wurden. Geht man von derartigen Beschreibungen zur sozialgeschichtlichen Realität weiter, so stößt man auf die soziologische Staffelung der Führungspersönlichkeiten, die im Lateinischen dux, comes, rex lauten können, in der Sprache der Soziologie great man, big man, chief.2888 Ein great man ist aufgrund seiner Taten und Fähigkeiten ein Anführer, die Position ist nicht vererbbar und gilt nur auf Zeit. Nach dem Ende des Konflikts bzw. des Kriegszugs ist er wieder ein normaler Mann. Ein big man hat individuelle Fähigkeiten und hat Taten vollbracht, hat die Wirtschaft in seiner Hand konzentriert, was sowohl Produkte der Landwirtschaft als auch Prestigegüter angeht. Er behält auch in Friedenszeiten seinen übergeordneten Status. Der wirtschaftliche Erfolg ersetzt in Friedenszeiten also den militärischen Erfolg. Die Position ist nicht per se erblich, aber seine Abstammung kann dazu führen. Ein chief führt wirtschaftlich und militärisch, und sein Status ist vererbbar. Für die keltische Gesellschaft in Gallien werden derartige Modelle aus der Anthropologie und Sozialgeschichte herangezogen, wie M. H. Fried 1967, E. R. Service 1962, J.-W. Lapierre 1977, T. Earle 2000 oder A. Testart 2005 entwickelt haben.2889 Die Abstufungen gehen von der Bande zum Stamm und weiter zum Häuptlingtum und schließlich zum (frühen) Staat (Abb. 64). Hier soll das nicht weiter vertieft werden; ich will damit nur aussagen, dass beispielsweise zwischen der Bevölkerung in Gallien und der in Germanien noch Unterschiede bestanden, dass in Gallien die Stufe der
2887 Steuer 2003a, 848 Schaubild; 2006b; vgl. auch Hedeager 1992a. 2888 Eichert 2014. 2889 Fernández-Götz 2014, 33 Fig. 2.5 Sozial-Typologien; Eichert 2014; Saile 2010.
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Abb. 64: Von der Bande zum Stamm und weiter zum Häuptlingtum und Staat. Modellschema der Entwicklung „vom Stamm zum Staat“.
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Häuptlingtümer erreicht worden war, mit Territorien der Stämme und jeweils einem (oder) mehreren Oppida als Zentralorte und Herrschaftsmittelpunkte mit Machtträgern, Oligarchen oder Ein-Mann-Herrschaft, während die Bewohner Germaniens erst noch dabei waren, Stämme zu territorialisieren in Verbindung mit Kriegergefolgschaften. Betrachtet man die Kriegsfürsten der mobilen Kampfverbände, die Gefogschaftsverbände, dann handelt es sich dabei zu Anfang wohl immer um duces oder great men, und erst, wenn eine Territorialisierung nach den Wander- und Kriegszügen möglich wurde, erreichte der Anführer die Position eines big man und gewissermaßen auch die eines Amtsträgers, also eines comes, wenn er von der örtlichen Herrschaft, etwa auf römischem Provinzboden, bestätigt wurde. Die Stellung eines rex oder chief blieb ambivalent, konnte erblich werden, wenn er sich von einer örtlichen Herrschaft unabhängig machte. Erinnert sei daran, dass der Titel rex in Germanien nicht üblich war, sondern von außen, von Rom verliehen wurde, so wenn Ariovist als rex bezeichnet wurde.2890 Bei den Gefolgschaften handelt es sich also um Verbände von Kriegern unterschiedlichster Herkunft mit verschiedenen Namen der Gruppen unter einem akzeptierten, zuvor erfolgreichen Anführer. Sie sind kleinere oder größere Heere, kein Volk und auch kein Stamm: Nicht der Stamm, sondern die wandernde und landsuchende Gruppe war das soziale Element […], und die Namengebung war entsprechend frei.2891
Das ist es, was ich meine: Die überlieferten sogenannten „Stammesnamen“ sind in erster Linie Namen für mobile Gefolgschaften, denen die Römer zuerst begegneten. Militärorganisation und Sozialorganisation hingen unmittelbar zusammen.2892 Aber das seien, so M. Jung, doch meist neoevolutionistische Modelle, die von einer Gestaltgleichheit der Militär- und der Gesellschaftsorganisation ausgehen, was aber nicht immer zusammenpasst. Er unterscheidet „Tribal Warfare“ und „Chiefly Warfare“ (erläutert an Befunden der Bronzezeit). Wie ich oben erläutert habe (vgl. S. 673), gab es in Germanien beides, nämlich den Krieg von Siedlungsgemeinschaften gegeneinander und den Krieg der Gefolgschaften unter Häuplingen, Heerkönigen, War Lords als Anführer, bei dem sich die Krieger sammelten und anschlossen. Ein weiterer Zugang zur Frage nach dem, was „Stämme“ (wie sie in der wissenschaftlichen Literatur ständig genannt werden) und Kriegerverbände gewesen sind, führt tatsächlich über die schriftliche Überlieferung durchaus weiter. Bei Beginn der Markomannenkriege werden die unterschiedlichsten „Stämme“ erwähnt: Markomannen, Langobarden, Ober, Naristen, Hermunduren, Quaden, Sueben, Sarmaten, Lakringer, Buren, Viktualen, Sosiber, Sikoboten, Roxolanen, Bastarner, Alanen, 2890 Dick 2008. 2891 Timpe 1978, 122 (Zitat); R. Wolters 2001, 158 mit Anm. 59. 2892 Jung 2015, 185 und 198.
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Peukiner und Kostoboken.2893 Das waren nicht bäuerlich siedelnde Gemeinschaften, sondern Kampfgruppen. Die römischen Armeen waren ähnlich zusammengesetzt, germanische Verbände stellten schon früh Hilfstruppen. Von anderer Seite wird das bestätigt:2894 Der Sassanidenherrscher Schapur I. (240–272 n. Chr.) hat in einer Inschrift in Naqš-e Rostam in den drei Sprachen parthisch, mittelpersisch und griechisch über seinen Sieg gegen die römischen Truppen Valerians (253–260 n. Chr.) berichtet und aufgezählt, wie vielteilig die römische Armee zusammengesetzt war: Zweimal werden Einheiten aus Germanien genannt, dann Einheiten aus Raetien, Noricum, Dakien, Pannonien, Moesien, Istrien, Spanien, Afrika, Thrakien, Bithynien, Asien, Pamphylien, Isaurien, Lykaonien, Galatien, Lykien, Kilikien, Kappadokien, Phrygien, Syrien, Phoenikien, Iudaea, Arabien, Mauretanien, Rhodos, Osrhoene und Mesopotamien, insgesamt 70 000 Mann. Valerian verliert, kommt in Gefangenschaft und stirbt bald darauf. Wenn es in der schriftlichen Überlieferung etwa heißt: „Einige der bedrohten Stämme baten nun … zu ihrem Schutz um Aufnahme auf römisches Reichsgebiet – eine Bitte, die Rom kurzsichtig verweigerte“.2895 Was waren das für Gruppierungen, diese Stämme, bäuerliche Siedler oder Kriegerverbände? Welche Gründe zu den Zügen von Kriegerverbänden beispielsweise in die römischen Provinzen geführt haben, liegen wohl eher im weltanschaulichen Denken mit Prestigehintergründen als in realen Problemen wie der Not in ihrer Heimat (so im Vorwort von GEO). Dort herrschte keine Not, was die Verpflegung angeht, auch keine unerträgliche Überbevölkerung; denn der größte Teil der Siedler blieben in der Regel in ihren Gebieten, und nur die Kriegerverbände zogen in der Ferne.
2893 Moosbauer 2018, 17. 2894 Moosbauer 2018, 135. 2895 Moosbauer 2018, 19 f.
17 Politisch-Territoriale Gliederungen in Germanien Die Dreigliederung der Gesellschaft in Germanien in Stamm, Kriegerverband und Territorium sollte noch weiter differenziert werden, so unter dem Blickwinkel der möglichen Identitäten. Wie bringt man die Kulturgruppen der jüngeren vorrömischen Eisenzeit und der Römischen Kaiserzeit mit diesen Modellen zusammen?2896 Der einzelne gehörte zu einer Familie, die mit anderen Familien in einer Siedlung beieinander lebten. Sie fühlten sich miteinander auch verwandt, bildeten den Kern einer Abstammungsgemeinschaft, die mit den nächsten Dörfern zusammen einen Stamm ausmachten (konnten). Sie besetzten zugleich durch die Nachbarschaft der Dörfer ein Territorium. Wie weit reichte diese Verbindung; gab es Grenzen des Gebietes? Oder durchdrangen sich die Abstammungsgemeinschaften? Nach der Schriftüberlieferung bei Tacitus gab es zudem auf einer höheren Ebene die Kultverbände der Ingväonen, Istävonen und Herminonen. Waren da mehrere Stämme zusammengebunden und bildeten wiederum eine territoriale Einheit mit Grenzen, oder durchdrangen sich auch hier die kultisch-religiösen Gruppierungen in unterschiedlicher Weise. Wirkmächtig waren in jenen Jahrhunderten aber vor allem die Kriegerverbände, Gefolgschaften unter herausgehobenen Anführern, den Warlords. Diese Kriegerscharen rekrutierten sich nicht nur aus einem Stamm oder benachbarten Stämmen, sondern der Einzugsbereich war wesentlich weiträumiger – wie oben erläutert (vgl. S. 786) – und hing u. a. vom Ruf des „Heerkönigs“ ab. Realistisch betrachtet gab es keine kontinuierlich begründete Identität für den Einzelnen oder eine Familie, sondern die Zuordnung wechselte, nicht nur im Laufe der Zeit, sondern unmittelbar auch je nach Zielvorstellung mit Blick auf Kult oder Krieg oder Heiratsmöglichkeiten oder Umsiedlung. Allgemein spricht man von Kommunikationsräumen, die sich in unterschiedlicher Erstreckung überlagert haben, je nachdem um welchen Kontakt zwischen einzelnen Menschen und Gruppen es sich gehandelt hat. Bei der Interpretation der archäologisch erarbeiteten Verbreitungskarten zu Sachgütern oder Siedlungs-, Bestattungs- oder Kultbräuchen habe ich darüber berichtet (vgl. S. 87 ff.); denn die Kartenbilder mit den näheren und weiterreichenden Verteilungsmustern sind zwar Konstruktionen der Archäologie, weil sie von diesen als gleichartig definiert auf einem geographischen Kartenbild mit Punkten oder Symbolen markiert werden, aber wie sie wirklich zustande gekommen sind, was „dahintersteckt“, muss theoretisch erschlossen werden, wozu methodische Zugänge oftmals erst noch zu finden sind. Die Reihe der Stichworte Handwerkerkreise, Handelsräume, Geschenkeaustausche, Heiratsbeziehungen, Verwandtschaften, Umsiedlungen oder Wanderungen lässt sich sicherlich verlängern.
2896 Steuer 2007 k. https://doi.org/10.1515/9783110702675-025
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Im Vergleich zur Gegenwart wird auch deutlich, dass bei evolutionistischem Denken mit Blick auf Sachgüter und Strukturen diese nicht linearen Veränderungen unterworfen waren. Wir erleben, wie zivilisatorische Einrichtungen aufgekommen sind, wieder abgeschafft wurden und nach einigen Jahrzehnten doch erneut gewählt wurden. Für mich sind das heute im Straßennetz die Kreisverkehre (round abouts) oder die Straßenbahnen. Sie wurden als nützlich empfunden und ausgebaut, aus modernistischen Gründen zeitweilig abgeschafft und werden gegenwärtig in den mittelgroßen Städten wieder eingeführt. Auch bei kleineren Sachgütern ist das zu registrieren: Die Uhr mit den zwei Zeigern wurde abgelöst von Uhren, die digital in nebeneinander erscheinenden Zahlen die Zeit anzeigten, aber auch diese Uhren sind verschwunden, und man kehrte in der Regel zu den zwei Zeigern zurück, die ein wesentlich rascheres Ablesen erlauben.
17.1 Sozialgeschichtliches Parallel zu den mobilen Gefolgschaftsheeren, die ihre Krieger aus der sesshaften bäuerlich wirtschaftenden Bevölkerung rekrutierten, mit Aussicht auf den Gewinn von Beute und Ansehen, war diese ländlich in Siedlungen strukturierte Gesellschaft in Germanien also territorial gebunden. Dörfliche Siedlungen meist gleichen Ranges, aber doch mit einigen Unterschieden, was Einwohnerzahl und Reichtum anging, besetzten dicht an dicht – das heißt meist mit Blickverbindung – die offenen Landschaften. Es gab Kommunikation zwischen den Siedlungen, die entsprechenden Wegeverbindungen und die Mobilität von Personen und Sachen in diesem Netzwerk von Dörfern. Man kannte sich sicherlich, füllte sich in gewisser Weise zusammengehörig und bildete deshalb vielleicht einen Stamm mit einem Territorium. Aber wie weit erstreckte sich ein Netzwerk, und wo bildeten sich Grenzen zum nächsten vergleichbaren Organisationsverband? Die gesellschaftliche und politische Ordnung der Bevölkerung in Germanien war recht komplex und zudem starken Wandlungen unterworfen. Drei Ebenen müssen unterschieden werden, die Ebene der Stämme, die Ebene der Struktur und Begrenzung von Territorien und die darüber agierende Ebene der mobilen Kriegerverbände. Die Römer dachten als Staat in territorialen Strukturen mit definierten Grenzen und strebten das auch bei den unterworfenen Völkerschaften an. Aber diese – jedenfalls in Germanien – lebten nicht in festgesetzten und begrenzten Territorien, sondern für sie galt zuerst der Verbund in einer realen oder zumindest gefühlten Abstammungsgemeinschaft von Personen. Der Stamm war also ein Personenverband, und dieser konnte ein geographisch begrenztes Gebiet bewohnt haben, aber seine Mitglieder waren auch darüber hinaus weitgehend miteinander verbunden, unabhängig wo man sich gerade aufgehalten hat. Eine Vorstellung davon, wie disparat das Verhältnis von Stamm zu Staat sein kann, zeigt der Blick in gegenwärtige Verhältnisse.
17.1 Sozialgeschichtliches
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In Afghanistan und in Libyen herrscht Krieg, man spricht von „failed states“. Aber das ist nicht ganz korrekt; denn zwischen dem Plan, einen Staat zu bilden, und der Zusammenarbeit von Stämmen auf etwa demselben Territorium folgen vielfache Versuche, Kompromisse oder kriegerische Auseinandersetzungen. Stämme und Gebietsherrschaften im Sinne eines Staates, eines Königreiches, sind Ausdruck völlig unterschiedlicher Denk- und Verhaltensweisen. Germanien war gegliedert in eine große Zahl von kleinen und größeren Stämmen, von Allianzen der Häuptlinge, „Könige“, auf Zeit untereinander. Es bleibt das Problem, wie das Verhältnis zwischen dem, was „ein Stamm“ war, und dem, was wir unter den Kriegerverbänden verstehen wollen, realistisch zu beschreiben ist. In der Forschung werden zumeist schriftliche Nachrichten und archäologische Ergebnisse vermischt und wechselseitig argumentiert, so dass sich keine klaren Definitionen ergeben. Die gesellschaftliche Gliederung der germanischen Verbände geht davon aus, dass die Truppen der Heerführer aus verschiedenen Stämmen rekrutiert wurden, aber das Verhältnis bleibt unbeschrieben: „In der Regel werden demgegenüber zivile innergermanische Aspekte, wie etwa die Stellung der Heerführer in ihren Siedelgemeinschaften, ausgeblendet“.2897 Jedenfalls hatten die Anführer, auch wenn Rom von reges sprach, keine monarchische Stellung, wie Alexandra Dick ausführlich anhand der Schriftquellen analysiert hat.2898 Ein komplexes, facettenreiches Bild, das zu keiner einheitlichen Sicht führt, bieten die „Sueben“, wie dazu die Kenntnisse in Heft 5/2014 der „Zeitschrift Archäologie in Deutschland“ zusammengefasst sind. Schon der langlebige und weitverbreitete Name der Sueben, von der Zeit Caesars und ihren Wohnsitzen im mittleren Deutschland bis zu den Sueben nach der Wanderung im Nordwesten der Iberischen Halbinsel und in Nordafrika.2899 Eine identitätsstiftenden Klammer für neue Kriegergruppen war die künstlich gewählte Bezeichnung „Donausueben“ seit der frühen Römischen Kaiserzeit, die bald mit Quaden und Markomannen verschmolzen.2900 Für diese Donausueben fällt die Verknüpfung mit archäologischen Quellen schwer. Sie werden mit Leuten unter hunnischer Herrschaft verbunden, gar mit den deformierten Turmschädeln der Frauen in diesem Kulturmodebereich und mit den sogenannten Silberblechfibeln des frühen 5. Jahrhunderts. 406/407 überschritten, so die Schriftquellen, Vandalen, Sueben und Alanen den Rhein und zogen durch Gallien bis zur Iberischen Halbinsel. Sueben waren beteiligt an der Schlacht auf den katalaunischen Feldern 451. Zum Heer des Attila gehörten neben Hunnen, Ostgoten, Gepiden, Rugier, Skiren, Heruler, Sarmaten auch Sueben. Es soll, aber völlig unrealistisch, 165 000 Gefallene gegeben haben. In der Schlacht am Fluss Nedao 454 wurden die Reste des hunnischen Heeres vernichtend geschlagen, wieder sehr viele, 30 000 Gegner getötet, auch darunter Sueben. 2897 Moosbauer 2018, 109 ff. 2898 Dick 2008. 2899 Quast 2014a. 2900 Beilharz 2014.
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Ein Gesamtbild der Sueben während der Römischen Kaiserzeit entwirft auf wenigen Seiten M. Hegewisch.2901 Eine weitere Klammer ist der sogenannten Swebenknoten, ihre spezielle Haartracht (vgl. oben S. 49). Köpfe mit Swebenknoten sind in unterschiedlicher Weise überliefert: Als Totenschädel von Osterby mit Haarknoten, bei der Moorleiche von Dättgen mit Haarschopf, als Attaschen an den Bronzekesseln von Mušov und Czarnówko, in Stein auf der Trajanssäule (120 n. Chr.) und als zahlreiche kleinere Bronzefiguren. Auf dem Tropaeum Traiani in Adamklissi ist ein Suebe zu sehen und im germanischen Fürstinnengrab von Haßleben hat ein Bernsteinanhänger einen Kopf mit seitlichem Haarknoten und schließlich auch ein Knopfhenkelchen aus Hodorf, Kr. Steinburg. Es entsteht fast der Eindruck, dass für die Römer alle kriegerischen Germanen diese Frisur getragen haben, die damit zu einem Topos geworden war. Nach der Schriftüberlieferung unterscheiden sich die Sueben durch den Knoten von den anderen Germanen, aber auch die Freien von den Sklaven, d. h. die Abhängigen im Siedlungsraum von Sueben trugen eine andere Frisur. Caesar lokalisiert Sueben im Bellum Gallicum irgendwo nordöstlich der Cherusker; und sie hätten 100 Gaue, von denen jeder jährlich 1000 Krieger stellen könnte; und das sei nur die Hälfte, da die anderen ihre Äcker bestellen müssten, und diese kamen dann im Folgejahr an die Reihe. Es wird versucht, über den Fluss Swine, der bei Ptolemaios Suebus flumen genannt wird, die Wohnsitze der Sueben zu lokalisieren. Das wäre recht weit nördlich in Richtung Ostsee. Bei Tacitus werden mehrere Stämme genannt: Burer, Lugier, Naharnavaler, Harier, Semnonen, Langobarden, Hermunduren, Narister, Markomannen, Quaden, die zu den Sueben gehören würden. Das wäre dann archäologisch der Bereich der Elb- und Ostseegermanen, also ein beachtlich großes Gebiet. Die Semnonen als Teil der Sueben werden auf den Karten der Althistoriker im Raum Berlin lokalisiert. Dort ist die Siedlung BerlinBuch 1988 bis 1996 ausgegraben worden, mit zwei- und dreischiffigen Häusern, sogar einem vierschiffiges Haus von 37 m Länge und 5,50 m Breite, also mit 196 m2 Nutzfläche.2902 Vier Gehöfte standen hier mindestens gleichzeitig, was nach meiner Übersicht (S. 289 ff.) nicht die durchschnittliche Größe germanischer Siedlungen war. Größere Siedlungen von über einem 1 ha Fläche als Teilausgrabung sind Kablow, Klein Köris, Nauen-Bärhorst und Göritz, ebenfalls oben beschrieben. Aber das Ethnos der Bewohner dieser Siedlungen ist und bleibt vorerst unbekannt; es hilft nicht weiter, die Bewohner dieser Häuser als Sueben zu bezeichnen. Das war eine bäuerliche Gesellschaft, und Sueben begegnen sonst nur im kriegerischen Zusammenhang. Auf weitere mit Namen überlieferte Gruppen gehe ich nicht weiter an dieser Stelle ein. Die Bildung von Stämmen zu bezeichnen als „It was characterized by a relatively loose bond between people organized in a tribe and the territory inhabited by
2901 Hegewisch 2014, 22 Abb. 2902 Hofmann 2003.
17.1 Sozialgeschichtliches
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them […]“, ist wesentlich zu einfach formuliert, wie zuvor von mir erläutert. Ein außerdem noch zu berücksichtigendes Thema sind mögliche Systeme von Vasallen- oder Klientelstaaten für Rom.2903 Wie es in Dänemark zur älteren und jüngeren Römische Kaiserzeit mit Stämmen, Gruppen und Kriegerverbänden ausgesehen hat, hat L. Hedeager zu beschreiben versucht.2904 Die römischen Legionäre stießen bei ihren Angriffen auf Dörfer, die befestigt waren – wegen der aufziehenden Bedrohung –, kleine natürlich begrenzte Landschaften, die ebenfalls durch „Landwehren“ gesichert waren gegen jede, auch einheimische Art von militärischer Bedrohung –, auf dicht besiedelte größere Landschaften mehrerer Stämme und schließlich auf die mobilen Kriegerverbände, die sich – zumindest auf Zeit – aus diesen Stammesgesellschaften gelöst hatten. Viele dieser Krieger kamen irgendwann auch wieder in ihr Dorf bzw. ihre Siedlung zurück, wo sie nach ihrem Tod auch bestattet wurden. Wenn ein römischer Heerführer Leute fragte, wer sie seien und wohin sie gehörten, sagten die Krieger den Namen des Familienverbandes ihres Anführers, z. B. er sei Cherusker, fragte er einen Bewohner des Dorfes oder Gehöftes, dann sagte dieser womöglich auch, er sei Cherusker, weil er sich dem Personenverband zugehörig fühlte. Die Kriegerverbände waren mobil, so dass der Name der Gruppe in weit entfernten, verschiedenen Gebieten genannt wurde und damit auch wanderte. Womöglich war der Name dann auch an den Bewohnern der ländlichen Siedlungen hängen geblieben, auch wenn die mobilen Gruppen denselben Namen mitnahmen, weil der Anführer ihn führte. All das konnte zu einer facettenreichen Verwirrung führen, wenn man die Verhältnisse nicht kannte, und sich über scheinbare Widersprüche wundern. Die Landschaften in Germanien waren also von ihren Bewohnern gegliedert und strukturiert worden, was unmittelbar durch die Verteilung der dörflichen Siedlungen abgebildet ist. Diese waren nicht alle gleichrangig; es gab eine Hierarchie in der Landschaft; diese Hierarchien in der Landschaft abgebildet zu finden, versucht die archäologische Forschung auf verschiedenen Wegen zu erkennen. Ausgrabungsbefunde spiegeln die unterschiedliche Ranghöhe der Siedlungen. Der aber immer noch – trotz der massiven Zunahme dieser Ausgrabungsbefunde – begrenzte Ausgrabungsstand, meist wurden nur Teile der Siedlungen erfasst, bzw. der noch unzureichende Publikationsstand zwingen dazu, Ergebnisse aus verschiedenen Landschaften zusammenzusehen und damit zu verallgemeinern. Die Elemente im Siedlungsnetz sind kleine Gehöftansammlungen und größere Dörfer, die Strukturen unterschiedlichen Ranges innerhalb der Siedlungen, darunter sind die „Herrenhöfe“, und auch Befestigungsanlagen. Die Dichte der bäuerlich-landwirtschaftlich ausgerichteten Gehöftkomplexe, durchaus als dörfliche Siedlungen zu bezeichnen, ist beachtlich; tatsächlich liegen die
2903 Kehne 2000. 2904 Hedeager 1988; 1990.
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Siedlungen – wie es die Regel ist über die Zeiten hinweg – im Abstand von wenigen Kilometern, die „Gemarkungen“ mit Radius von 2 oder 3 km stoßen aneinander (vgl. S. 381). Die Linie der römischen Vormarschlager in Germanien vom Rhein und der Lippe bis nach Hedemünden an der Werra sind zugleich Hinweise auf die Bevölkerungsdichte in Germanien und damit auch auf die militärische Stärke der Siedlungsgruppen; denn die römischen Truppen zogen bewusst durch eng besiedelte und erschlossene Landschaften, um sich zumindest teilweise bei der örtlichen Bevölkerung freiwillig oder unter Zwang zu versorgen. Fast flächendeckend ist bei sorgfältiger archäologischer Prospektion und Erfassung von Oberflächenfunden die verblüffend hohe Verbreitungsdichte von bestimmten Keramikformen und anderen Siedlungsanzeigern der ersten Jahrhunderte n. Chr., die auch ohne Ausgrabungen die Dörfer eindeutig zu lokalisieren erlaubt. Ein Vergleich mit der Situation der Wurtenkette an der Wesermündung mit den Siedlungen Feddersen Wierde und Fallward / Wremen oder mit den Siedlungen an der Werra bei Hedemünden ist möglich und erlaubt, den Wirtschaftsraum pro Siedlung abzumessen.
17.2 Territorien Die natürliche Landschaftsgliederung durch Flusstäler, Gebirge und Moorgebiete bildete zwar begrenzte Siedlungseinheiten oder Siedlungskammern ab, die in manchen Gegenden zusätzlich durch Palisaden- und Grabenzüge befestigt wurden und markierten so leicht erkennbar territoriale Grundeinheiten von 30–50 km Durchmesser. Mit den ältesten Landwehren dieser Art kommt man bis ins 2. und frühe 3. Jahrhundert zurück (vgl. S. 335). Die landschaftliche Besonderheit der kimbrischen Halbinsel, also Jütlands, erleichterte es der modernen Forschung, diese Gliederungen zu erkennen, die aber auf dem Festland ebenfalls zu vermuten ist. Die Verteilung der „Fürstengräber“ der älteren Römischen Kaiserzeit (die Gruppe der Lübsow-Gräber des 1./2. Jahrhunderts n. Chr., nach dem Gräberfeld von Lübsow/ Lubieszewo in Westpommern benannt) und der Jüngeren Römischen Kaiserzeit (die Gruppe der Haßleben-Leuna-Gruppe des 3./4. Jahrhunderts, nach Gräberfeldern in Thüringen benannt) in Germanien lässt ein ähnliches Muster erkennen (zu diesen Bestattungen vgl. unten S. 929). Die Kartierung dieser bisher bekannten Elite- oder Fürstengräber – die sichtlich eine Oberschicht und Herrschaft spiegeln, die Sitze eines Teils der Elite, der politischen Entscheidungsträger – bietet die Unterteilung der Landschaft (Abb. 65). Neue Funde sind hier und da hinzugekommen, vor allem für die jüngere Römische Kaiserzeit. Das ist aber nur ein momentanes Zufallsbild, was sich immer dann ändert, wenn neue ranghohe Fundkomplexe entdeckt werden. Die flächenhafte Kartierung zeigt, dass damals das Herrschaftsgebiet einer führenden Familie oder eines Anführers einen Durchmesser von 20 oder 30 bis höchstens 50 km hatte. Dabei ist die tatsächliche Ranghöhe und Machtsituation nur relativ, nicht absolut zu beschreiben. Es wird gefragt, ob
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Abb. 65: Lage der „Fürstengräber“ der beiden Phasen der Römischen Kaiserzeit, des 1./2. und des 3./4. Jahrhunderts n. Chr.
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man mit der gesellschaftlichen Spitze im archäologischen Befundbild reiche Bauern, Adlige oder „Fürsten“ erkennen kann.2905 Zumindest ist es aber das gesellschaftliche Niveau, aus dem heraus sich die wirklichen Führungspersonen oder -familien rekrutierten; die manchmal als „Königsgräber“ etikettierten Prunkgräber von Mušov und Gommern überragen die Gruppe der „Fürstengräber“ noch einmal. Auch sollte nicht übersehen werden, dass (dazu vgl. S. 962) auch Brandbestattungen indirekt bei sorgfältiger Auswertung der verbliebenen Reste der kostbaren Beigaben zu den „Fürstengräbern“ zu rechnen sind, wodurch das Netz der Elitegräber verdichtet wird; und schließlich muss nicht jede Elitefamilie in Germanien sich diesen auffälligen Grabsitten angeschlossen haben; zumal wenn diese neuen Grabsitten durch Vorbilder römischer Verhältnisse beeinflusst worden sind, was nicht jede Gruppe akzeptieren wollte. Die zugehörigen Siedlungen liegen regelmäßig nahe von Gewässern, die mit Booten zu befahren waren und zum gesamten übergeordneten Flussnetz eine gute Verbindung hatten. Auch die späteren Höhenstationen des 4./5. Jahrhunderts im Südwesten Germaniens vor dem spätrömischen Limes an Rhein und Donau sind recht regelmäßig über das Land verteilt ausgebaut worden, bezogen auf die natürliche Umgebung, was entsprechende Berge und Höhenzüge voraussetzt. Die Abstände zwischen den größeren Höhenstationen betragen ebenfalls weniger als 50 km. Die eigenen Forschungen zu den Höhensiedlungen des 4./5. Jahrhunderts der nach Südwesten vordringenden germanischen Kriegergruppen weisen diese Gliederung in gleichartige kleine Territorien auf (vgl. oben Abb. 32).2906 Das Kartenbild spiegelt die gleichmäßige geographische Verteilung, natürlich wiederum nur den gegenwärtigen Forschungsstand. Aber gerade aufgrund der regelhaften Verteilung gelang es, weitere Plätze in scheinbaren Lücken zu finden. In der nächst jüngeren Epoche der „Völkerwanderungszeit“ sind die ersten entstehenden Zentralorte (vgl. oben S. 352), Elitesiedlungen und Handels- sowie Handwerkerplätze ebenfalls, jeweils mit Blick beispielsweise auf den Verlauf der Küstenlinien nicht wahllos, sondern in geregelten Abständen entstanden und ausgebaut worden. Ein weiterer Weg, die territoriale Gliederung der Landschaft zu erkennen, wäre – was mit noch großer statistischer Unsicherheit belegt ist – die Kartierung von Siedlungen mit Herrenhöfen, was bisher höchstens in Anfangsversuchen für Jütland möglich ist. Denn noch geht die Diskussion darum, ob von einem Herrenhof nur innerhalb einer größeren Dorfgemeinschaft Herrschaft ausgeübt werden konnte, der „Herr“ dort vielleicht auch nur als primus inter pares in der Siedlung zu sehen ist, oder ob man Plätze erkennen kann, in denen tatsächlich ein überregional wirkender Anführer, ein „Adliger“ residiert hat. Per Ethelberg hat versucht, für das südliche Jütland solche Zentralorte der Herrschaft und damit die Größe der Territorien zu beschreiben, mit dem Ziel, das Gebiet entstehender früher „Königreiche“ zu definieren, die erkennbar seien
2905 Gebühr 2009; Abb. 3; Steuer 1999, 384. 2906 Steuer 2007b; 2017a, 266 Abb. 11; 2017b.
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aufgrund von Unterschieden im Hausbau und den Sachgütern. Der Durchmesser dieser theoretisch umrissenen Gebiete beträgt ebenfalls etwa durchschnittlich 40 km.2907 Eine neue Zusammenfassung aus dem Jahr 2017 beschreibt das überzeugend (Abb. 66).2908 Der Verfasser kartiert die ersten dänischen Reiche der Jüten, Varnen (Oberjersdal) und Angeln mit den Landwehren und den Siedlungen, ergänzt durch die Hausformen der Angeln im 1. Jahrhundert, der Varnen im 1. bis 2. Jahrhundert und der Jüten im 3. Jahrhundert. Die Machtgebiete werden mit Hilfe der ThiessenPolygone konstruiert.2909
Abb. 66: Mitteljütland aufgeteilt nach Herrschaftsgebieten, - Fürstengräber, - Häuptlingssitze.
Dieses Aufkommen von Königreichen in Dänemark und der Weg vom „Stamm zum Staat“ hat U. Näsman ebenfalls diskutiert.2910 Römisches Gold und frühes germanisches Königtum wurden während eines Symposiums für die Phase von 1 bis 550 n. Chr. betrachtet.2911 2907 Ethelberg 2009d, 177 Abb. 9; 2011a. 2908 Ethelberg 2017a, 16 Abb.; Møller-Jensen 2010, 219 Farb-Abb. 2909 Ethelberg 2017a, 18. 2910 Näsman 1999; 2006. 2911 Magnus (Ed.) 2001.
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Eine neuere Forschungsrichtung wird unter dem Begriff „Landschaftsarchäologie“ zusammengefasst, wobei es nicht allein darum geht, alle Siedlungsrelikte, Gräberfelder und Wirtschaftsanlagen sowie Ackerfluren, also den gesamten Wirtschaftsraum einer Siedlung, in einem Gebiet zu erfassen, sondern auch ihren Zusammenhang zu beschreiben, um abzulesen, wie bewusst die Strukturierung der Landschaft vorgenommen worden ist (vgl. oben S. 158). Über eine erkannte Hierarchie der Siedlungen z. B. mit Herrensitzen ergibt sich die Projektion der Herrschaft in die Landschaft hinein. Es geht um die Abhängigkeit von Höfen und Dörfern vom Herrenhof – einem „Adelssitz“. Ebenso scheint die Projektion von Kultplätzen und Kultverhalten in die Landschaft möglich, was als Konstruktion eine Sakrallandschaft abbildet. Jede Gesellschaft strukturierte und konstruierte damit die Landschaft, in der sie lebte, wirtschaftete und kultischen Bräuchen nachging, immer wieder neu nach eigenen Vorstellungen. Die Bewohner sahen die Spuren ihrer Vorgänger, ob das nun Grabhügel oder Ringwälle waren, und versuchten oftmals, sich daran anzulehnen, um Ansprüche auf Land durch Verbindung zu vorgestellten „Ahnen“ zu belegen. Als gegenwartsbezogene Landschaftsgenese konnte man zu jeder Zeitphase, damit auch während der ersten Jahrhunderten n. Chr., jeweils den Zustand der Landschaft registrieren, in der man lebte, und sehen, was zuvor Generationen zu der bestehenden Situation beigetragen hatten (vgl. auch oben S. 156). Das sind erste Ansätze einer territorialen politisch-sozialen Gliederung der Gesellschaft in Germanien mit Blick auf Territorien und deren Grenzen. In der späten vorrömischen Eisenzeit und in der frühen Römischen Kaiserzeit ist der Beginn dieser Vorgänge über archäologische Befunde zu erfassen, als ein Prozess, der damals begann und kontinuierlich bis zur Karolinger- bzw. Wikingerzeit zu verfolgen ist. Die anfangs vor Chr. Geb. noch relativ kleinen landwirtschaftlich ausgerichteten Gehöfte nahmen ständig bis ins Mittelalter an Größe zu, allein wenn man die Grundrisse der Wohn-Stall-Häuser und den Umfang der Stallteile für das Vieh betrachtet sowie die Parzellengröße der Gehöfte mit den Nebenbauten selbst. Einige graphische Zusammenstellungen haben das in den letzten Jahren mehrfach überzeugend gezeigt.2912 Am Ende steht das, was als Grundherrschaft mit Haupthof und abhängigen Höfen bezeichnet wird. Die Wurzeln in Germanien liegen in der Epoche der ersten Jahrhunderte n. Chr. Wie weit das auf innere gesellschaftliche Dynamik zurückging und bzw. oder auch auf Einflüsse aus der römischen Welt, darf noch diskutiert werden. Eine weitere Facette der Gesellschaftsformen bildeten die – immer wieder thematisierten – frei beweglichen Kriegerscharen, die losgelöst von den dörflichen Gemeinschaften durch Germanien zogen. Ihre Anführer und ihre jeweilige Gefolgschaft bildeten Einheiten, die Namen trugen und daher von den Römern mit territorial gebundenen Siedlungsgemeinschaften (Stämmen?) verwechselt werden konnten. Diese Heere hießen nach den Anführern, Arminius gehörte zur Sippe der
2912 Riedel 1999, 81 Fig. 1; Steuer 2007c, 463 Abb. 71.
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Cherusker, und nur solange es diese Familie gab, gab es auch einen Stamm der Cherusker. Nachdem die letzten Vertreter aus dem Clan des Arminius und Segestes ausgeschaltet waren, die von Rom unterstützten bzw. gar eingesetzten Könige Italicus und Chariomerus (unter Domitian 81–96 n. Chr.), gab es keine Nachrichten in der schriftlichen Überlieferung mehr mit Nennung der Cherusker.2913 Somit spiegeln die sog. „Stammesnamen“ der antiken Überlieferung in erster Linie Kriegsführer mit ihrem Anhang. Sie wurden von der Forschung des 19./20. Jahrhunderts aufgrund des Denkens in Nationalstaaten mit ihren Grenzen als territoriale Einheiten auf der Landkarte eingetragen. „Völkerwanderungen“ waren keine Wanderungen von Völkern und Stämmen, sondern waren Kriegszüge. Die antiken Schriftsteller haben mit ihren Ordnungsvorstellungen also die Namen der mobilen und multiethnisch zusammengesetzten Gefolgschaftsverbände mit den Einwohnern von Territorien gleichgesetzt oder verwechselt, aus denen sich ein Teil der Krieger rekrutierte. Die Autoren haben vom Blickwinkel des Römischen Reichs her den prinzipiellen Unterschied zwischen Kriegergefolgschaften mit Namen und bäuerlicher Bevölkerung nicht erkannt. Die „Stammes“-Namen erscheinen in der antiken Überlieferung völlig verstreut nebeneinander auf, nicht weil Stammesteile in verschiedene Länder auswanderten, sondern weil ein Heeresverband aufgeteilt und an verschiedenen Plätzen eingesetzt wurde. Da wanderten nicht eigentlich bäuerlich sesshafte Stammesteile als Verwandtschaftsverbände umher, sondern im Prinzip mobile Kriegerverbände.2914 Verschiedene Namen wie Gaisaten, Heruler oder Sueben wurden schon genannt. Die Heruler sind eine Paradebeispiel, denn dieser Name für einen Kriegerverband taucht nach der schriftlichen Überlieferung in verschiedenen Gegenden Europas mehr oder weniger gleichzeitig auf, in Skandinavien, an der Elbe, an der mittleren Donau und unteren Theiss, in Mähren, im Karpatenbecken und nördlich des Schwarzen Meers.2915 Ihre Kriege mit und gegen Langobarden sind überliefert. Ein Paradigmenwechsel hat also in der Interpretation des archäologischen Befundes stattgefunden: Weniger die sesshafte dörfliche Bevölkerung – die immer die absolute Mehrheit der Bevölkerung stellte – trug die uns überlieferten „Stammesnamen“, sondern die mobilen Personenverbände oder Kriegergruppen. Es ist in den schriftlichen Quellen nicht überliefert, wie sich eine Gruppe von einigen Dörfern und ihre Bewohner selbst genannt haben, weil darüber die Kriegsberichterstatter und auch Tacitus nicht unmittelbar geschrieben haben. Darüber täuschen auch die wenigen Landschaftsnamen nicht hinweg, die immer erst später überliefert worden sind, so z. B. Bardowick und der Bardengau für die Langobarden; und die Lombardei erhielt zwar ihren Namen von den Langobarden, aber diese waren wiederum Kriegerverbände, die unter Heerkönigen nach Italien eingewandert sind.
2913 Wenskus 1961/1977 passim; 1981, 433 f.; Kehne 2012/2013. 2914 So auch jetzt Burmeister 2017a. 2915 Zum Beispiel Niezabitowska 2003, 387 Abb. 1 Karte.
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Die wissenschaftlichen Publikationen der Gegenwart zum Altertum in Germanien bringen regelmäßig Karten, auf denen die Siedlungsgebiete von Stämmen eingetragen sind. Die Namen der Völkerschaften entstammen den antiken Quellen, und die Lokalisierung erfolgt meist nur dadurch, dass anhand politisch-militärisch beschriebener Ereignisse die Nennung der Nachbarschaften von Stämmen auf die geographische Landkarte projiziert wird; es wird auch versucht, die Koordinaten anhand der Weltbeschreibung des Ptolemaius (Mitte 2. Jahrhundert n. Chr.) auf moderne Karten umzurechnen und dann die Stämme hinein abzubilden (vgl. oben S. 64).2916 Das ist in doppelter Hinsicht methodisch bedenklich, weil es sich um Kreisargumentationen handelt. Zum einen ist nicht geklärt, welche Art von Bevölkerungsgruppe eigentlich mit der Erwähnung des Namens in den Schriftquellen gemeint ist, das Areal eines sesshaften Stammes oder vielmehr eines – zudem meist mobilen – Kriegerverbandes, mit dem Rom gerade im Kampf liegt. Zum anderen werden militärische Ereignisse und die damit verbundenen Namen auf die Landkarte projiziert, was dann rückwirkend wieder zur Beschreibung der Feldzüge und der Stammesgebiete geführt hat. Germanien war also politisch ausgesprochen kleinteilig gegliedert, was anhand der archäologischen Überlieferung beschreibbar ist. Diese Territorien mit ihren gleichartigen Dörfern hatten 30 bis höchstens 50 km Durchmesser. Gemeinsames Handeln der Bewohner eines solchen Territoriums spiegelt sich in den zentralen Opferplätzen und in den Grenzbefestigungen. Auf der jütischen Halbinsel sind deutlich diese Kleinlandschaften als politische Territorien erkennbar, die herrschaftlich oder gemeinschaftlich organisiert worden sein müssen; denn es braucht die Koordination größerer Menschenzahlen für die Schanzarbeiten. Der Olgerdiget, der die Siedlungskammer mit dem Nydam-Moor nach Westen zwischen zwei Flusstälern abriegelte, war immerhin 12 km lang, wovon die Palisade rund 7,5 km abdeckte, die aus 90 000 Pfosten errichtet worden war. Die Gesamtanlage, zuerst 219 n. Chr. erbaut oder schon 89/90 n. Chr. (oben Abb. 33),2917 wurde zudem mehrfach erneuert. Der Aufwand beim Bau derartiger Befestigungsanlagen ist erheblich und lässt ahnen, dass sich dafür eine größere Bevölkerungsgruppe eingesetzt hat. Auf dem Kontinent ist der Angrivarierwall eine Befestigung zwischen zwei politischen Territorien, deren Bewohner von den antiken Schriftstellern in der Regel als Stamm angesprochen werden. Bei dessen Bau wurden natürliche Gegebenheiten genutzt. Für den Kampf gegen Germanicus wählten die Germanen, wie zitiert, „einen von Fluss und Wäldern umschlossenen Kampfplatz mit einer schmalen, sumpfigen Ebene in der Mitte; auch um die Wälder zog sich ein tiefes Moor, nur dass auf der einen Seite die Angrivarier einen breiten Damm aufgeworfen hatten, der sie von den Cheruskern trennen sollte“. Um diesen
2916 Rasch, hrsg. von St. Zimmer 2005; Nüssse, Marx, Lelgemann 2011 (2013). 2917 Ethelberg 2017, 21 Rekonstruktionsbild des Olgerdiget 89/90 n. Chr.; Christensen 2014, 127 Fig. 3; Nørgard Jørgensen 2003, 203 Abb. 13.
17.2 Territorien
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Wall tobte dann der Kampf (vgl. oben S. 339). Es war auf jeden Fall eine Gemeinschaftsarbeit einer größeren Gruppe. Diese kleinräumige Grundstruktur der territorialen Gliederung beschreiben auch die Erzeugnisse des Handwerks für den Schmuck der Kleidung mit Fibeln und Nadeln sowie die unterschiedlichen Keramikformen. Bei ähnlicher Grundform sind die speziellen Ausführungen überwiegend in den Siedlungsarealen von 30 bis 50 km Durchmesser verbreitet und spiegeln damit die innere Kommunikation. Per Ethelberg hat versucht – wie ebenfalls schon mehrfach beschrieben (vgl. S. 263 und 809) –, für die Mitte der jütländischen Halbinsel eine territoriale Gliederung für das 1. und 2. Jahrhundert n. Chr. zu konstruieren, und zwar anhand der Verteilung von Fürstengräbern und Großgehöften, mit Hilfe des Modells der Thiessen-Polygone (oben Abb. 66).2918 Auch anhand der Verteilung der Kriegsbeuteopfer und der PalisadenGraben-Landwehren versucht er, die Gebiete der Variner und Angeln gegeneinander zu begrenzen. Doch dieser Versuch, die antike Überlieferung, z. B. bei Tacitus, direkt auf die archäologischen Befunde zu projizieren, vergleicht zu unmittelbar unterschiedliche Quellengattungen. Und konstruierte Grenzen über mathematische Verfahren bleiben theoretisch; denn reale tatsächliche Grenzen sind nur in den genannten Ausnahmefällen überliefert. Auch am Rand des Imperiums basierte die territoriale Grundstruktur, beispielsweise im Gebiet der Bataver im Deltagebiet am Niederrhein, auf Arealen von kaum 50 km Durchmesser.2919 Fassbar wird diese Kleingliederung während der flavischen Zeit (69–98 n. Chr.) anhand der Verbreitung dort geprägter Münzen und über das Einzugsgebiet der „Tempel“ um Elst, Kessel und Empel als Kultzentren.2920 Nur im rheinnahen Streifen wurden Klientelverhältnisse über zeitweilig eingesetzte Könige erreicht, zu Batavern, Canninefaten, Friesen, Chauken, Brukterern und auch zu den Cheruskern, wie die Verbände in den Schriftquellen heißen. Der Archäologe Nico Roymans hat für den kriegerischen Stamm der Bataver errechnet, dass die gesamte Gruppe aus nur etwa 40 000 Menschen bestand, die immerhin aber 5000 Krieger für römische Auxiliareinheiten zu stellen hatte (vgl. oben S. 384). Die dänischen Ostseeinseln Fünen, Langeland und Seeland, sind naturräumlich begrenzte territoriale Räume, ebenfalls auch gekennzeichnet z. B. durch die Agglomeration von „Fürstengräbern“ (wie auf Seeland). Dem entspricht gewissermaßen ebenso die natürliche Gliederung Jütlands durch die West-Ost verlaufenden Flusstäler zur Ostsee. Diese Teillandschaften waren wie beschrieben in den ersten Jahrhunderten n. Chr. durch Wälle und Palisaden, gerichtet nach Süden oder Norden, zusätzlich befestigt, was die Größe der Teillandschaften abbildet. Die Verteilung der Moore bzw. der ehemaligen Seen mit Kriegsausrüstungsopfern entspricht dieser Unterteilung der Landschaft. 2918 Ethelberg 2011a; 2017a, 16 Abb. Karte Angeln, Warnen, Jüten mit Fundorten, 19 Abb. Machtgebiete im 1. und 2. Jahrhundert n. Chr.(Polygone). 2919 Roymans 2001; 2004. 2920 Roymans, Derks (Red.) 1994.
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Erst in der späten Kaiserzeit und während der Völkerwanderungszeit entstanden als nächste Stufe bedeutendere Zentralorte mit größerer Reichweite und Macht, eine neue Qualitätsstufe, wie Gudme auf Fünen, die von skandinavischen Forschern so benannten Reichtumszentren, weil sie sich u. a. durch zahlreiche Goldschätze auszeichnen. Diese Plätze sind ebenfalls erst in den letzten beiden Jahrzehnten ausführlicher archäologisch erkannt und erforscht worden. Auch in Mitteldeutschland kommt man mit der Konzentration reicher Gräber der Haßleben-Leuna-Gruppe sowie der Produktionsstätte von Keramik nach römischer Manier, dem Töpfereizentrum für qualitätsvolle Drehscheibenware in Haarhausen in Sachsen-Anhalt (vgl. S. 438), zu ersten derartigen sich herausbildenden Zentralorten oder ebenso in Mähren mit den Siedlungsagglomerationen unter römischem Einfluss bei Mušov (vgl. S. 1098). In Nordwestdeutschland und den Niederlanden spiegeln die (bisher) neun systematisch über das Land verstreuten üppigen Schätze mit Goldringen als Rangzeichen des Typs Beilen-Velp aus dem späten 4. bis mittleren 5. Jahrhunderts eine solche Raumstruktur in etwas größere Territorien auf einer nächst höheren Ebene (oben Abb. 49) (vgl. S. 520).2921 Während die Machtträger im Norden unbekannt sind, haben antike Schriftsteller wie Ammianus Marcellinus Namen von Königen überliefert, die im Südwesten Deutschlands seit dem mittleren 4. Jahrhundert von Höhenstationen aus ihre Macht ausübten und die, wie ebenfalls überliefert, zeitweilig als Bundesgenossen und zeitweilig als Kriegsgegner Roms agierten. Mit den Höhensiedlungen im Südwesten – gelegen in regelmäßigen Abständen – wie dem Runden Berg bei Urach oder den Stationen am Schwarzwaldrand, dem Zähringer Burgberg bei Freiburg und dem Geißkopf und dem Kügeleskopf bei Offenburg, waren Herrschaftsmittelpunkte unterschiedlicher äußerer Erscheinung entstanden (vgl. oben S. 333). Die Plätze dienten der Repräsentation wie die mächtige Anlage auf dem Zähringer Burgberg, oder waren Militärlager wie auf dem Geißkopf, jeweils in Sichtverbindung zur römischen Reichsgrenze. Man betrachtet diese Höhenstationen als Sitze der bei Ammianus Marcellinus beschriebenen Könige und Kleinkönige (reges und reguli), die ihre militärische Durchschlagskraft erst durch Bildung von Koalitionen untereinander gewonnen hatten. So heißt es in den Quellen auch, dass sie kaum für sich allein militärisch vorgingen, sondern die beschriebenen Koalitionen bildeten. Archäologische Demographie ist für alle Epochen entscheidend, wenn anhand von Bevölkerungsgrößen und -dichten historische Schlüsse gewonnen werden sollen.2922 Einige Überlegungen zu den Bevölkerungsgrößen und Territorien von Stämmen, die in der Schriftüberlieferung genannt werden, zitiere ich.2923 Für die Cherusker werden 20 000 bis 80 000 Menschen in einem Territorium zwischen 10 300
2921 Steuer 2003d, e; 2006d, 123 Abb. 24 Karte der Schatzfunde; Quast 2009b; 2013. 2922 Nikulka 2016; Steuer 2007a. 2923 Stangl 2009; Hegewisch 2012, 201.
17.2 Territorien
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(etwa 100 auf 100 km) und 22 000 (etwa150 auf 150 km) km2 geschätzt; dann können sie 4000 bis 16 000 Krieger (jeweils ein Fünftel) stellen. Für die Angrivarier werden 22 000 bis 25 000 Menschen gerechnet und ein Territorium von 7400 (86 auf 86 km) bis 8000 (89 auf 89 km) km2. Die Zahl der zu rekrutierenden Krieger wird auf 7500 Krieger geschätzt. Wie kann man die Siedler in einem dieser kleineren Machtbereiche benennen bzw. um welche Art von Gemeinsamkeit handelte es sich? Begriffe wie Clan, Stamm und Volk bieten sich an: Von der archäologisch fassbaren kleinteiligen Gliederung Germaniens ausgehend, wurde ein Modell der germanischen politischen Gesellschaftsordnung auf drei Ebenen entwickelt. Auf erster, unterer Ebene organisierten während des 1./2. Jahrhunderts Dorfhäuptlinge oder Clan-Chefs, eine lokale Elite, wohnhaft in den „Herrenhöfen“, den Nahraum, und zeitweilig errang einer von diesen die Herrschaft über die umliegende Kleinlandschaft. Im 2./3. Jahrhundert kam es zu territorialen Herrschaftsbildungen mit Durchmessern von 20–50 km. Sie können als Stammesgebiete bezeichnet werden, da sie Kriegerverbände aufstellten, und zwar zur eigenen Verteidigung – nicht zu Angriffskriegen oder Landnahmen. Es bestand also nach den archäologischen Quellen eine, wenn auch sehr flache Hierarchie innerhalb der Siedlungsnetze. Nach den Konflikten mit Rom bildeten sich als Reaktion am Ende der Epoche im 3./4. Jahrhundert, zur „Völkerwanderungszeit“ hin, auf der nächst höheren Ebene größere politischen Einheiten um einen Zentralort als Kult- und Herrschaftsmittelpunkt. Das gilt vor allem für Dänemark mit Entdeckung der mehrfach schon erwähnten Reichtumszentren, wo in einem langjährigen wissenschaftlichen Projekt „Vom Stamm zum Staat“ die Wurzeln ältester dänischer Königreiche während der beginnenden „Völkerwanderungszeit“ gesucht wurden.2924 Dieser Entwicklungssprung vom Stamm zu früher Staatlichkeit ereignete sich tatsächlich noch oder schon in den ersten Jahrhunderten n. Chr. Geb. und wird am Ende der Römischen Kaiserzeit beim Übergang zur „Völkerwanderungszeit“ auch gut fassbar.2925 Das wurde auch von mir bei einer Tagung zu „Warfare and Society“ aufgegriffen unter dem Thema „Warrior Band, War Lords, and the Birth of Tribes and States in the First Millenium AD in Middle Europe“ (oben Abb. 64).2926 Die Herausbildung von Herrschafts-, Macht- und Kultzentren, die weiträumiger über die engen dörflichen Clanherrschaften ausgreifen, erfolgte im 4./5. Jahrhundert von der Ostsee bis nach Südwestdeutschland, von den germanischen Ursprungsgebieten bis zu den neu besetzten Räumen. Deshalb ist das Zentrum Gudme auf Fünen fern vom römischen Reich vergleichbar mit dem Zentrum im Elbe-Weser-Dreieck Sievern und den südlichen Zentren wie dem Zähringer Burgberg unmittelbar vor der spätrömischen Reichsgrenze am Rhein.
2924 Mortensen, Rasmussen (Red.) 1988; 1991. 2925 Hedeager 1990; 1992a. 2926 Steuer 2006a.
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Die sozialpolitischen Veränderungen im archäologischen Fundmaterial werden als ein Weg zu den frühen Königreichen in Jütland gesehen, wozu P. Ethelberg zwei verschiedene Karten beigesteuert hat, einmal die postulierten Siedlungsräume der „Stämme“ in Jütland und zum anderen die Gliederung über Thiessen-Polygone mit der Berücksichtigung der Herrenhöfe und reichen Gräber (vgl. auch S. 809).2927 Germanien erlebte im 3. Jahrhundert eine Zeit des Wandels, den Zerfall alter und der Bildung neuer Machtverhältnisse. Durch Zusammenschlüsse kleinerer Einheiten entstanden die größeren Stamme, die Sachsen, Franken und Alamannen, deren Überfälle in die römischen Provinzen über den Rhein hinweg in dieses Jahrhundert fallen. Aber anscheinend gab es in diesen Jahrzehnten auch den Feldzug des Kaisers Maximinus Thrax, unter dem die „Schlacht“ am Harzhorn 235/236 ausgefochten wurde.2928 Harzhorn liegt nahe bei den Herrschaftszentren, abgebildet über die Fürstengräber des 3. Jahrhunderts. Das Fehlen übergeordneter staatlicher Organisationsformen in Germanien hat – was für andere Zeiten und Räume ebenso als strukturelle anthropologische Konstante zutrifft – zu der neuen Form des mobilen Lebensstils auf der Basis von Krieg geführt. Dafür war nicht zuletzt, anders als die römischen Schriftsteller das sehen wollten, die außerordentlich dichte Besiedlung Germaniens die Ursache. Archäologisch sind einerseits die kleinräumig gegliederten Territorialstrukturen nachzuweisen, andererseits – nur indirekt über die Heeresausrüstungsopfer – die beweglichen Militärverbände oder Kriegergefolgschaften, Kennzeichen der sog. „Völkerwanderung“. Also: Es wanderten eben keine Völkerschaften mit Kind und Kegel und Planwagen, sondern militärische Verbände, die am Ende schließlich sich territorialisierten, Ländereien besetzten und dann auch Familien gründeten. Wenn wir von „Germanen“ sprechen, mit der Bezeichnung, wie sie seit der Antike üblich für die gesamte Bewohnerschaft rechts des Rheins war, dann gehen wir in der Regel doch davon aus, dass diese Bevölkerung selbst kaum ein Zusammengehörigkeitsgefühl besaß. Denn sonst müsste es überregionale Herrschaftsbildungen geben, die aber erst wesentlich später nach der Transformation des Römischen Reichs realisiert worden sind. In welchen Kategorien werden die Gruppen damals gedacht haben? Da war zuerst die Familie, dann die Dorfgemeinschaft, die Nachbarschaft in einer überschaubaren Landschaft; es hat (oft nur vermeintliche) Abstammungsgemeinschaften gegeben, von denen sich der Einzelne herleitete, und die dann allgemein als Stämme bezeichnet werden, deren Namen antike Autoren überliefert haben und verwechselten mit den Namen der mobilen Kriegerverbände. Ich habe versucht zu begründen, dass mit den Namen auch und vor allem diese anderen Personenverbände bezeichnet wurden, nämlich die Gruppen, mit denen römisches Militär es zu tun hatte, mit den 2927 Näsman 1999, 2006; auch Ethelberg 2009d, 171 Abb. 2 und 177 Abb. 9; 2011a. 2928 Nüsse 2013, 127 Abb. 1 Zwei farbige Karten: Zerfall und Neukonstellation der Machtverhältnisse vom 2. zum 3. Jahrhundert: Linke Karte mit den Fürstengräbern des 1./2. Jahrhunderts, rechte Karte mit den Fürstengräbern des 3. Jahrhunderts.
17.2 Territorien
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„germanischen“ Verbänden und der unterschiedlichen Herkunft der Krieger unter Anführern, die dieser Kampfeinheit jeweils den Namen gaben, der dann als Gegner verstanden, aufgegriffen und in die Geschichtsschreibung eingegangen ist. Es gibt Zusammenhänge zwischen lokalen Stammessitzen und mobilen Kriegerverbänden, aber die Reihenfolge in ihrer militärischen und ereignisgeschichtlichen Wirkung ging vom Krieg zum Wohnsitz und umgekehrt vom Wohnsitz zum Krieg. Der hier erläuterten kleinteiligen Gliederung Germaniens widerspricht der früheren Versuche der Archäologie, den Gesamtraum zu unterteilen. Es geht um die Kultur- und Formenkreise mit den Bezeichnungen wie Rhein-Weser-Germanen, Elbgermanen, Nordseegermanen oder Oder-Weichsel-Germanen,2929 und parallel dazu um die Kulturgruppen-Namen wie Przeworsk-Kultur oder Wielbark-Kultur weiter im Osten. Diese jeweils über große Bereiche Germaniens sich erstreckenden Ähnlichkeiten, in der Forschungsgeschichte zu Anfang definiert über Grabsitten und Keramik, erst später ergänzt durch andere Sachgüter und Befunde aus Siedlungen, haben denn auch keine deutlichen Grenzen, sondern Mischareale zeigen, wie diese Großbereiche ineinander übergehen und die Grenzziehungen willkürliche archäologische Konstrukte sind. Man hatte sie anfangs sogar mit den Stammesnamen in der antiken Überlieferung gleichsetzen wollen, merkte aber bald, dass die Überlieferung viel zu viele Namen angeboten hat und dass die Versuche, sie zu lokalisieren, an der Beweglichkeit der Namensträger scheiterte. Deshalb wird hier bevorzugt, nicht von oben – den großen Bereichen – sondern von unten bzw. von innen heraus – von den einzelnen Siedlungen ausgehend – versucht, den Raum Germanien zu gliedern. Dass Burgen als Mittelpunktsorte, ob Fluchtziele oder Herrschaftssitze, die Landschaft politisch gliederten, ist plausibel, obgleich die Archäologie selten entscheiden kann, ob Befestigungen ein System im Raum bildeten oder nur einzelne Machtzentren bildeten. Dasselbe gilt für die Verteilung der Fürstengräber als Markierungen von Mittelpunkten, ob sie nämlich auch politisch ein Netzwerk bildeten oder nur als einzelne Orte auf die Umgebung wirkten. Nun hat die flächendeckende archäologische Feldforschung Befunde erkannt und untersucht, die einen anderen Aspekt der gesellschaftlichen Organisation im Raum abbilden. Das sind die Ketten oder Felder von Gruben oder Herde, sogenannte Kochgruben, die sich in einem größeren Areal Germaniens von Norddeutschland über Dänemark bis Norwegen finden. In den Kapiteln zu Siedlungen und Befestigungen (vgl. S. 289 und 307) habe ich Befunde schon geschildert, auf die ich hier noch einmal zusammenfassend eingehe, ausgehend von solchen Befunden in Norwegen.2930 Die Ansammlungen von derartigen sogenannten Kochgruben werden als Beleg für Versammlungsorte gedeutet, wo sich eine größere Anzahl von Menschen zu
2929 v. Uslar 1952/ 1972. 2930 Ødegaard 2019, 187 Fig. 2 Karte für das nördliche Europa, 189 Tab. 1 C-14-Daten für Lunde; Gustavson, Heibreen, Martens (Eds.) 2005.
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bestimmten Verhandlungen getroffen hatte. Da die Kochgruben z. B. in Norwegen über Radiocarbon-Datierungen seit der vorrömischen Eisenzeit und verstärkt für das 2./3. und sogar weiter bis ins 5./6. Jahrhundert nachgewiesen sind, wird das mit dem politischen Wandel zu einer stärker gegliederten Gesellschaft erklärt, speziell mit dem Aufkommen des Thing-Systems. Es waren demnach Orte der Zusammenkünfte zu richterlichen oder politischen sowie kriegerischer Beschlüssen und nicht zuletzt auch für religiös-kultische Handlungen, jeweils für eine größere Gemeinschaft. M. Ødegaard diskutiert den Nachweis vom Aufkommen der Thing-Institution in Norwegen über den Vergleich von archäologischen Befunden und Ortsnamen.2931 Sie kommt zu dem Ergebnis, dass Thing-Stätten archäologisch schon für die frühe Römische Kaiserzeit belegt seien und damit schon vor den Überlieferungen aus den Schriftquellen. Die Kochgruben mit mehrheitlich einem Meter im Durchmesser kommen in Größenordnungen von 50 bis 500 Gruben vor. Für Norwegen werden im zitierten Beitrag drei Plätze beschrieben, bei den Gehöften von Lunde und Bommestad in Vestfold sowie von Guåker in Hedmark. Für Lunde sind von rund 1000 Gruben 38 C-14-datiert. Nun wird geschätzt, wenn von einer Grube 30 bis 50 Leute versorgt werden konnten, das Grubenfeld gewissermaßen 30 000 bis 50 000 Leute repräsentieren könnte. In Bommestad sind 2006 rund 500 Gruben untersucht worden, mit Datierungen von 180 v. Chr. bis 430 n. Chr. mit einem Höhepunkt zwischen 1–200 n. Chr. In Guåker wurden 2009 etwa 100 Kochgruben freigelegt, und rundum sind weit mehr zu erkennen, datiert vor allem bis 200 n. Chr. Das Phänomen ist auffällig, vor allem wegen seiner örtlichen Kontinuität über viele hundert Jahre. Anscheinend versammelte man sich über diesen längeren Zeitraum aus vergleichbarem Anlass; ob dieser in erster Linie tatsächlich politisch-rechtlich und nicht doch eher kultisch-religiös gewesen ist, wird weiter zu überlegen sein. In Dänemark und Norddeutschland sind ebenfalls regelmäßige Kochgruben- und Feuerstellen-Reihen dokumentiert, die ich andernorts beschrieben habe (vgl. S. 636).
17.3 Tatsächliche Auswanderungen Über die Kommunikationsnetze wurde im Abschnitt 11 „Güterverteilung und Handel“ (siehe oben S. 580) schon gesprochen. Ein gutes Beispiel für archäologisch erkennbare Fernbeziehungen sind nicht die in den schriftlichen Quellen überlieferten Umsiedlungen und Wanderungen, die in den archäologischen Quellen eben kaum fassbar sind, sondern einzelne Kommunikationsbeziehungen. Ähnlich habe ich schon oben im Abschnitt 13 „Rekrutierungsräume, Mobilität sowie Um- und Ansiedlungen“ berichtet (vgl. oben S. 696).
2931 Ødegaard 2018.
17.3 Tatsächliche Auswanderungen
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Es geht um die Kontakte aus Jütland und Niedersachsen im 4./5. Jahrhundert nach England. Über die Auswanderung eines Teils der Bevölkerung berichten die schriftlichen Quellen; im archäologischen Befund ist aber kein Siedlungsabbruch in Angeln und Sachsen zu beobachten, nur teilweise eine Siedlungsausdünnung, die aber erst später – wohl im 6. Jahrhundert – zu fassen ist (wenn das nicht nur eine Täuschung ist, die auf Siedlungskonzentrationen zurückgehen kann). Aber zuvor, eben im 4./5. Jahrhundert, gibt es jedoch trotzdem verblüffende Übereinstimmungen, wenn man die Keramikformen und -verzierungen beiderseits der Nordsee vergleicht, zwischen Schleswig-Holstein und Südengland, speziell beispielsweise zwischen den Gräberfeldern Süderbrarup in Schleswig-Holstein und Spong Hill sowie auch zwischen dem Gräberfeld Westerwanna südlich der Nordseeküste und Spong Hill.2932Auch zwischen der Feddersen Wierde im Elbe-Weser-Dreieck und Südengland gibt es derartige Übereinstimmungen in der Keramik. Es lässt sich auch auf anderes Sachgut, nämlich auf Fibeln (Gewandnadeln) ausdehnen.2933 Die Verteilung der gleicharmigen Bügelfibeln der Typen Dösemoor und Nesse ist räumlich begrenzt; die Fibeln Typ Dösemoor kommen fast ausschließlich im Elbe-Weser-Dreieck und in Kent vor, die Fibeln vom Typ Nesse etwas weiter im Binnenland an der Weser und ebenso in England, was (im Spiegel von Frauenschmuck mit Kerbschnitt-Verzierung) die Kontakte bzw. auch Übersiedlungen vom Kontinent nach England spiegeln könnte. Für zahlreiche Gräberfelder bzw. Urnenfriedhöfe im südlichen Schleswig-Holstein und in Niedersachsen zeichnet sich ein Ende um 500 und im 6. Jahrhundert ab, in Ost- und Südengland ein Beginn der Gräberfelder in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts; die Grabsitten blieben gleich, somit muss es auch einen Nachzug vom Kontinent gegeben haben. Jüngst hat M. Ravn dazu wieder überzeugende Beispiele genannt:2934 Nach dem Ende der römischen Herrschaft auf der englischen Insel 410 n. Chr. wird die Einwanderung von Jüten, Angeln und Sachsen zwischen 410 und 450 anhand der Sachgüter beschreibbar, am Schmuck und in den Gefäßformen und -verzierungen: Kreuzförmige Fibeln wie im dänischen Sejflod gibt es in Little Eriswell, Relieffibeln des jütländischen Typs wie Agerskov in Jütland findet man in Finglesham, Kent, Schalenfibeln des sächsischen Typs wie im niedersächsischen Issendorf gibt es in Blacknall Field; Urnen aus Hamburg sind mit solchen aus Hough-on-the-Hill, östliches England, gleichzusetzen. Von der niederländischen Nordseeküste gibt es Hinweise in Gräberfeldern zur Auswanderung der Angelsachsen aus Jütland nach dem Südwesten, noch südlich der englischen Küste, und zwar anhand der verwandten Keramikformen und ihrer Verzierung von mehreren Friedhöfen des 5. Jahrhunderts wie Hoogebeintum und
2932 Hills, Lucy 2013, 316 ff. Fig. 5.3 und 5.4. 2933 Blaich 2016; Böhme 1974; 1986. 2934 Ravn 2003; 2018, 16 Abb., 18 Abb.; 2018 Urnenvergleich Hamburg und Hough-on-the-Hill, Ostengland etc.
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anderen.2935 Urnen in Hoogebeintum ähneln angelsächsischen Gefäßen nach Form und Verzierung. An beiden Orten gibt es kreuzförmige Fibeln im 5. Jahrhundert. Noch andere Gräberfelder mit leicht unterschiedlichen Sachen spiegeln enge Verbindungen dann im 6. und 7. Jahrhundert zwischen England und dem nordniederländischen Küstengebiet. War das eine Zwischenstation der Migration oder wie kann man sich diese Verwandtschaften im 5. Jahrhundert erklären? Die kartierte allgemeine Verbreitung der kreuzförmigen Fibeln rund um die Nordsee (Abb. 67) als mehr oder weniger gleichzeitige Verteilung, wenn auch mit einer Tiefe von einigen Jahrzehnten, spiegelt am überzeugendsten eine zusammenhängende Kommunikationsgemeinschaft mit ständiger Bewegung über das Meer hin und her und kaum eine massive Migration, wenn auch ein geringer Bevölkerungswechsel durchaus normal gewesen wäre.2936 Ein weiteres Problem gibt es aber dabei aber doch noch; die dreischiffigen Hallenhäuser in Norddeutschland gibt es nicht in dieser Form in den neuen Siedlungsgebieten in England, auch ist – wie gesagt – kein Wüstfallen der heimischen Siedlungsgebiete zu beobachten. Einen anderen Aspekt überprüft W. H. Zimmermann, wenn er überlegt, ob bestimmte günstige Formen der Rinderhaltung mit der Übersiedlung von Angeln und Sachsen ins „angelsächsische“ England zusammenhängen könnten.2937 Der Anlass zur wiederholten Beschreibung dieser Parallelen sind neuere genetische Untersuchungen alter DNA.2938 Diese haben, nach Beteiligung von 2000 Individuen und deren Vergleich mit mehr als 6000 Personen in ganz Europa, nur weniger als die Hälfte an Spuren der Einwanderung erkennen können, und in einigen Regionen gibt es überhaupt keine Hinweise auf diese Einwanderung. Somit bleibt weiteres Ziel der Forschung, eine Vorstellung davon zu bekommen, um wieviele Menschen es sich bei solchen schriftlich überlieferten Wanderungen gehandelt haben wird. Die 80 000 Menschen, Krieger, Alte und Junge, die mit dem Vandalenkönig Geiserich 429 nach Nordafrika übergesetzt sind, werden in der dortigen dichten Bevölkerung auch nur geringe DNA-Spuren hinterlassen haben. A. S. Dobat hat die Kontinuität, verbunden mit Blick auf zentrale Orte in der jüngeren Eisenzeit im südlichen Schleswig-Holstein, und die Frage von Auswanderungen geprüft, unter dem Stichwort Angulus desertus und mit einem Fragezeichen versehen.2939 Denn die Funde von Goldbrakteaten der Zeit vom Ende des 5. und dem Anfang des 6. Jahrhunderts sprechen nicht für eine Siedlungsleere; eine geringe Fundlücke gibt es ehestens im 6./7. Jahrhundert. Eigentlich bestätigen die Befunde in
2935 Knol 2011, 221 Fig. 3 Keramik, 226 weitere Gräberfelder. 2936 Hines 2019, 152 Abb, 5 b. 2937 W. H. Zimmermann 1999c. 2938 Leslie et al. 2016. 2939 Gebühr 1998b; Dobat 2003; 2008a.
17.3 Tatsächliche Auswanderungen
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Abb. 67: Verbreitung der Kreuzförmigen Fibeln rund um die Nordsee.
den Kleinlandschaften eine Kontinuität über 1000 Jahre, auch wenn man kulturelle Spuren von Jüten in Kent zu finden meint.2940 Die in den historischen Quellen überlieferten sagenhaften Auswanderungen auf wenigen Schiffen unter den Anführern Hengist und Horsa nach England hat zu dieser allgemein im Geschichtsbewusstsein verankerten Vorstellung geführt; und archäologische Vergleiche von Sachgütern, meist Keramik, scheint das zu bestätigen. Nun stelle ich dieser Vorstellung eine andere These gegenüber: Wären da nicht die Schriftquellen und wäre da nicht die Trennung des Festlandes und Englands durch
2940 Kruse 2007.
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den Kanal, dann hätte man ein sich ausdehnendes Verbreitungsbild, so wie es für die Przeworsk-Kultur und die Wielbark-Kultur im Osten Mitteleuropas erarbeitet worden ist, annehmen können. Das Vordringen von Elementen der Przeworsk-Kultur aus dem (heutigen) polnischen Gebiet über Mitteldeutschland bis in das Rhein-MainMündungsgebiet wird mehrfach thematisiert (vgl. S. 96). Das spricht für eine Mobilität von Sachen und Menschen, erlaubt jedoch kein „Wegwandern“ zu beschreiben, sondern nur Bewegungen auf der alten Verkehrsachse, ohne einen Besiedlungsrückgang im Ausgangssiedelgebiet erkennen zu geben. Die alte Ansicht geht auch für den Bereich der Przeworsk-Kultur von Wanderungen aus, gar bis nach Südrussland, in die Ukraine und zur Krim. Meine Vorstellung deutet den Befund aber als Kommunikationsräume auf alten Verkehrsrouten, die sich ausdehnen, ohne dass Bevölkerungen gewandert sind (auch wenn es durchaus kleinere Gruppen geben haben kann und wird, aber keine breite Völkerwanderung). So könnte sich über die Nordsee hinweg ein neuer Kommunikationsraum entwickelt haben, durch Handel und andere auch persönliche Beziehungen. Doch ist eine solche Erklärung ebenfalls nicht ausreichend. Denn einerseits kennen wir die späte Übersiedlung von Skandinaviern im Zuge der Ausdehnung des „Wikingerreichs“ unter den Dänenkönigen Sven und Knut dem Großen mit dem Danelag auf der Insel jenseits der Nordsee nicht nur mit archäologischen Sachgütern, sondern auch im Sprachlichen Netzwerk. Es war eine Landbesetzung ähnlich wie die Landnahme der Nordleute auf Island. Und andererseits hat die Sprachwissenschaft für die angelsächsische Epoche im Namensbestand eine solche Kommunikation oder Ausweitung vom Kontinent nach England nachweisen können.2941 Die Verbreitung der Ortsnamen mit -lithi markiert das altgermanische Siedlungsgebiet in Norddeutschland und in England. Am Kartenbild dazu sei ablesbar, dass die Einwanderung nach England über den Kanal erfolgt sein, denn „unmittelbar nach dem Erreichen der Insel im 5. bis 6. Jahrhundert wird das Suffix unproduktiv und für die Ortsnamengebung in England nicht mehr verwendet“. Doch diesen Namenverbreitungen ist nicht zu entnehmen, auf welche Weise sie erfolgt ist, tatsächlich durch Überwanderung oder durch eine allgemeine Ausbreitung von Namen wie auf dem Kontinent. Im poströmischen Britannien etablierten sich die „sächsischen“ Königreiche nach Einwanderung von Jüten, Angeln und Sachsen vom Kontinent.2942 Doch sei daran erinnert, dass die Daten erst unter Beda Venerabilis (672/73–725) berichtet und erfunden worden sind. Zu den verschiedenen Migrationsmodellen äußerten sich H. Härke und G. Halsall. Sachsen waren jedoch bereits als Foederaten unter Magnus
2941 Udolph 1994, 272 mit Karte 28, 494 mit Karte 46; 2009, 99 mit Karte 5. 2942 Mischa Meier 2020, 937 Karte 33: Die Königreiche, 1330 Anm. 168 ff. zu den Migrationsmodellen Härke et al. 1998 und G. Halsall 2013, 195 ff.
17.3 Tatsächliche Auswanderungen
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Maximus (383–388) auf der Insel.2943 H. Härke hat 2012 zur Entstehung der Angelsachsen sein Modell erläutert,2944 mit Blick auf Wanderung und Landnahme sowie ethnogenetische Prozesse. Die Einwanderung vom Kontinent muss sich über einen langen Zeitraum erstreckt haben, als Serien von Landnahmen, wobei in einem Jahrhundert zwischen 100 000 und 200 000 Leute die Insel erreicht und die aber höchstens 20% der Gesamtbevölkerung ausgemacht haben werden. Die ethnisch-genetische Zusammensetzung der Bevölkerung wandelt sich von der Zeit um 500 bis 900, von etwa einem Viertel akkulturierter Bretonen und angelsächsischer Immigranten um 500 (bei Dreiviertel nicht akkulturierter Bretonen) verändert sich die Zusammensetzung um 900 zu jeweils 50% akkulturierter Bretonen und Immigranten, d. h. also für die Frühzeit geht es von Minderheiten aus, die erst wesentlich später dominieren. G. Halsall entwickelt auch ein Alternativmodell, dass nämlich romano-britische Bevölkerungsanteile zusammen mit den Eingewanderten zu berücksichtigen seien, also Nachwirkungen der römischen Epoche. Britische und angelsächsische Gruppen taten sich im 5. Jahrhundert gegen gemeinsame Gegner zusammen. Es zeigt sich auch bei diesem Fragenkomplex zu Auswanderungen historisch überlieferter Stämme, dass zwischen heimatlichem Siedlungsgebiet und neuen Räumen zwar kulturelle Beziehungen im Fundstoff zu erkennen sind, dass aber nicht von einer Abwanderung der gesamten oder des größeren Teils der Bevölkerung gesprochen werden sollte, sondern nur von der Auswanderung eines geringen Prozentsatzes. Bei den großen Wanderungen der Kimbern oder auch der Scharen des Ariovist ist gar kein archäologischer Niederschlag zu erkennen, während bei Auswanderungen wenigstens Fernbeziehungen zu beweisen sind. Kartenbilder der gleichartigen Befunde dokumentieren die Gleichzeitigkeit, also noch Kontakte zwischen der Bevölkerung der Ausgangs- und der Zielgebiete. Unbekannt sind bei diesen und den nachfolgend genannten Vorgängen denn auch die Zahlenverhältnisse zwischen auswandernden und zurückbleibenden Gruppen der Bevölkerung. Wahrscheinlich ist es immer nur ein geringer Prozentsatz der ständig anwachsenden Bevölkerung, der abwandert, so dass keine siedlungsleeren Landschaften zu erwarten sind. (Die Auswanderung aus Deutschland oder Irland im 19. Jahrhundert nach Nordamerika hat nur den Überdruck bei Hungersnöten oder politische Repressalien verringert, aber nicht zur Verödung der Heimatlandschaften geführt.) Neben diesen punktuell wirkenden Beziehungen gibt es zahlreiche andere Verbindungen zwischen den Räumen Norddeutschland, Jütland und gar Norwegen, die weiträumige Zusammenhänge abbilden, über gestempelte Töpfe, gleicharmige Fibeln, sogenannte Nydam-Fibeln oder kreuzförmige Fibeln, die man zwar auf Kommunikation zurückführen kann, aber nicht gleich mit Wanderungen verbinden sollte.
2943 Halsall 2013, 195 ff.; Mischa Meier 2020, 941 ff. zu G. Halsall. 2944 Härke 2012, 438 Abb. 2: Heutige Verteilung der Y-Chromosom-DNS in Britannien, 450 Abb. 5 Modell der ethnisch-genetischen Zusammensetzung der Bevölkerung im 5. bis 9. Jahrhundert.
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Ob es sich bei Jüten, Angeln und Sachsen um eine Migration (von Teilen der Bewohner) nach England gehandelt hat, um eine Invasion oder eher um Kommunikation über längere Zeit hinweg, bleibt zu diskutieren. Mobilitäten gab es zu jeder Zeit.2945 Das Ende der römischen Zeit in England wird nicht mehr schon 401/2 gesehen oder um 408/410, sondern deutlich später um 440 bzw. 455. Es gibt auch die Vermutung, dass es sich um die Anwesenheit germanischer Söldner im spätrömischen Heer mit diesen Schmucksachen (ihrer Frauen) und Gürtelteilen in England gehandelt hat, die vom Kontinent gekommen waren.2946 Es waren dann enge Kontakte aus dem ElbeWeser-Dreieck nach England. Die Keramik von der Wurt Feddersen Wierde hat im 5. Jahrhundert unmittelbare Parallelen in England.2947 Es wird auch versucht, die Überwanderungen vom Kontinent nach England über aDNA-Analysen in der Ethnogenese auf der Insel erkennen zu können (vgl. oben S. 26),2948 was jedoch nicht zu überzeugenden Ergebnissen geführt hat. Einen ähnlichen Befund bieten die Gräberfelder in Mitteldeutschland bzw. Thüringen und in Südwestdeutschland, denn in beiden Gebieten gibt es vergleichbare Keramikformen und -verzierungen, was als Einwanderung von Germanen – der späteren Alemannen – aus dem Gebiet der Elbgermanen von Südwestmecklenburg bis nach Böhmen und vor allem nach Südwestdeutschland gedeutet wird.2949 Auch das führte nicht zu einer Veränderung des Siedlungsmusters im Ausgangsgebiet. Diese Wanderungen von Gruppen aus dem Inneren Germaniens, von Mecklenburg und Mitteldeutschland, nach Südwestdeutschland hat erst später im Süden zur Bildung des „Großstammes“ der Alemannen geführt; und auch in diesem Fall kann man Verwandtschaften im Sachgut beschreiben, von der Keramik bis zum Fibelschmuck. Während der römischen Okkupationsphase maßte sich die römische Seite an, rebellische oder einfach störende Bevölkerungsgruppen, die rechts des Rheins lebten, umzusiedeln, zu vertreiben, nicht unbedingt auszurotten. Schon 19 v. Chr. wurden die Ubier auf die linke Rheinseite in den Kölner Raum verpflanzt.2950 Andere Gruppen folgten, beispielsweise die Sugambrer, und es war zudem üblich, diesen umgesetzten Gruppen neue Namen zu geben, eben Cugerner und Sunuker, in deren Wortstamm auf Viehhaltung angespielt wird. Es traf dann nach kriegerischen Übergriffen gegen Rom die Usipeter, wieder die Sugambrer, die Tenkterer und die Marser im Jahr 12 v. Chr., als Drusus eine Gegenoffensive startete,2951 Tiberius ließ dann die Sugambrer auf die linke Rheinseite deportieren. Diese Umsiedlungen sind ausführlich in der schriftlichen Überlieferung angesprochen worden, archäologisch sind sie aber kaum
2945 Böhme 1996a; D. Meier 2017. 2946 Böhme 1986. 2947 Schmid 2006. 2948 Härke 1998; 2011. 2949 Schach-Dörges 1997, 83 Abb. 65; Steuer 1998a, 306–310 mit Abb. 10. 2950 Heinrichs 2015, 136 ff.; Eck 2004. 2951 Cosack 2014 (2019), 151; Kühlborn u. a. (Hrsg.) 2008.
17.3 Tatsächliche Auswanderungen
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nachzuweisen. Schon Caesar hatte die Eburonen vertrieben, 53 und 51 v. Chr., auch die Nemeter, Vangionen und Triboker wurden damals umgesetzt. Johannes Heinrich versucht, diese Umsiedlungen anhand der Verbreitung von spätkeltischen Münztypen und Fibelformen zu erahnen. Quinare des Typs Scheers 57 finden sich in den Tälern der nach Westen zum Rhein fließenden Hase und Lippe, als Wegekorridore bezeichnet, und außerdem wieder westlich des Rheins zwischen Erft und Maas, und das sei ein Abbild der Umsiedlung?2952 Sogenannte „ubische“ Fibeln (ethnisch also den Ubiern zugeordnet) finden sich östlich des Rheins im Bereich der Sieg und des Dünsberges, dann wieder am Niederrhein und westlich davon; ein Hinweis auf die Verschiebung von Bevölkerungen? Fibeln sind keine ethnischen Abzeichen, wie ich mehrfach im Buch thematisiere. Die ehemals bewohnten Landschaften wurden nicht – im archäologischen Sinne – siedlungsfrei oder ganz anders aufgesiedelt. Umsiedlungen sind somit kaum ein archäologisches Thema. Hintergrund waren die römischen Eroberungsversuche, die geplante Expansion in den Nordwesten. Fingierte neue Bedrohungen durch Germanen erforderten neue Eroberungen; Augustus wollte die Provinz bis zur Elbe ausdehnen, und erst Tiberius gab das Vorhaben 16 n. Chr. auf. Der kurzzeitige Tributstatus der rechtsrheinischen Friesen gegenüber Rom und die erzwungene Versorgung aus dem rechtsrheinischen Raum mit Getreide, Fleisch, Leder, Metallrohstoffen und Gesteinen und nicht zuletzt mit Söldnern beschreiben zumindest in diesem Raum eine beachtliche wirtschaftliche Potenz, also Beziehungen unabhängig von Umsiedlungen oder Bevölkerungsbewegungen. Vielgestaltig war die Mobilität von Sachen und Menschen in diesen Jahrhunderten wie zuvor und auch später wieder.2953 Migrationen und Einwanderungen waren das eine, Vertreibung, Flucht, Eroberungen mit Waffengewalt, Landnahme mit Gewalt waren das andere. Kriege, Hungersnöte, Überbevölkerung, wirtschaftliche Schwierigkeiten, Verfolgung aus religiösen und politischen Gründen, ethnische Konflikte, Hoffnung auf ein besseres Leben führten zu Migrationen, was verblüffend modern und zeitgenössisch klingt. Assimilation, Integration, Fremdenfeindlichkeit, Parallelgesellschaft sind weitere Begriffe, die zur Deutung auch der historischen Vorgänge in den ersten Jahrhunderten n. Chr. herangezogen werden. Es gab Bevölkerungsverschiebungen und Wanderungen, aber auch Handel und Kulturausbreitung; es gab rasche Wanderungen und ständige, über Jahrhunderte dauernde Migration auf gleichbleibenden Wegen über eine lange Zeit hinweg.2954 Nun werden in den antiken Schriftquellen im Rahmen der Schilderungen über kriegerische Ereignisse mehrfach von Vernichtungen der gesamten Bewohner einer Landschaft berichtet, außerdem von Deportationen, Umsiedlungen und Neuansiedlungen. Die Ubier werden vom Rechtsrheinischen in den Raum Köln umgesiedelt,
2952 Heinrichs 2015, 140 Karte 2. 2953 Volkmann 2014 (2015). 2954 Steuer 2014, 120 Fig. 6; Steuer 1998a, 286 Abb. 1; Böhme 1996a.
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wobei nicht deutlich ist, ob sämtliche Bewohner oder eher nur die Kriegerverbände umgesetzt worden sind. Da es hier nicht um den Inhalt der historischen Erzählungen geht, sondern um die Frage, ob und wie das im archäologischen Quellenbestand überhaupt erkannt werden könnte, sind einige Überlegungen aufgrund der Befunde anzuführen. Vielfach habe ich berichtet, dass Siedlungen – sofern möglichst vollständig ausgegraben – oftmals über viele Jahrhunderte existiert haben, von der vorrömischen Eisenzeit über die Römische Kaiserzeit bis in die Völkerwanderungszeit; dasselbe trifft auch für Gräberfelder zu. Würde Bevölkerung umgesiedelt, und nicht nur vereinzelt ein Dorf, dann müssten in größeren Landschaften die Siedlungen und Gräberfelder gleichzeitig aufgelassen werden, und andererseits müsste zeitlich parallel dazu andernorts eine Neubesiedlung beobachtet werden können. Das ist aber bisher nirgends der Fall. Besiedlungslücken im 5. Jahrhundert an der niederländischen Küste oder in Norddeutschland und in Jütland gehen nicht auf Kriegsereignisse und vom Militär organisierte Umsiedlungen zurück, sondern haben andere (erläuterte vgl. S. 297) Ursachen. Wahrscheinlich waren alle diese überlieferten Umsiedlungen nur lokale und kleinere Ereignisse. Eine Analogie aus der Gegenwart gibt jedoch zu bedenken: Die ehemaligen deutschen Ostgebiete wurden nach 1945 vollständig von der Bevölkerung geräumt, und alle Städte wie Danzig beispielsweise wurden von Polen neu besiedelt. Dabei blieben die alten Gebäude bestehen, wurden oftmals sogar sorgfältig restauriert. Ist das auch für die Jahrhunderte n. Chr. vorstellbar? Könnten die Wohn-Stall-Häuser in den größeren Siedlungen geräumt worden sein, und eine neue Bewohnerschaft ist eingezogen und hat in derselben Weise weiter gewirtschaftet? Einerseits ist das kaum vorstellbar, denn die Siedlungen waren sogenannte Wandersiedlungen, die verlagert wurden, und die Dörfer und Gehöfte wurden sowieso nach wenigen, etwa drei Jahrzehnten neu gebaut. Andererseits gibt es aber für einige Gebiete in Jütland die Überlegung, ob nicht doch ein Bevölkerungswechsel stattgefunden haben könnte – meist dann aber nicht aus großer Entfernung, aber im Zuge kriegerischer innergermanischer Auseinandersetzungen; denn mit der Siedlungsverlagerung war mehrfach auch ein Wechsel im Grabkult zu beobachten, beispielsweise verbunden mit neu erscheinenden Totenhäusern (vgl. S. 869 ff.). Im Zuge der Westausbreitung von Elementen der Przeworsk-Kultur von Polen durch Hessen bis an den Main hat die Archäologie gezeigt, dass im Westen im selben Grubenhaus einheimische und neue Keramikformen vorkommen. Es wird an einen Zuzug von Menschen gedacht, die sich mit den am Ort lebenden Gruppen arrangiert und ein Zusammenleben gefunden haben. Dabei blieben die Haus- und Siedlungsformen jedoch unverändert. Jedenfalls hat es nach den Befunden keinen Bevölkerungsaustausch gegeben. Im Zuge der „Völkerwanderung“, d. h. der Bewegung von Kriegerverbänden der Franken und Alamannen über den Limes in die römischen Provinzen, ist ebenfalls in den Ausgangsgebieten der Gruppen, so östlich des Nieder- und Mittelrheins oder in Mecklenburg und Mitteldeutschland keine Entsiedelung zu registrieren, was im Übrigen auch für die Überwanderung von Gruppen vom Festland,
17.4 Germanen und Slawen
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wo es auch keine Entsiedelung gab, nach England betrifft. Das spricht aber keineswegs gegen die Abwanderung einzelner dörflich lebender Gruppen, wie das die Siedlungen in Nordgallien und der Normandie belegen (vgl. S. 239 ff.).
17.4 Germanen und Slawen Eine besondere Situation ist ab etwa 500 und im 6. Jahrhundert östlich der Elbe zu beachten.2955 Aus diesem Gebiet wanderten „Germanen“ anscheinend nach Westen ab, und die Landschaften wurden dann von der einwandernden „slawischen“ Bevölkerung besiedelt.2956 Oder die „germanische“ Bevölkerung ist in der neuen „slawischen“ Bewohnerschaft aufgegangen.2957 Erst frühestens ab der Zeit um 500 werden im eigenständigen Fundspektrum Slawen fassbar, die Kontakt zu den (Rest-)Germanen gehabt zu haben scheinen; denn es gibt kein siedlungsleeres Gebiet und keine Lücke von 100 Jahren. Es wird Kontakte gegeben haben; denn Brunnen sind dendrodatiert bis in das mittlere 5. Jahrhundert von Germanen gebohrt und an derselben Stelle dann von Slawen wieder genutzt worden. Germanische Gräber werden noch in der Zeit um 500 angelegt. S. Brather aber meint: „Der Archäologie ist es jedoch bisher nicht gelungen, derartige Kontakte zweifelsfrei zu belegen“, und er geht von rascher Assimilation der Vorbevölkerung aus, so dass entsprechende Befunde überhaupt nicht erkannt werden können. Pollenanalysen in diesen Gebieten belegen eine kontinuierliche Besiedlung. Elf Goldbrakteaten u. a. mit D-Brakteaten des 6. Jahrhunderts wurden 1859 in einem Moor bei Nebenstedt, Kreis Lüchow-Dannenberg, gefunden, also westlich der Elbe,2958 aber in einem später slawisch besiedelten Gebiet, und belegen noch die Anwesenheit von „Germanen“. Slawen erscheinen in Polen zuerst seit dem 6. Jahrhundert,2959 erkennbar anhand der Keramik des Prager Typs2960 und seiner Verbreitung und dann des Sukower Typ weiter im Norden: Es gibt mehrere Darstellungen zu dieser Frage, ob und wann die germanischen Besiedlungen durch slawische Gruppen abgelöst worden sind oder ob man auch von einer Akkulturation, Assimilation und Eingliederung ausgehen sollte. Was machte die Slawen zu Slawen, ihre Sprache; und wo waren ihre Herkunftsgebiete, Fragen, die hier jedoch nicht weiter verfolgt werden sollen.2961 2955 Nüsse 2016 Übersicht. 2956 Jöns u a. 2019 bzw. Spuren des Menschen 2019, 343 Abb. 1 Karte der von Slawen besiedelten Gebiete bis zur Elbe, datiert ab 7. Jahrhundert. 2957 Brather 1999; 2004b, 317 Fig. 2 und 2005a, 529 Abb. 1 Karte der absoluten Daten zum Vordringen der Slawen bis zur Ostsee, 7. Jahrhundert; 2001b und 2008c, 51 ff.; Leube 1996a; auch Barfield 2001. 2958 Axboe, Düwel 2002. 2959 Parszewski 2017, 62 Fig. 3 Karte 7 farbig; Brather 2008c. 2960 Brather 2001b, 487 Abb. 6; 2008, 57 Abb. 7 und 257 Abb. 69 Verbreitung früher slawischer Brandbestattungen. 2961 Piontek 2006.
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Felix Biermann2962 beschreibt die germanische Besiedlung des 5./6. Jahrhunderts. Es geht um die Brunnen mit ihrer Holzerhaltung, was die dendrochronologischen Aussagen, die ich erwähnt habe, erlauben. In Kützin, Ldkr. Ludwigslust-Parchim, ist ein germanischer Brunnen um 416 dendrodatiert; weitere dendrodatierte Brunnen bestanden bis ins dritte Viertel des 5. Jahrhunderts. In Biesenbrow, Ldkr. Uckermark, wurden Buntmetallhorte und Solidi vom byzantinischen Kaiser Justinian (527–565) entdeckt. Das Resümee lautet daher: Es gibt eine Siedlungslücke, wenn überhaupt, erst von der zweiten Hälfte des 6. bis zum fortgeschrittenen 7. Jahrhundert an. Die Zeugen germanischer Besiedlung enden zwar meist (!) bereits im 4./5. Jahrhundert, teils aber erst im 6. Jahrhundert. Oft liegen germanische und slawische Siedlungen an derselben Stelle, wohl aufgrund derselben wirtschaftlichen Situation; auch wenn es keinerlei Verwandtschaften im kulturellen Zuschnitt gibt. Es scheint keine Slawisierung vorhandener Bevölkerung gegeben zu haben, wie F. Curta das für Südost- und Zentraleuropa meint. Die germanischen und slawischen Kastenbrunnen sind eine entscheidende Befundgattung, die in anderen Landschaftsbereichen ebenfalls diskutiert werden.2963 Im germanischen und frühslawische Kastenbrunnen von BerlinMarzahn sind zwei Brunnenschalen aus Holz dokumentiert worden, der germanische Brunnen ist nun in die zweite Hälfte des 3. und in das 4. Jahrhundert C14-datiert und der frühslawische erst dendrodatiert um/nach 739, sodass hier anscheinend tatsächlich eine größere zeitliche Lücke am selben Platz und im selben Befund besteht. Ulrich Schoknecht sucht ebenfalls nach möglichen Kontakten zwischen Germanen und Slawen in Mecklenburg und Vorpommern.2964 Er weist auf ranghohe spätgermanische Sachgüter in den Siedlungsarealen hin, die von den frühesten slawischen Einwanderern besetzt worden sind, und er meint, dass hier noch eine „germanische“ Bevölkerungsgruppe gelebt haben müsste. Aufgezählt werden ein Waffengrab aus der Zeit um 500 oder dem frühen 6. Jahrhundert und eine Zellenmosaikfibel von Schwerin, gefunden in Siedlungsschichten mit altslawischer Keramik vom Sukower Typ. Genannt werden außerdem im Umfeld von Teterow ein Doppelgrab vom Ende des 5. Jahrhunderts oder aus der Mitte des 6. Jahrhunderts und ein Grab von Levitzkow mit einer Glasschale des 6. Jahrhunderts. Weitere Fundstätten in Mecklenburg-Vorpommern werden angeführt, so dass sich eine relativ dichte Besetzung mit „germanischem“ Fundstoff ergibt. Das könnte für einen Kontakt zwischen alten und neuen Siedlern sprechen. Dendrodaten helfen aber, wie erläutert, nicht weiter (vgl. oben S. 828). Doch können eigentlich auch neue Siedler diese altertümlichen Sachgüter adaptiert und übernommen haben. Die Einwanderung scheint also vom Ende des 6. Jahrhunderts an möglich, wird in Schüben erfolgt sein, und – so U. Schoknecht – nur so könnte eigentlich erklärt werden, dass die alten
2962 Biermann, Kersting, Klammt (Hrsg.) 2016; Biermann 2016, 10 Abb. 1 und Anm. 9; 13 Abb. 6. 2963 Michas 2016, 148 Abb. 4. 2964 Schoknecht 2001.
17.4 Germanen und Slawen
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Siedlungsgefilde besetzt worden sind, die nach einer längeren zeitlichen Unterbrechung der Nutzung völlig zugewachsen wären. Die umfassende Auswertung der Befunde zu den frühen Slawen zwischen unterer Weichsel und Elbe aus dem Jahr 2006 bieten nun erst Dendrodaten ab dem Ende des 6. Jahrhunderts.2965 Auch die Auswertung der unverzierten und verzierten älteren Keramik, beispielsweis vom Typ Sukow, geht nur bis zur Wende vom 6. zum 7. Jahrhundert zurück. Älter wirkende Waffenfunde, zum Beispiel die einschneidigen Hiebwaffen, die Saxe, stammen zumeist aus Flüssen, und nur einige lassen sich vielleicht ins 6. Jahrhundert datieren. Insgesamt geht M. Dulinicz für das 6./7. Jahrhunderts von einer Besiedlungsund Bevölkerungskontinuität aus, und die Sachgüter dieser Phase lassen sich keiner bestimmten Bevölkerungsgruppe zuordnen, auch nicht den Slawen.2966 Es sei zu einfach, die Sachen des 5. oder 6. Jahrhunderts (noch) den Germanen und die des 7. und 8. Jahrhunderts (schon) mit der slawischen Besiedlung zusammenzubringen. Auch fehlten immer noch Gräber, die naturwissenschaftlich oder anhand von Funden ins 6. und 7. Jahrhundert zu datieren seien. Das Modell eines germanischen Siedlungsendes, dann eine Lücke, ehe die slawische Besiedlung einsetzt, kann aber mich nicht überzeugen. Es wird Probleme bei der archäologischen Ansprache der Funde und Befunde geben, was Migrationen betrifft, verbunden mit Ein- und Abwanderungen. Mit naturwissenschaftlichen Methoden wurde nachgeprüft, ob sich eine slawische Bevölkerungsgruppe autochthon oder allochthon, also andernorts, entwickelt hat.2967 Mit archäologischen Analysen ist man da nicht weitergekommen. Anthropologische Untersuchungen sprechen für eine autochthone Entstehung, d. h. die Wiege der Slawen lag zwischen Oder und Weichsel. Denn morphologisch ist zwischen den Leuten der Wielbark- und der PrzeworskKultur sowie der dänischen Bevölkerung und der später in der Chernjachov-Kultur kein Unterschied zu finden, und das blieb bis in die Slawenzeit gleich. Diese Untersuchung ist 2006 veröffentlicht worden und stützt sich auf Schädelvermessungen (?), ein überholter Zugang; denn in Zukunft wird das über aDNA weiter erforscht werden müssen. Nun haben Ausgrabungen seit 2011 bis 2016 in einer Siedlung bei PotsdamNedlitz des 1. bis 5. Jahrhunderts spät zu datierende Funde „germanischen“ Charakters ergeben: Eine Dreiknopf-Bügelfibel des 5. Jahrhunderts, einen Dreilagenkamm mit Bronzenieten des 5. oder sogar des frühen 6. Jahrhundert,2968 Sachgüter, die also mit Germanen verbunden werden können. Späte Germanen und frühe Slawen sind
2965 Dulinicz 2006, 386 Abb. 204 Karte aller Fundplätze des Katalogs (fast 250 Nr.), 39–51 Dendrodaten, 126 zur Keramik, 128 mit Abb. 45 zu den Saxen. 2966 Dulinicz 2006, 157, zu den fehlenden Gräbern 273. 2967 Dąbrowska 2006. 2968 Beran, Hensel 2018; Beran, Schlag 2018 (2020), 72 Abb. 70.
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17 Politisch-Territoriale Gliederungen in Germanien
auch auf dem Teltow und im Berliner Raum schon früher diskutiert worden.2969 Wie sieht es im Hannoverschen Wendland zwischen der jüngeren Römischen Kaiserzeit und der frühen Slawenzeit aus?2970 Es gibt Keramikgefäße des jüngsten völkerwanderungszeitlichen Besiedlungshorizontes aus Gartow und Rebenstorf. Funde von Lanzenspitzen datieren hier aber ins 6./7. Jahrhundert n. Chr. in Gartow und Hitzacker. Die Siedlungslücke im 6./7. Jahrhundert spiegelt sich anscheinend in der allmählichen Reduzierung der Fundstellenanzahl; doch ist diese vermeintliche Siedlungslücke sichtlich ein Forschungsproblem aufgrund der untypischen Keramik oder wegen einer Verlagerung einerseits und einer Konzentration der Siedlungen andererseits. Das Urnengräberfeld von Rebenstorf hat eine beachtlich lange Belegungsdauer von der ausgehenden vorrömischen Eisenzeit bis in die Völkerwanderungszeit mit mehr als 1000 Bestattungen. Parallel dazu gibt es kleine Gräberfelder; vielleicht bringt die Ablösung der großen Gräberfelder durch die kleinen Nekropolen eine Erklärung für die Veränderung des Siedlungsbildes, das eben überwiegend anhand der Friedhöfe konstruiert wird.2971 Die Besiedlungsgeschichte in der Altmark wurde schon vor einigen Jahren 2011 zu einem Feld der Kontinuität von der Römischen Kaiserzeit über die Völkerwanderungszeit bis ins Mittelalter.2972 Die Kartierung zeigt eine große Zahl von Fundplätzen in der östlichen Altmark, westlich der Elbe, an denen diese Kontinuität nachgewiesen ist. Das Schaubild bringt eine solche kontinuierliche Besiedlung ostaltmärkischer Fundplätze von der Phase B 2, also ab dem fortgeschrittenen 2. Jahrhundert, bis zur Phase D, also bis ins 5. Jahrhundert bei einigen dieser Plätze, bei anderen geht die Besiedlung aber durch bis ins 8. Jahrhundert, was anhand von Neufunden belegt ist, die auch mit Hilfe des Metalldetektors entdeckt worden sind. Die Funde, nicht zuletzt Fibeln, spiegeln Beziehungen zum südskandinavischen Ostseeraum. Weiter im Westen sind in der Altmark keine frühen Slawen nachgewiesen,2973 etwas weiter im Osten, nach Polen hin, jedoch zu registrieren:2974 Ein Goldbrakteat wurde bei Stargard gefunden, weitere Goldbrakteaten lagen im Hort von Karlino im Gebiet von Białogard, datierbar in die zweite Hälfte des 5. Jahrhundert; zwei Halsringe aus Gold, von Młoteczno im Gebiet von Braniewo, stammen aus dem Ende des 4. oder der Mitte des 5. Jahrhundert. Ein weiterer Goldbrakteat ist aus dem Hort von Wapno im Gebiet von Wągrowiec zu nennen, der ebenfalls in die zweite Hälfte des 2969 Frey 1999. 2970 Nüsse 2016, 139 Abb. 2, 141 Abb. 3, 1 und 2: Gartow (1), Hitzacker (2). 2971 Nüsse 2016, 140, 142; vgl. auch Saile 2007ab 6. Jahrhundert und für die nächst jüngere Zeit: Jöns, Schneeweiß 2013; auch Jantzen, Ruchhöft, Schirren 2020, 32: Immer noch offen, füt welche Zeit die ersten Slawen in Mecklenburg nachzuweisen sind. 2972 Schwarz 2011, 190 Abb. 1 Verbreitung der Kontinuitäten in der östlichen Altmark; 193 Abb. 4 Graphik zu den Nutzungszeiten der Fundorte. 2973 Schwarz 2011. 2974 Bursche 2017, 9 Fig. 3, 11 Fig. 4 (Goldbrakteaten), 12 Fig. 5 (Goldhalsringe), 15 Fig. 6 (Goldbrakteat).
17.4 Germanen und Slawen
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5. Jahrhunderts zu datieren ist. Das sind Ergebnisse des Projekts „Migration period between Odra and Vistula“. Frühe slawische Brandgräber enthielten als Beigaben Armbrustsprossenfibeln.2975 Sie spiegeln noch alte Traditionen im Fibelschmuck, zeigen aber die neue Besiedlung an, die S. Brather ebenfalls so beschreibt. Die Armbrustsprossenfibel von Prützke lag in einem frühen slawischen Brandgrab.2976 Das ist eigentlich eine baltische, „ostpreußische“ Form, deren Variante 4 eine dichte Verbreitung dort zeigt. Vergleichbare Fibeln finden sich zudem nachfolgend im Gebiet der ehemaligen Dollkeim-Kovrovo-Kultur, die von manchen Forschern mit den bei Tacitus genannten Aestii zusammengebracht wird.2977 Über die Wanderungen der Langobarden von der Niederelbe bis nach Pannonien im 5. Jahrhundert wäre Ähnliches abzuhandeln, außerdem könnten die Kontakte zwischen Slawen und Awaren dargestellt werden.2978 Doch diese Veränderungen, Zuund Abwanderungen sowie Assimilationen möchte ich in meinem Buch nicht weiter beschreiben. Vielmehr weise ich noch auf das Problem der Datierung von Bestattungen hin, die für die Bewertung der Siedlungsgemeinschaft eines Gräberfeldes von Bedeutung ist, weil die Stufenzuweisung und die Beschreibung der Siedlungsgröße und damit der Schluss auf die gleichzeitig seinerzeit lebende Bewohnerschaft von diesen Beigaben abhängt, diese aber alt und gar aus einer vorausgehenden Stufe stammen können und was leicht übersehen wird. Das hat J. v. Richthofen in Studien gezeigt, in dem er die Gebrauchs- bzw. Abnutzungsspuren an Fibeln der Römischen Kaiserzeit analysiert hat und dabei feststellen konnte, dass Fibeln ein halbes Jahrhundert getragen worden sein müssen.2979 Auch alte beschädigte Fibeln können erneut als Beigaben dienen; hier wird über ein Beispiel, berichtet, das über 60 Jahre älter als die sonstigen Beigaben dieses Typs.2980
2975 Kontny 2010, mehrere Tafeln. 2976 Brather 2001b, 481: Das Stück von Prützke, Kr. Potsdam-Mittelmark, 483 Abb. 4 Karte zur Variante 4; dazu auch Hilbert 2009 mit verwandter Fragestellung; auch Dulinicz 2006, 141 Abb. 52. 2977 Bitner-Wróblewska, Wróblewski 2015, 72 Abb. 5. 2978 Bemmann, Schmauder (Hrsg.) 2008. 2979 v. Richthofen 1994 (1995); 2000. 2980 Andrzejowski 2017.
18 Gräberfelder der Bevölkerung und Bestattungen der Eliten Alle politischen Fakten, ob es Stämme waren, welche Kriege geführt wurden, wohin – wenn es Sinn hatte – gewandert wurde, hat keinen direkten Bezug zu diesen von Religion, Jenseitsglauben und Kult bestimmten Handlungen bei der Bestattung der Gestorbenen. Selbstverständlich ist die Fragestellung erlaubt, aber erst später in der Hierarchie des Fragens. Ebenso wird zu den Waffen- und Schmuckbeigaben in Bestattungen gefragt, wer diese Objekte wo hergestellt hat, also nach dem Bereich des Handwerks und Handels, und nicht eigentlich in erster Linie, warum sie den Toten ins Grab gelegt worden sind. Sachgüter werden zu oft und zuerst abstrahiert und losgelöst vom Befundzusammenhang bewertet. Das sollte sich jeder Leser der nachfolgenden Darstellung regelmäßig bewusst machen. Wenn es um Kultur- und Formenkreise anhand der Verbreitung von Sachgütern geht, die eine große Rolle auch in dieser Arbeit spielen, ist zu fragen, wie diese zustande gekommen sind, auch wenn sie aus Gräbern kommen. Steht das nicht im Widerspruch zu dem von mir eben Formulierten? Hat es ein solches weitreichendes Gemeinschaftsbewusstsein in diesen Kulturkreisen gegeben, oder ist das vergleichbare Kartenbild nur dadurch entstanden, dass Nachbarn mit Nachbarn kommunizierten und diese wieder mit weiteren Nachbarn, also in einer Art Kettenkommunikation. Dann wird die Familie in der fünften Dorfentfernung keinen Kontakt mehr mit der ersten gehabt haben müssen. Wir kennen auch heute nicht die Vorstellungen vom detaillierten Jenseitsglauben der Familien einige Straßen weiter, gehen aber vielleicht alle zu demselben Friedhof, weil das heute so organisiert ist. Präzise formuliert lautet die Grundfrage bei den archäologischen Quellen, worauf oben eingegangen worden ist, hier noch einmal in Bezug auf den Totenkult, was bieten die Bestattungssitten und die Grabbeigaben? Die Erscheinungen werden über die Verbreitung von Bräuchen und Sachgütern vom Beginn der archäologischen Forschung an seit mehr als 200 Jahren und noch in den letzten Jahrzehnten unmittelbar mit feststehenden Deutungen erklärt, auch wenn alles Sachgut aus Bestattungen stammt. Mit den Schriftquellen im Hintergrund geht es um die Zuordnung zu Völkern und Stämmen, zu Wanderungen und Mobilität und zu Rangstaffelungen, und das oftmals direkt je nach Aufwand der Grablege. Das sind jeweils historische Aussagen über die Struktur der damaligen Gesellschaft. Vergessen wird, weil eben diese Quellengruppe so dominant ist und wegen der oft so ansehnlichen Beigaben, dass wir einen engen Ausschnitt ehemaliger Lebensverhältnisse und Lebensweisen haben, nämlich was am Ende des Lebens mit den Verstorbenen geschieht. Die meisten menschlichen Gesellschaften haben Lösungen gefunden, weil es meistens eine Vorstellung gab, was mit dem Menschen nach seinem Tod geschieht, und regelmäßig werden ein Jenseits und ein Glaube daran vorausgesetzt. https://doi.org/10.1515/9783110702675-026
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Daher müssten eigentlich die ersten Fragen an die Grabfunde in diese Richtung gehen, was die einzelnen Familien und weiter die beieinander wohnenden Siedlungsgruppen darüber dachten und warum sie die gefundenen Lösungen gewählt haben. Benachbart lebende Bevölkerung beobachtet sich, und Familien lassen sich vom Verhalten dieser Nachbarn beeinflussen bzw. beeinflussen auch diese in ihrem Handeln. In welch weitere Entfernung das dann gewirkt hat, war sicherlich sehr unterschiedlich. Ob in 50, 100 oder 500 Kilometer Entfernung noch irgendjemand etwas über das Totenbrauchtum in diesen ferner gelegenen Gemeinschaften wusste, ist kaum anzunehmen. Dass es Ausnahmen gibt, schildere ich ausführlich, auch über die Handelsnetze wird berichtet. Dass jedes Begräbnis ein gesellschaftliches Ereignis war und ist, ist allgemein gültig. Je berühmter oder auch bekannter eine verstorbene Person ist, desto größer scheinen die Anteilnahme und die Zahlen der Trauergemeinde bei den Feierlichkeiten zu sein. Es ist noch nicht lange her, dass Familien ihren Rang auch in der modernen Gesellschaft den anderen auf dem Friedhof zeigen wollten. Auf den Friedhöfen des 19. Jahrhunderts entstanden prachtvolle Grabdenkmäler und kleine Mausoleen, d. h. ein Friedhof spiegelte auf diesem Weg durchaus die gesellschaftliche Rangstruktur der Gemeinden, der Dörfer und Städte. Während der Jahrhunderte um Chr. Geb. war das nicht unbedingt anders, sofern die gemeinsam akzeptierte mehr oder weniger schlichte Brandbestattung nichts anderes erforderlich machte. Aber auch da zeige ich die Rangunterschiede. Bei Körperbestattungen wurden teilweise üppige Holzkammern gebaut, später von einem Hügel überwölbt, und während der Totenfeiern konnten die Teilnehmer in das Grab sehen und den Aufwand an Kleidung und Beigaben bestaunen. Lange hat die Archäologie übersehen, dass dies bei Brandbestattungen ähnlich gewesen ist. Nur das Ende mit der eingegrabenen Urne wird dokumentiert; doch zuvor hat es einen Scheiterhaufen für die Verbrennung der toten Person gegeben, auf dem diese mit ihrer Kleidung und der manchmal kostbaren Beigabenausstattung gelegen hat, ehe dann am Schluss das Übergebliebene, Knochen und verschmolzene Sachgüter eingesammelt und in die Urne gelegt wurde. Das haben die Umwohner verfolgt, und die Archäologen finden nur dieses „Endergebnis“. Wiederum gibt es dabei Ausnahmen; manchmal wurden nicht alle Sachen, Schmuck oder Waffen, mit verbrannt, sondern nachträglich in, neben oder unter die Urne gelegt. Alle diese vielen verschiedenen, in Details abweichenden Bräuche bei den Bestattungen sind manchmal typisch für eine Siedlung gewesen, manchmal auch nur typisch für eine Familie; und wenn nun – was es auch gegeben hat– verschiedene Dörfer gemeinsam zentral auf einem Gräberfeld ihre Verstorbenen bestattet haben, dann trafen sich da oftmals auch verschiedene Bräuche der einzelnen Dörfer an einem Platz. Bei dem Versuch, Totenbrauchtum und Grabsitten früherer Epochen, auch der ersten Jahrhunderte n. Chr. in Mitteleuropa verstehen zu wollen und die Hintergründe und Denkmuster zu erklären, ist nicht zuletzt auch von den Glaubensvorstellungen der heutigen Forscherinnen und Forscher auszugehen. Allgemeingut ist die Auffassung, dass alle archäologischen Ausgrabungsergebnisse beeinflusst werden vom gegenwärtigen Stand der Kenntnisse und von der persönlichen Einstellung zu den
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freigelegten Befunden und Funden durch die archäologisch forschenden Personen. Doch bleibt das auf der Ebene des rationalen Zugriffs und Denkens. Bei der Bewertung von Grabbräuchen und Beigabensitten spielt aber ein anderer Aspekt trotzdem eine entscheidende Rolle, nämlich die eigene Auffassung der Forscher von dem, was nach dem Tod mit den Verstorbenen geschieht. Gibt es ein Jenseits, und wie ist das vorstellbar. Einfacher ausgedrückt erhebt sich die Frage, wozu die mehr oder weniger wertvollen Grabbeigaben dienen sollten. Brauchte die verstorbene Person diese Dinge, Sachen, Kleidung, Ausrüstung, Schmuck und Waffen, Speisen und begleitende Tiere in einem Jenseits oder dienten sie nur während der Bestattungsfeierlichkeiten dazu, der Umgebung – der Siedlungsgemeinschaft beispielsweise – zu zeigen, was man selbst oder die Familie bzw. die Bestattungsgemeinschaft besaß und was man sich leisten konnte. Auf die Ausrüstungen für ein feierliches Gelage einer Gruppe beim Totenmahl ist schon eingegangen worden (vgl. S. 789). Wurden sie im Grab aufgestellt, waren sie dann ein Hinweis, dass solche Feiern im Jenseits stattfinden, oder sind sie nur die „Entsorgung“ nach der Veranstaltung bei der Bestattung, weil die benutzten Ess- und Trinkgefäße irgendeiner Tabuvorstellung unterlagen? Auch die damalige Bevölkerung wusste, dass die toten Körper verfallen, dass gar nach der Verbrennung nur Asche blieb und dass auch die Beigaben in der Erde verwitterten. Man sagt, dass nach der Durchsetzung des Christentums während der Merowingerzeit sich das Wissen ausbreiten sollte, Beigaben brauchte man nicht im Jenseits. Deshalb konnte man sie nach einiger Zeit wieder aus den Gräbern herausholen, was früher immer nur als „Grabraub“ gedeutet wurde, aber eine andersartige realistische Auffassung spiegeln könnte: Man brauchte die mehr oder weniger üppigen Beigaben zwar bei der Totenfeier, um seinen Reichtum, eben aus Tradition, nicht aber aufgrund alter Jenseitsvorstellungen. Wie dem nun auch sei, von seiner eigenen Vorstellung des heutigen Wissenschaftlers, wie es nach dem Tod mit ihm weitergeht, wird er ähnlich die archäologischen Befunde interpretieren. Dann sind die Beigaben vielleicht entweder nötig für das Jenseits oder doch nur eine Angelegenheit der Repräsentation. Selbstverständlich ist das nur die vereinfachte Beschreibung, wie man zu Erklärungen kommt. Ebenso konnte und kann symbolisch gedacht werden. Damit meine ich, dass es ein Denken gibt, in dem zugleich mit dem Menschen, der real zerfällt und zu Staub oder Asche wird, die realen Sachgüter aus der Welt verschwinden und mit der Seele der verstorbenen Person in ein Jenseits gerückt werden. Der Aufwand und die Arbeitsleistung bei der Aushebung einer Grabgrube für den Sarg oder gar der Bau einer Kammer aus Holz oder Steinen ist nicht gering, und ebenso ist der entsprechende Aufwand bei der Brandbestattung zu bedenken. Es geht dabei um Holz für den Scheiterhaufen und später um die Urnenbestattung oder um eine der anderen Arten von Feuerbestattungen.2981 Nicht bekannt ist, ob ein Grab von
2981 Becker, Döhle, Hellmund, Leineweber, Schafberg 2005; Leineweber 2002; 2007b; Wahl 1981; Thompson (Hrsg.) 2015.
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der Familie angelegt wurde, die zuvor die Bestattungsfeierlichkeiten ausgerichtet hatten, oder ob es Totengräber gab; denn eine Friedhofs- oder Gräberfeldordnung hat es gegeben, da die Toten nicht willkürlich irgendwo vergraben wurden, sondern geregelt auf einem Platz, der von der gesamten Siedlung akzeptiert wurde. Eine Bestattung in der Siedlung, auf dem Hofgrundstück oder unter dem Haus kam vor, war aber immer die Ausnahme. Es gibt inzwischen interessante Beobachtungen:2982 Oft sind zu wenige Knochen in den Urnen der Przeworsk-Kultur, manchmal nur 1% vom natürlichen Gewicht des Skeletts, in der Spätphase C1 (150 bis 250 n. Chr.). Wie ist das zu erklären? War das nachlässiges, unkorrektes Auslesen der Knochen aus der Ustrine, wurden die Knochen auf dem Friedhofsareal verteilt, wurden die meisten Knochen außerhalb des Gräberfeldes deponiert, in Flüssen oder Seen? Letzteres ist im keltischen Kulturbereich bekannt, wäre also auch bei Germanen möglich. Gräber sind in der Regel kein Spiegel des Lebens,2983 was man in Bezug auf Rang und Reichtum anhand des Aufwands beim Grabbau und über die Beigaben erschließen möchte. F. Theuws fragt mit guter Begründung, ob eine archäologisch ausgegrabene Bestattung tatsächlich ein Individuum beschreibt oder nicht eher das Verhalten der Gesellschaft allgemein. Man richtete sich vielfach nach den in der Gruppe üblichen Bräuchen. Eine kaum zu übersehende Forschungsliteratur zu „Übergangswelten und Totenriten“ für alle Epochen der Ur- und Frühgeschichte, auch für die Eisenzeit und die Römische Kaiserzeit in Mittel- und Nordeuropa liegt vor, die Anregungen aus der Soziologie und Ethnologie übernommen hat, so von A. von Gennep mit seinem Werk zu den Übergangsriten (Les rites de passage1909, deutsch: Übergangsriten 1986).2984 Je sorgfältiger und wie umfangreich derartige Analysen vorgenommen werden, desto größer ist die Variationsbreite des Möglichen. Totenbrauchtum und Grabsitten sind ein eigener, unabhängiger Ausschnitt aus der ehemaligen Lebensrealität. Religiöse Vorstellungen und soziale Praktiken drücken sich in Grabbau und Grabbeigaben bei gleicher Ausgangslage sehr unterschiedlich aus.2985 Das zeigen Ausstattungskategorien von Gräbern der Römischen Kaiserzeit und der Völkerwanderungszeit von Mitteldeutschland über die Wielbark- und Chernjachov-Kultur bis in den weiteren Donauraum und in Italien.2986
2982 Makiewicz 2008b. 2983 Toplak 2018; Theuws 2013. 2984 Übergangswelten 2018; Prosser 1998 zum „Klassiker des Themas“ A. von Gennep. 2985 Steuer 1982; 1994a; 1999a, 2006b; Brather 2005b; 2008b (für etwas spätere Zeit); 2014b; 2015. 2986 Brather 2005c, 435 Tab. 1; Bierbrauer 1989.
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18 Gräberfelder der Bevölkerung und Bestattungen der Eliten
18.1 Gräberfelder der Bevölkerung Anhand der neuen großflächigen Siedlungsgrabungen kann man sich vorstellen, in welchen Hallenbauten „Adlige“ wie Arminius und seine Familie in Germanien gelebt haben. Über Jahrhunderte blieben die Germanen und auch ihre Führungsgruppen bei derselben Bauweise für ihre Häuser. Mächtige Holzbauten und Fachwerkhäuser boten andere Lebensqualität als kühle Steingebäude in römischer Manier, die für den Mittelmeerraum geeignet, aber im Norden weniger sinnvoll waren. Hypokaustheizungen mussten dort die Wohnräume aus Stein wärmen, während das offene Feuer – und auch das nahebei aufgestellte Vieh – in der Halle in Germanien gleichmäßig ebenso wärmte. Nur in den Randgebieten am Niederrhein ist zu beobachten, wie in Holz errichtete germanische Gehöfte langsam „versteinerten“. Aber auch in den neuen römischen Provinzen an der Donau wurden die ersten römischen Gutshöfe anfangs in Holzbauweise errichtet; deutlich später erhielten die meisten nach römischer Mode dann Steinfundamente, auf denen sich noch weiterhin Fachwerkbauten erhoben, die deshalb wegen der Grundrisse heute so leicht gefunden und bei Luftaufnahmen entdeckt werden. Dieser wiederholende Vorspann führt zur Feststellung, dass zu den Siedlungen wie in jeder Gesellschaft auch die Plätze für die Bestattungen der Verstorbenen gehörten. Die Gräberfelder wurden von der archäologischen Forschung wesentlich früher entdeckt und auch ausgegraben als die Siedlungen. Es lag nicht nur an den Beigaben aus Metall oder den Tongefäßen als Grabausstattung oder als Urne, sondern sie wurden auch leichter bei der landwirtschaftlichen Arbeit entdeckt und erregten Aufmerksamkeit und Neugier. Es ist diese Forschungsgeschichte, die deshalb dazu geführt hatte und hat, dass aufgrund der Sachgüter und der Bestattungsbräuche die weiten Landschaften Germaniens untergliedert worden sind und zu den Namen geführt haben, die immer noch verwendet werden: Rhein-Weser-Germanen, Elbgermanen, Ost- bzw. Odergermanen und Nordseegermanen sowie Nordgermanen. Dass versucht wurde, diese Gruppen auch mit den antiken Schriftquellen überlieferten Stammesnamen, Stammesbünden und Kultverbänden zu verbinden, steht auf einem anderen Blatt und wurde an anderer Stelle dieses Buches schon thematisiert (vgl. S. 105 f. und S. 801). Bei den Grabbräuchen in Germanien handelte es sich in den ersten Jahrhunderten überwiegend um verschiedene Formen von Brandbestattungen, die kartiert zur Unterscheidung der genannten Großgruppen geführt haben, und man dachte dabei sogar auch an ethnische und sprachliche Verschiedenheiten. Vergessen wurde dabei, dass es sich ausschließlich um spezielle Bräuche des Totenkults, also nur um einen kleinen Ausschnitt ehemaliger Lebensrealität, gehandelt hat und Hauslandschaften wegen des wirtschaftlichen Hintergrundes vielleicht als wichtiger anzusehen sein sollten, aber in der Frühphase der Forschung noch gar nicht ausgegraben waren. An wissenschaftlicher Literatur zu Bestattungswesen und Totenkult, zu Grabbrauch und Beigabenausstattung in Mitteleuropa gibt es eine breite Auswahl, was – wie
18.1 Gräberfelder der Bevölkerung
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gesagt – auch mit der Forschungsgeschichte zusammenhängt.2987 Besonderes Interesse fand dann neben dem fortdauernden Brauch der Brandbestattungen das Aufkommen der Körpergrabsitte ab dem späten 2. Jahrhundert2988 und schließlich als Besonderheit auch der Beginn der Waffenbeigabensitte während der jüngeren Römischen Kaiserzeit in Mitteleuropa und Skandinavien.2989 J. Bemmann und H.-J. Voss haben sowohl das Aufkommen seit dem 1. Jahrhundert und die Entwicklung der Körpergrabsitte beschrieben als auch die Erscheinung der Kammergräber mit beigesetzten Körpern und mit Verbreitungskarten unterlegt. Nach gegenwärtigem Forschungsstand ist eher [keine keltische und/oder römische Beeinflussung, oder doch? (Verf.)] davon auszugehen, dass unterschiedlich, räumlich und zeitlich differenzierte Einflüsse zur Übernahme der Körperbestattung führten. Während der jüngeren Römischen Kaiserzeit lassen sich Körperbestattungen in größerer Zahl in Vorpommern sowie in Mitteldeutschland, Nordwestböhmen und Südwestdeutschland nachweisen […]. In Nordwestdeutschland findet die Körpergrabsitte erst im Laufe des 4. Jahrhunderts eine verstärkte Aufnahme.
Kartiert werden die spätlatènezeitlichen Körpergräber der Przeworsk-Kultur nach Teresa Dąbrowska (1988) der Stufen A2 (Mitte 2.-Mitte 1. Jahrhundert v. Chr.) und A3 (Mitte 1. Jahrhundert v. Chr. – 10 n. Chr.) am Oberlauf der Oder bei Breslau (Wrocław) und am Netze-Weichselknie südlich von Bromberg (Bydgoszcz). Eine Karte bringt die Körpergräber der Wielbark-Kultur und der Gustower Gruppe in Pommern nach Wołągiewicz (1980), und eine weitere die wenigen frühkaiserzeitlichen Körpergräber in Mitteldeutschland nach Bemmann (1999a). Die Verbreitung der Körpergräber in den Phasen C1/C2 reichen gehäuft von Mecklenburg-Vorpommern über Mitteldeutschland bis Böhmen. Die Grundformen der Brandbestattungen waren sehr vielseitig; Urnengräber herrschten vor, es gab außerdem sogenannte Brandgrubengräber, Brandschüttungsgräber und Scheiterhaufengräber, je nachdem, was mit dem Leichenbrand geschah, nachdem die Toten auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden waren, ob man die Brandreste in einer Urne sammelte oder in einer Grube ablegte. Zusätzlich gab es Steinabdeckungen der Urne und Einfassung durch Steinkreise. Ähnlich verhielt es sich mit den Beigaben, mit Schmuck, Toilettenutensilien oder später mit Waffen. Sie wurden entweder vorher zerstört, d. h. beispielsweise verbogen und zerbrochen, oder mit verbrannt oder erst nachträglich aus der Asche in die Urne oder in die Grube beigelegt. Die Sitten waren also sehr verschieden. Zwar waren die Bräuche auf einem Gräberfeld ähnlich, aber es gab doch Unterschiede wohl zwischen den Familien. Dass es außerdem Vergleichbares auf den Gräberfeldern einer Landschaft gab, teils auch in größerer Entfernung, spiegelt die Kommunikationsnetzwerke zwischen den
2987 Horst, Keiling 1991; Schultze 1992. 2988 Bräuning 2010; Bemmann 1999a; Bemmann, Voss 2007, Zitat; mit zahlreichen Kartierungen, z. B. Abb. 2 bis 5. 2989 Adler 1993; Bemmann, Hahne 1994; Bemmann 2007a; 2008a; Kleemann 2009a, 91 Abb. 2.
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Siedlungen und damit zwischen den Familien der Einwohner, über die mehrfach im Buch gesprochen wird. Es sind nicht nur Heiratsbeziehungen, die zu gleichartigen Bräuchen und Vorstellungen in entfernteren Siedlungen geführt haben. Doch sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass die Forschung wegen der durchaus subjektiven Beschreibung der Grabungsbefunde durch die Archäologen zu einheitlichen Mustern gekommen ist, weil immer auch das Ziel der Wissenschaft ist, zu systematisieren und weil außerdem von heutigen Toten- und Jenseitsglauben ausgegangen wird. Der Aufwand an Holz wird geschätzt, auch die Menge an Knochen, die nach der Verbrennung bleiben, und zudem geht es um Temperaturen, die bei der Verbrennung erreicht werden oder erreicht werden sollen.2990 Aber alles ist immer noch recht unterschiedlich, wenn frühgeschichtliche Epochen gemeint sind. Bei Verbrennungstemperaturen von 600 bis 900 °C sind doch nicht mehr als 50% der Mikrostruktur des Knochens zerstört;2991 und niedrige Temperaturen zwischen 400 und 850 °C führen nur zu einer Teilverbrennung. Von der archäologischen Forschung lange übersehen waren und sind die sogenannten Scheiterhaufengräber, beispielsweise im Bereich der Rhein-Weser-Germanen. Die Funde verschmolzener Beigaben vom Scheiterhaufen liegen heute meist verstreut in der Pflugschicht und lassen sich kaum noch einer Brandbestattung zuweisen; sie wurden auch als Reste von Handwerksplätzen betrachtet. Wie bei den lange übersehenen wertvollen Beigaben wie römische Importgefäße aus Bronze oder auch Silberbecher in Urnengräbern (vgl. unten S. 963 im Kapitel Katalog der Brandgräber) verschiebt sich durch Einbeziehung der ranghöher ausgestatteten Brandgräber die allgemeine Abfolge nach Rang- und Reichtum in der sozialen Staffelung in ihrem Anteil an der Bevölkerung. Zeitweilig wurde vermutet, dass es in Westfalen um und nach Chr. Geb. normaler weise keine Urnengräber gegeben habe, und zwar seit dem Ende der Phase Latène B2 für 250 Jahre, so dass deshalb beim Aufkommen der ersten Urnengräber römischer Einfluss, eine beginnende Romanisierung auch bei den Bestattungssitten erwartet wurde. Das Bild verändert sich, wenn die Scheiterhaufengräber nun berücksichtigt werden.2992 Die mehr oder weniger vollständig erforschten Gräberfelder zeigen wie bei den Siedlungen eine erstaunliche Variabilität. Es gibt kleine Friedhöfe mit nur wenigen hundert Bestattungen und große mit mehreren tausend Gräbern. Das hängt einerseits von der Belegungszeit ab und andererseits vom Einzugsbereich der Verstorbenen; denn mehrfach wurden aus verschiedenen Siedlungen die Toten auf einem gemeinsamen Platz bestattet, wenn auch häufig das kleinere Gräberfeld vorherrscht, das unmittelbar in der Nachbarschaft zu einer Siedlung angelegt worden ist. 2990 Thompson (Hrsg.) 2015 mit einschlägiger Lit. 2991 Grosskopf 2018 (2919) 425 in der Rez. zu Thompson (Hrsg.) 2015; nach Hummel, Schutkowski 1993 und 2018 (2019) 426. 2992 Cosack 2014 (2019), 168; Bérenger 2000, 173.
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Nicht immer ist die Wahl für das Gräberfeld an Stellen angelegt worden, die für uns erkennbar und damit mit einer Begründung versehen waren. Bevorzugt wurde naturgemäß die Nähe zur Siedlung gewählt, aber nicht unbedingt auf dem besten Ackerboden. In der meist seit Jahrhunderten dicht besiedelten Landschaft, was den Bewohnern durchaus bewusst war, wurde – wenn das möglich war – eine Anlehnung an die vermeintlichen „Vorfahren“ und „Ahnen“ gesucht, um damit sicherlich indirekt oder direkt den Anspruch auf den Besitz der Gegend zu dokumentieren, d. h. es wurden urgeschichtliche Grabhügel für den Beginn eines Gräberfeldes ausgesucht. Vielleicht aber auch nur deshalb, weil man wiederum auf einem schon als Bestattungsplatz gedienten Ort nun seine Gräber anlegte. Damit ist gemeint, dass auffallend mancherorts bei vorgeschichtlichen Grabhügeln begonnen wurde zu bestatten, wie das für das Gräberfeld von Issendorf in Niedersachen noch erläutert wird,2993 oder gar in alten Grabhügeln selbst wurde nachbestattet.2994 Die Belegung der Gräberfelder begann außerdem zu unterschiedlichen Zeiten, und sie wurden verschieden lange aufgesucht, und sie endeten auch zu verschiedenen Zeiten. Das spiegelt individuelles Schicksal der zugehörigen Siedlungsgesellschaft. Und dieses Verhalten richtet sich nicht nach den von der Archäologie erarbeiteten Zeitstufen und Kulturfolgen. Die große Variabilität und damit auch das eigenständige Verhalten der verschiedenen Bestattungsgemeinschaften sind beachtlich. Unterschiedliche Kontinuitäten fallen dabei auf und müssen bei der Darstellung einer Siedlungsgeschichte bedacht werden. Es gibt zahlreiche Gräberfelder, die in der vorrömischen Eisenzeit, im 3. oder 2. Jahrhundert v. Chr. beginnen und dann bis in die Römische Kaiserzeit, bis ins 2. Jahrhundert n. Chr., belegt worden sind. Andere beginnen erst im 2. Jahrhundert n. Chr. und werden dann bis in die Völkerwanderungszeit, bis ins 4./5. Jahrhundert, aufgesucht. Tabellarische Zusammenstellungen zahlreicher Bandgräberfelder mit ihrer Belegungsdauer sind beispielsweise für die Altmark veröffentlicht, für die spätrömische Kaiserzeit der Phasen B2/C1a bis C3, also von 150 bis 370 n. Chr. 2995 Man vermutete, wegen der einsetzenden „Völkerwanderungen“ und der Mobilität sowie der Umsiedlung von Bevölkerungsgruppen, dass deshalb im 4./5. Jahrhundert ein Siedlungsabbruch und damit auch ein Ende der Belegung von Friedhöfen eingetreten sein müsste. Aber im Verlauf der weiteren Forschungen, einschließlich der Auswertung von Pollenanalysen, ist erkannt worden, dass andere Siedlungen bis ins 6./7. Jahrhundert weiter existierten und dann nur verlegt worden sind, also ohne dass die Bewohner verschwunden sind. Da inzwischen auch der Wandel oder die Kontinuitäten bei den Keramikformen besser erkannt sind, haben die zuvor postulierten Unterbrechungen, die und das Ende von Friedhofsbelegungen nicht stattgefunden, 2993 Häßler 2000. 2994 Abegg 2006. 2995 Leineweber 2007b, 42 Abb. 3 in Farbe, mit kurzen und längeren nachgewiesenen Belegungszeiten.
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jedenfalls nicht flächendeckend. Vielmehr ist die Geschichte in jeder Landschaft, in jeder Siedlung und auch bei einzelnen Gehöften und Bestattungsplätzen jeweils anders verlaufen. Zwischen vorrömischer Eisenzeit und Römischer Kaiserzeit und ebenso zwischen Römischer Kaiserzeit und Völkerwanderungszeit – als chronologische Begriffe hier verwendet – gab es keine Brüche, vielmehr Kontinuitäten. Und die oftmals erkennbaren Brüche erfolgten unabhängig von den ereignisgeschichtlichen Daten, die von der Geschichtswissenschaft direkt mit den archäologischen Befunden parallelisiert werden. Wie bei Fragen nach den ethnischen Deutungen archäologischer Kulturkreise und den Verbreitungsmustern auf Kartenbildern sollte akzeptiert werden, dass damit unterschiedliche Seinsbereiche ehemaliger Lebenswelten erfasst werden, die eben nicht unmittelbar zusammenhängen. Römische politische Kaisergeschichten, Bürgerkriege und Revolten veränderten ebenso wenig das alltägliche Leben der Bevölkerungen in Germanien wie militärische Ereignisse wie die römischen Eroberungsversuche der augusteischen Zeit oder die Markomannenkriege. Deshalb weise ich noch einmal darauf hin, dass die von der Archäologie erarbeiteten Zeitstufen, A für die späte vorrömische Eisenzeit, B, C und D für die Römische Kaiserzeit mit den Untergliederungen B1a, B1 b, B2 etc. aufgrund der römischen Sachgüter und Münzen in Germanien konstruierte Phasen oder Stufen sind, die einmal vor Jahrzehnten definiert weiterhin beibehalten werden. Diese haben mit der früheren Realität des Lebens eigentlich nichts zu tun. Deshalb kommt die Wissenschaft regelmäßig dazu, als Phasen übergreifende Zeitabschnitte zu nennen, beispielsweise B2/ C1, was nachdrücklich bestätigt, dass die Phasen der Archäologie mit dem damaligen Leben, der Existenzdauer von Siedlungen und den Belegungsabläufen eigentlich nicht zusammenzubringen sind. Aber als Verständigungshilfen hat sich das eingebürgert, und deshalb muss auch in diesem Buch von derartigen Zeitangaben gesprochen werden. Die oftmals außerordentlich umfangreichen Gräberfelder mit Tausenden von Bestattungen spiegeln – wenn man die chronologische Entwicklung berücksichtigt – einerseits langzeitliche Kontinuitäten der Besiedlung am Ort, andererseits eine hohe Bevölkerungsdichte, auch wenn manchmal aus einer größeren Umgebung die Verstorbenen zusammengebracht worden sein könnten. Bestattungsbrauchtum ist in erster Linie das Ergebnis von Jenseitsvorstellungen oder auch anderer Auffassungen darüber, was mit den Menschen nach dem Tod passiert. Das wird vielfach leicht – auch von den Archäologen – übersehen, die dann direkt die Herrichtung und Ausstattung des Grabes beispielsweise mit Beigaben als Spiegel des Lebens betrachten. Das spielte sicherlich eine Rolle, da die beteiligten Familien auch bei den Feierlichkeiten vor und während der Bestattung auf Repräsentation und Selbstdarstellung Wert legten. Ärmliche und waffenlose Gräber sind aber nicht direkt gleich ein Hinweis auf mangelndes Vermögen, sondern erst einmal Ausdruck einer bestimmten Vorstellung über den Tod hinaus. Reiche Grabbeigaben jedoch setzten zumindest diesen Besitz beim Toten oder in der Familie voraus, die damit dem weiteren Alltagsleben und dem Wirtschaftskreislauf entzogen wurden und für die nächste Generation wieder neu
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beschafft werden mussten. Bei Schmuck aus wertvollem Metall ist das unmittelbar zu verstehen. Doch die Beigabe von Waffen beispielsweise verlangt eine Erklärung; denn Waffen wurden mit Blick auf die Gesamtzahlen der Gräber relativ selten einem Toten mitgegeben. Bedeutet das nun, damit einen Krieger zu ehren (und waren dann die waffenlos bestatteten Männer keine Krieger?), oder charakterisierte diese Beigabe eine bestimmte Gruppe von Männern, beispielsweise Söldner oder Familienhäupter (das aber trifft sicherlich nicht zu, da auch Jugendliche mit Waffen bestattet worden sind), oder war es überhaupt nur der eigenartige selbstgewählte Brauch einiger Familien, den andere Familienverbände eben nicht gepflegt haben (vgl. oben S. 661). Über Jenseitsvorstellungen der damaligen Epoche – daran sollte man immer denken – informieren aber nicht nur die Bestattungsbräuche, sondern wie zuvor schon an verschiedenen Stellen erläutert, auch Kultplätze und Opferbräuche.2996 Ehe einzelne Gräberfelder beispielhaft beschrieben werden, schildere ich zuvor noch einige Besonderheiten. Da in der Regel von Brandgräberfeldern berichtet wird, weise ich darauf hin, dass schon früh in der Römischen Kaiserzeit auch die Sitte der Körperbestattung vereinzelt aufkommt, beispielsweise bei den südlichen Elbgermanen,2997 die dann im Verlauf der späteren Römischen Kaiserzeit und zur Völkerwanderungszeit hin immer mehr zunimmt und schließlich vorherrschend wurde. Ähnliches gilt für das erste Aufkommen der Waffenbeigabe wenige Jahrzehnte um und nach Chr. Geb., ehe dann ebenfalls eine allgemeine Zunahme im Verlauf der nächsten Jahrhunderte zu registrieren ist. Die alten Bestattungsbräuche blieben, zu denen nach und nach neue Sitten hinzukamen; Brüche oder sprunghafte Wechsel gab es nicht. Der kontinuierliche Wandel der Grabsitten, verbunden wohl mit sich verändernden Jenseitsvorstellungen, entspricht dem Verhalten menschlicher Gemeinschaften. Zwar gab es fortlaufend Todesfälle und damit Bestattungen; doch die Bewohner der Siedlungen, die Familien, lebten generationsweise von 30 Jahren im Durchschnitt und manche Mitglieder wurden auch 60 bis 80 Jahre alt; alle Angehörigen einer Familie oder Siedlung bestimmten wie zu jeder Zeit auch mit darüber, was man bei der Bestattung zu tun hatte. Somit erklärt sich leicht, dass die von der Archäologie dokumentierten Befunde und Erscheinungen längere Jahrzehnte gleichblieben und sich nur langsam veränderten. Das wiederum ist meist ebenfalls nicht mit den schematischen Phasengliederungen der Chronologiesysteme kompatibel. Da seit der vorrömischen Eisenzeit allgemein die Brandbestattung üblich war, galten dem Aufkommen der Körpergräber als neue Besonderheit in Germanien in der Forschung vielfältige Diskussionen und Beschreibungen.2998 Zuerst geht es um die Datierung und dann – die übliche Frage der Archäologie – um die Herkunft der „neuen“ Sitte. Aus Mitteleuropa blickte man dann nach Norden, nach Skandinavien,
2996 v. Carnap-Bornheim 2015a. 2997 Lichardus 1984. 2998 Kleemann 1999; Bemmann 1999a.
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oder nach Südosten ins Karpatenbecken oder nach Westen zur römischen Welt. Der indigene Wechsel wird kaum in Erwägung gezogen, obwohl im Verlauf der Urgeschichte immer wieder Wechsel von Grabbräuchen zu beobachten sind; und irgendwer muss auch irgendwo jeweils zuerst auf die Idee gekommen sein – aufgrund von gewandelten religiösen Vorstellungen. So sollte auch in diesem Bereich ehemaliger Lebenswelt nicht automatisch Rom das Vorbild gewesen sein. Während der späten römischen Kaiserzeit jedenfalls sind Körpergräber schon häufig, die Gräberfelder sind gemischt belegt mit Brand- und Körpergräbern. Die sogenannten Fürstengräber der älteren und der jüngeren Römischen Kaiserzeit in Germanien sind Körpergräber bzw. ein Definitionselement für diesen Rang ist eben die Bestattung des Körpers in einer Grabkammer. Erst deutlich später ist beobachtet worden, dass auch zu Brandgräbern gleichrangige Ausstattungen an Beigaben gehört haben, die nicht so leicht zu erkennen sind, weil diese mit verbrannt worden sind. Ein zweiter Aspekt im Grabbrauch ist zudem das Aufkommen der Waffenbeigabe, die in recht unterschiedlicher Weise in verschiedenen Gegenden Germaniens erscheint. Vor allem ist die Zahl der Männer, die als Bewaffnete bestattet wurden, ob in Brand- oder in Körpergräbern, auffällig unterschiedlich. Mehrmals habe ich gesagt, dass immer nur eine Minderheit der Männer Waffen mit ins Grab bekommen hatte; ganz anders wurden später während der Merowingerzeit die Männer mehrheitlich mit Waffen bestattet. Waffen in germanischen Gräbern der älteren Römischen Kaiserzeit südlich der Ostsee haben T. Weski2999 und J. Kleemann3000 mehrfach dargestellt. Die Anzahl der Waffenbeigabe seit der jüngeren vorrömischen Eisenzeit bis zum Beginn der Völkerwanderungszeit in verschiedenen Kulturen zeigt eine Graphik von J. Kleemann.3001 Ein schon lange bekanntes Bespiel, nämlich das Urnengrab der Stufe B 1 von Hamburg-Marmsdorf Grab 216, ist instruktiv: Die Waffenausstattung aus Schild, Hiebwaffe und Lanze ist unterhalb der Urne vergraben gewesen, und der Lanzenschaft hat wohl aus der Erde herausgeragt und das Grab markiert.3002 Über die sozialgeschichtliche Auswertung der Waffenbeigabe gibt es ebenfalls zahlreiche Studien, die von der Kombination der Waffen ausgeht. Die Spannweite reicht von der einfachen Lanzenbewaffnung mit Schild bis zur Bewaffnung aus Schwert, Lanzen(n) und Schild sowie der Reiterausrüstung (vgl. S. 661 ff.). Eine auffällige, interpretationswürdige Sitte war es, für die Brandbegräbnisse keine Tonurnen, sondern römische Bronzegefäße zu wählen.3003 Darüber wird ausführlich berichtet (vgl. S. 861). Ebenso sonderbar scheint es zu sein, in Tongefäße – die dann auch als Urnen verwendet wurden – kleine Glassplitter einzusetzen, im 2999 Weski 1982; 1994. 3000 Kleemann 2009a, b. 3001 Kleemann 2009a, 91 Abb. 2. 3002 Kleemann 1999, 94 Abb. 6; Jacob-Friesen 1974, 525 Abb. 594–601. 3003 Raddatz 1976; Laux 1995; Ziermann 2000; Voss 2008c, 38 Abb. 5 Gräberfelder mit Bronzekesseln; Stylegar 2011; 2014.
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Boden oder in die Wandung, um damit sogenannte Fenstergefäße zu schaffen.3004 Außerdem wurden nicht nur Menschen auf den Gräberfeldern bestattet, sondern auch Tiere, Hunde und vor allem Pferde; Sporen weisen auf Pferde indirekt hin und kennzeichnen Reitergräber, z. B. in Masuren, und überhaupt in der PrzeworskKultur.3005 Pferdegräber über die Zeiten hinweg, eben auch für den Raum Germanien in den ersten Jahrhunderten nach Chr. habe ich behandelt.3006 Die Hundegräber in Siedlungen der vorrömischen Eisenzeit und der Römischen Kaiserzeit sowie der Völkerwanderungszeit hat T. Makiewicz zusammengestellt.3007 Sie kommen von Jütland über die Gebiete von der Elbe bis zur Weichsel und weiter nach Südosten bis an die Donau im Karpatenbecken vor. Im Gebiet der Wielbark-Kultur konnten nun gar Graböffnungen an Hundegräbern festgestellt werden und die Umbettung gewissermaßen in Körpergräber von Menschen, und zwar in Charnówko.3008 Welche Kultvorstellungen dahinterstanden, ob durch den Hund im Grab an den Schutz vor Beraubung des Toten gedacht war oder gar an die Verhinderung eines Wiedergängers, bleibt zu überlegen. Grabhügel aufzubauen in Germanien muss, weil das so die Forschung unternimmt, von irgendwoher angeregt worden sein. Ob es tatsächlich aber um römischen Einfluss geht, der von den Grabhügeln in den Nordwestprovinzen ausgegangen sein könnte? 3009 Denn derartige Grabhügel, wie sie römisch allgemein üblich waren, gab es auch schon längst rechts des Rheins. Eine Karte der Tumuli des 1. Jahrhundert n. Chr. zeigt diese bis an den Rhein mit einem Beispiel rechts des Rheins. Die Karte der Tumuli des 2./3. Jahrhunderts bringt wieder nur ein Beispiel rechts des Rheins. Im Zusammenhang mit der Beschreibung dieser Grabhügelsitte und ihrer Verbreitung nennt der Autor die zeitgleichen Siedlungen – die teilweise oben behandelt worden sind (vgl. S. 230) –, zeigt so den Plan der Siedlung des 1. bis 3. Jahrhundert n. Chr. mit einheimischen Langhäusern und der umgestalteten Proto-Villa mit Porticus-Gebäude von Oss-Ussen / Westerfeld, Prov. Limburg, Niederlande, und von Hoogeloon, Prov. Nord Brabant, Niederlande mit der (1) Siedlung einheimischen Typs des 1. Jahrhunderts n. Chr. und Hausgrundrissen, Heiligtum und Einzäunung, sowie (2) die Siedlung mit villa des 1. bis 3. Jahrhunderts n. Chr. mit Langhäusern und einer (römischen) villa in der Mitte. In Westerfeld bei Oss-Ussen ist mit 7,5 ha die größte Siedlung des 1. Jahrhunderts n. Chr. mit zentralörtlicher Funktion erfasst worden, ein doppelter, nur 1 m tiefer Graben, augusteisch datiert, und mit einer Kontinuität seit der vorrömischen Eisenzeit. Zur Siedlung gehörten 30 Hausgrundrisse, 12 Wirtschaftsgebäude und 70 Brunnen aus römischer Zeit. Zwei Weinfässer dienten sekundär als Brunnen. 3004 Häßler 1994; Haberman 2020; Mohnike 2019. 3005 Nowakowski 1998; 2009; Kontny 2009. 3006 Steuer 2003c. 3007 Makiewicz 2000, 223 Abb. 35 Karte für erweitertes Mitteleuropa. 3008 Skóra 2019, 134 Fig. 7 Karte der Hundebestattungen in der Wielbark-Kultur. 3009 Hornung 2014 (2017) 51–159, 63 Abb. 3 und 79 Abb. 8.
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In einem Haus wurde zahlreicher römischer Import gefunden, der den gehobenen Lebensstil beschreibt. Im Laufe des 2. Jahrhunderts entstand ein Porticus-Haus, doch trotzdem „spiegeln auch die Grabfunde ein Verharren in angestammten Traditionen“. In Hoogeloon wurde eine schon im frühen 1. Jahrhundert gegründete einheimische Siedlung auf 3 ha Fläche ausgegraben, in der nur ein Haus zur Porticus-Villa ausgebaut worden war. Diese wurde durch eine Holzpalisade von der übrigen Siedlung innerhalb der Gesamtbefestigung getrennt. Militärdiplome von 80 und 130 n. Chr. sind Hinweise auf den Dienst der Einheimischen in der römischen Armee.3010 In dem – am nördlichen Niederrhein auf breiter Ebene anhand der Siedlungen und Gräber des ländlichen Raumes fassbaren – Weiterleben eisenzeitlicher Traditionen ist nur zögernd auffallend spät die Übernahme römischer Elemente zu erkennen.3011 Das betrifft die Umgestaltung der Siedlungsweise und auch die Grabsitten, die in beiden Lebensbereichen nur bruchstückhaft das Eindringen römischer Verhaltensweisen und damit römischen Einflusses zeigen. Die Grabhügel in Germanien finden ihre Fortsetzung in den sogenannten Buckelgräbern der jüngeren Römischen Kaiserzeit und Völkerwanderungszeit in Ostniedersachsen.3012 Auch darf darauf hingewiesen werden, dass es auch Grabhügel in allen Epochen der Ur- und Frühgeschichte in Mitteleuropa gegeben hat.
18.2 Gräberfelder der Bevölkerung – ein Auswahlkatalog Da nach der heute akzeptierten Definition die Träger der Jastorf-Kultur Germanen waren, müssten eigentlich auch spezielle Gräberfelder dieses Kulturkreises vorgestellt werden. Doch möchte ich mich dabei kurzfassen. Es handelt sich in der Regel um recht große Brandgräberfelder, meist mit Urnen, die nach der von G. Schwantes zu Anfang des 20. Jahrhunderts benannten Abfolge mit Jastorf (a,b,c), Ripdorf, und Seedorf bezeichnet werden; es sind Orte in der Lüneburger Heide mit Urnengräberfeldern. Nach einem Jahrhundert wurde 2011 versucht, eine Bilanz des gewachsenen Forschungsstandes zu bieten.3013 Die Ergebnisse einiger Aufsätze des Tagungsbandes habe ich geschildert (vgl. Register). Außerdem gibt es aber noch allgemeine Berichte zur Keramik und zu den Fibelformen, Nadeln und anderen Schmucksachen, deren weite Verbreitungen als Ausstrahlungen nach Jütland, Nordwestpolen und Großpolen vorgestellt werden. Diese Vorkommen werden als Importe durch die Migration von Bevölkerung, von Leuten, gedeutet, wozu ich mehrfach abweichende Erklärungen geboten habe (vgl. S. 65 ff.).
3010 Hornung 2014 (2017) Abb. 14,2 Siedlung Hoogeloon. 3011 Hornung 2014 (2017) 102 (Zitat). 3012 Mohnke 2011. 3013 Brandt, Rauchfuß (Red.) 2014, darin Brather 2014a allgemein zur Raumanalyse.
18.2 Gräberfelder der Bevölkerung – ein Auswahlkatalog
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A. Michałowski beschreibt die zwischen der Jastorf- und der Przeworsk-Kultur zu verortende Gubener Gruppe und deutet sie als für Westpolen fremde Ansiedler oder fremd wirkende Keramikwaren.3014 Ausführlicher werden die Bestattungssitten der Jastorf-Kultur dargestellt.3015 Die regionale Verbreitung der unterschiedlichen Grabformen im Jastorfgebiet werden kartiert: Es gibt Flachgräber mit Urnen ohne oder mit Steinschutz, Brandgrubengräber, Brandschüttungsgräber, Hügelgräber, Steinpflaster, Steinkreise, später Buckelgräber (nur westlich der Weser, entlang der Ilmenau, an der Aller und nördlich der Leine, mit der Datierung ins 3. bis 5. Jahrhundert, teils auch ins 2. und 6. Jahrhundert);3016 Urnengräber herrschen vor. Aber da diese verschiedenen Sitten in die anderweitig definierten Gruppierungen hineinkartiert werden, sind die Unterschiede kaum erkennbar. Im Übrigen finden sich diese Grabsitten fast überall, und sie müssen chronologisch und landschaftlich zusammenfassend betrachtet werden. Buckelgräberfelder mir Ringgräben um die einzelnen Bestattungen gab es während der vorrömischen Eisenzeit in Jütland; die nur zu unterschiedlichen Zeiten erst registriert worden sind, im westlichen Jütland schon vor 1961, im östlichen teils erst danach. Entdeckt werden sie, da meistens abgepflügt, erst bei flächigen Ausgrabungen, wenn auch die Ringgräben gesehen werden.3017 Der Plan des Gräberfeldes von Møsvrå Høje mit Urnengräbern und einige Körpergräbern zeigt die Kreisgräben und nahebei Teile einer freigelegten Siedlung der Bronzezeit. Eine andere Behauptung ist, dass zur sozialgeschichtlichen Auswertung die Brandgräber der Jastorf-Kultur in Norddeutschland wenig hergeben würden. Trotz fehlender Analysen der unauffälligen Beigabenausstattungen ist J. Brandt doch der Meinung, dass von einer sozial mobilen, ranggestaffelten und segmentierten Gesellschaft ausgegangen werden sollte; es muss eine soziale Elite gegeben haben und eine gesellschaftliche Schichtung. Im Siedlungswesen gibt es ebenfalls aber keinerlei Art von Zentralisierung, (fast) keine Befestigungen oder zentrale rituelle Orte, keine ökonomische Differenzierung, keine Schatzbildungen. Die Autorin zitiert einen Satz aus dem Jahr 1982 von mir: H. Steuer meint „weniger Abhängigkeitsverhältnisse, als vielmehr Zusammenschlüsse scheinen die archäologischen Befunden erkennen zu lassen“.3018 Im Gegensatz zu Norddeutschland wäre in Jütland eine deutlich differenziertere Gesellschaft archäologisch zu fassen, mit den befestigten Siedlungen Borremose, Lyngsmose und Hodde sowie dem Waffenopferfund von Hjortspring. Man kann auch noch die Dejbjerg-Wagen nennen oder den Kessel von Gundestrup. In Norddeutschland ist die Grabsitte und sind es die fehlenden Siedlungsgrabungen, so meine ich, die das Bild einer Einförmigkeit hervorgerufen haben. 3014 Michałowski 2014, 287–302. 3015 Bräuning 2014, 81 Abb. 3016 Mohnke 2011, 68 Abb. 1 Karte. 3017 Eisenschmidt 2014, 94 Abb. 11 Karte, 93 Abb. 9 Plan des Gräberfeldes von Møsvrå Høje mit Urnengräbern und einigen Körpergräbern. 3018 Brandt 2014, 76, zu Steuer 1982, 170.
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Katalogartig werden nachfolgend einige Beispiele für große Brandgräberfelder angefügt. Dazu weise ich vor allem auf die näheren Beschreibungen derartiger Friedhöfe im Reallexikon der Germanischen Altertumskunde hin.
18.2.1 Grenzgebiet zum Römischen Reich Im Rhein-Main Gebiet ist als früher Niederschlag von Zuwanderern aus Germanien das Gräberfeld von Diersheim im Ortenaukreis/Südbaden, etwa 12 km östlich von Straßburg gelegen, nicht nur von forschungsgeschichtlichem Interesse, da gegenwärtig wiederum dort gegraben wurde.3019 Es ist ein Gräberfeld der oberrheinischen und der Neckarsweben3020 und umfasst 48 Urnengräber, 5 Brandgrubengräber, einige Opfergruben. Die Beigaben weisen in den elbgermanischen Raum (metallener Kleiderschmuck und Waffenteile, Schildbeschläge, und auch die Tongefäße), datiert ins 1. Jahrhundert sowie ins späte 2. und in die erste Hälfte des 3. Jahrhunderts, wobei auffällig der Rückgang um 70 n. Chr. ist (was durch die politischen Ereignisse erklärbar sein könnte) und die Erholung der Gruppe seit der Mitte des 2. Jahrhunderts bis gegen 260. Das Ende wird wohl mit der neuen Zuwanderung von Germanen, den späteren Alamannen zusammenhängen. Das Gräberfeld mit seinen Brandbestattungen gehört zu den Neckarsweben, deren Zuwanderung als Fremdgruppe aus Germanien um die Mitte des 1. Jahrhunderts (Stufe B1b) erfolgt ist. Archäologisch lässt sich das belegen; der Name jedoch ist der schriftlichen Überlieferung entnommen. Mehrere Gruppen werden für die Sweben genannt: Neckarsweben, Mainsweben, die Bürstädter Gruppe und auch die Diersheimer Gruppe sowie eine Südpfälzer Waffengräbergruppe. Sie siedelten in der Nähe römischer Militärstützpunkte, wohnten jedoch weiterhin in Häusern, wie sie in den binnenländlichen Siedlungen der Herkunftsgebiete standen. Manche Deutung geht von irregulären germanischen Militärsiedlern aus, was aber nur aufgrund der schriftlich überlieferten politischen Geschehnisse plausibel erscheint, nicht unbedingt aus dem archäologischen Befundspektrum folgt, das eher dem entspricht, wie sich später die Einwanderung der germanischen Gruppen, die sich im Süden zu Alemannen zusammentaten, im Quellenstoff abzeichnet. In den Niederlanden bei Rijnsburg in der Provinz Zuid-Holland im Rheinmündungsraum ist ein komplexes Urnengrab einem Germanen zuzuweisen.3021 Ein bronzenes „Waschbecken“ mit Kanneluren, 2016 entdeckt und zusammengesetzt aus Fragmenten, war einst als Graburne mit Brandresten benutzt worden. Rund 15 Exemplare dieses römischen Gefäßtyps sind in Europa bekannt. In dieser Schale von Rijnsburg lagen zwei dreieckige Kämme aus Geweih, weiterhin Glasreste und andere
3019 Nierhaus 1984. 3020 Wiegels, Schlegel 2002; Lauber, Schrempp, Heising 2018. 3021 Pross 2018.
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verschmolzene Bronzesachen; außerdem die eingesammelten verbrannten Knochen von drei erwachsenen Individuen. Aufgrund der Brandgrabsitte und der Beigaben, der Kämme, wird diese „unrömische“ Bestattung fremden Germanen zugewiesen. Die Auswertung der Gräberfelder bei Beelen im Kreis Warendorf und HerzebrockClarholz im Kreis Gütersloh mit den ebenfalls ergrabenen Verbrennungsplätzen erlauben aufgrund dieser komplexen Ausgrabungen aufschlussreiche Schlussfolgerungen zu den Bestattungs- und Beigabensitten brandbestattender Gesellschaften in der römischen Kaiser- und Völkerwanderungszeit dieses Grenzgebietes.3022 Brandgräberfelder aus dem 4./5. Jahrhundert im Grenzbereich zum römischen Donaulimes, die mit der Entstehung des Stammes der Bajuwaren und dem frühen Reihengräberhorizont verbunden werden, sind über ihre Keramik der Gruppe Friedenhain-Přeštovice als Ergebnis von eingewanderter Germanen interpretiert worden, die aus Böhmen nach Süden an die Donau gekommen wären. Diese Begründung wird gegenwärtig nicht mehr akzeptiert. Denn die Keramik ist einerseits deutlich vielgestaltiger und nicht so einheitlich zu beschreiben, wie suggeriert worden ist, und andererseits kommt die Mode mit Schrägkanneluren und Ovalfacetten in allerlei anderen Gebieten auf. Wieder einmal zeigt sich, dass die archäologischen Konstrukte nicht unbedingt zur Rekonstruktion der Ereignisgeschichte dienen können, zu der man denn auch nicht gezwungen ist.3023 Die Verbreitung derartiger Keramik schließt ganz Deutschland vom Elbetal bis Südwestdeutschland ein, auch Kent auf den Britischen Inseln, und erreicht im Süden das Schwarze Meer. Die Datierung erstreckt sich über die erste Hälfte des 4. Jahrhunderts bis um 400. Im Übrigen ist schon vor R. Masanz (2017) festgestellt worden, dass die Charakterisierung der Keramikgruppe Friedenhain-Přeštovice als Einheit abgelehnt worden ist, so von A. Rettner (2004), H. Fehr (2010) und J. Haberstroh (2012). Es geht mir hier aber überhaupt nicht um diese Keramikgruppe, sondern um den regelmäßig wieder aufkommenden methodischen Kurzschluss, die Verbreitung einer scheinbar gut beschriebenen Sachgruppe historisch bzw. ereignisgeschichtlich auszuwerten, nämlich in Bezug auf Wanderungen ethnischer Einheiten (vgl. dazu S. 65). Schräg kannelierte, ovalfacettierte und geriefte Kearmik kommt eben überall in Mitteleuropa zwischen Elbe, Rhein und Donau vor.3024 Abschnitt nach oben versetzt.
18.2.2 Mitteleuropa Im Gebiet der Rhein-Weser-Germanen im heutigen Westfalen und in Niedersachsen sind zahlreiche Brandgräberfelder ausgegraben und ausführlich veröffentlicht 3022 Menke 2014, 211 ff. 3023 Masanz 2017a; 2017b, 149 Abb. 28 Karte; dazu Rez. von F. Gall 2018; noch alte Deutung Böhme 2002, 297 mit Karte der Fundstellen nördlich der Donau. 3024 Jäger 2019, 126–175 mit vielen Abb. und Karte 151 Abb. 88.
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worden. Sie beginnen zeitlich in der vorrömischen Eisenzeit, zeigen Einflüsse der südlichen Laténe-Kultur und reichen jedoch oftmals weiter bis in die Römische Kaiserzeit. Auffällig sind große Brandgruben- und Scheiterhaufengräberfelder. Genannt seien das Gräberfeld von Talmühle in Petershagen-Lahde, Kreis Minden-Lübbecke der Zeit um Chr. Geb.,3025 das latène-kaiserzeitliche Scheiterhaufengräberfeld bei Sorsum, Stadt Hildesheim, das mit den Cheruskern zusammengebracht wird,3026 das kaiserzeitliche Gräberfeld von Bielefeld-Sieker mit Wurzeln in der Latènezeit3027 und das eisenzeitliche Brandgräberfeld von Harsewinkel, Kreis Gütersloh, anscheinend mit Weiterbelegung bis in den Beginn der Römischen Kaiserzeit.3028 Ausführlich wird zum Scheiterhaufengräberfeld bei Mehle, Kr. Hildesheim berichtet. Dabei ist entscheidend der Hinweis, dass bei früheren Ausgrabungen andernorts oft übersehen worden ist, wie die zerschmolzenen und teilweise außerdem absichtlich zerstückelten Bronzeobjekte nur noch als unscheinbare Schmelzreste übergeblieben sind.3029 Manchmal sind noch Stücke von Hemmoorer Eimern zu identifizieren. Diese Schmelzreste lagen zwischen den Hölzern eines Scheiterhaufens und stammen nicht etwa aus Gusstiegeln von Metallhandwerkern. Zu derartigen Arealen gehören ebenfalls die Funde der jüngeren Römischen Kaiserzeit aus dem Gebiet von Stemmen, Region Hannover, die auf einem größeren zerpflügten Bereich von 20 auf 25 m kartiert werden konnten.3030 Nachgewiesen sind dort ein steilwandiges Bronzebecken mit Weintraubenblättern als Attaschen, Kelle oder Sieb neben mehreren weiteren verschmolzenen Bronzeresten sowie auch Glasreste von einem Trinkbecher. Beim Abschnitt über die Brandgräber wird darauf zurückgekommen (vgl. S. 962). Das Gebiet an der Niederelbe wird als Herkunftsgebiet der Langobarden betrachtet, weil Namen wie Bardowick darauf hinzuweisen scheinen. Zahlreiche Gräberfelder sind dort schon bis zu den 1937er Jahren von W. Wegewitz ausgegraben worden. Es gibt Urnenfriedhöfe mit und solche ohne Waffenbeigaben.3031 Die Kartierung der Gräberfelder der späten vorrömischen Eisenzeit und der frühen Römischen Kaiserzeit beiderseits der Niederelbe und bis zur Ostseeküste zeigt eine außerordentliche Dichte der Besiedlung, die noch größer wird zur späten Römischen Kaiserzeit und zur frühen Völkerwanderungszeit hin.3032 Im gesamten Raum von der Elbe bis nach Usedom erscheinen überall – noch nicht sehr zahlreich – auch Waffengräber der frühen Römischen Kaiserzeit (0–180 n. Chr.).3033 H.-U. Voss differenziert dabei noch
3025 Bérenger 1981. 3026 Cosack 2011 archäologisch und Kehne 2011nach den Schriftquellen. 3027 Klapp 2011. 3028 Scheelen 2011. 3029 Cosack 2014b, 140 Abb. 3 zerschmolzenen bronzene Beigabenreste. 3030 Cosack 2008b, 560 Abb. 2 Plan der zerpflügten Komplexe. 3031 Voss 2008c, 36 Abb. 1 Karte. 3032 Voss 2008c, 37 Abb. 2 und 48 Abb. 18. 3033 Voss 2008c, 41 Abb. 8.
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zwischen der späten vorrömischen Eisenzeit und dem Beginn der frühen Römischen Kaiserzeit sowie der nachfolgenden Römischen Kaiserzeit, wobei das Kartenbild eine merkbare Zunahme dokumentiert. H.-U. Voss bietet weiterhin eine gute Übersicht zu den Grabfunde des 3. bis 6. Jahrhunderts in Mecklenburg-Vorpommern.3034 Beachtlich ist die Menge an qualitätsvollen hochwertigen römischen Importgefäßen vom Gräberfeld Hagenow (dazu S. 965); auffällig ist auch das häufige Vorkommen von großen Bronzekesseln, die als Urnen gedient haben.3035 H.-U. Voss wagt es eine Karte zu bieten mit den Zügen der (frühen) Langobarden nach Süden zur Zeit der Markomannenkriege, denn er erschließt die Marschroute anhand der Herkunft der Beigaben in den Hagenower Grabfunden.3036 Das Fürstengrab 9/1995 von Hagenow3037 ist Anlass, Vergleiche zu nennen, die reich ausgestatteten Gräber mit Waffen und Prunksporen3038 bis zum Königsgrab von Mušov. Im nördlichen Niedersachsen gehören die Urnengräberfelder Altenwalde, Dörverden, Galgenberg bei Cuxhaven, Isenbüttel, Issendorf, Liebenau und Westerwanna in diesen Zusammenhang, ausführlich behandelt in den „Studien zur Landschaftsund Siedlungsgeschichte im südlichen Nordseegebiet“,3039 mit Schwerpunkt zu den Grabfunden der jüngeren Römischen Kaiserzeit und der Völkerwanderungszeit im heutigen Landkreis Cuxhaven. In Angeln ist eine größere Anzahl von Urnenfriedhöfen der jüngeren Bronzezeit bis zur Völkerwanderungszeit erforscht: Bordesholm, Hamfelde, Husby, Meldorf, Preetz, Schwissel, Hornbek, Neumünster, Süderbrarup, im Süden Putensen, von denen einige nachfolgend noch beschrieben werden. Das Gräberfeld von Putensen, Ldkr. Harburg, nahe der Niederelbe, belegt von der vorrömischen Eisenzeit und der Römischen Kaiserzeit bis ins 3. Jahrhundert n. Chr., besteht aus einem älteren Teil, als Urnenfriedhof 1 B bezeichnet, mit 743 Bestattungen auf einem Areal von 100 auf 22 m und einem jüngeren Teil, als Brandgräberfeld 1 A bezeichnet, mit 982 Gräbern auf der kleinen Fläche von 60 auf 14 m.3040 Hier dienten ältere Grabhügel als Orientierungspunkte für die Anlage des Urnengräberfeldes. Die Datierung der Gräber erfolgte nach der Gestalt der Urnen, nicht anhand der Beigaben. Die Urnen im älteren Teil sind eingefasst von Steinkreisen und bedeckt mit Steinplatten. Belegungskonzentrationen auf dem Areal könnten eine Zusammengehörigkeit, wohl von Familien, abbilden. Im jüngeren Teil stehen die Urnen ungeschützt im Boden, und hinzukommen zahlreiche Leichenbrandlager. In diesem Gräberfeldteil
3034 Voss 1994c. 3035 Voss 2008c, 38 f. und Abb. 5. 3036 Voss 2008c, 47 Abb. 17. 3037 Voss 2000, 197 Abb. 160. 3038 Voss u. a. 2019 bzw. Spuren des Menschen 2019, 285 Abb. 13 Prunksporen mit Silbertauschierung in Großformat. 3039 Schön 2017. 3040 Capelle 2003a; Ziermann 2010.
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gibt es mehr Beigaben (Sporen, Waffen, Fibeln), und mehrfach wurden römische Bronzegefäße als Urnen verwendet, die – da sie dicht beieinander stehen – wiederum auf einen Familienbrauch hinweisen.3041 Das Grab 150 aus der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts erreicht von den Beigaben her das Niveau der Fürstengräber vom Typ Lübsow (vgl. S. 917). Insgesamt scheinen auf diesem Gräberfeld die Bewohner mehrerer kleiner und größerer Orte gemeinsam bestattet zu haben, die zudem auch in das Netz der Fernverbindungen eingespannt waren. Die beachtliche Kontinuität in der langen Belegung der Gräberfelder wiederholt sich, und diese erreichen damit auch entsprechende Größe. Auf dem Gräberfeld von Badow in Nordwestmecklenburg gibt es 1850 Bestattungen von der vorrömischen Eisenzeit bis in die Römische Kaiserzeit, bis weit ins 2. Jahrhundert n. Chr. (B2).3042 Das Gräberfeld von Mühlen Eichsen in Mecklenburg, 20 km nordwestlich von Schwerin hat sogar 3700 Bestattungen von der vorrömischen Eisenzeit bis in die ältere Römische Kaiserzeit, bis ins 1. Jahrhundert n. Chr. (B1),3043 also eine außerordentlich hohe Anzahl bei einer recht kurzen Belegungsdauer. Die Entdeckung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wobei 1907 bis zu 200 Gräber zerstört wurden, hat zur ersten regulären Grabung geführt. 1993 wurden bei Bauarbeiten für eine Gasleitung wiederum viele Gräber zerstört, was dann zu den entscheidenden Ausgrabungen seit 1994 bis 2000 geführt hat, mit der Auswertung und Aufarbeitung seit 2004. Auf etwa 4 ha Größe, wovon 3,5 ha untersucht sind, wurde damit eines der größten Gräberfelder in Norddeutschland erforscht, das einst wohl über 5000 Bestattungen gezählt hat. Es gehört zum Kernbereich der Jastorf-Kultur. Urnen- und Brandschüttungsgräber befanden sich in kleinen eingegrabenen Steinkisten und unter sorgfältig angelegten Steinpflastern, die rund sein können bei bis zu 5 m Durchmesser oder rechteckig bei 3 auf 4 m. Das Gräberfeld gliedert sich in drei Gruppierungen, vielleicht zu ehemaligen Siedlerverbänden oder gar Familien gehörend. In einer Gräbergruppe gibt es Mehrfachbestattungen in den runden oder rechteckigen Grabbauten mit bis zu sieben Bestattungen, Männern, Frauen und Kindern, die zeitlich nacheinander begraben worden sind. Kennzeichnend im Vergleich zu anderen Gräberfeldern ist auch die große Vielfalt der Beigaben (Hals- und Armringe aus Bronze, eiserne Gürtelhaken, zahlreiche Nadeln und Fibeln, darunter Holsteiner Nadeln und Holsteiner Gürtel, Kettenplattenschmuck), die Beziehungen nach Schleswig-Holstein und ins mittlere Elbegebiet anzeigen. Unmittelbar in der Nähe liegt eine 1 ha große Siedlung in einer etwa 5 km im Durchmesser betragenden Siedlungskammer mit weiteren kleinen Weilern und Dörfern, die anscheinend alle auf diesem zentralen Gräberfeld bestattet haben. Bei 5000 Gräbern und 250 Jahren der Belegung, wären das 20 Gestorbene pro Jahr, bei 500 Jahren noch 10 pro Jahr, was auf ein Vielfaches an Bewohnern der
3041 Laux 1995, 81 Abb. 3 Plan des Gräberfeldes mit römischen Urnen aus Metall. 3042 Bemmann 2003a; Erdrich 2001a. 3043 Ettel 2002, 297 Abb. 43 Plan des Gräberfeldes und der Siedlung; auch Erdrich 2001a, 61.
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Siedlungen zu schließen erlaubt. In den letzten Jahren ist die Aufarbeitung und Auswertung der Befunde auf diesem Gräberfeld weiter fortgeschritten.3044 Es war also ein zentraler Bestattungsplatz der vorrömischen Eisenzeit, der Jastorf-Kultur, für mehrere Ansiedlungen. Der Plan des Gräberfeldes zeigt die verschiedenen ausgegrabenen Gruppen, Urnengräber, Urnengräber mit Steinkreise und Steinsetzungen. Für die Südgruppe sind die Beigaben kartiert, die verschiedenen Typen der Gürtelhaken, außerdem die Altersstruktur und die Geschlechtsanalyse. Es gibt Bereiche mit mehr weiblichen oder mehr männlichen Bestattungen, eine deutliche Gruppenbildung liegt vor. Dadurch wird bestätigt, dass die Teilausgrabung von großen Gräberfeldern den Eindruck von geschlechtsspezifischen Friedhöfen hervorrufen kann. Der Plan zeigt die Siedlungen im Anschluss an das Gräberfeld weiter im Norden und Süden; und ein Modell bietet fünf Siedlungen zum zentralen gemeinsame Bestattungsplatz in Gruppen an (Abb. 68). Das Gräberfeld von Hamfelde, Kr. Herzogtum Lauenburg, ist wohl der größte Waffenfriedhof der Römischen Kaiserzeit, ausgegraben in mehreren Kampagnen zwischen 1950 und 1963 und publiziert 1971.3045 Es sind über 850 Urnengräber, zwei Knochenlager und sieben Waffenlager der älteren und mittleren Römischen Kaiserzeit. Auch acht Feuerstellen wurden freigelegt, die als kultisch angesehen werden und wohl für die Bestattungsfeierlichkeiten gedacht waren. Fünf Zeithorizonte sind gegeneinander abzugrenzen, von den Phasen A bis C1. In die Phase B2/C1 wurden bei nur 40 Jahre Dauer (16 % Gesamtbelegungszeit) aber 60% aller Gräber angelegt, darunter auch alle Waffengräber. Die anthropologische Bestimmung ergab 130 Männer- und keine Frauenbestattung, so dass von einem Männer- und Knabenfriedhof gesprochen wird. Im Gegensatz zu anderen Gräberfeldern gibt es sehr wenige Kindergräber. Die Konzentration der Waffengräber (in den Urnen und in den Waffenlagern) auf verschiedenen Arealen des Gräberfeldes hat zur Deutung einer Familien- oder Gefolgschaftszusammengehörigkeit geführt. Erstmals wurden bei diesem Gräberfeld auch analysiert, ob und wie die Abhängigkeit der Beigabenarten vom Alter der Verstorbenen (Sterbealter) abhängt. Die Analyse der vertikalen sozialen Struktur ließ die Herausbildung einer bäuerlichen Oberschicht an der Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert erkennen. Dieser Männerfriedhof wird mit einem Frauenfriedhof in der Nähe, bei Hornbek, verglichen, da beide weitgehend zeitgleich entstanden sind, und zeigt entsprechende Unterschiede: Waffen und römische Bronzegefäße für Getränke gegenüber hauswirtschaftlichen Gerätschaften (Spinnwirtel). Ein in Nüssau, Kr. Herzogtum Lauenburg, geborgener Grabkomplex ist deshalb erwähnenswert, weil hier zwei römische (!) Fibeln aus der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts als Beigaben gefunden worden sind (eine Trompetenfibel und eine Emailbügelfibel), eine Seltenheit, weil sonst in Schleswig-Holstein auch wie anderswo
3044 Ettel 2014, 172 Abb. 2 Gräberfeld mit den verschiedenen Gruppen, 196–197 mit Abb. 16 und 17. 3045 Bantelmann 1971; 1989; Gebühr 1999.
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Abb. 68: Das Gräberfeld von Mühlen Eichsen, Ldkr. Nordwestmecklenburg; die zugehörige Siedlung liegt unmittelbar südlich anschließend.
häufiger römische Metall- und Glasgefäße als Urnen oder Beigaben, in den Heeresbeuteopfern auch römische Waffen niedergelegt waren, aber kein Schmuck.3046 Die Gräberfelder der Römischen Kaiserzeit in Schleswig-Holstein sind ebenfalls monographisch behandelt worden.3047 Zur inneren Struktur der Brandgräberfelder kommt noch ihre dichte Lage, die gegenwärtig immerhin alle 10 km einen solchen Friedhof aufweist.3048 3046 v. Carnap-Bornheim 2014c. 3047 Michel 2005. 3048 Abegg-Wigg 2017, 267 Abb. 2 Karte der Gräberfelder, 271 Lit.; Schlotfeldt 2016, 15 Abb. 2 Lage der Gräberfelder, 17 Abb. 3 Chronologie.
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Die chronologischen Laufzeiten der Gräberfelder sind bemerkenswert; einige wurden von der Bronze- und vorrömischen Eisenzeit bis in die Phase D 2 der späten Römischen Kaiserzeit belegt. Dazu gehören die Gräberfelder Sörup I und II, Schmalstede (Phase B1-D2) und manche wie Preetz (Phase B2-C2). Der Befund schafft jedoch ein recht heterogenes Bild, was von der langjährigen Abfolge der Ausgrabungen abhängt, während dieser Jahre durchaus unterschiedlich beobachtet und dokumentiert worden ist. Die Verbrennungsplätze „zeigen einen komplexen Ablauf der Bestattungsfeierlichkeiten, der auch nachträgliche Gedenkfeiern mit einschloss“. Bisher gibt es sind zum rituellen Geschehen nur wenige Beobachtungen. Es zeigt sich eine differenzierte Bestattungs- und Erinnerungskultur hier in Schleswig-Holstein. Ein Urnengräberfeld des 1. bis 5. Jahrhunderts bei Nieblum auf der Insel Föhr mit neuen Grabungen 2009 erstreckt sich über ein ausgedehntes Bestattungsareal, auf dem mehrere, räumlich und chronologisch getrennte Bestattungsplätze bestanden haben.3049 Die Belegungen begannen in der spätesten vorrömische Eisenzeit und dauerten bis in die Völkerwanderungszeit an. Die sogenannten Rollenkappenfibeln mit Tannenzweigmuster, von denen es nur wenige Stücke gibt, sind auf Föhr und über ganz Jütland bis zur Nordspitze verbreitet und spiegeln so die Kommunikation über die Halbinsel samt den vorgelagerten Inseln. Jüngster Fund ist eine kreuzförmige Fibel der Zeit um 500. Die Insel Föhr war dicht besiedelt, die Siedlungsplätze und Gräberfelder lagen in etwa nur 2 km Abstand. Auf den nordfriesischen Inseln sind nachfolgend im 6. und 7. Jahrhundert keine Funde bekannt, und es wird nach einer Siedlungslücke gefragt. Dieses Phänomen wird überregional in Schleswig-Holstein, Südjütland und entlang der südlichen Nordseeküste wahrgenommen und diskutiert und zumeist mit Migrationsbewegungen von Schleswig-Holstein nach Britannien in Zusammenhang gebracht.
Das Problem wird jedoch gleichzeitig heute anders gesehen, wie ich an anderer Stelle beschrieben habe (vgl. S. 820). A. Dobat hat 2006 über „Angulus non desertus“ und D. Nösler und S. Wolters haben 2009 über die nicht mehr existierende Siedlungslücke geschrieben, so dass hier wohl eine alte These zitiert wird.3050 Das Urnengräberfeld von Kasseedorf, Ldkr. Ostholstein, spiegelt beispielhaft die Entwicklung des südöstlichen Schleswig-Holsteins während der jüngeren Römischen Kaiserzeit.3051 Das Urnengräberfeld von Bordesholm3052 in Holstein wurde schon 1897 und 1898 entdeckt, wurde 1978 im RGA behandelt (A. Genrich) und ist dann monographisch 1986 ausgewertet worden. Die Belegung begann in augusteischer Zeit und 3049 Majchczack, Grosskopf 2018, 136 Abb. 1 Insel Föhr mit den Fundplätzen, 162 Abb. 23 Bestattungsareale, 160 Zitat. 3050 Dobat 2006; Nösler, Wolters 2009. 3051 Articus 2004; Rau 2018. 3052 Saggau 1986.
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endete erst in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts. Die jüngsten Objekte sind kreuzförmige Fibeln. Über die ganze Zeit hinweg gab es vereinzelt Waffenbeigaben. Einziger römischer Import sind Fragmente von Glasgefäßen. Einflüsse aus Angeln vermeint man registrieren zu können. Das Urnengräberfeld von Schmalstede, Kr. Rendsburg-Eckernförde, aus der Römischen Kaiserzeit und im Wesentlichen aus der Völkerwanderungszeit,3053 wurde in den 1970er Jahren bei Grabungen gesichert, in den 1980er Jahren weiter beobachtet und erhielt 1998 dann die monographische Aufarbeitung. Hier wurde auch sorgfältig das Gewicht des Leichenbrandes aus den Urnen aufgenommen und graphisch in Histogrammen gezeigt. Ungefähr bei 700 g ist die Obergrenze des Gewichts. 288 Urnen wurden nach ihrem Erhaltungszustand kartiert. Beigaben waren 58 Fibeln, von den Rollenkappenfibeln der Stufe B2 bis zu den Nydamfibeln und den kreuzförmigen Fibeln des 5. und 6. Jahrhunderts. Anhand der Beigaben und der anthropologischen Bestimmungen ist bewiesen, dass hier beide Geschlechter auf dem Urnenfriedhof bestattet worden sind. Das Gräberfeld von Sörup I, Kr. Schleswig-Flensburg, gegraben 1958 bis 1960, umfasst 1375 Bestattungen von der vorrömischen Eisenzeit bis in die Völkerwanderungszeit;3054 nahebei liegen die Gräberfelder Sörup II, gegraben 1967/68 mit 181 Bestattungen und Sörup III, 1974/75 gegraben, mit 265 Bestattungen. In Sörup I – angelegt nahe alter Hügelgräber – wurde überwiegend in Urnen bestattet, doch gibt es auch 26 Leichenbrandlager. Etwa 60 % der Gräber enthielten Beigaben, Geräte des täglichen Bedarfs, Schmuck, Gürtelteile, Spielgerät, Waffen, Trinkhornteile und römische Importsachen. Männergräber überwiegen; in zwei Bestattungen lagen Reste von Kettenhemden, wie sie in den Mooren von Thorsberg und Vimose geopfert worden sind (vgl. S. 713). Auf den anderen Gräberfeldern von Sörup aus der jüngeren vorrömischen Eisenzeit und der älteren Römischen Kaiserzeit (Sörup II) gab es zwei gut ausgestattete Frauengräber, die aufgrund der Beigaben mit den Fürstengräbern von Lübsow zu vergleichen sind (vgl. S. 917). Durch den Brand zwar zerstört, ließen sich aber trotzdem römische Bronzegefäße und Gläser nachweisen. Auch Fibeln sind vergleichbar. Sörup III lag nur 3,75 kam entfernt von Sörup II, begann mit Bestattungen der frühen römischen Kaiserzeit und wurde bis in die Völkerwanderungszeit belegt; zum Schmuck gehörten Nydamfibeln. Der Beigabenanteil lag hier bei 50%, und zur Ausstattung gehörten Messer, Scheren, Pinzetten und nur selten Waffen, trotzdem wurden hier überwiegend Männer bestattet. Es sieht so aus, dass hier in Sörup I auf einzelnen getrennten Arealen verschiedene Siedlungsgruppen bestattet haben, in Sörup II eine sozial höher gestellte Familie mit einem nach Rangordnung abgestuften Personenkreis.3055 Zum Grab 81 in Sörup II ist eine Studie zum Halsschmuck
3053 Bode 1998a. 3054 Raddatz 1981; Müller 2005. 3055 Lagler 1989.
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vorgelegt worden.3056 Zu den Beigaben gehören ein Goldberlock an geflochtener Goldkette (Prunkkollier) mit s-fömigem Schließhaken und Filigranverzierung. Das Herstellungsprinzip der Fuchsschwanzketten wird erläutert und vermutet, dass diese aus den römischen Provinzen gekommen sein könnten (während ich durchaus wie bei den Berlocks eine Herstellung in Germanien annehme). Datiert wird das Grab in die Stufe B2b, in die erste Hälfte des 2. Jahrhunderts. Der Autor erläutert die These des innergermanischen politisch begründeten Austauschs und spricht mit M. J. Przybyła von Heterogamie.3057 Die Funde von Sörup sind ein Hinweis in Richtung Bornholm, wo gleichartiger Schmuck (Berlock und Goldperle) vorkommt, und zur Küste von Mecklenburg-Vorpommern (über die Schließhaken). Die Verfügbarkeit von lokalem Stil ist über Halbfabrikate belegt.3058 Das nahebei gelegene Gräberfeld von Süderbrarup in Angeln nördlich von Flensburg aus der Römischen Kaiserzeit und der Völkerwanderungszeit ist von N. Bantelmann 1988 vorgelegt worden.3059 Es ist ähnlich strukturiert wie die teilweise beschriebenen Friedhöfe Sörup, Bordesholm, Hamfelde, Husby, Meldorf, Preetz und Schwissel (vgl. oben S. 849 und unten S. 970). Grabungen fanden bis 1961 statt, und eine lange Ausgrabungsgeschichte hat die Befundlage durchaus verkompliziert. Von den anthropologisch bestimmbaren Urnengräbern gehörten 82,9% zu Männern und 17,1% zu Frauen; das sind 365 Männer und 63 Frauen von über 1234 Urnen im Katalog. Die späteste Belegungsphase liegt im nördlichen Teil des großen Gräberfeldes und wird vom 3. bis 5. oder noch ins frühe 6. Jahrhundert datiert, einige Gefäße können sogar noch ins 7. oder 8. Jahrhundert gehören. Doch das eigentliche Ende liegt im 5./6. Jahrhundert. Es handelt sich ausnahmslos um Brandbestattungen. Als Beigaben sind am häufigsten Gerätschaften der Körperpflege, Kämme, gebogene Griffangelmesser und gebogene Ringgriffmesser zum Rasieren, Pinzetten aus Eisen oder Bronze und Scheren, außerdem gibt es Miniaturgeräte, sonst noch Fibeln, Schnallen und Gürtelbeschläge aus Eisen oder Bronze. Bemerkenswert ist die gruppenweise Erweiterung des Gräberfeldes nach allen Seiten; so entstand ein neuer Bezirk in Anlehnung an einen bronzezeitlichen Grabhügel im Norden. Eine erkennbare zeitliche Belegungslücke spricht für einen Bevölkerungswechsel in der Nachbarschaft, vielleicht für die Gründung einer neuen Siedlungsgemeinschaft; denn unterschiedliche Populationen (auch anthropologisch erkannt) hatten ein anderes „Sterbeverhalten“, d. h. unterschiedliche Bestattungsriten an demselben Ort als zuvor. Diese 1988 aufgestellte These geht nicht nur von den üblichen Wandersiedlungen aus, sondern vermutet regelrechte Wechsel großer Teile der Bevölkerung durch kriegerische Ereignisse. Auf anderen Gräberfeldern der Landschaft aber gibt es durchaus kontinuierliche 3056 Patalan 2017b, Abb. 1 Berlock in Farbe; 323 Abb. 2 Karte der Schließhaken. 3057 Przybyła 2011c. 3058 Paralan 2016 (2017) und 2017a (2018). 3059 Bantelmann 1988, 78 gruppenweise Belegung, 89 Vergleich Angeln und East Anglia; im Band auch J. Wahl 1988, 15.
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Belegungen ohne Lücke, so beispielsweise in Husby.3060 Doch im gesamten Dänemark scheint es an der Wende vom 2. zum 3. Jahrhundert einen Bruch in der Entwicklung der Gräberfelder und damit auch der Siedlungen gegeben zu haben? Ein weiterer Aspekt wird behandelt, nämlich der Zusammenhang der anglischen Gräberfelder auf beiden Seiten der Nordsee (vgl. dazu oben S. 818). Die besten Parallelen spiegeln die Tongefäße in Angeln und East Anglia, was Formen und Verzierungen angeht, und sie heben sich deutlich ab von „sächsischen“ Formen. Zu datieren sind diese Ähnlichkeiten auf einen engen Zeitraum, in das fortgeschrittene 5. und allenfalls noch das frühe 6. Jahrhundert. Ein Rückstrom nach Angeln, wie manchmal vermutet, ist in Süderbrarup jedoch nicht belegt, Um die Mitte des 5. Jahrhunderts muss die angelsächsische Bevölkerung in den eroberten Gebieten so ausgeprägt gewesen sein, dass sie überliefertes Totenbrauchtum dort weitgehend ungestört praktizieren konnte (vgl. auch S. 819). Doch auch aus dem sächsischen Gebiet gab es diese Brücke nach England, und ebenfalls belegbar durch den Vergleich von Gefäßen; eine Buckelurne von Bremen-Blumenthal hat ein Vergleichsexemplar im Raum von Oxford.3061 Der große Friedhof von Husby3062 bei Schleswig, 1955–1960 ausgegraben, ist ein eisenzeitliches Urnengräberfeld mit rund 1360 Gräbern. Davon waren 1261 Urnengräber, 7 Brandgrubengräber und 2 Brandschüttungsgräber. In 70 Gräbern lagen Waffen; ein Schild (54mal), eine Lanze (33mal), ein Schwert (4mal), und Reitersporen (24mal), datiert von der ausgehenden vorrömischen Eisenzeit bis in die Völkerwanderungszeit, mit einem Schwerpunkt der Belegung in den Stufen B2 oder/und C1 (also 2. und erste Hälfte 3. Jahrhundert). Das bedeutet 100 gleichzeitig Lebende während der älteren und dem Beginn der jüngeren Römischen Kaiserzeit bis 400, was etwa 10 Gehöften entsprechen wird. Die Belegung begann mit Grab 1033, einem Grab mit einem Wagen als Beigabe, in dem ein reparierter Bronzekessel des 5.–2. Jahrhunderts v. Chr. stand, damals eine Antiquität. Auf dem Gräberfeld von Schwissel, Kr. Segeberg, ausgegraben 1958/59, werden es ungefähr 3000 Bestattungen auf 1,25 ha Fläche gewesen sein, von denen 2378 erfasst sind, zu datieren von der vorrömischen Eisenzeit bis in die ersten Jahrhunderte n. Chr.; in die Römische Kaiserzeit gehören nur noch 58 Bestattungen. 3063 Das Gräberfeld ist in mehreren, in sich geschlossenen Zonen belegt worden; offen ist trotzdem, ob von einer oder von mehreren Siedlungen aus bestattet wurde. Die Urnen sind meist mit einem Kreis aus Steinen oder einem Steinpflaster geschützt worden und stehen oftmals auf einer Sandsteinplatte. Im Laufe der vorrömischen Eisenzeit nahm aber dieser Steinschutz nach und nach ab. Beobachtet wurde, dass die Toten in der Frühphase mit ihrer Kleidung verbrannt wurden, während in den jüngeren Gräbern die 3060 Raddatz 1967; 1974. 3061 Bischop 2000, 49 f. und Abb. 73. 3062 Gebühr 2000; zum Wagengrab Raddatz 1967; auch Ethelberg 2017b, 159 Fig. 2 Plan des Gräberfeldes. 3063 R. Müller 2004; Behrends 1968 Plan.
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Trachtzubehörteile erst nach dem Brand in die Urne gelegt worden sind. Zur Kleidung gehörten Gürtelteile, Nadel und Fibeln, auch Halsringe (Wendelringe); keine Waffen oder Geräte fanden sich als Beigaben. Weil typisch für Schleswig-Holstein spricht man bei den Formen von Holsteiner Gürteln (Plattengürtelhaken) und Holsteiner Nadeln. Die Kontinuität der langen Belegung erlaubt eine gute chronologische Differenzierung dieser Beigaben.3064 Auf dem Gräberfeld gab es in einer Doppelreihe über 70 Feuerstellen, bei denen es sich aber nicht um die Scheiterhaufenreste handelt, und die ähnlich auch auf anderen Bestattungsplätzen entdeckt worden sind. Sie werden als Kultfeuer bei den Feierlichkeiten gedeutet (vgl. S. 636 f.). Das Gräberfeld von Preetz, 13 km südöstlich von Kiel, ausgegraben 1951/52, ist ein Bestattungsplatz der späten Römischen Kaiserzeit und der frühen Völkerwanderungszeit mit 210 Urnengräbern, von denen 164 Beigaben enthielten, z. B. 120 Fibeln aus 75 Gräbern. Die Nekropole gehört zu einem Ostholsteinischen Formenkreis,3065 der zahlreiche Beziehungen zu dem westmecklenburgischen Bestattungsplatz Pritzier im Kreis Ludwigslust aufweist.3066 In Preetz standen die Urnen ohne Steinschutz in der Erde, eine Gruppe von Urnen auf einer Anhöhe war durch einen breiten Kiesstreifen von den anderen Bestattungen getrennt, die auch in Gruppen angelegt worden sind. 78% der Gräber enthielten Beigaben, Fibeln, Schnallen und Gürtelringe sowie Glasperlen, Knochennadeln, Knochenkämme und „Eimeranhänger“. In Männer- wie Frauengräbern lagen Miniaturgeräte (Scheren und Messer). Die Mehrheit der Beigaben spricht für einen Frauenfriedhof, was auch anthropologisch untersuchte Leichenbrände bestätigen (wo ist der andere Teil mit den Männerbestattungen?). Einige Fibeln, darunter eine Nydamfibel, belegen die Nutzung bis in die Stufe C3 und D1 (also im 4. und zu Anfang des 5. Jahrhunderts). In Pritzier, nur 9,5, km von Hagenow und 10 km von Perdöhl entfernt, wurde einer der größten Urnenfriedhöfe erforscht. Ausgegraben wurden 1842 rund 200 Gräber, 1898 weitere 53 Gräber, 1938 und 1939 auf 860 m2 1732 Gräber. Von den rund 2000 Gräbern sind die Urnen und Beigaben aus 1835 Komplexen publiziert. Auch bilden frei im Sand stehende, mit einem Deckstein versehene Urnen verschiedene Friedhofsteile, die im Laufe der Zeit zusammenwuchsen. Mehr als 500 Gräber von Kindern konnten nachgewiesen werden. Über die Urnenformen und die Beigaben (über 500 Fibeln) ließ sich eine klare zeitliche Abfolge der Gruppen herausarbeiten, bis hin zu den jüngeren Bügelknopf-, Nydam- und kreuzförmigen Fibeln. Zu beachten sind Nachahmungen spätrömischer Militärgürtelbeschläge (Tierkopfschnallen, lanzettförmige Riemenzungen) (Phase D / 5. Jahrhundert). Die Beigaben erlauben die klare Unterscheidung von Männer- bzw. Frauengräbern. Die Nekropole wurde rund 300 bis 350 Jahre genutzt. Die Ausstattungsstaffelung weist 51% beigabenlose Gräber auf, 3064 R. Müller 2004, 610 Abb. 136 Kombination der Metallbeigaben in aufeinanderfolgenden Zeitphasen. 3065 Voss 2003b. 3066 Voss 2003c.
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deren Anteil zudem im Laufe der Zeit zunahm und nur 8% der Gräber enthielten mehr als 5 Beigaben. Das Gräberfeld von Perdöhl, nahe der Stadt Stade, wurde 1936 planmäßig ausgegraben (500 Urnengräber) und wieder 1948 (weitere 400 Brandbestattungen). Auffällig sind die sogenannten Buckelurnen, und der Friedhof weist kulturelle Bezüge zu nordseegermanischen Gruppen auf, während die Gräberfelder vom Westerwanna-Typ an den elbgermanischen Bereich anzuschließen ist. Das in der Nähe liegende Gräberfeld von Hagenow im westlichen Mecklenburg wird noch ausführlicher zu besprechen sein (vgl. S. 965).3067 Zur Hagenower Gruppe zählt auch das Gräberfeld von Pätow, MecklenburgVorpommern.3068 Ausgegraben in verschiedenen Etappen seit 1977 und wieder seit 1995 wurden über 420 Urnenbestattungen dokumentiert. Anthropologisch stehen 111 Kinderbestattungen 139 Erwachsenen gegenüber. Nur etwa 80 Urnen wiesen Beigaben auf, meist Perlen, Dreilagenkämme, Anhänger aus Knochen, dann einige Schnallen, Riemenzungen und Messer. Zu den Beigaben gehören Kerbschnittgürtelteile und eine scheibenförmige Riemenzunge. In 25 Gräbern fanden sich jeweils eine oder auch zwei Fibeln, darunter eine Fibel mit hohem Nadelhalter der Gruppe Almgren VII (vgl. dazu S. 486), kreuzförmige Fibeln, Nydamfibeln, gleicharmige Fibeln, eine Blechfibel vom Typ Wiesbaden und Bügelfibeln im Stil der frühen Völkerwanderungszeit, also insgesamt aus dem 4./5. Jahrhundert. Die rund 420 Bestattungen verteilen sich auf Gruppen von Frauengräbern und wenige Männergräber in jeweils verschiedenen Bestattungsarealen. Besonders auffällig war die 1997 freigelegte enge Doppelreihe von 14 bzw. 60 Urnen aus dem ersten Drittel des 5. Jahrhunderts, die überwiegend zu Kindern gehörten. Die meisten Fibeln, vor allem die kreuzförmigen Exemplare, kommen aus diesen Urnen, die ganz eng nebeneinander, ohne sich zu stören, eingegraben waren. Vielleicht hatte eine besondere Krankheit diese Kinder hingerafft. Die Verteilung der Urnen lässt mit den Reihen insgesamt vier Bestattungsareale erkennen. Es sieht danach aus, dass wohl zwei Gemeinschaften jeweils für sich bestattet haben, und weitere Gruppen kamen im 5. Jahrhundert dazu. Das Gräberfeld, belegt von der Mitte des 4. bis in das zweite Drittel des 5. Jahrhunderts, ist durchaus vergleichbar mit den Friedhöfen von Pritzier, Perdöhl und Gramnitz. Auf dem Gräberfeld von Issendorf im Ldkr. Stade wurden 6000 Brandgräber und 75 Körpergräber angelegt, und zwar bei einem vorgeschichtlichen Großsteingrab (Abb. 69)3069 inmitten eines Siedlungsgebietes. Entdeckt schon 1724 wurde im 20. Jahrhundert ständig ausgegraben, 1967, 1969, 1971,1972 und 1978, 1989 bis 1993, 1995 und 3067 Voss 2003a. 3068 Spantig 1981; Keiling 1999; Schulte 2011, 189 Abb. 123.3 (spezielle Fibel mit hohem Nadelhalter), 190, Katalog-Nr. 754–755. Die Seiten meines nicht nachgewiesenen Beitrags zeigt auf den Plänen Abb. 17 bis 19 und 21 das Gräberfeld mit dieser Doppelreihe und Abb. 20 einen Schnitt zu den ganz eng nebeneinander stehenden, sich berührenden Urnen. 3069 Häßler 2000, 538 Abb. 65.
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Abb. 69: Das Gräberfeld von Issendorf im Landkreis Stade.
1997, so dass dieses Urnengräberfeld tatsächlich vollständig erforscht worden ist. Es handelt sich um einen sogenannten gemischtbelegten Friedhof mit Brand- und Körpergräbern. Urnengräber überwiegen, teilweise mit Steinen geschützt, manche hatten auch einen Deckstein. Es wird eine oberirdische Kennzeichnung vermutet, da die Urnen außerordentlich dicht beieinander eingegraben waren, was auch auf Familien- oder
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Sippenplätze schließen lässt. Am Rande des Areals wurden rechteckige Scheiterhaufengräber entdeckt mit geringen Beigabenresten. Die Anlage von Körpergräbern, teils als Kammergräber gebaut, begann im 4. Jahrhundert, und diese Gräber gehören vor allem ins 5. Jahrhundert; vielfach sind Reste der Beigaben aus Holz, so wohl von Möbeln erhalten geblieben. Die Beigaben in den Urnengräbern, die ebenfalls erst im fortgeschrittenen 4. Jahrhundert einsetzten, waren die allgemein üblichen, zerschmolzene Perlenketten, Fibeln, Gürtelteile, Kammfragmente, Schlüssel, Messer und einige Waffenteile. Die Körpergräber enthielten demgegenüber Edelmetallschmuck, vergoldete Silberfibeln, einmal einen Goldbrakteaten. Das Ende dieses auffälligen Friedhofs ist um 530/40 zu datieren.3070 Das Gräberfeld zeigt überdeutlich, dass anhand der Urnen und ihrer Beigaben kaum eine gesellschaftliche Struktur zu rekonstruieren ist, während das anscheinend bei den Körper- und Kammergräbern möglich ist. Das aber ist nur dann zu akzeptieren, wenn man die Grabausstattung als direkten Spiegel von Rang und Reichtum des ehemaligen Lebens ansieht, was aber nicht gegeben zu sein braucht. Es handelt sich offensichtlich um Totenbrauchtum, und der eine Teil der Gesellschaft, der der Brandbestattung anhing, hatte eine andere Auffassung von dem, was im Jenseits zu erwarten war, als die Familien, die Körperbestattungen bevorzugten und Sachgüter ins Grab stellten. Wie andernorts gesagt, Totenkult und Lebensstil sind voneinander unabhängige Daseinsbereiche (vgl. S. 835). Die anthropologische Rekonstruktion und damit Konstitution einer altsächsischen Gesellschaft gelingt anhand der Knochenuntersuchungen aufgrund der großen Zahl der Bestattungen.3071 Die Analyse des Sterbealters mit einem Vergleich des Anteils von Männern und Frauen zeigt einerseits einen Höhepunkt der Sterblichkeit für das Alter 30–39 und dabei zugleich das Fehlen von bestatteten Männern. Als Krieger sind sie in jüngeren Jahren in die Ferne gezogen, dort gefallen oder als Ausgewanderte geblieben; und wenn sie doch zurückgekommen sind, starben sie in höherem Alter. Diese Beobachtung von Auswanderungen ist auch andernorts zu registrieren, beispielsweise parallel zur schriftlichen Überlieferung das Überwechseln nach England; daran waren aber auch die Frauen beteiligt (vgl. S. 982). Ein vergleichbares Gräberfeld zu Issendorf ist bei Barchel, Ldkr. Rotenburg (Wümme) untersucht worden.3072 Es ist denn auch eines unter vielen dieser Gegend, die aber fast alle mehr oder weniger zerstört sind. Ausgrabungen fanden bis 1982 statt, aber vom großen Friedhof sind nur einige Gruppierungen untersucht. Rund 148 Urnengräber, fünf Brandschüttungsgräber, einige Scheiterhaufengräber und wenige Körpergräber wurden dokumentiert. Die Datierung weist in die zweite Hälfte des 4. und in das 5. Jahrhundert.3073
3070 Häßler 2001a. 3071 Caselitz 2005; 2009, 57 Abb. 3 Histogramm. 3072 Boes 2018, 159 Abb. 3 Plan der Gruppen. 3073 Allgemein zu dieser Gegend und die Gräberfelder auch Schön 1988.
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Auch zur Siedlung Groß Meckelsen (vgl. S. 216) ist benachbart in Klein Meckelsen ein derartiges gemischt belegtes Gräberfeld erforscht worden.3074 In Niedersachsen ist der reichste Urnenfriedhof der jüngeren Eisenzeit und älteren römischen Kaiserzeit östlich Hannover bei Nienbüttel, Kr. Uelzen, ausgewertet worden, der als Ausstattung viele metallene römische Importgefäße und einen hohen Anteil an waffenführenden Gräbern aufweist, aber auch sogenannte Kenotaphe.3075 Das Gräberfeld ist schon von G. Schwantes 1904 erfasst worden mit 214 Urnenfunden, 1911 waren es dann schon über 500 Urnen, und Schwantes hält den Platz für den „reichsten Urnenfriedhof des östlichen Hannovers“. Auffällig sind die besonders zahlreichen Waffenfunde, immerhin 300 Objekte: Lanzenspitzen, Schildbuckel, 17 Schwerter und zahlreiche Reitersporen. Über 20 römische Bronzegefäße haben als Urnen gedient, Nachgrabungen in den Jahren 2015 und 2016 in einem noch unberührten Teil des Gräberfeldes haben im Boden senkrecht stehende Lanzenspitzen entdeckt, die einst als Markierung der Gräber gedient haben werden. Es gibt rituelle Niederlegungen von zerstörten Waffen- und Ausrüstungsteilen, in einem zerbeulten Schildbuckel lagen Sporen und Gürtelteile, oder ein Stangenschildbuckel im Komplex Depot 4, wohl 1908 gefunden, deckte eine Deponierung von Waffen ab. Steinpackungen werden als Kenotaphe gedeutet, da in ihnen keine Knochen, aber manchmal Waffen gefunden worden sind. Schon lange bekannt und gut ausgewertet sind die Gräberfelder von Kirchweyhe und Osterholz, Kr. Grafschaft Hoya.3076 Bei Kirchweyhe im Ldkr. Diepholz wurde ein reiches Brandgräberfeld 1955 entdeckt und ausgegraben. Das Fundmaterial besteht fast ausschließlich aus römischen Importwaren, datiert ins ausgehende 2. und 3. Jahrhundert, darunter Hemmoorer Eimer, die in der Landschaft auffallend häufig gefunden werden. M. Erdrich betrachtet diese Massierung römischer Sachgüter als den Versuch der römischen Politik, die germanischen Gruppen zwischen Rhein und Elbe gegen die Gruppen an der unteren Elbe einzusetzen. Hier fällt also die große Zahl von römischen Bronzegefäßen auf, die als Urnen verwendet worden sind. Über die Verbreitung dieses Brauches wird anderorts schon berichtet (vgl. S. 842). Metallene Urnen und römisches Tafelgeschirr in den Gräbern sind beachtlich häufig.3077 Die Gräberfelder in und bei Cuxhaven, auf dem Galgenberg3078 und in Westerwanna3079 haben in der Forschung eine größere Rolle gespielt. Beim Galgenberg, einem Grabhügel der Bronzezeit, sind Urnengräber aus der vorrömischen Eisenzeit (5. bis 1. Jahrhundert v. Chr.) sowie Brandbestattungen des 1. bis 5. Jahrhunderts
3074 Hesse 2004. 3075 Augstein, Karlsen 2016 28 Abb. 3 Röntgenbild mit Bronzeeimer und Waffen darin, 29 Abb. 4 Stangenschildbuckel mit Beigaben darin; Karlsen, Mahler, Augstein 2017, 133 f. 3076 Raddatz 1976; v. Carnap-Bornheim 2000c; Erdrich 1995a. 3077 Laux 1995. 3078 Busch 1998, 324 Abb. 40 Karte: Die Gräberfelder um den Galgenberg. 3079 Schön 2006.
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n. Chr. sowie Körpergräber des 4. und 5. Jahrhunderts ausgegraben worden. Noch einmal wurden um 600 einige Urnengräber angelegt, an die sich im 7. und 8. Jahrhundert wieder Körpergräber anschlossen. Eine lange Kontinuität beschreibt dieser Bestattungsplatz, zu dem verschiedene Siedlungen gehört haben, von denen Spuren erfasst worden sind. Die Siedlungskammer Westerwanna ist umgeben von Mooren und Niederungsgebieten, in der zahlreihe Fundplätze dokumentiert sind. Das Gräberfeld Westerwanna schließt sich an einen mächtigen Grabhügel an, den „Gravenberg“, datiert wohl in die Römische Kaiserzeit. Immer wieder wurden hier Ausgrabungen durchgeführt, seit dem 18. Jahrhundert, so dass bis in die Jahre nach 1910 schon 1300 Urnen geborgen worden sind, und die neuen Ausgrabungen 1975/76 legen nahe, dass dieses Gräberfeld noch längst nicht komplett ausgegraben worden ist, zu dem auch einzelne Körpergräber gehören. Für die Landschaft sind diese sogenannten gemischtbelegten Gräberfelder typisch. Die Belegung erstreckt sich zeitlich vom 1. bis ins frühe 6. Jahrhundert n. Chr. In der Umgebung sind zahlreiche Siedlungsplätze nachgewiesen, wenn auch nicht großflächig untersucht. Von der Forschung wurde überlegt, ob es sich bei Westerwanna um einen zentralen Friedhof für die umgebenden Siedlungen handeln könnte, einerseits wegen der großen Zahl der Bestattungen und andererseits, weil andere Gräberfelder in der Nachbarschaft fehlen, so wie auch bei den Siedlungen in der nahegelegenen Wurtenkette die größeren Bestattungsplätze fehlen, auch wenn inzwischen in der Wurt Wremen ein Friedhof mit ausgesprochen reich ausgestatteten Gräbern entdeckt worden ist (vgl. dazu S. 206). Doch ist diese Zahl von Bestattungen noch viel zu gering für die dichte Besiedlung dieser Wurten. Auch die These, Körpergräber würden erst ab dem 4. Jahrhundert in dieser Landschaft erscheinen, ist durch die Funde von Wremen aus der Zeit um 300 widerlegt, ebenso dass diese Bestattungssitte auf spätrömische oder nordische Einflüsse zurückgehen würde; vielmehr ist sie anscheinend autochthon entwickelt worden. Westerwanna wurde in der Forschung namengebend für bestimmte keramische Formen, die anders aussehen als im nahegelegenen Gräberfeld von Perlberg,3080 nur auf der anderen Seite eines kleinen Flusses gelegen. Dieses Gräberfeld bei Stade erbrachte bei planmäßigen Ausgrabungen 1936 etwa 500 Urnengräber und 1949 weitere rund 400 Brandbestattungen. Es gehört zu den großen schon völkerwanderungszeitlichen Urnengräberfeldern in der Landschaft wie Issendorf oder auch Liebenau.3081 Das Gräberfeld von Liebenau im Ldkr. Nienburg wurde 1953 entdeckt und später Jahrzehnte lang ausgegraben, 1973 bis 1975 durch A. Genrich, seit 1976 bis 1989 durch H.-J. Häßler. In unserem Zusammenhang erwähnenswert ist, dass für diesen Bestattungsplatz eine kontinuierliche Belegung (und damit auch in der Nachbarschaft eine ununterbrochene Besiedlung) seit dem ausgehenden 4. Jahrhundert bis in die Mitte
3080 Müller 2003a. 3081 Häßler 2001c.
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des 9. Jahrhunderts nachgewiesen ist. Eine Besonderheit ist auch, dass zu diesem Gräberfeld die Scheiterhaufen mit vielen Einzelheiten erhalten geblieben sind, weil sie später von Dünensand überweht wurden. Da diese Gräberfelder aber mehrheitlich in und nach der Völkerwanderungszeit belegt worden sind, werden sie hier nur randlich unter speziell zu betonenden Aspekten erwähnt. Zum Gräberfeld der späten Römischen Kaiserzeit in Bremerhaven-Lehe3082 gehören Siedlungsreste des 1. bis 3. Jahrhunderts und auch der späten Römischen Kaiserzeit mit zahlreichen Rennfeueröfen und Verhüttungsschlacken sowie Metallfunden des 4. Jahrhunderts; nahebei gibt es weitere Urnengräberfelder des späten 3. und 4./5. Jahrhunderts mit 40 Bestattungen (gegraben 2006). Zu den Beigaben zählen Ketten aus Glasperlen, Fibelschmuck, Pinzetten, Messer und auch ein Schwertgriff. Das Gräberfeld „Lederne Lampe“ in Holtgast, Ldkr. Wittmund in Ostfriesland, ist in der jüngeren vorrömischen Eisenzeit und in der Römischen Kaiserzeit mit Brandbestattungen unter Grabhügeln und Brandgrubengräber belegt worden; auch ein erstes Körpergrab mit vielen Perlen gibt es. Hervorzuheben ist ein Totenhaus. Letzte Grabungen fanden 2014 statt. C-14-Datierungen liegen vor. Der Friedhof wurde später im Hochmittelalter wieder aufgesucht.3083 Im nördlichen Niedersachsen sind Gräberfelder vom späten 3. bis zur ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts, also südlich der Elbe bis zur Weser dokumentiert, es sind unterscheidbar sechs Regionen mit unterschiedlichen Urnenbestattungen: Es gibt Friedhöfe mit Buckelurnen, Friedhöfe mit Schalenurnen, Friedhöfe mit Kümpfen, Friedhöfe mit Grabhügeln bzw. Buckelgräbern (Legende).3084 Im östlichen Niedersachsen fallen diese Buckelgräber der jüngeren Römischen Kaiserzeit und der Völkerwanderungszeit auf, kartiert an der Ilmenau und der südlichen Aller.3085 Es gibt eine Konzentrationen südlich der Elbe an der Ilmenau, südlich der Aller und zwischen Aller und Leine. Manche der Hügel sind durch Kreisgräben eingefasst. Diese Buckelgräberfelder werden zwischen das 3. und 5. Jahrhundert datiert, einige gibt es schon im 2. Jahrhundert. Unabhängig von dieser Sitte ist aber mehrfach eine Kontinuität auf den Friedhöfen über mehrere Jahrhunderte belegt. Bei den Gräbern selbst handelt es sich ausschließlich um Brand- und oft um Urnenbestattungen. Die Hügeldurchmesser waren nicht besonders groß, lagen zwischen nur einem und auch elf Metern. Die Bestattungen waren somit nicht einheitlich, so waren manche Ringgräben geschlossen, andere hatten eine Unterbrechung. Ab dem 5. Jahrhundert kamen Körpergräber hinzu zwischen Harz und Aller gibt es somit „gemischtbelegte“ Gräberfelder wie weiter im Norden. Diese unterschiedlichen Grabsittenkreise beschreiben eine starke 3082 Bischop 2015. 3083 Hüser 2016, 82 Abb. 5. 3084 Böhme 2003, 253 Abb. 1 Karte, vgl. Legende; allgemein zu Grabfunden zwischen Harz und Aller Ludowici 2005. 3085 Mohnike 2011, 68 Abb. 1 Karte.
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kulturelle Gliederung der Gesellschaft in Nord- und Ostniedersachsen. Eine Besonderheit sind in diesem Gebiet sogenannte Zwillingsgefäße als Urnen, die so einheitlich gestaltet sind, dass sie aus einer Werkstatt kommen werden; man findet sie aber an Plätzen, die 80 km voneinander entfernt sind, was bei solch singulären Stücken für einen großen Mobilitätsradius der Familien oder ganzer Gruppen spricht, mehr als nur für einen Ideentransfer und auch weniger für Handelsbeziehungen. Die Grabkeramik des 3. bis 6. Jahrhunderts des Ilmenaugebietes, des Harz-AllerRaums, und des östlichen Elb-Weser-Dreiecks an der Elbe im Harburger Raum ist zu vergleichen. Grabfunde mit der Braunschweiger und solche mit der Hannoverschen Drehscheibenware sowie mit anderen Drehscheibenwaren setzten sich einerseits gegenseitig ab, kommen aber zusammen auch im Ilmenaugebiet vor (zu dieser Drehscheibenkeramik vgl. oben S. 437 ff.).3086 Statt der früher angenommenen Siedlungsleere seit der Mitte des 5. Jahrhunderts, wegen der vermuteten Abwanderung nach England, hat sich nun gezeigt, dass Bestattungen und Siedlungen fortdauerten bis in die zweite Hälfte des 5. Jahrhunderts und oft bis ins 6. Jahrhundert (wie in Flögeln weiter im Norden), ehe sie dann verlagert wurden und eigentlich doch kontinuierlich bis ins Mittelalter bestanden haben (wie die Siedlungen Loxstedt, Wittstedt und Dahlem). Eine besondere Beachtung sollte auch das große Gräberfeld von Kemnitz, Kr. Potsdam-Land, erfahren.3087 Der Katalog wurde 1974, aber die Auswertung erst zehn Jahre später 1984 vorgelegt.3088 Hier wurden 926 Bestattungen, Männer, Frauen und Kinder aller sozialen Schichten ausgegraben. Als Urnen dienten u. a. römische Eimer mit Gesichtsattaschen, und tierkopfverzierten Henkeln. Eine Sonderbehandlung hat das Grab 6223089 als „Adelsgrab“ erfahren.3090 Der Katalog von 1974 berichtet über die Ausgrabungen nach ersten Funden schon 1729 von 1956 bis 1962 des Gräberfeldes und über eine dichte Besiedlung im Umfeld. Auf 4300 m2 waren die 926 Urnengräber, Knochenlager, Depots, Brandgruben und 652 Lesefunde verteilt, die der späten Stufe der frühen Römischen Kaiserzeit überwiegend sowie der spätrömischen Zeit und der frühen Völkerwanderungszeit zuzuordnen sind. Es gibt also eine längere Kontinuität. Das Gräberfeld ist vollständig untersucht und das reichste seiner Zeit, mit Beigaben aus Gold und Silber und Sachen römischer Herkunft. Darunter sind vier Ringknaufschwerter, eine Ringbrünne, ein bronzener Gürtel, getriebene Bronzebleche mit Darstellung der Herkulessage, neun Bronzegefäße, darunter der Bronzeeimer in Situlenform mit Gesichtsattaschen, fünf Östlandeimer, eine Kasserolle. Der Friedhof gehört nach der Keramik in den elbgermanischen Bereich, Importe vom Unterelbegebiet und aus dem Gebiet der westlichen Ostsee erreichten jedoch kontinuierlich 3086 Mohnike 2016. 3087 Geisler 1974; 1984, 82 Tabelle 4. 3088 Hegewisch 2014. 3089 Th. Fischer 2004. 3090 Th. Fischer 2004; Geisler 1973.
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die Bewohner, und andererseits kamen auch Sachgüter aus dem Raum östlich der Oder und Neiße (am Ende der frühen Römischen Kaiserzeit) nach Kemnitz. Von 849 Urnengräbern lassen sich die Beigaben tabellarisch erfassen: Keine Beigaben enthielten ca. 66%, 5 bis 6 Beigaben nur 1%. Das vergleicht H. Geisler mit anderen Urnengräberfeldern des Gebietes. In Fohrde/Hohenferchesar enthielten Beigaben nur 34 %, 5–6 Beigaben immerhin 3 bis 5%; in Nitzahn lauten die Zahlen keine Beigaben 25%, 3 Beigaben 18%, 5–6 Beigaben 3%, in Cammer keine Beigaben 46 %. Es gibt zahlreiche Kartierungen zu den Sachgütern, zu den Gefäßen und Beigaben, zu Fibeln, Gürtelteilen, Nadeln, Armringen, Anhängern, Schließhaken, Perlen, Kämmen, Kasten und Schlüsseln, zu Messern, Feuerstahl, Schere, Wetz- und Reibesteinen, zur Axt, zu den Schwertern (in Kemnitz 11 Komplexe), zu 12 Lanzen- und 2 Speerspitzen, zu Schildteilen (8 Komplexe), zur Ringbrünne und zu den Sporen. Aufgeführt werden die Waffenkombinationen, darunter die Kombination I mit Schwert, Schild und Lanze. Hinweise auf ein Trinkhorn und auf sogenanntes Urnenharz (Birkenpech) fanden sich in 50 Komplexen. Die Beziehungen zu den Nachbargebieten und zum römischen Imperium werden über die Kartierungen erschlossen; zum Römischen Reich über 29 Komplexe bzw. nur 3% der Gräber, anhand der 9 Bronzegefäße, einem Glasgefäß, den Perlen, der Ringbrünne und den 5 Schwertern, datiert in die Stufe B2 (etwa 80–150 n. Chr.). Der Ausgräber H. Geisler ordnet das Gräberfeld nach der Lage dem Gebiet der Semnonen zu. Die dichte Besiedlung in der Oberlausitz, auch anhand der Gräberfelder, hat F. Koch-Heinrichs kartiert,3091 zumeist während des 3. und 4. Jahrhunderts, eine weitere Karte bringt die Fundplätze der gesamten Römischen Kaiserzeit und der Völkerwanderungszeit. Die zahlreichen elbgermanische Gräberfelder der Latène- und älteren Römischen Kaiserzeit sind von Mitteldeutschland bis nach Böhmen systematisch ausgewertet worden.3092 Die rhein-weser-germanischen Bestattungssitten in Thüringen3093 spiegeln sich in den Belegungsphasen einiger Bestattungsplätze, die Kontinuitäten von der vorrömischen Eisenzeit bzw. Latène Stufe D1 bis in die Römische Kaiserzeit der Stufe C1b (mittleres Drittel des 3. Jahrhunderts) erkennen lassen, mit einer mehrheitlichen Verdichtung in den Stufen B1b bis C1a. Kreisdiagramme geben einen Überblick über die zahlenmäßige Verteilung der Urnengräber, der Brandschüttungsgräber, der Brandgruben und der Körpergräber, und auffällig ist die von Platz zu Platz sehr unterschiedliche Verteilung der Grabformen.3094 Forschungsgeschichtlich von besonderer Bedeutung ist das elbgermanische Gräberfeld von Großromstedt bei Weimar,3095 schon von 1907 bis 1913 untersucht und 3091 Koch-Heinrichs 2014b, 90 Abb. 14 Karte in Farbe.; Koch-Heinrichs 2014a, 1451 Abb. 10 Karte. 3092 Capelle 1971; Schmidt, Bemmann 2008. 3093 Seidel 2013, 87 Abb. 2 Belegungsphasen einiger Gräberfelder. 3094 Seidel 2013, 91 Abb. 7 Kreisdiagramme. 3095 Peschel 1999, bei 90 Faltplan Abb. 7; 2005b; 2006.
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18 Gräberfelder der Bevölkerung und Bestattungen der Eliten
belegt von der späten vorrömischen Eisenzeit (Latène D2 und Römische Kaiserzeit B1a) bis in die jüngere Römische Kaiserzeit (3. Jahrhundert). Bis zu 650 Urnengräber, Knochenhäufchen und Brandgruben wurden auf etwa 4 Hektar Fläche dokumentiert. Das Gräberfeld wurde wegen der Waffengräber von 50 v. Chr. bis 50 n. Chr. zeitweilig als Männerfriedhof angesehen, aber viele Bestattungen wiesen keinerlei Beigaben auf. Die frühe Bedeutung lag darin, dass horizontalstratigraphisch über die Beigaben eine Belegungsabfolge in drei Zeitgruppen erarbeitet werden konnte, als Grundlage für die chronologische Gliederung des Fundmaterials zwischen später Latènezeit und Römischer Kaiserzeit, so dass gar von einem Großromstedter Horizont und einer Großromstedter Kultur gesprochen wurde, aber auch über die Gesellschaftsordnung und Rangstruktur der Germanen. Rolf Hachmann hat mehrere Arbeiten zu diesen Themen am Gräberfeld geschrieben (1950; 1956; auch 1970).3096 Ausführlich haben dazu H. Steuer3097 und Karl Peschel Stellung genommen.3098 Unter den Urnen sind Keramikgefäße, Drehscheibengefäße und einige römische Metallgefäße. Die Beigaben zeigen Feuerspuren, sind also auf dem Scheiterhaufen mit verbrannt und dann samt Knochen ausgelesen und in die Urnen gelegt worden. Zur Datierung dienen die zahlreichen Fibeln, über die die drei Zeitstufen zu bestimmen sind, von denen Zeitstufe 3 mehr Bestattungen umfasst als die beiden älteren Stufen 1 und 2 zusammen. Waffen, auch Schwerter, Lanzen und Schildbuckel gibt es in allen drei Zeitstufen. Nur 6% der Gräber enthalten Schwertbestandteile, nur 3% eine Bewaffnung aus Schwert, Lanze und Schild, die Mehrheit enthielt Lanze und Schild. Einige Fibeltypen kommen auch im römischen Lager von Haltern vor, eine Datierungshilfe über die Fernbeziehung hinaus, und außerdem in Kalkriese, datieren also vor 9 n. Chr. Die Belegung begann wohl um 50/40 v. Chr. und setzte sich fort bis etwa 40/50 n. Chr. Bei der ethnischen Deutung einigte man sich auf Hermunduren und Markomannen, was aber kaum historisch weiterhilft. Das Gräberfeld hat im Rahmen der Forschungsgeschichte eine entscheidende Rolle gespielt, nämlich bei der Frage nach dem Übergang von der Vorrömischen Eisenzeit, weil hier noch Kelten gesiedelt haben sollten, zur Römischen Kaiserzeit und den frühen Germanen in diesem Raum. Gräberfelder des Großromstedter Horizonts werden nach und nach häufiger bekannt bzw. veröffentlicht: Bei Ballstädt, Ldkr. Gotha in Thüringen, ist ein solcher Friedhof untersucht worden.3099 Th. Grasselt kartiert den Großromstedter Horizont in Thüringen, nennt die Gräber mit Bronzegefäßen als Urnen, die herausgehobenen Kriegerbestattungen mit verbogenen Lanzen, mit Schwert und Schildresten, auch mit Trinkhornbeschlägen und Toilettbesteck, wie sie als Beigaben in den Gräberfeldern vom namengebenden Großromstedt und Schkopau vorkommen. Der Beginn dieses Gräberfeldes wird in Laténe D1 datiert, und es endet in B1a oder gerade noch in B1b, 3096 Peschel 1999, 95 und 96 Literatur. 3097 Steuer 1982,182 f. mit Karten 44 und 45, 184 f, 187 f. etc., nach Hachmann 1950. 3098 Peschel 1999, 90 mit Plan Abb. 7. 3099 Grasselt 2009c, 181 Abb. 2, 199 Datierung.
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wurde also bis etwa 50 n. Chr. belegt. Es gibt zudem Oberflächenfunde aus Zeit der Germanenkriege 9 v. bis 9 n. Chr., meist Militärfibeln. Im Mittelelbegebiet bei Magdeburg sind mehrere spätkaiserzeitliche bis völkerwanderungszeitliche Brandgräberfelder bekannt und teilweise erforscht worden.3100 Ausführlicher zu beschreiben ist das Brandgräberfeld am Roten Berg von Loitsche am Unterlauf der Ohre in die Elbe nahe Magdeburg mit 600 dokumentierten (und 150 bis 200 verlorenen) Brandgräbern auf 2500 m2, ausgegraben 1972 bis 1975. Zumeist handelt es sich um Urnengräber, 532 Urnen sind mit ihrer Form auszuwerten, davon sind 84% sogenannte Schalenurnen, und 80 % weisen eine bis sechs Beigaben auf, darunter sind wie üblich Kämme und Fibeln, geschmolzene Glasperlen und Ringe aus Elfenbein. Die Verbreitung der Ringfragmente aus Elfenbein in Brandgräbern (wo sie mehrheitlich beigegeben sind) und in Körpergräbern nördlich der Elbe in Mecklenburg, weiter an Elbe und Saale und einige in Südwestdeutschland markieren die bekannte Südroute; denn auch Keramikgefäße gibt es im Norden, wie sie auch im Süden vorkommen. Die weiteren Gräberfelder vom Roten Berg bei Loitsche im Mittelelbegebiet reichen von der späten Bronze- und frühen Eisenzeit bis zur späten Römischen Kaiserzeit und Völkerwanderungszeit. In der Nachbarschaft sind außerdem untersucht die Gräberfelder Helmstedt-„Pfingstberg“ (1000 Gräber), Ole Hai (mindestens 350 Gräber), Althaldensleben-„Hühnerberg“ (400 Gräber), Schönebeck-„Sandstücken“ (mindestens 73 Gräber), Burg-Gütter (450 Gräber), Schermen„Distelmorgen“ (2000 Gräber), Biederitz-Heyrothsberge-„Fuchsberge“ (mindestens 150 Gräber). Die gut untersuchten Friedhöfe weisen also teilweise eine recht hohe Zahl von Bestattungen von ein- bis zweitausend Gräbern auf. 3101 Die Urnenformen auf diesen Gräberfeldern sind oftmals einander außerordentlich ähnlich. Man hat diese Gruppe von Urnengräberfeldern als „Burger Gruppe“ benannt. Dazu ist von H. Pöppelmann eine weitere Untersuchung hinzugefügt worden mit einer Kartierung der Gräberfelder des 4. bis 6. Jahrhunderts beiderseits der Mittelelbe.3102 Parallel zu diesen Brandgräberfeldern gibt es weiter südlich frühe völkerwanderungszeitliche Körpergräber zwischen Harz, Thüringer Wald und Saale, ebenfalls kartiert.3103 Durch eine Schmuckform, die sogenannte Niemberger Fibel des 5. Jahrhunderts, wird dieses Gebiet außerdem verbunden mit Gräberfeldern zwischen Elbe und Oder.3104 Ob man diese Verbreitungen nun schon mit dem Thüringerreich verbinden sollte, ist methodisch nicht einfach zu beantworten, da eine Reichsbildung
3100 Gall 2005; 2011, 92 Abb. 1 Karte zu den wichtigen Brandgräberfeldern, 96 Abb. 3 Ringfragmente aus Elfenbein, 97 Abb. 4 Keramikgefäße. 3101 Gall 2011, 95 Abb. 4. 3102 Pöppelmann 2011, 99 Abb. 1 Fundplätze der Burger Gruppe. 3103 Pöppelmann 2011,105 Abb. 6 Karte. 3104 Pöppelmann 2011, 106 Abb. 8 Karte; Bemmann 2001; früher Schach-Dörges 1970 mit Fundkarten.
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unabhängig ist von der Produktion von Töpfen, Fibeln und auch Grabbräuchen. Weiter im Osten schon wieder an der Elbe liegt das Gräberfeld von Liebersee (vgl. S. 291).3105 Das Gräberfeld bei Wechmar, Kr. Gotha,3106 mit mehr als 255 Urnengräbern (272 dokumentierte und 300 bezeugte Bestattungen) im Brandgräberfeld, verteilt auf zwei Bereiche, 1937 bis 1939 ausgegraben, ist in die Phasen C1a, C1b und C2, also etwa von 180 bis 260/270, datiert, wurde also gerade drei Generationen und knapp hundert Jahre belegt. Immerhin enthielten 19 Gräber Waffen, meist eine Lanze, doch nur einmal ein Schwert, auch allerlei römische Sachgüter. Der Platz diente zur Diskussion über das Aufkommen der Waffenbeigabensitte.3107 Im 1. und 2. Jahrhundert ist das erst neu entdeckte bzw. untersuchte Urnengräberfeld von Profen im südlichen Sachsen-Anhalt mit 600 Bestattungen belegt; darunter ist auch ein ausnehmend reich ausgestattetes Urnengrab in einem Bronzegefäß (vgl. dazu S. 967).3108 Die Inhalte der Urnen wurden mit neuen naturwissenschaftlichtechnischen Methoden untersucht (Röntgenologie, Computertomographie, Rasterelektronenmikroskopie, Mikroröntgenfluoreszenzanalytik). Dabei ging es nicht nur um die Knochen, sondern auch um die angeschmolzenen Beigaben, die verschiedenen Verbrennungsgraden unterlegen waren. Ziel war hier – was erstmals erreicht werden konnte – die Bestattungsrituale von der Niederlegung auf dem Scheiterhaufen bis zur Einlagerung der Urne in den Boden zu rekonstruieren. Zu den Beigaben zählen Trachtbestandteile wie Nadeln aus Tierknochen, Bronze und Eisen, Reste der Gewandverschlüsse wie Fibeln, Glasperlen, silberne und goldene Kettenanhänger und Armringe, außerdem mehrmals Pinzetten, Spiegel und Trinkhornbeschläge sowie Messer. Auch Waffen wurden beigegeben, Lanzen(spitzen), Schildbuckel und Schildrandbeschläge, Schwertknäufe aus Bronze und vollständige Schwerter. Zu den Elbgermanen gehören die frühen Bestattungsplätze in Böhmen von Dobřichov-Pičhora und Třebická im Bezirk Kolin, ausgegraben im 19. Jahrhundert, das eine aus dem 1. und 2. Jahrhundert n. Chr. (B1 und B2, mit mehr als154 Brandgräbern), das andere nahebei aus dem 3. und 4. Jahrhundert (C1 und C2, mit mehr als 100 Urnengräbern), die aufgrund des reichen Beigabenmaterials forschungsgeschichtlich von Bedeutung gewesen sind.3109 Der Friedhof von Třebusice bei Kladno in Mittelböhmen wurde von 1921 bis 1944, 1956–1957 und wieder 1962/63 auf 2 ha Fläche untersucht. Rund 900 Gräber wurden erforscht, zumeist Urnengräber mit Behältern aus Ton und Bronzegefäßen, auch mit Waffen als Beigaben.3110 Als Besonderheit sind quadratische und rechteckige Gräbchen mit bis zu 15 m Seitenlänge freigelegt worden, die in Zusammenhang mit einem Ahnenkult gebracht werden, datiert in die Zeit der 3105 Bemmann 2003b. 3106 Kleemann 2007, 205. 3107 Kleemann 2007, 207 Abb. 1: Die Phasen C1a, C1b und C2 mit den Waffengräbern. 3108 Schöne 2015, 66. 3109 Motyková 1984; Köhler 1975. 3110 Motyková 2006, mit 151 Abb. 31.
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Markomannenkriege. Insgesamt werden die Bestattungen von der ältesten Römischen Kaiserzeit bis ins 3. Jahrhundert datiert. Das Brandgräberfeld von DobřichovPičhora soll Kenntnisse zum Reich des Marbod eröffnen; ein Versuch wiederum, vom Totenkult zur Ereignisgeschichte eine Brücke schlagen zu können; was möglichweise über den Charakter der Beigaben und der Urnenkeramik möglich sein könnte. 3111 Ein weiteres Brandgräberfeld der jüngeren und späten Römischen Kaiserzeit in Nordwestpolen, ist von Opočno publiziert.3112
18.2.3 Ostseegebiet Andernorts in Dänemark werden derartige quadratische Befunde als Totenhäuser gedeutet (vgl. oben S. 257).3113 Bei der Siedlung Østergård in Jütland, von der 11 Hektar seit 1995 bis 2001 ausgegraben worden sind und die von der Mitte des 3. Jahrhunderts bis ins 6./7. Jahrhundert bestanden hat, sind aus der Phase C1b-C2 kleine Hausgrundrisse beobachtet worden, die nicht als Bauten zu den normalen Gehöften gerechnet werden, sondern im Totenkult eine spezielle Rolle gespielt haben. Es geht um den Wechsel in den Bestattungssitten von der frühen Römischen Kaiserzeit in die Völkerwanderungszeit.3114 Immerhin neun Totenhäuser sind mit ihren Pfostenstellungen bei einem überpflügten Grabhügel freigelegt worden, in deren Mitte die Urne stand. Der Schwerpunkt liegt in der Beschreibung der Totenhäuser im westlichen Siedlungsareal, wozu es übersichtliche Pläne gibt. Bei Befunden in Gl. Ladegård nahe Østergård in Südjütland wird ebenfalls gefragt, ob es sich bei derartigen Grundrissen um Hofanlagen oder Totenhäuser handelt.3115 Nahe der eingezäunten Hofanlage mit Langhaus und Nebengebäuden von Gl. Ladegård stand ein Pfostenhaus außerhalb der Einhegung, in der zentral eine Urne platziert war, weshalb man mit gewisser Berechtigung von einem Totenhaus spricht. Eine Karte bringt mehr als zehn Siedlungen der jüngeren Römischen Kaiserzeit und der Völkerwanderungszeit in Jütland und auf Fünen mit derartigen Grundrissen.3116 Weitere Fundorte, die näher beschrieben werden, sind Mørup mit Befunden des 6./ 7. Jahrhunderts und Hvidhøjgård mit solchen Belegen aus der Zeit um 500. Neue C-14-Datierungen weisen schon auf die Mitte des 4. Jahrhunderts für Gl. Ladegård und Østergård hin, also auf ein Jahrhundert früher als bisher gedacht. Die quadratischen Pfostenhäuser waren keine Speicher, wie sonst oft
3111 Droberjar 1999; auch 1997. 3112 Pleinerová 1995. 3113 A. B. Sørensen 2001; 2011, 2017. 3114 A. B. Sørensen 2011, 252 Fig. 1 b Siedlungsplan, 253 Fig. 2 Plan zur Konzentration der Totenhäuser. 3115 Ethelberg, A. B. Sørensen, Andersen 2005. 3116 Ethelberg, A. B. Sørensen, Andersen 2005, 194 Fig. 13; 195 Fig. 14 Gesamtplan der Siedlung Østergård.
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angenommen, sondern im Inneren stand entweder eine Urne, oder es befand sich dort eine Brandfläche. Was nun den Wechsel in der Bestattungssitte zwischen der älteren und der jüngeren Römischen Kaiserzeit betrifft, so könnte es sich um eine Unterbrechung der Siedlung handeln oder auch um einen Wechsel der Bevölkerung an diesem Ort. A.B. Sørensen meint dies auch an anderen Orten im südlichen Jütland beobachtet zu haben, wobei sonst der Wechsel von der Brand- zur Körperbestattung folgte; ebenso gibt es keine Waffenbeigabe mehr wie früher. Doch gibt es auch Erscheinungen, die es zu berücksichtigen gilt, nämlich anscheinend Kenotaphe, geleerte oder leere Gräber und Opferstellen auf den Gräberfeldern; derartige Sonderfälle findet man in Dänemark und Schleswig-Holstein.3117 Im östlichen Polen sind während der späten Römischen Kaiserzeit gleichartige Befunde als „Totenhaus“ beschrieben worden; und es werden darüber Beziehungen nach Skandinavien gesehen.3118 Diese besondere Behandlung Verstorbener, indem über die Urne ein Pfostenbau errichtet wurde, gibt es also an verschiedenen Orten in Jütland und auch andernorts. Im westlichen Teil der Siedlung Østergård sind das zwei Gruppen mit sechs und drei, also mit insgesamt neun Totenhäusern bei einem überpflügten Grabhügel. Jeweils eine Urne steht in der Mitte des Pfostenquadrats. Parallelbefunde sind in Hjemsted Banke bei Skærbæk (Stufe C2, späte Römische Kaiserzeit) ausgegraben, in Enderupskov bei Gram, Gl. Ladegård, in Grimstrup bei Esbjerg im Gräberfeld Grimstrup II, in Farre bei Give (datiert in die Phasen C2/C3), in Præstestien ebenfalls bei Esbjerg im Bereich eines Gräberfeldes. Auch auf Fünen gibt es drei Orte mit Totenhäusern, so in Møllegårdsmarken (vgl. S. 613), in Bytoften und Køstrup, ebenfalls auf Seeland nahe Baunehøj bei Stevns. Beispiele können aus England angeführt werden und vor allem auf dem Kontinent, so in Liebenau mit Vierpfostenstellungen um eine Urne, auf der Feddersen Wierde ein Totenhaus mit acht Pfosten über einen Pferdegrab, datiert ins 5. Jahrhundert. Einen derartigen Befund gibt es ebenfalls in Masłowęcz in Ostpolen; hier war eine Struktur mit zehn Pfosten während der späten Römischen Kaiserzeit bzw. der frühen Völkerwanderungszeit errichtet worden (C3/D1). Es ist davon auszugehen, dass herausragende Personen ein Totenhaus bekommen hatten, verbunden überhaupt mit dem Wandel der Grabsitten im Zuge der Zeit. Ein solcher Wandel in den Grabsitten ereignete sich in Østergård zwischen früher und später Römischen Kaiserzeit, der vielleicht sogar mit einem Bruch oder einet Unterbrechung in der Siedlungsabfolge zusammenfiel und u. U. einer Bevölkerungsdiskontinuität (vgl. oben S. 613). Eine solche Diskontinuität wird in dieser Siedlung und überhaupt im südlichen Jütland angenommen: „At this point everything changes“. Es folgte nämlich der Wechsel von der Brand- zur Körpergrabsitte. Die Beigabe von Waffen in den Gräbern gibt es nicht mehr während der jüngeren Römischen Kaiserzeit. Dafür kommen die Totenhäuser im 4. Jahrhundert auf. Es bleibt aber die Frage, ob die vermutete
3117 Henriksen 2015, auch zu Abegg-Wigg 2017. 3118 Mączyńska 1998.
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Bevölkerungsdiskontinuität mit einer Migration zusammenhing oder ob vielleicht das Gebiet von Fremden erobert wurde. Zu diesem Problemfeld weise ich auf die neuen Beobachtungen in der Nachbarschaft des Heeresausrüstungsopfers von Nydam hin (vgl. oben S. 781). Die „Geschichte“ verlief aber sicherlich komplexer, denn in Østergård gab es noch eine Kontinuität zur Zeit der Totenhäuser, keinen Bruch, vielmehr nahmen anscheinend die Leute neue religiöse Ideen im 4. Jahrhundert an. Totenhäuser gab es ebenso auf Gräberfeldern im Nordharzgebiet, die mit den Befunden von Hjemsted verglichen werden.3119 Im Ostseegebiet, in Dänemark, auf Bornholm und Gotland sowie in Schweden sind die Verhältnisse durchaus mit Kontinentaleuropa vergleichbar. Im mittleren Jütland sind in relativ dichter Lage mehrere Gräberfelder mit kulturgeschichtlich wichtigen Beigaben dokumentiert, darunter Vester Galsted im Osten und Hjemsted im Wesen.3120 Das Körpergrab von Vester Galsted, 1928 ausgegraben, wird in die Stufe nach C3, also in D (400–425) datiert. Auffällig sind die Schnallenteile und -beschläge eines Gürtels, wie er auch in Gräbern von Hjemsted vorkommt und ebenfalls im Nydam-Moor. Auf Fünen ist nahe von Gudme und Lundeborg das große Gräberfeld von Møllegårdsmarken3121 weitgehend und langjährig im 19. Jahrhundert und wieder 1959 bis 1966 und noch einmal 1988 bis 1994 ausgegraben worden, mit Bestattungen der vorrömischen Eisenzeit und der Römischen Kaiserzeit bis um 400/425. Mehr als 2500 Brand- und Körpergräber sowie Totenhaus-Grundrisse von der vorrömischen Eisenzeit bis ins 5. Jahrhundert n. Chr. bilden diesen großen Gräberkomplex. Mehrere kleine Gräberfelder gab es außerdem noch in der näheren Umgebung, so bei Gudbjerg mit Gräbern der frühen Römischen Kaiserzeit, teils mit Pferdeausrüstungen, bei Løkkebjerg mit 58 Gräbern, bei Brudager mit 168 Gräbern des 1. bis 4. Jahrhunderts und bei Egelygård mit 112 Brandgräbern. Das reiche Gräberfeld von Langå, auch nahe bei Gudme auf Fünen, entdeckt 1877 und seit 1992 durch Suchschnitte erschlossen, besteht aus mehreren Gruppen.3122 Von den rund 100 Urnengräbern, die in den 1840er Jahren gefunden wurden, ist nichts mehr bekannt. Von den 16 Brandgräbern sind nur zwei der jüngeren Römischen Kaiserzeit zuzuordnen, während die anderen bronzezeitlich sind. Andere Gräber wurden während der vorrömischen Eisenzeit angelegt. In der Urnenbrandgrube 1 (1877) stand ein Eisenkessel, abgedeckt von einem großen Stein, der als Urne gedient hat, datiert ins 4. Jahrhundert v. Chr., eine Antiquität zur Zeit der Bestattung. Darin lagen außer der Asche Bronzegefäße, Goldringe und Scherben von vier Tongefäßen, außerdem vier einschneidige Kurzschwerter, eine Lanzenspitzentülle und Reste eines Schildbuckels sowie die Bronze- und Eisenteile eines vierrädrigen Wagens vom Typ Dejbjerg 3119 Baier 2011, 62 f. und 64 Abb. 6 Hjemsted. 3120 Ethelberg 2015,166 Fig. 5 Karte. 3121 Thrane 1999, 145. 3122 Thrane 2001.
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(vgl. S. 389). Das kleine Gräberfeld ist auf Fünen eine Ausnahme und mit den Gräberfeldern von Kraghede, Hedegård und Husby zu vergleichen, in denen auch ein Wagen beigegeben war. Vielleicht ergibt sich eine Kontinuität in der Bedeutung des Platzes, gewissermaßen als Vorläufer des Zentralortes Gudme und des Gräberfeldes von Møllegårdsmarken, zumal die Bronzegefäße italischer Herkunft, in den Gräbern 1 (1877) und 2 (1886) schon mehrere Generationen älter sind als die Grablegen und ähnliche Fragen dazu aufwerfen wie die Kessel von Gundestrup, Rynkeby und Brå, was sie bedeutet haben und warum sie in den Norden gelangt sind (vgl. S. 91).3123 Die Toreby Gräber bei Maribo auf Lolland umfassen reiche Bestattungen der frühen Römischen Kaiserzeit B2 (um 150 n. Chr.).3124 Auf Bornholm ist Slusegård3125 mit fast 1500 Gräbern ein instruktives Beispiel; ca. 928 Brandbestattungen (Urnengrab, Urnenbrandgrube und Brandgrube) und ca. 447 Körpergräber (bestattet in Baum- oder Brettersärgen) wurden dokumentiert. Hier wurde von etwa 50 v. Chr. bis ins 5. Jahrhundert n. Chr. bestattet. Weitere Gräberfelder auf Bornholm sind kartiert,3126 beispielsweise 39 Gräberfelder der jüngeren Römischen Kaiserzeit rundum an der Küste gelegen und auch im Binnenland. Anhand der Beigaben, beispielsweise tordierte silberne Halsringe, sind Bornholms Verbindungen zum Kontinent belegt.3127 Die regelmäßige geographische Verteilung der Bestattungsplätze erlaubt es, anhand von Kreismodellen die Siedlungszentren und deren Einflussbereich festzulegen, so wie U. Näsman das für Dänemark, Norddeutschland und Polen vorgeführt hat.3128 Die südschwedischen Gräberfelder und die Friedhöfe auf Gotland spiegeln Bevölkerungskontinuität von der Bronzezeit bis in die vorrömische Eisenzeit und mehrfach weiter bis in die Wikingerzeit, und nichts spricht für einen Bevölkerungswechsel über dieses Jahrtausend hinweg. Die beiden Gräberfelder von Fiskeby bei Norrköping, Östergötland, Schweden,3129 sind Beispiele dafür. Das größere Gräberfeld mit einer Belegungskontinuität von über 1500 Jahren erbrachte (nur) 520 Gräber.
18.2.4 Östliches Mitteleuropa Es wäre möglich, nun die erforschten Gräberfelder aller weiteren Landschaften in Germanien aufzulisten, was aber ermüdet und auch keine neuen Ergebnisse hinzufügen würde.
3123 Nikulka 2019, 192 f. mit Farbabb. 6. 3124 Gyldenkærne 2011. 3125 Andersen 2005. 3126 Heidemann Lutz 2010, 77 Karte 1. 3127 Heidemann Lutz 2010, 212 Abb. 96. 3128 Heidemann Lutz 2010, 235 Abb. 110 (Karte nach Näsman 1998, Abb. 5). 3129 Baudou 1995; Baudou, Lindqvist, Nyman 2004, 456.
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Nur noch auf einige Beispiele aus Polen aus den Bereichen der Przeworsk-Kultur und der Wielbark-Kultur gehe ich ein, zumal die kennzeichnenden Elemente dieser Kulturen anhand der Gräberfelder beschrieben wurden und werden, weniger über Siedlungsfunde, die erst in neuerster Zeit erforscht werden können. Zuvor zeigt ein Beitrag von A. Cieśliński aus dem Jahr 2017 die kulturelle Gliederung des polnischen Raumes, zumeist eben auf der Basis von Gräberfeldern, nach denen die Kulturen benannt worden sind.3130 Die Karten bringen die Verbreitung der Wielbark-Kultur, der Przeworsk-Kultur und des Westbaltischen Kulturkreises über die Phasen der Römischen Kaiserzeit B1-B2 (1–160 n. Chr.), B2/C1-C1a (160–230 n. Chr.) und C1b über C3 bis D (230–450 n. Chr.), wobei vor allem die Südostausbreitung der Wielbark- und der Przeworsk-Kultur auffällt. Die deutlichen räumlichen Abgrenzungen dieser Gruppen sind Ergebnis der Forschungsgeschichte. Der Westbaltische Kulturkreis bestand während der Phase C2 (260–300 n. Chr.) aus der DollkeimKovrovo-Kultur im Samland und dem Hinterland, sowie der Bogaczewo-Kultur und der Sudovian Kultur, die nach Südosten anschließen. Zur Illustration werden Beispiele von Bestattungen der Wielbark-Kultur (von Kowalewko Grab 166 mit Dreieckkamm und Sporen, von Weklice Grab 210 mit Fibeln und Armringen) gebracht, auch der Bogaczewo-Kultur (von Wyszembork Grab 33 mit Gefäßen und Lanzenspitze) und der Dollkeim-Kovrovo-Kultur (Berezovka, RUS, mit Grab 114, einer Pferdedoppelbestattung, und Bol’shoe Isakovo, RUS, mit Bronze- und Silberfibeln). Die Dollkeim-Kovrovo-Kultur und auch die Bogaczewo-Kultur gehören mit weiteren Gruppen, so der Memelkultur, zu den zahlreichen unterscheidbaren Kulturgruppen der Römischen Kaiserzeit im südlichen und östlichen Baltikum nördlich der Wielbark- und Przeworsk-Kultur. Nun ist anhand der Archivalien aus dem Nachlass von Herbert Jankuhn das Memelgebiet neu aufgearbeitet worden.3131 Aufschlussreich ist eine Karte dieser etwa 12 Kulturgruppen bis weit in den Norden; die südlichen haben oft nur Durchmesser von 50 bis 100 km, während sie nach Norden deutlich größer, also noch nicht weiter ausdifferenziert sind. Auf die kleinere Memelkultur gehe ich nicht weiter ein, betone jedoch, wie bemerkenswert es ist, dass H. Jankuhns Aufzeichnungen aus den 1930er Jahren noch eine gute Auswertung erlauben. Eine zweite Karte bringt eine erweiterte Erstreckung der Memelkultur in Russland an der Memel und weiter nördlich in Litauen, wobei über 100 Fundorte, meist Gräberfelder erfasst sind, vor allem in Küstennähe bis 50 km ins Binnenland. Ob Halsringe, Armringe, Nadeln oder Fibeln, Perlen und Gürtelteile oder ob Waffen und Sporen sowie Werkzeuge wie Tüllenbeile der Phasen der Römischen Kaiserzeit, so werden sie auch hier im weitabgelegen Randbereich fern von Germanien gefunden, d. h. römische und germanische 3130 Cieśliński 2017b mit zahlreichen Karten. 3131 Banytė-Rowell 2019, 11 Abb. 4 farbige Karte; 49 Abb. 20 Fundortkarte, 60 Abb. 27 die Jankuhn bekannten Fundorte, 137 ff. Analyse des Fundmaterials, der Halsringe (150, Abb, 61 Karte), Fibeln Almgren 72 (172 Abb. 67 Karte – 29 Fundbelege in verschiedenen Kulturgruppen im Baltikum) etc.; Nowakowski 2013b: Grundlage des Katalogs.
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Einflüsse erreichten auch alle diese Areale; doch während der Phase C1 wurden viele neue, eigene Formen und Typen entwickelt. Die Auswertung berücksichtigt in derselben Weise das Fundmaterial der Völkerwanderungszeit, darunter Armbrustfibeln, wie sie V. Hilberg behandelt hat.3132 Eine Seriation gliedert die Memelkultur in vier Phasen im Vergleich zu den Phasen der Römischen Kaiserzeit von B1 bis C3 (bis 300 n. Chr.).3133 Die Autorin betont zudem, dass der Begriff „Memelkultur“ nicht im Sinne einer „traditionellen archäologischen Kultur“ verstanden werden sollte, sondern eher im Licht der „integrativen Kulturtheorie“, im Sinne von K. P. Hansen: „Kultur umfasst Standardisierungen, die in Kollektiven gelten“.3134 Zu den beiden Kulturen, der Przeworsk- und der etwas später entstandenen Wielbark-Kultur, der die Oksywie-Kultur vorausging, weise ich auf meine anfänglichen Erläuterungen hin (vgl. S. 87), in denen es darum ging zu beschreiben, was man unter „Kultur“ archäologisch zu verstehen hat, wie Kulturen definiert werden und welche Versuche gemacht worden sind, sie mit ethnischen Gruppen und Stämmen zu parallelisieren, die in der Schriftüberlieferung genannt werden. Zwischen den beiden Kulturen bestand zuerst eine 20 bis 30 km breite fundleere Zone, die bald durch beiderseitige Kontakte verschwunden ist. Betont sei, dass die Definition dieser Kulturgruppen fast ausschließlich über Grabformen und Grabbeigaben erfolgt ist, auch wenn inzwischen Siedlungsplätze sowie beispielsweise Eisenverhüttungsareale ausgegraben sind; sie liegen eben im Bereich dieser Kulturen und werden meistens anhand der Keramiken diesen zugewiesen. Im Jahr 2020 ist weiterhin zu lesen,3135 dass die Verbreitungsgebiete der WielbarkKultur, der Chernjachov-Kultur und der Santana de Mureş-Kultur im späten 3. Jahrhundert ethnisch zu deuten sind oder auch nicht. Mischa Meier sieht darin nicht unbedingt die Verbreitung der Goten, denn Sprachen können sich auch anders ausbreiten, aber in den südlichen Kulturen stimmen da doch die antiken Schriftüberlieferungen (Jordanes) überein mit der Archäologie. Es bleibt bei der Vermischung der Quellengruppen, was ebenfalls noch wieder bei Archäologen zu lesen ist, dass nämlich die Goten von Skandinavien aus gezogen seien.3136 Außerdem weise ich darauf hin, dass Teile der polnischen Forschung noch bis heute der ethnischen Deutungen dieser archäologischen Kulturgruppen anhängen. Die Przeworsk-Kultur ist demnach der archäologische Niederschlag der Völkerschaften der Vandalen, die Wielbark-Kultur spiegelt das Gebiet der Goten, die
3132 Hilberg 2009; Kontny, Szymański 2015, 334 Abb. 2 Vorkommen der sogenannten Schlosskreuzfibeln im Westbaltikum im Bereich der ehemaligen Wielbark-Kultur, traditionelle Fibelform, datiert jedoch ins 6. Jahrhundert. 3133 Banytė-Rowell 2019, 381 Abb. 144. 3134 Banytė-Rowell 2019, 423; Nakoinz 2009; 2017; Hansen 2011, 39. 3135 Mischa Meier 2020, 143 Karte 5. 3136 Mischa Meier 2020, so 1143 Anm. 25 nach Kleemann 2005.
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Luboszyce-Kultur westlich der Przeworsk-Kultur das Gebiet der Burgunden.3137 Der zu einer Ausstellung 2003 vorgelegte umfassende Katalog nennt einerseits diese ethnische Zuordnung zu historisch überlieferten, gewanderten Stammesverbänden, was ich kritisiere und ablehne, bietet aber andererseits eine sehr gute Zusammenfassung des archäologischen Quellenbestandes zu diesen Kulturen. Die Przeworsk-Kultur – der Name wurde in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts eingeführt – bestand von der jüngeren vorrömischen Eisenzeit bis in die Völkerwanderungszeit und war im mittleren und südlichen Polen verbreitet, dehnte sich weiter nach Südosten aus bzw. verschob sich dorthin. Nach K. Godłowski 1985 haben A. Kokowski 2003 sowie T. Dąbrowska und M. Mączyńska andernorts ebenfalls 2003 die Geschichte der Przeworsk-Kultur mit Kartenbildern zu ihrer Verbreitung und Verlagerung vorgelegt, so im RGA.3138 Die zeitliche Erstreckung geht von 200 v. Chr. bis etwa 375 n. Chr., Karten liegen vor für die Ausdehnung in der vorrömischen Stufe A3, der Stufe B1 der Römischen Kaiserzeit, der Stufe B2 und der Stufe B2/C1-C1a mit deutlicher Verschiebung nach Südosten. Die nachfolgende Phase wird als MasłomęczGruppe bezeichnet, deckt ungefähr dasselbe Gebiet ab mit noch weiterer Erstreckung nach Südosten bis zu den Karpaten. A. Kokowski schildert die kulturellen Verhältnisse, geht auf das Fürstengrab von Opole-Goslawice mit den Silberbechern ein, auf das Kriegergrab von Masów mit üppigen römischen Importgefäßen, ebenfalls mit Silberbechern, zwei Eimern, Schüssel und Kelle und Sieb, nennt den Münzschatz von Żulice (dazu S. 550).3139 Damals beim Forschungsstand von 2003 bestanden die Siedlungen überwiegend aus Grubenhäusern, und ebenerdige Pfostenbauten waren noch nicht ergraben (vgl. aber oben S. 287). Die intensive Eisengewinnung im 3. und 4. Jahrhundert habe ich oben beschrieben (vgl. S. 450). A. Kokowski bildet dann 2003 noch die Typentafeln für das Formenspektrum nach den Zusammenstellungen von K. Godłowski 1985 ab. Der Text von A. Kokowski vermischt leider ständig archäologische Befunde mit den historisch überlieferten Stämmen. Dem Ende der PrzeworskKultur im 4. und im Anfang des 5. Jahrhundert (den Stufen C3/D), als diese noch eine Periode des wirtschaftlichen Aufschwungs erlebte, widmet sich M. Mączyńska.3140 Die Bewaffnung der Vandalen bzw. der Leute der Przeworsk-Kultur während der jüngeren vorrömischen Eisenzeit schildert ausführlich P. Łuczkiwicz,3141 auch wieder vermengt mit ereignisgeschichtlichen Aussagen. Interessant ist die Karte der waffenführenden Fundstellen der Przeworsk-Kultur während der vorrömischen Eisenzeit, auf der deutlich auch die Vorkommen im mitteldeutschen Elbegebiet eingetragen sind.
3137 Die Vandalen 2003; Kokowski 2003a; 2020. 3138 Godłowski 1985; Kokowski 2003a, 118 Abb. 23 Silberbecher, Kat. 99; Dąbrowska, Mączyńska 2003. 3139 Die Vandalen 2003, Inhalt des Kriegergrabes, 120 Abb. 3140 Mączyńska 2003b mit Karte Abb. 1. 3141 Łuczkiewicz 2003, 247 Karte.
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Wenn im Band zu den Vandalen von 2003 ein Beitrag zu den Wanderungen der Vandalen, wie sie den Schriftquellen zu entnehmen sind, beigefügt ist,3142 dann ist das durchaus korrekt, weil es diese Quellen auswertet, mit den kartierten Stationen der Wanderung von Norwegen bis zur Donau im Süden, aber dann sollte dieses Bild nicht direkt auf die archäologischen Fundverbreitungen projiziert werden. Wie gesagt, archäologische Kulturkreise wie dieser der Przeworsk-Kultur sind Konstruktionen der Forschung und bilden zuerst einmal nur Kommunikationsbereiche und -netze ab. Wie sie zustande gekommen sind, bleibt zumeist noch unklar (vgl. S. 87). Die Przeworsk-Kultur entwickelte sich schon während der Latène-Kultur im Süden und während der Jastorf-Kultur im Westen.3143 Es gab also Kontakte zwischen Kelten im Süden und Germanen im Westen und führte zu Kulturveränderungen im 3. bis 1. Jahrhundert v. Chr. im heutigen Polen, in Kleinpolen. Die Karten zeigen die Fundstellen der Przeworsk-Kultur aus dem westlichen Teil von Kleinpolen (Bereich Krakau und obere Weichsel), datiert in die Phase A2, in einem Gebiet, wo vorher Siedlungen der Latène-Kultur bestanden haben. Eine Zeittafel bringt die Befunde in den Phasen Latène C2 (125/115) bis Latène D1 (115–60/50 v. Chr.) schon als Niederschlag der Przeworsk-Kultur. Es verwundert, dass in dem zitierten Aufsatz ein hypothetischer Wanderweg der Kimbern und Teutonen kartiert wird, der aber an dem Gebiet der Przeworsk-Kultur westlich vorbei führt, und die Fläche der Przeworsk-Kultur dehnt sich seit ihrem Beginn deutlich nach Süden aus in ehemals keltisches Gebiet, wobei deshalb an eine Koexistenz gedacht wird (gesprochen wird dann von Kelten und Germanen bzw. Vandalen). Dieses etwas verwirrende Bild von Überlappungen, Gleichzeitigkeiten und Ausdehnungen von Kulturgruppen einerseits und andererseits der Verknüpfung mit ethnischen Zuweisungen wie Germanen und Kelten entsteht dadurch, dass ganz unterschiedliche Bereiche ehemaliger Lebenswelten, nämlich archäologisch konstruierte Kulturgruppen und schriftlich überlieferte Völkerschaften unbedingt zusammengebracht werden sollen. Dies ist – wie mehrfach erläutert – ein überholter methodischer Schritt (vgl. S. 58 ff.). Zum Totenritual der Bevölkerung der Przeworsk-Kultur berichtet K. Czarnecka.3144 Kennzeichen sind große, über längere Zeit belegte Brandgräberfelder mit Urnenund Brandgrubenbestattungen, versehen mit reichen Beigaben aus Schmuck, Kleidungsbestandteilen, Waffen und Geräten, überwiegend aus Eisen. Ich nenne einige Gräberfelder, die katalogartig in der Reihe „Monumenta Archaeologica Barbarica“ veröffentlich worden sind:3145 Oblin und Ciebłowice Duże in Südmasowien, Kamieńczyk in Ostmasowien und Chmielów im Śmiętokrtyskie-Gebirge.
3142 Strzelczyk 2003, 208 Abb. 2. 3143 Dulęba 2009, 19 Abb. 4 und 21 Abb. 5, 28 Abb. 10 Ausdehnung nach Süden. 3144 Czarnecka 2003. 3145 Dąbrowska, Mączyńska 2003 mit Verbreitungskarten; Czarnecka 2007; Dzięgielewka, Kulczyńka 2008; Godłowski, Wiechman 1998.
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Die Veröffentlichung von ergrabenen Przeworsk-Elementen der vorrömischen Eisenzeit aus dem Gebiet von Gola bei Jaraczewo, zwischen Posen und Warschau gelegen, 2019 als Erinnerung an Jósef Kostrzewski (1885–1969), bestätigt erneut, dass die Kenntnis zur Entwicklung der Przeworsk-Kultur überwiegend anhand von Gräberfelder gewonnen worden ist und wird.3146 Auch wenn zeitgleiche Siedlungsspuren bekannt sind, geht es vor allem um das Gräberfeld der vorrömischen Eisenzeit der Phase A 1, 2. Jahrhundert v. Chr. und dem 1. Jahrhundert n. Chr. der frühen Römische Kaiserzeit mit 52 Grabkomplexen und darunter 28 gut ausgestatteten Brandgräbern. Keramik, Waffen und Fibelschmuck werden ausführlich ausgewertet. Die frühen Fibeln gehören noch dem Mittel-Latène-Schema an. Vielleicht hat es eine Lücke in der Belegung des Areals kurz vor Chr. von 60/50 v. Chr. bis 10 v./15 n. Chr. gegeben. Insgesamt ist aber dieses kleine Gräberfeld mit dem Übergang zwischen den Kulturen von derselben Siedlungsgemeinschaft rund 300 genutzt worden, die – fassbar über die Sachgüter – in den weitgespannten Rahmen der Przeworsk-Kultur eingebunden war und damit eine repräsentatives kleines, aber gutes Beispiel darstellt. Zu den vorangegangenen Überlegungen passt auch der folgende archäologische Befund, ein Körpergrab aus Niederschlesien.3147 Das Grab lag isoliert in einem Brandgräberfeld der jüngeren vorrömischen Przeworsk-Kultur von Siechnice. Bestattet war ein 30 bis 35jähriger Mann, um 100 v. Chr. Das ist eines der ältesten Fundkomplexe dieser Art als Körpergrab der Przeworsk-Kultur im südlichen Teil von Niederschlesien. Sonst herrschten wie überall regelhaft Brandbestattungen, und nur einzelne Körpergräber kommen vor. Diese werden als Einfluss der Latène-Kultur gesehen, so wurde bisher argumentiert. Aber jetzt dienen andere als ethnische Faktoren zur Erklärung, und es wird von der örtlichen Herkunft bzw. Entstehung der Körpergrabsitte ausgegangen, d. h. dieser Grabbrauch hat sich hier intern unabhängig von äußeren Einflüssen entwickelt. Es gab anscheinend Änderungen in den Lebensund Sterbeumstände, neue religiöse Gründe führten zu neuer Bestattungssitte. Die gesamte Przeworsk-Kultur bildete sich auf der Grundlage der Jastorf-Kultur im westlichen Masowien heraus, und als Grab der Przeworsk-Kultur ist die Bestattung anhand der Beigaben, der Keramikgefäße zu identifizieren. Die Karten zeigen die PrzeworskKultur in Niederschlesien während der frühen Phase der Laténezeit A1 und A2, dann die frühen Körpergräber in der Oksywie- und der Przeworsk-Kultur in der Phase A2 und schließlich dieselbe Karte mit der späteren Phase A3/B1, also den Übergang von der Latènezeit zur Römischen Kaiserzeit.
3146 Grygiel, Grygiel, Stasiak (Eds.) 2019 (auf die früheren Epochen seit dem Mesolithikum bis zur Lausitzer Kultur gehe ich nicht ein), 138 Abb. 99 Karte der Kulturen, so der Oksywie- und der Przeworsk-Kultur zwischen Oder und Weichel während der vorrömischen Eisenzeit und 140 Abb. 100 Karte zur Verbreitung während der frühen Römischen Kaiserzeit, 143 Abb. 102 Verteilungsplan der Gräberkomplexe 1 bis 52. 3147 Dulęba, Konszewska, Konszewski, Szczurowski, Tomaszewska 2018, 363–365 mit Fig. 7 bis 9; auch Grygiel 2015.
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Ein gut aufgearbeitetes Gräberfeld der Przeworsk-Kultur liegt bei Opatów in Kleinpolen, datiert in die Phasen B2 und C1. Kartiert sind der Gesamtplan und die Ustrinen, die Verbrennungsplätze.3148 In derselben Weise sind andere Gräberfelder, beispielsweise Mokra mit den Ustrinen, kartiert.3149 In einer weiteren Arbeit sind alle Gräberfelder, auch Opatów, zusammen kartiert worden.3150 Paläodemographische Studien wurden zu den Gräberfeldern von Opatów3151 und Mokra, Schlesische Woiwodschaft, 2015 nachgeliefert, für die Phasen B2a und C1b (2./3. Jahrhundert), z. B. die zeitlich und chronologisch eng verteilten Funde von Terra Sigillata in den Brandgräbern der Phase C1b (gegen die Mitte des 3. Jahrhunderts). Materialanalyen, beispielsweise an den Schwertern von Opatów, sind andernorts beschrieben worden (vgl. S. 1114). Ein Gräberfeld der Przeworsk-Kultur in Südmasowien wurde bei Oblin erforscht.3152 Ausgrabungen fanden 1978 und 2014 statt. Grabhügel und Steinkreise sind auf einer Fläche von 120 auf 50 m verteilt. Es gibt zahlreiche Grabstörungen, aber die überlieferten Fibeln und zwei Schlangenkopfarmringe (Grab 43) datieren in die Phasen C2/C3. Das Gräberfeld gehört mit den Grabhügeln zu 40 weiteren bekannten Nekropolen dieses Typs. Körpergräber im Bereich der Przeworsk-Kultur in Großpolen sind außerdem anscheinend als Einflüsse aus der Wielbark-Kultur während der Phase B2 (2. Jahrhundert) zu sehen. Ein Fallbeispiel ist das Gräberfeld von Wymysłowo, auf dem als Grab 70 nur diese eine Körperbestattung unter 355 Gräbern vorkommt.3153 Es gibt durchaus weitere Beispiele der Vermischung. Und es gibt weitreichende Kontakte und auffällige Importe. Auf dem Gräberfeld von Zubowice, ausgegraben 1975, wurden einige zu beachtende Funde entdeckt.3154 In einem Brandgrab der frühen Przeworsk-Kultur wurden eine sogenannte K-Fibel (nach J. Kostrzewski) und Waffen, Schildnieten und ein Speer, gefunden; als Besonderheit wird eine Bronzesitula als Urne, in der die Beigaben lagen, gesehen, bedeckt von einer Tonschale. Der Befund sieht aus wie die Mischung von Elementen der Latène-Kultur und der römischen Kultur in der neu gegründeten römischen Provinz im Süden, und wird wieder noch 2017 ethnisch den Bastarnen zugeordnet, und zwar archäologisch der Poieneşti-Lucãşevca Kultur der Latène D1-Zeit, also der späten vorrömischen Eisenzeit. Der Südimport der Situla, so in der Überschrift des Beitrags, spiegelt die sogenannte „Bastarnen Route“ nach Süden bzw. der Import
3148 Madyda-Legutko u. a. 2011, mit 217 Fig. 13 Plan, 219 Fig 14 Plan, 231 Fig. 23 Plan der Ustrinen; 2015. 3149 Madyda-Legutko u. a. 2011, 223 Mokra mit Plan Fig. 16, 232 Fig. 24 Plan der Ustrinen. 3150 Zagórska-Telega 2015, 202 Fig. 1 Karte der Gräberfelder. 3151 Kaczanowski, Rodzińska-Nowak 2015, 224 f. mit Abb. 1 und 2 (enge Verteilung der Terra Sigillata der Phase C1b). 3152 Czarnecka 2007, 249. 3153 Żychliński 2009. 3154 Bochnak, Opielowska-Nowak 2017.
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vom Süden nach Norden legt diese Deutung nahe. Die Situlen und die profilierten Eimer mit eisernem Reifen haben keine Entsprechungen bei Hans Jürgen Eggers und dessen Bezeichnungen römischer Importgefäße, sind also ältere Typen. Diese Situlen und Eimer sind keltische und römische Mischformen und wurden wohl in keltischen Werkstätten gefertigt; es gibt nämlich auch vier verschiedene Gruppen dieser Situlen mit eisernem Reifen. Anhand der Verbreitung der Gürtelgehänge (einer sogenannten Variante 2) in der Przework-Kultur und in Kulturen im Norden und im Elbegebiet bis Böhmen ist ein weitgespanntes Netz der Kontakte abgebildet.3155 Die Standardisierung von Gürtelgehängen der Krieger, an denen Alltagsgeräte aufgehängt wurden, wie Feuerzeuggerät, Messer, Pinzetten, Wetzsteine, während der frühe Römischen Kaiserzeit, hat ein solches Netz geschaffen. Diese Gürtelgehänge kommen im Kriegsbeuteopfer von Illerup Ådal vor und ebenso in der Przeworsk-Kultur in mehreren Form-Varianten. Die Gürtel erscheinen in B1 (bis 50 n. Chr.), am häufigsten waren sie in B2b und C1a (150– 200) in ganz Germanien üblich, jeweils bei der lokalen Elite, manchmal auch in Frauengräbern. Es waren die Kriegerkontakte, die Mobilität der Kriegerverbände, die zu dieser Einheitlichkeit führten. Ein vergleichbarer Typ von Bronzegürteln findet sich von Dänemark über die Weichsel bis weit nach Süden, aber nur wenige am Schwarzen Meer.3156 Diese Beziehung zwischen Germanen, den Leuten der Przeworsk-Kultur, und Sarmaten (oder umgekehrt zu betrachten)3157 dokumentieren allerlei weitere Sachgüter (vgl. S. 897), zum Beispiel auch die Schildbuckel aufgrund ihrer Form. Germanische Schildbuckel kommen im Süden im sarmatischen Milieu vor, als ob frische Einwanderer bis zur Krim in den Krisen und Kriegszeiten dorthin gekommen sind, und zwar in den Phasen B2-C1 (ab 150 bis nach 200), was zwanglos wie anscheinend üblich mit den Markomannenkriegen verknüpft wird. Wieder mahne ich, dass Ereignisgeschichte und Ausbreitung von Sachgütern einfach axiomatisch zusammengesehen werden, ohne dass es eine „innere“ Beziehung geben muss. Beziehungen zwischen Sarmaten und den Leuten der Przeworsk-Kultur gehen schon auf die Zeit zu Beginn der Phase B1 zurück, also sogar etwa schon um 0. Das wird erkennbar am Vorkommen von dreiflügeligen Pfeilspitzen des sarmatischen Typs in Gräbern der Przworsk-Kultur an der mittleren Weichsel westlich von Sandomierz.3158 Während die datierenden Fibeln überall an der Weichsel, in Böhmen und in Mähren vorkommen, konstruieren sich die Fundstellen mit den Pfeilspitzen bei Sandomierz.
3155 Madyda.Legutko 2016b, 71 Fig. 5 Verbreitung der Gürtelgehänge einer Variante 2 in der Przeworsk-Kultur und darüber hinaus, 72 Fig. 6 Variante 3. 3156 Andrzekowski, Madyda-Legutko 2013, 9 Fig. 1. 3157 Istvánovits, Kulcsár 2011; 2013; 2017, 392 Zeittabelle zu Feuerschlageisen des 2. bis 4. Jahrhunderts; Kontny 2016a. 3158 Kontny, Grabarek, Jaskulska 2019, 378 Fig. 11 Karte (Pfeilspitzen) im Vergleich 373 Fig. 9 Karte (Fibeln des Typs A 236 c).
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Im Zuge der allgemeinen Analyse der Verbindungen zwischen der Krim und Skandinavien steuert D. Quast Schmuckvergleiche bei,3159 und zwar aus den Fürstengräbern des 3. Jahrhunderts. Es geht beispielsweise um die goldenen Lunulae in Zakrzów/Sakrau und weiter im Süden in der ungarischen Tiefebene und der Ukraine nahe dem Dnjestr und auf der Krim. Dazu gehören denn auch die mit Filigrandraht und Granulation auf doppelter oder dreifacher Spirale verzierten Fibeln. St. Shabanov fragt bei den mehrfach thematisierten Fundarten wie Gläsern, Schliffbechern und Schalen, ob es sich weiter im Norden um römische Importe oder um germanischen Einfluss handeln würde.3160 Es geht um sarmatisch-germanische Kontakte und um die Krim in den Phasen C2 (200–300) und C2-C3 (bis 310/20–400). Es kommt darauf an, wo denn nun die Gläser hergestellt worden sind, ob es ein Zentrum oder mehrere Werkstätten in verschiedenen Gegenden gegeben hat (vgl. dazu auch S. 1126). Auch anhand der Glasperlen werden diese Fernverbindungen zwischen Dänemark und dem Schwarzen Meer beschrieben, wobei ein Schwerpunkt bei den Funden im östlichen Seeland liegt.3161 Die Zahl der Gräber auf Seeland mit derartigen Perlen ist groß, und eine Verdichtung ist um Ellekilde registriert. Die Glasperlen sind vor allem in den Phasen C1 und C2 aus dem Südosten importiert worden (im 3. und in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts). Eine Änderung fand in der Phase C3 (zweite Hälfte des 4. Jahrhunderts) statt, denn damals begannen Werkstätten in Germanien weniger komplexe Perlen selbst herzustellen (oder hatten sich die Handelsbeziehungen geändert?). Eine Glasscherbe aus Engbjerg Grab 4 diente im Mund als Charonspfennig; und aus Scherben konnten Perlen erschmolzen werden. Zu den Gräbern mit Perlen gehörten Siedlungen mit Gehöften und Langhäusern von Ragnesminde und Stuvehøj (vgl. S. 278). Schließlich dienen auch Vorhängeschlösser zur Beschreibung derselben Fernverbindungen zwischen der Przeworsk-Kultur und der Chernjachov-Kultur bis zum Schwarzen Meer während der späten Römischen Kaiserzeit.3162 Sie sind vor allem in Siedlungen gefunden worden und verbinden Römisches und Germanisches. Die Oksywie-Kultur ist nach dem Gräberfeld von Oksywie im Kr. Gdańsk benannt.3163 Auf diesem Gräberfeld sind 190 Bestattungen der jüngeren vorrömischen Eisenzeit untersucht worden, auf die dann weitere Gräber der Wielbark-Kultur der Römischen Kaiserzeit nachfolgen. Es ist eine Brandgrubengräberkultur, die der Archäologe J. Kostrzewski in den 1930er Jahren so bezeichnet hat. Auch das Gräberfeld von Rondsen/Rządz, Kr. Grudziądz gehört zu dieser Kulturgruppe, das einst von R. Hachmann ausführlich ausgewertet wurde. In Rondsen sind 828 Gräber dokumentiert, darunter auch Gräber der Wielbark-Kultur. In Podwiesk, Kr. Chełmno, sind es über 450 Gräber. Mehrere Bestattungsplätze sind länger belegt als die Oksywie-Kultur 3159 Quast 2011a, 199 Fig. 1 Diagramm. 3160 Shabanov 2013. 3161 Boye, Lund Hansen 2013, 41 Fig. 1 Gräber auf Seeland. 3162 Czarnecka 2013, 77 Fig. 5 Karte. 3163 Dąbrowska 2003.
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gedauert hat, weil sich die Gräber der Wielbark-Kultur der Römischen Kaiserzeit anschließen. Zumeist sind es Brandgruben- und Urnengräber, selten Körpergräber; Beigaben sind außer den Urnen selbst Schmuck und auch Waffen und Geräte. Es sieht so aus, als ob überwiegend, aber nicht ausschließlich Urnengräber männliche und Brandgruben weibliche Bestattungen enthalten haben (zu diesem Problem der nach Geschlechtern getrennt belegten Friedhöfe vgl. S. 851). Die Oksywie-Kultur ist nachhaltig von der Przeworsk-Kultur und der Jastorf-Kultur beeinflusst und weist Beziehungen nach Nordeuropa auf. Die weitreichenden Verbindungen der Leute der Przeworsk-Kultur anhand der Beigaben in ihren Gräbern ist jüngst 2017 erneut beschrieben worden.3164 Es geht um das Gräberfeld Jarnice in Ostpolen, schon im 19. Jahrhundert ausgegraben, und im 20. Jahrhundert ist eine Siedlung der Przeworsk-Kultur dazugekommen. Datiert werden die Bestattungen in die späte vorrömische Eisenzeit und in die frühe Römische Kaiserzeit, und als Vorgänger am Ort werden Leute der Jastorf-Kultur gesehen. Es geht um einige besondere Funde, die 2015 hinzugekommen sind, eine Kugelfibel, ein Ring vom Typ Şimleul Silvaniei und eine Kniefibel Almgren 132. Außerdem gibt es frühe Fibeln mit offenem Nadelhalter der sogenannten Typen K und Typ L-II nach Kostrzewski, die links der Weichsel an der Küste vorkommen, an der unteren Weichsel sowie nach Osten streuen. In demselben Raum sind die bimetallischen Kugelfibeln verteilt, die jedoch außerdem noch auf Bornholm gefunden werden. Beachtenswert ist die Verbreitung der Ringe vom Typ Şimleul Silvaniei mit Varianten, nämlich von der Küste und der Weichsel bis weit nach Süden in den Karpatenbogen. Damit zeichnen sich die weitreichenden Kontakte dieser Bevölkerung nach Norden mit Bornholm und nach Süden bis Dakien ab. Im unteren Weichselbereich, in Ostpommern und Kujawien, haben demnach Handwerker bimetallische und Bronze-Fibeln nach dem Vorbild nordischer Muster gefertigt Auf diesem Gräberfeld bestatten übrigens nacheinander Leute der Oksywie-Kultur, der Wielbark-Kultur in Fortsetzung der Przeworsk-Kultur; somit kommen wieder beide Kulturen an einem Ort gemeinsam vor (vgl. dazu S. 871). Eine polnisch geschriebene Publikation „Extra limites“ aus dem Jahr 2017 bietet zusammenfassende Seminarberichte und Kolloquien zur Römischen Kaiserzeit in Polen mit kurzen Abstracts und Literatur überwiegend zur Przeworsk-Kultur mit beispielsweise den Beziehungen zur Jastorf-Kultur und dem elbgermanischen Kulturkreis sowie zu den Untergruppen wie der Dollkeim-Kovrovo -Gruppe im Samland.3165 Es geht auch um die Serie Monumenta Archaeologica Barbarica zu den Gräberfeldern von Cecele, Grzybnica, Kamieńczyk, Nadkole 2, Netta,3166 Oblin u. a., die in deutscher und englischer Sprache veröffentlicht worden sind und über die von mir ebenfalls berichtet wird. 3164 Andrzejowski, Maciałowicz 2017, 188 Fig. 8 Karte der Fibeln Typ K, 194 Fig. 11 Karte der Kugelfibeln, 231 zum Handwerk. 3165 Bohr, Tesak (Red.) 2017, auch 91 Abb. 1 Karte der Dollkeim-Kovrovo-Gruppe. 3166 Bitner-Wróblewska 2007.
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In Ilischken, Kr. Wehlau, im Bereich der Dollkeim-Kovrovo-Kultur ist ein römischer pugio als Altfund neu bewertet worden. War es die Gabe eines römischen Offiziellen oder Kaufmanns für einen germanischen Adligen in der Zeit des Kaisers Nero (54–68). Der Pugio aus Eisen, dekoriert mit Silber, ist anhand des Archivs von H. Jankuhn wieder entdeckt worden.3167 Die Wielbark-Kultur (früher Willenberg-Kultur) ist etwas jünger als die Przeworsk-Kultur, entstand nach dem 1. Jahrhundert n. Chr. im unteren Weichselraum als Nachfolgerin der Oksywie-Kultur und existierte bis in die Stufen C3/D1 (erstes Drittel des 5. Jahrhunderts) (vgl. unten S. 883). Der Name geht zurück auf das Gräberfeld in Malbork-Wielbark, das in den 1930er Jahre untersucht worden ist. Die Wielbark-Kultur breitet sich in der Mitte des 2.Jahrhunderts (in der Phase B2/C1) aus, erlebt ihre volle Blüte während der zweiten Hälfte des 3. und des frühen 4. Jahrhunderts (C1b-C2) und dehnt sich dann nach Südosten aus. A. Kokowski verbindet die Verbreitung dieser Kultur mit den Goten, wie das früher auch andere Archäologen so gesehen haben.3168 Diese alte Wanderungsthese ist verbunden mit der Frage nach dem Ende der Wielbark-Kultur, das geographisch verschieden zu datieren ist. Die Abwanderung setzte in B2 ein (etwa frühes 2. Jahrhundert). Welcher Bevölkerungsanteil bleibt weiter, oder welche Gruppen siedeln sich im „verlassenden“ Gebiet neu an. Es hat anscheinend in B2/C1 (um 150 n. Chr.) eine Überbevölkerung gegeben, ablesbar an den großen Gräberfeldern. Nach den Markomannenkriegen (?) hat es eine Ausdehnung des Kulturgebietes nach Süden in der Stufe C3 (nach 300) gegeben. Im Vergleich zur Wanderung der Kimbern, die nur rund 20 Jahre gedauert hat und daher archäologisch nicht fassbar ist, scheint die Wanderung der Wielbark-Leute (der Goten?) um die 200 Jahre, also mehrere Generationen gedauert zu haben. War das denn überhaupt noch eine Wanderung? Eine zeitliche Abfolge der typischen Beigaben und Formen der Wielbark-Kultur am Beispiel des Gräberfeldes „Cichego Kącika“ von den Phasen B2b bis C3-D (80–400 n. Chr.) wird hier abgebildet (Abb. 70).3169 Ein anderes Gräberfeld wird in Lirwinki im Gebiet von Nitzica, Woiwodschaft Ermland-Masuren, beschrieben.3170 Es ist schon lange bekannt (auch schon H. Jankuhn). Etwas über 20 Brandgräber mit Fibeln der Phasen B2/C1-C1a (2. bis frühen 3. Jahrhundert) und Fibeln der Typen Almgren 41 und 42, auch Almgren 161–162 sowie 167 bis in die Phasen C1 und C2 (also bis um 300) liegen an diesem Platz. Unter den Beigaben ist sogar ein goldener birnenförmiger Berlock. Ein anderes Grabhügelfeld von Nowy Łowicz, Woiwodschaft Westpommern, mit 66 Grabhügeln und 300 Bestattungen hat als Beigaben Trompetenfibeln ähnlich
3167 Chilińska-Früboes, Kontny 2015–2016, 76 Abb. 4. 3168 Kokowski 2003b, 332 Abb. 6 Verbreitung der Gräberfelder mit Steinkreisen; Kokowski 2020. 3169 Cieślinski 2010b, 212 Abb. 1. 3170 Wożniak 2016; Schmiedehelm 2011, ein weiteres Gräberfeld am Jaskoswska-See der westmasurischen Kultur.
18.2 Gräberfelder der Bevölkerung – ein Auswahlkatalog
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Abb. 70: Abfolge der Beigaben und Formen der Wielbark-Kultur von B2b bis C3-D (80–400 n. Chr.).
des Typs Almgren 77 der Phase B2b (Mitte 2. Jahrhundert) gebracht.3171 Wieder findet man diese Fibeln, kräftig profilierte und mit hohem Nadelhalter, sowohl in der Przeworsk-, als auch in der Wielbark-Kultur. Zusätzlich wird die Verbreitung der Geweihund Knochen-Nadeln in der frühen Phase der späten Römischen Kaiserzeit in der Wielbark Kultur und Masłomęcz Gruppe beschrieben. Wenn es um die Darstellungen des Siedlungswesens der Wielbark-Kultur geht, dann werden eigentlich nur die Verteilungen der Gräberfelder geschildert, weniger Siedlungsstrukturen selbst.3172 Die Beziehungen und Berührungen zwischen der Przeworsk-Kultur, der jüngeren Wielbark-Kultur und der elbgermanischen Kultur im östlichen Böhmen und Schlesien zeigen vielfältige Kontakte.3173 Das ist ablesbar an den Grabsitten, den Waffengräbern und der Keramik auch in den Siedlungen der späten Römischen Kaiserzeit und im Beginn der Völkerwanderungszeit. Es sind nördliche Einflüsse in den Phasen B2/C1, C1 (80–250) und dann in den Phasen C2-D (250–5. Jahrhundert). Die Kontakte aus dem Elbgermanischen sind zur Przeworsk-Kultur stärker als die zur Wielbark-Kultur. Die römischen Bronzegefäße, etwa 68 Exemplare, sind gleichmäßig über das Land verteilt und kommen aus Brandgräbern, und sie decken die Phasen von 1. bis zum frühen 5. Jahrhundert ab.3174
3171 Cieśliński, Kasprzak, Stasiak 2013/2014, 361 Abb. 1: Guter Gesamtplan des Gräberfeldes. 3172 Wożniak 2013, 436 Fig. 1 Verbreitungskarte der Wielbark-Kultur. 3173 Jílek 2009, 270 Fig. 20 Siedlungen in Schlesien. 3174 Jílek 2016, 400 Abb. 1 Karte mit 27 Fundorten, 411 Abb. 11 Chronologietabelle.
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18 Gräberfelder der Bevölkerung und Bestattungen der Eliten
Kennzeichen der Wielbark-Kultur sind birituelle Gräberfelder mit Brandbestattungen und Nord-Süd orientierten Körpergräbern, östlich der Weichsel auch mit Hügeln und Steinkreisen, z. B. von Grzybnica in Pommern.3175 Wegen der Steinkreise, die direkte Analogien in Skandinavien haben, wurde früher eine Einwanderung von dort akzeptiert und diese mit den Goten verbunden Die Gräber sind arm an Beigaben, haben keine Waffen, mit Ausnahme von Sporen. Die Kleidungsbestandteile, die Schmucksachen, sind meist aus Bronze, manchmal aus Silber oder auch aus Gold und nur selten aus Eisen. Große Gräberfelder sind zum Beispiel der namengebende Friedhof Malbork-Wielbark mit 2100 Gräbern oder auch Weklice bei Elbing/Elbląg (mit einem Belegungshöhepunkt in der Stufe C1a/b, spätes 2. und 3. Jahrhundert), später die Friedhöfe von Słopanowo und Kowalewko3176 oder auch von Gronowo in Westpommern.3177 Ein weiteres Gräberfeld der Wíelbark-Kultur von Babi Dól-Borcz im Kreis Kartuzy (Karthaus) westlich von Danzig wird gerade publiziert.3178 Von der Stufe B1a an sind Gräber mit Bronzegefäßen und Gold- sowie Silberschmuck belegt, dazu gehört auch das Grab aus Czarnówko mit dem Bronzekessel, dessen Griffe als Köpfe mit Swebenknoten ausgebildet sind (vgl. S. 48), wie weiter im Süden im „Königsgrab“ von Mušov. Genannt werden kann auch noch das Grab einer „Fürstin“ von Leśno3179 mit zwei römischen Gläsern und üppigem Schmuck. Im Bereich dieser Kultur im Norden gibt es zahlreiche Mooropferplätze mit vorwiegend weiblich verwendeten Sachgütern und meist ohne Waffen, darunter Buszek/Butzke. (Inzwischen sind jedoch auch einige Waffenausrüstungsopferplätze in jener Gegend nahe der Küste publiziert worden, vgl. S. 737). Zur Stufe B2/C1 gehören das Gräberfeld von Cecele und das „Fürstengrab“ von Rudka in der Ukraine.3180 Die meisten reich ausgestatteten Gräber sind Brandbestattungen. Die Hügelgräber dieser Stufe C 2 in Pielgrzymowo / Pilgramsdorf mit goldenem Kolbenarmring sind mit den „Fürstengräbern“ vom Typ Haßleben-Leuna (siehe unten S. 929) zu parallelisieren. In der Stufe D1 erreichen Fibeln und Gürtelteile, verziert im Sösdala-Stil (vgl. unten S. 1229), aus dem Ostseegebiet den Raum der Wielbark-Kultur. Nach dem Ende der Gräberfelder zu Beginn des 5. Jahrhunderts sind nur noch Solidi-Funde bis 518 und Hortfunde mit Goldgegenständen (Halsringe und Goldbrakteaten) bis zum Beginn des 6. Jahrhunderts aus diesem Gebiet belegt. Von den Grabsitten gehören Grabhügel in Masowien noch zu den Wielbark-Leuten.3181 Die Zeitdauer der Besiedlung Masowiens vom 1. bis zum 4. Jahrhundert n. Chr. reflektiert dreimal drei Generationen, und die Wielbark-Leute
3175 Cieśliński 2011; 2013; 2014; Haluła, Wolągiewicz 2001; Wołągiewicz 1995 (Birituelles Gräberfeld von Lubowidz). 3176 Mączyńska 2007 mit Karten. 3177 Machajewski 2012. 3178 Mączynska, Kakubczyk 2017. 3179 Kokowski 2003b, 336 Abb. 8. 3180 Kazanski, Steuer 2003; Kokowski 2001. 3181 Cieśliński 2014; Cieśliński, Rau 2017.
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übernehmen die Waffenbeigabensitte von den Przeworsk-Leuten.3182 Beim Übergang von der älteren zur jüngeren Römischen Kaiserzeit (Stufe B2/C1, 160 bis 200/210) beobachtet die Archäologie eine Differenz zwischen den Kleidungsbestandteilen der Männer und Frauen, was die Grabbeigaben betrifft, auch wenn diese in einem Grabhügel zusammen beigesetzt worden sind. Die Frauentracht ist beständiger, die der Männer fortschrittlicher, schreibt A. Kokowski, und diese ist – in Nachwirkung der Markomannenkriege einerseits und andererseits als Folge der Südostverschiebung der Wielbark-Kultur – vom Westen beeinflusst.3183 Was nun tatsächlich kulturgeschichtlich dahintersteckt, ist sicherlich nicht so einfach zu beantworten, indem man wieder Ereignisgeschichte und archäologische Befunde miteinander vermengt. Für das Gebiet an der unteren bzw. mittleren Oder wird eine Lubusz-Gruppe/ Luboszyce beschrieben,3184 die von A. Kokowski und anderen Archäologen unmittelbar mit einem Ethnikum, den Burgunden, gleichgesetzt wird. Kartiert sind die Gräber mit und ohne Waffen beiderseits der unteren Oder. Im Gräberfeld von Czelin (Zellin), Gryfino C., Platz 23, fand man Stuhlsporen und Sporen vom Typ Leuna. Die Beigaben spiegeln kulturelle Einflüsse an der unteren Oder aus der Przeworsk- und der Wielbark-Kultur, auch gibt es anscheinend elbgermanische Einflüsse; die Waffen haben Vergleichbares in Südskandinavien, so vom Vimose-Illerup-Typ. Schildbuckel des Typs 5 nach J. Ilkjær kommen weit verbreitet vor, überall in Norwegen, in Jütland und im Raum zwischen Elbe und Weichsel. Als Leser dieses Beitrags könnte man fragen, was durch den allgemeinen Vergleich von Typen der Sachgüter samt ihrer Kartierungen, die überall vorkommen, nun als Ergebnis erreicht worden ist: Die folgende Feststellung muss ich sehr häufig treffen; denn fast alle Fibel- und Waffenformen sind trotz aller Präzisierung der Typen regelhaft weit verbreitet und beschreiben durch die Kartenbilder die allgemeinen Kommunikationsnetze in Germanien (vgl. dazu S. 142). Es gibt Gräberfelder sowohl der Przeworsk- als auch der Wielbark-Kultur in Ostpolen, beispielsweise in Krupice.3185 Die nördlichen Nachbarn zur Przeworsk-Kultur (nach alter und weiterhin vertretenen These die Vandalen) im Baltikum, also die Balten,3186 haben auffällige Verbindungen zu den Sarmaten (vgl. S. 893 ff.).3187 Das 2017 neu ausgewertete Gräberfeld von Marienburg, Malbork-Wielbark (namengebend für die Wielbark-Kultur)3188 hat mit mehr als 1430 Bestattungen (heute über 2000) eine breite Basis für weitergehende Deutungen geliefert. Ausgrabungen 3182 Nowakowski 2018; 2020. 3183 Kokowski 2003b, 340. 3184 Rogalski 2015, 82 Fig. 1 Karte und 84 Fig. 2 Karte; Kokowski 2003c, 377 Abb. 1 Karte. 3185 Jaskanis 2005. 3186 Nowakowski 2003b. 3187 Nowakowski 2003a. 3188 Kleemann 2017, 257 ff. mit Abb. 10 und 11; Daszkiewicz, Łuczkiewicz, Kleemann, Kuzioła 2019, 414 f. naturwissenschaftliche Tonanalysen der Keramik, Kennzeichen jeweils für die verschiedenen Phasen und nur wenige fremde Gefäße. Es gibt überwiegend funktionsfähige Kochtöpfe und auch spezielle Grabkeramik.
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fanden von 1927–1936 und von 2008 bis in die Gegenwart statt. Über 700 Gräber oder 50% gehören in die späte vorrömische Eisenzeit, in die ältere und jüngere Römische Kaiserzeit und in die frühe Völkerwanderungszeit (Phasen A1 bis D1). Das Gräberfeld ist durchgängig birituell belegt worden. Rund 25% der Bestattungen während der vorrömischen Eisenzeit waren Körpergräber, 50% während der älteren Römische Kaiserzeit und 80% während der jüngeren Römischen Kaiserzeit, was parallel läuft mit der Zunahme der Zahl der Bestattungen überhaupt. Die Auswertung zeigt den prozentualen Anteil der Körper- und der Brandgräber, der Urnen- und der Brandgrubengräber; eine weitere Graphik bringt die datierbaren Gräber von den Phasen A2 bis D1, die ab B2/C1 zunehmen und in der Phase C2 den Höhepunkt erreichen. Ab der Phase A2 gab es parallel zueinander zwei bestattende Gruppen, also zwei separate Friedhöfe für zwei verschiedene Siedlungsgemeinschaften? Der aponyme Fundplatz der birituellen Wielbark-Kultur im Weichselmündungsgebiet kennt keine Waffenbeigabe. Ein Blick auf die frühen Bestattungen der vorrömischen Eisenzeit, etwa 15%, bewertet die südlichen Einflüsse aus dem keltischen Gebiet und wundert sich über den geringen Beigabenanteil von dort, meist Fibeln und auch Gürtelhaken, trotz der Lage an der wichtigen Nord-Süd-Kommunikationsachse; denn auch in postkeltischer Zeit gibt es Einflüsse aus dem Süden.3189 Als eines der größten Gräberfelder der WielbarkKultur gibt es nun im Stand von 2018 fast 2000 Bestattungen aus einer Epoche von 500 Jahren mit ungefähr 85% der jüngeren Römischen Kaiserzeit., wobei zu Anfang Brandgräber vorherrschen, wenn auch schon – wie oben gesagt – Körpergräber in der Frühphase hinzukamen. Was besagt denn nun die Ähnlichkeit der Fibelformen zwischen Süden und Norden, wenn die sogenannten Schüsselfibeln wie im Süden auch in Polen mehrheitlich aus Eisen hergestellt sind, was wegen der großen Anzahl auf örtliche Werkstätten schließen lässt. Es sieht doch so aus, als ob dieser Typ in ganz Europa vorkommt, sowohl im keltischen Süden als auch im Norden. Das Gräberfeld der Wielbark-Kultur von Odry in Ostpommern hat eine Größe von immerhin 16 Hektar,3190 ist seit dem 19. Jahrhundert bekannt und wurde dann seit 1962 und wieder seit 1974 ausgegraben. Zur Nekropole gehören 29 Hügel, 10 Steinkreise sowie zahlreiche Urnen- und Brandgrubengräber, insgesamt 638 Bestattungen. Sie gehört in den älteren Abschnitt der Wielbark-Kultur in die Phasen B1 bis C1b/C2, aufzugliedern in fünf Gruppen. Es gibt keine Waffenbeigaben und auch wenig Eisen; der Schmuck, Fibeln und Schlangenkopfarmringe sind teils aus Silber. Schon frühzeitig wurden die Steinkreise auf Gräberfeldern dieses Typs aus Schweden hergeleitet und mit Goten in Verbindung gebracht, und man betrachtet sie als Versammlungsorte, ehe in ihnen auch bestattet wurde. Die Abwanderung der Goten soll auch das Ende dieser Gräberfelder bestimmt haben. Doch werden diese unmittelbare Verknüp-
3189 Łuczkiewicz, Kuzioła 2019, 533 zu den Fibeln aus Eisen etc. 3190 Mączyńska 2002, 577 Abb. 82 Gesamtplan mit Datierungen.
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fung mit einem historischen Ethnikum und auch die Herkunft des Brauches aus Skandinavien in Zweifel gezogen. Das Gräberfeld von Czarnówko, Kr. Lębork (Pommern), wurde schon mehrfach erwähnt, und zwar zum Kessel mit den Swebenkopf-Attaschen (vgl. S. 48).3191 Es wurde 1974 bis 2000 untersucht, und weiter bis 2004 waren 443 Gräber entdeckt worden, datiert von der vorrömischen Eisenzeit (der Stufe der frühen Eisenzeit Hallstatt D), über die Oksywie-Kultur der Stufen A2-A3 der jüngeren vorrömischen Eisenzeit und schließlich der Wielbark-Kultur der Stufen B2-C1b (also bis zum Beginn des 3. Jahrhunderts n. Chr.). Die meisten Gräber gehören zur Wielbark- Kultur der Stufen B2 und B2/C1b. Während der Wielbark-Kultur bildeten sich ab der Stufe B2 Herrschaftszentren in der Nachbarschaft heraus, abzulesen an den reich ausgestatteten Gräbern. Grab Nr. 430, ein Baumsarg von 4,30 m Länge, Nord-Süd ausgerichtet, enthielt den bekannten Kessel, außerdem weitere wertvolle Beigaben bei den Füssen, an Schmuck zwei Silberfibeln, eine Bronzefibel mit Gold- und Silberfolie, außerdem einen massiven zweinietigen Stuhlsporn aus Bronze, bronzene Gürtelteile mit Silberbeschlägen. In der Mitte des Grabes fand man den Griff eines Silberbechers, eine bronzene silbertauschierte Riemenzunge und Reste eines Holzbrettchens, weiterhin Fragmente eines gläsernen Fußbechers und eine weitere silberverzierte Riemenzunge. Im Nordteil standen vier Bronzegefäße, ein gewellter Kessel, ein Eimer mit Gesichtsattaschen, eine Kelle und der Kessel mit den plastischen Köpfen. Alle Sachen befanden sich im Baumsarg. Die Zerstörungen und Verstreuungen der Beigaben gehen auf Raubgräber zurück. Der Kessel mit drei Swebenkopf-Attaschen, mit dem Knoten auf der rechten Schläfe, hat oben einen Durchmesser von 28,8 cm und eine von Höhe 17 cm. Die äußere Form der beiden Kessel, auch der von Mušov, ist im 2. Jahrhundert in Germanien unbekannt, doch kommen ähnliche Formen um die Mitte des 3. Jahrhunderts in Gallien vor. Der Vergleich weist auf den Massenfund Neupotz aus dem Rhein hin (vgl. S. 535) mit Westlandkesseln, die ebenfalls in Gallien produziert und von beutesuchenden Alamannen in den Jahren 275–277/278 oder am Ende des ersten Jahrzehnts 284–294 der Regierungszeit Diokletians in der östlichen Gallia Belgica geraubt worden sind. Die Autorinnen zu diesem Gräberfeld bieten eine Verbreitung der Fibel des Typs Almgren V 130 mit Auflagen aus Gold- und Silberfolien, die nur begrenzt beiderseits der Weichselmündungsumgebung vorkommen, was nahelegt, dort ein Werkstattzentrum zu vermuten. Eine weitere Karte zeigt die weite Verbreitung der tauschierten Stuhlsporen, die alte Karten ergänzt. Die mehrfache Beigabe von Stachelsporen in Gräbern kommt übrigens nicht nur in Mušov vor, sondern beispielsweise lagen sieben Stachelsporen in einem reichen frühkaiserzeitlichen Grab der Przeworsk-Kultur in Sandomierz-Krakówka, also auch weiter im Südosten. Beziehungen zwischen dem Niederelbegebiet und der Wielbark-Kultur in der Stufe B2 liest man an den Bronzeschnallen ab. Weitere Gräber in Czarnówko
3191 Mączyńska, Rudnicka 2004; zu den Karten gibt es ausführliche Fundlisten.
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sind ebenfalls reich ausgestattet, zwar sind alle ausgeraubt, aber Reste von Silberbechern und Glasbechern sind dokumentiert, die sämtlich in die Stufe B2b bis C1 (2.und 3. Jahrhundert n. Chr.) zu datieren sind. Dieser Reichtum zweier Generationen spiegelt die Herausbildung eines Herrschaftszentrums. In die Zeit der Markomannenkriege fällt das Ende der „slowakisch-dänischen“ und der Anfang der „dänischen“ Importwelle, so die Autorinnen mit Blick auf die Ereignisgeschichte. In den Stufen B2/C1 und C1a bildete sich auch im östlichen Seeland ein Zentrum heraus, von wo der römische Import südlich nach Pommern gekommen sein könnte.3192 Dann sei der Kessel aber kein römisches diplomatisches Geschenk, sondern die Weitergabe von einem germanischen Herrscher aus dem elbgermanischen Kreis oder aus Südskandinavien an einen Großen in Czarnówko. Die Kartierung der Gräberfelder der Stufe B2-B2/C1-C1a in Pommern, also zwischen Oder und Weichsel und über die Weichsel nach Osten hinaus belegt auch hier die Dichte der Besiedlung; denn sie liegen oft weniger als 10 km nebeneinander. Symbole auf der Karte markieren Gräber mit provinzialrömischen Bronze-, Silber- und Glasgefäßen in der Wielbark-Kultur und den zeitgleichen benachbarten Kulturgruppen (der sogenannten Gustow-Gruppe, der Lubusz- und der Pyrzyce-Gruppe). Die langfristig vom Ende der Stufe B1 bis zur Stufe D belegten Nekropolen mit reichen Bestattungen wie Weklice/Wöcklitz, Krosno/Krossen, Elbląg-Pole, Nowomiejskie/ElbingNeustädter Feld, Malbork-Wielbark/Marienburg-Willenberg und die Gräberfelder in Pruszcz Gdánski/Danziger Praust und der späte Friedhof in C1b bei Połowitte/Pollwitten dienen zur Beschreibung der Siedlungsgeschichte.3193 Nach „Auswanderung“ der Träger der Wielbark-Kultur aus West- und Ostpommern am Ende der Stufe B2/C1 oder während der Stufe C1a änderte sich das Bild. Anzumerken ist von mir, dass die Besiedlungsgeschichte (nur) anhand der Gräberfelder geschildert wird, also anhand der Grabsitte, des Totenbrauchtums. Bei Ausgrabungen 2010 wurde nun noch ein Grab des 5. Jahrhunderts entdeckt, in der Mitte der Körpergräber des 2. Jahrhunderts gelegen. Es hatte als Beigaben vier Bronzefibeln, zwei Eisenmesser und einen Fingerring aus Bernstein. Die Fibeln sind hier ungewöhnlich und weisen nach außen, so über die Ostsee.3194 Ein kleines Gräberfeld der Wielbark-Kultur bei Pollwitten (Polowite, pow. Morąg) nahe dem ehemaligen Allenstein (heute Olszyn)3195 wurde 1925–1930 erforscht. Reiche einheimische und römische Ausstattungen fallen auf, die vor allem schon von Hans Jürgen Eggers veröffentlicht worden sind. Das Gräberfeld wurde in der Phase B2/C1 im 2. Jahrhundert angelegt und endet schon in C2 gegen 300; erwähnenswert sind eine silberne Rosettenfibel mit Goldbeschlag und 12 Glaskelche sowie an Bronzegefäßen Kelle und Sieb. Körpergräber, teils in Baumsärgen, überwiegen neben Brandgräbern. 3192 So nach Lund Hansen 1997 und 1995. 3193 Okulicz 1989 (1991). 3194 Kasprzak 2014 Abstract zum 65. Sachsensymposium in Warschau. 3195 Cieśliński 2003.
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Im Unterschied zu benachbarten Gräberfeldern stehen die römischen Importe bei diesen Friedhöfen im Vordergrund der Auswertung, was zum Vergleich mit den Elitegräbern im Ostseeraum wie Valløby auf Seeland angeregt hat. Verglichen wird mit der dänischen Welle innerhalb des römischen Importstroms, der aus den westlichen Provinzen des Römischen Reichs den Norden über den Seeweg erreicht hatte und von den Inseln ins Gebiet der Wielbark-Kultur über die Weichselmündung gelangt sein soll. Vielleicht ist das ein instruktives Bild für den innergermanischen Warenaustausch im Rahmen des Geschenkewesens. Das Gräberfeld von Cecele, Wojewodschaft Białystok, wurde von der jüngeren vorrömischen Eisenzeit bis zur jüngeren Römischen Kaiserzeit belegt, bis um 400 oder dem frühen 5. Jahrhundert. Es wurde in den Jahren von 1966 bis 1970 vollständig ausgegraben und war damals das größte und repräsentativste Gräberfeld der WielbarkKultur.3196 Dokumentiert sind über 1100 Bestattungen und 8 Stein-Hügelgräber. 90% waren Brandgräber, die fast alle nicht mit einer Urne ausgestattet waren, sondern nur Scheiterhaufenreste in Gruben waren; außerdem gab es 58 Körpergräber der Stufe C. Nach einigen Gräbern der Przeworsk-Kultur gehört die Mehrzahl der Bestattungen zur Wielbark-Kultur der späten Römischen Kaiserzeit. Die anthropologische Untersuchung hat ergeben, dass 50% der Verstorbenen zu den Altersklassen Infans I und II gehören, 20% waren erwachsene Frauen und nur 12% erwachsene Männer. Die Hügel aus Steinen hatten einen Durchmesser von 14 bis 17 m mit einem inneren Steinkern, der im Durchmesser 7 bis 10 m und 1 m Höhe betragen hat. In ihnen fand man – wiederum urnenlose – Brand- sowie Körpergräber. Allgemein gehörten zu den Beigaben Schmuck zur Kleidung, Fibeln, Schnallen, Perlen und Anhänger, außerdem Kämme und Spinnwirtel, sowie an Geräten Nähnadel, Messer, Rasiermesser, Schere, Pinzette, die aus Bronze sind; ehemals vorhandene Glasgefäße sind nur als Schmelzreste überliefert. Das Gräberfeld von Jartypory in Ostpolen ist der größte Friedhof der WielbarkKultur im östlichen Bereich und bietet 400 Brand- und Körpergräber der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts bis zum 4. Jahrhundert. Eine Karte veranschaulicht die Lage in Rahmen der Wielbark-Kultur zur Phase C1b-C2, also um 250 n. Chr.3197 Herausragend ist das Frauengrab 269, das zwar beraubt ist, aber noch einige bedeutende Beigaben enthalten hat, darunter einen emaillierten Bronzebecher3198 mit Deckel, einen Dreilagenkamm und einen Griff aus Silber mit Niello-Dekor sowie Fibeln der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts.3199 Der Ausgräber deutet die Bestattung als die einer Ausnahmefrau in diesem Gräberfeld, einer der „Wahrsagerinnen“, wie sie auch andernorts entdeckt worden sein sollen. 3196 Jaskanis 1996; Godłowski 1981, 355 mit Plan einschließlich der Hügelgräber. 3197 Andrzejowski 2011, 185 Fig. 1 Karte. 3198 Andrzejowski 2011, 191 Fig. 9 Karte dieser emaillierten Sachen links des Rheins und auf den Britischen Inseln sowie der Funde in Germanien. 3199 Andrzejowski, Rakolski 2016, 313 Fig. 6 Verteilung der emaillierten Becher, vor allem auf den Britischen Inseln.
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Über ein weiteres erwähnenswertes Gräberfeld der Wielbark-Kultur von Babi Dól-Borcz ist jüngst 2017 berichtet worden.3200 Die Besiedlungskonzentration an der unteren Orzyc, einem Nebenfluss der Narew nördlich von Warschau und jenseits der Weichsel mit einigen Dörfern und drei Gräberfeldern gehört in die jüngere vorrömische Eisenzeit und die Römische Kaiserzeit. Die Bestattungen sind der Przeworsk- und dann der seit der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts einwandernden Wielbark-Kultur zuzuweisen. Die Gräber der Wielbark-Kultur haben Beigaben, die Fernkontakte belegen, darunter eine Rosettenfibel (aus einem Brandgrab?), wie sie vor allem auf den dänischen Inseln und auf Gotland üblich waren. Nach Norden weisen auch Fibeln mit hohem Nadelhalter und trapezförmigem Fuß, und Kontakte zum Schwarzmeergebiet spiegeln Glas- und Steinperlen.3201 Das oben schon erwähnte Gräberfeld der Wielbark-Kultur bei Weklice, 12 km von Elbing/Elbląg entfernt, nahe der Unterweichsel, ist seit dem 19. Jahrhundert bekannt und wurde in Phasen von 1984 bis 1998 und weiter bis 2008 ausgegraben; und es folgten noch Grabungen in den Jahren 2015/2016.3202 Es ist das größte biritelle Gräberfeld der Wielbark-Kultur, belegt vom 1. bis zum 4. Jahrhundert. Auf einer Fläche von 2,2 Hektar wurden über 550 Gräber freigelegt (die Anzahl ist, da laufend weiter gegraben wird, noch vorläufig). Die Mehrheit bilden Körpergräber, oft sehr gut ausgestattete Frauengräber in Nord-Süd-Lage, selten West-Ost ausgerichtet. Einige Gräber hatten Särge in Bootsform. Die meisten der Brandgräber sind Urnenbestattungen, wobei die Beigaben nicht mit verbrannt worden sind. Datiert werden die Gräber in die Phasen B2a bis C2 (von 70–100 n. Chr. bis 260–300), und eine Gliederung der Belegung in fünf Phasen ist erarbeitet. Das Gräberfeld wurde also vom 1. bis zum 4. Jahrhundert belegt. Von diesem Friedhof stammen die ältesten scheibengedrehten Tongefäße der Wielbark-Kultur, datiert in die Phase B2/C1 (um 200). Als weitere Brandbestattungen gibt es Grubengräber, wobei die Überreste direkt in der Erde vergraben wurden, Scheiterhaufenreste wurden manchmal mit ins Grab geschüttet. Nach den anthropologischen Untersuchungen wurden mehrheitlich Frauen hier bestattet. Die Särge waren aus Buchen- oder Eichenholz. Manche Gräber waren oberirdisch durch eine Stele markiert. Als Besonderheit sind Bootsgräber zu nennen, die die besten Parallelen auf Bornholm haben. Zu den Beigaben zählen Sporen (aber keine Waffen). Die mehr als 3000 Ausstattungsstücke bestehen mehrheitlich aus Bronze, aber auch Silber und Gold kommen vor. Eisen ist selten, wurde nur für Geräte und Gürtelbeschläge verwendet. Es gibt Schmuck aus Bernstein; außerdem Glas- und Bronzegefäße sowie
3200 Mączyńska, Kakubczyk 2017. 3201 R. J. Prochowicz 2014, Abstract zum 65. Sachsensymposium; Ziemlińska-Odojowa 1999 zum Gräberfeld von Niedanowo mit Bestattungen der beiden Kulturen, der Przeworsk- und der Wielbark-Kultur. 3202 Okulicz 1989 (1991); Natuniewicz-Sekula, Okulicz-Kozaryn 2006; 2008; 2011; Kasprzyka, Stasielowicz 2008; Natuniewicz-Sekula 2015–2016, 240; neu jetzt Bericht 2014 im Abstract auf dem 65. Sachsensymposium in Warschau.
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Glasperlen römischer Herkunft. Beachtenswert ist eine Scheibenfibel mit den Porträts der Kaiser Marc Aurel (161–180) und des Lucius Verus (161–169). Hinweise auf ein gut ausgeprägtes Goldschmiedehandwerk sind publiziert.3203 Makroskopische und chemische Untersuchungen haben die kostbaren Beigaben dieses Gräberfeldes analysiert (vgl. auch S. 496). Da bisher keine Siedlungen mit Hinweisen auf das Goldschmiedehandwerk bekannt geworden sind, muss dieses Gräberfeld der WielbarkKultur als Basis für das Handwerk des 2./3. Jahrhunderts dienen. Zwei reiche Frauengräber von Weklice3204 mit römischen Importsachen sind schon 2008 besonders beschrieben worden. Es sind die Körpergräber 208 (darin lag die Scheibenfibel mit den Kaiserporträts) und 495, datiert in die Phase B2/C1 bzw. C1a (spätes 2. Jahrhundert n. Chr.). Grab 208 war 3,60 m lang und 1,20 m breit, darin stand ein Sarg. Zur Kleidung gehörten zwei identische Silberfibeln, eine weitere silberne Fibel, zwei Armreifen mit schildförmigen Enden aus Silber, zwei weitere Armreifen aus Silber mit aufgesetzten Kapseln, die mit Granulation und Filigran verziert sind, ein S-förmiger Schließhaken aus Gold und zwei konische goldene Perlen. Zu den importierten Schmucksachen gehören die Scheibenfibel mit den Kaiserporträts und eine Gürtelschnalle und eine Riemenzunge aus Bronze. An Importgefäßen standen im Grab eine reliefverzierte Terra Sigillata-Schale, in der ein Kantharos aus Ton lag, und ein gewellter Bronzekessel mit Henkel (Eggers 48). Grab 495 war immerhin 3,70 m lang und 1,5 m breit, worin ein Sarg stand. Zur Kleidung gehörte eine bronzene Fibel mit hohem Nadelhalter und verziert mit PseudoGranulation, Nadeln, einige Bernstein- und Glasperlen. Nahebei standen ein hölzernes Gefäß mit Bronzeschloss und dabei ein Schlüssel aus Bronze. An Importgefäßen standen im Grab außerdem ein Weingeschirr, aus Bronze eine Kasserolle (Eggers 142) (mit Ornament am Griff und der Inschrift TALIO.F) sowie Kelle und Sieb und zwei identische Glaspokale, die höchst selten in Germanien sind. Zur Kasserolle mit der Inschrift Talio fecit gibt es Parallelen in England, Süddeutschland, Italien und Rumänien. Der Hersteller in Gallien ist an den Anfang des 2. Jahrhunderts zu datieren. Was die Herkunft dieser römischen Importe angeht, so bleibt die Antwort offen: Entweder kamen die Sachen aus dem Westen und über die Ostsee oder von Süden über die Bernsteinstraße. Es lohnt sich, einzelne spezielle Sachen, beispielsweise „rätselhafte Beschläge“ aus Weklice und benachbarten Gräberfeldern speziell zu behandeln.3205 Es sind prachtvolle Gürtel mit scharnierförmigen Beschlägen wie im Grab 150 von Weklice, die vor allem nahe der Ostseeküste vorkommen. Tabellarisch werden diese speziellen Beigabenkombinationen aus einem Dutzend Gräber aufgelistet, datiert in die Phasen C1b/C2, also 3. Jahrhundert n. Chr. 3203 Natuniewicz-Sekula 2017. 3204 Natuniewicz-Sekula, Okulicz-Kozaryn 2008, 234 Fig. 3 (Grab 208 mit Lage der Beigaben), 251 Fig. 9 (Grab 495 mit Lage der Beigaben). 3205 Reich, Juga-Szymańska 2015, 551 Abb. 2 Karte mit Muster, 562 Abb. 11 Tabellen mit der Beigabenkombination.
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Wie beim Gräberfeld von Weklice mit einem deutlichen Frauenüberschuss ist ebenso ein Männerdefizit auf anderen Gräberfeldern der Wielbark-Kultur zu registrieren.3206 Aufgefallen ist dieses Faktum in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts bei Gräberfeldern in Masowien rechts der Weichsel (z. B. in Sarnaki, Brulino-Koski, Kłoczew), sodass sogar angenommen wurde, hier gebe es Frauengräberfelder. Dieses ungleiche Verhältnis der Geschlechter ist inzwischen an rund 40 Gräberfeldern erkannt worden, vor allem fehlen junge Männer (iuvenis und adultus). Die Erklärung ist noch offen: Lag es am Bestattungsritus, sind die Männer andernorts begraben worden, sind sie abgewandert, im Krieg geblieben? Vergleichbarkeiten reichen von diesen Kulturen des Nordens bis zu Gräbern der Chernjachov-Kultur im Süden. Die Verbreitung beispielsweise der doppelschlaufigen Gürtelschallen reicht vom Weichselmündungsraum der Wielbark-Kultur bis weit nach Südwesten in die Chernjachov-Kultur. Offen ist, wo diese Objekte hergestellt worden sind, sind sie von Nord nach Südwesten oder umgekehrt verbreitet worden, wie auch vermutet wird. In Pommern bei Gotelp, westlich von der Weichsel sind anscheinend tatsächlich welche hergestellt worden.3207 Es gibt Bügelknopffibeln in Brand- und Körpergräbern, Zwiebelknopffibeln, Sporen vom Typ Leuna in Brandgräbern. Darauf kann andernorts noch eingegangen werden (vgl. S. 893).3208 Ausführlich wird in der Reihe „Barbaricum“ zu Światowit Supplement Series B (Warszawa) über die Grabungen in Gräberfeldern und Siedlungen sowie zu verschiedenen Sachgütern wie Fibeln, Keramik und römischen Importen berichtet.3209 Der Beginn von römischen Einflüssen ist im 1. Jahrhundert n. Chr. nördlich in der sogenannten Memelkultur zu fassen, nicht zuletzt über die Formen der Augenfibeln (vgl. dazu S. 103).3210 Dazu gehören auch frühkaiserzeitliche Trensen in der Przeworsk-Kultur, beispielweise der Fund von Malkowice, Staszów Distrikt.3211 Obwohl die römischen Importe weiterhin selten sind, gibt es römische Email-Fibeln, so von Kirpehnen, aus der Phase B2, dem 2. Jahrhundert.3212 Aus der Phase B1/C1, also der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts, ist ein römisches Bronzekästchen aus dem Przeworsk-Gräberfeld von Lachmirowice, Distrikt Inowrocław, veröffentlicht.3213 In den Formen westlich beeinflusst sind die Gürtelschnallen mit langer Nadel und rechteckigen Beschlägen aus Gräbern der Przeworsk-Kultur, wovon rund 85 Exemplare katalogisiert worden sind, datiert von der Phase A1/A2 der späten vorrömischen Eisenzeit bis in die Phasen B1 und B2b der Römischen Kaiserzeit, wobei die häufigs-
3206 K. Skóra 2014, Abstract zum 65. Sachsensymposium in Warschau. 3207 Cieśliński 2014, 337 Fig. 2 Karte. 3208 Schultze, Lyubichev 2017, 279 Fig. 4 bis 287 Fig. 14 mit den Vergleichsfundsachen. 3209 Beispielsweise Barbaricum 11, 2015. 3210 Banytė-Rowell 2015, 46 Fig. 4. 3211 Bochnak, Warowna 2015. 3212 Chilińska-Früboes 2015, Abb. 1. 3213 Czarnecka 2015, 124 Abb. 1 und 127 Abb. 3 (Rekonstruktion).
18.2 Gräberfelder der Bevölkerung – ein Auswahlkatalog
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ten in die Phase B1 und B2a gehören (also ins 1. bis 3. Jahrhundert). Diese Schnallen spiegeln die Kontakte der Przeworsk-Kultur nach Süden und Westen seit der vorrömischen Eisenzeit.3214 Ebenfalls sozialgeschichtlich auszuwerten sind die Grabbeigaben von Sporen, sogenannter Stuhlsporen, teils mit Silberdrahteinlagen, als Zeichen höheren Prestiges, da die Waffenbeigabe in der Wielbark-Kultur nicht üblich war. Auf dem Gräberfeld von Czarnówko, Distrikt Lębork, lagen in immerhin acht Gräbern vierzehn derartige Sporen, meist datiert in die Phase B2/C1 (2./3. Jahrhundert).3215 Von diesem Gräberfeld stammt der Kessel mit den Attaschen aus Köpfen mit Swebenknoten und außerdem eine Bronzekanne Eggers 125 aus dem Körpergrab 872, datiert in die Phase B1b (zweite Hälfte 2. Jahrhundert) (vgl. oben S. 887). Deren Verbreitung von den dänischen Inseln bis Mähren zeigt wie die Silberbecher, dass diese römischen Bronzegefäße jede Gegend in Germanien erreichen konnten, wobei diesmal nur auffällt, dass alle Vorkommen von der Elbe aus nach Osten liegen.3216 Das Gräberfeld mit 1500 Körpergräbern und Urnen (bis2010) ist eines größten der Oksywie- und Wielbark-Kultur. Ein schon vor Jahrzehnten untersuchtes Gräberfeld bei Lipówka (ehemalig Lindenau) ist zugleich der am weitesten nördlich gelegene Siedlungsplatz der späten vorrömischen Eisenzeit der Przeworsk-Kultur.3217 Die Belegung des Gräberfelds reicht bis in die Phase B2 der Römischen Kaiserzeit (2. Jahrhundert). Auffällig sind die frühen Fibeln der Mittel-Latèneformen, aber mit eigenen nördlichen Handwerkstraditionen. Derartige Fibeltypen kommen mehrfach in Masowien vor, darunter auch die andernorts erwähnten Fibeln der Variante I nach J. Kostrzewski (allg. S. 113 ff.), verwandt mit den sogenannten Rechteckfibeln als späteste Typen der Fibeln des Mittel-LatèneSchemas, wobei wiederum Werkstatteigenheiten für die Herstellung im Weichselgebiet sprechen, bzw. dabei zeigt die jeweils konzentrierte Verbreitung von speziellen Fibelformen den Einflussbereich von Werkstätten oder mobilen Handwerkern oder einfach Kommunikationsareale.
18.2.5 Fernbeziehungen zwischen Skandinavien und dem Südosten bis zur Krim Zur allgemeinen These der Wanderung der Goten als Träger der Wielbark-Kultur nach Südosten, wo dann die Chernjachov-Kultur die Goten repräsentieren soll, und ins Gebiet nördlich des Schwarzen Meeres gibt es eine kaum noch zu übersehene
3214 Iwanicki 2015, mit Katalog und Abb., z. B. 182 Abb. 6 oder 185 Abb. 8. 3215 Kasprzak 2014, 270–272 mit Abb. 3 bis 6. 3216 Kasprzak 2016, 325 Abb. 4 Kanne, 327 Abb. 5 Verbreitungskarte mit 18 Nr., 323 Abb. 1: Die Karte der Gegend von Czarnówko zeigt eine außerordentliche Besiedlungsdichte!. 3217 Maciałowicz 2015, 414 Abb. 1 Karte der Przeworsk-Kultur mit dem Fundort Lipówka, 427 Abb. 111 Karte der Rechteckfibeln mit Konzentrationen beiderseits der unteren Elbe (Jastorf-Kultur), in Pommern und an der unteren Weichsel sowie an der Narew und auch in Jütland mit anderer Ausführung.
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Literatur von archäologischer Seite. Sie wird hier noch einmal zusammenfassend zitiert. Die Tagungsberichte in den Bänden „Inter Ambo Maria“ von 2011 und 2012 bündeln diese Studien. Ähnlich ist es mit den Beziehungen zwischen der Ostsee, dem Baltikum und den Sarmaten in Pannonien, die ebenfalls fast ausschließlich über Wanderungen erklärt werden. Anhand von verschiedenen Sachgütern werden derartige Verbindungen beschrieben.3218 Sogenannte Feuerschlageisen des 2./3. Jahrhundert und noch des 4. Jahrhundert gibt es in der Przeworsk-Kultur und etwas später im Sarmatischen nach den Markomannenkriegen (warum wird darauf verwiesen?) für 100 Jahre, dann sind sie wieder verschwunden. Es gibt sie jedenfalls nicht mehr im 4./5. Jahrhundert. Auf welche Weise verbreiten sich diese Feuerschlageisen von der Przeworsk-Kultur nach Ungarn, über Wanderungen von Leuten? Es geht um sarmatische und germanische Verbindungen, so lautet der Aufsatz, der somit vom Süden nach dem Norden blickt. Vielfältig sind somit die Kontakte zwischen den Sarmaten und der Bevölkerung der Przeworsk-Kultur.3219 Es sind regelmäßig die Kartenbilder zu verschiedenen Sachgruppen, die vergleichbare Fernbeziehungen zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer abbilden. Von Seeland über das Weichselmündungsgebiet und weiter über Pannonien bis zum Schwarzen Meer finden sich sogenannte Amulettkapseln, datiert in die Phase B2 bis C1/C1a (80–220 n. Chr.).3220 Die Einflussrichtung ist auch umgekehrt zu betrachten. Die Eimer-Berlocks und die birnenförmigen Berlocks der spätrömische Phase des 2. und frühen 3.Jahrhunderts sind ebenfalls zwischen dem Schwarzen Meer, dem Gebiet der Sarmaten und Skandinavien verbreitet.3221 Dasselbe Bild bietet die Kartierung der kugelförmigen und durchbrochenen Anhänger,3222 darin ist ein Kontakt zwischen Germanen und Sarmaten von Skandinavien bis zur Krim abgebildet (oder die Einflussrichtung ist umgekehrt zu sehen). Derartiger Schmuck kommt im Moor von Illerup vor, also in Jütland, und auf der Krim sowie in Ungarn. Die Autoren sehen den Hintergrund für diese weiten Kontakte in einer Elite von Kriegern. Sie nennen den Schildbuckel von Herpaly in diesem Kontext (vgl. S. 1193) und sehen einen direkten sarmatischen Einfluss bis nach Thorsberg und Vimose von der Pannonischen Tiefebene aus. Der Schild im Elitegrab von Herpaly gehörte eben keinem germanischen, sondern einem sarmatischen Krieger. Auch das Grab von Geszteréd hat Analogien in Thorsberg. Die Verbindungen zwischen der skandinavischen und der sarmatischen Elite verliefen nicht nur in einer Richtung. Während der Stufe bzw. Phase C1 (2./3. Jahrhundert) scheint es zu Begegnungen in der ungarischen Tiefebene gekommen zu 3218 Istvánovits, Kulcsár 2017. 3219 Dobrzańska 2001. 3220 Czarnecka 2010, 233 Abb. 2 Karte. 3221 Droberjar 2011a. 3222 Istvánovits, Kulcsár 2011,85 Fig. 5, 67 Fig. 7 Grab von Geszteréd; auch dieselben 2017.
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sein, was sich in den Gräbern von Geszteréd, Tiszalök, Herpály im Süden und in den Mooren von Thorsberg und Vimose spiegelt; ein Beleg für Kriegszüge quer durch Europa. Anhand der Glasfunde und bestimmter Fibelformen erläutert Ulla Lund Hansen diese Fernkontakte3223 des 3. bis 5. Jahrhundert zwischen Skandinavien und dem Schwarzem Meer. Es sind Gläser aller Art aus dem Süden, vor allem die Facettschliffgläser, die bis weit in den Norden gekommen sind. Genannt werden die Gläser aus den Elitegräbern Sejflod, Engbjerg, Brøndsager, Varpelev und Himlingøje, sowie Scherben dieser Gläser von Sorte Muld und Uppåkra. Speziell beschrieben wird das Grab von Rudka in der Ukraine mit seinen Beigaben. Außerdem geht es um die sieben Gruppen von Rosettenfibeln, eindeutig südskandinavische Produkte, von denen auch welche ganz im Süden, östlich der Flüsse Pruth, Dnjestr und Bug vorkommen. Die vielfach abgebildete und auch in diesem Buch mehrfach beschriebene Rosettenfibel mit Runeninschrift von Skovgårde bestätigt die Herkunft aus dem Norden Germaniens; zumindest ist die Inschrift im Norden eingeritzt worden. Bemerkenswert ist die große Zahl der Becher mit ovalen Schliff-Flächen, die weit aus dem Süden die Länder an der Ostsee erreicht haben – wie mehrfach angesprochen –, allein die Schliffbecher mit weiter Öffnung3224 gibt es zahlreich an der Ostseeküste und auf Seeland sowie auf Bornholm. Die verschiedenen Typen 1–3 sind auf die Phasen C1b (nur Typ 3), dann C2 und C3 und D (250 bis frühes 5. Jahrhundert) gleichartig verteilt. Umgekehrt gesehen werden die Kontakte der Leute der Chernjachov-Kultur von der Krim nach Skandinavien beschrieben.3225 Es sind ebenfalls die Kowalk- Gläser im Vergleich mit der Drehscheibenkeramik der Chernjachov-Typen auf der Krim. Einige Forscher denken, so der zitierte Autor, dass es eine direkte Wanderung vom südlichen Norwegen direkt zur Krim gegeben habe, wegen einiger „fremder“ Brandgrabsitten auf der Halbinsel. Doch es überwiegen dort die lokalen Grabsitten, und erst später könnten tatsächlich einige Goten hinzugekommen sein, ablesbar an den Frauengräbern mit Adlerkopf-Fibeln und einem Paar sonstiger großer Fibeln. Fernbezüge dieser Art werden in den verschiedensten Material- und Befundgruppen beobachtet und geschildert. Zwischen dem pontischen Gebiet und Skandinavien, dargestellt am Beispiel von Gräberfeldern im Süden und Varpelev auf Seeland im Norden. Datiert in die Phase C2 (250/260–300/320 n. Chr.) sind die Verzierungen der Schnallen in den Beigaben zu vergleichen. Sie stehen in den genannten Komplexen in römischer Tradition und seien Nachahmungen „auf der Anordnung barbarischer Anführer“.3226 Aber damit sei keine direkte pontisch-skandinavische Beziehung im späten 3. und 4. Jahrhundert belegt, sondern nur ein römischer Kul3223 Lund Hansen 2011c, 146 Fig. 12 a, b Grab von Rudka (vgl. S. 884) mit den Beigaben in Farbe, 148 Karte der Rosettenfibeln; auch Lund Hansen, Przybyła 2010. 3224 Vasil’yev 2013, 429 Fig. 4 Verbreitung der Becher, 430 Fig. 5 Typentafel. 3225 Magomedov 2011, 177 Fig. 1 Karte der Kowalk-Gläser, 182 Deutung. 3226 Kazanski 2011, 98.
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tureinfluss in beiden Gegenden. Aber trotzdem gab es Beziehungen zwischen diesen beiden geographischen Räumen, wie anderweitig vielfach belegt. Das Problem bleibt der Charakter dieser Beziehungen. Oft wird davon ausgegangen, dass germanische Stämme aus dem Norden in der spätrömischen Epoche auf der Krim eingedrungen sind.3227 Es gibt Vergleichbares zwischen den Gräberfeldern der Chernjachov-, Wielbark- und Przeworsk-Kultur und den Gräberfeldern auf der Krim und sogar denen in Skandinavien. Doch die Gräberfelder auf der Krim kombinierten germanische, griechisch-römische und sarmatische Artefakte in den Beigabenausstattungen, und deshalb wären es die einheimischen Bevölkerungen und keine neuen Leute, die in den Gräbern zu finden sind. Offen bleibt dann nur, wie diese Fernbeziehungen zustande gekommen sind, wenn es sich sogar wie im Gräberfeld von Neyzats, 20 km östlich von Simferopol auf der Krim, um germanische Waffen wie Schildbuckel und Schwerter sowie Kämme, aber auch um südliche Schliffgläser handelt. Beeinflusst die Chernjachov-Kultur die Bevölkerung auf der Krim? Die dauerhaften Nutzungen von Verkehrsachsen kreuz und quer über den Kontinent lassen sich anders als Wanderungen oder zeitlich enge politische Ereignisse viel häufiger in der Verbreitung des archäologischen Sachgut erkennen. Noch einmal sei der Blick auf einige Kartierungen geworfen, die unterstreichen, dass die Verbindungen von der Ostsee weit nach Südosten eine beständige Fernbeziehung als Handelsund Kommunikationsroute waren, einen Verkehrskorridor bildeten. Weiter oben habe ich als Beispiel auf die sogenannten Feuerböcke hingewiesen, die in Norddeutschland nahe der Ostsee und weit im Süden am Schwarzen Meer vorkommen (vgl. S. 100).3228 Aber auch bestimmte Typen von Gürtelteilen zeigen dieselbe weite Verteilung; oder Typen der Riemenzungen kommen zwischen den dänischen Inseln, Polen und bis zum Schwarzen Meer vor,3229 ebenfalls auch ein Sachgut wie einfache Hängeschlösser. Von der Ostsee nach Südosten findet man erst wenige, dann nach Süden zunehmend viele Knopfsporen, Trinkhörner oder Peitschen.3230 Diese germanisch-sarmatischen kulturellen Beziehungen an der Wende von der älteren zur jüngeren Römischen Kaiserzeit werden vielfach untersucht (vgl. dazu auch ein Kapitel unten S. 1084).3231 Es geht dabei auch um die Verbreitung der Prunkfibeln mit bis zu drei Spiralen, für die es Gussformen auf der Kommunikations-Achse gibt, z. B. in Porolissum.3232 Die Verbreitung reicht von Neunheiligen bis Porolissum, von Mitteldeutschland bis in die Ukraine. Über Glasgefäße als römischer Import oder Produktion unter germanischem Einfluss, über die sarmatisch-germanischen Kontakte, ablesbar an den Facettschliff-
3227 Khrapunov 2011, 107; 2012 Gräberfeld von Neyzats. 3228 Steuer 1994d; Babeş 2003, 233 f. Abb. 47 und 48; Holsten, Mädel 2014. 3229 Andrzejowski, Madyda-Legutko 2013, 9 Fig. 1 Karte. 3230 Radyush 2013, 319 Fig. 1 Karte der Knopfsporen in Osteuropa. 3231 Tejral 2003. 3232 Cociş, Bârcă 2014.
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gläsern, wurde schon gesprochen (vgl. oben S. 880). 3233 U. Lund Hansen hat daher die Beziehungen zwischen Sarmaten und dem südlichen Skandinavien beschrieben,3234 und M. Mączyńska hat die weite Verbreitung der sogenannten „sarmatischen“ Fibeln in Mittel- und Osteuropa geschildert.3235 Es geht um Fibeln mit hohem Nadelhalter, wie sie auch im Hortfund von Łubiana vorkommen, und deren Verbreitung von der Donaumündung bis zur Ostsee zur Wielbark-Kultur zu registrieren ist. Die schon genannten Knopfsporen des 2. und 3. Jahrhunderts kommen an der Ostsee in geringer Anzahl vor und im Südosten in größerer Menge. Ähnlich verteilt sind beispielsweise die Trinkhörner oder Peitschen. So wie man von der „Bernsteinstraße“ als mehr oder weniger abstrakte Fernverbindung spricht, die von der Ostsee bis zum Mittelmeer und nach Aquileia verläuft, sollte man sich wohl auch die Route von der Ostsee zum Schwarzen Meer einerseits und andererseits auch die Fernbeziehung zwischen Polen und dem Maingebiet vorstellen. Die Knopfsporen und die Trinkhornbeschläge kommen, wenn sie so isoliert betrachtet und kartiert werden, also auch weit im Osten und Süden vor, nicht nur im Bereich der Fürstengräber im mittleren Germanien.3236 Sie werden in Litauen und Weißrussland sowie im Gebiet des mittleren und oberen Dnjepr gefunden, also weit außerhalb von Germanien nach meiner Definition. Schwerter vom Nydam-Kragehul-Typ findet man von Norwegen über Jütland und das Weichselgebiet bis zum Gräberfeld von Chatyr-Dag auf der Krim,3237 und zwar soll es deshalb seit der Mitte 3. Jahrhundert hier eine Einwanderung von Germanen gegeben haben. In diesem Bestattungsplan gibt es Schwerter und Lanzenspitzen wie in fernen Gebieten, aber auch Sicheln und Äxte der einheimischen Bevölkerung (vgl. oben. S. 879). Die Verbindung von der pontische Zone nach Skandinavien über die Przeworsk-Kultur bestätigen demnach die Militärgürtel vom Typ Varpelev. Handelt es sich um weite Wanderungen, fragt der Autor. Und meint, dass besser mit einem Schneeball-Mechanismus gerechnet werden sollte, d. h. wandernde Kriegerverbände mit Zwischenhalten und Ergänzungen ihrer Mannschaft zogen durch Germanien von Norden nach Süden und umgekehrt, und man sollte, so eine allgemeine Meinung und auch meine, von „multi-ethnischen“ Gruppen ausgehen. Der Vergleich von Gürtelschnallen eines bestimmten Typs, also einer Gürtelmode, verbindet – als weiteres Beispiel – Druzhoye am Schwarzen Meer und Thorsberg in Jütland.3238 Es sind datiert die letzten Jahrzehnte des 2. und des frühen 3. Jahrhunderts am Bosporus und am Schwarzes Meer, als Römisches und Germanisches oder Balto-Germanisches kombiniert erscheinen. 3233 Shabanov 2013. 3234 Lund Hansen 2003b. 3235 Mączyńska 2003, 312 f. Karte 1. 3236 Radyush 2013. 3237 Kontny 2012, 198 Fig. 1 Karte der Schwerter, 208 Bezug zu Varpelev. 3238 Vasil’yev 2011.
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Auch kleine Bügelfibeln bieten dieselben Verteilungsmuster im 5. Jahrhundert bis ins Karpatenbecken und in die Ukraine.3239 Oder die auffälligen Swastika-Fibeln, von denen eine in Varpelev auf Seeland, Grab 8, vorkommt, aber weitere auch auf der Strecke in Carsium an der Donau im heutigen Rumänien bis nach Süden in Richtung Konstantinopel gefunden werden.3240 Der Blick auf die Verbreitungen archäologisch definierter Sachgüter und Grabsitten von Südskandinavien, beispielsweise von Seeland, bis zur Ukraine und der Krim, können mit der Ereignisgeschichte, der Gotenwanderung, eigentlich nichts zu tun haben, weil die Verbreitung einer andere ist. Ebenso muss zugleich die Gegenrichtung mitgedacht werden, also Bezüge vom Süden nach dem Norden. Das müssten im Sinne der (alten) Ereignisgeschichte dann Rückwanderungen gewesen sein. Es geht somit eben nicht um Wanderungen von Stämmen oder größeren Bevölkerungsgruppen und das kontinuierlich über viele Jahrzehnte, sondern es handelt sich um die – wie mehrfach betont – dauerhaft genutzte Verkehrsachse durch das östliche Europa, um eine Kommunikationsroute. Die importierten römischen Emailfibeln (Email ist eine römische Schmucktechnik, die in Germanien noch nicht übernommen worden war) kommen an der unteren Elbe vor, auch östlich der Weichsel und in Pannonien an der Theiss.3241 Ist das wieder eine Diagonale der allgemeinen Kommunikation durch Germanien? Es sind die römischen runden Emailfibeln (Typ Thomas b).3242 J. Andrzejowski erläuterte 2014 beim Sachsensymposium in Warschau3243 die Entwicklung der These von den Wanderungen der Vandalen und der Goten zum Schwarzen Meer und den Zusammenhang mit der Przeworsk- und der WielbarkKultur im 20. Jahrhundert als einen Gegensatz, vertreten von Ryszard Wołągiewicz und Kazimierz Godłowski. In der Mitte des 2. Jahrhundert sei der Druck der gotischen Stämme (der Leute der Wielbark-Kultur) so stark gewesen, dass die Przeworsk-KulturStämme abziehen mussten aus ihrem früheren Siedlungsgebiet östlich der mittleren Weichsel. Neue Studien der Gräberfelder würden aber zeigen, dass diese östliche Zone der Przeworsk-Kultur im späten 1. und in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts schon enge Kontakte zu der Wielbark-Kultur gehabt hatte; und die jüngsten Gräber nach den Bräuchen der Przeworsk-Kultur würden in die zweite Hälfte des 2. und an die Wende zum 3. Jahrhundert zu datieren sein, wobei es hier schon stabile WielbarkSiedlungen gegeben habe. Viele Gräberfelder würden von Leuten beider Kulturen ohne Unterbrechung genutzt werden. Es gab demnach eine Interaktion zwischen der Wielbark- und der östlichen Przeworsk-Kultur östlich der Weichsel. Es gibt Männergräber mit Przworsk-Ausstattung in Kleidung und mit Waffen, die aber in Urnen 3239 Gavritukhin 2013, mit zahlreichen Karten der verschiedenen Fibeltypen. 3240 Grane 2013a, 135 Fig. 8 Fibel von Varpelev Grab 8. 3241 Juga-Szymańska, Szymański 2010, 266 Abb. 4 Karte der runden Emailscheibenfibeln. 3242 Thomas 1967. 3243 Andrzejowski 2014, Abstract zum 65. Sachsensymposium in Warschau.
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der Wielbark-Kultur bestattet worden sind; und umgekehrt enthielten Körpergräber Waffenbeigaben. Dieser neuen Sicht ist zuzustimmen, und damit erhebe ich zugleich Zweifel an der Definition der beiden Kulturen und habe das andernorts näher erläutert (vgl. S. 204). Auf demselben Sachsensymposium haben R. Madyda-Legutko und J. RodzińskaNowak über neue Daten zur Wanderung der Stämme der Vandalen nach Süden, Richtung Dakien, berichtet.3244 Beim Übergang von der frühen zur späten Römischen Kaiserzeit breiteten sich Leute der Przeworsk-Kultur ins Gebiet der Theiß in Ungarn aus. Es gibt Gräber dieser Kultur in der Slowakei, in der Ukraine jenseits der Karpaten, in Nordost-Ungarn und Nordwest-Rumänien, was – so die Autorinnen heute noch – auf die verschiedenen Teilstämme der Vandalen hinweisen würde in den frühen 170er Jahren; und es beginnt mit den Fundplätzen an der oberen San, einem Nebenfluss der Weichsel, und der Theiss. Beschreibung und Erklärung des Sachverhaltes, nämlich die erfassbaren Fernbeziehungen zwischen dem Norden und der Ukraine, klaffen noch 2019 auseinander. Man kann sich anscheinend nicht lösen vom Modell der gotischen Wanderung: In südöstliche Richtung weist ab dem 3. Jh. ein weiteres Kontaktnetz, das über die Mündung der Weichsel, dann weiter über Bug und Dnjestr die Nordküste des Schwarzen Meeres erreichte. Über diesen Weg scheinen ganz überwiegend Gegenstände barbarischer Produktion ausgetauscht worden zu sein. Es liegt nahe, dieses mit der historisch überlieferten Wanderung gotischer Stammesverbände aus Skandinavien nach Südosten in Verbindung zu bringen.3245
18.2.6 Eine Zusammenfassung Zu beachten ist, dass alle diese Gräberfelder zu verschiedenen Zeiten beginnen und enden, also jeweils ein individuelles Schicksal der dahinterstehenden Gemeinden erkennen lassen, was parallel auch für die meisten großflächig ausgegrabenen Siedlungen festzustellen ist. Zugleich ist dieser Befund auch in den verschiedenen Kleinlandschaften unterschiedlich. Gezeigt wird das im Vergleich der kaiser – und völkerwanderungszeitlichen Gräberfelder in Schleswig-Holstein.3246 Es gibt dort Gräberfelder mit weniger als 200 Gräbern, was 40 gleichzeitigen lebenden Einwohnern etwa entspricht, dann Gräberfelder mit 200 bis 1000 Gräbern, was 60 bis 70 Bewohnern entspricht, und auch solche mit mehr als 1000 Gräbern, also zu rund 100 Bewohnern in 20 Höfen gehörten. Die Belegungszeit mit Brandbestattungen reicht teils von der vorrömischen Eisenzeit bis in die Stufen B1 bis C3 und weiter bis in D 2, in die frühe Völkerwanderungszeit, also vom 1. bis zum 5. Jahrhundert. Auf 3244 Madyda-Letgutko, Rodzińska-Nowak 2014, Abstact 65. Sachsensymposium in Warschau. 3245 v. Carnap-Bornheim 2019, 102. 3246 Schlotfeldt 2016.
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manchen Gräberfeldern gibt es weniger, auf anderen mehr als 10% römische Importgüter, manchmal enthält sogar mehr als ein Drittel der Gräber römische Sachen. Auch Waffen finden sich in diesen Gräbern, wenige aber nur haben eine Vollbewaffnung aus Schwert, Lanzen und Schild, häufiger sind Teilbewaffnungen und mehrheitlich kommt nur eine Waffe vor. Angeln und Nordostholstein gehören zu den wenigen Regionen, in denen die Beigabe von Waffen in den Gräber recht konsequent ist. Bemerkenswert ist zudem, dass sich die Urnengräberfelder häufig an ältere Grabhügel anlehnen, dass von dort die Belegung beginnt. Anscheinend wusste man, dass hier schon bestattet worden war und lehnte sich gewissermaßen bei eigenen Ahnen an (vgl. auch S. 839), an ur- und frühgeschichtliche Grabhügel und auch an andere alte Denkmäler,3247 ein Verhalten, das ebenso in früheren Gesellschaften während der Eisenzeit zu beobachten ist. Vielfach ist, sofern ein Gräberfeld möglichst komplett erfasst und ausgegraben worden ist, dass nicht einfach die Urnen auf dem Areal gleichmäßig eingegraben worden sind; vielmehr zeichnen sich Gruppen ab, mit Lücken dazwischen. Als Erklärung denkt die Forschung an Familienverbände oder auch an kleinere Siedlungsgemeinschaften. Außerdem werden die Urnengräber an der Oberfläche markiert gewesen sein, da es kaum Überschneidungen gibt. Noch auf einige weitere Besonderheiten weise ich hin. Im Unterelbegebiet scheinen viele Gräberfelder nach Geschlechtern getrennt angelegt worden zu sein; es gab demnach jeweils eigene Männer- und Frauenfriedhöfe. Wenn diese Beobachtung auch relativiert worden ist, da sich gezeigt hat, dass auf großen Gräberfeldern bestimmte Areale für Männer und andere für Frauen vorgesehen waren, was bei nur teilweise Ausgrabungen des gesamten Friedhofs diesen Eindruck hervorgerufen hat, so bleibt es doch dabei, dass nach Geschlechtern getrennte Gräberfeldbereiche existiert haben, also dass nicht nur nach Familien oder Verwandtschaften bestattet wurde.3248 Die geschlechtsspezifische Auswahl der Urnengestalt und der Beigaben kommt hinzu; Frauenbestattungen sind u. a. gekennzeichnet durch Spinnwirtel, Männergräber durch Waffen oder Rasiermesser. Eine weitere Besonderheit sind die langen Reihen und massierten Plätze von Feuerstellen, die in Mecklenburg-Vorpommern und anderswo zu den Grabbräuchen gehört haben. Es handelt sich entweder um die Verbrennungsplätze oder um Feuer bei den Bestattungsfeierlichkeiten.3249 Nicht übersehen werden sollte, dass auch Tiere mit und auf den Gräberfeldern der Menschen bestattet worden sind. Am auffälligsten sind neben Hundegräbern die Pferdebestattungen.3250 Sie kommen im römischen Gallien und Pannonien vor, also auf dem Boden der römischen Provinzen, und nach Tacitus (Germania c. 27) wurden den toten Männern, 3247 Thäte 1996. 3248 Derks 1993; 2012. 3249 Forler, Schmidt 2004. 3250 Steuer 2003c, § 3d, 70–73; Makiewicz 2000; Gebers 2003; Gebers et al. 2004.
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den Kriegern, ihre Waffen und auch einigen ein Pferd mit auf den Scheiterhaufen gegeben. Während der Merowingerzeit, als Körpergräber das Übliche waren, wurden die Pferde in eigener Grube für sich oder im Zusammenhang mit einem Krieger begraben. Während der ersten Jahrhunderte n. Chr. herrschten aber Brandbestattungen vor; und Pferdebestattungen sind dann nur schwierig von Pferdeopfern zu unterscheiden. Wenn Pferdeschädel, Langknochen oder auch die Haut bzw. das Fell zusammengebündelt in einer Grube niedergelegt worden waren, ist kaum zu entscheiden, ob es sich um ein eigenständiges Pferdegrab oder nur um die Entsorgung von Resten der Opferhandlungen gehandelt hat. Jedenfalls wurden auf Kultplätzen Schädel und Extremitäten von Pferden niedergelegt; denn auf den geschilderten Urnengräberfeldern kommen Pferdebestattungen kaum vor. Man hat die Beigabenausstattungen wiederholt unter neuen Blickwinkeln analysiert, wobei die Vollständigkeit bei Brandgräbern natürlich sehr eingeschränkt ist. Von Bärenfellen sind nur die Krallen der Tatzen vom Fell als Beigabe geblieben, und durchbohrte Krallen und Tierzähne wurden außerdem als Schmuck getragen.3251 Bärenfelle sind oftmals sichtlich mit verbrannt worden (vgl. oben S. 650). Die bedeutende Rolle als Statussymbol und unter kultischen Aspekt unterstreicht ihr Vorkommen in Fürsten- bzw. Königsgräbern von Varpelev auf Seeland bis Mušov in Mähren. Jüngere Belege sind die Bildnisse auf den Pressmodeln von Torslunda aus dem 6. Jahrhundert und auf den teils noch späteren Helmblechen in den Gräbern von Valsgärde in Schweden oder im Grab von Sutton Hoo in England. Hier bringen die Bilder Menschen, Krieger, die in Felle eingehüllt sind bzw. diese als „Kleidung“ tragen (vgl. unten S. 1246). Eine Häufung der Befunde in Gräbern gibt es in Germanien zwischen 100 v. bis 150 n. Chr. Im ostniedersächsischen Ilmenaugebiet waren 1600 Gräber für die Archäologin Katharina Mohnike Anlass, eine Besonderheit überregional zu verfolgen, nämlich die Erscheinung der sogenannten, schon oben erwähnten Fenstergefäße.3252 In Tongefäße – später als Urnen benutzt – wurde schon bei der Herstellung eine (römische) Glasscherbe eingesetzt, in die Standfläche oder auch in die Wandung. Sie kommen vom 2. bis zum 7. Jahrhundert immer vereinzelt auf einem Gräberfeld vor, in der Hauptkonzentration zwischen Ems und Elbe; aber der Brauch reicht bis nach England. Dieser Sonderform der Fensterurne überschreitet auch die Grenzen der sogenannten archäologischen Kulturen; sie kommt im Gebiet der Przeworsk-Kultur vor, im elbgermanischen Gebiet und bei den Nordseegermanen, ebenfalls in Jütland und auf angelsächsischen Bestattungsplätzen. Nachdem übrigens auch die Keramikformen besser datiert werden können und sich gezeigt hat, dass Fenstergefäße noch im 6. Jahrhundert eine Rolle spielten, spricht das –als weiteres Argument – gegen die bisher postulierte Siedlungsleere, die man aufgrund der Forschungslücke angenommen hatte.
3251 Grimm 2013; Lehmkuhl 2007; Wamers 2009 (2010) 9 Abb. 5; Beermann 2016. 3252 Mohnike 2016; 2019.
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Unter hunderten von Tongefäßen als Urnen kommen nur vereinzelt, höchstens bis fünf „Fenstergefäße“ auf einem Gräberfeld vor. Was hatte man sich dabei gedacht: War das die mit einem Fenster versehene Behausung der verstorbenen Person, oder ein Ersatz (ehe sie zur Urnen wurden) für ein Trinkglas, das man nicht hatte erwerben können? Die zahlreichen Gräberfelder der Römischen Kaiserzeit, in der Regel große Urnenfriedhöfe, werden mit Blick auf möglicherweise dahinter verborgene gesellschaftliche Strukturen wiederholt auszuwerten versucht. Dabei kann man sich nicht von der Vorstellung lösen, dass der Beigabenreichtum, was Anzahl der Objekte und Wert der Metalle und Waffen betrifft, irgendwie direkt den Rang der verstorbenen Person in der damaligen Lebensgemeinschaft spiegelt. Auch wenn Alter und Geschlecht berücksichtigt werden, wird nicht bedacht, wie sehr familiär gebundene Bräuche eine Rolle gespielt haben können. Ebenso täuscht der Vergleich mit benachbart gelegenen Gräberfeldern darüber hinweg, dass keine überregionale allgemeine „Bestattungsordnung“ organisiert worden war. Auch wenn man sich über die kürzeren Entfernungen hinweg gekannt, besucht und verheiratet hatte, schwankten die Bräuche naturgemäß zwischen den Familienverbänden und vor allem in den Generationsabständen. Die Gesellschaftsstrukturen an der Unterelbe anhand der Gräberfelder HamburgLangenbek und Hamburg-Marmsen zu erschließen, wird 2017 wieder versucht.3253 Den neuen Ansatz an Gräberfeldern nahe der Niederelbe im heutigen Hamburger Großraum sollte man nur als detaillierte gute Beschreibung der Realitäten betrachten, aber sollte sich vor zu weit gehenden Auswertungen hüten. Die beiden Gräberfelder Hamburg-Langenbek, zuletzt ausgegraben 1956, mit 190 Bestattungen sowie 30 sogenannten Waffenfunden (nicht beobachtete Urnen) der Spätlàtene- und älteren Römischen Kaiserzeit sowie Hamburg-Marmstorf, zuletzt ausgegraben 1954, mit 362 Grabfunden, von denen 259 der älteren vorrömischen Eisenzeit (Stufe Jastorf) und 103 der Spätlatène- und älteren Römischen Kaiserzeit angehören, sind Ziel der statistischen Auswertung. Wie oben schon angesprochen, ist die Frage, ob eher von Männeroder von Frauenfriedhöfen auszugehen ist, hier nur allgemein so zu beantworten, dass beide Gräberfelder überwiegend durch waffenführende Bestattungen gekennzeichnet sind. Das Problem der getrennten Männer- oder Frauenfriedhöfe wird mit Recht als durch die begrenzten Ausgrabungsflächen beeinflusst erklärt. Aber bis in die Gegenwart wird die Unterscheidung zwischen dem Typ Darzau (ohne Waffengräber) und dem Typ Rieste (mit Waffengräbern) als unterschiedliche Behandlung der Geschlechter weiter ernsthaft als Deutung angeboten, so beim gemischt belegten Friedhof von Sassendorf im Ldkr. Uelzen.3254 Die „materialimmanenten Untersuchungen“ mit statistischen Verfahren wie der Clusteranalyse an den beiden genannten Gräberfeldern haben dann ergeben, dass keine klarere Gliederung in soziale Ranggruppen
3253 Gupte, Reiss-Gupte 2017. 3254 Freese 2014 (2017), 155.
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zu erkennen ist, nur eine fließende Abfolge von wenigen reicher ausgestatteten bis fast beigabenlosen Bestattungen. Eine auffällige andersartige Verteilung auf dem Friedhofsareal zwischen „Ober-, Mittel- und Unterschicht“ gibt es ebenfalls nicht. Es wird aber registriert, dass sich in Hamburg-Marmstorf die Tendenz zu einer etwas wohlhabenderen Population als in Hamburg-Langenbek abzeichnet. Es gibt römische Importsachen, Fragmente von Kasserollen und Kellen, Kelle und Sieb, Bronzeeimer und provinzialrömische Fibeln, datiert in die Stufen B1 und B2 (50–150 n. Chr.). Erhellend ist, dass es aber keine nähere räumliche Beziehung zwischen reichen Gräbern und römischen Sachen auf dem Gräberfeld gibt. Auch hier zeigt sich, dass Grabsitten kein Spiegel des Lebens sind und sein wollen, dass vielmehr im Rahmen des Bestattungsbrauches andere Anlässe, lokale, punktuelle, familiäre oder nachbarschaftliche und sicherlich auch momentane Aspekte eine Rolle gespielt haben. Über das Ansehen, die Wertschätzung bis hin zur Verehrung von Angehörigen wird das Spektrum gereicht haben, wie das zu allen Zeiten auch immer wieder gewesen ist. Noch ein neuer Versuch, die soziale Diversität in Mitteleuropa während der älteren Römischen Kaiserzeit durch eine statistische Auswertung der Grabbeigaben wurde 2018 vorgelegt.3255 Jeder derartige Versuch ist berechtigt, aber teilweise beginnt die Forschung anscheinend wieder von vorn. Eine Begründung ist, dass für soziale Fragen eine gute Grundlage besteht, weil sich die Zahl der Gräber stark vergrößert hätte, denn auch die Ausstattungsmuster wären vermehrt worden. Die Autorin A. Beyer gibt einen Überblick zur Anwendung statistischer Methoden anhand der Gräberfelder für die ältere Römische Kaiserzeit in den Gebieten Deutschland, Dänemark und Böhmen in Tschechien. Arbeiten, die ich teilweise zitiert habe, werden referiert, von M. Gebühr 1999, J. Kunow 1996, L. Hedeager 1990, M. Tempelmann-Mączyńska 1989, H. Derks 2012, O. Gupte und J. Reiss-Gupte 2017 (die ich im Absatz zuvor beschrieben habe). Es ginge – so die Autorin – aber nicht nur um vertikale Stratifizierung wie das H. Steuer 1982 versucht hätte, sondern der Vergleich müsse regional und überregional erfolgen, betrachtet werden müsse auch, was „arm“ und was „reich“ war, auch Geschlecht und Altersstrukturen seien zu berücksichtigen.3256 Die räumliche Gliederung nennt Jütland (mit vielen Gräberfeldern), die dänischen Inseln (ebenfalls mit vielen Gräberfeldern, teils auch mit unpublizierten Quellen), Nieder- und MittelelbeGebiet (mit im Vergleich nur wenigen Gräberfeldern), Westfalen (wieder nur wenige bis mittelviele Gräberfelder) und schließlich Böhmen (mit vielen Gräberfeldern). Ich führe diese Zahlen nur an, weil damit ein deutliches Ungleichgewicht der Gebiete in die Statistiken einfließt, auch wenn die Datenbank 9346 Gräber und 31820 Objekte enthält. An statistischen Verfahren werden nun der Chi2-Test, der Phi-Koeffizient, Odds Ratio, dann Seriation, multiple und kanonische Korrespondenzanalyse und
3255 Alina Beyer 2018, 100 Abb. 1 Karte. 3256 Darzu hat Sebastian Brather zahlreiche Arbeiten mit dem Blick auf die Merowingerzeit vorgelegt: z. B. Brather 2008a, b; 2014b; 2015.
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Diskriminanzanalyse eingesetzt; Verfahren, die auch schon L. Holten 1989, L. Hedeager 1990 und P. Ethelberg 2000 angewendet und weiterentwickelt hatten.3257 Trotz Kritik an einer „materialimmanenten Beigabenbewertung“ erlaubt es diese doch, so die Autorin, eine Vielzahl von Grabinventaren miteinander zu vergleichen. Das Ausgangsaxiom bzw. die Anfangsthese ist, dass die Gräber samt Ausstattung tatsächlich einen gesellschaftlichen Status widerspiegeln,3258 und nicht in erster Linie lokal- oder familiengebundene Jenseitsvorstellungen und Bräuche, wie ich das sehe (vgl. S. 610). Offen ist weiterhin die Frage, inwieweit der Bestattungsbrauch die Lebendbevölkerung abbildet; Beigaben haben einen symbolischen Wert für eine Gesellschaft, der zeitlich und räumlich begrenzt ist; was war örtliche Tracht bzw. Kleidungsschmuck, und spiegeln sie tatsächlich Identitäten wider? Mit Bezug auf die Arbeiten von H. Derks meint A. Beyer, geschlechtsspezifische Bestattungen können einen unterschiedlichen sozialen Status der Geschlechter bedeuten, was durchaus zu bedenken ist. Aber oftmals zeigen die Beigaben, auch bei den später zu beschreibenden Gräbern der Elite, dass kein Unterschied zwischen Männer- und Frauengräbern besteht, was Rang und Menge der Beigaben angeht. Das Fazit ist zudem, dass die Auswertungsversuche nicht allein ohne schriftliche Überlieferung – wegen der historisch begründeten Fragestellung – unternommen werden sollten, und außerdem seien heutige sozialarchäologische Theoriediskussionen zu berücksichtigen. Die ersten Ergebnisse des Forschungsprojekts zeigen sehr unterschiedliche Ausstattungsmuster, was wieder – so meine Ansicht – auf die lokale und familiäre Situation weist. Mal überwiegen in den Aufstellungen mature, mal adulte Personen, mal gibt es viele, mal wenige Beigaben. Das alte Methodenspektrum führt trotz zunehmender archäologischer Quellenmenge und dem Einsatz neutraler Statistikverfahren zu keinen neuen Ereignissen, weil die Ausgangsfragestellung nicht neu strukturiert worden ist. Was zuvor bei den Siedlungen in Germanien registriert werden konnte (vgl. S. 289), bestätigen auch die Gräberfelder, gleich welche Anzahl an Bestattungen zugeordnet werden können. Es gibt kleine Gräberfelder mit nur wenigen Dutzend oder wenigen hundert Bestattungen, und es gibt solche mit mehreren tausend Urnengräbern. Das hängt einerseits davon ab, ob nur eine Siedlung am Ort bestattete oder ob aus mehreren Siedlungen des näheren und weiteren Umfelds die Toten an einen zentralen Platz gebracht worden sind. Andererseits hängt es von der Zeitdauer der Belegung ab. Aber auch unabhängig davon gibt es bei den Bestattungsplätzen – wie bei den Siedlungen – kurzzeitige Belegungen oder ebenso eine kontinuierliche Nutzung über Jahrhunderte. Jeder Grabplatz hatte sein individuelles „Schicksal“. Anfang und Ende korrespondierten wiederum nicht mit den Phasenbildungen der Archäologie und auch nicht mit den politischen Vorgängen und Einschnitten oder Umbrüchen. Die Bestattungsgemeinschaften erlebten unterschiedliche Ereignisse.
3257 Ethelberg (Hrsg.) 2000, 145–148 beim Gräberfeld von Skovgårde. 3258 Veit 2009, 327.
18.2 Gräberfelder der Bevölkerung – ein Auswahlkatalog
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Geburtenüberschuss, Krankheiten oder Kriege sowie Überfälle bestimmten die Anzahl der gleichzeitig beieinander lebenden Personen. Wie gezeigt werden konnte, wurden manche Bestattungsplätze während der vorrömischen Eisenzeit angelegt und bis in die mittlere oder späte Römische Kaiserzeit belegt und andere begannen erst während der Römischen Kaiserzeit und wurden dann bis weit in die Völkerwanderungszeit oder gar darüber hinaus genutzt. Sogar noch wesentlich längere Kontinuitäten hat es gegeben. Außerdem herrschte durchaus eine beachtliche Dynamik bei der Dichte der Besiedlung der verschiedenen Landschaften, wobei die Größe der Dörfer, was die Anzahl der Gehöfte betrifft, ebenfalls im Laufe der Jahrhunderte unterschiedlich war. Zwar gibt es bisher erst wenige Analysen zur zeitgleichen unmittelbaren Parallelität von Siedlung und Gräberfeld, was die Größenordnungen angeht und die Zeitspanne der Existenz, aber bei der hier beschriebenen Gesamtübersicht ist das geschilderte Bild durchaus begründet. Ich wiederhole, dass Beginn und Ende der Gräberfelder oder auch die gesamte Belegungszeit sehr unterschiedlich gewesen sind, dass einige Gräberfelder schon in vorchristlicher Eisenzeit einsetzten (oder noch eher), andere bis in die Völkerwanderungszeit belegt wurden (oder noch länger), und dass es erstaunlich lange Kontinuitäten gegeben hat, und dass die Zahlen von nur einigen hundert bis zu mehreren tausend Urnen reichen können. Es ist müßig, aus der Gräberzahl jeweils auf die zeitgleich Lebenden zu schließen und damit auf die Zahl der möglichen Gehöfte einer Siedlung, weil es eben zu viele Variationen gibt. Im Einzelfall – wie oben als Beispiel geschildert – ist das vielleicht möglich und erlaubt, eine Vorstellung von den damaligen Verhältnissen zu gewinnen. Aber die Gesamtschau lässt das Entscheidende ahnen: Die Besiedlung war – trotz aller individuellen Schicksale der Gemeinschaften – relativ dicht und die Landschaft eng besetzt mit Dörfern und den zugehörigen Begräbnisplätzen. Außerdem bestimmte eine verblüffende Dynamik das Leben in diesen Jahrhunderten um und nach Chr. Geb., und mit zunehmender Forschungsintensität wird dieses Bild noch ständig verstärkt. Die frühe Forschung konnte auf schmaler Quellenbasis Regelerscheinungen leichter systematisieren, was gegenwärtig kaum noch gelingen kann; denn beim fortlaufend wachsenden Quellenbestand wird das Bild von den Lebensverhältnissen in der Vergangenheit zunehmend variationsreicher. Es sei noch erlaubt, eine ganz simple Rechnung über die Zeitdauer und die Gräberzahl hier anzufügen. Mir ist bekannt, dass es von der Seite der anthropologischen Untersuchungen und allgemein zur Bevölkerungsentwicklung Studien gibt. Doch soll es bei leichten Schätzungen bleiben. Wenn eine Siedlung aus 20 Gehöften jeweils 5 oder 10 Bewohner pro Hof hatte, also 100 bzw. 200 Leute, dann waren diese im Durchschnitt nach 50 Jahren (hochgerechnet, nicht nur nach einer Generationsfolge von 30 Jahren, wie üblich angenommen) alle gestorben, d. h. es wurden 100 oder 200 Gräber angelegt. Nach 100 Jahren waren das dann im Durchschnitt 200 oder 400 Bestattungen; nach 500 Jahren (also nach zehn Zeitabschnitten) gar 1000 oder 2000 Bestattungen. Damit erhält man wenigstens eine erste Vorstellung von der Größe der Ansiedlung zu einem Gräberfeld.
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Abschließend weise ich noch einmal darauf hin, dass die Wiederaufnahme älterer Bestattungsplätze in diesen frühgeschichtlichen Perioden häufiger vorkommt.3259 Das beschriebene Gräberfeld von Issendorf ist ein gutes Beispiel (vgl. oben S. 859).
18.3 Bestattungen der Elite Die reich ausgestatteten Gräber der Elite, zumeist als Körpergräber angelegt, ein Brauch, der gerade bei dieser sozialen Gruppe zuerst erscheint, aber auch manche üppig ausgestattete Brandgräber, Urnenbestattungen, wurden in der Frühzeit der Forschung als „Fürstengräber“ bezeichnet, eine Benennung, die durchaus noch heute verwendet wird, weil darin der Begriff „der Erste“ steckt, und auch in Anlehnung an die Fürsten des Mittelalters und der Neuzeit. Andere Bezeichnungen sind neutral Prunkgräber, Elitegräber, schon sozialgeschichtlich mit Bezug auf die mittelalterliche Geschichte aufgeladen auch Adelsgräber.3260 Über die Zeiten hinweg werden Prunkgräber der ersten Jahrhunderte n. Chr. besonders beachtet und für die Kultur- und Sozialgeschichte ausgewertet.3261 Den Eliten schon während der vorrömischen Eisenzeit galten mehrere Publikationen, die im Jahr der Erinnerung an die Varusschlacht 9 n. Chr. im Jahr 2009, erschienen sind, so für den Norden, aber nicht nur, sondern allgemein auch für Mitteleuropa, sowie für die Gebiete an der Ostseeküste.3262 Dabei ging es nicht nur um Gräber der Elite, sondern auch um entsprechende Befunde in den Siedlungen, z. B. in Borremose mit Großgehöften und Kulthallen (vgl. S. 312). Bald nach der Zeitenwende wandelten sich also die zuvor recht einheitlich wirkenden Begräbnisse und ihre Beigabenausstattung. Einige Gruppen, wohl Familien, setzten sich im Totenkult von der übrigen Bevölkerung ab, indem sie eine andersartige Grabsitte einführten. Auf eigenen, von den großen Friedhöfen der Gemeinschaft getrennten kleinen Gräberfeldern bestatteten Angehörige dieser Gruppen ihre Verstorbenen unverbrannt in Körpergräbern. Dabei wurde ein höherer Aufwand betrieben, als bei den Feuerbestattungen, da man für die Toten und ihre Ausstattung oftmals größere Grabkammern baute, mit Steinen umschichtete und einen Hügel darüber wölbte. Auffällig waren aber die Beigaben in diesen Gräbern. Außer den Schmucksachen aus Edelmetall an der Kleidung, bei den Männern bis zu den Sporen, die sie als Reiter kennzeichneten, wurde Alltagsgerät mit in das Grab gestellt, vor allem reichhaltiges Ess- und Trinkgeschirr, auch Möbel oder weitere Luxusgüter wie Spielbretter. Statt einheimischer Tongefäßservice und Getränkeeimer wählte man vielfach importiertes römisches Bronze- und Silbergeschirr, silberne Becherpaare und auch farbig bemalte Glasbecher. Die Ausstattung mit Kelle und Sieb beweist zudem den Genuss 3259 Sopp 1999. 3260 Steuer 2006b. 3261 v. Carnap-Bornheim, Krausse, Wesse (Hrsg.) 2006; Gebühr 1998a; Steuer 1998b; 1999a; 2006b. 3262 Martens 2009; Schuster 2009a, b.
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von Wein und damit auch die Trinksitten wie in den römischen Lebenswelten. Als Statussymbole zeichnete Goldschmuck die Frauengräber ebenso aus wie die Männergräber und diese zusätzlich durch mit Silber tauschierten Sporen. Bemerkenswert ist, dass Waffen in diesen Gräbern nicht beigegeben wurden, wie das in den Brandgräberfeldern bei auffallend reich ausgestatten Gräbern durchaus vorkommt (vgl. S. 962). Die Ausnahme sind manchmal drei dünne Pfeilspitzen aus Silber, die nur Symbolwert hatten und nicht verschossen werden konnten. Derartige „Fürstengräber“ – heute eher anscheinend neutralisierend als Elitegräber zu bezeichnen – als Bestattungsgruppen sind über Germanien insgesamt verbreitet und untereinander so ähnlich, was Grabherrichtung und Ausstattung anbetrifft, dass von weitreichenden Verbindungen und persönlichen Kontakten zwischen diesen Familien der Elite, vielleicht über Heiratsverbindungen, ausgegangen werden kann, was zu diesem vergleichbaren Verhalten im Bestattungswesen geführt hat. Zwei Hauptphasen mit Benennungen – im Verlauf der Forschungsgeschichte entstanden – sind zeitlich und auch geographisch, was die Verbreitung angeht, gegeneinander abgrenzbar: Die Bestattungen der älteren Gruppe des 1./2. Jahrhunderts werden Lübsow-Gräber genannt, nach dem zuerst erforschten Fundort im Norden an der Ostseeküste gelegen, und die Gruppe der Gräber des 3./4. Jahrhunderts im mittleren Deutschland und auf den dänischen Inseln, die als Typ Haßleben-Leuna bezeichnet werden (oben Abb. 65). Gegenwärtig gibt es auch einige Gräber dieses Ranges aus der Zeit zwischen diesen beiden Phasen, wie die „Königsgräber“ von Mušov in Mähren und Gommern in Mitteldeutschland.3263 Ob diese Gruppen oder andere Bestattungen wirklich Gräber der Elite in Germanien waren, wird seit langem diskutiert, und immer wieder werden Listen von Definitionskriterien neu aufgestellt. Diese werden komplexer, je mehr Bestattungen entdeckt werden, die derartige Kriterien erfüllen, und das geht noch ständig weiter.3264 Zu den Kriterien gehören, um diese noch einmal näher zu überprüfen: (1) Getrennte Lage des Grabes oder des kleinen Gräberfeldes von den Friedhöfen der Bevölkerung, was eine bewusste Entscheidung der damaligen Bestattungsgemeinschaft gewesen zu sein scheint; und dieser Befund ist wohl entscheidend, weil er einen neuartigen Totenkult ankündigt. Das trifft aber anscheinend nur für die Wahl der Körperbestattung zu. (2) Körperbestattung statt wie bisher Brandbestattung. Doch dieses Kriterium ist nicht alleinstellend; denn es gibt Körpergräber auch auf größeren Friedhöfen ohne aufwändige Beigabenausstattung und Brandgräber mit üppiger Ausstattung, durchaus mit den Körpergräbern vergleichbar.
3263 Gebühr 1998, 186 und 187 Abb. 25 und 26; Steuer 1999, 384 Abb. 3; Saxones 2019, 95 Abb. 4 jüngere Römische Kaiserzeit. 3264 Steuer 1998a; 2006b.
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(3) Aufwändiger Bau des Grabes, eine hölzerne Kammer in einer Steinummantelung unter einem größeren Hügel; doch dabei gibt es eine größere Spannweite in der tatsächlichen Ausführung, die von Ort zu Ort und in den verschiedenen Landschaften differieren. Manche dieser Gräber verfügten nur über eine flache Kiste. (4) Die Ausstattung des oder der Toten mit Kleidung und Beigaben ist auffallend reich. Zur Kleidung gehört Ringschmuck, meist aus Gold; zu den Beigaben zählt vor allem importiertes römisches Ess- und Trinkgeschirr; aber auch hier gibt es beträchtliche Unterschiede in den Landschaften, was denn auch den zeitlich und räumlich unterschiedlichen Zustrom römischer Sachgüter spiegelt, wie auch immer dieser zustande gekommen sein wird, über Handel oder Krieg und Beute sowie innergermanischen Austausch. Das Zahlenverhältnis von den sogenannten „Fürsten“ gegenüber der normalen Bevölkerung ist beispielsweise auf Fünen vom 1. vorchristlichen Jahrhundert bis ins 4. Jahrhundert errechnet worden.3265 Waren es tatsächlich Eliten oder nur reiche Bauern; die Zahlenverhältnisse bieten nur eine überschaubare Klientel der möglichen Herrschaft mit Abhängigen. Andere meinen, ohne das aber näher zu begründen: Im Laufe der Jahrhunderte wuchs jedoch innerhalb der germanischen Gesellschaft die Kluft zwischen Arm und Reich: die Bauern verarmten entweder oder wurden zu reichen Fürsten.3266
und damit änderte sich auch das Zahlenverhältnis zwischen „normal“ bestatteter Bevölkerung und der neuen Elite, d. h. die Bedeutung der abgehobenen Elite scheint zu wachsen. Oben wurde das Stichwort „Fürstengräber“ im RGA aus dem Jahr 1998 samt der Karten für die ältere und die jüngere Römische Kaiserzeit geschildert. Eine frühe soziale Differenzierung der jungkaiserzeitlichen Körpergräbergruppe von Haßleben-Leuna wurde 1970 vorgelegt.3267 Auch später wurde mehrfach versucht, weitere definierende Kriterien für Fürstengräber zu erarbeiten, u. a. mit der Frage, wie germanisch diese Gräber seien oder wie stark der römische Einfluss.3268 Ein Histogramm zeigt bildlich die Abfolge der Definitionskriterien nach der Anzahl der Belege (Abb. 71): 94mal ist römischer Import aufgeführt, das Fehlen der Waffen wird 78mal vermerkt, der Befund Körpergrab gibt es 54mal, Gold-und Silberschmuck 40mal, germanische Trinkhörner 34mal, Trinkbecher aus Silber oder Glas 15mal. Deutlich werden durch diese Übersicht die Spannweite und eigentlich die Offenheit der Definition beispielsweise „nach unten“ veranschaulicht. In der Regel werden immer dieselben Gräber aufgeführt, aber doch gibt es deutliche Abweichung
3265 Gebühr 2006, 114 Abb. 7 Fünen; 2009, 350 Abb. 7. 3266 Moosbauer 2018, 114. 3267 Schlüter 1970. 3268 Gundersen 2007, 72 Fig. 1 Histogramm; 2011.
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Abb. 71: Definitionsbelege für Fürstengräber und ihre Anzahl der Kriterien.
durch Hinzufügung nicht erst neu ergrabener Bestattungen, sondern schon länger bekannter Gräber. M. Gebühr und ich haben schon 1998 im RGA Zusammenstellungen geboten – wie oben beschrieben mit Nennung der Kartierungen –; um 2000 kamen weitere Gruppierungen hinzu: Es gibt eine neue Liste der Fürstengräber im Rahmen der Monographie zum Fürstengrab von Gommern aus dem Jahr 2010, die über Münzen oder über Terra Sigillata datiert sind.3269 Schon 2000 hatte Jan Bemmann ebenfalls im selben Buch eine derartige Liste zur Ausstattung von Männergräbern, Körperbestattungen und Brandbestattungen im Vergleich der jüngeren Römischen Kaiserzeit publiziert.3270 Über die geographische Verteilung und Dichte der Gräber hat M. Gebühr die Frage gestellt, welchen Rang man bei den Gräbern sehen sollte, reiche Bauern oder Fürsten.3271 Vielfältig werden die Verteilungskarten dieser Prunkgräber veröffentlicht, zuletzt auch in der Publikation 2018 zur „Schlacht“ am Harzhorn.3272 Wie dem es auch sei: Auf den ersten Blick fallen diese Bestattungen auf und erscheinen über einen großen Raum von der Ostsee bis an die Donau und die Weichsel recht gleichartig zu sein. Die jeweiligen Gemeinschaften waren unabhängig 3269 M. Becker u. a. 2010, 344 Tab. 1. 3270 Bemmann 2000, 67–68. 3271 Gebühr 2009. 3272 Moosbauer 2018, 112 ff. Abb. 18 und 19 (hier fehlen die dänischen Gräber auf Seeland).
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voneinander, hatten aber überregionale Kontakte, und man kannte sich. Sonst wären diese doch großen Ähnlichkeiten nicht zu erklären. Die Beigabenausstattung mit Essund Trinkgeschirr, dargestellt über römische Importgefäße, spiegelt die Ähnlichkeit aufgrund der gleichartigen Tischsitten und des Festgelages auch unmittelbar bei den Bestattungsfeierlichkeiten. Wie unterschiedlich diese Gräber der Elite aber trotzdem sind, hat Jan Schuster noch einmal gezeigt, als er ein bisher gewissermaßen übersehenes Grab jetzt neu vorgestellt hat.3273 Das Grab von Zgliczyn Pobodzy in Nordmasowien ist das am östlichsten gelegen Grab dieser Gruppe an der Weichsel. Eine Tagung zu Kammergräbern in Germanien – ein Kennzeichen der Fürstengräber als Definitionskriterium –, gedruckt 2014, gibt von diesen Kriterien ausgehend einen fast vollständigen Überblick zum Stand der Bewertung von Fürstengräbern;3274 denn in diesem Band gibt es Beiträge zu fast allen bedeutenden „Fürstengräbern“ der älteren und jüngeren Römischen Kaiserzeit in Germanien. Die Kammergräber waren aus Holz, doch öfter auch aus Stein gebaut worden.3275 Weil diese Kammergräber vergleichbare Parallelen in den römischen Provinzen hatten, im 3. Jahrhundert bei villae rusticae, sollen diese die Vorbilder für die Befunde in Germanien gewesen sein.3276 Doch meine ich, dass beim Wunsch, aufwändige Gräber anzulegen, die Idee der großen Holzkammer naheliegt, das finden wir über die Zeiten hinweg, von der Bronzezeit über die Hallstattzeit bis in die Frühgeschichte. Es gibt auch eigene Entwicklungen; der Zwang, jeweils anderswoher Vorbilder und Anregungen zu suchen, lenkt ab von der eigentlichen Situation im Gebiet, das betrachtet wird. Außerdem gibt es durchaus im Inneren von Germanien Kontakte über weite Distanzen, um einen vergleichbaren Grabbrauch zu entwickeln. Jan Schuster überprüft die allgemeine Behauptung und zeigt, dass für die Elitegräber vom Typ Lübsow tatsächlich nicht immer eine Kammer gebaut worden ist. 3277 Die Karte der Holzeinbauten in Lübsow-Gräbern bestätigt, dass es sich meist um flache Kisten gehandelt hat und selten um reguläre Kammern, manchmal sogar um Baumsärge. Je genauer die Ausgrabungen und deren Dokumentation sind, desto größer wird die Variationsbreite auch bei den Befunden zu den „Fürstengräbern“. Aber in der Regel sind für die Elite große Kammern aus Holz gezimmert worden (vgl. unten S. 950); die üppige Beigabenausstattung drückt zudem aus, dass die Kammer als Grab gewissermaßen ein Festraum war; es war der Abschluss aufwendiger Totenfeierlichkeiten, und das danach geschlossene Grab konservierte einen (späten) Moment dieser Begräbnisfeierlichkeiten. Die Kammergräber zeigen zudem eine überregionale Ähnlichkeit in der Ausstattung, aber trotzdem in Herrichtung und in den Beigabenensembles auch Eigenes, so dass die Frage nach der Typendefinition 3273 Schuster 2016 (2017), 118 Abb. 1 Karte. 3274 Abegg-Wigg, Lau (Hrsg.) 2014. 3275 Quast 2014b. 3276 Aspöck 2016, 300 ff. zu Abegg-Wigg, Lau (Hrsg.) 2014. 3277 Schuster 2014b, 33 Abb. 1.
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regelmäßig wieder neu gestellt wird, trotz des überregionalen Charakters einer Elite. Deshalb kann auch von einem Netzwerk dieser ranghohen Mitglieder der damaligen Gesellschaft gesprochen werden. Meist steht in der Grabkammer für die tote Person ein Sarg, der hineingetragen worden ist und wohl schon bei den vorausgegangenen Bestattungsfeierlichkeiten, bei der Aufbahrung, eine Rolle gespielt haben wird. Bemerkenswert ist, dass oftmals „Antiquitäten“ zu den Beigaben gestellt werden, die aus einem Familienschatz stammen dürften. Svante Fischer schlägt vor, die jüngsten Kammergräber des 5. Jahrhunderts in Schweden anders zu bewerten, da sie sich von den Gräbern auf dem Kontinent unterscheiden. Die zeitliche Korrelation zwischen den importierten Goldmünzen der Jahre 480 bis 510 n. Chr. und den Kammergräbern bringt wieder die Beziehungen zum römischen Reich ins Spiel: Söldner hätten nach Rückkehr vom Militärdienst diese Sitte ihren Familien nahegebracht.3278 Archäologische Quellen müssen also regelmäßig neu sorgfältig analysiert und ausgewertet werden, zumal wenn sich der Fundbestand, der zum Vergleich berücksichtigt werden muss, deutlich erhöht hat. Nun werden einige anscheinend feststehende Beobachtungen anders gesehen als bisher und 2014 neu interpretiert. Die „Fürstengräber“ vom Typ Haßleben-Leuna in Mitteldeutschland, in denen umfangreicher römischer Import, und zwar Metallgefäße und Gläser, gefunden worden sind, auch provinzialrömische Fibeln als Zeichen des Offiziers im römischen Heer, und Goldmünzen als Charonsgeld im Mund oder in der Hand der Toten, wurden als Ergebnis enger Verbindungen zum Römischen Reich gedeutet, nämlich gewonnen durch Söldnerdienste im Gallischen Sonderreich (260–274) des Kaisers Postumus, und auch die anderen Güter wären als Bezahlung für Militärdienst mit in die Heimat zurückgebracht worden. Betrachtet man aber die gegenwärtig bekannte Verbreitung der Aurei, der Goldmünzen dieses Gallischen Sonderkaiser in Germanien, dann heben sich jetzt zwei zeitgleiche Gebiete ab, einerseits der Raum südlich des Harzes in Mitteldeutschland, der bisher immer im Blick gestanden hat, aber nun auch ein Streifen nördlich des Harzes von der Aller und der Elbe bis zur Weichsel. Der Überblick über die Fundorte der Münzen in Gräbern und den Verstecken legt nun nahe, dass es keine besondere Beziehung von Mitteldeutschland zum Gallischen Sonderreich gegeben hat, sondern das träfe, so Jan Bemmann 2014,3279 eher für das weitere nördliche Nordwestdeutschland zwischen Rhein und Elbe zu (vgl. auch S. 570). Hier gibt es aber keine Fürstengräber des bekannten Typs. Und auch die Datierungen der anderen Elitegräber sind neu zu sehen; denn diese Sitte ist nämlich schon vor der Gründung des Gallischen Sonderreichs aufgekommen.
3278 Sv. Fischer, in: Abegg-Wigg, Lau (Hrsg.) 2014, und dazu Rez. Asböck 2016, 303. 3279 Bemmann 2014.
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Somit muss man Germanien insgesamt als gleichartig beeinflusstes Gebiet betrachten, aus dem Söldner angeworben wurden und wohin diese später zurückkehrten. Nur in einigen Räumen hat sich eine neue Grabsitte durchgesetzt, die Körperbestattung mit reichen Gefäßbeigaben. Nun drängt sich die einseitige Interpretation leicht auf, dass nämlich die Elite in Germanien insgesamt sich dieser neuen Grabsitte angeschlossen habe. Aber da es auch Gebiete ohne diese auffälligen Gräber gibt, in denen doch vergleichbare gesellschaftliche Strukturen geherrscht haben werden, auch mit einer vergleichbaren Elite, muss diese dort der althergebrachten Brandbestattung weiter angehangen haben. Denn es gibt auch Feuerbestattungen, die direkt oder indirekt vergleichbare üppige Beigaben wie die Körpergräber enthalten haben, die aber durch den Brand weitgehend zerstört worden sind. Beispiele werden später beschrieben; denn erst nach der modernen sorgfältigen Analyse auch kleinster Spuren in den Brandresten in den letzten Jahren sind die kostbaren Beigaben nachgewiesen worden. Es bleibt aber nicht aus, dass die komfortabel erhaltenen, herausragenden Beigaben in den Fürsten- oder Elitegräbern so auffällig sind, dass automatisch der Eindruck von Elite entsteht. Sicherlich gehörten die zu beschreibenden Gräber zu den ranghöchsten Familien, deren Beigaben kulturgeschichtlich weiterführende Aussagen erlauben, aber nur zu einem Teil der damaligen Führungsgruppen der Gesellschaft. Die engen Beziehungen ins Römische Reich sind seit Arminius ständig bestehen geblieben, ohne dass jedoch Hausbauweise oder Grabbräuche romanisiert worden wären. Trotz römischer Beigaben blieb es in der Mehrheit bei Bestattungen im traditionellen Sinne der Germanen, mit Ausnahme vielleicht dieser wenigen Körpergräber mit üppigen Beigaben, die aber nicht den ranghohen Bestattungen der Römer entsprechen, sondern die trotzdem ihre Eigenart im Bestattungsbrauchtum entwickelt und behalten haben. Beutezüge aus den ferneren elbgermanischen Gebieten Germaniens ins Römische Reich sind seit Beginn des 3. Jahrhunderts nachgewiesen, selten aus dem näheren Limesvorland (dem Raum der sogenannten Rhein-Weser-Germanen). Kampfverbände und Gefolgschaften haben Raubzüge unternommen, deren Ergebnisse sich einerseits bei missglücktem Rückzug in den Flussfunden wie Neupotz und Hagenbach spiegeln (vgl. S. 536), andererseits in den sogenannten Fürsten- oder Elitegräbern und schließlich auch im Buntmetallschrott in Siedlungen des 3. Jahrhunderts, anders etwa als in Siedlungen des 1.und 2. oder des 4. Jahrhunderts. Das Netzwerk der Eliten bildete sich wahrscheinlich – als Ausschnitt aus der Gesellschaft – in einem Teil der reichen Körpergräber ab, als Knotenpunkte des innergermanischen Austausches provinzialrömischer und einheimischer Waren und Technologien. Die prächtigen Silberbecher-Paare in den Fürstengräbern sind zwar ungefähr gleichzeitig nach Germanien gelangt, aber im internen Austausch im Land weiter verteilt und dann zu verschiedenen Zeiten in die Gräber der Elite gestellt worden, zum einen die original römischen Becherpaare und zum anderen auch die Nachahmungen solcher Becherpaare in eigenen Werkstätten, und jetzt sind solche Becher auch anhand winziger Fragmente in Brandbestattungen entdeckt worden.
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Von den fast 70 Prunkgräbern der ersten vier bis fünf Jahrhunderte n. Chr. in Germanien, in Mittel- und Osteuropa sowie in Skandinavien, schildere ich im Folgenden nur eine kleine Auswahl, einerseits weil die Fundorte im beschreibenden Namen dieser Gräbergruppen eine besondere Rolle in der Forschung spielen, andererseits weil ich versuche, mit Worten die Ähnlichkeiten und Unterschiede zu erläutern, was nachhaltiger sein könnte, als nur Bildtafeln aneinander zu reihen. Doch kann man auf das Lesen derartiger, durch Wiederholungen vielleicht ermüdender Passagen auch verzichten. Die Datierungsversuche der Archäologen haben keine kontinuierliche Abfolge derartige Bestattungsplätze der Elite erbracht, sondern sich bei den Beschreibungen auf die zwei Phasen des 1./2. und die des 3./4. Jahrhunderts geeinigt. Aber immerhin ist mit dem „Königsgrab“ von Mušov in Mähren (spätes 2. Jahrhundert), gefunden 1988, eine Bestattung aus der Zwischenphase dazu gekommen. Das Fürsten- oder Königsgrab von Gommern bei Erfurt (um 300 n. Chr.), gefunden 1990, fällt aufgrund seines besonderen Reichtums der Beigaben auch aus der zweiten Gruppe heraus. Im Übrigen gibt es nur kurze Generationsfolgen auf den kleinen Gräberfeldern dieser neuen Bestattungsweise in Germanien, ein Hinweis auf die soziale Mobilität und die Wandelbarkeit der Strukturen, weshalb kaum irgendwo eine dauerhafte Dynastiebildung erfolgt ist. Die herausragenden Metallfunde römischer Herkunft, Gefäße aller Art, werden im Folgenden durchaus aufgeführt, und zwar mit den Bezeichnungen, die ihnen die Wissenschaft gegeben hat. Zumeist gehen diese Begriffe auf die Arbeiten zum römischen Import in Germanien von Hans Jürgen Eggers aus den 1950er Jahren zurück.3280 Ungefähr 30 Fundplätze mit Elitegräbern der älteren Römischen Kaiserzeit, aus dem 1./2. Jahrhundert n. Chr., sind registriert,3281 und etwa ebenso viele aus der jüngeren Römischen Kaiserzeit, dem 3./4. Jahrhundert (oben Abb. 65).3282 Das Netzwerk der Elite, fassbar über vergleichbare neuartige Grabsitten, erstreckt sich von Norwegen bis zur Donau. Schon 1870 formulierte Georg Christian Friedrich Lisch, der erste Bearbeiter der früh gefundenen Gräber, die Meinung, es handelte sich um „Römer = Gräber“.3283 Zwar klingt es heute ähnlich, wenn gefragt wird „barbarian mercenaries or roman citizens“? Aber dabei wird an germanische oder römische Kaufleute gedacht.3284 Doch der Ausgräber der großen Moorfundkomplexe in Jütland Conrad Engelhardt schrieb schon 1872 demgegenüber, dass diese Bestattungen nicht römischen Ursprungs wären, denn der Inhalt der Gräber sei nicht rein römisch, sondern halbrömisch oder römisch-barbarisch. Vielmehr sehen spätere und heutige Forscher die engen Bezie3280 Eggers 1951; 1955; zu Hans Jürgen Eggers: Jankuhn 1986b. 3281 Gebühr 1998a, 186 Abb. 25 Karte mit Nr. 1–31; Quast 2009c, 109 Abb. 1 mit Nr. 1–31. 3282 Gebühr 1998a, 187 Abb. 26 Karte mit Nr. 1–28; Quast 2009c, 114 Abb. 4 mit Nr. 1–32. 3283 Lisch 1870. 3284 Rausing 1987.
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hungen der kontinentalen Gräber zu den Bestattungen auf den dänischen Inseln, die ähnlich ausgestattet sind. Doch der Einfluss und die Übernahme der Sitte der Körperbestattung sollte von Norden gekommen sein, weil dorthin auch die Entfernung über die Ostsee recht kurz ist, und nicht etwa als Anregung aus den römischen Provinzen. Schließlich sind diese neuartigen Gräber mit den zahlreichen Beigaben aus dem Römischen Reich Spiegelbild einer veränderten Gesellschaft, die zwar Rom als mächtigen Nachbarn registriert, aber doch versucht, einen eigenen Lebensstil, auch allgemein im Siedlungswesen, zu bewahren. Das trifft zudem auf beide Phasen der „Fürstengräber“ und auf die Zwischenbefunde zu. Claus von Carnap-Bornheim fragt dazu, um was es sich bei diesen Neuerungen gehandelt hat, ob die Lösung: „Zwischen Anpassung und Widerstand“ liegt.3285 Ein anderes Zitat spricht vergleichbar von „Fürsten als Verbündete und Feinde Roms im Spiegel ihrer Grabinventare“, wenn es um die später zu beschreibenden und früh entdeckten Gräber von Haßleben 1912 und Leuna 1834 geht.3286 Bei der weiten Erstreckung dieser in vielem, aber nicht in allem gleichartigen neuen Grabsitte der Prunkgräber handelt es sich nicht um einfache Übernahme aus der sogenannten Hochkultur des Römischen Reichs, diese „Fürstengräber“ sind auch nicht nur Prunkgräber in der Peripherie einer Hochkultur, wie einst Georg Kossack 1974 das gemeint hat.3287 Vielmehr sollte man von einem eigenständig entwickelten Brauch in Germanien ausgehen, der aber auch nicht isoliert von der Umwelt entstanden ist, sondern entsprechend der vielfach überlieferten weitreichenden Verbindungen und Kontakte Anregungen aus allen vier Himmelsrichtungen übernommen hat. Die von der Archäologie verwendeten Periodeneinteilungen gehen zum Zwecke der Datierung eben vorwiegend auf römisches Sachgut in den Gräbern zurück. Die Kartierungen (oben Abb. 65) zeigt deutlich, dass diese auffälligen Grabsitten eben nicht überall in Germanien üblich wurden, sondern zu den beiden verschiedenen Zeitphasen auch begrenzt auf verschiedene geographische Gebiete konzentriert waren. Das hängt nun nicht vom etwa eingeschränkten Forschungsstand ab, denn der ist in Germanien relativ gleich. Im ganzen Raum von Norddeutschland südlich der Nordseeküste bis zum Main gibt es keine Fürstengräber, und die auffälligen Konzentrationen in den beiden Phasen sind also nicht deckungsgleich; d. h. die Machtzentren – wenn es welche gewesen sind – oder nur die Bestattungsbräuche haben sich verschoben. Eine Auswahl der „Fürstengräber“ bzw. der Gräbergruppen wird nachfolgend deshalb nacheinander beschrieben, um die Gleichartigkeit zu zeigen. Am überzeugendsten ist die Ähnlichkeit in der Zusammensetzung des Tafelgeschirrs. Das Trinkgeschirr spiegelt römische Sitten: Silberbecher als Paare, eine Kelle zum Schöpfen des Getränks aus einem Eimer, zum Beispiel einem Hemmoorer Eimer aus
3285 v. Carnap-Bornheim 2006a. 3286 Moosbauer 2018, 115 f. 3287 Kossack 1974.
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Bronze oder gar Silber, und ein Sieb zum Herausnehmen der Gewürze aus dem Wein oder einem anderen Getränk. Wein, auch Beerenwein, ist in Spuren in den Gefäßen neben Bier und Met nachgewiesen. Der einheimische Anteil am Geschirr bestand aus Keramikgefäßen und Trinkhörnern mit teils prächtigen Beschlägen sowie hölzernen Getränkeeimern, die meist ebenfalls mit Metallbeschlägen verziert sind. Die Beigabe des römischen Glas- und Bronzegeschirrs, auch der Silberbecherpaare zeigt die enge Verbindung bis zur Anbindung an die römischen Sitten in den Provinzen. Zur Übernahme von fremden Bräuchen zählen auch die Brettspiele in den Kammergräbern, zu denen oftmals Glasspielsteine gebraucht wurden und die beliebt als Grabbeigaben waren.3288 Auffällig ist ebenso die regelmäßige Beigabe der Kelleund Siebgarnitur zum Gewürzabsieben im Wein oder von anderen Getränken, speziell behandelt für das untere Elbe- und Odergebiet als Typ Juellinge – eines der Fürstengräber der älteren Phase.3289 Außer Trinksitten wurden andere Bräuche aus römischem Milieu, z. B. die Mitgabe eines Charonpfennigs bzw. Obolus, übernommen.3290 Man legte den Toten Goldmünzen in den Mund, was deutlich zeigt, dass hier ein aus der römischen Welt übernommener Gedanken aufgegriffen wurde. Allgemein stellt man sich das so vor, dass germanische Söldner nach Rückkehr aus dem römischen Heer derartige Bräuche, die sie beim Militär kennengelernt hatten, mitgebracht haben. Schließlich fällt auf, dass immer wieder Altsachen, Antiquitäten, in die Gräber als Beigaben gestellt worden sind.3291 Im Grab von Gommern (um 300 n. Chr. zu datieren, vgl. S. 542) ist das über die Laufzeiten der Importgefäße zu erkennen: Der Dreifuß ist alt, möglich seit 75 n. Chr., die anderen Sachen werden um 200 bis 225 datiert, Kelle und Sieb gab es bis 250. Im „Königsgrab“ von Mušov (spätes 2. Jahrhundert n. Chr.) fiel ebenfalls ein sehr altes Paar von Feuerböcken auf. Im Fürstengrab von Sakrau/ Wrocław-Zakrzów stand ein alter Vierfuß, in Stráže Grab II war die silberne Lanx alt, in Stráže fanden sich auch mehrere unbenutzte Gürtel und Teile des Ornats oder alte wie in Gommern ineinander verhakte Gürtel. Diese Antiquitäten waren Teile – so kann man vermuten – von Familienschätzen, die aufbewahrt und erst später als Grabbeigaben verwendet worden sind, auch geschah Ähnliches sicherlich mit weitergereichten Geschenken. Verhielt man sich so bei sozialem Stress, der ausgelöst wurde durch rückkehrende Söldner?3292 Die Kollektion der römischen Importgefäße in diesen östlichen Fürstengräbern von Zakrzów I bis III und Stráže I und II besteht aus Kelle/Sieb, Becken, Eimer, Glasbecher und zudem aus Vier- oder Dreifuß (wie oben gesagt Antiquitäten) sowie aus Silbergefäßen, die D. Quast tabellarisch aufgelistet hat, ergänzt durch die Liste der silbernen und goldenen Fibeln.3293 3288 Krüger 1982. 3289 Seyer, Voss 2002. 3290 Werner 1973; Steuer 2002e, ausführlich zum Charonspfennig. 3291 M. Becker u. a. 2010, 186 Diagramm 1 (Susanna Künzl). 3292 Quast 2016a, 272. 3293 Quast 2016b, 337 Tab. 2 Geschirr, 336 Tab. 1 Fibeln.
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Wie lassen sich diese üppigen Ausstattungen erklären? Jan Schuster schlägt vor, einen Teil der Grabausstattungen in den Fürstengräbern weniger als Beigaben anzusehen, denn als Opfer.3294 Er geht auf die später noch zu beschreibenden Gräber von Högom bis Gommern ein, bringt Pläne, schreibt dazu auch über die älterkaiserzeitlichen Fürstengräber Lübsow Grab 1, Dollerup Grab A, Skrøbeshavn Grab 5, Store Dal Hügel 6 sowie über die jüngerkaiserzeitlichen Bestattungen Leuna Grab 2 und NeudorfBornstein Grab 4.3295 Die Fürstengräber dienten gewissermaßen als Container, sie spiegeln zudem eine Gruppenidentität mit Liegen,Tischen und Sitzen, eine Ausstattung wie für ein Festgelage. Die Behauptung, die „evolution of the idea of the princely grave within the Germanic Barbaricum very likely, inspired by Roman customs“ lehnt er weitgehend ab, da die Gräber nicht gleichartig sind und jeweils auch lokale Sitten spiegeln, trotz der überregional genormt wirkenden Beigabenausstattung. Die oftmals mehrfache Ausstattung mit Fibeln, die man für eine Kleidung nicht gebraucht hat, oder von mehreren beigelegten Gürteln oder zahlreichen Sporen, ist ebenfalls Zeichen von Reichtum; es kann sich um Teile des Familienbesitzes gehandelt haben. Die Adoption der mediterranen Sitte des Symposiums durch die Elite in Germanien mit dem Zusammenpacken der Beigaben in einem Kessel und in die Eimer, in denen die Gläser gestellt waren, beschreibt zugleich – so meine auch ich – das Totenmahl, da die Nachfolger bzw. die Familien die Bestattung ausrichteten. Die römischen Silberbecher-Paare wurden als Symbol übernommen, um lokal sozialen Status zu demonstrieren. Ob die mitgegebenen Gefäße tatsächlich die Relikte der Bestattungszeremonie waren und dann rituell mit begraben wurden, um sie vor Entweihung zu schützen, kann überlegt werden. Bei herausragenden Persönlichkeiten konnten über die Familie hinaus auch Freunde und Gäste bei den Bestattungszeremonien Geschenke mit ins Grab gestellt haben. Um zusammenzufassen: Repräsentative Gräber für Gestorbene mit wertvollen Beigabenausstattungen waren oftmals und in verschiedenen Gegenden Mitteleuropas in großen Kammern, gezimmert aus Holz, beigesetzt. Nun werden für diese anscheinend neuen Grabbauten Vorbilder gesucht; regelmäßig wird dabei in die römischen Provinzen geblickt. Vergessen wird dabei, dass die örtlichen Eliten auch unabhängig, gewissermaßen autonom, eine solche Lösung gefunden haben. Holzbau war allgemein bekannt und kein Problem für die Zimmerleute der Gemeinschaft. War eine auffällige Grablege geplant, um den Rang der Familien oder auch vielleicht nur des oder der Verstorbenen zu zeigen, dann wurde eine große Kammer aus Holzbalken gebaut. Geht man die Epochen der Ur- und Frühgeschichte durch, dann stößt man regelmäßig auf Phasen, in denen es Kammergräber gab, während der Bronzezeit ebenso wie während der nachfolgenden frühen Eisenzeit, der Hallstatt- und der Latènezeit und später noch während der Merowinger- und chronologisch noch weiter während der
3294 Schuster 2014a, 43 f. 3295 Vgl. die Karten bei Gebühr 1998a, 186 f. Abb. 25 und 26.
18.4 Elitegräber – ein Auswahlkatalog der Körpergräber
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Wikingerzeit. Es ist methodisch nicht vorgegeben und nur eine Forschungstradition, nach Vorbildern zu suchen. Keineswegs also sollten Vorbilder für die Elitegräber der ersten Jahrhunderte n. Chr. in Römischen gesucht werden, da sie entweder Wurzeln in den vorausgehenden Epochen hatten oder eine Lösung darstellen, wie sie immer wieder zu jeder Zeit bis in die Moderne gewählt worden ist.
18.4 Elitegräber – ein Auswahlkatalog der Körpergräber Die Elitegräber werden in die beiden Zeitabschnitte, das 1./2. und das 3./4. Jahrhundert, aufgegliedert mit einigen herausragenden Befunden in der Zwischenphase.
18.4.1 Die älteren Gräber des 1./2. Jahrhunderts auf dem Kontinent Einige „Fürstengräber“ oder „Elitebestattungen“ gibt es aus dem Beginn des 1. Jahrhunderts. In Hoby auf der Insel Lolland ist 1920 das außerordentlich reich ausgestattete Grab eines 20 bis 35jährigen und etwa 1,90 m großen Mannes entdeckt worden.3296 Zu den Beigaben zählen römische Gefäße aus Bronze: Becken, Kasserolle, Kanne, Tablett, Eimer bzw. eine Situla mit Gesichtsattaschen, und zwei Silberbecher sowie eine Henkeltasse aus Silber. Einheimisch sind Trinkhörner, Fibeln, Messer, Holzkasten und Tongefäße. Aus Gold sind zwei Fingerringe, aus Silber fünf Fibeln. Das Grab enthielt somit ein vollständiges Trink- und Speisegeschirr italischer Herkunft. Bemerkenswert sind die beiden Silberbecher, die wahrscheinlich aus Griechenland stammten, mit szenischen Darstellungen aus Homers Ilias.3297 Sie gibt es in größerer Zahl im Bereich des Imperiums; zuletzt ist 2017 der schon 1867 entdeckte Becher von AliseSainte-Reine (Côte-d’Or) aus der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr. wieder publiziert worden.3298 Datierbar in die Zeit des Hildesheimer Silberschatzes, jedenfalls ins 1. Jahrhundert n. Chr., fallen die Inschriften auf den Bechern von Hoby auf, die des Herstellers, des Griechen Cheirisophos, und der im Boden eingeritzte Name SILIUS, Name des ehemaligen Besitzers; und vielleicht bezieht sich dieser Name auf den römischen Legaten C. Silius, der von 14 bis 21 n. Chr. Kommandant Obergermaniens mit Sitz in Mainz war. Deshalb wird dieses Silbergeschirr sogleich als Diplomatengeschenk des Römers an einen einheimischen „Fürsten“ betrachtet. Seit 1999 und vor allem seit 2010 laufen Ausgrabungen in der 300 m entfernt gelegenen zugehörigen mehrphasigen Siedlung,3299 wobei 40 Gebäudespuren freigelegt 3296 Lund Hansen 2000a; Odin, Thor und Freyja 2017, 43–45. 3297 Friis Johansen 1960. 3298 Archéologia No. 554, Mai 2017. 3299 Blanckenfeldt, Klingenberg 2011.
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18 Gräberfelder der Bevölkerung und Bestattungen der Eliten
worden sind, außerdem Reste von rituellen gemeinschaftlichen Mahlzeiten, die anschließend deponiert wurden. Im Zentrum der Siedlung standen drei Großhäuser – eines davon 30 m lang –, die ausschließlich als Wohngebäude (ohne Stallteil) gedient haben, von denen eines von einem palisadenähnlichen Zaun eingefasst war. Ein planvolles Wegenetz verbindet die Häuser, mehrere Brunnen und die Opferstellen. Der Ritualbereich bestand aus zwei Teichen, aus Kochgruben und Tierknochendepots. Bisher ungeklärt sind in einem der Teiche mehrere Flechtwerkzäune als Unterteilungen, und dazu gehört noch eine Plattform in der Mitte des Teichs, insgesamt spricht das alles für Rituale und Kultmahle (vgl. oben S. 276). Der zugehörige Siedlungsbefund wurde hier noch einmal ausschnitthaft erläutert, weil die Frage naheliegt, ob nämlich ein sozialer und struktureller Zusammenhang zwischen außergewöhnlichen Grablegen und der jeweils benachbarten Siedlung besteht. Es heißt in einem Programmbericht 2015 aus Schleswig:3300 Bislang ist fraglich, wie sich älterkaiserzeitliche Eliten in den Siedlungen nach außen repräsentierten: Gab es etwa andere Hausformen oder Gehöfte, lebten sie in separierten Hofstellen – oder unterschieden sich die Wohnhäuser der höher gestellten Persönlichkeiten […] nicht von anderen Häusern?
Vergleichbare Ausgrabungsvorhaben laufen auch bei den Fürstengräbern von Lübsow und Marwedel, auf die nachfolgend noch eingegangen wird. Es ist offensichtlich, so die Grabungsergebnisse, dass es meist keine erkennbare Relation in Rang und Reichtum zwischen Prunkgrab und Gehöft trotz der unmittelbaren Nähe und der eindeutigen Zusammengehörigkeit gibt. Die Ausrichtung einer besonderen Bestattung geht auf die herausragende Bedeutung des Verstorbenen oder dessen Familie zu Lebzeiten zurück, die vielleicht erst im Verlauf des Lebens erworben worden ist, was nicht rückwirkend gleich repräsentierend im Hausbau ausgedrückt wurde. Umgekehrt wurden in zahlreichen Siedlungen, die auch hier beschrieben worden sind, jeweils ein großes Gehöft mit zusätzlichen Hallengebäuden ausgegraben, die zeigen, dass hier die Elite residiert hat; nur manchmal erhielten dann Verstorbene wie in der Fallward nahe der Feddersen Wierde ein dem Großgehöft entsprechendes Prunkgrab (vgl. S. 206) bzw. konnte ein solcher Zusammenhang archäologisch gefunden werden. Das Grab von Bendstrup bei Randers in Nord-Jütland aus dem Anfang 1. Jahrhundert n. Chr. ist parallel zu Hoby einzuschätzen.3301 Entdeckt 1869 lag wohl ein Nord-Süd ausgerichtetes Körpergrab in einem Hügel. Mehrere Tongefäße wurden damals erwähnt, sind aber nicht mehr überliefert. Die von Norden nach Süden erfolgte Beschreibung nennt zwei silberne Fibeln mit Golddraht, datiert um +/- 0, vier gegossene Löwentatzen von 26 bis 34 g Gewicht als Füße eines Gefäßes oder
3300 Blanckenfeldt 2016. 3301 Hedeager, Kristiansen 1981, 117 Fig. 37 Karte der Gräber der frühen Römischen Kaiserzeit mit Position von Brendstrup, 118 Fig. 39 Verbreitung der Gräber mit Berlocks aus Silber und Gold.
18.4 Elitegräber – ein Auswahlkatalog der Körpergräber
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Tisches, weitere Bronzegefäße, Reste eines Weinkraters, außerdem vier Fossilien und eine große Bernsteinperle. Das Grab wirkt wie das von Hoby recht „international“, ist zwischen 4 bis 21 n. Chr. zu datieren und verdankt wohl seine Existenz der damaligen politischen Situation beim Beginn der römischen Okkupationsversuche, wofür auch der genannte Legat C. Silius aus Mainz spricht. Nach der römischen Niederlage wurde eine neue Politik versucht. In Hoby ist mit den beiden Bechern ein komplettes Bankett-Service aus Zentralitalien unter Augustus nach Dänemark gelangt. Die Tierkopffibeln in Hoby sind lokale Imitationen römischer Vorbilder und in Bendstrup finden sich originale südeuropäische Arbeiten. Schließlich sollen die Ammoniten auch einen persönlichen Kontakt in südwestgermanische Gebiete belegen. Die in Süd- und in Nord-Jütland positionierten beiden Gräber liegen in verschiedenen Stammes- oder Sachkulturgebieten, die seit der vorrömischen Eisenzeit fassbar sind. Ob damit die Etablierung lokaler politischer Herrschaft verbunden war, ob es Kriege untereinander gegeben hat, ob die Kontrolle des Handels mit Prestigegütern und die Kontrolle der lokalen Wirtschaft damit verbunden waren, diskutieren die Bearbeiter L. Hedeager und K. Kristiansen. Dazu gehört die Auswertung der Fibeln mit Tierköpfen; die Verteilung dieser Fibeln reicht von der Donau, wo die originalen Formen vorkommen und norische Weiterbildungen der Gruppe Almgren IV der sogenannten kräftig profilierte Fibeln, teils mit durchbrochenem Nadelhalter, bis nach Jütland. Solche Fibeln gibt es in Bendstrup, nicht in Hoby, wo aber ähnliche Fibeln der Gruppe Almgren IV:71 gefunden wurden. Die Fibeln wiegen jeweils 25 g. Das Fürstinnengrab von Lalendorf, Kr. Güstow, in Mecklenburg-Vorpommern, datiert um 50 n. Chr., ist das reich ausgestattete Körpergrab eines etwa 13 Jahre alten Mädchens. Die Beigaben bestehen aus zwei kräftig profilierten Silberfibeln mit tordiertem Golddraht, einer bronzenen Rollenkappenfibel, weiterhin aus zwei Trinkhörnern, von denen die Beschläge erhalten sind, und einem Fußbecken aus Bronze.3302 Ein Adelsgrab der frühen Römischen Kaiserzeit, ebenfalls um 50 n. Chr. datiert, ist bei Quetzdölsdorf, Kr. Bitterfeld, 1982 entdeckt worden.3303 Zum Grab gehört ein Bronzeeimer, in dem zusätzlich Kelle und Sieb gelegt waren, neben dem Eimer standen zwei Kasserollen, dabei lagen eine Bronzeschere und ein Sporn aus Bronze sowie zwei rechteckige Bronzeplatten. Im Fürstengrab von Wilhemshof auf der Insel Usedom aus dem Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. stand germanische Keramik, mehrere Pokale, außerdem waren darin eine bronzene Kasserolle mit dem Herstellungsstempel des Publius Cipius Polybius (zu diesem Produzenten vgl. S. 599) und ein Eimer vom Östlandtyp hinzugefügt.3304 In Lübsow, heute Lubieszewo in Westpommern, der den Namen für die ganze Gruppe der älteren Fürstengräber gegeben hat, ist der kleine Friedhof vom Typ
3302 Gebühr 2001; Erdrich 2000a, 195 Abb. 159 und 369 f. 3303 Nitschke, Schröder 1989. 3304 Wamser u. a. (Hrsg.) 2000, 367 f. Katalog-Nr. 112 und 113.
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Lübsow schon in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts untersucht worden. Hier wurden 1908, 1910 und 1913 und wieder 1925 sowie 1937–1939 mehrere Gräber freigelegt, die eine kurze Generationsfolge – man sprach hier sogar von einer Dynastie – bilden.3305 Es gibt mehrere Areale mit Prunkgräbern, darunter Sandberg und Tunnehult.3306 Die Fürstengräber teils in großen Steinkammern bzw. in Holzkammern oder flachen Holzkisten mit Steinüberschüttung enthielten silbernen Schmuck und römische Bronze- und Silbergefäße und ein Grab auch ein Silberbecherpaar, das in Nachahmung römischer Becherpaare wohl einheimisch hergestellt worden war. Während die älteren Fürstengräber auf dem „Sandberg“ noch im Zusammenhang mit einem Gräberfeld lagen, waren die jüngeren vom „Tunnehult“ für sich allein abgesondert angelegt worden. Die Gräber gehören in das 1. und frühe 2. Jahrhundert n. Chr. und umspannen etwa drei Generationen. Ein laufendes Forschungsprogramm widmete sich der zugehörigen Siedlung.3307 Die neuen Grabungen wurden 2006 durchgeführt,3308 und zwar auf dem seit 1925 bekannten Platz (Abb. 72).
Abb. 72: Lübsow/Tunnehult Grab 1, Holzkammer mit Steinüberschüttung.
Das Hügelgrab Tunnehult 1 ist die größte der älterkaiserzeitlichen Grabanlagen mit über 15 m Durchmesser; zu den Beigaben gehören 6 Fibeln, ein bemaltes Glasgefäß, silbervergoldete Applikationen eines Prunkgürtels mit bisher in Germanien
3305 Hahuła, Nowakowski 2001. 3306 Quast 2009c, 112 Abb. 3 Karte der Fundstellen nach R. Wolągiewicz 1997, Abb. 1. 3307 Schuster 2009b; 2010a; 2014a, b. 3308 Schuster, Cieślinski 2009, 572 Abb. 2 zeigt die drei Hügel, 572 Abb. 4 eine Karte ähnlicher Grabhügel aus Sandaufschüttungen zwischen der unteren Oder und der Weichsel.
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unbekannten Einlagen aus Malachit. Im Hügel Tunnehult 3 datiert eine Bronzefibel die Grablege (und damit im weiteren Sinne auch die anderen Bestattungen) in die Stufe B2/C1a (um 150 n. Chr.); im Tunnehult 2 fand sich ein ähnliches Glasgefäß. Am Ort wurde als Streufund ein Schwertgriff im südskandinavischen Stil geborgen, zu dem die Frage gestellt wird, wo das Stück wohl produziert worden ist, in der Nähe oder im Norden, was dann eine Beziehung in den Ostseeraum belegen würde.3309 In den Gräbern standen kombinierte Sätze aus römischen Metallgefäßsätzen und einheimischen Gefäßen. So scheint es, dass doch keine Nachahmung antiker Symposiumssitten durch die germanischen Eliten beabsichtigt war.3310 Es gab also auswählende Gründe für die Verbreitung gewisser römischer Gefäßtypen, die Becken und Kannen aus Bronze oder die gläsernen Rippenschalen und Glasbecher kommen in ganz Germanien in den Elitegräbern vor. Ähnlich sind die Gräber von Marwedel bei Hitzacker nahe der Elbe in Niedersachsen nicht zeitgleich, sondern gehören zwei Generationen an. Hier wurden 1928, 1938 und 1944 drei Fürstengräber untersucht. Grab I aus der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts, ein Baumsarg, enthielt Bronzegeschirr mit Kelle und Sieb für den Weingenuss und zwei Trinkhörner im Sarg und Tongefäße außerhalb in der Grabgrube.3311 Der Tote trug an der Kleidung silberne und bronzene Fibeln, einen Gürtel mit silbernen Beschlägen sowie Sporen und wohl auch ein Schwert, (was als Ausnahme zu betrachten ist, da diese „Fürstengräber“-Gruppe in der Regel keine Waffen als Beigaben kennt). In Grab II in 6 m Entfernung zum ersten Grab lag der Tote in einer großen hölzernen Kammer auf Fellen, trug einen goldenen Fingerring und an der Kleidung silberne und bronzene Fibeln. Metallgeschirr und Trinkgefäße standen zu seinen Füßen in zwei Gruppen, in der einen eine große bronzene Kasserolle, zwei kleinere silberne Kasserollen und Kelle mit Sieb sowie ein silbernes Becherpaar, in der zweiten Gruppe ein Eimer und zwei Trinkhörner, auch zwei Glasgefäße. Der Tote trug Sporen aus Bronze, verziert mit Silbertauschierung und silbernem Perldraht, und eine Tasche mit silbernen Beschlägen. Die Gefäße zeigen teilweise die eingeschlagenen Namen der römischen Vorbesitzer. Das Grab gehört in die Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. Vom Grab III in direkter Nachbarschaft zu den ersten beiden Gräbern sind nur silbertauschierte Sporen überliefert, ebenfalls aus der Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. Ein größeres archäologisches Forschungsvorhaben hat in der Nähe dieser Fürstengräber auch die Gehöfte der Siedlung ausgegraben, die mit extensiver Eisenerzverhüttung verbunden war (vgl. oben S. 444). Hier handelt es sich um den seltenen Fall, dass zu den Gräbern unmittelbar auch die Siedlung bekannt ist. Doch heben sich die Haus- und Gehöftformen nicht von den üblichen Befunden in Dörfern ab. So bleibt es
3309 Rau, Blankenfeldt, Schuster 2015. 3310 Schuster 2016b, 94 Abb. 1 Fürstengräber von Lübsow/Sandberg, Łęg Piekarski sowie Hoby und weitere Karten nach Schuster 2010a. 3311 Laux 1992; 2001; Nüsse 2007; 2014b; Baier, Nüsse 2014; Baier 2013; 2015.
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offen, ob man von einem Fürstensitz sprechen könnte.3312 Für das untere Odergebiet versucht J. Schuster ähnlich auch die Beziehung zwischen Elitegräbern und Siedlungen während der jüngeren Kaiserzeit zu bewerten.3313 Im polnischen Łęg Piekarski bei Łódź sind mehrere Fürstengräber der frühen Gruppe in den Jahren 1933, 1936, 1947 und 1975–1977 freigelegt worden, die sich wie überall von den üblichen Brandbestattungsformen, hier der Przeworsk-Kultur, unterscheiden.3314 Sie werden in die kurze Zeitspanne von 50/80–120 n. Chr. datiert, überspannen also kaum ein Jahrhundert und könnten eine kurze Dynastie gebildet haben. Eine große Steinpackung bedeckte jeweils eine Holzkammer, in der fast identische Ausstattungen aufgestellt waren. Der Tote im Fürstengrab II hatte umfangreiches römisches Importgeschirr als Beigaben mitbekommen, einen großen Bronzeeimer, zwei Silberbecher, außerdem eine Griffschale aus Bronze, ein Becken, eine Kasserolle, Kelle und Sieb, eine Kleeblattkanne, auch jeweils aus Bronze, mehrere Trinkhörner mit Endbeschlag aus Bronze oder Silber sowie eine Glasschale. Zu den Beigaben gehörten weiterhin Spielsteine aus Glas sowie vier Würfel. Vom Schmuck sind eine silberne Fibel zu nennen, außerdem gehörten noch Schere, Messer und Rasiermesser zur Ausstattung. Im Fürstinnengrab von Leśno, Chojnice, Polen, aus der zweiten Hälfte des 2. Jahrhundert lagen neben den Schmucksachen aus vier Fibeln, Perlen und zwei Schlangenkopfarmringen auch ein großer gewellter Eimer aus Bronze sowie zwei Facettschliffbecher aus Glas.3315 In Wichulla im Kr. Oppeln/Opole, wurde1885 ein frühkaiserzeitlich zu datierendes Fürstengrab entdeckt, in dem 1933 eine erste Nachgrabung und 1957 eine zweite durchgeführt wurde. Damals wurden auch Reste einer zugehörigen Siedlung gefunden, die schon 1926 entdeckt worden war und Keramik der Stufe B1 erbrachte, dabei gute Drehscheibenware.3316 Eine mächtige Steinpackung überdeckte die 4,90 auf 2,70 m messende Grabgrube, in der eine zweigeteilte Holzkammer eingebaut war. In der westlichen kleineren Kammer standen die zahlreichen Gefäßbeigaben – auf die gleich noch eingegangen wird –, in der östlichen lag der Tote, zu dessen Füßen auf einer höheren Ebene drei weitere Tongefäße standen. Die turbulente Ausgrabungsgeschichte erlaubt nur eine kursorische Aufführung des Beigabenspektrums, das denn zu unterschiedlichen Datierungen geführt hat, in die Stufe B1, nach B1b, auch nach B1c. In Verbindung mit der Importwelle aus dem Vanniusreich in der Slowakei – also mit Blick auf historische Ereignisse – wurde dieses Grab in die claudischneronische Zeit 40–70 n. Chr. datiert,3317 während auch für einen jüngeren Ansatz B2 3312 Nüsse 2012. 3313 Schuster 2003. 3314 Nowakowski 2001; Schuster 2014b. 3315 Schuster 2008a, 63 Abb., 347 Kat.Nr. 408–436; 2008b. 3316 Mączyńska 2006, 569 Abb. 84 Plan und Schnitt durch das Grab. 3317 Wolągiewicz 1970.
18.4 Elitegräber – ein Auswahlkatalog der Körpergräber
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plädiert wurde (K. Godłowski 1977), was jeweils anhand der verschiedenen importierten römischen Gefäße erfolgte. Zu den Beigaben zählen: ein silberner, teils vergoldeter Skyphos (drei weitere sollen verloren sein), einige kleine Silberschüsseln, drei Bronzegefäße, Kelle und Sieb, Beschläge von zwei Trinkhörnern, an Kleingeräten ein Bronzemesser mit Silberdrahteinlage und eine verzierte Bronzeschere (schon bei der Ausgrabung 1885 geborgen); hinter dem Kopfende standen Eimer, in denen weitere Gefäße lagen, außerdem wurden fünf Tongefäße, zwei Glasschalen, Reste von Bronzeeimern und Beschläge von zwei Trinkhörnern sowie Kleingeräte geborgen (Grabung 1933). Der Skyphos ist eine der Altsachen nach der Mitte des 1. Jahrhundert v. Chr., die in den Jahrzehnten n. Chr., oft repariert, als Geschenke nach Germanien gelangten und länger im Umlauf beim weiteren internen Geschenketausch waren, ehe sie nach mehreren Generationen zur Grabbeigabe wurden. M. Mączyńska meint nun, dass dieses Fürstengrab zeitlich zur Lübsow-Gruppe gehöre, aber im Rahmen der Przeworsk-Kultur untypisch sei, weil das Trinkgeschirr nach „barbarisierter“ Auswahl zusammengestellt sei und vom Standard Eimer, Kelle/Sieb, Trinkgefäß abweiche; stattdessen wurden Trinkhörner gewählt. Ein frührömisches Fürstengrab No. 6, entdeckt 2010, in Zohor in der Westslowakei am linken Marchufer, gehört zum Lübsow-Horizont.3318 Im Kammergrab des 40 bis 50jährigen Mannes standen sieben römische Bronzegefäße, zwei Rippenschalen aus Glas neben einheimischer Keramik. In der Nachbarschaft sind zeitgleiche Siedlungsreste ergraben und auch reiche Brandgräber mit Edelmetallbeigaben sowie ein Hortfund mit römischen Gefäßbruchstücken, außerdem früher schon seit den 40er und 50er Jahren des 20. Jahrhunderts eine Reihe von Fürstengräbern der Lübsow-Gruppe, die zudem als Körpergräber die Vorstufe der Gruppe bildeten (datiert in die Stufe B1b, also bald nach der Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr.). Die dichte Lage am Donaulimes im Marchtal gegenüber von Carnuntum nicht einmal in 15 km Entfernung ist zu beachten. In einer Tabelle sind die römischen Importfunde in den Fürstengräbern 1 bis 5, in einem weiteren Fürstengrab von Vysoká bei Morave und auch einem Hortfund zusammengestellt. Es sind Glasgefäße und auch Silberbecher, weiterhin Kannen und Griffschalen, Becken, Schüssel, Eimer und regelhaft Kelle und Sieb sowie Kasserollen, datiert ins 1. und 2 Jahrhundert. In einem Brandgrab 1/2000, entdeckt 1999, lagen in der Tonurne Fragmente römischer Importgefäße, so von einem Eimer, und unter der Urne fanden sich die normalen Beigaben Schere, Messer, Feuerstahl, auch eine Lanzenspitze aus Bronze und weitere Sachgüter. Solche Brandgräber würden bei vollständiger Erhaltung aller Beigaben sicher auch zu den Fürstengräbern gezählt werden können. Ich erwähne noch einen Schlangenkopf-Armring aus Gold (zu diesen Ringen vgl. S. 553) aus Grab 5 von Zohor, mit einem Gewicht von 305 g, datiert in die
3318 Elschek 2002, 255 Abb. 2 Vergleichstabelle zum Inhalt der Fürstengräber; 2006; 2009; 2012; 2013, 117.
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18 Gräberfelder der Bevölkerung und Bestattungen der Eliten
zweite Hälfte des 1. Jahrhunderts bzw. um 100 n. Chr., entdeckt 1957; und eine römische goldene Phalera von Bíňa mit Löwenkopf aus der Zeit der Markomannenkriege. Das elbgermanische Körpergrab Prag-Bubeneč, Grab III von 1948, ist ebenfalls zur Gruppe der Lübsow-Gräber zu zählen und wird neu bewertet.3319 Nach der Restaurierung und Dokumentation sind es nicht vier, sondern tatsächlich nur drei Gräber, außerhalb des Brandgräberfeldes; und manche Brandgräber sind reicher mit Edelmetall ausgestattet. Die Datierung in die Stufe B1 (bis 50 n. Chr.) regte an, den ranghohen Fundplatz mit dem Marbodreich in Zusammenhang zu sehen. Körperbestattungen hat es bei den „böhmischen Sueben“ während der älteren Römischen Kaiserzeit in diesem Gebiet gegeben.3320 Als neu publiziertes Fürstengrab der älteren Kaiserzeit ist jetzt Zgliczyn Pobodzy in Nordmasowien hinzugekommen.3321 Schon 1978 entdeckt, wurde es gewissermaßen übersehen, und erst Jan Schuster hat es in die Gruppe der Fürstengräber eingereiht, und zwar zudem als östlichsten Vertreter. Eine Holzkonstruktion von 2,20 m auf 0,90 m stand in und unter einem Steinpflaster von 4,50 m auf 2,50 m. Zu den Beigaben zählen zwei Fibeln aus Buntmetall, eine mit etwas Silberdraht verfeinert, zwei Trinkhörner, Gürtelbestandteile, zwei unterschiedliche Nietsporen und ein schon altes Bronzegefäß, eine Schwanenkopfkasserolle sowie einige Keramikgefäße. Darunter ist eine Rippenschale aus Ton, die einheimische Imitation der römischen Rippenschalen aus Glas. Außerdem lagen noch 24 Spielsteine aus Glas bei hölzernen Resten eines Spielbretts oder Kastens. Diese Beigaben sind im Vergleich mit den anderen Prunkgräbern der Gruppe schlicht; es fehlt Gold, und der römische Import ist mit einem Gefäß spärlich. Aber immerhin spiegeln die Objekte weitreichende Verbindungen, was die Verbreitung der Parallelen zeigt. Die beiden Sporen sind unterschiedlich, was auch anderswo vorkommt und indirekt doch die Bedeutung der Reiterei anzeigt. Die Rippenschale aus Ton gehört zu den Schalen, die im Bereich der Przeworsk-Kultur zum Geschirr zählten und deshalb hier wie fast im gesamten Germanien nachgeahmt wurden, während sie im elbgermanischen Gebiet fehlen, da dort solche Schalen als Grabbeigaben überhaupt unüblich waren. Die Spielsteine sollen neben dem Importgefäß wie bei vielen anderen Prunkgräbern ein Beleg für die Übernahme römischer Sitten sein, was sicherlich einseitig gesehen wird; denn übernommen wurden nur die Steine, weil sie aus Glas waren, während man auch anderes Material allgemein für Brettspiele benutzt hat. Datiert wird das Grab in die Stufen Ende B1/Beginn B2 (um 80 n. Chr.). Noch sind im archäologischen Quellenbestand eine Siedlung mit dem zugehörigen Gräberfeld selten zusammen entdeckt und erforscht worden. Spuren der Elite mit Festhalle und den Prunkgräbern sind bei Marwedel an der Elbe, bei der Feddersen
3319 Droberjar 2014. 3320 Droberjar 2011. 3321 Schuster 2016 (2017).
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Wierde und im dänischen Tjørring im mittleren Jütland erforscht. Immerhin gibt uns das eine Vorstellung von der Größe eines Herrengehöfts und dem Rang und Wert der Bestattungen mit ihren Beigaben. In Tjørring ist eine wandernde Siedlung von 500 v. bis 200 n. Chr. untersucht worden (vgl. S. 271); der fürstliche Hof oder das Herrengehöft aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. nimmt eine Fläche von 5000 m2 ein; außerdem ist hier neben dem Herrenhof ein Friedhof mit 14 Gräbern gefunden worden, von denen die meisten Körperbestattungen unter Grabhügeln waren. Einige Bestattungen hatten wertvolle Beigaben enthalten, darunter römisches Bronzegeschirr, auch goldenen Schmuck, Fingerring und Fibel. Bei diesem Befund ist der Herrenhof besonders groß, aber die Grabbeigaben sind eigentlich im Vergleich zu den sogenannten Fürstengräbern des 1./2. Jahrhunderts in Mitteleuropa noch von recht normalem Niveau.3322
18.4.2 Gräber der zeitlichen Zwischenphase Exzeptionell ist das 1988 gefundene Grab von Mušov in Mähren nur wenig nördlich des Limes, was wegen der Größe und der Beigaben auch schon zur Bezeichnung „Königsgrab“ geführt hat.3323 Die „ethnische Deutung“ möchte in der Bestattung einen Quadenkönig sehen. Nahebei wurden römische bzw. von römischer Bauweise beeinflusste Befestigungsanlagen und Bauten mit Steinfundamenten ausgegraben, etwa 80 km nördlich vom Limes an der Donau entfernt (vgl. S. 1098). Sie haben bis etwa 180 n. Chr. bestanden. Auf einer Anhöhe rund 1,5 km von den römischen Anlagen entfernt war die fast 6 m lange hölzerne Grabkammer in Blockbautechnik (3,50 auf 3,50 m im Inneren) eingetieft und mit einer mächtigen Steinabdeckung geschützt worden. Wahrscheinlich sind drei Personen, nach der aDNA-Analyse zwei Männer und eine Frau, in der Eichenkammer bestattet, denen über 150 (nach anderer Zählung 187) Gegenstände römischer und germanischer Provenienz ins Grab gestellt worden waren, 15 römische Glasgefäße, Möbelreste, ein zusammenklappbarer Tisch, zwei in damaliger Zeit schon antike eiserne Feuerböcke, Fleischgabel und Fleischzangen. Mitgegeben waren den Toten außerdem Fleisch von Kalb, Spanferkel, Gans, Huhn und Schaf. Zum Tafelgeschirr und Essbesteck gehören zwei Silberlöffel, silberne Gefäße (in Fragmenten erhalten) und eine große Zahl von etwa acht Bronzegefäßen, darunter der große Westlandkessel mit Kopfdarstellungen als Henkelattaschen, nämlich vier Germanenköpfe mit Swebenknoten als Haartracht (vgl. S. 49) (oben Abb. 3). Germanisch sind die vergoldeten Mündungsbeschläge von mehreren Trinkhörnern, die Gürtel mit silbernen Beschlägen und immerhin 16 oder 17 (!) verschieden gestaltete Sporen
3322 Møller-Jensen 2010. 3323 Peška u. a. 1991; Peška, Tejral 2002; Peška 2008; v. Carnap-Bornheim 2000b; S. Künzl 1997b.
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18 Gräberfelder der Bevölkerung und Bestattungen der Eliten
mit Silbertauschierung. Zum Schmuck gehörte eine Silberfibel.3324 Einheimisch sind zudem die Keramikgefäße. Hinzu kommen 12 Pfeile, 7 Lanzen, ein einschneidiges Kampfmesser oder Schwert, Schilde (von denen nur die silbernen, teils vergoldeten Randbeschläge erhalten geblieben sind). Wegen der deutlichen Bezüge zum Provinzialrömischen spricht man von einem romanisierten germanischen König, einem Alliierten. Doch auch Beziehungen nach Osten werden in den Grabbeigaben fassbar, an den zwei Gürtelbeschlägen3325 und einer Lanzenspitze mit einem Triskele-Ornament, ins Sarmatische, anhand der Lanzenspitze mit Tamga-Zeichen.3326 Das Grab, datiert ins spätere 2. Jahrhundert (B2/C1), wohl um 180 n. Chr., gehört gewissermaßen zwischen die beiden Gruppen der Fürstengräber des 1./2. und des 3./4. Jahrhunderts oder ist gewissermaßen das älteste jüngerkaiserzeitliche Fürstengrab, in der älteren Römischen Kaiserzeit waren die Kammern weniger groß, meist nur flache Holzkisten und Baumsärge. Die Ausstattung von Mušov wurde und wird fortlaufend weiter analysiert.3327 Die Beziehungen zum Sarmatischen werden mit den Kämpfen zwischen Goten und Germanen erklärt, durch selbständige Überfälle von Gruppen aus Germanien auf sarmatische Gebiete. Der obere Aufsatz auf einer Fahnenstange, der Lanze mit Tamga-Zeichen, hatte wohl eine zeremonielle, repräsentative Zweckbestimmung. Sarmatische Stämme waren – wie überliefert – während der Markomannenkriege an Kämpfen gegen Rom beteiligt. Es gibt sogar die Meinung, dass der Mann im Grab ein Heerführer bei den Sarmaten gewesen sein könnte. Man startete Überlegungen, ob der König von Mušov Freund oder Feind der Römer gewesen ist.3328 Wie dem auch sei, die „internationalen“ Elemente im Grab von Mušov zeigen das Vordringen von Details der sarmatischen Kultur nach Westen.3329 Die weiträumigen Beziehungen bis hoch zur Ostseeküste werden außerdem über den zweiten Kessel mit Swebenköpfen fassbar.3330 Die eisernen Feuerböcke waren Altstücke, zu denen zahlreiche Parallelen bekannt sind, auch aus älterem keltischen Umfeld.3331 Oder anders gesehen: Die Herdgeräte im Grab von Mušov bestehen aus zwei Feuerböcken, einem Grill, drei Bratspießen, Kesselgehänge, einer Zange, Fleischhaken, die z. T. alle als Altstücke angesehen wurden. Aber eine Analyse hat gezeigt, dass die Feuerböcke mit Stierkopfenden eine „keltische“ Idee waren, die durch Kontakte schon im ersten Jahrhundert v. Chr. in die „germanische“ Welt gelangt war. Somit kann es in Mähren, vor keltischem zeitlichen Hintergrund, eine eigene Tradition gegeben haben, so dass Feuerböcke in Böhmen
3324 Tejral 2001b (Silberfibel); Sporen 2002. 3325 v. Carnap-Bornheim 2002a. 3326 Voroniatov 2012. 3327 Tejral 2002a, b; 2009b; 2016a, b; Peška 2008. 3328 v. Carnap-Bornheim 2000b. 3329 Shchukin 1994; Tejral 1998; 2003. 3330 Tejral 2004. 3331 Malrain et al. 2016; Steuer 1994d.
18.4 Elitegräber – ein Auswahlkatalog der Körpergräber
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und Mähren nicht unbedingt Altstücke waren.3332 J. Tejral vergleicht die Beigaben des Grabes von Mušov in Mähren, die Metall- und Glasgefäße3333 mit weiteren Grabbeigaben im Römischen Reich und in Germanien. Die Beigaben standen seitlich in der Grabkammer, während im Zentrum die Beraubung Weiteres vernichtet hat. Von vergleichbar „königlichem“ Rang ist das (teilweise zerstörte) Grab von Gommern in Sachsen-Anhalt, 1990 entdeckt und ausgegraben. Die im Grab indirekt überlieferten Münzen sind 220/235 geprägt worden. Somit wird die Bestattung nicht später als im zweiten Drittel des 3. Jahrhunderts angelegt worden sein, in der Stufe C2.3334 Eine 2,20 m auf 3 m große Holzkammer war von einer 4 auf 4 m messenden mächtigen Steinpackung abgedeckt. Der Tote, ein 35 bis 40jähriger Mann, lag auf einer Pritsche, unter und neben der die Beigaben aufgebaut waren. Er hatte eine Goldmünze im Mund (Prägung in der Zeit Trajans ca. 112–114), trug einen schweren goldenen Halsring, einen goldenen Fingerring und eine goldene Fibel an der Schulter, einen Gürtel mit silbernen Schnallen und Riemenzungen, dazu ein Messer und eine Schere, ebenfalls aus Silber. Insgesamt gehörten zum Grab drei Gürtel. In einer Gürteltasche lagen zwei weitere goldene Fibeln und eine silberne, an den Füssen trug der Tote ein Sporenpaar aus Silber mit silbernen Schnallen. Nahebei lagen drei silberne, symbolisch nur nutzbare Pfeilspitzen wie im Grab von Mušov. Am Kopfende stand einst ein Schild, mit einem silbernen, mit Glaseinlagen und vergoldeten Pressblechen verzierten Buckel – einst ein römisches Silbergefäß von 400 g Gewicht –, einer silbernen Schildfessel (Griff) mit Abschlägen einer Münze des Kaisers Severus Alexanders (geprägt 233–235). Die Schildfläche war mit Glas in eingelegten Pressblechen besetzt und mit einer silbernen Randeinfassung versehen. Der Durchmesser des einst blau, rot und weiß bemalten Schildes betrug immerhin 1,30 m.3335 Die vergleichbaren Prachtschilde von Illerup (vgl. S. 482) haben demgegenüber nur Durchmesser von 0,98 bis 1,12 m. Unter der Liege mit dem Toten fanden sich in einem bronzenen Westlandkessel zwei gleichartige Holzeimer mit Bronzebeschlägen, dazwischen ein Körbchen mit zwei Glasgefäßen, auch ein Holzbottich, in dem ein silberner Hemmoorer Eimer lag und in diesem ein Glasgefäß. Beim Kopf standen zwei weitere Hemmoorer Eimer, ein Holzgefäß mit fünf römischen Silbermünzen, zu Füssen ein bronzener Dreifuß, ein kostbares Glas, ein Spielbrett mit Spielsteinen aus Glas, sowie eine silberne Kessel-Sieb-Garnitur. Die Ausstattung mit Gefäßen verbindet das Grab von Gommern mit den noch zu beschreibenden Bestattungen von Haßleben, Sakrau und Stráže, der Schild mit Fundstücken aus dem Moor von Illerup. Mario Becker hat die Nutzungszeiträume der römischen Bronzegefäße tabellarisch zusammengestellt. Der Typ des Dreifußes ist für die Jahre von 75 bis 210 3332 Schönfelder 2009, 785. 3333 Tejral 2016b. 3334 M. Becker 1998; 2007b; 2008a, b; 2010; 2014; Fröhlich (Red.) 2000; M. Becker 2000, 122 f. Grabplan und Rekonstruktion; Leineweber 2005; 2007 Abb. 7. 3335 Becker 2007b.
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nachgewiesen, der Schildbuckel (aus einem römischen Silbergefäß) von 180 bis 200, die Hemmoorer Eimer, Becken, Westlandkessel von 200 bis 225, Kelle und Sieb bis 250. Der Dreifuß ist eine Antiquität, bei der Verwendung als Grabbeigabe schon 150 Jahre alt. Der Schildbuckel weist Reste von Zinnoberfarbe auf, die Spitze war mit Hilfe von Quecksilber vergoldet; auf der Innenseite der Schale finden sich noch Reste der ursprünglichen Gravur, die von den späteren Nietlöchern gestört wird, mit denen die Pressblechauflagen auf dem Rand des Buckels, teils aus Gold, befestigt worden waren. Das Grab ist reich an Edelmetall. Der Halsring (mehr als 500 g schwer) und die weiteren goldenen Schmucksachen wiegen zusammen fast ein 1 kg. Hemmoorer Eimer sowie Kelle und Sieb sind nur hier in diesem Grab aus Silber. Der Kessel aus Bronze ist mit 80 cm Durchmesser auch beachtlich groß und wiegt 17 kg. Kelle und Sieb waren zur Zeit der Grablege im römischen Milieu im Rahmen der Getränkeausstattung schon überholt; also sind es auch „Altsachen“, stammen aus Familienbesitz oder sind spät eingetauscht bzw. geschenkt worden. Die Hemmoorer Eimer und die Holzeimer waren wie auch die Silberbecherpaare in anderen Fürstengräbern paarig. Diskutiert wird, warum man für einheimisch hergestellten Holzgefäße die Eibe benutzt hat, die eigentlich giftig ist. Die ehemalige Kammer ist nachgebaut worden, da Holzreste erhalten geblieben sind; sie war rund 1,40 m hoch, wog insgesamt ca. 3 Tonnen und war aus Eichenholz gezimmert.3336 Für die Ausstellung im Jahr 2000/2001 im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle (Saale) wurden die Kleidung (frei erfunden) und die Bewaffnung rekonstruiert, ebenso der Prachtgürtel und der Prunkschild.3337 Das Grab gehört im Übrigen in dieselben Jahrzehnte wie die Flussfunde von Neupotz und Hagenbach mit zahlreichen Hemmoorer Eimern (vgl. S. 536). Als experimentelle Archäologie wurden also die Grabkammer des Germanenfürsten in Gommern nachgebaut und ebenso der hohe Schild. Die rechteckige Kammer mit den Maßen 3,0 auf 2,2 m ist aus Eiche wieder errichtet worden. Der Schild bestand wohl aus weicherem Laubholz, vermutlich Pappel, und war mit einer lederähnlichen (vermutlich aus Darm) Haut überzogen, und darauf fanden sich noch die erwähnten Farbreste. Der Durchmesser betrug immerhin 1,40 m, das Schildblatt war ca. 0,4 cm (am Rand) bis 1,2 cm (in der Mitte) dick; die Bretter waren stumpf miteinander verleimt.3338 Am Schildbuckel gab es Lötarbeiten an den Pressblechen; aus Illerup Ådal ist ein Lötkolben bekannt,3339 was Hinweise darauf sind, dass in Germanien das Löten zu den Feinschmiedetechniken gehört hat. M. Becker geht parallel zur Rekonstruktion der Kammer des Fürstengrabes von Gommern3340 mit der Gesamtausstattung in Farbe auf weitere ranghohe Grablegen in 3336 Leineweber 2005. 3337 Leineweber 2006; M. Becker, Wunderlich 2000. 3338 Leineweber 2007a; M. Becker 2017b. 3339 v. Carnap-Bornheim, Ilkjær 1996, 279 Abb. 235. 3340 Leineweber 2007a; Voss u. a.2019, 288 Abb. 16 Rekonstruktion der Grabkammer in Farbe; M. Becker 2019, 91 Abb. Gommern Rekonstruktion der Kammer mit der Beigabenausstattung in Farbe, 92
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der Nachbarschaft ein. In Ichstedt, Kyffhäuserkreis, bildet das Inventar von Grab 51 neben dem Körpergrab von Gommern nun ein reich ausgestattetes mitteldeutsches Brandgrab einer Frau. Reste von fünf römischen Bronzegefäßen, ein Glasgefäß, eine Terra Sigillata-Schale, reichhaltiger Silberschmuck, Perlenketten, eine Spindel und Beschläge eines Holzkastens bilden das Beigabenensemble. Im 3. Jahrhundert verlor jedoch die Brandbestattung an Bedeutung und die Zahl der Körpergräber nahm deutlich zu. Zur Umgebung von Gommern in weiterem Sinne schildert M. Becker eine Siedlung von Großjena, Burgenlandkreis, mit Bronzeschrott und Halbfabrikaten sowie germanischen Objekten aus Buntmetall, Beleg also für eine Feinschmiedewerkstatt.
18.4.3 Die jüngeren Gräber des 3./4. Jahrhunderts auf dem Kontinent Eine Karte der Fürstengräber der jüngeren Römischen Kaiserzeit (von Avaldnes in Norwegen bis Cejkov an der Theiß) und Varpelev auf Seeland spiegelt die besondere Dichte dieser Gräber in Mitteldeutschland; das wird mit der ebenfalls dichten Besiedlung und der damit erhöhten Fundwahrscheinlichkeit erklärt. Wie zuvor sind die Elitegräber, als Körperbestattungen, auch in der Zwischenzeit und in der jüngeren Gruppe durch eine große Holzkammer ausgezeichnet, in der die oder der Tote oftmals auf einer Liege gebettet war, mit seinem wertvollen Schmuck am Körper und an der Kleidung, während die Teile des Ess- und Trinkgeschirrs als Beigaben in der Kammer aufgestellt waren. Auch übergroße Gräber und Kammergräber wurden in der jüngeren Römischen Kaiserzeit angelegt, so beispielsweise in Norwegen,3341 während bei den Bestattungen der Lübsow-Gruppe die Kammer zwar immer auch vorausgesetzt wird, aber sich manchmal auch als „Phantom“ aufgrund unzureichender Dokumentation gezeigt hat.3342 Namengebend für die jüngere Gruppe waren die 24 Gräber, Körperbestattungen, von Haßleben, etwa 15 km von Erfurt entfernt, die ab 1911 bis 1913 und weiter in den 1930er Jahren ausgegraben wurden.3343 In dieser Gräbergruppe gab es auffallend reiche Frauengräber. Der aufwendigste Grabbau gehört zur Bestattung der „Fürstin“ in Grab 8 (münzdatiert 255/268) in einer 3 m auf 3 m großen und 3 m tiefen Grube. Der Schmuck besteht unter anderem aus zwei goldenen Kopfschmucknadeln, zwei silbernen Scheibenfibeln und Halsschmuck aus Gold-, Glas- und Bernsteinperlen sowie goldenen und silbernen Anhängern; auch drei Goldmünzen, Aurei, gehörten dazu; eine weitere Goldmünze lag als Charonspfennig im Mund. Ein goldener Halsring und an der Hand ein Goldfingerring ergänzen die üppige Schmuckausstattung. Abb. 2 Ichstedt, 95 Abb. 4. Karte der Fürstengräber: Auf Seeland nur Varpelev, so auch übernommen von Moosbauer 2018, 113 Abb. 19. 3341 Stylejar 2014. 3342 Schuster 2014b. 3343 Dušek 1999c.
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Die Geschirrbeigabe besteht aus Kelle und Sieb, einem Hemmoorer Eimer und aus Bronzebecken und -teller, auch zwei Glasbecher und ein besonders großer Silberteller mit Akanthusverzierung auf dem Rand gehören dazu, außerdem ein Silberlöffel, zwei Holzeimer mit Beschlägen aus Bronze und Silber und einige Drehscheibengefäße. Ein zweites Grab 21 in einer 3 m auf 1 m großen Grube enthielt ebenfalls üppigen Edelmetallschmuck. Die weiteren fünf Gräber dieser Gruppe haben goldene Beigaben und außerdem Keramik aus einer „römischen“ Töpferei wie Haarhausen (vgl. S. 507). Die Grabgruppe wird insgesamt in die zweite Hälfte des 3. Jahrhunderts datiert.3344 Zur Gruppe Haßleben-Leuna der jüngeren Fürstengräber zählt der ebenfalls namengebende Bestattungsplatz Leuna am Hochufer der Saale.3345 Hier wurden 1834, 1917 und 1926 insgesamt 11 zusammengehörende Körpergräber gefunden, manche waren einfach ausgestattet, aber fünf reich mit Beigaben versehen, ausschließlich Männergräber. Von der Bekleidung der Toten sind Fibeln aus Edelmetall, Gürtel und Sporen aus Silber (Grab 2/1917, Grab 1/1926, 2/1926, 3/1926) zu nennen, auch wiederum zwei oder drei Pfeilspitzen aus Silber sowie Spielbrett und Spielsteine. Vom Ess- und Trinkgeschirr sind einheimische Keramik- und Holzgefäße, darunter auch die seinerzeit moderne Drehscheibenkeramik aufzuführen und vor allem importierte römische Gefäße aus Metall und Glas. Silberbecher standen in zwei Gräbern, Gläser in vier Gräbern, römische Terra Sigillata in zwei Gräbern, Bronzegefäße in vier Bestattungen, dazu gehören die schon mehrfach genannten Kelle und Sieb für den Weingenuss nach römischer Sitte (Grab 2/1917, Grab 3/1926). Im Grab 3/1926 wurde ein Silberbecher gefunden, dessen Facettierung die Wandung eines entsprechenden Glasbechers nachahmt, wie er ebenfalls im Grab gefunden worden ist. Mehrfach sind Speisebeigaben nachgewiesen, Schwein, Spanferkel, Huhn und Hahn sowie Fische. Die Gefäßbeigaben standen seitlich neben dem Toten oder im Bereich zu Füßen. Es fand sich auch, für die Datierung wichtig, ein römischer Aureus des Kaisers Tetricus (270–273) in Grab 2/1917, wonach die Gruppe, auch aufgrund der Terra Sigillata, in die Mitte des 3. bis zur Wende zum 3./4. Jahrhundert n. Chr. gehört, also etwa zwei Generationen umfasst. Wie in anderen mitteldeutschen Gräbern dieser Zeitstellung wurden die Goldmünzen als Soldzahlung für Mitglieder der ingentia auxilia Germanorum des Gallischen Sonderreich des Postumus (vgl. S. 679) betrachtet, und diese Verbindung zum römischen Militär erkannte man auch an der Silberfibel mit Niello-Einlage des Grabes 2/1917, die zur römischen Offizierskleidung gehörte. Die römischen Mantelfibeln in diesen Fürstengräbern von Gommern bis Haßleben-Leuna wurden früher einmal 1989 von Joachim Werner3346 behandelt und analysiert, erneut nun durch E. Droberjar.3347 3344 Behm-Blancke 1973, Taf. 1–10, 12–16, 20,23–24: ausgezeichnete Farbtafeln des Goldschmucks (Aufnahmen K. G. Beyer). 3345 M. Becker 2001. 3346 Werner 1989. 3347 Droberjar 2007b; 2016.
18.4 Elitegräber – ein Auswahlkatalog der Körpergräber
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Die Sporen wurden, als Typ Leuna bezeichnet, an zahlreichen Orten in Germanien entdeckt.3348 Im Grenzkastell Burghöfe an der Donau sind Nietknopfsporen dieses Typs Leuna gefunden worden.3349 Damit wurden die zweifachen Thesen verbunden, dass entweder diese Sporentypen nicht als germanische, sondern als östlich-provinzialrömische Produkte angesehen werden könnten, oder sie wurden von germanisch rekrutierten Reitern getragen. Von den weiteren Elitegräbergruppen der zweiten Phase wird hier noch Emersleben bei Halberstadt aus der Zeit um 300 n. Chr. genannt. In Grab 1 lag ein gelochter Aureus des Severus Alexander (geprägt 223 n. Chr.), eine silberne Armbrustfibel, Toilettenbesteck aus Silber, 4 Pfeilspitzen aus Silber bzw. Kupfer vergoldet, zwei Hemmoorer Eimer und eine Schüssel als römische Importe sowie drei einheimische Keramikgefäße und importierte Brettspielsteine aus Glas. Zu Grab 2 gehörten ein gelochter Aureus des Postumus (geprägt 261 n. Chr.), weiterhin eine Armbrustfibel aus Silber, ein goldener Armring, ein Fingerring aus Gold, ein Kamm aus Geweih, zwei Eimer mit Bronzebeschlägen, mehrere einheimische Keramikgefäße sowie als römische Importe eine ovale Wanne (Durchmesser 36 cm) mit Untergestell, ein steilwandiges Becken (Durchmesser 26 cm), eine Platte (Durchmesser 33 cm) und ein Sieb, außerdem noch zwei Silberlöffel. Dieses Grab ist zeitgleich mit dem Fundplatz Harzhorn, der gar nicht so weit entfernt ist.3350 Ein ähnlich ausgestattetes Frauengrab von Freienbessingen wird verglichen mit einem vom Brand deformierten Inventar eines Mädchengrabes von Hagenow, wodurch Bezüge zur Przeworsk-Kultur erkennbar werden. Der Fund von Dienstedt, Kr. Arnstadt, Thüringen, entdeckt 1837, ist ein reich mit Beigaben ausgestattetes Frauengrab, datiert in die Jahrzehnte um 300.3351 Das Körpergrab enthielt umfangreichen Silberschmuck und römische Importgefäße, einen silbernen Halsring, verziert mit sechs kleinen Goldzylindern, zwei silberne Drahtamringe, eine silberne Nadel, eine Knochennadel, eine silberne zweigliedrige Armbrustfibel, ein Kollier aus verschiedenen Berlock- und Axtanhängern, zahlreiche Bernsteinund Glasperlen, ein Paar prunkvolle, mit Perldraht verzierte silberne Tutulus- oder Dosenfibeln, außerdem ein römisches Messer mit silberbeschlagenem Griff, einen Hemmoorer Eimer und ein Bronzebecken. Die Dosenfibeln sind einmalig im westgermanischen Gebiet, nach den Herstellungsmerkmalen gut vergleichbar mit einer der Zierscheiben aus dem Thorsberger Moor (vgl. S. 470) und den Hakenkreuzfibeln vom Typ Häven; ihre Fertigung wird nach römischem Vorbild in Mitteldeutschland gesehen. Axt- und Berlockanhänger kommen in einem weiten Gebiet von der Ostseeküste bis zum Karpatenraum vor. Der Halsring gehört ebenfalls zu einer weit verbreiteten Gruppe mit schlüssellochförmigem Verschluss, wobei die Ringe aus Gold, Silber 3348 Voss 2017, 333 Tab. 1 Nietknopfsporen mit Dreipunkthalterung, datiert C2a und C2b (zweite Hälfte 3. Jahrhundert). 3349 Mackensen 2017, 182 Abb. 7, 1–4. 3350 Steuer 1989; Wamser u. a. (Hrsg.) 2000, 381 Kat. 139; M. Becker 2013. 3351 Steuer 1984b.
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und Bronze gefertigt sein können. In der Nachbarschaft ist die zugehörige Siedlung zum Teil ausgegraben worden, mit Wohn-Stall-Häusern und Grubenhäusern; viele Speicherbauten und Drehscheibenware nach römischem Vorbild weisen den Platz als höherrangig auf. In Frienstedt, Stadt Erfurt, sind jüngst zehn Körpergräber des 3. Jahrhunderts entdeckt worden, darunter zwei Bestattungen im Range eines Fürstengrabes, so besonders Kammergrab 898 (datiert gegen 250) mit Goldschmuck, einem Faltenbecher und u. a. mit drei symbolischen Pfeilspitzen aus Silber wie bei der Gruppe HaßlebenLeuna üblich.3352 Der Ort ist auch deshalb bekannt geworden, weil hier ein Knochenkamm gefunden worden ist, auf den eine Runeninschrift eingeritzt ist (vgl. S. 226 und 1252). Die zugehörende Siedlung wird ausgegraben, und dabei ist ein Kultplatz erkannt worden. Auf dem Gräberfeld von Häven in Mecklenburg zwischen dem Schweriner und dem Keezer See sind mehrere Bestattungssitten versammelt. Erste Funde wurden schon 1868 und 1869 gemacht, weitere Grabungen fanden 1872 bis 1875 und wieder in den Jahren 1967 und 1968 und noch einmal 1971 statt. Diese verschiedenen Gräber mit ihrem Aufbau und der Beigabenausstattung hat zuletzt Hans Ulrich Voss 2014 zusammengestellt und in einer Tabelle aufgelistet.3353 Die drei unterschiedlichen Gräbergruppen veranschaulichen die überregionalen Kontakte im 3. Jahrhundert n. Chr.; die Kontakte nach Seeland und in den mitteldeutschen Raum sowie zur Niederelbe spiegeln eine vermittelnde Rolle dieser Gruppe. Man muss aber nicht so weit gehen und annehmen, dass die Bestatteten selbst aus dem südlichen Skandinavien stammen. Die 15 Gräber gehörten fast alle in die Phase C2, in die Mitte und die zweite Hälfte des 3. Jahrhunderts, und ihre Beigabenausstattungen wirken genormt, vor allem in der Ansammlung importierter römischer Gefäße: Ein oder zwei Eimer aus Bronze oder aus Holz mit Metallbeschlägen, Kelle und Sieb, Kessel oder Becken, manchmal auch Glasgefäße (Schliffbecher), Keramik; dann vom Körperschmuck Fibeln (Schildfibeln und Armbrustfibeln aus Silber und Bronze), Schnallen und Gürtelbeschläge, Perlen und Berlocken, Kamm, drei Pfeilspitzen, Sporenpaare.3354 Diese Beigaben erlauben die Unterscheidung in Männer- und Frauengräber. Die Gräber von Häven repräsentieren nur zwei Generationen im Umfeld der weiter gebräuchlichen Brandbestattungssitten. Sie bestehen aus unterschiedlichen Komplexen, von denen die einen Beziehungen nach Seeland in der Ostsee aufweisen, die anderen zur mitteldeutschen Körpergräbergruppe. H.-U. Voss sieht den Beginn dieses Komplexes zu einem Zeitpunkt, als nach den Markomannenkriegen die Netzwerke germanischer Eliten neu geknüpft worden waren. Auch bei einem Beginn der Gräber von Häven schon in der Stufe C1b (ab 250 n. Chr.) ist das doch noch zeitlich deutlich später als das Ende der 3352 Schmidt, Nedoma, Düwel 2013; Schmidt 2013, Fig. 6; 2014a. 3353 Voss 1999a; 2014; Asböck 2016, 302 zu Abegg-Wigg, Lau (Hrsg.) 2014. 3354 Voss 2017, 328 Abb. 8 Zusammestellung der 15 Gräber mit Kennzeichnung der Bestattungen mit Bronzegefäßen.
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Markomannenkriege, so dass diese immer noch übliche Verknüpfung mit der Ereignisgeschichte sicherlich nicht zur eigentlichen Erklärung der neuen Verhaltensweise von einigen Teilen der damaligen Elite dienen kann. Im Gräberfeld von Neudorf-Bornstein in der Nähe von Eckernförde gehören mehrere Bestattungen dem Range nach zu den „Fürstengräbern“ der Zeit ab 300 n. Chr., ausgegraben von 1967 bis 1970.3355 Die hölzerne Kammer von Grab 4 (1967) mit der Abmessung von 3,20 m auf 3,00 m, also mit fast 10 m2, wurde in eine an der Oberfläche immerhin 8 m im Durchmesser betragene Grube eingefügt. Der Tote in diesem Grab 4 trug einen goldenen Halsring und einen goldenen Spiralring, der vielleicht als Obolus gedient hat, eine Bronzefibel und Goldtextilien. Am Fußende stand ein Bronzebecken, darin lagen ein Glasgefäß und eine Schöpfkelle aus Holz. Neben dem Sarg standen ein Hemmoorer Eimer und zwei große Holzeimer mit Metallbeschlägen, dabei lag ein Brettspiel mit Spielsteinen aus Glas. Zu den Speisebeigaben gehörten Reste vom Schwein und Rind. Erhalten geblieben sind sogar die Reste von Holztabletts. In der noch größeren, 4,90 m auf 4,90 m messenden Grabgrube des Kammergrabes 7 (1968) war die Kammer mit einer Steinpackung abgedeckt. Der Tote lag in einem etwa 3 m langen Baumsarg. Seine Ausstattung in diesem Baumsarg bestand wiederum aus einem goldenen Halsring, mehreren teils vergoldeten Fibeln, sowie Sporen. Hinzu kommen Ess- und Trinkgeschirr, ein Bronzebecken, zwei Glasbecher, ein Trinkhorn, zwei Eimer und drei heimische Tongefäße, außerdem ein Spielbrett mit Steinen aus Glas und eine Münzbeigabe sowie Gerätschaften zur Körperpflege wie ein Kamm und auch noch Jagdwaffen. Dieselben Speisebeigaben wie im ersten Grab aus Schwein und Rind gehörten zur Ausstattung. Holzgeschirr wie in NeudorfBornstein ist selten erhalten: Hier sind ein geschnitzter Becher oder Schöpfer, ein aus Binsen geflochtenes Körbchen und ein aus Dauben bzw. dünnen Holzblättern angefertigter Eimer und außerdem Tabletts erhalten geblieben. Die Ausstattungen wirken wie Opferungen, vielleicht nach dem Fest zu den Bestattungsfeierlichkeiten.3356 Die Fürstengräber von Neudorf-Bornheim gehören zur Gruppe der Gräber von HaßlebenLeuna. Sie sind durch ihre Lage in Angeln im südlichen Jütland mit den mitteldeutschen Gräbern und mit denen auf den dänischen Inseln verbunden.3357 Bemerkenswert sind zudem die Glasgefäße in den Gräbern; die Kartierung der Form Eggers 209 zeigt eine Massierung im Schleswig mit Neudorf-Bornstein und auf den dänischen Inseln sowie auch Vorkommen bis Mittelschweden und verstreut zwischen Rhein und Oder.3358 Es folgen nun die Elitebestattungen weiter im Osten und Südosten zu, die Fürstengräber von Sakrau nahe der Oder und Stráže an der Donau sowie den Gräbern weiter im Süden. 3355 Abegg 2006; Abegg-Wigg 2006; 2010; 2014b; Abegg-Wigg, Lau (Hrsg,) 2014. 3356 Abegg-Wigg 2016, 353 Abb. 7 Farbabb. des Grabes 7. 3357 Ethelberg 2017, 23. 3358 Abegg-Wigg 2016, 351 Abb. 6 Karte der Gläser.
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18 Gräberfelder der Bevölkerung und Bestattungen der Eliten
In Sakrau bei Breslau, heute Wrocław-Zakrzów, sind 1886 drei Fürstengräber geborgen worden, die nur wenige Meter voneinander entfernt lagen.3359 Grab I befand sich in einer Steinkammer von 6,24 m auf 4,90 m mit dem Innenmaß von 3 m auf 2 m und einer Tiefe von 1,75 m. Zu den Beigaben gehört das übliche Inventar eines Essund Trinkgeschirrs in kostbarer Ausführung, ein Silbereimer, ein Bronzebecken, Kelle und Sieb, Bronzeteller mit eingravierten Tierdarstellungen, Reste von fünf Glasgefäßen, ein Klapptisch aus Bronze, außerdem Löffel, Messer, Schere sowie Kästchenbeschläge aus Silber, Fibeln aus Silber und Gold, ein Halsring, ein Kolbenarmring und ein Fingerring, alle Ringe auch aus Gold, zahlreiche Schnallen aus Edelmetall sowie Toilettbesteck und ebenfalls ein Spielbrett mit Spielsteinen sowie Keramikgefäße. Dem Prachtgürtel aus diesem Grab gilt die besondere Aufmerksamkeit.3360 In Grab II standen Facettschliffbecher aus Glas, ein Bronzebecken und ein Holzeimer mit Bronzebeschlägen; von der Kleidung fanden sich Fibeln aus Gold und Silber sowie goldene Anhänger. Unter den Keramikgefäßen gibt es zwei Faltenbecher einheimischer Produktion, die nach römischem Vorbild getöpfert worden sind. Grab III ist ähnlich ausgestattet, mit Glasgefäß, Bronzegefäßen, Spielsteinen, silbernem Kleingerät wie Schere und Messer. Dazu kommt Kleidungsschmuck aus Gold und Silber, Fibeln, ein Halsring und ein Kolbenarmring sowie Gürtelteile. Römische Münzen datieren das Grab über einen Aureus des Claudius Gothicus (268–270), einem des Septimius Severus (207) und vier Denaren ins ausgehende 3. Jahrhundert. In Grab I waren ein Mann, in Grab III ein Jugendlicher bestattet, in Grab II eine Frau. Vermutet wird auch hier der Bestattungsplatz einer (kurzlebigen) Dynastie der Elite. Manche Gegenstände sind provinzialrömischer Herkunft, aber vieles ist aus heimischer Produktion. Das Silber-, Bronze- und Glasgeschirr ist importiert, auf dem Handelsweg oder als Geschenke sowie Beute gewonnen, die Fibeln und der Schmuck sind germanische Produkte, d. h. die Familien bevorzugten darin ihren eigenen, heimischen individuellen Stil. Datiert sind diese Gräber in die Periode C2, also etwa in die Zeit von 260 bis 300/320. Es gibt Beziehungen zur Ukraine und zur Krim, ablesbar am Glasbecher und an der Gürtelausgestaltung. In Grab II lagen acht goldene Anhänger in Lunula- und Peltaform, die zu vergleichen sind mit Funden im nicht so fernen Grab von CzékeCejkov und den fern im Norden im Ostseegebiet gelegenen Funden von Årslev und Brangstrup. Diese lunulaförmigen Anhänger kommen massiert in der Ukraine vor,3361 und mit einigen Stücken auch im Weichselgebiet und im Samland. Sie werden vor allem datiert in die Phasen B2/C1-C2 (150–320 n. Chr.) und auch noch in die Phasen D-E (350–525 n. Chr.), dann aber weit außerhalb des Hauptverbreitungsgebietes. Es spiegeln sich darin also Fernbeziehungen dieser Eliten zwischen Skandinavien und
3359 Mączyńska 2004a; Quast 2009a; 2014b. 3360 Przybyła 2005. 3361 Skvorcov 2014, 281 Fig. 5.
18.4 Elitegräber – ein Auswahlkatalog der Körpergräber
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der Krim, z. B. auch über die Schmucksachen des 3. Jahrhunderts. Damit wird der weite überregionale Zusammenhang der Fürstengräber bestätigt.3362 Ob diese dahinter stehende Mobilität auf Personen oder nur auf Sachen oder auf Ideen und einen technischen Transfer zurückgehen, kann diskutiert werden: Entscheidend ist, dass regelhaft im Bereich der Elitegräber dieses weitausgespannte Netz bewiesen wird, schon vom fortgeschrittenen ersten Jahrhundert an – abgebildet in den Gräbern vom Typ Lübsow oder auch zuvor schon in den Formen der Goldringe vom Typ Havor im Norden und in der Ukraine – und weiter bis ins 5. Jahrhundert und darüber noch hinaus. Dieter Quast nennt das Kettenkontakte. Kammergräber dieses Horizonts gibt es auch in Böhmen, darunter das Grab in Hostivice 2356, nahe Prag, aus der jüngeren Kaiserzeit.3363 Ausgrabungen im Jahr 2003 legten Reste einer Siedlung frei, darin einen Brunnen, der dendrochronologisch auf 273 datiert ist, und nahebei das reich ausgestattete Frauengrab, ein Einzelgrab. Die Nord-Süd ausgerichtete Grabgrube war 2,53 m lang und 1,09 m breit, bedeckt mit Steinpackungen. Die Tote war 1,64 groß und etwa 20 Jahre alt. Zum Schmuck gehörte eine Bronzenadel mit Textilfragmenten am Kopf, auf dem Oberkörper lagen 183 Bernstein- und 73 Glasperlen sowie kleine Bronzeringe. An den Schultern fanden sich zwei Silberfibeln, am Handgelenk ein Armring. Beigaben waren ein Spinnwirtel, zwei Spindeln, ein Kamm, zwei kleine Nadeln und ein Messer. Neben der Toten standen drei handgeformte Schalenurnen, verziert mit Knubben und horizontalen Riefen. Die Sachen datieren das Grab in die Stufe C2 (zweite Hälfte des 3. Jahrhunderts). Es gibt Vergleiche ins Elbgermanische in Richtung Haßleben und Leuna; die Beigaben sind zwar nicht so wertvoll, aber immerhin gehört dieses Grab zu den reichsten Befunden in Böhmen.3364 Bei Stráže im Waagtal, Westslowakei, nicht weit vom Limes entfernt, wurden reich ausgestattete Gräber in den 1930er Jahren entdeckt.3365 Die einst großen Kammern stammen aus der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts n. Chr. Die Beigaben, römisches Luxusgeschirr und zahlreiche Gegenstände aus Silber und auch aus Gold bilden die Grundausstattung. Das Ensemble besteht aus zwei Körpergräbern, das eines Mannes und das einer Frau, sowie einem Brandgrab. Zu den Beigaben der Frau in Grab I/1933 gehören fünf Silberfibeln und eine goldene Prunkfibel, sogar auch drei Knopfsporen aus Silber, ungewöhnlich bei einer Frau. Die Geschirrgarnitur besteht aus Kelle und Sieb in Bronze, einem Hemmoorer Eimer, zwei hohen Glasflaschen und fünf halbkugeligen Glasbechern mit Schliffverzierung sowie weiterhin aus Messer, Schere und Sieblöffel aus Silber (verlorengegangen ist der goldene Halsschmuck). Im Männergrab II/1939 wurden zwölf Fibeln, darunter zwei goldene Prunkfibeln mit Filigranund Granulationsverzierung (sog. Schmetterlingsfibeln) und vier Sporen aus Silber 3362 Quast 2011a. 3363 Sankot, Theune 2014. 3364 Schuster 2003, 255. 3365 Quast 2009a; Steuer 2007e; Klčo, Krupa 2003.
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18 Gräberfelder der Bevölkerung und Bestattungen der Eliten
gefunden. Die Geschirrgarnitur besteht aus Kelle und Sieb, Kanne und Griffschale, einer sogenannten Oinochoe (eine kleine einhenklige Kanne), Glasbecher, zwei Schüsseln, einem Krug, drei Holzeimern mit Bronzebeschlägen, einem Eimer mit Silberbeschlägen und einem Dreifuß-Falttisch. Unabhängig von den Ausgrabungen sind später auf Umwegen in die Hände der Archäologen aus dem Grab noch dazugekommen: eine ovale Silberschale von 457 g Gewicht (ein Altstück, um 200 zu datieren), Silberbecher (noch älter, vor 200 zu datieren), eine zweite Schale, silbervergoldet mit Löwe und Löwin verziert, von 1130 g Gewicht (datiert Anfang des 2. Jahrhunderts) und weiteres Silbergeschirr, darunter eine große Silberplatte von 45,7 cm Durchmesser und 3,402 kg Gewicht (und einem Randfries mit antiken Sagenszenen aus der Frühzeit Roms), außerdem Spielsteine aus Glas, Terra Sigillata-Teller, Pferdegeschirr, vier Pfeilspitzen und Gürtelbeschläge. Vom Brandgrab III/1940, mit der Asche einer Frau, ist nur ein bronzener Hemmoorer Eimer erhalten. Das ältere Grab II wird aufgrund der römischen Bronzegefäße in die 260/270er Jahre datiert, das jüngere Grab I ans Ende des 3. Jahrhunderts, die beide zusammen bis zu 50 Jahren abdecken, d. h. vielleicht zwei Generationen spiegeln. Die Prunkfibeln stammen aus heimischen Werkstätten und eröffnen gewissermaßen diese Mode, von der weitere Exemplare in den anderen „Fürstengräbern“ gefunden wurden. Auch die Körpergräber von Stráže liegen abseits der sonst üblichen Gräberfelder. Zu diesen Fürstengräbern wird speziell diskutiert, wie die Familien an die römischen Trinkgeschirr-Service gekommen sind, die übrigens im Vergleich mit der römischen Auffassung immer unvollständig sind, wenn z. B. nur ein Silberbecher eines sonst üblichen Paares dem Toten mitgegeben worden ist. Auffällig ist, dass die meisten Gefäße zur Zeit der Bestattung Antiquitäten waren, die entweder schon lange im Besitz einer Familie waren oder aber über Ringtausch im Netzwerk der Elite gewandert sind. Man hat das schon anhand der zahlreichen sonstigen SilberbecherPaare beobachtet, die wahrscheinlich fast gleichzeitig nach Germanien gelangt sind, dann aber zu unterschiedlichen Zeiten Grabbeigaben wurden. Bei Czéke-Cejkov in der Ostslowakei wurde schon 1855 ein Fundkomplex der Zeit um 300 bzw. aus dem frühen 4. Jahrhundert geborgen.3366 Es handelt sich um die Ausstattung eines reichen Körpergrabes einer Frau, zu dem über die Fundumstände nichts mehr überliefert ist. Zu den Beigaben zählen ein feiner goldener Halsring (96,7 g), ein goldener Kolbenarmring (200,7 g) und weiterer Schmuck aus Gold, darunter fünf Berlock-Anhänger, vier aus Gold, einer aus Silber, Fibeln, Fingerring und Perlen. Das Goldgewicht beträgt insgesamt etwa 330 g. Zum „Tascheninhalt“ gehören ein Knochenkamm, ein römischer Schlüssel und Spielsteine aus Glas sowie ein Denar des Antoninus Pius, geprägt 139 n. Chr. Das beigegebene Trinkgeschirr besteht aus einem Holzeimer mit Bronzebeschlägen, einer Kanne aus Bronze, einem Fußbecken mit Attaschen in Gestalt liegender Ziegen, einem Sieb sowie einem Diatretglas, nur
3366 Steuer 1984a mit Taf. 5 und 6.
18.4 Elitegräber – ein Auswahlkatalog der Körpergräber
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noch in Fragmenten erhalten, und einem römischen Henkelkrug aus Ton. Zum Essgeschirr gehören ein Glasteller, eine römische Tonschale mit Stempelverzierung und eine einheimische Fußschale aus Ton. Rangzeichen waren neben den kostbaren Beigaben wie mehrfach in den Gräbern dieses Horizonts der Halsreif und der Kolbenarmring. Das Grab könnte auch die Doppelbestattung einer Frau und eines Mannes gewesen sein, weil ein schwerer Kolbenarmring (dazu S. 555) sonst jeweils einen Mann auszeichnet.3367 Auch vom Ort Osztrópataka, heute Ostrovany in der Ost-Slowakei, sind 1790 (Grab 1) und 1865 (Grab 2) zwei Fürstengräber, Körperbestattungen, entdeckt worden (datiert gegen 250).3368 Im Grab 1 lag ein schwerer Halsring aus Gold (589 g), ein Kolbenarmring (192 g), eine prächtige Fibel mit einem großen Onyx und zwei Pendilien, eine sogenannte Kaiserfibel, weitere Prunkfibeln mit Granulation- und Filigranverzierung, eine mit der Inschrift VTERE FELIX; an Geschirr standen im Grab ein silberner Skyphos, Teller und Löffel, außerdem ein Dreifuß-Klapptisch. Zu Grab 2 gehören unter anderem wiederum ein goldener Halsring und ein Kolbenarmring, mehrere Fingerringe und zahlreiche Prunkfibeln aus Gold und Silber, außerdem ein Aureus, geprägt zwischen 248 und 251. Im Grab fanden sich noch eine Schere aus Bronze, ein Kamm aus Knochen, ein Holzeimer mit Beschlägen und ein Holzbecher mit Bronzerand, sowie Glasschalen mit Facettenschliff. Das Gold in Grab 1 wiegt zusammen immerhin 1820 g. Wegen der Onyxfibel wird vermutet, dass der Bestattete im Umfeld des oströmischen Kaisers militärisch engagiert war und dass die Fibel nicht etwa als Beute gewertet werden sollte. Der Tote war ein Mann im Dienste Roms, lautet die These. Auf weitere Fürstengräber und Horte östlich des Dnjepr weise ich nur mit der Literaturangabe hin.3369
18.4.4 Gräber im Ostseebereich, im Norden und in Ostmitteleuropa Im Ostseeraum gibt es bedeutende Konzentrationen von Prunkgräbern zwar auch während der älteren Römischen Kaiserzeit in Jütland und auf Fünen, aber vor allem während der jüngeren Römischen Kaiserzeit auf Fünen und Seeland (oben Abb. 65). Nur eine Auswahl wird nachfolgend beschrieben. Reitergräber der älteren Römischen Kaiserzeit sind im mittleren Jütland3370 in und bei den Siedlungen Hvesager und Bredal gefunden worden (vgl. S. 262). Der Abstand zwischen der Siedlung Hvesager und dem großen West- Ost ausgerichteten Kammergrab beträgt nur 40 m. Die Grabkiste misst 1,75 m auf 4,05 m. Darin standen 3367 Werner 1980. 3368 Ioniţă 2003; Prohászka 2006; 2008; 2014b; Asböck 2016 zu Abegg-Wigg, Lau (Hrsg.) 2014, 302. 3369 Kazanski, Mastykova 2016, 87 Fig. 1 Karte. 3370 Mikkelsen 1990, 150 f. mit Fig. 6 und 7 (Hvesager), 162 ff. (Bredal), 183 Karte zu den Sporen.
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acht Keramikgefäße in der Südwestecke, Beigaben sind eine Lanzen- und eine Speerspitze, Fibel, Silberring, Gürtelschnalle, Sporen, ein hoher Stangen-Schildbuckel mit silberplattierten Nietköpfen, jeweils in Dreiergruppen angeordnet. Das Grab ist in die Phase B2, ins 2. Jahrhundert zu datieren. Das Grab von Bredal wurde in nur 15 km Entfernung von Hvesager entdeckt. Die Grabkiste misst hier 1,5 m x 3,90 m. Immerhin 10 Keramikgefäße sind im Grab verteilt, zu den Beigaben gehören eine Lanzenspitze, Goldring, Gürtelschnalle, Stangen-Schildbuckel mit Dreiergruppen-Nietköpfen, Spielsteine (11 schwarze und 11 weiße) aus Glas, Schere, auch ein silbertauschierter Stuhlsporn mit Goldblechauflage und ein silbernes verziertes Messer. Der Autor vergleicht die Sporen mit denen in Körchow, Hagenow, Schwedt und Dollerup. Beide Gräber gehören in einen Bereich mit auch sonst gut ausgestatteten Kriegergräbern. Die Gruppe Bredal, Dollerup und Bjergelide haben Sporen, goldene Fingerringe und Importe, teils auch Waffen als Ausstattung. Sie bilden gewissermaßen die führende Kriegerschicht in der Hierarchie, hier wie auch in anderen Gebieten Jütlands. Trotz der guten Ausstattung und auch wegen der anderen Ausstattung mit Waffen bilden sie eine eigene Gruppe im Vergleich mit den „Fürstengräbern“. Das einfache Körpergrab der jüngeren Römischen Kaiserzeit in Østergård im mittleren Jütland auf der Höhe von Fünen liegt im Randbereich der Siedlung des 3. bis 7. Jahrhunderts innerhalb eines größeren Gräberfeldes (vgl. S. 256).3371 Die „ungewöhnlichen“ Beigaben in einer sargähnlichen Kiste bestanden aus drei Tongefäßen, darunter einem Miniaturgefäß, und eisernen, aber stark korrodierten Gegenständen, einem Kamm aus Eisen sowie einem Bronzering. Ein Reitergrab, eine Urnenbestattung, in einer zentralen Steinhügelanlage bei Kastrup in Jütland zwischen Ribe und Haderslev gelegen, hatte neben römischen Bronzegefäßen auch immerhin vier Trinkhörner enthalten, deren Beschläge dokumentiert sind. Als Datierung wird 70 bis 150/160 n. Chr. angegeben. Um dieses Zentralgrab wurden außen im Steinkreis drei Kenotaphe erkannt, zwei Tonurnen und ein Bronzegefäß, worin keine Beigaben nachgewiesen werden konnten, so dass man drei in der Ferne gefallene Krieger vermutet, für die jeweils ein Kenotaph um das Reitergrab in der Mitte gewählt wurde.3372 Erst nach neuen Auswertungen und Fundergänzungen ist auf der Insel Alsen gegenüber dem südlichen Jütland ein Grab hohen Status aus dem Beginn des 1. Jahrhunderts n. Chr. gewertet worden, und zwar in Tombølgård, ausgegraben als Grab II schon 1932.3373 Das Urnengrab enthielt zwei römische Bronzegefäße; ein großes Waschgefäß diente als Urne; darin lag der Soßenschöpfer. Zu den Beigaben zählen eine silberne Fibel, fünf Glas- und Bernsteinperlen, die Beschläge von vier 3371 A. B. Sørensen 2008. 3372 M. L. Jensen 2019, 9 Fig. 2 (Grabplan) und 10 Fig. 3 (Rekonstruktion des Reiters mit seinen Beigaben). 3373 Jensen, Jouttijärvi 2018 (2019) 56 Fig. 10 Goldberlocks, 60 Fig. 11 Karte der (zehn) Fundorte mit Berlocks in der Umgebung, darunter Galsted und Sörup II.
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Trinkhörnern samt Aufhängung, Teile vom Zaumzeug für zwei Pferde, ein Messer und weitere Kupferlegierungsreste, wohl zur Kleidung gehörend. Im Jahr 2016 wurden bei Detektorbegehungen nahebei wertvolle Schmucksachen entdeckt, die von hochrangigen Frauengräbern stammen müssen, datiert in späte 1. und in die erste Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr., und zwar immerhin Teile von drei Goldberlocks sowie eine Ringperle aus Gold. Man spricht von der Zerstörung der Gräber durch den Pflug; es mögen aber auch Reste von Scheiterhaufen sein. In Årslev auf Fünen wurden 1820 zwei reich ausgestattete Körpergräber der jüngeren Römischen Kaiserzeit, der Stufe C2 (zweite Hälfte 2. und frühes 3. Jahrhundert), gefunden. Zu den Beigaben gehören Goldfibeln und Goldringe, Goldplatten mit Löwenköpfen in Treibarbeit und Nadelköpfe aus Gold mit herunterhängenden, mit roten Steinen besetzten Ornamenten. Parallelen dazu gibt es im Donaugebiet und der Ukraine, woher die Objekte wohl importiert worden sind. Außerdem gibt es eine Silberfibel mit Niello-Einlage und halbrunder Kopfplatte, die mit Goldfiligran verziert ist, eine geöste Goldmünze, eine Kristallkugel mit griechischer Inschrift (vgl. S. 934), ein Silberlöffel und vom Geschirr eine Bronzeschale.3374 Das Grabinventar von Aasø3375 ist die reichste Männerbestattung Seelands aus der späten Römischen Kaiserzeit, und obwohl schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entdeckt, wurde es bisher nicht unter den Elitegräbern aufgeführt. Zu den Beigaben gehören römische Gefäße (Kelle und Sieb, Hemmoorer Eimer), ein einheimischer Eimer mit Bronzebeschlägen, Spielsteine und Reste des Spielbretts, Gürtelbeschläge und auch Elemente einer Bewaffnung, ein Schildbuckel wie sonst auch in Germanien, der an römische Erzeugnisse erinnert und wohl römischer Produktion ist. Der Schildbuckel wird mit Parallelen im Gräberfeld von Weklice verglichen, über die Schanierbeschläge (vgl. S. 873). Auch zu den Gürtelbeschlägen gibt es in Grab 150 von Weklice einen Vergleich und außerdem weitere Parallelen bis Vimose und Hagenow. Der Autor M. J. Przybyła bietet außerdem Kartierungen der seeländischen Grabinventare mit Holzeimern, zur Verbreitung der Gläsertypen und eine Tabelle der Spielstein-Inventare auf Seeland (12 Gräber). Eine weitere Tabelle bietet alle Trinkhornbeschläge von Nydam in Jütland, Seeland bis Norwegen. Somit binden die Beigaben auch dieses Elitegrabs die Gruppe in ein Nordgermanien umspannendes Netz ein. Eigentlich galt ein Waffentabu im Bestattungsritual auf Seeland, von der jüngeren vorrömischen Eisenzeit bis in die frühe Völkerwanderungszeit. Über ein in der Publikation aufgeführtes neues Stapeldiagramm zu den Beigabenklassen bringt an der Spitze die „Fürstengräber“ wie Varpelev und Nordrup nun auch Aasø (Abb. 73).
3374 Klindt-Jensen 1973; Storgaard 1990. 3375 Przybyła 2016, Abb. 8 und 9 (Weklice), 184 Abb. 20 Stapeldiagramm nach Przybyła 2012.
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Abb. 73: Stapeldiagramm der Beigabenklassen in den Gräbern der Elite auf Seeland, in Jütland und Schonen.
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Von den verschiedenen Gräbergruppen mit den Kammergräbern Nordrup, Valløby,3376 Varpelev3377 und Himlingøje, die auf Seeland,3378 im Bereich der Halbinsel Stevns, die nur wenige Kilometer auseinander liegen, wird von mir ausführlich nur die Grabhügelgruppe von Himlingøje näher beschrieben.3379 Die Hierarchie der Gräber der jüngeren Römischen Kaiserzeit hat P. Ethelberg anschaulich rekonstruiert (vgl. oben S. 354).3380 Die ganze Kaskade von Abhängigkeiten für die jüngere Römische Kaiserzeit auf Seeland zeigt das Schaubild, ausgehend von Himlingøje über das nächste Niveau mit Nordrup, Valløby und Skovgårde und weiter abwärts, mit insgesamt den anhand der Grabausstattung unterscheidbaren Statusgruppen 1 bis 5/6. Nach zwei Männergräbern, Brandbestattungen, mit Waffen- und Reitausrüstung, über die Hügel aufgeschüttet worden waren, wendete man sich in Himlingøje in der jüngeren Römischen Kaiserzeit dann auch hier der Körperbestattung zu. Die reich ausgestatteten Gräber wurden nach und nach im 19. und 20. Jahrhundert entdeckt und erforscht, und hinzu kamen neuere Grabungen von 1977 bis 1985. In Grab 1894/1 lag unter einer Steinpackung von 4,50 m auf 2,50 m ein etwa 30jähriger Mann in einem 3 m langen Eichensarg. Er trug einen goldenen Kolbenarmring sowie einen goldenen sog. Schlangenkopffingerring neben Fibelschmuck. Nahe am Körper standen ein höchst prächtiger römischer Glasbecher mit aufgemalten Zirkusdarstellungen sowie Kelle und Sieb, und ein weiterer Zirkusbecher lag im Sieb, hinzukommt noch ein Bronzebecken. Schweine-, Ochsen- und Schafknochen stammen von den Speisebeigaben. In Grab 1949/2 fand man unter einer Steinpackung von 4,20 m auf 2,10 m die Bestattung einer 40–50jährigen Frau mit vielfältigem Perlenschmuck sowie außerdem mit fünf Silberfibeln und einer Rosettenfibel aus Silber mit Runeninschrift (vielfach abgebildet und beschrieben, wie Abb. 100), zwei Haarnadeln aus vergoldetem Silber, je zwei Schlangenkopfarmringe und Schlangenkopffingerringe aus Gold; an Trinkgeschirr sind aufzuzählen zwei Glasgefäße, Kelle und Sieb, ein Hemmoorer Eimer sowie ein Bronzebecken. Alle Gräber wurden innerhalb von hundert Jahren angelegt und zwar um 200 bis in die 2. Hälfte des 3. Jahrhunderts und gehörten zu einem Familienverband. Aus diesem Gräberfeld stammen zudem die ältesten Runeninschriften aus Südskandinavien, was den Schluss auf eine Verbindung zwischen Elite und Runeninschrift nahelegt (vgl. unten S. 1249). Das Prestige der Elitegräber während der späten römischen Kaiserzeit wird durch die prächtigen Fibeln als Kleidungsschmuck und den beachtlichen Reichtum an Importbeigaben, an Gefäßen ausgedrückt. Die Machtzentren auf Seeland wechselten von Himlingøje nach Varpelev
3376 Nyman, Lund Hansen 2006a. 3377 Nyman, Lund Hansen 2006b; Lund Hansen 1976. 3378 Allgemein Boye (Ed.) 2011b; 2014. 3379 Lund Hansen u. a. 1995; 1999. 3380 Ethelberg 2009d, 180 Abb. 12.
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am Ende von C2, und als Himlingøje als Zentralort seine Bedeutung verlor, expandierten in Schonen Uppåkra und im Westen Gudme/Lundeborg auf Fünen.3381 Reichtum und Prestige kennzeichnen diese spätrömischen Gräber auf Ostseeland.3382 Die Publikationen aus dem Jahr 2009 bringen die Karte der wichtigen Fundplätze auf Seeland in der späten Römischen Kaiserzeit sowie eine anschauliche Chronologietabelle B2 (70–150), B2/C1a (160–200/210). Der Sammelband bietet den Zusammenhang der reichen Gräber bei Kopenhagen und behandelt das Gräberfeld von Engbjerg und die Siedlungsgrabungen bei Kopenhagen. Das führt zur Ranggliederung und der sozialen Gruppierung der Gesellschaft anhand der Fürstengräber in einen princeps, in comites (3mal) und in ingenui (2mal). Speziell und überregional eingeordnet werden die Fibeln, die Goldringe und Fingerringe mit Karten zu den Schlangenkopffingerringen.3383 Die Skelette in den reichen Gräbern sind anthropologisch ausgewertet,3384 mit Blick auf Reichtum und Prestige in Ostseeland. Wie ist nun ein Platz wie Himlingøje insgesamt zu werten; sicherlich war er zeitweilig ein Zentralort mit Aspekten einer aristokratischen Lebensweise und entweder Mittelpunkt eines „germanischen“ Reiches oder aber ein römisches Implantat,3385 eine nicht unbedingt zu akzeptierende These, die vor Jahrzehnten schon diskutiert worden ist. Es wird gefragt, ob die Römer tatsächlich etwas über die Bewohner in Skandinavien wussten,3386 kamen von hier foederati aux auxiliarii? Gab es derartige enge Verbindungen zwischen Seeland und dem Römischen Reich, war hier vielleicht gar ein Klientelkönigreich entstanden? Die Beantwortung solcher Fragen löst sich aber ab von den dänischen Inseln und bezieht die Kriegsausrüstungsopfer im gesamten Ostseebereich mit ein. Grundherren (landlords) und Kriegsführer (commanders) sind in Beziehung zu sehen zwischen den Waffenopfern3387 und einer „kosmopolitischen Aristokratie“.3388 Die auffällige Rolle der Frauen in der Gesellschaft der jüngeren Römischen Kaiserzeit auf Seeland ist anhand der Gräber darstellbar.3389 In den eigentlich kleinen landschaftlichen Räumen drückte jede Region ihren Status in spezifischer Weise aus. Symbole und Selbstbild der weiblichen Eliten zeigen die Gräber von Himlingøje 1949,2 (zwei römische Glasbecher, zwei goldene Schlangenkopffingerringe und zwei goldene Schlangenkopfarmringe), von Skovgårde Grab 400 (Perlenketten auf dem Kopf/ im Haarnetz und auf der Brust befestigt an einer Fibel), Himlingøje 1894 (goldener Kolbenarmring, Schlangenkopffingerring, Kelle und Sieb, Fibeln etc.). Ähnlich, 3381 Ethelberg 2009a. 3382 Boye, Lund Hansen (Hrsg.) 2009, 9 Fig. 1 und 11 Fig. 3; Boye, Ethelberg, Lund Hansen 2009, 257 Fig. 1. 3383 Ethelberg 2009a, b 149 Abb. 6.1–3. 3384 Bennicke 2009. 3385 Storgaard 2001. 3386 Grane 2007c, d, auch Grane 2007a, b; 2011; 2013. 3387 Lund Hansen 2008. 3388 Storgaard 2003. 3389 Lund Hansen 2011b.
18.4 Elitegräber – ein Auswahlkatalog der Körpergräber
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also unmittelbar vergleichbar, sind die Männergräber zu beschreiben: Himlingøje 1977 (Schlangenkopfarmring, spiralig aufgewickelt, einfacher goldener Fingerring, römisches Glastrinkhorn, Glasgefäß, silberplattierte Schale), Kirkebakkegård (auch bekannt als Uggerløse Grab) (keine Waffen, aber ein Paar Sporen und Fibel mit Männermaske, römische Bronze- und Glasgefäße.). Für die Gräber von Varpelev werden die Fernbeziehungen nach Süden bis Konstantinopel kontrovers diskutiert, da auch das Römische Reich im Westen für die Fernbeziehungen in Frage kommen kann.3390 Im Fürstengrab fand sich ein Anhänger, wie er aus dem Süden bekannt ist, eine Hakenkreuz-Prunkfibel aus Edelmetall, römische Importe wie Glasschliffbecher, Silberbecher und Spielsteine. In Durchbruchinschrift auf dem Glasbecher, einem Kantharos, heißt es in Metall auf griechisch ευτυχωσ (für Dein Glück). M. Kazanski vergleicht Beigaben aus Kishpek, Ekashevo im fernen Süden, mit Varpelev als auffällige pontisch-skandinavische Beziehungen während der späten Römischen Kaiserzeit.3391 Den Fries mit Hirschbildnissen auf einem Becher aus dem reichen Grab von Nordrup, Seeland, aus dem 3. Jahrhundert, vergleichbar auch mit den Bildnissen auf dem Becher von Valløby, hat Alexandra Pesch als „Heilsbildnis“ bezeichnet.3392 Darüber wird im Abschnitt Bilderkunst noch berichtet werden (vgl. unten S. 1238). Es kommen auch heute noch derartige Elitegräber als neue Entdeckungen hinzu, so in Ellekilde, Torslunde Landsby, nahe Kopenhagen. Entdeckt wurde 2009 ein Fürstengrab der Phase C1b/C2, also der Zeit um 250 n. Chr., ein Kammergrab, in dem zwei neue Zirkusbecher aus Glas, ein größerer und ein kleiner, gefunden worden sind, vergleichbar den Exemplaren von Nordrup, Himlingøje, Varpelev, Stenlille und Torslunde Præstegaards Mark. Damit wächst die auffällige Konzentration dieser Glasimporte auf den dänischen Inseln.3393 Zu den neu entdeckten Gräbern dieses Niveaus ist auch der Bestattungsplatz von Skovgårde, ebenfalls auf Seeland, zu zählen,3394 mit reich ausgestatteten Körpergräbern, datiert in die erste Hälfte der jüngeren Römischen Kaiserzeit (200/210-260/270). Entdeckt wurden die Gräber 1943, gefolgt von Ausgrabungen seit 1955 bis 1988. Die Gräber verteilen sich auf vier Gruppen; fünf der Gräber, Frauenbestattungen, sind als Fürstengräber einzustufen und fanden sich nur in zwei der Gruppen. Die herausragenden Beigaben bestehen aus Schlangenkopffingerringen und römischen Importgütern wie Glasbecher. In Grab 8 standen ein Glasbecher mit seitlich aufgelegten Rippen und ein zweiter Becher mit Bodenrippen, vom Schmuck ist eine prächtige Scheibenfibel zu nennen. In zwei weiteren Gräbern fand sich jeweils eine Rosettenfibel, eine davon mit Runeninschrift. Per Ethelberg gliedert die Fürstengräber auf der Halbinsel 3390 Grane 2011; 2013; dazu Ethelberg 2011b; Gundersen 2011. 3391 Kazanski 2011, auch 2013. 3392 Pesch 2015e; auch Steuer 1999e. 3393 R. Iversen 2009; 2011; 2014. 3394 Ethelberg 1991; 2000; 2005.
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Stevns auf Seeland gern hierarchisch (vgl. oben S. 354), sieht königliches Niveau in Himlingøje, zu fassen über goldene Schlangenkopfarmringe und Kolbenarmringe, und ordnet Schlangenkopffingerringe einem erblichen Protoadel zu. Er führt für diese Gegend mehrere dicht beieinander liegende Plätze der jüngeren Römischen Kaiserzeit dieses und ähnlichen Ranges auf, zu denen auch Harpelev gehört. Führen Beziehungen von Skandinavien bis zur Krim, wie sie zuvor geschildert worden sind, nun vom Süden in den Norden oder umgekehrt vom Norden in den Süden oder bestand einfach eine dauerhafte Fernbeziehung zwischen den Gebieten. Dazu wird an anderer Stelle mehrfach gesprochen (vgl. S. 893 und 1232). J. Werner hat 1988 beispielhaft zwei weit auseinanderliegende Fürstengräber und ihr kulturelles Umfeld verglichen, Dančeny in der Chernjachov-Kultur nahe des Dnestr und Brangstrup bei den Reichtumszentren auf Fünen.3395 Dabei zeigen sich die Fernbeziehungen über gleichartige Sachgüter: Die Verbreitung der silbernen monströsen Fibeln (mit hohem Nadelhalter) der Phasen C1 und C2 im Ostseegebiet und fernab am Dnjestr, die Kämme aus Eisen im Norden und im Süden bis zum Dnjepr und am Schwarzes Meer; die Verbreitung der Facettschlíffbecher vom Typ Kowalk von Norwegen bis zum Schwarzen Meer in der Phase C3,3396 (will man die Herkunft erläutern, dann kann das auch – was die Richtung angeht – umgekehrt beschrieben werden). Die Beziehungen von Fünen zur Chernjachov-Kultur spiegeln sich in den Reichtumszentren und Schatzfunden im Norden. Genannt werden der Schatz Gudme I mit 132 Denaren von Vespasian bis Commodus, 11 Solidi von Constantinus II (337–340) bis Magnentius/Decentius (350–353); Gudme II mit 9 Goldbrakteaten und 4 anderen Anhängern des 6. Jahrhunderts; der Hacksilberfund von Stenhoejgaard aus der ersten Hälfte des 5. Jahrhundert mit 1,282 kg Gewicht; der Fund von Egsmosegaard mit 3 massiven goldenen Ringknäufen und Ringgold des 6. Jahrhundert; der Fund von Lillesö mit einem Goldarmring und Ringgold von 605 g Gewicht; der Broholm-Schatz, gefunden 1833, mit 4,266 kg Gold aus dem 6. Jahrhundert (vgl. oben S. 514); der Fund von Elsehoved mit Bügelfibel, Goldperlen, 8 Solidi, darunter 3 des Ostgoten Anastasius (491–518) mit Ösen als Anhänger, eine Frauenausstattung aus dem 6. Jahrhundert, gefunden 1826; der Komplex von Hesselager (Fredskov) mit einer 68 cm langen geflochtenen Goldkette und cloisonniertem Anhänger aus dem Ende des 5. Jahrhunderts. Das sakrale Reichtumszentrum setzte erst in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts ein, die Münzen aus Gudme I stammen aus westlichen Münzstätten, der Fund von Brangstrup enthält mehr östliche Prägungen. Ich weise darauf hin, dass hier diese geschilderten Fernbeziehungen vom 4. bis zum 6. Jahrhundert reichen. Auf Bornholm enthielt das Kriegergrab von Rævekulebakke eine außergewöhnliche Ausstattung der jüngeren Römischen Kaiserzeit.3397 Die Ausgrabungen 1988 bis
3395 Werner 1988; Myzgin 2019, 271 Fig. 13 nach Levada 2000. 3396 H. G. Rau 1973, 444 Abb. 1. 3397 Lund Hansen u. a. 2017, 234 Abb. 12–13 (U. Mannering, I.Vanden Berghe).
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1989 im Grabhügel legten auch auswertbare Textil- und Fellreste frei, auch Leder und eine Brettchenweberei-Borte. Zu den Beigaben gehören außer Waffen neben einem Feuerschlagstein vier Denare, eine Gürtelschnalle und Gürtelbeschläge aus Bronze sowie ein Messer. Für Schweden sind ebenfalls einige Elitegräber aufzuführen. Das Kammergrab von Fullerö, 5 km nördlich von Uppsala, ist um 300 n. Chr. zu datieren; es ist trotz Beraubung noch in den Resten eines der reichsten Gräber in Schweden. Zu den Beigaben gehören Goldfingerringe, Eberzähne und Spielsteine. Die in der Publikation als militärisches Ehrenzeichen gewertete Ausstattung weist auf den Dienst im römischen Heer hin, als Mitglied einer kaiserlichen Garde. Es folgt die Schilderung des sozialen Milieus seiner Herkunft.3398 Das wären wieder erstaunliche weite Fernbeziehungen zwischen Skandinavien und dem Römischen Reich. Die Kriegerelite im südöstlichen Schonen, Schweden, erläutert B. Stjernquist anhand der Befunde von Simris mit dem Waffengrab 54. Am Fluss Tommarpsån, der eine Kommunikationsroute gewesen ist, liegen die Fundplätze von Simris und Gårdlösa mit Bestattungen der Zeit um 0 bis ins 4. Jahrhundert und großflächig ausgegrabene Siedlungen wie z. B. Gårdlösa. Die ältesten Gräber sind Brandbestattungen. In Simris sind sechs Körpergräber, teils in Kammern, mit Waffenbeigabe ausgegraben. Grab 1 und das reich ausgestattete Grab 1972:2 enthielten einschneidige Schwerter, datiert in die frühe Römische Kaiserzeit, Grab 1972:2 außerdem Sporen und römische Importgefäße, darunter eine Kelle und ein Bronzekessel der Phase B2 (80–150 n. Chr.). Zum Trinkgeschirr gehörten zwei Trinkhörner und Keramikgefäße. Auch die anderen Gräber der späten Römischen Kaiserzeit waren von hohem Status, enthielten zweischneidige Schwerter, Lanzen und Speere sowie Schilde, außerdem Spielsteine. Grab 54 als Kammergrab eines 25 bis 30 Jahre alten Mannes3399 barg die Ausstattung, die einem römischen Soldaten entsprach – so B. Stjernquist –, ein Schwert mit Scheide und rundem Ortband, Lanze und Speer, Schild sowie Kamm, Spielsteine und Trinkgefäße. Im Mund des Toten lag ein Stück Bernstein als Ersatz für einen Charonspfennig. Am Körper lagen ein Messer und vier Fingerringe, zwei aus Silber und zwei aus Gold, der größte wurde an der rechten Hand getragen, die drei anderen an der linken Hand. Diese reichen Grabfunde sprechen für die Position eines Reichtumzentrums am Fluss, zumal in der Nachbarschaft weitere gut ausgestattete Gräber gefunden worden sind. Die nordische Kriegerelite kam zu Beginn des 1. Jahrhunderts n. Chr. auf und konsolidierte sich um 200 n. Chr.3400 Ein entstehendes Häuplingtum kontrollierte die Handelsverbindungen, so werden die Befunde interpretiert. Das reichste Frauengrab Schwedens von Tuna, Kirchspiel Badelunda, Västmanland, wurde 1952 zufällig entdeckt, datiert in die jüngere Römische Kaiserzeit, um
3398 Zachrisson 2017b, 239, 242 Fig. 3 Eberzähne. 3399 Stjernquist 1999, 385 Fig. 5: Plan des Kammergrabes. 3400 Hedeager 1992b; Mikkelsen 1988–89 (1990).
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300 n. Chr., mit üppigen Beigaben an römischen Importgefäßen und aufwendigem Goldschmuck, ein Halsring, zwei Spiralarmringe und ein Spiralfingerring, jeweils mit Schlangenkopfenden, sowie zwei Nadeln und ein weiterer Ring. Das Gold wiegt zusammen immerhin 320 g. Weiter gehören zu den Beigaben ein römischer Silberlöffel, zwei Hemmoorer Eimer, eine Bronzeschüssel und ein Glasbecher mit Fadenauflage. Die Tote war in einer großen Holzkammer von 3 m auf 2 m bestattet. Das Grab lag im Bereich eines größeren Gräberfeldes mit unterschiedlichen Brandgräbern und Bootsbestattungen aus verschiedenen Zeiten.3401 Im schwedischen Norrland ist bei Högom ein Gräberfeld mit mehreren großen Grabhügeln 1949 bis 1984 untersucht worden, gewissermaßen mit Fürstengräbern der Phase ab 200/300 n. Chr. bis ins 5. Jahrhundert.3402 Zu den Gräbern gehören zeitgleich auch mächtige Hausgrundrisse. Grabhügel 2 enthielt eine Kammer von 5 m auf 2 m Größe unter einer Steinpackung von 19 m Durchmesser, über der noch ein Hügel von 40 m Durchmesser aufgebaut war. Der Tote hatte eine vollständige Waffenausrüstung mitbekommen, ein Prunkschwert, zwei Äxte und zwei Speere, einen Dolch und 30 Pfeilspitzen in einem Köcher sowie einen Schild. Hinzu kommt die Reitausstattung aus zwei Trensen und einem Sattel. Die persönliche Ausrüstung bestand aus einem kostbaren Gürtel, an dem ein Feuerschlagstein, ein Feuerstahl, eine silberne Pinzette und ein Kamm aufgehängt waren; auch eine Tasche mit Schnalle und Beschlägen ist nachweisbar. Eine münzähnliche Goldscheibe diente als Charonspfennig. Insgesamt zierten 76 Agraffenknöpfe die Kleidung und eine Kopfbedeckung, gestaltet im Tierstil I (vgl. S. 1236). In der Kammer waren außerdem mehr als 25 Gefäße und Behältnisse aufgestellt, darunter ein Westlandkessel, zwei konische Glasgefäße mit eingeschliffenen Facetten, ein mit Metall beschlagener Holzeimer, Holzteller sowie Tongefäße. Das Schwert wird ins späte 5. Jahrhundert oder in die Zeit um 500 datiert, auch anhand der Schmuckelemente am Scheidenmundblech im Tierstil I, für dessen Beginn man ungefähr die Jahre um 475 annimmt. Im Vergleich zu den kontinentalen Fürstengräbern fällt die Waffenbeigabe auf und die recht geringe Anzahl an römischen Importgefäßen. Es ist denn auch um einiges jünger als die anderen Fürstengräber und eher zu vergleichen mit der nächsten Phase von Prunkgräbern einer „postattilazeitlichen Grabschatzgruppe“, zu denen unter anderen die Gräber von Apahida und Blučina sowie das Childerichgrab (gestorben 482) gehören (vgl. unten S. 959). Zu den Fürstengräbern sollten auch die Prunkbestattungen von Avaldsnes im westlichen Norwegen gezählt werden, auch wenn das Gebiet sehr weit vom zentralen Germanien entfernt liegt. Aber beim römischen Import, den sogenannten Westlandkesseln (vgl. S. 468), wird darauf noch ausführlich eingegangen und gezeigt, wie weiträumig verbunden alle Landschaften germanisch sprechender Bevölkerung gewesen sind. Ein Hügel von 34 m Durchmesser wurde 1834 untersucht, der
3401 Isaksson, Larsson, Schönbäck 2006. 3402 Ramqvist 2000; Ramqvist, Müller-Wille 1988.
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sogenannte Flaghaug, weil zuvor und bis 1841 Objekte entdeckt worden waren. Im Hügel befand sich eine Grabkammer der Abmessungen von 3,60 m auf 1,20 m aus genagelten Eichenbrettern. Zum Toten gehört ein 590,51 g schwerer goldener Halsring, Prunkwaffen und andere militärische Prunkausrüstungen, datiert ins 3. Jahrhundert.3403 Zwei Ansichtsmasken und ein Ring an einer Bronzeschale als Griffe werden speziell ausgewertet.3404 Weitere Gräber waren in den Hügel eingegraben.3405 Im Jahr 2018 ist nun eine umfangreiche Monographie mit zahlreichen Beiträgen zu Avaldsnes, den Gräbern und zu einem „sea-kings’ manor“ erschienen, ergänzt 2020 durch eine weitere Sammelpublikation, worauf nun noch einzugehen ist (vgl. S. 948),3406 zumal die Befunde deutlich komplizierter waren als in den Berichten bisher zu lesen ist. Die Publikation von 2020 spannt den Bogen vom 1. Jahrhundert n. Chr. bis ins 14. Jahrhundert und betont regelmäßig die Kontinuitäten, was die zentralörtliche Bedeutung angeht. Der Einleitungsbeitrag schildert gar die Besiedlungsgeschichte Norwegen von 2000 v. Chr. bis 1000 n. Chr.3407 Ein Folgebeitrag analysiert anhand von Gräbern mit Fibelschmuck und Waffen sowie Gold den Wandel der politischen Topographie in Südwestnorwegen, beginnend um 200 n. Chr. bis um 1000.3408 Die Sachgüter sind durchaus mit Exemplaren auf dem Kontinent zu vergleichen. Ebenfalls das gesamte erste Jahrtausend erfassend beschreibt D. Skree „rulership and ruler’s sites“ im gesamten Skandinavien und um die Terminologie, ob und ab wann von Königtum gesprochen werden könnte.3409 Für die Frühphase geht es um Vergleiche zu Avaldsnes mit Helgö, Gudme sowie Sorte Muld. Ein Ergebnis ist die Stabilität bzw. Kontinuität von Herrschaft, wobei zu Anfang durchaus sich Heerführer bzw. Warlords den Weg zur Herrschaft bahnten. Die Kontinuitätsüberlegungen vom Stamm zum Königtum im Norden von 500 bis gar 1350 führen u. a. die Höhensiedlungen an, von denen rund 1300 in Schweden und über 400 in Norwegen für die Römische Kaiserzeit und Völkerwanderungszeit registriert sind und mit Stämmeverteilung verknüpft werden.3410 Die Auffassung von Kontinuitäten in der Verteilung und Erstreckung von Herrschaftsgebieten und Königtümern von 500 bis 1350 erstaunt. Dieser Kontinuität von der Frühzeit bis ins Mittelalter wird als vielfach begründet angesehen. Der Bericht 2018 über die Befunde lautet wiederholend jetzt: Der Grabhügel von Flaghaug wurde 1834 bis 1841 untersucht, aber nicht ausreichend publiziert. Der Hügel enthielt zwei Kammergräber und zwei Steinkisten mit sechs Gräbern. Grab 1, 3403 Slomann 1973; Grimm 2009; 2014. 3404 Stylejar, Reiersen, Pesch, Grimm 2011. 3405 Skre (Ed.) 2018, 565 Fig. 22.3. 3406 Skre (Ed.) 2018; 2020. 3407 Østmo 2020. 3408 M. A. Østmo 2020, 85–89 mit Karten Fig. 2.4 a/b. 3409 Skree 2020, 195 Fig. 3.1, zur Terminologie 196 f., auch mit Hinweis auf Steuer 2006a. 3410 F. Iversen 2020, 256 Fig. 3 mit Nennung der Zahlen zu den Höhenbefestigungen in der Unterschrift, 293 Fig. 4.16 Karte der Königtümer in Skandinavien; die Höhensiedlungen des 4./5. Jahrhunderts in Südwestdeutschland werden als Parallelen gesehen: Steuer, Hoeper 2008.
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eine Holzkammer, enthielt keine Beigaben und gehörte aber wohl als erste Bestattung in die Bronzezeit. Grab 2 war eine Steinkiste mit der Körperbestattung eines Mannes, datiert in die Phase C1b/C2 der Römischen Kaiserzeit, und eine Frauenbestattung war irgendwie beseitigt worden. Grab 3 war die Brandbestattung eines Mannes der Phase C3 in derselben Steinkammer. Grab 4, wiederum eine kleine Steinkammer, enthielt das Brandgrab eines Mannes, datiert in die Phase C1b und/oder C2. Grab 5 in einer dritten Steinkiste barg ebenfalls ein Brandgrab, nicht näher datierbar zwischen Bronzezeit und Völkerwanderungszeit. Grab 6 gehört wohl in die Wikingerzeit, da darin datierbar die Schalen einer Waage gefunden worden sind. Hier hervorzuheben ist das Körpergrab in der Steinkammer des Grabes 2 und zur Gruppe Haßleben-Leuna zu zählen, die – so die Autoren des Beitrags – zum Netzwerk der Allianzen außerhalb des Limes gehörte, etabliert durch Römer nach dem Ende der Markomannenkriege um 180 n. Chr.3411 Das Grab 2 enthielt einen Hemmoorer Eimer mit einem goldenen Halsring von 590,51 g Gewicht (s. o.) und zwei goldene Fingerringe, Goldblech wohl von einer Scheibenfibel, einen silbernen Schildbuckel, ein Schwert mit silbernen und goldenen Beschlägen, 32 Spielsteine aus Glas und weitere Waffenfragmente, von einer Pfeil- oder Speerspitze.3412 Anscheinend gehörte auch ein Sieb zur Beigabenausstattung, gefunden 1834, ebenso ein Bronzegefäß, das aber Asche enthalten haben soll und dann zu einer weiteren Bestattung gehört haben müsste. Eine goldene Nadel und Goldblech als Teil einer Scheibenfibel müssten zu einem Frauengrab gehört haben. In Grab 3 stand ein Westlandkessel und enthielt verbrannte Knochen, auch vier Spielsteine aus Knochen und Textilreste; aufgrund der Datierung des Kessels in die Phase C3 wird es sich um eine sekundäre weitere Bestattung gehandelt haben. Grab 4, eine kleine Steinkammer, enthielt einen Hemmoorer Eimer mit verbrannten Knochen und fünf goldene Spiralringe, wie oben gesagt, zu datieren in C1b oder C2. Der Goldring aus Grab 2 mit kolbenartig verdickten Enden ist mit quer verlaufenden Rippen unterschiedlichen Musters dekoriert.3413 Vom vielfach verzierten Hemmoorer Eimer aus Messing mit Silbereinlagen sind der obere Randteil mit dem Henkel und der Fuß erhalten und maß wohl 20 cm in der Höhe.3414 Ebenso ausführlich sind Schwert und Schildbuckel beschrieben. Der Westlandkessel in Grab 3 hat einen Durchmesser von 30 cm und eine Höhe von 16,5 cm, der Hemmoorer Eimer aus Messing in Grab 4 ist samt Henkel fast vollständig erhalten, hat oben unter dem Rand außen Rillenverzierung und ist 26,5 cm hoch und hat einen Durchmesser von 25,5 cm.3415 In Setrang/früher Sætrang in der Landschaft Ringerike nördlich von Oslo in Norwegen wurde 1834 noch unsachgemäß ein Grabhügel ausgegraben, eines der reichs3411 Stylegar, Reiersen 2018, 564 f. Fig. 22.3 (der Hügel mit der Lage der Gräber; Stylegar 2011; 2014). 3412 Bei v. Carnap-Bornheim 2019, 102 Abb. 1. 3413 Stylegar, Reiersen 2018, 575–579 mit Fig. 22.4 bis 22.6. 3414 Stylegar, Reiersen 2018, 588–592 mit Fig. 22.15 bis 22.16 (Zeichnung des Ornaments). 3415 Stylegar, Reiersen 2018, 615 Fig. 22. 28 (Westlandkessel), 616–619 mit Fig. 22.29 bis 22.31 (Hemmoorer Eimer).
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ten Grabanlagen in Norwegen, der zu einem kleinen Gräberfeld mit zwei weiteren größeren Grabhügeln und zwei Bautasteinen gehört. Der 4 m hohe Hügel hatte einen Durchmesser von 20 m, eingefasst von einem Steinkreis. Im Inneren befand ich unter einer Steinpackung eine zweiräumige, Nord-Süd ausgerichtete hölzerne Kammer mit den Maßen von 3,75 m auf 1,90 m. In der nördlichen Kammer standen Keramik-, Glasund Holzgefäße, in der Hauptkammer befanden sich die übrigen Beigaben: fünf Fingerringe aus Gold (zusammen fast 64 g Gewicht), zwei Fingerringe aus Silber, einige Fibeln aus Bronze, eine davon wohl eine skandinavische Pressblechfibel, eine andere als Nachahmung einer römischen Militärfibel, außerdem rund 900 Perlen aus Bernstein und Glas, mehrere Spinnwirtel, mehrere Gürtelschnallen und vergoldete und versilberte Beschläge eines Prunkgürtels3416 mit zugehörigem Feuerzeug, Schere, Pinzette und Ohrlöffel (aus einer Tasche?) sowie noch weitere 15 Spielsteine aus Glas. Zur Bewaffnung gehörten ein zweischneidiges Schwert, zwei Lanzenspitzen, zwei Speerspitzen und Reste zweier Schildbuckel. Dabei fanden sich noch Beschläge von Trinkhörnern, zwei Glasbecher und fünf bis sechs Holzeimer, zwei Holzschalen und sechs Tongefäße sowie allerlei Textil- und Speisereste. Datiert wird das Ensemble in das 4. Jahrhundert, also in die Stufe C3 (320/325–375/400).3417 Wieviele Tote im Grab lagen, ob es eine Doppelbestattung mit Mann und Frau gewesen ist, bleibt bei der Beigabenmenge unklar.3418 Dieser Grabhügel von Sætrang ist vergleichbar mit sehr ähnlichen Bestattungen in Schweden, von Fröslunda in Uppland und Lilla Jored in Böhuslan. Der Prunkgürtel hat eine gute Parallele im Grab von Tibble bei Lislena in Uppland.3419 Zu dieser Sætrang-Lilla Jored-Gruppe hat sich nach den Artikeln im RGA 2005 wieder A. Rau ausführlich 2014 geäußert.3420 In Norwegen gab es während der Römischen Kaiserzeit und der frühen Völkerwanderungszeit (von 0 bis 500 n. Chr.) viele Waffengräber, meist Brandbestattungen, mit Fernkontakten in der Ausstattung.3421 Gewählt wurden Bronzegefäße als Urnen, wie sie auch im Niederelbegebiet und weiter im Süden, bis nach Böhmen und an der March quer über den Kontinent vorkommen. Das erinnert an Auxiliar-Gräber auf der Krim mit den norwegischen Verbindungen, die anhand einzelner Beigabensachen konstruiert werden. Doch kommen diese Beigabentypen überall in Europa vor, und Gräber mit Waffen und sogar Agrargeräten gibt es in Sachsen, Mecklenburg und
3416 Skogstrand 2016, 103 Fig. 52: Rekonstruktion des Gürtels. 3417 Nyman, Straume 2005, 229 Abb. 39 Rekonstruktion des Prunkgürtels. 3418 Rau 2014, 153 Abb. 7: Schematischer Plan der Doppelbestattung von Sætrang mit Lage der Beigaben. 3419 Die genannten Grabfunde haben eigene Stichworte im RGA; Rau 2014, 158 Abb. 11 Rekonstruktionen der Prunkgürtel. 3420 Rau 2014, 146 Abb. 1 Karte: Sætrang (Norwegen), Fullerö, Tibble, Lilla Jored (Schweden), Lærkenfeldt (Jütland). 3421 Stylegar 2011, 231 Fig. 7; auch 2014.
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Pommern. Es gibt kaum Unterschiede zwischen den Bestattungen in Hagenow und denen von Hadeland in Norwegen. Auch Ostmitteleuropa ist zu berücksichtigen. Der Fund von Pilgramsdorf / Pielgrzymowo in Nordmasowien ist eines der östlichsten Prunkgräber der jüngeren Römischen Kaiserzeit, des 3. Jahrhunderts, das Beziehungen zu mitteldonauländischen Bestattungen aufweist und damit Kontakte zwischen dem Karpatenbecken und Nordeuropa spiegelt.3422 Es ist ein mit Steinen bedeckter Hügel von 27 m Durchmesser; die Steinpackung misst 2,5 m im Durchmesser und 1 m in der Höhe. Die Kammer darin, Nord-Süd ausgerichtet, war 2,84 m lang und 1,96 m breit. Der Tote lag in der Kammer auf einem Bett. Zu den Beigaben gehören ein Goldarmring mit Kolbenenden, eine Glasschale mit Facettenschliff, außerdem Keramik der Stufe C2 der Wielbark-Kultur und eine Fibel mit umgeschlagenem Fuß der Przeworsk-Kultur (die Vermischung von Elementen der beiden Kulturen fällt auf!), weiterhin Gürtelzubehör mit drei silbernen, einer bronzenen und einer eisernen Schnalle und zwei andere Gürtel mit silbernen Beschlägen im Sösdala-Stil (dazu unten S. 1229). Beigaben sind außerdem ein Spielbrett und Spielsteine. Einige Textilien sind erhalten und ausgewertet worden. Die Datierung weist in die Wende von der Stufe D1 zu D2. N. Lau meint zudem, dass alle Sösdala-Stil-Arbeiten schon in der jüngeren römischen Kaiserzeit vertreten seien. Der goldene Kolbenarmring wiegt 235 g und ist damit der schwerste dieser Epoche. Kolbenarmringe kommen zuerst schon im 1. Jahrhundert in sarmatischen Gräbern auf, und zwar soll dieses neue Erscheinen auf römischen Einfluss zurückzuführen sein, wo derartige Ringe zu militärischen Auszeichnungen gehörten (dazu oben S. 555).3423 Nahebei wurden weitere reiche Gräber entdeckt, insgesamt vier Hügelgräber. Hügel 2 etwa 50 m weiter östlich war beraubt, doch fanden sich noch Reste von einem Glasbecher mit Facettenschliff der Stufe C3. Hügel 3 etwa 500 m weiter entfernt barg ebenfalls eine Steinpackung in einem Steinkreis. Bei der Leichenbrandkonzentration (also kein Körpergrab) fand sich ein Knochenkamm der Stufe B2/C1. Hügel 4 lag nur 24 m östlich von Hügel 1, war von einer Steinpackung abgedeckt und ist datierbar allgemein ins 3./4. Jahrhundert. Es sind alles Hügelgräber der WielbarkKultur, die eine Abfolge bilden, von der Stufe B2-C1/C1a und weiter bis Stufe C3 und D1. Die Holzkammer ist im Übrigen vergleichbar mit der im Kammergrab von Poprad in der Slowakei oder mit der Kammer im „vandalischen“ Königsgrab von Osztrópataka/Ostrovany, beide in der Slowakei (vgl. S. 937). Das Fürstengrab Rudka3424 wurde 1936 in der Provinz Ternopol, Wolhynien, Ukraine, entdeckt. Es ist ein reich ausgestattetes Körpergrab der jüngeren Römischen Kaiserzeit, angelegt als Flachgrab in rechteckiger Grabgrube von 2,50 m Länge, 1,10 m Breite und 2,10 m Tiefe. Am Körper lagen eine silberne Armbrustfibel und zwei
3422 Lau 2012; 2014. 3423 Maxfield 1981. 3424 Kasanski, Steuer 2003, 404 Abb. 43 Plan des Grabes mit Position der Beigaben.
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silberne Sporen sowie ein ebenfalls silbernes Messer. Über dem Kopf standen eine Tonschale und ein Bronzebecken mit 29 cm Durchmesser, in Handhöhe neben dem Toten lagen zwei Spielsteine aus Glas und standen drei Drehscheibengefäße und ebenso welche zu Füßen. Nur wenig weiter waren am Fußende die römischen Importgefäße aufgebaut, ein Hemmoorer Eimer und darin ein Glasgefäß, aber auch große Tongefäße einer Drehscheibenware. Die Datierung erfolgt über die Importgefäße in die Stufe C2 (260/270–300/320 n. Chr.), ist also zeitgleich mit den Gräbern von Haßleben und Leuna und damit der südöstlichste Beleg dieser Gruppe. Seine südliche Position weist es in den Bereich zwischen der Wielbark-Kultur und der PrzeworskKultur. Den Versuch der ethnischen Zuweisung zu Gepiden oder Goten sollte man als Archäologe außer Betracht lassen.
18.4.5 Späte Gräber des ausgehenden 4. und des 5. Jahrhunderts Auf dem Kontinent beschreibe ich zuerst die Gräber von der Fallward3425 mit ihrer Beziehung zur Feddersen Wierde sowie zu Sievern (vgl.auch S. 206).3426 Ausgrabungen haben in der Wurt Fallward bei Wremen, nahe bei der Feddersen Wierde, im Kreis Cuxhaven, zwischen 1993 und 1998 auf dem ehemaligen Strandwall nahe der Wurt zwei Bestattungsareale freigelegt, 200 Brandgräber und 60 Körpergräber. Die Körperbestattungen verteilen sich auf mehrere Qualitätsgruppen, was die Ausstattung und die Beigaben betrifft. Es gibt Prunkgräber mit aufwändiger Herrichtung, Körpergräber in hölzernen Särgen oder Booten und Beisetzungen ohne Sarg. Die guten Erhaltungsbedingungen für Holz haben einige Überraschungen geliefert. Zu den Prunkbestattungen zählen zwei Bootgräber aus dem zweiten Viertel oder der Mitte des 5. Jahrhunderts.3427 Aus dem größeren Bootgrab, freigelegt 1994, stammt das umfangreichste Inventar. Im 4,40 m langen Boot standen ein 65 cm hoher Prunksitz (Abb. 74), ein Klotzstuhl aus einem Baumstamm, mit Kerbschnitt wie an römischen Bronzegürtelbeschlägen verziert, ein Fußschemel mit eingeschnitzter Jagddarstellung – ein Hund reißt einen Hirsch – auf der Unterseite und dazu mit einer Runeninschrift an der Vorderseite. Der Schemel gehört wohl zum Prunkstuhl. Dazu kommen ein kleiner Tisch mit gedrechselten Beinen, weiterhin ein mit Kerbschnitt verziertes Holzgefäß in Vogelform, eine Holzschale, dazu ein Metallkessel sowie mit Kerbschnitt geschmückte Teile eines „römischen“ Militärgürtels, datiert um 420 n. Chr. Zu den Prunkgräbern zählt außerdem die Bestattung einer Frau auf einem Totenbrett, das anhand dieses Holz dendrochronologisch auf 300 n. Chr., also früher, datiert werden kann, sowie das Grab eines 3425 Schön 1995; 2000; 2007; 2010: Zimmermann 2007b. 3426 Schön 2001. 3427 Schön 1995, 21; 2007; 2010; Bleckmann 2009, 43, Abb. 9; Wilson 2020 mit guten Abb., auch zu einem Boot als Sarg.
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Abb. 74: Klotzstuhl aus dem Bootgrab von der Fallward/Wremen, Ldkr. Cuxhaven.
Mädchens, das ebenfalls dendrochronologisch in das 2. Viertel des 4. Jahrhunderts zu datieren ist. Zum Mädchengrab gehören allerlei Holzgefäße und ein kleiner Tisch mit gedrechseltem Rand, entsprechend den Astragalröhrchen an spätrömischen Gürtelbeschlägen, ein Hocker und eine Fußbank. Der Schmuck besteht aus zwei silbernen Armbrustfibeln und zwei vergoldeten Tutulusfibeln. Diese Gräber lagen dicht beieinander und könnten einem Familienverband angehört haben, bildeten aber keine zeitlich geschlossene Abfolge von etwa 300 bis zur ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts n. Chr. Die Schnitzverzierungen an den Möbeln aus dem Holz eindeutig örtlicher Herkunft kombinierten einheimische Schmuckformen, wie sie an Keramikgefäßen vielfach zu beobachten sind, mit „römischen“ Kerbschnittmustern, wie an den gleichzeitigen im selben Grab gefundenen Gürtelteilen. Die örtlichen Handwerker verbanden also zwei Stilelemente miteinander, schon über mehrere Generationen von 300 bis ins 5. Jahrhundert hinweg. Die Tische mit verschiedenartig gedrechselten Beinen verweisen ebenfalls auf qualifizierte hochstehende Handwerkstechnik alter Tradition. Diese Gräber werden zu einer ähnlichen Siedlung mit einem Herrenhof und einer Festhalle gehört haben wie sie auf der 2 km entfernten Feddersen Wierde ausgegraben worden ist. Die Befunde von der Fallward sind nun ein ausgezeichneter Hinweis darauf, was an Möbeln und kunstfertig hergestelltem Holzgerät in den Siedlungen Germaniens vorausgesetzt werden kann, wovon bei meist fehlenden Erhaltungsbedingungen fast nichts überliefert worden ist. Die bestens erhaltenen Möbel aus dem
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Grab von Wremen mit Klotzstuhl und Schemel3428 lassen den Verlust an Mobiliar in Brand- und Körpergräbern und in Kammergräbern erahnen. In den Brandgräbern sind diese Möbel sicherlich mit verbrannt worden, in den Körpergräbern konnten sie aufgrund der Bodenverhältnisse auch nicht erhalten bleiben. Oft, wie in Issendorf, kann wenigstens an Verfärbungen noch abgelesen werden, dass dort Möbel gestanden haben. Der Hocker und das Tischchen aus dem Mädchengrab sollten anders bewertet werden, nach der Meinung von E. Cosack: Das Tischchen ist so klein, dass nur eine Person davon speisen konnte. War das ein Gebrauchsmöbel, oder wurde es für den Totenkult hergestellt? Wegen Rauchbelästigung wollte man wohl in den Häusern am Herd ganz niedrig sitzen. Demgegenüber ist der Klotzstuhl als Rangzeichen höher; Wurmbefall beweist, dass er am Standort der Benutzung stand. Auch das Möbel aus der Feddersen Wierde ist – so der Autor des Beitrags – kein Melkschemel, sondern ebenfalls ein Hocker. Bei Jakuszowice in der Woiwodschaft Kielce, 50 km nordöstlich von Krakau,3429 sind ein Fürstensitz, eine Siedlung, und auch ein Fürstengrab 1911 zufällig gefunden, aber erst in den vergangenen Jahrzehnten publiziert worden. Die große Siedlung bestand vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis ins 5. Jahrhundert n. Chr. Das Fürstengrab des frühen 5. Jahrhunderts gehört zur späten Gruppe, die in diesem Buch behandelt wird. In 6 m Tiefe wurden die Skelette eines jungen Mannes und eines Pferdes gefunden. Zu den Beigaben zählen eine Spatha mit magischem Schwertanhänger aus Bernstein mit Goldknopf und eingelegten Almandinen, goldene Beschläge der Schwertscheide, Goldbleche von der Verkleidung eines Reflexbogens, eine Trense mit Verzierung im Sösdala-Stil, weitere Teile vom Pferdegeschirr, vom Schmuck der Kleidung mehrere Gürtelteile, drei Schnallen aus Gold und Almandineinlagen, vier Schnallen aus Silber, drei davon vergoldet, und mehrere Riemenzungen; sonst kamen als Beigaben nur noch ein Messer und ein Drehscheibengefäß hinzu. Das Gewicht der überlieferten Goldgegenstände beträgt rund 150 g, was 33 Solidi entspricht, und das Gewicht des Silbers immerhin 243 g. Die Ausstattung des Toten verbindet Elemente des Reiternomadischen mit solchen aus dem Westen, dem Sösdala-Stil (vgl. dazu unten S. 1229). Die Datierung weist in die Attilazeit; vergleichbar sind die Gräber von Höckricht (Jędrzychowice) und Königsbruch (Ługi) in Niederschlesien, im Westen die von Mundolfsheim und Wolfsheim.3430 Die 7 Hektar große Siedlung – das Fürstengrab liegt etwa 300 m entfernt – gehört zur Przeworsk-Kultur der jüngeren vorrömischen Eisenzeit und der Römischen Kaiserzeit mit einer größten Ausdehnung in der Kaiserzeit und noch nachfolgend während der frühen Völkerwanderungszeit; sie endet im fortgeschrittenen 5. Jahrhundert. Ebenerdige Gebäude und Grubenhäuser sowie Produktionseinrichtungen wurden
3428 Cosack 1996. 3429 Steuer 2000; Godłowski 1995. 3430 Diese vier Gräber haben eigene Stichworte im RGA; vgl. Brather 2018.
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18 Gräberfelder der Bevölkerung und Bestattungen der Eliten
freigelegt. Ungewöhnlich reichhaltig ist das Fundmaterial in der Siedlung selbst, über 80 Fibeln, Gürtelteile, Berlock- und Axtanhänger, Kämme und rund 75 römische Münzen (eine der höchsten Ansammlungen in einer Siedlung in Germanien) sind dokumentiert. Außerdem wurden über 30 Fragmente von Gläsern (von einem Trinkhorn, von Faden- und Rippengläsern, Nuppengläsern, Facettschliffbechern) geborgen. Diese haben Parallelen in den Fürstengräbern von Haßleben in Thüringen, Himlingøje auf Seeland und Snartemo in Norwegen. Die Produktionseinrichtungen gehören zu Töpfereien, zur Bernsteinverarbeitung, zur Eisengewinnung und -verarbeitung sowie zum Buntmetallhandwerk, zu Gold- und Silberschmieden, wovon noch mehrere hundert Tiegelbruchstücke und zerschmolzene Buntmetallschrott übergeblieben sind sowie Halbfabrikate von Nadeln und Fibeln. Nicht nur die Denare, auch die Reste einer Zwiebelknopffibel, römische Spiegelfragmente und Terra SigillataScherben; die Gläserreste und Glasspielsteine belegen die Verbindung zu den römischen Provinzen in über 300 km Entfernung nach Westen und nach Süden. Die Ansiedlung war also weniger landwirtschaftlich ausgerichtet, sondern eher ein Produktionszentrum wie beispielsweise auch Igołomia in Südpolen mit den Töpfereien. In diese Zeit gehört ebenfalls das Kriegergrab der frühen Völkerwanderungszeit von Juszkowo in Nordpolen bei Pruszcz Gdański nahe der Ostseeküste.3431 Dem Toten, einem 30jährigen Mann in einer Nord-Süd ausgerichteten Körperbestattung, waren ein Schwert mit Schwertperle aus Bernstein, dazu eine Bronzeschnalle mit Silbereinlagen und Vergoldungsspuren beigegeben. Eine Fibel aus Eisen, ein östlicher Typ, mit Rosettenpunzierung wird in die Phase C3/D1 datiert (zweite Hälfte 4. und frühes 5. Jahrhundert). Die Spatha ist ein asiatischer Typ, der vor allem im Karpatenbecken und in der ungarischen Tiefebene sowie auf der Krim und deren Umgebung vorkommt. Das Grab selbst ist jünger als die Fibel, wird insgesamt in die Phase D2 (vor bzw. gegen 500) datiert und könnte noch zur Wielbark-Kultur gehört haben oder gleich in die nachfolgende Phase. Die Verwandtschaft zum „gepidischen“ Gebiet markiert einen Zeithorizont nach dem Ende der Wielbark-Kultur, als die Besiedlung Pommerns ausgedünnt war, aber doch noch Solidus-Horte und andere Gold- und Silbergegenstände sowie Bronzerohstoffe verarbeitet werden konnten. Es geht hier um die Frage nach der Ablösung einer „germanischen“ Bevölkerung durch eingewanderte „slawische“ Siedler (vgl. S. 827). Das 5. Jahrhundert zwischen Oder und Weichsel3432 wird als Zeit des großen Wandels betrachtet, was aber auch für andere Gebiete Mitteleuropas zutrifft. Jan Schuster macht das fest beispielsweise an den Teilen des vergoldeten Pferdezaumzeugs von Jakuszovice bei Krakau vom Ende des 4. bzw. der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts oder am Waffengrab von Juszkowo bei Danzig, nahe der Ostseeküste, aus der ersten Hälfte des 5. Jahrhundert, mit einem reiternomadisches Schwert und
3431 Kontny, Mączyńska 2015, 244 Abb. 6 und 249 Abb. 8 Karte der asiatischen Spathatypen. 3432 Schuster 2017c, 41 Fig. 1 (Pferdezaumzeug), 45 Fig. 3 (Waffengrab), 48 Fig. 6 (Hort mit Solidi).
18.4 Elitegräber – ein Auswahlkatalog der Körpergräber
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Schwertperle aus Bernstein. Dazu wird außerdem der Hort aus der Siedlung von Świlcza, Rzeszów Distrikt, genannt, datiert um 439 n. Chr. (dendrodatiert 433 +/-10) mit Hacksilber, zehn Denaren, vier Fibeln aus Silber (zwei davon vergoldete silberne Prunkfibeln vom Typ Groß Köris, die 22,2 und 23,2 g wiegen), mit rhombisch stempelverziertem Fuß, einer Fibel vom Typ Wiesbaden und einer Niemberger Fibel (dazu ausführlich oben S. 552). Schließlich führt Schuster noch den Hort mit Solidi von Karsibór, Świnoujście District (Swinemünde) an, datiert ins frühe 6. Jahrhundert, mit acht Objekten, dabei Solidi des Theodosius I. (379–395) bis Valentinian III. (425–455). Aus der Slowakei wird das frühvölkerwanderungszeitliche Kammergrab von Poprad-Matejovice, am Fuß der Hohen Tatra, interdisziplinär bearbeitet, was 2015 abgeschlossen worden ist,3433 mit beachtlichen Ergebnissen, obgleich das Grab großenteils ausgeraubt war. Es wurde 2005 entdeckt, und eine erste RadiocarbonDatierung ergab das späte 4. Jahrhundert. In einer großen, gut erhaltenen Holzkammer, eingesetzt in eine zuvor 5 m tief ausgehobenen Nord-Süd ausgerichteten Grube, stand eine zweite kleinere Kammer. Es ist die am besten mit den organischen Materialien, den Hölzern, erhaltene Grabanlage, die erforscht werden konnte. Die große Kammer aus Lärchenholz maß etwa 3,95 m in der Länge und 2,70 m in der Breite, die Wände in Block- und Ständerbautechnik waren einst 2 m hoch (die Innenmaße betrugen 3,66 m auf 2,40 m). Die innere Kammer, auch aus Lärchenholz, war 2,90 m lang und 1,70 m breit und war gegen die Ostwand der großen Kammer gerückt. Auch das Giebeldach der inneren Kammer aus Holz war weitgehend erhalten geblieben (und dieses Dach wird ebenfalls wieder mit Vorbildern in den römischen Provinzen anhand von Sarkophagen verglichen). Beobachtet wurde sogar, dass die Transportbahre, auf der man den Toten zu Grabe getragen hat, auf dem Kammerdach abgelegt worden ist. Zur Ausstattung gehören gedrechseltes Mobiliar, eine Liege aus Eibenholz an der Westwand und ein Tisch in der Nordostecke aus Pappelholz. Die innere Kammer entsprach „römischen“ Grabhäusern, während die äußere Kammer einfacher gebaut war, eigentlich nur wie eine Verschalung der Grabgrube wirkt. Man vermutet zudem einen offen gehaltenen Zugang zur Kammer, so dass vielleicht ein Teil der Ausstattung im äußeren Bereich erst später bei Kulthandlungen oder Feierlichkeiten ins Grab gekommen ist. Die weitere Auswertung3434 ergab zusätzliche Datierungen: Der Bau der Kammer ist nach C14-Angaben zwischen 360 und 390, wohl um 380 n. Chr. erfolgt; ein Solidus des Valens, geprägt in den späten 370er Jahren (als Anhänger umgearbeitet mit Schlaufe) liefert dasselbe Datum; aber unter den Beigaben des späten 4. Jahrhunderts sind mit dem Hemmoorer Eimer auch Altstücke, die über 100 Jahre älter sind als die Grablegung. Die „erste“ Graböffnung erfolgte schon wenige Monate nach der Bestattung.
3433 Pieta 2009; 2016.; Lau, Pieta 2014, 352 Abb. 8 Kammern in Farbe mit Verteilung der Möbelteile; Lau 2015 (2016) a; 2017, 458 Abb. 1 Bestandteile der hölzernen Liege; Lau 2018 (2019) 42 f. 3434 Lau, Meadows 2017 (2018).
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18 Gräberfelder der Bevölkerung und Bestattungen der Eliten
Der Tote lag mit seiner Kleidung3435 und seinem Schmuck auf einem komplex aufgebauten Bett mit Lehnen an Kopf- und Fußende, das einst – vor der Beraubung – mit Silber beschlagen war. Daneben standen der runde Tisch sowie ein Schemel. Ein Spielbrett mit Glasspielsteinen befand sich ebenfalls in der inneren Kammer. Außerhalb im Süden der inneren Kammer waren die weiteren Sachgüter untergebracht; noch übergeblieben nach der Beraubung sind ein Bronzeeimer und acht Keramikgefäße, darunter eine glasierte römische Reibschale, sowie Tierknochen der Speisebeigaben. Die Publikation 2014 bietet mehrere ausgezeichnete Rekonstruktionen der gesamten Grabanlage mit ihrer Ausstattung,3436 die mit den erhaltenen Holzteilen in späteren Gräbern verglichen werden kann. Die gedrechselte Totenliege legt den Vergleich mit dem Befund im Sängergrab 58 von Trossingen (580 n. Chr.) nahe, außerdem mit der Liege und dem Stuhl im Knabengrab unter dem Kölner Dom (um 540) und dem Tischchen in der Fallward aus dem Körpergrab des 4./5. Jahrhunderts sowie dem Befund des Holzkastens von Weklice (dazu vgl. oben S. 428).3437 Auch der Vorgang der Beraubung ließ sich bis ins Detail rekonstruieren. Bei der Beraubung war der schon genannte goldene Anhänger aus einem Solidus des Kaisers Valens (geprägt 375 n. Chr.) verlorengegangen, was zur Datierung auch der Graböffnung hilft. Das Spielbrett, einige wenige Spielsteine, eine Pfeilspitze aus Bronze, eine silberne Aale, eine kleine silberne Schuhschnalle, Reste eines Metallspiegels waren geblieben und lagen verstreut im Grab. Gut erhalten waren Textil- und Lederreste, teils mit Goldfäden, darunter eine lederne Köcher- oder Bogentasche. Unter einem Körbchen aus Weidenholz lag ein Toilettenbesteck aus Schere, Pinzette und Ohrlöffel, jeweils aus Eisen mit Versilberung. Insgesamt vermutet man, dass die Siedlungsgemeinschaft eng mit „Lebens- und Bestattungssitten“ im Römischen Reich vertraut war und sich zur aufwändigen Grabanlage anregen ließ. Darf man dazu fragen, ob nicht eine römische Vorbildwirkung nötig für die Erklärung ist, da zu dieser Zeit die „germanische“ und „römische“ Welt schon eine Einheit gebildet haben? Das Kammergrab von Pförring, Ldkr. Eichstätt in Bayern, 20 km östlich von Ingolstadt am Nordrand der Donauaue, in Sichtweite der spätrömischen Reichsgrenze, ist erst 2016 entdeckt worden.3438 In der 3 mal 3 m großen Kammer lag die bestattete junge Frau auf einem Zwischenboden, auf einem Bett, daneben stand eine hölzerne Truhe und lagen Speisebeigabe. Der Schmuck der Frau besteht aus einem goldenen Fingerring mit Schmuckstein, aus über 300 Perlen in zwei langen Perlenketten aus Glas und Bernstein sowie Koralle, die an zwei einfachen Bronzefibeln angehängt waren, außerdem aus einem Gürtelgehänge mit Amuletten, drei durchlochten römischen Münzen des 4. Jahrhunderts, 3435 Štolcova, Zink, Pieta 2009; Štolcova, Schaarschmidt, Mischke 2014 und 2015. 3436 Lau, Pieta 2014, 352 Abb. 8. 3437 Lau 2017. 3438 Fehr, Planert 2016 (2017), 99 Plan der Kammer Abb. 153; 2017; Fehr 2018, Abb. 2 Beschläge, 201; aufgedeckt 2019, 76–82.
18.4 Elitegräber – ein Auswahlkatalog der Körpergräber
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aus einer römische Riemenzunge der mittleren Kaiserzeit und einem Paar Hakenschlüssel. 48 kleine pyramidenförmige Beschläge aus vergoldetem Silber waren Besatz eines Textils, das rechts neben dem Kopf der Toten lag. (Parallelen sind von Rülzheim, Untersiebenbrunn und Szeged-Nagyszentmiklós / Nagyszéksós und auch aus Tunesien im Grab von Khodiat-Zateur bekannt). Zusätzlich waren 16 rückwärts blickende Tiere aus dünnem vergoldetem Silberblech, gelocht und also aufgenäht, in zwei Reihen übereinander angebracht als eine Art Stirnband. Beschläge und Bleche stammen wohl aus derselben Werkstatt für Pressblechtechnik im Mittelmeerraum. Es sollen Schafe oder Lämmer sein, die sonst unbekannt sind, aber in einen christlichen Zusammenhang, in frühe christliche Kunst weisen (sie haben keine Hörner, aber einen langen Schwanz; vielleicht sollen das auch andere Tiere sein). Das Grab spiegelt weitreichende Verbindungen sowohl in den Norden als auch zum Mittelmeergebiet. Datiert in die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts gehört das Grab in die Zeit der südwestdeutschen Höhensiedlungen. Aber es gibt auch Radiocarbon-Daten, die für das späte 4. Jahrhundert sprechen. Zu vergleichen ist dieser Befund mit den Gräbern von Scheßlitz3439 und Kemathen im Landkreis Eichstätt,3440 ebenfalls aus der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts, und mit dem Grab 363 von Schleitheim-Hebsack3441 sowie mit einer Bestattung von Lauffen, Kr. Heilbronn, am Neckar Grab 2.3442 Die Mode und das ähnliche Bestattungsritual bilden eine neue Ebene der „Fürstengräber“, außerhalb des Römischen Reiches, aber nahe der alten Grenze, von wo die Traditionen entwickelt worden sein können. Es sind meist reich ausgestattete Frauengräber, zu denen auch Basel-Kleinhüningen, Mahlberg und Mengen zählen; mehrere enthalten Klappstühle sind darin bemerkenswert.3443 Es gibt weitere manchmal Kammergräber der Zeit von 450 bis 500 n. Chr. am Oberrhein. Zu den auffälligen und späten Gräbern der zweiten Hälfe des 5. Jahrhunderts sind auch noch Bestattungen zu zählen, zu denen in der Nachbarschaft eine Pferdebestattung gehörte.3444 Ausgang für die Zusammenstellung ist das Prunkgrab mit Pferdebestattung von Hemmingen-Hiddesdorf am Hellweg, ein Kammergrab der Zeit um 500. Am Hellweg reihen sich einige Gräberfelder mit Prunkbestattungen des 6./7. Jahrhunderts auf. Die dazu gehörenden Pferdegräber der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts und der ersten Hälfte 6. Jahrhundert haben entsprechende Parallelen vor allem in Thüringen sowie Böhmen und Mähren. Ob das Pferd als Beigabe den
3439 Haberstroh 2000. 3440 Keller, Rieder 1992; Schmidts 2000, 224 f. mit Abb. 188–189 und 392 Kat.Nr. 154. 3441 Ruckstuhl 1988, 71 f. Abb. 7–10; Burzler u. a. 2002; Leicht 2002 zu den spätkaiserzeitlichen Kammergräbern. 3442 Schach-Dörges 1981, 623 Abb. 8 Grab 2. 3443 Brather-Walter, Brather 2018, Fig. 1 Karte; Gütermann 2011. 3444 Winger, Gerling, Bartelt, Ludowici 2018, 219 Abb. 6 Karte mit den Gräberfeldern am Hellweg, 222 Abb. 8 und 9 Pferdegräber der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts.
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18 Gräberfelder der Bevölkerung und Bestattungen der Eliten
„Amtsträger“ markiert, ist Spekulation; die Rolle der Pferdemitgabe ist komplexer. Das Pferd war Begleiter des Kriegers, Partner oder Waffe.3445 Für die nachfolgend noch aufgeführten Elitegräber findet sich ein umfangreiches Bildmaterial sowie die Beschreibungen und Datierungen im Ausstellungskatalog von 2001 „Das Gold der Barbarenfürsten. Schätze aus Prunkgräbern des 5. Jahrhunderts n. Chr. zwischen Kaukasus und Gallien.3446 In Untersiebenbrunn, Niederösterreich, wurden 1910 mehrere reich ausgestattete Gräber entdeckt und untersucht. Ein reiches Frauengrab enthielt unter anderem polychrom verzierte Silberblechfibeln, ein weiteres Fibelpaar aus Silberblech, ein goldenes Ohrringpaar, zwei goldene Armringe mit Tierkopfenden (63,7 und 65,3 g wiegend), eine goldene Halskette mit Anhängern und 536 Goldflitterbesätze von der Kleidung. Im Grab eines Mannes fanden sich ein schwerer goldener Halsring und goldene Schnallen sowie prächtige silbervergoldete Beschläge mit Punzmusterverzierung wohl vom Pferdegeschirr aus gereihten und kreisförmig angeordneten Mandelpunzen, verwandt mit dem Sösdala-Coşoveni-Stil der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts (vgl. S. 1229), wie er weiter im Norden fassbar ist. (Die Beigaben sind nicht sicher dem Grab einer Frau und eines Mannes zuzuweisen). Manche Objekte der Gräber sind noch im 4. Jahrhundert gefertigt worden.3447 J. Tejral beschreibt ausführlich diese Stilgruppe Untersiebenbrunn.3448 Eine Karte mit Südrussland und der Ukraine zeigt die Elitegräber der Phase D2 um 400 und aus dem frühen 5. Jahrhundert, wobei J. Tejral auch auf die zeitgleichen Höhensiedlungen des 4./5. Jahrhunderts im Westen hinweist. Silberblechfibeln mit farbigem Steinbesatz und andere Schmucksachen mit einem polychromen Stil oder kostbarer Goldverzierung wie in den Bestattungen von Untersiebenbrunn verbinden eine ganze Gruppe reich ausgestatteter Gräber der Völkerwanderungszeit miteinander. Üppiger Schmuck in Årslev und Sanderupgàrd (mit Granulation und Filigran), in Sakrau/Zakrzów und Szilágysomlyó datieren diese Komplexe in die Phase D2, das fortgeschrittene 5. Jahrhundert (vgl. oben S. 937). Auch in Nordpolen, in Młoteczno (Hammersdorf), wurde eine Prunkfibel geborgen im polychromen Stil, womit der Fund hier das Ende der Wielbark-Kultur markiert. Die Herkunft ist in Süden, in Richtung Donau zu sehen; dort war das Zentrum für derartige Kunsterzeugnisse.3449 Reiternomadisch-ostgermanische Schmuckelemente finden sich in mehreren anderen der genannten Elitegräber des frühen 5. Jahrhunderts, wie beispielsweise im Grab von Wolfsheim (erste Hälfte des 5. Jahrhunderts). Weitere Grabfunde wie der von 3445 Steuer 2003c; 2018. 3446 Wieczorek, Périn (Hrsg.) 2001. 3447 Bierbrauer 2006; Nothnagel 2012. 3448 Tejral 2016a, 57; Wieczorek, Périn (Hrsg.) 2001, 38 Abb., 108 ff. Kat.Nr. 2.4, 2.5; 86 f. Karte der Fundorte. 3449 Mącyńska 2013.
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Mundolsheim im Elsass bei Straßburg 1881 entdeckte Komplex, zu dem zwei paarige vergoldete Silberbleche mit eingepunzten Schuppenmuster gehören, die als Sattelbeschläge gedeutet werden, datiert ins frühe 5. Jahrhundert, weisen Beziehungen zum mittlere Donaugebiet auf. Der Fund gehört zu einer Gruppe von Fürstengräbern vom Typ Untersiebenbrunn, zu denen das Grab von Hochfelden, ebenfalls im Elsass, (entdeckt 1964) mit Goldblechen als Kleiderbesatz, Airan in der Normandie, Altlußheim und Wolfsheim im Rheinland und Beja in Portugal zählen. Man interpretiert diese Gräber als Bestattungen ranghoher barbarischer Militärs, die als Foederaten oder Söldner der römischen Armee zugeordnet waren. Mit dem späten 4. Jahrhundert n. Chr. machen sich im Siedlungsraum Germanien die „Hunnen“ bemerkbar. Auffällig sind diese hier nur kurz erwähnten Bestattungen, deren Beigaben typische reiternomadische Elemente aufweisen.3450 Dieser spätere Horizont beendet die Überschau über die ersten Jahrhunderte n. Chr. von Gräbern der Elite in Germanien. Sie sind im 5. Jahrhundert angelegt worden: Dazu gehört noch das Grab des Childerich (gestorben 482) in Tournai, Belgien; das Grab von Blučina bei Brünn in Mähren (zweite Hälfte des 5. Jahrhunderts), die Gräber von Apahida, Rumänien (zweite Hälfte des 5. Jahrhunderts), das Grab von Mezöberény, Ungarn (5. Jahrhundert), das Grab von Pouan, Dep. Aube, Frankreich (drittes Viertel des 5. Jahrhunderts), ein Grab von Großörner, Kr. Mansfelder Land (zweite Hälfte des 5. Jahrhunderts) und das Grab bei Fürst, Ldkr. Traunstein (Mitte des 5. Jahrhunderts).3451 Im Beigabengut der Gräber von Vermand in Frankreich und des Childerich sowie vergleichbarer Bestattungen sind noch kaiserzeitliche germanische Traditionen zu erkennen.3452 Es sind lokale Herren, die in den Bestattungen vor und um 500 fassbar werden, die eine soziale Demonstrationen sein wollen und sind, so das organisierte Begräbnis des Königs Childerich. S. Brather meint, dass beim Childerichgrab die Überhügelung nicht bewiesen sei und ob die Pferdegräber tatsächlich zu diesem Grab gehören würden, sei auch fraglich. Die wirkliche politische Spitze der Gesellschaft sei gleichzeitig schon nicht mehr über ein Grab repräsentiert. Die mit Goldgriffspathen bestatteten Krieger seien nur „nachgeordnete Anführer“, nur lokale Chefs. M. Hardt akzeptiert in seiner Rezension diese Dekonstruktion nicht; und D. Quast bleibt 2015 bei der üblichen Deutung.3453 Immerhin hatte aber auch der König und römische General Childerich eine Goldgriffspatha neben anderen Rangzeichen in sein Grab bekommen.
3450 Die Grabfunde haben jeweils ein eigenes Stichwort im RGA; vgl. auch Kazanski 1999, 295 Fig. 1 Karte quer durch Europa bis zur Krim für die Phase D2/D3 (um 500 und 6. Jahrhundert). 3451 Auch diese Grabfunde haben jeweils ein eigenes Stichwort im RGA; dazu auch: Das Gold der Barbarenfürsten 2001 bzw. Wieczorek, Périn (Hrsg.) 2001. 3452 v. Carnap-Bornheim 1999d. 3453 Brather 2014b, 568; dazu Rez. von M. Hardt, in: Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift 56, 2015, 338; Quast 2015a; ähnlich jetzt auch Brather 2018; zu Childerich und Chlodwig vgl. Halsall 2001.
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18 Gräberfelder der Bevölkerung und Bestattungen der Eliten
Erst 2007 ist ein Prunkgrab vom Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte angekauft worden,3454 datiert in die erste Hälfte des 5. Jahrhundert,3455 das nun 2019 ausführlich ausgewertet in einer Monographie veröffentlicht worden ist.3456 Auffällig ist das singuläre Schwert mit Goldgriffhülse; und auf der Rückseite des vergoldeten Silbermundblechs von der Schwertscheide gibt es eine Runeninschrift. Gefragt wird, ob die aufgeführten Prunkgräber des späten 4. und des 5. Jahrhunderts überhaupt noch etwas mit Germanen zu tun haben können: Hier bestätigen aber die Runen, dass dieses Grab in ein runenkundliches Umfeld einzuordnen ist.3457 Zum Grab gehört noch eine Bügelknopffibel mit mehrfach facettiertem polyedrischen Knopf, die auch sonst ins Ende des 4. und frühen 5. Jahrhunderts datiert wird. Für die Runeninschrift haben K. Düwel und R. Nedoma Deutungen vorgeschlagen, die Lesung könnte einen Bezug zum Schwert haben. Das Fundensemble ist durch römisches Sachgut geprägt, und zwar über das Tafelgeschirr (einheimische Keramik fehlt, heute?). Die Herkunft dieses fundortlosen Komplexes wird im Mittelrhein-Main-Gebiet vermutet, wo aber Runen im 5. Jahrhundert nur noch in einem einzigen weiteren sicheren Fall belegt sind.3458 Die Besonderheit des prunkvollen Schwertes, zu dem es keine direkte Parallele gibt, nur ein Exemplar aus Bein in Köln-Deutz, und die sonstigen Beigaben erlauben es, den Toten zur Gruppe der „Chef militaire“ zu zählen, und zwar dann zu einem führenden Mitglied. Weitere Beigaben sind zum Schwert die Schwertscheide und die Aufhängung, ein Schildbuckel, eine Schaftloch-Axt (wie auf dem Zähringer Burgberg), eine Lanzenspitze, Pfeilsitzen, außerdem eine Bügelknopffibel und ein Halsring, Fingerringe, ein Militärgürtel, Schuhe (?), Zaumzeug und einige Gefäße (Teller aus Kupferlegierung, Krug aus Glas, Teller und Napf aus Terra Sigillata). Die goldene Griffhülse von 1mm starkem Blech wiegt 19,5 g, was etwa 4 Solidi entspricht. Auffällig ist der spitze Schildbuckel aus Eisen mit einer Auflage aus feuervergoldetem Silberblech, zu dem es eine Parallele im Grab des „Chef militaire“ von Vermand gibt. Alle Beigaben werden von A. Rau und D. Quast in einen europaweiten Rahmen gestellt, was in 18 Karten (Abb. 170 bis 187) nachdrücklich gezeigt wird, doch mit einer Konzentration im Mittelrhein-Main-Gebiet und datiert in die Jahrzehnte 410 bis 440 (also Phase D2). Diese Kartierungen zeigen im Übrigen wiederum, dass eigentlich dieselben Sachtypen überall vorkommen, da die Typenansprache nicht detailgenug sein kann, so dass regelmäßig Zeitmoden erfasst werden. Es gab eine allgemeine Kommunikation in Mitteleuropa. Zu den ranghohen Elitegräbern der frühen Völkerwanderungszeit bzw. der Hunnenzeit gibt es ausführliche Abhandlungen3459 und Kataloge wie „Das Gold der 3454 Bertram 2015, 92 Abb. 79. 3455 Rau 2016 (2017) c, 63; 2017 (2018), 43. 3456 Bertram, Quast, Rau 2019. 3457 Oehrl, in: Bertram, Quast, Rau 2019, 131 ff. (bisher nicht klar zu deuten). 3458 Rau 2016 (2017) b, 63; 2017 (2018) a, 26 und 129. 3459 Kazanski, Mastykova 2016.
18.4 Elitegräber – ein Auswahlkatalog der Körpergräber
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Barbarenfürsten“, den ich mehrfach zitiert habe.3460 Dazu gehören weiterhin die langobardische Fürstengräber,3461 und zwar wie sie sich beiderseits der norischpannonischen Grenze entwickelt hatten.3462 Doch wird damit die Zeitspanne und der geographische Raum, die in diesem Buch behandelt werden, schließlich deutlich überschritten. Auf die Bestattungen mit Goldgriffspathen und Schwertern mit Ringpaaren am Knauf des späten 5. und des frühen bis mittleren 6. Jahrhunderts weise ich hier nur hin.3463 Während Goldgriffspathen3464 auf den frühen Bereich der mitteleuropäischen Reihengräberfelder begrenzt nachgewiesen sind, kommen Ringschwerter von Italien bis Skandinavien vor. Ringschwerter werden wie im Fürstengrab 1782 von KrefeldGellep durch eine Münze des Anastasius I. (491–518) datiert, kommen ab der Mitte des 6. Jahrhunderts als weiträumig verbreitetes Symbol von Kriegergruppen vor. Weil unterschiedlich verbreitet, sind Goldgriffspathen und Ringschwerter keine sich ablösenden Rang- und Gruppenzeichen, sondern eigenständig geschaffene Würdezeichen.3465 Frühe merowingerzeitliche Körpergräber und Pferdegräber mit fränkischen, thüringischen und lokalen Bezugspunkten – wie ist das zu begründen? – seien ein Zeichen von Mobilität der Verstorbenen, Kennzeichen der Prunkgräber um 500 bzw. um 530 n. Chr.3466 Betrachtet man nur diese Auswahl der bekannten Fürsten- oder Elitegräber, nämlich die Körpergräber – im Gegensatz zur sonst üblichen Brandbestattung – auf eigenen abseits von den größeren Gräberfeldern gelegenen Friedhöfen mit ihren üppigen Beigabenausstattungen, dann kommt die Frage auf, was das Besondere nun an dieser neuen Sitte war. Kleidung und Beigaben waren sichtlich auf Repräsentation ausgerichtet, bei den Bestattungsfeierlichkeiten wurden von den Angehörigen Rang und Vermögen der Verstorbenen gezeigt. Dazu gehörte Edelmetall, Schmuck aus Gold oder Silber, und aus dem Römischen Reich importierte Gefäße aus Metall und Glas, eben das, was man nicht selbst herstellen konnte, aber in dessen Besitz die Familien gelangt waren. Auffällig ist zudem, dass die Beigabenausstattung in der Regel aus Ess- und Trinkgeschirr besteht, oft mit Gefäßen für eine kleine Gruppe, nicht für den Toten allein, als ob die Utensilien für ein Gastmahl mit und für den Toten anschließend ist Grab gestellt wurden, um dann wohl im Jenseits weiter diese Funktion auszuüben. Damit bilden diese Gräber aber eigentlich keine Besonderheit; denn
3460 Das Gold der Barbarenfürsten 2000. 3461 Tejral 2009c. 3462 Tejral 1999b. 3463 Quast 2019; Theuws 2019, 135 mit Fig. 8.4; Steuer 1987; 2003 f.; jetzt J. Nicolay u. a. 2019, Ringpaar aus der Terp Dokkum, Friesland, aus Silber (um die 90% Ag) mit Zickzack-Verzierung in Niello; Brather 2009, 266, Abb. 6 Karte. 3464 Ament 1998, 334 Abb. 52 Karte. 3465 Quast 2019. 3466 Winger, Bartelt 2016, Beispiel Prunkgrab Hemmingen-Hiddesdorf bei Hannover.
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18 Gräberfelder der Bevölkerung und Bestattungen der Eliten
in vielen Epochen der Ur- und Frühgeschichte, vom Neolithikum über die Bronzeund Eisenzeit bis ins Mittelalter mit der Merowingerzeit kommt das regelmäßig vor, immer dann, wenn Körper der Toten in geräumigen Kammern beigesetzt worden sind und Platz für Möbel und vor allem für die Utensilien der Festtafel gewünscht waren (vgl. S. 788 f.). In einer anderen Gegend, im Samland im Bereich der samländisch-natangischen Kultur gab es ebenfalls Adelsgräber der Zeit um 500 n. Chr., die anscheinend ihren Reichtum über die Position am Ausgangspunkt der „Bernsteinstraße“ gewonnen hatten.3467 Kennzeichnend ist der Bau von Kammern für diese Bestattungen in Logvino, Mitino, Kleinheide, Shosseynoye und Warnikam. Erforscht ist die Vielfalt dieser samländisch-natangischen Kultur im ehemaligen Ostpreußen, zumeist sind die Grabsitten und die Beigaben beschrieben. Ein Beispiel sind die völkerwanderungszeitlichen Dolchmesser in dieser Landschaft,3468 deren Einordnung die Bestattungen und die Beigaben insgesamt berücksichtigen muss. Die chronologische Gliederung der samländisch-natangischen Kultur erstreckt sich vom Ende des 4. bis zum Beginn des 6. Jahrhunderts, also etwa von 350 bis 550. Keramikformen sind über die Stufen C3 bis E1 tabellarisch in einer Zeittabelle aufgeführt, ebenso die Lanzenspitzen und die Fibeln sowohl der Almgren-Typen als auch anderer neuerer Typenbezeichnungen. Die Karte der Fundorte im Samland bringt übrigens die alten deutschen Namen. In diesem Gebiet gibt es außerdem frühe Bügelfibeln vom Typ Niederflorstadt-Wiesloch, die sonst eigentlich vor allem weiter im Westen verbreitet sind, und von Csongrád, einem Ort im Samland im Kaliningrad-Gebiet, datiert in die späte Völkerwanderungszeit.3469 Auch diese „westlichen“ Fibeln erreichten ferne Gebiete, so auch im Osten die ungarische Tiefebene und im Südwesten den Raum Basel. Die Liste bringt Fibeln vom Typ Niederflorstadt-Wiesloch mit den Nummern 1–28 und vom Typ Csongrád mit den Nummern 29–38, also insgesamt fast 40 Exemplare.3470
18.5 Elitegräber – ein Auswahlkatalog der Brandgräber Die bisher vorgestellten Gräber einer Führungsschicht sind Körpergräber als neuartiger Bestattungsbrauch im Gegensatz zu den sonst üblichen Brandgräbern, die zudem – wie erläutert – auch immer abseits der allgemeinen Gräberfelder für sich liegen und eine eigene Gruppe bilden. Doch ist davon auszugehen, dass nicht alle Familien der Elite dem neuartigen Brauch, wohl bestimmt durch geänderte Jenseitsvorstellungen oder gewandelte gesellschaftliche Zusammenhalte, übernommen hatten. Gleichrangig, was die Beigabenausstattung u. a. mit römischen Importgütern angeht, sind auch 3467 Skvortsov 2013, 360 Fig. 6 Adelsgräber des 5. und 6. Jahrhunderts. 3468 Prassolow 2018, 35 Abb. 9 Chronologische Gliederung dieser Kultur. 3469 Rudnicki, Skrorcov 2017, 305 Fig. 4 Verbreitungskarte. 3470 Bemmann 2008b, c; Hilberg 2003; 2009 (5. bis 7. Jahrhundert).
18.5 Elitegräber – ein Auswahlkatalog der Brandgräber
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Brandbestattungen, die dann oftmals weiter im Verband mit den anderen größeren Gräberfelder liegen, aber auch eigene kleine Gruppen bilden können, d. h. Brandoder Körperbestattung ist nur eine unterschiedliche Auffassung von dem, was nach dem Tode kommt, die andere betrifft den Bezug zur übrigen Gesellschaft, zu der man noch gehörte oder von der man sich absetzen wollte. Die Kartierung der sogenannten „Fürstengräber“ ist fast immer einseitig, da nur die Körperbestattungen auf den abseits gelegenen Friedhöfen ausgewählt wurden. Aber korrekter ist es erst – zumal bei dem Blick auf die mögliche Zahl der Elitegräber zu den sonstigen Bestattungen –, wenn auch die Brandgräber mit einer gleichrangigen Ausstattung hinzugefügt werden. Wie eine fürstlich ausgestattete Grablege auf dem Scheiterhaufen ausgesehen haben mag, zeigt die Abbildung in einem Beitrag von R. Leineweber3471 mit Bewaffnung und Gefäß- sowie Speisebeigaben. In Apensen bei Stade wurde 1927 ein Brandgrab untersucht, wohl eine Frauenbestattung. In einem großen Bronzegefäß, einer sogenannten Situla, lagen rund 9 kg verschmolzenes Metall, Silber und Bronze. Rekonstruierbar sind zwei Silberbecher, mehrere Bronzegefäße, darunter Kelle und Sieb für den Weingenuss, zwei Trinkhörner, Fibel und Sporen, zu datieren ins 2. Jahrhundert n. Chr.3472 Das Gräberfeld umfasst insgesamt 800 Brandbestattungen, meist als Urnengräber. Derartig reich mit Beigaben versehene Frauenbestattungen gab es in Niedersachsen nicht nur in Apensen 3473 Auf die Spuren des Luxus bei der Elite in Germanien im 3. Jahrhundert weisen bei sorgfältiger Auswertung immer wieder auch die Inhalte von anderen Brandgräbern hin. Ein 1942 publiziertes Brandgrubengrab von Schwarmstedt, Heidekreis, enthielt Reste von sechs Bronzegefäßen, darunter zwei Hemmoorer Eimer und zwei bronzene Kellen. Am Brandbestattungsplatz von Hetzendorf, Ldkr. Nienburg/Weser, wurde ein goldener Fingerring in einer Brandgrube gefunden.3474 Weitere „fürstlich“ ausgestattete Brandgräber gab es in verschiedenen Gebieten und zu unterschiedlichen Zeiten in Germanien. Ein reich ausgestattetes Brandgrab einer „Elbgermanin“ aus dem späten 2. Jahrhundert ist aus Altengottern, Nordwestthüringen, publiziert.3475 Ein Brandgrab des frühen 4. Jahrhunderts mit reichem Import fand man in Bentumersiel.3476 In Hankenbostel, Ldkr. Celle, ist eine separat gelegene Brandbestattung eines Reiterkriegers aus dem 2. Jahrhundert mit kompletter Waffenausstattung zu nennen. Er hatte ein Schwert, einen Speer mit beachtlich langer eiserner Spitze, eine Lanze, einen Schild und Sporen mitbekommen, außerdem einen Satz römischer Bronzegefäße, Kelle und Sieb sowie eine Kasserolle neben einheimischen Trinkhörnern.3477
3471 Leineweber 2007b, Abb. 5 (nach A. Hösenstrup, LDA Halle/Saale). 3472 v. Uslar 1973; Schafberg 1995; Ziermann 2000; 2010. 3473 Ludowici 2017. 3474 Ludowici 2017. 3475 W. Walther 2008. 3476 Mückenberger, Strahl 2009. 3477 Schuster 2019, 55 f. mit Abb. 2; Cosack 1977.
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Das Brandgräberfeld der Spätlatènezeit (D1) und der älteren Römischen Kaiserzeit (B2b, um 150 n. Chr.) in Salzderhelden bei Einbeck in Niedersachsen wurde 1972 ausgegraben, 1980 publiziert und 2016 neu ausgewertet, und nicht zuletzt aufgrund neuer Funde bei systematischer Begehung durch Sondengänger. Die Beigaben weisen sowohl in den keltischen Süden, als auch zur Przeworsk- Kultur und zum nachfolgenden Großromstedter Horizont; es gibt rhein-weser-germanische Keramik und elbgermanische Einflüsse. Fragmente römischer Bronzegefäße, Terra Sigillata-Scherben und keltische Drehscheibenkeramik sprechen für Ranghöhe der Bestatteten. Aufschlussreiche Karten zeigen das „Vordringen“ von Bronzelochgürtelhaken von Süden nach Norden, bzw. diese sind nicht nur im latènezeitlichen Süden verbreitet, sondern kommen auch weit in Norddeutschland vor.3478 Bei der Ortschaft Grethem im Landkreis Soltau-Fallingbosten bzw. Heidekreis3479 nahe des Zusammenflusses von Aller und Leine wurde in einem Brandgräberfeld des 2./3. Jahrhunderts Brandgrubengräber mit beachtlichen, aber fast bis zur Unkenntlichkeit zerschmolzenen Beigaben in der Asche des Scheiterhaufens entdeckt. Zu einem Frauengrab gehörten Reste mehrerer Keramikgefäße, importiertes römisches Geschirr aus Buntmetall (zwei bis drei Messinggefäße), Silber und Glas (mindestens drei bis vier Becher aus grünem und weißem Glas) sowie scheibengedrehte Ware (mindestens zwei Gefäße), außerdem Schmuck aus Gold, Silber und vergoldetem Silber, auch importierter römischer Schmuck mit Halbedelsteinen und Glasperlen. Dabei lagen noch Reste von Gerätschaften, u. a. von einem hölzernen Möbelstück mit eisernen Beschlägen, und Kleidungsbestandteilen sowie ein Kamm. Dieses Grab des 3. Jahrhunderts war das einer 40 bis 60 Jahre alten und 155 cm großen Frau. Der Hemmoorer Eimer aus Grethem diente mit dem Leichenbrand der Frau als Urne. Nach dem Einschmelzen eines solchen Hemmoorer Eimers hätten daraus rund 100 Fibeln der Formen des 2./3. Jahrhundert produziert werden können. Bei Grethem wurden insgesamt fünf Leichenbrandbeisetzungen in römischen Buntmetallgefäßen gefunden, darunter drei Hemmoorer Eimer. In 20 m Entfernung lag eine große Grube mit Brandrückständen eines Scheiterhaufens, die mehrheitlich wohl zu dem Frauengrab gehört haben. Der Befund wird genau beschrieben, was noch einmal aufgeführt werden soll: Aus dieser Grube sind u. a. 250 g geschmolzenes Glas von drei bis vier römischen Gläsern, rund 2,5 kg Buntmetallschmelze von zwei bis drei Bronzegefäßen und wohl auch Reste eines silbernen Bechers, zwei Gefäße römischer Drehscheibenkeramik, wie sie in den Fürstengräbern von Haßleben-Leuna standen bzw. in Haarhausen des 3. Jahrhunderts produziert worden sind, und schließlich auch einheimische Keramik dokumentiert worden. Der rekonstruierbare Elfenbeinkamm mit Reliefschnitzerei zeigt Szenen der antiken Mythologie um die Göttin Venus; und er
3478 Teuber 2017, mit Karten 1 und 2. 3479 Ludowici 2019a, 66 Abb. 1 zum Hemmoorer Eimer, 68 Glasreste, 71 weitere Gräberfelder, 75 Abb. 13 Elfenbeinkamm.
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war schon eine Antiquität, datierbar in die erste Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr., und kam aus einer Werkstatt in Rom. Diese Gräber sind ein Beleg für die Eliteschicht westlich der Weser im 3. Jahrhundert, zu denen einige Parallelbefunde genannt werden können: In 6 km Entfernung von Grethem in Schwarmstedt, Heidekreis, wurde eine Brandgrube mit sechs römischen Bronzegefäßen, zwei Hemmoorer Eimern und zwei bronzenen Kellen ausgegraben; in der Brandbestattung von Helzendorf, Ldkr. Nienburg/Weser, lag ein goldener Fingerring. Somit sind in dieser Landschaft drei ranghohe Familien nachgewiesen. In Sasendorf im Landkreis Uelzen erbrachte 2006 die Untersuchung eines Brandgrabes aus dem 2. Jahrhundert. n. Chr. wertvolle Beigaben, einen Bronzeeimer des Typs Apensen, Fibelfragmente, vier Knochennadeln, weiterhin Schere, Rasiermesser, Messer, einen goldenen Fingerring, eine Kasserolle, von der nur der Rand erhalten war und eine Keramikschale. Der Eimer war komplett in ein Leinentuch eingehüllt. Die Leichenbranduntersuchung (durch Kristina Scheelen) bestimmte einen 60 bis 70 Jahre alten Mann.3480 Bei der Fundstelle Sasendorf handelt es sich um einen gemischt belegten Friedhof der älteren Römischen Kaiserzeit mit Brand- und Körpergräbern vom Typ Darzau (dazu vgl. S. 902). In Hagenow, Kr. Ludwigslust, bei Schwerin wurden schon früh im 19. Jahrhundert mehrere Körper- und Brandgräber mit reichen Importobjekten entdeckt, und jüngst kamen 1995 und in den folgenden Jahren weitere Funde hinzu.3481 Die „Römergräber“ von Hagenow werden ausgewertet und als Monographie zusammen vorgelegt werden.3482 Die ersten Funde, römische Bronzegefäße, darunter auch eine Garnitur aus Kelle und Sieb, kamen schon 1841 zu Tage, was damals zur Deutung der Körperbestattungen als „Römergräber“ geführt hat. Später 1899 und 1907 wurden dann Brandgräber mit römischen Bronzegefäßen ausgegraben. In zwei Gräbern fand man römische Kettenpanzer, von denen ein Grab (II/1899) noch einen römischen Reiterhelm sowie eine komplette Bewaffnung eines germanischen Kriegers enthielt, datiert in die Zeit um 100 n. Chr. In Grab I/1899 lagen silbertauschierte vergoldete Prunksporen und silberne Zierbeschläge mit Goldfolienauflage. Diese Gräber bildeten gewissermaßen den Auftakt zur Entdeckung und Beschreibung der „Fürstengräber“, obgleich die Befundlage unklar war und Körper- sowie Brandgräber beieinander lagen. Neue Grabfunde wurden 1995 entdeckt, zehn Urnenbestattungen aus der frühen Kaiserzeit bis 160/180 n. Chr. und ein weiteres Urnengrab aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. Im selben Jahr wurden weitere, schon früher zerstörte Urnengräber nachuntersucht, aus denen ein Silberbecher, verschiedene römische Bronzegefäße und auch die Garnitur aus Kelle und Sieb stammen. Ein vollständiges, ungestörtes Urnengrab 9/19953483 barg 3480 Freese 2014 (2017). 3481 Lüth, Voss 2000 (2001); Voss 1999b; 2000, 197 mit Tabelle Abb. 160; 2005 (2006); 2007d, 182 Tabelle 1; 2009; im Druck. 3482 Voss (Hrsg.) im Druck. 3483 Voss 2000, 197 Abb. 160.
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in einem Bronzekessel wiederum einen Kettenpanzer (der den Leichenbrand vollständig abdeckte), ein zusammengebogenes Schwert, eine verbogene Lanzenspitze, eine Speerspitze und silberne Schildbeschläge, sowie Schnallen und Beschläge von zwei Prunkgürteln, teils mit Vergoldung, und außerdem noch vier Paar silbertauschierte Sporen, zwei Trinkhörner, mehrere Fibeln und einen kleinen Goldbarren von 4,71 g Gewicht. Der Tote war ein etwa 55jähriger Mann. Anhand der Beigaben wird das Grab in die ersten Jahrzehnte des 2. Jahrhunderts datiert. Neben den römischen Importgütern ahmten germanische Ausrüstungsgegenstände (Schnalle und Schwertortband) römische Vorbilder nach. In diesen Gräbern von Hagenow aus der zweiten Hälfte des 1. und des 2. Jahrhunderts diente römisches Bronzegeschirr vielfach als Leichenbrandbehälter.3484 Da sich die Gräber wie auch andernorts über mehr als eine Generation verteilen, spricht man leicht von einer Dynastie.3485 Die Fernbeziehungen von der Ostsee bis zur Donau werden anhand der Kriegergräber der frühen römischen Kaiserzeit von Hagenow beschrieben, an denen die Beziehungen zwischen der germanischen und der römischen Welt zu beobachten sind.3486 Ebenso erläutert H.-U. Voss die Beziehungen zwischen dem Vannius-Reich in Böhmen und dem Kriegsausrüstungsopfer von Vimose in Jütland, um die elitären Krieger von Hagenow in ihrer Bedeutung einzuordnen.3487 Er geht gar so weit, den Lebensweg des Mannes aus Hagenow Grab 9/1995 als Individuum zu schildern, worauf etwas später noch ausführlicher eingegangen wird (vgl. S. 972). Ähnlich hat H.-J. Nüsse den Reichtum der „Fürsten“ von Marwedel durch Söldnerdienste im römischen Heer erklärt.3488 H.- U. Voss hat mehrfach, so auch 2007, gezeigt, dass die Brandgräber von Hagenow aufgrund der Beigaben in Gold und Silber, dem weitere von anderen Gräberfeldern an die Seite gestellt werden können, den Rang von „Fürstengräbern“ einnehmen.3489 Ein Vorschlag von J. Schuster ist,3490 die Definition der „Fürstengräber“ für Brandgräber zu ändern bzw. zu erweitern und einen speziellen Typ Hagenow zu bilden, für Elitegräber mit voller Waffenausstattung, mit Sporen, mehrfachen Fibeln, mit Edelmetall und Importgefäßen. Dann sollten auch der Befund Bordesholm-Brautberg Grab 1984, 1972 ausgegraben, mit Waffenbeigabe, Stuhlsporen (3 Sporenpaare) aus der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts dazu gerechnet werden. J. von Richthofen hat 2007 auf ein übersehenes fürstliches Grab hingewiesen, das auf dem Brandgräberfeld von Litten in der Oberlausitz ausgegraben worden ist, und zwar schon 1910. Die darin gefundene Prunkfibel wird mit den Exemplaren in
3484 Moosbauer 2018, 114. 3485 Voss 2009. 3486 Voss 2007c. 3487 Voss 2008b. 3488 Nüsse 2014b, 69 Abb. 2; Voss 2009. 3489 Voss 2007d, 182 Tabelle 1 zu den Oberschichtgräbern; weitere Tabellen zu kostbarem Schmuck, zu Sporen, Zierscheiben mit Filigranauflagen und Fibeln. 3490 Schuster 2010a, 122, 295; Rau 2018.
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den Gräbern von Sakrau II und III (vgl. S. 935) verglichen und daher der Rang postuliert.3491 Die beiden Fundorte liegen im Übrigen auch nicht so weit von einander entfernt, etwas über 100 km. Diese Prunkfibeln sind silbervergoldet, haben eine halbrunde Kopfplatte, sind mit drei Spiralen ausgestattet und mit mehreren Granulationsreihen geschmückt (archäologisch der Gruppe Almgren VI, Serie 2 zugehörend). Sie stammen wohl an beiden Fundorten aus derselben Werkstatt. Die Erklärung, es wären zurückgekehrte Söldner aus römischen Diensten, wird regelmäßig angeboten, wenn es um römische Sachgüter in Gräbern im Inneren Germaniens geht, bis hin zur mitteldeutschen Körpergräbergruppe des 3. Jahrhunderts von Haßleben-Leuna, denen Joachim Werner seinen nachhaltigen Aufsatz gewidmet hat,3492 oder auch Horst Wolfgang Böhme zu den Gräbern des 4./5. Jahrhunderts in Norddeutschland.3493 Dass die Erklärung des römischen Sachguts in Germanien sehr einlinig ist, sollte doch zum Denken anregen, auf welche Weise man in den Besitz derartiger Güter sonst noch kommen konnte. An anderer Stelle habe ich erläutert, wie häufig römische Gefäße, zum Beispiel Hemmoorer Eimer in manchen Gegenden, als Graburnen beliebt waren (vgl. S. 861).3494 Zur selben Zeit gelangten diese Gefäße in bestimmte Gebiete, in andere nicht, oder war das nur ein sich unterscheidender Grabbrauch? In Profen im südlichen Sachsen-Anhalt wurde 2007 ein besonders üppig mit Beigaben versehenes Grab einer 30–40 Jahre alten Frau entdeckt, eine Urnenbestattung in einem Gräberfeld mit 600 Urnen. In einigen der Keramik-Urnen lagen Waffen und Schmuck. Bei dem herausragenden Frauengrab diente ein Bronzegefäß als Urne, in dem goldene Schmuck- und Kleidungsbestandeile von 437 g Gewicht lagen (so Schöne 2015), zwei goldene Fibeln, zwei aufgebogene Armreifen, zwei Ringe und zwei (römische) Fuchsschwanzketten mit Berlocken in aufwendiger Filigran- und Granulationstechnik sowie Reste mehrerer verschmolzener römischer Silbergefäße, und alles war vor dem Verbrennen auf einem Bärenfell gebettet gewesen und wurde nachträglich auf die Asche in der Urne gelegt.3495 Der Goldschmuck wiegt zusammen immerhin 394,04 g (so Meller und Schwarz 2018). Wieder gibt es eine Spekulation bei der Deutung des Befundes, um Ereignisgeschichte zu schreiben: Es handelt sich um das Grab einer hochadligen Frau der Quaden, die mit einem Hermunduren verheiratet gewesen sein soll. Die Karte zeigt das Gebiet der Quaden nördlich der Donau in Mähren und 600 km entfernt das Gebiet der Hermunduren in Thüringen. Wie ist man darauf gekommen? Die norisch-pannonische Gürteltracht im römischen Weinmischkessel (mit Henkel) und die Fibeln weisen nach Süden, in die heutige Süd-
3491 v. Richthofen 2007, 210 f. mit Abb. 2 und 3 sowie 231 und 215 mit den Abb. 5 bis 8 der Fibeln von Sakrau. 3492 Werner 1973. 3493 Böhme von 1974 bis 1999b. 3494 Ziermann 2000; Raddatz 1976. 3495 Schöne 2015; Meller, Schwarz 2018, 115 Abb. 3 Karte; Muhl, Schwarz 2018 zur frühen Römischen Kaiserzeit in Sachsen-Anhalt (AusstellungsführerLandesmuseum für Vorgeschichte Halle/Saale).
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westslowakei. Datiert ist die Bestattung zwischen 40 und 65 n. Chr., speziell in die claudische Zeit (41–54), was anhand der Schriftquellen zur „historischen“ Deutung führt. Ein weiteres, bronzenes Fibelpaar in der Urne könnte die Anwesenheit einer zweiten verbrannten Frau belegen, einer Begleiterin; doch nicht selten sind Frauen mit mehreren Fibelpaaren bestattet worden. Aus Sachsen sind zwei reiche Brandgräber bei Zauschwitz, Kr. Leipzig, Grab 14 und Grab 62 mit Waffen 3. Jahrhundert n. Chr. anzuführen, die aufgrund der Ausstattung als Söldner im Dienste Roms gewertet werden.3496 Sie sind vergleichbar mit den Waffengräbern bei den Elbgermanen, wie im Kriegergrab 150 von Putensen, an der Unterelbe, wo die Waffenbeigabe schon am Beginn der älteren Römischen Kaiserzeit einsetzte (vgl. S. 849). Mit diesen geschilderten Brandgräbern von Apensen, Grethem und Profen sowie den Befunden von Hagenow zeigt sich, dass Ess- und Trinkgeschirr also auch bei andersartigen, den traditionellen Bestattungsbräuchen eine Rolle gespielt haben; hier kamen die verschmolzenen Reste der Gefäße von der „Festveranstaltung“ mit in die Urne. Hingewiesen sei auch darauf, dass es keine Fürstengräber, als Körperbestattungen mit reichen Beigaben, aus dem 3. oder 4. Jahrhundert im Westen gegeben hat; dafür aber die geschilderten Brandgräber. Es ist die Zeit der Herausbildung von Herrenhöfen wie auf der Feddersen Wierde im 3. Jahrhundert (mit Vorläufern am Ort). Auch in Mitteldeutschland und Südskandinavien gibt es derartige reiche Brandgräber. Diese Elite gehört ebenfalls – wie die Körpergräber – zu einem europaweiten Netzwerk der germanischen Oberschicht bis in den Süden, dort in Stráže mit dem Brandgrab III/1940 einer Frau, mit einem Hemmoorer Eimer als Urne. Es zirkulierten Menschen, Waren und Wissen über Hunderte von Kilometern. „Auch im Tod wird gezeigt, was man hat und wer man ist“.3497 Und „viele Germanen kämpften mit römischen Waffen. Ihre Anführer statten sie mit allem Nötigen aus. Möglicherweise unterhalten sie dafür regelrechte Rüstkammern“ (vgl. dazu die Kommentare zu den Heeresausrüstungsopfern oben S. 738). Diese und andere Brandbestattungen bezeugen, dass neben den sogenannten Fürstengräbern der Römischen Kaiserzeit, deren Charakteristikum die Körperbestattung war und die abseitige Lage von den Gräberfeldern der Siedlungsgemeinschaft, also ebenso ranghohe Mitglieder der Gesellschaft bei der alten Grabsitte und dem allgemeinen Gräberfeld blieben. Der vorrangige Blick auf die reich ausgestatteten Körpergräber spiegelt die Einschränkungen3498 durch die Forschungsgeschichte; erst nach dem Einsatz neuer Auswertungsmöglichkeiten auch der verbrannten Reste der Bestattungen sind neue Einsichten in die tatsächlichen gesellschaftlichen Strukturen der vier Jahrhunderte n. Chr. in Germanien möglich geworden.
3496 Gräf 3013, 85 Abb. 15 a, b zwei Brandgräber, 74 Abb. 4 Putensen. 3497 Ludowici 2019b, 72 ff., auch Zitat. 3498 Gräf 2013, 72 Abb. 1.
18.6 Eine Zusammenfassung
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Ein römisches Beispiel führe ich zum Vergleich an: In Wehringen bei Augsburg in der Provinz Raetien, datiert um 200 n. Chr. bzw. in den Beginn des 3. Jahrhunderts, sind einige opulent ausgestattete Brandbestattungen untersucht worden.3499 Die große Fülle der Beigaben in Frauengrab 3 gibt eine Vorstellung davon, was wohlhabende Römerinnen in ihr Grab gestellt bekommen haben. Ein runder Oberbau erhob sich auf einem Fundament von 6,50 m auf 6,00 m, an das sich rückwärts ein Erdhügel anschloss von 11,20 m Durchmesser, eingefasst von einer Steinmauer. Im Zentrum des Hügels stand in einer 2 m auf 2,80 m großen und 1,20 m tiefen Grube in einer Aushöhlung die Urne aus Glas mit der in chinesischer Seide eingehüllten Asche der Toten, und in diesem Grab fand man 200 Objekte, die jeweils oft mehrfach vertreten waren, drei Falttische, drei Garnituren zur Handwaschung aus Wasserkanne und Auffangbecken, drei kannelierte Becken, für die Fußwaschung, drei Weinkrüge, sechs Blechkannen mit Klappdeckel, drei Paare Kelle und Sieb, und umfangreiches Ess- und Trinkgeschirr, mehrere Service, aus Glas- und Glanztongeschirr, Glasplatten, Glasteller, Glasschälchen und 24 Tonbecher, 35 Backplatten, sowie mindestens fünf Kochtöpfe und Reibschalen. Außerdem gab es noch persönliche Sachen bis zum Tintenfass. Eine Abbildung bietet einen Teil der Rekonstruktionen dieser Beigaben.
18.6 Eine Zusammenfassung Zu der in diesem Buch behandelten Kulturgeschichte in Germanien anhand der Bestattungen gehören die Prunkgräber der Elite, die beschrieben wurden, um auf die Kontinuitäten derartigere Grabbräuche hinzuweisen, auf die Prunkgräberhorizonte. Das zeigt gut die Karte im Katalog zur Caracalla-Ausstellung von 2013 mit den beiden Phasen der „Fürstengräber“ und mit reich ausgestatteten Brandgräbern der älteren und jüngeren Römischen Kaiserzeit, wobei zudem eine massive Zunahme der Fundkomplexe im Weser-Elbe-Saale-Gebiet zu registrieren ist.3500 Prunkgräber des 3. Jahrhunderts, meist aus den Jahrzehnten von 250 bis 300, gibt es also in Germanien von Norwegen bis in die Slowakei, mit Schwerpunkten der bisher nachgewiesenen Bestattungen auf den dänischen Inseln, in Mitteldeutschland, Sachsen-Anhalt und Thüringen, sowie einige weitere im Südosten. Die Konzentration auf Seeland sei Spiegel eines Zentrums, von dem aus die römischen Luxusgüter weiter verteilt wurden, so vor einigen Jahren Ulla Lund Hansen. Die weitergehende These, hier sei gar ein römisches Klientelreich gegründet worden, überzeugt nicht, wenn auch das Ursprungsgebiet der Runenschrift in diesem Raum gesehen wird, mit der sich deutlich sichtbar von der lateinischen Schrift – fassbar in den anderen Buchstaben – abgesetzt wurde. Die Zentrumsbildung hat aber erst als
3499 Nuber 2000, 169 Abb. 140 Farbfotos der Beigabenausstattung. 3500 Quast 2009c.
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Zusammenfassung nach den Markomannenkriegen – die meist als Hintergrund für die Veränderungen und den neuartigen Grabbrauch betrachtet werden – begonnen. Die Meinung von Dieter Quast ist aber durchaus begründet: „Ohne Römisches Reich keine germanischen Prunkgräber“.3501 Denn dazu sind die importierten Sachgüter, die Bronze-, Silber- und Glasgefäße zu auffällig und gewissermaßen konstitutiv. Kommunikation zwischen den römischen Provinzverwaltungen und den germanischen Eliten haben im 3. Jahrhundert wieder sehr gut funktioniert, ablesbar daran, dass germanische Kriegergruppen angeworben wurden. Man kann sogar auch erschließen, dass die weit in die römischen Provinzen eindringenden Kriegerverbände aus Germanien im innerrömischen Machtkampf Partei ergriffen hatten und gerufen worden waren, so wie Vorstöße römischen Militärs ins Innere Germaniens ebenfalls in die Auseinandersetzungen zwischen heimischen politischen Parteiungen eingegriffen haben. Es gab einen Austausch aus dem Römischen Reich nach Germanien und zwischen den Eliten in Germanien.3502 Geschenke waren ein Mittel römischer Diplomatie, so dass manches wertvolle Gut an die Herrenhöfe und dann in die „Fürstengräber“ aller Phasen gelangt sein kann. Der Silberbecher von Hoby auf Lolland mit der römischen Inschrift SILIUS wird seit langem so interpretiert; aber die Bildszenen aus Homers Ilias mit Achilles wird man im Norden kaum gekannt haben (vgl. S. 596). Schon in den Jahrzehnten vor Chr. Geb. gab es solche keltischen Importe ins germanische Gebiet; zum Beispiel der Silberkessel von Gundestrup, der Kessel aus dem Wagengrab von Husby nahe Flensburg3503 und auch der Kessel von Brå bei Horsens können diplomatische Geschenke gewesen sein, wenn sie nicht Beute waren. Die römischen Gaben kamen in mehreren Schüben nach Germanien, wie M. Erdrich und auch P. Kehne analysiert haben. Germanen hatten auch in römischem Dienst römische Sachen übernommen, als Orden erhalten wie Halsringe oder auch Ausrüstungsteile wie Gürtel, so in den „Fürstengräbern“ von Neudorf-Bornheim (goldene Halsringe in Grab 4 und 7) und Gürtelgarnituren in Anlehnung an römische Offiziere (propellerförmige Beschläge in Grab 3 und 7).3504 Auch Stoffe mit Goldbrokat und mit Krapp gefärbte Textilien zeigen wohl Kontakte mit dem Römischen Reich.3505 Ob in einem solchen Zusammenhang die Objekte aus dem Schatz von Rülzheim (vgl. S. 538), die 3088 g schwere Silberplatte mit feuervergoldetem Medaillon in der Mitte, die in drei Teile zerhackt war, und der Faltstuhl sowie die goldenen Appliken von einem Prunkgewand oder gar die Silberschale mit eingearbeiteter „Kaiserfibel“ als Tribut oder Geschenk gewertet werden sollen oder nicht eher als Beute, kann nur spekuliert werden. Die Vergrabung erfolgte erst in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhundert, vielleicht unter hunnischem Einfluss, und die 3501 Quast 2009a, 4. 3502 Krausse, Scheschkewitz 2018, zu Tribut und Geschenken R. Wolters 2007. 3503 Raddatz 1967; Nikulka 2019, 189 f. mit Abb. 4. 3504 Schmidts 2000. 3505 Abegg-Wigg 2008, 287–288; was aber, so denke ich, doch noch geprüft werden sollte.
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Objekte kommen wohl aus dem pannonisch-nordpontischen Raum, aus dem direkten Umfeld des hunnischen Herrschers und könnten Gastgeschenke gewesen sein.3506 Es bleibt bis heute zudem nicht eindeutig geklärt, welche gesellschaftliche Gruppe man mit diesen Elitegräbern denn nun tatsächlich erfasst. Vordergründig weisen die wertvollen Beigaben auf Ranghöhe. Aber ob nur diese so Bestatteten tatsächlich die gesellschaftlichen Leitfamilien waren oder nur ein Teil von diesen, und warum gerade diese allein in den ersten Jahrhunderten n. Chr. einen neuen Totenkult eingeführt haben – manche sagen, in Nachahmung römischer Bräuche – bleibt offen. Jede Beschäftigung mit dieser Epoche in Germanien – auch meine Beschreibungen hier – sind auf diese reichen Gräber fixiert und sehen darin automatisch die gesellschaftliche Oberschicht, ein Vorurteil? Andernorts erläutere ich, dass diese Elitegräber(gruppen) im Abstand von 20 bis 30 km in der Landschaft vorkommen – in den Gegenden, in denen man überhaupt diese andersartige Grabsitte aufgenommen oder entwickelt hat –, das „Herrschaftsgebiet“ war also überschaubar. Da selten mehr als eine oder zwei Generationen einen solchen Bestattungsplatz der Elite bildeten, war die Rangposition für eine Familie anscheinend auch nicht von Dauer. Wichtiger war wohl die Eigenleistung der Toten selbst, die zur besonderen punktuellen Behandlung durch die Bestattungsgemeinschaft bzw. der Familie geführt hat. Mehrfach zeigte sich außerdem, wenn Siedlung und Gräberfeld zusammengehörend erforscht werden konnten, dass anhand der Gehöfte die Sonderstellung der Elitegräber nicht erkennbar war. Inzwischen wird die Deutung und Bewertung jedoch zusätzlich gestützt durch den Vergleich der Grabbeigaben mit manchen Objekten aus den Heeresausrüstungsopfern in Jütland. Bestes Beispiel ist das Grab von Gommern, in dem als Schutzwaffe ein großer Schild abgestellt war, der vielfältig mit Edelmetallbeschlägen, darunter Gesichtsmasken, verziert ist. Überzeugende Vergleiche dazu fanden sich an Schilden im Moor von Illerup, und zwar in der Prunkbewaffnung mit der Reitausrüstung einer kleinen Gruppe der Anführer. Über welchen üppigen Besitz Kriegsfürsten in Germanien verfügen konnten, spiegeln spezielle Beutebestände. Der Hildesheimer Silberschatz, wohl zur Zeit der Varusniederlage oder etwas später vergraben, umfasst das Prunkgeschirr eines oder mehrerer hoher römischer Offiziere, der Schatz von Kaiseraugst bei Basel, vier Jahrhunderte später verborgen, stammt wiederum aus dem Besitz mehrerer Offiziere, wie die Inschriften zu erkennen geben. Noch die großen Flussfunde von Hagenbach, Neupotz oder Xanten mit hunderten von Metallgeschirr und „Tonnen“ von Eisengerät spiegeln eigentlich erst realistisch, was einst vorhanden war und auch den Weg ins Innere Germaniens fand. Zwar stammen diese Flussfunde wohl von gesunkenen oder gekenterten Schiffen oder Flößen, die bei der Rückkehr einer Kriegertruppe über den Rhein nach Germanien verunglückten, aber nicht wenige derartige Beutekomplexe
3506 Krausse, Scheschkewitz 2018.
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werden das Innere Germaniens erreicht haben und sind dort dann verteilt worden. Im Hildesheimer Schatz ist mehr Silber gebündelt als aus allen germanischen Elitegräbern zusammen bekannt ist, und ebenso könnte man mit dem Weingeschirr der Flussfundkomplexe ganze Landschaften mit üppigen Grabausstattungen versorgen. Wir müssen davon ausgehen, dass die Bestattungssitten nur einen minimalen, marginalen Ausschnitt aus dem einst Vorhandenen darstellen. Lokale Bestattungsbräuche wie die Verwendung von Hemmoorer Eimern als Graburne im Wesergebiet lassen das ahnen; denn auf manchen Gräberfeldern gibt es Dutzende von derartigen wertvollen römischen Getränkeeimern aus Bronze, die später als Urnen gedient haben, während in benachbarten Landschaften ein derartiger Brauch eben nicht üblich war, was dann aber nicht heißt, römische Bronzeeimer hätten diesen Raum nicht erreicht. Auch ließen sich aus wenigen derartigen Bronze- oder Silbergefäßen, nachdem sie eingeschmolzen waren, Dutzende von Fibeln und anderer Zierrat herstellen, die Frauen und Männer eines ganzen Dorfs schmücken konnten. Also kann man davon ausgehen, dass auch die üppigste Grabausstattung nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Besitz des Toten oder seiner Familie ausgemacht hat und anderes eben im Familienverband blieb und vielleicht teilweise später dann auch zur Grabbeigabe wurde. Dafür sprechen die zahlreichen Antiquitäten, die in den Prunkgräbern entdeckt worden sind. Waffen wurden in Mooren geopfert, in Seen versenkt, seltener in die Gräber gelegt, denn die Waffenbeigabe war nur die Ausnahme. Noch ist offen, wer eigentlich Waffen mit ins Grab bekommen hat, nur wenige Prozente der Männer und dann mit verschiedenen Ausrüstungen, die dem Einsatz im Kampf nicht unbedingt entsprochen haben. Das Schwert wurde recht selten mitgegeben, in der Regel bestand die Bewaffnung aus zwei Stangenwaffen, aus Lanze(n) und Schild (zur Waffenbeigabe vgl. S. 661). Anhand der Grabbeigaben scheint es für manche Wissenschaftler mit einiger Phantasie inzwischen möglich, Überlegungen zum Werdegang germanischer Krieger anzustellen, von seiner Geburt über den militärischen Einsatz bis zum Tod, auch wenn das nicht abzusichernde Spekulationen bleiben müssen; denn es geht nur über den Rückgriff auf die schriftliche Überlieferung. Ein Beispiel, von H.-U. Voss bewusst als Spekulation geschildert, wurde schon zitiert und beschwört die Ereignisgeschichte: 3507 Der Krieger in Hagenow Grab 9/1995 in Mecklenburg wurde um 50 n. Chr. in Westmecklenburg geboren, um 67/68 zog er in der von Tacitus erwähnten Kriegergefolgschaft unter Sido und Vangio bzw. später Italicus in das römische Grenzgebiet bei Vindobona, Carnuntum, Brigetio und Aquincum, kämpfte dann in der Auxiliareinheit unter Sido und Italicus als Bundesgenossen Vespasians im Oktober 69 in der Schlacht bei Cremona, kehrte anschließend wieder in die Heimat an der Niederelbe zurück, wo er um 100 n. Chr. starb und mit „sprechenden“ Beigaben bestattet wurde, mit einer silbernen Gürtelgarnitur, dem Kettenpanzer und einem Bronzekessel, die er im Machtgebiet des Vannius in Mähren erworben haben kann,
3507 Voss 2009.
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mit silbertauschierten Sporen und Zierscheiben an der Nietplatte sowie einem kostbaren Schildkopfarmring. Seine Grabausstattung hatte sich im Laufe seines Lebens angesammelt, und Teile von ihr waren daher schon rund 30 Jahre alt. Der Besitz von Edelmetall, vor allem von Gold, doch auch von Silber, diente neben den römischen Importgütern als Rangzeichen in den „Fürstengräbern“ Germaniens, von Lübsow bis Mušov, der älteren und mittleren Römischen Kaiserzeit.3508 Je ranghöher, desto schwerer waren beispielsweise Hals- und Armringe aus Gold. Ob eine solche Relation aber linear gewertet werden darf, wird in jedem Befund speziell bedacht werden. Eingeschmolzene Aurei, später der Solidi, waren die Basis für die Goldringe. Und Goldmünzen waren die Bezahlung für Söldnerdienste in der römischen Armee, goldene Ringe, auch die Kolbenarmringe, waren oftmals als Auszeichnungen, als militärische Orden, in den Besitz der germanischen Krieger gelangt (vgl. oben S. 555). Manche der Kolbenarmringe aus römischen Werkstätten haben eingepunzte Gewichtsangaben und Stempel.3509 Neben der auffälligen Rolle des Goldes im Rahmen der Schmuckausstattung, was die schweren Hals- und Armringe sowie die prächtigen Fibeln betrifft, wird über die Ausstattung mit Silber kaum gesprochen. Nur Beigaben werden genannt. Doch sind das oftmals Alltagsgeräte, die im normalen Leben eben nicht aus Edelmetall, aus Silber, hergestellt und gebraucht wurden. Auf die silbernen dünnen Pfeilspitzen habe ich mehrfach hingewiesen (vgl. S. 792). Aber auch Messer oder Scheren aus Silber sind ungewöhnlich und unpraktisch zu verwenden, so dass auch dabei eine besondere symbolische Bedeutung gesucht werden muss. Welche Elite diese Gräber repräsentieren, ist von ihrer Zahl im Verhältnis zur übrigen Bevölkerung immer noch nicht geklärt, denn ihre Gesamtzahl ist recht gering im Vergleich mit der Menge der sonst überlieferten Gräber, meist Brandbestattungen, und dann noch begrenzt auf verschiedene engere Teilbereiche in Germanien. Die Rangposition der in den sogenannten Fürsten- oder Elitegräbern Bestatteten ist an ihrem kleinen Anteil an der Gesamtbevölkerung abzulesen. Das ist in zweifacher Hinsicht zu bedenken. Zum einen handelt es sich in den ersten Jahrhunderten mit den Körpergräbern um eine Ausnahme unter den Bestattungssitten, als noch Brandgräber vorherrschten, was den Blick auf den Anteil an der Gesamtheit verkompliziert. Zum anderen ist ihr Anteil später direkt mit der Anzahl der bekannt gewordenen Gräber zu vergleichen. In der Regel gehörten der Elite, der Oberschicht, später der „Aristokratie“ oder dem „Adel“ höchstens 10% der Einwohnerschaft an. Zu 30 Fürstengräbern (Männer und Frauen) gehörten dann 3000 Menschen. Bei den Berechnungen der Bewohnerschaft von Siedlungen oder der Abschätzung von Heeresgrößen wurden ähnliche Zahlen genannt. Gehe ich von einem Dorf mit 10 Gehöften und 100 Einwohnern aus, dann gehörten zu einem Fürstengrab zehn Dörfer, andersherum gerechnet.
3508 Schuster 2013. 3509 Quast 2017b, 113.
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Wenn man anhand der Heeresausrüstungsopfer schätzt, und zwar über die Art und Qualität der Waffen, dann ergeben sich ebenfalls Werte von 1 zu 100, zwischen den mit Silber beschlagenen Schilden und den übrigen nur mit Eisen beschlagenen Schilden; das sind dann aber nur die Männer, die tatsächlich auch Waffen trugen und in Kriegerverbänden organisiert waren. Die Kartenbilder (oben Abb. 65) zeigen außerdem, wie ungleich verteilt das Vorkommen der „Fürstengräber“ in Germanien ist. Die Gräber des 1./2. Jahrhunderts sind anders verteilt als die des 3.und 4. Jahrhunderts, und die des 5. Jahrhunderts bilden überhaupt keine Gruppierung, sondern streuen vereinzelt über den ganzen Raum. Wenn vielleicht leichtfertig bei den großen Elitegräbern wie Mušov und Gommern von „Königsgräbern“ gesprochen wird, dann ist das ebenso anachronistisch wie die Benennung als Fürstengräber. Wie Alexandra Dick anhand der Schriftüberlieferung gezeigt hat, kannten die Stämme in Germanien keine Könige, kein Königtum, vielmehr ist die Bezeichnung als rex zum Beispiel für Ariovist oder die später von Rom eingesetzten Anführer der Markomannen oder Cherusker eine jeweils römische Erfindung. Wir gebrauchen Begriffe wie Fürst und König einfach formlos als Verständigungsmöglichkeit, um Ranghöhe und gesellschaftliche Position zu kennzeichnen.3510 Die Aufgliederung des gesamten Bestattungsvorgangs im Rahmen eines Personenverbandes sollte man sich vergegenwärtigen. Zuerst wurde wohl im Haus aufgebahrt, dann bereitete die Familie das Grab mit der Kammer vor, den Transport des Toten durch die Gemeinschaft zum Grab; es folgte die Bestattung selbst in der Grabkammer mit parallelen oder anschließenden Festlichkeiten als Abschlussfeier. Die Kammern dienten als Aufbahrungsort für die Inszenierung des Toten bzw. den Rang der Bestattungsgemeinschaft. Der Bau von Kammern in einer tiefen und breiten Grube als großzügige Grabanlage, einem Mausoleum gleich, war zu jeder Zeit eine Aufgabe der vornehmen, sozial höher gestellten Schicht und brauchte auch Zeit zum Bau. Bei Brandgräbern war das keine Option, aber bei Körpergräbern, zumal wenn sie als neue Bestattungsform aufgekommen war, bot sich das aber an.3511 Dabei sollte auch der Aufwand bei der Errichtung des Scheiterhaufens und den Feierlichkeiten dabei nicht außer Acht gelassen werden. Die Bewertung des Brauches, Kammergräber in Germanien aufzubauen, im sogenannten Barbaricum, spiegelt die zu beobachtenden Einflüsse und Übergangsphänomene von der vorrömischen Eisenzeit bis in die Völkerwanderungszeit quer durch die Weiten Germaniens wider. Die Veröffentlichung der Tagung zu diesem Thema 2014 hat zu allen bedeutenden „Fürstengräbern“ der älteren und jüngeren Römischen Kaiserzeit in Germanien ergänzende Beobachtungen geliefert. Die Planung monumentaler Grabanlagen geschah also sowohl unter ökonomisch-politischen Aspekten, aber sicher vor allem auch als Inszenierung des Rangs der Familie, der Beginn von Ahnenverehrung und der Versuch einer
3510 Dick 2008. 3511 Abegg-Wigg, Lau (Hrsg.) 2014.
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Dynastiebildung, was jedoch nicht von Dauer war, denn das hatte kaum je drei Generationen auf einem dieser Grabplätze zur Folge.3512 Dass nun die überregional so gleichartige Ausstattung der Elitegräber gerade mit Ess- und Trinkgeschirr zustande gekommen ist, fällt durchaus auf. Ohne Zweifel handelt es sich um die Zurüstung für ein Festmahl, manchmal – bei mehrfachen gleichartigen Gefäßen – wohl auch für mehrere Personen, in der Regel aber für oder mit dem Toten. Hat dieses Totenmahl noch außerhalb des Grabes stattgefunden, und wurden die Behälter nur später mit ins Grab gestellt, um sie profaner Nutzung auf Dauer zu entziehen, sollten die Geschirre für das Leben in einem Jenseits mit dem Toten dorthin reisen oder sollten nur Reichtum und Rang beim Bestattungsvorgang vor der Schließung der Grabkammer der umstehenden Gemeinschaft gezeigt werden? Hatte das Festmahl nur einen profanen Charakter oder doch auch einen kultischen Hintergrund im Rahmen einer religiösen Vorstellung? In jedem Falle aber wirft diese Ausrüstung ein Licht auf gewisse Vorstellungen von den Lebensumständen der Oberschicht überall in Germanien. Zwei Aspekte sind zu betonen. Die Gleichartigkeit der Grabausstattung ergibt sich einerseits daraus, weil man ein Festgelage „abbilden“ wollte, und andererseits dadurch, weil dazu am besten römische in Kombination mit germanischen Gefäßen geeignet waren und Rang zeigten. Diese Grablegen der jeweils lokalen Elite könnten – vor allem auch, was die Beigabenausstattung mit Ess- und Trinkgeschirr betrifft – römische Lebensweise für den eigenen Bestattungsbrauchtum aufgegriffen haben; denn gerade die Elite kannte über Söldnerdienste die römische Welt und schätzte anscheinend diese umfangreichen römischen Geschirrensembles. Die Ähnlichkeit der Kammergräber, ihrer Herrichtung und Möblierung über ganz Germanien dokumentieren aber andererseits stärker die innergermanischen Kontakte als die Verbindungen zum Imperium Romanum, wo die Grabbauten einen anderen Stil hatten. Matthias Becker beispielsweise weist auf die überregional wirksame Formensprache hin. Steinkammern mögen kaum als Vorbild römische Sarkophage gehabt haben, denn derartige Hügelaufbauten gab es auch in den früheren Epochen in Mitteleuropa. Die Normung verblüfft; es handelt sich um die Ausstattung für festliches Gelage und Muße mit Unterhaltung, wofür immer wieder Spielbretter und Spielsteine aus Glas stehen, sowie um goldenen Körperschmuck, Hals-, Arm- und Fingerringe sowie prächtige Goldfibeln, Schmetterlingsfibeln, besetzt mit Filigran und Granulation, und goldene Anhänger. Gerade anhand der goldenen Prunkfibeln ist parallel zu den römischen Importgütern aus Metall und Glas die eigenständige „germanische“ Schmuckauffassung ablesbar, nach archäologischer Klassifizierung die zweigliedrigen Armbrustfibeln, teils mit hohem Nadelhalter und umgeschlagenem Fuß, wie sie jeweils auch in einfacherer Ausführung im Land üblich waren; auch tragen viele Beschläge figürliche Darstellungen nach einheimischen Gestaltungsprinzipien in Germanien (vgl. unten S. 1184 ff.).
3512 Jørgensen 1987.
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Man kann den Wert der Beigabenausstattung anhand des Gewichts des Edelmetalls erahnen und messen: Für das Grab von Gommern kommen mehr als 600 g Gold, 2800 g Silber und 30 000 g Bronze zusammen, im Grab von Osztrópataka/ Ostrovany I über 1765 g Gold und 9200 g Silber in Ostrovany II über 300 g Gold, in Zakrzów I über 435 g Gold, über 1000 g Silber und rund 17450 g Bronze, in Stráže II immerhin über 11500 g Silber und 11500 g Bronze.3513 Welchen Wert das im realen Leben seinerzeit bedeutet hat, ist nicht sicher abzuschätzen. Beim Gold wird vom Gewicht des Solidus von 4,55 g ausgegangen und dann auf das Gesamtgewicht in einem Grab der Elite umgerechnet, d. h. beispielsweise zum Grab von Zakrzów I sind das etwa 100 Solidi. Oben habe ich vom Jahressold gotischer Krieger des Theoderich gesprochen, der etwa 3 oder 5 Solidi betragen hat, gedacht für den Lebensunterhalt. Die 100 Solidi von Zakrzów I reichten also für 33 bis 20 Gefolgschaftskrieger aus oder umgerechnet für entsprechend viele Jahre. Das sind nur sehr grob geschätzte Größenordnungen, die über die Denare und den Legionärssold (vgl. S. 547) weiter durchgerechnet werden könnten. Die weiträumigen Beziehungen der Mitglieder dieser Gruppe über das gesamte Germanien werden auch im Fibelschmuck und vor allem in den Ausstattungen mit Ringschmuck aus Gold fassbar, die gewissermaßen „Herrschafts- und Rangzeichen“ waren. Auf die Schlangenkopf- und Kolbenarmringe und ebenso auf die schweren Halsringe wurde eingegangen (vgl. S. 552 ff.). Die hohe Mobilität der Elite bzw. die engen Kontakte auch über die Ferne zwischen den Familien schlossen auch die heimischen Kunsthandwerker, die Goldschmiede, mit ein, die auch als Personen weitergereicht werden konnten wie Geschenke. Es war ein vergleichbares Wertesystem, der intellektuelle Austausch in einer überregionalen Herrschaftsideologie (Dieter Quast). Die genormte Ausstattung mit Trink-, Ess- und Handwaschgeschirr gehörte zum Festgelage, die mehrfachen Sätze sollten mehreren Personen dienen, die an der Feier teilnahmen. Innerhalb Germaniens wurden anscheinend alte Prestigeobjekte, vom Feuerbock bis zu altem Silbergeschirr, ausgetauscht bzw. sie wanderten als Geschenke von Familie zu Familie über Jahrzehnte durch Germanien, ehe abschließend diese Sachgüter in ein Grab gestellt wurden. Die Vielzahl der Antiquitäten unter den wertvollen Sachgütern fällt auf. Waren diese Angehörigen der Eliten nun in erster Linie romanisierte Barbaren oder erfolgreiche Plünderer, fragt Jan Bemmann.3514 Die Mobilität germanischer Eliten machte diese zu „Grenzgängern zwischen den Kulturen“ (Heiko Steuer),3515 oder zu „Wanderern zwischen den Welten“ (Dieter Quast).3516 Die schriftliche Überlieferung weist noch auf ein anderes Thema hin, dass näher besprochen werden könnte (unten S. 1042). Rom schuf sogenannte „Klientelstaaten“ 3513 Quast 2009a. 3514 Bemmann 2003a. 3515 Steuer 1999a. 3516 Quast 2009a.
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bzw. versuchte das, setzte Könige ein, so bei den Quaden in Böhmen, zwar immer nur für kurze Zeit, weil das ein Vertragsproblem bei den Germanen war. Die Bezeichnung rex beispielweise auf römischen Münzen für einen Anführer der Quaden ist eine Fremdbezeichnung, da in Germanien dieser Titel unbekannt war. Die Schriftquellen lassen zudem ebenfalls erkennen, dass alle Versuche der römischen Seite, Klientelkönige dauerhaft zu etablieren, gescheitert sind, weil die Elite der germanischen Gruppen das ablehnte und eigene Vorstellungen durchsetzte. Die weitgespannten Vernetzungen scheinen schon im 1./2. Jahrhundert bestanden zu haben, dann wieder im 3. Jahrhundert und schließlich im 5. Jahrhundert. Gab es diese zeitlich getrennten Phasen wirklich, oder sind sie nur das Ergebnis der archäologischen Forschung, zurückgehend auf die Chronologieversuche. Oder stecken doch ereignisgeschichtliche Vorgänge der politischen und militärischen Handlungen dahinter? Zumeist werden die Markomannenkriege in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts für Besonderheiten in den Ausstattungen der Gräber dafür verantwortlich gemacht. Warum kam es zu den Markomannenkriegen? Dazu kann der Archäologe aber prinzipiell nicht direkt etwas aussagen, außer durch indirekte Hinweise auf große Bevölkerungszunahmen. Noch weitergehend wäre die Überlegung, wirtschaftliche, soziale und politische Veränderungen innerhalb der römischen Provinzen dafür heranzuziehen, die sich auf die Handelsverbindungen oder auch auf die Anwerbung von Söldnern ausgewirkt haben. Wie zeitlich (und auch räumlich) unterschiedlich der Zustrom römischer Sachgüter und Münzen ins Innere Germaniens gewesen ist, hat Michael Erdrich mehrfach erörtert und beschrieben.3517 Es ist auffällig, dass im Grab ausgerechnet das Festmahl versammelt wird, mit dem sich der Tote vom Diesseits verabschiedet hat. Später während der Merowingerzeit waren es bei den Männern ihre Waffen und die Reitausstattung, teils mit dem Pferd als Beigabe, so sind es in den vorangehenden Jahrhunderten das gemeinschaftliche Fest- und Kultmahl. Reichtum und weniger Kriegertum werden in der Bestattungskultur berücksichtigt; Hinweise auf das vorwiegend bäuerliche Leben der meisten Menschen oder auf normales Handwerk spielen keine Rolle. Nur ganz selten sind Handwerksgeräte bei einzelnen Individuen zu finden. In einigen der hier näher beschriebenen „Fürstengräber“ der Elite in Germanien befanden sind wertvolle Objekte, wie man sie eigentlich in einem „Königsschatz“ bzw. in einem Hausschatz der Elite vermuten kann. Für die Bestattung wurden häufig schon alte wertvolle Objekte gewählt. Das sind beispielsweise die beiden „keltischen“ Feuerböcke aus dem Grab von Mušov, römische Silberplatten wie die aus dem Grab von Stráže oder früher schon die älteren Silberbecherpaare, die entweder in Germanien weitergereicht worden waren oder aber aus einem Hausschatz entnommen wurden. Auch im Grab von Gommern stand neben den zeitgenössischen Holzeimern ein schon alter Hemmoorer Eimer.
3517 Erdrich 1995a; 2001; 2014.
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Die Normung im Aufbau der Gräber und der Beigabensätze fällt auf. Es handelt sich also um die Ausstattung für das festliche Gelage mit mehreren mit Ess- und Trinkgeschirrsätzen und für die Muße als Kennzeichen des Ranges, wofür auch immer wieder Spielbretter mit Spielsteinen stehen. Der goldene Körperschmuck zeigt puren Reichtum, der mit den Toten dem Besitz der Gemeinschaft entzogen wird. Was bedeutete das für die nächste Generation? Entweder hatte man Goldsachen im Überfluss, und Grabbeigaben waren kein Problem; wie der Besitzumfang wirklich gewesen ist, davon haben wir nur eine geringe Ahnung. Oder die Personen waren so herausragend und verehrungswürdig, dass man ihnen die goldenen Sachen gönnte, auch wenn sie später der Gruppe fehlten. Da die kleinen Gruppen der Fürstengräber an einem Ort, im Bereich einer Siedlung, immer nur eine bis höchsten drei Generationen umfassten, belegt das die Unsicherheiten, Führungspositionen zu halten. Sie scheinen rasch von Ort zu Ort gewechselt zu haben. Wie man sich das vorzustellen hat, ist für Seeland und die benachbarten Inseln während der jüngeren Römischen Kaiserzeit erläutert worden (vgl. oben S. 941). Auch diese Situation ist alternativ zu erklären: Entweder waren die Möglichkeiten zur Auszeichnung mit der Chance, Reichtum zu gewinnen, zeitlich allgemein begrenzt, wechselten von Ort zu Ort (wer etwa hatte Erfolg als Söldner in römischem Dienst oder bei einem germanischen Kriegsfürsten), oder der interne Wettstreit um Macht und Herrschaft in Germanien änderte ständig die Rangfolgen zwischen den Familienverbänden oder den Kriegergefolgschaften. Darin könnte die Ursache für die ständigen innergermanischen Kriege gesehen werden, wie sie in den auf die südwestliche Ostsee konzentrierten Heeresausrüstungsopfer sich niedergeschlagen haben. Am speziellen Befund von Uppåkra in Schonen wurde in verschiedenen Abständen das Hallenhaus niedergebrannt, und die Toten blieben dort liegen, eine sogenannte brenna nach isländischer Vorstellung des Mittelalters, eine Familienfehde (vgl. S. 655). Darin spiegelt sich die häufig erfolgte Ablösung der Herrschaft einer Familie durch eine andere, was eine „Dynastie“-Bildung somit verhinderte. Ebensowenig überzeugt die Ansicht, dass die reich mit römischen Sachgütern, vor allem mit Metallgefäßen und Gläsern, ausgestatteten Körpergräber nur in manchen Bereichen Germaniens als Beleg für Allianzen mit dem Römischen Reich anzusehen seien, zumal Waffen als Grabbeigabe fehlten, wie Klavs Randsborg meint.3518 Diese These wurde übrigens auch schon von anderen skandinavischen Archäologen vertreten, was aber ebenfalls nicht befriedigt, denn es gibt keine zusätzliche Erklärung dafür, dass vor allem die neuartige Grabsitte der Körperbestattung dieses Bild anhand der archäologischen Quellen vorspiegelt. Die zerschmolzenen Reste von Bronzegefäßen in Brandgräbern oder auch die Verwendung von römischen Importen wie Hemmoorer Eimer als Urnen gibt es in den meisten anderen Gebieten Germaniens auch.
3518 Randsborg 2015, 39, 53.
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Einseitige Allianzen mit Rom einerseits und Netzwerk der germanischen Elitefamilien andererseits widersprechen sich eigentlich. Die verschiedenen Phasen von neuen Grabsitten, nämlich der Körperbestattung im Bereich der Eliten mit auffällig reicher, Rang anzeigender Beigabenausstattung, also dem 1./2. Jahrhundert n. Chr. mit den Gräbern des Typs Lübsow, dem 3./4. Jahrhundert mit den Gräbern der Haßleben-Leuna-Gruppe, dem 5. Jahrhundert mit den Gräbern der Gruppe mit reiternomadischen Einflüssen von Untersiebenbrunn bis zu den Gräbern des Childerich-Horizontes aus der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts münden in die Entstehung der Reihengräbersitte noch im fortgeschrittenen 5. Jahrhundert mit entsprechend reich mit Beigaben versehenen Bestattungen der Siedlungsgründerphase (vgl. auch S. 1171). Diese Reihengräbersitte im übergreifenden Grenzbereich zwischen den Stammesgebieten der großen Verbände der Franken, Alamannen,3519 Thüringer und Bajuwaren und den Bereichen der östlichen Areale der ehemaligen römischen Provinzen ist nun Ausdruck einer sich neu formierenden Gesellschaft, die weder germanisch noch römisch bestimmt ist, sondern die auch im Grabbrauch neue Wertvorstellungen zum Ausdruck bringen will; das sind bei den Männern kriegerische Aspekte durch eine weit verbreitete häufige Waffenbeigabe und bei den Frauen die Liebe zu wertvollem Schmuck, je nach Vermögen der Familien. Das ist denn auch das Ende der älteren kulturellen, wirtschaftlichen und kultischen Entwicklung in Germanien im ersten halben Jahrtausend n. Chr. und wechselt zu neuen Stukturen der Gesellschaft. Einige Aufsätze widmen sich detailliert den Rangstrukturen der Gesellschaften in Germanien anhand speziell dieser reich ausgestatteten Gräber, der „Fürstengräber“ oder der „Elitegräber“. In Graphiken zeigt 1991 P. H. Ramqvist die Hierarchie der Krieger aus den Dörfern und ihre Anführer.3520 In einer nächsten Zusammenschau 2003 spricht B. Storgaard von kosmopolitischen Aristokraten3521 vor dem Hintergrund der weiten Ausdehnung des Römischen Reichs und dem Klimaoptimum während der ersten Jahrhunderte n. Chr.in den germanischen Provinzen und auch in Südskandinavien, das dort verbunden war mit verbesserter Landwirtschaft. In der Verknüpfung vom Schlachtfeld von Kalkriese, dem Schatzfund von Hildesheim und dem römischen Lager von Haltern mit der schriftlich überlieferten römischen Küstenfahrt (Ptolemäus) nach Jütland verbindet er damit die frühen Fürstengräber wie Hoby (vgl. S. 812) bis um 40 n. Chr. Es folgten die neuen Machthaber, manifestiert in den Gräbern von Himlingøje, die für ein „südskandinavisches Imperium“ mit den „Verbündeten“ der Himlingøje-Dynastie während der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts (C1b) auf den Inseln, in Jütland und verstreut auch in Norwegen und Schweden 3519 Quast 1997, zu Südwestdeutschland, dem Gebiet der Alamannen, und den Beziehungen zu den Thüringern. 3520 Ramqvist 199, 309 Fig. 3 und 310 Fig. 4. 3521 Storgaard 2003,108 Abb. 2 Klimaoptimum, 110 Abb. 3 (aristokratische Grablegen von 0–40 n. Chr. mit Hoby), auch 117 Abb. 12.
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stehen würden.3522 Die Verbreitung der römischen Importe in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts (Phase C1b) veranschaulicht er auf einer Karte, je dunkler die Farbe, desto mehr Funde gab es auf Fünen und noch mehr auf Seeland.3523 Dazu gehören auch die „germanisch“ ergänzten Silberbecher aus Himlingøje Grab 1829 mit umlaufendem Figurenfries, auf dem Krieger mit Ringknaufschwertern eingestempelt sind. Den Einfluss der Himlingøje-Dynastie (Phase C1b) auf nahe und ferne Verbündete werden markiert anhand der Verbreitung der Rosettenfibeln, die massiert auf Seeland vorkommen, auch in Jütland und weiter bis hinauf nach Norwegen einerseits und nach Gotland andererseits. Aufgrund wachsender Forschung gibt es jetzt diesen Fibeltyp ebenfalls südlich der Ostseeküste in Pommern und im Samland sowie bis weit in den Südosten (vgl. S. 895). Die späteren Generationen der Aristokratie in Germanien sind nach B. Storgaard die Fürstengräber der jüngeren Römischen Kaiserzeit mit beispielsweise Leuna Grab 1917 auf dem Kontinent oder dem Grabfund von Årslev auf Fünen mit den aufgenähten Löwenmasken aus Gold mit Almandin und Karneol, die wohl aus Südrussland oder vom Schwarzen Meer gekommen sind und die weitreichenden Verbindungen dieser Elite spiegeln. Genannt werden weiterhin die Goldfibeln des Sakrau-Typs aus Sanderupgård und aus Årslev in diesem Zusammenhang. Die Bergkristallkugel mit eingeschriebenem Palindrom, einem christlichen Zeichen, kam ebenfalls aus dem Süden, wohl vom Schwarzen Meer. Der Schluss dieser Abfolge von „Aristokraten“ bzw. Aristokratinnen wird über die Silberblechfibeln im SösdalaStil erfasst. Aber – wie ich andernorts erläutere (vgl. S. 1234) – zeigt ein solches Kartenbild der Verteilung der Fürstengräber einerseits vorerst nur den Forschungsstand und andererseits einen allgemeinen weiten Kommunikationsraum in Germanien, der nicht überinterpretiert werden sollte. Nach B. Storgaard – und da argumentiert er die Ereignisgeschichte einbeziehend wie viele Archäologen – haben die Markomannenkriege (166–180) die südskandinavische Aristokratie beeinflusst. Für die jüngere Römischen Kaiserzeit zeigt die Verteilung der „Fürstengräber“ und „Fürstengräberfelder“ [!] (mit 32 Nummern)3524 von Norwegen bis in den Süden zur Donau über die Mittelachse Seeland und Fünen, Mitteldeutschland an Weser und Elbe das weiträumige Netzwerk. Die Elitebildung und die Kulturentwicklung in Skandinavien während der Römischen Kaiserzeit hat Th. Krümpel mit Blick auf die Schriftquellen ergänzend behandelt,3525 auf die ich jedoch aus bekannten Gründen nicht eingehen werde.
3522 Storgaard 2003, 112 f., 115. 3523 Storgaard 2003, 114 Abb. 9 (Importdichte), 115 Abb. 8 (Rosettenfibeln, auch Runenfibel von Varløse). 3524 Storgaard 2003, 120 Abb. 13 nach Fröhlich (Red.) 2000/2001, 147, 123 f. Sösdala-Horizont. 3525 Krümpel 2012.
18.6 Eine Zusammenfassung
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Ähnlich schildert D. Quast 2009 die frühgeschichtlichen Prunkgräberhorizonte,3526 beginnt mit der Karte der Gräber der Lübsow-Gruppe: Zu den Gräbern vom Ort Lübsow selbst bringt er die Lage der beiden Fundstellen Sandberg mit den Fürstengräbern der Phase B1 und Tunnehult mit den Fürstengräbern der Phase B2. Die jüngerkaiserzeitlichen Elitegräber werden im Kartenbild vorgestellt ebenso wie die völkerwanderungszeitlichen Elitegräber bis zum Horizont Apahida, Rüdern und Tournai (dem Grab des Childerich, gestorben 482). Diese Verteilungen der Gräber in Mitteleuropa spiegeln den stetigen Wechsel der zentralen Orte, die eben keine Kontinuität, aber immerhin bestehenbleibende Netzwerke abbilden. Die Kartierung allein der polychromen Silberblechfibeln (mit 13 Nummern) vom Asowschen Meer bis zur Normandie bestätigt die europaweite Kommunikation in den Netzwerken. D. Quast fragt, warum in der Phase C (im 3. und 4. Jahrhundert) Elitegräber fehlen und sieht eine Antwort in der Migration von Angehörigen der Elite als Söldner ins Römische Reich. Dazu würde nämlich der Spruch des fränkischen Söldners passen, eine 2,38 m lange Inschrift aus Budapest, datiert ins späte 4. Jahrhundert (Ich bin Franke, römischer Bürger, Soldat im Heer. Im Krieg habe ich immer tapfer gekämpft) (vgl. oben S. 700). Eine weitere Inschrift des Burgunderkönigssohns Hariulf, 1877 in Trier entdeckt, ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich: Hariulf war kaiserlicher Leibwächter, Sohn des Hanhavald, eines Kleinkönigs (regalis) der Burgunden, der nur 20 Jahre, neun Monate und neun Tage lebte. Weil diese ranghohen Germanen sich in römischen Diensten befanden bzw. sich im Römischen Reich aufhielten, würden die Elitegräber des 4. Jahrhunderts in Mitteldeutschland fehlen. Doch frage ich dazu wieder, ob die Ereignisgeschichte und die Grabsitte einer Elite in Germanien so direkt verknüpft werden sollten und dürfen. Es gibt ja, wie D. Quast selbst zusammenstellt, Kammergräber der Stufen C3 und D1 zwischen Rhein und Oder und eine Verbreitung der Totenhäuser als Kammergräber mit massiven Pfostenstellungen im Norden.3527 Es hat sich die Sitte, wie man mit dem Jenseits kommuniziert, anscheinend geändert. Die Fürstengrabsitte war verschwunden, an dessen Stelle trat der Hortfundhorizont des späten 4. und frühen 5. Jahrhunderts. Die Karte der Schatzfunde mit goldenen Halsringen vom Typ Velp ist nach Westen und vor allem nach Süden erweitert. Und ähnlich wird für Südskandinavien, Jütland und die Inselwelt der Ostsee argumentiert (vgl. S. 510 ff.).
3526 Quast 2009c, nach RGA Bd. 10, 1998, 186, Abb. 25; 118 Abb. 6 Karte (polychrome Silberblechfibeln). 3527 Quast 2009c, 127 Abb. 9 und 128 Abb. 10 sowie Liste 1 und 2, 131 Abb. 12 Karte der Hortfunde.
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18 Gräberfelder der Bevölkerung und Bestattungen der Eliten
Neuartige Einsicht eröffnet die Idee von D. Quast, die Goldgegenstände aus dem Schatz von Lengerich und aus dem Childerichgrab gegenüberzustellen.3528 Das sieht folgendermaßen aus: Lengerich
Tournai
Fibel Armring
Zwiebelknopffibel 2 Kolbenarmringe
Zwiebelknopffibel Kolbenarmring
Fingerring Denare 2. Jh. Siliquae 4. Jh. Solidi Halsschmuck
4 Fingerringe 18 Denare (einst 1147) Mehrere 1 Sol. 4. Jh. (früher 10) Gold. Halsschmuck, 2 goldene tutulusförmige Anhänger Silberschale –
1 Siegelring 41 (einst über 200) 1 Constantius II 89 Sol. des 5. Jh. (früher über 100)
Gefäß Bewaffnung
Achatgefäß Spatha, Sax mit Gürtel, Schwert, Axt, Lanze Zahlreiche Schnallen und Beschläge
Die beiden Fundkomplexe liegen über 100 Jahre auseinander, enthalten aber mehr oder weniger eine identische Ausstattung, d. h. Schatzfunde und Elitegräber schließen sich (chronologisch) weitgehend aus; doch die Verteilung der Schatzfunde spiegeln Machtzentren wie sonst die Verteilung der Elitegräber.3529 Was sind eigentlich die Grabbeigaben, Besitz des Verstorbenen, Eigentum der Familie oder der Gemeinschaft, die damit den Toten ausstattete und beschenkte, als Ausrüstung für das oder im Jenseits oder nur als Zeichen des eigenen Ranges eines Familienverbandes bei den Begräbnisfeierlichkeiten? Sie sind jedenfalls ein Bestandteil der historischen Wirklichkeit.3530 Beigaben sind nicht direkt Spiegel des Lebens, aber bringen bestimmte Facetten der Lebenswelt zum Ausdruck, sie gehören zu Ritualen bzw. sind Teil von diesen Ritualen, und die entsprechenden Auswahl erlaubt Rückschlüsse auf den Siedlungsverband, der die Bestattung ausrichtet. J. Schuster meint bei der Schilderung der Kammergräber der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends n. Chr., all der Fürstengräber, dass die Beigaben auch als Opfergaben gesehen werden können.3531 Er bildet deshalb die Beigabenausstattungen in den Kammern oder Särgen in Farbe ab: Poprad Matejovice, Högom, Pilgramsdorf/Pielgrzymowo, Ellekilde, Gommern, Neudorf-Bornheim und Valløby (diese Gräber sind beschrieben, vgl. S. 929 ff.). Für die Wikingerzeit werden die Bootsgräber und die großen Kammern als Abbild der Festhallen selbst gedeutet und die Beigaben auch als Opfer. 3528 Quast 2009c, 133 Abb. 13 Bild und Tabelle. 3529 Steuer 2006b. 3530 Schimpff 2018. 3531 Schuster 2014a, 6 ff. mit Abb. 2 bis 14.
18.7 Zu Rang und Rolle der Frauen
983
18.7 Zu Rang und Rolle der Frauen Auf die ranghohe Rolle der Frauen der Elite während der vier Jahrhunderte n. Chr. in Germanien wurde oben schon hingewiesen, und Prunkgräber, in denen Frauen mit kostbaren Beigaben bestattet worden sind, wurden beschrieben.3532 Die großen völkerwanderungszeitlichen Schatzfunde hat D. Quast 2011 mit der weiblichen Elite zusammengebracht. Es geht um den Schatz der ranghohen Familien bis hin zu den Königinnen.3533 Schriftlich überliefert sind römisch-barbarische Heiratsbeziehungen auch im 4./5. Jahrhundert. Die Eliten verschmelzen miteinander, seit der Tetrarchenzeit (von Diokletian ab 293 n. Chr. eingeführt), der Epoche der vier Kaiser, vor allem im militärischen Sektor; die Namen sind in den Schriftquellen zu finden.3534 Ein weiterer Ansatz zur Erschließung der gesellschaftlichen Organisationsformen ist der Versuch, im archäologischen Quellenmaterial Heiratskreise, erkennen zu können. Das ist schon früher mehrfach versucht worden, beispielsweise von Joachim Werner 1970.3535 Im Spiegel der Fürstengräber des jüngeren Horizonts sind über die Regionalisierung im Schmuck speziell der Frauenkleidung derartige Fernbeziehungen zu greifen. Die Verbreitungskarte der Gräber mit Rosettenfibeln der seeländischen Variante – auf Seeland ist die Masse gefunden worden – zeigt einzelne weit gestreute Stücke, die dann als Ergebnis von Exogamie erklärt werden können. Ähnliche Kartierungen bringt M. J. Przybyła 2011 für Nadeln mit komplexer Kopfgestaltung, für Hakenkreuzfibeln – von denen die Mehrheit ebenfalls auf Seeland gefunden worden sind und einzelne weiter außen herum. Es geht weiter mit Beispielen aus anderen Zentren, z. B. für Fibeln des Typs Almgren 219 mit hohem Nadelhalter.3536 Fernbeziehungen seeländischer Eliten aufgrund der möglichen weitreichenden Heiratsmigrationen, in Anlehnung an die außerhalb von Seeland vorkommenden Elemente der reichen seeländischen Frauentracht, sind für die Phasen C1b-C2 (ca. 200/210–300/310 n. Chr.), C3-C3/D1 (ca. 300/310–370/400 n. Chr.) mehrfach nachzuweisen.3537 Von Seeland aus gab es zuerst derartige Fernverbindungen nach allen Seiten und bis Norwegen, Ostschweden sowie Bornholm, später diese Beziehungen vor allem nach Norden, nach Mittelnorwegen, Schweden und sogar bis Finnland. Nicht nur seeländische ranghohe Familien erzeugten das Verbreitungsbild von derartigen Heiratskreisen, das wäre zu einseitig, und die Kreise anhand der Fibeltypen wären auch wiederum zu weitreichend. Die Vernetzung der Oberschichten ist von Chatten und Cheruskern um die Zeitenwende und für die Königsfamilien zur Zeit Theoderichs des Großen und Childe-
3532 Quast (Hrsg.) 2011b. 3533 Quast 2011c. 3534 Stickler 2011. 3535 Werner 1970. 3536 Przybyła 2009, 38 Abb. 1 Karte; 2011b; Voss 2017, 332 Abb. 12 Karte der Swastikafibeln, vor allem auf Seeland und im Grab Häven VII/1872. 3537 Przybyła 2011a, 340 Abb. 21 Kartenbilder; 2011b.
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18 Gräberfelder der Bevölkerung und Bestattungen der Eliten
richs durch Ehebündnisse in der schriftlichen Überlieferung belegt.3538 Isolierte Sachgüter in den Phasen C1b-C2 weitab in der Fremde spiegeln also möglicherweise diese Exogamie, hinter der wohl politische Gründe stehen werden. Gerade Seeland fällt auf mit ihren Eliten, wenn die typischen Rosettenfibeln einerseits von Eliten in Nord- und Mitteljütland getragen wurden, und andererseits im Weichselmündungsraum nachgeahmt worden sind. Für das frühe Mittelalter bietet Mirjam Kars ein vergleichbares Modell zu den überregionalen Heiratskreisen, und zwar anhand von Austausch und zwischengenerationalen Beziehungen im Kontext von Heiraten. Es fallen Stichworte wie Familienschätze und Morgengabe.3539 Frühe Gräber weiblicher Eliten und die schematische Darstellung der überregionalen Kontakte innerhalb der Germania magna anhand von Frauengräber des 1. und 2. Jahrhunderts spürt J. Schuster nach.3540 Die weiträumige Elitevernetzung wird versuchsweise als Eheverbindungen, ebenfalls von Jütland ausgehend, erklärt. Der Goldschmuck aus Grab Lübsow/Sandberg 3, ein kugelförmiger Berlock, hat Parallelen in Norden. Das Grab von Byrsted, Nordjütland, enthielt einen Eimerberlock, Nadeln, und Fibeln mit durchbrochenem Fuß. Die Verteilung der Fibeln Almgren II 24–26 aus Edelmetall mit gezwirnter bzw. gekordelter Drahtapplikation kennt neun Orte in Jütland und drei auf dem Kontinent. Die Verbreitungskarte älterkaiserzeitlicher Nadeln mit durchbrochenem Kopf aus Silber (nach Beckmann Gruppe I und II)3541 zeigt zwölf in Dänemark und neun südlich der Küsten auf dem Kontinent. Eine Darstellung der überregionalen Verteilung von Jütland nach Kontinentaleuropa spiegelt diese weiten Kontakte.3542 Nur ein Modell ist es, die weitverteilten Fundorte gleichartiger Schmucksachen als Ergebnis von Heiratsbeziehungen zu erklären, weil es weiblicher Schmuck ist. Für gleichartige Waffentypen wählt man dann gern die Erklärung, dass sie genormt aus der Werkstatt eines Kriegsfürsten stammen. Ebenso gut werden von der Forschung mobile Handwerker bemüht, die auf ihren Zügen für die Verteilung von gleichartig produzierten Sachen gesorgt haben. Am einfachsten ist es jedoch, von Kaufleuten und Fernhändlern auszugehen (zu diesen Modellen auch schon oben S. 580 ff.). Während die auf diesem Wege der Schmuckelemente angedeuteten Familienund Heiratsverbindungen nur als möglich betrachtet werden, wofür es aber auch andere Erklärungen geben kann, überzeugen die Bilder der Goldblechfigürchen des 6./7. Jahrhunderts und ihre Verteilung in Skandinavien eher solche Personenkontakte der weiblichen Elite (vgl. unten S. 1215).3543 Denn es gibt Stempelverbindungen z. B. zwischen Fünen und Bornholm oder zwischen Südschweden und Bornholm. 3538 Przybyła 2011a, 322 Abb. 1. 3539 Kars 2013, 98 Fig. 1. 3540 Schuster 2011a, 308 Abb. 1. 3541 Beckmann 1966; Steuer 2002b, 499 Abb. 47 (nach Beckmann). 3542 Schuster 2011a, 316 Abb. 11 Karte. 3543 Watt 2011a, Karten.
18.7 Zu Rang und Rolle der Frauen
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Solche Verbindungen gibt es ebenso zwischen dem westlichen Norwegen und Nordnorwegen (Lofoten) und nach Schweden. Viele dieser Guldgubber tragen als Bildnis Mann und Frau einander zugewandt. Imitationen von Goldmedaillons bringen einen Reiter mit einer Walküre davor, was wiederum die Rolle der Frau betont. Rund 3000 Goldblechfigürchen haben als Bild in aufwendiger Kombination gekleidete Frauen, wobei sogar auch Fibeln und Perlenketten zu erkennen sind. Die Identifikation mit der Göttin Freyja wird vermutet; manche Frauen haben ein Trinkhorn in der Hand; sie sind Gastgeberinnen in Kleinkönigtümern oder betonen ein Eheversprechen. Auch die Vereinigung der Gottheiten Gerðr, Tochter des Riesen Gymir und Frau des Gottes Freyr wird in den Bildern gesehen. Aber das ist eine viel spätere Überlieferung.3544 Ob also auf diesem Wege Heiratsbeziehungen über größere Entfernungen erkannt werden können oder ob es um die Welt der „germanischen“ Gottheiten geht, bleibt offen. Diese Beziehungsgeflechte germanischer Eliten vor und nach den Markomannenkriegen hat H.-U. Voss anhand der „Fürstengräber“ erneut 2017 beschrieben.3545 Es geht also nicht ohne die Korrelation mit der Ereignisgeschichte, die sich somit unmittelbar in den Bestattungsbräuchen einer Oberschicht spiegeln soll. Es sind die Bestattungsplätze der Elite von Himlingøje über Lübsow, Häven, Hagenow, Gommern, Leuna, Zauschwitz und Mušov aus der frühen und späten Römischen Kaiserzeit. Anhand der Bestattung von Hagenow Grab 9, 1995, (vgl. S. 972) wird der Rekonstruktionsversuch des Lebensweges von einem etwa 55jähringen Krieger angeboten, der von Carnuntum und Aquincum über Kemnitz nach Hagenow zurückgekommen ist und dort dann sein Grab gefunden hat.3546 Wie ist so etwas zu beschreiben bzw. zu begründen? Das geht u. a. von der Verbreitung von Beschlagteilen aus Metall aus, die auf derselben Strecke vom Südosten bis an die Niederelbe und weiter bis nach Jütland vorkommen.3547 Die Verteilung wird also durch die Mobilität von einzelnen Menschen erklärt. Dann werden Inhalte der Gräber von Häven mit den Beigaben anderer Elitegräber parallelisiert, so die pressblechverzierte Swastikafibel von Häven, Grab VII/1982, vor allem mit Funden auf Seeland. Die sogenannten Schildfibeln Almgren 179 / Matthes Typ A2 und Almgren 180/Matthes Typ A3 kommen vor allem im Saalegebiet, in Mitteldeutschland zwischen Elbe und Oder und in Mecklenburg vor und darüber hinaus in Pommern sowie auch mit einigen Exemplaren auf den dänischen Inseln und sogar in Mähren. Ähnliche Verteilungsmuster spiegeln die Dreiknopfsporen und die Bügelknopffibeln. Die Obolusbeigabe in Gräbern der späten Römischen Kaiserzeit der Stufen C1 und C2 gab es vor allem in Mitteldeutschland im Gebiet der Fürstengräber von Haßleben und Leuna und wieder im Norden in Häven und Neudorf-Bornstein sowie auch in Jütland sowie auf Seeland. 3544 Simek1984, 125. 3545 Voss 2017, 322 Abb. 1 Bestattungsplätze der Elite, zahlreiche Karten der Schmuckfunde. 3546 Voss 2017, 326 Abb. 6 Karte zum Lebensweg des Kriegers aus Grab 9/1995. 3547 Voss 2016a, 716 ff. Abb. 4–6 und 8–9 sowie 12 Karten.
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18 Gräberfelder der Bevölkerung und Bestattungen der Eliten
Es soll sich, so der Verfasser des Beitrags, um Kontakte der Markomannen und Quaden über Mušov und Gommern zu anderen Führungen quer durch Germanien von Mähren und der Slowakei bis Seeland bis ins 3. Jahrhundert gehandelt haben. Als Erklärungen für diese Fernbeziehungen werden politische Kontakte auf Stammesebene angeboten oder um persönliche familiäre Beziehungen. Leicht werden die absolut registrierten Zahlen der Objekte als ehemalige Realität in die Überlegungen einbezogen und dabei vergessen, dass dahinter eine weit größere Menge gestanden hat, dass also anhand der Sachgüter, der Schmucksachen, diese Beziehungen nicht verabredet worden sein können und dass über die Verteilung von diesen Dingen eher Handwerker- und Händlerkontakte erfasst werden. Schon immer gab es, auch früh während der Zeit der jüngeren Fürstengräber, Beziehungen von Südskandinavien nach Mitteldeutschland und umgekehrt (250–325 n. Chr.);3548 und diese Fernbeziehungen gab es auch seit der Mitte des 5. Jahrhunderts, man meint zum Königreich der Thüringer; denn es kommen Fibeln vom nordischen Typ und Goldbrakteaten im Süden vor. Die Bügelfibel vom nordischen Typ aus Belleben mit einem großen Tier auf der Mitte der Fußplatte wurde in der Altmark gefunden, wo es kleine südskandinavische schlichte Fibeln, manche verzinnt oder auch vergoldet, in größerer Zahl gibt. Die Karte zu diesen Fibeln bringt den Norden aus Hauptverbreitungsgebiet schraffiert, dann eine Fundballung an der niederländischen Wurtenküste am Ijsselmeer, eine weitere an der Elbe in der Altmark und einige auch an der Oder-Mündung sowie auf Usedom und auf Rügen. Neben nur einigen engen Schwerpunktverbreitungen kommen sie überall auch im nördlichen Mitteleuropa vor, und die Zahl wächst mit Hilfe der Metalldetektoren rasch. Immerhin sind schon 200 solcher Fibeln in der Altmark dokumentiert, eben weil dort systematisch von W. Schmidt gesucht worden ist. Anderswo zwischen den genannten Fundkonzentrationen wird es ebenso viele dieser Fibeln gegeben haben, was zum Thema der allgemeinen Verteilung von Sachgütern passt, wie ich das behaupte (vgl. S. 583). Es sind also gleicharmige kleine Fibeln, Dreirundelfibeln, Rückenknopffibeln, Schnabelfibeln, auch Fisch- und Vogelfibeln sowie die jüngeren s-förmige Fibeln. Damit greife ich über Raum und Zeit hinaus: In Südskandinavien erscheinen diese Fibeln zwischen 510 und 545 n. Chr., wegen der Menge sicherlich in der Altmark zur selben Zeit. In Skandinavien und anderswo gab es damals vielfältige gesellschaftliche Veränderungen im Gefüge der Siedlungsplätze und führte zum Ausbau der Zentralorte. Ob Karen Høilund Nielsen hier 2019 jedoch wieder einfach zur Ereignisgeschichte greifen muss, um die Veränderungen zu erklären und dafür die politisch-militärische Zerschlagung des Königreichs der Thüringer bis 531 als Ursache zu nehmen, den Wechsel hin zum fränkischen Vasallenstaat, bezweifle ich. Es ist doch, so auch die Autorin, eine Mode, diese Fibeln zu tragen; denn einige dieser kleinen Fibeln kommen nicht aus dem
3548 Høilund Nielsen 2009d; 2019b, 266 Abb. 1 Fibel aus Belleben; 267 Abb. 2 Kartierung der kleinen gleicharmigen Fibeln, dazu 268 Abb. 3 Fibeln, 269 ff.; Schwarz 2011.
18.7 Zu Rang und Rolle der Frauen
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Norden, sondern sind in der Altmark vor Ort gefertigt worden, so die Entenfibeln. Die frühesten s-förmigen Fibeln sind aus Norwegen seit dem mittleren 5. Jahrhundert bekannt und gelangten – auf welchen Wegen als Mode – zu einem „skandinavischen Brückenkopf“ in die Altmark, so die Autorin. Diese kleinen gleicharmigen Fibeln kommen im Zentralort Stavnsager im Norden in großer Zahl vor (vgl. S. 366), überhaupt in Skandinavien und eben bis Thüringen. Auch noch später bleiben Kontakte zum Norden, wie in den berühmten Reitersteinen von Hornhausen mit dem skandinavischen Tierstil des 7. Jahrhunderts belegt ist.3549 Es klingt anders, wenn zu lesen ist, dass diese aus dem Norden stammende gateway-community im frühen 7. Jahrhundert verschwindet, und zwar als Folge der Veränderungen des Handelsnetzes, das sich nun zur Ostsee hin ausrichtet, beispielsweise zum Handelsplatz und Zentralort Groß Strömkendorf, wobei die Frage offen bleibt, warum das so ist. Es führt zu Kreisschlüssen, wenn Ereignisgeschichte und archäologische Funde unmittelbar kombiniert werden und man – um zu ergänzen – zusätzlich noch die Verteilung der Ortsnamen mit der Endung -leben, verbreitet in Skandinavien und in Thüringen, hinzuzieht.3550 Ich betone, über die archäologisch aufgrund des gegenwärtigen Forschungsstandes konstruierten Verbreitungsbilder von Sachgütern, auch wenn sie aus ranghohen Befundzusammenhängen kommen, kann nicht auf individuelle Kontakte geschlossen werden, auch nicht auf punktuelle historische Ereignisse. Archäologische Muster und kurzfristige Ereignisse gehören zu völlig unterschiedlichen ehemaligen Seinsbereichen. Die Verknüpfung sollte unterlassen werden, wenn es auch reizt, auf diese Weise „Geschichte“ schreiben zu wollen. Aber weder die Archäologie noch die Geschichtswissenschaft werden dazu gezwungen. Schließlich hat B. Hamm 2018 noch eine weitere Sachgruppe analysiert, die nach einer besonderen Rolle von Frauen anhand der Beigabe von spätrömischen Militärgürteln in Gräbern fragen lässt (zu diesen Gürteln vgl. unten S. 1141). Die mit Kerbschnitt oder mit Punzmustern verzierten Militärgürtel in Frauengräber des 4. und 5. Jahrhunderts kommen nicht gerade selten vor. Immerhin sind 49 Katalog-Nummern registriert und kartiert, davon auch sieben Befunde beiderseits der unteren Elbe und vier östlich des Harzes. Sie kommen vor von Schleitheim-Hebsack am Hochrhein (vgl. S. 987) bis Sievern und Westerwanna, Issendorf und Bremen-Mahndorf sowie Liebenau in Norddeutschland. Dass sie häufiger in den Agri decumates, dem aufgegebenen Limesvorland in Südwestdeutschland und ebenso auch in Nordostgallien als Beigaben gefunden werden, ist nicht so erstaunlich. Was besagen diese Gürtel aber als Ausstattung von Frauen? Waren es ästhetisch ansprechende Metallteile, die als banale Kuriositäten gewählt wurden oder Amulette, oder war es einfach die Übernahme der Männermode? Manche der prächtigen Gürtelbeschläge sind sicherlich nicht nur zufällig nur Beigabe geworden; denn in einigen Bestattungen sind
3549 Böhner 1976/77; Ament 2000; Schavone 2011. 3550 Udolph 1994, 497–513, 503 Karte 47. -leben,-lev-Verbreitung.
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18 Gräberfelder der Bevölkerung und Bestattungen der Eliten
sie besonders auffällig, breit und üppig ausgefallen. Doch lehnt B. Hamm ab, dass es sich um kriegerische Amazonen gehandelt haben könnte. Grabbeigaben waren zudem nicht unbedingt persönlicher Besitz, und sie dienten im Verlauf des Lebens situationsbedingt einer Vielzahl verschiedener Identitäten und Rollenbilder. Ein solcher kompletter Gürtel war auch ein Symbol der Macht, trotz habitus militaris, und wirkte allgemein als Ausweis einer herausgehobenen Stellung,3551 zeichnete die Frau als Familienvorstand oder auch als Lokalgröße aus. An anderer Stelle habe ich nachdrücklich darauf hingewiesen, dass diese Militärgürtel im Germanischen nicht nur aus römischen Diensten zurückgekehrte Söldner spiegeln, sondern allgemein zur Männermode geworden waren (vgl. unten S. 1141 ff.).
3551 Hamm 2018, 54 Abb. 2 Karte; zur Überlieferung über Amazonen während der Spätantike vgl. Pohl 2010b.
19 Germanisch-römische Konfrontation 19.1 Kriegszüge aus Germanien in die römischen Provinzen und römischer Einmarsch nach Germanien Von der frühesten Zeit an bietet die schriftliche Überlieferung Darstellungen von germanisch-römischen Konfrontationen, bei denen es sich immer um kriegerische Auseinandersetzungen gehandelt hat. Danach kam aus den Weiten Germaniens regelmäßig die militärische Bedrohung, was dort von den antiken Autoren als prinzipiell kriegerische und waffentragende Lebensweise der Männer betrachtet wurde. Aber andererseits berichtet die schriftliche Überlieferung von zielgerichteten Eroberungszügen aus dem Römischen Reich, um Germanien als Vorfeld zu besetzen und in eine Provinz, am besten bis zur Elbe, umzuwandeln. Es war ein Grundzug römischer Politik, die Grenzen immer weiter nach außen zu schieben, um eine mögliche Bedrohung des eigenen Territoriums zu verringern. Wie an allen Grenzen, ob in Afrika oder im Nahen Osten, so war es auch gegenüber Germanien, zumal alte Erinnerungen an die Züge der Kimbern und Teutonen um 120 v. Chr. das Fürchten lehren konnten. Die offizielle Politik behauptete durchaus jeweils eine rechtmäßige Gegenaktion aufgrund germanischer Angriffe, auch wenn das nicht immer der Fall war. Für spätere Zeit hat J. F. Drinkwater für die Jahre ab 213 überzeugend dargestellt, dass die römische Seite zielgerichtet fortlaufend Angriffe ins Innere Germanien angezettelt und unternommen hat.3552 Rom und die Germanen waren prinzipiell immer feindliche Nachbarn,3553 auch wenn es Zeiten friedlicher Koexistenz und intensiven Handelsaustausches gab. Die Fülle der Literatur zu dieser Konfrontation wird hier nicht referiert; es genügen Hinweise zum Beispiel auf Augustus in Germanien und auf die Archäologie einer fehlgeschlagenen Eroberung.3554 S. v. Schnurbein beschreibt die römischen Fundplätze der augusteischen Zeit in Germanien, den Plan des römischen Stützpunktes Hedemünden, auch die Pläne des Lagers Haltern und des Lagers Anreppen sowie schließlich den Grundriss der Stadtgründung von Lahnau-Waldgirmes bei Wetzlar. Über Roms Wege nach Germanien, die Vormarschstraßen, Kastellbauten und Strategien ist kontinuierlich in der Forschungsliteratur geschrieben worden.3555 Die Züge der Kimbern und Teutonen im späten 1. Jahrhundert v. Chr. – dem Namen nach lag der Ausgangsbereich weit im Norden auf der kimbrischen, der jütländischen Halbinsel, die ein halbes Jahrtausend später vor allem durch die umfangreichen Heeresausrüstungsopfer auffällt – waren zeitweilig durch ihre militärischen Siege eine ernste Bedrohung der römischen Provinzen beiderseits der Alpen und in der Gallia
3552 Drinkwater 2007. 3553 Schneider (Hrsg.) 2008. 3554 v. Schnurbein 2012, zahlreiche Pläne. 3555 Kühlborn, Becker, Stuppner (Hrsg.) 2008; Kühlborn 2007. https://doi.org/10.1515/9783110702675-027
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19 Germanisch-römische Konfrontation
Narbonensis gewesen. Ihr Aufbruch im Norden wird um 120 v. Chr. gewesen sein, in den Jahren 113 bis 105 v. Chr. brachten sie den römischen Heeren empfindliche Niederlagen bei, ehe sie 102 und 101 v. Chr. vernichtet wurden. Mögen die Kimbern im Kern tatsächlich aus Jütland kommen, so hat sich der Wanderzug dieses Heeres in den knapp 20jährigen Zügen durchaus verändert, gewandelt und irgendwo sind die Teutonen hinzugestoßen. Diese Heerhaufen waren bei ihren anfänglichen Siegen auch recht brutal. Sie opferten die Waffen, indem sie diese im Fluss versenkten, hängten die Besiegten an Bäumen auf, was übrigens an das Verhalten des Arminius nach seinem Sieg in der Varusschlacht erinnert. Die Wanderungen sind historisch überliefert und somit gut bekannt, aber archäologische Beweise fehlen. Zwar gibt es Kartenbilder über die möglichen Zugwege und die Schlachtorte; doch sind diese Wege rekonstruiert und nur die Kampforte sind gesichert, wie J. Martens und Th. Luginsbühl gezeigt haben (Abb. 75).3556
Abb. 75: Züge der Kimbern von 120/115 bis 91 v. Chr.
3556 Martens 2000, 501 Abb. 48; Luginsbühl 2014, 348 Fig. 1 Karten zu den Zügen A) 120/115 bis 110 und 109–107; B) 106–104 und 103–91, 356 Fig. 3 Schlachtorte; auch Bleckmann 2009, 53 Abb. 11.
19.1 Kriegszüge aus Germanien in die römischen Provinzen
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Aber schon die jüngeren Ereignisse, die sich anbahnten, als der Suebenführer Ariovist, der von Häduern zur Hilfe gerufen worden war, aus dem Inneren Germaniens kam und schließlich an die „100 000 Krieger“ unter seiner Leitung versammelt haben soll, wurden erst dadurch zur Bedrohung Roms, weil Caesar Verträge nicht anerkannte und den zuerst als Freund der Römer und zum rex ernannten zur Gefahr erklärte, besiegte und seine Einheiten zerstreute. Die Spuren von Caesars Unternehmungen rechts des Rheins, in Hessen, sind registriert,3557 Caesars Rheinübergänge mit Brückenbau 55 und 53 v. Chr. überliefert.3558 Damit wurden für die Römer neue und exotische Weltgegenden betreten. Das Bild dazu in den Schriftquellen ist zu Recht „äußerst unscharf“, was aber nicht nur für die beschriebenen gesellschaftlichen Strukturen zutrifft. Es folgten die Drususfeldzüge (bis zur Elbe) ab 12 v. Chr. und die des Tiberius bis 7 v. Chr. Tiberius kehrte später wieder an die Germanenfront zurück zu Feldzügen 4–5 n. Chr. in den Nordwesten Germaniens, ehe Germanicus 14 bis 16 n. Chr. noch weitere Kriege nach der Varusniederlage 9 n. Chr. führte. Unter Augustus begann der Versuch eines Provinzialisierungsprozesses, weshalb das Kastell Haltern ausgebaut und die stadtartige Siedlung Waldgirmes gegründet wurde (vgl. Abb. 76).3559 Die Legionäre kamen damals aber nicht nach Germanien, sondern in ein keltisches Land und in ein Siedlungsgebiet von Kelten; zwei Lager I und II wurden nach dem Rheinübergang von Caesar bewusst neben einer keltischen Siedlung angelegt. Man stieß hier außerdem auch auf Sueben, und archäologische Funde der PrzeworskKultur des Großromstedter Horizonts hat die Forschung zusammengestellt. Es war die Phase, als „Germanen“ nach Süden drängten – beispielsweise Leute der rheinweser-germanischen Kultur, der elbgermanischen Kultur und der Przeworsk-Kultur – und die „Kelten“ ablösten. Doch Althistoriker waren über die realen Verhältnisse in den Vormarschgebieten nur unzureichend informiert, hatten den jüngsten Stand der archäologischen Forschung nicht ausreichend studiert. Elemente des frühen Großromstedter Horizonts zwischen Rhein und Werra mit Haus, Gehöft und Weiler sind archäologisch erforscht.3560 Diese Germanisierung des Mittelgebirgsraums erfolgte während der vorrömischen Eisenzeit und der frühen Römischen Kaiserzeit. Ausgegraben ist die Siedlung in Niederweimar bei Marburg3561 mit einem Langhaus von 27,5 m Länge der einheimischen Bevölkerung. Eine Siedlung der Przeworsk-Kultur im Südharzvorland ist bei Leimbach im Lkr. Nordhausen archäologisch untersucht worden.3562
3557 J.Meyer, Schade-Linding, Schallmayer 2013. 3558 Bleckmann 2009. 3559 Salač 2016, 504 Abb. 10; Tremmel 2018,118 Abb. 1; Johne 2012, 37 Abb. 6 Römische Feldzüge bis zur Elbe. 3560 M. Meyer 2009a, b; M. Meyer (Hrsg.) 2010. 3561 Fiedler, Gütter, Thiedmann 2002, 145 Abb. 8. 3562 M. Meyer, Rauchfuß 2014.
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19 Germanisch-römische Konfrontation
Abb. 76: Römische Vormarschwege vom Rhein die Lippe aufwärts. 1. Drusus’ Züge zwischen 12 und 9 v. Chr.
B. Bleckmann meint zwar zu Recht: Um die Zeitenwende war der germanische Raum offenbar dichter bevölkert als in der Völkerwanderungszeit und muss prinzipiell als genauso beherrschbar erschienen sein wie das nur graduell kultiviertere Gallien in seinen nördlichen Teilen.3563
3563 Bleckmann 2009, 113, dazu Rez. P. Kehne.
19.1 Kriegszüge aus Germanien in die römischen Provinzen
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Abb. 76: 2. Position der Militärlager in augusteischer Zeit bis über die Weser nach Osten.
Aber P. Kehne schreibt in seiner Rezension, dass nicht zu wenige Siedlungen ausgegraben seien (obwohl weitere Großgrabungen sinnvoll sind), aber von einem Wegenetz könne keine Rede sein; was wiederum von mir ganz anders zu beschreiben ist (vgl. S. 389). Auch meint P. Kehne, das frühkaiserzeitliche Rom beherrsche nicht Räume, wollte das aber, stieß jedoch auf Personalverbände. Den Raum zu beherrschen
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konnte nach meiner Ansicht nicht gelingen; denn die römischen Truppen stießen auf Kriegerverbände, wollten aber Territorien zur Provinz machen (vgl. S. 996). B. Bleckmann und P. Kehne betonen die „Veränderung […] in der Struktur der (germanischen) Kriegergruppen“,3564 kampfstarke und flexibel operierende germanische Gefolgschaftsverbände (warbands) gingen der Entstehung der neuen Großstämme im 3. Jahrhundert wie Alamannen, Juthungen, Franken und Goten voraus. Die Versuche unter Augustus, vom Rhein aus das Vorgelände bis zur Weser oder gar bis zur Elbe als Provinz dem Reich als Provinz einzugliedern, waren eindeutig römische Aggressionen, die aber bald nach der Varusniederlage 9 n. Chr. aufgegeben werden mussten, weil die militärische Macht aus Germanien doch zu stark war (vgl. dazu S. 1017). Die Gründung der stadtartigen Siedlung bei Waldgirmes, nur 20 km östlich des Rheins in Germanien war ein massiver erster Versuch, sich dort festzusetzen. Das ging über die zahlreichen Stand- und Marschlager der römischen Legionen deutlich hinaus und war auf Dauer geplant (vgl. dazu S. 1090). Für die Expansion in den Nordosten gab es, einmal begonnen, kein Zurück mehr. Jede Eroberung bewirkte neue Bedrohungen, die wiederum weitere Aktionen erforderten. Schließlich rückten römische Truppen bis an die Elbe vor, den Strom aufwärts von der Nordsee her und durch das Binnenland auf langen Märschen. Der Abbruch der römischen Militäraktionen nach 16 n. Chr. war die endgültige Aufgabe des imperialen Traums, eine neue Provinz im Vorfeld zu schaffen. Aber nicht alles wurde aufgegeben; weiterhin forderte man fortwährend Tributzahlungen von den rechtsrheinischen Friesen und nutzte das Potenzial des Gebiets für die militärische Versorgung, einschließlich um Getreide, Fleisch, Leder, Metallrohstoffe (Blei) sowie Gesteine zu erhalten und rekrutierte für die Armee Söldner. Man zweifelte also wohl noch länger an der endgültigen Aufgabe dieses Ziel, eine neue Provinz zu gewinnen. Zur Zeit des Todes von Tiberius 37 n. Chr. wurde Germanien nicht notwendigerweise als verloren angesehen, und es mag kein Zufall sein, dass sein Nachfolger Caligula den Rhein überquerte, als er zur Sicherung seiner Machtansprüche einen schnellen militärischen Erfolg benötigte. Kartiert sind die Lokalisierungen von Stämmen um 10 n. Chr. auch am Niederrhein mit der Umsiedlung von Stämmen wie der Usipeter, Tenkterer, Marser und der Chatten sowie der Ubier. Zur Situation von Kelten, Germanen und Römern im Mittelgebirgsraum geht es im Tagungsband zur Romanisierung, woraus einige Ergebnisse von mir zitiert und beschrieben werden.3565 Die Expansionspolitik Roms3566 war wie die jedes Staates mit derartigen Ambitionen abhängig von der Innenpolitik und den wirtschaftlichen Möglichkeiten sowie der Ideologie.
3564 Bleckmann 2009, 232 ff.; dazu Rez. Kehne 2010, 5. 3565 Haffner, v. Schnurbein (Hrsg.) 2000. 3566 Piso 2017; Wendt 2012.
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Hingewiesen wird von I. Piso mit Recht wieder einmal darauf, dass „Imperium“ Herrschaftsgewalt über die Völker meinte, die sich tatsächlich unter der Gewalt der Römer befanden, nicht einfach das Römische Reich; es war eine imitatio Alexandri bei Augustus bis bei Traian; es ging um römische Herrschaftsgewalt. Schon „unter der Republik waren die Konsuln bestrebt, jedes Jahr Siege zu erringen und Beute zu machen“. Römische Kaiser versuchten, „sich vor dem Heer und dem Volk militärisch zu legitimieren“. Kaiser Claudius (41–54 n. Chr.) wünschte die Eroberung Britanniens im Jahr 43 n. Chr., um einen Triumph feiern zu können. Das imperium war eigentlich sine fine, der Limes war sowohl eine lineare Verteidigungslinie und als auch eine Verteidigung in der Tiefe; das war eine „boundary-inwardly oriented“ und eine „frontier, which expands and is outwardly oriented“, was nicht übersetzbar sei, so I. Piso. Die dauernde Besetzung neuer Territorien war eine militärische Aufgabe, wozu vom Althistoriker gefragt wird, ob sie lösbar war; denn es ging um die Truppenversorgung, um Transportwege, um schiffbare Flüsse. Offene Grenzen waren die beliebten Flussgrenzen wie Rhein, Donau und Euphrat, deshalb dachte man in Rom an die Elbe. Nicht alle Territorien waren es wert, erobert zu werden, lautet es bei Appian (2. Jahrhundert n. Chr.), die nicht, wo nichts zu holen war. So wurde Germanien gesehen und politisch bewertet, nachdem die Eroberung nicht gelungen war. Urwälder, Sümpfe und der Nebel des Nordens hatten keinen besonderen Reiz, hieß es als Topos weiter über Germanien und den Norden. Zwischen der antiken Ideologie und dem praktischen Sinn sind damals zwei Möglichkeiten, eine Provinz einzurichten, entstanden, in Germanien und in Dakien. Das rechtsrheinische Germanien wurde, aber nur zeitweilig, zwischen 12 und 9 v. Chr. bis zur Elbe erobert und war nach W. Eck schon bis 9 oder 16 n. Chr. tatsächlich eine reguläre Provinz.3567 Dafür sprächen die zivile Siedlung Waldgirmes und die Errichtung eines Altars in Köln, der von einem Cherusker betreut wurde. Die Fiskalverwaltung für das gesamte Germanien lag im Oppidum Ubiorum, also in Köln. Auch das plumbum Germanicum (vgl. S. 455) sei in diesem Zusammenhang der „römischen Provinz“ zu sehen. Doch scheint es ein Problem gewesen zu sein (oder nur eine Behauptung wegen der Niederlagen), dass die Versorgung einer römischen Armee an der Elbe kompliziert sei. Tiberius drang 5 n. Chr. bis zur Elbe vor, eine Flotte fuhr flussaufwärts auf der Elbe, nachdem Verträge mit Völkern nahe der Elbmündung geschlossen worden seien, so die schriftliche Überlieferung. Ein Problem sei ebenso das notwendige Winterquartier wegen der weiten Rückmärsche; das war das Verhängnis 9 n. Chr. und führte zur Varusniederlage. Deshalb sollte das Reich des Markomannenkönigs Marbod erobert werden, um von Böhmen und von dort weiter nach Norden die Elbe abwärts ins Germanische zu kommen. Nach dem Ende der Versuche, Germanien zur Provinz zu machen, führte die Verringerung der Zahl der Legionen von acht auf vier zur Errichtung des obergermanisch-raetischen Limes, und eine neue Provinz jenseits
3567 Eck 2015.
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des Rheins wurde aufgegeben, als bewusster politischer Wille. Demgegenüber war Dakien schon zuvor ein Klientelkönigtum, es gab Aushebungen von Dakern für die römischen Truppen. Sogar eine steinerne Brücke wurde im 1. Dakerkrieg Traians (101– 102, 105–106 n. Chr.) erbaut. Der 2. Dakerkrieg führte als Ergebnis zur Errichtung der Trajanssäule 112/113 n. Chr. und der Einrichtung der Provinz. Doch auch diese Provinz musste wieder aufgegeben werden, und zwar unter Aurelian (270–275).3568 I. Piso resumiert: „Ohne eine Elite konnten aber auf einheimischer Basis keine römischen Struktur aufgebaut werden“, eine Elite, die den Römern treu war.3569 Das fehlte über die Jahrhunderte in Germanien, im Gegensatz zu Gallien, weshalb Caesar über die keltische zentralisierte Elite dort die Provinzen schaffen konnte (vgl. oben S. 47). Alle Versuche, diplomatisch eine dauerhafte Beziehung zur Elite in Germanien zu schaffen, auch über die Einrichtung von Klientelkönigreichen wie bei den Cheruskern, gelangen nicht.
19.1.1 Römische Germanenkriege und der Einmarsch von Westen Nicht erst unter Augustus erfolgten die massiven Kriegszüge über den Rhein nach Germanien. Schon Caesar hat zweimal den Rhein überschritten, sogar dazu Brücken gebaut und in Germanien Lager ausgebaut. Diese sind inzwischen auch archäologisch gefunden und untersucht worden.3570 Im Siegerland siedelnde Ubier drohten über den Rhein auszugreifen. Daraufhin brandschatzte Caesar 55 v. Chr. die von Sueben verlassenen germanischen Siedlungen, und es entstand ein erstes Lager auf dem Greifenberg bei Limburg-Eschhofen jenseits des Rheins in Hessen. Es grenzte unmittelbar an eine einheimische Siedlung der Spätlatènezeit um 50 v. Chr., in der 2012 Ausgrabungen stattfanden. Im römischen Graben des Lagers lagen aus der Siedlung Mühlsteine, Webgewichte, Schmiedeschlacken und große Steine. Nach 18 Tagen zog Caesar sich wieder zurück. Im Jahr 53 v. erfolgte der zweite Brückenschlag über den Rhein, und Caesar rückte wieder ins Gebiet der Ubier ein. Das zweite Lager wurde auf dem Berg gebaut und die einheimische Siedlung planiert. Das Lager wurde massiv verstärkt mit Graben und pila muralia, archäologisch sind über die Verteilung der Schuhnägel der Patrouillenweg, die via sagularis nachgewiesen. Damit war der erste archäologische Beweis für Caesars Rheinüberschreitungen gelungen. Die römische Armee war perfekt durchorganisiert, trainiert und gut finanziert. Nur als Vergleich mit den zuvor geschilderten Heeren anhand der Heeresausrüstungsopfer sei hier die Aufstellung genannt, mit den Zahlen von 4200 bis 6200 Legionären in einer Legion im Vergleich zu den Truppenaufstellungen der Germanen (oben
3568 Callies 1984. 3569 Piso 2017, 339 Zitat. 3570 Schade-Lindig 2018, 382 Abb. 1.
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Abb. 55) (vgl. S. 668).3571 Während der Römischen Kaiserzeit zählte eine Legion – insgesamt gab es bis zu 50 Legionen, im 3. Jahrhundert noch etwa 35 Legionen gleichzeitig – 5500 Mann. Sie setzte sich zusammen aus der ersten Kohorte mit 800 Mann aus fünf Doppel-Centurien zu 160 Mann, dann der zweiten bis zehnten Kohorte zu je 480 Mann (also 4320 Mann), wobei jede Kohorte aus sechs Centurien bis zu 80 Mann bestanden. Die Reiterei umfasste 120 Mann; außerdem kamen noch Offiziere im Stab und Stabssoldaten sowie Sanitäter und Handwerker hinzu, etwa 250 Mann. Die Auxiliareinheiten umfassten etwa 5000 Mann aus zehn Kohorten und mehreren Reitereinheiten (alae). Zu lesen ist, dass eine Legion mit Hilfstruppen und Tross bei Vollbesetzung bis zu 11 000 Mann gezählt hatte. Seit dem 2. Jahrhundert wurden Auxiliareinheiten neu organisiert als Numeri, die wesentlich geringer bemannt waren. Erinnert sei daran, dass Legionär eine moderne Bezeichnung ist, der einfache Soldat hieß miles gregarius; das moderne Wort leitet sich von miles legionarius her. Was die Ausstattung angeht, so verfügte jede Zeltgemeinschaft, contubernium, aus acht Mann über ein Maultier, das die Ausrüstung vom Zelt bis zum Getreidemühlstein trug. Die Bewaffnung bestand aus einem Kettenhemd oder Schuppenpanzer, einem Helm und einem großen rechteckigen Schild, dann dem Gladius (Kurzschwert bis 50 cm Länge) und ab dem 2. Jahrhundert ersetzt durch die längere Spatha, die zuvor von der Reiterei geführt wurde, außerdem zwei Wurfspeere (pila) oder einen Speer (hasta) und zumeist noch einen Dolch. Zur gesamten Einheit gehörten Katapulte, Ballistae und Onager, auf dem Marsch leichte Geschütze, Karrenbalisten (carroballistae). Die tägliche Marschleistung einer Legion bis zum abendlichen Schanzen mit der Anlage eines Marschlagers betrug 10 römische Meilen, etwa 16 Kilometer, höchstens 20 km. Die Versorgung einer Legion von 5000 bis 5500 Mann auf dem Marsch benötigte rund 5 Tonnen Getreide pro Tag oder anders für fünf Legionen am Tag 16 Tonnen, im Jahr 9600 Tonnen. Da Maultiere nur bis 135 kg tragen konnten und vierrädrige Wagen nur bis 650 kg, ging das bei den Massen an benötigtem Getreide nur per Schiff.3572 Der Sold in Buntmetallmünzen wog insgesamt auch immerhin viele Kilogramm, für eine Legion sogar ebenfalls Tonnen (vgl. oben S. 563). Die Ausrüstung der Armee der Caesaren kann leicht überall nachgelesen werden und ist einige Zeilen weiter oben geschildert.3573 In meinem Zusammenhang ist das Verhältnis römischer Legionäre zum Schwert zu beachten,3574 das seit dem 3. Jahrhundert auch in den Legionen, nicht nur bei den Reitern geführt wurde, ein Einfluss durch die Kriege mit den Germanen. Im Rahmen der Harzhorn-Berichte zum Kriegszug des Maximinus Thrax um 235 n. Chr. wird zwischen einer in den Schriftquellen überlieferten vorausgegangenen 3571 Springer 2014, 13 Abb. 8 Paradeaufstellung einer Legion, 35 Abb. 24; Römisches Geld; Bishop, Coulston 2006. 3572 Jaschke 2009, 197 und Anm. 9. 3573 Th. Fischer 1988; 2012a. 3574 James 2013.
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Schlacht in einem Moor und zum Harzhorn ein Marsch von acht Tagen berechnet. Zwischen Harzhorn und Hedemünden lägen dann drei Marschtage. Eine Karte der militärischen Horrea in Gallien und Germanien in der Zeit des Augustus und Tiberius bis Rötgen an der Weser zeigt,3575 wie systematisch die Sicherung der Versorgung der Armee über die Plünderungen lokaler Ressourcen (frumentatio) hinaus erfolgte, ein normierter Verteilungsmechanismen (annona militaris). Schon seit Caesar gab es für kurze Zeit römische Lager und Kastelle in Germanien, erst spät archäologisch entdeckt in Hessen bei Limburg (vgl. oben S. 996).3576 Die militärischen Unternehmungen unter Augustus begannen mit dem Alpenfeldzug, der über den Septimerpass führte, wo auch ein Lager lokalisiert und archäologisch untersucht worden ist.3577 Die Besetzung der Länder nördlich der Alpen3578 und im gesamten Germanien ist vielfach dargestellt und kartiert worden, nicht nur anhand der Schriftquellen.3579 Es gibt genügend archäologische Forschungen, so zu den römischen Vormarschwegen an der Küste entlang (Drusus 12 v. Chr.), die Lippe aufwärts und zum Main vom Süden her unter Tiberius 6 v. Chr. (oben Abb. 76). Die Größe der Lager ist tabellarisch zusammengestellt: Das Lager Dangstetten am Hochrhein (15/12 bis 9/7 v. Chr.) misst nur 14–15 ha (was kaum für eine Legion reichte), das Lager von Oberaden (11 bis 8 v. Chr.) 54 ha, das von Rötgen (11 bis 8 v. Chr.) 3.2 ha, das von Beckinghausen (11–7 v. Chr.) 1.6 ha, das von Haltern (8/7 v. bis 9 n. Chr.) 18 ha, von Dorlar (9 v. bis 9 n. Chr.) 21 ha, von Anreppen (4/5 v. bis 9 n. Chr.) 23 ha, von Holsterhausen (4/5 v. bis 9 n. Chr.) 50 ha, von Marktbreit (6/9 n. Chr.) 37 ha und schließlich die „Stadt“ Waldgirmes (0–9 n. Chr.) mit 7.7 ha. Die Germanenkriege des Augustus fallen in die Jahre von 12 v. bis 10 n. Chr.;3580 die Strategie und Logistik der römischen Vorstöße sind bekannt,3581 so die Militäroperationen der Tiberiusfeldzüge in den Jahren 4 und 5 n. Chr. sowie die des Germanicus 10 bis 16 n. Chr.3582 Die Vormarschwege führten die Lippe entlang3583 oder durch die Wetterau und die Lahn aufwärts.3584 Die neuesten Befunde sind berücksichtigt, bis hin zu dem späten Feldzug des Maximinus Thrax 235 n. Chr., auf den schon ausführlich eingegangen worden ist (vgl. S. 769) (Abb. 77).3585 Die Römer kamen bis an die Elbe, was gegenwärtig auch
3575 Salido Domínguez 2015 (2016) 187 Fig. 4 Karte der Horrea. 3576 Grönke 2013. 3577 Rageth, Zanier 2010 (2013). 3578 Musil 2005, 212 Tab. 1. 3579 Johne 2006, 151 Abb. Karte Germanien in augusteischer Zeit. 3580 Eck 2014; Rudnick 2017; 2018. 3581 Kehne 2008a, 273 Tab. I: Zusammensetzungen der Legionen, Kohorten und Centurien. 3582 Burmeister, Kaestner 2015; Kehne 2008a; 2017; Rudnick 2018. 3583 Aßkamp 2014; 2017; Bemmann 2008d, 15 Karte der Vormarschwege und Lager; Tremmel 2018, 118 Abb. 1 Farbige Karte Marschlager zwischen Rhein und Weser. 3584 A. Becker 2008; Wegner 2018. 3585 Lehmann 2011; Pöppelmann, Deppmeyer, Steinmetz (Hrsg.) 2013, 136 Abb 1; Moosbauer 2018, 76 Abb. 10.
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Abb. 77: Marschweg der Legionen des Kaisers Maximinus Thrax 235 n. Chr. durch Germanien zum Harzhorn und zurück hinter den Limes.
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archäologisch zu belegen ist.3586 In ihrem geographischen Weltbild und im politischen Bewusstsein der römischen Antike war der Raum bis zur Elbe einigermaßen bekannt.3587 Interessant sind die Kartenbilder, die von der Geschichtsforschung gezeichnet werden, wenn es um die Feldzüge der Zeit des Augustus geht. Der Limes an Rhein und Donau ist eingetragen und dann schaffiert der zu erobernde Raum bis zur Weser und manchmal auch bis zur Elbe.3588 Es gibt zahlreiche Karten zu den Germanenkriegen und Militärlagern zwischen 15 v. bis 25 n. Chr. mit Vormarschpfeilen Main aufwärts nach Marktbreit und von Augsburg aus.3589 Weitere derartige Karten finden sich bei R. Wolters und K.-P. Johne.3590 Es sind die augusteischen und tiberischen Anlagen und die Truppenvorstöße bis zur Elbe, teils werden auf die Karte mit den augusteischen Feldzügen ins rechtsrheinische Germanien auch die Stämme anhand der antiken Quellen eingetragen. Die römischen Feldzüge und Zugwege der Heere sind aufgrund der Kastelle und Marschlager, die gut erkennbare archäologische Spuren hinterlassen haben, daher leicht zu erkennen. Auf der Seite der Germanen gibt es keinerlei Hinweise auf Lager, die deren Heere aber ebenfalls aufgeschlagen haben müssen, eben mit Zelten ohne dauerhafte Spuren und nicht wie bei den römischen Standlagern mit festen Baracken. Daher gibt es zum Marschweg der Kimbern auch keine festen Punkte unterwegs, sondern nur vermutete Strecken auf sich anbietenden Trassen. Gäbe es die römischen Lager nicht, dann wüssten wir über die Kriegszüge ins Innere Germaniens nur über die schriftliche Überlieferung, die zur Notierung der Stammesnamen auf den Karten geführt hat; denn die einheimischen Siedlungen beiderseits der Marschwege zeigen, auch wenn sie ausgegraben sind, keine Vernichtungsspuren. Die Militäroperationen in Germanien zwischen Wissen und Hypothesen sind 2015 in einer Ausstellung zu Germanicus diskutiert worden.3591 Es geht um das Römische Reich unter Augustus nördlich der Alpen bis zur Donau und bis zur Elbe sowie um die gedachten Zugewinne samt der Karten zu den Feldzügen, um die möglichen Szenarien der Marsch- und Versorgungslinien sowie Angriffswege gegen die Cherusker 16 n. Chr. In diese Phase fallen auch die Auseinandersetzungen mit den Markomannen Marbods in der Markomannis östliche des Rheins und bis zur Weser und Elbe. Eine Karte zeigt die Großromstedter Kultur in Thüringen und Böhmen (Schraffur) und der Markomannis mit Streuungen der Fundstellen dieser Großromstedter Kultur
3586 Peschel 2009; Budesheim 2014. 3587 Johne 2006. 3588 Imperium Romanum 2005b, 51 Abb. 33, Limes an Rhein und Donau. 3589 Imperium Romanum 2005b, 45 Abb. 27, Germanenkriege und Militärlager zwischen 15 v. bis 25 n. Chr. 3590 Wolters 2012, 6 Abb. 1; Johne 2012, 37 Abb. 6 und 46 Abb. 9. 3591 Burmeister, Kaestner 2015, 35 Abb. 1 und 41 Abb. 3; Burmeister, Rottmann (Hrsg.) 2015; Burmeister, Kehne 2015; Burmeister, Ortisi (Hrsg.) 2018.
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nach Westen bis zum Rhein.3592 Dabei ist offen, was die Schriftquellen eigentlich mit Markomannis meinen, schon die Besiedlungsgebiete in Böhmen ab 8 v. Chr. oder die Gebiete, durch die der Feldherr L. Domitius Ahenobarbus im Jahr 1 bis zu Elbe gezogen ist. Bevorzugt wird die Gegend von Mainfranken, wo auch das Lager Marktbreit ausgebaut worden ist, oder auch das nördliche Hessen, und die Mainsueben werden außerdem als Reste der Quaden betrachtet. Diese Versuche, archäologische Fundgruppen und -verbreitungen mit Stammesnamen in Deckung zu bringen, sollten aber aufgegeben werden; denn es geht bei den archäologischen Kulturgruppen – wie oben gesagt – doch um Konstrukte der Archäologie anhand von Gräberfeldern und Siedlungsfunden und nicht um politisch-militärisch bewegte Verbände. Karten zeigen die schon gefundenen römischen Marschlager zwischen Rhein und Weser. Das sind länger bekannt an der Lippe von Xanten nach Osten Holsterhausen, Haltern, Oberaden und Anreppen bis in die Gegend von Paderborn und neu 2008/2010 entdeckt das Lager bei Olfen-Sülsen am Hochufer der Lippe zwischen Haltern und Oberaden. Dieses Lager hat eine Ausdehnung von 250 auf 150–250 m und ist mit rund 5,4 ha eine kleinere Anlage. Etwa 110 Bronze- und Silbermünzen, davon 80 Nemausus-Dupondien, datieren den Platz in die Jahre zwischen 11 und 8/7 v. Chr.3593 Weiter östlich kommt das Lager von Sparrenberger Egge bei Bielefeld bzw. Bielefeld-Sennestadt, entdeckt 2017, hinzu; der noch erhaltene Wall ist etwa 1400 m lang, hatte eine polygonale Form, wird ebenfalls augusteisch datiert. Die Größe dieses Lagers beträgt 26 ha, was für drei römische Legionen inklusive Hilfstruppen, für etwa 25 000 Menschen ausreichend gewesen ist.3594 Das Lager Barkhausen liegt dann schon an der Weser nahe der Porta Westfalica und schließlich wurde nahe Wilkenburg bei Hannover ein Lager entdeckt und bei Hachelbich im Kyffhäuserland in Thüringen (vgl. unten S. 1004). Das Netz an den Vormarschstraßen verdichtet sich laufend.3595 Das erst jüngst 2016 entdeckte Marschlager bei Wilkenburg südlich von Hannover ist in mehreren Vorberichten veröffentlicht. Eine annähernd quadratische Grabenanlage von 500 auf 600 m und ein Spitzgraben von 1,3 m Tiefe unter der heutigen Oberfläche sind dokumentiert.3596 Die knappe Breite von 20 cm in der unteren Grabensohle bestätigt, dass er als Reinigungsgraben erkannt eine längere Nutzung bestätigt. Mit Metalldetektoren sind bis Ende 2017 über 2500 Buntmetallfunde entdeckt und von R. Lehmann untersucht, darunter 70 kleine Militaria und außerdem 70 keltische und römische Münzen (bei den noch fortgesetzten Prospektionen ändern sich die Zahlen).3597 Der älteste Denar wurde 113/112 v. Chr. geprägt,
3592 Kehne 2001c, 322 Abb. 26. 3593 Tremmel 2018, 118 Abb. 1 Karte der Marschlager; 2015 Olfen-Sülsen. 3594 Tremmel 2018, 118 Abb. 1 Karte der Lager; Tremmel, Schubert 2018 (2019). 3595 Römer und Germanen in Nordwestdeutschland 2015; Vonend 2015; Haase 2012. 3596 Haßmann, Ortisi, Wulf 2016, 21 f. Luftbild. 3597 Wulf, Lehmann 2017; Wulf 2018a, 127 f.; Haase 2011; 2012; 2014 (2017), Wilkenburg und Oberricklingen.
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die jüngste Münze zwischen 2 und 1 v. Chr. unter Augustus.3598 Die zahlreichen keltischen Münzen fallen auf, was den Platz vom Bestand in Hedemünden und Kalkriese her deutlich unterscheidet. Hier gibt es keine Gegenstempel des Varus, die militärischen Ereignisse gehören eher zu den Drusus-Feldzügen 12–9 v. Chr. bzw. dann später von 1 bis 6 n. Chr. Die Münzfunde von Wilkenburg spiegeln übersichtlich die damalige Kleingeldversorgung in Gallien und Germanien.3599 Im Marschlager sind 20 Kleinerze, darunter keltische Aduatuci-Münzen, gefunden worden; man findet sie in den frühkaiserzeitlichen Lagern als Kleingeld der römischen Soldaten. Da das neue Kleingeld, der Quadrans, von Augustus eingeführt, Gallien und Germanien noch nicht erreichte, liefen dort stattdessen einheimische Prägungen um, die das gleiche Gewicht und die gleiche Größe hatten. Inzwischen liegen schon metallurgische Analysen zu den zahlreichen Kleinobjekten aus dem Lager bei Wilkenburg vor.3600 Hingewiesen sei auf den 3 cm großen vollplastischen Wolfskopf3601 und auf die Münzfunde.3602 Ein Marschlager ist sogar in Thüringen im Tal der Wipper bei Hachelbich im Kyffhäuserland entdeckt worden, dessen Spitzgraben auf über 425 m erfasst ist und eine Größe von mindestens 18 ha erschließen lässt.3603 Ausgegraben sind mehrere Backöfen, auch Schuhnägel und weitere Buntmetallgegenstände römischer Provenienz wurden gefunden, und eine Fibel wird in die Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. datiert. Dieses späte Datum weist, so der Berichterstatter, auf die Chattenfeldzüge in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts hin oder auf noch spätere Ereignisse, da am Ort auch Fibeln des 3. Jahrhunderts geborgen werden konnten. Die Datierung und der militärgeschichtliche Zusammenhang sind noch offen, das Lager entstand entweder während der Chattenfeldzüge des 1. Jahrhunderts oder erst im 3. Jahrhundert, parallel zu dem militärischen Marsch durch Germanien unter Maximinus Thrax. Eine ausführliche Schilderung verdient das Lager Hedemünden in Südniedersachsen, das von Klaus Grote entdeckt, ausgegraben und mit den Befunden und Funden vom Ausgräber vorgelegt worden ist (vgl. auch S. 781).3604 Er schildert die römischen Marschwege und zudem die römischen Beobachtungsposten auf Nachbarbergen zu Hedemünden.3605 Die Gesamtanlage besteht aus einem oval verlaufenden Wall mit Graben von ca. 325 m Nord-Süd- und ca. 135 m West-Ost-Erstreckung (I); hinzukommen Annexwälle nach Süden zur Werra (II) und benachbart weitere Fundkonzentrationen (III bis VI). Ausführlich sind die topographischen Befunde
3598 Wulf 2018b, 103, 104 die Münzen, 105 zur Datierung, 2017 (2019). 3599 Werz 2018c. 3600 Lehmann, Barz 2018, 136–140 Abb. 2 bis 6. 3601 Wulf, Lehmann 2017. 3602 Wulf 2018. 3603 Küssner, Schüler 2014, 6; Moosbauer 2018, 83 und 76 Abb. 10 Karte mit Lage von Hachelbich. 3604 Grote 2006; 2007; 2008; 2012 und zuletzt 2014 mit farbigen Plänen. 3605 Grote 2015; Baatz 2014, 230 Abb. 1.
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und die Ausgrabungen sowie das Fundmaterial von K. Grote publiziert worden. Zeitweilig war Hedemünden der östlichste bekannte Platz des römischen Vormarsches, der gefunden worden war. Als Zwischenstation interpretiert wurde dieser Vorposten römischen Vormarschs weitgehend akzeptiert. Doch es gibt andere Vorschläge und Erklärungen für den eindrucksvollen Befund, was zur Kontroverse über die Deutung des Platzes zwischen D. Baatz, S. v. Schnurbein und dem Ausgräber K. Grote geführt hat. Die Datierung der Objekte führt in die Zeit der Drusus-Feldzüge, aber nach S. v. Schnurbein unterscheidet sich die Fundzusammensetzung deutlich von dem römischer Stützpunkte, was auch weitere Archäologen so sehen. Nach D. Baatz3606 müssen zudem nicht alle Sandalennägel zu Legionären gehört haben, auch kultische Deponierungen der Sachgüter am Ort wären denkbar, weil die Waffen deformiert seien, so dass auch ein germanischer Opferplatz in Frage kommen könnte. Mehrere römische Pionieräxte, die Dolabrae, sind absichtlich unter dem Wall abgelegt worden; Gruben wurden mit Steinplatten abgedeckt. S. v. Schnurbein fällt vor allem auf, dass bei den vier verschiedenen Lagern die Achsen der rekonstruierten Gebäude schräg zu den nachgewiesenen Durchgängen bzw. Tore verlaufen, was in der gesamten römischen Architektur nicht vorkommen würde.3607 So begnügt sich K. Grote inzwischen auch mit der Bewertung, dass statt Lager auch neutrale Bezeichnungen wie Stützpunkt, Versorgungsbasis, Etappenstation oder Refugium gewählt werden können. Chr. W. Karl bewertet noch einmal die Funde, die Pionieräxte, die Münzen und vor allem auch die Sandalennägel mit Blick auf diese unterschiedlich möglichen Deutungen der großen, gut erforschten Anlage.3608 Genannt werden müssen auch die Militäroperationen der Augustus-Zeit vom Westen den Main aufwärts und zugleich von Süden von der Donau aus, was zur Anlage des großen Zwei-Legionen-Lagers von Marktbreit geführt hat, mitten im germanischen Gebiet und auf dem Wege ohne genaue Stammeskartierungen – manchmal findet man die Hermunduren dort eingetragen – durch weiße Flächen leitend. Ausgrabungen und Prospektionen erfolgten in den Jahren 1986 bis 1993. Marktbreit in Mainfranken liegt immerhin 140 km Luftlinie und rund 280 km zu Wasser von Mainz entfernt; die Entfernung nach Süden ist auch nicht wesentlich geringer. In Marktbreit sind zwei Lager, ein älteres etwa 9 ha großes und ein jüngeres, sogar 37 ha großes Lager, entdeckt und teilweise ausgegraben worden, gedacht für mehrere Legionen. Der Umriss ist unregelmäßig, datiert wohl in das Jahr 6 n. Chr. und war nur zeitweilig besetzt (zur Lage auch Abb. 76).3609 Ein weiterer Aspekt, dass dabei der Weg der römischen Einheiten von Süden vom Lech nach Marktbreit am Main, Ldkr. Kitzingen, durch ein Gebiet zwischen Kelten
3606 Baatz 2014. 3607 v. Schnurbein 2014 (2015). 3608 Karl 2018. 3609 Wamser 1991; Pietsch, Timpe, Wamers 1991; Pietsch 2001; v. Schnurbein 2000; Steidl 2004.
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und Germanen führte, durch das Areal von frühen Siedlungen mit germanischen Bewohnern.3610 Es handelt sich um die Siedlungen Gaukönigshofen, Ldkr. Würzburg, der späten Latènezeit und der frühen Römischen Kaiserzeit. Es ist noch die Zeit der germanischen Einwanderung (um 40/30 v. Chr.) nach Süden ins ehemals „keltische“ Gebiet. In der Siedlung von Gerolzhofen, Ldkr. Schweinfurt, stand ein Gehöft der Großromstedter Kultur.3611 Römische Scherben von Amphoren fanden sich in Gaukönigshofen, auch Fibeln aus dem Gebiet vom linken Niederrhein, und zwar frühe Augenfibeln, die nach dem Vorbild der römischen Aucissafibeln gefertigt worden sind. Ziel der Kriege unter Augustus mit den verschiedenen Vormarschwegen, die zusammengewirkt haben, war durchaus die Gründung einer Provinz Germanien bis zur Elbe, wie oben beschrieben.3612 Dazu äußert sich 2019 der Althistoriker Werner Eck archäologisch und historisch.3613 Es gibt römische Dolche aus dem Lager bei Hedemünden an der Werra, Teile vom römischen Pferdegeschirr aus Bentumersiel an der Ems. Im Jahr 9 v. Chr. stand Drusus mit den Legionen an der Elbe, an einer Grenze, die Augustus in seinem Tatenbericht 14 n. Chr. bekräftigt hatte. Dahin führten die frühen Lager in Germanien wie Hedemünden, Olfen an der Lippe und bei Barkhausen an der Porta Westfalica. Tiberius zwang im Jahr 8 v. Chr. die Sugambrer, auf das linke Rheinufer überzusiedeln und erreichte schließlich die weitgehende Unterwerfung der Stämme zwischen Rhein und Elbe. Er feierte einen Triumpf in Rom, und Drusus wurde posthum mit dem Siegernamen Germanicus geehrt. „Es war eine neue römische Provinz erobert, die den Namen Germania trug“. Wie weit war die Einrichtung dieser Provinz gekommen? Der Cherusker Segimundus war in Köln, im oppidum Ubiorum im Kultbezirk, Priester: „Er war von den Vertretern der germanischen Stämme dazu gewählt worden“, und er floh nach der Varus-Niederlage wieder zu seinem Stamm. Haltern war zunächst ein militärischer Stützpunkt: Die Innenausbauten im Lager lassen aber viele Wohnkomplexe für höhere Offiziere, Tribunen und Zenturionen erkennen, und die Zahl dieser Häuser war so groß, dass die Bewohner eher für die Beherrschung und Organisation des unterworfenen Gebietes gedacht waren. Der Platz war auf dem Weg zur Stadt mit 7 ha Größe, vergleichbar mit dem bei Waldgirmes seit 1993 ausgegrabenen Ort (vgl. unten ausführlich S. 1090), der seit 4 v. Chr. ausgebaut wurde. Nach Meinung von W. Eck waren die Bewohner aber hauptsächlich Germanen, was andererseits wohl eher daran gelegen hat, dass aus dem umliegenden germanischen Gebiet die Versor-
3610 Steidl 2009, 140 Abb. 14 Vormarschstraße von Süden zu den römischen Militärstützpunkten, 144 Abb. 16 Lager Markbreit. 3611 Steidl 2007a, 328 Abb. 274: Gehöft. 3612 Eck 2008. 3613 Eck 2019, 44 ff., 46 Zitat, 47 Zitat zum Blei, 49 Zitat.
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gung des Ortes erfolgte, was Sachgüter wie Keramik in die Siedlung brachte. Es geht hier auch um Blei (dazu oben S. 455 ff.): Auf einem Bleibarren aus Soest wird ein Römer genannt, dessen Name auch auf Barren steht, die im Meer vor der Rhonemündung geborgen wurden: Lucius Flavius Verucla; er hat plumbum Germanicum produziert […]. Daraus wird klar, dass Augustus teilweise durch eigenes Personal, teilweise aber auch durch Pächter germanisches Blei ausbeuten ließ.
Nach der schriftlichen Überlieferung folgt, dass bei den Cheruskern Auseinandersetzungen zwischen den Familien zweier Stammeshäuptlinge, des Arminius und des Segestes, bezeugt sind. Dabei ist es wichtig, dass beide bereits das römische Bürgerrecht erhalten hatten, also Vollbürger Roms geworden waren. Auf diese Weise sollte gerade die Stammesaristokratie an Rom gebunden werden. Nach der Varus-Niederlage wurde “aus dem rechtsrheinischen Teil der Provinz Germania, die für rund zwanzig Jahre zum Imperium gehört hatte, wieder eine Germania libera, das freie Germanien“. Weiter gab es „mit den rechtsrheinischen Stämmen […] Handelsverbindungen, was auch dadurch deutlich wird, dass am Rhein Zoll auf den Handel mit dem freien Germanien erhoben wurde”.
Hingewiesen sei auf den Britannienfeldzug des Kaisers Claudius, weil zu seinem Rückmarsch 2018 archäologische Befunde vorgelegt worden sind, anhand eines dendrodatierten Bohlenwegs durch ein Moor in Bayern 43 n. Chr. Der Rückweg führte am am Rhein entlang nach Süden.3614 Die Kriege mit und gegen Germanen gingen weiter, bis ins 3. Jahrhundert. Am Anfang gab es den Aufstand der Friesen (28 n. Chr.), es folgte der Krieg gegen die Chatten und Chauken unter Claudius (41–54 n. Chr.), dann die Revolte unter Civilis und den Batavern (69–70 n. Chr.) am Niederrhein, der gegen die Chatten (83 und 85 n. Chr.) unter Domitian (81–96 n. Chr.), gefolgt von der Einrichtung der Provinzen Ober- und Niedergermanien (um das Jahr 85 n. Chr.).3615 Und dann sind da noch die die späten Feldzüge, zu denen die Ereignisse am Harzhorn in Niedersachsen 235 unter Maximinus Thrax gehören (vgl. S. 1015 ff.). Im Zuge der Überlegungen zu den Standorten der römischen Einheiten ala I Hispanorum Auriana und cohors VIIII Batavorum milliaria exploratorum equitata im 2. und 3. Jahrhundert3616 erläutert C. S. Sommer 2017 die Tagesreichweiten berittener Truppenteile vor und hinter dem obergermanisch-raetischen Limes (es geht um die Aktionsradien nach 160 n. Chr.) mit den genannten Truppenteilen in Weißenburg und Kösching. Sie erreichen gerade auch die germanischen Siedlungen an Jagst und Tauber wie Gaukönigshofen und Gerolzhofen vom Süden aus.
3614 Zanier 2018a; 2018b, 11 Abb. mögliche Reiseroute im Jahr 43/44 n. Chr. am Rhein entlang. 3615 Moosbauer 2018, 40. 3616 C. S. Sommer 2017, 99 Abb. 7.
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19.1.2 Marbod, die Markomannenkriege und der römische Einmarsch von Süden Böhmen und Mähren wurden von Süden aus mit militärischen Vorstößen überzogen. Es boten sich da die Marchstraße (Morava) in Mähren und die Waagstraße in der heutigen Slowakei an (Abb. 78).3617 Die römischen Einrichtungen, zumeist Militäranlagen, führten aufgereiht von Carnuntum und von Brigetio an der Donau aus nach Norden flussaufwärts beispielsweise bis in die Gegend rund um Mušov (vgl. oben S. 925 und unten S. 1098), eigentlich in die Siedlungsgebiete der norddanubischen Sueben im 2. Jahrhundert und deren Siedlungen. Die römischen Einrichtungen gerieten an- und ineinander. An anderer Stelle wird die Gemengelage zwischen germanischen und römischen Siedlungsplätzen näher erläutert (vgl. unten S. 1007). Aber schon zuvor zogen die Römer gegen das Marbodreich (um und nach 5 n. Chr.).3618 Marbod und die frühen Markomannen sowie zahlreiche andere Stammesteile bzw. Kriegerverbände kamen nach der Abwanderung aus dem Machtbereich Roms bzw. der Zwangsumsiedlung und Zerschlagung der Swebenmacht unter Tiberius nach Böhmen bzw. wichen dorthin aus.3619 Die Reichsbildung des Marbod (8 v. Chr. bzw. 5 n. Chr. bis 18 n. Chr.) im damals anscheinend siedlungsarmen Böhmen stützte sich unter seiner Gefolgschaftsführerschaft neben Markomannen auf weitere Swebengruppen wie Lugier, Semnonen, Hermunduren, Boutones, Goten und Rugier. Die Ausbildung des fast unglaublich groß wirkenden Heeres des Marbod mit 70 000 Mann und der in antiker Überlieferung römischen Ausbildung halten Historiker für unhistorisch, eben auch für einen Topos.3620 Römische Vormarschstraßen und Befestigungsbauten im heutigen Österreich wurden angelegt,3621 um einen Militärschlag gegen die Markomannen und Quaden, gegen diese frühe Markomannia zu führen.3622 Jaroslav Tejral hat sich in zahlreichen Abhandlungen mit der germanischen Siedlungsentwicklung in Mähren befasst, und zwar was den archäologischen Niederschlag dieser frühen Zeit vor den eigentlichen Markomannenkriegen in der zweiten Hälfte des 2.Jahrhunderts angeht,3623 beginnend mit der Zeit des Marbod im Gebiet nördlich der mittleren Donau.3624 Die ersten Auseinandersetzungen zwischen Römern und Germanen hier an der mittleren Donau gegen Marbod 6 n. Chr. hat auch Titus Kolnik aus archäologischer Sicht beschrieben.3625 Die 3617 Tejral 2006, 149 Abb. 20; 2008a, 73 Abb. 2 Kartierung, 94 Abb. 31; Komoróczy 2009, 115 Abb. 2; neu jetzt: Komoróczy, Vlach 2019, 26 Abb. 1 Kartierungder Lager von Carnuntum bis Mušov und weiter in den Norden. 3618 Droberjar, Salač 2000; Tejral 2009a; Salač, Bemmann (Hrsg,) 2009. 3619 Kehne 2001b; 2009b. 3620 Bleckmann 2009, 117 und dazu die Rez.von P. Kehne. 3621 Stuppner 2008d; 2009. 3622 Komoróczy 2005; 2009; 2016. 3623 Tejral 1998. 3624 Tejral 2008a; 2009a; Salač, Bemmann (Hrsg,) 2009. 3625 Kolnik 1991.
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Abb. 78: Die römischen Militäreinrichtungen und Ausrüstungsgegenstände nördlich der Donau.
Forschung verknüpft den üblichen archäologischen Quellenbestand mit Grabfunden und Keramik und auch Siedlungen unmittelbar mit den Ethnien der Markomannen und Sueben der älteren Kaiserzeit.3626 K. Elschek hat die Situation nahe der slowakischen Grenze und zwar die spätlatène- und römerzeitliche Besiedlung des linken Ufers der March (Morava) beschrieben. Dabei stehen im Mittelpunkt die Fürstengräber der Lübsow-Gruppe von Zohor (vgl. oben S. 923). Aufgrund der Siedlungsdichte, dem reichhaltigen Sachgut in den Siedlungen und der Fürstengräber postuliert er hier mit guten Gründen ein germanisches Herrschaftszentrum.3627 Die Verdrängung der „keltischen“ Bevölkerung durch „germanische“ Gruppen ist archäologisch mit der Púchov-Kultur verbunden.3628 Sie ist während der späten 3626 Wnuczek 2012. 3627 Elschek 2002; 2006; 2009; 2012: 2013; 2014; 2015; 2016a, b. 3628 Pieta 2003, 598 Abb. 99 Verbreitungskarte.
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Latènezeit und etwas reduziert während der älteren Römischen Kaiserzeit in der heutigen Slowakei und an den Flüssen Waag und Graan verbreitet. Es ist eine Mischkultur mehrerer zeitlich und räumlich variabler ethnischer und kultureller Gruppierungen. Es gab, so meinte die Archäologie, mehrere Migrationswellen der Mitteldonaukelten bzw. der Daker, und während der beginnenden Römischen Kaiserzeit machten sich germanische Einflüsse (der Quaden) bemerkbar und ebenso solche der PrzeworskKultur. Die keltischen Kotiner waren bekannt durch ihre Eisengewinnung, so die schriftliche Überlieferung. Zu bedenken ist, dass die Definition dieser Kultur in den 1930er Jahren erfolgte; es war damals eine typische Mischkultur eines Berggebietes am Rande der Latène-Zivilisation und ging in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr. unter. Der hohe Stand der Schmiedetechnik hatte den Rang wie auf den Oppida; Massenfunde von Eisengerät und Werkzeugen sind überliefert (vgl. auch S. 618 f.). Als Problem wird die eigenartige Erscheinung gesehen, dass während der Spätlatènezeit in Mitteleuropa nämlich Gräber und Gräberfelder fehlten, was ebenfalls bei der Púchov-Kultur beobachtet wird, auch wenn es einige Körpergräber geben haben soll. Die während der späten vorrömischen Eisenzeit entstandene Púchov-Kulur existierte bis in die Zeit der Markomannenkriege im 2. Jahrhundert n. Chr. Damit verknüpfte die archäologische Forschung wiederum Ereignisse der schriftlichen Überlieferung mit einer Kulturfacies. Mit der Einwanderung der Germanen erschienen wieder Gräber und Gräberfelder in der Südwestslowakei, zumeist Urnengräber, und auch jetzt Körpergräber. Diese neuen Bestattungssitten auf dem Gebiet der Púchov- Kultur erschienen am Anfang des 1. Jahrhunderts n. Chr.3629 Die Leute der Großromstedter Kultur, die nach Böhmen einzogen, deckten nicht sehr zahlreich das ehemals keltische Milieu ab. Die Kultur entstand archäologisch im Saale-Elbe-Gebiet wohl schon vor der Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. und erschien etwa in den Jahren 40/20 v. Chr. in Böhmen.3630 Die Großromstedter Kultur und ihre Verbindung zum Markomannenkönig Marbod haben P. Kehne und V. Salač 2009 dargestellt und zugleich betont, dass Arminius zur rhein-weser-germanischen Kultur gehören würde und Marbod zur elbgermanischen Kultur. Chronologisch können es zeitliche Parallelen gegeben haben, aber kulturgeschichtlich betrachtet – so meine ich – ist diese Gleichsetzung von großräumigen archäologisch erarbeiteten Kulturerscheinungen und schriftlich überlieferten kurzfristigen Ereignissen methodisch kaum zu begründet.3631 Hilfreich ist die Chronologie-Tabelle zu Archäologie und Geschichte
3629 Próhaszka 2017. 3630 Kehne, Salač 2009, 116 mit Lit. 3631 Kehne, Salač 2009, 117 Abb. 2 Besiedlung Böhmens kurz vor. Chr. Geb. und in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr., 121 Abb. 5 Kartierung der Rhein-Weser-Germanen und der Elbgermanen (sowie der anderen Kulturgruppen wie die Nordseeküsten-Germanen, die Gustower Gruppe an der Oder und der Przeworsk-Kultur).
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der Jahre von 10 v. Chr. bis 10 n. Chr. zu Böhmen.3632 Die Großromstedter Kultur in Böhmen wird bis zur Zeitenwende eingetragen, gefolgt von der Kultur der älteren Römischen Kaiserzeit (B1a, bis 20 n. Chr.). Danach reicht Marbods Reichsbildung von 9 v. Chr. bis 19 n. Chr. (Es ist historisch die Zeit der Schlacht zwischen Arminius und Marbod 17 n. Chr., der Vertreibung Marbods 19 n. Chr. aus Böhmen und der Tod des Arminius 19 oder 21 n. Chr.). Da die Markomannen in Böhmen, nach ihrer Übersiedlung und neuen Reichsbildung, über Jahrzehnte eine Bedrohung Roms gewesen sind, werden die verschiedenen Kriege zumeist auch zusammen beschrieben. Es gibt die frühen Auseinandersetzungen unter Marbod,3633 verbunden mit dem weiten Vordringen von Römern nach Norden, und die späten Kriege bis zum bellum Suebicum unter Domitian (81–96) und Nerva (96–98), ehe dann die meist unter dem Namen „Markomannenkriege“ zusammengefassten Feldzüge des Marc Aurel (161–180) von 166 bis 180 die Situation zu ändern begannen.3634 Wie J. F. Drinkwater meint,3635 war es auch vor den Zügen von Franken und Alamannen immer wieder Rom, das Kriege nach Germanien hineintrug, und die sogenannten Markomannenkriege waren u. U. erst durch einen solchen Vorstoß Marc Aurels über die Donau weit nach Norden verursacht. Sowohl H. W. Böhme als auch P. Kehne bieten Karten zu den Kriegszügen während der Markomannenkriege im 2. Jahrhundert.3636 Denn Markomannen und Quaden führten auch selbst Kriegszüge über die Donau ins Reichgebiet durch bis Aquileia, was gewissermaßen erstmals wieder seit den Kimbern 101 v. Chr. jetzt geschah. Ein markomannisches Heer wurde 171 n. Chr. vernichtet, das auf dem Rückmarsch mit Beute beladen über die Donau setzen wollte: Die Gegner wurden hingerichtet oder auf römischem Boden angesiedelt (Historia Augusta, Marcus Aurelius 21,10).3637 Die Markomannenkriege brachten Rom in Not,3638 während der zweiten Phase der Kriege wurde beispielsweise das in Holz-Erde-Technik errichtete Kastell von Iža in der Slowakei nur wenig nördlich der Donau gegenüber Brigetio an der Waag 178/179 n. Chr. zerstört und erst nach den Kriegen in Stein wieder aufgebaut, wie der Münzspiegel beweist. In der Umgebung sind immerhin fünf Feldlager, in der Gegend um Brigetio sogar 18 Feldlager nachgewiesen.3639 Eine Chronik der einzelnen Abschnitte dieser Kriege bietet P. Kehne für die Jahre 166 bis 180 n. Chr.,3640 ebenso werden die unterschiedlichsten Ursachen und Gründe aufgeführt.3641 Es waren die wirtschaftliche Erstarkung der Germanen und das 3632 Kehne, Salač 2009, 120 Abb. 4. 3633 Kehne, Tejral 2001a; b; Kehne, Salač 2009. 3634 Tejral 1995–1996; Kehne, Tejral 2001a; Tejral 2001b; historisch zu Marc Aurel jetzt Demandt 2018. 3635 Drinkwater 2007. 3636 Böhme 1975, 163 Abb. 2; Kehne 2001c, 322 Abb. 26 Karte. 3637 Rajtár 1992; Moosbauer 2018, 27. 3638 Kehne 2009c. 3639 Moosbauer 2018, 33. 3640 Kehne 2016. 3641 Kehne 1994.
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Bevölkerungswachstum. Der Druck auf die Grenzen nahm deutlich zu; die Abschüttelung der klientelen Abhängigkeiten von Rom wurde von den Germanen angestrebt, der Reichtum in den Provinzen lockte, gespiegelt in den sogenannten stipendiae, der immensen Summen von Geld, die als „Tribute“ an die Germanen gezahlt wurden, wie die schriftliche Überlieferung sagt. Zudem entstand ein Dominoeffekt, der Druck durch Kriegerverbände der Goten und Vandalen, von den Elbgermanenstämmen, den Langobarden bildeten zusätzlich einen Grund für die Markomannenkriege, die ausbrachen, als die Legionen in den Osten verschoben worden waren gegen die Parther und die Langobarden und Markomannen tatsächlich gegen Rom vorgingen.3642 Die Markomannenkriege3643 waren sicherlich aber auch eher eine Reaktion von sich bedroht führenden Verbänden und Siedlungsgemeinschaften in Germanien selbst als eine direkte, gezielte Bedrohung Roms und den Versuchen einer Landbesetzung. Beutezüge von Kriegergruppen können als Vergeltung angesehen werden. Römische Offensiven in den Jahren 172–175 und wieder 178–180 führten etwa 80 km tief ins germanische Binnenland, wo die zentrale Befestigung am Burgstall bei Mušov errichtet wurde, als Kommandozentrale und logistische Basis für eine große Armee; verbunden damit war eine Dislokalisation römischer Truppen in der Markomannia (vgl. unten S. 1079). Wiederholt wurden römische Lager unmittelbar an der Stelle germanischer Siedlungen ausgebaut, die zuvor geräumt worden waren. Welche diplomatischen Beziehungen sich zwischen Germanen und Römern entwickelt haben, ist archäologisch kaum zu fassen. Die Klientelstaaten im Nordgrenzenbereich des Imperiums zu gewinnen, war durchaus ein politisches Ziel des Imperiums vom 1. bis 3. Jahrhundert. Wie weit das gelungen ist, hat Peter Kehne untersucht, wenn er von externae gentes und regna intra fines spricht.3644 Das wird schon bei der Einordnung des „Königsgrabes“ von Mušov deutlich (vgl. S. 925). Ein Klientelstaat der Quaden in Abhängigkeit von Rom kann verabredet worden sein,3645 wofür vielleicht direkt der Kessel im Grab von Mušov mit den Swebenköpfen produziert ist. Es gab germanische „Könige“ unter Roms Einfluss.3646 Ein Sesterz des Antoninus Pius schon aus den Jahren 140–144 trägt auf der Rückseite die Inschrift REX QUADIS DATUS („den Quaden wurde ein König gegeben“), er war von der römischen Seite eingesetzt und später von den Quaden jedoch wieder abgesetzt worden. Auch ein König Furtius wurde wieder abgesetzt und ein eigener König Ariogaesus eingesetzt, den Marc Aurel wiederum nicht bestätigte.3647 Das „Königsgrab“ von Mušov war sehr opulent mit Beigaben ausgestattet, noch 200 Objekte sind trotz Beraubung geblieben. In den
3642 Olędski 2014. 3643 Kehne, Tejral 2001, § 2. Archäologisches 316 ff., 319 Abb. 25 Karte der römischen Kastelle und Stützpunkte; Friesinger, Tejral, Stuppner (Hrsg.) 1994; Komoróczy, Vlach, Hüssen 2018. 3644 Kehne 2000. 3645 Bouzek 2004, Abb. 1 Kessel von Mušov. 3646 Komoróczy 2016. 3647 Moosbauer 2018, 31; Göbl 1961.
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umgebenden Siedlungen fand man überall feine pannonische Drehscheibenkeramik, auch Terra Sigillata und außerdem bronzene Trachtbestandteile. Das Gebiet lag an der Bernsteinstraße und war auch mit Blick auf Handelsverbindungen eine privilegierte Zone in Mähren. Und, so zitiere ich G. Moosbauer: Aus strategischen Gründen wurde den Quaden auch verboten, Märkte zu besuchen. So sollte verhindert werden, dass Kundschafter germanischer Stämme auf römischen Märkten spionierten. Konflikte mit weiteren germanischen Stämmen wurden diplomatisch beigelegt. Sie wurden teilweise in Germanien, Pannonien, Dakien, Moesien und Italien angesiedelt, andere integrierte man ins römische Heer. Anschließend konzentrierte man sich auf die Ausschaltung der Markomannen, die noch im selben Jahr (172 n. Chr.) besiegt wurden.3648
Schon vor Jahren hat H. W. Böhme 1975 archäologische Zeugnisse zur Geschichte der Markomannenkriege zusammengestellt und war davon ausgegangen, dass man diese Kriege auch im Fundstoff und seiner Verteilung erkennen könnte.3649 Das wird im Übrigen bis heute mit wenig Erfolg oder nur unter „gezwungener“ Interpretation weiter versucht, beispielsweise in der Bewertung der Waffenfunde.3650 Die genannte Kartierung von H. W. Böhme zeigt die Herkunftsgebiete der quadisch-markomannischen Vorstöße nach Oberitalien im Jahr 166/167 (vgl. oben S. 1008). Andere Kartenbilder bringen, beim Forschungsstand von 1975, die germanischen Fundstellen in Böhmen und Mähren in den Phasen B 1 (1./2. Jahrhundert). sowie im 3. Jahrhundert. Damals war es noch möglich, in Germanien die Elbe abwärts die Vorkommen von Kettenpanzern und Ringknaufschwertern als Auswirkungen der Markomannenkriege zu deuten.3651 Und noch 1991 gab es dieselbe Interpretation anhand der Verbreitung der tauschierten Stuhlsporen aus dem Grab von Mušov, die vor allem in Jütland und im weiteren Ostseegebiet vorkommen.3652 Von hier aus gelangten sie anscheinend aus dem langobardischen Gebiet an der Niederelbe, an die drei Fundorte in Mähren, und zwar als Beleg für die Beteiligung von Kriegern aus diesem Areal an den Markomannenkriegen. Es soll sogar möglich sein, den Niederschlag der Markomannenkriege im Fundstoff von kaiserzeitlichen Siedlungen in Mähren erkennen zu können, wobei es um Datierungsfragen geht, nämlich um den Übergang der Phase B2 zu C1 (also nach 160 n. Chr.),3653 wieder eine zu rasche Verknüpfung von Ereignisgeschichte und kaum so eng zu datierenden archäologischen Befunden. Denn die Markomannenkriege brachen nicht plötzlich aus, sondern schon Antoninus Pius (138–161) verstärkte die Grenzen bzw. schob den Limes 30 km weiter vor. In Britannien wurde 140 n. Chr. der Antoninus-Wall gebaut (vgl. S. 1028), und der obergermanisch-raetische Limes erhielt
3648 Moosbauer 2018, 30. 3649 Böhme 1975, 163 Abb. 2. 3650 Kaczanowski 1994. 3651 Böhme 1975, 214 Abb. 21; Raddatz 1959/61 (1961), 53 Abb. 13 Karte. 3652 Böhme 1991, 296 Abb. 2; und wieder Th.Fischer 2012; Tejral 2002b. 3653 Droberjar 1994 und wieder 2015.
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im Verlauf der 150er Jahre n. Chr. einen neuen Verlauf. Es gab Bevölkerungsverschiebungen bei den Dakern im Rumänien, wohin Germanen vordrangen, und ebenso in Südwestdeutschland, wo die Besiedlung durch „Elbgermanen“ südlich des Mains vor dem Limes zunahm.3654 Wenn überhaupt, dann haben viele Jahrzehnte römischer Bedrohung sich in Germanien ausgewirkt, nicht nur die Markomannenkriege. Schon seit langen bemüht man sich also, einen solchen archäologischen Niederschlag dieser Kriege aufspüren zu können, an dem auch aus dem Inneren Germaniens Kriegerverbände teilgenommen haben. Es wird postuliert, dass diese langjährigen massiven militärischen Auseinandersetzungen durch zurückkehrende Kriegergruppen Zeichen, so in erster Linie als Grabbeigaben, hinterlassen haben müssten. Dazu wurden die genannte Verbreitung der römischen Ringknaufschwerter3655 und die der Sporen, wie sie im Grab von Mušov vorkommen, ausgewählt. Beide Sachgruppen sind auf einer Diagonale von Böhmen bis Schleswig-Holstein und Jütland verbreitet, was als Zugweg von Kampfverbänden interpretiert wird. Das mag sein. Aber solche zeitlich sehr begrenzten Kriegszüge spiegeln sich kaum im archäologischen Quellenstoff in den Grabbeigaben von dauerhaft siedelnden Gemeinschaften. Vielmehr ist es auch das übliche Verbreitungsgebiet des Kulturkreises der Elbgermanen, ein allgemeiner Verkehrsweg für Mobilitäten und Kommunikationen über Jahrhunderte. Ich wiederhole, dass es methodisch gefährlich ist, archäologische Funde und Befunde, die immer höchstens auf Jahrzehnte genau zu datieren sind, mit der schriftlich überlieferten punktuellen Ereignisgeschichte unmittelbar koppeln zu wollen. Es gibt parallel dazu auch derartige Fernbeziehungen durch Germanien bis zur Ostseeküste, manifestiert in den beiden Kesseln mit Köpfen, die Swebenknoten zeigen, von Mušov bis Czarnówko.3656 Vormarschwege nach und von Carnuntum und Brigetio spiegeln auch die Gräber von Lübsow und Mušov. Es sind andere Sachgüter wie z. B. römische gewellte Eimer, die an der Donau, in Mähren und vor allem in Pommern und im Weichselmündungsgebiet vorkommen; oder Fibel- und Sporen-Typen der Wielbark- und Przeworsk-Kultur, die auch in Carnuntum und Brigetio gefunden werden, Fibeln der Typen Almgren 94–96 und Knopfsporen. Die Waagstraße in das Gebiet der heutigen Slowakei war eine weitere der wichtigen Vormarschstraßen der Römer während der Kriege gegen die Markomannen in Böhmen und Mähren (oben Abb. 78).3657 Es begann mit dem schon genannten HolzErde-Lager in Iža von 3 ha Größe,3658 als Brückenkopf direkt gegenüber Brigetio. Es gibt Zerstörungshorizonte aus den Markomannenkriegen auf provinzialrömischem
3654 Hund 2017; 2019. 3655 Biborski 1994. 3656 Tejral 2004; 2013, 382 Abb. 26, 384 Abb. 28 a, b, 386 Abb. 30 und 3; Quast 2009c, 121 Abb. 7 Karte. 3657 Rájtar 2008, 179 Abb. 7. 3658 Rájtar 2015; Kehne, Tejral 2001b, 319 Abb. 25 Karte; Komoróczy 2009, 114 f. die Lager Suchohrad, Závod und Iža, 115 Abb. 2 Karte.
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Gebiet und germanische Sachengüter, Fibeln, Kämme, Schildfessel, Sporn und handgemachte Keramik in diesem Lager, so dass davon ausgegangen werden kann, dass Germanen im Lager waren, so wie im Westen an der Lahn in Waldgirmes. Oder waren es nur gefangene Germanen? Das Lager wurde dann später nach seiner Zerstörung überdeckt von einem Steinkastell. Das erste Lager ist anscheinend erst nach dem Friedensschluss mit den Quaden im Jahr 175 n. Chr. erbaut worden und wurde schon 179 n. Chr. wieder vernichtet. Ich erwähne den Fund von Eisennägeln an Schuhsohlen der Militärsandalen, die anscheinend beim Flüchten verloren wurden.3659 Insgesamt wurden inzwischen mehr als 30 Plätze, in der Markomannia, in Mähren, im Südwesten der Slowakei und in Niederösterreich, dem damaligen Kernland der Markomannen und Quaden an March und Thaya, meist Marsch- und Standlager der Römer über Luftbildaufnahmen und Geländeprospektion erkannt, als Vorbereitung von Militärschlägen gegen die Markomannen und Quaden.3660 Einige Kastelle nenne ich: Das Lager Engelhartstetten mit 49 ha Größe im Vorfeld von Carnuntum 10 km nördlich der Donau in Niederösterreich, in der Slowakei die Lager von Suchohrad und Závod, jeweils 4 ha, hier auf dem Areal einer großen germanischen Siedlung, das erwähnte Lager Iža an der Donau als Brückenkopf im Vorfeld von Brigetio sowie die Lager Radvaň und Dunajom-Virt mit den Größen von 50 bzw. 20 ha. Nahebei wurden weitere kleine Lager angelegt. Weiter im Norden in Mähren gibt es die Lager Charvátská Nová Ves mit 45 ha und Ivaň I mit nur 3 bis 7 ha Größe und vor allem die Lager bei Mušov-Na Pískách am südlichen Thaya-Ufer, 2,4 km südlich vom noch zu schildernden Mušov-Burgstall (Abb. 79, 1–2)(vgl. S. 1014), und zwar Reste von vier Lagern, ein großes von 38 ha, das von einem weiteren von 22 ha überlagert wird, und zwei kleine Lager von 1,5 ha Grundfläche. Auch diese wurden während der Markomannenkriege auf zerstörter germanischer Siedlung errichtet. Noch einmal weiter im Norden, 8 km nördlich von Mušov, wurden bei Přibice zwei Lager von 28 und 40 ha Grundfläche und ein kleines von 1 ha Größe errichtet. Dass diese Lager nicht nur kurzfristíg, sondern länger benutzt worden sind, belegen Reinigungsgräben auf der Sohle dieser Gräben. Es gab also Lager von 1 bis 2 ha, von 20 bis 30 ha und von 30 bis 50 ha Größe; Legionsvexillationen brauchten 20 ha und Legionen 50 ha. Sicherlich, das sollte erwähnt werden, wurden nicht alle diese Lager gleichzeitig besetzt. Eine Bemerkung sollte ich einfügen: Im Prinzip lehne ich aus der Sicht der Archäologie die Verknüpfung von archäologischen Befunden mit ethnischen Gruppierungen wie Markomannen und Quaden ab. Doch denke auch ich, dass diese beiden Ethnien in den Gebieten siedelten, die von den Markomannenkriegen überzogen wurden und spreche deshalb nicht nur neutral von Germanen.
3659 Rajtár 2009, 127 Abb. 4. 3660 Komoróczy 2009, 114 Abb. 2 farbige Karte.
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Abb. 79: 1. Mušov und Umgebung, Plan des Burgstalls. 2. Mušov-Neurissen mit römischem Gebäude. 3. Bratislava-Dúbravka, germanisch überbautes römisches Bad.
Bei Mušov liegt auch der sogenannte Burgstallberg (Hradisko) von 25 ha Größe, immerhin 80 km nördlich der Donau, von Vindobona /Wien entfernt. Es war eine andere Art von Gestaltung einer Niederlassung, für die zwei Hypothesen überlegt werden (vgl. auch unten S. 1086): Entweder war das eine von Römern erbaute Residenz für einen germanischen Anführer, oder aber es war eine römische zivile Handelsstation. Sie wurde im ersten Drittel des 2. Jahrhunderts gegründet und später im Laufe des Markomannenkrieges umgebaut zu einer Befestigung. Rund
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190 Münzen wurden gefunden, die älteste ist ein Denar von 124 v. Chr., und 70% sind im 2. Jahrhundert geprägt worden, davon 31% unter Marc Aurel; die Schlussmünze stammt aus dem Jahr 178 n. Chr. Diese römische-germanische Anlage wurde 172 n. Chr. errichtet, wurde von den Römern 173/175–177/178 n. Chr. verlassen, danach erneut aufgesucht, um unter Commodus 180 n. Chr. endgültig aufgegeben zu werden. Es handelt sich beim Burgstall um eine besondere strategische Position im dicht von Germanen besiedelten Gebiet (vgl. dazu Waldgirmes, unten S. 1090). Es wird die These vertreten, dass hiermit die Errichtung einer neuen Provinz Marcomannia beabsichtigt war, der letzte Versuch einer territorialen Expansion nach Germanien hinein, der auch hier im Süden so wie im Westen bis zur Elbe nicht gelungen ist. Alexander Demandt hat zu den Markomannenkriegen in einer Monographie über Marc Aurel berichtet, wieviele Völkerschaften eigentlich im Zuge der Kämpfe genannt werden.3661 Marc Aurel kämpfte gegen die Chatten, Chauken, Quaden, Markomannen, Naristen, Jazygen, Kostoboken, Roxolanen und nicht zu vergessen die Parther. Für Theodor Mommsen sei Marc Aurels Epoche die Generalprobe zur Völkerwanderung gewesen.
19.1.3 Späte Einmärsche nach Germanien im 3. Jahrhundert John F. Drinkwater hat in seinem Buch über die Alamanni und Rom von 213 bis 496 die Situation des römisch-germanischen Verhältnisses für mehr als zwei Jahrhunderte analysiert und festgestellt, dass eigentlich immer die römische Seite der eigentliche Aggressor war.3662 Es gab immer wieder einzelne späte Feldzüge ins Innere Germaniens, über die Grenzregionen hinaus, so durch Caracalla (211–217) im Jahr 213. Die Karte des Operationsgebietes 213 markiert die Vormarschwege von Westen, zum Jagst und gegen die Tauber und von Süden aus zum Main.3663 Zum Expeditionsheer gehörten Vexillationen aus den Legionen mit jeweils 1000 bis 2000 Mann oder aus Alen zu je 1000 Reitern. Noch unbekannt ist, wo die Marschlager errichtet wurden, bis es einen Sieg am Main gab. Die Siegerbeinamen Caracallas lauteten GERMANICVS MAXIMVS oder verkürzt GERMANICVS. Auf Münzen des Caracalla von 213 n. Chr. ist auf der Rückseite VICTORIA GERMANICA zu lesen, auf anderen Münze AVGVSTVS GERMANICVS. Caracalla war 213 im rhein-wesergermanischen Gebiet unterwegs, berührte randlich elbgermanisches Gebiet.3664 J. Gräf schildert die Ausrüstung der römischen Soldaten im 3. Jahrhundert: Sie trugen
3661 Demandt 2018. 3662 Drinkwater 2007. 3663 St. Bender 2013, 107 Abb. 2 Aufmarschgebiete, 114 ff. Truppenstärken. 3664 Gräf 2013, 87 und 102 f. Abb. 6 und Abb. 9 (Ortbänder), auch Zitat.
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eine Militärtunika, lange Hosen, genagelte Militärstiefel, ein sagum, also einen Mantel mit einer Fibel auf der rechten Schulter, den Gürtel, das cingulum. Der pugio/ Dolch verschwand und jetzt wurde das zweischneidiges Langschwert, die Spatha, geführt, wie das die Germanen taten, und dieses hing am Schultergurt, balteus. Als weitere Waffe wurde die Stoßlanze/pilum nur noch selten geführt, als Schutzwaffe ein Ovalschild, an Stelle des scutum, ebenfalls übernommen von den Hilfstruppen, außerdem ein Kettenhemd und ein Helm. Ähnlich waren die germanischen Krieger ausgerüstet: Auf den ersten Blick sind römische Soldaten und germanische Krieger im 3. Jh. n. Chr. gar nicht mehr so leicht zu unterscheiden: Germanen führten Lanze oder Speer, trugen einen Schild, und Schwerter waren noch seltener, und es gab Einheiten von Bogenschützen. Beliebt waren Imitationen römischer Formen, so die zusammengesetzten peltaförmigen Ortbänder.
Das erinnert an die Ausrüstungen, die auf dem sogenannten Schlachtfeld vom Harzhorn (vgl. oben S. 769) oder in den Heeresausrüstungsopfern in Jütland (vgl. oben S. 706) gefunden worden sind. Hierzu passen auch die Beobachtungen, dass ab 200 n. Chr. vermehrt föderierte Germanen in das Grenzheer eingereiht wurden, um Lücken zu füllen, es gibt den Hinweis auf eine Schar angesiedelter elbgermanischer Sueben.3665 Auf einer Terra Sigillata-Scherbe ist die Ritzinschrift SVEBA (Schwäbin) zu lesen, gefunden im Kastell Zugmantel am Taunuslimes. Es war Caracalla, der damals mit der Constitutio Antoniniana (212 n. Chr.) allen freien Reichsbewohnern das römische Bürgerrecht verliehen hatte, eine Entscheidung, die manche politischen Verhältnisse unübersichtlich werden ließen. H. Seidl hat sich mit Caracallas Gegnern am Main befasst.3666 Gegen diese Chatten gab es immer wieder Feldzüge, so seit der Zeit des Augustus. Es ging in das Gebiet der Rhein-Weser-Germanen im Main-Tauber-Regnitz-Gebiet, wo germanische Siedlungen nachgewiesen sind. Es waren Gruppen aus elbgermanischen „Stämmen“, die von Rhein-Weser-Germanen assimiliert wurden, im Gebiet der Chatten, und zwar seit dem ausgehenden 2. Jahrhundert. In den Siedlungen gefundenes zerhacktes Plünderungsgut spiegeln Raubzüge in die römischen Provinzen. Hier sei der Münzschatz aus dem Vicus von Dambach aus 25 zerhackten Denaren und ein Münzschatz von Gnotzheim Hinweis auf Germaneneinfälle erwähnt.3667 Der Zug des Maximinus Thrax durch Germanien mit der Überlieferung „nach seiner Ankunft ließ der das ganze Land verheeren“ führte durch dicht besiedelte Landschaften mit Erzabbaugebieten und Höhenbefestigungen des 3./4. Jahrhunderts.3668 Der jüngst
3665 Heising 2013, 67, 68 Abb. 16 Scherbe SVEBA. 3666 Steidl 2013. 3667 Moosbauer 2018, 42 f. 3668 Fuhrmann, Steinmetz 2013, 135 Siedlungsdichte, 139 Eisenerzabbaugebiete, 138 Höhenbefestigungen.
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als Schlacht bei Harzhorn in Niedersachsen an der Weser bezeichnete Nachweis von der Anwesenheit römischer Truppen unter Maximinus Thrax 235 n. Chr. ist wiederum ein archäologischer Beleg dafür, dass die römische Seite es nicht aufgegeben hat, diese Landschaften erobern zu wollen (vgl. S. 769). Doch gelang es ihr bis zum Schluss nicht; und so blieb es bei Strafexpeditionen zur Einschüchterung dieser Gegner. Umgekehrt setzten Germaneneinfälle über den Limes um 233 n. Chr. massiv ein. In der Wetterau wurden die Limes-Kastelle zerstört.3669 Die Staatskrisen im 3. Jahrhundert führten zur Aufgabe des Limes, der Stein von Augsburg aus dem Jahr 260 berichtet vom Sieg über zurückkehrende Germanen (Juthungen bzw. Semnonen, vgl. S. 699) und der Befreiung gefangener Römer.3670 Ein Versteckfund von Gerät und Gefäßen aus Brunnen 13 von Rainau-Buch, Ostalbkreis, enthielt Sachen, die in einem Netz versenkt worden waren, um sie vielleicht wieder heben zu können. Im Süden fiel der Gotenkönig Cniva mit einem „riesigen“ Heer über die Donau in Dakien, Moesien und Thrakien ein. Es gab die Schlacht bei Abritus im Jahr 251 n. Chr. (vgl. S. 783), in der Kaiser Decius (249–251 n. Chr.) und sein Sohn gefallen sind.3671 Mischa Meier gliedert als Historiker anhand der Schriftquellen die Beziehungen zwischen Germanen und Römern beiderseits des Rheins und über den Strom hinweg in fünf Phasen.3672 Die wechselnden Verhältnisse am Rhein zwischen Germanen und Rom im 3. und 4. Jahrhundert sind zwischen Krieg und Frieden durchaus unterschiedlich; es sind die Abschnitte 213–276, 276–305, 306–355, 355–364 (die Zeit des Caesars und späteren Kaisers Julian) und 364–406 (als der Alamannen-Rex Vadomar Krieg gegen Rom führte, später nach Gefangennahme sogar Heerführer in der Provinz Phönizien wurde). Die Höhensiedlungen im Südwesten vor dem Rhein, der Zähringer Burgberg oder der Geißkopf über dem Breisgau oder der Hertenberg am Hochrhein werden mit den Königen der Schriftquellen (Ammianus Marcellinus) des 4. Jahrhunderts, Vadomar und Gundobad zusammen gesehen.3673
19.1.4 Neue soziale und politische Strukturen Diese ständige Bedrohung durch römische Truppen war sicherlich auch der eigentliche Hintergrund für die Bevölkerung, sich in Germanien politisch neu und anders auf Verteidigung ausgerichtet zu strukturieren. Patrick Geary hat deshalb formuliert, dass die germanische Welt vielleicht die großartigste und dauerhafteste Schöpfung
3669 Steidl 2008; Moosbauer 2018, 61 f. mit Karte Abb. 9. 3670 Nuber 2005b, 445 f., 447, mit Abb. 595 (Versteckfund von Rainau-Buch) und 597 (Stein von Augsburg). 3671 Moosbauer 2018, 137. 3672 Mischa Meier 2020, 333, auch weiterhin 368 ff. zu Koexistenz und Konflikt. 3673 Geuenich 1997, passim; Hoeper 2003, 15 Abb. 1 Karte; Mischa Meier 2020, 129, 358, 363.
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des politischen und militärischen Genies der Römer gewesen sei.3674 Man kann das so werten, aber sollte nicht übersehen, dass Rom die Bewohner Germaniens gewissermaßen dazu gezwungen hat, von den offenen und variablen Stammesgesellschaften bäuerlicher siedelnder und wirtschaftender Gruppen zu einer militärisch neu und vielseitig strukturierten Welt zu werden, deren sichtbare Erscheinungen die ständig zunehmenden Kriegerverbände waren. Ich behaupte, erst die römischen Aggressionen haben die Bewohner Germaniens gewissermaßen dazu gezwungen, sich militärisch zu organisieren, um sich wehren zu können. Die Archäologie hat das mehrfach thematisiert, Arbeitsgruppen haben sich mit dem Weg vom Stamm zum Staat befasst,3675 oder die Kriegerbanden und Heerkönige sowie Kriege als Auslöser der Entwicklung vom Stamm (!) und weiter zum frühen Staat zu werten.3676 Daß die militarisierte germanische Welt ihre Schöpfer später ablösen sollte, kann die Tatsache nicht verschleiern, daß sie ihre Existenz römischer Initiative, den jahrhundertelangen geduldigen Bemühungen römischer Kaiser, Generäle, Soldaten, Grundherren, Sklavenhändler und einfacher Kaufleute verdankte, die aus römischer Sicht chaotische Welt der Barbaren politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich so umzugestalten, daß sie sie verstehen und beherrschen konnten.
Man findet das Zitat von Patrick J. Geary gleich als ersten Satz im Vorwort seines Buches „Before France and Germany – The Creation and Transformation of the Merovingian World“ von 1988 und übersetzt „Die Merowinger – Europa vor Karl dem Großen“ von 1996. Dieser Bewertung schließe ich mich also keineswegs vollständig an. Man könnte eine andere Behauptung der Meinung Gearys an die Seite stellen, nämlich die von John F. Drinkwater in seinem Buch „The Alamanni and Rome 213–496 (Caracalla to Clovis)“ von 2007. Drinkwater meint – worauf von mir schon mehrfach hingewiesen worden ist –, dass alle die Kriege und Einfälle römischer Legionen in Germanien mehrheitlich dazu gedient haben, den Kaisern und Feldherren in Rom auf einfache Weise Siege, Ruhm und Beute zu beschaffen, eben auf Kosten der Bevölkerung in Germanien, die sich dann und wann und schließlich zunehmend zu Gegenaktionen aufraffte. Auf den Wandel in Germanien im 3. Jahrhundert, also nach den Markomannenkriegen, den Zerfall und die neuen Machtverhältnisse vom 2. zum 3. Jahrhundert wird seit der Entdeckung des Fundplatzes Harzhorn in der Forschung neu eingegangen (vgl. auch S. 1015).3677 Harzhorn liegt nahe der Konzentration von Fürstengräbern der jüngeren Römischen Kaiserzeit; und die Ausweitung der elbgermanischen Besiedlungsintensität von Mitteldeutschland nach Südwestdeutschland spiegelt diese Veränderung und den Druck auf den römischen Limes, der schließlich aufgegeben wurde; die Militärgrenzen wurden wieder an Rhein und Donau zurückgenommen.
3674 Geary 1988, deutsch 1996, der erste Satz des Vorwortes. 3675 Mortensen, Rasmussen (Red.) 1988; 1991. 3676 Steuer 2003a; 2006a. 3677 Nüsse 2013, 127 Abb. 1.
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Doch auch anscheinend friedliche Beziehungen zwischen der Elite in Germanien und dem römischen Imperium sollte man sehen. Sicherlich wurde damit von römischer Seite versucht, diese führenden Familien politisch zu gewinnen und gar „Klientelherrschaftsgebiete“ zu organisieren, um sie auf diese Weise an Rom zu binden. Römisch-germanische Beziehungen gab es seit Arminius, der römisch erzogen wurde, römischer Bürger und Ritter war und zugleich ein germanischer Fürst. Das Grab von Hoby (vgl. S. 917) fern im Ostseegebiet mit römischen Importgefäßen, nämlich zwei Silberbechern mit antiken Szenen als Reliefs aus dem frühen 1. Jahrhundert. n. Chr., veranschaulicht über diese diplomatischen Geschenke den Versuch eines Bündnisses. Immer wieder wurde geplant, germanische Führungspersonen unter römischen Einfluss zu bringen. Die schriftliche Überlieferung beschreibt das ausführlich mit speziellem Blick auf die Cherusker (vgl. auch S. 1004). Die Fürstengräber des 1./2. und des 3./4. Jahrhunderts werden auch als Ergebnis römischer Einflussnahme gedeutet, nicht nur als Herausbildung einer neuen Führungselite in Germanien. Es ist jedoch in keiner Richtung zu beweisen, dass diese neue Elite mit der neuen Grabsitte (also nur im Totenbrauchtum) trotz aller römischen Importgüter eine Anhängerschaft der römischen Politik geworden ist. Die Dichte der Fürstengräber im Elbe-Saale-Gebiet und auf der dänischen Insel Seeland spiegelten dann wohl am nachdrücklichsten ein Abhängigkeitsverhältnis von Rom: Das ist tatsächlich an mancher Stelle zu lesen; doch lehne ich diese These ab. Die Rolle der spätantiken Höhensiedlungen in Südwestdeutschland des 4./5. Jahrhunderts (vgl. oben S. 333) werden in vergleichbarer Weise doppelt interpretiert: Einerseits waren es Herrschaftsmittelpunkte der neuen germanischen Elite im Süden, andererseits sollen es römische Vorposten zur Kontrolle der eingewanderten Germanen gewesen sein. Dazu bietet wieder einmal die schriftliche Überlieferung Erklärungsmuster: Einerseits saßen dort die kriegerischen Gegner vor dem spätrömischen Limes, ständig zu Feldzügen über den Rhein bereit, andererseits waren sie Bundesgenossen der Römer, und ihre Anführer dienten als Generäle in der römischen Armee, sogar im fernen Syrien. Die Quellen berichten von Krieg und Frieden zwischen beiden Seiten. Während der Markomannenkriege bahnte sich ein Wechsel an, als nämlich die Bildung von Koalitionen zwischen den Kriegsfürsten Germaniens Rom besondere Probleme zu bereiten begannen. Das Grab von Mušov, gefunden 1988, und andere Fürstengräber zeigen, dass erstmals im Süden die Stämme nördlich der Grenze eine aktive Rolle gegen Rom spielten. Wieder eine Deutung über die Ereignisgeschichte ist der Vorschlag, den König Ballomarius mit Mušov zu identifizieren. Die römischen Importe seien Gaben an ihn gewesen, an den neuen Typ eines germanischen Anführers. Während der späten Römischen Kaiserzeit entwickelten sich weitere Beziehungen; die Kolbenarmringe (vgl. S. 555) könnten auch sarmatischen wie römischen Einfluss belegen, der zu Bündnissen geführt haben kann. Die Verbreitung der Goldhorte markiert später dann Herrschaftszentren in Germanien. Die Entwicklung der Kriegerverbände und der Gefolgschaften zeigen ebenso die Kriegsausrüstungsopfer in Jütland und dem Ostseegebiet. Auf dem Kontinent gehört das Grab von Gommern
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dazu mit silbernem Schild(buckel), einst ein römisches Silbergefäß; der Tote trug einen Kolbenhalsring, der wie die Kolbenarmringe auch als römische Militärauszeichnungen gewertet werden (dazu S. 556),3678 die mögliche Koalitionen zwischen Rom und den Germanen spiegeln könnten. Im 4. Jahrhundert gab es kaum noch Fürstengräber, oder sie waren anders strukturiert, wie die Sætrang-Lilla-Jored-Gruppe; und am Ende des 4. Jahrhunderts erschienen westlich des Rheins in Nordgallien Gräber mit wertvollen Beigaben der Gruppe Vermand (die chefs militaire) und spiegeln die Barbarisierung bzw. Germanisierung des weströmischen Reiches (dazu ausführlich S. 960 und 1171). Wie wurde vermutet: Es fehlte deshalb eine jüngere Phase von Fürstengräbern in Germanien, weil diese „Fürsten“ als Söldnerführer in der römischen Armee im Westen dienten. Zwei weitere Erscheinungen schlugen sich im archäologischen Quellenbestand nieder: Einerseits sah man die Entstehung von Königreichen im Nordseegebiet seit dem 5. Jahrhundert, die die Karte der postulierten Reichsbildungen rund um die Nordsee und in der Ostsee zeigt (Abb. 80).3679 Andererseits werden im 5. Jahrhundert Einflüsse des Attila und seines Hunnenreichs aufgespürt; so verknüpfen einige Forscher Skandinavien und die Hunnen auch über Fundsachen,3680 doch andere lehnen einen solchen direkten Einfluss weiterhin ab.3681 Darauf komme ich bei der Beschreibung der prächtigen Funde des Reitzeugs von Sösdala und Fulltofta wieder zurück (vgl. S. 1229 ff.). J. Nicolay har seine Thesen von früh entstehenden Königreichen im Bereich der südlichen Nordsee nach 2014 in den Jahren 2017 und 2019 erneut untermauert.3682 Die Konzentration wertvoller Sachgüter bietet die Basis für diese These. Die geographische Verteilung von Gold- und Silbergegenständen spiegelt dieses Netzwerk zwischen Herrschaftszentren. In diesen Elitenetzwerken werden Prestigegüter, Geschenke vertikal von oben nach unten verteilt, wie ich das auch als Modell für die Merowingerzeit postuliert habe, nämlich die Elite verteilt die Sachgüter einschließlich der Waffen von den Adelssitzen aus an die Gefolgschaften, nach der Meinung von J. A. W. Nicolay von „Königshöfen“ aus. Die Phase 1 (390–500 n. Chr.) stützt sich auf das importierte westliche römische Silber, das zu „sächsischen Ornamenten“ umgeschmolzen worden sei, so in die silbervergoldeten gleicharmigen Fibeln, wie sie von Dösemoor, Ldkr. Stade, bekannt sind. Diese Fibel war zerstört worden bei der oder für die Brandbestattung und war wie ein Opfer eingewickelt in Textilien. Die Karte dieser verschiedenen Typen
3678 Quast 2017b, 113. 3679 Myhre 2000, 48 Karte; J. Nicolay 2014. 3680 Bemmann 2007c; Hedeager 2007; 2011. 3681 Näsman 2008. 3682 Nicolay 2014; 2017, 76 Phase I und 78 Fig. 5.2 Karte der gleicharmigen Fibeln (vgl. Nicolay 2014), 80. Fig. 5.4 Brakteaten der Formularfamilien, 88 Fig. 5.9 Königreiche um 500; 2019, 132 Abb. 1 Politische Herarchie der Gesellschaft, 138 Abb. 5 Karte der gleicharmigen Fibeln.
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Abb. 80: Regionen und „Stammesareale“ (early state moduls) im Ostseegebiet um 500 n. Chr.
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der gleicharmigen Fibeln im „sächsischen Stil“ mit Kerbschnitt des 5. Jahrhunderts (mit Spiralornament oder Randtieren),3683 zur Frauenkleidung gehörend, zeigt die Funde in Südengland und im Elbe-Weser-Dreieck als Abbild und Spuren des frühen Königtums. Ein anschauliches Beispiel biete, so der Autor, das Grabinventar mit gleicharmiger vergoldeter Silberfibel der Prinzessin von Issendorf (Grab 3532) und außerdem mit zwei vergoldeten Schalenfibeln, einem Silberhalsring, vier Gefäßen und Perlenketten.3684 Anhand dieser gleicharmigen Fibeln konstruiert J. A. W. Nicolay zwei regionale Königreiche. In der Phase 2 (475–550) war das westliche Silber durch oströmisches Gold, durch Solidi, ersetzt worden und wurde „transformiert“ in skandinavische Ornamente, nämlich Goldbrakteaten (vgl. unten S. 1206), wie sie auch in Norddeutschland bei Sievern und in den Niederlanden bei Dokkum gefunden worden sind, nämlich Brakteaten vom Typ C. Die Verbreitung von Brakteaten der Formularfamilien D 7–10 und allgemein D bietet wieder die Konzentration in Südengland, in Kent vor allem, und im mittleren und nördlichen Jütland sowie verstreut auch in Schweden und auf dem Kontinent bis zur Donau. Von den drei Stempeln aus Kupferlegierung für solche D-Brakteaten (IK 572, 589, 609) wurden zwei in England und einer in Nordjütland gefunden. Drei Karten zu frühen Königreichen zeigen die Phasen um 500, um 600 und um 800, wobei in diesem Zusammenhang nur die ältere Phase interessiert. Die Abstände zwischen den „Königssitzen“ wirken geographisch gleichmäßig, bieten Reichtumszentren, deren rechtlicher Status aber nicht so ohne Weiteres als Königsitze bezeichnet werden sollten (vgl. auch S. 352). Doch spricht B. Ludowici ohne Bedenken ebenfalls von Königen im Elbe-Weser-Dreieck, die abgelöst werden von südskandinavischen Magnaten und dann den Königen der Thüringer.3685 Diese germanischen Eliten haben ein klares Bewusstsein von Zusammengehörigkeit. Aber sie kämpfen um Einfluss und Vorherrschaft, auch hierzulande [im Sächsischen]. Sie herrschen wie große zerstrittene Familien.
Ich betone, diskutiert wird, welche Bezeichnung wir für die ranghohen und höchsten Mitglieder der damaligen Gesellschaft wählen können, die in der schriftlichen Überlieferung nur allgemein angesprochen wird: Fürsten (principes), Adlige, Elite oder tatsächlich auch in manchen Fällen als Könige (reges?). Ihre Bestattungen sind dann Fürstengräber, Prunkgräber, Adelsgräber, Elitegräber und manchmal auch Königsgräber. Die Einordnung als König wird aber von der Archäologie bisher nur sehr selten gewählt, und Zurückhaltung sollte bestehen bleiben; denn unterschiedlich werden die Auswahlkriterien sein. J. Nicolay ist vielleicht zu sehr vorgeprescht und damit auch die Organisation der Ausstellung „Saxones“ im Jahr 2019.
3683 Typologie der gleicharmigen Fibeln bei Böhme 1974, 14–19; Bruns 2003; Nicolay 2019, 138 Abb. 5 Karte gegliedert nach den Typen. 3684 Nicolay 2019, 139 Abb. 6 Grab der Prinzessin von Issendorf. 3685 Ludowici, in: Saxones 2019, 156 Zitat.
19.2 Ausbau des Limes
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Römische Übergriffe nach Germanien hinein sind außerdem als Umsiedlungen germanischer Gruppen durch die römische Macht von Beginn an bis in die späten Phasen des 3. Jahrhunderts überliefert, als Herrschaftsinstrument, d. h. als Versuche, Widerstand von germanischer Seite zu brechen. In einem Abschlusskapitel vergleiche ich das mit den Unternehmungen der US-Amerikaner vom 17. bis 19. Jahrhundert beim Vordringen in die Siedlungsräume der Indianer (vgl. S. 1291 ff. und Anhang 3). Die Umsiedlungen oder Bevölkerungswechsel verbunden mit Wanderungen sind ein archäologisches Problem, das ich mehrfach angesprochen habe (vgl. S. 996 und 824). Was passiert in den weiter existierenden Siedlungen mit einer neuen oder verbliebenen Bevölkerung? Bleiben die bei den alten Strukturen? Kommt das tatsächlich vor? Mir ist direkt nur ein Beispiel für Jütland im Umfeld des Kriegsausrüstungsopfers von Nydam bekannt geworden. Dänische Archäologen möchten einen kleinräumigen Wechsel der „Stämme“ beim Nydam-Moor nachweisen, weil andere Hausformen eine Herkunft aus einem benachbarten Raum belegen (vgl. oben S. 721). Vielleicht handelt es sich jedoch nur um chronologische Wandlungen oder um die Übernahme einer anderen Hausbauweise?
19.2 Ausbau des Limes Der Limes in Obergermanien war zwar militärisch mit Palisaden, Mauern und Kastellen gesichert, war aber kaum in der Lage – wegen seiner Länge – angreifende Kriegerverbände aufzuhalten.3686 Das war auch nicht in erster Linie der Zweck des Bauwerks. Doch immerhin konnte man durch Nachrichtenübermittlung, Feuerzeichen von Turm zu Turm, Bedrohungen sehr rasch weitermelden, um Abwehrmaßnahmen zu organisieren. In erster Linie war der Limes aber einfach eine Grenze zwischen dem Imperium und Germanien, eine Grenzzone, um Einwanderer abzuhalten bzw. zu kontrollieren, um den grenzüberschreitenden Handel überwachen zu können. Ob der Limes eine Wohlstandsgrenze war, wie man lesen kann, ist zu diskutieren, wie im Laufe dieser Arbeit noch nachzulesen sein wird (vgl. S. 1070).3687 Ich denke, er trennte zwei seit langer Zeit unterschiedliche Lebensweisen, die sich in der unterschiedlichen Gesellschaftsordnung und im Politischen manifestierten. Mauern dienen dazu, menschlichen Austausch zu verhindern, Grenzen sollen diesen Austausch regeln und kontrollieren. In Kartenbildern werden die Provinzen Germania superior und Raetia dargestellt und ausführlich die Ausbaustufen des Limes mit alle Kastellen, nummeriert mit Namen, und auch mit Schraffur die germanischen Siedlungsgebiete innerhalb
3686 Der römische Limes in Deutschland 1992; Schallmayer 2006; Steidl 2008; Waldherr 2009; Reuter, Thiel 2019; C. S. Sommer 2015; Moschek 2011 zum Limes und seiner Kultur- und Mentalitätsgeschichte; Radloff 2020 zum Limes als Spiegel der Gesellschaft; jetzt Waldherr 2020 zum Limes als Kontaktzone. 3687 Steidl 2008.
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der römischen Provinzen beiderseits am Rhein.3688 Die spätere römische Besetzungsgeschichte einiger Gebiete im westlichen und südlichen Germanien ist mit dem mehrfachen Ausbau des Limes gut dokumentiert.3689 Die Datierungen der römischen Militäranlagen am obergermanisch-raetischen Limes liegen seit langem vor.3690 Der Limes in Südwestdeutschland zwischen den Flussgrenzen an Rhein und Donau wurde in mehreren Etappen nach Osten vorgeschoben und ausgebaut (Abb. 81).3691 Von der nassen Grenze an Rhein und Donau wurden erste Kastelle in vorflavischer und flavischer Zeit (70–80 n. Chr.) über den Rhein in die Wetterau, Neckar aufwärts und an dessen Oberlauf vorgeschoben, ehe dann unter Domitian (81–96 n. Chr.), Trajan (98–117 n. Chr.) und Hadrian (117–138 n. Chr.) die erste Linie (bis 130 n. Chr.) ausgebaut wurde, die dann noch einmal unter Antoninus Pius (138–161) ab etwa 150 n. Chr. teils um nur 20–30 km weiter nach Osten vorverlegt wurde.3692 Diese geringe Verschiebung des Limes samt der dazu gehörenden Organisation fällt auf. Als Gründe werden Verkürzung der Linienführung genannt oder der brauchbare Zugewinn fruchtbaren Ackerlands. Ich sehe aber einen entscheidenden Grund im Druck zugewanderter germanischen Siedlergruppen, die als Bedrohung angesehen wurden; denn eigentlich fehlten über längere Zeit im Kartenbild der Landschaften östlich des Limes archäologische Hinweise auf die Anwesenheit von Bewohnern, d. h. auffällig ist, dass auf den Karten der Raum „weiß“ ohne Hinweise auf Befunde gelassen wurde, ehe dann erste Gruppen aus Germanien hier nachgewiesen werden konnten, als neue Besiedlung, nachdem von der älteren „keltischen“ Bewohnerschaft keine Spuren mehr dokumentiert werden konnten. Anders formuliert, entwickelte sich während der Phase des Limesausbaus auf der anderen Seite eine sich ständig verdichtende neue Siedlungsstruktur eingewanderter Germanen (Abb. 82).3693 Die Länge des Limes beläuft sich insgesamt auf etwa 550 km, und zwischen Miltenberg am Main und Lorch wurde eine 80 km lange völlig gerade Strecke ausgebaut. Etwa 120 Kastelle standen an der Grenze, hinzu kamen rund 900 Wachtürme im Abstand von oft nur 200, 400 oder 800 m. Der Ausbau als Steintürme ist schriftlich für 145/146 n. Chr. überliefert. Als Besatzung der Türme schätzt man vier bis fünf Mann; insgesamt sollen die Garnisonen etwa 30 000 Soldaten umfasst haben. Archäologische Grabungen haben am Wetterau-Limes Dendrodaten 119/120 n. Chr. für die Palisade, die wohl bis 3 m hoch war, ergeben. Eine Ausbauphase unter Marc Aurel (161–180) mit einer Palisade aus halbierten Baumstämmen ist über Dendrodaten um
3688 Römer am Oberrhein 2008, 34 Abb. und 44 Abb. 3689 Kemkes 2005. 3690 Kortüm 1998. 3691 Matešić, C. S. Sommer 2015. 3692 Römer am Oberrhein 2008, 44 Karte in Farbe; als weiteres Beispiel Schallmayer 2000, 65 farbige Karte Abb. 49; Luik 2008, 29 f. Karte der Limes-Verläufe farbig. 3693 Steidl 2016b, 966 Abb. 1; Jäger 2019, 24 Abb. 7 in der entstehenden Alamannia.
19.2 Ausbau des Limes
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Abb. 81: Der obergermanisch-raetische Limes und seine Ausbauphasen. Markiert sind die Kastell-Linien durch schwarze Quadrate. Die äußerste östliche Linie entstand in antoninischer Zeit ab 150 n. Chr.
160/165 n. Chr. bzw. kurze Zeit später für den raetischen Limes belegt.3694 Diese 167 km lange Palisade wurde schließlich durch eine 3 m hohe Mauer ersetzt.3695 Der Limes im Rhein-Delta, ausgebaut zwischen 50 v. Chr. bis in die Zeit des Todes von Tiberius 37 n. Chr. war eine nachhaltige, konstant besetzte Grenze und blieb auch über die Jahre hinaus besetzt; denn sie war leicht zu sichern, weil es um eine Flussgrenze ging.3696 Dieser Abschnitt des Limes am Niederrhein war durch Kastelle gesichert, die über 3694 Moosbauer 2018, 12. 3695 Thiel 2005. 3696 Polak, Kooistra 2013 (2015).
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19 Germanisch-römische Konfrontation
Abb. 82: Karten der germanischen Besiedlung des Taubertals im 2./3. und im 4./5. Jahrhundert.
die gesamte Zeitspanne am Rheinstrom belassen wurden,3697 während demgegenüber der obergermanische Limes vom Rhein nach Osten vorgeschoben wurde und im 3. Jahrhundert wieder an die Rheingrenze zurückgenommen werden musste. Ein sogenannter Limes bzw. Litus Saxonicum beiderseits der Kanalküste in Britannia und in Nordgallien war ebenfalls durch eine Kastellkette gesichert;3698 es heißt gegen chattische, sächsische und friesische Piraten. Die Besatzungen dieser Kastelle im 4. Jahrhundert kamen von überall her, wie beispielsweise fremde Armreifen in den militärischen Auszeichnungen im Kastell Oudenburg belegen.3699 Das Eindringen von Germanen in diesen Raum beiderseits des Kanals begann vor dem Ende des 3. Jahrhunderts und ging bis in die zweite Hälfte des 4. Jahrhunderts weiter, verstärkt während des Bürgerkrieges 351 unter Magnentius. Die Küstenverteidigung aus Ketten von Kastellen beiderseits des Kanals war also gegen fränkische und sächsische (früher chaukische) Piraten gerichtet. Im Kastell Oudenburg fanden sich Grabbeigaben, die neue Trends in Kleidung und Schmuck zeigen. Eine führende Gruppe aus Germanen und auch Römern (siehe im speziellen Kapitel S. 1164) ent-
3697 Erdrich 2005. 3698 Bischop 2000, 22 Abb. 21 Karte der Kastelle beiderseits des Kanals (nach Johnsten). 3699 Sas 2018, 343, 373 Zitat, 375.
19.2 Ausbau des Limes
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stand in Nordostgallien auf dem Boden des Römischen Reichs. In Fécamp, Vermand und Vron sollen nach Meinung von K. Sas die Tutulus- und Stützarmfibeln, die von Frauen getragen wurden, germanische Hilfstruppen, foederati sächsischer Herkunft auch als Garnisonen im Litus Saxonicum belegen. Die „Bewegung“ der Kleidungaccessoires erfolgte durch Truppenverschiebungen von Ost nach West, die These von H. W. Böhme (anders vgl. S. 1164) transportiert durch Händler, vor allem durch die Träger(innen), durch die Frauen der versetzten Truppen z. B. aus Pannonien an den Kanal, unter Valentinian I. (364–375) und Valentinian II. (bis 392): Consequently, multiple troop movements to and from different provinces in the north can be expected. In Belgium, indications of these troop movements through bracelet typology and decorations can not only be attested in Oudenburg, but are available for many other late Roman (para) military sites.
Diese Truppenrotation in Oudenburg wurde genutzt im Kampf gegen die eigene Bevölkerung. Kontingente vom Donau-Limes (Pannonien?) bewegten sich durch Raetien und am Rhein-Limes entlang zu den Festungen am Limes Saxonicum (nach Oudenburg diesseits und Porchester jenseits des Kanals), als Valentinian I. im Jahr 364 Kaiser geworden war. Eine Hälfte der Frauengräber zeigt Beziehungen zur Donauregion, die andere Hälfte nach Britannia und einige nach Germanien, gar von Frauen der Piratengruppen. Diese Interpretation ergänzt die verschiedenen Deutungen zur neuen Bestattungssitte und Beigabenauswahl in Nordostgallien. Die Vorverlegung der Grenze vom Neckar-Odenwald-Alb-Limes auf die vordere Limeslinie wurde bis Mitte des 3. Jahrhunderts gehalten, ehe dann der Limes wieder an Rhein und Donau zurückverlegt wurde. Manche Kastelle im Bereich der Wetterau waren aber noch nach 260 besetzt. Zur Datierung des Limesfalls und den ereignisgeschichtlichen Hintergründen gibt es mehrere Thesen, innere Bürgerkriege verbunden mit der äußeren Bedrohung durch Germanen. Hier geht es aber darum, wie die Archäologie dazu Stellung nimmt. War es 259/260 oder erst 275/276 oder noch später? In den Limeskastellen am obergermanisch-raetischen Limes gibt es noch jüngere Funde römischer Provenienz, nicht etwa nur germanische Sachen von der neuen Besatzung.3700 Die Verlegung des Limes hat sichtlich auch mit innerrömischen Problemen und der Krise des 3. Jahrhunderts zu tun, so mit dem Gallischen Sonderreich des Postumus (259–268) und anderen bürgerkriegsähnlichen Unruhen.3701 „Eine liebgewordene These steht auf dem Prüfstand“, so Jan Bemmann 2014. Es gilt, jetzt nicht nur nach Mitteldeutschland zu blicken, wegen der Münzen und Fibeln in den Fürstengräbern vom Typ Haßleben-Leuna, wie das 1973 von Joachim Werner gut begründet wurde, sondern weiter von den römischen Provinzen bis nach Nordeuropa und auf die inzwischen nachweisbaren Verbindungen, nämlich über die Kriegsausrüstungsopfer, die
3700 Heeren 2016 (2017); 2017. 3701 Rau 2012; früher Werner 1973; dann Bemmann 2014.
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römischen Importe an Gläsern und Metallgefäßen sowie über die Fürstengräber vom Typ Himlingøje auf Seeland. Auf den Britischen Inseln, im Norden in Richtung Schottland, verlief der Ausbau der Grenzbefestigung ähnlich wie in Südwestdeutschland. Die Bauarbeiten am Hadrianswall begannen mit großem Aufwand um 122 n. Chr., in dem Jahr, in dem Hadrian (117–138) die Provinz Britannia besuchte. Nach dem Tod des Kaisers 138 wurde der Wall wieder aufgelassen.3702 Die Befestigung ist 130 km lang und verläuft von der Nordsee zur Irischen See. Hadrian ordnete wohl an, eine richtige Mauer zu bauen. Rund 20 Kastelle, Türme und Straßen gehörten zum Verlauf der Befestigung. Deren Funktion war, das Gelände bis zum Limes militärisch und administrativ zu kontrollieren; denn umfangreiche Siedlungen lagen in Nachbarschaft der Kastelle. Dazu gehört auch Vindolanda im 2./3. Jahrhundert, wo in Brunnen die zahlreichen Holztäfelchen mit interessanten Nachrichten aller Art des alltäglichen Lebens gefunden worden sind,3703 und zwar mehr als 2000 beschriftete Täfelchen aus den Jahren zwischen 90 und 120 n. Chr. mit Schwerpunkt zwischen 97 und 104 n. Chr. Weitere Funde dieser Art gibt es aus dem Kastell Uxelodunum/Carlisle am Hadrianswall, ebenfalls aus dem 2. Jahrhundert. Die Inhalte der Täfelchen sind mit einigen Tafeln aus Vindonissa in der heutigen Schweiz zu vergleichen.3704 Als Nachfolger Hadrians verlegte Kaiser Antoninus Pius (138–161) in den 140er Jahre, für die Dauer (nur) einer Generation, die Befestigungslinie um 130 km Kilometer weiter nach Norden. Sie bildete die äußerste Nordwestgrenze des Römisches Reichs, war 60 km lang und erstreckte sich zwischen dem Firth of Forth und dem Firth of Clyde. Sogar noch einmal 20 bis 30 km weiter nördlich wurden Kastelle und Lager gebaut, von denen mehrere lokalisiert sind.3705 Es ist unbekannt, warum der neue Kaiser die alte Befestigung aufgab und nur wenig nördlich diese neue Befestigung errichtete, zuerst aus Grassoden auf einem Steinfundament. Er ließ sogar Münzen 143 und 144 n. Chr. zu dieser Befestigung prägen, die aus Wall und Graben mit einer Reihe von mehr als 20 Kastellen und weiteren Bauten bestand. Das Ende dieses Limes kam schon bald wieder, in der Mitte der 160er Jahre; denn die Grenze wurde erneut zurückverlegt zum Hadrianswall. Es gab sichtlich intensive Bedrohungen aus dem Norden; Kaiser Septimius Severus unternahm 208 bis 211 noch einmal einen Vorstoß zur Rückeroberung des Antoninuswalls.3706 Der dakische Limes3707 gehört nicht mehr zum Thema dieses Buches; aber erinnert sei daran, dass es Limites rund um das Römische Reich gab, auch in den afrikanischen und vorderasiatischen Wüsten.3708
3702 Breeze 2015. 3703 Galsterer 2006; Wiegels 2018a. 3704 Speidel 1996. 3705 Fernández-Götz, Teichner, Stähler, Salzmann 2018; Moosbauer 2018, 9 Abb. 1 Karte. 3706 Jones 2015. 3707 Gudea 1997. 3708 Kuhnen 2018.
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Die römischen Aktivitäten in Südwestdeutschland und auch im Norden der Britischen Inseln sind ein deutlich Hinweis darauf, wie sehr man die andere Seite im Blick hatte, sie aber nicht leicht erobern konnte, jedoch erkannte, dass – wenn auch manchmal die archäologischen Quellen diese nicht unmittelbar zeigen – hier eine Bedrohung gesehen wurde. Ohne Zweifel und das wurde oben gezeigt, haben sich die wirtschaftliche Kraft und die Bevölkerungsdichte in Germanien in Mitteleuropa so beachtlich gesteigert, dass mit einer militärisch besetzten Grenze, die nicht auf der ganzen Länge zur Verteidigung dienen konnte, wenigstens versucht wurde, den Handelsverkehr und die allgemeine Mobilität hin und her zu überwachen. Sichtliches Zeichen der Bedrängung ist die oftmals nur geringe, nur 20 km betragende Vorverschiebung des Limes, wie in Südwestdeutschland, oder das Vorverlegen und baldiges Wieder-Zurücknehmen des Limes in Schottland. Als Grenzmarkierung wäre das alles nicht nötig gewesen. Es scheint über die Kontrolle des Handelsverkehrs hinaus, wie oft „friedlich“ formiert wird, doch eine Bedrohung im nahen Vorfeld des gesamten Limes gegeben zu haben. Es gab im Südwesten keine siedlungsleere Zone mehr vor der Befestigung, sondern die Archäologie weist zunehmend ein sich verdichtendes Netz von germanischen Dörfern nach (vgl. dazu S. 1026). Jüngere archäologische Forschungen am Main und südlich des Stromes haben diese Besiedlung und Teile der Dörfer ausgegraben. Damit ist nun eine Erklärung dafür gewonnen, warum eine Limes-Sicherung tatsächlich notwendig geworden war: Jenseits war eine wachsende Bedrohung auch in der nahen Nachbarschaft entstanden.3709 Krieger aus Germanien sind schon frühzeitig am Limes und in den römischen Militärlagern am Limes archäologisch nachzuweisen:3710 Unter den Sachgütern sind es Keramikformen einerseits, und andererseits bestimmte fast unscheinbare Metallobjekte der Kleidung, so beispielsweise Riemenendbeschläge. Eine Europakarte mit der Verbreitung dieser Riemenendbeschläge (Gruppe III Typ 5, Variante 1) bringt Fundstellen eigentlich nur überall östlich der Elbe in Germanien bis ins Samland und an der Donau, eine andere Variante vom Ende der älteren Kaiserzeit bis ins 3. Jahrhundert (C1b, gegen 250 n. Chr.) in den Heeresausrüstungsopfern in Illerup, im Thorsberger Moor und auch in einigen römischen Plätzen als Nachweis von Germanen in römischen Militäranlagen.3711 Es sind germanische Produkte, die germanische Krieger dann und wann in römische Militärlager mitgenommen haben müssen. Während der Spätantike, im 4. und frühen 5. Jahrhundert, machten schließlich Krieger aus Germanien fast die gesamten Kastellbesatzungen am Rhein aus. Beim Bonner Legionslager bildeten Gräber des 5. Jahrhunderts von Germanen einen Foederatenhorizont ab,3712 ebenso beispielsweise Bestattungen beim Kastell Sponeck am Kaiserstuhl.3713 3709 Steidl 2000c; 2002; 2004; 2007; 2013; 2016. 3710 Matešić 2017, 349 Abb. 2 Karte. 3711 Madyda-Legutko 2011; Blankenfeldt 2015 (2016). 3712 Ciesielski, Schmauder 2015. 3713 Swoboda 1986.
20 Römischer Einfluss in Germanien Wenn es um die gegenseitige Beeinflussung zwischen den römischen Provinzen und Germanien geht, sind die Maßstäbe zu bedenken. Das übergroße Römische Reich und das bis zur Weichsel demgegenüber als Fläche gesehene kleine Germanien sind kaum zu vergleichen, allein wenn es um Entfernungen für die Händler und Krieger geht.3714 Römer und Germanen waren Nachbarn über Jahrhunderte.3715 Die Archäologie kann über den Fundstoff den römischen Einfluss im Sachgut und auch in den geistigen Vorstellungen, in Sitten und Gebräuchen, im Lebensstil beobachten und schildern, was nachfolgend geschehen soll. Aber klar ist auch, dass „Roman ideological influences in Germania“ nur in Ausschnitten fassbar werden, denn die Gedankenwelt ist ohne Schriftüberlieferung nur begrenzt zu erschließen, auch kaum über die wenigen Runeninschriften, eher schon über die Bildinhalte (vgl. unten S. 1206).3716 Ein eigenes Thema ist die Archäologie der Aneignung, wie das genannt wird, wenn es um Übernahme und Verwendung von Sachgütern aus einer anderen Kultur, in diesen Falle aus der römischen Welt geht.3717 Römische Sachgüter werden in Germanien gleichartig wie im Römischen Reich verwendet, nämlich die Ess- und Trinkgeschirre in den „Fürstengräbern“. Hemmoorer Eimer oder Westlandkessel werden aber andernorts außerdem als Graburnen genutzt, was bei den Römern nicht üblich war; da nahm man Glasurnen. Die Front-Situation bzw. das Nebeneinander von Germanen und Römern lässt sich diachron anhand bestimmter archäologischer Quellengruppen beschreiben, wie das S. Brather versucht hat. Beide Seiten wussten intensiv voneinander und haben sich beständig beeinflusst.3718 Es beginnt mit der Verbreitung der Funde von Schwertern zwischen Seine und Rhein sowie den Main aufwärts zur Spätlatènezeit und dem 1. Jahrhundert n. Chr. Es folgen die Fürstengräber der älteren Lübsow-Gruppe und der jüngeren Haßleben-Leuna-Gruppe, die über ganz Germanien verteilt gefunden werden und alle durch Beigaben aus dem Römischen Reich ausgezeichnet sind; weshalb ich sie unter dem Oberbegriff „Grenzgänger“ zusammengefasst habe. Damit meine ich Grenzüberschreitungen in verschiedener Sicht, nicht nur geographisch, sondern nicht zuletzt auch kulturell.3719 Die nächste Phase sieht hohe germanische Offiziere in der römischen Armee im 4. Jahrhundert.3720 Den Abschluss bilden die spätantiken Höhensiedlungen des 4./5. Jahrhunderts in Südwestdeutschland, die M.
3714 Moosbauer 2018, Frontispiz. 3715 Bridger, v. Carnap-Bornheim (Hrsg.) 1997. 3716 Skriver Tillisch 2009. 3717 Schreiber 2013; 2018. 3718 Brather 2005b/2008, 212 Fig. 1 nach Roymans 1996, 36 fig. 1 und 44 fig. 5; ähnliche Fragestellung auch 2007. 3719 Brather 2005b/2008, 217 Fig. 3 nach Steuer 1999a, 384 Abb. 3. 3720 Brather 2005b/2008, 225 Fig. 6 nach Martin 1997, 122, Abb. 119. https://doi.org/10.1515/9783110702675-028
20 Römischer Einfluss in Germanien
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Hoeper und ich als Sitze von Kriegsfürsten aus Germanien deuten und andere Forscher teilweise als römische Vorposten in Germanien.3721 Ebenso spiegeln die Heeresausrüstungsopfer im Ostseegebiet des 2. bis 5. Jahrhunderts die Kontakte zur römischen Welt,3722 nicht nur bei der Verwendung römischer Schwertklingen (vgl. S. 706). Die immer noch pro Moor (bzw. verlandetem See) begrenzten Ausgrabungsflächen der wohl insgesamt deutlich größeren Opferareale haben die Ausrüstung von bis zu 1000 Kriegern dokumentiert. Es folgen als nachfolgende Etappe noch die rund 40 Elitegräber des 4. und 5. Jahrhunderts von Tournai bis Apahida in der „nachrömischen“ Zeit quer durch Europa.3723 Zu diesen Gräbern überlegt M. Schmauder anhand der Kaiserfibeln in einigen dieser Bestattungen, ob das jeweils eine „imperiale Repräsentation“ oder eine „barbarische Imitation“ gewesen ist.3724 Auf die Kelten und die Germanen und ihre Lebensumstände in den germanischen Provinzen des Römischen Reichs gehe ich nicht weiter ein,3725 auch nicht auf Römer und das Leben in den römischen Provinzen am und westlich des Rheins.3726 Aber über Römer bzw. Angehörige des Römischen Reichs in Germanien sollte berichtet werden. Dabei ist kaum abzuschätzen, welche Zahlen man sich da vorstellen könnte. Die Kriegs- und Beutezüge in die römischen Provinzen, auch ins Zentrum nach Italien, haben zu Gefangenen in beachtlichem Umfang geführt, die als Sklaven in Germanien eingebunden waren. Darunter waren sicherlich nicht wenige Handwerker, deren Kenntnisse genutzt wurden, seien es Töpfer, Edelmetall- oder Waffenschmiede. Der mehrfach erwähnte Stein von Augsburg, ein Siegesaltar (vgl. S. 1017), belegt allein schon in die Tausende gehende entführte Römer (sofern die Zahlen zu akzeptieren sind); und auch die Schriftüberlieferung nennt nicht nur die als Sklaven gefangenen Germanen bei den gegenseitigen innergermanischen Kriegen, sondern auch umgekehrt die entführten Gruppen aus den römischen Provinzen. Doch wird es sicherlich auch freiwillig ins Innere Germaniens reisende Leute, Händler und „Entdecker“, aus den römischen Provinzen gegeben haben. Antik überliefert ist der Seeweg vom Rhein nach Jütland und weiter in die Ostsee, wo die Römer vor allem in der südskandinavischen Himlingøje-Dynastie auf Seeland einen wichtigen Handelspartner gefunden zu haben scheinen, wie das eine These vertritt (vgl. auch S. 942).3727 In diesem Kapitel wird weiter untersucht, wie weit der Einfluss des Römischen Reichs mit seiner zivilisatorischen Höhe auf die Lebenswelt in Germanien tatsächlich eingewirkt hat. Was wurde direkt übernommen, was wurde umgewandelt, ehe es adap-
3721 Brather 2005b/2008, 226 Fig. 7 nach Steuer, Hoeper 2002, 44 Abb. 3 und Haberstroh 2003, Abb. 1. 3722 Brather 2005b/2008, 229 Tabelle, nach Brather 2004a, 385 Tab 10. 3723 Brather 2005b/2008, 231 Fig. 8 nach Das Gold der Barbarenfürsten 2001, 86–97. 3724 Schmauder 1998. 3725 Caroll 2003. 3726 Wolters 2006 (5. Aufl.). 3727 Moosbauer 2018, 105.
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tiert werden konnte, und was hat sich nicht verändert. Wieviele eigenständige Gebräuche wurden nicht beeinflusst; wie ist Germanisches in den ersten Jahrhunderten n. Chr. weiter zu erkennen. Kann man und in welchen Bereichen von einer Romanisierung der germanischen Welt ausgehen, ehe später – nach der „Völkerwanderungszeit“ – das Römische Reich in den meisten seiner Provinzen eine Germanisierung erfahren hat. Im Zuge der vorangehenden Erläuterungen habe ich schon mehrfach angesprochen, dass zu Caesars Zeit Süddeutschland bis zum Nordrand der Mittelgebirge eigentlich „keltisch“ besiedelt gewesen ist, was die kulturellen Strukturen betraf. Die Stichworte Oppida-Zivilisation und Münzwesen mögen genügen. Darüber hinaus ist auch der nördlich anschließende Raum einschließlich Dänemarks von der keltischen Kultur beeinflusst worden,3728 so dass die Archäologie für die Zeit vor Chr. Geb. gar von einer keltischen Eisenzeit spricht. P. S. Wells hat schon vor Jahren gezeigt, wie sehr eigene Traditionen trotz der Überformung durch Rom über die Zeiten hinweg bewahrt wurden. Nach dem Ende der römischen Besetzung Galliens und Süddeutschlands durch Rom lebten hier alte Verfahren beispielsweise der Keramikproduktion und ihre Formen wieder auf, die leicht zu erkennen sind, aus der Epoche davor, wodurch belegt ist, dass nicht alle früheren Traditionen verschwunden waren. Keltisches wurde von Germanen übernommen, in der römischen Phase überschichtet, um danach wieder aufzuleben.3729 Um den „keltischen“ Einfluss rechts des Rheins zu erkennen, braucht man sich nur die Verbreitung keltischer Münzen in Westfalen3730 vor Augen zu führen. Dazu gibt es mehrere Kartierungen. Die augusteische „Germanenpolitik“ griff, wie die keltischen Münzen zeigen, über noch „keltisch“ besiedelte Landschaften in Germanien ein.
20.1 „Romanisierung“ Die Romanisierung wird auf verschiedenen Ebenen der damaligen Lebensverhältnisse aufgespürt.3731 Es geht dabei um Sachgüter, die Römisches nachahmten, um römische Sitten, abgebildet in den Ess- und Trinkgeschirrsätzen in den „Fürstengräbern“, in kulturellen Einflüssen wie z. B. in der Übernahme des Charonspfennigs, in der Organisation größerer militärischer Verbände und anscheinend auch im kultischen Bereich durch die Anpassung römischer Götterstatuen an die eigenen Gottheiten. Greifbar wird dies seit dem 4. Jahrhundert in der Übernahme römischer Bildmuster3732 und ihrer Umgestaltung nach eigenen Vorstellungen in der gut überlieferten Kleinkunst, in der Entwicklung der sogenannten Tierstile und der Bilder auf den Goldbrakteaten. Dass es aber nicht um Übernahme, sondern um Umgestaltung 3728 Möllers, Schlüter, Sievers (Hrsg.) 2007; Kaul 2017. 3729 Wells 1999/2001; 2001; 2007. 3730 Wigg 2003, 227 Abb. 3 römische und keltische Münzen in Waldgirmes. 3731 Woolf 2001; Krausse 2007: antike Vorläufer der Globalisierung. 3732 Noelke, Naumann-Steckner, Schneider (Hrsg.) 2003.
20.1 „Romanisierung“
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ging, veranschaulicht überzeugend die Einführung der Runenschrift mit der Buchstabenfolge des Futhark und in der Ablehnung des lateinischen Alphabets. Romanisierung innerhalb der einheimischen Bevölkerung in den römischen Provinzen und in deren Nachbarschaft jenseits des Rheins – man denke an mögliche Klientelkönigreiche – wird in der Akzeptanz von Herrschaft fassbar.3733 Von Romanisierung wird schon für die wenigen Jahre nach der Besetzung der Gebiete östlich des Rheins unter den augusteischen Feldzügen gesprochen, zumal W. Eck für einige Jahre von der Existenz einer römischen Provinz ausgeht.3734 Eine römische Präsenz wird ebenfalls archäologisch in den nördlichen Mittelgebirgen gesehen,3735 über die zahlreichen Militärstationen und Marschlager hinaus. Römische Kaufleute und in Germanien lebende und arbeitende Handwerker römischer Herkunft brachten römische Sachen und Ideen ins Land; ob diese Handwerker freiwillig wegen guter Geschäfte oder als Gefangene ins Innere Germaniens kamen und dort blieben, kann man an archäologischen Befunden nicht unmittelbar ablesen. In der Regel wird davon ausgegangen, dass germanische Krieger als Söldner – von der Frühzeit an wie Arminius – in der römischen Armee Dienst geleistet haben, aber wieder in die Heimat zurückgekehrt sind und dabei Sachen, Sitten, Verhaltensweisen und Gedanken übernommen und mitgebracht haben. D. Quast sprach 2016 von brain drain durch Rückkehrer und den Auswirkungen von Migrationen durch wieder zurückgekehrte Leute in ihre einstigen Abwanderungsgebiete.3736 Germanen lebten sogar beiderseits des späten Limes,3737 der Rhein war seit der Drususzeit Aufmarschgebiet für die Kriegszüge ins Innere Germaniens. Legionslager wurden am Rhein ausgebaut, und gleich gegenüber siedelten Germanen.3738 Es hat weitreichende Aspekte der Romanisierung gegeben, aber ebenso nur lokale Beeinflussungen. Wie intensiv war der römische Einfluss auf die Germania magna während der Römischen Kaiserzeit?3739 B. Bleckmann spricht von einer Verschränkung zwischen römischer und germanischer Welt.3740 Die Verwendung von reichsrömischen Produkten und Fertigkeiten in Germanien und der zunehmende Einsatz von Germanen im römischen Heer sowie ihre Ansiedlung im Reich beschreiben dieses Zusammenkommen, die gegenseitige Verflechtung der Kulturen. Die Romanisation am Niederrhein beiderseits des Stromes erfährt man über das Schicksal der „germanischen“ Bataver als Völkerschaft. Im Bereich der Gottheiten überliefern deren germanisch-römische Namen, auch im Bereich des Matronenkults,
3733 Rubel (Hrsg.) 2013, auch 2019; Kehne 2000. 3734 Eck 2009; 2014; 2015; Cosack 2014 (2019), 168. 3735 Zelle 2008. 3736 Quast 2016. 3737 Th. Fischer, Precht, Tejral 1999. 3738 Hanel 2014. 3739 M. Meyer 2013b. 3740 Bleckmann 2009, 184–190.
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20 Römischer Einfluss in Germanien
die Akkulturation beider Seiten; die schließlich ebenso im Wandel des Siedlungswesens und des Hausbaus erfolgte. Einerseits blieben germanische Gruppen bei ihrer traditionellen Bauweise der Wohn-Stall-Häuser, und andererseits wurden aus germanischen Gehöften römische Villen, der Holzbau wurde durch Steinfundamente ergänzt (vgl. S. 230).3741 Die Bataver gliederten sich – nach dem Aufstand des Civilis – in die römische Provinz am Niederrhein ein, und sie wurden als Soldaten gewonnen. Eine ala I Batavorum wurde sogar in großer Entfernung in der Provinz Dacia in den Jahren von 136 bis 253 eingesetzt, wo das Lager und sein vicus archäologisch erforscht werden.3742 Weiter im Süden verwandelte sich die Wetterau in ein solches Gebiet der vermischten Kulturen, nicht nur weil in geringer Entfernung das römische „Stadtmodell“ Waldgirmes entstand (vgl. S. 1090).3743 Im Maingebiet jenseits des Limes findet man in den germanischen Siedlungen vielfach römischen Fibelschmuck für die Kleidung; beliebt waren email- und pressblechverzierte römische Scheibenfibeln, die gegen die schlichten einheimischen Fibeln ausgetauscht wurden. Doch trotz der engen Nachbarschaft blieben es unterschiedliche Welten.3744 Die Erfindung der „Germanen“ heißt eine vor wenigen Jahren eröffnete Ausstellung im Landesmuseum für Vorgeschichte Halle. Im Untertitel des Beitrags3745 wird zwar immer noch vom „freien“ Germanien gesprochen (statt besser von Germania magna), aber Ziel der Ausstellung ist zu zeigen, wie die „Beziehungen der Germanen zu den Römern“ gewesen sind. Viele Germanen der Elite, einer sozial führenden Schicht, wurden im Römischen Reich ausgebildet, das ging schon los mit Ariovist und Arminius. Sie sprachen Latein und konnten wohl lesen und schreiben, wie andere auch, was sogar Griffel in Gräbern Germaniens zeigen.3746 Man übernahm aber nicht die lateinische Schrift, sondern wählte bewusst die eigene Erfindung, die Runenschrift (s. u. S. 1249). Die Ausstellung verknüpft wieder unmittelbar antike schriftliche Überlieferung mit dem archäologischen Befund, hier zum Gräberfeld Profen im südlichen Sachsen-Anhalt (dazu S. 967). Hier hätten nach Tacitus Hermunduren gesiedelt, die den Römern treu ergeben gewesen sein sollen, und benachbart Quaden, von denen „in Sachsen-Anhalt […] mehrfach Frauengräber mit Beigaben aus dem Kulturkreis der Quaden entdeckt wurden“. Als Archäologe sehe ich diese gesichert erscheinende Interpretation als Ergebnis eines Kreisschlusses an. Die Beigaben, Kleiderschmuck wie Nadeln aus Tierknochen, Bronze und Eisen sowie Fibeln, in den Urnen und diese selbst waren heimische Produkte, auch Trinkhornbeschläge, Lanzenspitzen, Schildbuckel, Schwertknäufe, Eisenschwerter. Als römisch werden die
3741 Galsterer 2001; Slofstra 2002; Bauchhenss 2007a, b; auch Schmitz 1997: Akkulturation im Spiegel der Inschriften. 3742 Mischka, Rubel, Varga 2018; ausführlich dazu jetzt Derks, Teitler 2018 (2019). 3743 Steidl 2000a. 3744 Steidl 2016a, 35 Abb. (Fibeln). 3745 Schöne 2015, 66 Zitate. 3746 Lichardus 2002.
20.1 „Romanisierung“
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goldenen Berlockanhänger mit Granulation und Filigran gekennzeichnet, die aber durchaus in germanischen Werkstätten entstanden sind (vgl. S. 478). Weil es weiter im Süden dieselben Sachgüter in Böhmen und der Slowakei als Grabbeigaben gibt und weil hier nach der schriftlichen Überlieferung Quaden gesiedelt haben, werden diese Objekte nun in Thüringen als Beigaben eingeheirateter Frauen der Quaden gedeutet. Römische Objekte als Statussymbole in Grabbeigaben und Siedlungsfunden sind hier wie andernorts auch Glasspielsteine, Gläser, Bronzegefäße wie Kessel und Eimer sowie Mischgefäße für Wein, sogar medizinische Geräte wie Skalpelle. Die Bewohner Germaniens hatten auf ganz verschiedenen Ebenen Beziehungen zum Römischen Reich. Abgesehen von den kriegerischen Verhältnissen gab es Mobilität von Personen ins Imperium und wieder zurück in die alten Wohngebiete. Außerdem gab es mehr oder weniger kontinuierlich Handelsverbindungen. Römische Sachgüter sind daher auf diesen verschiedenen Ebenen nach Germanien gelangt. Die wissenschaftliche Forschung hat nun irgendwie einseitig und mit großer Intensität registriert und katalogisiert, was an römischen Gütern in germanischen Bestattungen und Siedlungen bisher entdeckt worden ist. Römisches ist leicht zu identifizieren (und zu datieren), macht aber immer nur einen geringen Bruchteil im Kontext zu den sonstigen Funden in den Siedlungen Germaniens aus. Doch wird das sehr selten thematisiert und kaum in Prozentwerten erfasst. Eine Forschungstradition hat sich seit Jahrzehnten darauf konzentriert, die römischen Importe in Germanien als Beleg für intensiven Handel und anderen Kontaktmöglichkeiten in Katalogen zu erfassen und zu kartieren. Von Hans Jürgen Eggers 1951 über Jürgen Kunow 1983 bis zu Ulla Lund Hansen 1987 liegen dazu Monographien vor.3747 Allgemein spricht man dabei von Importen oder von Warenaustausch, weniger direkt von Handel. Nachfolgend wurde das große Unternehmen „Corpus der römischen Funde im europäischen Barbaricum“ 1994 begonnen, und bis in die Gegenwart sind in vielen Bänden die Sachgüter aus dem Römischen Reich, die nach Germanien gelangt sind, veröffentlicht.3748 Mit dem Einsatz von Metallsonden hat aber die Fundmenge so enorm zugenommen, dass notwendige Nachträge ebenso umfangreich würden und werden wie die ersten Zusammenstellungen. Denn auch die Prospektionen in der Landschaft spüren die einfachen Metallsachen ebenso leicht auf, wie das vorher schon bei der roten Terra Sigillata der Fall war. Das Ergebnis ist, dass alle Gebiete in Germanien von römischen Sachgütern erreicht worden sind, und zwar in Wellen, wie sich bei detaillierter chronologischer Auswertung ergeben hat, und der Import ist auch in unterschiedlicher Intensität im archäologischen Kartenbild überliefert, weil beispielsweise die heimischen Grabsitten regional verschieden waren (vgl. S. 610). Der Ausgleich erfolgt jetzt durch die Begehung auch der Siedlungen mit Metallsonden. Die Tendenz der Forschung ist aber insgesamt immer einseitig bzw. betont eine Richtung von Rom ins Innere Germaniens bzw. anders gesagt ins europäische Barbaricum, wobei die prozentualen Mengenanteile
3747 Eggers 1951; Kunow 1983, 1985; Lund Hansen 1987. 3748 Corpus 1994 ff.
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20 Römischer Einfluss in Germanien
der Importgüter am germanischen Zivilisationsgut selten erkennbar wird. Ich behaupte einfach, dass Römisches höchstens 10% des Gesamtfundmaterials aus Keramik und Metall in den Siedlungen ausgemacht hat, meist weniger; doch kann ich diese These nicht unmittelbar durch Zahlen belegen. Germanien war im Vergleich zur Größe des Römischen Reichs und von dort aus gesehen ein relativ kleinräumiges Vorgelände, worauf ich hingewiesen habe (vgl. S. 605). Aber in seiner Gesamterstreckung von der Weichsel bis zum Rhein, von Skandinavien bis zur Donau und im Südosten bis zum Schwarzen Meer war Germanien doch ein von der Fläche und der Bevölkerungsdichte her von nicht zu unterschätzender Größe. Von der Weichsel bis zum Rhein sind es über 1000 km Luftlinie, von Mittelschweden bis zur Donau bis zu 1400 km, von der südlichen Ostseeküste bis zum Schwarzen Meer mehr als 1500 km. Zwar sind das grobe Maße, und die Reiseentfernungen sowie die Dauer der Reisen sind daran noch nicht abzuschätzen. Die Marschwege der Legionen bis zur Weser sind mit 200 km oder bis zur Elbe mit 350 bis 400 km in Tagesetappen auszurechnen. Bei 15 km pro Tag sind das zur Weser rund zwei Wochen (ohne Unterbrechung), und noch einmal braucht es dieselbe Zeit für den Rückweg; bis zur Elbe sind das rund vier Wochen, und wenn man mit Schiffen über die Nordsee in die Elbe aufwärts fahren wollte, dauerte das sicherlich noch länger. Die Zeitvorstellung damals war eine andere als heute; und keiner konnte schneller vorankommen als ein Pferd laufen oder eine Kutsche, ein Wagen, fahren konnte. Das war bis zur Goethezeit so und blieb bis ins 19. Jahrhundert immer gleich. Erfahrene militärische Einheiten, ob nun römische Legionen oder germanische Kriegerverbände, bewegten sich anders durch das Land, als kleine Kaufleutegruppen, die in der Regel andere Ziele hatten und in den Siedlungen und an den Herrenhöfen in Germanien tauschen, kaufen und verkaufen wollten und sich dort daher auch länger aufhielten. Doch alle Gebiete in Germanien wurden von den Handelswaren erreicht. Die sogenannten römischen Westlandkessel (vgl. oben S. 468) kamen in größeren Zahlen bis hoch nach Norwegen. Das Netzwerk der so gleichartigen „Fürstengräber“, die Bestattungen der Elite, spannte sich vom nördlichen Skandinavien über die dänischen Inseln bis Mähren aus und spiegelt die bestehenden Kommunikationen. Es gibt trotzdem Unterschiede zwischen den limesnahen Bereichen und den fernen Landschaften, was den Charakter und die Intensität römischer Einflüsse betrifft. Manche Sachgüter wie Terra Sigillata kommen im limesnahen Bereich häufiger vor als in einigen hundert Kilometern Entfernung von der Grenze. Andere Güter haben Verbreitungsschwerpunkte inmitten Germaniens, was zumeist durch die Überlieferungsweise zu erklären ist, über andere Grabbeigabenbräuche beispielsweise. Die verschiedenen Zugangswege sind zu berücksichtigen. Ob die Güter vom Westen, vom Rhein aus, ins Innere Germaniens gebracht wurden oder vom Süden, von der Donau aus, oder vom Südosten, von der Ukraine her, oder auch auf dem Seeweg über die Nordsee und die Flüsse aufwärts nach Germanien gelangten waren, das führte ebenfalls zu unterschiedlicher Verteilung. Überlieferungs- und Erhaltungsbedingungen einerseits, Zuwege von außen ins Innere Germaniens andererseits und schließlich auch die wechselnden politischen
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Situationen in den Ausgangsprovinzen im Westen oder Süden bilden die sich „überlappenden“ Filter, die zu den Verbreitungsbildern der archäologischen Forschung geführt haben, und diese war und ist regional unterschiedlich intensiv. Der zivilisatorische Unterschied zwischen dem Römischen Reich und Germanien war nicht zu übersehen, auch wenn nicht unterschätzt werden sollte, dass die Verhältnisse in den verschiedenen römischen Provinzen, von Gallien und der Iberischen Halbinsel, über das Kernland Italien, bis zu den Provinzen im Süden und Osten wie Pannonien und zeitweilig Dakien ebenfalls unterschiedlich waren. Dieser zivilisatorische Unterschied betraf jedoch nur bestimmte Bereiche des alltäglichen Lebens. Im Kriegswesen war das römische Militär anders und stärker durchorganisiert als die germanischen Kriegerverbände. Doch hat sich immer wieder gezeigt, dass die Kampfesweise in vielerlei Hinsicht vergleichbar war. Im Wohnen und Wirtschaften war das Leben in Germanien einfach anders – wie ausführlich begründet (vgl. S. 289), die Stichworte Wohn-Stall-Haus statt Steingebäude, Dörfer statt villae rusticae. Damit meine ich, dass aus der Blickrichtung Roms trotzdem nicht von einer Randkultur gesprochen werden sollte, wie das manche Historiker formuliert haben. Die Germanen übernahmen gern Vielerlei aus der römischen Welt, wie noch gezeigt werden wird, aber sie wollten keine Römer werden. Von der Zeit des Augustus an waren fortlaufend Germanen im Römischen Reich, als Leibgarde in der Nähe des Kaisers, als Söldner in den römischen Legionen. Sie stellten, wie unter Arminius, komplette Auxiliareinheiten, viele erhielten das römische Bürgerrecht und beherrschten die lateinische Sprache. Entscheidend ist für die germanisch-römischen Kontakte, dass die meisten Söldner wieder zu ihren Siedlungen in Germanien zurückkehrten. Sie brachten dann Sold, also Geld und Gold, ihre Ausrüstungen mit Waffen und Kleidung bis zu den genagelten Sandalen und allerlei Sachgüter mit in die Heimat sowie – was entscheidend sein kann – die Kenntnis von Sitten und Gebräuchen mit nach Hause, z. B. (vgl. S. 929) das immer wieder zitierte Beispiel der Goldmünzen als Charonspfennig in den Fürstengräbern der Haßleben-LeunaGruppe. Man musste inzwischen den Sinn dieses Brauches verstanden haben, um ihn zu übernehmen,3749 und man wählte, wenn keine Münze zur Hand war, als Ersatz Bernstein, Glassplitter oder andere Sachen dafür aus. Das Söldnerwesen ist nach Alexander Demandt ein Grund für das Ende des Römischen Reiches gewesen, weil schließlich die Übertragung der Reichsverteidigung an germanische Krieger den Untergang des Reiches besiegelt hätte.3750 Statt Untergang spricht die gegenwärtige Forschung lieber von einer Transformation, von einer Umwandlung alter Strukturen und Verhaltensweisen.3751 Denn das Römische Reich war nicht einfach verschwunden, sondern stattdessen entstanden die germanischen Königreiche mit dichter Tradition zum Römischen; und Ostrom als Byzantinisches Reich existierte rund 1000 Jahre weiter bis ins 15. Jahrhundert. 3749 Werner 1973, dazu jetzt Bemmann 2014. 3750 Demandt 2007; 1984/2014; Artikel in der F.A.Z 21.1.2016 und dazu Leserbrief von H. Feilke in der F.A.Z. 3.2.2016. 3751 Wood 2006.
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Die Bevölkerungen der römischen Provinzen an Rhein und Donau, einschließlich des Militärs in den Lagern, waren unmittelbare Nachbarn der Bewohner Germaniens. Die Entfernungen bis zur Elbe oder umgekehrt von der Elbe zu den römischen Grenzströmen waren in wenigen Tagesreisen für Kaufleute leicht zu überwinden. Man braucht dafür gar nicht die Belege über römische Feldzüge bis zur Elbe. Auch wenn ich meine, dass viel zu wenig gesehen wird, wie unabhängig die Bevölkerung in Germanien leben wollte und sich der Einbeziehung in die Organisation des Römischen Reichs als eine Provinz entzogen hat, ist nicht zu übersehen, dass vom zivilisatorisch überlegenen Nachbarn vielfältige Errungenschaften übernommen worden sind. Das betrifft zwar sowohl das Militärische, wobei die römischen Armeen – in denen bald in größerer Zahl Germanen „dienten“ – wiederum aber auch im Laufe der Jahrzehnte auch Waffen und Kampfesweise von den Germanen übernommen haben. Das Langschwert der Germanen, die Spatha, zuerst von der römischen Reiterei übernommen, wurde später allgemein zur Bewaffnung auch der Infanterie. Ebenso ist die Einführung der Runen trotz ihrer Andersartigkeit ohne das Vorbild der römischen Schrift nicht zu verstehen. Der Alltag in den typischen einheimischen Häusern war seit Jahrhunderten gleichartig ausgestaltet, was Keramik- und Holzgefäße für Essen und Trinken betrifft oder auch das Werkzeug aus Eisen. Ebenso wurden viele Waffen aus Eisen durch Schmiede am Ort hergestellt, produziert aus dem Metall, das dem Raseneisenerz abgewonnen wurde; Schwertklingen aber hatte man sich mehrheitlich aus dem Römischen geholt. Wurden schon in der Bronzezeit Mitteleuropas Gefäße aus Bronze, zum Beispiel die gewichtigen sogenannten Gürteldosen, oder komplexe Musikinstrumente, Luren, gegossen (wobei das Metall Bronze im skandinavischen Norden wohl aus den Alpen importiert worden ist) und wurden getriebene Goldgefäße erzeugt, sah das in den Jahrhunderten nach Chr. Geb. in Germanien anscheinend anders aus. Doch sollte das weiter überprüft werden. Denn Drehscheibenkeramik, Facettschliffgläser oder mit Granulation verzierte Schmucksachen sind nach gegenwärtiger Kenntnis durchaus in Germanien produziert worden. Sind – und warum dann – eigentlich die früheren Kenntnisse verloren gegangen, was sowohl die Rohstoffgewinnung als auch die handwerkliche Verarbeitung betrifft. Vielleicht hat mehr die Zeiten überlebt, als die Archäologie direkt erfassen kann; ich erinnere an die Beobachtungen von P. Wells, der gezeigt hat (vgl. S. 1032), dass Kenntnisse und Verfahren aus der „keltischen“ Zeit die Überschichtung durch die römische Epoche im „Untergrund“ überlebt haben und dann nach Jahrhunderten wieder aufgegriffen wurden.
20.2 Wellen der Beziehungen zwischen Germanen und Römern Michael Erdrich hat auf die wellenförmigen Zuströme römischer Sachgüter, Münzen, Terra Sigillata oder Metallgefäße – sogar Mühlsteine aus rheinischem Basalt – ins innere Germanien hinein aufmerksam gemacht. Die erste Phase wird von den augusteischen Offensiven um und nach der Varusschlacht bestimmt; die zweite Phase des
20.2 Wellen der Beziehungen zwischen Germanen und Römern
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claudisch-flavischen Systems (zweite Hälfte des 1. Jahrhunderts) ist durch Diplomatie gekennzeichnet; die dritte Phase der spätantoninisch-frühseverischen Zeit (zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts bzw. die Zeit der Markomannenkriege) spiegelt ein Krisenmanagement; die vierte Phase ist die des gallischen Sonderreichs (zweite Hälfte des 3. Jahrhunderts), für das Germanien Hilfstruppen gestellt hat; und schließlich bringt eine fünfte Phase die tiefgreifende Umwandlung des Imperiums (um 400). Nach M. Erdrich war die Ausfuhr römischer Waren ein politisches Instrument, um Bevölkerungsgruppen in Germanien zu gewinnen und zu kontrollieren.3752 Von der augusteischen Zeit bis ins 4. Jahrhundert gelangte römische Keramik in Schüben nach Germanien; in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts war es wenig Keramik, bevorzugt wurde eine Auswahl; es folgten zwei Schübe, von 160/170 bis vor dem Ende des Jahrhunderts und dann von der Mitte des 3. bis zum Ende des Jahrhunderts.3753 Regelmäßig wird von zwei Phasen der Importe römischer Sachen zur Weiterverarbeitung ins Innere Germaniens gesprochen, einerseits um die Zeit der Markomannenkriege, als vor allem Militaria und Fibeln „importiert“ worden sind, andererseits in einer zweiten Epoche, mit Gütern vor allem zivilen Charakter während der Phase C2 bis in die 270er Jahre.3754 Claus von Carnap-Bornheim meinte demgegenüber für Niedersachsen, weil gerade Luxusgüter fehlten und nur Durchschnittsware gefunden wird, auch keine Elitegräber fassbar sind, dass nicht nachweisbar ist, ob Führungsgruppen überhaupt erreicht wurden. Er macht darauf aufmerksam, dass mit einem Austausch der – eben leicht erkennbaren – römischen Sachgüter auch innerhalb Germaniens von Gebiet zu Gebiet gerechnet werden kann.3755 Für den Raum Südböhmen ist 2018 dieser wellenförmige Zufluss römischer Importe und die darüber fassbaren römisch-germanischen Kontakte beschrieben worden.3756 Moderne Prospektion hat eine beachtliche Zunahme des römischen Fundstoffs gebracht, was Fibeln, Terra Sigillata, Fragmente von Bronzegefäßen und Münzen angeht, vor allem in Siedlungen, und zwar für die Zeit von der zweiten Hälfte des 1. und die zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts. Festgestellt werden Wellen der Phasen B1c, B2a, B2b-B2/C1. Das klingt zwar recht überzeugend, weckt jedoch bei der Kürze dieser Unterphasen Zweifel, ob tatsächlich so genau datiert werden kann. Bei der Fülle der Sachen in der Siedlung Sedlec möchte man hier sogar einen Zentralort vermuten. Eine von M. Erdrich vorgelegte Karte für Norddeutschland und die Niederlande bringt die Verteilung der römischen Funde, ohne die Münzen, im 2. Jahrhundert n. Chr. Römische Sachgüter kommen überall vor, aber auffällig ist die unterschiedliche Überlieferung. In den niederländischen Wurten und im westlichen Norddeutschland beider3752 Erdrich 1995a, c; 2001a; auch 2012. 3753 Erdrich 2016. 3754 Voss, Müller-Scheessel (Hrsg.) 2016, 839–844. 3755 v. Carnap-Bornheim 1999b, 30. 3756 Droberjar, Knápek, Zavřel 2018.
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seits der Ems überwiegen als Fundorte für römische Importe die Siedlungen, während vom Elbe-Weser-Dreieck die Weser aufwärts der Fundstoff in Gräbern überwiegt.3757 Die Beigabe römischer Gefäße in den Körpergräbern ist leicht und direkt zu beschreiben, schwieriger ist es, die Masse an verschmolzenen Resten in den Brandgräbern, die zahlenmäßig bei weitem überwogen, und im Siedlungsmaterial zu erkennen und zu bewerten.3758 Mattias Becker blickt dabei geographisch auf „die zweite Reihe – römische Einflüsse in Mitteldeutschland“, also in ein Gebiet in mittlerer Entfernung von der römischen Grenze. Die römischen Sachgüter sind also nicht nur als Geschenke und Beutegut in dieses Gebiet gelangt, sondern über regelmäßige, aber uneinheitliche Handelsströme. Es gilt, die Unterschiede in der chronologischen und geographischen Verteilung zu sehen und die Typenvielfalt und das Qualitätsspektrum zu beachten. Römische Bronzegefäße dienten als Rohmaterial für das germanische Buntmetallhandwerk, wie zahlreiche Fragmente nur unvollkommen schon verarbeiteter und angeschmolzener Gefäßreste belegen. Im Nahbereich des Limes gibt es recht viele Importe, aber eben keine „Fürstengräber“ und auch weiter im Osten fehlen Importe und solche Gräber der Elite. Der Grund waren unterschiedliche Beziehungen der Bewohner Germaniens zum Römischen Reich einerseits, und andererseits sicherlich auch verschiedene Vorstellungen über den Totenkult. In der limesnahen Zone gab es laufend Kontakte und regelmäßigen Austausch, trotz der ständigen militärischen Bedrohung durch Rom.3759 Die nächste weiter entfernte Zone wurde von diplomatischen Kontakten und dem Austausch zwischen limesnahen und diesen fernen Germanen bestimmt. Die dritte ferne Zone wurde vom innergermanischen Austausch versorgt, wobei relativ wenige römische Gegenstände eine Rolle spielten, die weniger über Handel als vielmehr durch Beutezüge ins Gebiet gelangt sind. Die verschiedenen römischen Gefäßformen, beispielsweise Tabletts (Typ Eggers 121) und Becken mit Halbdeckel (Typ Eggers 90), die allgemein im Römischen Reich verbreitet waren, kamen nun auffällig häufig in Mitteldeutschland vor, dienten hier einerseits als Rohstoffquelle zum Einschmelzen und wurden nicht in ihrer eigentlichen Funktion als Tablett benutzt, andererseits kamen sie im 3. Jahrhundert nicht nur in Fürstengräbern vor, sondern ebenso schon und etwas früher in Brandgräbern und Siedlungen (hier aber als Buntmetallschrott). Vergleicht man also dieselben Objekte als Schrott und als repräsentative Grabbeigabe, dann scheinen sie vielleicht doch in ihrem Wert und Ansehen von der Forschung überschätzt worden zu sein. Auch nach P. Kehne sind drei solche Zonen und Wegebereiche ins Innere Germaniens durch die Römer zu unterscheiden: 1. der direkte nachbarschaftliche Kontakt, 2. diplomatische und händlerische Beziehungen, 3. Wege ins weitere Hinterland, ohne jede römische Kontrolle, und dort entstanden daher die besonderen Unruheherde.3760 3757 Erdrich 2000, 228 Abb. 191 farbige Kartierung. 3758 M. Becker 2016b. 3759 Hedeager 1978; 1987. 3760 Kehne 1994, 40–41.
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Sogar schon im limesnahen Rheinland sind räumliche Unterschiede in der Verteilung römischer Sachgüter zu registrieren.3761 Die Kleinräume im nördlichen und im südlichen Rheinland, die sich auch in der einheimischen Keramik unterscheiden, weisen unterschiedliche Importmengen auf. Am nördlichen Niederrhein sind nur 18 Bronzegefäße, aber südlich der Ruhr immerhin 126 Gefäße aufzulisten, im Norden nur 8 Gläser sowie 35 im Süden und 80 Terra Sigillata-Gefäße im Norden, aber 456 im Süden. Wenn man die Kontakte beschreiben will, dann gilt es, zeitlich und räumlich zu differenzieren. In Limesnähe sah es anders aus, als 100, 200 oder mehr Kilometer Entfernung, was die archäologisch erfassbare Funddichte beispielsweise betrifft. Auch war der Einfluss von Rom ins Germanische nicht kontinuierlich gleich; unabhängig von den wechselnden Kriegs- und Friedenszeiten. Die Phasen der Kontakte sind beschrieben worden.3762 Römisches Tischgeschirr aus Keramik, die sogenannte glänzend rote Terra Sigillata und später die Terra Nigra oder die Argonnen-Sigillata, wurde auch in Germanien gern als Luxusgut genommen; und die weite Verbreitung der Scherbenfunde bezeugt dies. Dabei ist die Funddichte in Limesnähe erheblich und dünnt dann mit zunehmender Entfernung vom Rhein aus, eine plausible Situation, die sich aus den Handelsbeziehungen erklärt. Auch andere Keramikgefäße, darunter sogenannte Faltenbecher als Trinkgeschirr waren beliebt, was einerseits dazu führte, derartige Gefäßformen in heimischer Herstellungstechnik nachzuahmen, andererseits produzierten im Inneren Germanien gelegene Werkstätten solche Gefäße in Töpfereien nach römischem Vorbild für das Umland. In Haarhausen, Sachsen-Anhalt, wurde eine solche Töpferei mit mehreren Öfen ausgegraben (vgl. S. 438). Es bleibt zu diskutieren, ob hier römische Handwerker freiwillig oder als Kriegsgefangene gearbeitet haben oder ob germanische Handwerker die Technik bei einem Aufenthalt in den römischen Provinzen oder am Ort mit Hilfe römischer Handwerker gelernt hatten; denn die Ofentechnik unterscheidet sich doch von der im Römischen Reich. Jedenfalls bediente sich die Oberschicht der näheren Umgebung von Haarhausen mit derartigen Gefäßen, was nicht nur anhand von Scherbenfunden in Siedlungen, sondern auch die Grabbeigaben zeigen. Die Zusammenstellung der römischen Terra Nigra-Fußgefäße des 4. und 5. Jahrhunderts zeigt die Wege und Intensität, wie diese Keramik sich im limesnahen Bereich auch in Germanien verteilt hat und aufgenommen worden war.3763 Zwei unterschiedliche Produktionszonen sind einerseits im Linksrheinischen verteilt; die eine erreicht in den Niederlanden nur die Wurtenzone. Die zweite Warenart findet sich vom Rhein ausgehend recht häufig in Westfalen und besonders verdichtet entlang der Flüsse wie die Ruhr hinauf ins Landesinnere; das wirkt wie die Weiter- und Wiedernutzung der alten Vormarschstraßen ins Innere Germaniens. Die Rheinzone hatte seit dem 3. Jahr-
3761 Frank 2010 (2011). 3762 Erdrich 2001a. 3763 v. Thienen u. a. 2017, 92 Fig. 7 farbige Verbreitungskarte.
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hundert beiderseits des Stromes einen gemeinsamen Konsumentenmarkt gebildet. Es ist tatsächlich der Raum mit der einsetzenden Mobilität von verschiedenen Gruppen, die in späterer Zeit zusammen zu den Franken wurden. Die sogenannten Fußschalen wurden noch 1998 als eine salisch-fränkische Keramikgattung gewertet. Sie steht in antiker Tradition, auch wenn außer in den Argonnen inzwischen Werkstätten in Westfalen und in den Niederlanden rechts Rheins vermutet werden. Die Grenzsituation hat in der Spätphase somit keine Rolle mehr gespielt; vielmehr hat sich die Produktion qualitätsvoller Tischkeramik unabhängig von politisch-ethnischen Einheiten durchgesetzt. Die Situation in diesem sich auflösenden Grenzbereich ist jetzt mehrfach analysiert worden, wobei Migrationen, Transformationen und der Niedergang der römischen Strukturen zu betrachten sind.3764
20.3 Beeinflussung Skandinaviens und Klientelkönigtümer? Bei der Betrachtung und Auswertung der unterschiedlichsten Kartierungen von Sitten und Sachen haben sich diese Fragestellungen entwickelt, die in der Zwischenüberschrift genannt werden. Sind von Rom aus direkt die germanischen Gruppen im Ostseegebiet und in Südskandinavien politisch beeinflusst worden?3765 Auf Seeland werden im Totenkult derartige Einflüsse vermutet, die über Handel, Beute und Subsidien die Materialvielfalt geschaffen haben. Es sind oftmals die schon länger bekannten Beigaben in Bestattungen, die dazu Anlass geben; es geht um die Gräber mit Silbergefäßen und Bronzeschalen schon der Phase B1b (40–70 n. Chr.) in Dänemark und in Norddeutschland. Auch ein Pugio/Dolch mit Scheide in Grab A 1403 in Hedegård oder in Hoby der Becher mit der Silius-Inschrift scheinen den römischen Zugriff zu spiegeln. Die „Fürstengräber“ der jüngeren Römischen Kaiserzeit auf Ost-Seeland wie die von Himlingøje, Valløby und Varpelev fallen durch ihren römischen Import besonders auf. T. Grane vermutet daher einen Zusammenhang zwischen Perioden friedlicher Koexistenz mit dem Imperium Romanum und Phasen militärischer Auseinandersetzung; die Funde und Befunde der Stufe A3 (10 v.- 20 n. Chr.) mit den Germanenfeldzügen des Drusus in der Frühzeit und der Stufen B2b/C1 um 180 n. Chr. mit den Markomannenkriegen in der späteren Epoche fallen auf durch jeweils höchste Ausschläge in der Anzahl der Waffengräber. Die könnten aber, so meine ich, ebenso auf innergermanische Kriege zurückgehen, was sich deutlich später dann in den Heeresausrüstungsopfern zeigt. Diese Beziehung von den Ostseeinseln zum Römischen Reich hat ähnlich schon in einigen Studien Ulla Lund Hansen vor mehreren Jahren postuliert.3766 Es sieht für den außenstehenden Archäologen so aus, als ob die ein-
3764 Heeren 2017. 3765 Grane 2007a, b; 2011; 2013b. 3766 Lund Hansen 1976; 1987; 1995 und wieder 2007 in: Grane 2007b.
20.3 Beeinflussung Skandinaviens und Klientelkönigtümer?
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heimische Wissenschaft – in Dänemark beispielsweise – gewissermaßen pro domo spricht und dabei überbewertete Thesen bevorzugt, zumal der Einfluss Roms als besonders wertvoll angesehen und dadurch die einheimische Kultur unterschätzt wird. Die Organisation und Gewinnung von Klientelstaaten an der Peripherie des Römischen Reichs ist ein politisches Programm Roms gewesen, doch archäologisch kaum zu fassen und meist ohne Erfolg gewesen.3767 In der skandinavischen Literatur wird für den Norden darüber mehrfach diskutiert (vgl.in diesem Buch S. 942). P. Kehne beschreibt die römische Vorstellung von der Weltherrschaft des Imperium Romanum, zitiert E. Kornemann 1934 mit der These von den „unsichtbaren Grenzen des Römischen Reichs“ und meint, dass für Bataver, Friesen, Mattiaker und Chatten, Hermunduren, Thüringer, Quaden und Vandalen derartige Beziehungen bestanden, die aber keine realen Klientelverhältnisse waren, da gegenseitige Treueverhältnisse akzeptiert waren.
3767 Kehne 2001a, 13 Zitat; archäologisch Kunow 1987.
21 Das Vorfeld nahe der Grenze zum Imperium Die Romanisierung germanischer Stämme unmittelbar beiderseits des Rhein, der Bataver und der Franken und ihre Vorgänger ist ein zu Fragen der Romanisierung vielsagendes Thema.3768 Die Bataver siedelten links des Rheins und an der Maas, wurden dort in die römische Provinz Niedergermanien eingefügt und als Militärsiedler angeworben. Die Franken demgegenüber drängten erst während der Spätantike, seit dem 3. Jahrhundert, an den Rhein und bald als Foederaten wie die Sachsen über den Rhein nach Westen. Die Romanisierung verlief bei diesen Gruppen anders als in den Landschaften weiter östlich rechts des Rheins. Aber gerade diese Areale sind von besonderem Interesse, weil sich mehrfach zeigt, dass sich die Germanen hier nicht ohne Weiteres romanisieren ließen, trotz Übernahme von Sachgütern, sondern in Wohnweisen und Grabbräuchen ihren Traditionen verhaftet blieben. Germanische Mobilität und römische Ansiedlungspolitik im Grenzland wird vor allem von der Seite der Schriftquellen beleuchtet.3769 Drei Einwanderungshorizonte werden beschrieben, zuerst die Aduatuker als Nachkommen der Kimbern und Teutonen nach Nordostgallien, zuvor sollen die Belger über den Rhein gekommen sein, dann die Eburonen und andere auf die linksrheinische Seite. In Caesars Zeiten ging das weiter. Zwischen Waal und Rhein ließen sich Bataver, ehemals verwandt mit den Chatten, und Canninefaten nieder, weiter südlich dann die Cugerner als ehemalige Sugambrer (so nach der Überlieferung) und anschließend die Ubier, und am Rhein weiter die Nemeter, Triboker und Vagionen.3770 Einige Zahlen werden genannt: Zur Zeit des Ariovist – so heißt es – kamen zuerst 15 000 über den Rhein, als Söldner der gallischen Verbündeten, dann wurden es 120 000. Den Sequanern wurde ein Drittel des Landes abgenommen und durch Ariovist dann noch das zweite Drittel, weil hier 24 000 Haruden angesiedelt werden sollten. Man kennt die Zahlen zu den Semnonen, die Caesar nennt, aus 100 Gauen zögen jährlich 1000 Krieger, also insgesamt 100 000 in den Krieg, während die anderen Männer die Landwirtschaft betrieben, und im nächsten Jahr wurde gewechselt. Die übergesiedelten Gruppen mussten von Anfang an, oder wollten das auch, Krieger für die römische Armee stellen. Wieder sei auch an Arminius erinnert, der eine Auxiliareinheit des römischen Heeres zur Meuterei führte, also unter einheimischer germanischer Führung. Die Bataver stellten zeitweilig die Leibgarde der römischen Kaiser.3771 Die Sueben des Ariovist vertraten einen weithin verbreiteten Namen, der anscheinend auch gewandert ist. Man findet ihn bei Ariovist im Westen, aber auch
3768 Heeren 2016. 3769 R. Wolters 2001. 3770 R. Wolters 2001, 147 und Anm. 7 (Dio Cassius 53,12, 5 f.; Plinius, Naturalis historia 4, 106; Tacitus, Germania c. 28,4). 3771 Bellen 1981. https://doi.org/10.1515/9783110702675-029
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in den Ursprungsgebieten zwischen Elbe und Oder. Dass dies die Haarfrisur mit den Swebenknoten auch archäologisch belegt, wurde schon geschildert (vgl. S. 49).3772 Germanische Einwanderer sind am südlichen Niederrhein fassbar, indem beispielsweise in der Siedlung Jüchen-Neuholz eine Villa rustica von Pfostenhäusern überbaut wurde und in der Siedlung Hambach 503 in Welldorf bei Jülich ebenfalls Pfostenbauweise erschienen ist.3773 Für mein Thema ist dabei zu registrieren, im Inneren Germaniens muss anscheinend ein solcher Bevölkerungsdruck geherrscht haben, dass Gruppen landsuchend wanderten; wobei dann die Frage zu beantworten wäre, wo denn Platz für Neusiedler neben den jeweils Einheimischen gewesen sein mag. Die Verteilung von zwei Dritteln der Ländereien der Sequaner muss erklärt werden können. Eine Vermischung mit der Vorbevölkerung muss angenommen werden, zumal die zivilisatorische Struktur nicht sehr verschieden gewesen sein wird. Bei den Wanderbewegungen unterscheidet Reinhard Wolters zwei Gruppierungen, die eine sind Kriegergruppen auf der Suche nach Beute oder Söldnerdienste, die andere landsuchende Verbände. Die Anführer der Gefolgschaften rekrutierten die Krieger unabhängig von den Stämmen.3774 Bemerkenswert ist die ausgezeichnete Reitertruppe der Germanen, auf die sich auch Caesar stützte; genannt werden als Zahlen 400 bis 15 000 bei Ariovist; beispielsweise griffen 800 Reiter der Usipeter die Übermacht von 5000 römischen Reitern siegreich an.3775 R. Wolters betrachtet die Nennung der swebischen Gruppen der Nemeter, Triboker und Vangionen, auch von Markomannen und Hermunduren, weiterhin der Brukterer, Ampsivarier, Sugambrer, Chasuarier und wohl auch Chatten als die südwestliche Expansion der germanischen Gruppen. Kriegergefolgschaften und landnehmende Gruppen sind da kaum zu unterscheiden. Später spielen parallel und nach dem Sonderreich des Postumus die westgermanischen Völkerschaften der Brukterer, Chamaven, Chattwarier und Ampsiwarier ihre Rolle durch den Zusammenschluss, so in den Schriftquellen, zum Verband der Franken. Sie verbündeten sich für Einfälle ins und lukrative Plünderungen im römischen Reichsgebiet, die schriftliche Überlieferung nennt sie Franken.3776 In Krefeld-Gellep wurden nach einem solchen Überfall unterirdisch Leichen von Soldaten und Zivilisten in einem aufgelassenen Mithrastempel verscharrt. Postumus (259–268) hatte in nur elf Jahren fünf Nachfolger, der fünfte Tetricus I. (270–273) verlegte die Hauptstadt dieses Gallischen Sonderreichs 272 von Köln nach Trier. Im Umland von Köln sind Wüstungsprozesse ab der Mitte des 3. Jahrhunderts zu beobachten; und das römische Flottenlager in Köln-Altenburg endete um 270 n. Chr.
3772 Quast 2014a. 3773 Frank, Keller 2007; Lochner 2007. 3774 R. Wolters 2001, 154. 3775 R. Wolters 2001, 154 mit Anm. 40. 3776 Th. Fischer 2019, 82 f.
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21.1 Niederrheingebiet Die sogenannte „frontier situation“ im Rheindelta3777 und die Grenze am Nieder- und Mittelrhein Rhein wird auf römischer Seite von der ausgehenden vorrömischen Eisenzeit und der Zeit des Tiberius (50 v.- 37 n. Chr.) über rund 400 Jahre durch Kastelle gesichert (vgl. oben S. 1023 ff.).3778 Im Niederrheingebiet wird die Romanisierung vielfach über den Vergleich des germanischen Geschirrs mit keltischer und gallorömischer Tischware beschrieben.3779 In Hoogeloon, Niederlande, wird in dem Weiler, der in germanischer Tradition errichtet war, die Residenz des Dorfchefs als eine villa hinzugefügt. In Tongern an der Maas und im zentralen Teil der römischen civitas Tungrorum3780 wurden vorrömische Wohn-Stall-Häuser durch eine pars rustica mit vorflavischen Holzbauten ergänzt, so in Lafelt bei Tongern; zweischiffige Pfostenhäuser standen in einheimischer, nun römischer Siedlung auch von Veldwezelt. In diesem Maas-Demer-Schelde-Gebiet wechselte das Siedlungssystem im Laufe der Zeit systematisch (vgl. oben S. 237).3781 Zu Anfang im 1. Jahrhundert n. Chr. standen in den Siedlungen zweischiffige WohnStall-Häuser der einheimischen Bevölkerung, in der eingehegten schon genannten Siedlung Hoogeloon und in Neerharen-Rekem. In Riethoven waren vom 1. bis 3. Jahrhundert die Häuser immer noch zweischiffig, so auch in Oss-Ussen/Westerfeld und in Krontich vom 1. bis 3. Jahrhundert, ehe dann die eigentliche Romanisierung durch den Bau von Villen folgte.3782 Über die zweischiffigen „germanischen“ Langhäuser der einheimischen Bevölkerung berichten auch die hier zitierten Beiträge. Die Romanisierung in der Siedlung Rijkswijk nahe der Maasmündung verlief ähnlich (dazu S. 232).3783 Hier wurde nach und nach die einheimische Siedlungsweise zu einer römischen Villa umgewandelt. In dieser Siedlung verschiebt sich auch das Mengenverhältnis zwischen germanischer und römischer Keramik zu dieser hin. Die Siedlung bestand von der Zeit um Chr. Geb. bis ins 3. Jahrhundert, und die Keramikanteile verschoben sich von einheimischer zu römischer Ware von 2 zu 21 zu Anfang und noch im 2. Jahrhundert von 768 zu 339 bis im 3. Jahrhundert zu 324 zu 741 Scherben. Auf der linken Rheinseite bis zur Schelde3784 bestanden in der Provinz Limburg die Siedlungen Wijster im 4. Jahrhundert, Peelo im 4./5. Jahrhundert mit Wohn-Stall-Häusern, 3777 Polak, Kooistra 2013 (2015); Bloemers 2003. 3778 Hanel 2014, auch Erdrich 2005. 3779 Schucany 2007, 33 Abb. 12, 36 Abb. 14 (Plan). 3780 Vandenhoeven 2003, 135 Abb. 7; 137 Abb. 8. 3781 Slofstra 1991, 139 zweischiffige Häuser, 150 Fig. 12 Hoogeloon, 153 Fig. 14 Neerharen-Rekem, 155 Fig. 15 Riethoven, 156 Fig. 16 Oss-Ussen, 163 Fig 19 Krontich, 167 Fig. 21 römische Villa in NeerharenRekem, 170 Fig. 22 römische Villa in Hoogeloon. 3782 Plan der Siedlung Oss-Ussen mit zu Anfang Wohn-Stall-Häusern und späteren römischen Villen: Slofstra 1991, 156 Fig. 16; Slofstra, Lammers, Aarts 1993, 63 Fig. 4. 3783 Bloemers 2003. 3784 Theuws, Hiddink 1996, 71 Abb. 53 Karte der ausgegrabenen Siedlungen; Carroll 2003, 188.
21.1 Niederrheingebiet
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in der Siedlung Voerendaal standen germanische Häuser neben bzw. nachfolgend über einer etwa um 300 zerstörten römischen villa und in Neerharen sowie Geldrop ebenso; in Gennep am Rhein waren es Mitte des 5. Jahrhunderts weiterhin Wohn-Stall-Häuser. Germanische Foederaten, die mit Gold bezahlt wurden und deren Schätze man mehrfach gefunden hat, spiegeln das Ende der Macht des Imperiums im spätantiken Norden westlich und vor allem auch östlich des Niederrheins.3785 Die multikulturelle Situation und ihr Wandel am Niederrhein rechts des Stromes und damit nördlich der Römischen Reichsgrenze mit Blick auf die wirtschaftlichen und „ethnischen“ Veränderungen lassen sich archäologisch aufgrund umfangreicher Ausgrabungsbefunde systematisch schildern.3786 Während der ausgehenden vorrömischen Eisenzeit sind hier keltische Glasarmringe der Spätlatènezeit und keltische Münzen verbreitet und außerdem sogenannte friesische Keramik. Hausgrundrisse sind seit der frühen Eisenzeit bis in die frühe Römische Kaiserzeit beschreibbar, darunter Fochteloo mit dem dreischiffigen Wohn-Stall-Haus, gefolgt von den WohnStall-Häusern der Römischen Kaiserzeit in Wijster, Peelo oder Noordbarge (vgl. oben S. 231). Drei Gebiete mit Keramikstilen grenzen sich gegeneinander ab, das Nordseeküstenareal, Westfalen und die Grenzlandschaften. Eine breite Frontsituation erstreckte sich vom Rhein über die östlichen Niederlande bis weit nach Westfalen. Zwischen den germanischen Stämmen bzw. Gruppen nördlich des Limes und der römischen Provinz Germania inferior gab es wechselnde Beziehungen, einen Wandel in der materiellen Kultur parallel zu Masseneinwanderungen individueller germanische Gruppen. Diese spielten eine große Rolle bei der Bildung kultureller Netzwerke dieser Verbände, die aber nicht mit ethnischen Gruppen korreliert werden können.3787 Eine Korrelation zwischen Stämmen, ethnischen Gruppen und der materiellen Kultur ginge deshalb nicht, so der Autor van der Velde, denn die Stämme und Gruppen wechselten in der Zuordnung von Verwandtschaftsgruppen, ebenso wechselte das Netzwerk der materiellen Kultur, der Hausformen und der Keramik. Nach der Etablierung der batavischen Civitas im 1. Jahrhundert n. Chr. Geb. entstanden Unterschiede zu den nördlichen Gruppen von Germanen, die von dort herandrängten, und nach der Etablierung des Limes endeten diese Kulturbeziehungen zum Norden. Hier verstärkten sich vielmehr die Kontakte nach Westfalen und zur Gruppe der Leute mit rhein-weser-germanischer Keramik. Zum Ende des 2. Jahrhunderts ist das Vordringen römischer Elemente in die germanischen Gruppen zu beobachten, bei der Drehscheibenkeramik, den Metallsachen und auch bei den Hauskonstruktionen. Aber die Germanen, so wird betont, wählten selbst aus, was sie gebrauchen wollten; denn nur wenig Drehscheibenkeramik findet sich in den Siedlungen. Die germanischen Dörfer wuchsen, und es entwickelte sich eine innere soziale Gliede-
3785 Roymans 2017. 3786 van der Velde 2013, 148 Fig. 1 Rhein-Limes mit Kastellen und nördlichem Vorgelände. 3787 van der Velde 2013, 156 zur Frage der „ethnischen“ Deutung.
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rung. Im 3. und 4. Jahrhundert baute sich diese Frontier-Situation weiter aus; ein Akkulturationsprozess ergab sich in der materiellen Kultur. So entstand eine Pufferzone zwischen dem Römischen Reich und den „feindlichen“ germanischen Stämmen und Gruppen im Norden und Osten. Gut erforscht sind die wirtschaftlichen Kontakte zwischen dem Römischen Reich und dem Bergischen Land. Karten zeigen von der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr. bis zum 4. Jahrhundert die Zu- und Abnahme dieser Kontakte, und zwar auch anhand der Dichte der Besiedlung. Für die zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts sind 28 Gräberfelder und 21 Siedlungen nachgewiesen, in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts nur noch 20 Gräberfelder und 11 Siedlungen.3788 Die Wirtschaftsbeziehungen im Vorfeld der römischen Grenze zu den römischen Provinzen waren geringer als zu vermutet ist; es gab kaum einen Warenaustausch, die Beziehungen waren nur der Spiegel politischer Entscheidungen Roms.3789 Michael Erdrich sagte 2001: Die Ergebnisse der systematischen Inventarisation aller römischen Funde in den Niederlanden und den deutschen Bundesländern Niedersachsen und Schleswig-Holstein widersprechen der von Althistorikern und Archäologen gleichermaßen vorgetragenen Auffassung eines in der ausgehenden vorrömischen Eisenzeit einsetzenden und in seiner Intensität kontinuierlich zunehmenden Warenaustauschs zwischen der römischen Grenzprovinz Niedergermanien und den im Vorland der Reichsgrenzen siedelnden germanischen Stämme. Die Analyse der aussagekräftigen Fundkategorien, insbesondere der reliefverzierten und glatten Sigillaten, der gestempelten Bronzegefäße und der Fundmünzen, zeigte vielmehr eine Untergliederung des Zuflusses in mehrere, chronologisch deutlich voneinander abgesetzte Schübe, die sich in Qualität und Quantität deutlich voneinander unterscheiden. Bemerkenswert ist das Zusammentreffen des Vorkommens römischer Erzeugnisse jenseits der Rheingrenzen – in Noord-Holland wie auch dem Rest des nordwesteuropäischen Barbaricums – mit Krisen innerhalb des Imperiums. Aus diesem Grunde sind wir der Auffassung, dass die in den germanischen Siedlungen und Bestattungen außerhalb der Reichsgrenzen aufgefundenen römischen Erzeugnisse kaum als Niederschlag eines grenzüberschreitenden Warenaustauschs [! Verf.] anzusehen sind, sondern vielmehr als Folge außen- und sicherheitspolitischer Entscheidungen Roms in Zeiten tiefgreifender innenpolitischer und militärischer Krisen.
Eine vergleichbare Diskontinuität zwischen der Besiedlung im nordniederländischen Küstengebiet und dem Ende der römischen Epoche wird mehrfach konstatiert, so auch 20113790 (vgl. oben S. 231). Jetzt bald 20 Jahre später nach dem Zitat von M. Erdrich könnte sich das Bild nach dem vielfältigen Einsatz von Metalldetektoren und nach der umfassenden Katalogisierung aller römischen Funde im mitteleuropäischen Germanien seit 1990 verschieben, da die Fundmengen außerordentlich zugenommen haben, jedenfalls was die Metallsachen betrifft. Für das Harzvor- und Umland3791 und für Hessen sind ähnliche Aussagen zu machen sein. 3788 Gechter 2001. 3789 Erdrich 2001b, 328 Zitat; auch 2001a. 3790 Nieuwhof 2011. 3791 Seidel 2006; 2009b.
21.1 Niederrheingebiet
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Waffenfunde in römischen Einzelsiedlungen rechts des Rheins spiegeln das Verhältnis zwischen Militär und Zivilbevölkerung im Limeshinterland.3792 Hier in der römischen Provinz wurden138 Waffen in den Villen gefunden; Speere, Lanzen sowie Pfeil und Bogen waren recht häufig vorhanden. Auch Schwertzubehör des 3. Jahrhunderts wurde entdeckt. Während für diese Waffen als Träger Zivilpersonen, weniger Militär, in Frage kommen, wurden auch Waffen gefunden, die eindeutig zu Legionären gehört haben, nämlich Dolche, Paraderüstungsteile (Panzerbeschläge, Teile von Paradehelmen) und Kettenpanzerfragmente. Vielleicht gehörten sie doch zu Veteranen oder zu Soldaten, die hier einquartiert waren, nachdem die Bedrohung aus Germanien massiv zugenommen hatte und außerdem begonnen wurde, die Garnisonen vom Limes abzuziehen. In Grenzabschnitten mit einigermaßen Ruhe und zeitweilig weniger kriegerischer Konfrontationen entwickelte sich nach und nach doch eine breite Wirtschaftszone zwischen den römischen Provinzen und Germanien, von der beide Seiten profitierten. Der Dienst in der römischen Armee war für die germanischen Männer ein Türöffner in die römische Welt, Generationen von Soldaten lebten gleichsam in zwei Welten, in verschiedenen Traditionsräumen. Aber – das ist bemerkenswert – die germanischen Nachbarn hielten trotz aller Kontakte und auch der Akzeptanz mancher römischer Importsachen überall an ihrer traditionellen Lebensweise fest; Klaus Frank meint 2016: „Eine Übernahme der römischen Lebensweise ist nirgends festzustellen“.3793 Die relative Ruhe in der Grenzzone störten germanische Gruppen aus der zweiten Reihe, aus den Tiefen Germaniens. Die Raubzüge trafen also nicht nur die Bewohner der Provinzen, sondern auch die germanischen Siedler im Grenzvorland. Es gab durchaus eine Jahrhunderte andauernde friedliche Kooperation über die Grenze hinweg: ablesbar am römischen Import am Niederrhein in einer breiten Wirtschaftszone, von der beide Seiten profitierten. Die Romanisierung germanischer Stämme, der Bataver links des Rheins und der frühen Franken auf der anderen Seite erfolgte in ganz unterschiedlichem Umfang,3794 was auch die Dynamik und die Veränderungen in den gegenseitigen Beziehungen beeinflusst hat. Die Bataver als eine Abspaltung der rechtsrheinischen Chatten wurden von Rom intensiv beeinflusst, behielten aber trotzdem eine Reihe von überkommenden germanischen Verhaltensweisen bei. Zwei einheimische Siedlungsteile bei Tiel-Passewaaij mit einem Gräberfeld dazwischen haben tausende Metallfunde erbracht und zeigen die Romanisierung der Bataver.3795 Die ländliche Bevölkerung konnte lesen und schreiben, was durch archäologische Fundstücke gut belegt ist. Die landwirtschaftliche Überproduktion war für die Lieferung an das römische Militär gedacht, aber trotzdem wurde die jahrhundertealte Tradition des Wohn-Stall-Hauses
3792 Pfahl, Reuter 1996; Frank 2012. 3793 Frank 2016a, b. 3794 Heeren 2016, 24–25; 2007. 3795 Heeren, Aarts 2007, 339 Plan des Gräberfeldes, auch das Zitat.
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nie aufgegeben, und auch der traditionelle Bestattungsbrauch blieb erhalten. Man übernahm aus der römischen Welt somit nur das, was einem nützlich erschien. In der Architektur ihrer Siedlungen und den Grabsitten bewahrten sie ihre eigene Identität und Tradition;
bis ins 3. Jahrhundert blieben die Siedlungen bewohnt, die anscheinend erst dann verlassen wurden. Neue Siedler waren die Franken, Foederaten, die vom Kaiser bezahlt wurden. Vermehrte Eisenproduktion und verbesserte Viehzucht galten wiederum der Lieferung an die römischen Zentren. Es sieht so aus, als ob die römische Seite erst die Bataver, dann die Franken für sich eingesetzt hat. Für Nico Roymans war die Frage nach der ethnischen Identität und der römischen Macht ein mehrfach behandeltes Thema.3796 Er spricht von der Entstehung eines Soldatenvolkes, das für die römische Armee nicht nur die Versorgung unterstützte, sondern auch Krieger stellte (vgl. S. 387). Ältere Traditionen lebten im Kultbau von Empel weiter,3797 der als Umgangstempel erbaut war und zu einem Herkules-Heiligtum wurde. Die Gräber der Bataver spiegeln die Bestattungsrituale einer bäuerlichen Grenzgemeinde.3798 Die Ethnogenese der Bataver führte zu einer eigenen Münzprägung, den Triquetrum-Stücken.3799 Klaus Frank meint zudem links und rechts des Niederrheins einen Zuzug von Germanen im Bereich Ruhr und Lippe aus dem Elbegebiet nachweisen zu können, die den Rhein überschritten und beiderseits des Rheins bei Neuss gesiedelt haben. Doch blieben die einheimischen Elemente präsent.3800 Die dort entstandenen befestigten Siedlungsplätze wie Rees-Bergswiek schon im 1. Jahrhundert v. Chr. werden als Reaktion auf die unruhigen Zeiten angesehen. Eine Siedlung bei Weeze-Vorselaer am linken Niederrhein, eine einheimische Hofanlage, bestand von der vorrömischen Eisenzeit bis ins 3. Jahrhundert n. Chr. Ausschließlich in einheimischer Tradition wurden die WohnStall-Häuser samt Nebengebäuden errichtet, und neben der traditionell handaufgebauten Keramik wurden römische Gefäße benutzt. Vom 1. zum 4. Jahrhundert wurden die Kontakte immer enger, es kam zu Soldatengräbern mit germanischen Trachtelementen im Bereich eines römischen Militärlagers links und rechts des Rheins. Die rechtsrheinischen Gräberfelder liegen nicht einmal 2 km vom nächsten römischen Lager entfernt, und es gab sogar germanische Heiligtümer in unmittelbarer Nähe. In der Siedlung Emmerich-Praest wurde eine Gussform des 4./5. Jahrhunderts in germanischem Umfeld gefunden, die zur Herstellung von „spätrömischen“ Gürtelteilen aus Buntmetall gedient hat. Die rhein-weser-germanischen Grabausstattungen im Gräberfeld von
3796 Roymans 1990; 2004; 2009. 3797 Roymans, Derks (Red.) 1994; Bauchhenss 2007a, 120 Abb. 83: Pesch, Stadt Bad Münstereifel, das Matronenheiligtum, Grundriss und Rekonstruktion. 3798 Aarts, Heeren 2017. 3799 Roymans 2001. 3800 Frank 2016b, 28 zum Zitat unten.
21.1 Niederrheingebiet
1051
Leverkusen-Rheindorf am Rhein richten sich weiterhin nach den heimischen Sitten in Mitteldeutschland, auch wenn beispielsweise im Urnengrab 80 aus dem 3. Jahrhundert römisches Geschirr und Terra Sigillata als Beigaben dabei waren, die aber auch in Germanien so vorkommen.3801 Das Gräberfeld wurde schon 1911 und bis1955 untersucht, erbrachte 293 Grabinventare von der zweiten Hälfte des 2. bis zur zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts. Erst an der Wende vom 3. zum 4. Jahrhundert gibt es nun von Germanen auf römischem Boden Körpergräber, bald auch mit Waffen, die sich also hier dann der römischen Welt anpassten. Im südlichen Nieder-Rheinland blieben die Siedlungsplätze bis weit ins 1. Jahrhunderts n. Chr. rechts des Rheins bewohnt, eine Entvölkerung als Reaktion auf die Ankunft der Römer blieb aus (vgl. aber oben S. ...). Es gab eine Vermischung von rhein-weser-germanischer und römischer Keramik. Germanische und römische Objekte kommen in den Grabinventaren und in den Siedlungen zu gleichen Teilen vor. Vom 1. bis ins 4. Jahrhundert bestimmten Wohn-Stall-Häuser und Grubenhäuser das Siedlungsbild. Es gab keine Übernahme römischer Bautechnik, auch keine Übernahme römischer Kulturpflanzen. Klaus Frank betont erneut: Die Bewohner des Grenzlandes verharren über Generationen voll und ganz in ihrer traditionellen Lebensweise.
Die Ergebnisse der Grabungen in germanischen Siedlungen nördlich der Lahn in der Wetzlar-Gießener Senke erlauben es zu prüfen, ob der Einfluss der römischen Welt hier zu einer Romanisierung geführt hat. Mehrere Siedlungen wurden von 1993 bis 1998/9 untersucht und bis 2007 ausgewertet.3802 Das Leben in den germanischen Siedlungen des 1. bis 3. Jahrhunderts n. Chr. in nur 15 km Entfernung vor dem Rhein- Limes zeigt, wie traditionsreich die Bewohner geblieben sind. Die Siedlung bei Naunheim liegt nur 1 km westlich der römischen Stadtgründung bei Waldgirmes (dazu S. 1090); ausgegraben wurden 1995–1998 rund 2300 m2. Zu den Funden gehören römische und germanische Keramik, Fragmente von Glasgefäßen, Terra Nigra-Ware und Metallgerätschaften. Eisenverarbeitung erfolgte vor Ort im späten 1.und frühen 2. Jahrhundert. Ein einschiffiges und ein zweischiffiges Haus sowie Speicher und Grubenhäuser wurden nachgewiesen, und zwar Langhäuser im Stil der Rhein-Weser-Germanen. Die Siedlung bei Krofdorf wurde 1996 untersucht, geborgen wurden an römischer Keramik 66 Fragmente und an germanischer Keramik 398 Scherben, auch Terra Sigillata, zusammen datiert vom Ende des 1. bis zum frühen 3. Jahrhundert. Die Siedlung Dalheim, 1999 untersucht, erbrachte ebenfalls römische und germanische Keramik des 2./3. Jahrhunderts sowie ausführliche Eisenverarbeitung. Basis für den Rohstoff waren die Braunund Roteisensteinlagerstätten in der nördlichen Lahnmulde. Zu beachten ist das Fragment einer vergoldeten Figur, die aus Waldgirmes stammen wird: „Damit gehört es zu den etwa zweihundert bislang dort gefundenen Teilstücken der augusteischen Großplastik“. Analysen zeigen, dass die Germanen die Keramik am Ort des Gebrauchs produzierten, während die römische Keramik aus Heddernheim und aus Bonn stammt. 3801 Frank 2016c. 3802 Abegg, Walter, Biegert 2011, 359.
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Hier waren übrigens auch republikanische Silbermünzen bis ins 2. Jahrhundert im Umlauf. Als Ergebnis kann man zusammenfassen, der Anteil der römischen Funde ist in dieser Limesnähe relativ gering, obwohl die Siedlungen nur 15 km vom Kastell Butzbach entfernt liegen. Im Alltag scheint römische Keramik keine große Rolle gespielt zu haben. Somit sind Aussagen zu einem möglichen Kulturtransfer gering, eher negativ. Angelika Abegg3803 meint denn auch, dass die Lahntalgermanen im untersuchten Gebiet „ihre traditionelle Lebensart beibehalten zu haben scheinen“, und: Für die Limeszeit ist archäologisch kein intensiver (provinzial-)römischer Einfluss und damit einhergehender Kulturwandel zu beobachten. Es gibt keine Hinweise auf die Umsetzung römischer Grundrissformen in einheimische Bautechnik, auf römische Bauweise oder römisches Baumaterial. Damit unterscheidet sich das Lahntal von anderen im unmittelbaren Vorfeld des Limes gelegenen, aber nicht […] von weiter entfernt liegenden Gebieten.
Die Bewohner haben ihre kulturelle Identität bewahrt. Auch im archäozoologischen Bereich ist kein dauerhafter römischer Einfluss nachzuweisen. Hausrinder kleiner germanischer Sorten hatten Vorrang, die größeren römischen Artgenossen machten aber zumindest im Fundbestand etwa 30% aus. Die größeren Tiere waren für die Arbeit genutzte Ochsen. Römische Gartenobstsorten oder andere mediterrane Kulturpflanzen sind ebenfalls nicht nachgewiesen (vgl. oben S. 413). Die germanische Landwirtschaft scheint mit einem Schwerpunkt bei Sommerfruchtanbau und Viehzucht in sich geschlossen gewesen zu sein und sah keinen Bedarf für Neuerungen.3804 Also blieb es im Vorfeld des Limes bei der traditionellen germanischen Lebensart, im Sinne einer longue durée im Alltagsleben, und zwar über die veränderten politischen Verhältnisse und Änderungen der Herrschaftsverhältnisse hinweg. Im Zuge der Erfassung aller römischen Funde rechts des Rheins für das Corpus-Projekt am nordwestlichen Rhein-Limes wurde zwar festgestellt,3805 dass es über Prospektion eine ständig dichter werdende Verbreitung der rechtsrheinischen Fundstellen mit provinzialrömischem Fundmaterial gibt. Von 1980 mit 73 Fundstellen stieg die Zahl bis 2010 auf 148, also etwa auf das Doppelte an. Die hohe Zahl der Plätze auch im 4./5. Jahrhundert fällt auf. Doch liegt das an der leichteren Erkennbarkeit der römischen Sachgüter, was aber nichts an der Traditionsgebundenheit auch dieser germanischen Bevölkerung ändert. Es fehlt zudem jeweils bei der Auswertung ein Hinweis auf das Zahlenverhältnis zwischen römischem und germanischem Sachgut. Eine Zunahme germanischer Elemente ist außerdem demgegenüber in den linksrheinischen Städten und Gutshöfen im späten 3. und 4. Jahrhundert, so in Köln, zu erkennen. In DIVITIA (Deutz, gegenüber von Köln auf der rechten Rheinseite) waren germanische Söldner
3803 Abegg 2011, Zitate. 3804 Kreuz 2000. 3805 Bridger 2010.
21.1 Niederrheingebiet
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stationiert. Römische Gutshöfe wurden von germanischen Familien übernommen, die den Betrieb in römischer Art (?) weiterführten. Man arrangierte sich über Jahrhunderte, die einstige Provinz Germania inferior war im 4. Jahrhundert weitgehend germanisiert, so dass die neuen Herren, die Franken, wenig später die Herrschaft bruchlos übernahmen. Ein Glasbecher mit der eingeschliffenen Widmung MERVEIFA VIVA TUIS trägt einen germanischen Frauennamen. Von fließenden Grenzen im Bereich des Ruhrgebietes zwischen Germanien und den römischen Provinzen berichtet M. Mirschenz 2013.3806 Römische Händlersiedlungen3807 gab es u. U. beiderseits des Rheins, und es fanden gegenseitigen Besuche über die Grenze zu den Märkten statt. Von der Seite Germaniens gab es Handelswaren ins Linksrheinische, auch wenn vieles archäologisch nicht zu belegen ist, aber anhand der schriftlichen Überlieferung denn doch, und zwar werden von ihm die üblichen Güter, Pökelwaren, Fische, Gewürze, Kräuter, Waldprodukte, Wild, Leder, Felle und Pelze, Seife sowie Haarfärbemittel genannt. Der sonstige kulturelle Kontakt über die Grenze war gering, denn es gab beispielsweise keine Auswirkung auf die Rinderzucht. Bei den Germanen wurde die Viehhaltung nach Zahl gewertet, nicht nach Größe (vgl. S. 415). Römische Rinder wurden abgelehnt.3808 Ein reales Kulturgefälle wird aber nicht gesehen; es waren eben unterschiedliche Kulturen und Lebensstile. Der Behauptung, es gebe keinen Nachweis für die Hellwegnutzung, widersprechen doch archäologische Befunde. Salzgewinnung ist belegt (vgl. S. 454), und die Ausbeutung von Bodenschätzen wie Blei gab es (vgl. S. 455). Resistenzen gegen über Römischem, die man in römerzeitlichen Siedlungen in der Wetterau gegenüber der Übernahme römischer Kultureinflüsse beobachten kann, gab es auch hier im Ruhrgebiet. Man blieb bei handgemachter Keramik, der Pfostenbauweise für die Häuser, begnügte sich mit dem eingeschränkten Kulturpflanzenspektrum (wenn man von römischer Seite aus werten wollte) und bei eigener Kleidung und Tracht. Es gab also, das möchte ich betonen, eine „mehr oder weniger absichtsvolle Verweigerungshaltung gegenüber römischen Kultureinflüssen“. Friedliche Beziehungen als Handel gab es zu dieser Zeit durchaus, auch in den nachfolgenden Jahrhunderten über den Rhein hinweg.3809 Ob neue Siedler oder alteingesessene Bevölkerung, das war kaum zu unterscheiden. Am südlichen Niederrhein wurde erstmals ein großes Siedlungsareal bei Niederkassel auf der Niederterrasse östlich des Rheins auf 6 ha erschlossen und mehrere Hofstellen ausgegraben.3810 Die Funde gehören in eine Zeitspanne von mehr als 500 Jahren von der vorrömischen Eisenzeit bis in die Römische Kaiserzeit. Die Höfe lassen sich von der Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. bis weit ins 1. Jahrhundert n. Chr. verfolgen, auch anhand der typisch 3806 Mirschenz 2013, 77 f. Ablehnung römischer Rinder; dazu als Rez. K. Ruffing. 3807 Grassl 2004. 3808 Stoll 1997. 3809 Ruffing 2008; Ruffing, Becker, Rasbach (Hrsg.) 2010. 3810 Brüggler, Frank 2015, 87 Abb. 3 Siedlungsplan mit den Hausgrundrissen von Weeze-Vorselaer.
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germanischen Keramik. Nahebei nur 2 km entfernt gibt es gleichartige Funde. Überhaupt entstanden auch am nördlichen, linken Niederrhein keine römischen villae rusticae, sondern man blieb bei der traditionellen Wirtschaftsweise mit Schwerpunkt auf Viehzucht und bei Wohn-Stall-Häusern. In Weeze-Vorselaer sind mehrere sich ablösende zweischiffige Häuser mit diesen Pfostengrundrissen freigelegt worden (vgl. oben 1050). Südlich schließen sich weitere Hofstellen des 1. bis 3. Jahrhunderts an. Man meint von einer wesentlich dichteren Besiedlung ausgehen zu können, als man bisher angenommen hat. In Bonn-Vilich-Müldorf nur wenige Kilometer von Niederkassel entfernt wurde ebenfalls eine Siedlung der vorrömischen Eisenzeit und der Römischen Kaiserzeit ausgegraben.3811 Der Plan zeigt eine trapezförmige Befestigung auf dem Gelände mit zahlreichen eisenzeitlichen Gebäudegrundrissen innerhalb und außerhalb des Grabens und drei zwei- und dreischiffige kaiserzeitliche Wohn-StallHäuser mit fast 20 m Länge außerhalb weiter im Norden, durchaus vergleichbar mit westfälischen Befunden. Von dort kommt rhein-weser-germanische Keramik. Im südlichen Niederrheingebiet, im Rhein-Sieg-Kreis, ist der Übergang von der Spätlatènezeit zur frühen Römischen Kaiserzeit mit handgeformter germanischer Keramik gut zu belegen, und zwar auf der linken Seite des Stroms.3812 In dem Gebiet vermutete man und untersuchte nur römische villae rusticae, ehe man Siedlungen entdeckte, die vor der Romanisierung bestanden haben.
21.2 Mittel- und Oberrheingebiet Diese Verschmelzung von römischen und germanischen Elementen finden wir in derselben Struktur auch am Mittel- und Oberrhein vor dem Odenwald und dem Schwarzwald. Auf den Höhenstationen des 4./5. Jahrhunderts im Südwesten macht die einheimische handgeformte Keramik deutlich die Mehrheit aus (und weist sogar auf die Herkunftsgebiete im elbgermanischen Raum hin), aber ebenfalls gibt es römische Importkeramik. Germanische Gräber mit römischen Beigaben finden sich im Vorgelände des spätantiken Kastells Sponeck am Kaiserstuhl. Auch innerhalb des Kastells gibt es römische sowie germanische Keramik. Die Kastellbesatzung wird zum größten Teil aus germanischen Söldnern bestanden haben (vgl. S. 1029). Es ist außerdem nicht zu übersehen, dass parallel zum Vordringen des Römischen Reichs über Rhein und Donau, wohl unabhängig davon, aus dem Inneren Germaniens Bevölkerungsgruppen nach Westen und Südwesten drängten (vgl. S. 1057). Vor und um die Zeitenwende kamen Träger der Przeworsk-Kultur über Mitteldeutschland, dem heutigen Thüringen und Hessen, bis ins Rhein-Main-Mündungsgebiet, wo die Neckarsweben sich niedergelassen hatten und im Kontakt mit den römischen Nachbarn kamen.
3811 Frank 2013, 124 Abb. 8 Gesamtplan der Siedlung. 3812 Lenz, Schuler 1998.
21.2 Mittel- und Oberrheingebiet
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Östlich vor dem Limes an Main, Tauber und Regnitz waren germanische Siedlungskammern entstanden. Das unter Augustus ausgebaute Lager Marktbreit, um die Provinz einzurichten, wurde nach 9 n. Chr. schon wieder aufgegeben.3813 Die germanischen Fundstellen des 2. bis 5. Jahrhunderts im Main-Tauber-Gebiet gegenüber dem Limesübergang bei Osterburken sind kartiert, und ihre Zahl nimmt ständig zu (oben Abb. 82), darin auch die Kleinfunde und römischen Münzen, wie sie auch gegenüber jenseits des Limes üblich waren.3814 B. Steidl hat in mehreren Histogrammen die römischen Sachgüter in den Siedlungen an Main und Tauber zusammengefasst: In Gaukönigshofen, Acholdshausen und Hopferstadt von Fibeln (bis zu 15 Exemplaren) über Metallgefäße (bis knapp 10 Ex.) bis zu Zaumzeug (zwischen ca. 5 und 35 Ex. je nach Siedlung). Verglichen werden die Siedlungen mit villae rustica, in denen Werkzeuge und Geräte aus dem Haus neben Fibelschmuck dominieren. Zusammengefasst wird: Trotz der Fülle und des breiten Spektrums an römischen Objekten in Mainfranken, lässt sich kein merklicher römischer Einfluss auf die germanische Lebensweise konstatieren. Römische Objekte wurden wegen ihrer Gefälligkeit in einigen Bereichen anstelle germanischer Produkte verwendet. Häufiger dienten sie jedoch als reine Materialquelle … Die Germanen hielten zumindest in Mainfranken in allen Lebensbereichen zäh an ihrer angestammten Lebensweise fest … Der Limes war somit nicht nur politische Grenze: er war und blieb eine scharfe Scheidelinie zwischen zwei völlig unterschiedlichen Kultursystemen
(trotz 150jähriger Nachbarschaft). Auch bildeten die importierten Münzen nur Rohstoff, und es entwickelte sich keine Münzgeldwirtschaft.3815 Über erhaltene Holzreste und mit Hilfe der dendrochronologischen Methode konnte im ehemaligen Decumatland eine temporäre germanische Besiedlung im 3. und 4. Jahrhundert nachgewiesen werden, so in Bad Königshofen und Gaukönigshofen im Norden und mehreren Siedlungsplätzen im Süden an der Altmühl dicht vor dem Limes.3816 Die Siedlungen dieser Germanen im Vorfeld des Limes lassen sich zeitlich aufgliedern, ins 2./3. und ins 4./5. Jahrhundert und deuten eine stetige Verschiebung nach Südwesten an.3817 Für die Siedlung Gaukönigshofen sind zwei Phasen anhand der Verteilung der römischen und der germanischen Keramik herauszuarbeiten. Römischer Einfluss auf die Sachen im Fundgut der neuen Siedlungen belegen jedoch Kontakte Roms zur Lokalbevölkerung. Vielleicht ging die Landwirtschaft von der Selbstversorgung hin in Richtung Überschussproduktion für die römische Seite. Nach dem Rückzug Roms auf die Rheinlinie waren die Germanen wieder sich selbst überlassen. Ablesbar am Spektrum der Sachgüter waren die neuen Siedler von der 3813 Steidl 2016a. 3814 Frank 2005, 142 Abb. 1; schon 1999, 70 Abb. 1 Karte mit Unterscheidung 2./3. Jahrhundert (Punkte) und 4./5. Jahrhundert (Dreiecke); Steidl 2016b, 966 Abb. 1 Farbige Karte der germanischen Siedlungskammern des 2./3. Jahrhunderts. 3815 Steidl 2016b, 974 Zitat. 3816 Herzig 2019, 196 Abb. 5 Karte und 197 Abb. 6: Zeittabelle bis 370 n. Chr. 3817 Steuer 2017a, 254 Abb. 3 und Frank 2005, 142 Abb. 149.
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Werra bis zur Tauber hin Rhein-Weser-Germanen, kamen wohl aus den unmittelbar nördlich anschließenden Gebieten. Später, um 75 n. und 83 n. Chr. griff die römische Seite wieder in dieses Gebiet ein, in den Chattenkriegen Kaiser Domitians, aber sichtlich ohne Erfolg. Mit dem Ausbau der Limeslinie unter Kaiser Traian um 105 n. Chr. schob sich Rom näher an diese Siedlungsgebiete der Germanen heran. Die Gründe für die Vorverlegung des Limes 159/160 n. Chr. mit der schnurgeraden Linie bis Lorch werden unterschiedlich gesehen; entweder sollte der fruchtbare Neckarraum einbezogen bzw. der Limesverlauf begradigt werden, oder die Ausweitung der germanischen Siedlungslandschaften wurde doch als bedrohlich angesehen (vgl. oben S. 1023). Zumindest die germanische Seite sah umgekehrt eine Bedrohung, was zu weiteren Einfällen der Chatten 161/162 in die Provinzen Obergermanien und Rätien führte. Der Limes wurde durch Palisadenzüge ausgebaut. Die Schriftquellen berichten von Verträgen, mit denen die Germanen gedrängt wurden, Abstand zum römischen Gebiet zu halten. Die Nachbarschaft führte zu neuen Kontakten, römische Sachgüter, Keramik und Schmuck wurden eingeführt. Lebensmittel waren vielleicht tatsächlich eine der Gegengaben; Schlachtknochen kleiner Rinder im Limesgebiet werden als Importe aus Germanien betrachtet. Doch auch hier hatte der Zustrom römischer Gebrauchsgüter keine messbaren Auswirkungen auf die germanische Lebensweise, sie blieben mit verblüffender Konsequenz ihrer angestammten Lebensweise treu.3818 Aber Schwerter mit römischen Klingen wurden von den Kriegern in Germanien übernommen; ebenso Silbermünzen als Materialquelle; denn Hinweise auf eine entstehende Münzgeldwirtschaft gibt es nicht. Ein Zuzug aus dem Mittelelbegebiet seit der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts verdichtete die Besiedlung im Süden vor dem Limes, was erneut zu römischen Angriffen unter Kaiser Caracalla 213 von Rätien aus in die mainfränkischen Germanengebiete führte. Hier erinnere ich wieder an den Feldzug um 235 des Kaisers Maximinus Thrax tief in Feindesland, was zu den Ereignissen am Harzhorn geführt hat. In den Jahren um 253 wurden sämtliche Kastelle der raetischen Limesstrecke und das Hinterland in Schutt und Asche gelegt. Von der römischen Seite her betrachtet sind diese Veränderungen im Grenzbereich ein Thema der Forschung. Sie blickt auf die Germanen im Limesvorland (2016),3819 auf Germanen und Römer im Vorfeld des Obergermanischen Limes (2006),3820 und im Rahmen einer Tagung auf die Germanen beiderseits des spätantiken Limes (1999).3821 Das rechtsrheinische Vorfeld3822 ist mit Fundplätzen recht dicht besetzt, von denen elbgermanische Keramik dokumentiert ist, zwischen Lippe, Ruhr und weit nach Westfalen hinein.3823 3818 Steidl 2016a, 36. 3819 Germanen im Limesvorland. Archäologie in Deutschland 2016, Heft 1, 20–39. 3820 v. Schnurbein 2006. 3821 Th. Fischer, Precht, Tejral (Hrsg.) 1999. 3822 Bemmann 2007b, 98 Abb. 54 Karte. 3823 Frank 2010.
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Die neu entdeckten Siedlungen belegen einerseits eine durchgehende Besiedlung seit der Eisenzeit, andererseits eine wesentlich dichtere Nutzung der Landschaft als bisher angenommen.3824
Ich weise auf die Gegenbewegung hin, die Einflussnahme Roms auf das rechtsrheinische Gebiet, was sich in den Funden von römischer Terra Sigillata und Münzen im Vorfeld des Limes abzeichnet. Der Zuzug von Germanen im 3. Jahrhundert ins rechtsrheinische Limesgebiet, die Besetzung des Glaubergs als Höhensiedlung, sind daran zu erkennen, dass die Neusiedler ihre Gebäude aus Holz errichteten, anders als die römische Bevölkerung, aber durchaus römische Importe akzeptierten. Es begann die Terra Nigra-Produktion, Münzen wurden weiter verwendet, die rechtsrheinische Straße blieb bestehen; eine Brückenrenovierung erfolgte im 4. Jahrhundert für Truppenbewegungen bzw. ist ein Brückenbau über den Main unter Kaiser Valentinian I. (364–375) überliefert, um die Wege für das Militär nach Germanien zu vereinfachen.3825 Die Pollenanalyse belegt Siedlungskontinuität; die neue Feldfrucht war Roggen.
21.3 Mobilität von Germanen nach Südwesten (Neckarsweben und Alamannen) Germanen hat es in Südwestdeutschland frühzeitig gegeben. Das hängt u. a. mit dem Ende der keltischen Oppida-Kultur in der Stufe D1 der späten vorrömischen Eisenzeit und mit dem Ende des Oppidums von Manching um 80 v. Chr. zusammen.3826 S. Rieckhoff hat schon vor Jahren zur Diskussion gestellt, das zwischen D1 und D2 eine Phase, gekennzeichnet durch die Fibeln vom Typ Almgren 65, eingefügt werden sollte, die gerade noch in Manching vorkommen.3827 In der Stufe D2 herrschte anscheinend eine Fundlücke und ein Kulturbruch, der von D1zu D2 erfolgte und dendrochronologisch sowie über römische republikanische Münzen um 80 v. Chr. datiert wird. Erklärt wird diese Situation durch einen Wechsel der Bevölkerung von den Kelten zu den Germanen, was parallel zu dem Vordringen Roms unter Caesar geschehen ist;3828 und die neue Besiedlung ging von Mitteldeutschland aus und schuf eine Kontinuität zwischen diesem Raum und Süddeutschland. Wenn Caesar also die Bewohner rechts des Rheins nicht mehr als Kelten, sondern insgesamt als Germanen bezeichnet hat, dann hat er damit tatsächlich eine neu entstehende Realität erfasst. Die von W. E. Stöckli gebotene Kartierung von Germanen weist einerseits den großen Raum zwischen Niederrhein
3824 Brüggler 2015, 88. 3825 Schallmayer 2013. 3826 Rieckhoff 2018, 187 Abb. 4 und 188 f. Tabelle. Im Zuge der Forschungsgeschichte veränderte sich die Datierung des Endes von Manching von 15 v. Chr. auf 50 v. Chr. und jetzt auf 80 v. Chr. 3827 Rieckhoff 2018, 187 (Almgren 1923/1973, Taf. IV.65). 3828 Zuletzt Stöckli 2018 mit Lit. und 200 Abb. 1 Karte zu den Siedlungsräumen von Germanen.
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und Weichsel bis zu den Mittelgebirgen auf und andererseits einige Siedlungsgebiete am und südlich des Mains, in Böhmen und vor allem im Rhein-Main-Mündungs-Gebiet sowie im Raum am Mittelrhein und am Neckar (wo er von Sueben spricht), und das schon um 50 v. Chr. S. Rieckhoff hat die Abhängigkeit unserer Forschungen vom jeweiligen Zeitgeist und der politischen Situation überzeugend geschildert (vgl. oben S. 37), und ebenfalls darauf hingewiesen, wie häufig der Rückgriff auf schriftlich überlieferte Daten sowie der Zwang zur ethnischen Deutung archäologischer Befunde den Blick verstellt hatten. Jedenfalls gab es keine eigentliche keltisch-römische kulturelle Kontinuität in Süddeutschland.3829 Für die Siedlungsspuren des 1. bis 5. Jahrhunderts bei Groß-Gerau wird dieser Wechsel von Kelten, Römern und Germanen thematisiert.3830 Was aber nun eine solch lange Fund- oder Siedlungslücke tatsächlich real bedeutet hat, ist noch ein Forschungsthema; denn eine Lücke ist trotz aller scheinbaren gegenteiligen Befunde ungewöhnlich in Mitteleuropa. Es gab schon früh Rhein-Weser-Germanen am Limes bzw. innerhalb des Limes3831 bzw. rhein-weser-germanische Keramik in den römischen Siedlungen südlich des Taunus und nördlich von Rhein und Main mit Kastellen. Das bezeugen deutlich Histogramme zu den Siedlungen und Kastellen von Hofheim, Heddernheim, Saalburg, Zugmantel und dem Frankfurter Domhügel. Histogramme zu dieser germanischen Keramik außerhalb des Limes und Kreisdiagramme mit den Mengenverhältnissen zu Formen der germanischen Keramik innerhalb und außerhalb des Limes im 1. und 2. Jahrhundert verdeutlichen den Zusammenhang. Grubenhäuser, eine germanische Bauweise, sind in Kastell und Vicus von Zugmantel nachgewiesen. Die Interpretation der germanischen Keramik im Arbeitsgebiet, also auf eigentlich römischem Boden, spiegelt die Unterschiede zwischen den Arealen innerhalb und außerhalb des Limes. Darin zeigen sich Romanisierungseffekte, denn in den vici lebten nicht mehr die Großfamilien, sondern einzelne Handwerker und Leute für andere Dienstleistungen, darunter auch Germanen. Das Zusammenleben an diesen Plätzen sieht etwa folgenermaßen aus: Möglicherweise haben die germanisch geprägten Bevölkerungsgruppen die hauptsächlich zum Kochen benutzten Formen beibehalten, für die repräsentativeren Funktionen aber römische Gefäße benutzt,
nämlich z. B. Teller. Zu fragen ist, ob die germanisch geprägten Personen in den römischen Anlagen Einheimische waren, angeworbene Soldaten, oder neu hinzugezogene zivile Siedler. In einigen Fällen gab es am Platz schon vorher eine germanische Siedlung, aber keine bleibende einheimische Bevölkerung während der römischen Okkupation. Später im 3. Jahrhundert3832 kamen Keramikhändler in den vicus des Limeskastells Oberflorstadt und boten Terra Sigillata und lokale Warengruppen an. 3829 Rieckhoff 2018, 193. 3830 Wenzel 2009/3; 2012. 3831 Walter 2000, 13 Abb. 1, 37 Abb. 3 und weitere Abb., 57 Abb. 8 Grubenhäuser, 65 Zitat unten. 3832 Biegert, Steidl 2011.
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Nach Aufgabe des Limes änderte sich die Bevölkerung in den ehemaligen Gebieten der römischen Provinz; germanische Einwanderer siedelten sich im Bereich der verlassenen Villen und Siedlungen an. Sven Jäger schildert die Veränderungen in der Siedlungslandschaft. Überlegt wird, ob schon zuvor hier lebende und romanisierte Germanen die Basis der neuen Besiedlung gebildet haben. Funde, vor allem Keramik, an über 30 Plätzen wurden analysiert, vor allem von Siedlungspuren in Güglingen, Wiesloch, Oberderdingen-Flehingen, Gemmrigheim und Lauffen am Neckar, also im Kraichgau, im Bereich des Odenwaldes, im Neckargebiet und im Enztal sowie in der Rheinebene (Abschluss der Arbeit von Sven Jäger 2013, gedruckt vorgelegt 2019).3833 Die Keramik in den Siedlungen zwischen Neckar und Rhein besteht im 3. bis 5. Jahrhundert zu 79% aus grober freihandgeformter Ware, 18% feiner freihandgeformter Ware und nur aus 3% Drehscheibenware (Terra Nigra und nigra-ähnliche Keramik).3834 Die Straßensiedlung Güglingen, in der Mitte zwischen Neckar und Rhein auf ehemals provizialrömischem Boden, gelegen, weist überall in den Grundrissen der Häuser „aprovinzialrömisch-germanische“ Keramik und Eifelkeramik des 3. bis 5. Jahrhunderts auf, darunter neben der freigeformter Keramik germanischer Art auch späte Terra Nigra und Braune Nigra.3835 In Anteilen sind das 85,7% grobe freihandgeformte Ware und 12,7% feine freihandgeformte Ware und nur 1% Terra Nigra. Wie auch andernorts ist hier in einem Badegebäude in den verschiedenen Räumen „germanische“ Keramik verteilt. S. Jäger schildert die Veränderungen der Besiedlung und der Bevölkerung in diesem Gebiet zwischen Neckar und Rhein sehr differenziert: Er spricht bei der Keramik von „aprovinzialrömisch“, um „germanisch“ zu vermeiden, weil man nicht wüsste, wer ein solches Keramikgefäß denn benutzt hat und wie germanisch die Ware tatsächlich war.3836 Mit Heranziehung der Überlegungen von M. Hegewisch3837 wird bei der Drehscheibenkeramik auf Traditionen in Germanien zurückgeblickt, zu der Braunschweigischen und Hannoverschen Drehscheibenkeramik (vgl. S. 1122) und anderen Drehscheibenwaren, auch mit Blick auf Haarhausen (vgl. S. 438), wo Drehscheibenkeramik in römischer Manier, aber doch mit eigenen einheimischen Elementen produziert worden ist. Einige Formen der Terra Nigra und der Braunen Nigra ahmten römische Produkte nach. Wie bei der freihandgeformten Keramik darf man, so S. Jäger, doch von germanisch sprechen. Er bietet das Bild einer Besiedlung durch Germanen vom Neckar ausgehend sich vorschiebend in Richtung Rhein in vier Phasen,3838 ähnlich wie das H. Schach-Dörges in den 1980er Jahren für ganz Südwestdeutschland vorgeschlagen hat. Es sind hier die Phasen vom Neckar
3833 Jäger 2019, 41 Abb. 19 im engeren Arbeitsgebiet zwischen Rhein und Neckar. 3834 Jäger 2019, 135 Abb. 79 Kreisdiagramm. 3835 Jäger 2019, 379 Abb. 202 Plan der Siedlungsgrabung, 383 Abb. 203 Verteilung der Keramik, 385 Abb. 205 Kreisdiagamm zu den Warenanteilen. 3836 Jäger 2019, 495 ff., Zitat 499. 3837 Hegewisch 2011. 3838 Jäger 2019, 503 Abb. 221 A-D.
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ausgehend das späte 2. Jahrhundert bis C1b/C2 (3. Jahrhundert), dann spätes 3. Jahrhundert bis um 300, gefolgt von frühem bis mittleren 4. Jahrhundert und schließlich bis zum Rhein im 4. Jahrhundert, jeweils die Siedlungsplätze mit aprovinzialrömischer bzw. germanischer Keramikfunde. Der Autor S. Jäger wundert sich, dass in seinem Gebiet zwischen Neckar und Rhein keine Höhensiedlungen des 4./5. Jahrhunderts (vgl. S. 333) bestanden haben, die er (als eine Deutung) wie andere Wissenschaftler als vorgeschobene Anlagen unter römischer Lenkung betrachtet, die das ehemaligen Dekumatland, die Alamannia, verwaltend beherrschen sollten, während ebenso die germanische Gegenreaktion zu begründet ist.3839 Im Übrigen ist nicht auszuschließen, dass derartige Höhenstationen noch unentdeckt auf den Bergen existiert haben. Es ist für ihn durchaus eine kulturelle Transferzone in dieser Phase der politischen und ethnischen Veränderungen, während der die verbliebene römische und die neu hinzugekommene, von römischer Seite geholte germanische Bevölkerung auch kulturell zusammenlebte, wobei die provinzialrömische Komponente nach und nach verschwand und die germanische zunahm. Weiheinschriften und Grabsteine spiegeln zuletzt noch Militärs und Verwaltung, aber nicht die normale Bevölkerung. In Heddesheim nahe Ladenburg am Neckar wurden in der sogenannten Nordsiedlung Grubenhäuser mit germanischer und provinzialrömischer Keramik registriert (vgl. oben S. 438).3840 Die lokale freigeformte Keramik des 1. bis 4. Jahrhunderts spiegelt markante technische Veränderungen an der Wende zur jüngeren Römischen Kaiserzeit und außerdem enge Verbindungen zur Elbe-Gruppe bis zum west-mecklenburgischostholsteinischen Formenkreis. Diese Ware ist zwar selten in Südwestdeutschland, weist aber ohne Zweifel in den unteren Elbe-Raum. Nähere Auswertungen beschreiben die Grubenhäuser des 3./4. und 4./5. Jahrhunderts und außerdem auch – zwar weniger deutlich – Spuren ebenerdiger Pfostenhäuser. In den älteren Grubenhäusern 312 (zweite Hälfte 2. Jahrhundert) und 331 (erste Hälfte 3. Jahrhundert) beispielsweise fand sich Terra Sigillata, Terra Nigra und freihandgeformte Keramik. Durchgehend gehören zu den Funden rund 40 Kniefibeln. In der weiteren Umgebung sind 70 Orte mit germanischer Keramik seit dem 1. Jahrhundert registriert worden. Funde in römischen Siedlungen der Oberpfalz3841 belegen, dass in den und zu den vici und villae rusticae des ausgehenden 4. und des 5. Jahrhunderts verschiedene Sachgüter, nicht nur Keramik, sondern auch Kämme und Schmuck von Germanen mitgebracht worden sind. Es gibt nicht wenige Fundstellen links des Rheins von Mainz bis Straßburg, in denen Germanen gewesen sein müssen. Nach Ansicht von H. Bernhard waren sogar in den Höhensiedlungen wie dem „Großen Berg“ bei Kindsbach bei Kaiserslautern mit einem Brandgräberfeld Germanen zu vermuten. Nach 450 n. Chr. erfolgte überall eine Aufsiedlung durch Alamannen. Waren es Herrschaftsbereiche 3839 Jäger 2019, 532 und Abb. 226, 544 zu den Höhensiedlungen, vielleicht auch noch unentdeckte Stationen. 3840 Jäger 2018, 33 Abb. 22 Grubenhäuser, 39; zitiert auch G. Lenz-Bernhard. 3841 Bernhard 1999, 17 Abb. 1 Karte, 21 Höhensiedlungen, 43 Alamannen; Bernhard 2007.
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einflussreicher Großgrundbesitzer, die germanische Gefolgsleuten hatten, wurden die Villen weiter benutzt, gab es allgemein auch neue germanische Siedler, die in die Oberschicht aufsteigen konnten? Das Vorrücken von Bevölkerungsgruppen aus dem Inneren Germaniens ist nicht nur über die Schriftquellen fassbar, sondern ist also auch gut archäologisch seit der Zeit Caesars belegt. In Nachfolge der Züge von swebischen Gruppen unter Ariovist gab es Grabfunde germanischen Charakters am Rhein. Die Hauptstreitmacht Ariovists bestand nicht nur aus Sueben, die zuerst genannt werden, sondern diese Heerhaufen setzten sich aus zahlreichen Gruppen unterschiedlicher Herkunft aus dem Inneren Germaniens zusammen, aus militärisch gefolgschaftlich organisierten Kriegergruppen. „Suebe sein“ war ein Erfolgsmodell (vgl. dazu S. 49: Swebenknoten).3842 Einige Grabsteine nennen Neckarsueben. So heißt es auf dem Grabstein eines Prätorianers der VII. Kohorte [Ins]teius Vitalis (im Museo Civico Archeologico di Fiesole), dass er neckarswebischer Herkunft, nat(ione) Suebis Necresis, sei. Seine germanische Kleidung mit langen Hosen, geschlossenen Schuhen, Rechteckmantel und langärmliger Tunica fällt auf, ist aber in der Garde des Caracalla, der Germanen bevorzugte, üblich gewesen. Auf der Scherbe einer Terra Sigillata-Schüssel im Limeskastell Zugmantel im Taunus aus der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts steht die Ritzinschrift SVEBA, auf einer Bodenscherbe im Lagerdorf, dem vicus auf dem Hanauer Salisberg, die Ritzung SVIIB (wohl SUEB). In einem Ausstellungskatalog von 20053843 zu den Germanen am Oberrhein und Neckar, zu Fremden zwischen Tradition und Integration, werden weitere Steindenkmäler beschrieben, so Votiv- und Meilensteine, auf denen C.V.S.N. steht, was als CIVES SVEBA NICRETI gedeutet wird. Entscheidender für unsere Fragestellung sind aber die frühen Bestattungen, die im Rhein-Neckar-Mündungsgebiet gefunden worden sind. Ein Grabfund von Mannheim-Feudenheim, Grab 2 von 1907, enthielt als Beigaben Waffen, in Auswahl zwei Lanzenspitzen, Schild, Trinkhorn, Messer und Bügelschere sowie zwei Augenfibeln. Es gab somit nachgewiesen einen Zuzug seit Caesars Zeit, seit der Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. von den Elbgermanen an den Rhein. Doch erst gegen Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. ist am unteren Neckar eine intensivere Ansiedlung zu beobachten. Es müssen viele Germanen gewesen sein, wenn unter Kaiser Trajan um 100 n. Chr. von einem Hauptort Civitas Vlpia Sueborum Nicrensium im Neckarmündungsgebiet gesprochen wird. Namenlos sind aber die zeitgleichen Gruppen von Diersheim bei Straßburg und die Starkenburger Gruppe um Groß Gerau. In diesen Grabfunden wird Germanisches schon im Laufe des 1. Jahrhunderts vollständig durch römische Sachgüter ersetzt.3844 Ein Dutzend Grabinschriften zeigen den Stellenwert des Militärdienstes bis in die erste Hälfte des 3. Jahrhunderts auch in Gardeeinheiten, wie die
3842 Quast 2014a, 18 Grabstein, 19 Terra Sigillata Scherben. 3843 Schlegel 2005, 86 f. mit Abb. 77 bis 79. 3844 Lenz-Bernhard 2014, 26 f.
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Grabsteine bezeugen. In Köln gibt es ebenfalls Grab- und Weihestein, so einer 1994 entdeckt aus dem ersten Drittel des 3. Jahrhundert, auf dem es heißt, der Tote sei ein Germane aus der Garde des Stadthalters, und es wird eine Swebengemeinde genannt CIVES SVEBI, mit Bezug auf Lopodunum/Ladenburg. Mehrere Gräberfelder der sogenannten Neckarsueben3845 sind untersucht, in Diersheim, Ladenburg und Groß-Gerau. In Diersheim im Ortenaukreis, der südlichsten Gruppe dieser Plätze, ist das elbgermanische Gräberfeld schon in den 1930er Jahren mit 50 Bestattungen archäologisch ausgegraben worden, mit Waffenbeigaben des 1. bis 3. Jahrhunderts n. Chr. In den Jahren 1948 und 1958 gab es weitere Funde. 2011 bis 2017 sind wieder Funde hinzugekommen, die anhand der frühen Augenfibeln an den Beginn des 1. Jahrhunderts n. Chr. zu datieren sind. Das Gräberfeld ist etwa 200 m lang und 50 m breit. Funde an der Oberfläche brachten 70 Fibeln und 130 Bronzegeschirrfragmente eines Brandgräberfeldes des 1./2. Jahrhunderts, auch einige Funde bis Mitte 4. Jahrhunderts, alles Objekte aus vom Pflug zerstörten Gräbern. Es gibt Leichenbrandkonzentrationen, Brandschüttungsgräber und Urnen. Dokumentiert sind 22 Urnengräber mit Waffen, Lanze oder Schwert, aus einem Brandgrab sind Beschläge von zwei Trinkhörnern erhalten; römische Bronzegefäße sind vor der Verbrennung intentionell zerstört worden. Die Beigaben von sogenanntem Urnenharz (Pech) weist weit in den Nordosten ins Elbe-Weser-Dreieck. In den genannten Inschriften bezeichnen sich diese Germanen als Sueben, der Beginn der Ansiedlungen ist im ersten Drittel des 1. Jahrhunderts zu datieren, was also früher ist als bisher gedacht. Es gibt wohl einen Zusammenhang mit dem Legionsstandort Argentorate/Straßburg.3846 Bei Lopodunum III handelt es sich um eine Siedlung der Neckarsweben.3847 Neckarsweben sind in den Gebieten von Mannheim, Ladenburg und Heidelberg während der frühen Römischen Kaiserzeit durch Siedlungen und Gräber belegt.3848 Diersheim war z. T. sogar ein römisch-germanischer Bestattungsplatz, denn im Urnengrab 14 stand ein Terra Nigra-ähnliches Gefäß, abgedeckt mit einem Teller belgischer Ware; zu den Beigaben gehören ein Kellengriff, ein Rasiermesser, zwei Augenfibeln, eine Eisenschere, zwei Bronzenadeln, jeweils datiert ins fortgeschrittene 1. Jahrhundert.3849 Es zeigt sich darin die Heterogenität der südlichsten Gruppe der sog. Oberrhein-Germanen. Die Reichsgrenze unter Tiberius wurde nach Ende der Germanenfeldzüge 17 n. Chr. durch gezieltes Anwerben oder gezwungene Umsiedlungsmaßnahmen durch Krieger aus Germanien ergänzt. O. Schlegel bietet Kartierungen zu dem Gegenüber von römischen Truppen und verbündeten Germanen am Mittelrhein. „Die ländlichen Siedlungen germanischer Prägung blieben“, so 3845 Gropengießer 1992; Wiegels, Schlegel 2002. 3846 Nierhaus 1984; Frank 2014; Schrempp et al. 2016; Schrempp et al. 2017; Lauber, Schrempp, Heising 2018. 3847 Lenz-Bernhard 2002. 3848 Schlegel 2000. 3849 Schrempp et al. 2017, 177 f. mit Abb. 126.
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schreibt er, „auch nach der Eingliederung des Neckarraumes in den römischen Herrschaftsbereich mehrheitlich bestehen“.3850 Grubenhäuser und keramisches Material des 2. Jahrhunderts spiegeln das Festhalten an den vorrömischen Traditionen, noch nach 80 Jahren römischer Besetzung am Neckar, während die Kleinfunde aus Metall die Romanisierung beschreiben. Im unmittelbaren Neckarmündungsgebiet jedoch sind die ländlich geprägten Siedlungen mit Gehöften durch villae rusticae schon seit dem frühen 2. Jahrhundert ersetzt worden, in Ladenburg-Ziegelscheuer und Mannheim-Seckenheim. Spuren der Vorläufersiedlung, einiger Gehöfte, nämlich Grubenhäuser und Reste einer Holzbauphase sowie Töpferöfen mit germanischer Keramik, sind in Ladenburg-Ziegelscheuer im Bereich des späteren Villenareals entdeckt worden.3851 Die germanischen Funde überspannen die Zeit 40 bis 140 n. Chr. in vier Phasen; und in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts erfolgte die Gründung der villa rustica mit wiederum drei Bauphasen. Es gab also Parallelgesellschaften am Oberrhein, so in Diersheim germanische Waffengräber auf römischem Provinzboden.3852 Im frührömischen Brandgräberfeld im Gewann „Fachheu“, mindestens 200 m lang, lagen in Grab 18 Spatha, Lanze und römisches Schuhwerk; es war also die Bestattung eines Soldaten; auch die Gräber 17 bis 19 waren Waffengräber, aber erst des 2. Jahrhunderts. Eine horizontalstratigraphische Entwicklung ist für das Gräberfeld zu konstatieren. Die ältesten Gräber stammen aus tiberisch-claudischer Zeit (erste Hälfte des 1.Jahrhunderts), jüngere Bestattungen reichen also bis ins 2. Jahrhundert. Für etwa vier Generationen lebten swebische Siedler in dieser Parallelgesellschaft zu Rom. Weiter östlich im Binnenland ist dieses Vordringen von Germanen nach Südwesten aus dem Bereich der Przeworsk-Kultur häufig zu fassen. Die Siedlung Leimbach, Ldkr. Nordhausen, am Südharzrand gehörte nicht nur anhand der Keramik zur Przeworsk-Kultur.3853 Frühe Germanen gibt es in Hessen, wo zuvor eine keltische Bevölkerung gelebt hatte.3854 Michael Meyer hat diese Südverschiebung der Przeworsk-Kultur in mehreren Ausgrabungen erschlossen und in entsprechenden Publikationen beschrieben. Er spricht zwar von der Przeworsk-Kultur zwischen Rhein und Oder, hätte aber besser formuliert zwischen Oder und Rhein wegen der Ausbreitungsrichtung reden sollen.3855 Parallel dazu drängten auch die Träger des Großromstedter Horizonts nach Westen (vgl. S. 1008).3856 Die Verbreitung der Przeworsk-Keramik weit im Südwesten der
3850 Schlegel 2005, 87 Abb. 79, 88 Zitat etwas weiter unten. 3851 Rabold 2005, 91 Abb. 84. 3852 Schrempp, Kortüm, Heising 2018. 3853 M. Meyer, Rauchfuß 2014. 3854 M. Meyer 1994, 1998; 2012a. 3855 M. Meyer 1994; 2005; 2007, 332; 2008. 3856 M. Meyer 2009a.
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Germania magna wird mehrfach kartiert (oben Abb. 8,1 und 2).3857 Die Ausbreitung der Przeworsk-Kultur, auf der Karte mit schraffiertem Kerngebiet in Polen, erfolgte über Mitteldeutschland bis an Lahn und Main, auch nach Böhmen und Mähren. Intensiv ist das Mittelelbe-, das Saale-Unstrut-Gebiet und die Wetterau einbezogen worden. Erinnert sei daran, dass ein solches Kartenbild mehr oder weniger eine Gleichzeitigkeit der Befunde veranschaulicht, nicht etwa tatsächlich eine Mobilität. Nur aus diesen Regionen sind Siedlungen mit dieser Keramik bekannt, nach M. Meyer 2005 ein Adaptionsprozess, erkennbar daran, dass auch die einheimischen Siedlungen der Umgebung die neue Keramik übernahmen. Neue Bestattungssitten sind nach Meinung verschiedener Autoren aber der direkte Hinweis auf Wanderungen aus dem Gebiet östlich der Oder, fassbar unmittelbar in den erforschten Brandgräbern bei Gießen. „Das Ende der Oppidakultur und der spätlatènezeitlichen Münzgeldwirtschaft in Hessen scheint zumindest chronologisch im direkten Zusammenhang mit der Ankunft dieser östlichen Einwanderer gestanden zu haben“.3858 Ob ein Zusammenhang mit der kurzfristigen Truppenbewegung des Ariovist bestanden haben könnte, wie immer wieder mit Blick auf die Ereignisgeschichte angenommen wird, bleibe aber dahingestellt, so auch M. Fernández-Götz. Wanderungen sind nicht als alleiniges Erklärungsmuster des Kulturwandels heranzuziehen, andere Modelle sind zu suchen.3859 Auch ist Migration nicht immer mit Krieg, Eroberung oder Konfrontation verbunden, sondern auch mit Austausch, Integration und Hybridisierung.
Die Zusammensetzung der Bevölkerung, d. h. die Frage nach der Kontinuität der Bewohner im Magdeburger Raum und im nördlichen Harzvorland und der Ergänzung durch Einwanderer, nämlich durch Leute mit Przeworsk-Kultur-Elementen, beherrscht das Thema.3860 Dieses Vordringen von Elementen der Przeworsk-Kultur nach Westen ist besonders in Nordthüringen, zwischen Südharz und dem Thüringer Wald erforscht worden.3861 Przeworsk-Keramik findet sich in Nordthüringen in der Siedlung von Leimbach, Ldkr. Nordhausen, wo Grabungen 2010 bis 2014 erfolgt sind. Die Keramik der spätlatènezeitlichen Przeworsk-Kultur stellt tatsächlich hier den größten Anteil, was mit einer Migration aus dem Gebiet der Kultur im Osten nach Nordthüringen erklärt wird. Die Kette der Siedlungen am Nordrand der Goldenen Aue beschreibt eine dichte Besiedlung, denn alle 2 km findet sich ein Fundplatz. Keramische Zeugnisse der Przeworsk-Kultur liegen weiterhin aus Gorsleben, Kyffhäuserkreis, vor, wo Grabungen 3857 Dąbrovska 203, 541 Abb. 84; M. Meyer 2013e, 286 Abb. 6; uczkiewicz 2017a, 338 Abb. 283 Karten; Fernández-Götz 2018, 269 ff., 270 Abb. 7 Karte, 269 Zitat; Bockius, Łuczkiewicz 2004, Karte; ausserdem Łuczkiewicz 2007b; M. Meyer 1994; 2005; 2007; auch Kasiński 2010. 3858 Meyer 1994; Seidel 1996; Wigg 1996. 3859 Fernández-Götz 2014 mit weiterer Lit. 3860 Pöppelmann 2011. 3861 Rauchfuß 2017, 17 Abb. 1 Kartierung der Fundplätze; M. Meyer 2013c zu den verschiedenen Siedlungssystemen der Einheimischen und der Przeworsk-Leute.
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2004 und 2005 stattfanden, die eine Siedlung der Phase Latène B2-D2 erforscht haben. Seit dem fortgeschrittenen 2. Jahrhundert v. Chr. dominiert auch hier die Keramik der Przeworsk-Kultur, und nach der Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. kommt dann Keramik der Großromstedter Kultur dazu. Es wird von einer Zuwanderung früh-, ostund elbgermanischer Bevölkerungsteile gesprochen und ein keltisch-germanisches Kontaktgebiet postuliert.3862 Die Verbreitung zumeist keramischer Zeugnisse der Przeworsk-Kultur in Thüringen zwischen Harz und Thüringer Wald bietet immerhin über 60 Fundpunkte und markiert damit eine beachtlich dichte Besiedlung. Przeworsk-Einflüsse in Fundkomplexen der Latènezeit zwischen Ilm und Saale, im Weimarer Land, wurden ausführlich dokumentiert; eine feinkeramische Gruppe wird allgemein als ostgermanisch angesprochen. Fundkomplexe mit Keramik nach Przeworsk-Art auf der Ilm-Saale-Platte sind in immerhin 19 Fundpunkten erfasst, in Siedlungen und Brandgräbern. Wieder wird davon ausgegangen, dass sich Migration und Mobilität auch in den Bestattungsriten abzeichnen würden.3863 Auf der Funkenburg bei Westgreußen, 1974 bis 1980 ausgegraben, zeichnen sich Beziehungen zum genannten Gorsleben und zu Großfahner im nördlichen Thüringer Becken ab, datiert in die jüngere vorrömische Eisenzeit bis in den Beginn der Römischen Kaiserzeit, eben auch anhand der Keramik im Stil der Przeworsk-Kultur.3864 In der von M. Meyer ausgegrabene Siedlung Mardorf 23, Ldkr. MarburgBiedenkopf, fand sich Przeworsk-Keramik zusammen mit Rhein-Weser-Keramik in denselben Hausgruben,3865 als Beimischung im lokalen Milieu. Das ist auch in anderen Siedlungen zu beobachten, von Nordthüringen in den Siedlungen um Nordhausen bis Mittelbuchen, Kr. Hanau in der Wetterau.3866 Auffällig ist das Verhalten dieser Przeworsk-Leute, wenn man die Benutzer dieser typischen Keramik so bezeichnen will, im Bestattungsbrauch. Während im Ausgangsgebiet die Toten in Brandgrubengräbern bestattet wurden, wählte man in den neuen Räumen die hier übliche Urnenbestattung, jedoch mit Formen der Przeworsk-Keramik als Urne. Nur wenn diese Leute in kleinen Gräberfeldern isoliert bestatteten, wählten sie noch das Brandgrubengrab, auch mit anderen Beigaben. Die Leute grenzten sich also bewusst teilweise von den einheimischen Bewohnern der Landschaft ab, scheinen Einwanderer gewesen zu sein, die in „kulturellen Inseln“ und in Gemengelage mit den Einheimischen erkennbar werden und damit anscheinend eine Migration belegen.3867 Auch die Siedlung bei Geismar nahe Fulda mit wenigen ortskonstanten Gehöften bietet Einflüsse der Przeworsk-Kultur, vor allem in der Keramik. Die zunehmende Besiedlung, durch Verdichtung und durch Einwanderung, ist in 3862 Seidel, in: M. Meyer, Łuczkiewicz, Rauchfuß (Hrsg.) 2017, 33–56, 37 Abb. 2 Karte. 3863 Th. Grasselt, in: M. Meyer, Łuczkiewicz, Rauchfuß (Hrsg.) 2017, 57–79, 60 Abb. 1 Karte. 3864 R. Knechtel, in: M. Meyer, Łuczkiewicz, Rauchfuß (Hrsg.) 2017, 81–97. 3865 M. Meyer 2008; 2009. 3866 M. Meyer 2009b, 60, auch zur Migrationsproblematik. 3867 Burmeister 1996.
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vielen Gebieten erkannt worden, so im Lippemündungsgebiet in frührömischer Zeit3868 mit elbgermanischen Tongefäßen. Sueben aus dem Elbegebiet scheinen an den Niederrhein gekommen zu sein; frühe Germanen am Rhein bei LeverkusenRheindorf sind ergraben.3869 Im Lahntal sind derartige frühkaiserzeitliche Siedlungsbefunde ebenfalls gefunden worden.3870 Unter dem Thema „Migration und Adaption“ hat Michael Meyer als Modell das Zusammenleben der PrzeworskKulturträger und der einheimischen Bevölkerung seit der Spätlatènezeit in Mitteldeutschland und Hessen an mehreren Beispielen erläutert.3871 Die Siedlungen mit Elementen der Przeworsk-Kultur in Thüringen südlich des Harzes wie Gorsleben, Leimbach und Westgreußen haben überwiegend keramisches Fundmaterial erbracht, das in ihrer größeren Menge statistisch ausgewertet worden ist.3872 Diese Zwischenregion der Przeworsk-Kultur liegt zwischen den östlichen Kerngebieten im heutigen Polen und der Ausstrahlung bis ins Main-Mündungsgebiet.3873 Korrespondenzanalysen und Seriationen der Ware aus den drei Siedlungen bieten neben C-14- Datierungen eine Phasengliederung für die späte vorrömische Eisenzeit von 500 v. Chr. bis in die früheste Römische Kaiserzeit bzw. umbenannt in die Phasen I bis V, die also längerfristige Siedlungsvorgänge zeigen.3874 Was bedeutet das für die kulturelle bzw. siedlungsgeschichtliche Entwicklung anhand der PrzeworskMerkmale der Keramikformen? Wie schon andernorts veröffentlicht und hier schon beschrieben, bieten die Untersuchungen 2019 noch einmal mit neuen Ergebnissen Begründungen für die These der Einwanderung. In den Siedlungen ist der PrzeworskAnteil an den Keramikfunden erheblich. Von Anfang an gibt es auch Gräber der Przeworsk-Kultur. Die drei Siedlungen liegen etwa 20 bis 40 km auseinander, doch die Keramikentwicklung ist jeweils dieselbe, d. h. während dieser frühen PrzeworskPhase bestanden zwischen den Siedlungen enge Kontakte. Doch der Anteil der einheimischen und regionalen Ware war verschieden und wurde geringer. Als Deutung wird davon ausgegangen, dass Gruppen eingewandert sind mit eigener Ausstattung, wobei jedoch die regionale zivilisatorische Kultur weiterlebte. Für Einwanderer spricht auch die Bestattungssitte der Przeworsk-Leute, meinen die zitierten Autoren; dabei sind unter den Beigaben beispielsweise Fibeln der regionalen Kleidung, (was mich nicht verwundert, da Sachgüter unterschiedlichster Typen eigentlich überall in Germanien vorkommen und gefunden werden können.) Die Fibeln (sogenannte Beltz Variante J) sind eine Leitform im „keltisch-germanischen“ Kontaktgebiet. Die Anteile
3868 Reichmann 2007, 74 Abb. 45. 3869 Frank 2007. 3870 Boenke, Lorscheider 2006. 3871 M. Meyer 2005; auch ähnlich 2007; 2012a. 3872 Knechtel, M(ichael) Meyer, Rauchfuß, Seidel 2019, 254 Abb. 1 Lage der Fundorte, 286 Abb. 15 Karte der Przeworsk-Kultur in Thüringen und Nachbarregionen. 3873 Knechtel u. a. 2019, 288 Abb. 16 Karte nach Kokowski 2003a; M. Meyer 2007; 2008. 3874 Knechtel u. a. 2019, 275 Abb. 11 Korrelation der Phasen aus den verschiedenen Siedlungen.
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von Przeworsk-Elementen in diesem Gebiet sind durchaus unterschiedlich, von einzelnen Belegen bis zu überwiegendem Anteil, und dabei gibt es Konzentrationen von benachbarten Siedlungen. Die thüringische Landschaft ist geprägt von der LatèneKultur, in die nun im nördlichen Gebiet konzentriert die neue Przeworsk-Kultur – „germanisch“ – eingedrungen war, eine „kulturelle Insel, in die eine Einwanderung erfolgte“.3875 Ähnliche Inseln scheinen im Mittelelbegebiet und in der Wetterau entstanden zu sein. Einige Zahlen zur Bewohnergröße werden geschätzt: In Leimbach sollen (nur) zwei Gehöfte zeitgleich gestanden haben, aber immerhin mit pro Hof 15 Personen als Bewohner. Bei 9 bekannten Siedlungen und einst wohl 20 bestehenden, kommt man auf insgesamt 600 Personen. Und weiter wird spekuliert, wie dazu die Einwanderung erfolgt sein könnte. Die Inseln neuer Einwanderer verschwinden aber noch in der späten Phase der vorrömischen Eisenzeit (Latène D1 und nach A2). Das wird mit einer kulturellen Rückkoppelung ins Ausgangsgebiet im Osten und deren Ende gedeutet, und doch bleiben manche Fragen offen. Denn es kann sich nur teilweise um eine Akkulturation gehandelt haben, da die Siedlungen abbrechen, und wo sie weiterbestanden, gibt es keinen Zusammenhang mehr mit der Keramikentwicklung nach Osten, dafür einen kontinuierlichen Übergang zum Horizont Großromstedt, d. h. aber doch mit Wurzeln in der Przeworsk-Keramik. So ausführlich referiere ich diese Ergebnisse, weil das ein begründetes Modell ist, wie Migrationen archäologisch nachgewiesen werden können. Zwar betonen die Autoren, dass von einer komplexeren Auffassung einer archäologischen Kultur ausgegangen werden sollte und an „stabile, interpersonelle und gruppenübergreifene Bezüge und Vernetzungen“ gedacht werden sollte, aber trotzdem hängt fast alles nur an detaillierten Studien der Keramikformen, ein enger Ausschnitt aus der ehemaligen Lebenswelt, was dazu anregen sollte, über den Begriff Pzreworsk-Kultur neu nachzudenken. Frühe Germanen am unteren Main, deren Herkunft sie mit der Przeworsk-Kultur und deren Verbreitung in Oberhessen verbindet, werden mehr und mehr entdeckt.3876 Germanen vor und nach Aufgabe des Limes sind Vorboten an Main und Tauber, und nach den Berichten aus dem Jahr 1997 hat sich die Zahl nach weiteren 20 Jahren Forschung sichtlich verdichtet. Germanen lassen sich, so K. Frank,3877 schon seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. in Südwestdeutschland neben der alteingesessenen keltischen Bewohner nachweisen. Im Verlauf des1. Jahrhunderts v. Chr. sind entlang des Rheins und seiner östlichen Zuflüsse innerhalb alteingesessener Gruppen „fremde“ Einflüsse zu erkennen, also fremde Keramik vergesellschaftet mit der einheimischen Ware, auch Trachtbestandteile und typische Grabformen belegen den Zuzug ostgermanischer Gruppen, die sich immer an überregional wichtigen Verkehrsräumen und -verbindungen bewegt haben, was so generationsweise weitergeht. Ausführlicher 3875 Knechtel u. a. 2019, 287 und Kommentar zur Karte 286 Abb. 15. 3876 Seidel 1996, Karte zur Südwestausbreitung der Przeworsk-Kultur-Elemente; 1999; 2000; 2009a. 3877 Frank 1997; 2000; 2007; 2009; 2017; auch R. Keller 2015; 2017, 126 Abb. 2 Plan der Siedlung Königshofen.
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untersucht sind die Siedlungen Leverkusen-Rheindorf, Niederkassel (Rhein-SiegKreis), Tauberbischofsheim (Main-Tauber-Kreis) und Lauda-Königshofen (ebenfalls Main-Tauber-Kreis). Zwischen Bad Mergentheim und Tauberbischofsheim ist das Nachklingen der Przeworsk-Kultur in der Großromstedter Kultur zu verfolgen. In der Siedlung Gaukönigshofen „Reißwag“ gibt es Grubenhäuser der Römischen Kaiserzeit und unmittelbar dabei auch Keramik der Großromstedter Kultur. Nach einer ersten Welle aus den Gebieten an Oder und Warthe, also der Przeworsk-Kultur, folgte bald eine zweite aus dem Thüringer Becken, und diese Einwanderung ging in den nachfolgenden Jahrhunderten ständig weiter. Im 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. sind es dann Leute der rhein-weser-germanischen Kultur, die sicherlich schon aus diesen verschiedenen „Schichten“ der Einwanderer bestanden haben. Scheinbare Siedlungslücken lassen sich im Übrigen durch den Forschungsstand erklären. Nahe am Limes waren 1997 auf einem Streifen von nur 15 km Länge neun Siedlungen beiderseits der Tauber erkannt worden; das ist die schon zuvor (vgl. S. 250) geschilderte dichte Lage von Dörfern bzw. kleinen Gehöftgruppen (die Größe der Siedlungen ist noch unbekannt, da sie bisher nicht ausreichend freigelegt worden sind) in Blickverbindung. Der Beginn liegt vor der Mitte des 2. Jahrhunderts, und das Zusammenleben mit den römischen Nachbarn scheint friedlich gewesen zu sein, ablesbar an den römischen Sachgütern wie Terra Sigillata, Fibeln und Münzen. Diese Siedlungen waren mindestens bis in die zweite Hälfte des 3. Jahrhunderts bewohnt, auch nach der Aufgabe und Zurücknahme des Limes. 1997 meinte man, dass dann in unmittelbarer Nachbarschaft im Verlauf des 4. Jahrhunderts neue Niederlassungen von einer neuen (?) Bevölkerung gegründet worden seien, die aus dem Gebiet der Elbgermanen gekommen wären, aus dem Elbe-Saale-Gebiet. Sie bildeten einen Teil der Gruppen, die später dann neu den Großstamm der Alamannen formten. Ich erinnere daran, dass diese wellenförmigen Einwanderungen im Wesentlichen anhand von Keramikformen beschrieben werden, wobei nicht an Kontinuitäten der Siedler gedacht wird, die aus verschiedenen Gründen Keramikfacies und andere Beigaben in den Gräbern im Zuge der Netzwerk-Kommunikationen übernommen haben können. Die neuen Siedlungen in der Wetterau und in Mainfranken mit den untersuchten Plätzen Gerolzhofen im Westen und Gaukönigshofen weiter im Osten spiegeln die fortlaufende Verdichtung des besiedelten Gebiets am mittleren Main vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis zum 4. Jahrhundert.3878 Ergraben sind Hausgrundrisse bis ins 3./4. Jahrhunderts an Plätzen, wo es schon mittellatènezeitliche Siedlungen gegeben hat. Vielfach publiziert ist die Karte der germanischen Besiedlung des 2. und 3. Jahrhunderts im Vorfeld des obergermanischen Limes mit Siedlungen und Gräbern. Ein Histogramm zur römischen Keramik fasst Scherben zusammen, überwiegend von Trinkgeschirr, Schüsseln und Kannen. Es
3878 Steidl 2000a; 2000b; 2004; 2007. auch 2013, 89 Abb. 1 Karte, in Farbe, der germanischen Siedlungsgebiete und Gräber an Tauber und Main nahe vor dem Limes, 12 Nummern, darunter Gaukönigshofen, 91 Abb. 2 Karte zur rhein-weser-germanischen Keramik.
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gibt gute Hinweise für Textilherstellung und -verarbeitung. Die Karte der germanischen Besiedlung des 2. und 3. Jahrhunderts im Vorfeld des obergermanischen Limes im Taubergebiet zeigt, dass sie gerade noch in Reichweite der römischen Garnisonen lagen. Das Münzdiagramm für Gaukönigshofen reicht von 68 bis 235 n. Chr., wobei aus dem Prägejahr 235 die meisten Denare vorliegen. In der Siedlung Frankenwinheim decken die Münzen eine Zeitspanne von 68 bis 222 n. Chr. ab, wobei Aes-Prägungen von 161 bis 180 die Mehrheit ausmachen.3879 Ein Depotfund mit eisernen Werkzeugen und bronzenem Altmetall des mittleren 5. Jahrhunderts aus der Siedlung Gaukönigshofen enthält auch spätrömische bzw. germanische Gürtelbeschläge; und die Werkzeugformen zeigen die kulturelle und wirtschaftliche Angleichung der germanischen und der römischen Gesellschaft.3880 Die Keramik und auch andere Metallfunde wie eine Fibel vom „Typ Wiesbaden“ weisen auf eine Beziehung, gar Herkunft der Leute aus dem elbgermanischen Gebiet hin.3881 Lokale Drehscheibenware des 3. Jahrhunderts gibt es aus Mainfranken.3882 Bernd Steidl hat in seinem Beitrag von 2014 zu „Römisch-germanischen Auseinandersetzungen und Germanisierung im 3. und 4. Jahrhundert“ dazu eine Zusammenschau vorgelegt (obwohl oder auch weil es im Katalogbuch um die Lausitz geht).3883 Der Ausschnitt aus der spätkaiserzeitlichen Siedlung Echzell, Wetteraukreis, am Rande eines verlassenen Kastellvicus zeigt langgestreckte Wohn-Stall-Häuser in germanischer Bauweise.3884 B. Steidl schildert mehrfach die Situation beiderseits des obergermanischen und raetischen Limes.3885 Kartierungen bringen 2013 die germanischen Siedlungsgebiete, auch die Gräber, an Tauber und Main mit vielen roten Punkten vor dem Limes mit 12 Nummern (vgl. oben S. 1026 Anm.), darunter auch Gaukönigshofen, sowie die Verbreitung der rhein-weser-germanischen Keramik. Eine Terra SigillataSchüssel wird verglichen mit einer germanischen Schale, die wie nachgeahmt in der Form und der Verzierung wirkt. Eigene germanische Fibeln wurden durch römische Emailscheibenfibeln ersetzt. „Römisches Küchengeschirr spielt dagegen bei den Germanen keine Rolle. Unter anderem darin dokumentiert sich das Festhalten an der althergebrachten Koch- und Ernährungsweise“. Zusammengeschmolzene römische Silbermünzen des 1. bis 3. Jahrhunderts aus der Siedlung von Michelfeld, Ldkr. Kitzingen am Main, belegen also Rohmaterial und Metallverarbeitung. Zerhackte und zum Einschmelzen bestimmte römische Bronzegegenstände aus Plünderungszügen in den Provinzen wurden in der germanischen Siedlung von Frankenwinheim, Ldkr. 3879 Steidl 2000b, 107 ff. und Abb. 9 Karte der Besiedlung im 2. und 3. Jahrhundert, 109, Abb. 12 und 13 Histogramm der Münzen. 3880 Steidl 2014, 45 Abb. 24; 1999a: germanische Kammacherwerkstatt. 3881 So schon Werner 1981. 3882 Steidl 2011. 3883 Steidl 2014. 3884 Steidl 2014, 36 Abb. 13. 3885 Steidl 2013, 89 Abb. 1 Karte, in Farbe, der germanischen Siedlungsgebiete, 91 Abb. 2 Karte zur rhein-weser-germanischen Keramik, 94 Abb. 6 TS-Schüssel und germanische Schale, auch das Zitat, 95 Abb. 7 geschmolzene Silbermünzen, 97 Abb. 10 Bronzeschrott.
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Schweinfurt, gefunden und belegen ebenfalls Metallhandwerk. Von einer „Elbgermanisierung“ des Maingebietes ist auszugehen. Es ist auch die Zeit der Feldzüge des Caracalla. Die expeditio Germanica und die Örtlichkeiten des Kampfgeschehens im Jahr 213 n. Chr. mögen in diesen Raum weisen. Der Umfang des rheinischen Aufgebots wird auf 3000 bis 4000 Mann geschätzt und mit Ergänzungen aus Regensburg sogar auf 9000 bis 11000 Mann, nach dem Feldzug wurden Frauen und Kinder der Chatten und Alamannen in die Sklaverei abgeführt. Dafür erhielt Caracalla den Siegerbeinamen Germanicus maximus. Im Süden von Bad Nauheim im Wetteraukreis sind drei germanische Langhäuser, zwar rechts des Rheins, aber innerhalb des Limes beim ehemaligen Limeskastell Echzell, also auf einst römischem Gebiet im spätes 3. bis 5. Jahrhundert errichtet worden (vgl. oben S. 1069). Zuvor gab es auch hier eine keltische Ansiedlung nahe der keltischen Saline. Ein Haus ist 23 m lang und 9 m breit, gehört ins 3./4. Jahrhundert, und in der Siedlung fand man Gebrauchskeramik, einen dreieckigen Kamm mit Kreisaugenverzierung und auch Schrötlinge sowie Stangenbarren als Rohmaterial für die Münzprägung von barbarischen Imitationen des späten 3. Jahrhunderts aus einer Münzwerkstatt. Damit hat es also Münzherstellung im Vorfeld des Römischen Reichs gegeben, am Platz einer älteren römerzeitlichen Siedlung, die aber wohl aufgegeben war; aber vielleicht standen sogar noch römische Bauten.3886 Frühe Germanen im Taubergebiet und germanische Siedlungen des 3. Jahrhunderts im Vorfeld des Obergermanischen Limes zeigen Karten des Taubertals mit den germanischen Siedlungen des 2./3. und des 4./5. Jahrhunderts (oben Abb. 82), ebenso zusammengefasst Karten der germanischen Fundstellen des 2. bis 5. Jahrhunderts.3887 Die erläuterte ständig zunehmende Dichte der Besiedlung in den Main-, Jagst- und Tauber-Flussgebieten, belegt real eine Zunahme der Dörfer (und spiegelt auch indirekt die intensivierte archäologische Forschung). Sie wurde zur Bedrohung der römischen Provinzgrenze, was daher wohl auch zum Ausbau des Obergermanischen Limes geführt hat. Die Siedlungen in Gaukönigshofen und an anderen Plätzen sind ein ausführlicher Beleg für diese Verdichtung.3888 B. Steidl fragt außerdem nach dem Verbleib einer zurückgebliebenden Provinzialbevölkerung, nach Römern rechts des Rheins, in diesem Gebiet nach der Zurücknahme des Limes (also nach etwa 260 n. Chr.).3889 Umgekehrt regt ihn die geborgene lokale Drehscheibenkeramik römischer Formgebung in diesen Siedlungen in Mainfranken zu der These an, dass dies auf „Verschleppung römischer Reichsbewohner“ ins benachbarte Germanien zurückzuführen sein könnte.3890 Restromanen werden u. a. anhand von Keramik, den typischen 3886 Lindenthal 2007; Lindenthal, Rupp 2000; Witschel 2017, 132 Abb. 63. 3887 Frank 2000; 2005, 142 Abb. 149 Karte; 2009; 2010; Krausse, Keller 2006, Karten zum 2./3. und 4./5. Jahrhundert; Keller 2015. 3888 Steidl 2007a; b. 3889 Steidl 2006a. 3890 Steidl 2002.
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römischen Reibschüsseln in Südwestdeutschland und den benachbarten Gebieten vom 4. bis sogar ins 8. Jahrhundert nachgewiesen.3891 Die Verwendung spätrömischer Terra Sigillata zwischen Rhein, Main und Neckar strahlte auch bis hierhin aus.3892 An anderer Stelle wird einerseits zu diesen Siedlungen (vgl. S. 1068) und andererseits zu der „romanisierten“ Keramik (vgl. S. 1059) Stellung genommen. Die germanische Besiedlung im Taubertal begann recht früh, schon zur Zeit des Großromstedter Horizonts und mit Rhein-Weser-Keramik und guten Hinweisen auf verschiedenes Handwerk.3893 Die Siedlungen bestanden also schon seit der vorrömischen Eisenzeit und weiter während der Römischen Kaiserzeit. Ein Rezensent der Beiträge sieht bei den wenigen Metallfunden wie Bronzenadeln Parallelen weit im Osten zu Fundorten wie dem Gräberfeld von Weklice der Wielbark-Kultur (vgl. S. 496). Bronzehandwerk ist anhand von Fehlgüssen für Stangenkettenglieder des Großromstedter Horizonts erkennbar, Kettenglieder wie sich auch für Trinkhornaufhängungen üblich waren, und wieder gibt es Vergleiche zu Fibeln, z. B. über Fibeln vom Typ Kostrzewski Variante K (vgl. S. 230) und Keramik der Przeworsk-Kultur wie in der Siedlung von Mardorf (vgl. S. 229).3894 Die Keramik besteht zu 92% aus freihandgeformter Ware, nur 8% sind Scherben von Drehscheibengefäßen. Entscheidend ist die Dominanz von Ware der Przeworsk-Kultur neben der Großromstedter und der Rhein-Weser-Keramik. Eine mögliche Siedlungslücke könnte zwischen der Spätlatène- und der Großromstedter Phase bestanden haben oder eine „keltische“ und eine „germanische“ Phase von Siedlern haben nebeneinander bestanden, Großromstedter Leute sind nach Süden zugewandert, wie das in diesem Gebiet vielfach erkannt werden konnte, und ebenso das Vorkommen der späteisenzeitlichen Funde der Przeworsk-Kultur.3895 Man mache sich aber bewusst, dass dies eigentlich überwiegend nur anhand von Keramikfunden zu beschreiben ist. Eine umfassende Analyse der Ablösung von römischer Bevölkerung durch Germanen und der Suche nach römischen Bewohnern in der Alamannia als historischer Weg von der Provinz Germania superior zur Alamannia hat Claudia Theune vorgelegt. Ihr geht es um die grundsätzlichen Strukturveränderungen vom 3. bis zum 7. Jahrhundert anhand der archäologischen Quellen, und sie berücksichtigt Siedlungen, Gräberfelder, Depotfunde und die Sachgüter wie Münzen.3896 In einer ganzen Reihe von einst römischen zivilen Siedlungen ist auch in der Zeit nach der Rücknahme des Limes zum Rhein die Anwesenheit von neuen Bewohnern, nicht zuletzt über Hausgrundrisse, Münzschätze und „germanische“ Keramik der frühen Völkerwanderungszeit registriert.3897
3891 Gross, Prien 2017, 255. 3892 Bernhard 1984/1985, Abb. 69; Jäger 2019, 2559 Abb. 160 Karte nach Bernhard 1984/85. 3893 Keller 2015, mit Rez. von Łuczkiewicz 2018 (2919). 3894 M. Meyer 1996. 3895 Frank 2009; M. Meyer 2005. 3896 Theune 2004; 2016. 3897 Theune 2004, 126 f. mit Abb. 44 (Tabellarische Zusammenstellung).
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Ein spezielles Thema ist die Untersuchung der Herkunft germanischer Gruppen, die sich im Südwesten, vor allem vor dem spätrömischen Rhein-Limes südlich in den früheren decumates agri, niedergelassen haben, und zwar seit dem späten 3. und vor allem im 4. und 5. Jahrhundert, bei kontinuierlicher weiterer Einwanderung aus dem Nordosten. Das Thema Alamannen in Südwestdeutschland bewegte die Forschung unter dem Aspekt, dass früher davon ausgegangen wurde, diese Germanen seien mit Kind und Kegel und allem Besitz mit Planwagen und ihren Herden aus dem Norden nach Südwesten bis an den Rhein eingewandert. Doch geht man gegenwärtig davon aus, dass verschiedene Kriegerverbände aus dem Inneren Germaniens zugewandert waren und dass sich diese erst hier im Süden dann zum Großstamm der Alamannen zusammengefunden haben. Darüber habe ich mehrfach geschrieben und weise hier auf meine Publikationen dazu hin.3898 Die Verbreitungskarte gegossener Armbrustfibeln des 4. Jahrhunderts n. Chr. von Mecklenburg bis Südwestdeutschland spiegelt die Kontakt- und Herkunftsräume der elbgermanischen Bevölkerung, die Beziehungen nach Südwestdeutschland hatte.3899 Diese Verbreitung von Sachgütern zwischen Mecklenburg und Südwestdeutschland spielt auch bei der Frage nach der Herkunft der Alamannen eine Rolle (vgl. unten S. 1074). Denn die archäologischen Kartierungen von Sachgütern vom Kleidungsschmuck (Fibeln und Perlen) und auch Keramikformen (vgl. unten S. 99) weisen Beziehungen nach Mecklenburg, Mitteldeutschland und Böhmen auf (oben Abb. 9), was verdeutlicht, nicht eine „Stammesgruppe“ zog geschlossen nach Süden, sondern verschiedene Verbände, eben Kriegergruppen, sammelten sich und ließen sich im Süden nieder. Helga Schach-Dörges hat mit drei zeitlich gegliederten Kartierungen diese Einwanderung in Phasen beschrieben, gestaffelt nach Grabfunden der zweiten Hälfte des 3. bis zum frühen 4. Jahrhundert, des frühen 4. bis zum ausgehenden 4. Jahrhundert und des ausgehenden 4. bis zum ersten Drittel des 5. Jahrhunderts.3900 H. W. Böhme hat das wieder aufgegriffen und eine Verbreitung der frühalamannischen Siedlungen, zumeist anhand der Gräberfelder, des späten 3. bis frühen 5. Jahrhunderts im Hinterland bzw. innerhalb des obergermanischen und raetischen Limes vorgelegt.3901 Zu süddeutschen Grabfunden der frühalamannischen Zeit ist
3898 Steuer 1998a; 2003g; 2012c; 2017a; Mischa Meier 2020, 316 hält die Fragestellung nach der Herkunft der Leute für eine „unergiebige Diskussion über eventuelle Migrationswege“, die jedoch falsch gestellt ist, da es nicht um die Herkunft der Alamannen als Stamm geht, sondern um die Gruppen, die sich später am Rhein zu dem Stamm der Alamannen zusammenfinden; S. 1176 nit Anm. 20 sieht die Rolle der Anführer der Gruppen, die Warlords aber korrekt. 3899 Steidl 2014, 37 Abb. im Info-Kasten; vgl. dazu Steuer 1998a, 294 Abb. 3 (sog. Elbefibeln); auch Brather 2010, 156 Abb. 144 (Farbe); jeweils nach Voss 1994a, 504 Karte Abb. 106; Schach-Dörges 1997, 81 Abb. 62; Müller, Steuer 1994, 94 (504) Abb. 106; Jäger 2019, 66 Abb. 34; vgl ebenso Brather, Heising 2018, 27 Abb. 4. 3900 Schach-Dörges 1997; 1998 Karten und Katalog. 3901 Böhme 2010, 14 Abb. 2 (Farbe) Karte Stand 2009; Scholz 2009.
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also mehrfach Stellung genommen worden;3902 im Jahr 2015 auch Helga Schach-Dörges für das Taubertal des 4. und der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts bei der Schilderung eines spätantiken Mädchengrabes.3903 Es war ein längerer politischer, militärischer und auch kultureller Prozess, in dem aus Germanen unterschiedlicher Herkunft seinerzeit Alamannen geworden sind.3904 Wie diese Wandlungen auch im Siedlungsbild im ehemaligen Dekumatland, nachdem die Grenze wieder an Rhein und Donau zurückverlegt worden war, sich abzeichnen, hat H.-U. Nuber unter dem Titel „Zeitenwende rechts des Rheins“ aus der Sicht der provinzialrömischen Archäologie geschildert.3905 Es ging nicht immer friedlich zu; im 3. und 4. Jahrhundert wurden nach siegreichen Feldzügen von verschiedenen Kaisern Münzen geprägt, von Caracalla bis Konstantin II., auf denen es heißt VICTORIA GERMANICA oder ALAMANNIA DEVICTA. Schätze wurden vergraben, so beispielsweise bei Grinario/Köngen ein Münzschatz mit über 600 römischen Silbermünzen, datiert um 247 n. Chr., oder bei Rembrechts, Kr. Ravensburg, ein Schatz, vergraben um 230 n. Chr., mit Schmuck, darunter ein Paar Armreifen und ebenfalls zahlreichen Münzen. Die Herkunftsgebiete werden anhand von Kleidungszubehör, von Fibelschmuck (sogenannte Elbefibeln und Bügelknopffibeln) (oben Abb. 9) und Perlen sowie anderen Sachgütern, auch anhand von Keramikformen und -verzierungen beschrieben. Es zeichnet sich (vgl. oben S. 99) eine Achse von Mecklenburg über Mitteldeutschland und auch von Böhmen in den Südwesten ab (dazu oben die Karte Abb. 5). Eine Beziehung ist ohne Zweifel über die Verbreitungskarten beschreibbar, die aber ein statisches Bild, keine Mobilität abbilden, sondern nur eine Gleichzeitigkeit von gleichartigen Sachgütern. Die Ringe aus Elfenbein der späten Römischen Kaiserzeit und der Völkerwanderungszeit sind in derselben Weise verbreitet wie die Elbefibeln und andere Sachgüter dieser Phase, und zwar von Mecklenburg östlich der Elbe über das Elbe-Saale-Gebiet bis nach Südwestdeutschland.3906 Dieselben Typen der Bügelknopffibeln finden sich auch östlich der Oder,3907 was eine Kommunikation entlang der südlichen Ostseeküste in der frühen Völkerwanderungszeit dokumentiert. Zur Herkunft der späteren Alamannen aus Mitteldeutschland gibt es den Keramikvergleich zwischen elbgermanischen und südwestdeutschen Gefäßen, der häufig abgebildet wird (Abb. 83),3908 zur freihandgeformten Keramik des späten 3. und 3902 Gut 2010; Spors-Gröger 2010a, 40 Abb. 23 Karte: Germanische Grabfunde um 300; Brather 2010, 156 Abb. 144 Karte dser Elbe-Fibeln; Steuer 1998a mit Karten. 3903 Schach-Dörges 2015, 479 Abb. 12 Karte der Fundstellen im Taubertal, 469 Abb. 7 Kartierung der Halsringe aus Mädchen- und Frauengräbern. 3904 Horst 2008; Steuer 1998a; Nuber 1998. 3905 Nuber 1997, 60 Abb. 35 (Münzen mit Siegen über die Alamannen), 61 Abb. 36 und 37 (Schatzfunde); 2005. 3906 Gall 2011, 94 Abb. 3 Karte. 3907 Cieśliński, Rau 2018. 3908 Spors-Gröger 2010a, 53 Abb. 38; Bücker 2001b, 201 ff. mit Abb. 1 und 2; Schach-Dörges 1997, 83 Abb. 65; Fingerlin 2005, 454 Abb. 607.
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Abb. 83: Keramikvergleich zwischen Gefäßen aus der Alamannia und aus den Gebieten der elbgermanischen Gruppen.
21.3 Mobilität von Germanen nach Südwesten (Neckarsweben und Alamannen)
1075
4. Jahrhunderts im östlichen Oberrheingebiet.3909 Die Tongefäßformen aus der völkerwanderungszeitlichen Alamannia sind in den zwei Spalten links abgebildet und die aus den Herkunftsgebieten in zwei rechten Spalten. Über die Verbindung mit Worten von „Elbgermanen“ mit „Alamannen“ wendet sich S. Brather und löst die „ethnische“ Interpretation ab durch neutrale Ansprachen, wobei zu unterscheiden ist zwischen „Elbgermanen“ als archäologisch-topographische Bezeichnung und „Alamannen“ als Bezeichnung von Völkerschaften in der antiken schriftlichen Überlieferung.3910 Die historische Entstehung der Alamannia und die Suche nach ihren Grenzen anhand der Schriftquellen hat D. Geuenich erläutert und die bestehenden Schwierigkeiten geschildert, weil diese in der Landschaft des Südwestens archäologisch kaum zu beschreiben sind. Früh geht es um Personenverbände ohne feste territoriale Bindung, und später werden diese Grenzen über andere politische und kirchliche Strukturbildungen zurückprojiziert.3911 Im Jahr 289 n. Chr. bezeichnet ein römischer Redner die vielleicht 120 000 Bewohner zwischen Rhein und Donau erstmals als alamanni, benennen die Franken nach ihren Siegen um 500 die Provinz später nach ihren Bewohnern Alamannia. Was der Name „Alamanni“ bedeutet, und wer ihn geprägt hat, wird unterschiedlich erklärt.3912 Es ist ein germanisches Wort, das die „eigentlichen, die richtigen Männer“ meint und in römischer, abwertender Sicht etwa eine „zusammengelaufende Räuberbande“. Darauf soll nicht näher eingegangen werden; nur so viel, falls die römische Seite den Namen propagiert hat, dann ist das eine Fremdbezeichnung in derselben Weise wie „Franken“, ein germanischer Begriff, der etwa die „Freien, Tüchtigen“ meint und ebenfalls eine Fremdbezeichnung sein wird, da wir ihn nur aus den römischen Schriftquellen kennen. Das trifft schließlich noch für die „Sachsen“ zu, die in den antiken Quellen als Fremdbezeichnung „Saxones“ genannt werden und zumeist Seeräuberbanden meinen und erst im 10. Jahrhundert zu einer Selbstbezeichnung wurde.3913 Ob es eine römische Restbevölkerung gegeben hat und wie man diese archäologisch erkennen kann, ist eine nicht befriedigend zu beantwortende Frage (vgl. oben S. 1070).3914 Allgemein nachzuweisen sind zudem Germanen in römischen Villen auch links des Rheins.3915 Die Diskussion um die nachrömischen Nutzungsformen römischer Gutshöfe und zum Verbleib romanischer Restbevölkerung haben Lars Blöck3916 und Michaela Konrad erörtert und dabei auf kontroverse Interpretationen hingewiesen,
3909 Jäger, Gross 2019, 114 f. Abb. 3 bis 6 zur freihandgeformten Keramik. 3910 Brather 2004a, 231–236. 3911 Geuenich 1998; 2017a, b; Steuer 2017c, 13 ff. 3912 Rübekeil 2004, 129 ff.; Haubrichs 2002; Bleckmann 2002. 3913 Springer 2003; Saxones 2019. 3914 Steidl 2006a. 3915 Konrad 2019, 271 ff. 3916 Blöck 2014, 272–285, 278 Karte 5.
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wer nun eigentlich in diesen Villen später gesessen hat,3917 beispielsweise eine „romanische“ Restbevölkerung oder Germanen. Gräber mit germanischen Trachtbestandteilen bei den villae rusticae, könnten jedoch auch spätrömische homines novi3918 sein, sowohl römischer als auch germanischer Herkunft. Einwandernde Germanen haben sich in römischen Ruinen der villae rusticae niedergelassen, was mehrfach beobachtet werden konnte und beschrieben worden ist.3919 Öfter ist ein spätantiker Umbau und sind bauliche Eingriffe in die Villenarchitektur erkannt worden.3920 Im römischen ruinösen Badegebäude in Wurmlingen, Baden-Württemberg, einer Villa der zweiten Hälfte des 3. bis Mitte 4. Jahrhundert, haben Ausgrabungen die Pfostenstandspuren eines germanischen Speicherbaus freigelegt.3921 Münzen aus der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts wurden im Bauwerk gefunden. In Sontheim an der Brenz ist später ein Langhaus in Pfostenbauweise über die römischen Ruinen errichtet worden.3922 Über den Grundmauern eines gallorömischen Umgangstempels in Wiesloch standen nacheinander zwei Langhäuser in Pfostenbauweise,3923 wobei die Ausrichtung des ersten Grundrisses von 17 m Länge noch exakt parallel zu den Mauern des Tempels verlief. Die schwierige Datierung sieht das Haus zwischen dem 3. und 5. Jahrhundert entstanden. Im Bereich des spätrömischen Kastells von Heidenheim sind mehrere frühalamannische Hofstellen mit langen Pfostenhäusern und Zaunspuren ausgegraben worden.3924 An neuen Siedlungen germanischer Alamannen sind mehrere Befunde zu nennen,3925 beispielsweise Vörstetten bei Mengen am Kaiserstuhl,3926 Sontheim im Stubental,3927 Steinheim am Albuch (Kr. Heidenheim), Heidenheim, Heidenheim-Großkuchen, Heidenheim-Schnaitheim, Ehingen (Ldkr. Konstanz), Endersbach (Rems-Murr-Kreis), Wülflingen bei Forchheim sowie Renningen3928 oder auch bei Aalen nahe beim Kastell,3929 sowie auf der Schwäbischen Alb bei Nellingen, 3917 Konrad 2019, 260 ff. 3918 Konrad 2019, 262 Anm. 60; v. Rummel 2007. 3919 Balle, Seitz, Tränkle 2014; Böhme 2012/2013, 81 mit Anm. 20 Germanische Siedlungen bei römischen Villen; zum Problem von Kirchen über römischen Ruinen und der Frage nach möglicher Kontinuität vgl. Eismann 2011; 2014. 3920 Konrad 2019, 260 ff. 3921 Fingerlin 2007; Reuter 2003; 2005a, 115 Abb.; 2005b, 464 Abb. 616; Konrad 2019, 269. 3922 Nuber 1988, 12 Abb. 3. 3923 Jäger 2019, 338 ff., 342 f. mit Abb. 187 und 188. 3924 Spors-Gröger 2010a, 52 Abb. 37 Plan des Kastells mit der Siedlung innerhalb. 3925 Allgemein zur alamannischen Besiedlungsgeschichte im Breisgau mit sämtlichen Gemarkungen, in denen spätere Gräberfelder nachgewiesen sind: Hoeper 2001, außerdem Bücker 1999. 3926 Bücker 2001a, 7 Abb. 3 (Der Grundriß des dreischiffigen Hallenhauses ist weitgehend nur rekonstruiert); 2001a; Fingerlin 2005a, 455 Abb. 608. 3927 Spors-Gröger 2010b, c. 3928 Schreg 2006, 166 ff. mit Listen zu den ein- und dreischiffigen Langhäuser sowie 173 Abb 64 Karte, Renningen und auch Gaukönigshofen,183 Abb. 70, Siedlungsspuren auch von 300 bis 500 bei Renningen und in zahlreichen anderen Siedlungsorten im Katalogteil. 3929 Krause 1997 (1998).
21.3 Mobilität von Germanen nach Südwesten (Neckarsweben und Alamannen)
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deren Langhäuser mit Bauten auf der Feddersen Wierde verglichen werden.3930 Dazu kommen die schon beschriebenen Siedlungen bei Gaukönigshofen und Gerolzhofen, beide Kr. Würzburg. Nicht zuletzt nenne ich in diesem Zusammenhang außerdem die Höhensiedlungen des 4./5. Jahrhunderts. Das Pfostenhaus auf den Runden Berg bei Urach ist mehrphasig, aber in der traditionellen „germanischen“ Bauweise errichtet. Die kurzfristig belegten Gräberfelder des 5. Jahrhunderts orientieren sich in ihrer Lage im Decumatland noch am römischen Straßennetz.3931 Immerhin lässt sich eine Hierarchie im frühalamannischen Besiedlungsbild anhand der frühen Gräberfelder, der Siedlungsspuren und der Höhensiedlungen entwerfen.3932 Dorfgrundrisse wie in Vörstetten bei Freiburg mit einem dreischiffigen Hallenhaus und Nebengebäuden, jeweils Pfostenbauten, und die Höhensiedlungen des 4./5. Jahrhunderts mit dem Runden Berg bei Urach und dem Zähringer Burgberg bei Freiburg sind einige der Hinweise auf die Siedlungsverhältnisse in der Alamannia auf dem Boden der ehemaligen römischen agri decumates bis zum Rhein.3933 Landschaftlich zusammengefasst werden Räume und Grenzen im Vorfeld des spätrömischen Limes am Rhein im Zuge der Landbesetzung durch Germanen.3934 Noch einmal hat L. Blöck 2019 die bekannten Siedlungen rechts des Rheins am Oberrhein kartiert und beschrieben. Ein Histogramm zu den spätrömischen Fundmünzen in Kehl-Auenheim nahe am Rhein zeigt eine große Zahl für die Jahre 348 bis 354, ein weiteres für Neuried-Altenheim mit Häufung von 330 bis 354.3935 Aus den genannten Siedlungen sind zudem mehrere spätantike Fibeln und Gürtelbeschläge aus Buntmetall bekannt. Zu einigen dieser Siedlungen des 4. und 5. Jahrhunderts liegt im selben Katalogband auch ein Beitrag von V. Schoenenberg vor, in dem die Ausgrabungen der Plätze in Schallstadt-Mengen, Gewann ‚Löchleacker‘ und Vörstetten, Gewann ‚Grub‘ mit Plänen erläutert werden mit den Grabbeigaben und der Keramik, die ihre östliche Verwandtschaft nach Mitteldeutschland erkennen lassen.3936 Der Lobdengau,3937 Ladenburg und sein Umland ab dem späteren 3. Jahrhundert, ist ein frühes Siedlungsgebiet von Alamannen,3938 nahe der Rheingrenze und den linksrheinischen (frühen römischen) Höhenbefestigungen seit dem 3. Jahrhundert sowie auch den rechtsrheinischen (germanischen) Höhensiedlungen des 4./5. Jahr-
3930 Thoma 2012 (2013) 221 Abb. 159 Pfostenbauten über 20 m Länge des 4./5. Jahrnunderts. 3931 Theune 2004, 230 Abb. 106. 3932 Steuer 1994c. 3933 Fingerlin 2005, 455 Abb. 698 Siedlung Vörstetten; 460 ff. mit Abb. 612 und 613 Höhensiedlungen des 4./5. Jahrhunderts. 3934 Steuer 2012c. 3935 Blöck 2019b, 230 Abb. 2 Plätze des 4. Jahrhunderts, 231 Abb. 3 und 232 Abb. 5 Histogramme der Münzen. 3936 Schoenenberg 2019, 240 f. Abb. 2 und 3 Mengen, 244 Abb. 5 Vörstetten. 3937 Damminger, Gross, Prien, Wietschel 2017. 3938 Witschel 2017, III 1, III2, III4, 85 Abb. 42.
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hunderts. Mit Ilvesheim im 4. Jahrhundert wird ein römischer Platz mit der Neubesiedlung im 1.-3. und dann wieder im 4.-5. Jahrhundert geschildert.3939 Dieselbe Diskussion bzw. Suche nach dem Fortleben romanischer Bevölkerung wird auch für das frühmittelalterliche Bayern, also auf einst römischem Provinzboden, und unmittelbar nördlich des Limes erörtert,3940 so auch für eine Siedlung bei Eichstätt „Stadtfeld“ mit mehr oder weniger unregelmäßig erkannten Pfostenbauten.3941 Als relativ weit vorgeschobener römischer Posten in der Alamannia hatte der Burgus in Lopodunum den Zweck, nämlich als im Barbarengebiet etablierter römischer Vorposten im 4. Jahrhundert die Lebensmittelabgaben der germanischen Bevölkerung an die Römer zu organisieren, und zugleich diente er als Einschüchterung und Kontrolle der Germanen.3942 Ein Histogramm zu den Fundmünzen aus Ladenburg für die Zeit von der Mitte des 3. bis zum frühen 5. Jahrhundert belegt den Höhepunkt dieser Kontakte für die Jahre 321 bis 360. Die Visualisierung des spätantiken Burgus zeigt die Ruinen des Forums im Hintergrund. Der erste größere Germaneneinfall 233 in das Gebiet nördlich des Mains ging wohl von einzelnen auf Beute ausgehenden Gruppen aus, denen es noch nicht um Landgewinn ging. Nach den 260er Jahre verließen anscheinend Teile der Bevölkerung die Landschaften. Die allgemeine These akzeptiert, dass nicht Alamannen eingewandert sind, sondern dass es ein langsamer und andauernder Zuwanderungsprozess war, der neue Leute ins Gebiet von Ladenburg brachte. Einwandernde Germanen sind kontinuierlich von der Mitte des 3. bis zur Mitte 5. Jahrhundert archäologisch belegt. Unter Kaiser Valentinian I. (364–375) wurde in Ladenburg noch der burgus errichtet, der bis 400 n. Chr. besetzt war, ehe hier dann der Residenzort eines alamannischen Lokalfürsten entstand. Die römische Herrschaft endete aber nicht schon 406 /407, wie oft angenommen, sondern sie blieb bis Mitte des 5. Jahrhunderts. Danach wurden im Bereich Ladenburg für 100 Jahre keine Siedlungsaktivitäten archäologisch erfasst. Keine „Völkerwanderung“, sondern Wanderungsbewegungen einzelner Kriegergruppen brachten die neuen Siedler (und vor allem Krieger) in den Südwesten. In den neuen Grabgruppen seien kulturelle Einflüsse sogar aus dem Donauraum erkennbar, ehe im 6. Jahrhundert die „fränkische Herrschaft“ anzunehmen ist. Ähnlich wie in Lopodunum oder im württembergischen Wurmlingen oder in Sasbach am Kaiserstuhl haben sich Germanen auf ehemals römischem Boden ebenfalls im Norden im spätantiken Kastell Gelduba am Niederrhein eingenistet.3943 Ein zweischiffiges Pfostenhaus ist über einplaniertem Schutt in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhundert errichtet worden. Weitere Pfostenhäuser, ebenfalls zweischiffig, sind vor der Westecke des Kastells in einer ersten Bauperiode bis Mitte 5. Jahrhundert und dann in einer zweiten Bauperiode in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhundert gebaut 3939 Witschel 2017, 113 Abb. 58. 3940 Rettner 2002. 3941 Jandejsek 2004 (2005) 111 Abb. 17 Siedlungsplan. 3942 Prien, Witschel 2018, 71 Abb. 3 Histogramm, 72 Abb. 4 Visualisierung des Burgus. 3943 Reichmann 1999a, 131 Abb. 1 und 133 Abb. 2 und 134 Abb. 3.
21.4 Mobilität im Donauraum
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worden, und es gibt noch Spuren weiterer Häuser. Unter den Funden gibt es Fibeln, Terra Nigra-Gefäße und mit der Hand nachgeformte Drehscheibenware des 5. Jahrhunderts, die außerdem im weiteren Umland des Kastells zusätzlich dokumentiert werden konnte. Für die spätantiken Provinzen Galliens, Germaniens und Raetiens werden sowohl Kontinuitäten als auch Wiederaufnahmen der Bewirtschaftung römischer Gutshöfe gesehen. Damit verbunden ist ein Wandel des ökonomischen und architektonischen Modells der villa rustica; vor allem ist eine Erweiterung der ökonomischen Aktivitäten erkennbar, verschiedenartige Gewerbe kommen hinzu. Entscheidend ist hierbei der Übergang vom einzelnen Gehöft zur dörflichen Ansiedlung. Germanen bzw. Fremdgruppen in den linksrheinischen Provinzen besetzten auch römische Gutshöfe, und überlegt wird, ob diese „Germanen als Betreiber der Villen in römischen Diensten bis zur Aufnahme in einen römischen Sozialverband“ gewertet werden könnten.3944 Im Dekumatland scheinen die römischen Villen und ihr Landgebiet fundus eine zentrale Rolle bei der Ortswahl gespielt zu haben und beim Übergang von der Villa zum Dorf, als eine neue Bevölkerung, die sich hier als Alamannen bezeichnet hat und benannt wurde, am Ort sesshaft wurde.3945
21.4 Mobilität im Donauraum Wenn es um Germanien als Gesamtheit geht, bleibt der Blick nicht auf die Rheinzone begrenzt. Denn es sieht im Süden an der Donau nicht anders aus. Im Vorfeld des römischen Donaulimes, z. B. in 14 km Entfernung oder bei der Kreuzung der Limesstraße und des Bernstein-Weges, hat es zeitweilig intensive Kontakte zwischen germanischer und römischer Bevölkerung gegeben, und zwar seit der Spätlatènezeit, während der römischen Offensive unter Tiberius gegen das Marbodreich im Jahr 6 n. Chr. und wieder nach den Markomannenkriegen (166–180 n. Chr.). „Germanische“ Gruppen hatten die „keltische“ Bevölkerung verdrängt, integriert, assimiliert und wurden teilweise romanisiert. Wie im Westen östlich des Rheins und im Lippetal ist das Vordringen „römischer“ Kulturerscheinungen zu fassen, hier im Süden von den römischen Provinzen Noricum und Pannonien aus. Im Westen, im hessischen Gebiet, das weniger zu Germanien, sondern lange Zeit zum „keltischen“ Siedlungsgebiet gehörte, waren die Verhältnisse ähnlich. Die Zentralsiedlungen wie der Dünsberg, die Altenburg bei Niedenstein waren wie Oppida strukturiert, ebenso die Salzsiedlersiedlung Bad Nauheim; sie hatten eine eigene Münzprägung (vgl. oben S. 1070).3946 Zwischen altem und neuem bzw. inneren und
3944 Konrad 2019, 292 f. 3945 Schreg 2006; 2014. 3946 Rasbach 2016.
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äußeren Wall der Altenburg ist eine ausführliche Besiedlung der Spätlatènezeit (Phase D1) nachgewiesen, u. a. mit einer Nauheimer Fibel, dem nördlichsten Beleg dieser Fibelform.3947 Jenseits, aber nahe zum Limes ist eine germanische Siedlung bei Pielenhofen im Naabtal, Ldkr. Regensburg, jüngst untersucht worden. Der ausgegrabene Teil gehört ans Ende des 3. bis zu Beginn des 5. Jahrhunderts. Innerhalb einer Umzäunung stand ein 14,5 m langes einschiffiges Haus, und in der Nähe gab es weitere kleinere Gebäude. Die Masse der Funde besteht aus germanischer Keramik, aber auch römische Drehscheibenware kommt vor. Der Ausgräber spricht von einer grenznahen Foederatensiedlung, von denen knapp nördlich des Donau-Limes mehrere entdeckt worden sind, so in Ottmaring, Eichstätt „Stadtfeld“ und Ochsenfeld.3948 Im mittleren Donauraum erfolgte der Wandel durch beidseitige Migration und führte auch zur Romanisierung nördlich des Stromes.3949 Germanen siedelten schließlich beiderseits des spätantiken Limes.3950 Nördlich des Donaulimes siedelte eine keltische Vorbevölkerung, ehe in Böhmen und Mähren germanische Gruppen seit der Marbod-Zeit sesshaft wurden. Ähnlich sah es in Mähren bzw. in der Slowakei aus.3951 Bemerkenswert im Vergleich zur Situation am Nordrand der deutschen Mittelgebirge (S. 317 ff.) sind die zahlreichen archäologischen Belege zum Schmiedehandwerk und zu den Depotfunden mit Eisengerätschaften nördlich der Donau. Die Kartierung der Depotfunde spiegelt die Regelmäßigkeit dieses Brauches mit sicherlich kultischem Hintergrund seit der Mittellatènezeit bis in die frühe Römische Kaiserzeit. Manche Hortfunde enthielten dazu keltische und republikanische römische Münzen der Spätlatènezeit. In der frühen Przeworsk-Kultur vor Chr. wurden gewissermaßen wie im keltischem Milieu Horte mit Eisen vergraben.3952 Die Transformation der Puchóv-Kultur erfolgte während der frühen Römischen Kaiserzeit; die „keltische“ Kultur wandelte sich in der Slowakei unter dem Einfluss der Quaden, so heißt es, in eine „germanische“.3953 Der Beginn der germanischen Besiedlung verläuft parallel zum Untergang der Oppida, der keltischen Zentralsiedlungen.3954 Die älteste germanische Besiedlung im südlichen und südöstlichen Mähren wird anhand neuer Lesefunde von 2017 intensiver erkennbar.3955 Zu den Objekten gehören spätlatènezeitliche durchbrochene Gürtelhaken, dann vor allem Fibeln der Phasen 3947 Georg, Söder, Thiedmann, Weihrauch 2018 (2019) 78 Abb. 2. 3948 Hempelmann 2016 (2017), 101 mit Lit. zu den anderen genannten Siedlungen. 3949 Geisler (Hrsg.) 2016. 3950 Th. Fischer, Precht, Tejral 1999; Rajtár 2008. 3951 Pieta 2010, 212 Liste der Horte Nr. 1 bis 14, 213 Abb. 96 Karte der Horte im Burgwall Planecké Podhradie, Pohanská, 221 Abb. 100 Münzen und 223 Abb. 101 Horte bis in die frühe Römische Kaiserzeit mit 31 Fundorten. 3952 Bochnak 2014; Bochnak, Kotowicz, Opielowa 2016. 3953 Švihurová 2016. 3954 Motyková 2005. 3955 Zeman 2017, 280 Abb. 1 ca. 40 Fundorte.
21.4 Mobilität im Donauraum
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B1b und B1c (also ab dem mittleren 1. Jahrhundert n. Chr.), norisch-pannonische Flügelfibeln und Augenfibeln. In Petrov gibt es Fibeln aus dem Areal eines germanischen Gräberfeldes. Die germanische Besiedlung ist ab den Phasen A/B1a, ab den ersten Jahrzehnten des 1. Jahrhunderts n. Chr. fassbar, und sie wird mit den schriftlich überlieferten Ereignissen verbunden, mit dem Marbod- oder Katvalda-Gefolge und dem Marbodreich (B1a). Doch gibt es auch römische Fibeln in Böhmen, und die norischpannonischen Trachtbestandteile reichen die Elbe abwärts bis Mitteldeutschland.3956 Elbgermanische Körpergräber finden sich in Böhmen und in Mähren.3957 Dazu zählen eine älterkaiserzeitliche Bestattung mit reichhaltigem Inventar an Bronzegefäßen aus Reisenberg in Niederösterreich3958 und weitere ebenfalls reichhaltige Fundkomplexe mit Gold, die den Quaden zugeordnet werden.3959 Es sei noch einmal festgehalten, dass vom Blick der Ereignisgeschichte her in Mähren und der Westslowakei an der March Markomannen verortet werden und an der Waag in der heutigen Slowakei die Quaden. Die Durchdringung germanischer und römischer Besiedlung nördlich der Donau spiegelt sich in den römischen Sachgütern, in den leicht erkennbaren Terra SigillataFragmenten sowie in den Beigaben römischer Bronze- und Glasgefäße in den Fürstengräbern, womit römische Trinksitten nachgeahmt wurden. Römische Fibeln aus Gräbern und Siedlungen des 1. bis 3. Jahrhunderts in Böhmen sind typologisch und chronologisch aufgearbeitet.3960 Häuser wurden hier – anders als im Norden – in römisch-germanischer bzw. germanisch-römischer Mischtechnik errichtet, d. h. einerseits gab es Pfostenbauten, andererseits Steinfundamente und römische Ziegel als Dachbedeckung und Fußbodenpflasterung, nachweisbar für das 1. bis 5. Jahrhundert.3961 Es gibt Kartierungen der Siedlungen für das untere und mittlere Marchgebiet nördlich der Donau während der Römischen Kaiserzeit, und detaillierter für das untere Marchgebiet gegenüber Carnuntum mit germanischen und römischen Bauten sowie für das Waagtal (nach J. Rajtár) (Abb. 84). Am Fundplatz Stupava-Mást in der Westslowakei sind die Terra Sigillata-Scherben von 130/140 bis 240/250 kartiert mit einer Spitzenverteilung von 170/180 bis 210/220.3962 J. Tejral hat in mehreren Arbeiten intensiv eine Übersicht über die militärischen Eliten beiderseits der norisch-pannonischen Grenze während der Spätantike im Spiegel der Grabfunde veröffentlicht.3963 Es sind Germanen beiderseits des Limes.
3956 Bemmann 1999b. 3957 Droberjar 2014; Elschek 2009; 2013; 2014; 2015; Kolnik 1991; Kunow 1998; Sedelmayer 2001; Stuppner 2009; Tejral 2009a. 3958 Sedelmayer 2001. 3959 Rajtár 2013, 129 Abb. 1: Siedlungsgebiete der „Markomannen und Quaden“. 3960 Droberjar 2016, 505 Abb. der Fibelverbreitung. 3961 Elschek, Groh, Kolniková 2015, 64 Abb. 1, 65 Abb. 2 und 90 Abb. 20. 3962 Rajtar 2008, Karten; Bielichová 2019, 67, Fig. 4 Karte. 3963 Tejral 1999b.
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Abb. 84: Die germanischen Siedlungen an den römischen Vormarschwegen von March und Waag nördlich der Donau. Dreiecke (a) Germanische Siedlungen, Sterne (b) Römische Orte, Strichlinie (c) Römische Grenze.
In Zohor, Westslowakei, (es ist die Gegend der Fürstengrabes von Zohor)3964 (vgl. S. 923) wird die Ankunft der ersten Germanen und Römer an der mittleren Donau erfasst. Grabungen wurden seit 1995 durchgeführt und dabei 100 Befunde des 1. bis 5. Jahrhundert dokumentiert. Gräberfeld und Siedlung nehmen 20–25 ha ein. Ein Grubenhaus war in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts errichtet worden (B1a / 10–25 n. Chr.) und wurde um die Mitte des Jahrhunderts zerstört (B1b / 25–50 n. Chr.). Im Haus lagen eine Aucissa-Fibel und ein augusteischer As mit Kontermarke des Varus.3965 Eine Übersicht zur Besiedlung des westslowakischen Marchgebietes, also in Grenzgebiet zu Mähren, um die Zeitenwende mit den spätlatène- und frühkaiser-
3964 Elschek 2013. 3965 Elschek 2014.
21.4 Mobilität im Donauraum
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zeitlichen Fundstellen zeigt die dichte Lage der Ansiedlungen.3966 K. Elschek hat die Situation und ihre Veränderungen für das 3.und auch 4. Jahrhundert anhand der Verteilung von zunehmend germanischer gegenüber der römischen Keramik beschrieben: Die Bauten im römischen Stil waren wohl ebenfalls für die germanische Elite errichtet.3967 Zohor, Bez. Malacky, Westslowakei, ist eine polykulturelle Siedlung, ein germanischer „Fürstensitz“ mit einem hohen Anteil provinzialrömischer Keramik. Ein reger Austausch im 1. bis 4. Jahrhundert, an der Bernsteinstraße an der March entlang ist belegt. Mehrere römische Bauten spiegeln eine sekundäre Romanisierung in der Zone zwischen Germanien und der römischen Provinz.3968 Der germanische Zentralort und ein Brandgräberfeld wurden für die vier Jahrhunderte weitläufig ausgegraben, Gebäude, Rennöfen zur Eisengewinnung und Handwerkstätten. Registriert sind rund 160 römische Münzen, etwa 300 germanische und römische Fibeln und 170 Terra Sigillata-Scherben. Damit wurden Erscheinungen und Verhaltensweisen vorweggenommen, wie sie später im römisch-germanischen Baukomplex auf dem Oberleiserberg im späten 4. und in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts entstanden (vgl. S. 1100).3969 Jenseits der Reichsgrenze finden sich in Cífer-Pác, Slowakei, ebenso Bauten in römischem Stil wie auf dem Oberleiserberg.3970 Der römische Einfluss auf die germanische Bevölkerung nach Verdrängung der „Kelten“ folgte demselben Vorgang wie schon zuvor während der keltischen Epoche.3971 Im keltischen Bratislava erscheint römische Bauweise innerhalb des „keltischen“ Oppidums, auch römische Amphorenfragmente und Glasscherben sowie keltische Münzen wurden hier geborgen. Gebaut wurde vor der Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. von römischen Experten, die anscheinend administrative und Handelsfunktionen hatten. Es gab zudem den römischen Zugriff auf die keltische Münzprägung; die politische Macht der keltischen Bevölkerung war geschwächt und wurde vom römischen Noricum übernommen. Das Ende des Platzes kam mit den Feldzügen des Tiberius 6 n. Chr. und der nachfolgenden römisch-germanischen Interaktionen. Die Anfänge germanischen Besiedlung zur römischen Kaiserzeit in der Slowakei hängen – es wird versucht, das ereignisgeschichtlich zu gesehen – mit dem Zuzug von Markomannen und Quaden zusammen,3972 wodurch die kulturellen Elemente der Daker abgelöst würden. Römische Bronzegefäße stellen eine umfangreiche Import-
3966 Elschek 2016a. 3967 Elschek 2015. 3968 Elschek 2016b, 260–269, 266 wird im Nachtrag ein weiteres Fürstengrab der Lübsow.Gruppe genannt; 2013. 3969 Stuppner 2004; 2008a mit Rekonstruktionszeichnungen Abb. 4. 3970 Heinrich-Tamáska 2017, 102. 3971 Musilová, Kolníková, Hložek 2015. 3972 Krekovič 2009, 177 Abb. 1 (dakerzeitliche Besiedlung), 181 Abb. 5 (Markomannen und Quaden), 182 Abb. 6 weitere Festsetzung dieser Gruppen; 2019 zu den römischen Bronzegefäßen.
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welle dar, die in den Gräbern eine Oberschicht kennzeichnen und auch in Frauensowie Kindergräbern beigegeben worden sind und vielleicht untereinander Verwandtschaften spiegeln. Markomannen verortet man in Böhmen, Quaden in Mähren. Die Kelto-Daker und einwandernde Sarmaten in der Slowakei gehören noch in die Phase B1a (um 20 n. Chr.). Nachfolgend drängen die Markomannen von Böhmen auch nach Mähren vor, die Quaden siedelten in der Slowakei, in der Phase B1b u. a. unter dem König Vannius (20–50 n. Chr.). Es ist ein Problem, wenn so versucht wird, als historische Erklärung den Fall des Königs Marbod 15 oder 19 n. Chr. als Ursache für diese Verschiebung archäologisch-kultureller Erscheinungen anzubieten. Es sind Gräberfelder mit Bronzegefäßen und frühe Augenfibeln sowie norisch-pannonische Gürtelgarnituren, die ab der Phase B1a bzw. erst ab Phase B1b, in der Slowakei erscheinen; der Anfang der Stufe B1 wird hier auf 20/21 n. Chr. festgelegt. Vor vielen Jahren, schon 1984 hat L. Lichardus die Körpergräber der frühen Kaiserzeit mit dem Gebiet der südlichen Elbgermanen verbunden.3973 Die germanische Besiedlung reicht in der Slowakei bis unmittelbar bis an die Donau heran.3974 Der Südrand lag im 2.-3. Jahrhundert auf dem Gebiet nördlich der mittleren Donau und die March aufwärts sowie nördlich von Carnuntum und weiter östlich auch an der Waag (nach Rajtár 2008, leicht modifiziert) – bis auf die sogenannte Schüttinsel – unmittelbar an der Donau. Die germanische Besiedlung ist an der Verteilung der Fibeln vom Typ Almgren 45 in der Südwestslowakei auf einigen Gräberfeldern ablesbar (in Abrahám, Devínska Nová Ves, Dunajská Streda und auch Zohor). Die Schüttinsel liegt unmittelbar in Limesnähe, und auf ihr ließen sich ab der ersten Hälfte des 1. Jahrhundert Germanen nieder (nach den Schriftquellen also Quaden). In der Siedlung Velký Meder erinnert die Landwirtschaft, das zeigen die angebauten Pflanzenarten, eher an die nördlichen Regionen in Germanien als an die in den römischen Gutshöfen im Süden. Diese germanische Besiedlung reichte also bis dicht ins Vorfeld des Limes an der March/Morava. In dieser Landschaft liegt das Fürstengrab von Stráže; und von Süden aus erfolgte der römische Vormarsch – in derselben Weise wie von Westen und Süden an den Main mit dem Lager bei Marktbreit – das Marchtal aufwärts bis in die Gegend von Mušov-Neurissen mit dem Königsgrab von Mušov und den Bauwerken mit speziell römischen Grundrissen (dazu S. 1098).3975 Es gibt eine größere Zahl von Siedlungen nördlich des Limes, in denen sich römischer Einfluss im Fundstoff deutlich niedergeschlagen hat. Kristian Elschek veröffentlichte Keramik von „römisch-germanischen“ Niederlassungen in Bratislava-Dúbravka und Stupava-Mást in der Westslowakei.3976 Die Kartierungen der germanischen Besiedlung nördlich der Donau und vor allem im Marchtal zeigen mehrere germani-
3973 Lichardus 1984. 3974 Varsik, Proháska 2009, 188 Abb. 1 Karte; Rajtár 2008. 3975 Quast 2009a, 52 Abb. 74. 3976 Elschek 2015.
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sche Siedlungen mit römischen Bauten.3977 Nach einer germanischen Siedlungsphase in Bratislava-Dúbravka im 1. Jahrhundert n. Chr. folgt ein germanischer Fürstensitz im 3. Jahrhundert (oben Abb. 79.3). Dazu gehört ein „römisches“ Badegebäude mit Apsiden bei einem Hallenpfostenbau und mehreren Grubenhäusern. Im 4. Jahrhundert folgten römisch-germanische Bauobjekte und eine germanische Siedlung mit zahlreicher Keramik, Fibeln und Knochenkämmen sowie römischen Münzen von der Republikzeit bis Constans (337–350 n. Chr). Ähnlich sieht es in Bratislava-Devínska Nová Ves mit römischen Münzen von Vespasian (Prägung 77–78) bis Arcadius (Prägung 383–392) und weiteren Plätzen aus: Bedeutend sind in diesem Zusammenhang auch außer den Siedlungen in Stupava und Bratislava-Dúbravka sowie Devínska Nová Ves auch die geschilderten Plätze von Zohor sowie Izá mit ihren römischen Bauten (vgl. S. 1012 f.). Umgekehrt findet sich auch Keramik germanischer Provenienz in römischen Siedlungen, die wie Waldgirmes im Lahntal vor dem Limes entstanden. Vladimír Turčan publizierte germanische Keramik aus dieser antiken „Residenz“ in Stupava, ausgegraben von 1985 bis 2004;3978 die Grabungen 1987 bis 2004 haben außerdem germanische Keramik aus den Siedlungen der Umgebung gebracht. Während der Zeit des Ausbaus der römischen Architektur kam es aber in der germanischen Töpferware zu keinerlei Änderungen. Weitere Befunde lassen sich anreihen. Vladimír Varsik und Titus Kolník publizierten die Keramik aus dem Hauptgebäude in Cífer-Pác, aus einer Siedlung der lokalen „quadischen“ Nobilität des 4. Jahrhunderts.3979 Diese Residenz in Cífer-Pác war eine Siedlung zwischen römischen Militärbasen mit Steinfundamenten, Heizung, weiteren Gebäuden und einer Keramikwerkstatt. Sie muss in Zusammenarbeit mit Römern ausgebaut worden sein, denn es gibt römische Ziegelstempel.3980 Grubenhäuser des 3. Jahrhunderts gab es zwischen den römischen Bauten. Sogar zwei Phasen einer Fußbodenheizung wurden im Bau I der „quadischen“ Elite des 4. Jahrhunderts nachgewiesen. Ján Rajtár hat die germanischen Sachgüter aus dem römischen Holz-Erde-Lager von Iža, einem Brückenkopf des Legionslagers Brigetio als Teil der Nordfront-Befestigungen der pannonischen Provinz erforscht und beschrieben (vgl. oben S. 1013).3981 Germanische Keramik wurde ebenfalls im römischen Lager von Olomouc-Neředin gefunden, und zwar im Graben.3982 Im Zerstörungshorizont fand sich neben provinzialrömischen Funden auch zahlreiches germanisches Material, wie Fibeln, Knochenkämme, Schildgriffe, Sporen und handgemachte Keramik, überall verstreut in allen Baracken und in
3977 Elschek 2017, 16 Abb. 1.1 und 2 Karte zum Mitteldonaugebiet mit 44 Fundstellen, 17 Abb. 2 Karte des südlichen Marchgebietes. 3978 Turčan 2015b. 3979 Varsik, Kolnik 2015. 3980 Varsik, Kolník 2013, 74 Abb. 2 und 76 Abb. 4; 2015. 3981 Rájtár 2015, 380 Abb. 1 Kartierung der germanischen Gegenstände. 3982 Kalábek 2015.
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deren Umgebung. Gefragt wird, ob damit eine direkte Anwesenheit von Germanen im Lager bewiesen sei oder nur der Austausch von Sachen bei Besuchen. Der Befund von Iža ist durchaus mit dem älteren Waldgirmes im Lahntal zu vergleichen (vgl. S. 1090). Die Ausgrabungen werden klar dargelegt, doch wird weiter gefragt, ob der Fundstoff als Hinweis auf germanische Gefangene, als Reste von Kämpfen, anzusehen sei oder auf zwangsumgesiedelte bzw. rekrutierten Germanengruppen. Die Vernichtung des Lagers, das 175 n. Chr. erbaut ist, schon im Jahr 179 n. Chr. während des Markomannenkriegs, bietet für die Archäologie den befriedigenden Umstand, dass das Lager nur 4 Jahre bestanden hat, was die Datierung des gesamten Fundstoffs scharf eingrenzt. Zu den Funden zählen Fibeln aus Kupferlegierung und einer Spirale aus Eisen, was zu den Werkstätten im westlichen Gebiet der Przeworsk-Kultur (B2/C1, 150–200 n. Chr.) weist. Dieses sekundäre Verbreitungsgebiet von Funden aus dem Norden wächst an Belegen bei der weiteren Forschung ständig. Auch der Vergleich mit der Militärbasis von Mušov ist erlaubt (vgl. S. 1098). Accessoires wie Fibeln von der Frauentracht belegen die Anwesenheit von Frauen im Lager. Auch Jaroslav Tejral vermutet Germanengruppen aus entfernten Gebieten, nämlich aus dem Norden und dem Gebiet der Przeworsk-Kultur in Polen in dieser Landschaft im Süden. R. Knáppek und O. Šedo behandeln die germanische Keramik im stratigraphischen Kontext der römischen Steinbauwerken in Mušov-Neurissen:3983 Im Burgstall in Mušov (vgl. unten S. 1099) mit den römischen Aktivitäten während der Markomannenkriege und gemauerten Bauten gibt es Spuren der Anwesenheit von germanischer Bevölkerung nach dem Abzug der Römer 180 n. Chr. Nach dem Frieden des Commodus (Kaiser von 180–192 n. Chr.) mit den Markomannen und Quaden nach dem Tod Marc Aurels war ein besonderer Siedlungshorizont zu beobachten, der wie auch an anderer Stelle Komplexe germanischer Siedlungskeramik (B2/C1, 150–200 n. Chr.) enthalten hat. Nahebei gab es eine (unabhängige) germanische Siedlung mit sonderbaren Befundsituationen, nämlich Belege für andernorts nicht übliche rituelle Aktivitäten. Teile von Tieren wurden in der Verfüllung von römischen Gräben, auch im Graben von Mušov-Neurissen IV, gefunden, ebenso Leichen von getöteten Menschen. Die Forschung verdankt Jaroslav Tejral fortlaufend zahlreiche Beiträge der Archäologie zur Siedlungsentwicklung während der Kaiserzeit und der frühen Völkerwanderungszeit im Süden, in Böhmen, Mähren und der Slowakei seit Beginn der germanischen Ansiedlungen für die Römische Kaiserzeit und die frühe Völkerwanderungszeit.3984 Es geht um Einheimische und Fremde im norddanubischen Gebiet bis zur Zeit der Völkerwanderung3985 einschließlich der Phasengliederungen von 370
3983 Knápek, Šedo 2015. 3984 Tejral 1992; 1997; 1998; 1999c, d. 3985 Tejral 2011, 22 Abb. 1.
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bis 500, vor allem ablesbar an den Kerbschnittgarnituren, den römisch und germanischen Beschlägen aus Buntmetall an den Krieger- und Männergürteln. Es gab militärische Eliten beiderseits des spätrömischen Limes, der norischpannonischen Grenze.3986 Das zeigt sich an den Grabbeigaben von Gürtelgarnituren mit Propellerbeschlägen und weiteren anderen solcher Beschläge auf römischer Seite und den Ausstattungen bei den Germanen. Auf der anderen Seite siedelten Verbündete von Valentinian I. (364–375) und bestatteten in Grabkammern. Ostmitteleuropäische Waffengräber der Übergangszeit von der jüngeren Römischen Kaiserzeit und Völkerwanderungszeit sind durch typische Schildbuckel gekennzeichnet. Die kartierten Waffengräber und Waffentypen im östlichen Mitteleuropa außerhalb des Limes, auch in der ungarischen Tiefebene, zeigen deren weite Verbreitung. Dem entspricht auch die Verbreitung der Gürtelgarnituren der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts. Es gibt keine Funde außerhalb des Limes im Südosten. Kleingräberfelder mit Waffenbeigaben des mittleren Drittels und der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts gibt es in Mähren an der Theiss und in der ungarischen Tiefebene. Die Situation ist durchaus zu vergleichen mit der neuen Grabsitte, die sich zu dieser Zeit in Nordostgallien entwickelt (vgl. S. 1164), oder auch im alamannischen Grenzgebiet mit Gräbern wie Eschborn-Hemmingen. Die Kontakte aus den römischen Provinzen über die Donau nach Norden in das Gebiet der germanischen Bevölkerung sind über den gesamten Zeitraum zu verfolgen und belegen die anscheinend dauerhafte enge Nachbarschaft einerseits und andererseits aber auch die ständigen Versuche der römischen Seite, den Einfluss auf die Bevölkerung in diesen Gebieten Germaniens immer weiter zu erhöhen. Römische Importe bei den böhmischen Sueben (allgemeiner gesagt der Elbgermanen) schon zur Marbod-Zeit sprechen dafür.3987 Es setzt sich so fort bis zur Zeit der Markomannenkriege. Die germanische Keramik im Lager in Olomouc-Neředin 3988 aus der Zeit dieser Kriege am Ende des 2. Jahrhunderts und weiter zu Anfang des 3. Jahrhunderts ist im Graben vermischt mit provinzialrömischer Keramik entdeckt worden, was den engen Kontakt der beiden Seiten spiegelt. Ausgrabungen in den Jahren 1997 bis 2004 bestätigen die Datierung in die Phasen C2-C3/D1 (250 bis frühes 5. Jahrhundert). (Zu beachten ist aber, dass der Graben des römischen Militärlagers jedoch älter ist, und die Keramik stammt aus der Verfüllung, und Grabeneinfüllungen sind ein Datierungsproblem.). Das Vorkommen von germanischer Keramik in militärischen Anlagen und auch in römischen Siedlungen zivilen Charakters, diese „barbarische“ Töpferware belegt die Anwesenheit bzw. zumindest den Kontakt zur römischen Seite. Die Keramik könnte nur als Verpackung für Lebensmittel oder Rohstoffe in die römischen Plätze gebracht
3986 Tejral 1999b, 248 Abb. 23 Karte der Waffengräber. 3987 Droberjar 2007a; 2018. 3988 Kalábek 2015.
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worden sein, was für die frühe stadtartige Siedlung Waldgirmes im Norden in Lahntal angenommen wird. Wurde diese Ware jedoch als Küchengeschirr benutzt, dann von Germanen, nicht von den Römern. Die wirtschaftliche Verflechtung mit dem benachbarten germanischen Milieu ist also vielfältig belegt. Die villenartigen Bauten im mitteldanubischen Germanien spiegeln denselben „verflochtenen“ Zustand dann im 4./5. Jahrhundert.3989 Im Limesvorfeld nördlich der Hauptstadt Carnuntum der römischen Provinz Pannonien gab es zahlreiche derartige Plätze von römisch beeinflussten Siedlungen einer germanischen Bevölkerung, die nicht nur die römische Bauweise der Gebäude, sondern auch Grundrissplanungen wie Vierseitgehöfte übernommen haben. Dazu zählt der Befund auf dem Oberleiserberg in Niederösterreich (vgl. unten S. 1100). Räumlich noch weiter gefasst hat Volker Bierbrauer eine Studie zu „Ethnos und Mobilität im 5. Jahrhundert aus archäologischer Sicht vom Kaukasus bis nach Niederösterreich“.3990 Darin geht es einerseits um die ethnische Zuweisung archäologischer Sachgüter und Befunde in der Methodenauseinandersetzung mit Sebastian Brather,3991 aber andererseits um das 5. Jahrhundert. Anhand der schriftlichen Überlieferung werden die Gruppen der Bevölkerung in dem weiten Gebiet samt ihrer Wanderungen beschrieben, der ostgermanischen Gentes der Rugier, Ostgoten, Heruler, Skiren und Gepiden sowie der „Donausueben“ und der Sarmaten, schließlich der Hunnen und Alanen. Damit werden die archäologischen Funde und Befunde des mittleren und unteren Donauraums unmittelbar mit ethnischen Gruppen parallelisiert. Es sind Sachgüter wie kegelförmige und facettierte Schildbuckel, Spathen, almandinverzierte Gürtel- und Schuhschnallen und Goldflitter. Davon wurde oben (S. 951) bei der Vorstellung der späten „Fürstengräber“ gesprochen. Auch die hunnischen Kulturerscheinungen wie Diademe und Metallkessel des 5. und 6. Jahrhunderts werden kartiert. Darauf gehe ich nicht weiter ein, ebenfalls nicht auf das Problem der ethnischen Zuordnung von Sachen und Grabsitten, weil das mein Thema zeitlich und methodisch überschreitet. Allein eine Sachgruppe, die sogenannten Silberblechfibeln3992 als donauländische Modeerscheinung im Frauenschmuck der Kleidung, die weit nach Westen bis in Normandie und auf die Iberische Halbinsel ausstrahlt (vgl. S. 1162), berücksichtige ich. Sie gehören zu Fürstengräbern wie denen von Smolín und Laa an der Thaya im Westen und zu Bestattungen im Osten wie in Tanais und Sinjavka am Don und in Kertsch auf der Krim. Die weite Verbreitung spiegelt sicherlich recht enge Kontakte und Kommunikation, doch sind diese Objekte kaum als ethnische Abzeichen zu betrachten, auch wenn sie eine typische Kleidungsmode ausdrücken, sondern als eine allgemeine Frauenmode.
3989 Kolnik 1994. 3990 Bierbrauer 2008, zahlreiche Kartierungen. 3991 Brather 2000; 2004a. 3992 Gauß 2009, mit Rez. von Bierbrauer 2011.
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Wie im Westen am Rhein mit den römischen Vormarschwegen die Flüsse Lippe und Lahn sowie durch die Wetterau aufwärts gab es auch im Süden von der Donau über die Flüsse March und Waag aus verschiedene Einfallswege nach Germanien hinein, und Kartenbilder zeigen das Gemisch von einheimischen Siedlungen und römischen Lagern und Außenposten (oben Abb. 84).
22 Die Gründung römischer Zentralorte in Germanien Der gleichzeitige Blick auf die Befunde in der frührömischen Stadtgründung von Waldgirmes im Lahntal zur Varuszeit und auf den Ausbau einer Palastanlage nahe des Königsgrabes von Mušov in der Zeit der Markomannenkriege am Übergang zur jüngeren Römischen Kaiserzeit macht deutlich, dass die römischen Expansionsbewegungen ins Innere Germaniens von mehreren Seiten, von Westen und von Süden aus erfolgt sind. Das Ziel war jeweils die Gründung neuer Provinzen für das Imperium, sowohl im Westen östlich des Rheins bis zur Weser oder gar Elbe und im Süden nördlich der Donau.
22.1 Die Stadtgründung Waldgirmes im Westen Bei Waldgirmes, Lahn-Dill-Kreis, wurde von der römischen Verwaltung im Zuge des Versuchs, eine Provinz in Germanien einzurichten, eine städtische Siedlung gegründet, die schon relativ weit – in 15 bis 25 km Entfernung von dem Limes entfernt, je nachdem von wo man misst – im germanischen Binnenland lag (Abb. 85.2).3993 Ausgrabungen fanden von 1993 bis 2009 statt, und von Zeit zu Zeit wurden laufend Ergebnisse publiziert. Inzwischen liegt ein Gesamtplan der befestigten Stadtanlage vor, mit einem Forum, auf dem in der zweiten Ausbau-Phase zumindest als Planung fünf Reiterstandbilder errichtet werden sollten und teils auch waren (Abb. 85.1). In Waldgirmes sind von 1993 bis 2003 immerhin fünf Befunde für Statuenpodeste nachgewiesen worden. Die Reste von zwei Pferden hat man wiedergefunden. Ein Kopf lag in einem 11 m tiefen Brunnen der Anlage,3994 in dem eine Leiter aus Holz auf Herbst 9 und Frühjahr 10 n. Chr. datiert werden konnte. Der Brunnen war unten in Holz erhalten, dendrodatiert auf 4/3 v. Chr., mit einer quadratischen Zimmerung, und endete ganz unten in einem Fass.3995 Die Verfüllung ist auf 7 n. Chr. über ein As mit Gegenstempel des Varus datiert. In diesem Fass lagen auch noch acht Handmühlsteine aus Vulkaneifel-Material, und zwischen diesen Steinen lag der Pferdekopf.3996 Die planvolle Deponierung im Brunnen, zusammen mit den Mühlsteinen, spricht für ein Opfer.
3993 A. Becker 2007; 2014; A. Becker, Rasbach 2003; 2006: 2007; 2015; Rasbach 2007a, b.; 3016; Rasbach, A. Becker 2003. – Rasbach 2007a 253 Abb. 195 farbiger Plan; Bemmann 2008d, 16 Plan und Rekonstruktion des Forums mit den 5 Statuen-Podesten. 3994 Krier 2014, 33 Abb. 9 Plan von Waldgirmes mit Fundort des Pferdekopfes; Burmeister 2015, 15 Abb. jüngster Plan von Waldgirmes; Rasbach u. a. 2019, 250 Abb. 2 Pferdekopf in Farbe, ganzseitig. 3995 Rasbach u. a. 2019, 251 Abb. 3 Schnitt durch den Brunnen in Farbe. 3996 Rasbach 2014 (2017), 97 Abb. 16, 101 Abb. 20 Pferdekopf; A. Becker 2014; A. Ulbrich, in: Kemkes (Hrsg.) 2017, 167–172; Allihn 2019, 45 mit Großbild. https://doi.org/10.1515/9783110702675-030
22.1 Die Stadtgründung Waldgirmes im Westen
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2 Abb. 85: 1. Ausgrabungsplan von Waldgirmes. 2. Die Lage von Waldgirmes östlich vor dem Limes.
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22 Die Gründung römischer Zentralorte in Germanien
Ein weiteres Bruchstück der Reiterstatue wurde in der Verfüllung des Wassergrabens gefunden; und Teile des Denkmals werden in den umliegenden Siedlungen entdeckt, als Rohmetall für die weitere Verwendung oder mit rituellen Hintergedanken. Über 150 Fragmente kommen (bis 2007) zusammen, Teile eines Pferdefußes sowie von der Brustschirrung eines Pferdes. Die vergoldeten Statuenbruchstücke samt Brustschirrung sind 3,5 kg schwer. Die Germanen haben nach der Niederlage des Varus die Stadt geplündert und teilweise zerstört. Übrigens wurde ein ähnlicher Pferdekopf aus vergoldeter Bronze vom Reiterstandbild eines Kaisers in Augsburg gefunden.3997 Der lebensgroße Pferdekopf ist 55 cm lang; am Kopf des Pferdes sind Büsten angebracht, Medaillons der Göttin Victoria und des Kriegsgottes Mars. Auch der linke Schuh eines Reiters ist im Brunnen gelegen, der nicht mit Blattgold versehen war wie der Pferdekopf und somit von einer weiteren Statue stammen wird. Bruchstücke vom Zaumzeug lagen im inneren Umwehrungsgraben, und zwar von zwei weiteren vergoldeten Statuen. Es ist davon auszugehen, dass der Brunnen den Germanen als Opferschacht gedient hat, nicht einfach nur zur Abfallentsorgung. Der Bau der eigentlichen Ansiedlung erfolgte ab 4 v. Chr., an einer Stelle, an der schon zuvor eine Siedlung bestanden hat, ein umzäunter Platz; denn Amphorenscherben des Typs Dressel 1 sind zu alt für die neue Siedlung am Platz und stammen nur aus der ersten Bauphase. Münzen, keltische Dreiwirbelstatere, fand man nur in Schichten der Vorbereitung des Bauplatzes. Die nachfolgende Siedlung war etwa 8 ha groß, das Holz für die ersten Brunnen ist dendrochronologisch auf 3 v. Chr. datiert. Die Befestigung war eine Holz-Erde-Mauer mit zwei vorgelagerten Spitzgräben, wie bei den zeitgleichen Militärbauten, und hatte mindestens drei Tore. Doch die Gebäude unterschieden sich deutlich von solchen in Truppenlagern. Es waren Häuser mit zur Straße offenen Räumen und einer Portikus davor, es handelt sich also um Geschäftshäuser für Handel und Handwerk, auch wohl um Tabernen. Andere Baukomplexe waren Atriumhäuser. Das zentrale Gebäude, eine drei- bzw. vierflügelige Anlage, schloss nach Norden mit einer großen Halle mit zwei Apsiden und einem Rechtecksaal ab. Auf Fundamentmauern aus Stein erhob sich einst ein Fachwerkbau. Im Innenhof gab es die fünf Fundamente für Reiterstatuen. S. v. Schnurbein gab schon 2006 eine Gesamteinordnung.3998 Die Vorgängeranlage hatte nur drei Podeste und erst die jüngere mit dem in Fachwerkbauweise auf dem Steinfundament errichteten Forum fünf Podeste. Die Fundplätze rund um Waldgirmes, u. a. die Siedlung Naunheim und der römische Stützpunkt Dorlar sind archäologisch untersucht; der Siedlungsplan Wetzlar-Naunheim wurde 1995 bis 1998 ergraben und zeigt mehrere zwei- bzw. dreischiffige Häuser, von denen Haus 2 rund 20 m lang war.3999 Die Befunde werden ins 1. bis 3. Jahrhundert datiert; darunter ist
3997 Wamser u. a. (Hrsg.) 2000, 279 Abb. 327; Hahn 2014. 3998 v. Schnurbein 2006, 24 Abb. 2 (die Phasen und Podeste). 3999 v. Schnurbein 2006, 28 ff. mit Abb. 6 und 8.
22.1 Die Stadtgründung Waldgirmes im Westen
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anfangs wenig römische Keramik, nur 7%, der Anteil wächst im 3. Jahrhundert jedoch dann auf 11% an. Zu fragen ist, war die Bevölkerung in Waldgirmes nun spätkeltisch oder germanisch? Eine ähnliche Situation gab es auch am Niederrhein, wo man von einer Latènisierung spricht.4000 Die Kartenbilder bringen die Verteilung der latènezeitlichen Glasarmringe, der Schwerter und Kupfermünzen vom Typ triquetrum beiderseits des Rheins. Das Ende der Siedlung Waldgirmes fällt in die Jahre zwischen 10 und 16 n. Chr., d. h. nach der Varus-Niederlage wurde die Stadt nicht gleich aufgegeben, oder Germanen haben den Platz zeitweilig übernommen und ausgebeutet. Die späte Datierung stützt sich auf römische Münzen der sogenannten 1. Serie von Lugdunum. Die gegengestempelten Stücke lagen nur in der letzten Siedlungsschicht. Damals erfolgte auch erst die Zerstörung der Statuen, und letzte Umbauten setzten sogar noch nach diesem Zeitpunkt ein, nach der Zerschlagung von mindestens zwei der Statuen. Häuser wurden repariert und die Wegeführung wieder in Stand gesetzt. Erst mit dem Rückzug der Römer 16 n. Chr. wurde die Siedlung endgültig verlassen, durch Brand zerstört und die Reste geschleift. Bald danach errichteten Einheimische in den Ruinen wieder ein Gehöft und nutzten die Relikte zum Weiterleben. Es wurden Gräber von den Neusiedlern angelegt, in denen germanische Keramik als Beigabe vorkommt. Das Gebiet gehörte damals dann zum sogenannten Gebiet der Rhein-Weser-Germanen, nachdem die gallorömische Bevölkerung verdrängt worden war. Die ältere zivile Siedlung war überwiegend aus Gallien versorgt worden. Die Gründung des Stadtplatzes erfolgte bei Amtsantritt des Varus als Statthalter des Augustus und sollte Sitz der Verwaltung einer Region und Gerichtsstätte sein. Deshalb standen auf dem Forum vor einer hoch aufragenden Basilika die Statuen, vergoldete Reiterstandbilder aus Bronze. Keramikscherben und Metallfunde wie Fibeln, auch spätkeltische Münzen sowie einige Gebäudegrundrisse lassen erkennen, dass die Bevölkerung aus gallorömischen und einheimischen Siedlern bestanden hat.4001 Die Frühphase der rhein-weser-germanischen Kultur und die Gründung von Waldgirmes fallen zeitlich zusammen; denn diese Keramik findet sich außerdem im Stadtareal ebenso wie Augenfibeln.4002 In einem zusammenfassenden Bericht zu „Kaiser Augustus an der Lahn“ findet man leicht zugänglich eine Karte der augusteischtiberischen Militärlager und andere Fundplätze sowie einen Gesamtplan mit Mehrphasigkeit des Platzes Waldgirmes, außerdem eine Rekonstruktion des Forums mit den Podesten für die Reiterstatuen.4003 Für die Ausstellung „Bewegte Zeiten“ 2018 in Berlin hat G. Rasbach noch einmal eine Zusammenfassung gegeben und einige
4000 Roymans 2007, 319 ff. mit Karten Fig. 13 bis 15. 4001 Burmeister 2015, 15 Abb. 6 jüngste mir bekannte Ausfertigung des Gesamtplanes, 16 Abb. 7. Pferdekopf aus Brunnen 2. 4002 Rasbach 2013b. 4003 Rasbach 2014 (2017), 85 Abb. 1 Karte, Abb. 3 Gesamtplan, 99 Rekonstruktion des Forums.
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22 Die Gründung römischer Zentralorte in Germanien
Punkte hervorgehoben.4004 Die stadtartige Siedlung bestand gerade einmal 20 Jahre, von 4 v. bis 16 n. Chr. In der Gründerphase wirkt die Siedlung wie ein Händlerposten; hier kamen als Bewohner Gallorömer und einheimische Germanen zusammen, ablesbar an den Gebäudegrundrissen und an der Keramik. S. v. Schnurbein erläutert diese Situation zu Kelten, Germanen und Römern im Vorfeld des Obergermanischen Limes 2006 ebenfalls und bringt – wie kurz zuvor erläutert – auch die Karte aller augusteischen Stützpunkte rechts des Rheins.4005 Die Einbindung der römischen Stadtgründung bei Waldgirmes in das System der römischen und einheimischen Fundplätze der späten Eisenzeit und der frühen Römerzeit mit Kastellen, der eisenzeitlichen Höhenbefestigungen (dem Dünsberg und dem Heidetränk Oppidum sowie vermutet dem Hangelstein und dem Hopfenstein) und den Siedlungsplätzen mit römischen und germanischen Funden (Niederweimar, Echzell, Gettenau) sind von ihm kartiert worden.4006 Ergänzt wird diese Darstellung durch den Plan der genannten Siedlung Wetzmar-Naunheim mit dem 20 m langen Wohn-StallHaus, nur 1 bis 2 km entfernt von Waldgirmes, und dem Hinweis auf die von B. Steidl zusammengestellten Fundstellenkarten germanischer Siedlungen mit Gaukönigshofen weiter im Süden.4007 In einer Reihe von germanischen Siedlungen werden die aus Waldgirmes verschleppten Sachgüter und Fragmente von größeren Metallobjekten noch einmal 2011 aufgeführt.4008 Die römischen Bronzestatuen am Limes sind archäometrisch untersucht,4009 darunter die Reste aus dem Lager Dorsten-Holsterhausen und aus Waldgirmes. Über 5000 Fragmente römischer Bronzestatuen, gefunden von 2010 bis 2015, sind ausgewertet worden. Der augusteische Pferdekopf von Waldgirmes besteht aus Altmetall mit Zuschlägen von Zink und Gold auf Messing und zusätzlicher Vergoldungen, und Metallproben von Resten dieser Statuen weisen anhand der Isotopenverhältnisse auf die Eifel, und die Vergoldung erfolgte mit Blattgold in mehreren Auflagen, was einen gebrochenen Glanz geschaffen hatte.4010 Im Marschlager DorstenHolsterhausen sind Reste von immerhin vier Bronzestatuen entdeckt worden. Sie sind ebenfalls augusteisch, und das Lager wurde nach der Varusschlacht aufgegeben, doch schon Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. von der einheimischen Bevölkerung wiederbesiedelt.4011 Aus Weißenburg in Bayern stammen 38 Fragmente von Bronzestatuen und
4004 Rasbach 2018a, 328 Gesamtplan mit den fünf Statuenbasen, 329 weiteres zum Pferdekopf (s. oben). 4005 v. Schnurbein 2006, 21 Abb. 1 Karte, 23 Abb. 2 Plan von Waldgirmes. 4006 v. Schnurbein 2006, 26 Abb. 5 Karte. 4007 Steidl 2000b, 107 Abb. 9, 101 Abb. 6. 4008 v. Schnurbein 2011; Abegg, Walter, Biegert 2011, 57 Abb. 1 und 58 Abb. 2. 4009 Willer, Schwab, Mirschenz, Schneider 2017. 4010 G. Rasbach, in: Gebrochener Glanz 2014, 40–43 mit Lit. 4011 Mirschenz 2013, Taf. 11 Plan der germanischen Siedlung beim Marschlager Dorsten-Holsterhausen mit Langhäusern des 1. bis 3. Jahrhunderts.
22.1 Die Stadtgründung Waldgirmes im Westen
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Bruchstücke von Adlerkopfschwertern.4012 Die Kaiserstatuen und Pferdeköpfe haben große Aufmerksamkeit erfahren.4013 So gibt es einen bronzenen Pferdekopf mit Vergoldung einer Kaiserstatue 134 aus Augusta Vindelicum, Augsburg.4014 Neue römische Statuenfragmente sind aus Eining, Lkr. Kehl, bekannt,4015 ähnlicher Bronzeschrott auch aus dem Kastell Aalen. Bei Groß-Gerau, Rüsselsheim und Ginsheim-Gustavsberg wurden ebenfalls Fragmente römischer Großbronzen gefunden, von lebensgroßen Statuen, teils vergoldet, wohl Kaiser des 2. und 3. Jahrhunderts. Die Statuen waren absichtlich zerschlagen worden; es fanden sich dabei Bronzegussreste und Münzen aus der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts aus verlassenen römischen Städten, die geplündert als Rohstoff von germanischen Neusiedlern genutzt wurden.4016 Weitere Reste von Panzerstatuen stammen vom Dalkinger Limestor, das zur raetischen Limesmauer, der Teufelsmauer, gehört, die 207 n. Chr. als Steinmauer errichtet worden ist. Das Tor wurde 213 erbaut und 233 wieder zerstört. Es war gekrönt von einer überlebensgroßen Panzerstatue, von der noch 130 Fragmente geborgen werden konnten, ein Abbild des Kaisers Caracalla?4017 Die Gründe der Zerstörung römischer Bronzestatuen am Limes liegen zwischen Ruhmvernichtung und Recycling. Im Jahr 2014 wurde ein vom Pflug zerstörter Depotfund nahe des Auxiliarkastells Ad Flexum (Jánossomorja in Ungarn) mit dem Metalldetektor entdeckt, der 500 Fragmente von mehreren zerstückelten Statuen enthielt. „Diese Funde beweisen das massenweise Einschmelzen und die Wiederverwendung von Großbronzen, ein Prozess, der in Pannonien schon im 3. Jahrhundert begann“. In den pannonische Provinzen sind fast tausend Fragmente von Kaiserstatuen, Großbronzen, an 30 Fundorten dokumentiert.4018 Die Mehrzahl waren lebensgroße Statuen, panzertragende Kaiser, auch die überlebensgroßen Köpfe des Marc Aurel und Severus Alexander sind übergeblieben, ebenfalls Götterstatuen. Acht Sockel für Reiterstatuen sind von fünf Fundorten belegt, städtische Zentren, auf dem Forum von Scarbantia gab es Sockel von vier Reiterstatuen. Insgesamt sind Fragmente von 16 Reiterstatuen (Fuß-, Pferdeschweif- und Mähnenfragmente), aber kein Pferdekopf (!) belegt. Als Grund für die Zerstörung war wohl oftmals eine damnatio memoriae,4019 nicht etwa nur Rohstoffgewinnung. Es gibt ein Echo in der schriftlichen Überlieferung, dem man vor Entdeckung des Platzes Waldgirmes nicht beachtet hatte. Rom sollte Städte in Germanien errichten, um auch römische Verwaltung zu etablieren und ein Steuersystem einzurichten, einer
4012 Willer, Schwab, Mirschenz, Schneider 2017, Karte, Nr. 56 Weißenburg. 4013 Menzel 1986. 4014 Imperium Romanum 2005a, 129 Abb. 125. 4015 Th.Fischer 2018a, 179 Abb. 5. 4016 Th. Becker 2018. 4017 Moosbauer 2018, 46 f. mit Abb. 7. 4018 Zsolt 2015–2016, 207 etc. 4019 Mirschenz 2014.
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der Gründe, die Arminius zu seinem Aufstand motiviert hat. Der griechische Historiker Cassius Dio (um 135–235 n. Chr.) hatte nämlich von der Gründung römischer Städte in Germanien berichtet (56, 18, 1–2): Ihre Truppen (der Römer) überwinterten dort und gründeten Städte, und die Barbaren passten sich an ihre Ordnung an, gewöhnten sich an Märkte und trafen sich in friedlichen Versammlungen. Sie vergaßen freilich nicht ihre traditionellen Bräuche, ihre angestammte Art und ihre auf dem Recht des Waffentragens beruhende freie Lebensweise.
Übrigens wechselte bei Cassius Dio die Bezeichnung dieses rechtsrheinischen Gebiets, das er einmal als „Keltike“, an anderer Stelle als „Germania“ bezeichnete. Es war ihm auch nicht klar, wer eigentlich dort als einheimische Bevölkerung lebte; und das spiegelt sich im archäologischen Fundstoff in Waldgirmes und im Umland ebenfalls.4020 Es gilt auch zu beobachten, welchen Einfluss diese Stadtgründung in Germanien über ein Dutzend Kilometer vom Rhein entfernt auf die Bewohner dort gehabt hat. Verschleppte Funde aus Waldgirmes,4021 die Fragmente von der oder den Reiterstatuen weit verstreut in den umliegenden Siedlungen bezeugen den Zugriff auf die verlassene bzw. geplünderte Siedlung, in die umgekehrt zuvor auch germanische Keramik gelangt war, so wie in den germanischen Siedlungen auch römisches Keramikgeschirr aufgenommen wurde.4022 Es ist sinnvoll, mehrere Facetten bei der Bewertung der Befunde von Waldgirmes zu sehen, je nach dem chronologischen Zeitpunkt; der Platz war erst Militärlager, dann Stadtgründung, schließlich Schlachtfeld und Zivilsiedlung.4023 Wie zuvor Notizen von W. Eck ausdrücken, könnte auch der Militärplatz Haltern mit seinen sehr zahlreichen Gebäuden für „Verwaltungsbeamte“ als Nukleus einer Stadtplanung gesehen werden.
22.2 Handelsstationen an der Nordseeküste Ein in der Forschung zeitweilig ebenfalls als ein römischer Vorposten bewerteter Platz in Germanien ist Bentumersiel an der Mündung der Ems, weil hier bei den Ausgrabungen besonders zahlreiche römische Sachgüter geborgen wurden. Lebten und handelten hier germanische Siedler, oder fanden römische Legionäre hier einen Stützpunkt auf Zeit.4024 War es ein Stapelplatz für beide Seiten? Gegraben wurde hier 1971 bis 1973 und wieder 2006 bis 2008 und noch einmal ab 2014. Der Platz wird auch mit dem Feldzug des Germanicus in Zusammenhang gebracht, der 14 bis 16 n. Chr. mit 4020 Goetz, Welwei 1995, 52 f. 4021 v. Schnurbein 2011. 4022 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.7.2018: Das Land Hessen soll einem Landwirt aus Waldgirmes 773 000 Euro zahlen für den römischen Pferdekopf. 4023 Rasbach 2018b. 4024 Strahl 2009; 2011.
22.2 Handelsstationen an der Nordseeküste
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Schiffen seine Streitkräfte heranführte und dann die Ems flussaufwärts marschierte. Es kann ein Ort gewesen sein, an dem sich römisches Militär, aber eher nur kurzfristig, aufgehalten hat, als Ausgangsplatz für die römischen Feldzüge in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts, wofür der hohe Anteil römischen Pferdegeschirrs spricht. Eine aufgelassene Siedlung der vorrömischen Eisenzeit wurde als Lagerplatz benutzt. Zu den Objekten zählen etwa 30 Metallstücke von der Ausrüstung römischer Legionäre und ihrer Pferde. Terra Sigillata-Scherben findet man zwar in zahlreichen küstennahen Siedlungen, aber auffällig sind die vielen Reste von Amphoren für Wein, Öl und garum (Fischsuppe) an diesem Platz. Datiert wird der Ort anhand dieser Funde römischer Herkunft in das frühe 1. Jahrhundert n. Chr. Die Siedlung selbst bestand schon vorher, vielleicht schon seit dem 3./2. Jahrhundert v. Chr., und die Anwesenheit von römischen Legionären gehörte in nur eine der Besiedlungsphasen, aus der eigentlich keine Baubefunde aus Bedingungen der Überlieferungsmöglichkeiten mehr erhalten sind. Das über 2 ha große Siedlungsareal mit Bauresten wurde zudem weiter im 2./3. Jahrhundert und anscheinend sogar bis ins 4./5. Jahrhundert bewohnt. Bentumersiel blieb eine Flachsiedlung, doch nahebei wuchsen Siedlungen zu Wurten auf, wie Jemgumkloster seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. Erstaunlich ist (vgl. dazu oben S. 406), dass tatsächlich zeitgleich nebeneinander Wurten- und Flachsiedlungen existieren konnten. Die nachgewiesenen Bauten in Bentumersiel waren keine der üblichen Wohn-Stall-Häuser, sondern kleine Häuser ohne Stallteil, aber mit einem Speicherbau nebenan. So wirkt das gesamte Anwesen nicht wie eine bäuerliche Siedlung, sondern tatsächlich eher wie ein Stapelplatz oder Ufermarktplatz für den Handel und das Handwerk. Wie dem auch sei, wie auch in anderen Siedlungen in Germanien lagen in den jüngeren Phasen des 2./3. Jahrhunderts weitere römische Sachgüter, Reste von Metall- und Glasgefäßen, auch aus einem Brandgrab des frühen 4. Jahrhunderts in der Nachbarschaft stammen Fragmente von römischen Bronzegefäßen und andere Importsachen.4025 Bentumersiel mit den römischen Militaria steht mit den Befunden nicht allein; ein Vergleich mit anderen Landungsplätzen an der Küste bietet sich an, auch und gerade, wenn es dabei um mögliche römische Einflussnahme geht.4026 Es gibt mehrere Landungsplätze an der Nordseeküste, zwar erst wenige nachgewiesen für die Römische Kaiserzeit, in den nachfolgenden Zeiten dann systematisch mehrere Plätze. Neben Bentumersiel sind ganz in der Nähe Westerhammrich, Stadt Leer, zu nennen mit einer Reihe von Kleinfunden (Keramik, Bronzenadeln und eine kleine Figur) und ElsflethHogenkamp, u. a. mit römischen und anderen Fibeln und einer römischen Merkurstatuette, und schließlich Sievern mit weiteren benachbarten Landeplätzen (dazu oben S. 363). Die Kartierung bringt noch einige Landeplätze in Küstennähe und an den Flussläufen.
4025 Lau, Rau 2016, 73 (die Kleinfunde); Mückenberger, Strahl 2009 (das Grab). 4026 Scheschkewitz 2010, 291 Fig. 2 Landungsplätze, 293 Fig. 5 Westerhammrich.
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22.3 Die römischen Bauten bei Mušov im Süden Der Fundplatz Mušov in Mähren an der Thaya ist in erster Linie bekannt wegen des Königsgrabes eines Germanen (vgl. oben S. 925);4027 der Platz liegt an der römischen Vormarschstraße von Carnuntum aus. Doch finden sich in der Nähe auch weitere auffällige Großbauten (oben Abb. 79.1 und 2), die in römischer Regie errichtet worden sind. Auf den Fluren Burgstall und Neurissen, einer Anhöhe, ungefähr 1,5 km entfernt befindet sich eine größere Befestigungsanlage, in deren mehr als 25/34 ha Innenfläche einige Bauten gestanden haben. Nach ersten Funden im 17. und 19. Jahrhundert fanden 1926/28, 1949, 1976 und bis heute Ausgrabungen statt. Die römische Befestigung, das Kastell Mušov,4028 bestand aus zwei, an manchen Stellen aus drei Spitzgräben und einer 5,50 bis 7,50 m breiten Holz-Erde-Mauer, die einst eine Höhe von 4 m gehabt haben wird. Im östlichen Teil der Befestigungslinie (Flur Neurissen) gab es ein Tor mit zwei turmartigen Bauten und weitere Türme. Die Befestigung ist in mehreren Phasen errichtet worden. Ein Teil der Lagermauer war aus Lehmziegeln gebaut. Im Inneren wurden einige Gebäudegrundrisse freigelegt. Gebäude mit Steinfundamenten, Fachwerkaufbau und römischen Ziegeln weisen diese einem römischen Ursprung zu. Auch das größte Gebäude ist in drei Phasen (A, B, C) aus- und umgebaut worden. Die rechteckigen Bauten hatten Heizanlagen und Wasserleitungen, wurden als Kommandantenhaus und Badeanlage gedeutet. Nicht alle Deutungsvorschläge aber überzeugen die Forscher. Es geht um das Problem, welchen Charakter am Anfang des 1. Jahrhunderts n. Chr. der Platz denn tatsächlich hatte, ob schon von einem römischen Militärlager ausgegangen werden kann, da jeweils in MušovNeurissen und beim Burgstall mehrere Ausbauphasen ergraben werden konnten.4029 Die meisten Münzen stammen aus der Zeit der Markomannenkriege, aber der Platz war schon in flavischer Zeit (69–96 n. Chr.) genutzt. Anders als in Waldgirmes wiesen die meisten Bauten einen militärischen Charakter auf. Besondere Bauten waren in dem Lager errichtet worden, Werkstätten, ein Gebäude mit Apsis, ein weiteres Steingebäude (vielleicht die principia), ein Krankenhaus (valetudinarium). Pfostenbauten wurden erkannt, auch anhand des Fundmaterials metallverarbeitende Werkstätten. Nahe der Mauer stand das große Holz-Erde-Gebäude der Maße 44 auf 20 m mit einem Peristylhof, einer Vorhalle und weiteren Räumen, darunter nach Norden ein Raum mit einem apsidialen Abschluss. Auch das Fundmaterial gehört in einen militärischen Zusammenhang. Nicht nur Ziegel, sondern Hunderte von Sandalennägeln, römische Waffen und andere Ausrüstungsgegenstände wurden geborgen. Unter den Keramikfunden machen germanische Scherben nur 2% aus. Die Datierung anhand der Funde 4027 Tejral 2002a. 4028 Hošek 2000. 4029 Komoróczy 2005, 158 Obr. 3 und 4 Pläne, 169 Obr. 11 Mušov-Neurissen Grundriss der drei Phasen; 187 Obr. 15 Plan vom Burgstall und von Neurissen mit zahlreichen römischen Funden; 187 Anm. 87 gibt es Erläuterungen auf deutsch; Komoróczy 1999, Eisenkomplex im Areal des Burgstalls.
22.3 Die römischen Bauten bei Mušov im Süden
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aus Keramik und Metall sowie der Münzen weist in die 170er Jahre n. Chr., die Münzen aus der Zeit Marc Aurels überwiegen mit 31%; die späteste Münze ist (so 2009) im Jahr 178 geprägt worden. Die römische Besetzung war jedenfalls auch mehrphasig, d. h. der Platz wurde aus verschiedenen Anlässen mehrfach durch römisches Militär aufgesucht. Anscheinend war Mušov zeitweilig als neue Hauptstadt einer Provinz Marcomannia oder auch einer Provinz Sarmatia gedacht, was noch Commodus nach 180 n. Chr. im Sinn gehabt hat.4030 Um 180 sind die Anlagen aufgegeben worden, die Gräben wurden verfüllt. Am Ende gab es anscheinend eine kriegerische Auseinandersetzung; denn in den Befestigungsgraben wurden immerhin 30 menschliche und tierische Skelette geworfen (andere Deutung vgl. oben S. 1086), vermischt mit germanischen Kleinfunden aus Metall. Nachfolgend siedelten in den Anlagen Germanen, von denen die Metallabfälle verwertet wurden. Militärisch ist auch ein 2 km langer Spitzgraben, der ein Areal am Zusammenfluss der Flüsse Iglau und Thaya sicherte. Weitere römische Marschlager gab es in der Umgebung. Den Vormarschweg der Römer ins Innere Germaniens von der Donaugrenze nach Norden ist intensiv untersucht und in guten Kartierungen veröffentlicht worden. Es ging linear die March und dann die Thaya aufwärts.4031 Rund 50 km flussaufwärts liegt dann dieser zentrale Platz Mušov. Bis dorthin und noch weiter nach Norden sind zahlreiche Marschlager und Stützpunkte entdeckt worden, oft im Abstand von nur 10 bis 20 km. Doch hatte der Platz Mušov-Burgstall über das Militärische hinaus noch eine andere Aufgabe, das Ziel war die Romanisierung der Umgebung; man könnte vom Plan einer Stadtgründung ausgehen, wie das wesentlich früher im Westen in Waldgirmes versucht wurde.4032 Der Rückblick auf die verschiedenen Interpretationen des Befundes in MušovBurgstall bietet vor allem zwei Deutungen an. Die eine geht davon aus, dass die Anlage von Römern als Residenz für einen germanischen Führer erbaut worden ist, der ein Verbündeter des Römischen Reichs war. Die andere Deutung dachte an eine römische Handelsstation, die erst während der Markomannenkriege militärisch umgebaut worden ist (vgl. S. 1014 und 1096). Gegenwärtig geht man davon aus, dass die Befestigung 172 n. Chr. angelegt worden ist, in einer für ein Lager nicht üblichen Position, und die Lehmziegelmauer ist sicherlich für einen längere Nutzung gedacht gewesen. Der Burgstall ist aber wohl zwischen den zwei römischen Offensivphasen verlassen worden, also zwischen 173 und 178 n. Chr. Nach dem Wiederaufbau dachte man an eine strategische Kontrolle des besetzten Gebietes, das von Germanen dicht besiedelt war, und über die Romanisierung hinaus, die – wie gesagt –zur Errichtung einer neuen Provinz Marcomannia führen sollte, was aber dann – wie beim älteren Waldgirmes – keine Zukunftslösung
4030 Moosbauer 2018, 37. 4031 Komoróczy 2009, hier vor allem 119 ff. 4032 Komoróczy 2010.
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gewesen ist. Doch war Mušov die bedeutendste römische Anlage in Germanien. Von hier aus führten die römischen Armeen Vorstöße weit in den Norden durch bis in die Gegend von Olmütz. Mušov war mit den mehr als zwei Dutzend Lagern im Umfeld die zentrale Operationsbasis für die Kriegszüge durch das Markomannengebiet. Zu einem Ausbau als zivilen Zentralort auf längere Dauer ist es nicht gekommen, das Militärische überwog. Eine praktische Übersicht zu den römischen Lagern bei Mušov und Umgebung ist 2018 und 2019 zusammengefasst vorgelegt worden.4033 Sie gehören eigentlich alle in die Zeit der Markomannenkriege und dienten der Besetzung des germanischen Kerngebiets in Südmähren und der Sicherung des Vormarsches an der March und der Thaya. Zu dem Zentralort Mušov mit der Hauptaufgabe der Logistik mit Handwerk und Sanitätswesen auf einem Areal von mehr als 4 km2 gab es mehrere sichtlich temporäre Lager. Das Lager Mušov-Na Pískách in 2.5 km Entfernung gelegen weist vier sich ständig verkleinernde Anlagen I a bis I d auf (von 41,3 ha über 37,5 ha, 21,1 ha bis nur noch 7,8 h). Hier fanden seit 1994 Ausgrabungen statt und diese wiesen auch eine germanische Siedlung am Platz nach. Ein weiteres Lager gab es in Ivaň in der Nähe 2,3 km nordöstlich von Mušov und 8 km nördlich drei Lager in Přibice. Manche waren sehr klein, konnten nicht mehr als 500 Mann aufnehmen und dienten wohl für allgemeine Sicherungsaufgaben im Gebiet. Lager am Fluss werden als Uferkastelle gedeutet und mit Haltern an der Lippe verglichen. Schiffe sicherten so die Truppenversorgung über die Flüsse. Weitere Lager führten nach Norden, so über das Lager von Modřice bei Brno und Olomouc-Neředin sowie Hulin-Pravčice zur Mährischen Pforte. Ein nächstes Lager bestand schon in Chárvátská Nová Ves zwei Tagesetappen weiter im Süden. In diesem ganzen Gebiet ist somit der militärische Vormarsch ins Innere Germaniens gut dokumentiert. Ähnlich war die Situation auch im Gebiet der Daker im Südosten, zwischen den Provinzen Pannonia inferior und Dacia inferior bzw. nördlich von Moesia superior. Es gab Vorstöße und Lagerbauten nach dem Einmarsch in das dakische Königreich nach 101 n. Chr.; doch war das ebenfalls nicht von Dauer und soll hier auch nicht weiter angesprochen werden.4034
22.4 Der Herrenhof auf dem Oberleiserberg Vielleicht könnte man als drittes Beispiel eines römischen Vorpostens in Germanien wie Waldgirmes oder Mušov die noch jüngere Gründung der Höhenstation Oberlei-
4033 Komoróczy, Vlach, Hüssen 2018; Komoróczy, Vlach 2019, 26 Abb. 1 Karte der Lager und weitere Karten über die Mobilitätsintensität zwischen diesen Lagern. 4034 Nemeth, Fodorean, Matei, Blaga 2011, 333 Abb. 2 Karte der dakischen Provinzen ab dem Jahr 119 n. Chr.
22.4 Der Herrenhof auf dem Oberleiserberg
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serberg etwa 40 km nördlich von Wien bei Ernstbrunn werten.4035 Der Grundriss einer Vierseiten-Anlage ähnelt römischen Anwesen.4036 Die wichtigsten Phasen gehören ins 4./5. Jahrhundert; die Entstehung mit Phase 1 wird um 380 n. Chr. datiert; zu den Funden zählen Scherben von glättverzierter Drehscheibenkeramik und Eisenfibeln. Das Hauptgebäude hatte Steinfundamente und die zwei Räume Mörtelestriche. Es folgte ein rascher Ausbau mit einer Erweiterung und der Zunahme an Gebäuden; die Phasen 2 bis 4 gehören alle noch in den Anfang und die Mitte des 5. Jahrhunderts. Dieser Herrenhof erinnert an die römische Architektur feudaler Villen und sogar spätantiker Paläste mit der repräsentativen Eingangssituation und dem Empfangssaal. Aloys Stuppner vergleicht die Anlage mit den römischen Gebäuden in germanischen Siedlungen der jüngeren Römischen Kaiserzeit wie Stupava und Cífer Pác, die von Titus Kolník als Sitze germanischer Klientelkönige angesehen werden (vgl. oben S. 1085);4037 er spricht in diesem Zusammenhang von völkerwanderungszeitlichen Herrschaftszentren und spätrömischer Militärarchitektur.4038 A. Stuppners Zusammenstellung der römischen Metallsachen rund um den Oberleiserberg in Niederösterreich für das 1. bis 5. Jahrhundert beschreibt eine recht intensive germanisch-römische Kontaktzone mit einem Höhepunkt nach den Markomannenkriegen und im 3. Jahrhundert.4039 Die Sachen in Siedlungen und Gräberfeldern bestehen vor allem aus Kleidungsschmuck (Fibeln), doch auch Pferdegeschirrteile kommen vor, Geräte und in der Regel Münzen. Eine Konzentration gibt es – wie andernorts erläutert (vgl. S. 1082) – in Gebieten an der March und im Wiener Becken. Schon während der späten Latènezeit mit Metallgefäßen in den noch existierenden Höhensiedlungen, doch setzen auch schon die importieren Fibeln ein. Mit Beginn der germanischen Besiedlung um Chr. nehmen die Fibelfunde zu, darunter Emailscheibenfibeln, Tierfibeln und schließlich auch Bügelknopf- bzw. Zwiebelknopffibeln. Schon in der Oppidazeit gab es auf dem Oberleiserberg an diesem zentral gelegenen Platz eine Höhensiedlung ab dem 3. Jahrhundert v. Chr. mit umfangreichen Hinweisen auf Metallhandwerk und Bronzeschrott-Verarbeitung.4040 Auch germanische Funde gab es schon deutlich vorher auf dem Oberleiserberg, sogar mit Metallverarbeitungswerkstätten.4041 Eine Umwallung mit einer kleinen Vorburg rund 8 ha Größe bestand seit der Bronzezeit und weiter mit neuer Blüte während der Spätlatènezeit als Siedlungsmittelpunkt. Dem Beginn der Völkerwanderungszeit folgte ein Wandel des germanischen Besiedlungswesens im 4. und 5. Jahrhundert im nördlichen Niederösterreich. Erst-
4035 Stuppner 2004; 2008b; 2011. 4036 Stuppner 2008c, 438 Abb. 5 a. 4037 Stuppner 2008c, 452; Kolník 1994. 4038 Stuppner 2013. 4039 Stuppner 2016b. 4040 Karwowski 2017. 4041 Pollak 1999, 207.
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22 Die Gründung römischer Zentralorte in Germanien
mals erschienen Grubenhäuser, wie das in Germanien üblich war. In den Siedlungen fallen trotzdem romanisierte Bauelemente auf. In der Mitte liegt der Oberleiserberg mit dem Hauptgebäude, dem Steinbau I, mit Heizkanälen, aus der ersten Hälfte und der Mitte des 5. Jahrhunderts. Alle diese Plätze lagen links der Thaya und nördlich der Donau.4042 A. Stuppler erklärt den Wandel durch Migrationen und soziale Veränderungen. In den verschiedenen Stufen der Romanisierung nutzten die Germanen zunehmend spätantike Strukturen in den römischen Provinzen.
4042 Stuppner 2016, 143 Abb. 9 Karte.
23 Römische Sachen, Techniken und Sitten in Germanien Römische Sachgüter, nicht nur Münzen und Terra Sigillata, sondern Metallsachen aller Art gelangten, um das wieder zu betonen, in alle Gegend Germaniens bis nach Norwegen und im Osten ins Baltikum.4043 Als Ergebnis einer Tagung 2009 wurde von H.-U. Voss und N. Müller-Scheessel 2016 eine Sammlung von immerhin 60 Beiträgen veröffentlicht, die sich allein mit den römischen Metallarbeiten des 2. und 3. Jahrhunderts im gesamten mitteleuropäischen Germanien befassen.4044 Damit ist eine vielfältige Bilanz vorgelegt worden, jeweils nach Sachgruppen aufgeschlüsselt und datiert. Nicht immer wird differenziert, was beim Metall nur Schrott zur Weiterverarbeitung war oder welchen Zweck die Güter denn in der neuen Umgebung gehabt haben. Vor allem vermisse ich Hinweise darauf, welchen Anteil die Importe in den Siedlungsgemeinschaften seinerzeit zur Ausstattung beigetragen haben. Man stößt auf geringe Zahlen, beispielsweise dass Terra Sigillata nur 1% an der Gesamtkeramik ausgemacht haben. Beim Fibelschmuck in Gräberfeldern als Beigaben sieht es ähnlich aus, und für die Archäologie verbliebener Metallschrott ist in seiner Bedeutung auch kaum richtig abzuschätzen. Es ist außerdem abzuwägen, wohin die Importe tatsächlich gelangt sind. In der Nachbarschaft zum Rhein, gleich jenseits der Donau oder in Dakien müsste eigentlich die Importmenge dichter sein als fern in Skandinavien oder im Baltikum. Funde in der Ostukraine gehören zur Chernjachov-Kultur, die als germanisch bzw. gotisch angesprochen wird.4045 Zu den Importen gehören Amphoren, Glasgefäße, Perlen, Glasspielsteine und Münzen. Registriert sind 6300 Münzen von 162 Fundstellen, davon sind 300 einzeln gefunden und 6000 kommen aus 22 Horten; 88% sind Silbermünzen, zusammen zu datieren vom 1./2. bis zum 5. Jahrhundert. Für die Chernjachov- und die Wielbark-Kultur in der Ukraine4046 heißt es, dass auf jedem Fundplatz römische Erzeugnisse vorkommen, Gefäß(teile), Trachtteile (Fibeln), Statuetten und mehrheitlich Münzen, zumeist datiert in die Phasen C1b-C2 (3. Jahrhundert), gedeutet als Kriegsbeute, weil in der Zeit des eigentlich intensiven Handels in den Phasen C3-D1 (4. und frühes 5. Jahrhundert) die Metallsachen recht selten sind. Die späten Silbergefäße waren demnach eher Gaben an Verbündete. Nachfolgend sollen die importierten Sachgüter noch einmal insgesamt systematisch betrachtet werden.
4043 Beispielsweise: Cieśliński, Ciołek 2016; Nowakowski 2016. 4044 Voss, Müller-Scheessel (Hrsg.) 2016. 4045 Ljubičev 2016, 947 Abb. 2 Karte mit mehr als 40 Fundorten, 948 Abb. 3 Karte zu Münzen mit 220 Nummern. 4046 Magomedov 2016, 956 Abb. 1 Karte mit 36 Nr. zur Chernjachov-Kultur und 7 Nr. zur WielbarkKultur. https://doi.org/10.1515/9783110702675-031
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23 Römische Sachen, Techniken und Sitten in Germanien
23.1 Importgüter Alle Arten der in Germanien übernommenen, eingehandelten oder als Beute mitgeschleppten römischen Sachen werden allgemein in der archäologischen Forschung als Importgüter zusammengefasst.4047 Dabei ist zu unterscheiden zwischen tatsächlich importierten Sachgütern und den Nachahmungen in Metall, Glas und Keramik. Darauf ist schon ausführlicher eingegangen (vgl. S. 443).4048 Um aber von vornherein diese doppelte römische Einflussnahme deutlich zu machen, real importierte Güter und Kopien, führe ich hier einige Beispiele an, die M. Hegewisch zusammengestellt hat. Keramikschalen mit plastischen Rippen bzw. radial angeordneten Kehlen finden sich in Polen, in der Tschechischen und der Slowakischen Republik und entsprechen Glasschalen der sogenannten Typen E(ggers) 181–184. Sichere Metallgefäßnachahmungen gibt es im Elbgermanischen, im Südwesten und in Böhmen. Germanische Faltenbecher nach römischem Vorbild kommen vom Rhein bis zur Weichsel vor. Nachahmungen und Vorbilder nebeneinander zeigen die gewollte Kopie (oben Abb. 41). Das „Schicksal“ römischer Sachen in Germanien wird auch recht unterschiedlich gewesen sein. Lokale Eliten nutzen sie, gaben sie als Geschenke weiter, änderten auch die Verwendung, brauchten sie als Graburnen, indem sie diese vergruben, als Grabbeigaben, und sie versteckten die Sachen in Horten bzw. Depots.4049 Die römischen Importe gelangten nach Germanien in zeitlichen Wellen, nicht kontinuierlich, wie R. Wolters und M. Erdrich beschrieben haben.4050 Bronzegefäße aus der späten römischen Republik gelangten frühzeitig nach Germanien,4051 ebenso auch republikanische Münzen (vgl. S. 567). Auf den Zustrom in Wellen hatten aber auch schon früher H. J. Eggers 1951 und beim Blick auf den römischen Import im Norden U. Lund Hansen hingewiesen.4052 Sie weist auf die römischen Importe speziell der Periode C1b (gegen die Mitte des 3. Jahrhunderts) und die Beziehungen von Seeland mit der Halbinsel Stevns hin, wo die üppig ausgestatteten Fürstengräber wie Himlingøje liegen, nach Jütland und bis Norwegen. Die Rheingrenze wurde durch Donative an „Stammesführer“ ruhig gehalten, Söldner wurden zu verschiedenen Zeiten angeworben, die ihren Sold mit in die Heimat nahmen; zwischen 160 und 170 n. Chr. gab es einen massiven Zustrom römischer Waren und Münzen in die Gebiete zwischen Elbe und Niederrhein, der bis zum Ende der Markomannenkriege unter Commodus (180–192) nachzuweisen ist.4053 Weite Teile Niedersachsens, wo „Fürstengräber“ der HaßlebenLeuna-Phase fehlen, ist auch ein Mangel an römischen Importsachen zu registrieren.
4047 Stupperich 1995; allgemein Erdrich, Voss 2003; jetzt Voss, Wigg-Wolf 2017. 4048 Hegewisch 2005, Karten und Nachahmungn 84 Abb. 2; Stupperich 1997b; Voss 2020b. 4049 Hunter 2013, 15 Fig. 1: Die Befunde in England sind hier nur beispielhaft angemerkt. 4050 R. Wolters 2003a, 141; nach Erdrich 2001a; 2012. 4051 Wielowiejski 1991. 4052 Lund Hansen 1987, 203 Fig. 132. 4053 Moosbauer 2018, 29.
23.1 Importgüter
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Hans-Ulrich Voss, der sich zentral und laufend mit den römischen Objekten und ihrem Stellenwert sowie ihrem Fundzusammenhang in Germanien befasst hat, gibt 2018 einen Überblick mit Abbildungen unter dem Titel „Römer im Barbaricum. Zur Verbreitung ‚römischer‘ Funde jenseits des Limes“.4054 Römischer Schrott, u. a. von Bronzegefäßen, wird beispielhaft aus der Siedlung des 2. bis 4. Jahrhunderts bei Neunheiligen, Unstrut-Hainich-Kreis, Thüringen, gezeigt.4055 Seine Karte der Augenfibeln der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr. bringt die Verbreitung südöstlich der Ostsee, weshalb der Typ „Preußische Nebenserie“ heißt. Dieser Fibeltyp ist in großen Zahlen in der römischen Provinzstadt Augsburg gefunden worden, so dass zu fragen ist, ob es sich dabei überhaupt um ein „germanisches“ Erzeugnis gehandelt hat bzw. ob diese Fibeln nicht vielmehr speziell für den Export ins Innere von Germanien produziert worden sind (vgl. dazu S. 103).4056 Dieser relativ neue Fundkomplex wirft das bisherige Bild der Versorgung Germaniens mit Schmuck um, der aus eigener Produktion oder über Importe bzw. über beide Wege alle Gebiete erreicht hat. Die Bezeichnungen der römischen Sachgüter weisen eine Gerichtetheit und ein Gefälle auf und enthalten damit eine Wertigkeit; so ist eigentlich das CRFB (das Corpus der römischen Funde im europäischen Barbaricum, begonnen in den 1990er Jahren) anachronistisch und geht auf Ideen des 19. Jahrhunderts zurück. Er bezeichnet „europäisches Barbaricum“ als old fashioned. „Aussagen zu historischen Vorgängen sind ohne eine genaue Kenntnis der Objekte und Dinge nicht möglich“, formulieren aber korrekt die Autoren des Sammelwerks. Die Hoffnung, solche Datenbanken würden es erlauben, die neuen Fundmassen zu bewältigen, wird enttäuscht werden, seitdem Metalldetektoren massenhaft eingesetzt werden (vgl. oben und unten S. 94). „Und auch die Art der Fragen und des Umgangs mit den römischen Funden hat sich verändert und zu ganz neuen Aussagen über die Beziehungen zwischen den Gesellschaften diesseits und jenseits des Limes geführt“. Wie und warum gelangten die Sachen nach Germanien. Zuerst sprach man von Handel und Import. Die Waffen in den Opfermooren spiegeln den militärischen Aspekt der Gesellschaft, sie waren in der Hand von Söldnern und kamen als Geschenke nach Germanien. Historisch auswertbar sind die Fundkontexte am Ort, nicht die Herkunft der Objekte, sondern die Einbindung in die Gesellschaft, in bestehende und neue soziale Kontexte, über die es auch Transformationen von Wissen und Praktiken gegeben hat. Was meint denn beispielsweise auch „römisch“, fragt H.-U. Voss, den Produktionsort im Römischen Reich oder in Germanien oder die Machart wie in Haarhausen (vgl. S. 1119). Die genannten Augenfibeln sind eigentlich eine germanische Form, dachte man bisher. Aber nun sind 200 Exemplare in Augsburg / Augusta Vindelicorum gefunden worden, am Produktionsort mit Halbfabrikaten (vgl. oben Abb. 10). Gab es hier eine Produktion speziell für einen
4054 Voss 2018, 50 (Begriffe), 51 f. Zitate. 4055 Nach Voss, Müller-Scheessel (Hrsg.) 2016, 819 Abb. 3. 4056 Nach Maçzyńska 2009 (2011), 26 Abb. 8 Karte; 2004b.
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23 Römische Sachen, Techniken und Sitten in Germanien
Abnehmerkreis in Germanien? Römische Gegenstände werden zumeist als RecyclingMaterial in Siedlungen gefunden; sie waren dann einfach nur Materialressourcen. Die Zierscheiben aus dem Thorsberger Moor (vgl. S. 470) erklären uns heute, dass in Germanien damals auswählt wurde, welche Objekte in die eigene Gesellschaft und in ihre „Kunstvorstellungen“ integrierbar waren. Sie waren römischer Herkunft, wurden aber durch Kunsthandwerker in Germanien verändert. Anderes wiederum wurde entweder ignoriert oder überhaupt nicht übernommen. Es gab sogar Imitationen römischer Münzen, in einer Gesellschaft eigentlich ohne Münzwesen; das ist Gegenstand eines gemeinsamen deutsch-polnischen Forschungsprojektes IMAGMA. Die nachgeahmten Münzen dienten als Schmuckstücke, landeten in Wertdepots und dienten wohl auch „indirekt“ als Zahlungen zwischen Mitgliedern der Eliten in Germanien, nach römischem Vorbild. Außerdem waren sie oft aus anderem Material als die Originale, statt Bronze wurde Gold gewählt (vgl. S. 1200). Die Datierung und Verbreitung der römischen Metallarbeiten des 2. und 3. Jahrhunderts im Römischen Reich und in Germanien, Gefäße, Fibeln, militärische Ausrüstung, Kleingerät und auch Münzen sind gut bekannt.4057 Vielfach sind die „Importe“ jenseits der Grenzen des Imperiums mit Blick unterschiedlich auf ihre Wertschätzung und ihren praktischen Nutzen hin ausgewertet worden.4058 P. S. Wells4059 bringt eine Karte mit schraffierter Zone beiderseits des Limes und geht auf einige Fundorte speziell ein, auf Harsefeld,4060 Hagenow, Putensen, Marwedel, Hankenbostel, Gommern, Haßleben, Großromstedt, alles Gräberfelder mit römischen Gefäßen als Urnen oder als Grabbeigaben, die oben alle beschrieben worden sind; er zeigt auch eine goldplattierte durchbrochene Silberscheibe von Mušov, die den beschriebenen doppelten Aspekt verkörpert. Der Handel aus den römischen Provinzen nach Germanien ist in mehreren Monographien ausführlich geschildert worden (vgl. S. 580).4061 Dafür stehen die Namen Hans Jürgen Eggers, Kazimierz Godłowski und Ulla Lund Hansen. K. Godłowski hat auf die unterschiedlichen geographischen (nicht zeitlichen) Verbreitungsmuster der Objekte hingewiesen, die „Gewellten Eimer“ sind anders verteilt als die Terra Sigillata oder die späten Hemmoorer Eimer.4062 Das liegt zum einen an den unterschiedlichen Produktionszentren im Römischen Reich, in Italien oder im Westen oder Süden, und zum anderen an den verschiedenen Überlieferungsmöglichkeiten in Germanien, nämlich den unterschiedlichen Bestattungs- und Beigabensitten. Darauf wurde schon mehrfach hingewiesen (vgl. S. 610). Lotte Hedeager hat die Abstände von den
4057 Voss, Müller-Scheessel (Hrsg.) 2016. 4058 Wells 2013a, b, c 47 Fig. 1. 4059 Wells 2013c 50 Fig. 2, nach v. Carnap-Bornheim 2002a, 542 fig. C 14. 4060 Laux 1995, 83 Abb. 2 Plan des Gräberfeldes mit den römischen Gefäßen als Urnen. 4061 Eggers 1951; Godłowski 1985; Lund Hansen 1987. 4062 Godłowski 1985, 347 Abb. 1 Gewellte Eimer, 348 Abb. 2 Terra Sigillata, 354 Abb. 5 Hemmoorer Eimer.
23.1 Importgüter
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Grenzen des Römischen Reichs in die Weiten Germaniens mit großen Zirkelschlägen, in Zweihundert-Kilometer-Schritten, dargestellt in Bezug auf die Verteilung der römischen Importe, beschrieben.4063 Michael Erdrich hat besonders die wechselnden Importwellen, also die chronologisch unterschiedlichen Zuströme herausgearbeitet (vgl. S. 595).4064 Was die importierten Bronzegefäße betrifft, so gibt es monographische Arbeiten für die einzelnen modernen Länder, so zu den römischen Importen in Böhmen allgemein,4065 zu den römischen Bronzegefäßen in Böhmen,4066 in der Slowakei schon zur Spätlatènezeit,4067 den Bronze- und Silbergefäßen in Polen.4068 Seit 1994 folgend bis heute werden alle römischen Funde in den erwähnten Corpus-Bänden in Germanien bzw. im europäischen Barbaricum (wie es im Titel des Werkes heißt) publiziert.4069 Dabei wird deutlich, dass Sachgüter aus den römischen Provinzen alle Landschaften zwischen Rhein und Weichsel und weit bis in den Norden erreicht haben, auch wenn in unterschiedlicher Verteilung, Intensität und unterschiedlicher Datierung. Es gibt kein Gebiet, zu dem nicht Verbindungen geführt haben und die nur selten erreicht worden sind. Ob dieser Import auf dem Wege des Handels, als Beute oder als mitgebrachte Objekte erfolgt ist, muss jeweils untersucht werden. Die Zahl der Güter aus Gräbern ist schon länger registriert, hinzukommen jetzt Funde über systematische Prospektionen der Siedlungsgebiete. Schon bei mehrfacher Begehung gepflügter Felder findet man leicht die rot aufscheinende Terra Sigillata-Keramik auf den Ackerböden. Der Einsatz von Metallsuchgeräten hat zusätzlich in den letzten Jahrzehnten das Spektrum von Bronze- und Edelmetallsowie Eisenfragmenten auch in den Siedlungen erheblich erweitert. Diese Metalldetektoren sind zudem Hilfsmittel bei den großflächigen Ausgrabungen von Siedlungen selbst, die verhindern, dass die oft nur schwer erkennbaren kleinen Bruchstücke, die winzigen Fragmente und ebenso die korrodierten Münzen wieder verloren gehen bzw. übersehen und nicht entdeckt werden. Auch dadurch ist der Fundstoff aus den römischen Provinzen in den besiedelten Räumen Germaniens weit vom Rhein entfernt in einer Weise vervielfacht worden, dass zu den Corpusbänden inzwischen Nachträge notwendig geworden sind, und das wird wahrscheinlich in einigen Jahren aufgrund des Fundzuwachses überhaupt nicht mehr in Büchern, nur noch vielleicht in Datenbanken darstellbar sein. Inzwischen gibt es ständig und zunehmend eine Reihe von Regionalstudien zu den römischen Waren in Germanien, beispielsweise im Hellwegraum.4070
4063 Hedeager 1978, 200 Fig. 1; 1987. 4064 Erdrich 2001a; 2014. 4065 Sakař 1970. 4066 Karasová 1998. 4067 Pieta 1996. 4068 Wiełowiejski 1986; 1989. 4069 Corpus 1994–2009 ff.; Voss 2007a zu Aspekten der Fundauswertung. 4070 M. Pieper 2019.
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23 Römische Sachen, Techniken und Sitten in Germanien
So gibt es schon zu den Neufunden römischer Sachgüter in MecklenburgVorpommern einen solchen umfangreichen Nachtrag aus dem Jahr 2007.4071 H.-U. Voss vergleicht – um diese Fundzunahme zu illustrieren – den Import bei den RheinWeser-Germanen zur Zeit von R. v. Uslar vor mehr als 60 Jahren und heute (2013).4072 Die Karte der Terra Sigillata-Funde zeigt Schwerpunktverbreitungsgebiete und zeigt zudem, dass diese Ware nicht überall gefunden wird. Ähnliches gilt für die Bronzegefäße. Ein Histogramm der Mengenverteilung von römischen Sachgütern, von Metallgefäßen, Glas, Terra Sigillata, Schmuck, Militaria, Statuetten und Mühlsteinen aus Basalt4073 findet man im Katalog der CFRB-Lieferungen in den Zusammenstellungen unter D 1–7 und dazu D 3 (Abb. 86).
Abb. 86: Histogramm zu den Anteilen römischer Importsachen im Fundbestand in Germanien, von Metallgefäßen über Glas bis zu Statuetten.
4071 Voss 2006 (2007). 4072 Voss 2013, 203 Abb. 4 nach Berke 1990, Beilage 2. 4073 Voss 2013, 205 Abb. 6.
23.1 Importgüter
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Nun sollte bei diesem gewachsenen Fundbestand zweierlei bedacht werden. Der Eindruck, dass der römische Einfluss auf die germanischen Siedlungsgebiete größer gewesen zu sein scheint als bisher angenommen, täuscht jedoch. Denn es liegt einerseits an der intensivierten Prospektion und schließlich auch an der Erfassung in einem Corpus-Werk, andererseits haben aber parallel dazu auch die einheimischen Metallfunde zahlenmäßig zugenommen. Doch das Positive ist ein insgesamt erweiterter Bestand an Sachgütern, der kulturgeschichtlich ausgewertet werden kann. Die im Abschnitt zur Siedlungsweise erläuterte dichte Besiedlung der Landschaften wird auch durch diese neuen Prospektionsmethoden bestätigt und damit werden eine weit stärkere und intensivere Erfassung des Raumes und damit höhere Bevölkerungszahlen bezeugt als bisher vermutet. Welche neuen Facetten kommen also hinzu? Da bisher im Wesentlichen römische Sachgüter aus Gräberfeldern registriert worden sind, hat sich nun gezeigt, dass gerade auch in den Siedlungen derartiges Fundmaterial zu entdecken ist. Es wird aber auch betont, wie relativ sporadisch bzw. gering der Fundanteil – was zu wenig beachtet wird – gegenüber der einheimischen Ausstattung war, und dass beispielsweise Bronzeschrott als Hinweis auf heimische Weiterverarbeitung zu betrachten ist. Römische Vorbildwirkung wird regelmäßig angenommen. So heißt es, dass eiserne Pflugscharen und Seche im 3./4. Jahrhundert aufgrund römischen Einflusses aufgekommen, aber durchaus heimisch hergestellt worden seien, was jedoch keineswegs der Fall ist (vgl. oben S. 411), sondern diese Gerätschaften wurden unabhängig von Rom seit längerem in eigenen Schmieden hergestellt. Was den Hakenpflug angeht, der in den älteren Epochen in Germanien als primitives Werkzeug gegenüber den Wendepflug, der seit dem 2. Jahrhundert aber auch in Germanien nachgewiesen ist, eingesetzt wurde, so sollte man von Wertungen absehen. Hakenpflüge lockern den Boden und verhindern gleichzeitig zu starke Austrocknung, während der Wendepflug die Bodenstruktur zerstören kann. In der Gegenwart wird nach dem schädlichen Einsatz der Tiefpflüge wieder auf einen Art Hakenpflug zurückgegriffen. Außerdem zeigt sich gerade durch die Zunahme der Funde römischer Provenienz, dass einerseits der Zustrom in Wellen erfolgt ist – Münzen beispielsweise vor allem der antoninischen Dynastie von 138 bis 192 n. Chr. – und andererseits landschaftlich sehr unterschiedlich verteilt erscheint. Letzteres kann einerseits tatsächlich am verschiedenen Zustrom liegen, andererseits aber vor allem an den differierenden Grabsitten (vgl. S. 610). Erst die Siedlungsfunde erlauben da eine unabhängige Entscheidung, wie die Kartenbilder zu interpretieren sind; da hier der Filter der Bestattungssitten nicht wirkt. Die jüngste Zusammenstellung 2006 hat gezeigt, wie unterschiedlich das Typenspektrum von römischen Bronze- und Silbergefäßen bzw. deren Reste zwischen Mecklenburg und Vorpommern beispielsweise ist;4074 anscheinend tendierte der Westen zur elbgermanischen „Kultur“, während der östliche Bereich Kontakte
4074 Voss 2006 (2007) b, Abb. 5 und 6.
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23 Römische Sachen, Techniken und Sitten in Germanien
zur Wielbark-Kultur spüren lässt. Eine Kartierung der Münzen und der Terra SigillataScherben zwischen Ostsee und Thüringer Wald zeigt zweierlei:4075 Massiv haben die Münzfunde in Siedlungen im letzten Jahrzehnt zugenommen und neben einer weiten Streuung eine auffällige Massierung beispielsweise westlich der Elbe in der Altmark erkennen lassen, während Terra Sigillata-Scherben in Thüringen sowohl in Gräbern als auch in Siedlungen leicht erkennbar vorkommen. Schon immer war aufgefallen, dass bestimmte Typen römischer Glasbecher gehäuft auf der dänischen Insel Seeland als Grabbeigaben entdeckt werden und östlich der Weichselmündung, was zu allerlei Überlegungen über den Zusammenhang geführt hat. Die unterschiedliche zeitliche Verteilung von Hemmoorer Eimern und anderer römischer Bronzegefäße (als Urnen verwendet) östlich der Weser nahe der Elbe und westlich der Weser in den Stufen A und B der vorrömischen und Römischen Kaiserzeit habe ich geschildert (vgl. S. 861).4076 Römische Soldaten-Fibeln wurden nicht erst durch die Söldner im 3. bis 5. Jahrhundert nach Germanien gebracht (die Bügelknopf- und Zwiebelknopffibeln vom Offiziersmantel), sondern von Beginn an seit der augusteischen Zeit (z. B. die sogenannten Augenfibeln) (vgl. S. 103). Man übernahm Mode, auch ohne damit sich gleich als aus römischem Dienst zurückgekehrte Söldner erweisen zu wollen. Andererseits kommen längs der Marschwege der Legionen gerade römische Militaria im germanischen Fundkontext kaum vor. Die Katalogisierung der Funde römischer Herkunft zwischen Ostsee und Thüringer Wald, so Hans-Ulrich Voss, bietet neue Bewertungszugänge zu den Beziehungen aus den römischen Provinzen hin zur Bevölkerung in Germanien, zumal nach den bisher vorherrschenden Funden aus Gräbern jetzt das Material aus den „sprunghaft angestiegenen Untersuchungen in Siedlungen des 1. bis 5. Jahrhunderts“ dazukommt.4077 Es ist die Frage nach der Rolle der römischen Sachgüter im alltäglichen Leben, nicht nur bei der Bestattung, bei denen die Gräber der Elite das Bild bestimmen, sondern auch bei der normalen Bewohnerschaft. Es gibt anscheinend große Unterschiede zwischen den Gebieten östlich und westlich der Elbe, was die Zahl der Funde und der Fundstellen angeht. Auch H.-U. Voss sieht wieder den Zusammenhang zwischen Perioden friedlicher Koexistenz mit dem Imperium Romanum und Phasen militärischer Auseinandersetzung, also mit der Ereignisgeschichte. Weiter oben wurde schon darauf hingewiesen, dass die Fundverteilung während der vorrömischen Eisenzeit der Stufe A3 (10 v.- 20 n. Chr.) mit den Germanenfeldzüge des Drusus und die der Stufe B2b/C1 (um 180 n. Chr.) mit den Markomannenkriegen zusammenzuhängen scheint und dass die jeweils höchsten Ausschlägen in der Anzahl der Waffengräber damit übereinstimmen. H.-U. Voss meint 4075 Voss 2006 (2007) b, 59 Abb. 3. 4076 Raddatz 1976, 38 und 39 Abb. 9 und 10. 4077 Voss 2006 (2007) b, 65 und 102 mit Karte zu den Wanderungen, 103 Zunahme der wirtschaftlichen Kraft.
23.1 Importgüter
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außerdem, die Wanderungen der verschiedenen Stämme (die ich eher als Kriegerverbände bezeichne), der Wielbark-Kultur bzw. der Goten, der Przeworsk-Kultur bzw. der Vandalen, auch an den Importen ablesen zu können. Das 2. Jahrhundert, vor allem die zweite Hälfte des Jahrhunderts, war in Germanien gekennzeichnet durch Anstieg des ökonomischen und zivilisatorischen Niveaus. Auch das Handwerk expandierte im Umfang, die Schmiedetechniken nahmen zu und ebenso die zahlreichen Werkstattzentren für Eisengewinnung, so im Elbe- und Odergebiet (vgl. dazu oben S. 444). Stetig werden die römischen Funde in Germanien durch die Wissenschaft vordringlich aus der Sicht des Römischen Reichs betrachtet, wie weit jeweils eine „Romanisierung“ schon fortgeschritten gewesen sein mag. Man sollte sich aber auch einmal überlegen, wie wohl die Bevölkerung Germaniens selbst über diese Sachgüter gedacht hat. Ob als Beute oder über den Handel gewonnen, spielten diese Dinge eine gewisse Rolle im alltäglichen Leben. Sie waren aber nach Zahl und Umfang immer nur eine leichte Ergänzung des Gesamtbestandes ihrer Ausstattung. Man fand es chic, auch derartige Luxusgüter zu haben, war aber nicht darauf angewiesen. Vielmehr zeigt sich, dass in Germanien überwiegend bei den eigenen traditionellen Vorstellungen geblieben wurde. Das betrifft den Hausbau und die Wirtschaftsweise ebenso, wie die Versorgung mit Sachgütern. Darauf weise ich im Verlauf der Darstellung regelmäßig hin. An Hand der römischen Taschenbeschläge als eigentlich nebensächliches Importgut in den Weiten Germaniens werden unterschiedliche Überlegungen angestellt (zu Gürteltaschen auch oben S. 583). Der Fund eines solchen Beschlags belegt beispielsweise die Fortexistenz des Zentralplatzes Gąski-Wierzbiczany in Zentralpolen.4078 Es gibt demnach eine Kontinuität nach dem Verschwinden der Przeworsk-Kultur in den Siedlungen der vorrömischen und römischen Perioden; sie existieren weiter bis ins 7. Jahrhundert. Die Taschenbeschläge datieren in die zweite Hälfte des 4. und in den Beginn des 5. Jahrhunderts, also in die Übergangsperiode zur Völkerwanderungszeit. Sie kommen von der Nachbarschaft der römischen Reichsgrenze, dem Limes, von raetischen Militärlagern bis Ostdeutschland und Böhmen sowie Polen vor, von der Weser bis weit in den Osten, sogar bei Rjazan in Russland.4079 An der südöstlichen und östlichen Peripherie Europas waren sie Teil der Kriegerausstattung. Die Literatur zu diesen Taschen ist beachtlich umfangreich,4080 womit gezeigt wird, was aus scheinbar randlichen Sachgütern doch kulturgeschichtlich herausgeholt werden kann. Man betrachtet die importierten Funde als Beleg für die ständige Beobachtung der Landschaften vor dem Limes durch die römische Politik und das römische Heer, als Kontrolle dieser Zone. Man sollte einmal aus Germanien gegen Rom blicken. Was 4078 Kontny, Rudnicky (2016) 2017, 309 Fig. 1 Rekonstruktion der Tasche bzw. der Verschlüsse; 2016 (2017) 315 Verbreitungskarte nach Schuster 2017b. 4079 Schuster 2017b; Schulze 1982, Fig. 3–4. 4080 Adamsen et al. 2009; Bemmann 2007a; Schmidt 2012; Schulze 1982; Schuster 2017b; Tejral 1999a mehrfach.
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23 Römische Sachen, Techniken und Sitten in Germanien
konnte man tun, wie kann man die ständigen Einfälle in die eigenen Siedlungsgebiete verhindern, die manche römischen Anführer und Kaiser zur Bestätigung ihrer persönlichen Leistungen für ihren Ruhm in Rom brauchten, wie J. F. Drinkwater nachdrücklich gezeigt hat. Es gibt beispielsweise einen Bruch im Zustrom römischer Sachgüter gegen Ende des 3. und am Anfang des 4. Jahrhunderts n. Chr. Das betrifft Münzen und Terra Sigillata-Keramik, aber auch Fibeln, Geschirr und Ausrüstungsgegenstände. Das geschieht anscheinend nach dem Zusammenbruch des Gallischen Sonderreichs 274. Reste von Metallgefäßen sind immer Hinweis auf Buntmetall- und Silberverarbeitung, Glasscherben waren ebenfalls Rohstoff für Perlenherstellung. Die Analyse der Zusammensetzungen von verschiedenen Kupfer- oder auch Messinglegierungen der einheimischen Produkte zeigt ihre Herkunft aus eingeschmolzenen römischen Sachen. So scheint es doch, dass bei einem größeren Anteil der Bevölkerung in Germanien der Gebrauch bzw. der Zugang zu römischen Erzeugnissen zum Alltag gehörte. Die Einrichtung und die Produktionsmenge der Haarhausener Töpferöfen im späten 3. Jahrhundert belegen den „relativen Wohlstand der Bevölkerung“, nachgewiesen in einem weiten Bereich im Umkreis als Grabbeigabe in Thüringen. Diskutiert wurde, ob römische Töpfer freiwillig oder als Kriegsgefangene diese „Industrieanlage“ ausgebaut und betrieben haben, oder ob einheimische Handwerker das inzwischen auch selbst konnten (vgl. S. 1119). Römischer Einfluss ist damit belegt, ob das aber schon als Romanisierung bezeichnet und historisch gleich in Zusammenhang mit den guten Beziehungen der Hermunduren zu Rom (Tacitus, Germania c. 41) gebracht werden sollte, bleibt eine Ermessensfrage. Manchmal wird vom „Sog“ der römischen Reichtümer gesprochen, womit gemeint ist, dass einerseits die römischen Provinzen zu Beutezügen anregten, um diese begehrten Sachgüter zu erobern, und dass andererseits auch römische Kaufleute mit diesen Objekten lukrativen Handel treiben konnten. Nicht wenige römische Bronzegefäße, die in Germanien gefunden worden sind, als Urnen oder auch als Grabbeigaben in Körpergräbern, sind sogar mehrfach geflickt worden. Das geschah kaum durch germanische Handwerker, vielmehr wurden diese Gefäße als „ausgesondertes“ Altmaterial aus den eigenen Haushalten als immer noch begehrte Objekte ins ferne Germanien verhandelt. Man betrachte die germanische Gießereiwerkstatt in Pasohlávky bei Břeclav, die J. Tejral über die Fernhandels- und Kulturbeziehungen für die Zeit nach den Markomannenkriegen publiziert hat.4081 In einer Grubenhütte, die als Gießereiwerkstatt gedient hat, wurden Fibelgussformen ausgegraben, und zwar für sogenannte Fibeln mit hohem Nadelhalter. Solche Fibeln kommen aus dieser Werkstatt in Böhmen weit gestreut bis an die Weichselmündung vor. Ein vergleichbarer Fall wurde für eine
4081 Tejral 2006, 143 Abb. 1 Karte der Fibeln mit hohem Nadelhalter, 154 Abb. 25 Karte der Bronzegefäße B2/C1.
23.1 Importgüter
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Fibelwerkstatt in Augsburg beschrieben (vgl. S. 103) (vgl. oben Abb. 10). Im Gegensatz zu jener Werkstatt in provinzialrömischem Gebiet hat diese Werkstatt bei Břeclav auf germanischen Boden gearbeitet. Der Autor meint, dass in den Lagerkastellen nördlich der Donau die March von Brigetio an aufwärts Sachgüter der Wielbark- und Przeworsk-Kultur nach Süden transportiert gefunden werden, Fibeltypen und Bronzesporen, und dass in Gegenrichtung Bronzegefäße des „Importhorizontes“ B2/C1 (zweite Hälfte 2. Jahrhundert / erste Hälfte 3. Jahrhundert) bis nach Polen und an die Ostseeküste gelangt sind. Wie ist nun die Werkstatt von Břeclav einzuordnen: War es eine von römischen Handwerkern organisierter Betrieb zur Versorgung germanischer Leute über den Handel mit den Fibeln, oder haben germanische Handwerker auf der Fernhandelsachse diese Schmucktypen produziert? Sogar römische Militärdiplome aus Bronze wurden außerhalb des Imperiums gefunden, beispielsweise in der Ukraine. War das nur erbeuteter Rohstoff oder möglicherweise der Beleg, dass Söldner nach langem Dienst in die Heimat mit dieser Urkunde im Gepäck zurückgekehrt sind?4082 Da diese Diplome oft fragmentiert gefunden werden, haben sie jedenfalls schließlich als Rohstoff zur Weiterverarbeitung gedient. Tongefäße, Keramik, gehörten zur alltäglichen Ausstattung aller Haushalte auch in Germanien der ersten Jahrhunderte n. Chr. Sie wurden freihandgeformt seit Jahrhunderten, doch die Drehscheibe wurde ebenfalls frühzeitig übernommen, noch während der vorrömischen Eisenzeit in manchen Landschaften, und eingeführt, zuerst aus dem keltischen Milieu, dann von römischen Werkstätten. Neben den auffälligen Produktionen der Gefäßformen nach römischem Vorbild wie in Haarhausen in Thüringen gab es auch sonst in mehreren Gebieten Mitteleuropas Werkstätten, die Drehscheibenware herstellten. Darauf wird in einem späteren Abschnitt eingegangen.
23.1.1 Waffen Römische Schwertklingen machen zwar die Mehrheit in den Heeresausrüstungsopfern in Jütland oder auch als Grabbeigaben in zentralen polnischen Gebieten aus, aber man strebte auch in den eigenen Waffenschmieden eine vergleichbare Qualität an. Wie auf den Schwertern römischer Provenienz am Oberteil der Klinge eingelegte Werkstattzeichen, zum Beispiel Victoria-Figuren, zu sehen sind, waren in heimischen Klingen ähnliche Zeichen eingefügt worden, gewissermaßen um Qualität anzuzeigen.4083 Lanzenspitzen wurden im östlichen Mitteleuropa während der jüngeren Kaiserzeit mit runenartigen Zeichen versehen.4084 Die einheimische Herstellung von
4082 Kolendo 2010. 4083 Biborski 2004; Biborski, Kaczanowsaki (†), Stępiński 2015. 4084 Hachmann 1993.
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23 Römische Sachen, Techniken und Sitten in Germanien
Schwertern ist inzwischen nachgewiesen, es gibt beweisbar zu erkennen nicht importierte römische Klingen. Die Ergebnisse der Metallanalysen dieser Schwerter von einigen Fundplätzen der Przeworsk-Kultur haben das gezeigt. Wie bei der Drehscheibenkeramik oder auch bei bestimmten Schmucksachen, für die spezielle technische Verfahren nötig waren, könnte man zudem daran denken, dass römische Handwerker, freiwillig oder als Gefangene, in Germanien für die dortige Bevölkerung bei der Waffenproduktion gearbeitet haben. Auch das Zubehör zu den Schwertern, nämlich die Dosenortbänder, sind mehrfach nach römischen Vorbildern imitiert worden, datiert in die jüngere und späte römische Kaiserzeit;4085 man findet sie beispielsweise in den Waffenausrüstungsopfern in Jütland. Die Kartierung derartiger Dosenortbänder zeigt im Übrigen außerdem zahlreiche Imitationen im westlichen Norwegen, während sonst Originale in Germanien vorkommen. Ein Kapitel bei M. Biborski und M. Grygiel befasst sich allgemein mit römischer Militärausrüstung, die ins Barbaricum importiert worden ist. Die Objekte streuen in der Verbreitung bis zur Weichsel, mit einem Schwerpunkt wiederum in Jütland. Dabei ist das nicht nur Ergebnis von kriegerischen Konflikten, sondern auch von normalem Austausch, was denn zu den Imitationen geführt hat. Die Dosenortbänder zu den Spathas des 3. Jahrhunderts waren aus Silber, Bronze, Eisen, Knochen und Elfenbein, also teils aus wertvollem Material.4086 Die Waffen in den großen Kriegsausrüstungsopfern, beispielsweise Lanzenspitzen, Pfeilspitzen und sonstiges Zubehör sind normiert hergestellt worden, was nicht nur (dazu oben S. 708) dazu gedient hat, die Herkunftsgebiete der Kriegereinheiten, deren Waffen versenkt wurden, zu rekonstruieren, sondern es ist auch davon auszugehen, dass diese Waffen in zentralen Waffenfabriken hergestellt worden sind. Sonst wäre die Gleichartigkeit, also eine Normierung, nicht zu erklären: An den Höfen der Gefolgschaftsführer, der Kriegsherren, produziert, wurden diese an das Kriegergefolge verteilt, d. h. nicht jeder Krieger besorgte sich seine eigene Ausrüstung selbst, sondern die Verbände wurden einheitlich mit Waffen ausgerüstet.
23.1.2 Feinschmiedetechniken Römische Einflüsse im germanischen Feinschmiedehandwerk sind ohne Zweifel erkennbar.4087 In erster Linie wird für dieses Handwerk postuliert, dass Kriegsgefangene aus den römischen Provinzen und römische Handwerker in Germanien die Techniken und Verfahrensweisen mitgebracht haben, oder zurückkehrende Söldner 4085 Biborski, Grygiel 2015 (2016); Skorá, Żabiński, Miśta-Jakubowska 2019, 454: Analysiert wurden Waffen, die als hochqualifiziert erkannt worden sind, alle der Przworsk-Kultur zuweisbaren Waffen waren lokale Erzeugnisse (Schwert und Lanzenspitzen). 4086 Biborski, Grygiel 2015 (2016) 154/155 Fig. 16 und 17 mit der Karte zum 2./3. Jahrhundert. 4087 Voss 2008a.
23.1 Importgüter
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haben die Kenntnis der Techniken mit in die Heimat genommen.4088 Doch haben einheimische Handwerker in Germanien die verschiedenen Techniken der Goldschmiede erlernt und beherrscht (vgl. oben S. 477). Nicht jedes komplizierte technische Verfahren verweist ein Objekt in römische Werkstätten. Unterschätzt wird, wie viele handwerkliche Kenntnisse seit langen in Germanien verbreitet waren. Hans-Ulrich Voss spricht von römischen Einflüssen, vom Weg, wie Verfahren übernommen worden sein können und wohl auch wurden. Die verschiedenen Techniken und Verfahren, die bei der Schmuckherstellung aus Edel- und Buntmetall angewendet worden sind, wurden oben beschrieben (S. 480). Es hat sich gezeigt, dass auch die kompliziertesten Verfahren schon um Chr. Geb.in Germanien bekannt waren und angewendet worden sind, beispielsweise Filigran- und Granulation-Technik. M. Becker weist auf den „verborgenen römischen Import“ hin, der eben nicht nur direkt erfasst werden kann über Werkstattabfälle aus römischem Schrott, umgearbeitete römische Objekte, eingekreuzte Rinder, Messer mit Olivenholzgriff, Koriander in Brunnen, sondern er meint, dass dies auch indirekt durch bestimmte handwerkliche Techniken zu erkennen sei. Das sind beispielsweise Farbreste, Zinnoberrot und Ägyptischblau, als importierte Farben und die mit Lot gefüllten Pressbleche in der Vogelkopfverzierung am Schild von Gommern.4089 Auch sonst waren Schilde in Germanien oftmals bemalt, wie die Moorfunde belegen. Ich habe jedoch darauf hingewiesen, dass ein Lötkolben unter den Kriegsausrüstungsopfern vorkommt und damit das Löten in der germanischen Kriegergesellschaft bezeugt. In römischen Provinzialmanufakturen wurden Militärgürtel mit ihren Metallbeschlägen, teils aus Edelmetall, hergestellt, an denen germanische Einflüsse zu erkennen sind. Komplette Gürtel lagen in Körper- und Brandgräbern in den Donauprovinzen von der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts an, verbunden mit der Adaption germanischer Grabsitten; Hinweis auf die Rekrutierung von Germanen für die römische Armee. Im 3. Jahrhundert sind zu den Silberbeschlägen Gürtel mit Goldbeschlägen aufgekommen, ein Resultat der Adaption barbarischer Techniken, Wandel der Gürtelmode vom 3. zum 4. Jahrhundert.4090 Auf die ebenfalls nachgeahmten Metallbeschläge von Kriegergürteln des 4./5. Jahrhunderts, die längs des Limes, aber auch jenseits des Rheins und der Donau in Germanien gefunden worden sind, gehe noch ein (vgl. S. 1142). Diskutiert wird, ob sogenannte bronzene Spiralplattenfibeln der spätrömischen Kaiserzeit bzw. des früheren 5. Jahrhunderts germanisch waren oder – im Zusammenhang mit Zwiebelknopffibeln als Vorbild – römisch sein können. Die Kartierung dieser Typen zeigt ein häufiges Vorkommen zwischen Main und Donau, aber auch Fundstellen bis an die Weichsel. Es sind meist Kleinigkeiten an der Form, die zur
4088 Bursche 2008a, 99. 4089 M. Becker 2011, 53 Abb. 2 Zinnoberrot und Ägyptischblau, 54 Abb. Lot. 4090 Th. Fischer 2013a.
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Beschreibung herangezogen werden, um die Frage der Vorbilder und damit der Herleitung zu beantworten. Diese silbernen Militärfibeln sind ebenso wie die bronzene Militärgürtelgarnituren (vgl. S. 1141) Rangabzeichen germanischer Männer, die in der Mitte des 5. Jahrhunderts als Söldner im römischen Heer gedient haben.4091 Schon früher wurde gefragt, ob die Armbrust- und Bügelknopffibeln des 5. Jahrhunderts westlich des Rheins und südlich der Donau nun römisch oder germanisch gewesen sind.4092 Die geringen Details, die zur Unterscheidung und Typenbeschreibung ausgewählt werden, helfen zwar bei der Datierung der Stücke und wohl auch bei der Beschreibung der Rolle in Rahmen der Männerkleidung (und manchmal auch in der Kleidung der Frauen), aber eigentlich handelt es sich doch um recht geringe Anzahlen, die ohne Kenntnis der Werkstätten sicherlich überinterpretiert werden. Ein Werkstattfund wie der von Augsburg mit mehr als 200 Objekten eines Typs lässt ahnen, ab wann man sich an weitergehende Deutungen und Bewertungen wagen sollte (vgl. oben Abb. 10). Mit Sicherheit sind jedenfalls Emailscheibenfibeln und wohl auch Kniefibeln aus dem Römischen nach Germanien gelangt. S. Thomas konnte 1967 erst 144 Emailfibeln aus ganz Germanien aufführen, während es heute über 250 Stück allein aus Mitteleuropa sind, datiert vor allem in die Phasen B2b-C1a (zweite Hälfte 2. bis Beginn 3. Jahrhundert). Pannonische Kniefibeln finden sich vor allem in Mähren und die Elbe abwärts.4093 Emailverzierte Sachgüter römischer Herkunft des 1. bis 3. Jahrhunderts erreichten auch das Ostbaltikum.4094
23.1.3 Keramik In fast allen friesischen Terpen bzw. Wurten, in mehr als 174 Plätzen, wurden Scherben von Terra Sigillata gefunden, die an diese Orte über Nahhandel gekommen sein werden.4095 Denn nur kurze Jahrzehnte, von 12 v. Chr. bis 28 n. Chr. war Friesland selbst in das Römische Reich eingegliedert, ehe dann Kaiser Claudius 47 n. Chr. den Rhein als neue Grenze bestimmte. Die Zahl beträgt mehrere tausend Bruchstücke, in manchen Wurten wurden mehrere hundert Stücke gefunden. Aus der frühen Phase um Chr. Geb. bis etwa 55 n. Chr. stammen nur wenige Scherben, die meisten gehören erst in die Phasen des fortgeschrittenen 2. und der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts, von etwa 150 bis 255 mit einem Gipfel von 220 bis 235 (95 %). Mittelgallische reliefverzierte Sigillaten der zweiten Hälfte des 2. Jahrhundert findet sich massiert an der Nordseeküste und ebenso von Carnuntum bis zur Weichselmündung.4096 Im 2. und 4091 Schulze-Dörrlamm 2000. 4092 Schulze-Dörrlamm 1986. 4093 Mączyńska 2016, 455 ff. Abb. 2–4 Karten der Emailfibeln, 460 Abb. 7 Pannonische Kniefibeln. 4094 Nowakowski 2016, 465 Abb. 1 Karte mit 27 Nr. 4095 Volkers, Polak 2015/2016, 237 Abb. 1 Karten der Wurten mit Terra Sigillata. 4096 Erdrich 2009, 164 Abb. 2 Karte.
23.1 Importgüter
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3. Jahrhundert gibt es höhere Fundzahlen, die aber keinem gelenkten, organisierten Vertrieb zu entsprechen scheinen. Ausgewählt wurden Gefäßformen, die dem einheimischen Bestand entsprachen. Der Vertrieb bei Grenzüberschreitungen und auf Fernwegen wie dem Hellweg oder der Bernsteinstraße beschreiben die innergermanische Mobilität. Nina Schücker hat 3400 Relief-Sigillata von 980 Fundorten gesammelt und kartiert, die überwiegend in die zweite Hälfte des 2. und in die ersten beiden Drittel des 3. Jahrhunderts zu datieren sind. Sie sind aus dem Römischen Reich nach Germanien gelangt, doch auch dort innerhalb des Landes verteilt worden (oben Abb. 54).4097 Die Verbreitung zeigt gewisse Schwerpunkte, so in Deutschland bis zur Elbe, dann im heutigen Polen bis zur Weichsel, in Böhmen, Mähren, der Slowakei und Pannonien. Weitere Karten differenzieren: Die meisten Funde stammen aus Siedlungen, in Polen aber aus Gräbern. Das spiegelt den Forschungsstand, da dort noch weniger Flächengrabungen in Siedlungen erfolgt sind. Unterschiedlich verbreitet sind auch die Sigillaten aus den verschiedenen Herkunftsgebieten: Aus Süd-, Mittel- und Ostgallien, aus Trierer Werkstätten und Rheinzabern. Letztere erreichten alle Gebiete in Germanien, während Sigillata aus Westerndorf und Pfaffenhofen sichtlich aus dem Süden von der Donau aus nach Norden gelangt sind bis zur Weichsel. Auf polnischem (pommerschen) Gebiet gab es denn ebenfalls nicht wenige Terra Sigillata, die gesondert beschrieben worden ist.4098 Später kommen einige Scherben der sog. Argonnen-Sigillata auch aus dem 4./5. Jahrhundert vor. Auffällig ist, dass einige Scherben durchbohrt waren und als Anhänger oder Spielsteine gedient haben, was die besondere Wertschätzung spiegelt.4099 Ähnlich dicht ist auch die Verbreitung der Terra Sigillata-Scherben in den östlichen Bundesländern (schon 1998 kartiert)4100 und in Böhmen.4101 Spätrömische Terra Nigra-Fußgefäße und Schüsseln des 4. und 5. Jahrhunderts kommen im Rheingebiet und ebenso in Westfalen vor, und zwar wurde diese Ware in verschiedenen größeren Töpfereien hergestellt. Das sei, so die Autoren, ein Zeichen für die Hybridisierung der Gesellschaft beiderseits der Rheingrenze.4102 Römische Amphoren, die Einweg-Verpackungen jener Epoche, kommen nur sehr selten in Germanien vor, weil man den Inhalt anscheinend nicht gebrauchen konnte. Römische Töpfereien in Mainz beispielsweise produzierten Drehscheibenkeramik in allen dort herausgearbeiteten Zeitstufen von 1 bis 9, von 30/20 v. Chr. bis 280 n. Chr. Geschirrhändler und Großhändler (negiotiatores artis cretariae) werden in die Nachbarlandschaften ihre Waren geliefert haben.4103
4097 Schücker 2016, 51 Abb. 2 Gesamtkartierung. 4098 Tyszler 1999; 2017. 4099 Volkers, Polak 2015/2016, 309 Abb. 21 Datierungen in Histogrammen. 4100 Laser 1998. 4101 Halama 2007. 4102 v.Thienen, Agricola, Stilborg, Heeren 2017, 92 Fig. 7 Karte. 4103 Heising 2007, 225 Händler.
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23 Römische Sachen, Techniken und Sitten in Germanien
Handwerker in Germanien haben römische Metallgefäße, Glasgefäße und Tongefäße nachgeahmt, wenn sie keine Originale bekommen konnten oder wollten. Es widersprach jedenfalls nicht dem Formempfinden der Bewohner Germaniens, bestimmte ausgewählte römische Formen zu kopieren (vgl. oben S. 443).4104 Zuerst ging es um Technologietransfer und Professionalisierung im Zuge der erweiterten und intensivierten Einführung der Drehscheibentöpferei in Germanien.4105 Die Drehscheibe zur Herstellung von Keramikgefäßen, die man in manchen Gebieten Mitteleuropas schon während der Vorrömischen Eisenzeit kannte und einsetzte, wurde nun in den Jahrhunderten nach Chr. Geb. – vielleicht aus dem Römischen Reich übernommen, aber u. U. hat man auch alte Traditionen wieder aufgegriffen – häufiger benutzt, und dann ahmte man auch bald römische Formen nach.4106 Der Beginn der Produktion von Drehscheibenkeramik setzte im östlichen Germanien früher als im Westen ein. Die Formen und die Verzierung waren bei der Drehscheibenkeramik anders als bei der handgeformten Ware und beides wurde beziehungslos nebeneinander verwendet. Was war der Grund dafür? Diese Keramik gehört in die jüngere Römische Kaiserzeit und in die Völkerwanderungszeit. Sie kommt in den Gebieten um Hannover, Braunschweig und Osnabrück vor, außerdem im nördlichen und im mitteldeutschen Raum. Eine beachtliche Formenvielfalt gab es, um 300 wurden neue Produkte entwickelt, so im Osten in C1a (um 200). Das Ziel der Werkstätten scheint gewesen zu sein, diese Drehscheibenware an einen elitär geprägten Bevölkerungskreis zu veräußern, wie sie in der Gräbergruppe von Haßleben-Leuna und anderen ähnlichen Bestattungen als Beigaben schon verwendet wurden. Die niederschlesischen Töpferöfen produzierten zwei Gruppen qualitätsvoller Keramik und eine dritte weniger qualitätsvolle Ware mit geringeren Drehspuren. Es gibt keine Übergänge von der freihandgeformten Keramik zur Drehscheibenware. Die neue technische Einführung war ein Prozess, die ersten Gefäße waren schlicht, ehe dann komplexere Formen entwickelt wurden. Für den mährisch-slowakischen Raum ist der Einfluss der provinzialrömischen Töpfertradition direkt zu spüren. Die Untersuchungen und Darstellungen zur Einführung und weiteren Ausbildung der Drehscheibenkeramik in Germanien sind höchst vielfältig und müssen hier nicht im Einzelnen referiert werden, Literaturhinweise sollen genügen. Es geht um die Anfänge der germanischen Drehscheibenkeramik im Westen der Germania magna, um die Weiterentwicklung und Verbreitung,4107 um Drehscheibenkeramik im Gebiet von der Mittelelbe bis zur Oder,4108 um die Chronologie der Drehscheibenkeramik in
4104 Hegewisch 2005, 84 Abb. 2 Kopien; 2005 (2006); 2011. 4105 Bemmann, Hegewisch, Meyer, Schauder (Hrsg.) 2011. 4106 Hegewisch 2008, 68 Karte. 4107 Hegewisch 2008; 2011. 4108 Schuster 2011b.
23.1 Importgüter
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der Przeworsk-Kultur,4109 um die frühere Drehscheibenware der Spätlatène- und frühesten Kaiserzeit in Böhmen und Mitteleuropa,4110 um die Drehscheibenkeramik in Mähren.4111 Mehrere Sammelpublikationen nach Tagungen haben sich dem Thema ausführlich gewidmet, so 2011 der Drehscheibentöpferei in Germanien mit Blick auf den möglichen Technologietransfer und die Professionalisierung dieses Handwerkszweigs außerhalb des Römisches Reichs, nicht nur am Rande zum Römischen Reich, nämlich in ganz Germanien.4112 Drehscheibenkeramik schafft höhere Qualität, eine andere Formenvielfalt und in kürzerer Zeit größere Mengen an Gefäßen, als die freihandgetöpferte Ware ermöglicht. Diese, so vermutet man, wurde in der Regel in den Siedlungen selbst, in einzelnen Haushalten, von Frauen hergestellt. Weil das in ethnologischen Bereichen vielfach so noch in der Gegenwart beobachtet werden kann, stellt man sich das auch für das Altertum in Germanien vor. Die Produktion von Drehscheibenware, verbunden mit komplexer aufgebauten Töpferöfen, wirkt „ranghöher“, und für dieses Handwerk wird dann aufgrund der Spezialisierung eine andere Organisation erwartet. Die Produktionsmengen werden als umfangreicher betrachtet, die nicht nur für die einzelne Siedlungsgemeinschaft gedacht waren, sondern auch für einen Handel im weiteren Umkreis. Daher wird von Professionalisierung gesprochen. Es ist nicht einfach, beim Nachweis von Drehscheibentöpfereien an einem Ort auch den Versorgungsbereich im näheren und weiteren Umfeld zu erkennen, aufgrund der Verbreitung von identifizierbaren Topfformen. Aber für die gesamte Germania sind die Verfahrensweisen bis zur Ofenkonstruktion bekannt. Die Strahlkraft des römischen Raumes vermittelte diese Kenntnisse. Das Töpfereizentrum von Haarhausen in Thüringen (vgl. S. 443) ist das beste Zeugnis dafür; denn nicht nur die Töpferöfen sind nach römischer Art gebaut worden, sondern auch mit der Keramik wurden römische Formen adaptiert und nachgeahmt, wie beispielsweise Faltenbecher.4113 Doch sowohl die Öfen als auch die Produkte sind nicht einfach römisch oder kopiert, sondern in abgewandelter Art und Weise genutzt worden. Eine Massenproduktion wie im Römischen Reich sei aber in Germanien noch kaum sinnvoll, da es einen Massenbedarf weniger gab oder auch keine Abnehmer in großer Zahl, so vermutete man zeitweilig. Mit dem Anstieg der Fundstellen ändert sich nun das Bild, denn im Umfeld dieser Töpfereien findet sich die nachgeformte „römische“ Keramik inzwischen recht häufig in Gräbern und Siedlungen. In Haarhausen gab es mehrere Töpferöfen, die nebeneinander arbeiteten. In einem weiteren Zentrum der Keramikproduktion, in Igołomia nordöstlich von Krakau bzw. südöstlich von Kielce, waren die Töpferöfen noch zahlreicher. Hier wurde in ein und demselben 4109 Rodzińska-Nowak 2011. 4110 Salač 2011. 4111 Vachutová 2011. 4112 Bemmann, Hegewisch, Meyer, Schmauder (Hrsg.) 2011. 4113 Römerzeitliche Drehscheibenware 1984; Dušek 1992/1999.
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Brennvorgang in doppelstöckigen Töpferöfen handgefertigte und gedrehte und sogar bemalte Keramik gebrannt.4114 Die Öfen des 3. und 4. Jahrhunderts produzierten dort „graue“ Keramik auf der Drehscheibe, mit einem Höhepunkt im 3. Jahrhundert, und zwar großen Mengen über die eigenen Siedlungen hinaus für den Handel. Die günstige Lage an der Weichsel und eine dichte Besiedlung ermöglichten den Transport in viele Dörfer des Umfeldes bis Złota und Sandomierz. Diese Versorgung der Gegend entspricht durchaus den Verhältnissen um Haarhausen. Auch hier vermutete man römische Handwerker oder im Römischen Reich ausgebildete Töpfer, die daher ein solches „Industriezentrum“ über einige Generationen organisieren konnten. Im 5. Jahrhundert endete diese Massenproduktion in den Töpfereizentren, obgleich die Siedlungen weiter bestanden haben. Germanische scheibengedrehte Keramik wurde außerdem in Zlechov, Slowakei, während der spätrömischen Kaiserzeit produziert,4115 lokale Drehscheibenkeramik römischer Formgebung wurde in Mainfranken hergestellt.4116 Wie bei Haarhausen werden in der wissenschaftlichen Bearbeitung römische Reichsbewohner als Handwerker vermutet, die verschleppt worden wären; aber vielleicht kamen sie auch freiwillig wegen der guten Geschäfte. Ich denke, dass die einheimischen Handwerker das Verfahren rasch erlernt haben; denn so kompliziert sind der Aufbau der Töpferöfen und die Formung der Gefäße auf der Drehscheibe auch nicht. Es gibt Drehscheibengefäße, die figural verziert sind, abgeleitet von Tierfriesen auf Hemmoorer Eimern oder von bestimmten Terra Sigillata-Schalen. Es sind mehr oder weniger gekonnte Nachahmungen römischer Vorbilder, auch Terra Nigra wurde später nachgeahmt, wofür eine andere Brenntechnik mit anderen Temperaturen gebraucht wurde.4117 Warum wurden römische Gefäße aus Metall, Glas und auch Keramikformen in Ton nachgeahnt?4118 Es war nicht nur der Wunsch, solche fremden Objekte zu besitzen, die man wohl nicht direkt hatte bekommen können, sondern auch eine Ergänzung des eigenen Geschirrbestandes. Diese Nachahmungen römischer Gefäße, die zuhause als fremd und römisch wirken sollten, kommen nicht überall vor; in manchen Gebieten in großer Zahl und in anderen überhaupt nicht, wie zum Beispiel im Gebiet der Elbgermanen oder nur in geringer Zahl im Bereich der Wielbark-Kultur, während sie in der benachbarten Przeworsk-Kultur besonders häufig sind. Bei den Rippenschalen erklärt sich das so: Man ahmte Schalen nur dort nach, wo man selbst Schalen im Geschirr verwendete; bei denen, wo das nicht üblich war, brauchte man also auch keine Nachahmungen. In Germanien akzeptierte man nur solche römischen Importe, die in das eigene Formen- und Wertesystem integrierbar war.4119 4114 Dobrzańska 1999; 2008; R. Müller 2006a, 32. 4115 Zeman 2006. 4116 Steidl 2002. 4117 Hegewisch 2013. 4118 Schuster 2016 (2017) 139. 4119 Schuster 2016 (2017) 141; v. Carnap-Bornheim 2006.
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Die Nachahmung von Faltenbechern4120 geht von den nach Germanien exportierten römischen Bechern aus. Faltenbecher werden in Mitteldeutschland, in Polen an der Oder und in der Slowakei gefunden. Der Vergleich der Fundorte importierter Faltenbecher mit den Orten mit Faltenbechern lokaler Produktion in Germanien spiegelt die gegenseitige Abhängigkeit. Datiert werden diese Becher vor allem in die Phase C2, ins fortgeschrittene 3. und in den Anfang des 4. Jahrhunderts. Sie wurden bei den Elbgermanen und von den Leuten der Przeworsk-Kultur nachgeahmt. Diese Keramik fand sich auch in den Fürstengräbern von Haßleben, Leuna und Zakrzów. Produziert wurde sie in den Töpfereien von Haarhausen oder Igołomia. Wie sieht es mit dem Zahlenverhältnis zwischen Drehscheibenware und handgeformter Keramik aus? In Haarhausen wurde während der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts in der Siedlung am Ort in einem Zahlenverhältnis von 10 000 rheinweser-germanischer Keramikscherben zu 30 000 römischen Fragmenten gezählt. In Haarhausen entstanden Gefäße mit aufgelegten Leisten, eine germanische Zier auf einer römischen Grundform. In der Entwicklung der Keramik ist hier der Prozess einer Übernahme fremder Techniken und Formen gut zu fassen. Am Anfang waren Drehscheibengefäße kaum zu unterscheiden von freihandgeformter Ware; auch später überwogen weiterhin die germanischen Momente bei den Gefäßen, und die Töpfereien richteten sich am heimischen Formenkanon aus. Also sieht es so aus, dass man Römisches in diesem Sektor des Alltagslebens nicht ablehnte, aber auch nicht unbedingt haben wollte, denn mit dem eigenen Geschirr war man zufrieden. Nur die Elite, die auch sonst – was die Grabbeigaben zeigen – sich gern mit römischen Ess- und Trinkgeschirr umgab, war da anfälliger für auswärtigen, fremden Luxus und wurde entsprechend bedient, auch aus Werkstätten in der Nachbarschaft. Waren diese Leute nun romanisierte Barbaren oder nur erfolgreiche Plünderer?4121 Die ganze Palette der scheibengedrehten Ware, Schalen, Schüsseln, Becher und Flaschen, wurden lokal hergestellt; allein große Vorratsgefäße fehlen. Somit galt es, nur für einen bestimmten Ausschnitt des Haushaltsgeschirrs, nämlich die Gefäße für Essen und Trinken auch moderne Drehscheibenware zu haben, um das zeigen zu können.4122 Nachdem die Töpferei in Haarhausen entdeckt, erforscht und die Verbreitung der Produkte allgemein bekannt geworden war, diente dieser Befund einer zentralen Werkstatt als Muster für weitere Analysen der schon dokumentierten und fortlaufend hinzukommenden Keramikfunde an anderen Orten. So war Haarhäuser Keramik schon gleich 1998 im Landkreis Göttingen bei Seulingen erkannt worden.4123 Spätkaiserzeitliche Töpferöfen für Drehscheibenkeramik im Gebiet von Hildesheim könnten
4120 Zuch 2009, 462 Fig. 1 Karte der Faltenbecher außerhalb der römischen Provinzen, 465 Fig. 3 Faltenbecher lokaler Produktion in Germanien (Liste mit 93 Fundorten). 4121 Bemmann 2003a. 4122 Schuster 2008b, 143. 4123 Grote 1998.
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ebenso von „römischen“ Handwerkern angelegt und bedient worden sein,4124 wenn man nach Haarhausen blickt. Nun gibt es 22 Fundplätze mit spätkaiserzeitlicher Drehscheibenware im Bereich der Leine und im weiteren Umfeld Drehscheibenkeramik auch zwischen Saale und Leine, im Nordharzgebiet und südlich des Harzes. Ein solcher Technologieschub, so E. Cosack, wurde nicht unbedingt durch zurückgekehrte germanische Krieger ausgelöst, sondern vielleicht auch durch die Tausende frei gekommener germanischer Sklaven (oder umgekehrt Römer als Kriegsgefangene in Germanien). Diese haben dann nicht nur die Töpferei-Technik mitgebracht – für die Archäologie im Vordergrund stehend, weil die Töpferofen leicht zu finden sind –, sondern auch Verfahren in der Metallverarbeitung, denn jetzt erst würde die Vergoldung von Fibeln einsetzen, oder Kenntnisse zur Verarbeitung römischen Altglases für die Perlenherstellung. Die Möbel in den Gräbern der Fallward/Wremen könnten auf diese Weise mit der entsprechenden Kerbschnittverzierung versehen worden sein.4125 So kann man denken, aber zumeist waren es dann doch wohl heimische germanische Handwerker. Es gibt die regionalen Töpfereien für Drehscheibenware. So weist die Braunschweiger Drehscheibenware eine kreidig-weiche Oberfläche und hellgraue Färbung auf, die Hannoversche Drehscheibenware eine abriebfeste Oberfläche und dunklere Färbung und außerdem Gefäßformen mit anderer Profilierung. Der Schatzfund von Laatzen, der Zeit um 400 oder etwas später in den Boden gelangt, lag in einem solchen Gefäß. Bei Rössing im Ldkr. Hannover wurde ein Töpferofen für Hannoversche Drehscheibenware ausgegraben. Die beiden Warenarten scheinen sich auszuschließen, haben jeweils eigene Absatzgebiete, und für beide Arten muss es jeweils mehrere Produktionsorte gegeben haben.4126 Drehscheibenkeramik von Terra nigra und Terra nigra-artige Ware des 4./5. Jahrhunderts sind im Bereich der Hellwegzone nach römischem Know-How hergestellt worden. Eine Kartierung der Siedlungen und Gräber mit Terra Sigillata und römischen Münzen zwischen Ostsee und Thüringer Wald zeigt die massive Zunahme dieser Quellen im Zuge der Forschung: Offene Signaturen bringen Fundplätze bis 1980, schwarze Signaturen die bis 2000, rote Signaturen die seit 2000.4127 Das Quellenmaterial ist ohne Ausgrabungen in den letzten Jahren schon durch den Einsatz der Metallsonden sprunghaft angestiegen, was auch für die Interpretation nunmehr eine andere Quantität mit sich bringt. Nicht zu vergessen ist aber, dass beispielsweise die Zahl der Terra Sigillata-Scherben im Vergleich zu den Keramikfragmenten der einheimischen Produktion nur ein Hundertstel ausmacht, und das auch im Vergleich zur importierten und selbst hergestellten Drehscheibenware. In Germanien gab es einen Terra Nigra-Horizont von Drehscheibenware, wobei in Rahmen der Herstellung einige römische Zierelemente übernommen und römische Formen nachgeahmt wurden. 4124 Cosack 2007b, 63 Abb. 3 und 64 Abb. 4 Karten. 4125 Cosack 2007b, 67 nach Gustavs 1989, 75. 4126 Ludowicki 2019, 130 f.; Cosack 2007b. 4127 Voss 2006 (2007) b, 59 Abb. 3 Karte.
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Mehrere Töpfereien für diese Keramik wurden gefunden.4128 Die Hellwegzone war eine ausgedehnte Kontakt- und Einflusszone, über die ein Technologietransfer aus den römischen Provinzen nach Osten erfolgt ist, über die „aber […] auch eher ‚unrömisch‘ erscheinendes germanischen Formengut nach Westen gelangte und das dortige Formempfinden der Töpfer und der Abnehmer ihrer Waren beeinflusste“.4129 Im Übrigen ist die sogenannte Mayener Ware kontinuierlich von der spätrömischen bis in die Karolingerzeit auch nach Germanien gekommen, ebenso wie die Mühlsteine aus Mayener Basalt.4130 Mayen selbst war ein Zentralort mit Forum, Tempel und Marktplatz und besonders seit dem 5. Jahrhundert ein Exportplatz. Nach den Einfällen von Germanen auch in den Raum Mayen in den 350er Jahren und der neuen Sicherung der Rheinregion durch Caesar Julian nahmen die Mayener Töpfereien die Produktion wieder auf, und der Fernhandel mit dieser Ware wurde massiv gesteigert. Im Südosten, worauf nicht näher eingegangen werden kann, gab es in der Sántana de Mureş-Chernjachov-Kultur ebenfalls eigene Drehscheibenware,4131 die dort fast den gesamten Bestand an Töpferware einer Siedlung ausmachte.
23.1.4 Glas Über die römischen Glasgefäße in Germanien sind wir durch die Arbeiten von U. Lund Hansen allgemein informiert;4132 eine spezielle Arbeit zu den Gläsern in der Slowakei wurde 2009 vorgelegt.4133 Glasgefäßfunde kommen seit der frühen Römischen Kaiserzeit bis in die Völkerwanderungszeit als Beigaben in Elitegräbern vor, so spät noch in Blučina und Zurán.4134 Die Gläser in Germanien kamen aus mehreren verschiedenen Werkstätten in den römischen Provinzen, wie aufgrund der unterschiedlichen Glaszusammensetzung erkannt worden ist. Wie gleichmäßig aber römische Produkte in Germanien verteilt sind, ist jüngst anhand spätantiker Glasschalen vom Typ Helle (ein Grabfundort in Niedersachsen) beschrieben worden.4135 Aus den Werkstätten in den Rheinprovinzen4136 sind die Schalen sowohl in den Grenzprovinzen als auch in Germanien verbreitet worden, bis in die Hamburger Gegend. Die Erhöhung der Zahl von vor einigen Jahren 11 bekannten Schalen zu jetzt auf 87 gestiegenen Zahlen mit Helle bei Oldenburg spiegelt den
4128 Cosack 2007b. 4129 Hegewisch 2013, 169 Zitat. 4130 Grunwald 2015; 2019, 41 Abb. 3 Verbreitung der spätantiken Mayener Ware. 4131 Bemmann, Hegewisch, Meyer, Schmauder (Hrsg.) 2011. 4132 Lund Hansen 1998a. 4133 Hrnčiarik 2009. 4134 Sedláčková 2016. 4135 Brüggler, Rehren 2014 (2015) 167 Abb. 2: Fundorte. 4136 Brüggler 2014 (2015).
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Zuwachs an Objekten und damit auch eine erweiterte Grundlage der Bewertung. Die Zahl der mit Bildern bemalten römischen Glasschalen, bisher vor allem ebenfalls nur aus den Elitegräbern vor allem auf den Ostseeinseln bekannt, wächst durch Neufunde. Eine Circus-Schale wurde in Jütland 2011 entdeckt.4137 Bei der Vorstellung eines neuen Glasbechers der sogenannten Begram-Gruppe aus Bordesholm, Schleswig-Holstein, 2017 werden die emailbemalten Bechern in Mittel- und Nordeuropa noch einmal insgesamt gewürdigt.4138 Der Fasanentrinkbecher aus dem Fürstengrab der jüngeren Römischen Kaiserzeit auf Seeland in Varpelev, gefunden schon 1861, trägt eine Inschrift DVP · P(inxit); das ist die erste emailgemalte Signatur eines römischen Glasdekorateurs in Germanien.4139 Ein bemalter Glasbecher in der Przeworsk-Kultur von Zaborów wurde 2008 publiziert.4140 Die Verbreitung der emailbemalten Gläser der älteren Römischen Kaiserzeit vom Typ E(ggers) 186 und der jüngeren Römischen Kaiserzeit vom Typ E(ggers) 209 in Germanien zeigt eine Karte. Diese Becher des Typs E 209 sind vor allem auf Seeland und den anderen Ostseeinseln gefunden worden, auf Bornholm, aber auch in Mitteldeutschland. Die besondere Form der hohen zweietagigen Gläser E 196 wurden weit verstreut auf dem Festland entdeckt, über 30 Exemplare.4141 Dieses Glas soll aus Ägypten stammen. In Brandbestattungen wurden derartige Gläser als Beigaben oft übersehen, weil völlig zerschmolzen, sind aber anscheinend gar nicht so selten gewesen.4142 Eine auffällige Verwendung von Glasscherben in Germanien bietet die Gruppe der sogenannten Fenstergefäße (vgl. S. 901): Kleine Scherben sind im Boden oder in der Wandung von Tongefäßen bei der Herstellung eingefügt worden. So haben die Splitter zerbrochener Glasgefäße eine neue Nutzung erfahren, eine Recycling von Scherben.4143 Was der eigentliche Zweck gewesen ist, kann nur vermutet werden. War die germanische Keramik mit solchen eingesetzten Scherben die Nachahmung der römischen Glasgefäße in Ton?4144 Die Fenstergefäße wurden sämtlich aus Bestattungen geborgen; und diese Gefäße waren verwendungsfähig und wurden im Alltag auch benutzt, sind also nicht für die Beerdigung gedacht oder dafür speziell hergestellt worden. Doch spiegelt diese Sitte wohl die Wertschätzung von zerbrochenen Glasgefäßen, was zu dieser rituellen Verwendung geführt hat. Fenstergefäße wurden vielleicht auch genutzt, um Gäste und Besucher zu beeindrucken. Solche Scherben könnten auch in Holzgefäße eingesetzt gewesen sein, die nicht erhalten geblieben sind. Auf Seeland wurden Glasscherben als Charonspfennig im Mund deponiert, so
4137 R. Iversen 2011. 4138 Rau 2017c, 419 Abb. 6 Verbreitung der emailbemalten Gläser. 4139 Pfahl 1996. 4140 Słowińka, Dejtrowka, Lund Hansen 2008. 4141 Rau 2017d, 421 Fundlisten 1 (27 Exemplare und 2 bzw. 5 Exemplare). 4142 M. Becker, Döhle, Hellmund, Leineweber, Schafberg 2005; Rau 2017d, 420 nach Schuster 2010. 4143 Schunke 2001. 4144 Oldenburger 2017, 367, 402 Fig. 10 (Charonspfennig).
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in Ellekilde in Ishøj auf Ostseeland. Die Sitte der Fenstergefäße ist über einen langen Zeitraum, vom 1. bis ins 4./5. Jahrhundert, durch Funde vom südlichen Norwegen bis nach Böhmen belegt, vor allem im Verlauf der Elbe, und in der Spätzeit kommen auch Funde in Südengland dazu.4145 Es lassen sich dazu noch Einzelheiten mitteilen:4146 Im Gräberfeld Uelzen-Veerßen, Ldkr. Uelzen, sind dreimal Fenstergefäße gefunden worden, in insgesamt mehr als 1000 Gräbern der Römischen Kaiserzeit und der Völkerwanderungszeit, wobei 98% Urnengräber waren und nur drei Körpergräber. An manchen Orten kommen bis zu 16 Fenstergefäße vor. Die Karte aller Fenstergefäße beiderseits der Nordsee bis Schweden und Norddeutschland spiegelt die statistisch unterschiedliche Verteilung dieser Sitte. Auf manchen Gräberfeldern fanden sich mehrere Fenstergefäße, vor allem zwischen Aller und Elbe, aber auch weit entfernt in anderen Landschaften, wobei die Datierung vom 2./3. und 4. bis ins 6./7. Jahrhundert reicht. Ein Gefäß aus Hildesheim-Bavenstedt hat mehrere „Fenster“, in Coswig saßen 4 Glasscherben in der Wandung und eine im Boden. Dass mehr Glas- als Ton- oder Metallgefäße in Keramik nach römischem Vorbild kopiert wurden, zeigt wie diese Glasgefäße in Germanien besonders erwünscht waren, aber nicht hergestellt werden konnten. Ebenso wurden in Germanien (fast) keine Gefäße aus Metall angefertigt, weil es an eigener Gewinnung von Bronze oder Silber noch fehlte, vielleicht auch an toreutischen Kenntnissen. Größere und kleinere, meist zum Trinkgeschirr gehörende Becher und Eimer(chen) gelangten regelmäßig in den Besitz der Elite, was wiederum an den üppigen Ausstattungen in den Körpergräbern abzulesen ist. Es sind üblicherweise Silberbecher als Paare, kleine Eimer vom Typ Hemmoor (benannt nach einem Fundort nahe der Weser, vgl. oben S. 467) aus Buntmetall oder gar aus Silber. Immerhin wurden einige Silberbecher in Germanien durch einen Fries ergänzt (so in Himlingøje, vgl. S. 980) oder andere sogar komplett nachgeahmt, was zeigt, dass dieses Handwerk in Germanien ebenfalls erlernt werden konnte und somit ausgebildet worden wäre, sofern der Bedarf bestand; doch war der Import einfacher zu erlangen. Die selektive Auswahl der eingeführten Sachgüter zeugt vom genauen Wissen über die Wünsche der Abnehmer. Nicht Massenwaren, sondern höherwertige Güter wurden importiert. Wer ließ sich mit diesen Importen ausstatten, zurückkehrende Söldner, Angehörige der römischen Hilfstruppen, die das alles mitbrachten? Oder waren diese Luxusgüter auch ein spezielles Ziel von Beutezügen? Alle Gläser in Germanien sind römische Importe, und zwar zumeist aus den westlichen Provinzen.4147 Dünne Glasbecher mit windgeschnittenen Ovalen, die späten Formen, zeigen die Typentafel für die Stufen C1b, C2, C3 und D, also für die Zeit vom frühen und mittleren 3. Jahrhundert bis um 400. Ihre Herkunft wird geprüft.4148 4145 Hässler 1991, 379 Karte; Oldenburger 2017, 388 Fig. 1 Karte für Dänemark; Mohnike 2016. 4146 Mohnike 2016, 38 Abb. 1 Gräberfeld Uelzen-Veerßen, 54 Abb. 17 Gesamtkarte, 55 Abb. 18 mehrere Fenstergefäße an einem Ort. 4147 Lund Hansen 1998a. 4148 Vasil’yev 2013, Typentafeln.
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Andere Facettschliffbecher, die aus römischen oder eher aus germanischen Werkstätten im Südosten kamen, sind als Beigabe zu den Körpergräbern des 4. Jahrhunderts in den gesamten Oder-Weichsel-Raum gekommen.4149 Doch dabei ist bemerkenswert, dass einige dieser Glastypen mit Facettschliff im Grenzbereich des spätantiken Römischen Reich, in den Donauprovinzen, hergestellt worden sind und ihre Verbreitung auf dem Fernweg von Südosten bis weit in den Nordwesten reicht.4150 Diese Formen der Schliffgläser vom 3. bis ins 5. Jahrhundert stellte H. G. Rau schon 1974 übersichtlich in einer Tafel zusammen.4151 Er verbindet damit die Frage nach der tatsächlichen Provenienz und der Verbreitung.4152 Die Verbreitungskarte der Facettschliffgläser Typ Kowalk zeigt eindrucksvoll die Handelsverbindungen von der Schwarzmeerküste bis an die norwegische Westküste. Der archäologische Nachweis nichtrömischer Glashütten in der Karpatenukraine erlaubt es, den Beginn germanischer Eigenproduktion auf der Grundlage überlieferter römischer Glastechnik im 4. Jahrhundert anzunehmen.4153
Was die Franken im Westen im 4./5. Jahrhundert erlernt bzw. von den römischen Werkstätten übernommen und diese weitergeführt haben, ist somit auch für den Osten anzunehmen. Es ist zudem zu registrieren, dass derartige Gläser in Fürstengräbern von Sakrau und Chernjachov bis Himlingøje und Varpelev sowie von Vallstenarum bis Högom vorkommen. Außerdem ist festzuhalten, dass die Silberschalen aus den Fürstengräbern von Leuna 2/1917 und 3/1926 exakte Kopien der weitmündigen Glasschalen mit derartigem Facettschliffmuster sind.4154 Auch gibt es Kopien in Ton, was die Beliebtheit dieser Formen erahnen lässt.4155 Diese Facettschliffgläser sind also entweder römische Importe oder unter germanischem Einfluss im Südosten hergestellt worden.4156 Die Fernverbindungen vom 3. bis 5. Jahrhundert zwischen Südskandinavien und dem Schwarzen Meer oder umgekehrt vom Süden in den Norden sind durch die (römischen) Gläser und durch Schmuck beschreibbar.4157 Diese Glasbecher mit Ovalschliff sind noch einmal 2011 zusammenstellend vorgelegt worden.4158 Dabei geht es wiederum um die Fernbeziehungen und Kontakte zwischen Südosteuropa und Skandinavien bis nach Norwegen. Zu den Arbeiten von 4149 H. G. Rau 1972; 1973, 444 Abb. 1 Verbreitungskarte. 4150 H. G. Rau 1972; 1974, 1975. 4151 H. G. Rau 1974, 373 Abb. 1. 4152 H. G. Rau 1975, 468 Abb. 6 Verbreitungskarte; 1972, 143 Abb. Verbreitungskarte. 4153 H. G. Rau 1974, 375; 1975, 484. 4154 H. G. Rau 1975, 475. 4155 H. G. Rau 1975, 479. 4156 Shabanov 2013. 4157 Lund Hansen 2011c; Gavritukhin 2011. 4158 Gavritukhin 2011, 40. Fig. 1 Karte der Kowalk-Becher, in Ergänzung zu H. G. Rau 1972, 42 Fig. 2 Kartierung in der Ukraine, weitere Kartierungen 44 bis 52 und Fig. 3 bis 6; auch H. G. Rau 2008; Straume 1987.
23.1 Importgüter
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H. G. Rau 1972 sind von den Gläsern des Typs Kowalk und vergleichbaren Glasbechern vom Schwarzen Meer bis Norwegen viele Ergänzungen hinzugekommen. Auffällig sind die vielen Funde von Kowalk-Bechern östlich der Karpaten in Südrussland bzw. der Ukraine. Die Kowalk- und ähnlichen Becher, alles Schliffbecher, darunter auch dickwandige Schliffbecher, werden in Skandinavien von C2 bis D2 (250–500 n. Chr.) datiert, etwas jünger sind die Becher vom Typ Högom, nämlich zu datieren in die Phase C3 bis D2 (also 350–500 n. Chr.).4159 Die besonders dickwandigen Schliffbecher kommen im Chernjachov-Kontext und in Skandinavien vor, also nördlich vom Schwarzes Meer und nach einer auffälligen Lücke in der geographischen Verbreitung erst wieder Skandinavien, in Schweden und Norwegen. Glas kam auch in anderer Form nach Germanien, nämlich als Spielsteine und sicherlich auch als Perlenschmuck. Perlen für Ketten wurden jedoch wahrscheinlich auch in Germanien selbst hergestellt, und zwar aus den Scherben zerbrochener Glasgefäße; doch fehlt es bisher an Nachweisen für Werkstätten. Immerhin lagen 2003 in Germanien ca. 40 000 Glasperlen vor, aufzugliedern in mehr als 385 Typen; aus Brandbestattungen jedoch oftmals nicht mehr gut identifizierbar. Viele der Typen kommen zudem noch in der Völkerwanderungszeit vor.4160
23.1.5 Metall Fast alle Metallgefäße in Germanien sind Importe aus dem Römischen Reich, obgleich die Bevölkerung in Mittel- und Nordeuropa schon in der Bronzezeit eigene Metallgefäße hergestellt hat, seien es die sogenannten schweren Gürteldosen oder die dünnwandigen Luren (vgl. oben S. 1038). Es hing von der Organisation und dem Willen der siedelnden Gruppen ab, ob man solche Gefäße aus Metall haben wollte oder eigentlich nicht brauchte. Noch während der späten Bronzezeit, der Urnenfelderzeit, wurden Bronzegefäße im südlichen Europa und im Alpenraum hergestellt und weit in den Norden verteilt. In Germanien der ersten Jahrhunderte n. Chr. war man an römischen Metall- und Glasgefäßen interessiert, und sie standen als Grabbeigaben in den Bestattungen der Elite, wie vielfach oben beschrieben. Die Silberbecherpaare als Teil römischer Trinkgewohnheiten sind als Beigaben Kennzeichen in zahlreichen dieser „Fürstengräber“; ganz im Gegensatz zu römischen Bestattungen, in denen wenig Silbergeschirr gestellt wurde. Die Becher waren so begehrt, dass sie ergänzt und in eigener Produktion sogar angefertigt worden sind. Die silbernen Halbkugelbecher vom Typ Leuna sind mit Blick auf ihre Herstellungstechnik und Datierung ausgewertet4161 und ihre Vorkommen 4159 Vgl. auch Straume 1987. 4160 Tempelmann-Mączyńska 1985; Olldag 1992; Erdrich, Voss 1997; Sasse, Theune 2003, § 4e, 573 f. mit Taf. 18 und Lit. 4161 Niemeyer 2004.
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vielfach zusammengestellt und kartiert worden, auch allgemein zum römischen Silbergeschirr in Germanien (Abb. 87).4162 Verglichen wurden die römischen Metallgefäßspektren beiderseits des Rheins und der Donau in militärischen Zusammenhängen von der augusteischen Zeit bis ins 2. Jahrhundert.4163 In Germanien waren das wesentlich weniger Typen, vor allem Kasserolle sowie Eimer und Krug oder Kanne, was eben der Ausrüstung des römischen Militärs entsprach und auch der allgemeinen Zivilbevölkerung, sondern beide Gruppen haben sich auf den Märkten gleichartig eingedeckt. Außerdem gab es zeitliche Einschnitte in der Mitte des 2. Jahrhunderts und in der Mitte des 3. Jahrhunderts im Vorkommen von Kasserollen sowie Kelle/Sieb-Garnituren am Übergang von der älteren zur jüngeren Römischen Kaiserzeit, was verbunden sein wird mit einem Wandel des Trinkverhaltens in Germanien einerseits und geänderten Kontakten andererseits. Eine Reihe von Kartierungen bietet U. Lund Hansen auch die Verteilung von Glasbechern der Typen Eggers 189/190, die auffällig auf Seeland und an der Weichselmündung gefunden werden, der Knopfsporen in Europa zwischen Elbe und Weichsel sowie auf den Inseln und Karten der Bonze- und Silbergefäße in Mecklenburg und Vorpommern während der frühen und späten Römischen Kaiserzeit.4164 Vergleichbares trifft auch auf die Bronzegefäße zu, die in mehreren Corpora katalogisiert worden sind, schon seit der Zeit von H. J. Eggers und den nachfolgenden Monographien zu den römischen Importen (vgl. oben S. 603). Bei einer speziellen Gefäßform, den sogenannten Westlandkesseln – der Name bezieht sich auf die Fundmassierung im fernen norwegischen Westland – gibt es Analysenreihen des Materials, deren Ergebnisse früher nach Meinung einiger Forscher dafür sprachen, dass diese auch in Skandinavien selbst hergestellt worden sein könnten.4165 Ältere Formen gehören ins 3. und frühe 4. Jahrhundert, späte Formen ins 4. bis frühe 6. Jahrhundert (oben Abb. 45). Derartige Kessel lagen auch im Komplex der „Alemannenbeute“ von Neupotz. Während diese Westlandkessel, eigentlich Kochgefäße, in den römischen Provinzen in Depot- und Versteckfunden entdeckt werden, wurden sie in Skandinavien als Graburnen verwendet oder in die Körpergräber als Prestige-Beigaben gestellt. Interessant ist tatsächlich die massierte Verbreitung in Norwegen. Waren anfangs die Fundmengen zwischen den römischen Provinzen und Norwegen ähnlich, haben aber jetzt allein die großen Flussfunde von Neupotz und auch Hagenbach, beide bei Germersheim in Rheinland-Pfalz, die Zahl der Kessel fast verdoppelt, so dass die römische Herkunft nun doch gesichert ist. Das ist ein Beispiel dafür, wie unser Bild
4162 Voss 2012, 113 Abb. 5; E. Künzl 2002b; S. Künzl 2005, 438; Wielowiejski 1989 (Silbergefäße in Polen); Stupperich 1997a. 4163 Gorecki 2016, 188 ff., Abb. 1–11; 202 ff. Abb. 12–19 Histogramme zu den Gefäßtypen in verschiedenen militärischen Fundorten. 4164 Lund Hansen 2016, 232 Abb. 1 Glasbecher, 237 Abb. 4 Knopfsporen, 239 Abb. 5 und 240 Abb. 6. 4165 Straume, Bollingberg 1995; Bollingberg 1995; Hoeper 1999, 245 ff. Katalog der Westlandkessel auf dem Kontinent; 2006; Bollingberg, Lund Hansen 2016.
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Abb. 87: Vorkommen der römischen Silberbecherpaare in Gräbern des 1.bis frühen 4. Jahrhunderts in Germanien, aufgeschlüsselt. I 1–160/180 n. Chr., II 150/160–200 n. Chr., III 160/180–310–320 n. Chr. / 1 Römische Silbergefäße, 2 Germanische Imitationen (oder dakische Gefäße), 2 Körpergrab, 3 Brandgrab. Eingefügte Silberbecher von Lübsow, Westpommern: a) Grab I, 1908; b) Grab 2, 1925.
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vom Altertum in Germanien vom jeweiligen Forschungsstand abhängt und das durch Neufunde schlagartig verändert werden kann. Nun haben die neuesten Metallanalysenreihen also bestätigt, dass alle Westlandkessel, auch die in Skandinavien gefundenen Exemplare, aus römischen Werkstätten im Rhein-Maas-Gebiet stammen.4166 Die Zusammensetzung der Westlandkessel, die in Skandinavien, Frankreich und Belgien gefunden worden sind, ist gleichartig, auch bei den verschiedenen Typen.4167 Die Westlandkessel, im Wesentlichen Kochkessel, fassen zumeist wesentlich weniger als das Maximum mit einem Volumen von 245 Litern; die Dicke der Wandung beträgt 0,2 bis 3 mm, am Rand 5 mm. Sie sind gehämmert. Sie werden datiert in die Zeit von 150/160 bis 400 n. Chr., also in die Römische Kaiserzeit, und bis 400 bis 520/530 n. Chr., also noch in die frühe Völkerwanderungs- bzw. Merowingerzeit. Die zweite Gruppe, die jüngere Form ist gekennzeichnet durch dreieckige Henkelattaschen. Einige absolute Fundanzahlen seien hier aufgelistet: Allein im Flussfundkomplex von Neupotz, datiert vor 277 n. Chr., lagen vier große Kessel, gefüllt mit anderen Sachen aus Silber, Kupfer, Bronze, Messing, und einige kleinere Kessel, insgesamt 41 Westlandkessel, die größte Gruppe außerhalb von Norwegen. Im westlichen Norwegen wurden immerhin 112 Kessel (in Norwegen insgesamt 135 Stück), in Schweden 15 und in Dänemark 4 bzw. 5, in Deutschland 35, in den Niederlande 11, in Belgien 13, in Frankreich 7, in der Schweiz 2, in Österreich 1 und in England und Wales zusammen 10 Kessel registriert. Außerhalb der römischen Provinzen sind also wesentlich mehr Kessel gefunden worden als im Ursprungs- und Herstellungsgebiet. H. J. Bollingberg hat immerhin das Material von 47 Kesseln aus Norwegen, 5 aus Schweden, 4 aus Dänemark, 34 aus Deutschland, 2 aus Belgien, 10 aus Frankreich und 5 aus Italien analysiert.4168 Von den 54 skandinavischen Kesseln besteht nur einer aus Messing, alle anderen aus Kupfer bzw. einer Bronzelegierung. Gemessen wurden als Spurenelemente Zinn, Blei, Zink, Eisen, Nickel, Mangan, Kobald, Arsen, Antimon, Wismuth, Silber und Gold. Im Prinzip handelt es sich also um Kupferkessel mit einem Minimum von 80% Kupfer oder um Zinnbronze. Die Spurenelementanteile allgemein in römischen Importfunden sind von H. J. Bollingberg ebenfalls gemessen worden.4169 Im Norden, in Skandinavien kommen die Westlandkessel ab der Phase C1b, also von der Mitte des 3. Jahrhunderts vor, und die Hauptverteilung liegt in den Phasen in C2 und C3, die meisten Kessel werden sogar erst in die Stufe C3 datiert, vom Ende des 4. Jahrhunderts und um 400 bis 520/30. In Skandinavien sind also alle Kessel Importe vom Festland aus den römischen Provinzen am Rhein. Trotz leicht unterschiedlicher Metallzusammensetzung kamen die norwegischen Kessel direkt vom Kontinent, aber aus verschiedenen Gegenden des römischen Reichs, aus unterschiedlichen Werk4166 Bollingberg, Lund Hansen 2016. 4167 Hauken 2005; Hoeper 1999, 236 Abb. 1 (nach Hauken); 2003, 106 ff. Abb. 33. 4168 Bollingberg, Lund Hansen 2016, 140; Grimm 2010a, 318 Fig. 5 Karte der Westlandkessel in Norwegen. 4169 Bollingberg 1995.
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stätten; das gilt auch für die Herstellung zu unterschiedlichen Zeiten. Aber die MaasGegend herrscht vor. Ab der Zeit um 300 n. Chr. kann die Produktion in Aachen schon unter den Franken betrieben worden sein. Die Kessel aus dem Fund von Neupotz stammen nicht nur aus der Gallia Belgica, sondern sind auch anderweitig zusammengestohlen worden.4170 Die Kessel wurden wohl selten eingeschmolzen, sondern immer wieder repariert und weiterverwendet. Doch gibt es Fragmente solcher Kessel aus den germanischen Höhensiedlungen des 4./5. Jahrhunderts und aus spätantiken Kastellen am Oberrhein.4171 Über die Beigaben in den reich ausgestatteten Gräbern der Elite, den „Fürstengräbern“ der älteren und jüngeren Römischen Kaiserzeit, weiß man gut darüber Bescheid, dass römische Metallgefäße und Trinkgläser zu den beliebten Importen gehört haben. Auch dabei geht es im Wesentlichen um Tischgeschirr für die gehobene Festtafel der Elite. Die Ausstattung mit reliefverzierten Trinkbechern aus Silber als Paare spiegelt zudem römische Trinksitten, das gegenseitige partnerschaftliche Zutrinken. Die Getränke wurden aus kleinen Eimern geschöpft, entweder waren das einheimische Holzeimer mit Metallbeschlägen oder aber römische Eimerchen aus Bronze oder sogar aus Silber, die sogenannten Hemmoorer Eimer.4172 Größere Behältnisse, wie in der späteren Phase die sogenannten Westlandkessel, wurden ebenfalls importiert, vielfach repariert, entweder schon bei den Römern oder aber wegen der Wertschätzung erst in Germanien.4173 Zu den besonderen Grabbeigaben gehören Schalen und Platten, meist aus Bronze, manchmal aus Silber, die aus dem Römischen Reich weit nach Germanien hinein verteilt wurden.4174 Die Gussform für eine Platte beispielsweise fand man in Camerton, Groß Britannien, womit eine Werkstatt als Herkunftsgebiet belegt ist. Das gesamte Bunt- und Edelmetall wurde mehr oder weniger umfassend aus dem Römischen Reich importiert. (Auf die mögliche Eigenproduktion von Buntmetall in Germanien wurde oben S. 495 hingewiesen.) In mehreren Siedlungen sind Werkstätten ausgegraben worden, in denen sich massenweise Bronzeschrott gefunden hat, zerschnittene und zum Guss vorbereitete Teile von größeren römischen Objekten, darunter auch von Gefäßen, d. h. Metallgefäße bzw. die zerteilten Reste werden zunehmend häufiger in Siedlungen erfasst.4175 Andere Rohstoffquellen waren römische Münzen aus Buntmetall und Silber. Heimische Handwerker fertigten daraus Schmuck aller Art, vor allem die vielgestaltigen Fibeln, Gewandnadeln, von der Kleidung der Frauen und Männer, die sich überall als Ausstattung in den Gräbern finden.
4170 Künzl 1993. 4171 Hoeper 1999, 240 f. 4172 Steuer 1999d; Erdrich 1995b, 73 Abb. 2 Typentafel der Hemmoorer Eimer nach Eggers 1951. 4173 Bollingberg 1995; Bollingberg, Lund Hansen 2016; Hoeper 1999; 2003; 2006. 4174 Nicolas 2016, 11 Fig. 2 Karte zu den Schalen, 16 Fig. 3 Karte zu den Platten. 4175 Baumeister 2004; Gustavs 1989; Steuer 1994b; M. Becker 2016b, 18 Abb. 11 Schrott aus der Siedlung Kleinjena, Burgenlandkreis.
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Erinnert sei erneut an die großen Komplexe aus dem Rhein wie Neupotz und Hagenbach (vgl. S. 536) mit Bronzegefäßen, Eisengeräten und Werkzeug aller Art, die als Beute aus dem Römischen Reich ins Innere Germaniens transportiert werden sollten, aber bei Unglücken während der Flussüberquerung in den Tiefen des Stroms versunken sind. Die jeweils darin „zusammengebündelten“ Mengen an Metallgefäßen würden ausreichen, ganze Landschaften damit zu versorgen bzw. das Bild zu liefern, wie wir es heute registrieren. Andernorts (vgl. oben S. 466) habe ich gesagt, dass man mit großen, aber noch nicht zu schätzenden Mengen rechnen muss, die nach Germanien gelangt sind; denn man braucht sich nur vorzustellen, dass die beiden großen Flussfunde für ein Vielfaches, vielleicht dem Hundertfachen, stehen, die seinerzeit im 3. Jahrhundert als Beute nach Germanien gelangten. Ein römisches Massenobjekt sind Kasserollen (zu Kelle und Sieb) aus Bronze, die deshalb in entsprechend größerer Zahl nach Germanien gekommen sind. Manche Serien sind gestempelt, wodurch für diese Produkte die Werkstätten im Römischen Reich bekannt sind. Bronzene Kasserollen mit dem Stempel Publius Cipius Polybius kommen weiträumig verteilt in ganz Europa vor (vgl. oben S. 599).4176 Schon die Belege in Norddeutschland und auf den dänischen Inseln, datiert B1/B2 (etwa bis 150 n. Chr.), liegen weit außerhalb des Limes. Der Bronzehandwerker aus Capua hat mit seiner Massenproduktion diese Kommunikation in die Ferne erreicht. Die Unterschiede im Kartenbild spiegeln die Überlieferungsmöglichkeiten und damit also auch den Wechsel in den Siedlungs- und Sozialstrukturen südlich der Ostseeküste. Der große Umfang an römischen Bronzegefäßen in Norwegen, die meist Grabbeigaben waren, auch als Urnen genutzt wurden, hat zu vielerlei Auswertungen geführt.4177 Es sind vor allem Westlandkessel, Östlandkessel und Hemmoorer Eimer. Anhand von 40 Grabfunden gliedert die Autorin eines Beitrags die Befunde in drei Gruppen und ordnet sie damit unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten zu, wobei unmittelbar die Zahl der Importe ausschlaggebend ist. Das Stratum 1 mit herausragend vielen Importen, zu dem das „Fürstengrab“ von Avaldsnes (vgl. S. 946) gehört, hat seine Position, weil es Zugang zum überregionalen Elitenetzwerk hatte. Das Stratum 2 bildeten auch gut ausgestattete Gräber, in denen einzelne Importe mit einheimischen Formen kombiniert wurden; diese Gruppe eiferte der Elite nach, hatte aber nicht uneingeschränkt Zugang zu den Importgefäßen bzw. dem Netzwerk und wurde von Stratum 1 versorgt. Stratum 3 mit weniger gut ausgestatteten Gräbern mit nur einem römischen Gefäß als Beigabe gehörte zu Gefolgschaften; die Krieger hatten keine Waffen als Beigaben, denn diese blieben im Besitz des Herrn. Die „fremden“ Objekte waren nicht nur fremd, sondern sie wurden Bestandteil der ortsansässigen materiellen Kultur.4178 Eigentlich brauchten diese drei sozialen Gruppen diese
4176 Koloszuk 2015, 226 Fig. 5. 4177 Gutschmiedl-Schümann 2015, 242 Fundliste. 4178 Ekengren 2009, 210 f.
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Importe nicht, so die Autorin; es waren allein Luxus- und Prestige-Objekte, aber das Überleben in Skandinavien war auch so gesichert.4179 Schließlich bemerke ich, dass römische Metallgefäße nicht nur als Grabeigaben oder als Schrott in den Siedlungen gefunden werden, sondern dass es auch reguläre Horte mit Bronzegeschirr gegeben hat, so z. B. im Elbetal bei Grieben, Kr. Stendal, mit drei Kesseln, einem Eimer, einem Ausgussbecken mit Halbdeckel und eine Kelle-SiebGarnitur, datiert in die jüngere Römische Kaiserzeit.4180 Militärdiplome aus Metall von Legionären im „Ruhestand“4181 werden in Germanien als Bruchstücke entdeckt (vgl. S. 581), beispielsweise in einem Gräberfeld der Wielbark-Kultur von etwa 64 × 67 × 1 mm Größe, ausgestellt im Jahr 207; weitere Diplome von 11,5 × 11,5 × 0,2 cm fand man in einer Siedlung in Borken.
23.1.6 Allerlei andere Sachgüter Der Einfluss Roms wird in ganz andersartigen Sachgütern noch fassbar. Handmühlsteine aus Mayener Basalt wurden nach Germanien exportiert und dort wegen des speziellen Materials gern angenommen.4182 Die Vorkommen von derartigen Mühlsteinen in Norddeutschland und Jütland sind mehrfach zusammengestellt und kartiert worden (Abb. 88).4183 Karten aus dem Jahr 2019 zeigen die Vorkommen von Mühlsteinen im niederländischen Küstenbereich und im Rheinischen Mittelgebirge rechts des Rheins sowie an der Weser, datiert in die Spätlatènezeit C/D und die Römische Kaiserzeit der römischen sogenannten Typen Brillerij und Haltern aus Basaltlava (30 v. bis 100 n. Chr.). Anhand der Verbreitung dieser Handdrehmühlsteine aus Mayener Basalt, die immerhin ein gewisses, nicht ganz geringes Gewicht hatten (ca. 500 bis 1000 g), lassen sich die Handelswege bzw. Verteilungsmechanismen des römischen Imports nach Germanien beobachten.4184 Der Haupttransport erfolgte sicherlich per Schiff.4185 Registriert sind 2019 von 160 Fundstellen mehr als 1500 Fragmente von Mahlsteinen im westlichen Germanien bis ins südliche Jütland. Zu datieren sind in die ältere Römische Kaiserzeit (0–160 n. Chr.) und in die jüngere Römische Kaiserzeit (161–400 n. Chr.) jeweils etwa 1350 Funde. Der Autor J. Enzmann bietet eine große Zahl von
4179 Ljungkvist 2009, 27 f. 4180 Gräf 2013, 79 Abb. 9. 4181 Kolendo 2010, 318. 4182 Erdrich 1995, Abb. 9; v. Carnap-Bornheim 1999b, 27 Abb. 7 Karte. 4183 Chistensen, Hardt 1996, 62 Fig. 1 Karte für Elbe-Weser-Dreieck und Schleswig-Holstein; Cosack 2002, 22 Abb. 2; Nüsse 2013, 133 Abb. 5; Bischop 2000, 28 Abb. 33 Karte: Mühlsteine an der mittleren und unteren Weser; 2001, 97 Abb, 7 Karte; Wenzel 2019,154 f. Abb. 8 und 9 Karten. 4184 Enzmann 2019, 69 Abb. 10 Karte Stand 2001, 90 Abb. 26 Karte Stand 2019. 4185 Forrer 1912: Eine versunkene Schiffsladung mit Mühlsteinen.
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Abb. 88: Handmühlsteine aus Mayener Basalt in Germanien zwischen Hunte und Elbe.
Kartierungen zu díesen Datierungen. Die Mehrheit der Fundplätze liegt zudem nur 1 bis 3 km vom nächsten Fluss entfernt. In manchen Siedlungen, so in der Feddersen Wierde, kommen Fragmente von Mühlsteinen überall auf jedem Hofgelände vor (z. B. im Siedlungshorizont 5), und zwar vor den Häusern.4186 Die Gesamtverbreitung 4186 Enzmann 2019, 113 Abb. 53.
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deckt sich beispielsweise mit der Verteilung der Hemmoorer Eimer (vgl. S. 467) und in Norwegen mit der der Westlandkessel; anders sieht die Verteilung der Terra Sigillata aus. Zu unterscheiden sind verschiedene Transportzonen, vom Rhein über die Flüsse ins Binnenland und ebenso von der Nordseeküste die Ströme aufwärts.4187 Im Übrigen soll der Handel mit diesen Mahlsteinen nach Germanien im 2. Jahrhundert gesteigert worden sein, nachdem das römische Militär diese weniger gebraucht hat bzw. weniger aktiv in Germanien unterwegs war. Bemerkenswert ist, dass BasaltMühlsteine in das „elbgermanische“ Gebiet kaum gelangt sind, jedoch Hemmoorer Eimer. So kann von einem unterschiedlichen Interesse der Bewohner an diesen römischen Sachgütern ausgegangen werden. Anscheinend zeichnet sich in der Struktur der Handelswege auch die Grenze zwischen dem nordsee-germanischen und dem rhein-weser-germanischen Raum ab, also den „klassischen“ Kulturkreisdefinitionen. Offen bleibt aber, ob diese Ware direkt über Fernhändler verbreitet wurde oder ob ein Austausch zwischen die Siedlungslandschaften erfolgte. Doch wird es kaum einen direkten Fernhandel aus dem Römischen Reich nur mit Mühlsteinen gegeben haben; vielmehr ist mit komplexeren Austauschmustern zu rechnen (vgl. S. 580 ff.). In anderen Landschaften mit entsprechendem Rohstoff brauchte man nicht die Mahlsteine aus Basaltlava von Mayen. In Rogaland, Norwegen, beispielsweise wurden Mahlsteine aus örtlichem Material gefertigt und in den Siedlungen verwendet, so in der mehrfach erwähnten Siedlung Forsandmoen (vgl. S. 279).4188 Bei der Herstellung von Kämmen aus Knochen, Bein oder Geweih4189 zeigen sich Parallelen und damit eine Wechselwirkung zwischen provinzialrömischen und germanischen Werkstätten. Die importierten Spielsteine aus Glas, nicht nur in Elitegräbern beigegeben, belegen über die oft ebenfalls nachgewiesenen Spielbretter, dass die Spiele selbst und damit wohl auch die Regeln eingeführt und übernommen worden sind.4190 Das Würfelspiel wurde in Germanien sogar mit der seltenen Sonderausführung mit sieben Augen übernommen.4191 Für die seeländischen Grabinventare mit Spielsteinen zeigt ein Stapeldiagramm, dass diese zu den reichsten Bestattungen zählen; dabei steht Valløby ganz oben.4192 Die Brettspiele sind bisher nur im archäologischen Kontext überliefert worden.4193 Derartige Sitten und Gebräuche lernten Söldner und Händler im Römischen Reich kennen, gewöhnten sich an diese und nahmen sie nach der Rückkehr in ihre Herkunftssiedelräume mit, wo damit Rang und Weitläufigkeit gezeigt werden konnten.
4187 Enzmann 2019, 170 Abb. 85 Karte der Handelsrouten. 4188 Dahlen Hauken 2018, 25 Fig. 7 Plan der Siedlung Forsandmoen. 4189 Bíró 2000. 4190 Krüger 1982; Matschoss 2007; Mihailescu-Bîrliba 2016. 4191 Küchelmann 2017/2018, Tabellen. 4192 Przybyła 2016, 184 Abb. 20 Stapeldiagramm. 4193 Widura 2015.
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In einigen dieser Gräber ranghoher Mitglieder der Gesellschaft lagen römische Goldmünzen im Mund des oder der Toten, was dem alten Brauch des Charonspfennigs, dem Fährgeld für die Überfahrt ins Totenreich, entspricht. Das haben diese Germanen nur bei einem längeren Aufenthalt im Römischen Reich kennen- und verstehen gelernt, ob über Dienst im römischen Heer als Söldner – wie die Forschung früher meist annahm – oder auf ganz anderen Wegen, sei dahingestellt. Der Charonspfennig, der den Toten also in den Mund, in die Hand oder auf den Kopf gelegt wurde, ist über die mehrfachen archäologischen Befunde ein Beleg dafür, dass auch diese antike Sitte aus dem Mittelmeerraum schließlich verstanden und übernommen worden ist (vgl. S. 574).4194 Der Brauch war zudem noch weiter bekannt und verbreitet; denn wenn keine Münze zur Hand war, wurde stattdessen eine Bernsteinperle oder ein Glasfragment gewählt. (Es sollte geprüft werden, ob diese Sitte nicht schon zuvor auch im einheimischen Milieu gepflegt wurde und erst eine auffällige Ergänzung erfahren hat, als Münzen in Germanien zur Verfügung standen.) Medizinisches Gerät, das Instrumentarium des Feldarztes, gehörten zu den Heeresausrüstungsopfern, damit prinzipiell zu Militäreinheiten.4195 Römische Tintenfässer und Schreibgerät sind bei den Markomannen und Quaden gefunden worden.4196 Römischer Einfluss will man unbedingt auch noch auf andere Weise in Germanien erkennen. Im mittleren Jütland ist bei Tjørring seit 1993 großflächig auf 23 Hektar eine wandernde Siedlung ausgegraben worden (vgl. S. 271).4197 In regelmäßiger zeitlicher Abfolge heben sich Großhöfe heraus. Das rechteckige Gehöft des 1. Jahrhunderts n. Chr. mit den Abmessungen von ca. 60 auf 80 m mit zahlreichen Gebäuden innerhalb der Umzäunung macht einen so sorgfältig vermessenen Eindruck, dass vermutet wurde, dahinter würde der römische Fuß von 29,6 cm stehen, was aber bei genauerer Betrachtung nicht der Fall ist. Vielmehr ergibt ein „prähistorisches“ eigenes Fußmaß von 16,5 bzw. 33 cm ebenso sinnvolle Abmessungen und Maßverhältnisse. Das regte aber trotzdem dazu an, dieses Gehöft mit römischen Villenanlagen im Rheinland zu vergleichen. Gräber mit auffälligen Beigaben, darunter wertvoller Schmuck und römische Bronzegefäße der Jahre 30–40 n. Chr. in unmittelbarer Nähe spiegeln denn auch wie andernorts Kontakte zur römischen Welt. Wie dieser mögliche Einfluss zustande gekommen sein kann, mag man diskutieren: Söldnerdienst in Auxilia wie die Krieger des Arminius oder der Bataver, die in den Res gestae des Augustus erwähnte römische Expedition zur Kimbrischen Halbinsel, die Expedition des Tiberius im Jahr 5 n. Chr. an die Küsten Jütlands oder einfach Handelskontakte. Die Maske und die Spangenkappe aus dem Moor von Thorsberg ergänzen sich zu einem Helm germanischer Machart nach römischem Vorbild, und zwar wie die
4194 Werner 1973; Steuer 2002e: Zum Charonspfennig bzw. Obolus; Găzdac 2014. 4195 Frölich 2003; 2010; 2011. 4196 Lichardus 2002. 4197 Møller-Jensen 2010.
23.1 Importgüter
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Gesichtshelme weiblichen Typs in den Donauprovinzen.4198 Diese Kontaktzone für germanische Handwerker wird aber nur im einzigen bekannten germanischen Helm greifbar. Die beiden Zierscheiben aus dem Thorsberger Moor, römische Ordensscheiben, sind durch Goldauflage von germanischen Handwerkern „ergänzt“ worden, aber da der Gott Mars als Bild dabei ist, scheint also Rom auch wieder Quelle der Inspiration gewesen zu sein. Jan Peder Lamm hat auf das Spektrum der römischen Orden hingewiesen, die im Germanischen aufgegriffen und nur teilweise umgedeutet worden sind, wie die Thorsberger Scheiben oder insgesamt die Hals- und Armringe aus Gold (vgl. auch S. 970/73).4199 Es ist nicht auszuschließen, sogar naheliegend, dass Söldnern aus Germanien derartige Scheiben und Ringe tatsächlich als Orden verliehen worden sind. Die Nachahmung römischer Waffen und Waffenteile, vor allem was die Beschläge der Schwertscheiden bis zu den Ortbändern angeht, ist in den Heeresausrüstungsopfern Jütland umfassend belegt.4200 Imitationen und Umwandlungen, Transformationen römischer Militärausrüstungen sind an Waffen, auch als Beigaben aus zahlreichen Gräbern,4201 nicht nur aus den Heeresausrüstungsopfern, nachgewiesen.4202 Jaroslav Tejral hat 2004 anhand der Köpfe mit der Swebenhaartracht als Attaschen an den Kesseln von Mušov und Czarnówko einerseits die weiträumigen Kontakte innerhalb von Germanien beschrieben, aber andererseits wiederum vor allem auf den Swebenknoten an römischen (aber auch germanischen) Sachgütern hingewiesen (vgl. oben S. 48).4203 Grundlage sind seine Karten zur Vormarsch-Route in Mähren von Vindobona und Carnuntum sowie von Brigetio aus zu den Quaden nördlich der Donau in Böhmen und Mähren.4204 Die Verbreitung des römischen Imports des „Horizontes der gewellten Eimer“ von Mähren im Prager Becken in Richtung Ostsee zwischen Oder und Weichsel ist ebenfalls kartiert, ebenso in umgekehrter Richtung die Fibeln- und Sporentypen der Wielbark- und Przeworsk-Kultur zum mittleren Donauraum hin.4205 Die römischen Ausrüstungsgegenstände der spätantoninischen Epoche reichen weit ins Gebiet nördlich der mittleren Donau. Die Verbreitung mancher Fibeln aus Bronze, so die vom Typ Almgren 94–96, kommen im ganzen Bereich zwischen Oder und Weichsel von der Ostseeküste bis weit in den Süden bis Mähren vor, oder die bronzenen Knopfsporen einer Untergruppe E finden sich ebenfalls im Norden rund um die Weichselmündung und dann in Mähren
4198 Matešić 2010. 4199 J.P. Lamm 2015. 4200 Lund Hansen 2007. 4201 Pauli Jensen 2013. 4202 Pauli Jensen 2007. 4203 Tejral 2004. 4204 Tejral 2004, 357 Karte. 4205 Tejral 2004, 382 Abb. 26 Karte, 384 Karten Abb. 28 a und b.
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23 Römische Sachen, Techniken und Sitten in Germanien
bei Markomannen und Quaden und an der Donau bei Brigetio.4206 Die Verbindungslinien auf den Verbreitungskarten markieren im Übrigen zugleich die Jahrhunderte alten und weiterhin bestehenden Fernverkehrsbahnen, auf die ich mehrfach hingewiesen habe. Das sind Beispiele, die durch eine breite Palette weiterer Sachgüter mit ihrer Verbreitung ergänzt werden können und dadurch zeigen, dass die meisten Bereiche Germaniens durch Kommunikation eine Einheit gebildet haben. Bei Vermehrung der Forschungsergebnisse und Zunahme der Zahl der verschiedenen Typen der Sachgüter verdichtet sich dieses Bild fortlaufend. Die Deutungsmuster wandeln sich dann ebenfalls; ob Kriege oder Handel oder einfach Nachbarschaften die einheitlich wirkenden Kartenbilder erzeugen, bleibt in der Diskussion.
23.2 Menschen: Söldner, Gefangene und Sklaven Die allgemeine Mobilität von Menschen darf nicht übersehen werden, wenn es um römischen Einfluss in Germanien geht. Über römische Einfälle ins Innere Germaniens und über Beutezüge von Germanen in die römischen Provinzen wurde in diesem Buch schon ausführlich berichtet. Was dabei an Ideen und Denkweisen transportiert worden ist, entzieht sich der archäologischen Forschung weitgehend; nur indirekt gibt es einen Zugang, der zuvor in Beispielen angedeutet worden ist. Welche Beute römische Legionäre aus Germanien zurück in die Provinzen mitgenommen haben, ist ebenfalls kaum zu erkennen, während die gewonnenen Materialien bei den Plünderungen durch Germanen sich in den „Importgütern“ verbergen und einen sicherlich beachtlichen Anteil dabei ausmachten. Auszugehen ist vor allem auch davon, dass Menschen als Beute von beiden Seiten angesehen wurden. Gefangene Germanen wurden zu Sklaven im Römischen Reich ebenso wie gefangene „Römer“ in den Weiten Germaniens als Sklaven behandelt wurden. Solche „Mobilitäten“ haben sich ebenso auf freiwilliger Basis ereignet. Kaufleute und Handwerker, die sich gute Geschäfte erhofften, zogen zu den germanischen Wohnsitzen der Elite, um ihre Waren abzusetzen, oder als Handwerker boten sie ihre Dienste an, beispielsweise im Edelmetallhandwerk oder bei der Keramikproduktion. Auf solchen Wegen gelangte dann römisches Stilempfinden nach Germanien, wurde mit einheimischen Vorstellungen verbunden. Ebenfalls mehr oder weniger freiwillig boten sich Krieger aus Germanien als Söldner für das römische Militär an, und sie wurden auch intensiv angeworben. Die Angehörigen der Praetorianergarde des Augustus und weiterer römischer Kaiser waren Germanen.4207 Die Kriegerverbände des Arminius bildeten eine römische Auxiliareinheit, die als Meuterer in der Varus-Schlacht erfolgreich waren. Im Gallischen
4206 Tejral 2004, 386 Abb. 30 und 387 Abb. 31 (Karten). 4207 Bédoyère 2017; Bingham 2013.
23.2 Menschen: Söldner, Gefangene und Sklaven
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Sonderreich des Postumus kämpften anscheinend germanische Söldner für ihn und brachten bei ihrer Rückkehr nach Germanien allerlei Sitten mit. Dass Germanen als Offiziere in der römischen Armee die lateinische Sprache kennen mussten und wohl auch schreiben konnten, kann man voraussetzen. Germanische Heimkehrer aus dem römischen Militärdienst waren Bürger Roms.4208 Rückkehrer brachten immer nicht nur sich selbst, sondern auch aufgenommene Erfahrungen mit.4209 Dass die Zahl von Gefangenen, beidseitig gesehen, nicht zu niedrig gesehen werden sollte, sagen nicht nur die Schriftquellen. Das Siegesdenkmal von Augsburg aus dem Jahr 260 berichtet von einer großen Menge römischer Bürger, gefangene Italiker, die von Semnonen oder Juthungen, wie es auf den Stein heißt, in Italien gefangen genommen über die Alpen nach Germanien gebracht werden sollten und nun wieder befreit werden konnten (vgl. oben S. 699).4210 Im archäologischen Fundstoff gibt es Sklavenfesseln als Beweis für germanisch-römischen Sklavenhandel.4211 Im Jahr 182 n. Chr. wurden schon einmal 15 000 römische Gefangene befreit.4212 Die Belege für die Übernahme römischen Sachguts und Sitten im Germanischen sind aufgrund archäologischer Forschungsergebnisse in ihrem wachsenden Umfang erkannt worden. Die antike schriftliche Überlieferung enthält zwar Hinweise auf Kriegszüge nach Germanien, auch die Flüsse hinauf, beschreibt Entdeckungsfahrten bis nach Jütland und berichtet von Kaufleuten als Kundschafter, denen man Erkenntnisse über diese andere Welt verdankte, die jedoch kaum reale Aussagen überliefert haben. Dass die Forschung nach Beendigung der Angriffskriege wegen der Niederlage des Varus dann unter Tiberius die zahlreichen nachfolgenden römischen Übergriffe nach Germanien übersehen hat und nur grenznahe Vorgänge vermutete, änderte sich erst durch die Entdeckung des sogenannten Schlachtfeldes oder auch des Opferplatzes am Harzhorn nahe Göttingen an der Werra. Hier vermutet man militärische Aktivitäten in den Jahren um 235 n. Chr., die dann römische Truppen immerhin rund 250 km vom Rhein entfernt ins Land geführt hatten. Die römischen Heeresverbände bestanden auch anderswo im Imperium in den späteren Jahrhunderten zumeist schon aus Germanen, so zum Beispiel in der Schlacht bei Adrianopel im Jahr 378, in der Kaiser Valens fiel. Es war also kein Kampf von Goten gegen Römer, sondern von verschiedenen germanischen Einheiten gegeneinander. Die römischen Legionen sind nicht durch germanische Kriegerverbände besiegt worden, sondern diese haben die Legionäre ersetzt. Römische Heere bestanden fast ausschließlich aus gotischen Rekruten.
4208 J.A.W. Nicolay 2009. 4209 Quast 2016. 4210 Bakker 1993. 4211 Cosack, Kehne 1999. 4212 Moosbauer 2018, 38.
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23 Römische Sachen, Techniken und Sitten in Germanien
Die schriftliche antike Überlieferung bietet vielfache Berichte über Germanen im römischen Dienst,4213 auch für das 4. Jahrhundert4214 und speziell zu Alamannen im römischen Heer nach 350.4215 Diese Germanen hielten sich dann auf dem Boden des Römischen Reichs auf oder in den Heereseinheiten, die in verschiedenen Gegenden im Krieg eingesetzt wurden. Archäologische Belege sind da nicht so leicht beizubringen. Einen komplexen Befund beschreibe ich nachfolgend. Eine frühkaiserzeitliche Brandbestattung von Mehrum, Kr. Wesel, am Rhein wurde schon 1888 ausgegraben.4216 Sie enthielt vier Bronzeeimer und eine Bronzeflasche, ein Schwert mit Resten der Scheide, einen Dolch, Teile von zwei Gürteln, eine Lanzenspitze, zwei Schildbuckel und eine Schildfessel, Reste der Beschläge eines Trinkhorns, zwei gestempelte Terra Sigillata-Teller und auch Reste von Leinwand und Leder. Ein Bronzeeimer diente als Urne, in der außer der Asche noch ein Bronzefläschchen lag. Die Bronzeeimer standen dicht beieinander, unter einem lag das Schwert. Die Bronzeeimer hatten Gesichtsattaschen, ein Henkel endete in Entenköpfen. Die römischen Bronzegefäße haben dazu geführt, dass dieser Fund als Grab eines in römischen Diensten stehenden Germanen gesehen wurde (K. Peschel 1978), zumal das Grab heute rechtsrheinisch, also in der Germania magna lag. Damals in römischer Zeit lag es aber linksrheinisch; und das Mehrumer Grab gehört zu einem kleinen Gräberfeld mit bisher neun bekannten Bestattungen. Es bleibt aber das Grab eines Kriegers, der mit seinen Waffen begraben worden ist, datiert anhand der Terra Sigillata-Teller ins 6. Jahrzehnt n. Chr. Die Waffen wirken wie römische Produkte, sind aber teilweise der Auxiliarbewaffnung nur angeglichen. Römische Legionäre wurden zudem nicht mit Waffen bestattet, sondern sie gaben diese nach dem Ausscheiden aus dem Dienst wieder ab. Vergleichbar sind die neben diesem Gräberfeld von Voerde-Mehrum weiterhin Bestattungen von Tönisvorst-Vorst und Keppeln am linken Niederrhein.4217 Hingewiesen sei auch auf das germanische Trinkhorn. Frühkaiserzeitliche Waffengräber, untypisch für römische Grabsitten, finden sich im Neuwieder Becken und in der Osteifel; sie werden einheimischen „keltischen“ oder „germanischen“ Leuten zugeschrieben.4218 Verglichen werden diese Befunde mit Ausrüstungen in Gräbern von Diersheim (vgl. S. 1061) und in Germanien. Es gibt andere Gräber mit einer derartigen Mischbewaffnung, die nicht alle ein Schwert oder einen Schild enthalten haben.4219 M. Gechter und J. Kunow sehen darin eine eigene Gräbergruppe, und die nahe Position zum Limes in der Nähe von Militärlagern verbindet diese Gruppe ebenfalls, datiert in claudisch-neronischer Zeit (etwa
4213 Johne 1988. 4214 Waas 1965. 4215 Martin 1997, 122 Abb. 119 Graphik, Alamannen ab 350 n. Chr. 4216 Gechter, Kunow 1983; Bridger 2007; jetzt auch Frank 2018. 4217 Bridger 2007, 348 Abb. 292 Vorst. 4218 Oesterwind 2007, 354 Karte der Grabfunde, 357 ff. Abb. 302–304 Waffenbeigaben. 4219 Gechter, Kunow 1983, 453.
23.3 Rangzeichen oder Mode? Militärgürtelbeschläge und Zwiebelknopffibeln
1141
41 bis 68); es ist also eine ähnliche Situation wie etwas später am Oberrheintal bei Diersheim. Da römische Soldaten für diese Beigabenausstattung im Grab ausscheiden, bleiben nur germanische Krieger, Söldner eines gewissen Ranges, teils wohl auch Anführer von Militäreinheiten. Für mich ist bemerkenswert, dass die Autoren eine moderne Parallele heranziehen:4220 Die US-Armee setzte in den Indianerkriegen während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einzeln oder in kleinen Gruppe indianische Kundschafter ein, deren Ausrüstung aus einer Mischung einheimischer und amerikanischer Kleidung und Waffen, vor allem Gewehre, bestand und die damit vielleicht auch bestattet wurden (vgl. auch Anhang 3).
23.3 Rangzeichen oder Mode? Militärgürtelbeschläge und Zwiebelknopffibeln Die spätrömischen Militärgürtel, vor allem die in Kernschnitt- oder mit Punzmustern verzierten Beschläge aus Buntmetall, sind eines der Haupthemen, die H. W. Böhme Jahrzehnte lang seit 1974 gesammelt, katalogisiert und kartiert sowie kulturgeschichtlich ausgewertet hat. Seine Basisthese ist, dass diese Gürtel vom römischen Militär getragen wurden. Wenn sie außerhalb der Grenzen in Germanien gefunden werden, dann sind sie von zurückgekehrten Söldnern mitgebracht worden und wurden zu Grabbeigaben. Abgesehen davon, dass derartige Beschläge auch in nichtrömischen Werkstätten nachgeahmt worden sind, dass sie auch von Frauen und Kindern getragen wurden, bestätigt durch die Grabbeigaben, sind sie anscheinend – so meine Ansicht – eine allgemeine Männermode des 4./5. Jahrhunderts gewesen, und nicht jedes Objekt markiert damit einen Söldner in einst römischem Dienst. Doch die Kartierungen, die H. W. Böhme vorgelegt hat, sind trotzdem aufschlussreich und damit sehr verdienstvoll. Einen ähnlichen Zugang versucht R. Madyda-Legutko, indem sie römische Militärgürtelteile des cingulum militiae in Germanien kartiert, Schnallen und Beschläge,4221 die massiert beiderseits der Elbe von der Mündung bis Böhmen gefunden werden, noch nicht die Kerbschnittgarnituren. Diese Gürtelteile gehören in die Phasen B1-B2 (0–150 n. Chr.); in den Phasen C1-C2 (bis 300 n. Chr.) kommen sie vor allem in Mitteldeutschland vor, auch in Siedlungen. Erst danach erscheinen die Militärgürtel mit Kerbschnitt- und Punzverzierung. Gürtelteile und Zwiebelknopffibeln (vgl. unten S. 1145) werden generell als Nachweise für „römische“ Militärs und Amtspersonen betrachtet.4222 Sie wurden von Römern oder Germanen getragen, von Germanen im römischen Dienst, wobei also eine ethnische Zuweisung vermieden werden sollte, weil die nicht weiterhilft. Gesehen 4220 Gechter, Kunow 1983, 454. 4221 Madyda-Legutko 2016a, 604 Abb. 1 ältere Formen, 616 Abb. 7 Kerbschnittgürtelteile. 4222 Zagermann 2019a, 482 ff., 486 Abb. 9 Gürtelbeschlag mit Tierhatz vom Kügeleskopf bei Ortenberg, Ortenaukreis, zur Problematik ethnischer Deutung 490 mit Anm. 76.
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23 Römische Sachen, Techniken und Sitten in Germanien
werden externe Kräfte, die ins Römische zuzogen, im 4. Jahrhundert und auch für die mittlere Kaiserzeit, und die Schriftquellen nennen sie mehrfach Germanen. Zu den Fundgruppen dieser Zuzügler gehörten im 4. Jahrhundert bestimmte Typen eiserner Gürtelschnallen oder auch bestimmte Fibeln.4223 Ein Beispiel ist die Tierscheibenfibel mit silberner Pressblechauflage aus dem Vicus vor dem Kastell Dambach.4224 Einige Karten bringen die spätrömischen Militärgürtelbeschläge des späten 4. und mittleren 5. Jahrhunderts außerhalb des Limes dicht verteilt bis über die Elbe nach Osten hinaus.4225 Verschiedene Kartierungen bieten die Verteilung von Militärgürtelbeschlägen auch beiderseits des Rheins, von Nordgallien bis zur Elbe, z. B. sogenannte Einfache Gürtelgarnituren. Diese Gürtelbeschläge werden zudem auf den spätantiken Höhensiedlungen in Südwestdeutschland gefunden (vgl. S. 333). Sie kommen regelmäßig auch in den gallischen Höhensiedlungen im 4./5. Jahrhundert vor.4226 Es gibt teilweise eine Koppelung mit der Waffenbeigabe in Gräbern im nordgallischen Raum,4227 was die Anwesenheit germanischer Söldner samt ihrer Familien westlich des Rheins dokumentieren würde. Mögliche andere Deutungen und Erklärungsvorschläge referiere ich im Abschnitt „Der Sonderfall Nordostgallien im 4./5. Jahrhundert (vgl. S. 1164 ff.). Zur lokalen Herstellung bieten Bleimodelle, Halbfabrikate und Gussformen Hinweise durch die Fundorte4228 auch außerhalb der römischen Provinzen, wie z. B. in Emmerich-Praest östlich des Rheins. H. W. Böhme versucht jedoch mit der zitierten Karte zu belegen, dass die Bindung an die römischen Werkstätten in den Provinzen vorherrscht. Erscheinen Waffen in den Gräbern, so ist der Verweis auf Söldner jeweils schnell bei der Hand. J. Kleemann sieht in den Waffenbeigaben gleich Foederatengräber in Niedersachsen, erläutert am Beispiel eines Waffengrabes von Issendorf und in vergleichbaren Bestattungen in der Nachbarschaft.4229 Im Abschnitt über germanische Söldner in römischen Diensten darf von archäologischer Seite der Blick auf die sogenannten Zwiebelknopffibeln ebenfalls nicht fehlen.4230 Sie waren Teil der Militärtracht in der römischen Armee und später auch bei zivilen Beamten; das steht außer Frage, und die Fibeln kommen in allen Metallen, in Bronze, Silber und Gold vor, entsprechend dem Rang des Trägers. Hier geht 4223 Zagermann 2019a, 490. 4224 Steidl 1999b, 130 Abb. 3 Parallelen (Hirschkuh?), 135 Abb. 4 Karte der Tierscheibenfibeln, an der Elbe und Saale sowie in Mitteldeutschland und bis Böhmen. 4225 Böhme 1974; 1996a, 98 Abb. 73 Karte; 2003, 305 Abb. 23 in Farbe; 1999, 60 Abb. 10, 61 Abb. 11; 2002, 300 Abb. 15; Steuer 1998a, 303 Abb. 7. 4226 Böhme 2008a, 103 Abb. 14 Karte. 4227 Böhme 2003, 300 Abb. 15; 1999. 4228 Böhme 2008a, 82 Abb. 4 und 84 Abb. 5 Karte; auch Steuer 1990; 1996b. 4229 Kleemann 1997. 4230 Pröttel 1988; Steuer 2007d; Zabehlicky 1990 (Zwiebelknopffibeln auf römischen Denkmälern); Theune-Grosßkopf 1995; Zagermann 2019b; Schierl 2016, 540 Abb. 7 Karte und Fundiste 3 der Zwiebelknopffibeln außerhalb des Römischen Reichs mit knapp 130 Orten.
23.3 Rangzeichen oder Mode? Militärgürtelbeschläge und Zwiebelknopffibeln
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es jedoch zuerst um die Rolle dieser Fibeln in Germanien. Sie sind vielfach kartiert worden (vgl. Abb. 89).4231 Im 4. und 5. Jahrhundert bieten Teile der römischen Ausrüstung von Militärs ein weites Feld möglicher Deutungen: Es handelt sich einerseits um die Mantelfibeln vom Umhang (paludamentum) des Legionärs, um Zwiebelknopffibeln4232 und die im Germanischen nachgeahmten Bügelknopffibeln sowie andererseits um die verzierten Gürtelbeschläge aus Bronze oder manchmal auch aus Silber. In der Regel werden diese Metallobjekte in Germanien, ob als Grabbeigaben oder als Reste in Siedlungen, als Hinweis auf zurückgekehrte Söldner in dieser späten Phase des Römischen Reichs interpretiert.4233 H. W. Böhme wertet die Funde außerhalb des Römischen Reichs durchweg sogar als Zeichen germanischer Offiziere in der römischen Armee, die als Söldner nach Hause zurückgekehrt diese Fibeln mitgebracht haben.4234 Die Kartierungen deuten an, dass in manchen Gebieten Germaniens anscheinend alle Männer zeitweilig auch Söldner in den römischen Provinzen gewesen sind; was man aber auch bezweifeln könnte. Die Verbreitungskarten von H. W. Böhme werden weiter ergänzt.4235 Doch gibt es auch Argumente dafür, dass diese römische Art des Tragens der Fibeln und die mit Bronze beschlagenen Kriegergürtel sich umzulegen eine übernommene Modeerscheinung war. Es gibt eine Reihe von Belegen dafür, dass derartige Beschläge auch in Germanien selbst produziert worden sind (vgl. unten S. 1142).4236 Die automatische Verknüpfung der Funde von Zwiebelknopffibeln in Germanien mit dem Söldnerwesen ist also zu kurz geschlossen, kommt aber weiterhin regelmäßig vor. „Im Dienste Roms“ heißt es dann bei der Einordnung der Stücke, immerhin mit einem Fragezeichen.4237 Zwiebelknopffibeln kommen auch sehr weit im Osten Mitteleuropas vor. Eine neue Verbreitungskarte dieser Zwiebelknopffibeln jenseits des Limes mit neuen Fundstellen Mokra, Spiczyn, Jakuszowice wird anders interpretiert (Abb. 89). Festgestellt wird einerseits, dass römischer Militärdienst nicht zu bezweifeln sei, andererseits aber sehr aufschlussreich, dass diese Fibeln „im Fundstoff hingegen überwiegend Einzel- und Siedlungsfunde“ sind.4238 D. Quast weist zudem darauf hin, dass diese Fibeln auch in Frauengräbern gefunden worden sind.4239 Zwiebelknopffibeln gibt es in Gräbern ohne echten Militärzusammenhang, Fundkomplexe mit diesen Fibeln oder mit Militärgürteln schließen sich sogar aus, ganz selten und nur als Ausnahme sind sie mit Waffen entdeckt worden. Während sie im Decumatland, 4231 Hoeper 2003, 38 ff, 40 Abb. 11 Karte. 4232 Schmauder 1999a, 87 Abb. 2 Karte des Typs 5; Böhme 2012a; Steuer 2007d; gegen Böhme Steuer 2017, 268 mit Anm. 94; Quast 2015b; Pröttel 1988 Chronologie der Zwiebelknopffibeln. 4233 Böhme 1974; 1999a, b. 4234 Böhme 2012a, Karte; Quast 2015b, 308; Bemmann 2003a, 57–59, 69–70. 4235 Pilet 2003. 4236 So schon Steuer 1990, 177 mit Lit. 4237 Łuczkiewicz 2017b, 303 Abb. 3 Kartierung nach Quast 2015b, 309–310 Abb. 3 und 4 mit Ergänzungen. 4238 Łuczkiewicz 2017b, 302 Zitat. 4239 Quast 2015b, 308.
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23 Römische Sachen, Techniken und Sitten in Germanien
Abb. 89: Verbreitungskarte der Zwiebelknopffibeln jenseits des Limes in Germanien.
in Böhmen und sonst einzeln vor allem in der Slowakei und in Dakien als militärische Ausrüstung überliefert sind, sollte die Deutung in Germanien offen bleiben. Denn gerade weil Zwiebelknopffibeln nicht in den Gräbern – natürlich auch nicht in den Siedlungen – im militärischen Kontext gefunden werden, spricht das keineswegs für zurückgekehrte Söldner. In den Gräbern mit Militärgürteln finden sich die Fibeln eben nicht in der Position der Trageweise des Soldaten. Die Zwiebelknopffibeln belegen zwar Kontakte und Mobilität germanischer Männer, aber wie bei den Gürteln mit kerbschnitt-und punzverzierten Beschlägen handelt es sich als einfachste Erklärung in Germanien um eine Mode der Männer,4240 und die Zwiebelknopffibeln waren vielleicht nur einfach Beutestücke. Wären germanische Söldner als römische Legionäre bestattet worden, dann müsste wenigstens ab und zu diese den Rang anzeigende Fibel auch im Grab an der Schulter als Mantelfibel gelegen haben. Immerhin ist das bei späten Stücken wie im Grab des Childerich (gestorben 482) so gewesen. Eine Ausnahme ist das Brandgrab 294 der Przeworsk-Kultur von Mokra, Kr. Kłobuck, das eine Zwiebelknopffibel, eine Schildfessel und einen Schildbuckel enthielt (und es war zudem eine Doppelbestattung, da auch zwei Spinnwirtel im Grab lagen).4241 Nicht anders sieht es weiter im Süden in Pannonien aus.4242 Im Gräberfeld von
4240 Das ist meine These; dagegen Zagermann 2019b, 482. 4241 Łuczikiewicz 2017, 303. 4242 Horváth, Miháczi-Pálfi, Évinger, Bernet 2017–2018, 39, 49 Zwiebelknopffibeln.
23.3 Rangzeichen oder Mode? Militärgürtelbeschläge und Zwiebelknopffibeln
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Somogyszil sind bis 1968 etwa 152 Bestattungen mit 148 spätrömischen Gräbern aufgedeckt worden, die 1979 veröffentlicht wurden. Insgesamt sind in Pannonien auf spätrömischen Gräberfeldern über Zehntausende von Gräbern dokumentiert worden. Zwiebelknopffibeln und als rechtsrheinisches Pendant Bügelknopffibeln sowie Stützarmfibeln und Fibeln mit umgeschlagenem Fuß kommen auch in diesem Gebiet vor, seit der zweiten Hälfte des 4.Jahrhunderts und als Beigabe bis zum Ende des Jahrhunderts. Fibeln vom Typ Leutkirch finden sich vom Elbegebiet bis ins Böhmisch-Mährische Becken und belegen indirekt nach Südwesten den Kontakt zum alemannischen Gebiet.4243 H. W. Böhme zählt auch die Bügelknopffibeln von Somogyszil „zu jenen Funden, die auf eine Anwerbung von Alamannen ins spätrömische Heer schließen lassen …“.4244 Derartige Fibeln sind also vom Elbegebiet und Mecklenburg über Polen, Mähren, Ungarn/Pannonien und Rumänien bis hin zum Küstengebiet des Schwarzen Meeres verbreitet. Der Befund ist vergleichbar der Verteilung solcher Fibeln von Mecklenburg nach Südwestdeutschland ins Gebiet der sich zu Alamannen zusammenfindenden Germanen. Es gilt also festzuhalten, dass die weitreichenden „Fernstraßen“ vom Norden nach Südwesten und ebenso nach Südosten in derselben Weise genutzt wurden; und Zwiebelknopffibeln gelangten aus dem spätrömische Reich von verschiedenen Seiten nach Germanien, kaum nur als Zeichen von zurückgekehrten Söldnern, sondern in erster Linie als Hinweis auf Kontakte in die römischen Provinzen. Das militärische Engagement germanischer Eliten für die römische Seite scheint ebenfalls in den frühkaiserzeitlichen Gräbern von Hagenow in Mecklenburg und Kemnitz bei Potsdam belegt zu sein.4245 Wenn die Erklärung der Befunde bei diesen Beispielen akzeptiert würde, ließe sich eine beachtlich große Palette gleichartiger oder ähnlicher Befunde hinzufügen, zum Beispiel aus dem gesamten Gebiet der Ostseeländer, und diese als Bestattungen von ehemaligen Söldnern erklären.4246 Dann aber wäre sicherlich ein zu breiter Teil germanischer Krieger schon so früh als Söldner unterwegs gewesen, was sich zum 4./5. Jahrhundert hin dann weiter verstärkt hätte. Dass die Bemühungen der römischen Seite, Germanien zur Provinz zu machen, zu Anfang vom Westen aus oder später vom Süden her, vergeblich geblieben sind, ist dann kaum noch zu verstehen. Also muss es doch eine weitaus größere Zahl von Kriegern in Germanien gegeben haben, die nicht zugleich auch auf römischer Seite Militärdient geleistet haben. Wie bei der Überinterpretation der Sachgüter aus dem Römischen Reich in Germanien, was ihre Anzahl angeht im Vergleich zum einheimischen Material, sollte man auch die Zahl der Germanen als Söldner nicht überschätzen.
4243 Schach-Dörges 1997. 4244 Böhme 1986, 488 ff. mit Anm. 41. 4245 Salido Domínguez 2015 (2016). 4246 Kontny, nach 2014 (im Druck).
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23 Römische Sachen, Techniken und Sitten in Germanien
Schließlich gibt es als Erklärung für die Kriegsausrüstungsopfer wie in Illerup Ådal in Jütland sogar die These, dass die Waffenkomplexe nicht auf innergermanische Kriege zurückgehen würden, auf besiegte Truppen aus Norwegen, Schweden oder auch Norddeutschland, sondern nur als Ergebnis zurückgekehrter Einheiten aus römischem Militärdienst in der Provinz Germania inferior zu erklären seien, weil in der germanischen Gesellschaft jener Zeit eine solche perfekte Kriegerorganisation noch nicht möglich gewesen wäre. Tatsächlich sind die Waffenansammlungen nach Zahl und Rang mit der Größenordnung römischer Gliederungen im Bereich der Auxiliareinheiten zu vergleichen, was auch schon mehrfach erkannt worden ist. Aber derartige Gliederungsgrößen waren ebenso wesentlich früher und auch später wieder üblich und spiegeln in gewisser Weise natürlich entstehende Realitäten wider in der Organisation von Kampfverbänden (vgl. S. 673).4247 Im Übrigen schließt die eine Erklärung die andere nicht aus. Vielleicht haben einige der Krieger, deren Waffen geopfert worden sind, in der römischen Armee gekämpft. Die beachtliche Zahl der römischen Schwertklingen könnte für eine mobile Kriegergruppe sprechen, die zeitweilig im Römischen Reich gedient hat. Doch ist es tatsächlich realistischer davon auszugehen, dass es zwischen der Bewaffnung germanischer Kriegerverbände und römischer Militäreinheiten kaum noch Unterschiede gab. Man passte sich jeweils dem Gegner an. Nicht von ungefähr fällt auf, dass sowohl im Varus-Schlachtfeld bei Kalkriese des Jahres 9 n. Chr. als auch im „Schlachtfeld“ am Harzhorn um 235 n. Chr. neben der großen Menge an bekannter römischer Ausrüstung fast keine „germanischen“ Waffen gefunden worden sind. Die Fürsten- bzw. Elitegräber der jüngeren Römischen Kaiserzeit, des 3. und 4. Jahrhunderts, beschreiben die Mentalität der Familien, die deren Grabausstattung organisiert haben, wie man es mit römischem Einfluss hielt. Römisches und traditionell Germanisches wurden vermischt verbunden; sind sie als romanisierte Germanen zu beurteilen?4248 Das Grab des Kriegers von Kemathen an der Altmühl bei Eichstädt aus dem Grenzgebiet zwischen Germanien und den römischen Provinzen, ein gut ausgestattetes Körpergrab, wurde 1990 gefunden (vgl. oben S. 957). Der Tote wird als Söldner angesehen und aufgrund seiner Ausrüstung ins frühe 5. Jahrhundert (425–435 n. Chr.) datiert. Er war bewaffnet mit einer Spatha und einem Schild, trug einen mit Kerbschnitt und Punzmustern verzierten Militärgürtel aus Bronze, hatte ein Feuerzeug aus Feuerstahl mit Feuerstein bei sich und einen Dreilagenkamm, eine Armbrustfibel und einen Fingerring aus Silber. Als Beigaben standen im Grab ein Glasbecher und fünf handgemachte Tongefäße.4249 Unter den Beigaben fallen vor allem der Prunkschild und der breite Gürtel mit mehreren Beschlägen auf. Eindrucksvolle 4247 Fuglevik 2007. 4248 Werner 1973; 1989; dagegen Erdrich 2001, 133 f.; Bemmann 2003a, 67; auch Schmauder 2004; Th. Fischer 2014 zu weiteren vergleichbaren Kammergräbern im Vorland des Limes: Berching-Pollanten und Irfersdorf. 4249 Wamser u. a. (Hrsg.) 2000, 309 Abb. 75: Rekonstruktion.
23.4 Germanischer Einfluss auf die römische Welt
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Rekonstruktionen der Grablege und der Ausstattung des Kriegers sind publiziert.4250 Dieser Krieger ist ein Paradebeispiel für Germanen im spätrömischen Heer.4251 Blicken wir zurück auf die Anfänge, so kann summiert werden, germanische Heimkehrer aus dem römischen Militärdienst gab es seit der Zeit des Arminius, und sie waren zumeist sogar römische Bürger.4252
23.4 Germanischer Einfluss auf die römische Welt Die meisten Autoren blicken wie üblich von der römischen Seite nach Germanien und unterschätzen nach meiner Ansicht – die ich ausführlich erläutere – die Eigenheiten und Unabhängigkeiten der Bevölkerungen in Mittel- und Nordeuropa. Man könnte auch eine umgekehrt ausgerichtete kulturgeschichtliche Darstellung schreiben, nämlich was aus Germanien in die römische Welt hineingewirkt hat; es waren nicht nur kaiserliche Leibgarden aus germanischen Kriegern in Rom oder Söldnereinheiten in der römischen Armee. Im Gegenzug ist also zu fragen, welche Einflüsse aus Germanien in den römischen Provinzen zu finden sein könnten. Über das Militärische, das Söldnerwesen, habe ich schon mehrfach berichtet. Im Zuge der Eingliederung germanischer Krieger in die römischen Truppenteile, nicht nur in die kaiserliche Leibgarde, veränderte sich zur Spätantike hin auch die Bewaffnung. Das germanische Langschwert nahm vor allem seit dem 3. Jahrhundert einen neuen Stellenwert ein. Über frühe Siedlungen germanischer Einwanderer in Nordgallien wurde oben berichtet (vgl. S. 239). Auch einen Lebensmitteltransport über die Grenze gab es, vor allem gerade in der Frühphase der Eroberungsepoche zu den Friesen, die landwirtschaftliche Produkte und Rinder liefern sollten. Seit der Mitte des 2. Jahrhunderts und im 3. Jahrhundert färbt germanische Ausrüstung auf die der römischen Militärs auch in anderen Aspekten ab.4253 In römischen Soldatengräbern im Donauraum fallen unter den Beigabenausstattungen zwei Neuerungen auf: Zum einen werden nun Gürtel als Beigaben mit in die Gräber gegeben, und zum anderen werden diese Gürtel mit zahlreichen Riemenzungen als Anhänger versehen, wie das aus der Przeworsk-Kultur bekannt ist. Oft sind es zwei Gürtel, cingulae, zur getrennten Aufhängung, früher von Gladius, dann von Dolch und Schwert, das meist am Schultergurt getragen wird. Wahrscheinlich hängt diese Veränderung damit zusammen, dass in den römischen Einheiten zunehmend Germanen eingereiht waren.
4250 Rieder 2017, 23 Abb. (Grab), 24 Abb. (Beigaben), 26 Abb. (Rekonstruktion des aufrecht stehenden Kriegers). 4251 Schmidts 2000, 224 f. Abb. 188–189. 4252 J.A.W. Nicolay 2009; dazu auch Blankenfeldt 2009; Ilkjær, R. B. Iversen 2009. 4253 Th. Fischer 2018b, 151.
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23 Römische Sachen, Techniken und Sitten in Germanien
Darüber hinaus gelangten germanische Importe in die Germania inferior während der jüngeren Römischen Kaiserzeit.4254 In einigen Orten der Provinz sind germanische Sachgüter, so Gürtelteile und Sporen gefunden worden. Während der Spätantike nehmen die Schmuckelemente im Norden der Provinz zu, wie H. W. Böhme ausführlich gezeigt hat. Aber dann sind damit auch zugezogene Germanen als Träger verbunden, wie interpretiert wird. Gleichartige Elemente der Goldschmiedekunst findet man beiderseits des Limes. Der Waren- und Personentransfer erfolgte in beiden Richtungen. Die Verteilung der Schatzfunde vom Typ Velp (vgl. oben S. 519 und oben Abb. 49) spiegelt die Überklammerung der Limeszone zur Zeit des Söldnerwesens zu den Franken und der allgemeinen fränkischen Bedrohung und Einwanderung.4255 Auf die Übernahme von Germanen als Foederaten samt ihrer Ansiedlung auf römischem Boden, wie in der Schriftüberlieferung vielfach geschildert, gehe ich aber bewusst nicht ein. C. Knappett zieht zur Erklärung moderne postkoloniale Erklärungsmodelle heran.4256 Die Grenze zwischen den römischen Provinzen und Germanien war immer durchlässig gewesen. Michael Erdrich meint, aufgrund des gehäuften Vorkommens von germanischen Fibeln mit hohem Nadelhalter (Almgren VII) in der Provinz Zuid Holland,4257 dass es bereits im 3. Jahrhundert zu Verträgen zwischen Barbaren und dem Imperium gekommen sei und „Rom fränkische Siedlungen auf dem Reichsgebiet tolerierte“.4258 Die Kontakte blieben, wie v. Carnap Bornheim anhand der kaiserlich germanischen Traditionen im Fundgut des Grabes des „Chef militaire“ in Vermand (Dép. Aisne, Frankreich) und noch im Childerichgrab in Tournai aufgezeigt hat.4259 Ähnliche Überklammerungen des Limes gab es auch an der Donau im Süden (vgl. S. 1079 ff.).
23.5 Eine Zusammenfassung Lotte Hedeager hat schon 1979 versucht, die Reichweite des römischen Einflusses in Germanien anhand der Sachgüter kartographisch zu erfassen.4260 Dabei hat sich – im statistischen Sinne – gezeigt, dass mit zunehmendem Abstand von jeweils 200 km bis 1200 km, also vom römischen Limes bis Norwegen, die überlieferte Fundmenge an Bronzegefäßen, Fibeln oder Keramik abnimmt; besondere Häufigkeiten reichen immerhin 500 km weit bis zur Elbe und in größerer Dichte auch in den Norden, mehr als im Osten von der Donau bis zur Weichsel zu kartieren ist. Doch ist nicht zu übersehen, dass die jeweiligen Gebräuche, beispielsweise, was als Grabbeigabe oder gar
4254 Quast 2017c, 357 Abb. 1 Karte der Orte, 361 Abb. 5 Karte der Tutulusfibeln. 4255 Quast 2009b; Knappett 2011. 4256 Knappett 2011. 4257 Schulte 2011, Beilage. 4258 Erdrich 2005, 178 Zitat. 4259 v. Carnap-Bornheim 1999d. 4260 Hedeager 1979.
23.5 Eine Zusammenfassung
1149
Urne in Germanien gedient hat, sehr unterschiedliche Konzentrationen im Verbreitungsmuster hervorgerufen haben. Man sollte sich vergegenwärtigen, dass trotz des tiefgreifenden Gegensatzes zwischen germanischer und römischer Lebensweise und Zivilisation ein geographisch nahes Nebeneinander existierte. Der Verlauf des Limes markiert eine Linie der unmittelbaren Berührung beider Bereiche. Römische Importgüter gelangten aber trotzdem bis weit in den Osten an die Weichsel und darüber hinaus sowie bis nach Nordskandinavien. In alle Gegenden konnten anscheinend die römischen (und germanischen) Kaufleute reisen, und aus allen diesen Gebieten werden auch Krieger ins Römische Reich gezogen sein, um dort als Söldner zu dienen. Diese brachten dann bei ihrer Rückkehr in die Heimat allerlei Errungenschaften mit nach Hause. Auch Kriegs- und Beutezüge aus dem Inneren Germaniens bis tief ins Römische Reich hinein werden für diese Zufuhr gesorgt haben. Der Blick auf Karten in einem Geschichtsatlas macht deutlich, dass im Vergleich zur Größe des Römischen Imperiums Germanien vom Rhein bis zur Weichsel eine kleine und nahe Nachbarschaft war, nur Nordskandinavien lag dann schon in größerer Entfernung. Es muss nicht verwundern, wenn eine Bevölkerung trotz aller Bestrebungen nach Eigenständigkeit auch Kulturtechniken von Nachbarn übernimmt. Im grenznahen Bereich, so in den heutigen Niederlanden, haben archäologische Ausgrabungen die Umwandlung von germanischen Gehöftanlagen in Pfostenbautechnik in Grundrisse einer römischen Villa beobachtet, die dann schließlich in einer späteren Phase auch in römischer Weise mit Steinfundamenten erbaut wurden. Die Bevölkerung in Germanien blickte selbstverständlich auf die Lebensumstände in den römischen Provinzen, und man hatte nichts dagegen, in den eigenen Alltag Sachgüter und Fertigkeiten zu übernehmen, die als Ergänzung und Verbesserung der Situation dienen konnten. Doch gab es Grenzen dafür, und eine Kopie vollständigen römischen Lebensstil war nicht beabsichtigt und auch nicht gewünscht, nicht einmal in der unmittelbaren Grenzregion. Die archäologische Forschung kann das bewerten und unterscheiden. Nicht umsonst hat Arminius mit seinen Kriegern sich gegen die römische Besatzung und Eingliederung in ein römisches Provinzsystem mit Erfolg gewehrt. Es ging nicht um einen abstrakten Freiheitsbegriff und um politische Unabhängigkeit allein, sondern um die Sicherung der eigenen Lebensweise, die auf Traditionen beruhte und auch nicht primitiver war, sondern einfach nur anders als die römischen Verhältnisse, und man wollte dabei bleiben. Über vier bis fünf Jahrhunderte hinweg lebte die Bevölkerung – von der römischen Grenze aus gesehen – in der nahen Nachbarschaft und ebenso in weiter Ferne neben der oder auch parallel zur anderen Zivilisation der Provinzen des Römischen Reiches, und sie lernte auf unterschiedlichem Wege andersartigen Lebensstil und andere Sachgüter kennen, und das bis in den letzten Winkel des besiedelten Germaniens. Kaufleute aus der römischen Welt haben Luxusgüter im gegenseitigen Handel angeboten und „verkauft“, im Tausch gegen eigene Produkte, darunter Eisen, Felle und Pelze, und nicht zuletzt auch Sklaven. Bei Kriegszügen gefangene Römer gehörten ebenso dazu
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23 Römische Sachen, Techniken und Sitten in Germanien
wie besiegte Angehörige anderer Völkerschaften in Germanien. Sachgüter, vor allem Waffen, d. h. qualitätsvolle Schwertklingen, sowie Metallgefäße aus Bronze, Messing und Silber, brauchte man nicht selbst herzustellen. Bei Beutezügen in die Provinzen ging es vor allem um solche Gefäße und um Metall aller Art, wie die großen FlussfundKomplexe wie Hagenbach, Neupotz und Xanten bezeugen. Intensiver waren das Kennenlernen römischer Lebensweise und der Zweck der dazu gehörenden Sachgüter durch die Söldner, Krieger aus Germanien in römischen Diensten. Der Anteil der Söldner unter den Kriegern in Germanien ist nicht abzuschätzen; aber da kontinuierlich germanische Krieger in römischen Heereseinheiten dienten oder Anführer wie Arminius ihre Gefolgschaft insgesamt als Auxiliareinheiten dem römischen Militär zur Verfügung stellten, wird der Prozentsatz über die Zeit hin nicht gering gewesen sein; denn zumeist kehrten die Männer nach Beendigung der „Dienstzeit“ wieder in ihre alten Siedlungen zurück, sofern sie sich nicht einer mobilen Kriegergefolgschaft anschlossen, und brachten Sold, Sachen und Wissen mit. Von der Zeit des Arminius und seines Aufenthaltes in Rom über die kaiserlichen Leibgarden aus Germanen bis zu den Foederatenverbänden des 3. bis 5. Jahrhundert spielte das Kriegerwesen eine große Rolle; damit ist aber nicht gleich gesagt, dass mit Bronze beschlagene Militärgürtel einen Krieger in Germanien ausnahmslos als Söldner kennzeichnet. Männermode breitete sich auch zu den anderen Kriegern aus, worauf in Germanien nachgeahmte römische Gürtelbeschläge hinweisen. Wie dem auch sei, nicht nur auf der Ebene des Kriegerisch-Militärischen wird der Einfluss aus den römischen Provinzen sichtbar, sondern auch in anderen Lebensbereichen. So wie nicht abzuschätzen ist, wie hoch der Prozentsatz der Germanen gewesen ist, die zur jeweils gleichen Zeit als Söldner in römischen Militäreinheiten gedient haben, ist nicht messbar, welcher Prozentsatz der Bevölkerung von „Römischem“ beeinflusst worden ist und wie hoch der Anteil an der Einwohnerschaft war, die tatsächlich Güter aus den römischen Provinzen erhalten haben. Die auffälligen römischen Sachen werden den Blick der Forschung verstellt und damit den Einfluss überschätzt haben. Die vielen ausgegrabenen Siedlungen mit ihren zufällig übergebliebenen Sachen und auch die üblichen großen Brandgräberfelder sprechen eine andere Sprache. Über die ersten Jahrhunderte n. Chr. überwiegen bei weitem heimische Bräuche im Wohn- und Wirtschaftswesen ebenso wie im Totenbrauchtum. Spekulativ bleibt es aber, wenn ich denke, dass weniger als 10% der Bevölkerung Germaniens vom Römischen beeinflusst worden ist. Doch in der Herrichtung und Ausstattung von Gräbern eines Teils der Elite in Germanien, den „Fürstengräbern“ der älteren sowie der jüngeren Römischen Kaiserzeit im chronologischen Sinne, also vom 1. bis 4. Jahrhundert, wird nicht nur die eigene Auffassung vom Grabbrauchtum fassbar. Die Lösung, Tote als Körper zu bestatten und nicht zu verbrennen, sie in großen, sorgfältig gebauten Kammern aus Holz und Stein niederzulegen und sie mit Trink- und Essgeschirr üppig auszurüsten, beschreibt ein eigenes neues Statusbewusstsein. Die Gefäßbeigaben, aus heimischer Keramik bestehend und aus römischen Gläsern, Silberbechern und Metallgefäßen, sowie
23.5 Eine Zusammenfassung
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sogar die Beigabe von Klapptischen spiegeln nicht nur Besitz und Reichtum, sondern zugleich auch in Ausschnitten die Übernahme römischer Tischsitten. Germanien war „Dritte Welt“ im Vergleich zur Zivilisation des Römischen Reichs, der damaligen „Ersten Welt“, war aber eine unabhängige Welt mit eigenen politischgesellschaftlichen Ordnungen, eigenem vielfältigen Kult und eigener Kultur. Anders als die Gallier ließen sich die Germanen nicht unterwerfen, aber öffneten sich teilweise zivilisatorisch der Romanisierung. Doch wurde Römisches bei der Adaption in der Regel umgeformt und durch eigene Vorstellungen verändert, mit dem Ziel einer Schaffung vielfältiger eigener Identitäten. Statt die lateinische Schrift zu übernehmen, die man teils beim Militärdienst erlernt hatte und somit kannte, wurde im späten 2. und frühen 3. Jahrhundert die Runenschrift geschaffen (vgl. unten S. 1249), wahrscheinlich im bewussten Gegensatz zu Rom, die dann von allen Gruppen und „Stämmen“ überall in Germanien vom Norden ausgehend und zeitlich bis in die nachfolgende Merowingerzeit und darüber hinaus ausschließlich verwendet wurde. Statt in der Kleinkunst römischen Stil zu übernehmen, entwickelte man im 4./5. Jahrhundert nach bescheidenen Anfängen den eigenen Kerbschnitt- und frühen Tierstil. Die oftmals prächtig verzierten Beschläge aus Bronze von Militärgürteln, wie sie die Soldaten und Offiziere der römischen Armee wie Rangabzeichen im 4. und frühen 5. Jahrhundert trugen, wurden von Germanen als allgemeine Männer- und Kriegermode übernommen wie früher bei der Haartracht der Swebenknoten. D. h. nicht jede Grabbeigabe zwischen Rhein und Elbe mit derartigen Gürtelteilen bezeichnet einen in die Heimat aus römischem Dienst zurückgekehrten Söldner, sondern derartige Beschläge wurden in eigenen Werkstätten für den Gebrauch im heimischen Umfeld hergestellt. Im Übrigen trugen römische Militärs die sog. Zwiebelknopffibel als Mantelschließe an der rechten Schulter; doch diese wurden bisher sehr selten zusätzlich zu den Gürtelbeschlägen als Beigabe in einem Germanengrab gefunden. Diese Mantelfibeln spiegeln aber immer noch Kontakte und den Blick in die römischen Provinzen; denn man ahmte auch diesen Fibeltyp als Bügelknopffibeln im Germanischen nach. Im Zentrum zwischen Elbe und Weser entwickelte man einen eigenen Kunststil, durch Umwandlung römischer Vorbilder. In den Grabfunden von der Fallward bei Wremen wurde neben der Verwendung der Runenschrift auf denselben Möbelobjekten Kerbschnittverzierung, wie auf spätrömischen Militärgürteln, in Holzornamentik umgesetzt (oben Abb. 74), und zwar durch Verwendung des am Ort gewachsenen Holzes; es waren also keine Importe. Außerdem wurde von heimischen Kunsthandwerkern diese Kerbschnittund Spiralornamentik zur Verzierung von speziellem Frauenschmuck verwendet, auf den sogenannten gleicharmigen Fibeln, die ausschließlich hier in diesem kleinen Gebiet zwischen Weser und Elbe Mode wurden. Nach Auswanderung, Übersiedlung oder durch Kontakte nach England kamen dort ebenfalls derartige Fibeln vor, doch nur in Kent (Abb. 90). In Kent und im westlich anschließenden Südengland bis zur Insel Wight konzentriert gibt es zudem nur die in England beliebten Quoit Brooches des frühen und
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23 Römische Sachen, Techniken und Sitten in Germanien
Abb. 90: Gleicharmige Fibeln mit Kerbschnittornament aus dem Elbe-Weser-Dreieck und in England mit der Typengliederung.
mittleren 5. Jahrhunderts und den Quoit Brooch Stil. Dieser scheint mit poströmischen Einflüssen und germanischen Wurzeln zusammenzuhängen und auch Beziehungen zum Kontinent über den Kanal zu spiegeln, insgesamt als Abbild einer spätrömischen Machtsymbolik.4261 Die Umwandlung römischer Vorbilder in der Kleinkunst setzte sich kontinuierlich fort. Römische Münzen und kaiserliche Medaillons, die nach Germanien gelangten, wurden umgedeutet und umgeändert, was die Bildinhalte betraf, und man entwickelte daraus um 500 n. Chr. die Goldbrakteaten mit eigener Bilderwelt zu heimischen Göttervorstellungen (vgl. unten S. 1206). Ein Blick in das Gebiet der Bataver westlich des Niederrheins im Bereich der römischen Provinz Niedergermanien zeigt aber statt einer umfassenden Romanisierung durchaus ein anderes auffälliges Bild, nämlich die Beharrung in der Tradition germanischer Gehöftanlagen in manchen Landschaften zwischen den Gebieten, in denen sich tatsächlich die römische Villen-Kultur schon ausgebreitet hatte.4262 Die Bataver blieben konservativ beim Wohn-Stall-Haus mit eingegrabenen Holzpfosten und Lehmwänden. Nur in einigen Fällen hatte man dem zweischiffigen Langhaus noch einen Säulenumgang, eine porticus angefügt. Nico Roymans meint deshalb: Diese Hybridformen illustrieren den hohen symbolischen Wert des einheimischen Wohnstallhauses innerhalb des batavischen Selbstwertgefühls, gleichzeitig sind die hinzugefügten Architekturelemente eine Aussage über die römische Identität und die damit verbundenen Absichten der Bewohner. Die Erbauer dieser romanisierten Bauernhäuser […] müssen wir im
4261 Swift 2019. 4262 Roymans 2004; 2009, 92 und 93 Zitate.
23.5 Eine Zusammenfassung
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Umfeld von ehemaligen Soldaten (und Offizieren) suchen, die über den entsprechenden Reichtum und Verbindungen zum Militär verfügten, [und weiter:] Die Wohnstallhäuser und die Gräberfelder sind Symbole einer vorväterlichen Vergangenheit und gehören zum symbolischen Vokabular der Bataver bei der Verdeutlichung ihrer eigenen Identität.
Auf einige Beispiele derartiger rechteckig eingezäunter Parzellen mit mehrfacher Bebauung in der Maaskant Region der südlichen Niederlande, die wie Herrenhöfe wirken, sei noch einmal hingewiesen (vgl. oben S. 234). Während der vorrömischen Eisenzeit und der frühen Kaiserzeit, also in der Phase der römischen Einflussnahme und beginnenden Besetzung, wandelten sich die wandernden Dörfer in platzkonstante Siedlungen. Man interpretiert diese Anwesen als Sitze der Elite. Die Ähnlichkeit mit den jütländischen großen Rechteckanlagen bei Tjørring ist tatsächlich erstaunlich.4263 Beispiele sind die Gehöfte von Oss-Westerveld (gegraben 1976–1986) mit den Abmessungen 260 auf 380 m bzw. 7,5 ha und zweifacher oder dreifacher rechteckiger Palisade, sowie auch Oss-Schalkskamp mit den Abmessungen 150 auf 180 m bzw. 2,6 ha und der Palisadenumzäunung mit abgerundeten Ecken. OssWesterfeld weist fünf Bauphasen (von 25 v. Chr. bis 150 n. Chr.) mit wechselnder Lage der schließlich rund 30 Häuser auf. Ein Herrenhof mit einem römisch beeinflussten sog. porticus-Haus hebt sich jeweils in der Südwestecke der Anlage heraus, in dem vor allem auch römische Keramik und Weinamphoren gefunden worden sind. Das Ganze wird als proto-villa bezeichnet, bewohnt von einem lokalen Anführer, dessen Ansehen auf alten Stammes- oder Familientraditionen beruhte und der den Kontakt zur römischen Herrschaft kontrollierte. Oss-Schalkskamp, nur 400 m von Westerfeld entfernt, umschließt zweischiffige Wohn-Stall-Häuser aus der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr., ist also zeitgleich mit Oss-Westerfeld. Man kann eine Hierarchie zwischen diesen Siedlungen registrieren. Seit der Eroberung Galliens und der Einbindung der keltischen Stämme links des Rheins in das Römische Reich wurde die Bevölkerung rechts des Rheins und nördlich der Donau unmittelbar mit der römischen Zivilisation konfrontiert. Die „keltischen“ Kulturerscheinungen in diesem Raum, die sich bis zum Nordrand der Mittelgebirge ausgebildet hatten, verschwanden rasch. Das ist bemerkenswert und scheint mit dem Vordringen von Bevölkerungen aus den nördlichen Gebieten nach Süden zusammenzuhängen. Zu diesen „keltischen“ Kulturerscheinungen zählen die zentralen Großsiedlungen, die Oppida, das Münzwesen, die Verwendung der Drehscheibe zur Keramikherstellung und manch andere wirtschaftlichen Errungenschaften, die es bald nicht mehr gab bzw. wieder neu aufgegriffen wurden. Keltischer Einfluss war bis weit in die germanischen Gebiete spürbar, so dass für Dänemark gar von keltischer Eisenzeit gesprochen wird. Opferfunde wie die Kessel von Gundestrup oder Rynkeby, die Wagen mit Beschlägen verziert mit „keltischer “ Ornamentik von Dejbjerg weisen in diesen anderen Kulturraum. Statt dieser „keltischen Kessel“ gab es in 4263 Møller-Jensen 2010; Fokkens 2019, 195 Fig. 11.12 Phasen der Siedlung Westerfeld.
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23 Römische Sachen, Techniken und Sitten in Germanien
der nachfolgenden Zeit die im Römischen produzierten Kessel mit den Swebenköpfen von Mušov und Czarnówko, wohl Geschenke Roms an germanische Fürsten, die bis nach Pommern kamen. Es gilt festzuhalten, dass in den ersten fünf Jahrhunderten n. Chr. sich die wirtschaftlichen und technischen Verhältnisse ständig weiterentwickelten und die ökonomische Kraft stark zunahm, weshalb auch die Bevölkerungsdichte wuchs und sich die gesellschaftlichen Verhältnisse wandelten. Was als Völkerwanderungszeit seit dem 4. Jahrhundert bezeichnet wird, sah keine Wanderung von Völkern, sondern die Mobilität von Kriegergruppen unterschiedlicher Größe innerhalb Germaniens und weit in die römischen Provinzen hinein, und das war nur in der Größenordnung neu. Seit der vorrömischen Eisenzeit gab es kriegerische Auseinandersetzungen, Beutezüge, doch weniger Eroberungen von Landstrichen, auch innerhalb Germaniens. Die Züge der Kimbern und Teutonen um 120 v. Chr. oder des Ariovist um 50 v. Chr. waren ein Echo der Ereignisse in der germanischen Welt der Eisenzeit und nicht von vornherein gegen Rom gerichtet, auch wenn die Lockungen der Reichtümer des Römischen Reichs am Ende eine Rolle spielten. Was fällt alles unter den Begriff „Romanisierung“ der Welt Germaniens bzw. wird immer wieder als römischen Einfluss geschildert? Im alltäglichen Handwerk nennt man die „römische“ Keramikproduktion in Haarhausen,4264 allgemein die Nachahmung römischer Metall- und Glasformen in Keramik (vgl. oben S. 443),4265 im gehobenen Kunsthandwerk und der Metallverarbeitung die Einführung von Granulation, Filigran und Vergoldung.4266 Im Bereich der Landwirtschaft wird auf die Haltung und Züchtung größerer Rinder hingewiesen, im Bergbau auf die BleiSilber- und die bergmännische Eisenerzgewinnung. In der Bauweise meint man, dass die Gehöfte im Grenzgebiet am Niederrhein im Grundriss sich der römischen Villa anpassten. Römische Bauweise findet man in der Stadtgründung wenige 20 km jenseits der Grenze im Germanischen beim heutigen Waldgirmes (vgl. dazu S. 1090), die auch von Germanen besucht wurde, wie Keramik und anderes Fundmaterial im Ort beweist; ebenso wurden bei Mušov, 80 km nördlich der mittleren Donau in Mähren, Bauwerke in römischer Manier und mit römischem Grundriss errichtet, und später entstand im 4./5. Jahrhundert in der Höhensiedlung auf dem Oberleiserberg bei Ernstbrunn in Niederösterreich ein vierseitiger Herrenhof wohl ebenfalls nach römischem Vorbild. Auf dem militärischen Sektor wird die Übernahme römischer Heeresorganisation nach der Centuriengliederung sowie römische Exerzier- und Kampfesweise vermutet, wie das für den Markomannenkönig Marbod überliefert ist. Geschildert wurde aber, dass schon der Fundkomplex im Moor von Hjortspring in Dänemark aus der Zeit
4264 Dušek 1991/1999. 4265 Hegewisch 2005; 2005 (2006). 4266 Andersson 2008; Wolters 1998.
23.5 Eine Zusammenfassung
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um 350 v. Chr. eine derartige Gliederung des Truppenverbandes aufwies (vgl. oben S. 713). Die zahlreichen römischen Schwertklingen in den Kriegsausrüstungsopfern, allein 150 Schwerter in Illerup, scheinen das römische Vorbild im Militärwesen zu bestätigen. Doch Gegeneinflüsse in der Bewaffnung der römischen Militäreinheiten gab es ebenfalls, so die Einführung des Langschwertes und die offene Kampfesweise der Germanen. Man sollte entsprechend bewerten, dass viele Germanen als Söldner direkt in die römischen Truppenteile eingegliedert worden waren. Der von den römischen Provinzen beeinflusste Lebensstil würde – so heißt es meist – anhand der Importe römischen Geschirrs, der Silber-, Glas- und Bronzegefäße sehr deutlich beschreibbar. Doch fehlt es noch immer an Untersuchungen, welcher Prozentsatz der Bewohner in Germanien tatsächlich davon erreicht wurde. Denn die sogenannten Fürstengräber machen im gesamten Germanien nur wenige Dutzend aus und das vor dem Hintergrund der zu Tausenden zählenden Brandbestattungen. Auch die Körpergrabsitte wurde in den ersten Jahrhunderten n. Chr. nur von einem sehr geringen Anteil der Bevölkerung übernommen. Der überregional erkennbare Wunsch, unabhängig zu bleiben, äußert sich überzeugend in der Erfindung der eigenen Schrift, des Runenalphabets und die niemals verwendete römische Buchstabenfolge. Es kam in den ersten Jahrhunderten n. Chr. auch längere Zeit noch nicht zur Ausbildung von wirtschaftlichen Zentralorten oder zentralen politischen Organisationsstrukturen, und deshalb bildete sich auch keine Münzwirtschaft heraus. Römische Münzen mit hohem Silbergehalt, die Denare, waren seit der Zeit des Tacitus bis ins 4./5. Jahrhundert in erstaunlichem Umfang in Germanien vorhanden, waren aber anscheinend kein Zahlungsmittel, sondern Rohmaterial zur Weiterverarbeitung und Hortungsmittel der Schatzbildung und waren vielleicht nur im Grenzgebiet beim Handel mit den Provinzen als Münzgeld zu verwenden. Immerhin gibt es eine auffällige Verbreitung auch von römischem Kleingeld aus Kupferlegierungen im ehemaligen Dekumatland, also rechts des Rheins in den von der römischen Verwaltung aufgegebenen Gebieten, die entweder von römischer Restbevölkerung oder von den zugewanderten Germanen, die dann im Süden als Alamannen benannt worden sind, genutzt wurden. Siegmar von Schnurbein schrieb dazu: Im Anblick all’ dieser Errungenschaften und Verlockungen blieben die ihm Lahntal [also dicht am Limes bei Waldgirmes, Verf.] ansässigen Germanen konservativ und lebten 150 Jahre lang in ihrer traditionellen Weise weiter. Der Limes wirkte hier in kultureller Hinsicht wie ein ‚Eisener Vorhang‘.4267
Jan Bemmann hat in seinem Beitrag „Romanisierte Barbaren oder erfolgreiche Plünderer? Anmerkungen zur Intensität, Form und Dauer des provinzialrömischen Einflusses in Mitteldeutschland während der jüngeren römischen Kaiserzeit und der
4267 v. Schnurbein 2006, 31 Zitat.
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23 Römische Sachen, Techniken und Sitten in Germanien
Völkerwanderungszeit“4268 einige Aspekte besonders hervorgehoben, die nachfolgend mit der entsprechenden Literatur beschrieben werden sollen. Immerhin wurde unter Antoninus Pius, wie an den Münzen seiner 140–144 emittierten Prägungen mit der Aufschrift REX QVADIS DATVS ablesbar, tatsächlich ein von Rom eingesetzter König in Germanien genannt (vgl. S. 1010). Tschechische Archäologen sprechen von einer dritten Zone zwischen dem Imperium und Germanien im Bereich nördlich der Donau. Birger Storgaard deutet die Prunkgräber auf Seeland wie Himlingøje als Beleg für einen Klientelstaat, der von Rom aus nach den Markomannenkriegen installiert worden sei,4269 und er kennzeichnet die dort Bestatteten als kosmopolitische Aristokraten im Norden im Schatten des Römischen Reichs. Die Klappaltäre bzw. Klapptische oder Vierfüße werden wie manch andere aufwändige und fremd in Germanien wirkende Objekte als diplomatische Geschenke bei Friedenschlüssen gewertet, wie sie in den Gräbern von Stráze, Zakrzów und Ostrovany gestanden haben. Die Prunkgräber dienten dazu, (im Römischen) erreichten Rang zuhause zu zeigen, was eine „partielle Romanisierung“ germanischer Eliten ausdrückt. Kaiser Gallienus (253–268) schloss Verträge mit den Juthungen, Kaiser Aurelian (270–275) integrierte vandalische Reiter in das römische Heer. Es gab grenzüberschreitende Vernetzungen im 3. Jahrhundert; barbarische Kriegergruppen kehrten in ihre Herkunftsgebiete zurück und brachten selbstverständlich Güter und Eindrücke mit.4270 J. Bemmann zitiert eine Arbeit von mir über die interkulturellen Kontakte als „symbolische“ Grenzgänger zwischen den Kulturen.4271 JoachimWerner behandelte als grenzüberschreitendes Phänomen die Kriegergräber aus der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts zwischen Schelde und Weser.4272 J. Bemmann erinnert daran, dass es kaum Militaria in germanischen Fundkontexten in den Gebieten gibt, durch welche die römischen Feldzüge führten. Die in den Siedlungen gefundenen eiserne Pflugscharen und Seche im 3./4. Jahrhundert seien unter römischen Einfluss entstanden, aber heimischer Herstellung. Die beiden Kessel mit den Swebenknoten als Attaschen sind manifeste Belege für die weiträumigen Verbindungen – so J. Tejral – zwischen der Donau und Mušov sowie der Ostseeküste und Czarnówko.4273 Er beschreibt auch das Verhältnis zwischen Einheimischen und Fremden in Norddanubien über die Zeiten hinweg, was oben (S. 1082) dargestellt worden ist.4274 Dazu zieht er für die jüngere Römische Kaiserzeit und die frühe Völkerwanderungszeit die sogenannten Silberblechfibeln mit ihrer Verbreitung heran, weiterhin den sogenannten Porskær-Typ von Schwertaufhängun-
4268 Bemmann 2003a. 4269 Storgaard 2001; 2003. 4270 Bemmann 2003a, 55 f., 73. 4271 Steuer 1999a. 4272 Werner 1958. 4273 Tejral 2004. 4274 Tejral 2011, 22 Abb. 1 Chronologie-Tabelle.
23.5 Eine Zusammenfassung
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gen, gefunden in Dänemark und mit einigen weit verstreuten Parallelen, und auch die Facettschliffgläser, die vom entfernten Südosten an der römischen Grenze bis zur Weichselmündung vorkommen, um die Beziehungen von der Donau zum nördlichen Europa (und umgekehrt) zu betonen.4275 Ganz im Süden war Pannonien ein instruktives Beispiel für eine römische Provinz als multiethnisches Durchgangsland mit einer Bevölkerung, die in der Spätantike ständig in Bewegung war.4276
4275 Tejral 2013. 4276 de Vingo 2011.
24 Migrationsprobleme 24.1 Noch einmal theoretische Überlegungen Eine methodische Grundsatzfrage bleibt in ständiger Diskussion, nämlich wie anhand der archäologischen Quellen die Bewegung von größeren Menschengruppen, auch in Germanien, erkennbar sein könnten. Weil diese Wanderungen, oder allgemein die Mobilität von Gruppen in der antiken schriftlichen Überlieferung beschrieben werden, will die Archäologie auch zu diesen Themen einen Zugang finden. Oben im methodischen Abschnitt „Wanderungen und Mobilitäten“ habe ich schon dazu Stellung genommen (vgl. S. 65). Eine neue Publikation, als Ergebnis einer Tagung, regt aber an, die nun 2017 vorgelegte Diskussion zu Germanien daraufhin zu befragen.4277 Denn neu ist, dass auf etwas gesicherterer Grundlage auch Ergebnisse der genetischen Forschung berücksichtigt werden können,4278 ebenso auch die Isotopenanalysen (u. a. Strontium-Analysen),4279 die im Übrigen nicht nur Mobilitäten von Menschen, sondern ebenso auch von Haustieren und ihrer Herkunft nachweisen zu können glauben. S. Burmeister hat sich mehrfach zu diesem Problem geäußert und sich jetzt differenziert auch für Germanien zusammenfassend geäußert.4280 Zwar geht „nicht jede von außen induzierte kulturelle Änderung … auf Wanderungsbewegungen zurück …“, aber neue Wege weisen die naturwissenschaftlichen Methoden, denn Strontium-Isotopie und Genetik können (anscheinend, [Verf.]) bislang fehlende Wanderungsnachweise liefern. Die Archäologie muss deshalb neu eine kulturhistorisch fundiere Migrationsarchäologie begründen und dafür das Verständnis von Migration an sich entwickeln (vgl. gleich S. 1159). Die Wielbark-Kultur endete in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts und die Chernjachov-Sîntana de Mureş Kultur begann nachfolgend, und die Befunde wurden zum Modell der Wanderung von Goten. Von historischer Seite war seit längerem klar, dass es sich bei den Trägern dieser großflächig verbreiteten archäologischen Kulturen um gewandelte ethnische Gruppen gehandelt hat,4281 aber – so der Archäologe – es gebe doch Zusammenhänge, die durchaus ohne ethnische Benennung eine Nähe erkennen lassen, eine Annäherung, zwei Welten von Immigranten. Dazu frage ich, was nun damit gewonnen ist. Der Vergleich der Hausgrundrisse von der Feddersen Wierde (3. Jahrhundert. n. Chr.) und in Flögeln (1. Jahrhundert. n. Chr.) mit einem Haus in Hampshire (6./7. Jahrhundert.) würde die Überwanderung vom Kontinent nach England belegen, weil die innere Hausaufteilung gleichartig sei. Das ist für mich kein Beweis für diese Migration – dafür gibt es
4277 Meller, Daim, Krause, Risch (Hrsg.) 2017, nachfolgend zitiert als Meller u. a. (Hrsg.) 2017. 4278 Krause, Haak, in: Meller u. a. (Hrsg.) 2017, 21–38. 4279 Knipper, in: Meller u. a. (Hrsg.) 2017, 39–56. 4280 Burmeister 2017b, c. 4281 Pohl 2002, 237. https://doi.org/10.1515/9783110702675-032
24.1 Noch einmal theoretische Überlegungen
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einleuchtendere Befunde –; denn diese Grundrisse sind allgemein üblich, von der wirtschaftlichen Nutzung erforderlich und der Vergleich deshalb trivial. Damit ist die Übernahme von Modellen in das Einwanderungsgebiet und eine Beibehaltung eigenen Verhaltens nicht zu beweisen. Wie wird das heute gesehen? Charlotte Behr und John Hines fragen 2019, wer im 4. und 5. Jahrhundert vom Kontinent nach Britannien kam und warum.4282 Der Perspektive der schriftlichen Überlieferung wird die Perspektive der archäologischen Überlieferung gegenübergestellt. Die Schriftquellen überliefern militärische und politische Ereignisse, germanische Soldaten erreichten Britannien, darunter auch Alamannen, die Bucinobanten, um 371, oder ebenso Saxones als Söldner, die nach der Anwerbung Land im Osten Britanniens erhielten; sofern das wirklich so überliefert ist. Sächsische Piraten machten die Küsten seit den 360er Jahren unsicher, was vor allem von Ammianus Marcellinus gesagt wird, der nicht von Stamm oder gens und natio spricht, sondern von Seeräubern (vgl. S. 1026), also von Kriegerverbänden. Nachdem Konstantin III. (407–411) die Truppen aus Britannien abgezogen hatte, folgte ein Abfall der Bewohner vom Römischen Reich, und deshalb kamen nun Sachsen vom Festland auf die Insel. Viel später erst berichtet Beda von ihrer Ankunft 449 oder die sogenannte Gallische Chronik von 440 oder 441, und auch das Jahr 429 wird genannt. Danach führten Hengist und Horsa Sachsen vom Kontinent auf die Insel, Ostsachsen nach Essex, Westsachsen nach Wessex, Südsachsen nach Sussex und Angeln nach Mittel- und Ostengland und Northumbrien sowie die Jüten nach Kent. Beda berichtet aber erst im 8. Jahrhundert und blickt aufs 5. Jahrhundert zurück. Es sind also weitgehend konstruierte Berichte. Als Archäologe weiß J. Hines von Kontakten von der Insel zum Festland vom 1. Jahrhundert n. Chr. an im Rahmen des römischen Militärs, bis 411, weil sich dann nämlich das römische Militär und die Verwaltung zurückgezogen haben. Das römische Militär hatte zuvor Soldaten aus den Niederlanden, Friesen und Bataver, und andere aus Pannonien und dem Mittelmeerraum nach Britannien versetzt, was auch über Isotopenanalysen zu belegen sei. Diese Leute bestatteten aber schon in ortsüblicher Weise. Angelsächsische Sachsen des 5. bis 7. Jahrhunderts wurden anhand ihrer Güter innerhalb der römischen Stadtmauern von Colchester (Essex) gefunden, nämlich anhand von Keramik und kreuzförmigen Fibeln sowie Grubenhäusern, und zwar seit dem 5. Jahrhundert. Es gab keine Städte mehr, nur noch agrarische Siedlungen mit wenigen Gehöften und kaum mehr als 100 Bewohnern.4283 Beachtenswert ist aber – wenn es um den Charakter um diese Wanderungen geht –, dass die multifunktionalen Langhäuser des Kontinents in England allerdings weitgehend unbekannt geblieben sind. Warum hatten die Leute, obwohl sie Keramik- und Schmuckformen mitgenommen haben, hier dann ganz andere Häuser als auf dem Kontinent gebaut? Die Siedler aus Norddeutschland und Südskandina-
4282 Behr, Hines 2019, allg. und 147 Abb. 1 Colchester Plan mit Kartierung, 148 Zitat. 4283 Hamerow 2012.
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vien haben „eine ganze Reihe von Fundplätzen germanischen Charakters, die sehr gut mit der Anwesenheit solcher ‚Foederaten‘ im 5. Jh. in Einklang gebracht werden können“ hinterlassen. Bei der Siedlung Mucking (Essex) gab es Gräber mit spätrömischen Gürtelteilen, und in den Gräbern von Dyke Hill, Dorchester-on-Thames, fand man kreuzförmige Fibeln und Schalenfibeln wie auf dem Kontinent. Die Siedlung in Mucking mit Phasen von der ersten Hälfte des 5. bis ins 7. Jahrhundert verlagerte sich wie auf dem Kontinent über 1 km hinweg, und in der frühen Phase lag in den Grubenhäusern römische Keramik zusammen mit germanischer Ware. Der Zusammenhang der Siedlungsgebiete über die Nordsee hinweg war sicherlich komplizierter. Kreuzförmige Fibeln4284 kommen von den Niederlanden und England bis nach Norddeutschland, Jütland und Schweden sowie Norwegen vor (vgl. oben S. 821). Es ist eine gleichzeitige räumliche Einheit rund um die Nordsee, was in diesen weiblichen Kleidungsbestandteilen zu beschreiben ist. Eine Erklärung dafür, wie diese Dinge und Gewohnheiten über die Nordsee nach Ostengland gelangten, lässt sich nur finden, wenn wir davon ausgehen, dass es nicht bloß jene Ausgangsorte der Migration nach England im 5. Jh. gab, von denen Beda im 8. Jh. gehört hatte, sondern noch viele andere mehr.
Es gibt außerdem eindeutig südskandinavische Relieffibeln im Nydam-Stil in Kent neben den kreuzförmigen Fibeln, dazu kommen Artefakte des 6. Jahrhunderts aus dem fränkischen Gallien, D-Brakteaten aus Jütland, die sogar in Kent nicht nur eingeführt, sondern auch angefertigt wurden. Angelsächsische Archäogenetik meint herausgefunden zu haben, dass 38% der heutigen ostanglischen Bevölkerung auf Einwanderung zurückgehen würde, andere Analytiker sehen eher eine niederländische Herkunft, und hinter beidem könnten römische Wurzeln zu ahnen sein. Es ist erstaunlich, dass Archäologen „Ergebnisse“ neuer naturwissenschaftlicher Methoden recht kritiklos übernehmen: Wenn die Isotopenanalyse meint, dass das Bronzezeit-Mädchen von Egtved in Jütland aus dem Schwarzwald dorthin gekommen sei, dann ist das (bei einem Fall nur) höchst unwahrscheinlich und eine Überbewertung der Methode. Diese naturwissenschaftlichen Ergebnisse bieten keine haltbaren neuen historischen Einsichten. Der Autor meint mit Recht, wir gewinnen damit keine Datierung der Migration, und Migrationen waren und sind komplexe Vorgänge, die ohne den Blick auf historische, soziologische und ethnographische Studien nicht zu verstehen sind; das muss vorausgehen, ehe dann versucht werden kann, archäologische Quellen zu deuten. Daher werden moderne Migrationstheorien herangezogen.4285 Da findet man die Stichworte internationale Freizügigkeit, Arbeitsmigration, Investorenmigration, Familienmigration, Fluchtmigration, Einwanderung ethnisch Zugehöriger, Bil-
4284 Behr, Hines 2019, 152 Abb. 5, 150 Zitat. 4285 Heckmann 2017.
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dungsmigration oder irreguläre Migration; und das ist nur ein kleiner Ausschnitt von möglichen Benennungen von Migration. Ein interessantes Fallbeispiel ist der Blick auf mögliche Keltenwanderungen und die damit oft verbundene Annahme der Ausbreitung der archäologischen Latène-Kultur. War das Fakt oder Fiktion, fragen die Autoren in ihrem Beitrag.4286 Ein DFG-Projekt zu Mobilität und Migration in der Eisenzeit (4./3. Jahrhundert v. Chr.) stützt sich auf die Analyse von 16 frühlatènezeitlichen Gräberfeldern im Kern- und im Expansionsraum. Wanderungen verliefen nicht nur in eine Richtung, es ging um wesentlich komplexere Vorgänge und Prozesse. Denn die Besiedlung im Ausgangsgebiet riss überhaupt nicht ab; somit zogen nur kleinere Teile von „Stammesgemeinschaften“ aus ihren ursprünglichen Siedlungsgebieten nördlich der Alpen fort in den Süden. Die großen „keltischen Wanderungen“ zeigen zwar weit vernetzte Kontakte an, welche jedoch schon durch den Wohnortwechsel nur einzelner Individuen belegt werden. Es gab anscheinend keineswegs weitreichende Ortsveränderungen von größeren Personenverbänden; und das spricht eigentlich gegen die schriftliche Überlieferung der Quellen, auch wenn über die Mobilität von Söldnern aus den Schriftquellen manches bekannt ist. Kontakte wurden zu den Heimatgebieten kontinuierlich aufrechterhalten. Dann wird festgestellt: Die Träger der Latène-Kultur waren nicht nur „Kelten“, es kam zu keiner Latènisierung des Mittelmeerraumes, vielmehr wurde es zum Standard der materiellen Kultur in weiten Teilen Europas. Dieses Modell stützt also meine These der Kommunikation auf eingefahrenen Fernwegen, und die Verbreitung und Verschiebung eines archäologischen Kulturkreises liegen auf einer anderen Ebene als Bevölkerungsbewegungen. Verbunden mit der archäologischen Suche nach Mobilität und Wanderung ist der Begriff der „Landnahme“.4287 Es geht um Ansiedlungsprozesse von einwandernden Gruppen in siedlungsleeren Gebieten oder um die Besetzung von Ländereinen, die von anderen Menschen besiedelt sind. Einige Beispiele mit dem Stichwort „verzögerte Landnahme“4288 kommen den Realitäten schon näher. Es geht um das Einsickern von kleinen Gruppen in besiedelte und besiedelbare Landschaften. M. Schmauder erläutert diese Befunde an der Landnahme der Awaren, der gotischen Besiedlung in der aufgegebenen Provinz Dacia Traiana und der Besiedlung der agri decumates in Südwestdeutschland durch elbgermanische Gruppen, den späteren Alamannen. Die Besiedlung der Gothia durch die Leute der Chernjachov-Sântana de Mureş Kultur in der alten römischen Provinz erfolgte partiell; der südliche Teil blieb im 4. Jahrhundert noch frei, der nördliche wurde frühestens zwei Generationen nach Aufgabe der Provinz unter Aurelian (270–275) durch Goten aufgesiedelt. Die neue Besiedlung der agri decumates vor, um und nach 259/260, der allgemeinen Jahreszahl für die Zurücknahme des Limes an den Rhein, ist mit diesem Datum nur ein Richtwert in einem
4286 Alt, Schönfelder 2017. 4287 Müller-Wille, Schneider 1993. 4288 Schmauder 2017, 210 Abb. 2 Karte (Goten), 212 Abb. 6 Karte (agri decumates).
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mehrere Jahrzehnte währenden Prozess des römischen Rückzuges und des wieder Ausgreifens unter Valentinian I. (364–375). Die Bewertung dieser „alamannischen Landnahme“ gelingt anhand der Keramik der Stufen C1-C3 (300–380) (vgl. oben S. 1072). Die Besetzung und der Umbau der villa rustica von Wurmlingen sind über die Keramik frühestens am Ende des 3. und im beginnendes 4. Jahrhundert zu datieren. M. Schmauder prägt für diese oben erläuterten Vorgänge den weiterführenden Begriff der „verzögerten“ Landnahme. In der Wetterau und im Hessischen Ried ist eine bruchlose Anwesenheit von Germanen im limesnahen Bereich schon lange vorher belegt, deren Ansiedlung unter römischer Duldung oder auf römischen Wunsch erfolgte. Der kontinuierliche, mehrere Generationen dauernde Zuzug aus dem Gebiet der (archäologischen) Elbgermanen ist wie zuvor auch die verzögerte Zusiedlung von Przeworsk-Leuten tatsächlich eine Wanderung, aber nicht im Sinne einer einen Raum innerhalb kurzer Zeit durchschreitenden Bewegung. Auch in England ist von einem langdauernden Zuwanderungsprozess auszugehen, wobei erste Ansiedlung mit Duldung oder Wunsch Roms geschehen sein können. Interessant ist wieder die Bemerkung von M. Schmauder, dass Rom eine spezielle Rolle dabei gespielt haben soll, dass die Siedlungsbewegungen mit Billigung Roms zustande kamen. Aber warum ist diese Sicht von Rom aus weiterführend, vielmehr sind es selbständige Mobilitäten von Gruppen, die zwar von der Existenz des Römischen Reichs wussten, aber sicherlich zumeist die römische Seite nicht gefragt haben. Ich schlage vor, wie mehrfach schon gefordert, die Blickrichtung umzudrehen und von der Seite der Germanen aus zu argumentieren. Zur verzögerten Landnahme passen auch die Erläuterungen des Historikers Walter Pohl.4289 Es waren zumeist längerfristige Wanderungsbewegungen und keine einzelnen Massenbewegungen oder gar Invasionen. Doch diese wurden oftmals in der Schriftüberlieferung umgedeutet zu kurzfristigen Ereignissen. Er betont außerdem, dass die Kontakte zu den Heimatgebieten blieben und somit „transnationale“ Netzwerke entstanden. D. Quast fehlen immer noch überzeugende Überlegungen, was die Archäologie mit ihren spezifischen Quellen zum Thema Migration beitragen kann.4290 Er verbindet Migration und Werte in einer Gesellschaft. Die Veränderungen von Werten in frühgeschichtlichen Gesellschaften rufen Migrationen hervor, denn Migrationen bedeuten Konfrontation mit unterschiedlichen anderen Wertsystemen, was Anpassungsprozesse erfordert. Gefragt wird, welche Werte in einer Gesellschaft am längsten bewahrt werden; und er bietet für weitere Assoziationen die Stichworte Küche, Kinder, Kirche (warum nicht Kleidung?). Als archäologisches Beispiel wählt D. Quast die Verteilung der Silberblechfibeln in Südfrankreich und Spanien, die in Frauengräbern des 5. und 6. Jahrhunderts liegen, während Entsprechendes in Männergräbern dazu fehlt. Insge-
4289 Pohl 2017. 4290 Quast 2017e, 231 Abb. 2 (Silberblechfibeln).
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samt handelt es sich um ein kurzfristiges Phänomen, wohl von nur einer Generation, in Spanien von drei Generationen. Die Erklärung lautet, dass einheimische Frauen eine fremde Kleidung wählten, um damit Gruppenzugehörigkeit und eine Tradition zu kreieren, oder aber es waren eingewanderte Personen, die unbedingt alte Tradition bewahren wollten. Der Grabstein in Hippo Regius, Algerien, mit der Grabinschrift der Suebin Emergo, gestorben 474, sagt also, dass die Frau Mitglied einer eingewanderten Gruppe mit langer Geschichte war; d. h. Frauen bewahrten alte Traditionen, wie auch M. Martin 2015 als Erklärung für die vielen kreuzförmigen Fibeln in England anbietet,4291 die einst auf dem Kontinent jenseits der Nordsee wichtig waren, und die eingewanderten Frauen wollten diese derartig altmodischen Fibeln behalten, wie auch heute Migrantinnen solches Traditionsverhalten zeigen würden. Derartige Deutungsversuche sind seit langem bekannt, und somit kommen wir wieder noch nicht weiter, wenn es um die eigentlichen Gründe für Migrationen geht. Welches Ausmaß hatte denn nun die Einwanderung der Angelachsen nach England im 5. Jahrhundert?4292 Immer hat sich nach dem Einsatz der genetischen Analysen gezeigt, dass es klare regionale und chronologische Unterschiede gibt. Diese genetischen Untersuchungen belegen Einwanderungen in Lincolnshire und Norfolk, in anderen Teilen werden eher lokale längerfristige Prozesse bei der Übernahme von kulturellen Aspekten und Begräbnissitten erkannt, so dass nur von kleineren Zuwanderungen oder Verschiebungen auszugehen ist, von einer „verzögerten“ Landnahme und Akkulturation. Das gewaltsame Aufzwingen neuer Eliten von Dorf zu Dorf war anscheinend sehr unterschiedlich. Das belegt die Verbreitung der – schon genannten – kreuzförmigen Fibeln von 475 bis 550, das heutige Ergebnis der archäologischen Funderfassung, die „Kerndichteschätzungen“ ermöglicht, mit Blick auf Siedlungsverdichtungen von Einwanderungen, was mit der Verbreitung ausgewählter Brand- und Körpergräberfelder und Gräberfelder mit beiden Bräuchen für das 5./6. Jahrhundert zu verbinden ist. Das ist nun wieder zu verbinden mit den modernen DNA-Untersuchungen.4293 Man geht von mehreren Einwanderungswellen aus, die römische Besetzung erfolgte ab 43 n. Chr., die angelsächsische Migration setzte nach 410 n. Chr. ein (und im 10. Jahrhundert kamen die Normannen aus der Normandie). Etwa (nur) 19 Proben bzw. Grabfunde des 1. bis 8. Jahrhunderts wurden ausgewertet, was – wie oben schon erwähnt – niederländische Verwandtschaften bezeugt hat und 38% angelsächsische Einwanderer vom Kontinent. Aufmerksam macht der Blick auf die Verbindungen zwischen frühangelsächsischen Gräberfeldern und Ortsnamen; denn Ortsnamen mit den Endungen -ing und –ingas, aus dem Altenglischen übernommen und wohl ins 7. Jahrhundert zu datieren, erinnern an die Siedlungsnamen auf dem Kontinent.
4291 Martin 2015. 4292 Hill 2017, 245 Abb. 3 (Kreuzförmige Fibeln), 251 Abb. 8 (Verteilung der Gräberfelder). 4293 Schiffels, Sayer 2017, 256 Abb. 1 (-ing-Namen).
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In Zuge der Forschungsgeschichte ist regelmäßig zu erleben, dass neue Methoden, die tatsächlich auch neuartige Erkenntnisse versprechen, zu schnell – noch im Zuge der Erprobung – mit scheinbaren Ergebnissen triumphierend an die Öffentlichkeit gehen. Das traf nach den 1950er Jahren für die Radiocarbon-Datierungen zu, die nach einigen Jahrzehnten durch Überprüfung und Verfeinerung der Methode sowie Eichung über Dendrodaten zu dauerhaften Ergebnissen führte, das ist bei der Isotopen-Analyse, der Strontium-Analyse ebenso der Fall wie bei der Auswertung alter DNA. Es fehlt an Geduld, und manche der in den Medien gelandeten „neuesten“ Ergebnisse zu Wanderungen werden zurückgenommen oder spezifischer ausgewertet. Auf dieses Problem haben vor wenigen Jahren Stefanie Samida und Manfred K. H. Eggert in einer kleinen Streitschrift mit Nachdruck hingewiesen.4294 Archäologie ist keine Naturwissenschaft, sondern als Kulturwissenschaft eine eigenständige Disziplin mit eigenen Fragestellungen und Methoden; aber sie zieht mit entsprechender Behutsamkeit und Kritik die Ergebnisse von Naturwissenschaften für die eigene Arbeit heran. Die biologische Arbeit mit Genen hat wiederum eigene Fragestellungen entwickelt und sucht dafür Antworten; sie liefert nicht direkt der archäologischen Forschung Ergebnisse für deren Fragstellungen. Vor solchen Kurzschlüssen sollte mit Blick auf die verschiedenen Methoden und auf die Wissenschaftsgeschichten gewarnt werden.
24.2 Der Sonderfall Nordostgallien im 4./5. Jahrhundert Die Beigabenausstattung einer neuartigen Grabsitte in Nordostgallien spricht nach Ansicht von H. W. Böhme für germanische Söldner und ihre Frauen, und entsprechend seien Gräber mit vergleichbaren Beigaben von Waffen, römischen Gürtelbeschlägen und Mantelfibeln, aber germanischem Frauenschmuck an der Elbe und überhaupt in Germanien immer Gräber von zurückgekehrten Söldnern und ihren Frauen in die Heimat.4295 Die Militarisierung Nordgalliens über Foederaten und Foederatengräber ist jedoch nur scheinbar gut archäologisch zu fassen, wobei G. Halsall eine andere Deutung anbietet als H. W. Böhme,4296 der zeitweilig die Deutung als Foederatengräber auch selbst zurückgewiesen hat und einfach von barbarischen Rekruten der römischen Armee sprach.4297 Die Erklärung als Foederatengräber war seit den 1960er Jahren üblich. Aber was eigentlich Foederaten waren, ist nicht 4294 Samida, Eggert 2013, 41 ff. Von Elementen und Genen. 4295 Böhme 1974; 1996b; 1999a; 2002; 2012a; und wieder 2017, 292 Abb. 9 Vorkommen der Tutulusfibeln in Nordostgallien und im Elbe-Weser-Dreieck. 4296 Halsall 2009, 273 ff. auch zu Böhme 1996b; 2002, 300 Abb. 15 „germanische“ Waffengräber des 4./5. Jahrhunderts in Nordostgallien; 2008; und Halsall 2009, 275 zu den Tutulusfibeln. 4297 Böhme 2000.
24.2 Der Sonderfall Nordostgallien im 4./5. Jahrhundert
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eindeutig zu beantworten. Seit der Niederlage der Römer in der Schlacht bei Adrianopel (378 n. Chr.) soll ein foedus mit den Goten (382 n. Chr.) geschlossen worden sein, und damit habe es erstmals Foederaten gegeben. Aber, so G. Halsall, diese historischen Ereignisse seien erst viel später, nach eineinhalb Jahrhunderten, überliefert worden, und somit könnte die Beschreibung vom Aufkommen der Foederaten nicht einfach zurückprojiziert werden,4298 und er erhebt entsprechende Zweifel zum damaligen Vertrag. Die barbarischen neuen Heereseinheiten, z. B. die alae, Reiterregimenter, nahmen Männer unterschiedlicher Herkunft auf, darunter waren sowohl Römer als auch Germanen. Der neue Typus einer Eliteeinheit war entstanden, die in Nordgallien nicht aus Foederaten bestand, sondern aus Militärs gemischter Herkunft, was die Neuinterpretation der dortigen andersartigen Grabsitte erfordern würde. G. Halsall erläutert, von der Ereignisgeschichte ausgehend, die veränderte Situation in Nordostgallien. Einerseits beschreibt er, dass die Truppenstärken in diesem Gebiet links des Rheins erheblich zugenommen hätten und nennt – für mich – viel zu große Zahlen bis zu 600 000 Mann4299 und spricht andererseits von einem wirtschaftlichen Niedergang, dem Übergang zurück von der Geld- zur Naturalwirtschaft.4300 Damit verbunden war die Abnahme der Zahl der Villen im 3. Jahrhundert, auch wenn manche in Holzbauweise weiterbenutzt worden sind, und es wurden keine Steinbauten mit Ziegeldächern mehr errichtet. Das Ganze wäre verbunden mit der generellen Militarisierung der Gegend, was ablesbar an den zahlreichen befestigten Getreidespeichern sei. Zwischen Rhein und Seine kam eine neuartige Grabsitte in den letzten Jahrzehnten des 4. Jahrhunderts auf. Die Gräber waren wesentlich aufwändiger mit Trachtschmuck und Beigaben ausgestattet als zuvor. Fibeln und Gürtelgarnituren wurden zu Status-und Rangsymbolen in der römischen Militär- und Verwaltungshierarchie. Ein Beispiel sei das Grab in Bonn, Jakobstraße, ein Sarkophag, datiert ins letzte Drittel des 4. Jahrhunderts, das als Beigaben ein Schwert, ein tauschiertes Messer, eine vergoldete Zwiebelknopffibel, zwei silberne Gürtelschnallen, einen Glasbecher und ein Glaskännchen enthielt. Wegen der Waffenbeigabe könnte es – nach alter Meinung – nur ein Germane gewesen sein oder – nach neuer Ansicht – doch ein hochrangiger römischer Militär. In diesen Gräbern wurden Frauen mit neuer Fibelmode und die Männer mit Waffen (Äxte, Lanzen, Schwerter) und spätrömischen Beigaben wie Keramik und Glasgefäßen ausgestattet, sogar der Charonspfennig kommt vor, (ein antiker römischer Brauch, der jedoch im 3. Jahrhundert in Germanien an vielen Orten übernommen worden ist, vgl. S. 514). Die Bestattungen unterscheiden sich von denen in den vermeintlichen Heimatländern, wenn man von der Einwanderung von Leuten aus dem Inneren Germaniens ausgehen würde, wo traditionell die Brandbestattung üblich war. Die Einführung der Körperbestattung sei – so G. Halsall
4298 Halsall 2007, 180–185. 4299 Halsall 2009, 271. 4300 Witschel 2004.
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(was aber eine nicht beweisbare These ist) – unter römischem Einfluss in Germanien aufgekommen, wo zurückgekehrte Söldner in ihrer alten römischen Militärausstattung beerdigt worden seien, wofür das Bootgrab 2 von der Fallward, datiert Mitte 5. Jahrhundert, mit dem kerbschnittverziertenThron und der prächtigen, ebenfalls kerbschnittverzierten Gürtelgarnitur als Beispiel zu nennen sei (vgl. auch S. 952). Der nordgallische Raum hatte seinen wirtschaftlichen Hintergrund im Germanischen rechts des Rheins und „Die Kulturgüter, die vom Imperium über den Rhein hinweg ins Barbaricum gelangten, übersteigen bei Weitem den gegenläufigen Austausch“.4301 Die in den nordgallischen Gräbern beigegebenen Waffen waren römische Produkte, die Kleidung und Accessoires oft ebenfalls römisch. „Hätten wir keine historischen Quellen, käme niemand auf die Idee, aus dem archäologischen Befund eine Bevölkerungsbewegung aus den Gebieten östlich des Rheins nach Gallien zu postulieren“. (So eindeutig hergeholt ist diese Feststellung auch nach seiner Beschreibung eigentlich nicht, denn die Häuser des 3. Jahrhunderts in der Normandie weisen nach Westfalen, und auch im Bereich der Villen – wie oben von ihm gesagt – wurden neuartige Häuser ohne Stein errichtet). In den Gräbern waren also römische oder germanische Soldaten bestattet. Die Datierungen werden über C-14-Messungen für die Jahre von 407 bis 482 n. Chr. bestätigt, und die Datierungen der Gräber germanischer Auxiliareinheiten in Nordgallien zwischen 390 und 465 n. Chr. bestätigt, parallel zu den Zeitstufen I bis III von H. W. Böhme.4302 Das weitere Argument für die Einwanderung von Germanen war, vor allem bei H. W. Böhme, der germanische Schmuck der Frauen, der in Nordostgallien und im ElbeWeser-Dreieck gleichzeitig verbreitet war, und die Frauen trugen die Fibeln (Tutulusund sogenannte Stützarmfibeln) nach „germanischer“ Sitte. Die Tutulusfibeln sind gleichartig verbreitet wie die römischen Militaria, die zurück nach Germanien exportiert wurden. Vielleicht wurden diese Fibeln im römischen Reich hergestellt und verteilt und sind durch die Rückkehrer mit nach Germanien exportiert worden. Sie kommen so auch bei Bestattungen der provinzialrömischen Bewohner vor; denn die Bestattungen in Nordostgallien unterscheiden sich von den meisten sonstigen gallorömischen Gräbern. G. Halsall bringt als Beispiel das Frauengrab von Fécamp, Dép. Seine-Maritime, datiert um 400, mit römischen Gefäßen und einem römischen Schmuckkästchen, einer Siliqua des Eugenius (392–394 n. Chr.) und mit Tutulusfibeln. Wie lautet nun seine Deutung: Die neuartige Grabsitte spiegelt über Statussymbole einen sozialen Wettbewerb, was für eine neue Gesellschaft sprechen würde. Ein neuer Soldatentyp war entstanden, und falls eine neue Identität hinter den Begräbnisritualen gesehen werden soll, dann die zum Imperium Romanum, auch wenn die Begrabenen germanischer Herkunft sein sollten. Es gibt keine Unterscheidungsmög4301 Halsall 2009, 274 Zitate. 4302 Lanting, van der Plicht 2009–2010, 43 ff. und 85 ff.; Böhme 1974; Kleemann 2015 vergleicht die Situation in Nordgallien mit der in Pannonien, wo die Waffenbeigabe auch nicht zu unterscheiden erlaubt, ob Römer oder Fremde bestattet worden sind.
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lichkeit, ob in den Gräbern römische Militärs oder Germanen in römischem Dienst bestattet worden sind. Im Gebiet gab es keine effektive römische Regierung mehr, politisch-militärische Krisen lösten die alte Ordnung auf. Ab 405/406 wurde Nordgallien von Bürgerkriegen und von (also doch) germanischen Invasionen heimgesucht.4303 Der Rückgang römischer Präsenz führte zu lokaler Instabilität und zu einem Machtvakuum, das eine neue unabhängige militarisierte Gesellschaft in Nordostgallien entstehen ließ, und diese Gesellschaft drückte das in Nordgallien in einer neuen Grabsitte aus. Das bedingte zudem, dass Frauen und sogar Kinder eine besondere Rolle in den neuen Familienvernetzungen spielten. Parallel dazu wurden die Franken als neue Bevölkerungsgruppe in das Gebiet hineingezogen (das ist vergleichbar mit der Situation im Südwesten im ehemaligen Decumatland, wo sich nach derartigen Wandlungen dort die Großgruppe der Alamannen herausbildete). In Gallien sollte man also nicht überwiegend von eingewanderten Germanen ausgehen, sondern von gemischten provinzialrömischen Bewohnern. Ein sozialer Wandel hat somit eine eigene Ausdruckweise auch im Totenkult entwickelt. Dieses Thema, um welche Bevölkerungsgruppe es sich gehandelt hat, die in Nordostgallien mit neuen Beigabentypen bestattet worden ist, wird weiter kontrovers diskutiert. Es waren entweder zugezogene Germanen oder gemischte Bevölkerungsgruppen, die aufgrund der veränderten historischen Situation am Rande der römischen Provinz sich einem anderen Bestattungsbrauch zugewendet hatten.4304 (Dazu meine ich, wiederum werden Fakten der Ereignisgeschichte und eine neue archäologische Quellengattung unmittelbar parallelisiert, ein Bestattungsbrauch mit neuer Jenseitsvorstellung mit Ethnien oder militärischen „Berufen“.) St. Heeren und N. Roymans versuchen 2018 einen Kompromiss zwischen den Deutungen durch H. W. Böhme und G. Halsall zu finden, und sie erläutern ihr Modell in der Festschrift für F. Theuws, der im 4./5. Jahrhundert keine ethnische Zuweisung über die Grabbräuche (die spätantike Körpergrabsitte und die Beigaben) sieht, so wie auch G. Halsall, S. Brather und H. Fehr.4305 Beides seien keine ethnischen Marker. Und Waffen in Körpergräbern spiegeln nicht direkt germanische Krieger, sondern waren identischer Ausdruck einer neuen Elite leitender Familien, so F. Theuws und auch die beiden Autoren. Die Waffengräber wurden seit jeher den historisch überlieferten laeti oder foederati zugewiesen, Kriegerverbänden, die von Rom bezahlt wurden. G. Halsall hat erläutert: 1) die Waffen sind aus römischer Produktion, 2) die Brandgrabsitte gab es in Germanien, nicht aber in Gallien, 3) die Fibeln kamen nicht aus Germanien, sondern wurden umgekehrt nach Germanien mitgenommen und dort verteilt.4306 Im Übrigen seien die Gräber und ihr Inhalt nicht Spiegel des Lebens, denn beispielsweise lagen zu große Schwerter in Knabengräbern, und das Tischgeschirr gehörte zur Toten4303 Halsall 2007; auch im Sammelband 2010 und 2014. 4304 Heeren, Roymans 2018. 4305 Fehr 2008; 2010; 2017. 4306 Halsall 1992, 201–204; 2000, 171–173; auch 1995; 2003.
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feier. F. Theuws und G. Halsall beschreiben also die neuen Grabbräuche als Ergebnis von entstehenden neuen Familientraditionen der führenden lokalen Gesellschaften. Die Kontroverse zwischen G. Halsall4307 und H. W. Böhme besteht aber weiter. Für Böhme bleibt es auch 2017 noch unverständlich, warum Halsall „immer noch unbeirrt und unverdrossen behauptet, die Fibeln hätten mit Germanen nichts zu tun und seien im Übrigen von Nordgallien ins Barbaricum exportiert worden“. Es sei umgekehrt, ausgewanderte Germaninnen hätten dies als eine „Nationaltracht“ behalten und wären in wenigen Generationen zu nordgallischen Germaninnen, allen voran zu Fränkinnen, geworden. H. W. Böhme erläutert seine Ansicht erneut anhand dieser sogenannten germanischen Tutulusfibeln.4308 Es gibt verschiedene Typen; die frühesten Tutulusfibeln kommen vom Niederrhein bis zum Elbe-WeserDreieck vor. Die Karte aller Tutulusfibeln belegt, dass diese Fibelform in Nordgallien bis über die Seine hinaus weit nach Westen gefunden wird. Er sieht den militärischen, also männlichen Kontext in Nordgallien, obwohl die Fibeln alle nur in Frauengräbern gefunden werden, weil auf denselben Gräberfeldern die Männer mit Waffen und Kernschnittgürteln bestattet worden sind. Die Frauen sind im 4./5. Jahrhundert ihren Männern ins Römische Reich gefolgt und haben die Fibeltypen mitgebracht. (Dazu fragt G. Halsall, wie erläutert, warum die Fibeln nicht dort erfunden und hergestellt worden sein können.) Aber anders sieht es mit den gleicharmigen Fibeln, verziert mit Kerbschnittmustern, der Frauen im Elbe-Weser-Dreieck aus. Diese Fibeln kommen eigentlich nur dort, nicht in Nordostgallien, dafür aber in England vor (vgl. oben Abb. 90). Der Dienst im römischen Heer hat Germanen hier sesshaft werden lassen, wie die germanischen Gehöfte seit der Mitte des 3. Jahrhunderts mit Hinweis auf Metallhandwerk nahe der Normandie bezeugen.4309 Viele Familien hätten sich im Bereich verlassener villae rusticae niedergelassen, so meint auch H. W. Böhme, was eine „gezielte Siedlungspolitik der römischen Verwaltung“ gewesen sei. Ähnliches wäre im Südwesten geschehen, im Gebiet der Alamannen.4310 Die Siedler blieben 50 bis 150 Jahre dort ansässig und standen für den Militärdienst bereit. Das erinnert an die Verhältnisse bei den Batavern. H. W. Böhme resumiert: Möglicherweise ist also die Bestattung mit einer gefibelten Kleidung eher eine Mentalitätsfrage und daher Ausdruck einer konservativen, traditionsbewussten Haltung einiger Frauen als ein Hinweis auf deren sozialen Rang.4311
Die ältesten Fibeln dieses Tutulus-Typs kommen ab 300 auf oder noch im ausgehenden 3. Jahrhundert und wurden bis ins letzte Drittel des 4. und um 400 sowie noch 4307 Halsall 2007; dazu Böhme 2017, 291 ff. recht polemisch und damit auch unsachlich. 4308 Böhme 2017. 4309 Lenz 2005. 4310 Böhme 2012/2013, 81 Anm. 20. 4311 Böhme 2017, 294 Zitat; 288 f. älteste Fibeln.
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kurz danach getragen, also drei bis vier Generationen. Fibeln desselben Typs in ferner Gegend an der Donau wären über Truppenverlegungen zu erklären, wobei wiederum die Frauen mitgezogen seien. Die germanischen Siedlungen in Nordgallien mit eigener Metallverarbeitung gab es aber doch schon ab dem 3. Jahrhundert, so dass sich die Fibelmode dort entwickelt haben könnte und dann nach Germanien gebracht worden sei, wie G. Halsall meint.4312 Wohin eigentlich für das Elbe-Weser-Dreieck typische Fibeln auch sonst hingeraten sein konnten, belegt ein Fundstück aus Südwestdeutschland. Im Bereich Efringen-Kirchen wurde 1902 eine niedersächsische Fibel des ausgehenden 4. bzw. 5. Jahrhunderts gefunden, eine Stützarmfibel mit Trapezfuß. Da muss also eine Dame aus dem Elbe-Weser-Dreieck im Zuge der Versetzung eines Militärs oder durch eine Hochzeit in eine ganz andere Landschaft gekommen sein.4313 Nun hat H. W. Böhme bei der Schilderung eines nordgallischen Fundes aus dem 5. Jahrhundert 2018 seine Kernthese wieder gestützt. Anlass ist ein Kamm, der in Süddeutschland in Pleidelsheim, also fernab von Nordgallien gefunden worden ist. Ergänzende Listen zu den früheren Zusammenstellungen werden geboten. Dreieckige Kämme mit durchlochter Randborte mit Futteral (sogenannte D-Kämme) kommen mit 55 Nummern in Nordgallien, in England und im Elbe-Weser-Dreieck vor.4314 Solche Kämme gehörten „zur Ausstattung hochrangiger römischer Militärpersonen germanischer Abkunft“ im 5. Jahrhundert; und ganz offensichtlich wurden qualitätsvolle D-Kämme mit Etuis bevorzugt, die bezeichnenderweise auch in ihren Standquartieren der Militärs gefertigt wurden, „während sich ihre Frauen zumeist anderer Kammformen bedienten“ (meist neben Tutulusfibeln die C-Kämme). Zur Verbreitung der C- und D-Kämme mit Dekor 2 (Typ Maastricht-Trier) bietet H. W. Böhme eine zweite Fundliste mit 35 Nummern. Diese Kämme waren ein unentbehrlicher Gebrauchsgegenstand germanischer Tradition; und deshalb, so seine Meinung, wurden sie im mittleren 5. Jahrhundert beim spätrömischen Militär gebräuchlich, zeichneten ranghohe Offiziere als standesgemäße Beigabe aus. Andere Deutungen können geahnt werden; es sind eben Militärgesellschaften unterschiedlicher ethnischer Herkunft, die aber eine gleichartige Ausrüstung fertigten und trugen. St. Heeren und N. Roymans beziehen nun 2018 beim Versuch der Deutung der neuen Grabsitte weitere andere Quellen mit ein. Es sind nämlich neue Siedlungen in den südlichen Niederlanden und im nördlichen Belgien im 4./5. Jahrhundert gegründet worden, und die Frage ist, woher diese Siedler gekommen sind. Die Siedlung von Gennep (vgl. oben S. 236) war als Ausnahme eine auffällig große Anlage; die anderen Dörfer aber waren recht klein und bestanden nur aus zwei bis drei Gehöften mit dreischiffigen Langhäusern und Grubenhäusern. Diese Bauweisen seien der Hinweis auf
4312 Halsall 2009. 4313 Siegmann 2018. 4314 Böhme 2018, 200 Abb. 3 und Fundliste 1, Zitat 203.
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eine germanische Einwanderung, ebenso die freihandgeformte Keramik sowie auch die Nahrungsmittel, die in Brunnen nachzuweisen sind, und neben den Tutulusfibeln, die G. Halsall besonders betont, gab es auch andere Fibeln, nämlich Armbrustfíbeln und Stützarmfibeln germanischer Herkunft. Außerdem wurde der Anbau von Roggen, der zwar im 1./2. Jahrhundert schon in den nördlichen Niederlanden üblich war, aber jetzt erst in den südlichen Niederlanden eingeführt. Die Rhein-Weser-Keramik, die germanischen Fibeln und die Siedlung wie Tiel-Passewaaij4315 würden die Einwanderer als Germanen bzw. Franken beweisen, ebenso als Beispiel das Gräberfeld von Wijchen mit den Phasen von Bestattungen der Jahre 400 bis 450 und 450 bis 530 mit Grab 195, das eine Kerbschnittgürtelgarnitur enthielt. (Mein zusätzliches Gegenargument ist aber, dass es doch andere Hausformen in dieser Siedlung TielPassewaaij gegeben hat, als im Inneren Germaniens, vgl. oben S. 233). Die beiden Autoren sprechen von einer ethnischen Selbstdefinition in der materiellen Kultur mit germanischen Wurzeln, die aber einer römischen Identität nicht im Wege stehen würde. Germanische Wurzel und römische Identität gingen Hand in Hand. Gestützt wird ihre These durch die zahlreichen Horte mit Goldmünzen, z. B. den Hort von Echt mit Solidi bis Konstantin III. (407–411) (vgl. oben S. 523). Neue germanische Zuwanderer als foederati wurden mit diesen Goldmünzen von Rom bezahlt, und fränkische Kriegerverbände kämpften gewissermaßen an der Seite mit römischen Verbänden. Fränkische Warbands und römische Einheiten sind unter Konstantins III. (407–411) und Jovinus (407–413) (zur Zeit des Honorius 393–423) nebeneinander eingesetzt worden. (Dazu ist zu fragen, ob denn die sogenannten römischen Heereseinheiten inzwischen nicht auch fast nur aus Germanen bestanden haben; und die zahlreichen Goldhorte fallen tatsächlich auf. Aber es fehlt noch an einer Erklärung, warum die Goldmünzen überhaupt vergraben worden sind; waren es Opfer, dann für welche Götter, oder Haus- bzw. Gemeinschaftsschätze der Kriegergruppen, die nicht wieder aufgenommen wurden?). Es überzeugt, dass die Elite germanischer Herkunft Ansprüche auf die territoriale Kontrolle und Führerschaft mit römischen Symbolen anmeldete, so auch in den reich ausgestatteten Gräbern. Konservative germanische Elemente im Hausbau zeigen die zwei Seiten derselben Medaille. Diese fortlaufende Kontroverse, wie die neuen Grabbräuche in Nordostgallien zu erklären sind, zeigt wieder einmal, wie sehr es auf den methodischen Zugriff ankommt. Mit einer Meinung, die anhand der schriftlichen Überlieferung, also der Ereignisgeschichte, entstanden ist, kann der Blick auf den archäologischen Befund nicht mehr neutral bleiben. Verschiedene Facetten der Ereignisse als „Vorurteile“ führen dann leicht zu unterschiedlichen Interpretationen der archäologischen Quellen. Die Deutungen unterscheiden sich außerdem nicht einmal so grundsätzlich, wie die Autoren selbst meinen. Die Arbeitsweise sollte weniger deduktiv, mehr induktiv sein: Der über Jahrzehnte erarbeitete archäologische Befund zeigt eine räumlich
4315 Heeren 2007, Pläne; 2017, 165 fig. 9 Hausgrundrisse, Schmuck und Keramik von Tiel-Passewaaij.
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begrenzte und chronologisch greifbare neuartige Bestattungssitte, also unmittelbar einen Totenbrauchtum der dort siedelnden Bevölkerung. Die Beigaben erlauben es, ebenso den Bezug zu Waffen zu beschreiben wie auch zu Kleidung und ihrer Ausstattung mit Schmuck. Die Waffenbeigabe ist für die Zeiten zuvor unrömisch, was sich geändert hat, aber bei germanischen Gruppen nicht so selten; der Gürtelschmuck und die Fibelformen sind zeitliche Moden. Ihre Verbreitung verknüpft Gebiete in Nordostgallien mit Bereichen, wie dem Elbe-Weser-Dreieck, in Germanien. Die Kartenbilder bieten in der Regel Gleichzeitigkeiten, da nicht fein genug datiert werden kann, was keine Entscheidung erlaubt, ob es ein Hin und Her gegeben hat. Andere Quellengruppen wie der Hausbau und die Siedlungsweise belegen, dass eine fremde Bevölkerung in Nordostgallien gelebt hat, deren Wohnweise nachweislich Parallelen jenseits des Rheins hat, beispielsweise in Westfalen. Die eine Quellengruppe, der Schmuck, hat also Vergleichbares in anderen Gebieten rechts des Rheins, als die andere Quellengruppe, die Hausformen. Methodisch ist weiter zu überlegen: Die Hausgrundrisse sind zu hunderten bei den Grabungen freigelegt worden, ebenso die Schmucktypen; aber während Hausspuren flächendeckend über weite Bereiche Germaniens real erfasst werden, hängen die ausgegrabenen Schmucktypen von örtlichen Bestattungsbräuchen ab, d. h. dieselben Schmucktypen können auch in anderen Gebieten vorkommen, was aber nicht erkannt werden kann. Was bedeutet das also nun für die Deutung der neuen Grabsitte in Nordostgallien. Der Bestattungsbrauch hat sich gewandelt; vieles spricht dafür, dass sich dazu in der realen Lebenswelt auch die gesellschaftliche, wirtschaftliche oder politische Situation veränderte, wofür es Gründe gegeben hat. Und nun können beim klar gelegten Befund verschiedene Erklärungsmuster über die vorliegenden Indizien geprüft werden, und es mag unterschiedliche Deutungen geben, die sich nicht ausschließen müssen, sondern einfach verschiedene Aspekte betonen. Das scheint in diesem Fall der neuen Grabbräuche in Nordostgallien so zu sein, weshalb die beiden Beschreibungen nebeneinander akzeptiert werden können. C. v. Carnap-Bornheim hat dazu betont, dass über mit Edelmetall verzierte Schildbuckel und entsprechende Gürtelbeschläge für den Schultergurt zum Schwert Traditionen aus der Römischen Kaiserzeit bis in die Zeit der Gräber der „Chef militaire“ wie beispielsweise Vermand und auch im Childerich-Grab bis ins 5. Jahrhundert in diesem Gebiet weiterlebten (vgl. oben S. 959).4316 Doch weist B. Hamm darauf hin, dass nach H. W. Böhme in Nordgallien der Anteil der Waffengräber nur bei 1 bis 4 % gelegen hat, während später in der Merowingerzeit fast jeder zweite Mann Waffen als Beigaben mit ins Grab bekam.4317 Das Thema führt unmittelbar weiter zur Frage der Entstehung der merowingerzeitlichen Reihengräbersitte, ein Bestattungsbrauch mit üppigen Beigaben, bei den Männern Waffen und bei den Frauen Fibelschmuck, der gegen Ende des 5. Jahrhun-
4316 v. Carnap-Bornheim 1999d. 4317 Hamm 2018, 61 Anm. 1 nach Böhme 2008a, 96 f.
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derts einsetzte und sich über weite Gebiete des östlichen Merowingerreichs ausgebreitet hat. Ausgangsgebiet ist der nordostgallische Bereich mit seiner kulturellen Neuorientierung.4318 Die Waffenbeigabe, einst als unrömische, eher als germanische Sitte bewertet, in Nordostgallien, von H. W. Böhme kartiert, führte zu einer Betrachtung der Schwertbeigabe.4319 F. Theuws und M. Alkemade haben die Schwerter (und Schwertscheiden) des späten 5. und frühen 6. Jahrhunderts als Zeichen einer besonderen Gruppe von Kriegern ausgewertet; unter diesen Schwertern sind mit Almandin verzierte Scheiden und Goldgriffspathas.4320 Nach den Gräbern des 4./5. Jahrhundert und dem Problem der Bevölkerung in Nordostgallien, ob Germanen oder verbliebene Römer dort lebten, erstreckt sich die Frage auch auf die anschließende Zeit. Beispielsweise enthielt ein Grab des 5. Jahrhunderts sogenannte thüringische Kleinfibeln.4321 Es ist datiert auf etwa 470/480, und die thüringische Herkunft der Bestatteten wird angenommen, und zwar wegen dieser Kleinfibeln. Eine Karte der Kleinfibeln bestimmter Formentypen (Weimar/ Arcy-Sainte-Restute VII.1.1, VII. 1.2. und VII.1.3) zeigt eine Massierung in Thüringen an der Saale, aber auch Funde in Süddeutschland und in Nordostgallien, wo auch handgeformte „thüringische“ Becher vorkommen. Leicht ist eine ereignisgeschichtliche Deutung bei der Hand: Es habe um 496/97 eine thüringische Einwanderung gegeben nach der Niederlage der Alamannen gegen die Franken: Reine Phantasie ohne einen Beweis, und welche anderen Möglichkeiten es für die Verteilung einer Fibelform und die Kartenbilder gegeben hat, habe ich mehrfach geschildert. Eine so allgemeine Verbreitung von Sachgütern bietet auch die Kartierung von spätrömischen Militärgürtelbeschlägen des 4./5. Jahrhunderts, wie sie H. W. Böhme veröffentlicht hat. Diese Beschläge kommen in Nordostgallien, weil es dort eine derartige Grabsitte zur Überlieferung gibt, in Südengland und vor allem auch rechts des Rheins bis weit nach Osten zur Oder hin und im Südosten vor;4322 d. h. sie werden überall gefunden, weil es eine Männermode (und teils auch Frauenmode) dieser Epoche war und kann nicht einfach nur als Beleg für Söldner im römischen Dienst dienen, zumal die römischen Armeen schließlich schon völlig verändert waren und zumeist tatsächlich aus Germanen bestanden (vgl. S. 1037). Die germanischen Söldner wurden in Germanien eben nicht wie römische Soldaten bestattet, die nicht in Uniform und mit Waffen ins Grab kamen, sondern nach den örtlichen Bestattungsbräuchen. Eine Analogie schließe ich hier zum Vergleich an: Die einheimischen
4318 Fehr 2008a; umfassend auch Fehr 2010; vgl. dazu ebenfalls und über Nordostgallien hinaus Halsall 2008, 106 ff. 4319 Theuws, Alkemade 459 Fig. 9 (nach H. W. Böhme). 4320 Theuws, Alkemade 2000, 437 ff. mit den Karten Fig. 4 bis 7, 445 Fig. 8 alle Schwerter des späten 5. / frühen 6. Jahrhunderts, 430 Fig. 2 die verschiedenen Möglichkeiten der Goldgriffspathen und weiteres Zubehör geschmückter Schwertscheidengurtdurchzüge. 4321 Rogge 2018, 393, 398 Fig. 3 Karte, 419 Keramik; Blaich 2006 mit Karten. 4322 Brather 2005b / 2008, 223 Fig. 5 nach Böhme 1996b,98 ff. Abb. 73 und 100 Abb. 75.
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ostafrikanischen Askari-Truppen in der Armee der Schutztruppe des Generals Paul von Lettow-Vorbeck (1870–1964) wurden während des Ersten Weltkriegs als „Veteranen in Uniform bestattet“. Die Askari bekamen Uniformen und Gewehre, die sie von den Deutschen erhalten hatten, mit ins Grab.4323 Die Schmuckausstattungen der Bewohner im Elbe-Weser-Dreieck wirft also die Frage auf, wo denn nun diese Dinge produziert worden sind, im Dreieck oder in Nordostgallien?4324 Die beiden Schalenfibeln und die gleicharmige Fibel mit Kerbschnittdekor aus Issendorf, Ldkr. Stade, Grab 3532, werfen die gleiche Frage auf, war das Eigenproduktion am Ort oder wurden die Fibeln importiert? Die Behauptung lautet bei der Militärausstattung, eine Reihe von dreiteiligen Gürtelgarnituren, die von Werkstätten in der römischen Provinz Gallia Belgica gefertigt wurden, wohl in der Phase 375 bis 420 n. Chr., sei ins Elbe-Weser-Dreieck aus dem Westen gekommen. Die Verzierung in Kerbschnitt mit geometrischen Mustern aus Spiralen, Seelöwen oder Löwen haben dann ortsansässige Handwerker zu Frauenschmuck umgewandelt. Weitere andersartige Tiere sind an den Rändern der gleicharmigen Fibeln hinzugekommen, ergänzt durch eingepunzte Muster. Somit seien die gleicharmigen und die Schalenfibeln im Elbe-Weser-Dreieck entstanden, so wie auf der Fallward entsprechende Holzmöbel mit Kerbschnitt aus einheimischem Holz geschnitzt worden sind. Aber, so meine ich, Militärgürtel und Kernschnittmuster werden in beiden Gebieten gleichzeitig hergestellt worden sein; das schließt einen Kontakt zwischen beiden Landschaften nicht aus, im Gegenteil. K. Høilund Nielsen betrachtet eine Buckelurne (wie sie vom späten 4. bis zur Mitte des 6. Jahrhunderts vorkommen) als von römischen Silber-, Bronze- und Glasgefäßen inspiriert, was aber zu eigenständigen Kompositionen geführt habe. Die typischen Fibeln verschwinden zur Mitte des 5. Jahrhunderts, nur die gleicharmigen Fibeln bleiben bis in die zweite Hälfte des 5. Jahrhunderts. Die Verfasserin spricht nicht mehr vom „sächsischen“ Stil, sondern tatsächlich von einer Zeiterscheinung als Mode. Aus anderer „Feder“ widmet sich ein Aufsatz von A. Rau den „Söldnergräbern“ in Norddeutschland.4325 Er geht von der Gesamtkartierung der sogenannten „spätrömischen“ Militärgürtel des 4. und 5. Jahrhunderts aus, an denen nach H. W. Böhme die enge Beziehung zwischen der römischen Armee und den Germanen bis zur Oder abgelesen werden könnte. Nun kommen zu den kartierten Fundorten noch massenweise Detektorfunde in Niedersachsen, Westfalen und Schleswig-Holstein und den Niederlanden hinzu (was nach meiner Meinung wieder eher für Mode, denn für Söldner spricht; weil kaum sämtliche germanischen Krieger auch einmal Söldner für Rom waren). Militär und Mobilität spielen da zusammen. Wie war die Rekrutierungspolitik von Rom aus? Der präzise Rechtsstatus im römischen Heer war eigentlich 4323 R. Focken, Der Löwe von Afrika. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom Montag, 4. März 2019, Nr. 53, S. 4. 4324 Høilund Nielsen 2019a, 136 Abb. 1 Issendorf, Grab 3532; 137 Abb. 2 Buckelurne. 4325 Rau 2019, 113 Abb. 1.
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unklar, aber er bot für nicht-römische Rekruten einen erheblichen identitätsstiftenden Charakter; und deshalb wurden diese Militärgürtel getragen, so A. Rau. Die Rekrutierung war wirtschaftlich für das römische Militär auch sinnvoll; denn real waren barbarische Söldner einfach billiger als römische Soldaten. Ein römischer Rekrut war sechsmal so teuer wie ein barbarischer Foederat.4326 Die römische Gesellschaft wurde mehr und mehr militarisiert, und ein römischer Eliteangehöriger konnte während der Spätantike sich eine kleine private Armee aus Barbaren halten, zahlreiche römische Generäle hatten ihre eigene Leibgarde. „Doch nicht jeder Militärgürtel belegt zwangsläufig einen abgeleisteten Dienst: entsprechende Gürtel auch in Frauen- und Kinderbestattungen deuten auf ein besonderes Milieu von Soldatenfamilien bzw. eine Kriegerideologie hin“, meint A. Rau ebenfalls,4327 und ich plädiere für Mode und Rangzeichen sowie weite Kontakte. A. Rau blickt auf die anderen vorgeschlagenen Deutungen der Sachen im Elbe-WeserDreieck: „So manche in der älteren Forschung aufgrund von importiertem Schmuck in Grabfunden als ‚Heimkehrerin‘ aus Gallien bezeichnete Frau könnte ebenso gut eine in Gallien geborene und aufgewachsene und später mit ihrem Mann ‚ausgewanderte Provinzialrömerin‘ gewesen sein“, wie G. Halsall vorschlägt. Ob die neue Körpergrabsitte zwischen Ems und Elbe im 4. Jahrhundert einen direkten Einfluss aus dem provinzialrömischen Nordgallien belegt, sei dahingestellt; denn das wäre auch wieder ein Hinweis auf Rückkehrer, die Sitte wird aber in Europa und damit auch in Germanien allgemein gebräuchlich. Es überwiegt bei A. Rau doch auch die bisherige Erklärung, wie sie von H. W. Böhme immer wieder beschrieben wird: Der „sächsische“ Reliefstil ist aus dem spätantiken Kerbschnittornament entwickelt worden, wenn nicht gar die Einwanderung spätantiker Handwerker bedacht werden muss (was gewissermaßen eine gegengerichtete „Völkerwanderung“ von römischen Bürgern ins Innere Germaniens bedeuten würde). Die Sachen von der Fallward, datiert um 430, gehören „unzweifelhaft [einem] aus dem römischen Militärdienst heimgekehrter Mann“. In der Runeninschrift auf dem Schemel ist ebenfalls unmittelbar römischer Einfluss fassbar; denn lateinisch scamella / scamellum wird als Lehnwort zu Schemel/Bänkchen, d. h. der Runenschreiber hatte neben der germanischen Sprache auch lateinische Sprachkenntnisse, weil er das doppelte ll geschrieben hat, was sonst in germanischer Runenschreibweise nicht üblich war.4328 In Issendorf, Ldkr. Stade, lag im älteste Körpergrab aus dem letzten Viertel des 4. Jahrhunderts ein Krieger mit römischer Tierknopfschnalle, provinzialrömischen Sporen und einer einheimischen Fibel nahe bei einem neolithischen Großsteingrab, was wieder als ein Heimkehrer-Modell betrachtet wird.4329 Vergleichbare 4326 Steinacher 2019, 117; 2016, 16–18. 4327 Rau 2019, 113, 114 Zitat, nachfolgend nach dem Aufsatz zitiert und beschrieben. 4328 Düwel 2006,151–153, in: Schön, Düwel, Heine, Marold 2006. 4329 Aufderhaar, Grünewald, Ludowici 2019, 174, 175 Abb. 1 Fibel; Rau 2019, 116 ff., Abb. 3a und b Issendorf, 117 Abb. 5 Bootgrab 2 von der Fallward, 121 Abb. 7 Kartierung der Solidi zwischen 350 und
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große Gräberfelder mit Körper- und Brandbestattungen wie in Issendorf sind bei Buxtehude-Immenbeck, Ldkr. Stade, mit 262 Bestattungen und auch Körpergräbern des 4. bis 6. Jahrhunderts sowie in Sahlenburg und auf der Wurt OtterndorfWesterwörde, beide Ldkr. Cuxhaven, und weiter im Binnenland auch bei Ketzendorf, Ldkr. Stade, in Liebenau, Ldkr. Nienburg, erforscht, wo auch bei einem Grabhügel der Bronzezeit die Belegung begann.4330 Die Pressblech-Fibel aus Grab AE 236 von Buxtehude-Immenbeck soll ein Mitbringsel aus England des 5. Jahrhunderts gewesen sein. A. Rau referiert die bekannte These, dass diese Anlehnung an alte Grabhügel ein Ahnendenkmal meint und damit Anspruch auf Landbesitz (vgl. oben S. 165). Parallel zu den „Söldnergräbern“, wie bezeugt durch die Kerbschnittgürtelgarnitur aus Bootgrab 2 von Wremen-Fallward, bezieht A. Rau den Zustrom der Solidi ein, der nicht kontinuierlich, sondern in Wellen erfolgte, z. B. belegt in Horten und Einzelfunden vom Gegenkaiser Magnentius (350–353), der Söldner bezahlt hat. Im Schatz von Lengerich lagen Solidi dann von Valentinian I. (364–375) und Valens (364–378). Der Zustrom kurz vor 370 n. Chr. und wieder im ersten Jahrzehnt des 5. Jahrhunderts spiegelt Foederaten des Stilicho zwischen 395 und 408 in Münzen des Gegenkaiser Konstantins III. (407–411) wider und die Anwerbung von Franken. Der Hort von Dortmund, 1907 in einem Tongefäß gefunden, enthielt zwischen 335 und 407/408 geprägte Solidi und 16 Silberprägungen. Das waren also mehrere Goldzahlungen an die Anführerfamilie einer germanischen Kriegergruppe, drei massive goldene Halsringe im Fund waren entweder germanische Statussymbole oder römische Auszeichnungen. Die Kartierung der spätrömischen Solidi zwischen 350 und 455 n. Chr. in Nordwestdeutschland und den östlichen Niederlanden, differenziert nach Zeitphasen, in Horten und als Einzelfunde, werden als Zahlungen der römischen Administration gewertet; größere Goldsummen gingen an Anführer; die Warlords verteilten das Edelmetall an Clans und Krieger weiter. Die Karte zeigt außerdem das innergermanische Netzwerk der Elite. Zahlungen erfolgten auch in Barrensilber: In Trier gefertigte römische Silberbarren wurden bei Diersdorf an der Weser gefunden: sie sind 11x6 cm groß und wiegen jeweils ca. ein römisches Pfund zu 327 g; sie wurden unter Valentinian III. im Jahr 425 n. Chr., dem Regierungsantritt gegossen. Eine Besonderheit in Norddeutschland und darüber hinaus stellen Silbermünzen des 4. und frühen 5. Jahrhunderts mit nachträglich abgeschnittenen Rändern (clipped siliquae) dar, die in Britannien zwischen 405 und 440 n. Chr. in einer Phase der Edelmetallknappheit so behandelt worden sind. Diese Münzen sind wie die gleicharmigen Kerbschnittfibeln (die dazu eingeschmolzen wurden), so A. Rau, „in die Hände auf dem Festland rekrutierter Soldatengruppen gekommen, die die Münzen
455 n. Chr., Abb. 8 Barrensilber; auch Wiegels 2003, Taf. X. 4330 Habermann 2008; Brieske, Schlicksbier 2005.
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aus Britannien mitbrachten“.4331 Es gab also vor der Übersiedlung von Sachsen und Jüten vom Kontinent im späteren 5. Jahrhundert schon Wanderungen von Germanen nach Britannien und zurück. Es handelt sich bei diesen Münzen um einen modernen Begriff, wenn von siliqua/siliquae, gesprochen wird. Von den beschnittenen gibt es immerhin schon 20 Fundstellen in Norddeutschland und Dänemark, in Britannien mehr als 200 Fundorte (auf der Karte ist das Gebiet schraffiert mit mehreren tausend Exemplaren wiedergegeben); die Datierung ist allgemein erstes Drittel des 5. Jahrhunderts. A. Rau meint zudem: Das inzwischen vermehrte Auftreten von Trachtbestandteilen aus Britannien in Nordwestdeutschland und die durch eine revidierte Chronologie nun bezeugte dauerhafte Ansiedlung von Personengruppen vom Kontinent in Britannien bereits im ersten Drittel des 5. Jahrhunderts legen nahe, dass es überwiegend von dort heimgekehrte Söldner waren, die Silberwerte in Form von meist schon im Römischen Reich zerhackten Gegenständen aus Silber und Barren sowie Münzen aus diesem Material mitbrachten, nun auf den Kontinent.
Zwei Aspekte gilt es bei diesem Thema noch zu bedenken, die Söldnerdienste und die Vergrabungssitten von Gold in Germanien. Wenn hier in diesem Abschnitt die These von der Söldner-Werbung aus dem Elbe-Weser-Dreieck und darüber hinaus aus ganz Norddeutschland im Vergleich mit den neuen Grabsitten und Beigabenbräuchen in Nordostgallien beschrieben und erörtert wird, dann sind mehrere Deutungsvorschläge zu berücksichtigen. Einerseits wird von einem Germanenzuzug nach Nordostgallien ausgegangen und von einer Söldnerrückkehr beispielsweise ins Elbe-Weser-Dreieck. Es handelt sich dabei – vor allem bei den Kartenbildern – um ungefähre Gleichzeitigkeit der Verteilungen, die einen Zustand und keine Mobilität beschreibt. Oben wurde die Thesen von G. Halsall erörtert, der durchaus meint, dass die Schmucksachen wie Tutulusfibeln in Gallien hergestellt und von dort nach Osten gelangt sind und nicht umgekehrt vom Elbe-Weser-Dreieck nach Gallien kamen. Ähnliches lässt sich auch für die gleicharmigen mit Kerbschnitt verzierten Fibeln in England und auf dem Kontinent sagen, die wohl gleichzeitig hier und dort hergestellt und getragen worden sein können. Für die ausführlich von A. Rau beschriebene zeitliche Parallelisierung von Grabfunden und Solidi-Schätzen überzeugt eher eine Deutung von Söldner-Kontakten als nur die Kartierungen der Sachgüter; auch wenn es zu beachten gilt, dass Ereignisgeschichte und archäologische Quellen unmittelbar kombiniert werden. Die Verteilung der Schatzfunde in der Landschaft soll nach anderer Meinung durchaus auch die Schaffung neuer Herrschaftsgebiete abbilden, mit Größenordnungen von etwa 50 km Durchmesser (vgl. oben S. 806) und zugleich großräumige Identitäten und Netzwerke. Als zweiten Aspekt ist die Frage zu beantworten, warum die Goldringe und vor allem die Solidi in Horten und als Einzelstücke hier vergraben worden sind (die
4331 Rau 2019, 119 Abb. 2 Karte der clipped siliquae, Stand 2018, 119 Zitat.
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Antworten betreffen auch alle sonstigen Fundkomplexe diesen Charakters in Skandinavien, S. 531 ff.). Mit dem Hinweis auf Opfergaben und die eigene Ausstattung fürs Jenseits sind die Horte nicht allein und überzeugend zu deuten; auch wenn wir über die Kultbräuche noch zu wenig wissen. Die Vergrabung der Goldbrakteaten und der Goldblechfigürchen in der nachfolgenden Epoche ist ebenso noch nicht befriedigend zu erklären, auch wenn hier wenigstens zu erkennen ist, dass Solidi umgeschmolzen und neu „geprägt“ worden sind. Auf dem Kontinent ist höchstens der Ringschmuck neu erschmolzen worden, sofern es nicht doch mitgebrachte römische Rangzeichen waren. Warum aber die wertvollen Solidi-Schätze, die eigentlich vom Kriegsherrn an das Gefolge verteilt werden sollte, vergraben wurden, bleibt weiter ein Rätsel. Hatte man keine plausible Verwendung für das Gold und erwählte die Erde gewissermaßen als Tresor. Oder ist es nur ein kleiner Ausschnitt – eine These von mir – des einst tatsächlich nach Germanien geflossenen Goldes in noch weit größeren Mengen, das aus widrigen Umständen nicht wieder gehoben werden konnte. Erinnert sei an die Mengen an Tributzahlungen von Byzanz an die Hunnen (vgl. S. 513), für die aus den Schriftquellen die ungeheuren Mengen aufgeführt sind, von denen ebenfalls nur ein, wenn auch erheblicher Bruchteil archäologisch gefunden worden ist. Die bisher in Norddeutschland (und anderswo) geborgene Menge kann mit 100 und mehr multipliziert werden, um eine Vorstellung vom einst Vorhandenen zu gewinnen; und außerdem sollte dann die Solidi-Menge auf Jahrzehnte aufgeteilt umgerechnet werden. Vielleicht ist der Befund dann realistischer zu verstehen. Erhöht man rechnerisch die Goldzahlungen der römischen Kaiser an Söldner aus Germanien in dieser Weise, dann muss auch die Zahl der Söldner entsprechend erhöht werden – nicht unbedingt die der Anführer – und damit ergeben sich vergleichbare Kriegermengen, die Militärgürtel mitgebracht haben werden. Die Rechenexempel können weiter getrieben werden: Auxiliareinheiten von 800 bis 1000 Mann etwa mussten während der Spätantike mit Solidi bezahlt werden, d. h. ein Kriegsfürst und Anführer forderte von der römischen Seite für seine Einheit pro Kämpfer beispielsweise 2 oder 3 Solidi für den Einsatz in einem Jahr, was allein dann zwischen 1600 bis 3000 Solidi gekostet hat. Schätze in derartiger Größenordnung gibt es bisher nicht, woraus gefolgert werden kann, dass ein Anführer durchaus einen Teil, also einige hundert Solidi vergraben konnte, für die Götter oder für eine spätere mögliche Verwendung. Auch F. Theuws hat sich gerade wieder zu diesem Thema der Grabsitten in Nordostgallien vom 4. bis zum 6. Jahrhundert geäußert.4332 Alte und neue Deutungsmodelle des archäologischen Befunds bleiben nebeneinander bestehen. Die alte These besagt, dass neue Bewohner in Nordgallien einwanderten, als Eroberer aus dem Osten. Seine eigene These, die er schon seit vielen Jahren vertritt, ist demgegenüber, dass eine neue Landverteilung erfolgte und damit auch eine neue Ideologie und eine
4332 Theuws 2009; 2019, 126 ff., 131 Fig. 8.2 Kartierung der neuen Grabsitten.
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neue Grabsitte entwickelt worden ist. Die römischen Villen verschwanden, es überwogen agri deserti im 4. und 5. Jahrhundert. Ausgehend von den archäologischen, eben nicht den schriftlichen Quellen, weiß F. Theuws, dass sich die Grabsitten schon in römischer Zeit geändert haben, dass seit dem 2. Jahrhundert die bisher übliche Brandbestattungssitte durch die Sitte der Körpergräber ersetzt wurde. Im 4. Jahrhundert kamen als Beigaben außerdem nicht etwa reguläre Kriegswaffen auf, sondern Äxte (für die eigene Landrodung), Lanzen (als Rangzeichen von Autorität in der römischen und in der germanischen Welt) und Pfeil und Bogen (für die Elitejagd). Bisher wurden die als unrömisch gewerteten Waffengräber den Germanen zugewiesen, wie das H. W. Böhme meint; doch nun ergibt die symbolische neue Erklärung dieser Beigaben einen neuen Sinn. Dabei bleibt es trotzdem, so meine ich, unerklärt, warum als Zeichen der neuen Landeigentümer dazu unbedingt eine neue Grabsitte entwickelt werden musste. In Nordgallien findet sich die Konzentration der Gräber mit diesen neuartigen Beigaben in anderen Bereichen, als bei den Orten mit nachgewiesenen praefectus laetorum. Die Neubesiedlung der agri deserti unternahmen sowohl Römer, als auch germanische Siedler, und diese müssen nicht aus dem Gebiet östlich des Rheins gekommen sein, sondern aus allen anderen Teilen des Römischen Reichs. Es seien Gruppen, die sich der aristokratischen römischen Kontrolle der Reichsverwaltung entzogen haben. Deshalb ist die entscheidende Frage nicht; woher die Grabsitte übernommen wurde, sondern woher die neuen Gruppen mit den neuen Verhaltensweisen im 4. bis 6. Jahrhundert nach Nordostgallien gekommen sind. Nach dieser ersten Phase entwickelten sich wieder neue Identitäten seit der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts; denn jetzt kamen richtige Waffen als Beigaben auf, Schwerter und Schilde. Die Gebiete mit diesen Schwertgräbern im späten 5. und frühen 6. Jahrhundert sind ebenfalls schon früher zusammengestellt worden,4333 und darin liegt eine der Wurzeln für das Aufkommen der nachfolgenden Reihengräbersitte der Merowingerzeit. Es fällt auf, dass diese Krieger keine Zwiebelknopf- bzw. Armbrust- oder Bügelknopffibeln mehr am Militärmantel getragen haben (in den Bestattungen), und nur Childerich war in altertümlicher Weise noch mit einer goldenen Zwiebelknopffibel bestattet worden, die seinen militärischen Rang spiegelte; doch zu dieser Zeit wurden diese Fibeln auch im zivilen Bereich getragen und zeigten ebenfalls Rang an.4334Auffällig ist aber tatsächlich, dass diese Fibeln nicht in Nordgallien in den Waffengräbern der zweiten Hälfte des 5.und frühen 6. Jahrhunderts vorkommen, obwohl sie andererseits noch getragen wurden, wie die Mosaiken in San Vitale in Ravenna zeigen. Deshalb sind die Gräber anscheinend Teil der Konstruktion einer neuen Identität, die unabhängig von den Symbolen des römischen Staats war. Gräber mit Ring-
4333 Theuws, Alkemade 2000. 4334 Swift 2000.
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schwertern und anderen Schwerttypen4335 kommen später im gesamten Bereich der Reihengräberzivilisation vor, und Ringschwerter als Gruppenphänomen und Gefolgschaftszeichen doch auch in ganz anderen Gegenden (vgl. S. 961). Was waren Sinn und Zweck der Gräber mit diesen Waffen- und anderen Beigaben: Es waren Grabsitten, die von lokalen Gruppen und Familien entwickelt wurden und die Werte, Ideen und Weltvorstellungen einschließen, auch ein besonderes Kriegertum. Grabsitten sind jeweils Produkte ritueller Aktivitäten und nicht Abbild von historischen Ereignissen. Es gibt stattdessen entscheidend Beziehungen zwischen den Lebenden und den Toten am jeweiligen Ort. Reiche Grabausstattungen repräsentierten eine Gemeinschaft oder Gruppe, kaum eine individuelle historische Person; die lebende Person ist transferiert in eine Sondersituation als Toter. Damit widmet sich F. Theuws neuen Überlegungen zum Grab des Frankenkönigs und römischen Generals Childerich, dessen Grablege vom Nachfolger Chlodwig ausgerichtet wurde, der ihn als römischen General bestattet hat, bei dem jedoch Anhänger nach „germanischer“ Sitte die vielen Pferde opferten. Das Grab ist ein „Narrativ“, wie man jetzt sagt, womit sich der Nachfolger etablierte und auf diese Weise seinen Herrschaftsanspruch festigte. Aber nun ist die goldene Zwiebelknopffibel ein altmodisches Element, weil Childerich als römischer General bestattet wurde, nicht als germanischer Kriegeranführer, während Chlodwig nun damit seine moderne Machtposition stärkte. Childerich wäre ein Mann der Vergangenheit, des römischen Imperiums, weshalb er auch die vielen Münzen mitbekommen habe. Doch es gab auch andernorts, so im Norden, alte Silberund neue Goldmünzen in Horten des 5. Jahrhunderts (vgl. S. 576). Hier übersieht F. Theuws jedoch, dass auch Chlodwig noch dem alten System anhing und sich als Teil des Imperiums sah, denn er ließ sich durch Gesandte des Kaisers Anastasius als Konsul einsetzen, gewissermaßen als ein Ehrenkonsulat.4336 Wie zu Anfang dieses Abschnitts (vgl. S. 1164) angekündigt, gehe hier am Schluss des Abschnitts auf die laufende Kontroverse in der Archäologie ein, wie es um die ethnische Zuordnung der Gräber in Nordostgallien im 4./5. Jahrhundert geht, ob es sich um germanische Einwanderer im römischen Gebiet, um akkulturierte Römer oder um eine örtliche sich neu orientierte Mischgesellschaft gehandelt hat. Meine Auffassung habe ich zuvor erläutert. Die Kontroverse entzündete sich bzw. setzte sich fort anhand der Monographie von Hubert Fehr, entstanden in Freiburg, „Germanen und Romanen im Merowingerreich“.4337 Die deutsche Forschung blieb bei einer „Kontinuität wider besseres Wissen“, so H. Fehr, und betrachtete die Reihengräberfelder als prinzipiell germanisch.4338 Das hängt mit der Diskussion über Identitäten, die auch über eine 4335 Theuws 2019, 135 Fig. 8.4 Gräber mit Ringschwertern. 4336 Anton 1981, 483 (Gregor von Tours, Hist. II 38). 4337 Fehr 2008; 2010, mit den angeführten Rezensionen von V. Bierbrauer, A. Leube, J. Haas, R. Schieffer und U. Nonn etc., zur Diskussion auch Schmauder 2012: Transformation oder Bruch. 4338 Fehr 2010, 657–677, dazu Rez. Bierbrauer 2012 (2013) 510; Rez. Leube 2013 (2015) 193; Rez. Nonn 268.
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24 Migrationsprobleme
längere Zeit erhalten blieben, zusammen; Germanen bzw. Franken und Romanen waren, so H. Fehr, jeweils doch keine Sprachgemeinschaften, auch keine ethnischen Abstammungsgemeinschaften, sondern sich wandelnde politisch-rechtliche Gruppen, was aus der schriftlichen Überlieferung herauszulesen ist. H. Fehr erläuterte umfassend, dass es kaum möglich sei, klar zu beschreiben, was Germanen oder Römer gewesen seien, vielmehr dass dieses Begriffspaar als Antagonismus die Forschungsgeschichte, auch unter den bekannten politischen Situationen, im 19. und 20. Jahrhundert, bestimmt hat. Dabei wurde das von deutscher Seite anders gesehen, als von französischer, niederländischer und belgischer sowie englischer Seite,4339 d. h. – wie oben erläutert – auch die Interpretation der neuartigen Grabsitte mit Waffenbeigabe und Schmuck (Fibeln) war seit langem gegensätzlich, von deutscher Seite eingewanderte Germanen, von der westlichen Seite eine sich ändernde Grabsitte der örtlichen unterschiedlich zusammengesetzten Bewohnerschaft, der „Ausdruck einer kulturellen Neuorientierung der Bevölkerung an der Peripherie des Römischen Reichs“ statt einer migrationistischen Erklärung.4340 Eine militarisierte und nicht nur „germanisierte“ Gesellschaft mit einem aristokratisch-elitären Lebensstil war entstanden, wobei zu bedenken bleibt, dass für uns in der Gegenwart ein „Nichtmehrverstehen antiker Bewusstseinszustände“ zu berücksichtigen ist.4341 R. Schieffer ist als Historiker unbefriedigt, dass bei der Archäologie, folgt man H. Fehr, die Suche nach ethnischen Identitäten keine Frage mehr sein könnte; denn es gebe doch „gentile Identitäten“ und politische Umbrüche in der Schriftüberlieferung. Er bezieht sich nun wieder auf Beschreibungen bei H. W. Böhme, der auf die Parallelität der Grabbeigaben in den frühen Reihengräbern rechts des Rheins und in Nordgallien hinweist; das ist dessen Jahrzehnte lang vertretene These, der jedoch – wie ich erläutert habe – neue Erklärungsmuster gegenübergestellt werden.4342 Es mögen kleinere Gruppen aus Germanien eingewandert seien, so die westliche Forschungsrichtung, doch von der Gesamtbevölkerung ist dann die neue Bestattungssitte entwickelt worden, als soziales, eben nicht ethnisches Verhalten. Das führt aber zwangsläufig zu Beschreibungsversuchen, wie die Reihengräbersitte denn nun in diesem Gebiet entstanden ist. Eine vermittelnde Haltung schlägt J. Hass vor, akzeptiert eine wirkmächtig geschaffene Identität von wandelbaren politisch-rechtlichen Gruppen und hofft auf die Möglichkeit einer Koexistenz beider „Schulen“ und sieht weniger einen Paradigmenwechsel.4343 Man kann das so verstehen, dass unterschiedliche wissenschaftliche Konstruktionen sich ablösen bzw. zeitweilig nebeneinander stehen. Das grundsätzliche Problem ist weiterhin, dass es von der einen Seite möglich sein sollte, anhand der archäologischen Befunde und Funde die Verstorbenen 4339 Leube 2013 (2015) 191 weist besonders darauf hin, ebenso Schieffer 2011, 320. 4340 Fehr 2010, 787 f., wird von den Rez. zitiert, z. B Schieffer 2011, 319. 4341 Fehr 2010, 763–768; Haas 2010/2011, 412. 4342 Schieffer 2011, 321; Böhme 2009. 4343 Haas 2010/11, 413.
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„ethnisch“ zuzuordnen, während die andere Seite nicht erkennen kann, dass dieses Axiom, als „zentrale Interpretationsgrundlage“ (V. Bierbrauer) irgendwie zu beweisen ist. Also stehen sich, um zu wiederholen, die Behauptung, die unterschiedlichen Quellen der Archäologie und Schriftüberlieferung können direkt kombiniert werden, wobei die Aussagen der Schriftquellen als entscheidend angesehen werden, gegenüber der Ansicht, dass archäologische Quellen zuerst aus sich heraus bewertet werden müssen, ehe erst dann Überlegungen zu den vergangenen Lebensverhältnissen erlaubt sind.
25 Bilderkunst und Menschenbilder Es gibt scheinbar einen Bruch in meiner Darstellung der späten Phase der Kulturgeschichte in Germanien. Für den Norden, den Ostseeraum, blicke ich auf die Kontinuitäten der Siedlungs- und Bestattungsentwicklung sowie in der bildlichen Kunst, während ich auf dem Kontinent die Phase des Merowingerreichs nur in einigen Aspekten einbeziehe. Das liegt an der unterschiedlichen politischen Entwicklung der Großräume. Die Gemeinsamkeiten im gesamten Raum Germanien vom hohen Norden bis zu den Alpen beziehe ich jedoch ein; da sind die Verwendung der Runenschrift sowie die Ausprägungen des sogenannten Tierstils I und II in der Kleinkunst (vgl. S. 1236). So vergleiche ich auch das Aufkommen und die Verwendung der Goldbrakteaten ab 500 und der nachfolgenden Goldblechfigürchen aus Gold im skandinavischen Norden, zumeist als Opferniederlegungen gefunden, mit den Goldblattkreuzen aus Gold des 6. und 7. Jahrhunderts vom Kontinent, fast ausschließlich als Grabbeigaben in Italien und Süddeutschland entdeckt; denn es geht um Kontinuitäten in der Kunstauffassung. Es ist gerechtfertigt, von Kunst- oder Tierstilen zu sprechen, die kennzeichnend für Germanien und nur für Germanen gewesen sind. Dazu zitiere ich Alexandra Pesch, die ein Schema zur interdisziplinären Interpretation der „Kunststile“ in Germanien vorschlägt (Abb. 91):4344 Über fast eintausend Jahre, von der römischen Kaiserzeit bis in die späte Wikingerzeit hinein, charakterisierte die hochstilisierte, überregional gepflegte Bildersprache die Germania und grenzte sie ab von anderen Kulturen. Diese Bildersprache war ein Medium weiträumiger Kommunikation und Elitenidentität und hatte internationale Relevanz innerhalb der Völker und Gruppen der germanischen Sprachfamilie […]. Der alte germanische Tierstil hat sich über Epochen- und Religionsgrenzen hinweg gesetzt und gegenüber neuen Einflüssen als ausgesprochen resilient erwiesen…. Die Bildersprachen des Abendlandes, sämtlich auf antiken Traditionen basierend, zeichnen sich alle durch eine gewisse Vorliebe für Tierdarstellungen als Träger von Heilsbotschaften aus.4345
Es gibt eine Entwicklung der Bildersprache von der Spätantike bis zur romanischen Bildkunst (Abb. 92).4346
25.1 Frühe Bilderkunst Vielfach ist zu lesen, dass die Germanen zu Anfang kaum eine figürliche Kunst entwickelt hätten, sondern erst mit dem 1. und 2. Jahrhundert zaghafte Anfänge schafften. 4344 Pesch 2007a, 369 Abb. 21; 2011d, 387 Fig. 6; 2012a, 680 Abb. 20. 4345 Pesch 2019d, 331 f. 4346 Pesch 2007b; 2010. https://doi.org/10.1515/9783110702675-033
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Abb. 91: Interdisziplinäre Interpretation der Kunststile nach A. Pesch.
Abb. 92: 1. Entwicklung der Bildersprachen bzw. Stilphasen von der Spätantike bis zur romanischen Bildkunst.
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Abb. 92: 2. Die Kunststile von 350 bis 600 n. Chr.
Vielmehr gehe ich davon aus, dass auch diese Bevölkerungen in Mitteleuropa und dem südlichen Nordeuropa immer auch einen Sinn für handwerkliche Kunsterzeugnisse hatten, wohl nicht als l’art pour l’art, sondern mit einem mythisch-symbolischen Gehalt, auch wenn dieser für uns kaum zu erschließen ist. Ohne nun Kontinuitäten das Wort zu reden, kann aber festgestellt werden, dass die Bewohner dieser geographischen Gebiete auch während der Urgeschichte, so vor allem in der Bronzezeit, bildliche Kunst geschaffen haben, auf Bronzegerätschaften und als Felsbilder. Nachfolgend in der vorrömischen Eisenzeit – archäologisch unter anderem in der JastorfKultur fassbar, die mit frühen „Germanen“ gleichgesetzt wird – sind die überlieferten Hinweise zwar kärglich, aber was in erster Linie wohl auf den Forschungsstand und vor allem auf die Überlieferungs- und Erhaltungsbedingungen zurückzuführen ist. Es
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sollte jedoch nicht von „einer bildlosen, anikonischen Welt“ parallel zum Römischen gesprochen werden,4347 wie ich noch zeigen werde. Die Brandbestattungssitte kann und wollte nichts Bedeutendes überliefern. Die in feuchten Untergründen, den Mooren, entdeckten Holzidole, möglicherweise Götterbilder, sind von recht einfacher Gestaltung. Das wird aber an dieser exzentrischen Überlieferung liegen, während aus den zentralen Bereichen der Siedlungen kaum etwas erhalten geblieben sein kann. In mancherlei Kleidungsschmuck, also einer Kleinkunst, vor allem auf den Gürtelbeschlägen aus Metall finden sich ornamentale Verzierungsmuster; was alles verloren bzw. nicht überliefert ist, kann man nur vermuten. Es gibt eigentlich keine Phase der Ur- und Frühgeschichte in Mitteleuropa, in der sich die Bevölkerung nicht doch künstlerisch ausgedrückt hat. Es klingt trivial, aber der archäologischen Forschung gelingt es, anhand der unterschiedlichen Ausformung der Sachgüter eine chronologische Gliederung zu gewinnen. Dabei sollte aber nicht vergessen werden, dass diese zeittypischen Unterschiede in der Gestaltung von Keramik, Schmuck und Waffen sowie sogar der Gerätschaften zeigen, wie Gruppen der Bewohner sich ihre Umwelt und alle Sachgüter jeweils anders gestaltet haben. Es gibt Zeitstile; und diese sind – abgesehen von den nützlichen Werkzeugen und Geräten, die von der Funktion her in ihrer Form bestimmt werden – eingeprägt in all die anderen Objekte des alltäglichen Lebens, die es erlauben, beispielsweise vom Stil der vorrömischen Eisenzeit zu sprechen, der sich in fast allen Sachen ausdrückt. Die zweite häufig zu lesende These lautet, dass erst durch römische Vorbilder eine germanische Bildkunst entstanden sei. Diese Vorbildfunktion besteht in der Tat, aber die Bevölkerung in Germanien hat auch zuvor aus dem keltischen Kulturbereich Anregungen übernommen, auf die schon mehrfach hingewiesen worden ist. Die Metallbeschläge an den Wagen von Dejbjerg, die Kessel von Gundestrup und Rynkeby in Jütland sind solche Hinweise. Aber auch ohne Kelten und Römer hätten die Bewohner Mitteleuropas wie alle anderen Gruppen überall künstlerische Erzeugnisse geschaffen. Aber weil das Römische Reich in unmittelbarer Nachbarschaft gewachsen ist, schaute man auch nach dort. Jede Gesellschaft braucht Kunst im Sinne einer Bewältigung des alltäglichen Lebens in einer doppelten Bedeutung. So gestaltete man seine Sachgüter in der eigenen Siedlungsumwelt, immer wenn man selbst gestaltete: Das Töpferhandwerk muss sich entscheiden, welche Gefäßform hergestellt werden soll. Keramikscherben sind die häufigsten Funde in früheren Siedlungen, seit dem Neolithikum, und die Archäologie hat die Veränderungen der Formen und Verzierungen über die Jahrtausende und Jahrhunderte hinweg (unabhängig auch von der technischen Herstellung) erforscht und zum Datierungshilfsmittel erarbeitet. Die Keramikformen der ersten Jahrhunderte n. Chr. in Germanien sind ebenfalls detailliert von Landschaft zu 4347 Ament 1997/2003, 69; doch bringt er selbst einige Beispiele zur bildlichen Kunstüberlieferung.
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Landschaft und über die Jahrzehnte hinweg in ihren Wandlungen verschieden und beschreibbar. Die Bildwissenschaft hat sich in der letzten Zeit zu einem zukunftsweisenden Zweig auch der archäologischen Wissenschaft entwickelt bzw. nach selbstverständlichen Vorläufern dazu entschlossen, sich diese eigene Überschrift zu schaffen. Ein Tagungsband von 2010 hat sich über Bilder in der Archäologie und von dort zu einem Weg einer Archäologie der Bilder entwickelt.4348 Wie weit dieser Ansatz nun von der Kunstgeschichtswissenschaft allgemein angeregt worden ist oder aus den eigenen Wurzeln erwachsen konnte, als zu Bildfragen 2007 eine Publikation mit dem Anspruch „Bildwissenschaft im Aufbruch“ vorgelegt worden ist, muss nicht entschieden werden.4349 Im eigenen Fach gibt es auch seit Jahren diesen weiterführenden Zugang, wie Christoph Huth in seinen Arbeiten belegt hat.4350 A. Pesch hat in ihrer Studie „Der Schmied, sein Lehrbub und die Götter. Ein Märchen auf den Spuren der Meisterschmiede im Norden“ beschrieben und damit zu zeigen versucht, wie die meisten Erzeugnisse auch „Kunst“ umfassen, und welche Vorstellungen und Ursachen es gibt, die Anlass zu neuen Ausdrucksformen geworden sind (vgl. S. 1183).4351 Sie hat zudem mit Nachdruck betont, dass die Bilddarstellungen auf den materiellen Sachgütern „authentische Ausschnitte der ehemaligen Gedankenwelt und der religiösen Vorstellungen“, bieten, was aus der Schriftüberlieferung nicht zu erschließen ist, da sie zumeist wesentlich jünger ist.4352 Auch in den kleinsten Dingen, die von Menschen geschaffen und hergestellt werden, sind der Zeitgeist und das jeweilige „Kunstempfinden“ eingefangen, weshalb Objekte auch immer chronologisch einzuordnen sind, wie ich zuvor erläutert habe. Christoph Huth hat das „die verborgene Lebenskraft der Dinge“4353 mit dem Blick auf Tierbilder kleiner Bronzeobjekte der vorgeschichtlichen Zeit genannt und deutet ebenso noch die Kunsterzeugnisse und Bilddarstellungen der Epoche in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten in Europa.4354 Bilder haben einen ganz eigenen Quellenwert, denn es handelt sich um unmittelbare und intentionelle Mitteilungen ihrer Schöpfer […]. Das bedeutet natürlich nicht, dass man den Sinngehalt ohne Weiteres verstehen könnte, eröffnet aber […] ganz eigene Blicke auf die Lebenswelt vergangener Zeiten.
4348 Juwig, Kost (Hrsg.) 2010. 4349 Belting (Hrsg.) 2007. 4350 Huth 2004; 2016. 4351 Pesch 2013b. 4352 Zuletzt wieder Pesch 2019a, 13, 20, 29. 4353 Huth 2016a, Zitat, nach Kossack 1998. 4354 Huth 2016a, 227 Zitat; 2004.
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An einem religiösen-kosmologischen Charakter der Bilder sollte man nicht zweifeln. Man kann meinen, dass Bild und Dargestelltes, also auch Symbol und Symbolisiertes, in der Vorstellung der Menschen identisch sind. Die Anbringung eines solchen Zeichens auf einem Objekt bannt und überträgt dessen Kraft unmittelbar auf den Bildträger und, wie man wird vermuten dürfen, auch auf denjenigen, der das Objekt trägt […]. Die Sichtbarkeit des Zeichens ist gar nicht so wichtig. Entscheidend ist seine Präsenz, damit es seine Wirkkraft entfalten kann.4355
Peter Wells bringt einen anderen Aspekt: Das Bild braucht eine Reaktion bzw. eine Antwort. Was ist das Sichtbare für Individuen und Gruppen, was gehört zu Magie und Religion, wie werden Landschaften gesehen? Sind Landschaften nur Oberfläche, ein Hintergrund und auch ein Erinnerungsort. Aus der Römischen Kaiserzeit kann dazu nicht viel beigetragen werden. Es gibt Stelen in der Latènezeit und Bild- sowie Runensteinen in der Vendelzeit. Der Hinweis auf die großen Hallen seit dem 3. Jahrhundert in Gudme und Uppåkra sowie auch Yeavering (vgl. S. 346) oder die Goldfunde in Gudme und anderen Zentralorten könnten ein Denken über die Kunst auslösen.4356 Diese Auffassung unterstützen auch die Runeninschriften auf Objekten, die aussagen, um welches Objekt es sich real handelt; erinnert sei an den Kamm von Frienstedt, auf dem geschrieben steht, dass dies ein Kamm sei; oder an den Schemel von Wremen/Fallward, auf dem zu lesen ist, dass dies ein Schemel sei; aber auch bildlich in das Holz eingeritzte Jagdszenen werden in Kurzform so in Runen beschrieben (vgl. S. 1257). Vielfach sind Runeninschriften auch auf einem Schmuckstück oder an einer Waffe versteckt eingeritzt worden, dass die Buchstaben nicht zu sehen waren, verborgen auf der Rückseite des Objekts, oder auch so fein geritzt, dass die Zeilen leicht übersehen werden. Das Dasein der Schrift ist das Ziel, und sie wirkt im Verborgenen. Die Kunsterzeugnisse der Germanen, von den Verzierungen auf Keramik, an Waffen bis zu den goldenen Schmucksachen, sind trotz vielfacher Übernahme von Anregungen aus dem Umfeld, aus dem keltischen Bereich oder aus den römischen Provinzen, immer außerdem Ausdruck eigenständiger Vorstellungen in der „heimatlichen“ Umwelt. Ohne Zweifel sind vielfach römische Bildmotive als Vorbild gewählt worden. Doch wurden sie nicht einfach übernommen oder nur nachgeahmt, sondern sehr bald mit einer eigenen Interpretation versehen umgestaltet: „Man nahm Anregungen vom zivilisatorisch [so der Verf. K. Böldl] überlegenen Nachbarn im Süden auf, erschöpfte sich dabei aber nicht in bloßer Nachahmung, sondern entwickelte die rezipierten Formen und Inhalte weiter und passte sie in den eigenen Horizont ein“.4357 Es bleibt ein Phänomen, diese Parallelität ähnlicher Bilder mit unterschiedlichsten
4355 Huth 2016a, 237; 2004; Dux 1990. 4356 Wells 2008, 124 zu den Hallen. 4357 Böldl 2013, 20 f.
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Gehalten zu beobachten; man hätte in Germanien das auch ganz anders machen können, entschied sich aber für diese Umdeutungen, was ja auch bei Einführung der Runen statt der lateinischen Buchstaben in derselben Weise geschehen ist. Im Einzelnen kann diese Umformung also an vielen Beispielen gezeigt werden. So wie man in Germanien die römische Schrift zwar kannte, aber nicht übernommen hat, sondern nur die Idee des Schreibens und dafür die Runenschrift erfunden hat, so geschah das auch bewusst mit den Bildinhalten. Nur in einer kurzen Phase kopierten heimische Kunsthandwerker römische Kaisermedaillons, die leicht umgewandelt als Schmuckanhänger getragen wurden.4358 Sie schufen dann sehr bald vor diesem Hintergrund mit den Goldbrakteaten4359 ein weit gefächertes, variationsreiches Bildprogramm, das eigene Aussagen zur Götterwelt und dem mythischen Geschehen vermittelte und dessen Gehalt und Aussage wir nur unvollkommen näher kommen können. Die germanische Tierornamentik mit der zeitlichen Folge der sogenannten Tierstile ab Stil I (nach Bernhard Salin 1904)4360 bis ins frühe Mittelalter lässt sich ebenfalls zweifelsfrei auf römische Vorbilder zurückführen, die aber schon mit den frühesten Phasen spürbar andere Aussagen vermitteln wollten als die römischen Vorlagen. Nach der Anfangsphase im 3. und 4. Jahrhundert mit gegenständlichen Tierund Menschenbildern, mit Eber, Hase, Hirsch und Ziege, wurde der spätrömische Militärstil4361 der Zeit um 400, überliefert an den Gürtelbeschlägen aus Bronze und Silber mit Fabeltieren und Jagdszenen sowie geometrischen Mustern, umgewandelt nach eigenen Vorstellungen in neue „Stile“. Die Archäologie spricht vom Sösdala-Stil nach Objekten aus dem Schatz von Sösdala im schwedischen Schonen mit geometrischen Mustern in der ersten Hälfte und Mitte des 5. Jahrhunderts4362 und vom Nydam-Stil nach Funden im Moor von Nydam in Jütland mit abstrakten Pflanzenund Tierornamentiken nach der Mitte des 5. Jahrhunderts. Der nächste Schritt war dann die Ausbildung des Tierstils I mit komplexen Verknüpfungen von schematisierten Tierfiguren seit dem ausgehenden 5. und im 6. Jahrhundert.4363 Der Stil I ist etwa von 500 bis ins 6. Jahrhundert als Nachfolger des Nydam-Stils anzusetzen, ehe die weitere Ausformung zu Stil II folgte.4364 Im Tierstil II überwiegen im Übrigen schematisierte Pferdedarstellungen (vgl. auch unten S. 1236). Diese archäologisch definierten Abfolgen kennen allerlei Varianten und Übergangsformen zwischen den Stilen, sind aber sich immer Schritt für Schritt von alten römischen Anregungen gelöste unabhängig gewordene eigenständige „germanische“ Ausdrucksformen von Kunst, um
4358 Bursche 2000; 2001; 2014. 4359 Pesch 2007a; 2012a. 4360 Salin 1904; Baudou 2004; Pesch 2007b. 4361 Böhme 1974; Bullinger 1969; M. Sommer 1984; Steuer 1990; 2007l; Böhme 2008a, b. 4362 Fach, Näsman (Eds.) 2017a. 4363 Høilund Nielsen 2012. 4364 Ament 2005; Høilund Nielsen 2012, zum Stil II: 612 ff. mit Fig. 3–6, 620 mit Fig. 9–11 und 626 f.; dazu auch Behrens 2020 (im Druck).
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eigene Inhalte zu vermitteln. Diese Vorstellungen von göttlichen und menschlichen Eigenschaften und Wollen wurden von Handwerkern in Metall umgesetzt, mehr oder weniger perfekt, aber sicherlich nicht ohne Zielvorstellungen. Und diese Kunsthandwerker waren nicht allein die Erfinder der hinter den Bildmustern stehenden Ideen, sondern sie arbeiteten an „Herrenhöfen“ im Auftrag der führenden Familienverbände weltlicher und geistlich-kultischer Positionen. Dieser Zusammenhang zwischen der gedanklichen Formulierung und der materiellen Ausprägung ist ohne Bezug auf schriftliche Überlieferungen zwar kaum zu erschließen – auf die in diesem Buch bewusst verzichtet werden soll, zumal oftmals nicht nur die zeitparallele antike Überlieferung herangezogen wird, sondern auch die wesentlich zu jungen hochmittelalterlichen Schriftzeugnisse des Nordens. Aber schon die Beschreibung der sich in den Jahrhunderten n. Chr. ständig wandelnden Bildmuster bietet eine Vorstellung vom künstlerischen Schaffen in Germanien. Die verschiedenen Bilderwelten dienten einer „kultischen Kommunikation“,4365 wie sie später bei den Goldbrakteaten oder den Goldblechfigürchen (vgl. S. 1215) direkter fassbar wird. Diese vielen verschiedenen Zeichen, Symbole und Bilder waren gewissermaßen auch eine spezielle Sprache. Ab dem 5. Jahrhundert dann erreichte die Kunst in Germanien mit dem Tierstil I eine weitreichende Einheitlichkeit der Kunstauffassung. Die Tierstile wurden zu einer überregional verständlichen Bildersprache im gesamten Germanien. Die Wurzeln sind nicht einfach nur im Römischen zu suchen, auch wenn Bildmuster, wie gesagt, von dort übernommen wurden. Aufgrund des ständigen Gegen- und auch Miteinanders von Germanen und Römern sah man sich in Germanien wohl „gezwungen“, sowohl eine eigene Schrift zu schaffen – Schrift musste aber sein – als auch eine eigene Stilentwicklung in Gang zu bringen. Es gab einen Symbolkanon, den Einsatz verschiedener Tierfiguren und die Reihung menschlicher Köpfe.4366 Der rückwärts blickende Vierbeiner wurde von der Slowakei bis Dänemark und Schweden/Öland als Bildmuster verstanden. Zwar wird in der Forschung vor allem das römische Vorbild betont, aber man sollte nicht übersehen, dass es auch keltische Einflüsse4367 schon in Jahrhunderten der vorrömischen Eisenzeit gab, vielleicht auch Anregungen aus dem skythischen Tierstil. Außerdem wird es Wechselwirkungen gegeben haben, also Rückeinflüsse auf die anregenden Kulturen, wie später zwischen der awarischen Stilauffassung, die wiederum byzantinische Elemente einbezogen hat. Die erkennbare Vermischung römischer und einheimischer Elemente wurde bewusst auf höchstem technischem Niveau ausgeführt. In den Kunstäußerungen in Germanien gab es naturgemäß Unterschiede in den Großräumen wie dem in der Nähe zum Limes, im inneren von Mitteleuropa und
4365 Quast 2009a; Bilderwelten 2009, 47 ff. 4366 Pesch 2017a, c; 2015 (2016). 4367 Kaul 2009a; Blankenfeldt 2009; v. Carnap-Bornheim 2015a.
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in Südskandinavien. Der genannte Kessel von Gundestrup4368 ist in Jütland einst verwendet und später gefunden worden, wird jedoch über seine komplexen Bildmuster und Bildinhalte dortige Kunsthandwerker auf der cimbrischen Halbinsel angeregt haben,4369 ebenso die Metallbeschläge der beiden Wagen von Dejbjerg.4370 Neben dem Gundestrup-Kessel gab es weitere solche Großgefäße, die Kessel von Brå, Sophienborg, Rynkeby und Ringsebølle, wenn in diesem Fall auch nur in Fragmenten, sowie weitere Stierköpfe wie am Kessel von Rynkeby in Rå, Lolland, Stevns Gebiet und Lundeborg. In Mollerup, Jütland, wurden zwei Silberbecher mit keltischen Ornamenten gefunden.4371 Die Gesichts- und Kopfmotive der frühen Völkerwanderungszeit auf Fibeln, Gürtelschnallen und Knopfspangen mit hervorquellenden Augen, Pausbacken und offenen Münder starren den Betrachter an. Wem gehörten diese Gesichter, zu welchem Zweck wurden sie so geformt, fragt Alexandra Pesch.4372 Die Vermischung von Symbolik keltischer, römischer und germanischsprachiger Gruppen ist zu spüren, also Einflüsse über Jahrhunderte. Beispiele sind die Galsted-Fibel, manche BrakteatenAufhängungen, auch Brakteaten-Bildnisse sowie die Bilder auf den Thorsberger Scheiben, am Dejbjerg-Wagen, auf den Kessel-Attaschen von Västra Vang in Schweden, bis hin schließlich zur sternförmigen Scheibe von Limons, Frankeich, mit einem Gesicht im Zentrum, das wohl Christus sein wird. Eine Kartierung der Fundplätze bringt diese Objekte von Norwegen bis zum Kontinent, aber zumeist die Beispiele aus Jütland, von den dänischen Inseln und an der schwedischen Küste. Von einem frühwikingerzeitlichen Maskenanhänger von Tissø auf Seeland (Dänemark) geht E. Wamers weit zurück bis ins 1. Jahrhundert n. Chr.4373 Die Geste des Haarauswringens beim Silberfigürchen aus Tissø, wohl Freyja darstellend und mit Falkengewand, datiert ins 9./10. Jahrhundert, wird verglichen mit der Darstellung einer Aphrodite zwischen Eroten auf einer römischen Bronzeschale im Häuptlingsgrab von Hoby, Fünen, des frühen 1. Jahrhunderts n. Chr. Noch so spät wird die römische Wurzel des Motivs aufgespürt; römische Kastenbeschläge mit „Germanen“- oder „Silen“-Masken des 1. bis 3. Jahrhundert gehören in diesen Zusammenhang, auch Germanenköpfe wie die auf der Marc-Aurel-Säule um 190 n. Chr. Eine Adaption über mehr als ein halbes Jahrtausend liegt vor, und einst hat Karl Hauck gemeint, dass die römischen Kaiserporträts auf Münzen und Medaillons für den nordischen Hauptgott Odin adaptiert worden seien. Zu den Anregungen aus der römischen Welt gehört zweifellos die Übernahme von Motivspektren der unterschiedlichsten ornamentalen Kunst und der Darstellungen 4368 Kaul, Warmind 1999; Hachmann 1990/1991. 4369 Kaul, Martens 1995. 4370 C. J. Becker 1984. 4371 Kaul 2007, 333 und 340 Fig. 21 (Silberbecher). 4372 Pesch 2017a, 59 Fig. 21. 4373 Wamers 2018b, 282 Abb. 2 und 287 Abb. 5.
25.1 Frühe Bilderkunst
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von Tieren, Menschen und Szenen im Bild, die von Germanen bei ihren Aufenthalten im römischen Reich gesehen worden sind, und zwar schon seit der augusteischen Zeit. Was aus dem Römischen Reich auf den unterschiedlichsten Trägern dieser Bildmuster bekannt ist, von monumentalen Abbildern an Bauwerken bis zur Kleinkunst, auf Stein und Metall, ist aufgrund der Erhaltungsbedingungen in Germanien überwiegend nur auf kleinen Sachgütern, auf Waffenteilen und Kleidungsaccessoires überliefert, weil andere Objekte aus Holz vergangen sind. In der frühen Phase nach Chr. Geb. sind figürliche Kunsterzeugnisse noch selten; vielmehr drückt sich Kunstempfinden in der Ausformung der häuslich hergestellten Keramik aus oder auch in der höchst variationsreichen Ausgestaltung des Schmucks, der Fibeln, der Nadeln oder auch der Perlenketten. Heinrich Beck hat 1965 die Frühzeit der germanischen Tiersymbolik anhand des Ebersignums dargestellt;4374 Joachim Werner schrieb 1966 über das „Aufkommen von Bild und Schrift im nördlichen Europa“. Hans-Jürgen Eggers hat ebenfalls in diesen Jahren, nämlich schon 1964, einen instruktiven Überblick zur frühen Kleinkunst in Germanien geboten und schon die wesentlichen Beispiele im Bild aufgeführt.4375 Er betont, dass die meisten Sachgüter, Fibeln und Waffen sowie Keramik Zeichen künstlerischer Gestaltung zeigen und damit auch zeittypisch sind (was wie gesagt, der Archäologie erlaubt zu datieren). Das Gefäß von Kraghede bringt berittene Jäger, Hund und Hirsch (vgl. unten S. 1192) (Abb. 93.2). Alle Fibeln weisen ein eigenes Design auf, weshalb sie schon O. Almgren 1897 in die vielen Typen unterteilen konnte und mit dessen Typenbezeichnungen heute immer noch gearbeitet wird. Wir finden hier schon bei H.-J. Eggers die Runeninschrift auf der Rosettenfibel mit hohem Nadelhalter von Vaerlöse, Seeland, und den Goldschmuck aus dem Fürstengrab von Aarslev auf Fünen. Vielfältig sind die Beschläge der Trinkhörner, die Kettenaufhängung oder das Ende der Kette, mit Enten, Wolf und Widder, z. B. die Tierfiguren von der Trinkhornkette von Keilstrup, Jütland. Der Silberpokal von Himlingøje, Seeland, aus der jüngeren Römischen Kaiserzeit trägt unter dem Rand einen Bildfries mit Personen, die ein Ringknaufschwert halten. Vom Horn von Gallehus ist der in die Fläche projizierte Bildstreifen häufig abbildungswürdig gewesen (vgl. unten S. 1234 ff.). Ruth Blankenfeldt hat 2015 in Ergänzung zu diesen Darstellungen nach fünfzig Jahren die größere zeitliche Tiefe und Vielfalt beschrieben, die überregionale verständliche Bildersprache – verglichen mit der seit dem 2./3. Jahrhundert überall in Germanien angenommenen Runenschrift.4376 Es gab keine „bildfeindlichen“ Germanen. Anders als Joachim Werner zeigt R. Blankenfeldt, dass seit der Zeit um Chr. Geb. eine eigenständige „germanische“ Kunst in Mittel- und Nordeuropa existiert hat. Schon im Grab von Hoby aus dem frühen 1. Jahrhundert n. Chr. finden
4374 Beck 1965; Werner 1966. 4375 Eggers 1964, 12 Fig. 3 Gefäß von Kraghede. 4376 Blankenfeldt 2015b; Werner 1966; schon Blankenfeldt 2007.
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2 Abb. 93: 1. Tongefäß von Westerwanna in Niedersachsen (um 400) mit Abfolge von Tierfiguren. 2. Tierfries am Keramikgefäß von Kraghede, Vendsyssel, Jütland.
sich Fibeln, sogenannte Rollenkappenfibeln, von denen einige auf dem Bügel Tiere zeigen oder von denen einige Sehnenhaken mit plastischen Tierköpfen abschließen. So enden die Schlangenkopfhals-, -arm und -fingerringe in plastischen Tierköpfen. Auch Alexandra Pesch hat „Entwicklung und Bedeutung der germanischen Bildersprache im 1. Jahrtausend“ nach J. Werner neu und differenzierter beschrieben.4377 Blechbeschläge mit Tierdarstellungen, meist Hirsch- oder Huftierbilder, gibt es weit verteilt, runde Beschläge von Tangendorf (Niedersachsen), Häven (MecklenburgVorpommern), ein Ortband von Fredsø (Dänemark), und rechteckig-quadratische von Stráže (Slowakei), Skedemosse (Öland), Høje-Taastrup (Seeland) und auch ein vergoldeter Bleibeschlag in Kamen-Westick (Westfalen).4378 Sie kommen einerseits nicht so weit entfernt von einander vor, andererseits sind die Objekte von Stráže und Kamen-Westick geographisch gewissermaßen Ausreißer. R. Blankenfeldt hat anhand
4377 Pesch 2009. 4378 Könemann 2018, 90 und Abb. 30 (Westick-Kamen).
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der figürlich verzierten Metallarbeiten aus dem Thorsberger Moor die frühen Tierdarstellungen verglichen.4379 Ausgehend von den beiden Zierscheiben, die umgewandelten römischen Ordensscheiben, zeigt sie die aufgesetzten Hirsche und Ziegen auf der zweiten Scheibe, ergänzt die Ziegen, Eber und Vögel auf dem Blechband aus dem Moor. Ein Beschlag aus Nydam bringt einen Löwen, weitere Löwen sind auf dem Schildbuckel von Herpaly eingeprägt (vgl. S. 894).4380 Auf der ersten Scheibe in Thorsberg sind Drachen dargestellt und ebenfalls auf dem Schild von Herpaly. Auch von ihr werden hier die Bilder auf dem Knochenkammfragment von Grethem angeführt, auf Gürtelblechen aus Hagenow, eine punzierte Menschendarstellung auf einer Schnalle aus Illerup und die Vogelkopfprotome auf dem Thorsberger Gesichtshelm, auf einem Schwertriemenbügel aus Vimose und vom Schildrand in Gommern. Diese Bilder sind in die jüngere Römische Kaiserzeit zu datieren; die römischen Anregungen sind noch zu ahnen, und die Bildträger lassen einen regen Austausch zwischen römischen und germanischen Handwerkern vermuten. Eine überzeugende Darstellung einheimischer Schmucksachen in Germanien mit Bildwiedergabe sind beispielsweise die Tierscheibenfibeln, manche in Gestalt einer Hirschkuh, wie sie an der Elbe und Saale sowie bis Böhmen gefunden werden.4381 Die Datierung erstreckt sich über die Phasen C1 und C2 (150–300/320 n. Chr.). Einige Beispiele folgen: Die Bilderurne von Costedt4382 mit geometrischer Verzierung, dabei auch mit der Darstellung der Sonne und einen Hirsch; ein Gefäß vom großen Urnengräberfeld Westerwanna, Ldkr. Cuxhaven, zeigt auf der Wandung zwei Streifen mit Tannenzweigmustern und dazwischen umlaufend vier Tiere, Pferd (?), Hirsch, Hahn, Löwe. Die Höhe der Urne misst 23 cm, datiert ist sie in die zweite Hälfte des 4. bzw. in die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts; vom Gräberfeld BremenMahndorf ist ein römisches Drehscheibengefäß des 3. Jahrhunderts mit Tierdarstellungen anzuführen;4383 im Gräberfeld von Süderbrarup, Kr. Schleswig-Flensburg, hat es figural verzierte Gefäße gegeben.4384 Die „Flasche“ von Kirchweyhe bei Bremen ist ein römisches Importgefäß, das im oberen Bereich mit umlaufenden Tierfriesen geschmückt ist, auch ein Vorbild für germanische Keramikproduzenten ebenso wie die Hemmoorer Eimer mit ihren Bildfriesen unter dem Rand.4385 Die Flasche ist in die zweite Hälfte des 2. bis in zweite Hälfte des 3. Jahrhunderts zu datieren. Es gibt weitere römische Gefäße, auf denen
4379 Blankenfeldt 2016, 694 Zitat am Schluss des Absatzes. 4380 Kazanski 2015, 282, Abb. 5,4 Schildbuckel von Herpaly. 4381 Steidl 1999b, 130 Abb. 3 Tierscheibenfibeln in Gestalt einer Hirschkuh, 135 Abb. 4 Gesamtverbreitung (1999). 4382 Reichmann 2005; 2011, 31 Abb. 10 und 11. 4383 Böhme 1987, 163 Abb. 2 Urne von Westerwanna, 172 Abb. 10 Urne von Bremen-Mahndorf. 4384 Bantelmann 1981. 4385 Bischop 1999, 35 Abb. 2.
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gewissermaßen Tierbilder nach Germanien importiert worden sind.4386 Im spätkaiserzeitlichen Gräberfeld von Osterholz, Ldkr. Diepholz, ist ein steilwandiges Becken mit Vogelkopfattaschen, das im Innenbild eine Tierhatz zeigt, als Urne verwendet worden. Solche steilwandigen Becken sind an Weser, Elbe und Oder häufiger gefunden worden. Die Tierhatz ähnelt und ist zu vergleichen mit den Tierkampfszenen auf Hemmoorer Eimern. Als Datierung ist die erste Hälfte 3. Jahrhundert und für die Herkunft sind Gallien oder Rätien anzunehmen. Ein Gefäß aus Grab 84 des Gräberfeldes von Ostrów in Polen mit betont plastisch eingetieften Zeichen wie Swastika, Doppelgabel, Lebensbaum, Kreuz und weitere Motive fällt auf,4387 doch sind derartige Ornamente im Osten der Przeworsk-Kultur nicht selten. Meistens handelt es sich aber um rein geometrische Verzierungsmuster auf den Urnen. Diese Ornamente spiegeln gewisse geistige Vorstellungen der Siedler; und diese Symbole in Ostrów fallen aber aus dem Rahmen und mögen auf Kontakte zu sarmatischen Bevölkerungen am oberen Dnjestr zurückgehen. Die handgemachte sogenannte vandalische Keramik bzw. die der Przeworsk-Kultur bringt in der Publikation von 2003 eine Fülle von Ornamenten, auch stilisierte menschliche Figuren, die auf einem Pferd reiten, so bei der Prachturne von Biała aus der jüngeren Römischen Kaiserzeit.4388 Aus einem Brunnenschacht von Greußen im Kyffhäuserkreis stammt als Beispiel sogar eine dreidimensionale Figur, ein Gefäß in Eberform, datiert um 200 n. Chr.4389 Nicht vergessen werden sollte, dass die Bevölkerungen Mittel- und Nordeuropas, wie oben gesagt, schon während der Bronzezeit vielfältige Felsbilder oder Bilder auf Bronzegerätschaften von intensiver Ausdruckskraft geschaffen haben.4390 Es hängt also vor allem von den eingeschränkten Möglichkeiten der Überlieferung ab, was über Kunstauffassungen und -erzeugnissen bekannt ist. Zufällig sind zwar einige durchaus große hölzerne Bildnisse, die als Götterbildnisse betrachtet werden, in verschiedenen Mooren und Seen erhalten geblieben (vgl. S. 638). Häufig abgebildet sind die zwei übermannsgroßen Bildnisse aus schlicht zugearbeiteten Baumstämmen im Moor von Braak in Holstein, Mann und Frau. Ähnliche Bildnisse fanden sich auch im Opferplatz von Oberdorla in Thüringen. Erwähnt wurden von mir die beiden Figuren beiderseits des Bohlenwegs im Wittemoor in Niedersachsen, ebenfalls ein Mann und eine Frau. Ob es tatsächlich Götterbilder waren und dann, um welche Gottheiten es sich gehandelt hat, bleibt unbekannt. Auch das Niveau, welcher Bevölkerungsgruppe derartige grobe, wenig kunstfertige Figuren zuzuweisen sind, bleibt offen. In der Kleinkunst und auch bei manchen erhaltenen Holzobjekten ist oftmals eine wesentlich 4386 Bischop 2017, 374 Abb. 4. 4387 Lasota-Kuś 2018, Fig. 3 und 156 Fig. 2 Zeichnungen; vgl. Czarnecka 2007; Dovrzańska 2001; Bantelmann 1981; Reichmann 2005. 4388 Staziak-Cyran 2003, 295 Abb. 1 (geometrische Muster), 300 Abb. 4 (Urne von Biała). 4389 Chr. G. Schmidt 2004, 12 Abb., auch 90 Kat. Nr. 5. 4390 Capelle 2008; verschiedene Beiträge im RGA.
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qualitätsvollere Arbeitsweise überliefert.4391 An Trinkhörnern aus Metall sind die Enden oftmals als Stierköpfe geformt oder die Hörner mit Schmuckzierblechen belegt, und das schon seit der späten vorrömischen Eisenzeit.4392 Auf Gürtelblechen finden sich an „keltische“ Motive erinnernde Bilder. Es gibt außerdem plastische Rinderund andere Tierfigürchen aus Bronze im westlichen und südlichen Ostseegebiet. Kleine anthropomorphe Figuren aus Bronze ahmen vielleicht römische Bronzestatuetten nach, die in erstaunlich großer Zahl in Germanien gefunden worden sind und anscheinend nicht nur als Metallquelle weiterverwendet wurden. Römische Vorbilder für eigene Bildmuster in Germanien waren sicherlich die Hemmoorer Eimer, die unter dem Rand Tierfriese und Jagdszenen zeigen, Glasbecher mit aufgemalten Zirkusszenen, die umgewandelt wurden in derartige Friese, die an einheimischen Silberbechern von Himlingøje auf Seeland oder von Nordrup ausgearbeitet sind. Auch römische Keramik konnte als Anregung dienen. Das genannte Tongefäß aus Westerwanna zeigt einen antiken Tierfries.4393 Ein römischer Spruchbecher trägt die Inschrift IMPLE ME (Fülle mich) oder PETE VINUM (Hole Wein). Eine schwarzglänzende Terrine mit Tierfries kommt vom Gräberfeld in Mahndorf, datiert ins 3. Jahrhundert. Abgebildet sind Wildschweine und Hirsche zwischen Bäumen; das Gefäß ist wohl aus dem nordgallischen Raum importiert.4394 Zu Anfang sind das zumeist Reihungen von Tieren, seltener waren szenische Darstellungen beabsichtigt. Das reicht auch bis zu Objekten wie den Prunkschilden aus dem Moor von Illerup oder aus dem Grab von Gommern. Es wurde also eine eigene Stilvorstellung entwickelt. Mindestens seit dem 3. Jahrhundert mehren sich die überlieferten eigenen künstlerischen Schöpfungen. Friese werden zu Jagdszenen wie auf dem Keramikgefäß von Kraghede4395 schon im 1. Jahrhundert n. Chr. (oben Abb. 93.2) und eindeutig auf dem Schemel von der Fallward aus dem 5. Jahrhundert. Die noch zu beschreibenden Goldhalskragen mit hunderten von unterschiedlichen Tierfiguren in qualitätsvoller Granulations- und Filigranverzierung des 5. Jahrhunderts haben das auf eine „künstlerische“ Spitze getrieben. Die wohl in römischen Werkstätten in römischem Sinne hergestellten Kessel von Mušov und Czarnówko tragen naturalistische Köpfe mit Swebenknoten. Parallel dazu werden menschliche Gesichter, schon im keltischen Milieu auf dem Kessel von Gundestrup oder den Wagen von Dejbjerg, schematisiert auf unterschiedlichen Metallobjekten einzeln oder in Serie wiedergegeben. Auffällig sind gehörnte Tiere, die jedoch eigentlich wie Pferde aussehen und auch solche sein wollen, ein Kernsymbol „germanischer“ Bildersprache. Die gehörnten Pferde erscheinen im Rahmen der Elitenkommunikation und bilden eine Tradition
4391 Capelle 1980; 1995b; 2000; van der Sanden, Capelle 2001; 2002. 4392 Steuer 2006c; Janssen 1980, 157 Abb. 7. 4393 Böhme 1987, 173 Abb. 10 und 11. 4394 Bischop 2000, 35 Abb. 44. 4395 Martens 2001b; 2009, 340 Abb. 5.
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seit dem Beginn der germanischen Bildkunst.4396 Beispiele finden sich im Grab von Hagenow auf einem Scharniergürtel an der Wende vom des 1. zum 2. Jahrhundert, eine Tradition aus der Eisenzeit,4397 wie später auch auf Goldbrakteaten und auf dem kurzen Horn von Gallehus, datiert um 400, und dann auch auf Bildsteinen.4398 Zu beachten ist die Kontinuität dieses Motivs über mehrere Jahrhunderte im Bereich der Elite in Germanien im Zuge eines Netzwerkes dieser Schicht. Zugleich gab es auch seit der Zeit vor Chr. Geb. Rinderdarstellungen in der Jastorf-Kultur, plastisch als Trinkhornendbeschläge oder als kleine Bovidenstatuetten. Schließlich fehlen auch anthropomorphe Figuren nicht; herausragend sind die dreidimensionalen Ausprägungen am Prunkortband von Nydam, spiegelbildlich angeordnete Gesichter und Hände über Wassertieren. Vorbild waren hier durchaus römische Goldmedaillons mit Kaiserporträts, die zu Imitationen geführt haben, wobei die übernommenen Bildmuster der Kaiser in Motive der eigenen Mythologie umgewandelt wurden, so auf den Goldbrakteaten, gar mit ebenfalls imitierten römischen Inschriften, später ersetzt durch Runen. Der Weg vom eigenen nordischen Nydam-Stil zum Tierstil I ist leicht zu verfolgen. Eine Verbreitungskarte der kleinen Rinderfiguren aus der späten Römischen Kaiserzeit bringt mehrere auf Fünen, auf Öland und in Norddeutschland zwischen Elbe und Oder. Die Bovidenstatuetten auf Fünen hat Henrik Thrane zusammengestellt (1989 immerhin schon 13 Exemplare),4399 und N. Hardt hat sich noch einmal den neuen Funden von Lundeborg gewidmet.4400 Weitere Rinderfigürchen sind in Mecklenburg-Vorpommern gefunden worden,4401 auch beispielsweise in einer Siedlung von Berlin-Schöneberg, datiert in die zweite Hälfte des 3. Jahrhunderts n. Chr.4402 Solche Rinderfigürchen gab es auch in der Przeworsk-Kultur der Kaiserzeit.4403 Die Gesamtzahl ist recht beachtlich und betont ihre Bedeutung in der Vorstellungswelt der Bevölkerung überall in Germanien. H. Thrane vergleicht sie auch mit Figuren, die auf dem Goldhorn von Gallehus wiedergegeben sind (vgl. S. 1234).4404 Die Figuren des Ostseegebietes haben Parallelen, die zurück in die keltische Epoche verweisen. Somit gibt es Datierungen auch über eine große Zeitspanne, die Rinderfigürchen von Fünen aber gehören in die jüngere Römische Kaiserzeit. Die neue Prospektion mit Detektoren hat auch für diese Sachgruppe einen beachtlichen Zuwachs erbracht.4405 In Mecklenburg-Vorpommern ist dadurch die Zahl in zwei Jahren um 16 Boviden- oder 4396 Pesch 2011b. 4397 Pesch, in: Voss (im Druck). 4398 Pesch 2011b, 9 ff. Abb. 1–3; 12 Abb. 4 IK 144,1 und Abb. 5. 4399 Thrane 1989, 393 Fig. 13 Kartierung der Stierfiguren von Öland bis Mitteldeutschland. 4400 Hardt 1994. 4401 Schoknecht 2006. 4402 Ament 1997 /2003, 69 Abb. nach Gandert 1958. 4403 Dulęba, Schuster 2012, 390 Abb. 3. 4404 Thrane 1989, 400 Fig. 17; Ölands Guld 2001, 4 f. Abb. 12–13. 4405 Schanz, Schirren 2019, 48 Abb. 1 Verbreitungskarte mit 42 Rinderfigürchen.
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Rinderfigürchen auf jetzt 42 Stücke angewachsen. Es zeigt sich eine Konzentration im Seengebiet von Ostmecklenburg von nur 100 km Durchmesser. Die Figuren sind sich durchaus ähnlich, als Silhouette und vollplastisch gestaltet, messen 3,9 bis 7, 2 cm in der Länge und 1,3 bis 4,5 cm in der Höhe, sind aus Bronze oder Zinnbronze gefertigt, haben die Andeutung von Hörnern und einen Schwanz, wirken jedoch alle individuell gestaltet. Sie sind gegossen und teils mit einer Feile überarbeitet. Überlegt wird, ob es sich bei den Boviden um Hausrinder oder um Wildrinder, um Ure oder Auerochsen handelt. Eine Parallele zu einigen Fibeltypen und zu Trinkhornbeschlägen ist gegeben. Ein prächtiges Beispiel stammt aus einem Grab bei Tjørring in Jütland, gefunden 1962, ein Rinderkopf mit Hörnern und in Silber eingelegten Augen als 4 cm langes Endstück eines Trinkhorns.4406 Manche Trinkhörner sind denn auch umgearbeitete Hörner des Auerochsen. Welcher Hintergrund, ein eher kultischer oder ein profaner, bleibt offen, Spekulation sind die nachlesbaren Hinweise auf römischen Götterwelten, zum Jupiter Dolichenus, zum Mithras- oder zum ägyptischen Apiskult. Hingewiesen sei auch auf „gehörnte Pferde“ (vgl. S. 1235).4407 Nun wurde in Vorpommern-Rügen 2019 eine kleine Figur eines wilden Ebers gefunden von 5,5 cm Länge und 199 g Gewicht aus Buntmetall: die Oberfläche ist mit Kreisaugen verziert.4408 Der Eber gehört während der ersten Jahrhunderte n. Chr. zu den mythischen Objekten. Zu dem Objekt gibt es gute Parallelen aus dem römischen Britannien, was die Datierung nahelegt, auch wenn die Kreisaugenverzierung und der Fundort in einer slawischen Siedlung eher für das Mittelalter sprechen könnten. Nun sind immerhin vier römische Eberfigürchen auch aus Kärnten bekannt,4409 die mit der keltischen Vergangenheit verbunden werden. Ihre Größe um 5 bis 6 cm entspricht ungefähr der Figur aus dem Norden. Daher möchte ich die These formulieren, dass diese Eberfigürchen wie die Rinderfigürchen als Kopien oder Importe römischer Kleinbronzen zu sehen sind und ihre rituelle Funktion gehabt haben werden. Der Silberbecher von Nordrup, Seeland (3. Jahrhundert), trägt einen umlaufenden Fries mit Darstellungen eines Hirschen wie auf der Fibel von Tangendorf, Ldkr. Harburg (ebenfalls 3. Jahrhundert), auf dem Tongefäß von Westerwanna oder später auch auf den Goldbrakteaten.4410 Es sind zurückblickende Tiere; der Fries auf dem Becher von Nordrup aus vergoldetem Silber ist in der Halszone aufgelegt, unterhalb gibt es einen weiteren, aber direkt in das Silber des Bechers von innen heraus eingepunzten erhabenen Fries aus fischartigen Tieren. Dazu gibt es Parallelen bis in die Slowakei als Spiegel der weitgespannten Kontaktnetze der Eliten.4411 Ein Bleibeschlag
4406 Møbjerg, Mannering, Rostholm, Ræder Knudsen (Eds.) 2019, 206 Fig. 6. 4407 Pesch 2011b. 4408 Schirren 2019, 58 Abb. 4409 Guštin 2019, 196 Abb. 1. 4410 Pesch 2011b; 2015e mit mehreren Parallelen; Ludowici 2019b, 78 Abb. 15 Tangendorf, 79 Abb. 16. 4411 Blankenfeldt 2015, 259.
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aus vergoldetem Pressblech mit einem zurückblickenden Huftier wurde in der Siedlung Kamen-Westick gefunden.4412 Alexandra Pesch widmet sich den Pferdebildnissen, den gehörnten Pferden, der frühen Phase während der Römischen Kaiserzeit, gewissermaßen – so ihre Ansicht – am Beginn der germanischen Bildkunst als Elitekommunikation.4413 Es geht um Bilder auf dem Gürtel von Hagenow Neufund 1995, von wo man zum Gundestrupkessel einerseits und zu den Hörnern von Gallehus andererseits blickt. Das Grab 9/1995 von Hagenow hatte als Waffengrab unter den Beigaben einen Kettenpanzer, Schwert, Lanze und Speer, silberne Schildbeschläge, einen Kessel, silbertauschierte Stuhlsporen und einen bronzenen Scharniergürtel mit Silberblechbeschlag, datiert in die Phase B2a (um 100 n. Chr.). Auf dem Gürtelblech sind anthropomorphe Gestalten und ein gehörntes Pferd abgebildet, was zu Vergleichen auch mit den Brakteaten anregt. Vorbilder sind regelmäßig römische Gefäße mit Bilddarstellungen, so beispielsweise zwei Becher mit Barbotine-Verzierung (Terra Sigillata) aus Dingen, Ldkr. Cuxhaven, datiert ins 3. Jahrhundert mit der Wiedergabe einer Tierhatz,4414 wie auf den Hemmoorer Eimern auf dem Fries unter dem Rand oder dann später auf den Kerbschnittgürtelgarnituren. Zu wiederholen ist, dass in Germanien einheimische Handwerker mit römischer Ausbildung gearbeitet haben und bzw. oder römische Handwerker in Dienst der germanischen Elite arbeiteten.4415 Zumindest wussten auch die einheimischen Handwerker von der Bedeutungsübertragung aus dem Römischen, schufen aber bewusst Neues, Eigenständiges. Die Zierscheiben aus dem Thorsberger Moor dokumentieren, dass römisch hergestellte Orden von germanischen Handwerkern ergänzt und damit auch inhaltlich umgewandelt wurden. R. Blankenfeldt spricht daher anhand dieser und anderer Werkstücke von eigenem germanischen „Empfinden“.4416 Sie unterstützt damit eine These von A. Rau, dass die germanischen Eliten im 3. Jahrhundert sich vor allem durch germanische Symbole mit überregionalem Erkennungswert identifizierten. Figuren wurden flächig glatt abgebildet, es dominiert der Umriss, und sie weisen keine Innenzeichnungen auf. Mischwesen und einheimische Tierarten herrschen im Motivschatz vor, Eber, Hirsch oder Wolf, auch Fische kommen vor. Man versucht wohl manchmal vorschnell, diese Tiere mit später überlieferten Göttern zu parallelisieren, doch der symbolische Hintergrund konnte sich wandeln. Römische Vorbilder von szenischen Darstellungen sind also mit den Hemmoorer Eimern und später mit Militärgürtelbeschlägen nach Germanien gekommen. Bei den Eimern der Zeit um 200 bis 300 n. Chr. findet man oftmals unter dem Rand einen
4412 Könemann, in: Siegmüller, Bartelt, Könemann 2019, 89, Abb. 4 Bleibeschlag. 4413 Pesch 2011b, 12 Abb. 4 Gürtelblech. 4414 Ludowici 2019b, 80 Abb. 17. 4415 v. Carnap-Bornheim 1997. 4416 Blankenfeldt 2015b; 2016.
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umlaufenden Fries mit Jagdszenen,4417 ebenso wieder auf den Beschlägen der Militärgürtel der Zeit um 400, was vergleichbar dann auf Tongefäßen in ähnlicher Weise als Verzierungselement angebracht worden ist, so auf der genannten Flasche aus Westerwanna in Niedersachsen (um 400) als Abfolge von Hirsch, Hirschkuh, Hahn und Löwe (oben Abb. 93.1). Handgemachte Keramik im Bereich der Przeworsk-Kultur aus Gräberfeldern als Urnen sind oftmals geschmückt mit verzierten Zonen auf dem Oberteil der Gefäße, mit geometrischen Mustern, aber auch mit Strichfiguren als Pferde und Reiter, beispielsweise auf der genannten Urne von Biała.4418 Die Lust am Verzieren ist unmittelbar zu spüren. Die Herkunft noch aus der keltischen Latène-Kultur wird vermutet. Im Zentrum von Betrachtungen zur Kunst in Germanien steht dabei jedoch die Tierornamentik oder der Tierstil, wie es in der Fachsprache heißt. In der Kleinkunst sind Fibeln neben rein geometrischen Formen frühzeitig in Tiergestalt ausgebildet. Es gibt zum Beispiel Hasen-, Hirsch- oder Eberfibeln. Die Eberfibeln sind teils nicht nur flächig, sondern sogar plastisch mit Borstenkamm und herausgehobenem Auge gebildet (um 200 n. Chr.). Übernommene römische Sachen wie die Ordensscheiben, die Phalerae, die im Moor von Thorsberg gefunden worden sind und auf denen von germanischen Handwerkern die römische Basisverzierung durch heimische Tierbilder ergänzt wurde, spiegeln den eigenen neuen Stil deutlich.4419 Importierte römische Silberbecher-Paare wurden verändert und „ergänzt“ oder man stellte gar ein komplettes Becherpaar, wie das von Himlingøje, Grab 1829, in eigenen Werkstätten her, den römischen Bechern nachempfunden und am Gefäßhals unter dem Rand mit eigenen Tierbildern verziert (oben vgl. S. 941). Der Fries aus vergoldetem Silberblech auf dem silbernen Gefäß zeigt tanzende Krieger, die römische Ringknaufschwerter führen. Auch aus einem Körpergrab von Valløby 1872 gibt es ein Silberbecher-Paar aus der 1. Hälfte des 3. Jahrhunderts mit einem Fries unter dem Rand aus rückblickenden hirschartigen Tieren (vgl. S. 943). Der bronzene Schildbuckel aus Herpály, Ungarn, datiert in die erste Hälfte des 3. Jahrhunderts, mit auffallend hochgezogener Spitze ist mit vergoldetem Silberblech verkleidet.4420 In vier Feldern des Kegels sind Tiergruppen eingeprägt. Die Bildmuster erinnern an die Thorsberger Phalerae und auch an die jüngeren Verzierungen an Schilden aus dem Moorfund von Illerup und dem Grabfund von Gommern. Die figürlichen Darstellungen in Metall sind mit Stempeln in das Blech gedrückt, was Reihen von gleichartigen Bildern herzustellen erleichterte. Solche Reihungen findet man an den Silberbechern von Himlingøje und an weiteren Blechobjekten, an den Schildbuckeln aus dem Prunkgrab von Gommern und aus dem Moor von Illerup. Es wird ver4417 Wamser u. a. (Hrsg.) 2000, 226 Abb. 190. 4418 Stasiak-Cyran 2003, 295 Abb. 1 und 300 Abb. 4. 4419 Werner 1941; v. Carnap-Bornheim 1997; Ament 1997/2003, 70 Ergänzung der römischen (?) Vorbilder durch eigenen Geschmack. 4420 v. Carnap-Bornheim 1999c; M. Nagy, Kat. Nr. 4, in: Chr. Lübke, Hardt (Hrsg.) 2017, 279.
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mutet, dass in diesen Fällen ein Austausch bzw. ein Zusammenwirken von römischen und germanischen Goldschmiedewerkstätten stattgefunden hat. Häufig sind auch Pressbleche mit Huftieren in Seitenansicht, mehrfach mit zurückblickendem Kopf; Pferde und Hirsche, auch Hasen (oder Springmäuse), Vögel und Fische erscheinen. Ein Blech aus Stráže zeigt einen Lanzenreiter wie am deutlich jüngeren Goldhorn von Gallehus (vgl. S. 1234), und Krieger mit Ringknaufschwert. Von den einzelnen figürlichen Darstellungen, beispielsweise am Rand von Metallbeschlägen, führte die Entwicklung zu szenischen Darstellungen. Der gerade genannte Schildbuckel von Herpály aus der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts, stammt aus einem sarmatenzeitlichen Hügelgrab mit Menschen- und Pferdeknochen (vgl. S. 1193). Die Verzierungen sind mit Hilfe von Patrizen ins Blech getrieben, figurale und geometrische Muster. Der konische Abschnitt des Buckels ist in vier Felder gegliedert, wobei jeweils die beiden gegenüber liegenden identisch geschmückt sind; es sind Löwen und Mischwesen, mit Tier- und Menschenprofilen, mit Löwe und Wildschwein-Paar über einem raubvogelköpfigen Seewesen. Die Krempe zeigt jeweils ebenfalls in den vier Zonen 11 Grilloi. Die Bilder sind vergleichbar mit den Mustern auf Pressblechbeschlägen im Fürstengrab von Osztrópataka oder auf einem Gürtelblech aus dem Moor von Thorsberg sowie am Schildbuckel von Lilla Harg, Linköping, Östergötland. Sichtlich sind diese Bildmuster aus der provinzialrömischen Kunst des Donaugebietes übernommen worden, führten aber nicht zum Tierstil, der eher von den Militärgürtelblechen abzuleiten ist; und die Übergangsformen werden im sogenannten Nydam-Stil fassbar, von der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts bis um 475.4421 Somit führen die Darstellungen auf römischen Artefakten – ich erinnere an die Friese auf den Hemmoorer Eimern – schrittweise zur Kunst in Germanien der späten römischen Kaiserzeit und der Völkerwanderungszeit. Die neue Kunst ist eine selektive Rezeption mit eigenständiger Umformung und spiegelt damit interne gesellschaftspolitische Prozesse in Germanien wider.4422 Schon H. Roth hat 1979 postuliert, dass provinzialrömische Stempel und Model auch in die Hand germanischer Kunsthandwerker gelangt wären.4423 Das ist übrigens für die Spätantike auch über Münzstempel belegt (vgl. oben S. 574), die bei Überfällen geraubt worden waren und dann zur Nachahmung von römischen Bronzemünzen in Gold verwendet wurden, was nach Abnutzung der Stempel sogar zu einer Überarbeitung, Veränderung und Ergänzung geführt hat, beispielsweise zu nicht mehr verständlichen Inschriften.4424 An den Tierdarstellungen auf den Pressblechen der Schmucksachen im Fürstengrab 1 von Wrocław-Zakrzów/Sakrau könnte der Ideentransfer während der jüngeren Römischen Kaiserzeit demonstriert werden, so M. J. Przybyła.4425 4421 Th. Fischer 2013a. 4422 Heinrich-Tamáska 2017, 100. 4423 Roth 1979, 47. 4424 Bursche 2014. 4425 Przybyła 2018b.
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Der 1981 gefundene Hort von Slipshavn bei Odense besteht aus einer größeren Menge an Hackgold, Hacksilber und Schmuckfragmenten; er enthält eine römische Goldmünze des Valerian (253–260) und vor allem die kleine goldene Statue eines nackten Mannes mit einem doppelten Goldring um den Hals (vgl. unten Abb. 99.1).4426 Das Gesamtgewicht des Hortes beträgt nur 147 g. Das hohle Goldfigürchen, gefertigt aus Blech, ist nur 6,7 cm hoch und wiegt 15,2 g. Es gibt wenige Parallelen, die zumeist schon in den Beginn der Völkerwanderungszeit datiert werden. Der Halsring, von denen viele real überliefert sind, bezeugt einen hohen Rang. Auf Öland ist bei Haglunda im Gebiet von Alböke eine männliche Büste mit Kopf und Oberkörper gefunden worden, die auf der Brust zwei weitere Köpfe ähnlicher Ausführung trägt. Sie wird ins 1./2. Jahrhundert datiert.4427 Bei der Analyse der zahlreichen Tierfiguren und Menschenbilder an den frühvölkerwanderungszeitlichen prunkvollen und gewichtigen Goldhalskragen stellt auch Alexandra Pesch fest, die zuletzt diese Objekte intensiv untersucht hat (vgl. unten S. 1223), dass wir heute niemals eindeutig die Attribute und die Bedeutung der Figuren erschließen können.4428 Doch seien, bei aller methodischen Zurückhaltung, Näherungen an die später überlieferte nordische Mythologie möglich. Auf Karl Hauck4429 geht zurück, dass nicht intuitive Bildbetrachtung weiterführen kann, sondern nur sorgfältige „Kontextikonographie“, d. h. durch Berücksichtigung nicht nur der genauen Bildbetrachtung, sondern auch des Bildträgers und seinen archäologisch erfassbaren Wirkungszusammenhang sowie der möglichen Vorbilder, eben auch im römischen Milieu. Die Fundkomplexe von Sösdala und Fulltofta, namengebend für den Sösdala4430 Stil, sind häufig analysiert worden und wurden zuletzt in einem Sammelwerk 2017 umfassend neu ausgewertet vorgelegt.4431 Der Sösdala-Stil ist nicht nur eine südskandinavische Erscheinung wie im Moor von Ejsbøl, sondern es gibt europaweit Vergleichsobjekte, so in Kaiseraugst auf einer Fischschale, im Sevso-Schatz ebenfalls auf einer Schale im Zentralmedaillon oder auch im Schatz von Traprain auf einigen Schalenfragmenten, im Hort von Cherkassy auf dem sogenannten Kertsch Missorium oder auch im französischen Vermand an einer scheibenförmigen Riemenzunge.4432 Fundobjekte wie die Pferdezaumzeuge von 1842 und 1859 von Sjörup bieten den Übergang zum Nydam-Stil und dem Tierstil I.4433
4426 Thrane 2005a, Taf. 2 b. 4427 Ölandsguld 2001, 6 Abb. 6; Rome and the Barbarians 2008, Kat.No. VI. 25. 4428 Pesch 2015a; 2015b. 4429 Oehrl 2019 zu dem Interpretationswerk von Karl Hauck in forschungsgeschichtlichem Rückblick. 4430 Bitner-Wróblewska 2005; Fabech 2005; Fabech 2017a, b; Fach, Helgesson, Näsman 2017. 4431 Fabech, Näsman (Eds,) 2017a. 4432 Levada 2013. 4433 Fabech, Näsman 2013, 91 Fig.; Fabech, Näsman (Hrsg.) 2017a, b.
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25 Bilderkunst und Menschenbilder
Im Moor von Nydam gefundene, aus Edelmetall hergestellte Schwertscheidenbeschläge, darunter besonders bemerkenswert ein Ortband mit durchbrochenem Metallbeschlag, sind mit spiegelbildlich recht realistisch gestalteten Tierpaaren (Fabeltiere, Vögel und Menschen, aufgerollte Fischschwänze: „Leichenvögel, die an behelmten Kriegerköpfen hacken“), in durchbrochenem Stil gefertigt, der in Germanien erfunden worden ist. Dieses Bildmuster wird als Nydamstil der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts bezeichnet.4434 Er ist gewissermaßen die Grundlage für die Fortentwicklung der Tierstil-Ornamentik in der Kunst Germaniens vom 4. Jahrhundert bis ins Mittelalter, bis in die Epoche der Romanik, zu Anfang im Bereich des Kunstgewerbes überliefert, am Ende in der Kirchenbaukunst. Nur die Zufälligkeit der Überlieferungsbedingungen bestimmt die Einseitigkeit unserer Kenntnisse, und dazu möge der Hinweis genügen, dass bei den norwegischen Stabkirchen des 11./12. Jahrhunderts der Schmuck durch höchst sorgfältig und detailreich geschnitzte Tierdarstellungen auf den Bauelementen aus Holz bis heute überliefert ist. Aus dem Moor von Nydam sind Holzschilde mit Bemalung erhalten. Im 4./5. Jahrhundert trugen römische Militärs und hohe Beamte die mehrfach genannten mit Metallbeschlägen verzierte Gürtel (vgl. S. 1141).4435 Diese manchmal recht großflächigen Beschläge zeigen sowohl realistische Bilder wie Tierkämpfe als auch stilisierte Tiere und geometrische Ornamentik in Kerbschnitt- oder Punzmustertechnik. Zur Mode geworden haben auch Männer in Germanien – wie gesagt, nicht nur aus römischem Dienst zurückgekehrte Söldner – derartige Gürtel getragen; manche wurden sogar in Germanien selbst hergestellt, wie an Gussformresten ablesbar. Diese Beschläge aus Bronze, manchmal auch aus Silber, blieben so zahlreich erhalten, weil sie aus Metall hergestellt sind. Eine Gruppe der Beschläge, die scheibenförmigen Riemenzungen, ist seinerzeit 1990 von mir zusammengestellt und durch H. W. Böhme 2008 mit einer weiteren Typenunterscheidung ergänzt worden.4436 Eine besondere Überlieferungschance bieten die Niederlegungen der Kriegerausrüstungen in Mooren; denn in einigen dieser Plätze ist Holz besonders gut erhalten geblieben. Doch erst nach den Ausgrabungen der letzten Jahrzehnte konnten die feinen Verzierungsmuster auf Holz konserviert und gut sichtbar gemacht werden. Aus dem Moor von Nydam in Jütland sind die Holzbretter der Schilde und hölzerne Schwertscheiden des 4./5. Jahrhunderts erhalten geblieben, die nicht nur mit Metallbeschlägen verziert waren, die zur Aufhängung am Schwertgurt gedient haben, sondern die feinen, langschmalen Bretter der Scheide sind sorgfältig zusätzlich mit geschnitzten Verzierungen geschmückt. Meist sind das ineinander verschlungene schlangenartige Fabeltiere, mit einem Tierkopf an dem einen und einem Vogelkopf am anderen Ende (oben Abb. 60). Auch Teile der Boote in Nydam waren ornamental 4434 Vang Petersen 2003, 290 Abb. 10; E. Jørgensen, Vang Petersen 2003, 276 Abb. 29. 4435 Bullinger 1969; Böhme 1974; 2008. 4436 Steuer 1990, 180 ff. mit Karten Abb. 2a und 2b und Objekte 183 ff. Abb. 3 bis 9; Böhme 2008b, 369 ff.
25.1 Frühe Bilderkunst
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mit Schnitzmustern verziert, so die Rückenlehne eines Kiefernbootes mit Sonnenwirbel. „Realistische“ nur leicht stilisierte Männerköpfe dienten als Aufsatz auf der Reling des großen Eichenschiffes. Speer- oder Lanzenschäfte sind oftmals mit geometrischen Mustern und Flechtbandornamenten unterhalb der Spitzen verziert.4437 Ähnliche einfache geometrische Ornamente finden sich auf Holzstäben aus einem Brunnen mit erhaltener Holzkonstruktion des 4. Jahrhunderts in Groß Jehser, Ldkr. Oderspreewald-Lausitz.4438 Im Bootgrab von der Fallward bei Wremen an der Wesermündung sind konserviert durch den feuchten Untergrund, in den das Grab eingetieft worden war, auch die Beigaben aus Holz erhalten geblieben. Sie wurden oben beschrieben (vgl. S. 952). Darunter sind ein Blockstuhl (oben Abb. 74), ein Fußschemel und ein Tischchen, die sorgfältig mit Kerbschnitt und mit Astragaleinfassungen, ebenfalls als Randgestaltung der Militärgürtelbleche bekannt, geschmückt sind. Die Möbel sind aus einheimischem Holz am Ort geschnitzt und zeigen, wie selbstverständlich die Übernahme römischer Zierelemente in Germanien erfolgt ist. Dabei ist natürlich nicht zu entscheiden, ob – wie bei der Keramikproduktionsstätte von Haarhausen diskutiert – nun römische Handwerker freiwillig oder als Gefangene diese Holzmöbel fertigten oder ob einheimische Handwerker sich im römischen Bereich haben ausbilden lassen oder sich das an Ort und Stelle selbst beigebracht haben. Offensichtlich sind jedoch diese Möbel an der Weser üblich gewesen. Es fehlt an häufigerer Überlieferung von verzierten Gegenständen aus Holz, auch mit größeren Ausmaßen, so dass nur dieser einzelne einzigartige Befund zur Verfügung steht und im Übrigen die Phantasie sich ausmalen muss, was einst vorhanden war, aber verloren ist. „Arkaden und Vögel – Form und Bildinhalte von Feinschmiedearbeiten als Indikatoren für die Beziehungen skandinavischer Eliten des 4. Jahrhunderts“ lautet ein Beitrag von A. Rau.4439 Dabei geht es um Pressbleche mit gestempelten Arkaden und Vögeln in Reihung, die eine Standardisierung von verschiedenen Ausrüstungsgegenständen erreicht haben. Datiert ins 3. und weiterlebend bis ins 4. Jahrhundert verbinden sie Landschaften über eine große Entfernung hinweg. Die Objekte gehören in die militärische Lebenswelt und ermöglichen es, einen skandinavischen Werkstättenkreis zu beschreiben. Doch weitreichende Mobilität und Kommunikation erlauben es nicht, diesen Handwerkerkreis genauer zu beschreiben, auch wenn sogar eine Stempelzange für die Vogelausprägungen in Jütchendorf, Kr. Teltow-Fläming, bekannt ist. Aber dieser Ort liegt südlich außerhalb des kartierten Verbreitungsgebietes der Objekte, das von Norwegen über Mittelschweden bis nach Seeland und Jütland
4437 Vang Petersen 2003, 287 ff. mehrere Abb.; E. Jørgensen, Vang Petersen 2003, 266 ff., mehrere Abb., vor allem 273 Abb. 23, 275 Abb. 25; 278 f. Abb. 31–32. 4438 I. und G.Wetzel 2001, 456 Abb. 3 und 458 Abb. 4. 4439 Rau 2005, 95 Abb. 5 (Zange).
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25 Bilderkunst und Menschenbilder
reicht.4440 Dazu zählen Fundorte wie Sætrang in Norwegen, Fullerö in Schweden, Nyrup und Varpelev auf Seeland und Ejsbøl sowie Nydam in Jütland.
25.2 Späte Bilderkunst Römische Goldmedaillons4441 der Jahre von rund 330 bis 380 n. Chr. (seit Konstantin I. 306–337) mit steigenden Gewichten von unter 50 g bis über 200 g kommen verbreitet von Ungarn bis Jütland vor, mit Verdichtungen der Fundverteilung im heutigen polnischen Gebiet. Der Schritt über Nachprägungen dieser Medaillons in Germanien zu den eigenen Ausformungen als sogenannte Goldbrakteaten erfolgte erst ab der Zeit um 450 n. Chr. Die Goldbrakteaten waren Gaben von „Fürsten“ bzw. Anführern an die Gefolgschaft oder waren Morgengaben an die Frauen.4442 Diese Imitationen von römischen Goldmedaillons wurden in Siedlungen im Bereich der Häuser gefunden.4443 Sie sind Ausdruck, so die allgemeine Deutung, der Odin-Religion und hatten Anhängerfunktion wie in Mittelalter und Neuzeit das christliche Kreuz am Hals. Doch diese Zuordnung zu Odin ist nur eine der möglichen Interpretationen. Die Bildmuster auf den römischen Medaillons bildeten also die Grundlage und Vorlage für die Goldbrakteaten, die aber nach einer kurzen Phase der Imitationen von Beginn an dann anders gestaltet wurden.4444 Dabei griff man auch auf „alte“ Bilder zurück; denn zwischen den Medaillons des Kaisers Konstantin aus dem frühen 4. Jahrhundert und den frühen Goldbrakteaten liegt eine Zeitspanne von mehr als hundert Jahren. Man kann festhalten, dass die Kunsthandwerker – im Auftrag der Elite – bewusst neue Bildmuster entwickelten und nicht nur kopieren wollten. In den Familienschätzen der Elite müssen also diese Goldmedaillons aufbewahrt worden sein, wenn sie bald 200 Jahre später als Vorbilder für die eigenen Bildkompositionen dienen konnten. Warum diese Entscheidungen gefällt wurden, ob das eine allgemein gegen Rom gerichtete oppositionelle Haltung war, bleibt offen. Schon die römischen gewichtigen Goldmedaillons selbst waren Symbole der Macht bei der germanischen Elite.4445 Einige Beispiele nenne ich: Ein Medaillon des Constantius I. als Kaiser (337–361) von Allesø auf Fünen hat einen Durchmesser von. 3,8 cm; die Imitation eines Medaillons des Kaisers Magnentius (350–353) von Åk, Norwegen, hat einen Durchmesser von 3,0 cm. A. Bursche hat tabellarisch die Medail-
4440 Rau 2005, 93 Abb. 3. 4441 Die überlieferten Medaillons sind erstaunlich zahlreich erhalten. Ich habe für Antoninus Pius (138–161) die Zahl von 520 katalogisierten Medaillons gelesen: Mittag 2019. 4442 Arrhenius 2011. 4443 Grimm, Pesch 2011 (2012). 4444 Wicker 2013; 2011; Pesch, Blankenfeldt (Hrsg.) 2012. 4445 Bursche 2000; 2001, 105 bis 108 mit den Fig. 1 bis 9 und 106 Tabelle 1; Bursche, Myzgin 2017, 446 Abb. 10 Karte der Goldmedaillons im Barbaricum, gestaffelt nach Gewicht (bis 15 g und über 200 g).
25.2 Späte Bilderkunst
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lons im Norden (Dänemark, Norwegen, Schweden) (6 Exemplare) und die Imitationen (13 Exemplare) aufgelistet und Abbildungen der Medaillons den Brakteaten gegenübergestellt. Die prächtigen Produkte im Sösdala-Stil, Schnallen, Schwertscheidenbeschläge und Pferdezaumzeugbesatz, und der Übergang zum Nydam-Stil und Tierstil I sind nach Meinung einiger Forscher durchaus von heimischen Handwerkern geschaffen worden,4446 und in Skandinavien sei auch der Stil erfunden; andere bevorzugen aber die These, dass diese Objekte im Umfeld des Römischen Reich entstanden sind.4447 Nun ist dazu eine umfassende neue Bearbeitung und Auswertung erschienen, die nicht nur die Fundkomplexe von Sösdala und Fulltofta in ihrer Landschaft neu analysiert, sondern auch die Einbindung in den europaweiten Rahmen aktualisiert haben.4448 Diese Kunsterzeugnisse des 4. Jahrhunderts verknüpfen neue Goldschmiedetechniken, die Verwendung von Niello, Stempelmuster und Vergoldung, nachdem Granulation und Filigran nicht mehr Mode waren. In Sjörup wurde zwischen 1842 und 1859, ungefähr 6 km entfernt von Sösdala, außerdem ein Zaumzeug mit Beschlägen im Nydam-Stil und im Tierstil I gefunden. Man muss – auch wenn das nur die ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung betrifft – in Kontinuitäten denken, wenn es um Kunst in Germanien geht, zumal die Vorbilder häufig römische Bilddarstellungen auf der Kleinkunst, auf Medaillen und Münzen, oder auch auf Metall- und Glasgefäßen waren. Umwandlungen bezeugen jedoch regelmäßig, dass nicht die alten Motive einfach übernommen wurden, sondern nur die Schablone des Bildes, das mit einem neuen Gehalt versehen wurde. Die Masse der Objekte im Bereich der Kleidung und des allgemeinen Schmuckes zeigt so überwältigend die alltägliche Rolle dieser Kunstäußerungen, dass ihr Inhalt – wenn auch heute kaum noch zugänglich – damals auch allgemein verstanden worden sein muss. Zwei Gattungen von Bildzeugnissen der auf die späte Kaiserzeit folgende Völkerwanderungszeit aus Gold haben ebenfalls in der letzten Jahrzehnten einen beachtlichen Zuwachs durch den Einsatz des Metallsuchgeräts erbracht, die sogenannten Goldbrakteaten und die Goldblechfigürchen. Damit erreiche ich in meiner Darstellung die späte Phase der Bilderkunst, die im Buch noch geschildert werden soll, jedoch zeitlich den Rahmen deutlich überschreitet. Doch ich halte das im Zuge der gesamten Argumentation zur Bilderkunst für notwendig und sinnvoll; denn diese beiden Sachgruppen, Goldbrakteaten und Goldblechfigürchen, bilden eine genuine, nur im Raum Germanien, und zumeist in dessen nördlichen Zonen, verbreitete Äußerung von Bildkunst. Sie entwickelten sich aus älteren Formen – den Kaisermedaillons der Zeit Konstantins. I. des Großen aus dem frühen des 4. Jahrhunderts –, die noch Jahrhunderte weiterwirkten und damit die angesprochene Kontinuität zu beschreiben erlauben. 4446 Levada 2013. 4447 Fabech, Näsman 2013. 4448 Fabech, Näsman (Eds.) 2017a; mit eigenen Beiträgen Fabech 2017a, b; Fabech, Helgesson, Näsman 2017; Fabech, Näsman 2017b.
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Sich immer wiederholende Motive in den verschiedenen Kunstgattungen sind Menschenbilder und Schlangen, von den Goldbrakteaten über die Hörner von Gallehus (um oder nach 400) bis zum Tierstil I.4449 Später sind es Motive auf den frühen gotländischen Bildsteinen, z. B. der Bildstein von När Smiss (III). Schlangen finden sich dann auch noch auf Schwertscheiden seit der Römischen Kaiserzeit, auch auf Waffen aus dem Nydam-Moor,4450 beispielsweise auf einer hölzernen Schwertscheide mit silbernen Beschlägen (vgl. S. 719) und auf dem Schwert II aus Grab 6 von Valsgärde. Die Schlangenkopfarmringe sprechen für sich selbst. Auf den Goldbrakteaten erschienen neben Runen auch Tiere aller Art, nicht nur Pferde, auch Vögel beispielsweise als Kragen bei Menschenköpfen.4451
25.2.1 Goldbrakteaten Unter Goldbrakteaten versteht man die einseitig geprägten medaillenartigen Goldscheiben, die zumeist noch eine ornamental verzierte Einfassung haben und außerdem Aufhängemöglichkeiten, um sie als Halsschmuck tragen zu können, manchmal mehrere an einer Kette.4452 Die prächtigen Aufhängeösen weisen die vergleichbare Verbreitung wie die Brakteaten selbst auf, zeigen jedoch eine große Variationsbreite der filigran- bzw. granulationsgeschmückten Röhren.4453 Die überwiegenden Zahlen der Goldbrakteaten sind als vereinzelte Funde ohne anderen Befundzusammenhang geborgen worden, kaum als Grabbeigaben, aber etwas häufiger in Siedlungsresten oder Opferplätzen. Mehrere wurden an Halsbändern getragen,4454 beispielsweise in Rugbjerg waren es 8, in Viskum 7, in Stavnsager 4, ansonsten kommen auch bis zu 15 Goldbrakteaten an einer Kette vor. Sie sind eigentlich regelmäßig als Goldopfer niedergelegt, vergraben oder versteckt worden. Die Brakteaten wurden mit Matrizen in dünnes Goldblech gestempelt, andere Punzen stempelten umlaufende Muster; manche haben Randdrähte, und sie bestehen aus verschiedenen Legierungen, d. h. die Brakteaten sind an sehr verschiedenen Stellen angefertigt worden (zur Verbreitung Abb. 94).4455 Goldbrakteaten gehen zurück auf Abbildungen nach den Vorbildern von römischen Goldmedaillons, die in Germanien importiert worden sind. Es gibt römische
4449 Behr 2017. 4450 U. Lehmann 2017. 4451 Seebold 1994b, Taf. 1. 4452 Bursche 2001; Axboe 2004a; 2006; 2007; Pesch 2007a, 2015 neuer Brakteat von Dalem; 2019, 25. 4453 Schuster 2018, 184 Fig. 11 B Verbreitungskarte mit eingefügten Bildern der Ösen (nach älteren Vorbildern). 4454 Høilund Nielsen 2015a, 27 Fig. 3 Karte mit der Anzahl der Brakteaten pro Halsband. 4455 Verbreitungskarten: Axboe 2007, 10 Fig. 1 allg., 112 Fig. 86 Trennung der Funde in Horten und in Gräbern (auf dem Kontinent und in England); Pesch 2007a, 11 Abb. 1.
25.2 Späte Bilderkunst
Abb. 94: Verbreitung der Goldbrakteaten.
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Goldmedaillons im Barbaricum mit unterschiedlichem Gewicht und Durchmesser, und zwar mit Gewichten bis 15 g, bis 50 g, bis 200 g und über 200 g.4456 Sie führen zur Adaption dieses mittelmeerischen Know-hows über die Verschleppung von Medaillons und Handwerker, wie Schmiede, Feinschmiede, Glashersteller, Münzer, Drechsler, die in Germanien Nachahmungen schafften. A. Bursche hält die Kunsthandwerker in Germanien für unterentwickelt, die ohne Mittelmeerkultur nicht zu den Goldbrakteaten gekommen wären. Demgegenüber wissen Archäologen, und dem schließe ich mich an, dass römische Goldmedaillons zwar Anregungen boten, die aber bald kopiert und rasch geändert, also neue Formen gebildet haben. Die Brakteaten und ihre Ikonographie sind die eigene Produktion im nördlichen Germanien mit ganz bestimmter Aussage und Zielsetzung. Es gibt inzwischen mehr als 1030 Exemplare (im Jahr 2015) der Zeit von 450 bis 550, von denen 200 sogar auch eine Inschrift tragen, zumeist mit Runen. Die Motive der Goldbrakteaten gehen zwar auf römische Goldmedaillons aus der Zeit des Kaisers Konstantin (Kaiser 306–337) und auf andere Goldmünzen zurück, wiegen etwa zwischen 60 und 250 Gramm. Anfangs wurden römische Medaillons mit der römischen Bildersprache im skandinavischen Norden direkt imitiert (s. o.), wo sie in nicht geringer Zahl ebenfalls gefunden worden sind.4457 Wie römische Münzbilder und die germanische Symbolwelt als Bildelemente der C-Brakteaten zusammenhängen können, analysierte E. Seebold 1992;4458 und A. Pesch widmete 2018 dem Motiv „Kopf mit Vogel darüber“ dieser C-Brakteaten eine Zusammenstellung mit Kartierung von Norwegen bis zur Donau.4459 Im Jahr 2019 hat W. Heizmann diese Vorbilder und ihre eigenständige Umwandlung an mehreren Brakteaten erläutert und den römischen Münzen gegenübergestellt: Ein Medaillon des Constantius II. (337–361) Avers und Brakteat IK 354-A/Senoren.4460 Der Vergleich eines Silbermedaillons Konstantins des Großen aus dem Jahr 315 n. Chr. mit Goldbrakteaten, die einen ebenfalls großen Kopf über einem Pferd bringen, überzeugt von der Nachahmung römischer Vorbilder (Abb. 95).4461 Nachvollziehbar ist, dass die Brakteatenhersteller als „Imitatoren und Mediatoren“ mit diesen kulturellen Innovationen eine Gruppe von Spezialisten waren, die an Zentralorten gewirkt haben unter Regie der örtlichen Eliten, z. B. in Gudme oder Himlingøje. W. Heizmann vermutet zudem, dass sich unter dem Funktionsnamen erilaR Handwerker und Runenmeister verbergen, die mit Odin verbunden waren: So heißt
4456 Bursche, Myzgin 2017, 446 Abb. 10 Karte nach Bursche, Myzgin 2013, Karte 1 und 450. 4457 Bursche 2000; 2001. 4458 Seebold 1992. 4459 Pesch 2018a, 440 Fig. 1 Karte zu den C-Brakteaten mit und ohne Vogel, sowie zahlreiche Abb. der Brakteaten mit Vogel. 4460 Heizmann 2019, 304 ff. mit den Abb. 3 und 4 und weiter bis 12; speziell hier 310 ff. die Abb. 10 b und 11 sowie 12. 4461 Oehrl 2019, 409 Abb. 3 (Konstantin d. Gr.) und Abb. 4 ff. (Brakteaten); auch Heizmann 2012, Abb. 3 b.
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Abb. 95: 1. Silbermedaillon Konstantins d. Gr. 315 n. Chr.; 2. Goldbrakteat IK 33.
es [e]rilaR wodinR auf dem Steinfragment von Strängnäs (zu den Runen vgl. unten S. 1249).4462 Es kommt zu einer völlig eigenständigen germanischen Ikonographie. Frappierend ist die Gegenüberstellung von Solidi der Kaiser Constantius II. (337–361) und Valentinian I. (364–375) mit dem Goldbrakteaten von Godøy-M. Rv. IK 256, mit dem Bild des Münzenaustreuens über zwei Pferden, eine kaiserliche Geste, die später wieder für die Frankenkönige Chlodwig und Chilperich schriftlich überliefert ist. Goldbrakteaten und Solidi sind ungefähr in gleicher Anzahl (um die 1000 Stück) gefunden worden, doch in unterschiedlicher Verbreitung; und nur 15 Horte enthalten sowohl Brakteaten als auch Goldmünzen.4463 Die Goldbrakteaten selbst sind deutlich jünger als die römischen Vorbilder und kommen erst um 450 auf, parallel zum Tierstil I; die mit Runeninschriften werden ab 475 datiert. Die Bildmotive auf den Goldbrakteaten werden seit 1869 in fünf Gruppen eingeteilt, in die Gruppen A bis D und einige bilden noch eine Gruppe F. Typ A zeigt ein menschliches Haupt im Profil, Typ B eine Ganzfigur oder eine Personengruppe, Typ C ein Haupt über einem Vierbeiner, wohl einem Pferd (immerhin über 290 Belege im November 2015), und die D-Brakteaten variieren Tiere und allerlei Mischwesen, Typ F bringt ein Tier in Seitenansicht, ähnlich den Tieren auf dem Typ C und ein wenig auch wie die auf Typ D.4464 Mit Hilfe einer Computerseriation hat M. Axboe die A-, B- und C-Brakteaten mit ihren großen menschlichen Häuptern in vier weitere Untergruppen H1 bis H4 unterteilen können.4465 Es gibt also sogenannte Formularfamilien innerhalb der engeren Motivgruppen. Die Motive sind äußert vielfältig auch 4462 Heizmann 2019, 305 mit Anm. 36. 4463 Staffordshire 2019, 348 (Sv. Fischer). 4464 Pesch 2007a, 18. 4465 Axboe 1998, 325 Abb. 47.
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innerhalb der definierten Gruppen; man sieht in den Köpfen und Figuren Götterbilder, darunter Odin und Balder,4466 aber auch manch andere Symbole kommen vor. Die Brakteaten sind mehrheitlich als Schätze oder als einzelne Objekte in Siedlungen entdeckt worden, und nur auf dem Kontinent und in England erscheinen sie häufiger auch als Grabbeigabe, und dann regelmäßig in Frauengräbern. Es gibt eine Grenze, während im Norden die Schätze überwiegen, gibt es Gräber in England und südlich der Nord- und Ostsee-Südküste. Spezielle Untersuchungen zu den Brakteaten auf Gotland4467 und in Schonen4468 sowie in Polen4469 liegen vor. Zeitlich laufen sie auch parallel zum germanischen Tierstil I (vgl. unten S. 1236), von der Mitte des 5. Jahrhunderts bis in die zweite Hälfte des 6. Jahrhunderts (die Produktion endete wohl zwischen 530 und 570).4470 Die Bedeutung der Bildinhalte ist nicht eindeutig, man spricht zwar von einer corporate identity, aber offen ist, ob die Brakteaten Götter oder Menschen abbilden. Es gibt Drachen- oder Dämonenkämpfe, wunderbare Heldentaten, Untiere oder glückbringende Mischwesen. Gold hatte Wert und betonte gesellschaftlichen Status; die Brakteaten wurden von Frauen und Männern getragen, einzeln oder als Kolliers. Sie waren Amulette; aber wofür im Besonderen? Die genormt wirkenden Darstellungen sind „Essenzen aus komplexeren Hintergrundgeschichten“. Für die geistigen Kontexte wird versucht, über Bildervergleiche mit benachbarten Kulturen und den hochmittelalterlichen Texten von Island des 12. Jahrhunderts eine Annäherung zu finden. Als einigende Lösung werden Götter- und Heldensagen vermutet. Die sogenannten Formularfamilien spiegeln die Beziehungen zwischen an verschiedenen Orten lebenden Menschen wider. Kommunikation über größere Entfernung dokumentieren gewissermaßen die Stempelzusammenhänge von Brakteaten in Südnorwegen, Schonen und Dänemark,4471 und sie bilden auch über das Netzwerk von Zentralplätzen und Reichtumszentren die Elitenkontakte an,4472 beispielsweise zu Lejre oder Stavnsager (Abb. 96). Über diese Goldbrakteaten kommunizierte die Elite zwischen den Zentralorten und schufen eine eigene sakrale Identität, gemeinsame kultisch-religiöse Vorstellungen.4473 Eine Matrize aus Bronze – daneben muss es wohl auch Matrizen aus organischen Material gegeben haben – wurde in Postgården, Nordjütland, gefunden; sie hat einen Durchmesser von 2,33 cm.4474
4466 Zu Balder um 500 vgl. Rubel 2016, 71 f. und dazu Oehrl in der Rez. 2018 (2019) 370. 4467 Gaimster 1998. 4468 Larsson 2015b. 4469 Bursche 2009. 4470 Zur Datierung Axboe 2007, 146 ff. 4471 Axboe 1991, 197 Fig. 17; 2017. 4472 Axboe, Imer 2017. 4473 Pesch 2011a; Dobat 2010, 364. 4474 Axboe 1998, 324 Abb. 46; 2003; weitere Matrizen bei Axboe 2004, 3 f.
25.2 Späte Bilderkunst
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Abb. 96: Das Netzwerk der stempelidentischen Goldbrakteaten.
Manche seltsamen Beobachtungen werden aus der unterschiedlichen Verbreitung der verschiedenen Brakteatentypen geschlossen.4475 Die C- und D-Brakteaten weisen unterschiedliche Verteilungsgrenzen nach Osten von Norwegen über Polen bis ins Karpatenbecken auf. C-Brakteaten kommen weiter nach Osten vor als D-Brakteaten,4476 d. h. manche Leute übernahmen anscheinend nicht die Botschaft der D-Brakteaten-Aussage. Dieselbe Ostgrenze zeigt auch das Gebiet der Solidi-Horte. Kann das tatsächlich eine politisch-kultische Aussage spiegeln, oder handelt es sich doch nur einen Forschungsstand aufgrund anderer Opfersitten? Diese Goldbrakteaten waren – abgesehen vom Künstlerischen – Amulette, die Übles von ihren meistens Trägerinnen, wohl auch Trägern abwehren sollten. In Runen steht oft das Wort alu als Teil der Inschrift darauf, das Abwehr und Schutz bedeutet.4477 Ein anderes Formelwort ist laukaR, was zwar auch Lauch, aber vor allem „Gedeihen“ bedeutet. Es ist hier nicht der Raum, auf die komplexen Bildinhalte näher einzugehen, denen Karl Hauck sein Lebenswerk gewidmet4478 und damit in die Motivvielfalt eingeführt hat. Seither sind zahlreiche Forschungsansätze zur Deutung der Bildinhalte hinzugekommen, so zu Fragen der Chronologie der Brakteaten durch Morten Axboe.4479 Es gibt aber ein Problem bei der zeitlichen Einordnung, denn die Schatzfunde lassen sich nicht datieren. Vielleicht sind alle Brakteaten mehr oder
4475 Fabech 2011, 34 Fig. 6 C- und D-Brakteaten (nach Näsman 1984, Karte 11 a-b). 4476 Zu der Verbreitung der D-Brakteaten Axboe 2007, 63 Fig. 52. 4477 Heizmann, Axboe 2011, 544. 573; Heizmann 2012. 4478 Hauck et al. 1985–1989; dazu Oehrl 2019. 4479 Axboe 1999b; 2004a; 2007.
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weniger gleichzeitig hergestellt, aber zu verschiedenen Zeiten niedergelegt worden. Auf den Brakteaten sind fast immer Männer, Herrscher, Götter dargestellt, mit Hemd, Hose, Gürtel, Krone bzw. Diadem und Waffen, und außerdem Pferde. Einen neuen Ansatz der Bilddeutungen bietet Alexandra Pesch.4480 Es geht um Tiere, Menschen und Untiere,4481 um sterbende, überlebende und auswandernde Götter,4482 auch um Bilder zur germanischen Götter- und Heldensage.4483 Wo sie hergestellt worden sind, kann nur vermutet werden, sicherlich an herrschaftlichen Zentren; denn Prägestempel sind bisher äußerst selten entdeckt worden, so 1990 die Matrize in Postgården am Limfjord.4484 Aber über Stempelidentitäten und Bildfamilien können Netzwerke über größere Distanzen registriert werden, die zugleich weitreichende Mobilitäten spiegeln.4485 Die Seriation der großen Häupter bildet das Netzwerk der stempelgleichen Goldbrakteaten ab, die Verbreitung der stempelidentischen Goldbrakteaten.4486 Eine Karte der Bildformulare A-D, die also eine Gruppenbildung erlauben und die auch stempelidentische Stücke zusammenbringt, veranschaulicht das überregionale Netzwerk und belegt damit die Kommunikation zwischen auch weiter entfernten Elitegehöften,4487 ähnlich zeigt A. Andrén Parallelen vergleichbarer Bildinhalte auf.4488 Ich weise auf andere Beobachtungen hin, die schon vor längerer Zeit gemacht worden sind. Manche Medaillons und Goldbrakteaten bringen deutlich herausgearbeitet einen Ring in der Hand des Gottes bzw. der dargestellten Person,4489 was die Funktion und wichtige Rolle der Ringe in den Schatzfunden erklären helfen kann. Das Motiv des „Seherdaumens“, des hochweisenden Daumens, der auf Brakteaten ebenfalls deutlich dargestellt wird, hat A. Pesch veranlasst, dieses Bildmuster auch in anderen Zusammenhängen zu verfolgen.4490 Es gibt zahlreiche Goldbrakteaten des 5./6. Jahrhunderts mit diesem Daumen und auch ein Goldblechfigürchen aus Uppåkra mit dem Daumen, der – wenn er so deutlich abgebildet ist – etwas zu bedeuten hatte. Ein Ortband aus Nydam bringt ebenfalls dieses Motiv. Die Deutungsansätze suchen wieder einmal nach antiken Vorbildern. Brakteaten sind ein Beispiel dafür, dass die archäologische Bildwissenschaft neben Texten und Sachen eine zusätzliche weitere Quellengattung als Zugang zu den kultisch-religiösen Vorstellungen jener Epoche bietet; denn die Brakteaten zeigen konkrete Bildaussagen, sei es der Seher4480 Pesch 2007; 2011a. 4481 Pesch 2010, 69 Brakteaten und Schaubild zu den Tierstilen. 4482 Pesch 2015d. 4483 Heizmann, Oehrl (Hrsg.) 2015. 4484 Axboe 2003. 4485 Behr 2006. 4486 Andrén 1991, 248 Fig. 3 Verbreitungskarte der Goldbrakteaten, 253 Fig. 8 Stempelidentitäten; Fabech 1999, 37 Fig. 1. 4487 Pesch 2010, vor allem 2011a. 4488 Andrén 2014, 142–148. 4489 Vierck 1981, 79 Abb. 9. 4490 Pesch 2017b; 2017 (2018).
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daumen oder der geknickte Pfeil des Baldur, die eine „Erzählung“ übermitteln. Abbildungen zum Seherdaumen gibt es neben den Goldbrakteaten des 5./6. Jahrhunderts auf Goldblechfigürchen (vgl. unten S. 1215) und auf deutlich jüngeren Runensteinen wie dem Ramsund-Stein des 11. Jahrhunderts. Den sterbenden Gott zeigt A. Pesch mit dem Goldbrakteaten IK 51,1 von Faxe, Seeland, aus dem 5./6. Jahrhundert, da der literarisch überlieferte Mistelzweig im tödlich getroffenen Gott Balder steckt.4491 In der Bildersprache bei den germanischen Gruppen und ihren Nachbarn gibt es auffällige Parallelen und gegenseitige Beeinflussung. Hat es eine frühe Christianisierung im Norden gegeben? Mögliche Auslöser einer solchen Christianisierungswelle könnten durch die Goten im 4. Jahrhundert angeregt worden sein. Nach Vertreibung durch die Hunnen gingen einige in den Norden und brachten u. U. einen Wissenstransfer des Goldhandwerks mit sowie von möglichen Bildinhalten, ein Modell, das A. Pesch anbietet, aber selber nicht dahintersteht. Christliche Ikonographie und germanische Bilderwelt zeigen in den „Tierstilen“ durchaus Parallelen, und es gab wohl Einflüsse zum Norden hin, die aber bisher nicht unmittelbar fassbar sind. Die Gott-Tier-Kommunikation auf den Goldbrakteaten ist regelhaft zu beschreiben, es sind gewissermaßen immer wiederholte Bildchiffren.4492 Als nachfolgende jüngere Parallele wird der Runenfels von Aspö herangezogen, auf dem ein Kreuz eingemeißelt ist. Einen möglichen Bezug zum Einfluss des Christentums wird auch bei manchen Goldblechfigürchen vermutet (vgl. S. 1215 ff.). Es sind die Kontinuitäten von Inhalten der Mythologie, durchaus bei einem Wechsel des Hintergrunds zum kulturgeschichtlichen Zusammenhang: Das Einführen des Daumens in den Mund ist eine Chiffre für Aneignung von Erkenntnis, von zauberischem Erkennen, ist auch Geste des Schmerzes, des Ausrufes, oder sogar der Hinweis auf eine Reise ins Jenseits. In Texten ist die Rede von Frauen, in den Bilddarstellungen auch von Männern, wobei meist Odin dargestellt gesehen wird. A. Pesch verfolgt schließlich weiterhin über „sterbende, überlebende und auswandernde Götter“ den Wechsel von den Brakteatenbildern hin zu christlichen Bildmustern.4493 Aber das Motiv Kopf über Pferd mit einem Vogel auf Brakteaten des 5. und 6. Jahrhunderts ist kein Hinweis auf Falkenjagd, denn dieser Vogel bedeutet etwas anderes, nämlich Wissen, Weisheit und Prophetie.4494 Reale Falkenjagd ist erst etwas später im Norden überliefert (vgl. S. 423). Der Bildstein von Väskinde bringt unter dem zentralen Wirbel zwei gehörnte Tiere mit „Bart“, wie sie auch auf den Brakteaten vorkommen. Anhand des Brakteaten von Åkarp in Burlöv in Schonen mit einem Riesenkopf nach links blickend mit Bart über dem Pferd wird die Blickrichtung unterschieden: 27% schauen nach rechts, 73% nach links. Ähnlich wird differenziert: Schon auf der Imitation eines römischen Goldmedaillons 4491 Pesch 2015d, 85 Abb. 1 Brakteat und 95. 4492 Oehrl 2010. 4493 Pesch 2015d. 4494 Pesch 2018a.
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von Senoren in Blekinge (Kopf nach links blickend) und auf dem Goldbrakteat von Ravlunda in Schonen (Kopf nach rechts blickend) schauen insgesamt 92% nach links und 8% nach rechts. Die prächtigen Einfassungen der Brakteaten sollen die Sonnenstrahlen meinen. Was sagt aber nun die unterschiedliche Blickrichtung aus? Auffällig ist, dass die Brakteaten, wenn sie zuzuordnen sind, fast immer in Frauengräbern gefunden worden sind,4495 die zudem auch bei den übrigen Beigaben eine gehobene Sachkultur bieten, was Rückschlüsse auf die Lebenswirklichkeit der Trägerinnen erlaubt. Sogar eine Gruppe mit Frauenbildnissen auf Brakteaten gibt es. Die auf dem Kontinent gefundenen Brakteaten kommen bis weit in den Süden, bis hinunter zur Donau vor. Das sind ebenfalls Brakteatenfamilien, die auf einer Karte durch Linienverbindungen markiert von Skandinavien bis zur Donau verbreitet sind und weitreichende Kontakte spiegeln. Die Goldbrakteaten, gefunden in Norddeutschland, also südlich des eigentlichen Verbreitungsgebietes hat A. Pesch gesondert ausgewertet. Es geht dabei um die Ausstrahlung der nördlichen Weltanschauung aus dem südlichen Skandinavien nach Süden auf den Kontinent.4496 Sie betont, dass mit den Goldbrakteaten statt schriftlicher Überlieferung Aussagen in den Bildern gemacht werden; es war eine Bildkultur mit überregionalen Kontakten in einem Netzwerk. Aufgezählt werden die Goldbrakteaten des 5. und 6. Jahrhunderts aus Norddeutschland, aus Niedersachsen und Mecklenburg. Im Schatzfund von Nebenstedt, Ldkr. Lüchow-Dannenberg, fanden sich 11 Brakteaten mit bis zu 3,68 cm im Durchmesser, einige sind vom selben Stempel, zwei tragen eine Runeninschrift. Aus Sievern, Ldkr. Cuxhaven, sind nach älteren Funden bei Ausgrabungen 1999 zwei weitere Brakteaten hinzugekommen, so dass jetzt insgesamt 14 Brakteaten vorliegen. Aus Grabfunden in Liebenau und Issendorf gibt es Einzelstücke (vgl. auch zum Gold oben S. 510). Die Brakteatenfamilien von Sievern verknüpfen diesen Zentralort mit Landschaften in Norwegen, Schweden, England, Dänemark/ Jütland und Norddeutschland, also die gesamte Verbreitung der Gebiete, in denen Goldbrakteaten verwendet wurden. Die frühen Brakteaten erinnern also an römische Münzen, deren Bilder als Vorlagen gedient haben; das menschliche Haupt mit zusätzlichen Chiffren wurde in die eigene Bilderwelt integriert. Mit der Veränderung der Motive, so A. Pesch, hat es auch einen Wandel der Bedeutung gegeben. Neu gegenüber den römischen Vorlagen sind reine Tierdarstellungen. Selten sind die Runeninschriften auf den Brakteaten verständlich: Auf einem der Brakteaten von Nebenstedt ist GliaugiR zu lesen, was „Der Glanzäugige“ meinen wird, ein Beiname Odins. „Mit dem Auftreten von Goldbrakteaten in Niedersachsen zeichnen sich klare Verbindungen nach Skandinavien ab: Im Spiegel der Dinge orientierte 4495 Pesch 2002; 2011d, 377 ff. mit Karten und 387 Fig. 6. 4496 Pesch 2019b, Abb. 1 Nebenstedt, Abb. 2 Sievern, 164 Abb. 5 Ring von Mulsum; Häßler 2003, 108 ff. mit Abb. 40 und 41 (Halsring); zu den Goldbrakteaten von Sievern vgl. Aufderhaar 2016, 231–244 mit Karten zur Verbreitung der Brakteatenfamilien Abb. 99–101.
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sich Niedersachsen am Norden“, und ähnlich gab es von England aus diese Kontakte nach Norden. Der Goldring von Mulsum, Ldkr. Cuxhaven, mit ca. 20 cm Durchmesser, überlappenden Ende und 98,2 g Gewicht ist zusammen mit fünf spätrömischen geösten Goldmünzen gefunden worden. Der Ring ist bedeckt mit halbmondförmigen Stempelungen, die ebenfalls skandinavische Vorbilder haben. Bei den Münzen handelt sich um vier Reichsprägungen aus den Münzstätten Antiochia, Ravenna und Konstantinopel, von Valentinian I. bis Anastasius I. (491–518). Die Niederlegung des Opfers wird also erst in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts erfolgt sein. Ist Æsir auf einem Brakteat zu lesen, dann meint das eine altnordische Gottheit neben Odin, Frigg, Thor, Baldr und Týr. Damit wird die Verbindung zu den Gottheiten des hohen Mittelalters in den isländischen und norwegischen Quellen gefunden, eine Kontinuität über Jahrhunderte wird vermutet. Die Brakteaten als religionsgeschichtliche Quellen sind jedoch nicht mehr ein zentrales Thema meiner Erörterungen.4497
25.2.2 Goldblechfigürchen Die sogenannten Goldblechfigürchen (im Norden meist als Guldgubber bezeichnet)4498 sind kleine mit einer Patrize geprägte und grob ausgeschnittene goldene feine Bleche, meist nicht mehr als höchstens 2 cm lang und 1,2 cm breit und wiegen oft weniger als 1 Gramm, oft knapp 0,1 g. Sie werden nur rund um die Ostsee bis nach Nordnorwegen gefunden (Abb. 97).4499 Motive sind einzelne Figuren (Tänzer), Bewaffnete, Doppelfiguren mit Mann und Frau, oft eng umschlungen – wie ein Liebespaar – und Tierfiguren (Schwein, Pferd, Hirsch, Bär, Vogel), jedenfalls vielfach Menschen bzw. Götter. Manche sind grob aus dem Goldblech ausgeschnitten, andere haben einen gepunzten Rand. Inzwischen gibt es einige tausend Stücke, jedenfalls mehr als 3100 in Dänemark, Schweden und Norwegen, von fast 50 Fundplätzen. Im Jahr 2017 waren es 3243 Goldblechfigürchen mit als Minimum 736 verschiedenen Stempelmotiven und 112 individuell hergestellten Figuren.4500 Neue Kartierungen sind 2019 vorgelegt worden.4501 Allein beim Siedlungsplatz und Zentralort Sorte Muld auf Bornholm lagen in einem 4497 Heizmann 2012, mit Rückgriff auf Thesen von K. Hauck. 4498 Watt 1992; 1999a, b; Helmbrecht 2015, 185–186 mit Abb. 2 und 3, allgemein zu den Motiven zuletzt Pesch, Helmbrecht (Hrsg.) 2019 mit zahlreichen Beiträgen (M. Watt, S. Kristoffersen, M. Flecker, E. Wamers, Svante Fischer, O. Sundqvist). Der Sammelband von 2019 fasst alle Interpretationsmöglichkeiten zusammen: Pesch 2019c. 4499 Detailliert bei Pesch, Helmbrecht (Hrsg.) 2019, 14–17 Karten zur Verbreitung, zur Anzahl pro Fundplatz, (über > 2500 in Sorte Muld), Typen und Patrizen, 18–33 Farbtafeln zu Goldblechfigürchen; Watt 2019, 56 Fig. 2 Karte Schwarz -Weiß. 4500 Watt 2019, 35, 48: dazu auch 59 Fig. 6, a, b Karten zur Verteilung der einzelnen Figuren und der Mann-Frau-Paare. 4501 Pesch, Helmbrecht 2019, 14 ff. Karten in Farbe; Watt 2019, 56 Fig. 2 Verbreitungskarte, 59 Fig. 6 a, b Mengenanteile pro Fundplatz.
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Abb. 97: 1. Verbreitung der Goldblechfigürchen (Guldgubber) mit Musterbeispielen (Stand 2017).
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Abb. 97: 2. Verbreitung der einzelnen (offene Kreise) und der Mann-Frau-Paar-Goldblechfigürchen (ausgefüllte Kreise). Die Größe der Kreise zeigt die Anzahl an.
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Opferplatz um die 2500 Blechfigürchen (weshalb dieser Ort als Opferplatz gedeutet wird), im Zentralort Gudme auf Fünen und Lundeborg jeweils deutlich über 100 Exemplare, auch in Uppåkra und Helgö wurden diese Goldblechfigürchen gefunden.4502 Sie werden heute in das 6. und 7. Jahrhundert datiert,4503 manche Befundzusammenhänge gehören gar noch in die frühe Wikingerzeit.4504 Ich gehe deshalb so ausführlich auf diese Fundgruppe in Skandinavien ein, weil diese kultisch gedachten Goldblechfigürchen eine beachtliche Verbreitung haben und damit zudem eine Kontinuität von rund einem halben Jahrtausend belegt ist, womit vor der Durchsetzung des Christentums ein Zugang zur religiösen Welt dieser „Germanen“ gelingen kann. Vergleichsstudien zeigen, wo und in welcher Entfernung stempelidentische Figürchen gefunden worden sind.4505 Verbindungen gibt es, was naheliegend ist, auf Bornholm an verschiedenen Orten, und von Bornholm aus bis Helgö in Mittelschweden sowie nach Stavnsager in Nordjütland und nach Lundeborg auf Fünen; und auch zwischen diesen Orten gibt es Zusammenhänge, was die Mobilität der Leute innerhalb des gesamten Raumes bestätigt. In ihrer Anfangszeit kommen sie zusammen mit Brakteaten vor und dann außerdem mit vergleichbaren Bildinhalten. Über einen größeren Zeitrahmen gesehen lösen die sehr leichten Goldblechfigürchen die Goldbrakteaten ab. Das hat seinen Grund in einer veränderten Kultpraxis, und das liegt nicht etwa am Mangel an Gold.4506 Goldbrakteaten werden als Einzelstücke gefunden und sind Schmuckstücke, die anscheinend vorwiegend von Frauen getragen wurden. Demgegenüber sind Goldblechfigürchen Massenprodukte, die als Weihe- bzw. Votivgaben an „heiligen“ Plätzen niedergelegt worden sind, als eine Art Tempelgeld, als Devotionalien und Opfergaben. Beide Sachgruppen, Brakteaten und Goldblechfigürchen, eröffnen einen Blick in die Vorstellungswelt der Bewohner in den nördlichen Ländern Germaniens, vor allem der Elite, zwei Sachgruppen, die ausschließlich durch archäologische Forschungen zusammengetragen worden sind. Es ist eine sakrale Vorstellungswelt, die über größere Entfernungen, eben zwischen den Zentralorten, in den Goldblechfigürchen ein gemeinschaftliches Denken spiegelt.4507 Ständig kommen gegenwärtig neue Funde hinzu, durch den regelhaft gewordenen Einsatz der Metallsuchgeräte. Als Beispiel nenne ich die neuen Funde aus den Jahren 2017 und 2018 von Guldgubber vom Platz „Guldhullet“ auf Bornholm, darunter ist eine Figur mit doppeltem Halsring,4508 erneut ein Hinweis auf die entscheidende Rolle von goldenen Halsringen bei der Dar-
4502 Watt 2004; Böldl 2013, 253. 4503 Watt 2019, 37 ff. zur Datierung ab Mitte 6. Jahrhundert. 4504 Helmbrecht 2019a verfolgt die Bildentwicklung als Tradition bis in die Wikingerzeit; dazu auch Behr 2019. 4505 Watt 2019, 61 Fig. 11. 4506 So aber Sv. Fischer in: Staffordshire Hoard 2019, 349. 4507 Dobat 2010, 365. 4508 Laursen 2018, 24 Abb. Figur.
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stellung des hohen Ranges von Personen. Der Platz liegt ganz an der Südwestecke von Bornholm, wo schon früher ein Goldblech mit einer Frauenfigur gefunden worden ist wie im nahegelegenen Smørenge.4509 Unter den Funden beim „Guldhullet“ (der Name spricht aus, was zu finden ist) in der Nähe von Smørenge wurden 2011 „Trolle“ als verknitterte Goldblechfigürchen des 7. Jahrhunderts entdeckt.4510 Der Platz Guldhullet hat weitere bedeutende Goldsachen des 6.und 7. Jahrhunderts erbracht.4511 Nahe beim „Guldhullet“ gibt es außerdem Siedlungsspuren, und der Opferplatz war sicherlich ein bedeutender Treffpunkt oder Zentralort. Schon 1725 sind hier erste Funde geborgen worden, (vielleicht kam damals der Name auf), und 2009 kamen weitere Funde hinzu, darunter zwei Goldbrakteaten. 2017 folgten schließlich reguläre Ausgrabungen. Insgesamt sind an diesem Ort Sachen vom 2. Jahrhundert bis in die späte Wikingerzeit, also aus 1000 Jahren zusammengekommen. Zu den Goldfunden zählen Ringgold, Brakteaten und vor allem Goldblechfigürchen. Bronzefibeln der späten Römischen Kaiserzeit (12 Exemplare) und einige der Völkerwanderungszeit ergänzen das Spektrum. Die Goldblechfigürchen wurden zumeist dicht beieinander gefunden, nicht so gestreut wie die anderen Metallsachen. Insgesamt gehören zum Fundensemble 51 Fibeln, 36 Glasperlen und 30 Münzen (davon 17 Denare). Zuvor ist 1982 schon ein Münzschatz mit Denaren entdeckt und durch eine jüngere Goldmünze in die frühe Völkerwanderungszeit (5. Jahrhundert) datiert worden. Bis 2009 sind außerdem sieben kleine Figürchen aus massivem Gold und 72 dieser Guldgubber registriert worden. Da bis 2005 nur eine weitere massive Goldfigurine auf Bornholm entdeckt worden war, gefunden bei Skræddergård, Pedersker parish, 10 km von Guldhullet entfernt, zeigt dies die sprunghafte Zunahme von Sachgruppen durch den Einsatz der Metalldetektoren. Von den Goldblechfigürchen sind zudem 50 mit derselben Patrize gestempelt worden, die 18 anderen sind individuell geformt mit den unterschiedlichsten Patrizen, wohl an verschiedenen Orten. Ich erinnere daran, dass seit den späten 1980er Jahren die Zahl von weniger als100 Gubber bis zum Frühjahr 2018 auf nunmehr 3250 Stücke angestiegen ist; davon stammen 2720 von Bornholm. Im Guldhullet ist die Besonderheit zu betonen, dass die Gubber zusammen mit Figurinen gefunden worden sind, insgesamt sind es mehr Frauen- als Männerfigurinen. Zu den Geländebefunden gehören außerdem Reihen von Kochgruben, was ebenfalls auf einen Versammlungsort hinweist, und das zudem mit einer Kontinuität von über 1000 Jahren bis zur Einführung des Christentums im 11. Jahrhundert. Außerdem lassen sich hier wie bei den Goldbrakteaten identische Stempel über größere Entfernungen belegen, die das weite Kommunikationsnetz bestätigen, zwischen Bornholm, Mittelschweden oder Stavnsager in Nordjütland.4512
4509 Lauran 2018, 29 Abb. zu Skalk 2013, Heft 3, 14–15. 4510 Kaul 2018. 4511 Nielsen, Watt 2018, 84 ff. 4512 Watt 2019, 61 Fig. 11.
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Auf den Zierscheiben von Thorsberg, auf den Goldhörnern von Gallehus und auf den Goldhalskragen (vgl. S. 1223) sowie auf den vendelzeitliche Goldblechfigürchen sind vergleichbare Menschenbilder zu sehen.4513 Ein erstes Pressmodel für Goldblechfigürchen wurde in Sättuna in Östergötland entdeckt.4514 Die Kleidung der Männer auf den Goldblechfigürchen ist zu vergleichen mit den Bildnissen auf den Bronzematrizen von Torslunda auf Öland aus dem 7. Jahrhundert, die eine lange Tunika mit Borte am unteren Rand unterhalb des Knies und auch an den Ärmeln zeigen, die von Kriegern mit Eberhelm und Ringschwert getragen werden.4515 Diese im 6. und 7. Jahrhundert verwendeten Bildfolien sind wohl in erster Linie rein nordische Produkte, auch wenn die Übernahme von Bildmotiven aus dem Süden, als religiöse Einflüsse, auch für diese Bildchen diskutiert wird.4516 M. Watt versucht, in einem Teil der Bilder jetzt auch christliche Gesten und Fruchtbarkeitszeichen nebeneinander zu sehen. Die Goldbleche zeigen einzeln Männer und Frauen, bekleidet und unbekleidet.4517 Andere Bleche bringen gewissermaßen ausgeschnitten schmale, hohe einzelne Männer. Sie zieht nun die Verbindungen zu einigen Typen von merowingerzeitlichen Gürtelschnallen auf dem Kontinent, im Burgunderreich, auf denen ebenfalls einzelne Männer wiedergegeben sind,4518 und fragt, ob die Goldblechfigürchen im 6. Jahrhundert nun zur einheimischen Tradition gehören oder gar Imitationen christlicher Ikonographie sein könnten. Derartige Übernahmen, so aus dem Römischen, dann aber verbunden mit einer neuen Ausdeutung, sind mehrfach von mir beschrieben worden (vgl. S. 1209), wobei der Schluss auf nordische Götter zurückhaltend angeboten werden sollte. Jedenfalls – so meint M. Watt – muss ein nackter Gott nicht christlich sein (obgleich Christus am Kreuz nackt ist, so erinnere ich) und eher mit einem Fruchtbarkeitsgedanken verbunden werden sollte. Die mit einem Kaftan bekleideten Figuren könnten den Gott Æsir meinen, und nackte Götter mögen doch christlicher Einfluss sein. Die Goldblechfigürchen kommen überwiegend an Zentralorten, an Häuptlingssitzen vor und sind wohl auch mit der Kriegerelite zu verbinden, mit einem Gefolgschafts-System. Die Datierung der Goldblechfigürchen ist deshalb schwierig, weil die Niederlegung bzw. Vergrabung derartiger Figürchen ein langdauernder Opferbrauch war, der mehrere Jahrhunderte Kontinuität bewahrte. Manche Komplexe gehören in die Vendelzeit, so anscheinend die Patrize für Goldblechfigürchen des 7. Jahrhunderts von
4513 Heizmann, Oehrl (Hrsg.) 2015. 4514 Rundkvist 2007. 4515 Böldl 2013, 241 Abb. 30. 4516 Pesch 2017 (2018). 4517 Watt 2015a, 178–180 f. mit Fig. 1 a, b, c. 4518 Watt 2015a, 182 ff. mit Fig. 4–6 und Fig. 7–10; 2015b, 155 ff. mit Fig. 2–4, 163 ff. mit Fig. 7–8 (kontinentale Gürtelschnallen).
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Sättuna in Östergötland.4519 Von diesem Ort Sättuna stammt jedoch auch eine Fibel im Nydam-Stil der Zeit um 400. Diese Gruppe kleinster Goldkunstwerke war bis vor kurzem fast unbekannt, und jetzt werden sie durch den Einsatz des Metalldetektors in kurzer Zeit zu tausenden entdeckt, was ein ganz neues Licht auf die religiös-kultischen Verhältnisse jener Epoche wirft und zudem bei allen Interpretationen mahnt, den Forschungsstand zu bedenken. Goldbrakteaten und Goldblechfigürchen füllen über ihre Datierung gewissermaßen eine große Lücke zwischen den Berichten antiker Schriftsteller wie Tacitus über die Religion in Germanien und den hochmittelalterlichen Texten auf Island und Norwegen. Der Balder-Mythos mit dem geknickten Mistelzweig oder der Inhalt der Drei-Götter-Brakteaten um 500 sind literarisch erst 700 Jahre später fassbar, wie Karl Hauck ausführlich erörtert hat. Nur im Ostseegebiet und im Norden finden sich die Goldbrakteaten in Schätzen, die meist in Siedlungen, so in Gudme auf Fünen oder bei Kultbauten wie in Uppåkra in Schonen, niedergelegt worden waren. Die Brakteatenfamilien, wegen der Stempelgleichheit zusammengehörende Exemplare, spiegeln überregionale Verbindungen zwischen den frühen Zentralorten und somit zwischen ranghohen Familienverbänden und ihren angegliederten Werkstätten. Warum nur die Bevölkerungsgruppen im Ostseegebiet, in Skandinavien, zeitlich parallel und anschließend diese Goldblechfigürchen „erfunden“ haben, bleibt vorerst ungeklärt. Die Brakteaten auf dem Kontinent spielten, da sie meist aus Bestattungen kommen, auch eine andere Rolle als im Norden. Die Gräber mit Brakteaten, auf denen auch Runeninschriften zu sehen sind, gehören durchaus zu den üppiger mit Beigaben versehenen Bestattungen, aber meist nicht zur obersten Ranggruppe, wenn man das gesamte Spektrum der Grabausstattungen berücksichtigt. Mit den Goldblechfigürchen zu vergleichen ist eine kleine, ebenfalls nur 4,6 cm hohe dreidimensionale Figur von Revninge auf Fünen, gefunden 2014.4520 Sie ist aus massiven Silber und wiegt 17,5 g; die Vorderseite und der Kopf sind zudem vergoldet. Sorgfältig ist die Kleidung ausgebildet, ein fußlanger Mantel. Die seitliche Durchlochung des Kopfes ermöglicht die Aufhängung. Das Gesicht und die Augen sind ausgeprägt, die Haare sorgfältig gekämmt. Ob es sich um einen Mann oder um eine Frau handelt, ist nicht zu entscheiden (Freja, Frei, Walküre). Durch den Vergleich mit Goldblechfigürchen, mit einer sehr ähnlichen von Sorte Muld, kommt eine Datierung ins 6. Jahrhundert in Frage. Eine kleine Frauenfigur von Stavnsager bei Randers wird ebenfalls mit den Goldblechfigürchen verglichen (und außerdem mit Motiven aus dem Mittelmeergebiet, mit dem Bargello-Diptychon und einem Mosaik in San Vitale). Die Siedlung bestand von der jüngeren Eisenzeit bis in die Wikingerzeit. Die Frauenfigur ist ein Detektorfund, der 80 m von einem Langhaus entfernt entdeckt wurde. Sie ist 4 cm hoch und nur
4519 Rundkvist 2007; 2011 197 Fig. 3 Patrize, 196 Fig. 2 Fibel im Nydam-Stil. 4520 Feveile 2015, 5 Abb.
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wenige Millimeter dick. Die Ansicht der Vorderfront zeigt detailliert die Kleidung und Haartracht, datierbar ins 6. Jahrhundert, und ist eben deshalb vergleichbar mit den Goldblechfigürchen. Wiederum wird hier auf einem Umweg die Motivwanderung von Vorbildern aus dem Süden postuliert.4521 Der Wechsel von den Goldbrakteaten zu den Goldblechfigürchen – wesentlich ist, dass diese Bildnisse immer aus Gold hergestellt sind – spiegelt einen Wandel, eine politisch-religiöse Umwälzung oder gar die Existenz zweier verschiedener Religionen, meint die Wissenschaft, auch Alexandra Pesch. Die Götterwelt in Germanien war nicht überall gleich, auf dem Kontinent anscheinend anders als im Norden: Die beginnende Ausbreitung des Christentums erreichte vom Kontinent erst nach und nach auch den Norden. M. Watt spürt wie beschrieben frühen christlichen Symbolen auch in dieser Goldkunst des 6. Jahrhunderts nach. Die Netzwerke der Goldbrakteaten und auch der Goldblechfigürchen über die Stempelgleichheit der Brakteaten und der Stempelverbindungen bei den Guldgubbern entspricht immer noch dem vergleichbaren Netzwerk des römischen Imports in Skandinavien einige Jahrhunderte zuvor.4522 Es fällt auf, dass die vorchristlichen Goldblechfigürchen im südlichen Skandinavien als Ausdruck eines Kultes und als Opfergaben seit dem 6. Jahrhundert üblich wurden und dass auf dem Kontinent die christlichen Goldblattkreuze als Grabbeigaben beiderseits der Alpen ebenfalls seit dem 6. Jahrhundert aufkommen. Deshalb sei die Frage erlaubt, ob es nicht über größere Entfernungen hin Anregungen gegeben haben könnte, in Gold seine religiös-kultische Auffassung auszudrücken.4523 Bei einer neuen Zusammenstellung und Auswertung der Goldblattkreuze im Jahr 20184524 werden Stilphasen und die Entwicklung der germanischen Kunst im 1. Jahrtausend mit den Einflüssen verschiedener Kunststile aufeinander bezogen. Von den Goldblattkreuzen gab es nach vereinzelten Frühformen im vierten Viertel des 6. Jahrhunderts dann das Verhältnis zwischen den Gebieten nördlich und südlich der Alpen in Anzahlen von 1 zu 19 Exemplaren, bis zum Ende des 6. Jahrhunderts von 4 zu 20 Exemplaren, im 7. Jahrhundert (nicht genauer zu datieren) von 5 zu 42 Exemplaren, schon zu Anfang 7. Jahrhundert von 12 zu 52 Exemplaren und dann noch aus der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts von 11 zu 17 Exemplaren; summiert sind das zum Ende des 6. Jahrhundert 44 Exemplare und im 7. Jahrhundert 213 Exemplare, während dann im 8. Jahrhundert dieser Brauch ausgelaufen ist.4525
4521 Høilund Nielsen 2018, 16 Abb. (Gudme) und 19 Abb. (Sorte Muld). 4522 Steuer 2006e, 156 Abb. 35 a Karte der Brakteaten Stempelgleichheiten, b Gubber Stempelverbindungen, 155 Abb. 34 Verbreitungskarte nach Lund Hansen 1987, 203 Fig. 132; jetzt Watt 2019, 61 Fig. 11. 4523 Helmbrecht 2019a zieht Goldblattkreuze zum Vergleich mit den Goldblechfigürchen heran: 299 ff. mit Abb. 4524 Terp-Schunter 2018, 44 Abb. 29 Stilphasen nach Pesch 2012a, 686 Abb. 21. 4525 Terp-Schunter 2018, 282 Diagramm 78 Datierung der Goldblattkreuze; allgemein auch Böhme 1998; Riemer 1999; Gut (Zusammenstellung) 2017.
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Als weiteren Vergleich bieten sich die Goldblechanhänger mit anthropomorphen und zoomorphen Motiven aus dem östlichen Germanien an.4526 Dabei ist auch auf Brangstrup hinzuweisen (vgl. S. 516) und auf die Verbindungen in Richtung Südrussland und die Ukraine. Es geht um peltaförmige, rechteckige und blattförmige Anhänger mit eingeprägten Menschenbildern oder Gesichtern. Datiert wird diese Fundgruppe überwiegend in die Phase B2/C1-C2 (150–320 n. Chr.) und nur wenige in die nachfolgenden Phasen D und E (350–525 n. Chr.). K. Myzgin vergleicht die Verbreitung der Goldanhänger mit der von eisernen Kämmen, auch nach J. Werner und M. Levada (vgl. S. 944).
25.2.3 Goldhalskragen Die außergewöhnlichsten Kunsterzeugnisse der späten germanischen Zeit, etwa um 500 n. Chr. datiert, sind die sogenannten Goldhalskragen, die im südlichen Schweden schon im 19. Jahrhundert als Einzelstücke gefunden worden sind (Abb. 98). Diese germanische Bildersprache in antiker Techniktradition wird von Alexandra Pesch zuerst 2011 in einem Vorbericht erläutert und dann 2015 monographisch umfassend ausgewertet.4527 Die Analyse und der Bericht bringen alle technischen Details der Herstellung und beeindruckende Farbfotos. Die Halskragen bestehen aus einer Reihe ringförmiger profilierter Röhren, die elliptisch aneinander gelötet sind und die von oben nach unten im Durchmesser zunehmen und auf diese Weise breite Halskragen bilden. Die Technik der Herstellung zeigt alle Facetten einer perfekten Goldschmiedekunst. Das Stück von Ålleberg (1827), datiert um 450 n. Chr., in Västergötland hat drei, das von Färjestaden (1860), datiert um 500 n. Chr., auf Öland fünf und das von Möne (1863), datiert in die ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts, wiederum in Västergötland sieben parallele Röhren; die Goldgewichte der leicht beschädigten und damit nicht ganz vollständigen Kragen betragen immerhin etwa 633, 714 und 821 g. Die Röhren sind durch Querwülste miteinander verbunden. Das Auffälligste sind die figurengeschmückten Goldbleche als Friese zwischen und auf den Röhren, größere und kleinere Tier-, Tiermenschen- und Menschenfiguren sowie Gesichtsmasken, insgesamt fast 1000 Figuren in Filigran-, Granulation- und Kerbschnitt-Technik. Verwandtschaft besteht zu den Prunkösen der Aufhängung von Goldbrakteaten und zu den Bildern auf den Goldblechfigürchen. Es gibt sogar ein hölzernes, 42 cm hohes Kultbild eines Mannes aus dem Moor von Rude Eskilstrup auf Seeland (vgl. S. 1226), das einen solchen Goldhalskragen trägt (Abb. 99.2). Es mag ein Götterbild gewesen sein. Welche Götterwelt mit den
4526 Myzgin 2019, 269 Fig. 12 (Anhänger) und 271 Fig. 13 (Kämme), vgl. Werner 1988; Levada 2000. 4527 Pesch 2011e, 90 f. Abb. 1–3 Farbfotos, nachfolgend Detailfotos; 2015a, b; 2019a, 20–23 mit Abb. 1; 2019d, 331 f, mit Abb. 11; Lamm 1998.
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Abb. 98: Goldhalskragen. 1. Zoneneinteilung der Goldhalskragen: a Ålleberg, b Färjestaden, c Möne.
25.2 Späte Bilderkunst
Abb. 98: 2. Beispiele der Figuren von Ålleberg, Färjestaden und Möne (von oben nach unten).
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2 Abb. 99: 1. Goldfigürchen mit Halsring von Slipshavn, Fünen. 2. Hölzernes Bildnis eines Mannes aus dem Moor von Rude Eskilstrup auf Seeland mit einem Goldhalskragen.
25.2 Späte Bilderkunst
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Bildern auf den Kragen zu verbinden ist, kann diskutiert werden; Odin und Balder als Asengötter (eigentlich erst aus der späteren Überlieferung bekannt) sind im Gespräch, und es gibt dabei Vergleiche zu den Goldbrakteaten. Der Goldhalskragen von Ålleberg, datiert vom Stil her zwischen Nydam-Stil und frühem Tierstil I, trägt 127 Figuren, der von Färjestaden 362 und der von Möne gar 458. Es handelt sich bei den Figuren um Pferde, Eber, Hirschkühe und Menschen, aufgereiht werden sie als „Prozession der Heilswesen“ gedeutet. Ohne Zweifel sind diese Goldhalskragen – trotz der perfekten Kombination der verschiedenen Goldschmiedetechniken – als einheimische Erzeugnisse in Schweden zu betrachten. Der Deutung dieser Hunderte von winzigen figürlichen Darstellungen germanischer Tierstilkunst ist nur ein Teilerfolg beschieden. An die ehemaligen Bedeutungen von Bildchiffren kann es nur Annäherung geben. Die Wirkungen dieser Mischwesen, der menschlichen und göttlichen Gestalten, der Symbole und Zeichen spiegeln jedenfalls ein großes eigenes Kunstschaffen, die der damaligen Bevölkerung verständlich gewesen sein muss. A. Pesch betont zudem die statsitische Zufälligkeit für die drei Goldhalskragen; Ålleberg wurde 1827, Färjestaden 1860 und Möne 1863 gefunden, das ist auch die steigende Reihenfolge der Zahl der Röhren 3, 5 und 7 sowie der steigenden Gewichte 633g, 713 g, 821 g und die Zahl der eingefügten Figuren 137, 362 und 450. Ebenso steigt die Datierung in dieser Abfolge. Die größte Artenvielfalt der Bildnisse zeigt der Kragen von Ålleberg, diese wird bei dem etwas jüngeren Kragen von Färjestaden bei den Tieren schon stärker stilisiert, was bei dem dritten Kragen von Möne für die Tierbilder noch deutlicher zurückgenommen wird. „Offenbar war es nicht so entscheidend, welche Tiere, Mischwesen oder menschliche Figuren hier dargestellt wurden, sondern lediglich die Präsenz der Wesen als solcher war wichtig“.4528 Die Hersteller waren einheimische Kunsthandwerker, und so ist „die Ausführung der Tiere eindeutig dem Tierstil zuzuweisen und somit auch als rein germanische anzusprechen“, so A. Pesch. Ålleberg zeige Charakteristika des Nydam-Stils und Färjestaden sowie Möne Elemente des Tierstils I im 5./6. Jahrhundert. Römische Anregungen in Technik und Bildmuster wurden übernommen und umgeformt, wie schon seit dem späten ersten Jahrhundert. Zum mythischen Hintergrund der Bildprogramme findet man bei A. Pesch allerlei Aspekte des Möglichen diskutiert. Es bleibt ein Phänomen, wer oder wie diese Kragen getragen werden konnten, von Menschen oder Götterbildnissen. Die Herstellung der Kragen, vor allem der Miniaturen, erfordert von den Handwerkern eine hohe Präzision und Kunstfertigkeit, um aus dem Nichts diesen Figurenreichtum zu schaffen. Es sind keine Vorläufer bekannt, aber eindeutig handelt es sich um einheimische Anfertigung in Germanien. Die Tierstilmeister standen den Eliten nahe, ihr theoretisches und praktisches Wissen rückte sie in die Oberschicht, ihre Werkstätten brauchten den Schutz ihres Militärs (in der altnordischen Literatur sind
4528 Pesch 2011e, 97 Zitate.
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25 Bilderkunst und Menschenbilder
Königssöhne als Schmiede bezeugt). Die Runenmeister gehörten ebenso zu dieser Schicht der Elite (vgl. unten S. 1258). Der Rezensent R. Prien betont die Einzigartigkeit der Halskragen wegen der großen Zahl von massiv gegossenen Miniaturen, die in die Zwischenräume der Ringe eingelötet sind; sie sind gerade einmal höchstens 1 cm lang. Es sind schlangenartige Tiere, Vierbeiner (Schweine, Pferde und Hirschkühe?) sowie Vögel, anthropomorphe Miniaturen und Maskendarstellungen.4529 Sie sind zu vergleichen mit Bildnissen in den Elitegräbern von Ostrovany und Szilálgysomlyó und mit dem Ring von Pietroassa. Die Figuren sind schlicht gereiht; es gibt keine szenischen oder narrativen Figurengruppen. Frühere Deutungen von W. Holmquist sahen die Tiere als Jagdbeute, K. Hauck fand auch hier den Tod Baldurs im Vergleich mit B-Brakteaten bzw. den Drei-Götter-Brakteaten. Sicherlich stehen die einzelnen Tiere für bestimmte Chiffren, sind Bedeutungsträger und wirkmächtige Figuren. Die drei Halskragen kommen sicherlich aus derselben Werkstatt im heutigen Västergötland, und sind Insignien einer weltlichen oder religiösen Elite (oder beides zugleich) und waren an Personen oder an Holzpfählen aufgehängt. Um mit A. Pesch zu sprechen, fehlt dem modernen Betrachter wohl für immer der direkte Zugang zur Bilderwelt der Völkerwanderungszeit. Der Rezensent R. Prien wundert sich aber, dass A. Pesch in der Tradition der älteren Forschung von „germanischer Kunst“ und „germanischem Tierstil“ spricht, in dem Sinne, dass verschiedene Gruppen, die sprachlich verwandt waren, auch ein gemeinsames Kunstverständnis ausgebildet hätten. Zweifelsohne ist die Ikonographie der Völkerwanderungszeit voller Zeichencodes, die zumindest von einer überregionalen Elite in ganz verschiedenen Regionen Europas entschlüsselt werden konnte. Das Bindeglied dieser Elite war jedoch sicherlich kein ‚germanisches Erbe‘, sondern es waren die vielfältigen politischen und ökonomischen Verbindungen, gepaart mit einer sehr hohen personellen Mobilität, die diese Epoche prägten. Es wäre daher sicherlich besser, auf das Adjektiv ‚germanisch‘ zu verzichten, da es falsche Assoziationen hervorruft.4530
Doch meine Meinung entspricht eher der Argumentation von A. Pesch; denn weshalb und bei wem sollten falsche Assoziationen aufkommen; denn demgegenüber ist die Verbreitung des Tierstils und der Runenschrift auf einen Raum Germanien begrenzt, den Raum germanisch sprechender Bevölkerungen. Ein Fund aus dem Lütjensee, Kr. Stormarn, im Jahr 2014 brachte ein Köpfchen, der mit den Goldhalskragen aus Ålleberg zu vergleichen ist, datiert in die Mitte und zweiten Hälfte des 5. oder in den Anfang des 6. Jahrhunderts.4531 Auf einem Schnallendorn ist der Tierstil I Mitte 5. Jahrhundert fertig ausgeprägt. Er gehört zu dem Typ der Prachtschnallen der noch zu schildernden Snartemo-Sjörup-Gruppe (vgl. S. 1229). Diese Gesichtsdarstellungen sollen wie auf den Brakteaten göttliche Wesen sein, vermutlich in der Regel Odin, und das also schon im 5. Jahrhundert. Die 4529 Pesch 2017c, Schlangen und Drachen von den Brakteatenbildern bis zu den Goldhalskragen. 4530 Rez. Prien 2017, 621, zu Pesch 2015a. 4531 Pesch 2015c; 2015 (2016) 32; auch jetzt 2017a.
25.2 Späte Bilderkunst
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Snartemo-Sjörup-Gruppe gehört in das 4./5. Jahrhundert, gefolgt vom Tierstil I ab Mitte des 5 Jahrhunderts. In diesem Zusammenhang schildere ich noch die winzigen Plastiken von „Götterthronen“, die A. Pesch 2018 behandelt hat. Zwar geht es eigentlich um den kleinen Thron aus Lejre, datiert in die Wikingerzeit, aber andere Throne als Vergleich finden sich auch auf Goldbrakteaten, so auf einem Beispiel aus Várpalota/Ungarn, einerseits und bei der sitzend überlieferten Figur von Rude Eskilstrup auf Seeland mit Halskragen andererseits.4532 Das Sitzen auf einem Thron drückt Rang und Herrschaft aus. Der Brakteat zeigt einen Klotzstuhl, wie ein solches Objekt von der Fallward als Grabbeigabe überliefert ist (vgl. S. 952). Eigentlich gehört zum herrschaftlichen Sitzen nicht nur der Thron, sondern auch jeweils eine Fußbank.4533
25.2.4 Sösdala-und Nydam-Stil Die oben erwähnte Monographie aus dem Jahr 2017, unter Federführung von Charlotte Fabech und Ulf Näsman entstanden, behandelt zwei zentrale Themen der frühgeschichtlichen Archäologie, zum einen den Zierstil des Kunsthandwerks, den Sösdala-Stil der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts, und zum anderen die Funde von Sösdala und Fulltofta sowie die europaweit zu vergleichende prunkvolle Ausgestaltung des Pferdegeschirrs und des Sattels.4534 Dabei werden die nordischen Chronologiephasen mit den kontinentalen Phasen synchronisiert.4535 Eine zweite Zeittabelle parallelisiert die Gliederungen von E. Bakka 1977, H. Roth 1979 und U. Näsman 2017 (oben Abb. 92.2).4536 Eine zeitliche Reihe bilden der spätrömische Militärstil (vor und um 400), gefolgt vom Sösdala-Stil (ungefähr 400 bis 440/450) und dem Nydam-Stil (um 440 bis 480) bis zum frühen Tierstil I (480 bis 580). Den Sösdala-Stil kennzeichnet nicht mehr wie beim spätrömischen Militärstil die verschiedenen Kerbschnittornamente, sondern gepunzte Muster aus Dreiecken, Sternen, Doppelkreisen und Ovalen als mehrblättrige „Blumen“, wobei die Umrisse der Bleche selbst in recht naturalistischen Tierköpfen, wohl Pferdeköpfen, enden.4537 Die Objekte selbst, Beschläge aller Art, bestehen aus vergoldetem Silber. Ihre Verbreitung reicht vom mittleren und südlichen Norwegen über Schonen bis Jütland und zu den Ostseeinseln sowie mit einigen Parallelen weiter nach Süden bis auf den Kontinent. Hier finden sich verwandte Sachgüter, darunter auch scheibenförmige Riemenzungen von den südwest-
4532 Pesch 2018b, 476 Abb. 7, 1 und 2. 4533 Steuer 2007g. 4534 Fabech, Näsman (Eds.) 2017a. 4535 Fabech, Näsman 2017a, Introduction 11 Fig. 4 Chronologietabelle; auch Fabech, Näsmann 2013. 4536 Näsman, in: Fabech, Näsman (Eds.) 2017a, 119 f. Fig. 8–9, 134 f. Fig. 3–6. 4537 Dal 2017, 134 Fig. 3 Motivzusammenstellung; Bitner-Wróblewska, in: Fabech, Näsman 2017a, 260 Fig. 2 Fundkomplexe des Sösdala-Stils; allg. Muster bei Fabech, Näsman (Eds.) 2017.
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deutschen Höhensiedlungen des 4./5. Jahrhunderts sowie dekorierte Halsringe vom Typ Velp,4538 die mit Scheidenbeschlägen aus dem Nydam-Moor verglichen werden. D. Quast hat in graphischer Darstellung in Gestalt von Dreiecken die Beziehungen aufgezeigt zwischen den Regionen in Skandinavien sowie auf dem westlichen und östlichen Kontinent vor dem Hintergrund des spätrömischen Reichs in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts und hat dasselbe auch für die Verzierungselemente bzw. der Dekorationselemente des Sösdala-Stils angedeutet.4539 Es geht um die Opferniederlegungen von Sösdala I und II sowie von Fulltofta, 15 km von Sösdala entfernt, und von Sjörup im zentralen schwedischen Schonen.4540 Den Fundkomplex und die Beschreibung des Stils in den Jahren von 1929/1930 (und späterer Grabung 1962) bis 1993 legt U. Näsman vor und führt zahlreiche Parallelen zu diesem Stil auf anderen Sachgütern an.4541 Katalogisiert werden für Sösdala I (1929–1930) mehrere hundert Stücke (bis Nr. 247) an Parade-Zaumzeugbeschlägen und Sattelteilen und für Sösdala II (1961) 30 Objekte sowie für Fulltofta (1896) noch einmal 24 Stücke, insgesamt 247 Fundnummern für Zaumzeugteile und 13 Sättel.4542 Die „geopferten“ Sachen waren zuvor massiv bewusst zerstört worden. Diese bewusste Zerstörung der Pferdeausrüstungen vor der Vergrabung in einem Hügel wird als eine Bestattungssitte der Elite in Anlehnung an reiternomadische Bräuche interpretiert, ist aber – so meine ich – durchaus mit den Zerstörungen an den Sachgütern in den Heeresausrüstungsopfern Jütlands zu vergleichen. Das Pferdezaumzeug und die Sattelbeschläge von Sösdala und Fulltofta beschreibt ebenfalls Ulf Näsman,4543 und dazu erläutern Erika Rosengren und Anneli Sundkvist die Gestalt der frühgeschichtlichen Pferde, vor allem ihre „geringe“ Größe.4544 Der Sösdala-Stil mit Blick auf die Parallelen in Zentral- und Südosteuropa verbindet Schweden mit Jakuszowice in Polen (vgl. oben S. 361),4545 mit Untersiebenbrunn und Coşoveni weit im Süden.4546 In diesen zeitgleichen Horizont gehört auch der Zustrom von Solidi aus dem Süden, aus dem spätrömisch-byzantischen Reich, z. B. nach Öland, deren unterschiedliche Wellen während der Mitte und zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts kartiert sind.4547 Die überaus weite Verteilung von Zaumzeugbeschlägen vom Typ Nydam-Porskær von Schweden bis an die Donau und in die 4538 Quast 2017a, 288 Fig. 10; 2009b (Gruppe der Halsringe vom Typ Velp); Steuer 1990, 180–195 mit Abb. 3–10 (scheibenförmige Riemenzungen); Böhme 2008b, 369 ff. mit Abb. 3. 4539 Quast 2017a, 282 Fig. 3: Vier Dreiecke. 4540 Fabech, Helgesson, Näsman 2017, 80 Fig. 3 mit der Lage der drei Fundorte. 4541 Näsman 2017. 4542 Fabech, Näsman (Eds.) 2017, 353–447 mit entsprechenden Abbildungen. 4543 Näsman 2017 (bridles and saddles). 4544 Rosengren 2017, 197 Fig. 2; Sundkvist 2017. 4545 Fabech 2017, 56 f. Fig. 9; Steuer 2000. 4546 Kazanski, Mastykova 2017, 298 Fig. 1, 300 f. Fig. 3 und 4, 304 Fig. 7; vgl. auch Fagerlie 1967; Werner 1949. 4547 Sv. Fischer 2017, 315 Fig. 1 und 316 Fig. 2 und 3 (Verknüpfung der Hortfunde).
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Ukraine spiegelt ein vergleichbares Netz von Kontakten über ganz Europa.4548 Das reich ausgestattete Elitegrab von Högom in Nordschweden mit umfangreicher Beigabenausstattung, darunter auch Sattel und Zaumzeug, kann hier angeschlossen werden (vgl. S. 946).4549 Der Hort von Sjörup in Häglinge, Schonen, datiert in die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts, bringt den frühen Tierstil, den Sjörup-Stil; der Riemenbeschlag mit vier Vogelköpfen hat Parallelen in Südosteuropa und im Kaukasus. Auf diese Weise wird ein hunnischer Einfluss auf Sösdala und Fulltofta in Schonen und Vännebo in Västergötland postuliert.4550 Ch. Fabech und U. Näsman haben schon 2013 die Parallelen zu den Zierstilen weiter im Süden bei Jakuszowice oder Untersiebenbrunn thematisiert.4551 Nahe bei Sösdala gibt es die weiteren Fundorte wie Sjörup, Fulltofta und andere Komplexe in Schonen aus derselben Epoche mit vergleichbaren Sachgütern, meist gestempelte oder gepunzte Teile vom Zaumzeug. Die Fundkomplexe in Sösdala und in Schonen gehörten allgemein nicht zu einzelnen Reitern, sondern zu Gruppen von Elitekrieger, die zurück nach Hause gekommen waren und die entweder ihre in der Ferne erworbenen Ausrüstungen samt Reitzeug mitgebracht haben oder aber die Ideen, die dazu anregten, Vergleichbares auch im Norden zu produzieren. M. Levada geht von den Hortfunden Sösdala und Fulltofta aus, um die Fernbeziehungen von der Krim bis nach Skandinavien (oder umgekehrt) zu beschreiben.4552 Es gibt die Zwischenstation mit dem Zaumzeug von Jakuszowice, dann die Horte von Kachin, Zamość und von Bar. Nicht überraschend ist für ihn, dass skandinavische Funde Elemente der Hunnen, der Ostgermanen und der Donaumode übernommen haben und polyethnische und multikulturelle Elemente vor dem Hintergrund der griechisch-römischen Traditionen im 5. Jahrhundert zeigen. Ein Teil der Elite zog während der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts vom Norden zum Schwarzen Meer und zur Donau, engagierte sich in der hunnischen Gefolgschaft, blieb aber unabhängig und zog auch wieder in den Norden zurück. Aus den Fernbeziehungen werden ereignisgeschichtliche Überlegungen; die Befunde zeigen nur – wie oftmals von mir wiederholt – das Netz der weitgreifenden Elitekommunikation; man sollte sich vielleicht doch mit einer solchen Aussage begnügen. Denn die Elite trug zwar diese Kostbarkeiten, aber Handwerker haben sie gefertigt, und dass konnten diese (vgl. oben S. 477 ff.) auch im Norden.
4548 Fabech, Näsman 2017, cap. 17, 340 Fig. 11 Zusammenstellungen nach J. Bemmann, A. Rau, J. Tejral und Ch. Fabech. 4549 Ramqvist 2017, 222 Fig. 1 Plan des Grabes mit allen Beigaben, darunter Sattel- und Zaumzeugbeschläge. 4550 Andrén 2014, 175 Fig. 59. 4551 Fabech, Näsman 2013, 87 Fig. 4 Karte der Fundorte bei Sösdala, 101 Fig. 22 Karte der Vergleichsfunde im Süden. 4552 Levada 2011, 116 Fig. 1 Karte von Sösdala bis Kertsch mit 25 Fundpunkten, 134; 2013, 222 Fig. 10 und 11 Hort von Cherkassy (?).
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Der Autor vertieft aber seine Überlegungen zu den weit gespannten Verbindungen. Er blickt auf römische Parallelen in den Schätzen von Kaiseraugst, Sevso und Traprain Law, nennt den Hort von Cherkassy (?) in der Ukraine, der 2009 von Laien entdeckt worden ist (daher das Fragezeichen am Fundort), der mehrere Silbergefäße von 1,5 kg Gewicht und 470 Denare enthalten hat. Eine scheibenförmige Riemenzunge (des Typs, denen ich Überlegungen gewidmet habe),4553 eine Schwertscheide aus dem Nydam Moor mit Silberbeschlägen und eine Schnalle mit Runeninschrift auf der Rückseite von Szabadbattván (Ungarn) werden zum Vergleich der Ornamentik herangezogen. Auf der Schnalle steht in den Runen ein germanischer Name, die ein germanischer Runenritzer geschrieben haben muss. Es hat südliche Einflüsse auf den Sösdala-Stil gegeben, und sichtlich waren Leute auch im Süden gewesen und sind dann wieder in den Norden gekommen. Eine weitere Rezension aus dem Jahr 2018 zu den Reiter- und Pferdeausrüstungen von Sösdala4554 hebt neben dem Referat noch einige weiterführende Aspekte hervor. In der Nähe gibt es weitere Gräberfelder und Siedlungen, teils auch aus der Völkerwanderungszeit. Die beiden Fundkomplexe Sösdala I und II könnten Opfer für Verstorbene gewesen sein und damit auf nomadisches Milieu hinweisen. Mit Hinweis auf D. Quast fordert M. J. Przybyła einen Ausgriff auf ganz Europa vor und schlägt eine Erweiterung der Stilbenennung auf Sösdala-Untersiebenbrunn-Velp-Stil vor; der Kerbschnitt ist von Nydam und Salin Stil I, bekannt. Es geht überall im Wesentlichen um Pferde- und Reiterausrüstung, weshalb die Verbindungen zum reiternomadischen Milieu in der Ukraine, dem südlichen Polen und zur unteren Donau gesehen werden; genannt wird der regelmäßig als Zwischenfundort der Platz Jakuszowice (vgl. dazu S. 372 f.). Diese Fernbeziehungen hat Ch. Fabech schon 2011 beschrieben, als sie das silberne Reitzeug als Opferniederlegung vom Typ Sösdala über Jakuszowice bis Untersiebenbrunn und Coşoveni verfolgte.4555 Als politischen Hintergrund wird Zeit von 454 (Untergang der Hunnen) bis 552 (Eroberung Thüringens durch das Merowingerreich) gesehen. Beteiligt waren neuen Eliten aus Skandinavien an diesen militärischen Ereignissen auf dem Kontinent, d. h. die nordischen Kämpfer hatten an den Kriegen in Mitteleuropa tatsächlich teilgenommen. Jetzt sollen die Hallen in den Herrschaftssitzen und Zentralorten wichtiger geworden und ausgebaut worden sein? Ob jedoch diese enge Koppelung mit der Ereignisgeschichte gesehen werden sollte, in einer Mobilität nach Norden zurückgekehrter Krieger, oder ob nicht doch – wie ebenfalls von anderer Seite betont wird – kulturelle Ausstrahlungen und handwerkliche Übernahmen von Fertigkeiten in Skandinavien diese Sachgüter, Reitzeug, im Sösdala-Stil geschaffen haben, bleibt zu diskutieren. Der plötzliche Reichtum dieser
4553 Steuer 1990. 4554 Przybyła 2018 Rez. zu Fabech, Näsmann (Red.) 2017. 4555 Fabech 2011, 33 Fig. 5 Karte, 35.
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Fundkomplexe würde in starkem Kontrast zur Armseligkeit der vorausgehenden Epoche stehen; zu betonen seien die Beziehungen zur Ukraine und zur mittleren und unteren Donau, was auf eine mobile Kriegerelite hinweist, die nun wieder nach Skandinavien zurückgekehrt sei. Zum Handwerklichen wird betont, dass durch die Analyse der Stempelmuster auf den Metallsachen von Sösdala I vier unterschiedliche Handwerker erkannt werden, die aber – so meine ich – durchaus in derselben herrschaftlichen Werkstatt gearbeitet haben können, und zwar im Norden; die Nielloverzierungen seien in Nordeuropa entstanden, in der Stufe C2 und C3 (um 300 und im 4. Jahrhundert), Bügelfibeln mit rechteckiger Kopfplatte kommen von Handwerkern in Skandinavien, z. B. in Sejflod. Es gibt Beziehungen nach Högom in Medelpad und zum Waffenopferplatz Finnestorp.4556 Die Stempelverzierung, die Handwerkstechniken und Fibelformen in der Phase D1 (erste Hälfte des 5. Jahrhunderts) sind nordische Produkte und spiegeln höchstens südliche Einflüsse wider, sind keinesfalls Importe. Vom Stil Sösdala-Untersiebenbrunn-Velp gebe es Beziehungen zur antiken Tradition, und zwar über Goldringe der Phase C2 und weiter bis D1. M. J. Przybyła sucht also römische Traditionen, die zu den Sösdala-Sachen „transportiert“ worden sind. Das ging durch die massenhaften Kriegermobilitäten über weite Distanzen, auch noch später in D1b und D2a (5. Jahrhundert) gab es Söldner aus dem fernen Germanien in der römischen Armee. Ob aber diese Fundkomplexe Verzierungstraditionen römischer Werkstätten spiegeln, kann auch bezweifelt werden; denn die einheimischen Kunsthandwerker beherrschten alle diese Techniken seit langem. Eine andere Rezension von 2018 vermisst beim Sösdala-Stil als Vorläufer des Stils I den Blick nach England zu den Angelsachsen und die zeitgleichen britischen Untersuchungen.4557 Es gibt dort entsprechende Pferdegräber und Pferdezaumzeuge, beispielsweise das Grab von Eriswell, Suffolk, mit einem aufgeschirrten Pferd. Die Punzmuster auf den Metallarbeiten mit Sösdala-Stil werden verglichen mit den Stempelmustern auf angelsächsischer Keramik des 5. Jahrhunderts und auf Kämmen sowie Schnallen, was – so betone ich – die weiten Verbindungen der damaligen Gesellschaften samt Kunsthandwerkern auch über diese Sachgüter bestätigen. Zu den Schnallen am Pferdekopfgeschirr weist Catherine Hill darauf hin, dass diese gewöhnlich als spätrömisch beschrieben werden, womit sie früher und zeitgleich mit den Sösdala-Objekten sind, weit verbreitet in England. Ebenso seien die Artefakte mit „Quoit-Brooch-Stil“ vergleichbar mit Sösdala, einer Stilentwicklung am Ende der römischen Epoche. Peter Vang Petersen beschreibt die Kriegerkunst mit Glaube und Symbolik für die Zeit der großen Kriegsausrüstungsopfer.4558 Es ist die Kunst auf Waffen, an den Schwertscheiden und den ornamentierte Lanzenschäften von Nydam. Auf den höl-
4556 Ramqvist 2017 (Högom); Nordqvist 2004/2005 (2007) (Finnestorp). 4557 Hill 2018, zu Fabech, Näsman (Red.) 2017. 4558 P.V. Petersen 2003.
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zernen Scheiden sind ineinander gewundene Schlangen eingeschnitzt, wie sie in den späteren Tierstilen ebenfalls wieder vorkommen, auch auf den Goldhörnern von Gallehus (vgl. unten S. 1258). Ohne Zweifel kann man darin tatsächlich die Wurzeln der nachfolgenden Tierstile sehen, was zeigt, dass auch unabhängig von direkten römischen Vorbildern religiös-kultische Vorstellungen in Bildmustern ausgedrückt wurden, bei den Schwertscheiden eigentlich noch recht realistisch, worauf dann später die zunehmende Abstrahierung folgte. Diese Reliefverzierung auf den Schwertscheiden von Nydam zeigt spiegelbildlich zwei Schlangen, das Ortband aus Nydam II (ca. 400 bis 450) bringt Vögel und behelmte Krieger ebenfalls spiegelbildlich und im späteren Tierstil werden diese Muster komplexer und die schematisierten, stilisierten Tierkörper, meist Pferde, sind entweder auch spiegelbildlich ineinander gefügt oder als fortlaufende Rapporte gezeichnet (oben Abb. 60). Die mit silbernen Beschlägen verzierte hölzerne Schwertscheide aus dem jüngeren Nydam I D-Horizont (375 bis 475)4559 bringt spiegelbildlich Tierköpfe mit aufgerissenen Mäulern im Sösdala-Stil und zwei Fabeltiere mit gebogenen Vorderbeinen und ineinander gewundenen Schwänzen, was auch auf dem langen Goldhorn von Gallehus zu finden ist. Und vergleichbar, nur weiterentwickelt, sind die Motive auf dem Ortband aus Nydam II, worin man Vögel sehen will, die ein Stück Fleisch, das Herz, aus der Brust des Kriegers herausreißen.4560 Die religiös-kultische Interpretation geht in den zitierten Beiträgen rasch ins hohe Mittelalter zu den Texten der Edda, dem ich jedoch hier nicht folgen möchte. In diesem Abschnitt über Kunsterzeugnisse der späten Phase in Germanien muss unbedingt noch auf zwei Objekte hingewiesen werden, die heute nicht mehr vorhanden sind, aber in der Altertumskunde eine herausragende Rolle spielen, die Goldhörner von Gallehus im südwestlichen Jütland, datiert aus stilistischen Gründen ins frühe 5. Jahrhundert n. Chr.4561 Das längere Horn wurde 1639, das kürzere 1734 gefunden; anscheinend lagen in der Nähe weitere Goldringe oder Reste einer Tragekette für die Hörner. 1802 wurden beide Hörner, Trink- oder Blashörner, aus der königlichen Kunstkammer gestohlen und eingeschmolzen, so dass nur noch alte Beschreibungen und Zeichnungen vorliegen. Sogar die Nachbildungen wurden 2007 ebenfalls gestohlen. Die gesamte Oberfläche der Goldhörner war in mehreren umlaufenden Zonen mit Bildern geschmückt, mit gepunzten Ornamenten sowie gepunzten und plastisch ausgearbeiteten Menschen- und Tierfiguren, darunter Männerfiguren mit Schwert und Schild. Das kurze Horn trug zusätzlich eine Runeninschrift. Das größere Horn war 52 cm lang und wog etwa 3,1 kg, das beschädigte kurze Horn sogar etwa 3,7 kg. Verwandtschaft besteht mit den Verzierungen von Silberblechfibeln und Gegenständen im Sösdala-Stil, worauf auch die Datierung beruht. In Sösdala in Schonen, 4559 E. Jørgensen, Vang Petersen 2003, 273 Abb. 23. 4560 Vang Petersen 2003, 290 Abb. 10. 4561 Axboe, Nielsen, Heizmann 1998; Heizmann 1998; Oxenstierna 1956; Pesch 2019a, 19 f.; Quast 2002, 272 Abb. 5, 1.2.
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Schweden, kamen 1930 und 1961 die oben beschriebenen Versteckfunde mit mehreren hundert Metallfragmente von absichtlich zerstörten silbernen Pferdegeschirren, Sattelbeschlägen, Zügel- und Trensenringen zutage, die einst in einem Moor niedergelegt worden waren. Auf die Verzierung der Pferdegeschirrteile geht die Benennung Sösdala-Stil mit seinen geometrischen Mustern zurück und wird als frühester Kunststil der Völkerwanderungszeit bezeichnet, gefolgt vom Nydam-Stil. Auf dem kürzeren Horn von Gallehus steht die aussagekräftige Runeninschrift: ek hlewagastiz holtijaz horna tawido (Ich Hlewagastis, Sohn des Holt, machte das Horn), der älteste Stabreim im Norden.4562 Die Hörner und ihre Bilddarstellungen haben über die drei Jahrhunderte seit ihrer Auffindung eine kaum noch zu übersehene Fülle von Erklärungen erfahren. Man wollte immer wieder eine Beziehung zur nordischen Mythologie finden, zu Tyr, Odin, Thor, Freyr, Balder, was aber spekulativ bleibt, oder man sah antike, byzantinische Anregungen für die Bilder. Jedenfalls boten die Hörner eine Fülle von Bildmustern, die in der Motivwelt immer wieder seit alters her und bis in die Frühgeschichte vorkommen, darunter auch gehörnte Pferde wie auf den Brakteaten. A. Andrén verbindet beispielsweise zwei gehörte Tiere von Solberga in Gräsgård auf Öland, gefunden in einem Gehöft und dort datiert die Spanne vom 3. bis 5. Jahrhundert, mit dem Horn von Gallehus und der Darstellung der zwei Paar Kriegern und dem gehörntem Tier, verbunden mit acht kleinen hundeartigen Tieren und einem Fisch sowie 17 Sonnen.4563 Er bringt dazu eine Karte zur Verbreitung der Namen Solberg, Solberga, Solbjerg in ganz Skandinavien und verbindet das mit einem Sonnenritual, das über alle Jahrhunderte hinweg in Skandinavien von Bedeutung gewesen sei. Seine Beispiele sind u. a. der Steinkreis mit Radkreuz vom Grab in Sälle bei Fjösel auf Gotland (datiert in die frühe Römische Kaiserzeit 1–200 n. Chr.) und der Bildstein von Sanda auf Gotland (datiert um 400 n. Chr.).4564 Sogar Verknüpfungen zu astronomischen Himmelsphänomen will man also sehen. Doch muss jeder Versuch, die Ikonographie zu entschlüsseln, erst gesicherte Methoden dafür entwickeln, wie sie auch für die Brakteaten-Ikonologie erarbeitet wird. Aber die Assoziation zu den frühen Zentralorten wie Gudme und Sorte Muld in Dänemark, Helgö in Mittelschweden oder auch im Süden auf dem Kontinent zu Sievern nahe der Nordseeküste mit den dort konzentrierten Hinweisen auf kultische Funktionen stellt sich über die Brakteaten-Horte ein. In seinem Beitrag zum Begrüßungsmotiv, dem adventus-Motiv auf dem langen Horn von Gallehus, spannt Wilhelm Heizmann den Bogen von einigen Goldbrakteaten zu den wikingerzeitlichen Szenen beim Empfang in Walhall.4565
4562 Axboe, Nielsen, Heizmann 1997, 336–340; Pesch 2019a,19; Heizmann 2019, 303. 4563 Andrén 2014, 161 Fig. 56, 160 Fig. 55 Karte. 4564 Andrén 2014, 137 Fig. 46, 138 Fig. 47. 4565 Heizmann 2015, 104 f. Abb. 1 und 2 (Die Hörner nach O. Worm 1641 und 1643), und weitere frühe Zeichnungen.
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25 Bilderkunst und Menschenbilder
25.2.5 Die „germanischen“ Tierstile Zwar folgt auf den Nydam-Stil der Übergang zum Tierstil I und den weiteren Tierstilen II bis III,4566 die schon mehrfach angesprochen worden sind, aber darauf soll hier nicht mehr ausführlich eingegangen werden, zumal damit die zeitliche Grenze dieses Buches endgültig überschritten wird. Man spricht von „germanischem“ Tierstil, weil diese flächige Kunst eigentlich nur überall bei „germanisch“ sprechenden Bevölkerungen entwickelt und verbreitet worden ist, von Skandinavien bis zu den Langobarden in Italien. Er hat sich aus den römischen Vorbildern, beispielsweise den Randtieren (Raubkatzen und Seetiere) an den Militärgürtelbeschlägen, zu den Bildern auf den Flächen der Schmuckstücke entwickelt und dabei wurden Tiere und Menschen ornamental auseinandergenommen bis hin zu flechtwerkartiger Umgestaltung. Es gibt später Bezüge zur Ornamentik bei den Awaren, aber sonst lässt sich dieser Tierstil als verbreitete Ausdrucksform nicht nur auf Kleidungszubehör, also auf Fibeln und Gürtelbeschlägen, sondern sicherlich auch auf organischen Materialien wie auf Textilien und Holzobjekten überall, wo man derartige Verzierungen anbringen konnte, erwarten, sofern die Erhaltungsbedingungen das ermöglicht haben.4567 Genannt sei ein Tierkopf im Tierstil II aus der Wurt Hessens an der Nordseeküste.4568 Das Dreieck überregionaler Kulturverbindungen zwischen England, Skandinavien und Süddeutschland beschreibt S. Möllenberg als die weitgespannten Kontakte in der Völkerwanderungszeit.4569 Es geht dabei um Verwandtschaften der Tierstile auf Brakteaten, auf Fibeln vom sogenannten Nordischen Typ, um Bildbleche mit szenischen Darstellungen und um Runeninschriften. Der Tierstil I ab 475 n. Chr. hat keinerlei Verbindungen mehr zu römischen Vorbildern, wie noch der Nydam-Stil, und ist überall im Germanischen verbreitet.4570 Dieser Tierstil I des 5./6. Jahrhundert4571 kommt auf Fibeln vom Nordischen Typ auch auf dem Kontinent sehr zahlreich vor, was die Kommunikation der Eliten im späten 5. und 6. Jahrhundert abbildet. Stil I soll im südlichen Skandinavien – so die Autorin – ausgebildet worden sein. Die großen Fíbeln mit rechteckiger Kopfplatte auf dem Kontinent fanden sich jeweils in reicher ausgestatten Gräbern. Es sei Skandinavisches, das imitiert worden wäre, und die Schmuckstücke würden Migration und Heiratspolitik, also Exogamie, anzeigen. Die Entstehung und weitere Entwicklung dieser Tierstile sollte man aber nicht an bestimmte Ursprungsareale binden, sondern die Welt Germaniens auch noch in dieser Phase als Einheit betrachten, trotz aller internen Differenzen, aber kulturell
4566 Salin 1904/1935/1981; Ament 1997/2003, 71: alle germanischen Stämme außer den Goten übernahmen den Tierstil. 4567 Pesch 2012a; Høilund Nielsen 2012; allgemein zuvor Roth (Hrsg.) 1979. 4568 Capelle 1980, 51 Abb. 42. 4569 Möllenberg 2011. 4570 Mischa Meier 2020, 951. 4571 Høilund Nielsen 2011, 362 Fig. 1 Fibel vom Nordischen Typ.
25.2 Späte Bilderkunst
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doch als einen großen Kommunikationsraum, in dem neue Ausprägungen von bildlicher Kunst – als Ausdruck von kultisch-religiösen Vorstellungen – fast gleichzeitig überall bekannt wurden. Zwar ist das nicht immer im archäologischen Quellenmaterial direkt ablesbar, weil die Überlieferungsbedingungen verschieden sein können, aber bei der Zusammenschau aller Quellengruppen gelingt es, diese Vorstellung von weitreichender zeitgleicher Kommunikation zu belegen. Nur nebenher weise ich noch darauf hin: Die symbolische Repräsentation von Tieren in den Tierstilen hat eine konstitutive Rolle in der nordischen Kosmologie bis zur Einführung des Christentums und vielleicht noch darüber hinaus gespielt. Dabei geht es nach L. Hedeager um die These einer Kommunikation mit der anderen Welt, die von Tierdarstellungen abhängt, weshalb diese eine entscheidende Rolle in der skandinavischen Gesellschaft (und auch weiter im Süden auf dem Kontinent) gewonnen hatten.4572 Dabei gibt es eine Übergangszone zur christlichen Ikonographie, wie beim Tierstil an norwegischen Stabkirchen im Urnesstil, in Holz geschnitzt, und in mancher Hinsicht auch in der romanischen Kunst an Kapitellen in Kirchen bildhaft zu erkennen ist. S. Kristoffersen hat den Tierstil I in Norwegen, seine Definition und die Bilder auf der Kleinkunst beschrieben.4573 Es gibt die enge Beziehung zwischen verzierten nordischen Relieffibeln, den Brakteaten und dem Tierstil I. Eine lokale Goldschmiedewerkstatt (in Jæren, Rogaland, Norwegen) steht für die Anfertigung von Tierstil I des 6. Jahrhundert, ebenso ein Grab mit Goldschmiedewerkzeug (in Vestly, Time) und der Hort eines Goldschmieds (in Syre, Karmøy). Die Rekonstruktion des Grabes dieses Goldschmieds dokumentiert die Werkzeuge, die einst in einer Kiste aufbewahrt waren, und weitere Beigaben. Eine schöne Maske in Stil I von Dalem, Mittelnorwegen, gehört in diesen Zusammenhang.4574 Diese Relieffibel des 6. Jahrhunderts birgt im Ornament eine komplexe Verknüpfung von religiöser, politischer und gesellschaftlicher Symbolsprache, was für den exquisiten Stand der Kunsthandwerker spricht; sie bietet zudem eine Kombination von altem und neuem Design.4575 Die Suche nach den Werkstätten und der Lage in der Siedlung und damit der Blick auf die sozialgeschichtliche Position auch in den anderen Ländern sollte die Entwicklung, die Herstellung und den Rang der Ideengeber erschließen helfen. F. Behrens hat nun für den Tierstil II gezeigt, welche Rolle die Tiere mit der Verflechtung zur realen Welt in der Kleinkunst gespielt haben, und auf die zentrale Position des Pferdes in der durchaus abstrahierten Form des Tierstils hingewiesen.4576 Die Verbindung zu den
4572 Hedeager 2005a; Steuer 2003c. 4573 Kristoffersen 2012, 170 Fig. 1 Grabfund, 171 Fig. 2 Werkzeuge eines Goldschmiedes nach MüllerWille 1977, fig. 21; 2017a Definitionen; 2017b Maske von Dalem; 2015 zu den Prachtfibeln; auch Kristoffersen 2019 zu den Ausdrucksgesten der Tierstilmotive. 4574 Kristoffersen 2017b. 4575 Pedersen, Kristoffersen 2018, 220 Fig. 1 Fibel von Dalem. 4576 Behrens 2020 (im Druck).
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25 Bilderkunst und Menschenbilder
Pferdegräbern auf den Friedhöfen der Menschen seit der Römischen Kaiserzeit bis ins frühe Mittelalter habe ich beschrieben und die enge Beziehung zwischen Menschen, den Kriegern, und dem Pferd erläutert.4577 Schließlich sollte man auch davon ausgehen, dass außer einem immer wiederholten römischen Einfluss ebenso skandinavische, fränkische und christliche Motive gleichmäßig auf dem Kontinent bekannt waren und auf die uns zugängliche Kunstentwicklung im Bereich der Kleinkunst, um nicht zu sagen dem Kunstgewerbe, eingewirkt haben. Karen Høilund Nielsen hat das mit Blick auf diese Kleinkunst im Siedlungsraum der Sachsen seit 400 n. Chr. erläutert. Sie stellt Urnen der Zeit von 100 bis 600 aus Westerwanna und Issendorf vor, darunter die auffällig gestalteten sogenannten Buckelurnen, außerdem gleicharmige Fibeln und Schmuckstücke mit Randtieren, abgeleitet wohl von den römischen Gürtelbeschlägen und übernommen in den Gürtelbeschlägen des 4./5. Jahrhunderts, die nicht alle aus den römischen Provinzen stammen, sondern in Germanien auch selbst gegossen worden sind (vgl. S. 1142).4578 Die Goldbrakteaten im Bereich der Sachsen haben unmittelbar Parallelen im südlichen Skandinavien. Die trotz römischer Vorbilder eigenständige Umwandlung von Bildmotiven hat diese Objekte sicherlich als Heilsbilder zu betrachten, die nicht nur aus allgemeiner Freude an Verzierungen entstanden sind. Aber gerade aufgrund der Fixierung auf bestimmte Bildmotive, nicht erst bei den Goldbrakteaten – bei denen es eindeutig ist, dass Götterbilder und kultische Szenen dargestellt wurden, sogar auch in der Runeninschrift darauf eingegangen wird –, werden auch die frühesten Darstellungen von Bildern nicht nur Schmuck sein, sondern haben eine religiös-kultische Bedeutung. Das gilt ebenfalls für allgemeine geometrische Ornamente wie Flechtbänder, Mäander oder Kreuzmuster. Man kann an die Moderne und das Christentum und im Vergleich mit dem Altertum an die Verwendung des Kruzifix als Schmuckelement denken. Der Versuch, die Bildinhalte der Brakteaten mit der später überlieferten Götterwelt zu korrelieren, hat zu einer immens umfangreichen wissenschaftlichen Literatur geführt, die sicherlich tatsächlich schon zu dieser Zeit um 500 n. Chr. Götter zu identifizieren erlaubt. Da der obere Zeitschnitt dieses Buches aber auch um 500 liegt, kann den Interpretationsversuchen hier nicht weiter gefolgt werden, zumal es darum geht, ohne Hinzuziehung der Schriftüberlieferung Erkenntnisse zur Lebens- und Vorstellungswelt in Germanien zu bekommen. Das gilt für die Überlieferung zur Zeit des Tacitus ebenso wie für die viel jüngere isländische Literatur. Im Kultbau von Uppåkra wurde 2001 ein Metallbecher ausgegraben, aus Kupfer mit Silber und Gold, umwickelt mit ornamentierten Goldbändern im frühen Tierstil I, die gegen 500 / frühes 6. Jahrhundert gefertigt worden sind, während der Becher
4577 Steuer 2003c; 2018. 4578 Høilund Nielsen 2003, 204 f., Fig. 8–18 und 8–20, also mit zahlreichen Abbildungen, auch von Brakteaten.
25.2 Späte Bilderkunst
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selbst wohl älter gewesen ist. Das ornamentale Schmuckmuster hat Parallelen auf Goldbrakteaten und auch auf den sogenannten Relieffibeln. Seine besondere Rolle ergibt sich sowohl aus dem Fundplatz im Kulthaus, als auch aufgrund des frühen, beginnenden Stils I.4579 Noch eine weitere, eben nicht zur Kleinkunst gehörende, Ausprägung von künstlerischen Vorstellungen tragen die Bildsteine Gotlands der Völkerwanderungs- und Vendelzeit als Spiegel der Lebenswelten.4580 Die Datierung der frühen Steine ist umstritten, S. Lindqvist setzte die ältesten seiner Gruppe B in das 6. Jahrhundert bzw. der Gruppe A ins 6. und 7. Jahrhundert.4581 Diese ältesten Bildsteine scheinen kriegerische Symbole und Machtmarkierungen zu zeigen, datiert nach späteren Bearbeitern schon um 400 bis 500.4582 Die Steine tragen zentral (Sonnen-)Wirbelornamente, aber auch Kriegsschiffe oder gehörnte Tiere (Beispiele sind Atlingo; Stenkyrka; Sanda, Kirche, um 400;4583 Väskinde, Kirche).4584 Entscheidend ist mit Blick auf die Zielsetzung meiner Abhandlung, dass auch bei den Kunsterzeugnissen – natürlich in der Regel Kleinkunsthandwerk – breit gefächert römische Bildmotive als Vorbilder gewählt wurden, die aber grundsätzlich und zielbewusst mit eigenen Aussagen versehen und dementsprechend immer umgeändert worden sind. Für mich gehören die älteren römischen Reitergrabsteine dazu, auf denen der Reiter einen Krieger niederreitet, der noch in der Lage ist, von unten sein Schwert in den Körper des Pferdes zu stechen, und bei dem im Hintergrund beim Pferd ein weiterer Krieger mit zwei Lanzen steht. Sie werden vor allem ins 1. Jahrhundert n. Chr. datiert, doch gibt es sie noch bis 2. bis 4. Jahrhundert n. Chr.4585 Dieses Motiv ist im Norden aufgegriffen, aber völlig umgewandelt worden. Kunsthandwerker in Germanien müssen diese Grabsteine gesehen haben. Das Bild auf der Scheibenfibel von Pliezhausen, Kr. Reutlingen, Württemberg, Grab 1, zeigt einen Reiter mit einer Lanze im Angriff, der einen Krieger überritten hat, der aber noch das Schwert in die Brust des Pferdes stoßen kann; auf der Kruppe des Pferdes steht ein kleiner „Sieghelfer“, wie er genannt wird, der einen Schild trägt und zugleich hilft, die Lanze des Reiters zu führen.4586 Es handelt sich um die zu einer Scheibenfíbel umgearbeitete
4579 Hårdh 2004; (Abb. auch Jahrb. RGZM 50, 2003, 680 Abb. 22). 4580 Guber 2011; Oehrl 2015. 4581 Lundvist 1941–1942; Holqvist 1976, 563; Helmbrecht 2011, 271. 4582 Ragnarsson 2011; Andrén 2014. 4583 Holmqvist 1976, und Taf. 50 a (Sanda); 50 c (Stenkyrka), Taf. 53 (Vallstena, Ksp. Vallstenarum); Oehrl 2020, 118 Abb. 1 zur Datierung der frühen Steine 400–600, 119 f. mit Abb. 2–5 und römische Vorbilder mit Sonnenwirbel Abb. 6. 4584 Nylen 1998, 479 (Bildsteine); Lindqvist 1941–1942; Andrén 2014, 136 ff., 139 ff. mit Fig. 47 (S. 138) und Fig. 50 (S. 145); Oehrl 2015, 251 ff. Abb. 25–32. 4585 Wamers 2018a, 229–231; 2019, 317 f. und 332 f. mit Abb. 10, 1–4. 4586 Quast 2002, 267 mit weiteren Parallelen im Norden, 268 Abb. 2.1 und 276 Liste mit Lit.; Die Alamannen 1997, 436 Abb. 500 (Farbe) und 437; Wamers 2019, 317 f. und 331 f. mit Abb. 9, 1–5; Helmbrecht 2019, 294–295 mit Fig. 4 und 5.
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25 Bilderkunst und Menschenbilder
Phalera aus einem Pferdezaumzeug; als Grabbeigabe lag sie in einem Frauengrab des frühen 7. Jahrhunderts. Das Motiv kommt auch in Gräbern von Valsgärde in Schweden vor (in den Gräbern 7 und 8 des 6. und frühen 7. Jahrhunderts), und zwar an Pressblechen auf der Verkleidung von Helmen; die Motive sind noch stärker verändert und erweitert worden. Ebenfalls am Helm von Sutton Hoo findet sich dieses Motiv auf dem Zierblech des Reiters über einem gefallenen Krieger, der noch sein Schwert in das Pferd des Reiterkriegers sticht.4587 Die römischen Grabsteine gehören im Rheingebiet aber schon in die neronisch-flavische Zeit, also noch ins 1. Jahrhundert n. Chr. Ich nenne den Grabstein des C(aius) Romanius Capito, 3. Viertel des 1. Jahrhunderts n. Chr., und den Grabstein des Andres, beide in Mainz, sowie den Grabstein für einen Flavius Bassus in Köln.4588 Sie bringen diesen siegreichen römischen Reiterkrieger, der einen Germanen überreitet. Er hat mit einer Lanze nach unten gestoßen und dabei schon einen Krieger überritten. Helfer mit zwei Lanzen stehen hinter dem Reiter.4589 Die Motive in Germanien sind also mehrere Jahrhunderte jünger, so wie die Goldmedaillons Konstantin I. mit den Goldbrakteaten mehr als 200 Jahre später nachgeahmt und umgewandelt worden sind. Erwähnen möchte ich dazu noch die Darstellung eines römischen Kaisers mit christlichem Symbol und dem Fuß auf einem besiegten Gegner: Das Bild findet sich auf einer Goldmünze des Kaisers Konstantin, geprägt 315 in Ticinum, heute Pavia. Auf der einen Seite bedeckt fast das ganze Bild das Porträt des Kaisers mit Blick nach rechts, auf der anderen Seite zeigt sich der aufrecht stehende Kaiser en face mit einem Feldzeichen (vexillum), das von einem Kreuz gekrönt wird. Die Münze bezieht sich auf die Schlacht an der Milvischen Brücke von 312 und den Sieg über Magnentius: Hier steht der kaiserliche Fuß nicht auf einem besiegten Germanen, sondern auf seinem Gegner. Solche Darstellungen sind topisch. Ein Silbermedaillon, ebenfalls aus Ticinum, mit einem Christogramm auf dem Helm Konstantins ist erst nach 320 geprägt worden (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. Juni 2019). Weitgreifenden Beziehungen sind vielfach zu belegen; nur als ein Beispiel nenne ich den Zangenfries oben an dem großen Deckstein am Grabmal des Gotenkönigs Theoderich (gestorben 526) und an nordischen Bügelfibel des 6. Jahrhunderts in Skandinavien wie z. B von Hove Mølle i Nordsjælland.4590 Europa war im Germanischen weithin eine Einheit, verbunden durch vielfache Kommunikationen.
4587 Brundle 2019, 39 und 189 Abb. 68 b vom Helm in Grab von Sutton Hoo.Abb. 4588 Krieg und Frieden 2007, 42 Abb. 19; Bochnak, Warowna 2015, 89 Abb. 7 (Köln). 4589 Mattern 2003, 79 Taf. 3 (Grabsteine); Hartkopf-Fröder, Jodry 2016, 344 Fig. 3 (Comisca). 4590 K. H. Andersen 2018, 14 Abb.
25.3 Menschenbilder
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25.3 Menschenbilder Als wirkmächtige Kommunikationsmedien hat M. Helmbrecht die Menschenbilder der Vendel- und Wikingerzeit in ihren Kontexten bezeichnet.4591 Sie greift auf frühere Bildnisse zurück, deren Aussagen ähnlich sein sollen. Dazu bringt sie Goldblechfigürchen von Sorte Muld und andernorts, die nach der skandinavischen Gliederung in die Vendelzeit gehören. Die nähere Chronologie der Goldblechfigürchen ergibt sich aus einzelnen Befunden. Im Hortfund von Brangstrup, Svendborg Amt, Dänemark (vgl. S. 512) gibt es eine gepresste Goldfolie mit einer Menschenfigur und 16 teilweise aus Goldfolie gepresste Anhänger, die zusammen mit 16 Aurei, 19 Solidi und weiteren Goldobjekten, gefunden und also schon in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts vergraben worden sind. In Sorte Muld werden ab dem 6. Jahrhundert Goldblechfigürchen geopfert, in Slöinge, Halland, sind 57 Figürchen und weitere Fragmente erst um 710/720 dendrochronologisch datiert. In Lundeborg gibt es Paarfiguren ab dem späten 6. Jahrhundert, und in Helgö sind 26 Goldblechfigürchen in den Hausgruppen I A und B verteilt. In Uppåkra gibt es 122 Figürchen, und zwei Figürchen sowie zwei Patrizen als Einzelfiguren sind bei Begehungen gefunden worden (!). Im Kulthaus lagen weitere 120 Goldblechfigürchen sowie drei Patrizen. Die Figürchen sind in unterschiedlichen Zeiten, d. h. in verschiedenen Tiefen niedergelegt worden. Ich bringe diese Aufstellung, weil hier eine mehrere Jahrhunderte andauernde Kontinuität in einem kultischen Verhalten fassbar wird, wie sich das auch beim Kulthaus von Uppåkra gezeigt hat (vgl. S. 654). In Lunda wurde die Statuette eines nackten Mannes gefunden, mit nach unten gestreckten Füßen und mit Händen, die den abgespreizten Daumen auf den Unterbauch gelegt haben, datiert um 400–600. Eine Matrize ist von Stavnsager (vgl. S. 1210) zur Herstellung einer ähnlichen Männerfigur anzuführen. Die kleine goldene Figur eines Mannes mit doppeltem Halsring (vgl. S. 1225) von Slipshavn nennen M. Helmbrecht und auch ich in diesem Kontext. Ins späte 6. Jahrhundert und um bzw. nach 600 werden die Helmbilder von Valsgärde Grab 8 mit einem Reiter und Sieghelfern und von Vendel Grab XI datiert (in anderem Zusammenhang ging ich schon darauf ein, vgl. S. 1239). Dazu sind jetzt auch die Fragmente in höchster Qualität vom Helm im Schatzfund von Staffordshire gekommen.4592 Die Chronologie der gotländischen Bildsteine weist nach Lindqvist die Gruppe B bis D in die Vendel- und Wikingerzeit, die Gruppe B 6 mit einem Beginn im 6. und 7. Jahrhundert, was M. Helmbrecht veranlasst sieht, diese mit den völkerwanderungszeitlichen Goldbrakteaten der Gruppe E vom Ende Mitte 6. Jahrhundert zu vergleichen, die auf Gotland aber anscheinend noch länger vorkommen. T. Capelle hat die verborgenen Menschenbilder in der germanischen Ornamentkunst, in den
4591 Helmbrecht 2011, 112 ff., 156 ff. und vor allem 258 ff., vgl. zu Uppåkra u. a. Watt 2004. 4592 Staffordshire 2019, 71 Fig. 2.48 und 237 Fig. 5.18,595.
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25 Bilderkunst und Menschenbilder
Tierstilen aufgespürt.4593 In der Ornamentkunst des 4. bis 6. Jahrhunderts in Skandinavien sieht man abstrahierte Menschenbilder in rituellen Veränderungen.4594 Nach diesem Vorspann schildere ich nachfolgend die anderen auch älteren Menschenbilder in Germanien. Über Köpfe in den Bildkünsten auf Fibeln und anderen Objekten wurde schon gesprochen (vgl. S. 1189).4595 Sie gehören zu den Symbolen für alle germanisch sprechenden Leute; und man kann die Herkunft und damit die Wurzeln in keltischer, römischer und germanischer Zeit verfolgen, bis zum frühen Christentum. Sie gibt es im Tierstil I, im Fund vom Lütjensee, auf dem Halskragen von Ålleberg, auf einer Schnalle von Galsted aus dem 5. Jahrhundert, auf Brakteaten, in Grabfunden von Hagenow bis Himlingøje der Römischen Kaiserzeit. Kennzeichen sind offene Münder, Pausbacken und hervorquellende Augen. Das sind noch keine Menschenbilder, sondern Gesichter, die eher apotropäisch wirken sollten (wie die antiken Medusenhäupter beispielsweise). Etwas anders sieht es wohl mit Darstellungen aus wie die – ebenfalls schon erwähnte – männliche Büste, auf deren Brust zwei weitere Köpfe plastisch gearbeitet den Betrachter anblicken; es ist das kleine Kunstwerk aus dem 1./2. Jahrhundert von Haglunda, Alböke, auf Öland.4596 Die Hauptstatuette besteht nur aus Kopf und Oberkörper, und die Köpfe auf der Brust sind völlig gleichartig ausgebildet, haben ebenfalls große Augen; und das mehrfache Gesicht muss eine eigenständige Bedeutung gehabt haben. Selbstbildnisse von Germanen bzw. Menschen aus Germanien sind selten. Doch gibt es wie zuvor beschrieben einige aus Holz gearbeitete Männerköpfe wie aus dem Moor von Nydam oder stilisierte Menschen wie die geformten Bretter aus dem Wittemoor. Aber bei diesen Bildnissen kann es sich auch um abstrakte Götterdarstellungen handeln (oben Abb. 37). Die Deutung der Steinfiguren, Köpfe, im skandinavischen Bereich bleibt noch ungewiss, sowohl was die Datierung, als auch ihre Aussage angeht.4597 Die Köpfe mit Swebenknoten aus Bronze wollen germanische Krieger zeigen, sind jedoch zumeist in römischen Werkstätten geschaffen worden. Germanen, Krieger und Frauen, sind in der römischen Skulpturen- und Reliefkunst häufig zu finden, meist realistisch in kriegerischen Szenen als besiegte und unterworfene, gefangene und zur Hinrichtung geführte Gegner.4598 Auf der Trajanssäule zu den Dakerkriegen (101/2 und 105/6 n. Chr.)4599 steht eine Gruppe von Germanen mit Swebenknoten vor Trajan,
4593 Capelle 2003b. 4594 Magnus 2019. 4595 Pesch 2017a, 59 Karte Fig. 21. 4596 Rome and the Barbarians 2008, Kat.no.VI. 25; Ölandsguld 2001, 6 Abb. 6. 4597 Zachrisson 2017a. 4598 R. Wolters 2009b; zum literaischen Germanenbild der Antike Demandt 2012. 4599 Pogorzelski 2012; 2018 (mit der modernen Ausmalung); Wolff 2006; Mitthof, Schörner (Hrsg.) 2017; Simon 2020.
25.3 Menschenbilder
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und auf der mit Sockel 40 m hohen Markussäule (180–196 n. Chr.) als Panegyricus zu den Markomannenkriegen (im späten 2. Jahrhundert n. Chr.) finden sich ebenfalls Germanen mit dieser Haartracht.4600 Zu ergänzen ist ein gefesselter Germane mit Swebenknoten auf dem Tropaion Traiani, Adamklissi, Zinne 2. Rekonstruktionen zeigen diese Germanen auf der Trajanssäule nun auch in Farbe.4601 Das Germanenbild der Römer ist also auf einer nicht geringen Zahl von Denkmälern festgehalten worden.4602 Eine ganze Palette von Germanendarstellungen auf römischen Stein- und Bronzedenkmälern, auf Sarkophagen, auf Gürtelblechen, auf Glasschalen oder auch auf kleinen Intaglios und Gemmen ist bekannt, die man weiter auswerten könnte.4603 Sehr häufig wurde für die Haartracht auch tatsächlich der Swebenknoten wiedergegeben, in Stein, Bronze oder auch auf Halbedelsteinen (vgl. S. 49 ff.).4604 Demgegenüber sind Germanen in Germanien aus germanischer Sicht realistisch nicht überliefert, höchstens schematisiert und abstrakt. Das Germanenbild der Römer aber war ebenfalls nicht neutral, sondern geprägt von der Auffassung römischer Überlegenheit gegenüber den Germanen als Barbaren.4605 Als Furor teutonicus in Politik und Propaganda wird anhand der schriftlichen Überlieferung ausführlich die römische Vorstellung von den Germanen als Barbaren geschildert.4606 Der bekannte Grabstein von Aquincum /Budapest aus dem 5. Jahrhundert (vgl. S. 700) – mit anderer Übersetzung – bringt die veränderte Situation in der Spätantike zum Ausdruck, man konnte Germane, hier Franke, sein und zugleich römischer Bürger. Das ist in der Spätantike möglich gewesen, als überhaupt zwischen Germanen und Reichsbewohnern kaum noch unterschieden werden konnte.4607 Die Inschrift lautet, um sie noch einmal zu zitieren: Francus ego cives romanus miles in armis. Egregia virtute tuli bello mea dexrera simper (Ich, der Franke, römischer Bürger, habe als Soldat unter Waffen immer mit hervorragender Tapferkeit, im Kriege, meine Aufgabe erfüllt). Der lateinische Text versucht im Übrigen, das Anliegen in Hexametern zu bringen. Wie sieht es mit der Porträtkunst aus, wie hat man in Germanien die Menschen selbst wiedergegeben? Germanen als Menschen sind anhand der Bestattungen zu rekonstruieren, was aber nur unzureichend sein muss, da auch die anderen Bevölkerungsgruppen in Europa anthropologisch untereinander gleichartig waren. Von der römischen Bevölkerung des Mittelmeergebietes sind sie nur phänomenologisch zu unterscheiden. Knochenfragmente aus Brandbestattungen und Skelette aus den
4600 Zum Beispiel Coarelli 2008; Rajtár 2014, 107–134 ff.; Wolff 2001; 2006. 4601 Pogorzelski 2012; 2018. 4602 Heitz 2009; Rosso 2008 (1. Jahrhundert v. Chr. bis 3. Jahrhundert n. Chr.). 4603 Chauvot 2008. 4604 Steuer 2007 f; Krierer 2002. 4605 Krierer 2009. 4606 Trzaska-Richter 1991. 4607 Böhme 2017, 294, mit Anm. 14 zur neuen Übersetzung.
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25 Bilderkunst und Menschenbilder
Körpergräbern eröffnen Vorstellungen von Größe, Geschlecht und Konstitution sowie auch von Krankheiten der Verstorbenen. Nicht nur die antiken Quellen weisen auf die im Vergleich zu den römischen Legionären großen, hochgewachsenen germanischen Kriegern hin, sondern die Realität bestätigt das. Aber Schwierigkeiten erwuchsen daraus auch nicht, auch wenn es um germanische Auxiliartruppen oder Söldnereinheiten ging; jedenfalls ist darüber nichts bekannt, außer dass die Stärke und Größe germanischer Kämpfer betont wurden. Germanische oder römische Reitertruppen nutzten anscheinend dieselben Größen der Pferde. Zaumzeug und Sporen lassen keine Unterschiede ahnen. Reale menschliche Körper von Germanen liegen als Moorleichen vor, als große und kleine Holzbildnisse (vgl. S. 639), als Metallfigürchen (vgl. S. 648). Die plastischen Darstellungen von Swebenknoten auf Reliefs oder in Bronze sowie an den beiden Kesseln von Mušov und Czarnówko4608 haben ihre realen Parallelen an Schädeln bei Moorleichen; drei der Schädel von vielleicht vier Funden sind vom Körper abgeschlagen niedergelegt worden.4609 Die Köpfe von Osterby und Dätgen, beide Kr. Rendsburg-Eckernförde in Schleswig-Holstein, wurden am Rand des eigentlichen Siedlungsgebietes der Sueben gefunden, ein weiterer durch einen Hieb vom Körper abgetrennter Schädel wurde bei Barnbruch, Kr. Gifhorn, schon 1846 entdeckt und 1866 ein Schädel in Hoogdalen, Niederlanden. Was es bedeutet, dass alle außen um das Siedlungsgebiet der Sueben abgelegt worden sind, kann einerseits mit der „Vernichtung“, vielleicht von Gegnern, zusammenhängen und andererseits mit der Nachahmung herausragenden Kriegertums aufgrund dieser swebischen Bräuche. Tacitus berichtet darüber, dass auch andere Germanen wegen des Ruhmes diese Haartracht übernommen haben. Die erhaltenen Moorleichen von vollständigen Körpern gehören in die Frühzeit der Germanen.4610 Das sind der Mann von Tollund, Mitteljütland, 1950 gefunden, datiert 375 bis 210 v. Chr., der erdrosselt worden war und dann mit Kleidern und einer spitzen Kappe versenkt wurde. Der Mann von Grauballe, 1952 auch in Mitteljütland entdeckt, wird jetzt ebenfalls früher zwischen 375 und 200 v. Chr. datiert, nachdem er zuerst in die Römische Kaiserzeit gewiesen worden war. Das Mädchen von Windeby, Kr. Rendsburg-Eckernförde, 1952 gefunden, ins 1. Jahrhundert n. Chr. datiert, ist nach neuer Untersuchung als ein 15jähriger schmächtiger Knabe bestimmt worden; nahebei lag ein Mann, datiert ebenfalls schon ins 3. Jahrhundert v. Chr.4611 Diese Moorleichen sind also älter als die Epoche der ersten vier Jahrhunderte n. Chr. „Moora“ – die Moorleiche der Eisenzeit, ein 16 bis 19 Jahre altes Mädchen aus dem Uchter Moor in Niedersachsen, ausgegraben 2002 und 2005, ist neu naturwissenschaftlich untersucht worden und noch in früherer Zeit ins Moor gekommen, wohl
4608 Krieger 2002. 4609 Steuer 2007 f. 4610 Tollundmandens verden 2009; Gebühr 2002; 2007; Ch. Fischer 2006; 2007; van der Salden 1996. 4611 Gebühr 2007.
25.3 Menschenbilder
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um 500 v. Chr.4612 Die Moorleichen von Tollund, Grauballe und Borremose haben über ihren analysierten Mageninhalt bzw. Verdauungstrakt die Pflanzenreste der Umgebung nachweisen lassen, die Kultur- und Wildpflanzen, auch Unkrautarten, die sowohl zur Ernährung gehört haben als auch über die Getreideernte mit in die Gehöfte gelangt sind (vgl. oben S. 415).4613 Neben der Frage nach dem Aussehen geht es bei den Moorleichen auch um die Deutung dieses Phänomens. Sie sind unterschiedlich behandelt und abgelegt bzw. versenkt worden. Es wird Unfallopfer, Mordopfer, versenkte „Wiedergänger“, Strafopfer oder Sakralopfer gegeben haben.4614 St. Burmeister plädiert für sakrale Opfer, anders als M. Gebühr, der sich eher für Wiedergänger oder Bestattungen entscheidet. Zur Kenntnis über die Kleidung tragen mehrere Objektkategorien bei. Das sind die meist tendenziellen römischen Bildnisse von Germanen, außerdem die Moorleichen, dann aber die eigenen Bildschöpfungen, die Goldbrakteaten (450–540), die Goldblechfigürchen (ab 500) – trotz ihrer Kleinheit mit besonders detailreichen Darstellungen der Bekleidung von Männern und Frauen –, und die jüngeren Helmbleche der Zeit (500–680) sowie die Pressmodel von Torslunda, wobei die Kleidung mit manchen Goldblechfigürchen zu vergleichen ist.4615 Die Helmbleche aus den vendelzeitlichen Gräbern von Vendel und Valsgärde oder auch von Sutton Hoo in England zeigen wie zuvor die Goldblechfigürchen Umhänge mit Borten, Hemden mit Ärmeln, Kaftan-Typen und Tuniken.4616 Wie die Moorleichen zu alt sind, so sind diese Bildüberlieferungen von Germanendarstellungen zu jung, und reale Bildnisse der ersten vier Jahrhunderte fehlen fast. Selten sind die textilen Hinterlassenschaften, die nur in Ausnahmefälle wie aus dem Moor von Thorsberg mit einem Mantel und einer Hose aufzuführen sind (vgl. unten S. 431).4617 Die hölzerne Figur eines Mannes mit (Gold-)Halskragen von Rude Eskilstrup, Dänemark, einem Moorfund aus dem 5. Jahrhundert Chr., wurde mit seiner Bekleidung schon besprochen, weil er einen Goldhalskragen trägt (oben Abb. 99.2) (vgl. S. 1225). Götter- und andere Männerfiguren aus Bronze, Statuetten römischer oder provinzialrömischer Herkunft wurden lokal im Norden nachgeahmt und teils auch mit eigener Kleidung versehen (vgl. oben S. 645).4618 Die Kleidung ist jedoch am deutlichsten auf den Goldblechfigürchen ausgeprägt, bei den Paaren sowie bei Mann und Frau, mit unterschiedlichen langen Gewändern, der Oberbekleidung aus Mantel / Umhang,
4612 Bauerochse, Haßmann, Püschel 2008; Bauerochse, Haßmann, Püschel, Schultz (Hrsg.) 2018. 4613 Willerding 1980, 148 Tab. 4. 4614 Burmeister 2007b; Gebühr 2002. 4615 Hagberg, Nyman 2006, 77 ff., Taf. 4. 4616 Steuer 1987. 4617 Bender Jørgensen 1992; Mannering 2017. 4618 Magnus 2019, mit Überblick zu Menschenbildern seit dem 4. Jahrhundert im Norden: Fig. 1 Grimstad, Norwegen, 3./4. Jahrhundert, Holzidol Höhe 1,16 m; Fig. 2 Rude Eskilstrup, Holz, Höhe 42 cm; Goldblechfigürchen; Fig. 6 bis 8 Männliche Figuren mit Goldhalsringen etc.
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25 Bilderkunst und Menschenbilder
Jacken, auch kaftanartigen Umhängen und der Unterbekleidung mit Tuniken, die unterschiedlich gemustert und mit Borten versehen sind. Allein diese Bleche zeigen eine beachtliche Variationsbreite der Gestaltung, bringen auch die Schuhe bzw. Beinkleider und Hosen. Die Kombinationen der Bekleidungen bei den Paaren unterscheiden klar Männer und Frauen. Die Goldbrakteaten zeigen immer Männer, mit Hemd, Hose, Gürtel und Krone bzw. Diadem sowie Waffen und Pferde. Die jüngeren Helmbleche und die Pressmodel von Torslunda bilden bei den bewaffneten Männern Umhänge ab mit gut heraus gearbeiteten Borten, hemdartiger Kleidung mit Ärmeln und ebenfalls kaftanartigen Anzügen und Tuniken. Es sind jeweils also Menschenbilder, bei denen zuerst auf die Bekleidung geachtet wird; körperliche Statur sind unter den Kleidern verborgen; Gesichter nur schematisch wiedergegeben. Die kaftanartige Kleidung auf den Goldblechfigürchen ist zu vergleichen mit weiteren bekannten, teils jüngeren Bildträgern, so mit den Kriegern auf den Patrizen von Torslunda oder den Helmblechen von Sutton Hoo und den Vendel- und Valsgärde-Helmen und mit der Scheibe von sowie zahlreichen weiteren Parallelen. Außer der Kleidung auf den Goldblechfigürchen wird auch der Stab, den mehrfach ein Mann senkrecht hält, in Parallelüberlieferungen verfolgt, in ganz Europa vom 6. bis ins 9. Jahrhundert.4619 Zwei ähnliche Köpfe menschlicher Figuren wurden in der Siedlung des 2./3. Jahrhunderts bei Hodorf, Kr. Steinburg, schon vor vielen Jahren gefunden.4620 Welchen Zweck sie dienten, bei dieser grob schematischen Ausführung, bleibt offen; ich erinnere an die Figur aus der Siedlung von Frienstedt, Stadt Erfurt, die eine kultische Bedeutung gehabt zu haben scheint, wie die römischen Parallelen, ebenfalls aus Keramik (vgl. S. 226). Es handelt sich um einen neuartigen Fundtyp, die Jupiter-Dolichenus Applik und die nachgeahmte Tonfigur mit Einstichen (vgl. S. 365).4621 Köpfe aus Stein aus meist unbekannten Zusammenhängen lassen sich doch teilweise in die ersten Jahrhunderte n. Chr. datieren.4622 Acht oder neun anthropomorphe, meist Männerköpfe werden aus skandinavischen Ländern aufgeführt, drei aus Norwegen, zwei aus Dänemark, weitere aus Schweden, davon zwei von Ravlunda in Schonen. Die Köpfe ähneln keltischen Skulpturen; jedoch ist von römischem Einfluss auszugehen; denn seit der spätrömischen Kaiserzeit gibt es Bildsteine, Widerspiegelung römischer Grabsteine, im Norden. Römische Statuetten wurden im Norden ebenfalls nachgeahnt, auf Öland und Fünen, und die Haartracht bzw. Helme und der Gesichtsausdruck sind mit den Steinköpfen zu vergleichen. Kleine Figurinen, Männerfiguren, – um darauf noch einmal zurückzukommen – gibt es in Skandinavien gar nicht so selten. Allein in Dänemark, vor allem auf Fünen, gibt es rund ein Dutzend Statuetten, ebenso sind Statuetten von Öland und aus Zen4619 Wamers 2019. 4620 Krüger u. a. (Hrsg.) 1976, 350 Abb. 99. 4621 Voss 2013, 211 Abb. 12. 4622 Zachrisson 2017, sieben Abbildungen, 360 Beschreibung der Statuetten, nach Lund Hansen 1987, 228; vgl. auch Capelle 1995a; Dahl 2007.
25.3 Menschenbilder
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tralschweden bekannt. Manche haben Ähnlichkeiten mit den Goldblechfigürchen und sind vergleichbar zu datieren.4623 Ob sie vorchristlichen Kulten zuzuweisen sind, wie die Goldblechfigürchen, oder ob bei diesen beiden Gruppen sich schon christliche Vorstellungen beigemischt haben, bleibt zu diskutieren. Wie in den ersten Jahrhunderten n. Chr. regelmäßig römische Vorbilder für germanische Kunstäußerungen gesehen werden, geschieht Vergleichbares dann nach 500 zwischen kontinentalem Christentum und dem Norden. Betrachtet wird das Verhältnis der skandinavischen Goldblechfigürchen zur Kunst der Römischen Kaiserzeit4624 oder auch zu frühbyzantinischen Goldobjekten mit ihren figürlichen Darstellungen. So wird auch gefragt, ob römische oder byzantinische imperiale Kleidung die Bildgestaltung auf den Goldblechfigürchen beeinflusst haben könnte.4625 Gegenüber einigen Deutungsversuchen mit Blick auf germanische Götter im Sinne von Karl Hauck bietet Siegmund Oehrl ebenfalls eher Verbindungen zur römischen Bildkunst.4626 Nicht zu übersehen ist jedoch, dass jeweils – wenn Vorbilder gewirkt haben – Umgestaltungen nach eigenen Vorstellungen erfolgt sind. Es geht um den Sinn der Bildbleche, wenn O. Sundqvist fragt, ob über menschenartige Bilder eine Kommunikation mit Gottheiten beabsichtigt war. Waren die Goldbleche Votive, Opfergaben, ein Gabentausch, gehörten sie in einen Hochzeitszusammenhang (wegen der Paare)?4627 Nach Alexandra Pesch galt das Kolloquium zu den Goldblechfigürchen von 2017, publiziert 2019, entscheidend der Frage, ob die Bildmotive nun Wurzeln in älterer skandinavischer Bildauffassung und der dazu gehörenden Gesellschaft mit ihrer Religion hatten, oder überwog doch der Einfluss aus kontinentalen römischen und byzantinischen Vorbildern. Nach diesen jüngeren Kleiderbildern sei wieder zurück auf die Moorfunde gegangen. Der mit Indigo gefärbte Prachtmantel von Thorsberg hat ebenfalls Borten; vergleichbar ist auch der Prachtmantel aus dem Vehnemoor (vgl. S. 431).4628 In Evebø/ Eide, Norwegen, stammen aus einem Grab der Zeit um 475 ein Umhang, eine Tunika bzw. ein Waffenrock und Hosen in rotbrauner Farbe. Im Grab von Högom, Schweden, der Zeit um 500, sind wiederum ein rotfarbener weiter Umhang, eine Tunika sowie Hemd und Hose nachgewiesen.4629 Die Frauen trugen immer lange Kleider. Kleiderfunde aus den ersten vier Jahrhunderten n. Chr. sind in den Niederlanden neu restauriert worden. Der Bericht erläutert auch die Textiltechniken, das Färben und Weben.4630
4623 Zachrisson 2019, zahlreiche Abb; Watt 2015a. 4624 Flecker 2019. 4625 Sv. Fischer 2019. 4626 Oehrl 2019. 4627 Sundqvist 2019. 4628 Spuren des Menschen 2019, 280 Abb. 8. 4629 Ramqvist 2000; Ramqvist, Müller-Wille 1988. 4630 Brandenburgh u. a. 2017.
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25 Bilderkunst und Menschenbilder
Im Kesselmoor von Huldremose in Jütland wurde schon 1879 eine bekleidete, weibliche, etwa 40 Jahre alte Tote entdeckt. Zur Kleidung gehört ein karierter Rock, ein kariertes Umschlagtuch, das um Kopf und Hals der Toten lag, und ein rundgewebtes langes peplosartiges Kleid, zwei dunkelbraune Schaffelle, wohl als Schulterumgang getragen. An einem der Felle hing ein Hornkamm mit durchbrochener Griffplatte. Die Datierung war lange umstritten, reichte von bronzezeitlich bis ältere Römische Kaiserzeit. Eine C-14-Datierung aus dem Schaffell nennt 95 n. Chr. (zum Jahr 2000), so dass diese Tote wohl um Chr. Geb. oder im Laufe des 1. Jahrhunderts n. Chr. versenkt worden ist.4631
4631 v. Carnap-Bornheim 2000a.
26 Runenschrift und lateinische Schrift Die Runeninschrift ist offensichtlich eine völlig eigene Schöpfung in Germanien, die von allen „germanisch“ sprechenden Bevölkerungsgruppen in Nord- und Mitteleuropa für einige Jahrhunderte, im Norden, in Bergen in Norwegen überliefert, gar bis ins hohe Mittelalter angewendet worden ist. Über Runen informiert am besten K. Düwel, was Entstehung, Verbreitung, die Runenträger und Runeninschriften sowie die kulturgeschichtliche Bedeutung im weitesten Sinne betrifft.4632 Mit überzeugenden Gründen ist heute davon auszugehen, dass diese Runenschrift – als stark abgewandelte römische Kursive – auf den Inseln der westlichen Ostsee Ende des 2. Jahrhunderts bzw. um 200 n. Chr. „erfunden“ worden ist. Sie wurde dann mit dem „Alphabet“, zuerst dem älteren Futhark mit 24 Zeichen, und dann nach dem 8. Jahrhundert im jüngeren Futhark, mit weniger Buchstaben, in derselben Form gleichbleibend benutzt.4633 Es wurde eine andere Reihenfolge der Buchstaben gewählt, nämlich F, u, th, a, r, k, was zur Bezeichnung Futhark im allgemeinen wissenschaftlichen Sprachgebrauch geführt hat. Jeder Buchstabe hatte im Übrigen nicht nur den Lautwert, sondern auch eine inhaltliche Bedeutung; „f“ meinte auch „fehu“ (Vieh). Die Diskussion bei Elmar Seebold vertieft noch die Überlegungen über die Weitervermittlung der Schrift bei den Kelten, die zuvor keine eigene Schrift entwickelt hatten, dann aber in Britannien um 400 n. Chr. eine neue Form erfanden, die sogenannte Ogam-Schrift, die aus einem Strichcode besteht.4634 Die vielfältigen Überlegungen über die Wurzeln der „germanischen“ Runen in der etruskischen Schrift, in den Alpenalphabeten und anderen Schriften führten schließlich doch zu der Überzeugung, dass die römischen Schriftzeichen als Vorbild gedient haben, denen man häufig begegnete, entweder bei Aufenthalten im Römischen Reich oder aber auch auf beschrifteten Objekten, die nach Germanien als Handelsgut oder Beute gekommen waren, nicht zuletzt auf den Münzen. Die Spezialisten für Runen, Klaus Düwel und Lisbeth M. Imer und auch W. Heizmann, haben über die Herkunft der Runen und den Zusammenhang mit der römischen Schrift informiert.4635 Die Schaffung einer eigenen Schrift (wie ebenso die eigenen Bildinhalte), doch in der Regel hochkulturelle Phänomene, zeugt von einer Gruppe von höchst qualifizierten Leuten, die es verstanden, Anregungen aus der antiken Welt der eigenen Kultur anzupassen und die zudem eine „stabile autoritative Instanz“ darstellten, weshalb sie Einfluss in Germanien insgesamt hatten. Zum Wesen und der Bedeutung der Runenschrift habe ich zu
4632 Düwel 2008; Krause 2017 bietet eine schlichte, informative Darstellung der Runenschrift und geht zudem auf den Mißbrauch nicht nur durch die Nationalsozialisten ein, sondern auch auf die Fortdauer des Unverstandenen bis in die Gegenwart. 4633 Allgemein dazu der Tagungsband Grimm, Pesch (Hrsg.) 2015; auch Stoklund 2006. 4634 Seebold 2009; Oehrl 2019b zu metrischen Runen der ersten Jahrhunderte n. Chr. 4635 Imer 2010; 2011; 2015a; Düwel 2010; Heizmann 2010; anders Reichmann 2011, 46. https://doi.org/10.1515/9783110702675-034
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26 Runenschrift und lateinische Schrift
einer Tagung über Archäologie und Runen Stellung genommen, zu Rängen, Runen und Ritualen.4636 Runen wurden in Holz oder auch in Metall geritzt oder in Tremolierstich eingepunzt. Die Zeichen der ältesten und immer noch umstrittenen Inschrift auf dem Nadelhalter der Fibel von Meldorf, Kr. Dithmarschen, aus der Phase B1, also dem frühen ersten Jahrhundert n. Chr., sehen wie Runen aus, bleiben aber bei der allgemeinen Schilderung der Runeninschriften weiterhin noch unberücksichtigt.4637 Eine frühe Inschrift findet sich auf dem Kamm von Frienstedt, Stadt Erfurt (vgl. S. 1252). Wenigstens erwähnt werden sollen die Überlegungen von Chr. Reichmann zur Entstehung der Runenschrift. Er geht davon aus, dass schon früh im 1. Jahrhundert n. Chr diese Schrift erfunden wurde. Die Schöpfer der Runen kämen aus der herminonischer Richtung, einem dortigen Stamm, der im Norden saß und nach Plinius ingvaeonisch einzuordnen gewesen sei, Die Vorlage sei römische Kapitalschrift, nicht die Kursive. Gewünscht war die Einführung einer literaturfähigen Schrift, wozu es aber kaum gekommen sei, doch sei das Futhark eigentlich ein Gedicht. Nicht alle Zeichen gehören in die Runenreihe des älteren Futhark, auch runenähnliche Zeichen sind überliefert. Es gibt eine Reihe von Lanzenspitzen der jüngeren Römischen Kaiserzeit, vor allem im Osten Germaniens, auf denen die Schriftzeichen ähnlich wie Runen aussehen und andere wie Tamga-Zeichen wirken.4638 Auf Pfeilspitzen aus dem Moor von Nydam sind ebenfalls runenähnliche Zeichen und Tierdarstellungen auf Waffen erhalten.4639 Aber dass auf Lanzenspitzen Ornamente angebracht wurden, ist nicht neu in der Kaiserzeit; denn schon für die vorrömische Eisenzeit sind Lanzenspitzen mit dekorierten Blättern aus dem späten 2. und mittleren 1. Jahrhundert v. Chr. bekannt,4640 und zwar sind es geometrische Muster, die eingehämmert worden sind. Funde gibt es nicht nur in Slowenien, sondern auch aus im Gebiet der PrzeworskKultur und ihrer Nachbarschaft. Runeninschriften sind einerseits mit Blick auf die Gesamtzahl der ausgegrabenen Objekte, auf denen hätte geschrieben werden können, äußerst selten und andererseits auch in der Regel – jedenfalls auf Metall – kaum zu erkennen und oft schwer zu lesen und noch schwieriger inhaltlich zu deuten. Dabei geht es nicht nur um die Inschriften versteckt auf der Rückseite von Objekten, sondern auch unmittelbar sichtbare Schriften fallen wenig auf. Wer hat sie damals gesehen und gelesen, außer den Besitzern der Sachgüter? Entscheidend war die Anwendung von Schrift, die dann aus sich heraus „wirkte“. Dieser Beginn der Verschriftlichung ist verbunden mit einer Exklusivität;
4636 Steuer 2015b. 4637 Düwel 2007, 167 Abb. 1; 2001, 23 ff. mit Abb. 3. 4638 Hachmann 1993. 4639 Oehrl 2011. 4640 Gaspari, Laharnar 2016 (2017).
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denn nicht jeder konnte „schreiben“ oder lesen.4641 Anders ist das anscheinend bei den Goldbrakteaten4642 und (seltener) bei Holzobjekten, die zudem wegen der größeren möglichen Beschriftungsfläche auch längere Runenreihen tragen, die jeweils verständliche Aussagen übermitteln. Zu beobachten ist weiterhin, dass Runologen und Archäologen oft vorbehaltlos annehmen, die Runeninschriften seien im Lebensbereich der Eliten entstanden und auch nur in dieser Ranghöhe verwendet worden. Regelmäßig schließen Archäologen von vornherein über die Runenträger, nämlich Fibeln oder Waffen, auf ein gehobenes Milieu der Besitzer. Es ist aber eine Argumentation im Kreis, wenn man die Trägerinnen von Fibeln aus kostbarem Material zu den ranghöchsten Familien zählt und damit auch die Runen diesem Milieu zuweist. Wir wissen nicht, wer in welchem Auftrag und zu welchem Sinn und Zweck die verschiedenen Sachgüter mit Runen beschriftet hat. Man befindet sich mit den runentragenden Objekten zwar durchaus im Bereich „wohlhabender“ Bevölkerungsgruppen, einer Elite unterschiedlichen Ranges. Doch dies sagt aus folgenden Gründen nur wenig über die vergangene Lebensrealität und die Bedeutung der Runen aus. Zuerst einmal ist die Zahl der Runeninschriften, wie immer man auch rechnet, tatsächlich äußerst gering, bei jedem Sachtyp, ob Fibel, Gürtelschnalle oder Schwert, liegt das Verhältnis von Inschrift zum Objekt vielleicht um 1:100 oder gar nur bei 1:1000. Das heißt, im Lebensumfeld ranghöherer Gruppen gab es Runenschreiber, aber diese ranghöheren Gruppen scheinen auffallend selten mit solchen Schreibern in Kontakt gekommen zu sein oder hatten selbst nicht das Bedürfnis, Objekte zu beschriften. Aufgrund der geringen statistischen Funddichte für Runen wirken die Runeninschriften auf Metall- und Holzgerätschaften wie zufällig entstanden. Diese Zufälligkeit der Überlieferung von Runeninschriften spiegelt sich eindeutig in den geringen Zahlen der Inschriften gegenüber der Menge an Objekten, die sich für eine Beschriftung eignen. Durch den Einsatz moderner Metallsuchgeräte ist z. B. die Anzahl der kleinen Goldblechfigürchen bei der intensiven Erforschung einiger Siedlungsplätze wie Sorte Muld auf Bornholm und Uppåkra weit mehr als verhundertfacht worden. Zwar tragen sie keine Runeninschriften wie parallel dazu manche Goldbrakteaten, deren Anzahl aber ebenfalls deutlich steigt und damit aber nur wenig die Zahl der Brakteaten mit Runeninschriften. Nur liegen die Brakteaten nicht in derart großen Zahlen in „Weiheplätzen“ dicht beieinander wie die Goldblechfigürchen. Insgesamt sind nur rund 300 nordgermanische Inschriften aus den ersten Jahrhunderten von 200 bis 700 registriert, davon 16 auf Fibeln. Im militärischen Milieu – meist aus den Kriegsausrüstungsopfern – sind unter 45 000 Objekten nur 30 mit Runen beschriftet, und zwar aus einem Zeitraum von 170 bis 520, also aus 350 Jahren. In Illerup gibt es unter 14 000 bis 15 000 Objekten nur neun mit Inschriften; aus
4641 Beck 2000b, 8 zur Exklusivität. 4642 Düwel 1988.
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Nydam mit 18 000 Objekten sind nur einige Pfeilspitzen mit runenähnlichen Zeichen versehen, eine kurze Inschrift und eine längere Zeichenfolge steht auf einem Axtstiel. Beim Abschluss der Publikation „Danmarks Runeinskrifter“ 1941–42 waren gerade einmal 19 Inschriften bekannt (außer den Inschriften auf Brakteaten), während die Zahl bis 1995 durch die Funde in den Mooren immerhin auf 30 Gegenstände mit Runen angewachsen ist. Aber deutlich weniger als ein Zehntel der Prunkfibeln tragen eine Runeninschrift. Von den 19 der nach römischem Vorbild kopierten Voluten-Ortbänder aus dem Thorsberger Moor zeigt nur eines eine Runeninschrift. In diesem Moor sind unter anderem über 40 Fibeln mit hohem Nadelhalter präsent, die sich für Runeninschriften anbieten, aber keine ist beschriftet. Der Runenforscher Klaus Düwel4643 meint, „unter den Tausenden von Kämmen von der Kaiserzeit bis ins späte Mittelalter hinein gibt es nur gut 40 runenbeschriftete Exemplare“, unter den 22 Kämmen von Vimose findet sich nur einer mit Runen. Jetzt gibt es immerhin als neuen, in die zweite Hälfte des 3. bis in den Beginn des 4. Jahrhunderts datierten Fund einen Kamm mit Runeninschrift in der Siedlung Frienstedt, Stadt Erfurt, gefunden im Jahr 2000 in einem Zentralort mit Buntmetallschmieden, Gräbern und einer Kultstätte, wo in einer Grube bzw. in einem Schacht (Befund 215) als Opfer (?) auch dieser Kamm entdeckt worden ist.4644 Die Inschrift wird gelesen als kaba, also „Kamm“. Es gibt 2018 nun schon um die 50 Kämme mit einer Runeninschrift. Dazu zählt der Kamm aus dem Moor von Vimose von 1865 mit Runeninschrift, und aus diesem Kriegsausrüstungsfund sind bis heute 70 andere Kämme aus Geweih geborgen worden.4645 Der Kamm von Vimose wird jetzt zwischen 150 und 160 n. Chr. datiert, und trägt daher die älteste Runeninschrift aus dem dänischen Gebiet. Die Zeichen sind zu lesen als harja, ein Männername, der mit *hari/Heer zusammenzubringen ist, wobei die Frage offen ist, ob es um den Eigentümer oder den Runenritzer geht, oder die Inschrift mit hár ist zu verbinden, also „zum Haar gehörend“, was eigentlich auch ganz gut passt. In den Mooropferplätzen gibt es die unterschiedlichsten Runenritzungen; so eine Herstellerinschrift in Zierrunen auf einem Holzschaft aus dem Moor von Nydam.4646 Die Fibeln der späten Römischen Kaiserzeit mit Runeninschrift hat M. J. Przybyła 2015 zusammengestellt und katalogartig vorgelegt.4647 Die meisten Stücke kommen aus Jütland und von Seeland, einige sind über ganz Europa verteilt.4648 Zumeist handelt es sich um Rosettenfibeln (der Almgren Typen 196–197) aus Silber mit Vergol-
4643 Düwel 2008, auch 2010. 4644 Chr. Schmidt, Nedoma, Düwel 2013. 4645 Düwel 2018b, 335 Datierung von Vimose nach M. Stoklung 2006, 411; 336 f. der Kamm von Frienstedt; Voss u. a. 2019 bzw. Spuren des Menschen 2019, 282 Abb. 10 Runeninschrift in Farbe hervorgehoben. 4646 Nedoma, Rau 2012/2013 (2014). 4647 Przybyła 2015; vgl. auch schon Seebold 1994a, mit Taf. 1–3 nach S. 86. 4648 Przybyła 2015, 367 Fig. 3Verbreitungskarte.
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dung und hohem Nadelhalter, der sich für eine Beschriftung gut eignet.4649 Von wem und an wen waren diese Inschriften gerichtet? Oft tragen sie einen Männernamen mit dem Attribut, „gemacht von“, zugleich mit der Herstellung der Fibel geritzt oder später erst eingraviert. Die Fibeln gehörten zur Frauenkleidung, und die Fibeln waren wohl vom Partner gewidmet worden. Auch Waffen sind manchmal mit Runen versehen worden.4650 Die Beziehung speziell der Goten zu Runen wurden schon vor vielen Jahren von R. Hachmann bearbeitet.4651 Herausragende Schmuckstücke sind Halsringe, die eine Runeninschrift tragen. Der Runenreif von Aalen, Baden-Württemberg, aus Silber mit Almandineinlagen und 152,5 g Gewicht4652 trägt die kurze Inschrift noru, was ein Männername sein könnte, da die meisten dieser Ringe von Männern getragen wurden.4653 Der Ring gehört zu einer Gruppe von derartigen Halsringen des 4./5. Jahrhundert und hat seine Almandineinlagen aber wohl erst im 6. Jahrhundert erhalten. Berühmter noch ist der Halsring aus dem Schatzfund von Pietroassa, Rumänien, aus dem späten 4. oder der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts mit der Inschrift in gotischer Sprache gutani ( ) o wi hailag, was vielleicht als „der Goten Erbbesitz, geweiht und unverletzlich (oder sakrosankt)“ gelesen wird.4654 Ebenfalls jünger, datiert in das zweite Viertel des 5. Jahrhunderts, ist das reich hergerichtete Bootgrab von der Fallward bei Wremen in der Wesermarsch. Zur Grabausstattung gehörten die beschriebenen Holzmöbel (vgl. S. 206), darunter ein Schemel oder eine Fußbank, mit zwei Runeninschriften; die eine benennt das Möbelstück direkt als Schemel, die andere erläutert die geschnitzte Illustration als Hirschjagd. Die Runeninschrift ist zu lesen wie ksamella alguskađi, wobei der erste Teil als skamella zu lesen „Schemel“ bedeutet; der zweite Teil, gegliedert in alguskađi bzw. algu und skađi, wird gelesen als Elch oder Hirsch und „schädigen“ (also Hirschschädigung oder Elchjäger).4655 Aufgrund der Indizien darf es erlaubt sein, hier ein dazugehörendes Großgehöft wie auf der Feddersen Wierde und ein „Fürstengrab“ zusammen zu sehen. Damit ist Runenkenntnis in dieser ranghöheren Gruppe am Ort anscheinend bewiesen, sicherlich hat der Holzschnitzer, der die Möbel mit „römischer“ Kerbschnittornamentik verziert hat, auch die Runen eingeschnitten. War es ein „abhängiger“ Handwerker? Wie man chronologisch trennen muss zwischen der Herstellung des Objektes und der Ritzung der Runeninschrift – außer z. B. bei den Brakteaten, auf denen sie mitgeprägt wurden –, so muss auch deutlich werden, dass die Objekte, das heißt Fibeln oder Waffen, nicht
4649 Przybyła 2015, 365 Fig. 1 Beispiele. 4650 Düwel 1981. 4651 Hachmann 1994–1995. 4652 Wamers u. a. 2000, 39 Abb. 16 Karte der Halsringe in Süddeutschland. 4653 Wamers u. a. 2000, 19–23 (K. Düwel „Zur Runeninschrift“) und 24–28 (R.Nedoma „Runologische Deutung der Inschrift“). 4654 Nedoma, in: Wamers u. a. 2000, 24 f. mit Abb. 12; Harhoiu, Nedoma, Pieper 2003, 157. 4655 Schön 1995; Schön, Düwel 2007. 249–251, und Taf. 9 b-d.
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von den Angehörigen der Oberschicht hergestellt worden sind. Letztere haben nur den Auftrag erteilt an Handwerker und Waffenschmiede, die an den Höfen der Großen gearbeitet haben werden, auch Runen zu ritzen oder einen Runenritzer zu finden. Auftraggeber, Handwerker und Runenschreiber, das sind drei verschiedene gesellschaftliche Gruppen. Wen fassen wir über die Runeninschrift und über deren Inhalt? Wie steht es mit der chronologischen Situation der Texte, die sich vom Aufkommen der Runen als Nachahmung lateinischer Handwerker- bzw. Werkstattinschriften zu längeren Inschriften mit profanen und religiösen Inhalten entwickeln? Schließlich kommt man auch bei der Suche nach Ranghöhe der Runeninschriften nicht vorbei an der Frage, warum und für wen diese Runenschrift überhaupt entstanden ist. Im 2./3. Jahrhundert finden sich im südwestlichen Ostseeraum die ältesten Runeninschriften, aber auch zahlreiche Objekte mit römischen Inschriften, nicht nur auf Münzen. Warum ist überhaupt gegen 200 wahrscheinlich auf einer dieser dänischen Inseln die Runeninschrift geschaffen und dann weitreichend von anderen Leuten in Germanien übernommen worden, obgleich gerade im Umfeld der frühen Runen ausreichende lateinische Inschriften auf römischen Objekten bekannt waren? Lisbeth M. Imer4656 hat erläutert, dass zumindest in der Anfangszeit der Inhalt der römischen Inschriften auf importierten Sachgütern nachgeahmt wurde auf den am Ort produzierten Sachgütern, die Handwerker- bzw. Herstellernamen enthalten oder auch Besitzerinschriften. Aus den ersten beiden Jahrhunderten n. Chr. sind immerhin 49 lateinischen Inschriften, aus den nachfolgenden beiden Jahrhunderten sind nur rund 50 Runeninschriften überliefert, aber über 100 lateinische Inschriften auf Waffen und auf mehr als 12 000 Münzen. L. Imer zählt 2003 insgesamt 293 Runeninschriften, aus der Phase C1b (bis Mitte 3. Jahrhundert) 27 Inschriften, aus der Phase D2a (zweite Hälfte 4. Jahrhundert) 161 Inschriften. Beide Arten von Inschriften, lateinische und germanische, sind im selben Raum überliefert; die Herstellungsmarken sind lateinisch, und ebenso erscheinen auf den germanischen Waffen aus zentralen Werkstätten wohl zuerst Herstellerinschriften in Runenschrift. Ein Wort und Begriff wie etwa wagnijo imitiert lateinische Stempel, bringt den Namen des Waffenschmiedes. Man kann von einer bewussten Abgrenzung gegenüber der römischen zivilisatorischen Übermacht sprechen, indem man auch für diese Kennzeichnung ein eigenes Schriftsystem entwickelt hat und sich damit von der Schriftkultur Roms löste. Es sieht so aus, als ob sowohl bei der Übernahme der römischen Bildmotive als auch des Schreibens bewusst eine Trennung vom römischen Vorbild das Ziel gewesen ist, was dann im gesamten Germanien so gesehen wurde. Einen entscheidenden Zugang zur Ranghöhe von Objekten mit Runeninschriften könnten die Fundmengen aus den Heeresausrüstungsopfern der südlichen Ostsee, also die Hinterlassenschaften von besiegten Kriegern, deren Waffen und persönlichen Ausrüstungsgegenstände, eröffnen. Die Heereseinheiten sind in sich nach Rang
4656 Immer 2007; 2011; vor allem 2015a.
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gestaffelt von der höchsten Spitze der Anführer über Reiter- und Schwertkrieger zu Fußkämpfern mit Lanze und Speer. Der Vergleich von Resten der Prunkschilde aus dem Moorfund von Illerup, aus der Siedlung Gudme sowie aus dem Fürstengrab von Gommern in Mitteldeutschland zeigt, dass diese Krieger zur obersten militärischen Gruppe gehörten, aber ihre Waffen tragen selten eine Runeninschrift, während die Waffen der nächsten Ränge öfter Runen zeigen. Dass diese Runen schon in zentralen Werkstätten von Gefolgschaftsanführern als Werkstattmarken angebracht worden sind, also als Nachahmung römischer Werkstattmarken, hat Lisbeth M. Imer wie erläutert überzeugend erklärt, und zwar sind die Inschriften erst nach der Herstellung von einem Gefolgsmann eingeritzt worden – aber wahrscheinlich längere Zeit vor der Niederlegung. Immerhin zwei der fünf Prachtschilde in Illerup Platz A (frühes 3. Jahrhundert.) sind runenbeschriftet, in dänischen Gräbern einer weiblichen Oberschicht mit Rosettenfibeln des 3. Jahrhunderts sind fünf von insgesamt rund 50 solcher Fibeln beschriftet und in norwegischen Gräbern einer weiblichen Oberschicht mit Relieffibeln (spätes 4.-6. Jahrhundert) sind vier von insgesamt rund 60 Fibeln beschriftet. Auf der Fibel von Skovgårde, Præsto amt, Grab 209, auf Seeland, datiert in die Phase C2 (etwa zweite Hälfte 3. Jahrhundert) steht etwa lamo: talgida (Lamo hat geritzt) (Abb. 100).4657 L. M. Imer hat die Runeninschriften aus dem Thorsberger Moor beispielshaft als Reflex auf die römische Schrift erklärt,4658 als Reaktion auf römisches Schreiben.4659 Auf dem Krempenrand eines Schildbuckels aus dem Thorsberger Moor steht die eingepunzte römische Inschrift AEL AELIANVS, wohl eine Besitzerinschrift, auf einem andern Schildbuckelrand die eingeritzte Runeninschrift a(n)sgzh und auf einem Ortband stehen zwei Runeninschriften owlđuđewaz (zu lesen etwa als Namen ‚WulđuđewaR‘ oder ‚UllđeR‘) und auf der anderen Seite niwajemariz (zu lesen etwa als Namen des Schwertbesitzers). Die Lesungen sollen hier nicht näher diskutiert werden, was ein komplexes Problem für die Runenforschung ist und bleibt. Man kann sich noch fragen, warum keine lateinischen Inschriften von germanischer Hand in Germanien gefunden werden, da römisches Militär ihre Waffen oder andere Besitztümer mit Inschriften markierten. Ein Beispiel ist nur der genannte Schildbuckel mit Kampfspuren aus dem Moor von Thorsberg, Kr. Schleswig, auf dessen Rand der erwähnte lateinische Besitzername AEL(ius) AELIANUS eingepunzt ist und der jedoch auf einen germanischen Schild montiert war, dem Schild eines besiegten Römers oder eines gegnerischen Germanen aus dem 3. Jahrhundert. Es liegt auch ein weiteres römisches Schildbuckelfragment mit einer Runeninschrift vor, die aber nicht zu lesen war, als der Buckel auf dem Schild saß, d. h. die Inschrift war vor der Montage eingeritzt worden oder aber erst nach der Zerstörung des Schildes kurz vor der Opferhandlung. 4657 Stoklund 2005, 28 f.; Przybyła 2015, 365 Fig. 1. Fibeln mit Runeninschrift, Fig. 1.3 Fibel von Skovgårde Grab 209, Seeland. 4658 Düwel 1981; Imer 2015b, 111 ff. mit den Abb. Fig. 3 und 4 bis 6. 4659 Imer 2015a; 2015b.
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Abb. 100: Rosettenfibel mit hohem Nadelhalter von Skovgårde, Seeland, auf dem die Runeninschrift eingeritzt ist.
Es bleibt Spekulation und führt zurück zur Frage, warum überhaupt die Runeninschrift entwickelt wurde, als bewusste Absetzung gegenüber der lateinischen Schrift, die man auf vielen Importgütern und den Münzen ständig sehen (und lesen?) konnte, und ob Germanen als Söldner in römischem Dienst mit römischem Bürgerrecht (wie früher Arminius) dann zwischen den Stühlen saßen, weil sie das Lateinische lesen und schreiben konnten, zuhause aber nicht Latein schreiben wollten, um nicht aufzufallen, und eher die Runenschreibung übernahmen. Später war das anders, zumindest in Süddeutschland. Bei der Auswertung von Inschriften im süddeutschen Raum für das 6. Jahrhundert gibt es sogar ein Beispiel von lateinischen Buchstaben und Runen auf demselben Objekt, und auf demselben Fundplatz kamen weitere Objekte mit Runen und solche mit lateinischen Buchstaben zeitgleich vor. Die Runentexte bieten – neben den Hinweisen auf Handwerkerzeichen – „erste Zeugnisse einer germanischen Dichtersprache“, beispielsweise eingliedrige Waffennamen wie raunijar (Erprober) auf dem Lanzenblatt von Øvre Stabu, ranja (Renner) auf dem Lanzenblatt von Dahmsdorf, tilarids (Hinreiter) auf dem Lanzenblatt von Kowel, oder auch sogenannte Kenningar wie widuhu(n)dar (Waldhund entspricht
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Wolf) auf einer Fibel von Himlingøje und walakurne (auf demWelsch, aus dem Süden stammend, für Korn und Gold) auf dem Brakteaten IK 184 von Tjurkö (I)-C/Målen. Dazu kommt noch die Runeninschrift im Stabreim auf einem der Hörner von Gallehus (vgl. S. 1235).4660 Einerseits zeigen also die Inschriften auf Waffenteilen aus den Mooren durchaus einen Bezug zur Ranghöhe der Krieger an und damit die Verwendung von Runen im gehobenen Milieu; aber andererseits fehlen gerade in den reichsten „Prunkgräbern“ des 3./4. Jahrhunderts Runeninschriften, in den Gräbern der Gruppe Haßleben-Leuna oder auch in den singulären Prunkgräbern wie Gommern oder Mušov. Entweder – das ist aber nur spekulativ – hat die Anwendung der Runenschrift diese Gegenden noch nicht erreicht, da in den Gräbern auf den dänischen Inseln wie Seeland mit Himlingøje die frühesten Befunde vorliegen, oder die Spitzenränge schrieben und lasen nicht selbst, sondern nur ihre nachgeordneten Leute, wenn nicht gar nur die Waffenschmiede. Es geht also auch bei dieser Frage zentral um die Datierung der Runeninschriften selbst, weniger der Objekte, denn diese können auch später noch beschriftet worden sein. Auf Seeland ist das Ritzen von Runen auf Metall zuerst bekannt; wann diese Kenntnis Mitteldeutschland (die Leute der Haßleben-Leuna-Gruppe) erreicht hat, ist offen. Da hilft der Fund aus dem oben genannten Frienstedt weiter, ein Knochenkamm, auf dem in Runen das Wort „Kamm“ steht, datiert in die zweite Hälfte des 3. Jahrhunderts, der aber auch importiert worden sein kann. Für den Archäologen ist es zudem verblüffend, dass der Inhalt der Runenbeschriftungen auf den Metall- und Holzobjekten öfter wie eine „unmittelbare“, erklärende Aussage wirken. Einen Kamm als „Kamm“ zu bezeichnen, einen Schemel als „Schemel“ oder das Bild eines Hirschs/ Elchs, dem ein Hund ins Genick springt, als „Hirsch/Elchschädiger“ zeigt einerseits die „Erläuterung“ des Objekts oder der Szene und andererseits wohl den Wunsch, dass Sprache bzw. Wörter und Bilder in Schrift umgesetzt werden konnten, also Schreibvermögen, oder dass das Schreiben einer Inschrift selbst zusätzlich ein magischer Akt war. Ähnliches trifft auf Namen zu, die Schenker oder Beschenkte nennen, eine Widmung ausdrücken. Nüchterner, aber üblich ist auch der Hinweis darauf, wer die Inschrift geschrieben oder das Objekt hergestellt hat. Die insgesamt längeren Inschriften im älteren Futhark sind in hölzerne Gegenstände eingeritzt worden: Auf dem Hobel von Vimose (der bruchstückhafte Hobel von Illerup hat nur eine kurze Inschrift) oder auf dem Axtstiel von Nydam; auf der hölzernen Schachtel oder dem Behälter von Stenmagle/Garbølle der Zeit um 400, wo es heißt: „tawide/machte“; auf dem beschriebenen Möbelstück, dem Schemel oder einer Fußbank, in der Fallward bei Wremen, datiert um 420. Derselbe Handwerker hat sowohl die Ornamentik als auch die beiden Runeninschriften am „Herrenhof“ gefertigt, die zwei Blöcke mit Runen zu je acht Zeichen („Schemel“ und „Hirsch/Elchschä-
4660 Heizmann 2019, 303, nach Düwel 2008; auch Oehrtl 2019b, 265.
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digung“). Längere historisch bedeutsame Inschriften –ich wiederhole diese – finden sich auf dem Gallehus-Horn („Ich, Hlewagastiz, Sohn des Holt machte [tawido] das Horn“) aus der Zeit um 400 oder etwas jünger, und aus ganz anderem geographischen Zusammenhang auf dem Goldring von Pietroassa in Rumänien aus dem 4. Jahrhundert mit der Inschrift (gutaniowihailag oder gutanixwihailag, etwa „der Goten Erbbesitz, geweiht und unverletzlich“). Wenn das Objekt spricht („Ich bin ein Kamm“, „ein Schemel“; oder auch: „hat mich gemacht“), wer hat dann geschrieben? Der Handwerker oder dieser auch als ein „Runenmeister“? Kaum jedenfalls der (Be-)Nutzer des Gegenstandes. Welchen gesellschaftlichen Rang erfasst man damit? Wenn der Handwerker selbst spricht („Ich habe das gemacht“), dann ist der Rang des in der Regel „Abhängigen“ deutlich, aber die Herrschaft steht als Auftraggeber dahinter. Wenn ein wertvolles Objekt geschenkt oder gewidmet wird, dann ist es zuvor hergestellt worden; der Schenker bzw. die Schenkerin, also jemand aus gehobenem Milieu, hat den Gegenstand vom Handwerker erhalten und dann beschriftet – oder schenkte und schrieb etwa der Handwerker selbst, im Auftrag des Schenkenden? Zur Runeninschrift alu, die sehr häufig allein oder in einem größeren Zusammenhang erscheint, gibt es nun auch diese Inschrift auf Urnen von Spong Hill, Norfolk in England, datiert 450–550.4661 Eigentlich geht es um „Pre-Old English“ Runeninschriften. Das Gräberfeld ist 1972 bis 1981 ausgegraben worden; in drei Urnen ist dieses kurze Wort mit demselben Stempel eingeprägt worden. Sehr häufig kommt das Wort alu auf Goldbrakteaten vor, aber auch auf Knochen und Holzgerätschaften. Entfernt hängt es mit dem modernen Word ale/Bier zusammen und hat in der Frühzeit auch eine Beziehung zu Getränken und Trinkgefäßen. Im Übrigen beschreibt G. Waxenberger auch die Beziehungen zwischen den Keramikformen vom englischen Spong Hill mit rund 300 Gräbern sowie den drei Runengefäßen und den Gräberfeldern Westerwanna (sächsisch), Bordesholm und Süderbrarup (anglisch), die zwischen 1000 und 5000 Bestattungen haben.4662 Auf diesen gibt es ebenfalls vergleichbare Urnenformen sowie unter den Beigaben kreuzförmige Fibeln und Tutulusfibeln sowie Miniaturgerätschaften wie Scheren und Pinzetten. Immerhin scheint die Verwandtschaft zwischen den Gräberfeldern in SchleswigHolstein (Bordesholm und Süderbrarup) und Spong Hill enger gewesen zu sein als zu Westerwanna. Geht es da um die Herkunft der Einwanderer, oder um welche Fernbeziehungen, frage ich (vgl. S. 819)? Das ist abzulesen nicht nur an Gefäßformen und Grabbeigaben, sondern auch an dem eigentlich skandinavischen Runenwort alu, das auch auf einem Axtstiel in Nydam steht, datiert um 350 n. Chr. Alu reflektiert einen Dialekthintergrund der germanisch sprechenden Kolonisten in England. Zudem weise ich darauf hin, dass es ab und zu auch Runenzeichen auf
4661 Waxenberger 2018 mit Lit. über die Diskussion zu alu; Düwel 1988, 104; 2001, 53; Heizmann 2005, 470 f. 4662 Waxenberger 2018, 617 f.
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Gefäßscherben auf dem Kontinent gibt.4663 Das Runenwort laukr (Lauch) ist auf Brakteaten zu lesen (vgl. S. 1211). In Achim-Bierden, Ldkr. Verden, waren ein Topf und eine Schüssel bisher als Urne mit Deckschale angesprochen, und die runenähnliche Inschrift auf der Schüssel wurde übersehen. Es handelt sich um Keramik des 4./5. Jahrhunderts, die wohl aus der benachbarten Siedlung bei Umlagerung hierher ins Urnengräberfeld geraten ist; denn Schalen gibt es dort nicht. Ob es sich um die Einritzungen um Runen handelt, wird pro und kontra diskutiert. Vier linksläufige Zeichen oder Runen sind zu erkennen, aber eine Lesung oder Deutung der Folge dbmx ist nicht möglich. Auf der Trichterschüssel gibt es neben den Runenzeichen noch ein quadratisches Schachbrettmuster.4664 Runen finden sich ebenfalls auf Keramik in einer Siedlung der Przeworsk-Kultur an der Rawka in Mittelpolen.4665 Wenn man selbst nicht schreiben konnte – so wie für das hohe Mittelalter vielfach überliefert – und man zu einem Schreiber ging und diktierte, dann schrieb also wieder nicht ein Mitglied der Oberschicht, sondern man ließ von einem Spezialisten schreiben, dessen Rang diskutiert wird. Meist muss offenbleiben, ob Personennamen als Besitzer- oder Hersteller-, als Schenker-Inschriften oder Ritzer-/Schreiberinschriften erkannt werden können. Betrachtet man weniger die Grabfunde, dafür mehr die Fundstellen der Gräber und ihr Umfeld selbst, dann zeigt sich im skandinavischen und dänischen Raum, dass diese Gräber im Weichbild von Zentralplätzen mit erschließbaren Werkstätten für Schmuck und Waffen liegen. Darüber ist nun eine weitere Rangfolge mit Blick auf Runen aufzustellen: Vom übergeordneten „Herrn“ als Auftraggeber über den „Priester“ oder „Meister des Rituals“, der den kultischen Inhalt formulierte, bis hin zu den Handwerkern, die die Objekte herstellten und auf Anweisung die Runen anbrachten oder von einem Schreiber einritzen ließ. Schließlich muss man sich einigen, wie Oberschicht definiert werden könnte, wenn es um Runenzugehörigkeit geht. Es gab Rangunterschiede unter den „großen“ Familien und in den Familien selbst auch, es ging um Familienränge, nicht um Personenränge. Wie sind da Krieger als „Herr“, Handwerker, Hofschreiber, gute und schlechte Schreiber, Intellektuelle zuzuordnen? Überhaupt noch nicht näher thematisiert wurde, ob nicht Römer sogar im Auftrag eines Großen das Schreiben mit Runen eingeführt haben, so wie römische Handwerker bzw. im römischen Reich ausgebildete Handwerker inmitten Germaniens typisch römische Drehscheibenkeramik herstellten, wie etwa im thüringischen Haarhausen. Die älteren Inschriften nennen selbst nicht selten den Schenker eines Objekts, doppelt so häufig den Runenritzer und noch einmal doppelt so häufig formulierte Wünsche, eigentlich schlichte, fast triviale Aussagen. Das lässt ahnen, Schreiben war einfach anscheinend doch üblicher, als die knappen Überlieferungssituationen spiegeln. Der Charakter der frühen Runeninschriften zeigt vielleicht, dass vermutlich
4663 Karwowski, Droberjar (Eds.) 2009, 383, Abb. 5–7 Runenzeichen. 4664 Oehrl, Precht 2018, 209 f. Abb. 8 bis 10 Fotos der Runen. 4665 Skowron 2009, 383 Abb. 5 bis 7, 390.
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mehr Menschen die Kunst des Schreibens beherrschten als nur eine „Priesterkaste“ oder einige Handwerker. Oftmals waren die Runeninschriften, weil das vom Objekt her nicht anders möglich war, auf Rückseiten oder anders „versteckt“ eingeritzt, was darauf hinweist, dass man die Runen zuerst nur bei der Übergabe des Gegenstandes lesen oder eben für die Dauer den Inhalt für das Gedächtnis reservieren sollte (so wie man heute in die Innenfläche der Eheringe Namen und Daten eingravieren lässt). Die Waffenschmiede kopierten römische Waffen, nicht nur Schwerter, aber vor allem Schwertortbänder und die Aufhängungen der Waffen. Aber sie kopierten nicht die lateinischen Buchstaben. Es gibt einige Runeninschriften auf römischen bzw. stark von römischen Vorbildern beeinflussten Objekten, wie z. B. die Möbel aus dem Bootsgrab von der Fallward bei Wremen in Niedersachsen, mit der Nachahmung des römischen Kerbschnitts und des Astragalornaments. Es scheint so, warum auch immer, als sei zuerst tatsächlich lateinische Schrift für profane Zwecke im Rahmen der Objektproduktion in Runen nachgeahmt worden. Später hat sich die Verwendung auf andere Lebensbereiche ausgeweitet, vom Zwischenpersönlichen auf das Kultisch-Religiöse. In mehrere, unterschiedliche Bereiche gehörten die Runeninschriften, in profane, kultische oder magische Zusammenhänge. Die Waffen mit Runen des 2. Jahrhundert und der Folgezeit bis ins Hochmittelalter hat F.E. Grünzweig 2009 aufgelistet,4666 die verzierten Lanzenspitzen mit Runen der jüngeren Römischen Kaiserzeit R. Hachmann schon 1993.4667 Die Inschriften verliehen der Waffe gewissermaßen eine höhere Weihung und damit Macht im Kampf. Meine ausführliche Erläuterung zur Runenschrift hat nicht zuletzt darin seinen Grund, dass die Runen im gesamten Germanien übernommen wurden und für Jahrhunderte die eigentliche und eigene Schrift war. Ein seltenes Beispiel dafür, dass es also Gemeinsames für alle Bewohner Germaniens gab, für die ein „Zusammengehörigkeitsgefühl“ als „Germanen“ nicht erkennbar ist. Ähnlich ist bei den Tierstilen zu argumentieren, die dieselbe Bevölkerung anwendete und die sich von römischen, byzantinischen, awarischen oder reiternomadischen Stilen unterscheiden. Einige Runen auf Goldbrakteaten und auf einem Goldsolidus, werden in ihrer Aussage als problematisch angesehen,4668 und deshalb sind die trotz der angebotenen Lesungen mit Vorsicht zu betrachten. Auf Knochen sind Runen aus Funden in der Weser, den sogenannten Weserrunen der Zeit um 400 überliefert.4669 Bei der Vorstellung dieser Objekte bespricht P. Pieper auch andere Inhalte von Runentexten mit Blick auf Kampfesmagie unter den Fragen „Fluchweihe“ oder „Kampfesweihe“. Die Runenknochen wurden 1927/1928 gefunden, galten zeitweilig als Fälschungen, ehe man sich darauf einigte, dass wenigsten etwa drei von den Stücken echt und alt sind. Die Texte 4666 Grünzweig 2004. 4667 Hachmann 1993. 4668 Düwel 2018a. 4669 Pieper 1999; 2006, 496 ff. Abb. 70–73, Abb. 74 Segelschiff; Düwel 2001 (3. Aufl.) 65, 213 f., auch 2008.
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weisen auf militärische Unternehmungen am Ende der Römischen Kaiserzeit gegen Nordgallien und England hin, und sie können nur im Rahmen kultischer, magischer oder ritueller Handlungen eine Funktion gehabt haben. Auf einem der Runenknochen ist außerdem ein Segelschiff eingeritzt, und wenn man die drei Inschriften im Zusammenhang sehen will, dann kann es um Krieg und Schlacht gehen. Das Schreiben an sich war in Germanien aber eigentlich nicht notwendig. Nur deshalb ist darin eine Imitation zu sehen, weil römisches Schreiben in den Legionen üblich war, und das musste nun auch bei den Germanen eingerichtet werden, um gegenüber Rom Gleichrangigkeit zu zeigen. Schätzungen gehen davon aus, dass 20% der Bevölkerung im Römischen Reich lesen konnte.4670 Im Lager Vindolanda aber entstanden 1900 Schreibtäfelchen in römischer Kursive innerhalb von zehn Jahren, was eine allgemeine Schreib- und Lesefähigkeit zumindest im militärischen Umfeld beweist.4671 Holz war auch in Germanien die eigentliche Schreibunterlage, die aber nur selten erhalten bleiben konnte, so in Illerup, Nydam und Kragehul. Im Netzwerk der Fürstengräber vom Typ Haßleben-Leuna konnte sich eigentlich die frühe Runeninschrift ausbreiten bzw. die frühe Runenschrift spiegelt diese Kontakte, auch wenn sie in den Gräbern selbst nicht vorkommt. Die These, dass der Grund für die Einführung der Runenschrift gewesen sein soll, eine römische imperialistische Ideologie zu imitieren, klingt nicht überzeugend. Statt lateinischer Schrift, die man – wie gesagt – auch gut kannte, eine über Auxiliareinheiten bzw. Söldnergruppen vermittelte andere Lösung für das Schreiben zu finden, stellt doch eher eine Unabhängigkeitserklärung dar. Unter der Tetrarchie wurden germanische Krieger in Massen rekrutiert für die neuen römischen Legionen, rund „100 000 Mann“, die also Übermittler sein konnten.4672 Die Germanisation des römischen Militärs führte – so Svante Fischer mit einem neuen Ausdruck – zur „Kleptocracy“.4673 Ob also nun die Runenschrift im Ostseegebiet erfunden und gemeingermanisch aufgenommen wurde in Opposition zur lateinischen Schrift, oder ob hierbei der römische Imperialismus eine Rolle gespielt haben könnte, ist ein Interpretationsgegensatz. Dabei ist direkter römischer Einfluss durchaus zu bezweifeln, da es sichtlich eine Entscheidung eben gegen Rom war.4674 Zu dieser These von Sv. Fischer von 2005, dass die Einführung der Runenschrift eine Imitation römischer Strukturen gewesen sein könnte, gibt es außer seiner Behauptung auch weitere Publikationen, die er heranzieht, z. B. von H. Williams.4675 Dessen Ziel ist, diese Imitationen zu sehen: Von der Rolle der Spielbretter in den Fürstengräbern bis zur Übernahme des Charonspfennigs ist Rom Vorbild gewesen, weshalb man den Namen in Runen schreiben wollte, wie das die Römer auf ihren Sachen machten, 4670 Rüger 1998, 359. 4671 Gaslsterer 2006. 4672 Richardot 1998. 4673 Sv. Fischer 2005, 97 ff., 119. 4674 Sv. Fischer 2005. 4675 Williams 1996; 1997.
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und auch die Festhallen seinen nur Kopien imperialer Aula-Gebäude. Später bildeten runische Steindenkmäler als Epitaphe römische Vorbilder nach. Heldenlieder, also Musik und Dichtung, konnten in Zeichen, also in Runen, übersetzt werden. Was bedeuten soll: „One can thus expect similar developments in written runic, the clearest expression of the ideology of the Germanic hierarchy“. Also Ziel war eine eigene germanische Hierarchie, was man auch im Römischen Reich über lateinische Schrift hätte erreichen können, aber nicht wollte.4676 Es ist allgemeine Kenntnis der Forschung, dass auf vielen Feldern Römisches, nicht nur Schrift, sondern Bildmuster aller Art übernommen, aber dann mit eigenem Inhalt gefüllt wurden. Da sind die Grabsteine mit Reiterdarstellungen, die Gegner niederritten, was als Muster übernommen wurde, da sind die Goldbrakteaten, deren Vorbild alte Kaisermünzen waren und da ist die neuartige Schrift. In diesen Seinsbereichen mit den eigenen Ausdrucksmöglichkeiten ist jeweils die bewusste Absetzung vom Römischen zu spüren. Es gab das Römische Reich, und es gab die germanische Sphäre, und die Menschen lebten in Kenntnis von beiden Welten und mit beiden Lebensformen, und trotzdem scheint es eine Vorstellung gegeben zu haben, anders zu sein und das auch zu wollen. Es muss übrigens nicht Erstaunen erregen, wenn Objekte über eine Runeninschrift sich selbst bezeichneten, ein Kamm als Kamm benannt wurde, ein Schemel als Schemel. Das sollte in zweifacher Hinsicht verstanden werden, einerseits wurde dadurch auf diese Weise das Objekt Kamm mehr als ein Kamm, andererseits bezeugte das Runenwort Schriftkenntnis gegenüber dem Betrachter. Noch im schriftlichen Mittelalter kam so etwas noch vor: Ein Bischofsstab wurde durch die Inschrift als Stab bezeichnet. Man kann auch davon ausgehen, dass viele Runeninschriften tatsächlich für uns nicht lesbar und deutbar sind und sein sollten, weil es anscheinend nur um das Schreiben als Schreiben ging; und was für die südgermanischen Runeninschriften von M. Waldispühl erläutert wurde,4677 trifft in vergleichbarer Weise auch auf die älteren germanischen Runeninschriften im Ostseeraum zu.
4676 Sv. Fischer 2005, 63. 4677 Waldispühl 2013; geometrische Ritzung auf dem Stück eines (nicht fertigen) Kammes von Gemmrigheim, Ldkr. Ludwigsburg: Jäger 2019, 120 f. mit Abb. 67.
III Konsequenzen
Eine Zeitspanne von mehr als einem halben Jahrtausend Länge wurde betrachtet. Sie beginnt mit der Jastorf-Kultur in den Jahrhunderten v. Chr.4678 und endet etwa mit dem 5. und frühen 6. Jahrhundert. Dabei ging es nicht darum, strenge chronologische Grenzen einzuhalten, vielmehr wurde der Blick auf die Kontinuitäten in den Lebensverhältnissen gerichtet. Wie sehen nun die Konsequenzen aus den bisher beschriebenen und erörterten archäologischen Befunden und Funden aus, was sagen die archäologischen Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte über die vergangene Lebenswirklichkeit in Germanien aus, unabhängig von der schriftlichen Überlieferung?
4678 Müller 2000. https://doi.org/10.1515/9783110702675-035
1 Germanien wurde nicht römisch Caesar konnte seinerzeit ganz Gallien in wenigen Jahren erobern und Provinzen einrichten. Warum gelang das Augustus und seinen Militärs nicht in gleicher Weise in Germanien? Gallien war in Stämme gegliedert, deren Territorien aneinander grenzten, und jeder Stammesverband hatte als Haupt- und Vorort ein Oppidum, eine frühstädtische Siedlung, in der Handel und Handwerk, Wirtschaft und Herrschaft konzentriert waren.4679 Nach der Eroberung dieser Zentralorte hatte Caesar jeweils das gesamte Stammesgebiet in seiner Gewalt, und nach und nach erreichte er das für ganz Gallien. Diese Strukturen entsprachen ungefähr den römischen Verhältnissen, in den Provinzen grenzten die Civitates aneinander, wobei die Civitas der Zentralort war und vom dazugehörenden umliegenden Territorium versorgt wurde. Reiche römische Bürger hatten Wohnungen in der Civitas und weitere Villae draußen auf dem Land. In Germanien fehlte (noch) diese Struktur der territorial gebundenen Stämme mit entsprechenden Vororten; Zentralorte (vgl. S. 352) entwickelten sich erst nach und nach. Die offene Ranggesellschaft Germaniens gliederte sich in territorial sesshafte Siedlungsgemeinschaften und mobile Kriegerverbände. Hans-Ulrich Voss hat in derselben Weise, wie ich das sehe, argumentiert, warum es Rom nicht gelang, Germanien zu erobern: Es besteht jedoch Einigkeit darin, dass der römische Historiker und Ethnograf Tacitus Recht hat, dass die germanischen Stämme keine Städte bewohnten, vielmehr siedelten sie voneinander getrennt und zerstreut [das sehe ich anders], wie ihnen eine Quelle, eine Ebene oder ein Gehölz gerade zusagt (Tacitus, Germania c. 16,1). Diese Siedlungsstruktur ohne städtisch geprägte Zentren und ausgebaute Wegenetze resultierte aus der agrarischen Subsistenzwirtschaft und dürfte ein Faktor gewesen sein, der es der römischen Militärmacht anders als bei den keltischen Stämmen Galliens zusätzlich erschwerte, die besetzten Gebiete effektiv zu kontrollieren und dauerhaft zu verwalten.4680
Hier und andernorts sage ich, dass es auch Rom deshalb nicht gelang, Germanien zu erobern, weil es keine Partner für dauerhafte Verträge gab, keine persönlichen Herrschaften über Zentralorte und keine dauerhaften Führer von Stammesgruppen. Starben diese Anführer oder verschwanden sie, dann galten die Verträge, die Rom so gern geschlossen hat, nicht mehr. Auch die militärischen Angriffe stießen da ins Leere. Nach der Vernichtung von Dörfern wurden diese rasch wieder aufgebaut, wenn man nicht zuvor schon einfach ausgewichen war. Germanien war zwar als Ganzes gesehen groß, im Vergleich zum Römischen Reich aber doch nicht so groß, aber man kannte trotzdem nicht die fernen Grenzen im Osten und vor allem auch im Norden.
4679 Fernández-Götz 2014, 192 Fig. 7.5 Relation zwischen einem Oppidum und dem umgebenden ländlichen Raum. 4680 Voss 2015, 54. https://doi.org/10.1515/9783110702675-036
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1 Germanien wurde nicht römisch
Wenn man in Rom von Germanien jenseits des Rheins sprach, dann war auch nur das Gebiet bis zur Weser oder höchstens bis zur Elbe gemeint. Warum Rom Germanien nicht erobern hat und auch nicht konnte, folgt aus den im Vorangegangenen aufgeführten Gründen, wobei man besonders auf die im Buch erörterten Widerlegungen der Vorurteile achten sollte. Die bisher immer wieder vorgebrachten vielen Begründungen, warum das Römische Reich Germanien nicht nachhaltig besetzten konnte und warum später dieses Reich unterging, verkennt die reale Situation der Bewohner in Mittel- und Nordeuropa.4681 Dass die germanische Welt von der Niederlage des Varus 9 n. Chr. über den Ausbau des Limes am Neckar bis zur Zurücknahme wieder an Rhein und Donau schon um 260 nicht in das System der römischen Provinzen einzugliedern war, lehrt also die Geschichte. Der obergermanisch-raetische Limes, unter den Kaisern Antoninus Pius (138–161 n. Chr.) und Marcus Aurelius (161–180 n. Chr.) endgültig ausgebaut, wird als Besonderheit zum UNESCO-Weltkulturerbe gerechnet, zeigt aber – wie auch bei den anderen Limites rund um das Römische Reich – wie stark doch auch die Gegenseite in Germanien gewesen ist, und zwar als eine ganz andere Gesellschaft; dort lebten nicht nur primitive, armselige, unscheinbar und „chaotisch“ lebende Populationen. Es heißt beispielsweise (vgl. S. 47): Caesar unterwarf Gallien, indem er eine Bergstadt der Kelten nach der anderen eroberte. Die Feldherren des Augustus sodann zerstörten rechts des Rheins die ihnen erreichbaren Gehöfte der Germanen, während diese sich in die Wälder zurückzogen und nach dem Abmarsch der Römer ihre Häuser wieder aufbauten. In der Spätantike kehrte sich die Stoßrichtung um. Die Städte boten den Römern keinen Schutz mehr. Die germanischen Dorfbewohner [besser Kriegerbanden, so Verf.] eroberten sie reihenweise. Im Jahre 410 stürmten sie sogar Rom selbst.
Roms Ende in Germanien, die frühen Feldzüge trotz Triumphe in Rom blieben ohne Sieg.4682 Die Meinung, Rom hätte die Eroberung germanischer Gebiete aufgegeben, weil dort wirtschaftlich nichts zu holen sei, scheint doch nur eine Entschuldigung für das Scheitern der Eroberungsversuche gewesen zu sein. Wenn überhaupt, gilt „Rückständigkeit“ nur für die Jahrzehnte vor Chr. Geb. und das nur in einigen technischen Bereichen, nicht für Vermögen und Bɛsitz allgemein; denn in den nächsten Jahrhunderten entwickelte sich die Wirtschaft in Germanien und erreichte ein beachtliches Niveau. Das ist bei allen ausgegrabenen Siedlungen unmittelbar daran abzulesen, dass nicht nur die Gehöfte größer wurden, bei gleicher oder gar wachsender Anzahl in einem Dorf, sondern dass auch die Wohn-Stall-Häuser selbst größere Abmessungen bekamen. Es konnte mehr Vieh aufgestallt werden, nicht nur wegen
4681 Demandt 1984/2014; Beitrag in Frankfurter Allgemeine Zeitung. 2016: Gründe für den Untergang des römischen Reichs: reduktionistisch; Leserbrief Dr. H. Falke 2016. 4682 Aßkamp, Jansen (Hrsg.) 2017.
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der Verschlechterung des Klimas vom 1. bis zum 4. Jahrhundert, und es waren auch größere Erntemengen zu speichern. Die Kampfverbände waren einfach auch zu stark und zahlreich; denn die vielen großen Siedlungen konnten mehr Krieger als vermutet stellen, die sich in den Heeren und Gefolgschaften zusammenfanden. Außerdem waren sie bestens bewaffnet, auch mit römischen Schwertern; und sie kannten die römische Kampfesweise, nicht zuletzt deshalb, weil viele Krieger als Söldner aus römischem Dienst wieder ins Innere Germaniens zurückgekehrt waren und die heimischen Heere verstärkten.4683 Und das schon seit der Zeit des Augustus und Arminius; und mancher Söldner hatte schon das römische Bürgerrecht (civitas). Peter Heather sagt 2005 (übersetzt 2007):4684 Wie beschrieben, zerfiel Germanien im 1. Jahrhundert in viele kleine, konkurrierende politische Einheiten, deren Armut durchweg so groß war, dass sie den Römern nicht eroberungswert erschienen.
Dieses Vorurteil habe ich versucht zu widerlegen. P. Heather unterscheidet nicht zwischen den wahrhaftig kleinen, nur bis 50 km Durchmesser aufweisenden politischen Grundeinheiten, den Siedlungsverbänden landwirtschaftlicher Struktur und den seit Jahrhunderten parallel und oberhalb agierenden Heerhaufen unter Kriegsfürsten, die allein mit den Römern zusammenstießen. Eine Siedlungslandschaft weitab vom Rhein oder der Donau kam mit römischen Truppen nicht in Berührung, nur bei den gelegentlichen Durchzügen von Legionen, die dann rechts und links Vernichtung anrichteten. In Germanien setzte erst in diesen Jahrhunderten, nicht zuletzt aufgrund der ständigen römischen Bedrohung, die Entwicklung „vom Stamm zum Staat“ ein; noch begegneten die Römer den Lebenswelten in einer offenen segmentären Gesellschaft, in der es z. B. keine Bündnispartner auf Dauer gab und auch nicht geben konnte, weil es Auffassung war, dass Verträge zwischen Personen abgeschlossen und nur solange überhaupt gehalten wurden, wie diese Personen Macht hatten, nicht zwischen rechtlich definierten beständigen Einrichtungen. Verträge konnten gebrochen oder als nichtig angesehen werden, die Schriftüberlieferung zu den Geschehnissen um Arminius bezeugen dies. Doch schon die Niederlage einer gut trainierten römischen Armee gegen verbündete Germanenheere zeigt, dass diese immerhin kraftvoll genug waren, um mehrere Legionen in Bedrängnis zu bringen und gar zu vernichten. Damit komme ich zum Erklärungsversuch, warum die Germanen mit ihrem hartnäckigen Widerstand gegenüber dem Römischen Reich so erfolgreich waren. Die Eroberung Galliens gelang, weil Caesar auf Gegner mit entwickelter gesellschaftlicher Struktur stieß, territorial strukturiert mit Städten unter einer Adelsschicht. Wenn dieser Adel besiegt oder ander-
4683 Nicolay 2009. 4684 Heather 2007.
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weitig gewonnen war und Verträge mit ihnen geschlossen wurden, dann hatte man das Land integriert, während die anderen Widerspenstigen samt ihrer Zentralorte vernichtet wurden. Die germanischen Gruppen waren aber erst auf dem Weg zu einer solchen Ethnogenese auf höherer Ebene, einer Stammesbildung größeren Umfangs. Noch fehlten Zentralinstanzen, die sich erst nach dem 3. Jahrhundert herausbildeten. Dieser „einfache“ gesellschaftliche Entwicklungsstand schützte die germanischen Gruppen vor der Annexion. Einzelne Siege und verschiedene Verträge mit zahlreichen Klientelkönigen und Herren über Herrschaftsgebiete von weniger als 50 km Durchmesser verloren ihre Bedeutung bei der ständigen Neugruppierung der Kriegerund Stammesverbände, so dass keine dauerhafte Besetzung oder gar Integration möglich war. Die beschriebenen Heeresausrüstungsopfer sind nicht nur Belege für Kriegswesen und Kultbräuche, sondern belegen zugleich, über welch umfangreiche Ausrüstungen die Bewohner Germaniens im Allgemeinen verfügten; denn auch wenn es sich um Waffen von besiegten Gegnern gehandelt hat, konnte man diese ohne materielle Verluste opfern, was zugleich Zeugnis dafür ist, dass man selbst genug davon hatte. Von Kargheit kann also auch indirekt gesehen keine Rede sein. In seiner Naturgeschichte schreibt der älteren Plinius über die Wälder Germaniens, die er als Offizier unter Claudius um 50 n. Chr. kennengelernt hatte und die er fürchtete, weil sich dort kriegerische Gegner verbergen konnten, und nennt die gewaltigen Eichen. Der Gegensatz zwischen dem germanischen Dorf und der römischen Stadt, wie ihn Max Weber 1896 schildert, und der, ähnlich wie schon Tacitus, zielgerichteten vergleichenden Kritik vom vitalen Landleben gegenüber morbider Verstädterung war damals wie heute sichtlich nicht objektiv, sondern wurde von Vorurteilen bestimmt.4685 Moderne Althistoriker wie Alexander Demandt gehen davon aus, dass die germanische Siedlungsweise Rom daran hinderte, Germanien zu erobern. Tacitus betonte, dass die Germanen – im Gegensatz zu den Kelten – keine Städte bewohnten, auch der römische Schriftsteller Ammianus Marcellinus meinte noch im 4. Jahrhundert, dass die Germanen Städte wie von Netzen umspannte Gräber (nam ipsa oppida ut circumdata retiis busta declinant) betrachteten und mieden.4686 Heutige Autoren entwickeln vor dem Hintergrund der antiken schriftlichen Überlieferung bei der Beurteilung der Verhältnisse in Germanien eine spezielle eigene Bewusstseinslage, beeinflusst von der Kenntnis Roms und der römischen Zivilisation. Es werden von der modernen Wissenschaft in erster Linie der Einfluss der römischen Provinzen auf Germanien und die daraus folgenden Veränderungen gesehen, die über die Rückkehr der „Söldner“ in die heimatliche Lebenswelt stattfanden; man sollte stattdessen auch die zahlreichen in Kämpfen von germanischen Kriegerverbänden
4685 Weber 1972, 727 ff., 741 ff. 4686 Ammianus Marcellinus XVI, 2, 12. Seyfarth 1968, Erster Teil, 158 f., Dirlmeier, Gottlieb I, 1976, 40 f.
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gefangenen Römer berücksichtigen, die zu Tausenden zählten und die vielleicht jahrelang in Germanien leben mussten. Auch wird es freiwillig nach Germanien gewechselte Handwerker und Händler gegeben haben, die dort bessere und gewinnträchtige Arbeitsverhältnisse vorfanden; und auf diese Gruppen kann die Nachahmung römischer Sachgüter in germanischen Werkstätten zurückgehen. Eine wissenschaftliche Überraschung war die archäologische Entdeckung der stadtartigen römischen Siedlung, die rund 15 Kilometer von der Grenze entfernt innerhalb Germaniens gegründet worden war, beim heutigen Ort Waldgirmes in Hessen (vgl. oben Abb. 85; vgl. oben S. 1090). Der nach der ersten Prospektion durch die Archäologie als kleines römisches Militärlager vermutete Befund führte seit 1993 zu langjährigen Geländearbeiten, begonnen als „Notgrabungen“ vor Bauarbeiten. Das brachte gleich zu Anfang so entscheidende Hinweise auf die völlig andersartige Struktur der Siedlung, weshalb das zu den mehr als zehnjährigen systematischen und äußert effektiven geplanten Ausgrabungen in den letzten Jahren geführt hat. Komplizierte Bodenverhältnisse und eingeschränkte Erhaltungsbedingungen für Funde und Befunde machten geschickte Zugriffe nötig, mit denen nun die „älteste römische Zivilsiedlung“ rechts des Rheins erschlossen werden konnte. Die etwa 8 ha große zivile römische Siedlung mit trapezförmigem Grundriss, 255 m in Nord-Süd und 230 bis 300 m in West-Ost-Erstreckung, war mit einer Holz-Erde-Mauer und zwei vorgelagerten Spitzgräben umwehrt, und ein systematisches Straßensystem gliederte den Innenraum. Die Gebäude mit ihren Portiken, die Atriumhäuser und das Forum von 2200 m2 mit einer zweischiffigen Halle von 45 auf 12 m Größe unterscheiden diese Befestigung grundsätzlich von einem Militärlager. Brunnenhölzer datieren und damit die Gründung dieser Ansiedlung in den Winter 4 auf 3 v. Chr. Das Forum war zweiphasig, d. h. die Baugeschichte auch an diesem Platz war komplex. Die Ereignisse nach der Varus-Niederlage 9 n. Chr. brachten zwar das Ende der stadtartigen Siedlung, doch gibt es Spuren von Leuten, die danach am Ort noch anwesend waren. Ähnlich komplex sind die bis zu 200 Jahre später erfolgten römischen Ansiedlungsversuche bei Mušov in Mähren (vgl. S. 1098 ff.). Bemerkenswert ist, dass in der Siedlung von Waldgirmes ein beachtlicher Anteil an einheimischer Keramik der umgebenden kelto-germanischen Bevölkerung neben den genuin römischen Sachen registriert werden konnte und dazu auch ein hoher Anteil an „heimischer“ keltischer Münzprägung neben den römischen Münzen. Die Phasen des nur 20 Jahre existierenden Platzes gehörten zu einer im römischen Sinne stadtartigen Siedlung mit einem großen Forum, auf dem Fundamente für mehrere imperiale Reiterstatuen freigelegt wurden; und Reste der Pferde sind sowohl in einem Brunnen der Ansiedlung, ein vollständiger Pferdekopf, als auch weitere Bronzefragmente in benachbarten germanischen Siedlungen gefunden worden. Die Struktur der umgebenden Landschaften ist eigentlich eher mit den Verhältnissen in Gallien vergleichbar, mit den nahe gelegenen Oppida wie dem Dünsberg, die schon längere Zeit vorher aufgegeben worden waren, d. h. die Gründung von Waldgirmes erfolgte in ehemals „keltischem“, inzwischen erst „germanischem“ Milieu. Das entspricht den
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Hinweisen bei Tacitus und Cassius Dio, die von Städten in Germanien berichten, und bestätigt den alten Topos seit Caesar, alles rechts des Rheins ist Germanien, auch wenn die politisch-sozialen Strukturen gegenüber denen in der norddeutschen Ebene sehr unterschiedlich waren. Vielleicht sollte das die Forschung mehr berücksichtigen und nicht nur von der augusteischen Eroberungsphase und von ersten Urbanisierungsversuchen in Germanien sprechen, obgleich der Befund einer „Stadt“ besser zum „keltischen“ Milieu als zum „germanischen“ passt, wo es an zentralen Orten noch längere Zeit fehlt. Peter Heather und Bryan Ward-Perkins4687 kommen gegenwärtig zu Anfang des 21. Jahrhunderts wieder mit alten Thesen zum Untergang des Römischen Reichs. Nachdem viele andere, zu Dutzende zählende Begründungen diskutiert worden sind, führen die beiden Autoren aus Oxford wieder einmal den Zusammenbruch des Römischen Reichs auf den Ansturm der „Völkerwanderung“ zurück; Germanen hätten das Reich zu Fall gebracht. Über die inneren Veränderungen in der Organisation des Römischen Reichs und zur Theorie, dass weniger ein Zusammenbruch als vielmehr eine Transformation zum Mittelalter übergeleitet hat, wird kaum ausreichend nachgedacht. Ein Gegenargument sei angeführt, weil dieses zu meiner Bewertung der Verhältnisse in Germanien überleitet: Die einerseits meist negativen Einschätzungen der wirtschaftlichen Kraft und der politischen Organisation der Populationen zwischen Rhein und Weichsel passt nicht zu der andererseits postulierten großen militärischen Macht der „einwandernden“ Germanen, die ausreichend war, um das nach der Meinung dieser Historiker noch in gutem Zustand befindliche Römische Reich zu Fall zu bringen. Das Bild von der Völkerschwemme und von der Flut von Kriegern, die über die Grenzen spülten, ist längst anderen Argumentationen gewichen. Es waren keine wandernden Völkerschaften, sondern Kriegerverbände, die tatsächlich auf dem Boden römischer Provinzen angesiedelt wurden, sicherlich auch, um Plünderungszüge und Vernichtung zu verhindern. Militärische Anführer ihrer Gefolgschaftsverbände wie der Frankenkönig Chlodwig oder der Gotenkönig Theoderich sahen sich als Stellvertreter vor Ort des oströmischen Kaisers, und geschickt besetzte man Verwaltungsstrukturen und übernahm so gewissermaßen Teile des Römischen Reichs. Das gelang jedoch auch nur deshalb, weil die in der Heimat entwickelte politischmilitärische Organisation der germanischen Verbände den spätrömischen Strukturen schon recht gut angepasst war. Die unvollständige und vor allem an der Realität vorbeisehende Beschreibung der Verhältnisse in Germanien liegt an der Einseitigkeit der Quellengewichtung. Der Blick geht – wie anfangs beschrieben – regelmäßig von den überlieferten Schriftquellen der römischen Seite aus; und diese haben eine Tendenz und blicken von außen. Man weiß natürlich viel zu wenig von den Germanen, die aus verschiedenen Gründen, als Söldner oder Siedler zeitweilig in den römischen Provinzen lebten, was diese
4687 Heather 2007/2005; Ward-Perkins 2007/2005.
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so gesehen und gedacht haben. Hier könnten die historischen Überlieferungen zu den führenden Militärs germanischer Herkunft im Römischen Reich vielleicht doch noch ein wenig weiterhelfen.4688 Die einseitige Tendenz ist auch im neuen Band in der Supplement-Reihe des „Neuen Pauly“ beschrieben, die wiederum von „Rom in Germanien“ ausgeht.4689 Berichtet wird über die Germanen im Imperium Romanum, über die Konstituierung germanischer gentes im Mit- und Gegeneinander als Reaktion auf die römische Bedrohung. Aber wie sieht es mit den sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen in der weiten germanischen Welt aus, die entscheidend waren für das römisch-germanische Verhältnis. Dabei reicht es dann aber auch nicht aus zu diskutieren, wie die römischen Bestattungssitten die germanischen Sitten beeinflusst haben. R. Wolters hat 2013 zur Ausstellung über den neu entdeckten Platz Harzhorn die vielfältigen Beziehungen über Rhein und Donau, über den Limes hinweg, zwischen Germanen und Römern und umgekehrt, zusammengefasst:4690 Es waren Krieger und Söldner, Händler und Reisende, Verschleppte und Sklaven, Diplomaten und einfach mobile Personen.
4688 Ausbüttel 2010; 2007 zu den frühen germanischen Herrschern Ariovist, Arminius, Julius Civilis bis Chnodomar. 4689 Die Germanen und das Römische Reich. Der Neue Pauly, Supplement Bd. 14 (im Druck). 4690 R. Wolters 2013b.
2 Zu den Thesen dieses Buches zusammenfassend: Widerlegte Vorurteile und Ansichten über „Germanen“ Warum spreche ich von Vorurteilen und führe dabei zufällig gerade zehn Vorurteile auf? Die Zahl ist nur eine Vereinfachung im Rahmen der breiteren Argumentation, die dazu führen könnte zu differenzieren, womit andere Vorurteile hinzugefügt würden. Der aufmerksame Leser wird sicherlich solche weiteren Vorurteile im Text aufspüren. Es geht um die Begrifflichkeiten „Germanen“ und „Germanien“, ich formuliere auch schlichter: Welche Vorurteile bestehen früher und heute über die Lebensverhältnisse der Germanen in Germanien. Es geht mir tatsächlich in erster Linie um die Lebensumstände in Germanien; und zwar möglichst ausschließlich aus Sicht der Archäologie. Als es noch keine archäologische Forschung gab, wurden alle Ereignisse und Lebensverhältnisse zu Germanen ausschließlich durch die antiken Schriftsteller beschrieben und über die humanistische Bildung dem neuzeitlichen Bürgertum, vor allem des 19. Jahrhunderts, als Geschichtsbild eingepflanzt. Und auf diese Weise wurden die antiken Urteile übernommen und von der modernen Forschung des 19. Jahrhunderts akzeptiert; nach der archäologischen Forschung werden diese Urteile zu Vorurteilen. Wir wissen, dass die antiken Historiker einerseits mit politischen Hintergedanken sich über Germanen äußerten und andererseits, dass die antiken Autoren meist nur über Hörensagen die Verhältnisse in Germanien, nicht durch eigene Anschauung kannten, und sie haben dabei vieles verallgemeinert. Mit Aufkommen der archäologischen Forschung wurden die Ergebnisse von Ausgrabungen zur reinen Illustration der antiken schriftlichen Überlieferung ausgewählt, was die damaligen Urteile zu bestätigen schienen. Das ist eigentlich heute immer noch weitgehend so, auch wenn archäologische Daten wesentlich breiter akzeptiert werden, aber immer noch mit Blickrichtung von den Schriftquellen aus. Die zahlreichen Bücher auch der letzten Jahre mit dem Titel „Germanen“ bestätigen das. Das in vielen Auflagen erschienene kleine Buch von Herwig Wolfram ist ein gutes Beispiel dafür, ebenso die zahlreichen Bücher zu „Römern in Germanien“, zu den römischen Provinzen z. B. auf deutschem Boden. Auffällig ist also, dass die Kenntnisse nicht nur bei der Allgemeinheit, sondern auch im wissenschaftlichen Bereich, seit der Antike und wieder vor allem seit dem 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart auf „gewachsenen“ Vorurteilen beruhen.
Anmerkung: Mein Vortrag in Berlin am 02./03. März 2017 bei TOPOI „Germanen“-Kolloquium: Zehn Vorurteile der antiken und der modernen Historiker über die Verhältnisse in Mittel- und dem südlichen Nordeuropa in den ersten Jahrhunderten um und nach Chr; einige Thesen schon bei Steuer 2015c, 336 ff.; jetzt Steuer 2020. https://doi.org/10.1515/9783110702675-037
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Kurz gesagt, Historiker und Archäologen erforschen die Vergangenheit des Römischen Reichs und der germanischen Welt aus der Sicht der schriftlichen Überlieferung antiker Autoren, d. h. die geschichtlich überlieferten römischen und germanischen Ereignisse und Situationen werden – auch heute – aus der Sicht der Schriftquellen berichtet und durch archäologische Befunde illustriert, vor allem über beigefügte Bilder. Demgegenüber kann die archäologische Forschung der letzten Jahrzehnte jetzt diese Verhältnisse im Germanien der ersten Jahrhunderte n. Chr. neu anhand der Ausgrabungsbefunde unabhängig beschreiben, ohne die schriftlichen Überlieferungen heranzuziehen, vielmehr benutzt die Forschung nun diese Schriftquellen als ergänzende Illustration. Ich drehe deshalb wie zu Beginn des Buches begründet nun die Blickrichtung um und beschreibe möglichst ausschließlich von den inzwischen erarbeiteten Ergebnissen der Archäologie die Lebensverhältnisse in Germanien. Nur höchstens dann und wann verwende ich jetzt die Schriftüberlieferung zur Illustration. Dabei zeigt sich, wie viele Vorurteile noch das gegenwärtige Bild zu den Germanen und Germanien bestimmen; und dagegen stelle ich einige Thesen auf. Ein Ergebnis ist, dass die Lebensverhältnisse und damit auch die Auffassung vom Lebensstil der Bevölkerung in Germanien grundsätzlich anders waren als die im Römischen Reich. Die Grenze, später der Limes, trennte zwei sich prinzipiell unterschiedliche Lebensformen; das ist eine triviale Feststellung, wird aber auch immer wieder durch die neueste archäologische Erforschung von Siedlungen auch nahe der Grenze bestätigt. Wenn man die Veröffentlichungen liest, dann spürt man, wie die Bearbeiter sich eigentlich wundern, dass die Bevölkerung in Germanien anscheinend bewusst eine „Romanisierung“ ihrer Lebensbereiche abgelehnt haben. Fassbar wird eine solche Romanisierung bei den sesshaften Verbänden links des Rheins, so bei den Batavern, die als Militärsiedler wirkten, und deren Gehöfte aber erst nach und nach die Gestalt römischer Villen mit Steinfundamenten annahmen.4691 Die nachfolgende Aufzählung besteht aus zwei Teilen: Der erste reiht die Vorurteile über die Germanen aneinander, der zweite erörtert Begründungen dafür, dass es auch Gemeinsamkeiten im gesamten Germanien gab, was berechtigt, von Germanen zu sprechen. Im Folgenden werden die (zehn) Vorurteile und die Realität einander gegenübergestellt. 1. Germanien war nicht von Urwald bedeckt: Auch heute sind 30% des Landes in Mitteleuropa bzw. Deutschland Wald, wahrscheinlich nach der Fläche ebenso viel im germanischen Altertum. Im Mittelmeergebiet gab es seit langem keinen derartigen Wald mehr. 2. Die Dörfer lagen nicht versteckt und verstreut in einem Urwald, sondern bestanden in Blickverbindung zu einander in nur wenigen Kilometer Abstand. Mit bis zu 20 Gehöften pro Siedlung war die Besiedlungsdichte beachtlich, die Bevölkerung zahlreich und konnte erhebliche Kriegerzahlen stellen.
4691 Roymans 2004; 2009.
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Die Gebäude in den dörflichen Siedlungen (sogenannte Wohn-Stall-Häuser) waren zwar aus Holz, Flechtwerkwänden und Lehm errichtet, aber nicht deshalb mit Blick aus dem römischen Reich mit ihren Steingebäuden primitiv, sondern dem Lebensstil, dem Klima und der Wirtschaftsweise angepasst; denn derartige Häuser beliebte man bis in die Gegenwart in Norddeutschland zu errichten. 4. Die antiken Schriftsteller schreiben, es gäbe in der Germania magna keine Befestigungen, eine Aussage, die auch ein Archäologe wie G. Mildenberger noch in unserer Zeit unterstützt hat. Die Archäologie hat inzwischen vor, um und nach Chr. zahlreiche Befestigungen ausgegraben. 5. In Germanien gäbe es keine Kultbauten bzw. Tempel. Auch da hat die Archäologie heute ein anderes Bild zu beschreiben ermöglicht: Nicht nur ein Kultbau wie Uppåkra in Südschweden ist da zu nennen, der von der Zeit um Chr. Geb. bis in die Wikingerzeit immer wieder an derselben Stelle in denselben Ausmaßen erneuert wurde, sondern auch die großen Festhallen in den Siedlungen gehören in diesen Zusammenhang. 6. Dass es außer ländlichen Siedlungen auch keine anderen Strukturen gegeben habe, trifft vielleicht nur für die Frühphase zu: Seit dem 3./4. Jahrhundert jedenfalls ist mit Zentralorten zu rechnen, in den über die Landwirtschaft hinaus zentralörtliche Funktionen für ein größeres Gebiet gebündelt wurden und die sich vor allem in reichem Fundmaterial (vor allem Gold) spiegeln. 7. Im Vergleich mit den römischen gepflasterten Straßen erschienen die Wege in Germanien dürftig. Aber auch das ist eine Täuschung. Gepflasterte Wege gab es zwischen den Hofarealen, angelegte Wege führten von Dorf zu Dorf, die zudem an Fernstraßen lagen. Beste Beweise für ein geordnetes Straßen- und Wegesystem sind die erhaltenen Bohlenwege, die oft mehrere Kilometer lang über Moore und Niederungen führten. Ihre sorgfältige Bauweise endete sicherlich nicht am Ufer in planlosen Strecken, sondern diese setzten sich in organisierten Wegeführungen fort. Bis in die moderne Zeit sind solche Fernwege benutzt, bekannt, und gepflasterte Strecken waren von sogenannten Sommerwegen, so in Norddeutschland, begleitet. 8. Germanien zu erobern lohne sich nicht, wegen der Primitivität der Wirtschaft, der dürftigen Besiedlung und der ärmlichen Lebensweise. Rohstoffe würden fehlen, Eisen sei knapp. Aber überall, bis in jedes Dorf, gab es die eigene Eisengewinnung; industriell produziertes Eisen wurde sogar ins Römische Reich exportiert, ebenso wie Bleigewinnung oder Salzproduktion auf beachtlichem Niveau standen. Für den Harz und andere Mittelgebirge wird Buntmetallgewinnung postuliert. Die These, dass seien alles römische Unternehmen in Germanien gewesen, wie beispielsweise die Drehscheibenproduktion in Haarhausen, bestätigt eher indirekt den Aufschwung der Wirtschaft in Germanien. 9. Alle Gebiete wurden vom Fernhandel erreicht, seien die Träger weitreisende Fernhändler, oder sei der Handel ein Tausch von Landschaft zu Landschaft. Der Einsatz des Metallsuchgeräts hat gezeigt, dass sowohl einheimischer Fibelschmuck als auch römische Metallsachen jede ländliche Siedlung erreicht haben, schon die so
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leicht erkennbaren roten Terra Sigillata- Scherben hatten das früher angedeutet, was jetzt um ein Vielfaches bestätigt wird. 10. Dass Germanien nach Tiberius nicht mehr erobert werden sollte, lag nicht an der Armseligkeit dieser Landschaften, also an der postulierten Nutzlosigkeit, wie es gern heißt, sondern – ablesbar an den genannten Punkten – weil das Gebiet von der Besiedlungsdichte gesehen zu stark war, eine ständig bedrohende Kriegerzahl stellen konnte, sowohl als furchterregende Gegner als auch für die eigenen Legionen und Auxiliareinheiten. Aufgrund der völlig unterschiedlichen sozialpolitischen Strukturen in kleinen Einheiten, als Stämme bezeichnet, und andererseits mit Warlords und ihren Kriegergefolgschaften, die unabhängig von den Siedlungslandschaften agierten, war das Gebiet nicht so leicht zu unterwerfen wie die andersartigen Strukturen z. B. in Gallien. Die Vorurteile entstanden bei den antiken Schriftstellern, weil sie die andersartige Lebensweise nicht recht verstanden. Und es zeigt sich, dass die Bevölkerungsgruppen dieser Gebiete zwar manches aus der römischen Welt übernommen haben, aber doch ihren eigenen Lebensstil beibehalten wollten bzw. beibehielten, was gerade die jüngsten Ausgrabungen sogar in Limesnähe mehrfach bestätigt haben. Nun gibt es auch (zehn) Gründe, die für ein überregionales Gemeinschaftsbewusstsein der Bevölkerungsgruppen in Germanien sprechen, für einen „germanischsprachigen“ Kommunikationsraum. Aus römischer Sicht lebten östlich des Rheins Germanen, nicht nur weil Caesar und in Nachfolge auch Tacitus durch ihre Benennung der Bevölkerung jenseits mit dieser Sammelbezeichnung Germanen charakterisiert haben. Den antiken Historikern war durchaus klar, dass es einen Unterschied zwischen den „germanisch“ sprechenden Germanen und den „keltisch“ sprechenden Bevölkerungen in Gallien gab. Die Angehörigen der kaiserlichen Leibgarde in Rom wurden in der Regel mit dem Oberbegriff Germanen bezeichnet, nur in wenigen Fällen gab es für diese Truppeneinheiten Stammes- oder Gefolgschaftsnamen. 1. Das erste Argument für ein existierendes Gemeinschaftsbewusstsein ist die germanische Sprache, sind die germanischen Dialekte; somit war die Grundlage zum gegenseitigen Verstehen gegeben. 2. Die im späten 2. Jahrhundert nach römischem Vorbild, aber bewusst in anderer Form als das lateinische Alphabet erfundene Runenschrift wurde – und das über viele Jahrhunderte – nur von germanisch sprechenden Gruppen übernommen. Die Verbreitung der Objekte mit Inschriften im älteren Futhark bezeugt dies. Diese Schrift wurde also von allen Runenschreibern, den Auftraggebern und Lesern überall akzeptiert, wo ein germanischer Dialekt gesprochen wurde. Die gemeinsame Sprache, die neue Schrift und die Inhalte, bis zu den Heldenliedern, gehörten zusammen. 3. Im Grabbrauch spiegeln zahlreiche Bestattungssitten, nicht nur die sogenannten Fürstengräber der älteren und jüngeren Kaiserzeit, einen weitreichenden überregionalen Zusammenhang. Dieses Netzwerk erklärt sich nicht nur aus der Ähnlich-
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keit der Ausstattung mit römischen Importgütern, sondern auch insgesamt durch die eigene neue Grabsitte. Diese Gräber einer Oberschicht, einer Elite aufgrund der reichen Beigaben so bewertet, weisen über diesen gesamten Raum von den dänischen Inseln bis zur Donau auffällig große Ähnlichkeiten auf. Zum einen sind es gegenüber der allgemeinen Bestattungssitte Körpergräber mit Kammer und Hügel in abseitiger Lage zu den übrigen Friedhöfen. Außerdem sind die Ausstattungen dieser Gräber mit römischen und einheimischen Ess- und Trinkgefäßen für ein Festmahl sowie mit wertvollem Schmuck aus Edelmetall untereinander so ähnlich, dass dies ohne Annahme einer Kommunikation zwischen diesen Gruppen, den Bestattungsgemeinschaften, nicht zu erklären ist; denn es spiegelt sich sichtlich ein einheitlicher Lebensstil. Das Bild ist sicherlich auch durch weitreichende Heiratsverbindungen zustande gekommen, über eine allgemeine Mobilität hinaus. 4. Die überregionale Kommunikation wird weiterhin über die Heerhaufen fassbar, die wie die Schriftüberlieferung sagt, durchaus aus multiethnisch aus dem gesamten Raum Germanien zusammengesetzten Gefolgschaften bestanden. Dies spiegelt sich in den Heeresausrüstungsopfern in den jütländischen Mooren. 5. Die zahlreichen archäologischen Verbreitungskarten dokumentieren ebenso die Netzwerke, über die Verteilung von mehr oder weniger identischen Schmucksachen und Keramikformen, die sich über die anhand der ausgedeuteten Schriftüberlieferung kartierten Stammesgebiete weit hinaus erstreckten. Diese Befunde im Kartenbild spiegeln dann nicht, wie gern gesehen, Wanderungen, sondern eigentlich erst einmal nur ein Kommunikationssystem unterschiedlicher Art. Ob es sich um rädchenverzierte Tongefäße handelt, die sich anscheinend die Elbe aufwärts weiter nach Süden ausbreiteten, oder um die Przeworsk-Kultur aus Polen, deren Sachgüter sowohl bis ins Rhein-Main-Mündungsgebiet als auch weit im Südosten vorkommen, oder um die Sachgüter und Sitten der Wielbark-Kultur, deren Verbreitung die Wanderung von Goten (und anderen Gruppen) nach Südosten markieren würden. Die Verbreitungen der kartierten Befunde und Funde insgesamt beschreiben den Raum insgesamt, der von „Germanen“ besiedelt war. 6. Eine wichtige gemeinsame Ausprägung sind Aspekte der Kunstvorstellungen, fassbar aufgrund der Überlieferungsbedingungen in der Kleinkunst, dem – modern gesprochen – Kunstgewerbe, beispielsweise die sogenannten Tierstile, überliefert vor allem auf den kleinen Sachgütern, den Schmuckstücken und der Militärausrüstung. Beim Sösdala-Stil, dem Nydam-Stil bis zum Tierstil I und II sieht man seit dem 4./5. Jahrhundert römische Vorbilder. Es ist wie bei der Runenschrift; denn die Vorbilder wurden von Anfang an umgeformt, mit anderen Inhalten gefüllt und unterscheiden sich durchaus von den Kunststilen in den Nachbarräumen, z. B. von dem der früheren Kelten, später dann von dem der Slawen oder der Awaren. Diese Stile kann man als Eigenschaften der Bevölkerung in Germanien beschreiben (vgl. oben S. 1236). Und zwar rein äußerlich über die weite Verbreitung dieser Stile, nicht etwa aufgrund irgendwelcher „inneren“ Wesensgemeinsamkeiten.
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Dabei wird nicht übersehen, dass später der „germanische“ Tierstil sich auch vermischte mit awarisch-byzantinischen Stilen; und zwar in Pannonien, wo verbliebende Langobarden und Awaren zusammen lebten.4692 Den Stil I findet man bei den „germanischen“ Gepiden und Langobarden im Karpatenbecken, den Stil II dann schon verbunden mit der frühen Periode der Awaren, also nicht nur mit dem germanischen Ethnos der Gepiden. 7. Bei der Betrachtung der neuen archäologischen Ergebnisse geht das so weiter. Römische Medaillons und Kaiserbilder des 4. Jahrhunderts waren – auffällig erst nach einem zeitlichen Abstand von zwei bis drei Jahrhunderten – dann die Vorbilder für die Goldbrakteaten, deren Verbreitung wiederum denselben Raum abdeckt, den auch die Runeninschriften einnehmen und damit den der „germanisch“ sprechenden Gruppen. Auch die verschiedenen Brakteatenfamilien, also Stücke geprägt von denselben Modeln und Matrizen bzw. Patrizen, überspannen weite Räume und markieren beispielsweise die Kontakte zwischen Zentralorten. 8. Etwas später beschreibt die Sachgruppe der Goldblechfigürchen, der Guldgubber, einen einheitlichen Raum von der südlichen Ostsee bis Nordnorwegen, also nicht den gesamten germanisch besiedelten Raum, aber immerhin ein Gebiet, in dem vergleichbare Vorstellungen über den Inhalt dieser kleinen Bildnisse und ihren Verwendungs- und Niederlegungszweck geherrscht haben. Man kann von einer Kultgemeinschaft sprechen, die über Jahrhunderte, zuerst im Spiegel der Brakteaten, gefolgt von den Goldblechfigürchen, bestanden hat. Zuvor wurde schon darauf hingewiesen, dass sowohl die Wohnweise (in Wohn-Stall-Häusern als Stichwort) als auch das Totenbrauchtum (überall Brandbestattungen) den Siedlungsraum von Germanen beschreiben, der sich regelmäßig weit über die aus römischer Sicht konstruierten kleineren Stammesgebiete erstreckte. Die Bevölkerungen in den Nachbargebieten, zuvor Kelten, später Slawen und Awaren und auch die Menschen in den römischen Provinzen, lebten anders, wohnten anders, schrieben anders, entwickelten eine andere Kleinkunst und wohl auch andere Opfer- und Kultbräuche. 9. Es hat sich also – so meine ich – tatsächlich doch ein Gemeinschaftsgefühl entwickeln können, mit dem sich Germanen in Germanien als Germanen verstanden haben. Patrick Gearys viel zitierter Satz: „Die germanische Welt war vielleicht die großartigste und dauerhafteste Schöpfung des politischen und militärischen Genies der Römer“ zielte in eine andere Richtung, meinte die Entstehung und Entwicklung von politischen Strukturen, wie Stammeseinheiten und Kriegergefolgschaften. Ich meine schlichter, nicht nur die römischen Schriftsteller, sondern auch die Realität der häufigen Anwesenheit von zahlreichen „Germanen“ in der römischen Welt haben den Leuten aus den Gebieten östlich des Rheins, um das allgemein zu formulieren, ein Bewusstsein geschaffen, dass sich diese Gruppen
4692 Heinrich-Tamáska 2017.
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selbst als „Germanen“ gefühlt haben. Runenschrift und Tierstile mit ihrem Symbolcharakter sind, so auch Alexandra Pesch, ein Kennzeichen der germanischen Welt und spiegeln „eine gemeinsame, überregionale Identität“.4693 Ähnlich argumentiert Wilhelm Heizmann mit Blick auf die eigenständige Bilderwelt der Goldbrakteaten und Goldblechfigürchen, der Runenschrift und ihren Inhalten sowie der gleichartigen Grabsitten der Oberschicht und auch der Rangabzeichen wie Hals- und Armringe oder Goldfibeln, und zwar mit dieser gleichartigen gemeinsamen Symbolik von Skandinavien bis zum Schwarzen Meer.4694 Doch überrascht die Kontinuität vom germanischen Altertum bis in die nordische Wikingerzeit. (Es ist die alte Geschichte für uns alle: Der Einzelne fühlt sich beispielsweise sowohl als Berliner, als auch als Deutscher oder als Europäer, als Abendländer der westlichen Zivilisation und Religion, je nachdem, um welche Identifikation in welchem Rahmen es jeweils geht.) 10. Der Siedlungsraum „Germanien“ wird oftmals als „Germania libera“, freies Germanien benannt – sicherlich auf Tacitus Äußerung zurückgehend, „Arminius haut dubie liberator Germaniae“. Doch in den antiken Quellen steht häufig Germania magna, niemals Germania libera. In der Phase der entstehenden Nationalstaaten gewann der Freiheitsbegriff eine eigene, neue Bedeutung, daher die Wende zu Germania libera, was in der Fachliteratur bis heute trotzdem weiter gesagt wird. Wenn die römischen Organisationen, von der kaiserlichen Leibgarde bis zu den Auxiliareinheiten, ihre Partner als Germanen bezeichneten, dann haben diese Gruppen das gehört, erfahren und sicherlich auch akzeptiert und weiter getragen nach der Rückkehr in ihre heimischen Siedlungsgebiete auch bewusst behalten. Somit könnte Gearys Satz in anderer Sicht so gedeutet werden, dass Rom indirekt ein germanisches Gemeinschaftsgefühl geschaffen hat, was mit der zuvor unbewussten Realität, nicht nur wegen der Sprache, nahtlos zusammenpasste. Zwar ist es gegenwärtig üblich, alte Klischees und Vorurteile, als Meinungen zu dekonstruieren und zumindest sinnvoll zu hinterfragen, woher und mit welchen Gründen diese Vorstellungen entstanden sind, sowohl während der Antike als auch in der Moderne, im 19. Jahrhundert mit der Entstehung der Nationalstaaten und des Bildungsbürgertums, also vor dem Hintergrund der jeweiligen politischen Situation und des Zeitgeistes, und ebenso wiederum in unserer Zeit mit dem Blick auf das komplexe politische, ethnisch und religiös bestimmte Geschehen in einer weitgehend globalisierten Welt. Die Analyse schärft den Blick auf die Vorurteile. Aber trotzdem will man, und in diesem Falle will ich, Geschichte schreiben, und zwar konzentriert anhand der archäologischen Quellen.
4693 Pesch 2019a, 23. 4694 Heizmann 2019, 304, 318.
3 Ein neues Bild vom „alten“ Germanien Jede Generation oder anders gesagt jede Gegenwart zeichnet ein eigenes Bild von der Vergangenheit neu, und das betrifft auch das „germanische Altertum“. Die Gesellschaft in Germanien war dreigeteilt: Es gab Stämme oder Abstammungsgemeinschaften, der Tradition nach, es gab Kriegerbanden, herausgelöst aus verschiedenen solchen Stammesgruppierungen, und es gab Territorien, die durch Kommunikation als Netzwerk zusammengefügt wurden. Außerdem waren Menschen und Menschengruppen, Familien und Abstammungsgemeinschaften, zeitweilig auch immer wieder einmal Migranten. Die gesellschaftliche und politische Ordnung der Bevölkerung in Germanien war recht komplex und zudem starken Wandlungen unterworfen. Die genannten drei Ebenen müssen unterschieden werden, die Ebene der Stämme, die Ebene der Struktur und Begrenzung von Territorien und die darüber agierende Ebene der mobilen Kriegerverbände. Die Römer dachten als Staat in territorialen Strukturen und strebten eine solche Ordnung auch bei den unterworfenen Völkerschaften an. Aber diese Bevölkerungen – jedenfalls in Germanien – lebten nicht in festgesetzten und begrenzten Territorien, sondern für sie galt zuerst der Verbund in einer realen oder zumindest gefühlten Abstammungsgemeinschaft. Der Stamm war also ein Personenverband, und dieser konnte ein geographisch begrenztes Gebiet bewohnt haben, aber seine Mitglieder waren auch darüber hinaus weitgehend miteinander verbunden, unabhängig wo man sich gerade aufgehalten hat. Eine Vorstellung davon, wie disparat das Verhältnis zwischen Stamm und Staat sein kann, zeigt der Blick in gegenwärtige Verhältnisse. In Afghanistan und in Libyen und anderswo in Afrika herrschen Kriege, und man spricht von „failed states“. Aber das ist nicht ganz korrekt; denn zwischen dem Plan, einen Staat zu bilden, und der Zusammenarbeit von Stämmen auf etwa demselben Territorium und den Kriegerverbänden unter Warlords folgen vielfache Versuche, Kompromisse oder kriegerische Auseinandersetzungen, um schließlich und endlich doch eine der heutigen Zeit gemäße Organisation eines Staatsgebildes zu erreichen. Stämme und Gebietsherrschaft im Sinne eines Staates, eines Königreiches, sind Ausdruck völlig unterschiedlicher Denk- und Verhaltensweisen. Germanien war – nach der antiken Überlieferung in den Schriftquellen – gegliedert in eine außerordentlich große Zahl von kleinen und größeren Stämmen, von Allianzen der Häuptlinge, in der späteren Zeit auch von „Königen“, eingesetzt von der römischen Verwaltung, die aber regelmäßig nur auf Zeit untereinander Einigkeit erzielten. Die römischen Legionäre stießen bei ihren Angriffen auf Dörfer, die befestigt waren – wegen der aufziehenden Bedrohung durch Rom, aber auch wegen Angriffen benachbarter Kriegerverbände aus dem Inneren Germaniens –, auf kleine natürlich begrenzte Landschaften, die ebenfalls durch „Landwehren“ gesichert waren – gegen jede, die fremde, aber auch die einheimische Art von militärischer https://doi.org/10.1515/9783110702675-038
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Bedrohung –, auf dicht besiedelte größere Landschaften mehrerer Stämme und schließlich auf die mobilen Kriegerverbände, die sich – zumindest auf Zeit – aus diesen Stammesgesellschaften gelöst hatten. Viele dieser Krieger kamen irgendwann auch wieder in ihr Dorf bzw. ihre Siedlung zurück, wo sie nach ihrem Tod auch bestattet wurden. Wenn ein römischer Heerführer Leute fragte, wer sie seien und wohin sie gehörten, sagten die Krieger den Namen des Familienverbandes ihres Anführers, z. B. er sei Cherusker, fragte er einen Bewohner des Dorfes oder Gehöftes, dann sagte dieser womöglich auch, er sei Cherusker, weil er sich dem Personenverband zugehörig fühlte. Die Kriegerverbände waren mobil, so dass der Name der Gruppe in weit entfernten verschiedenen Gebieten genannt wurde, beispielsweise als Namen auch gewanderter Teile der ursprünglichen Gruppen. So werden in den antiken Berichten Leute mit Namen Markomannen, Sueben oder später Heruler und Langobarden in verschiedenen Gegenden Germaniens genannt, meist im Zusammenhang mit kriegerischen Vorgängen. Womöglich war der Name dann auch an den Bewohnern der ländlichen Siedlung hängen geblieben. All das konnte zu einer facettenreichen Verwirrung führen, wenn man die Verhältnisse nicht kannte und sich über scheinbare Widersprüche nicht wunderte, wie das bei den antiken Schriftstellern so gewesen zu sein scheint. Der bekannte Grabstein aus Aquincum/Budapest aus dem 5. Jahrhundert drückt diese Differenzierung für eine Person mit verschiedenen Identitäten klar aus; der Tote war zu Lebzeiten ein Franke und zugleich als Soldat römischer Bürger (vgl. S. 700). Später verkörperte der Franke Childerich diese doppelte Identität, er war römischer General und zugleich germanischer König. Das Gegenüber der römischen Zivilisation und Verwaltungsstruktur dort und der offenen, vielteiligen kulturellen Organisation der Bevölkerung in Germanien hier wurde von jeder der beiden Seiten sicherlich unterschiedlich empfunden. Von germanischer Seite erlebte man die römische Macht einerseits als meist militärisch dominant und ihre Siedlungslandschaften durch Kriege und militärische Übergriffe allgemein bedrohend, andererseits – wie über die Jahrhunderte nach der Niederlage Roms in den Germanenkriegen – zunehmend auch als eigenes Ziel von Angriffen auf die Provinzen, um Beute zu machen. Zugleich konnte man als Söldner im römischen Heer Geld verdienen sowie Erfahrungen sammeln und nach Rückkehr in seiner heimatlichen Umwelt daraus Gewinn erzielen und seinen Lebensstil ändern. Von römischer Seite betrachtete man die Grenze und das Hinterland zu Germanien als Raum für Expansionen, im militärischen Sinn, und sah darin mögliche erweiterbare Siedlungsareale, als eine „Frontier“-Situation, wie seinerzeit in Nordamerika für die nach Westen vordringenden weißen Siedler ins Indianerland (vgl. dazu Anhang 3). Mehrfach habe ich betont, dass dieses Gegenüber nicht als Gefälle gewertet werden sollte, sondern als prinzipiell unterschiedliche Auffassung der Lebensweise. Für die römischen Bewohner der Provinzen mag der Lebensstil in Germanien „fremd“ gewirkt haben, nicht nur „anders“, während umgekehrt die römische Lebensweise von Germanen zwar anfangs auch als „fremd“ und „gefährlich“ empfunden wurde,
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aber dann sehr bald auch durchschaut, in manchen Aspekten übernommen und akzeptiert worden ist, als ein transkulturelles Verhältnis über mehrere Jahrhunderte hinweg. Akkulturation war aber nicht nur einseitig, sondern beruhte auf Gegenseitigkeit: Gerade im militärischen Bereich, dem der Bewaffnung, zwang germanische Überlegenheit zur Anpassung der Kampfesweise und Ausrüstung der römischen Truppen. Ebenfalls wurde geschildert, dass trotz der Nähe zu den römischen Provinzen, im unmittelbaren Vorgelände zum Limes und den Stromgrenzen, die dort siedelnde „germanische“ Bevölkerung ihren traditionellen Lebensstil beibehielt und nicht romanisiert wurde. Die auswählende Über- bzw. Annahme von römischem Sachgut höherer technischer Produktion spiegelt Realitätsbewusstsein, führte aber nicht zur Aufgabe der eigenen Identität. Zusammengefasst spreche ich gegen die überlieferten Vorurteile, um den Weg zum Verständnis dieses andersartigen Lebensstils in Germanien zu ebnen, der schon Jahrhunderte vorher begonnen hatte und weitere Jahrhunderte bis ins Mittelalter weiter beibehalten wurde. Germanien war kein unwirtliches Land, sondern war völlig erschlossen und dicht besiedelt. Nicht vereinzelt liegende Gehöfte bestimmten die Landschaft, sondern ein enges Netz von großen Dörfern. Es gab je nach politischer Situation Befestigungen und ebenso gab es Kultanlagen. Krieg spielte eine wesentliche Rolle im Leben der männlichen Bevölkerung, die sich zu Gefolgschaften zusammenschloss, um Beute zu machen und nicht zuletzt auch, um auf ständige Bedrohung durch römische Truppen zu reagieren. Von den Jahrhunderten vor Chr. Geb. bis in die Epoche der sogenannten Völkerwanderungszeit entfaltete sich die Gesellschaft in Germanien wirtschaftlich und gesellschaftlich, es bildeten sich Hierarchien heraus, was im kriegerischen Bereich wachsende Stärke mit sich brachte. Man kann auch sagen, den Vorurteilen sind die gegenteiligen Fakten gegenüberzustellen: Statt des behaupteten dunklen, kalten Nordens gab es ein Klimaoptimum; statt undurchdringlicher Wälder und Sümpfen gab es offene Landschaften und ein ausgeprägtes Wegenetz mit Landsperren, Fernwegen und kilometerlangen Bohlenbrücken; statt verstreute primitive Hütten gab es große dreischiffige Wohn-Stall-Häuser und Dörfer mit zahlreichen Gehöften; statt primitiver Technologie gab es Überproduktion (die auch in die römischen Provinzen liefern konnte) an Eisen und anderen Rohstoffen; statt spontan zum Kampf bereite Bauernkrieger gab es organisierte, trainierte Kriegerverbände; statt brutaler barbarischer Opferbräuche (so früher auch in der römischen Welt) gab es geplante sorgfältige Weihungen von Heeresausrüstungen ohne Menschenopfer;4695 statt allgemeiner Romfeindlichkeit bei den Germanen gingen diese
4695 Doch wurden in jüngster Zeit in den Mooren auch massenhaft Menschenknochen gefunden, die jedoch älter sind als die Waffenniederlegungen (vgl. S. 733 und 757).
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zahlreich als Söldner in die römische Armee; statt Abgrenzung übernahm man gern fortschrittliche Techniken, Esssitten, auch Wein, und besondere Bräuche, wie beispielsweise den Toten einen Charonspfennig mitzugeben; statt nur ständig die römischen Provinzen zu bedrohen, führten die Stämme auch innerhalb von Germanien zahlreich und ständig Kriege. Diesem Gegeneinander in internen Kriegen standen aber auch weitgespannte Verwandtschaftsbeziehungen der Elite gegenüber, die man – in einem Ausschnitt der verschiedenen Bestattungssitten – anhand der oft normiert wirkenden Grabbeigaben sowohl in den „Fürstengräbern“ als auch bei normalen Bestattungen ablesen kann; und statt ständiger Streitereien untereinander, was als positive Begründung für das Ende der Germanenkriege aus römischer Seite diente, dass nämlich die Germanen schon gegen einander sich durch Kriege schwächen würden, übernahmen alle in Germanien die neu geschaffene Runenschrift als Anti-Entscheidung, nicht etwa das römische Alphabet. Diese Eigenständigkeit zeigt sich auch in der Entwicklung der sogenannten „germanischen“ Kunststile, ausgehend von römischen Vorbildern, doch sichtlich nach eigener Auffassung umgewandelt und somit auch uminterpretiert, was den Inhalt angeht, mit eigener Bilderwelt und Schrift. Rom konnte Germanien nicht erobern, weil z. B. Vertragspartner fehlten und Verträge anders gewertet wurden als man das von Rom aus gewohnt war. Militärische Verbände aus Germanien waren später während und nach der „Völkerwanderung“ aber umgekehrt in der Lage, sich in der geschwächten römischen Gesellschaft einzufügen und staatliche Organisationsformen zu übernehmen, also auf dem Boden der römischen Provinzen eigene Reiche zu gründen. Rom konnte Germanien nicht integrieren, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse anders waren als zeitweilig in Gallien, in Dakien oder auf den Britischen Inseln und natürlich im Römischen Reich selbst. Es war eine politische Ausrede der römischen Seite, wenn behauptet wurde, dass man Germanien nicht einbinden wollte, weil dort nicht viel zu holen war. Im Sinne von Herwig Münkler handelte es sich bei den Kämpfen zwischen Römern und Germanen um asymmetrische Kriege, reguläre Armeen gegen Partisanen und schweifende Kriegerscharen, bei denen Rom fast immer siegte, aber ohne weitergehende Erfolge; und die Kriege wurden auch aus politischen Gründen und mit Blick auf Beute immer wieder von römischer Seite angezettelt.4696 Die kurzfristigen germanischen Kriegszüge in die römischen Provinzen hatten – im Sinne der Anführer der Kriegerverbände – in der Regel bessere Erfolge, man gewann nämlich umfängliche Beute. Germanien musste so reagieren. Römisches Militär zerstörte Dörfer, die Bewohner zogen sich in die Wälder zurück und waren nicht zu fassen.4697 Man versuchte, und auch das am Ende vergeblich, Widerstände zu brechen, indem man größere Bevölkerungsteile zwangsweise umsiedelte. Den Schriftquellen ist nicht eindeutig bei den Berichten über Umsiedlungen zu entnehmen, wieviele Leute eigent-
4696 Münkler 2002/2009; 2013. 4697 Drinkwater 2007.
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lich tatsächlich umgesiedelt wurden und wie das zu organisieren war. Wurde flächendeckend Bevölkerung von dörflichen Siedlungen vertrieben und in andere Landesteile, beispielsweise auf die andere Rheinseite ins römische Gebiet, verschoben, oder fasste man nur die Kriegergruppen und zwang sie, sich andernorts niederzulassen. Im archäologischen Fundbild ist flächendeckendes Verlassen von Siedlungen nicht erkennbar; Abbrüche einzelner Siedlungen können auf interne Kriege und Rivalitäten zurückgeführt werden oder auch auf Unfälle, umfassende flächige Schadensfeuer und Unwetterkatastrophen, was aber archäologisch bei abgepflügten alten Oberflächen nur schwer nachzuweisen ist. Umsiedlungen setzen voraus, dass es andernorts besetzbare freie Siedlungsareale gab, ohne dass dort etwa Bevölkerung vertrieben werden musste. Theoretisch ist ein Austausch von Bevölkerung möglich, wie die Aussiedlung der deutschen Bewohner und die Ansiedlung polnischer Bevölkerung in den ehemaligen deutschen Städten, Dörfern und Häusern im Osten nach dem Zweiten Weltkrieg beweisen. Der Baubestand blieb (fast) unverändert, aber die seit Jahrhunderten dort lebende Bewohnerschaft wurde fast vollständig ausgewechselt. Im frühen Germanien war das so nicht möglich, weil die Gebäude nicht lange hielten, sondern etwas alle 30 Jahre neu errichtet werden mussten, aber die gleiche Bauweise wurde beibehalten. Fremde Bevölkerung hätte anders reagiert und auch anders gebaut. Rom griff in Germanien militärisch ein, nutzte die existierenden Wege, die vielleicht auch weiter ausgebaut wurden, gründete Marsch- und Standlager auf diesen Vormarschrouten, wie bei Hedemünden im Weserbergland in größerer Entfernung von der Grenze, gründete im Nahbereich stadtartige Siedlungen wie Waldgirmes, die aber wegen der Niederlage des Varus und dem Ende der Germanenkriege nur von kurzer Dauer waren, errichtete später im Vorfeld in Mähren bei Mušov nach römischer Art Häuser. Rom beeinflusste die Eliten in Germanien, die als Statussymbole gern römische Luxusgüter annahmen und die auch von der Bestattungsgemeinschaft mit ins Grab der verstorbenen Person, Mann oder Frau, gestellt wurden. Es hat mehrere Wellen von Importen nach Germanien gegeben. Neben einem ständigen Kleinhandel unternehmenslustiger Händler brachten bestimmte Ereignisse Schübe von Sachgütern nach Germanien. Die auffälligen und schönen Silberbecher-Paare kamen wahrscheinlich mehr oder weniger gleichzeitig ins Land, wurden dann aber innerhalb der Elite weiterverschenkt und wurden dann erst zu unterschiedlichen Zeiten als Grabbeigabe in die Erde gelegt, nachdem manche Becher noch nach germanischem Geschmack umgearbeitet und andere gewissermaßen als Kopien hergestellt worden waren. Die Kartierung von Sachgütern, auch von Waffentypen, aus der Zeit der Markomannenkriege (166–182 n. Chr.) zeigt eine Diagonale vom Böhmen bis nach Schleswig-Holstein, womit ein Jahrhunderte alter Fern-, Transport- und Mobilitätsweg und dann auch der Marschweg von Truppen markiert worden ist. Der umfangreiche Hildesheimer Silberschatz wurde und wird oftmals als Folge der Niederlage der Legionen des Varus 9 n. Chr. betrachtet; die Ausplünderung der stadtartigen Siedlung Waldgirmes durch kelto-germanischen Bevölkerung des Umfeldes hat z. B. die Teile der zerschlagenen bronzenen Reiterstatuen zu Rohstoffmaterial
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gemacht, von dem man Reste weit verteilt in den umgebenden Siedlungen gefunden hat. Als Niederschlag der Ereignisse um die Markomannenkriege (160–182) werden Verteilungsmuster von Sachgütern im gesamten Germanien betrachtet, wofür es durchaus, wie dargestellt, andere Möglichkeiten der Erklärung gibt. Die Ereignisse im Römischen Reich mit Begründung des Gallischen Sonderreichs unter Postumus (259– 268 n. Chr.) waren eine Phase verstärkter Söldneranwerbung aus Germanien, was eine Welle von wertvollen Gütern nach Innergermanien durch Rückkehrer gebracht und sich in den Grabausstattungen der Körpergräber vom Typ-Haßleben-Leuna und auch Gommern niedergeschlagen hat. Einerseits wird von der Forschung die Ärmlichkeit der germanischen Ländereien genannt, die es für Rom nicht lohnend erscheinen ließ, diese Gebiete zu erobern, andererseits wird gleichzeitig betont, dass sich vom 1. bis 4. Jahrhundert die wirtschaftlichen Grundlagen entscheidend geändert hätten, verbunden mit einem beachtlichen Aufschwung. Doch ist nicht zu übersehen, dass es von Anfang an auch immer einen militärischen Druck von germanischer Seite auf die römischen Provinzen gegeben hat. Man kann bis zu den Kimbern und Teutonen zurückgehen, auf Ariovist und seine Sueben hinweisen und dann die Niederlage des Varus anführen. Somit ist doch offensichtlich von einem beachtlichen Bevölkerungsdruck über mehrere Jahrhunderte hinweg auszugehen, auf den Rom auf unterschiedliche Weise reagiert hat. Es wird ein Limes ausgebaut, mit Wall, Palisaden oder Mauern, Graben und Wachtürmen sowie Kastellen, der im Südwesten Deutschlands bis an den Neckar und noch darüber hinaus nach Osten vorgeschoben gerade 150 Jahre gehalten werden konnte. Dann musste die Grenze der Verwaltung und der militärischen Abwehr an Rhein und Donau zurückgenommen werden. Die germanischen Kriegsfürsten und ihre Heeresverbände ließen sich trotz dieser Grenzsicherungen nicht abhalten; die Einfälle ins römische Reich nahmen zu, Ansiedlungen von Germanen, Foederatenverträge, Finanzierung der Heerhaufen mit Geld, Getreide und schließlich Steuer- bzw. Landzuweisungen markierten die Auflösung der römischen Reichsstrukturen. Zu beachten ist, dass der römische Limes in Südwestdeutschland in Etappen immer weiter nach Osten vorgeschoben wurde, zuletzt seit der Mitte des 2. Jahrhunderts bis um 260 n. Chr. mit einer neuen Linie nur 25 bis 30 km vor dem bisherigen Verlauf, auf der Linie Walldürn-Lorch unter Antoninus Pius 155 n. Chr. Die zusätzliche Landgewinnung war gering, der Ausbau nur zur Kontrolle des Verkehrs über die Grenze eigentlich zu aufwendig, so dass doch von einer Bedrohung auf der anderen Seite ausgegangen werden sollte, die zur Verkürzung auch der Verkehrsverbindungen geführt hat. Die archäologischen Geländeforschungen der letzten Jahrzehnte haben an Main, Tauber und Jagst unmittelbar im Vorgelände zum Limes eine – fortlaufend zunehmende – beachtliche Besiedlungsdichte erkennen können (vgl. oben S. 1026).4698 Ähnlich sahen die Verhältnisse im Norden der Britischen Inseln aus: Der
4698 Mehrere Arbeiten von Steidl 2004; 2007; 2014; 2016.
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Abstand zwischen der dortigen Reichsgrenze, dem Hadrianswall (Hadrian, 117–138 Kaiser, unter dem die Befestigung ausgebaut wurde) und dem Antoninuswall (Antoninus Pius, Kaiser 138–161, der um 140 n. Chr. eingerichtet wurde), weiter im Norden betrug zwar immerhin um 140 km, bestand aber nur bis 181 n. Chr. und musste auch wieder zurückgenommen werden. Es ging um ständige starke Bedrohungen aus dem Norden. Ohne die Hunnen, wie Peter Heather jüngst schilderte, die von Rom als militärische Bundesgenossen gewonnen worden waren, wären schon vor Mitte des 5. Jahrhunderts gegen die Goten und andere Germanengruppen kein ausreichender Widerstand mehr möglich gewesen. Während im Rahmen des Projektes „The Transformation of the Roman World“4699 der European Science Foundation ein kontinuierlicher Wandel vom spätrömischen Reich hin zu den germanischen Königtümern beschrieben wird, gibt es in der wissenschaftlichen Diskussion auch wieder das Aufgreifen der alten Thesen, dass eine Vielzahl germanischer Stämme den Untergang des Römischen Reichs militärisch erzwungen hätten. Bezeichnet man die Gruppen weniger als Stämme, als ethnische Abstammungsgemeinschaften, sondern eher als Kriegerverbände unter der Führung von Kriegsherren oder Heerkönigen, dann entsteht eine realistischere Vorstellung von dem, was damals geschehen ist. Es braucht hier nicht erneut diskutiert zu werden, ob die Germanen aufgrund ihrer Übermacht nun den Untergang des Römischen Reichs verursacht haben oder ob die innere Schwäche des Imperiums den Verfall bzw. den Wandel eingeleitet hat, den die Kriegerverbände aus Germanien dann nur ausnutzten. Entscheidend ist, dass eigentlich im ganzen ersten halben Jahrtausend die Bevölkerung in Germanien eine Bedrohung für Rom darstellte, die sich immer wieder in ernsthaftem kriegerischen Druck geäußert hat, ähnlich wie das im Norden der Britischen Inseln war oder auch durch die Nomadenstämme in Nordafrika und in anderer Größenordnung an der Ostgrenze des Imperiums zum Reich der Perser, Parther und Sassaniden. Doch betone ich noch einmal, dass diese ständige Bedrohung Roms durch Germanen auch immer eine Reaktion gegen den Eroberungswillen des Römischen Reichs gewesen ist. Eine wirtschaftlich armselige Landschaft hätte nicht zur ständigen Überbevölkerung und zu einem Bevölkerungsdruck geführt, deren Folge die Entstehung von frei schweifenden Kriegerverbänden war. Ob es um die verbündeten Heere des Ariovist, Arminius oder Marbod oder später um die Verbände während der Markomannenkriege ging, jeweils handelte es sich nicht um Hungerflüchtlinge, wie die Auswandererwellen im 19. Jahrhundert aus Irland nach Nordamerika oder im 21. Jahrhundert die Migranten, die in schwankenden, wenig seetüchtigen Booten aus Afrika ins Abendland zu gelangen versuchen. Kann man auch diese offene oder verborgene Einwanderung heute nicht stoppen, so drangen auch damals immer wieder Germanen ins Römische Reich ein, trotz aller Gegenmaßnahmen auf der militärischen oder
4699 Wood 2006.
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auch der Verwaltungsebene. Aber die Kriegerverbände damals waren dennoch keine Hungerflüchtlinge, auch wenn sie Getreide und andere Verpflegung durch militärischen Druck erpressen konnten, sondern sie waren gut und zeitgemäß modern ausgerüstete schlagkräftige Truppen, die den römischen Legionären in der Kampftechnik und auch in der Ausrüstung mit Waffen ebenbürtig oder gar überlegen waren. Wenn auf den Schlachtfeldern von Kalkriese oder Harzhorn keine „germanischen“ Waffen oder Teile davon gefunden werden, dann liegt das daran, dass sowohl die von Arminius geführten Einheiten als auch die späteren germanischen Truppen wie römische Auxiliarverbände ausgerüstet oder wie die Legionen selbst bewaffnet waren. Schon die in den nachfolgenden Jahrhunderten aus den Heeresausrüstungsopfern in Jütland oder aus Bestattungen der Przeworsk-Kultur in Polen archäologisch geborgenen Schwertklingen stammen zumeist aus römischen Waffenfabriken, wie nicht zuletzt die Klingenmarkierungen, darunter Victoria-Darstellungen, beweisen. Sollten nicht alle Schwerter tatsächlich als Beutestücke oder Handelsgut in germanische Hände gelangt sein – Waffenhandel auch zu den Gegnern ist zu keiner Zeit verhindert worden –, dann hätte eine eigene Produktion derartiger Waffen das römische Aussehen und die römische Qualität nachgeahmt; und das ist tatsächlich auch geschehen (vgl. S. 662).4700 Nicht einmal auszuschließen ist, dass römische Waffenschmiede irgendwo in Germanien gearbeitet haben, so wie das unmittelbar für Töpfereien zur Produktion von römischer Drehscheibenware – was nicht nur die Technik, sondern auch die Gefäßformen angeht – als Luxusgüter im Thüringischen belegt ist. Auch die Schmuckherstellung kann von römischen Handwerkern in Germanien oder von römischer Seite ausgebildeten einheimischen Handwerkern übernommen worden sein. Das Niveau germanischer Lebensführung, was Landwirtschaft, Viehhaltung, Güterproduktion und Handel angeht, sollte man sich also nicht zu schlicht vorstellen, beeindruckt von der Hochzivilisation der römischen Welt mit ihren Aquaedukten, komplexen Bädern und Heizanlagen sowie der weiträumigen territorialen Organisation der Verwaltung. Germanien war anders, aber nicht grundsätzlich primitiver, schwächer oder rückständiger. Das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Lebenswelten schuf damals und schafft auch heute Vorurteile. Claus von Carnap-Bornheim spricht vom Zwiespalt zwischen Anpassung an die römische Zivilisation und Widerstand durch Betonung der eigenen Facetten im Lebensstil.4701 Wie steht es mit dem mehrfach postulierten fehlenden Gemeinschaftsbewusstsein der Bevölkerung in Mittel- und dem südlichen Nordeuropa, die man gemeinhin als „Germanen“ bezeichnet? Das Gegenteil habe ich weiter oben beschrieben. Hat es tatsächlich kaum Gemeinsamkeiten gegeben, die über die Sprache „germanisch“ hinausgehen? Aber immerhin ist eine einheitliche Sprache, das Verstehen untereinander, doch schon eine wesentliche Gemeinsamkeit, auch wenn wohl tatsächlich
4700 Biborski u. a. 2015. 4701 v. Carnap-Bornheim 2006.
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kaum damals davon gesprochen wurde, dass sich einer als Germane und nicht eher als Cherusker oder Suebe benannt hat. Ich habe auf die Runenschrift verwiesen, die im späten 2. oder frühen 3. Jahrhundert irgendwo im Bereich der dänischen Inseln erfunden worden ist und die dann über Jahrhunderte von allen germanisch sprechenden Leuten verwendet wurde. Wie ist das seinerzeit organisiert worden, wer hat für die Ausbreitung dieser Schrift – anstelle der lateinischen Schrift – geworben und gesorgt. War das ein spezieller Stand in der Gesellschaft von „Gelehrten“, vielleicht auch mit einem religiös begründeten Auftrag, wer waren die „Runenmeister“, von denen gesprochen wird? Wir wissen das nicht. Es gibt noch die Gemeinsamkeit über verblüffend große Distanzen hinweg, abgebildet in den sogenannten „Fürstengräbern“. Nicht umsonst habe ich diese Gräber ausführlicher beschrieben, um eben erkennbar zu machen, wie ähnlich und besser noch gleichartig diese Gräber angelegt und mit Beigaben von den Hinterbliebenen, der Bestattungsgemeinschaft, ausgerüstet worden sind. Sie gehören zu einer gesellschaftlichen Gruppe, eines Teils einer Elite, die sich anders als die Mehrheit der Bewohner verhalten hat, zumindest im Totenbrauchtum. Die kennzeichnenden Elemente sind über hunderte von Kilometern hinweg gleichartig, nämlich die Anlage der Gräber abseits der sonstigen Gräberfelder, die Wahl der Körperbestattung, der Bau von großen Kammern – mit Baumsärgen darin – und einer darüber gelegten schützenden Steinpackung und dann die Beigabenzusammenstellung, die nicht nur aus Edelmetallschmuck, sondern vor allem aus erstaunlich gleichartiger Ausrüstung für ein festliches Gelage mit Ess- und Trinkgeschirr besteht. Dass diese Geschirrbeigaben vor allem römische Importe sind, fordert noch zum Nachdenken in eine andere Richtung auf. Aber zuerst sollte man sich fragen, warum es über beachtliche Distanzen hinweg seinerzeit dazu gehörte, ein Silberbecher-Paar und Kelle und Sieb sowie Gläser für die Getränke neben anderen Behältnissen im Grab zu haben. Und wenn man nicht über römische Silberbecher verfügen konnte, machte man sie in heimischem Stil nach. Ob das abgestellte Inventar nun vom letzten Totenmahl stammte oder eine Ausrüstung für irgendein Jenseits sein sollte, sei dahingestellt. Vielmehr ist zu fragen, woher die Bestattenden in Böhmen oder auf den dänischen Inseln wussten, dass diese Lösung gewählt werden musste; wer hat ihnen das gesagt? Kannten die Angehörigen dieser Gruppe sich über so weite Entfernungen hinweg, waren sie verwandt, heirateten sie untereinander? Jedenfalls wurden dabei die Siedlungsgebiete von „Stämmen“ weitgreifend überschritten. Die archäologische Überlieferung bietet aufgrund der eingeschränkten Erhaltungsbedingungen immer nur einen winzigen Ausschnitt aus der ehemaligen Lebenswirklichkeit, und das gelingt eben in erster Linie über die Grabsitten. Aber immerhin ist nicht zu übersehen, dass hier eine Gemeinsamkeit vorliegt, die den damaligen Leuten bewusst gewesen sein wird; denn – noch einmal – wer hat ihnen denn gesagt, dass man sich so verhalten sollte. Es sind dann die Importsachen aus dem Römischen Reich, die eine solche Einheitlichkeit spiegeln, Sachgüter, die aber auch zu Brandbestattungen gehörten, dann aber auf dem Scheiterhaufen zerstört und zerschmolzen
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sind. Sie kommen also nicht nur bei der Elite vor, die Kammergräber für die Körperbestattung bauten, sondern erreichten ebenfalls die Eliten der anderen Bevölkerungsgruppen. Auch sei hinzugefügt, dass die Beigabensitten der römischen Eliten anders strukturiert waren; es wurde also kein römischer Brauch kopiert. Waren es Fremde, die wie zu Anfang der Forschung als römische Händlerfamilien gedeutet wurden; waren es „Verwaltungsbeamte“ oder Militärs – Waffen fehlen aber in der Regel – einer oder mehrerer einzurichtenden römischen Provinzen oder Mitglieder eines Kultverbandes. Darüber wurde und wird diskutiert. Am Nächstliegenden ist sicherlich die Vorstellung, dass man es mit einer „Adelsschicht“ zu tun hat, die einerseits leichter als andere an römische Luxusgüter herankommen konnte und andererseits – wie der Adel in der Neuzeit und bis in die Gegenwart – weiträumig miteinander verwandt war und auch untereinander heiratete. Das war und ist dann nur eine Gemeinsamkeit innerhalb der elitären Familienverbände und bezieht die allgemeine Bewohnerschaft nicht mit ein. Über die Analogie zur Neuzeit weiß man aber auch, dass diese Gemeinsamkeit nicht zu einheitlichem Handeln führen muss, dass es Gegnerschaften gab, die bis zum Krieg führten. Es gibt eine weitere Erklärung für diese scheinbare Einheitlichkeit der „Fürstengräber“, deren Anlage und Ausstattung doch wesentlich mehr Unterschiede und Abweichungen bieten, als bisher angenommen, was sich aus der Zunahme an neu entdeckten und gut untersuchten Elitegräbern ergibt. Regelmäßig wird darauf hingewiesen, dass Söldner aus römischem Dienst zurückgekehrt römische Sachgüter und Sitten mitgebracht haben. Aber auch die „multiethnisch“ zusammengesetzten Gefolgschaftsverbände in Germanien brachten Krieger aus allen Gebieten Germaniens zusammen, die ebenfalls zurückgekehrt in ihre Heimatsiedlungen Beute mitbrachten und fremde Sitten. Es sieht so aus, als ob gerade diese militärischen Verbände für die Vereinheitlichung auch von Grabsitten geführt haben. Ein andersartiges Gemeinschaftsbewusstsein ist auf diesem Wege entstanden. Noch eine weitere Gemeinsamkeit könnte man anführen, die jedoch allein aus den Schriftquellen zu erschließen ist. Das sind die militärischen Koalitionen zwischen den einzelnen Kriegerverbänden über die „Stämme“ hinweg. Die Koalitionen des Ariovist, des Arminius und des Marbod um Chr. Geb. brachten die verschiedensten Gruppierungen zusammen, ebenso die in der Spätantike im 4. Jahrhundert geschlossenen Bündnisse der Alamannenkönige gegen den Caesar Julian. In allen diesen kriegerischen Auseinandersetzungen ging es gegen die Übermacht des Römischen Reichs mit seinen Legionen. Man sah das gemeinsame Handeln als Notwendigkeit an, um eine militärische Überwindung zu verhindern und die Eigenständigkeit zu verteidigen. Wenn auch die „Germanen“ kein Gemeinschaftsbewusstsein von Einheit gehabt zu haben scheinen, wie wir uns das heute vorstellen, so gab es doch einheitliche kulturelle Eigenschaften. Wilhelm Heizmann und Sigmund Oehrl betonten 2015, „dass die Sprecher dieser [der germanischen Sprache] durch ein überregionales Netz gemeinsamer kultureller Erscheinungen wie Schrift, Ikonographie, Religion, Heldensage oder Dichtersprache mit einander verbunden waren“. Und: „Die Rezeption der fremden
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Vorbilder erschöpfte sich auch nicht in der bloßen Nachahmung“, die „Aneignung mediterraner Bildmotive“ führte „zur Herausbildung einer reichen eigenständigen Bildüberlieferung“, „eine qualifizierte Schicht von Spezialisten“ war „offensichtlich in der Lage […], hochkulturelle Phänomene wie Schrift und Bild der eigenen Kultur anzuverwandeln“. Diese saßen sicherlich an den politischen Zentralplätzen, den Herrenhöfen oder frühen Zentralorten.4702 Wenn Germanicus gesiegt hätte, was wäre dann geschehen, so fragt W. Brepohl, und die Antworten erstaunen:4703 Wenn es zur Gründung einer römischen Provinz gekommen wäre, wäre die Folge a: Verlust der Stammeskultur und der Sprache, „es würde heute kein Deutschland geben“, die Folge b: Übernahme der römischen Zivilisation, keine zerstörerischen Kriege mehr; das wäre eine andere Romanisierung. Jede wirtschaftliche und gesellschaftliche Struktur wäre anders. Dieser Autor geht noch 2017 wieder von den alten Topoi aus, den kleineren Siedlungsinseln in meist großen Waldgebieten, dem nicht belastbaren Wegenetz, der knappen Produktion nur gerade für den nötigen Eigenbedarf. Er schließt weitere seltsame Argumentationen an: Etwa 1 bis 3 Millionen römischer Besatzung musste von außen aus den Provinzen versorgt werden; denn das Gebiet Germanien war unbedeutend, außer der Bleigewinnung im Sauerland. Auch musste die ferne Elbegrenze gesichert werden, wie Rom immer seine Außengrenzen schützen musste (die deshalb auch immer weiter nach außen vorgeschoben wurden). Östlich der Elbe saßen zudem auch Germanen; und die Stämme des Arminius-Bündnisses hätten sich hinter die Elbe zurückgezogen (Tacitus, Annalen II, 19, 1). Weiter wird gefragt, ob nach der Einrichtung der Provinz die Völkerwanderung verhindert worden wäre. Bei den großen Stammesverbänden mit beispielsweise 100 000 Menschen und 10 000 Kriegern gegenüber dem römischen Imperium mit 80 bis 100 Millionen Einwohnern wäre das möglich gewesen. Aber im 5. Jahrhundert bestanden die Legionen schon vor allem aus Germanen, und das führte zum Untergang des Römisches Reichs. Diesen Beitrag zitiere ich, weil er gegenwärtig immer noch von den Vorstellungen zu Germanien ausgeht, die von der archäologischen Forschung längst widerlegt wurden, und damit müsste heute die Frage „was geschehen wäre, wenn“ entweder völlig anders beantwortet werden oder vielmehr als überflüssig angesehen werden. Abschließend zu diesem Kapitel weise ich auf die modernen und teils modischen Begriffe der „Identität“ und der „Identitäten“ hin, den auch die Archäologie benutzt und womit aber nicht einfach Identifizierung gemeint ist. Es geht um Gruppenbewusstsein bzw. um Einzelne, die sich einer Gruppe oder wechselnden oder sogar gleichzeitig mehreren Gruppen zuordnen (vgl. oben S. 72 ff.). Das spielt eine Rolle bei der Deutung von archäologischen Beigabenbräuchen, von Kartierungen gleichartig verbreiteter Sachgüter und beim Übergang zu den Geschichtsquellen, wenn es
4702 Heizmann, Oehrl 2015. 4703 Brepohl 2017, 145 f.
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um den Nachweis eines Stammes oder von Stämmen geht. Schlagwortartig ist das oben vielfach als „ethnische Deutung archäologischer Kulturprovinzen“ bezeichnet worden, was unter heutigen methodischen Grundlagen nicht mehr sinnvoll erscheint. Ich gehe noch einmal darauf ein, weil der neue Direktor des Deutschen Historischen Museums in Berlin sich mehrfach 2018 zu diesem eigentlich nichtssagenden Begriff geäußert hat (vgl. S. 77).
4 Analogien zwischen heute und damals Im Jahr 2019 bot die Ausstellung „Bewegte Zeiten“ in Berlin als Bilanz von 20 Jahren Archäologie in Deutschland durch die Arbeit der Landesämter ein neues Bild nicht nur von der Vor- und Frühgeschichte insgesamt, sondern ebenfalls für die Zeit der Germanen. Doch auch hier vermischen sich alte und neue Vorstellungen von der Vergangenheit. Es heißt in den Besprechungen zur Ausstellung etwa: Der Sinn des museumsdidaktischen Potpourris ist klar: das alles hat mit Entwicklungsschritten der Menschheitsgeschichte zu tun. Aber in der Anhäufung des Disparaten wird der Leitgedanke der Kuratoren verwischt statt betont. Die Befunde vom Harzhorn in Niedersachsen (vgl. hier S. 769) werden selbstredend weiter als „Schlachtfeld“ eines Gemetzels 234 zwischen Römern und Germanen dargestellt, und zwar als Hinterhalt der Germanen, dem aber die Römer „siegreich“ entkamen. Das Thema „Bildersturm“ wird anhand einer zerstörten Jupitersäule aus einem Brunnen im Kohortenkastell Obernburg erläutert, als sektenhafter Bilderhass (vgl. hier S. 648). Ganz anders sieht Urs Willmann die Ausstellung in einem Beitrag zur Zeitung DIE ZEIT vom 20. September 2018, No. 39 (Seite 31); denn sie zeige, wie lebendig die Vergangenheit wird, sobald man sich vom Zeitstrahl löst (genannt wird der Projektleiter Matthias Wemhoff, Landesarchäologe im Bundesland Berlin und Direktor des Museums für Vor- und Frühgeschichte). Die Ausstellung belege überzeugend, so U. Willmann, dass Deutschland bzw. seine früheren Einzelteile schon immer mit den Nachbarn vernetzt und Teil Europas war, „Europa als Praxis ist älter als jeglicher Nationalstaat“. Die vier Themen des Ausstellungskonzepts „Mobilität, Austausch, Konflikt und Innovation“ zeigen die „Vergangenheit in überraschend aktuellem Licht… Vieles, was wir heute an Entwicklungen verfolgen, ist in Frühformen längst da gewesen“. Das wirft aber – so sehe ich das – ein methodisches Problem auf; denn aus unserer Zeit und unserer Vorstellung heraus interpretieren wir die Befunde und Funde der Vergangenheit, und meinen vielleicht nur, zu verstehen, wie es damals gewesen sein könnte. Im Interview, auf das ich weiter unten eingehe, wird denn auch von Harald Meller (Landesmuseum Halle) darauf hingewiesen, dass auch wir Archäologen Kinder unserer Zeit sind, und daher gehen wir, so meine ich, von „Vorurteilen“ oder anders gesagt, von gewissen „Vorverständnissen“ aus und meinen, nicht einfach nur die Phantasie walten zu lassen. Wenn man ehrlich ist, kann man fragen, ob die alten widerlegten Vorurteile der Antike nicht durch neue Vorurteile unserer Gegenwart ersetzt werden. Die norddeutschen Moorwege werden in der Ausstellung als frühe Belege für Mobilität gezeigt, und zwar seit 6000 Jahren, aber sie kennzeichnen (vgl. hier S. 390) auch die Intensität des Wege- und Straßenbaus bei der Bevölkerung der ersten Jahrhunderte n. Chr.
https://doi.org/10.1515/9783110702675-039
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In derselben Ausgabe der Zeitung DIE ZEIT bringt U. Willmann ein Interview mit Harald Meller, dem Entdecker und Retter 2002 der Himmelsscheibe von Nebra, und dabei wird die Phantasie bzw. das „fantastische Buch“ angesprochen, das Harald Meller und Kai Mickel zur Himmelsscheibe von Nebra jetzt veröffentlichen.4704 Darin geht es darum, „Geschichte zu rekonstruieren“, und U. Willmann fragt, ob man die gebotene „Erzählung ganz ernst“ nehmen sollte oder könnte. H. Meller meint dazu: Auch Wissenschaft sollte man immer mit einem Augenzwinkern und einer gewissen Distanz betrachten […]. Archäologische Wahrheiten gibt es ohnehin keine. Außerdem ist jeder Forscher immer ein Kind seiner Zeit […]. [Aber] Funde vorzustellen, ohne zu versuchen, ein Gesamtbild zu zeichnen, das ist unbefriedigend (Fantastereien [Frage U.Willmann]) […] Ach was! Nichts ist spannender als die Realität.
Am Ende des Buches steht eine Romanskizze, wie es gewesen sein könnte. Achtet man auf die jüngeren wissenschaftlichen Veröffentlichungen, dann stößt man regelmäßig auf diesen Ansatz, die unzureichend wirkenden Quellen zur früheren Geschichte durch eigene Erzählungen zu beleben. Wird dies gekennzeichnet, dann ist das zu akzeptieren, wie beispielsweise zur „Schlacht“ am Harzhorn etwa im Jahr 235 (vgl. oben S. 769) geschehen; oder bei der Darstellung eines Lebenlaufs anhand der Beigaben im Grab eines „germanischen“ Kriegers (vgl. oben S. 972). Das scheint also gegenwärtig einen Weg für Archäologen zu weisen, populärwissenschaftliche Bücher zu schreiben, wie Günther Moosbauer 2018 über das vergessene Schlachtfeld von Harzhorn in seinem Buch geschrieben und über die Beschreibung der Befunde und Funde hinaus eine Rekonstruktion der Ereignisse romanhaft zu schildern versucht hat, dies aber immerhin durch kursive Schrift kenntlich macht.4705 Im Dezemberheft 2018 der Zeitschrift „Bild der Wissenschaft“ gibt es einen Beitrag zu den Befunden beim neolithischen Stonehenge, das auch „aktuell“ DNA-Analysen an Skeletten berücksichtigt, Rekonstruktionen, mit Bildern von Menschen, die romanhaft verfasst sind und so wissenschaftliche Ergebnisse und Gedanken mit der Phantasie vermischen und damit den Leser auch verwirren können. Doch wenn Fiktionen statt Fakten die Lösung sein sollen, dann geht das an die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. Michael Borgolte hat das in seiner Rezension zum Buch des Bestsellerautors Y. N. Harari aufgegriffen, wenn er die beachtliche Erzählkunst des Autors betont, aber zitiert:4706 Wer seine Darstellung liest, sollte daran denken, dass sich viele der berichteten Fakten nicht verifizieren oder bezeugen lassen und dass ich ähnlich wie die mittelalterlichen Chronisten oftmals das Gefühl hatte, meine vorrangige Pflicht sei es, eine fesselnde Geschichte zu verfassen, statt nur das aufzuschreiben, was ich sicher weiß.
4704 H. Meller, K. Michel, Die Himmelsscheibe von Nebra. Der Schlüssel zu einer untergegangenen Kultur im Herzen Europas (Berlin 2018). 4705 Moosbauer 2018, 77 ff. 4706 M. Borgolte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 26.2.2020 zu Harari 2020.
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Die Quellensplitter erlauben nicht, eine geschlossene Darstellung zu verfassen, weshalb die phantasiegeleiteten Konstruktionen der Zusammenhänge erlaubt oder notwendig seien: Wie sollte man das verstehen? Man kann anderswo lesen, dass nicht alles historisch korrekt sein müsse; denn manches ist in der Erfindung historisch sogar sprechender als staubige Faktenzeichnung. Nach diesem Blick auf gegenwärtige Tendenzen in der Wissenschaft und auf die Darstellung von Forschungsergebnissen durch Wissenschaftler kehre ich zurück zur Geschichte Germaniens in den ersten Jahrhunderten n. Chr. Ich wiederhole, dass jeder Forscher in seiner Zeit befangen die Vergangenheit zu erklären versucht, und das muss und kann sich also von Generation zu Generation der Wissenschaft ändern. Vielfach ist die logische Einsicht zu lesen, dass deshalb Geschichte immer wieder neu beschrieben und verstanden wird. Die Vergangenheit ist deshalb auch nicht vergangen und deshalb unveränderlich, sondern sie ist immer wieder neu und anders zu beschreiben (vgl. S. VIII). Deshalb haben Analogien zwischen Gegenwart und Vergangenheit auch eine eigene Funktion. Zu verstehen sind die geschilderten Strukturen und ihre Geschichte mit dem Blick auf die Gegenwart – wenn auch nur als Analogie –, auf die heutigen Zustände z. B. in arabischen Ländern, mit dem Irak, mit Afghanistan, Somalia oder dem Jemen sowie Libyen. In Afghanistan haben wir die unterschiedlichen Ebenen von Herrschaft, die gegeneinander wirken: Der Staat versucht vergeblich, das Machtmonopol militärisch durchzusetzen; die örtlichen Clan-Chefs bestimmen jedoch weitgehend die Entscheidungen, und unabhängig davon operieren auf dem gesamten Territorium die Kriegsfürsten unterschiedlicher ethnischer Herkunft (in Afghanistan Paschtunen, Usbeken, Tadschiken und weitere Gruppen) und religiöse Gruppen wie die Taliban, sowie auch fremde Söldnerführer mit auswärtigen Kriegern, und schließlich versuchen westliche Staaten mit ihren militärischen Kontingenten, zwischen den verschiedenen Ebenen den Ausgleich zu schaffen. Entscheidungen auch zu Militäraktionen treffen in Afghanistan die „Versammlung der sunnitischen Stämme“, der „große Rat“, die „Stammesversammlung in der Provinz Anbar“ und ähnliche punktuelle, nur kurze Zeit bestehende Versammlungen, eigentlich die Scheichs als Häupter von Personenverbänden, von Clans. Ein ähnliches Szenarium ist zu gewissen Jahren für Syrien oder nun auch in Libyen zu beschreiben. Und wie in der Gegenwart in der arabischen Welt lernten das europäische Mächte schon während der Kolonisierungsphase im 19. Jahrhundert kennen. Je nach Entwicklungsstand wurden manche Gruppen höherer Entwicklung rasch integriert, während akephale, segmentäre Gesellschaften ohne Macht- und Herrschaftszentren sich der europäischen Übermacht entzogen. In der Gegenwart erleben wir solche Situationen besonders nachdrücklich, zumal auch heute kulturelle (und religiöse) Gegensätze zu Kriegen führen, wobei diese Gegensätze oft nur vordergründig dazu dienen, reine Kämpfe um Macht, Herrschaft und Geld zu verschleiern. Die Diskussion mit Analogien sollte man zwar nicht zu weit treiben. Aber die politischen, gesellschaftlichen und ethnischen Strukturen in vielen Teilen der modernen Welt helfen zu verstehen, was seinerzeit zwischen Germanien und dem Römischen Reich geschehen ist.
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Blicken wir zurück auf das Innere Germaniens, wo ständig ebenfalls Kriege untereinander geführt wurden. Andreas Rau meint die Möglichkeit zu sehen, dass die Kriegsausrüstungsopfer im Norden, Hinterlassenschaften organisierter germanischer Kampfeinheiten, die Ergebnisse von verabredeten Schlachten an einem bestimmten – bisher aber nicht entdeckten – Ort gewesen sein könnten.4707 Dabei ginge es um die Durchsetzung von Herrschaft, ein Weg vom Stamm zum Staat. Die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den römischen Legionen und den Kriegerverbänden in und aus Germanien waren keine regulären Schlachten auf ausgewählten offenen Feldern. Vielmehr war die Varus-Schlacht ein Kampf aus dem Hinterhalt, ein Guerillakrieg, ebenso scheinen die Kämpfe am Harzhorn in diese Kategorie zu gehören. Es sind die „asymmetrischen Kriege“, wie Herwig Münkler meint, die Kriege zwischen regulären Armeen und spontanen Kriegerverbänden und Kämpfen aus dem Hinterhalt.4708 Uwe Hartmann hat zusätzlich vom „hybriden Krieg“ gesprochen,4709 dessen Ziele die Destabilisierung staatlicher Strukturen, gesellschaftlicher Institutionen und des allgemeinen Zusammenhalts von Gemeinschaften sind; offene Aktionen stünden neben verdeckten Einsätzen, gar durch Kämpfer ohne Identifikationszeichen, von unerklärten Kriegen, wie das in der gegenwärtigen Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine zu beobachten war und beim zeitweiligen Vormarsch der Krieger des sogenannten „Islamischen Staats“. Die Analyse moderner Kriege bietet für die früheren Jahrhunderte, um die es in diesem Buch geht, durchaus verwendbare Fakten zum Vergleich, wenn man sich in der Welt umschaut.4710 In der Rezension von St. Speicher zum Buch von D. Langewiesche zu Europas Kriegen in der Moderne heißt es: Die indigenen Gesellschaften, auf die die Kolonialmächte trafen, waren oft höchst kriegerisch. Wo in Europa die Schlacht als Duell professioneller Soldaten gesehen und ihr Ausgang politisch anerkannt wurde, neigten viele Stämme dazu, den Kampf weiterzuführen, irregulär nach europäischem Verständnis.
Hybride Kriege der Antike und Terrornetzwerke heute können parallelisiert werden: Ein besetztes und beherrschtes Territorium als politischer Machtfaktor und Terrornetzwerke aus mobilen Personen, die sich unter die Bevölkerung sesshafter Gesellschaften mischen: 50 000 Kämpfer des Islamistischen Staats besetzten für einige Jahre Syrien und Irak und wirkten nach ihrer Besiegung und Vertreibung durch Terroranschläge weltweit. Im 6. Jahrhundert wanderten 50 000 Langobarden in Italien ein und gründeten das Langobardenreich mit der Einbeziehung der weit größeren Bewohnerzahlen 4707 Rau 2016. 4708 Münkler 2002; 2013. 4709 Hartmann 2015. 4710 Langewiesche 2019; dazu die Rez. in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Nr. 111 vom 14.5.2019 (S. 12) von Stephan Speicher, Die revolutionäre Nation bewährt sich im Kampf.
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des einheimischen Italien; im Jahr 429 setzte Geiserich, der König der Vandalen und anderer Verbündeter, mit „nur“ 80 000 Menschen, dabei 15 000 bis 20 000 Kriegern, nach Afrika über und gründete dort ein Königreich trotz und mit Einbeziehung einer zahlenmäßig wesentlich größeren Einwohnerschaft. Wie ist die Ostkolonisation aus den Niederlanden und dem Deutschen Reich über die Elbe in die slawisch besiedelten Länder jenseits des Stroms im 12./13. Jahrhundert zu bewerten? War das eine Völkerwanderung, eine Besetzung, auch wenn die slawische Elite Leute zum Siedeln gerufen hatte? Nach der schriftlichen Überlieferung wurden Sachsen, Angeln und Jüten nach Abzug der Römer Mitte des 5. Jahrhunderts ebenfalls von den Bewohnern nach England gerufen, und dann setzten Hengist und Horsa mit Schiffen über, eine Einwanderung, ein kriegerischer Akt, oder nur eine Legende (zur Realität vgl. oben S. 818 ff.). Vergeblich waren die Versuche Roms, Land und Leute in Germanien zu erobern, weil die Gesellschaft dort so völlig andersartig organisiert war. Ebenso vergeblich war es zuerst für die Sowjetunion und später für die Koalition der westlichen Welt, Afghanistan zu erobern. Bis heute spielen Kriegsherren oder Warlords oberhalb und parallel zu Stammesgliederung des Landes eine politisch entscheidende Rolle. Ein Blick auf den Nahen Osten und auf die Gründung der dort nach der Kolonialzeit geschaffenen Staaten, was bei der damaligen Grenzziehung ohne Rücksicht auf die religiösen und ethnischen Gruppierungen geschah, bot ebenso personell relativ kleinen Kriegerverbänden unterschiedlichster Zielsetzung die Chancen zu militärischen Unternehmungen, ohne dabei auf die Mehrheit der Bevölkerung Rücksicht zu nehmen zu müssen. Den aktiv organisierten massenhaften und zwangsweisen Umsiedlungen und Ausrottungen von Menschen in römischer Zeit stehen heute kaum noch zu überschauende und zu bewältigende Flüchtlingsbewegungen gegenüber. Sowohl die überlieferten schriftlichen Nachrichten als auch sogar die archäologischen Quellen genügen nicht, die ehemalige gesellschaftliche Realität in Germanien ausreichend zu beschreiben. Der Weg zwingt daher dazu, Analogien als eine Zuflucht zu berücksichtigen, obgleich derartige Vergleiche immer unvollkommen sein müssen. Das Muster einer Analogie folgt aus anderen Realitäten in Zeit und Raum. Die gegenwärtigen politischen Gegebenheiten in einer als Ganzheit erfassten Erde legen aber den Blick auf Analogien nahe. Es waren erst die Kriegsherren und ihre Verbände in Afghanistan oder jetzt in Syrien oder nach dem arabischen Frühling in weiteren islamischen Ländern, die oberhalb und herausgelöst aus den Stammes- und ClanGesellschaften ihre Macht- und Beutezüge ausführten, Kriege führten. Das ergibt eine bildliche Vorstellung von den Verhältnissen in Germanien und die Vorgänge bei den Überfällen und Kriegszügen gegen die römischen Provinzen und ebenso innerhalb der germanischen Länder. Heute kommen die Flüchtlings- und Einwandererströme aus den Kriegsgebieten im Nahen Osten und aus den übervölkerten afrikanischen Ländern als Armutszuwanderer – Flüchtlinge aus unterschiedlicher lebensbedrohender Lage – und aus weiteren zerfallenden Staaten nach Europa in den Blick des Vergleichs. Anscheinend unaufhaltsam erreichen hunderttausende von Leuten Europa.
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Sie werden auf Notunterkünfte verteilt in Gemeinden und Städten, und sie hoffen auf Bleiberecht und Arbeitsmöglichkeiten. So versuchten auch Leute aus Germanien in den römischen Provinzen ein neues Leben beginnen zu können. Sie wurden zu nicht geringen Teilen eingefügt in die römischen Verwaltungsstrukturen, wurden angesiedelt in bevölkerungsarme Landstriche und ins römische Militär eingegliedert. Auch damals kamen sie einzeln in die römischen Provinzen, dienten als Söldner oder kamen als Kriegerverbände, die Beute machten, Ländereien besetzten und die örtliche Bevölkerung und Verwaltung zwangen, sie in unterschiedlicher Weise einzuquartieren. An dieses euphemistisch als hospitalitas bezeichnete spätantike Einquartierungssystem sei hier nur erinnert, wenn es heute bei uns um den Ausbau von Flüchtlingssiedlungen geht. In der Gegenwart gibt es derartige Ansätze ebenfalls, in die öffentlichen Verwaltungen, in Schulen, in den Parteien, bei der Polizei und sogar im Militär werden Fremde, z. B. Türkischstämmige, aufgenommen und auch gebraucht. Das Römische Reich war Einwanderungsland. Ab 212 in der constitutio Antoniniana, einem Erlass Kaiser Caracallas (211–217), bekamen alle freien Reichsbewohner das römische Bürgerrecht, und heute geht es auch darum, wer das Staatsbürgerrecht des jeweiligen Landes bekommen kann. Um die Kriegerverbände aus und in Germanien als Kampfverbände einschätzen zu können, gilt es, sich inzwischen darüber Vorstellungen zu machen, um welche Art von Kämpfen und Kriegen es sich tatsächlich jeweils gehandelt haben könnte. Die Aufstellung zur Schlacht von Legionen und Heereseinheiten in offenem Gelände einander gegenüber war in der antiken Mittelmeerwelt üblich, sogar bei „Bürgerkriegen“. Germanische Söldner lernten in Auxiliareinheiten auch diese Art von Krieg kennen. Doch seit der Zeit der Varusschlacht verhielten sich die beiden Seiten unterschiedlich; die römischen Truppen waren in ihren alten Vorstellungen befangen, während die germanischen Kriegerverbände aus dem Hinterhalt angriffen wie Partisanen. Von der offenen Feldschlacht über den „asymmetrischen“ Krieg geht es weiter zum hybriden Krieg ohne Kriegserklärung, bei dem offene Aktionen neben verdeckten Einsätzen stehen. So wie in unserer Zeit war in den ersten Jahrhunderten n. Chr. bei den Verbänden aus Germanien der Fall ähnlich, die in die römischen Provinzen eindrangen, was den Versuch, Abwehr zu organisieren, so schwierig machte. Ziel ist und war die Destabilisierung staatlicher Strukturen. Die gefährlichste Phase ist inzwischen die gegenwärtige Ausbreitung der terroristischen Kriegsführung mit Selbstmordattentätern. Dabei handelt es sich nicht um Aufstände aus der Mitte der Bevölkerung eines Gebietes heraus gegen die Obrigkeit, wie bei einem Bürgerkrieg, sondern um Anschläge von eingeschleusten Gruppen von Kämpfern aus verschiedensten Herkunftsgebieten, die aus weltanschaulichen bzw. religiösen Gründen wahllos Unruhe und Vernichtung erreichen wollen. Der hybride Krieg verbindet ein Territorium und einen politischen, örtlich festgesetzten Verband mit dem Terrornetzwerk der überall verteilten Zellen: Der sogenannte Islamische Staat besetzte ein Territorium, in dem er seine Terrorherrschaft aufbaute, und agierte mit den Terrorzellen außerhalb in
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anderen Ländern. Das Irreguläre muss gedacht werden, wenn man die militärischen Ereignisse in Germanien und in den römischen Provinzen bewerten will. Zur analogen Betrachtung gehört außerdem die Feststellung, dass die heutigen Flüchtlingszüge aus Afrika und dem Vorderen Orient nach Mitteleuropa überwiegend von jungen Männern dominiert werden. Diese verlassen die Heimat, weil sie dort zu viele sind und keine Arbeit finden können; und sie erwarten in Europa eine bessere Lebensperspektive. Diese These von Übervölkerung wurde regelhaft als eine der Ursachen der verschiedenen „Völkerwanderungen“ aus Germanien ins Römische Reich angenommen, von den Kimbern und Teutonen bis zu den Kriegerverbänden der ersten Jahrhunderte n. Chr. Es ist gegenwärtig nicht zuletzt das zivilisatorische Gefälle zwischen Afrika sowie Vorderasien gegenüber den reichen mitteleuropäischen Ländern, die zur Einwanderung anreizen. (Dabei sollen wir die Flüchtlingsströme in anderen Teilen der Welt, für vergleichbare Ursachen gelten, nicht vergessen.) Man will ein Leben am Rande der Existenzwürdigkeit eintauschen gegen ein Leben mit gesicherter Zukunft, oder anders gesagt eine zivilisatorisch andere, nicht unbedingt rückständige Lebensweise tauschen gegen einen „modernen“ Lebensstil. In den ersten Jahrhunderten n. Chr. sahen das anscheinend auch viele Bewohner Germaniens, vor allem junge Gruppen, ähnlich. Die Elite in Germanien übernahm das, was in der römischen Welt Luxus und Wohlstand, Rang und Repräsentation ausmachten. Die sogenannten „Fürstengräber“ zeigen das über die Beigabenausstattung. Auch technische Neuerungen wurden gern übernommen, z. B. die – früher genutzte, zeitweilig in Mitteleuropa fast vergessene – Drehscheibe in den Töpfereien, auch die besseren Stähle in Gestalt römischer Schwertklingen. Nur auf den ersten Blick entsteht der Eindruck, dass weite Räume Germaniens romanisiert worden sind. Trotz aller Importe und Verwendung römischer Sachgüter und auch der Übernahme einiger Sitten und Gebräuche, trotz erster römischer Ansiedlungen in Germanien wie in Waldgirmes im Westen, in Mähren oder im Noricum führte das nicht zu einem Wandel der einheimischen Kultur. Spiegeln beispielsweise die „Fürstengräber“ aufgrund der neuen Körperbestattungssitte und der römischen Beigaben ein anderes Verhalten der Eliten, so sagt das noch wenig aus über die Lebensweise der ländlichen Bevölkerung mit ihrer geistigen und traditionellen Beharrungsweise. Man sollte auf keinen Fall die Zahlenverhältnisse vergessen. Die Gräber der Eliten stehen nicht einmal für 10% der damaligen Bevölkerung, wahrscheinlich machten sie nicht einmal ein Promille aus.4711 Vergleichbar gering an Prozenten war der Anteil an römischen Sitten und Sachen in Germanien; auch darin wurden allgemein sicherlich kaum 10% Anteil erreicht. Und – darum geht es in dieser Schrift – die Charakteristika des eigenen Lebensstils wurden über die Jahrhunderte doch beibehalten. Germanien wurde nicht
4711 Gebühr 2009.
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romanisiert, weil die Bewohner das auch bewusst gar nicht wollten. Somit scheiterte Rom dabei, Provinzen einzurichten, was im keltischen Gallien gelungen war. Es geht nicht darum, Germanien bzw. die Germanen als etwas Besonderes zu beschreiben, wie das auch die Wissenschaft viele Jahrzehnte – im entsprechenden politischen Umfeld – unternommen hatte. „Germanentümelei“, wäre, wie schon anfangs gesagt, wirklich fehl am Platze, und der Eindruck sollte keinesfalls aufkommen. Stattdessen versuche ich, Vergangenheit zu verstehen und nehme daher auch Analogien dazu in den Blick. Im analogischen Vergleich wird es möglich, die Probleme in der heutigen Welt mit Blick auf Afrika und die islamische Welt beim Vergleich mit der Antike besser zu verstehen, und umgekehrt verstehen wir die antiken Verhältnisse mit Hilfe der gegenwärtigen Lage vielleicht ebenfalls wirklichkeitsnäher. Die untereinander über die weiten Germaniens so ähnlichen „Fürstengräber“ hat in den frühen Jahren der Forschung sogar zu der Interpretation geführt, dass es sich bei den Toten um Fremde handeln müsste, um Kaufleute oder gar um „Römer“ selbst (vgl. oben S. 913). Diese Deutung sollte man durchaus wieder bedenken; denn Leute aus den römischen Provinzen – nicht nur zurückgekehrte germanische Söldner – werden, wie das auch in der Dritten Welt heute ist, in nicht geringer Zahl sich nach Germanien aufgemacht haben, um dort ein wirtschaftlich lukratives Leben zu führen. Man könnte sie Unternehmer nennen, die Töpfereibetriebe für qualitätsvolle Produkte organisiert haben oder hochkarätige Goldschmiedewerkstätten oder auch Bergwerke auf Blei und Silber. Ich weise noch auf weitere Analogien hin, denen man vergleichend nachgehen könnte. Eine Analogie zu den Söldnern aus Germanien im Römischen Reich sind sicherlich auch die Fremdenlegionäre der französischen Armee, und Söldnertruppen stellen die USA und viele andere Länder auf. Die jahrzehntelange Entwicklungshilfe heute für Länder in Afrika lässt sich mit den Tributzahlungen an frühe germanische Klientelherrschaften und dann an spätere germanische und hunnische Gruppen von Byzanz aus vergleichen. Zahlreiche Zeitungsartikel zu den Flüchtlingswellen aus dem übervölkerten Afrika und den Kriegsgebieten im Vorderen Orient haben in unseren Jahren regelhaft zu Analogien mit der römischen Epoche und der sog. Völkerwanderungszeit aufgefordert. Ich zitiere einige davon, denn sie weisen darauf hin und belegen manchmal auch wenigstens randlich Kenntnisse, dass geschichtliches Wissen zum Nachdenken anregen kann. Habe ich früher die Umsiedlungsberichte in den antiken Quellen, so zu den Ubiern oder den Sugambrern, als Übertreibungen angesehen und vermutet, dass nur ein Teil der Siedler, nämlich die Kriegerverbände, andernorts neu angesiedelt bzw. festgesetzt wurden, zeigen gegenwärtige Aus- und Umsiedlungen in Syrien und dem Irak, dass solche Verschiebungen von Bevölkerung tatsächlich möglich sind. Leicht ist zu vergessen, dass Flüchtlinge aus Kriegsgebieten gewissermaßen Vertriebene sind, die umgesiedelt werden. An die Vertreibung der Deutschen aus den östlichen Gebieten, dem heutigen Polen, und aus Tschechien habe ich schon oben erinnert.
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Eine ganz andere Analogie sei noch erlaubt, der Vergleich der Lebensweise der europäischen Siedler mit den kulturellen Lebensverhältnissen der Indianer Nordamerikas.4712 Solche Analogien und Vergleiche sind dann durchaus berechtigt, bei entsprechendem methodischem Vorgehen, wenn man sich diesem Verfahren bewusst bleibt. Die Auswertung einer Schilderung der Lebensverhältnisse nordamerikanischer Indianer als Vergleich zu den Verhältnissen in Germanien kann vertiefte Einsichten vermitteln, zum Beispiel die Parallelisierung von den Bewohnern Germaniens und den Eroberungsversuchen des römischen Imperiums mit den Invasionen der Europäer in Nordamerika in die indianischen Kulturen. Liest man diese Beschreibung der Geschichte der Indianer Nordamerikas zur Zeit des Vordringens der weißen Siedler und ersetzt den Begriff „Indianer“ durch „Germanen“ und Weiße durch Römer, dann erlauben Assoziationen die Vergleiche, und die Ähnlichkeiten in der politischen und wirtschaftlichen Struktur und die nach und nach eintretenden Veränderungen werden deutlich. Im Anhang 3 bringe ich Zitate aus einer Darstellung, die im Jahr 2010 erschienen ist. Vergleichbar ist die sogenannte Verreiterung der Goten in der Ukraine im 3./4. Jahrhundert n. Chr. mit den Verhältnissen bei den Indianern Nordamerikas. Nachdem die Völkerschaften der Goten aus dem Norden kommend dort eingewandert und auf reiternomadische Verbände gestoßen waren, gewöhnten sie sich ebenfalls an diese Kampfesweise. Nach der Einführung des Pferdes in Nordamerika und nach deren Verwilderung erkannten die Indianer den Wert, beritten zu sein und als Reiterkrieger zu kämpfen. Leicht fallen mir weitere Parallelen ein. Während der Römischen Kaiserzeit bevorzugten die Krieger Germaniens die römischen Schwertklingen, bessere Schmiedeerzeugnisse als die meisten eigenen Waffen. Diese Klingen erwarben sie über Beute und nicht zuletzt durch einen direkten und indirekten blühenden Waffenhandel. Die Indianer legten großen Wert darauf, zu den eigenen Waffen, Pfeil und Bogen, Tomahawk und Messer, Feuerwaffen, d. h. Gewehre zu erwerben, die sie ebenfalls im Rahmen von Kämpfen eroberten oder über Handel gegen Felle erwerben konnten. Beide Kriegerverbände, Germanen und Indianer, wurden erst dadurch zu den gefährlichen Gegnern für Römer und Weiße. F. Schätzing4713 hat in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Nr. 224 am 26. September 2015 in einem Artikel aus seiner Sicht deutlich gemacht, was wir Forscher mit der Vergangenheit machen. Je mehr Artefakte wir zusammentragen, desto besser erinnern wir uns an Zeiten, in denen wir nie gelebt haben – oder, sagen wir, desto mehr erfahren wir über Epochen, in denen wir nie gelebt haben […]. Physiker sind sich einig […], dass wir die Vergangenheit nicht verändern können, und ich sage jedes Mal: falsch! Wir können die Vergangenheit sehr wohl verändern, dafür haben wir Historiker [und Archäologen; Verf.] […]. Geschichte ist vor allem die Geschichte ihrer Versionen, und für jede Version lassen sich Beweise finden und archivieren […]. Es gibt keine Instanz,
4712 Perdue 2010; vgl. Anhang 3; vgl. dazu auch Bredekamp 2019. 4713 F. Schätzing, Frankfurter Allgemeine Zeitung am 26. September 2015.
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die […] die objektive Wahrheit liefern wird […]. Zeitreisende sind Spurenleser und Sammler. Sie erschaffen eine Vergangenheit aus Fragmenten, ein Gedächtnis voller Erinnerungslücken.
W. Rüskamp meint in der Badischen Zeitung vom 19. Mai 2018 in einem Aufsatz zum Dreißigjährigen Krieg: „[…], dass unsere Geschichtsbilder eine eigene Geschichte haben, die nie abgeschlossen ist“. Ich füge noch weitere Zitate an: Schon Friedrich Schiller meinte, Historiker seien rückwärts gekehrte Propheten. Patrick Bahners formulierte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 22. Juli 2017: „Unsere Geschichtskultur lebt von dem Wunsch, im Vergangenen das Gegenwärtige zu entdecken“. Ein Zitat von Dolf Sternberger (1907–1989) meinte, Wissenschaftler sind wie Insekten, die blind und gefühllos auf dem Kadaver der Geschichte herumkriechen. Oder eine andere Meinung: Die Vergangenheit gehört den Historikern oder jedem, der sie sich nimmt. Claudius Seidl interviewt Valentin Groebner zu seinem Buch „Retroland: Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach dem Authentischen“ aus dem Jahr 2018:4714 „Nichts ist echt, gar nichts. Ein Interview mit dem Historiker Valentin Groebner: über die Frage, wie wir unsere Vergangenheit immer neu erfinden und inszenieren. Und über sein Buch ‚Retroland‘“, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 49, 9. Dezember 2018. Es existieren nebeneinander unterschiedliche Narrative und Vorgeschichten; jede Variante ergibt für bestimmte Aspekte Sinn […]. Im Namen der Vergangenheit wird etwas neu gebaut, das es vorher so nie gegeben hat […]. Leute, die sich ernsthaft für Geschichte interessieren, erkennt man daran, dass sie nie einer Meinung sind. Die Vergangenheit ist ein großer unaufgeräumter Keller.
Analogien schlagen die Brücke zwischen den heutigen Ereignissen sowie Zuständen und den Situationen in der Vergangenheit. V. Groebner hat dazu einige weiterbringende Thesen formuliert.4715 Er betont den Unterschied zwischen Vergangenheit und Geschichte: „Geschichte spielt sich immer in der Gegenwart ihrer Erzähler und ihres Publikums ab“, während die Vergangenheit unzugänglich und endgültig verschwunden ist. „Jede Erzählung verändert das Material, das sie repräsentiert“. Die Vergangenheit sei das unübersichtliche, weitläufige und auf immer unbetretbare Land und wird vom Historiker oder Archäologen als Geschichtsextrakt präsentiert werden. Die archäologischen Quellen sind in der Vergangenheit entstanden, und sie sind nicht verschwunden, wenn wir sie wieder „ausgraben“. Aber dabei verändern wir sicherlich auch das Material. Wir besichtigen jedoch zugleich mehrere Zeitebenen. Eine kritische Analyse nationaler Vergangenheitskonstruktionen habe ich mehrfach angesprochen. Historiker und Archäologen erzeugen eine „neue“ Vergangenheit. Auch die Humanisten „erzeugten aus gefundenen, rekonstruierten und neu pro4714 Groebner 2018. 4715 Groebner 2018, 20 Zitat, 25, 28, 53 f., 107 f., 113, 117, 126, 174.
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duzierten Versatzstücken eine neue Gesamtantike, die es vorher in dieser Form nie gegeben hatte […]“. Denn „die Rekonstruktionen der Vergangenheit mussten eben in die jeweilige Gegenwart passen“. Und so ist das heute auch bei unseren Rekonstruktionen in der archäologischen Forschung. V. Groebner geht auch auf den Begriff Identität ein und wie heute darüber gedacht wird. Er zitiert einen Politiker: „Wer einem Volk die Geschichte nimmt, der nimmt ihm die Identität. Wer ihm die Identität nimmt, der nimmt ihm die Werte“. Es gibt also demnach „keine Identität ohne Geschichte, und es gibt keine Geschichte ohne Identität“. Der ehemalige Bundespräsident Johannes Rau wird von ihm ebenfalls zitiert: „Identität braucht Geschichte, und Geschichte braucht Identität“. Es sind jeweils dieselben Worte, die rechtfertigen, dass wir uns mit Geschichte beschäftigen. Aber „Historische Identität kann gar nichts anderes sein als ein Loch, eine Lücke. Es ist etwas, was einem fehlt; denn sonst müsste man sie nicht immer wieder neu zurückgewinnen, wiederholen […]“. Und Damit wären wir wieder bei der Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Geschichte […]. Vergangenheit ist nur lückenhaft verfügbar und auf immer verstummt und unzugänglich. Geschichte dagegen, die Nacherzählung dieser Vergangenheit, kann nach Bedarf jederzeit vervollständigt werden.
Denn „Die Vergangenheit ist jene unerreichbare Zeitzone, die abgeschlossen ist, das heißt, sie ist allen nachträglichen Veränderungen entzogen“. Doch schreiben Historiker und Archäologen aufgrund der nur bruchstückhaft überkommenen Quellen die Vergangenheit als Geschichte immer wieder neu, und zwar bald jede Generation, gefangen in der eigenen Zeit. Die verschiedenen Realitäten, wie sie R. Koselleck diskutiert, als Zeitschichten und vergangene Zukunft, regt über unsere Bewertungen von Forschungsergebnissen, ebenso der Archäologie, an.4716 Auch wir Archäologen können also die Vergangenheit verändern und machen das auch mehr oder weniger bewusst, anders als Physiker das als Naturwissenschaftler sehen.
4716 Koselleck 1979; 2000.
5 Erinnerungsorte Die Geschichtsschreibung hat den Wunsch, im Vergangenen das Gegenwärtige zu entdecken; und gegenwärtig ist es Mode, von Erinnerungsorten zu sprechen. Dabei bieten „Orte der Erinnerung“ facettenreiche Aspekte auf verschiedenen Ebenen, reale territorial fixierte Erinnerung einerseits an Orte und emotionale entstandene Erinnerung andererseits: Das Hermannsdenkmal (1838 bis 1875 von E. von Bandel errichtet) ist ein lokaler Ort, die Varusschlacht und Arminius sind emotional aufgeladene Erinnerungsorte geworden; das Deutschlandlied ist ein Erinnerungsort; die Germanen als Ahnen der Deutschen waren ein solcher Erinnerungsort, den es aber zu „dekonstruieren“ gilt. Das geschieht einerseits auch in diesem Buch, und andererseits versucht es, den Germanen in Germanien ihren eigenen Stellenwert in der Geschichte Europas zu geben, nicht nur als Randkultur der römischen Zivilisation.4717 Allgemein im gegenwärtigen historisch orientierten Denken ist das Wissen um das kulturelle Gedächtnis und die verschiedenen Formen des kollektiven Erinnerns von Gesellschaften, wozu auch Verdrängen und Vergessen gehört.4718 Jan Assmann unterscheidet bei seiner Theorie des kulturellen Gedächtnisses mehrere Formen: (1) Das Kommunikatives Gedächtnis (das nur drei Generationen, rund 80 Jahre umfasst und auf der Oral History basiert), (2) das Kollektives Gedächtnis (das, was eine Gesellschaft zu einem Zeitpunkt im Kopf hat) und (3) das Kulturelle Gedächtnis (das besonders flexibel ist). Der Soziologe Maurice Halbwachs sprach von der Sozialität des individuellen Gedächtnisses und unterscheidet zwischen mémoire (im Menschen verkörpert) und tradition (äußerlich), es sei ein Archiv des Bezugs auf Vergangenes und auf den kritischen Diskurs. Der Beginn einer normativen Vergangenheit entsteht aus dem Zusammenhang zwischen Erinnerung und Innovation. Andernorts sage ich (vgl. S. 1300), die Vergangenheit wird so zu Recht formuliert, dass sie nützlich beim Einsatz gegenwärtiger politischer Auseinandersetzung ist. Es ist mehrfach angesprochen worden, wie sehr die Ergebnisse der archäologischen Forschung, besonders zu Germanen und Germanien, von der jeweils gegenwärtigen Situation beeinflusst wurden und werden und wie unmittelbar auch die Forschungsergebnisse auf die gegenwärtige Diskussion einwirken. Dabei spielt das kulturelle Gedächtnis noch eine besonders kritische Rolle; denn das bürgerliche Geschichtsbewusstsein, d. h. die verinnerlichten vermeintlich objektiven Aussagen der Geschichtsforschung bestimmen das Denken in der Gegenwart, und vielfach wirkt noch das „Wissen“ des 19. Jahrhunderts nach, übermittelt in der Schule (vgl. S. 37, 129). Der öffentlichen Erinnerungskultur begegnen wir bei den zahllosen Jubiläen und Gedenkveranstaltungen zu politischen Ereignissen und zu Geburts- und Todesdaten
4717 Samida 2017; Kersting 2017. 4718 A. Assmann 1999; 2006; 2007; 2013; 2016; J. Assmann 1997/2013; 2007; Vortrag von J. Assmann am 11. April 2019 in Freiburg (Badische Zeitung vom 12.4.2019). https://doi.org/10.1515/9783110702675-040
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berühmter Persönlichkeiten. Erinnert wurde nach 2000 Jahren an die Varusschlacht 2009 mit zahlreichen Ausstellungen und Büchern; Arminius wurde zum Mythos.4719 Ebenso wurde an das Ende des Ersten Weltkriegs 2018 erinnert, ebenfalls durch zahlreiche Ausstellungen und Bücher. Schließlich wird 2019 an 60 Jahre Gründung der Bundesrepublik Deutschland und vor allen an das Grundgesetz von 1949 durch Ausstellungen und Schriften erinnert. Kollektives Erinnern an die Geschichte, früher (und nur noch teilweise heute) eingepflanzt in der Schule, oft von Lehrern auf altem Wissensstand, trägt Vorurteile weiter (oft manchmal wider besseren Wissens), so auch über Germanen und Germanien. Es gibt ebenso ein soziales Gedächtnis in schriftlosen Kulturen.4720 Die Varusschlacht erscheint auch in einem Sammelband über mehrere „Memory Sites und Memory Networks“, und H. Derks fragt darin, wie dieser zwanghaften Erinnerungs-Falle zu entkommen sein kann, wenn und indem es um die archäologische Realität geht.4721 Es gibt somit keine einlinige klare Darstellungsmöglichkeit von Geschichte, was über Jahrhunderte und Jahrzehnte versucht worden ist. Nun hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass für verschiedene Ereignisse, Situationen und gesellschaftliche Strukturen jeweils verschiedene Darstellungen, sogar bei demselben Quellenbestand, geschrieben werden können. Ausschlaggebend ist die gesellschaftliche Position und Weltanschauung des Autors im eigenen Land, noch komplexer werden die Darstellungen, wenn in anderen Ländern oder von außen über das eigene Land gearbeitet wird. Zu ein- und derselben Koordinate der Vergangenheit werden daher sehr unterschiedliche Berichte entstehen; manchmal gelingt dann eine Zusammenschau aus diesen verschiedenen Texten. Nach den Anregungen aus Frankreich in den 1980er Jahren gab es sehr bald die „Deutschen Erinnerungsorte“, herausgegeben von Etienne François und Hagen Schulze.4722 Auf die hier behandelte Epoche griff man nicht zurück, denn Deutschland und Deutsche gab es noch nicht. Aber der „deutsche Wald“ (A. Lehmann, Bd. III) wird gewürdigt, unter dem Oberbegriff Identitäten wurde die „Germania“ des Tacitus (M. Werner, Bd. III), Arminius (W. M. Doyé, Bd. III) und auch die Nationalhymne (M. Jeismann, Bd. III) unter die Erinnerungsorte aufgenommen. Dann folgten noch die Erinnerungstage, ebenfalls herausgegeben von Etienne François und außerdem von Uwe Puschner.4723 Da beginnt es mit der Hermannsschlacht und dem Teutoburger Wald 9 n. Chr. (K. Buchinger). Das Buch erschien im Jahr 2010, und im Jahr zuvor 2009 wurde an diese Schlacht in zahlreichen Ausstellungen erinnert. H. Ottomeyer
4719 Bendikowski 2008; Kösters 2009. 4720 Severi 2018, vgl. dazu Rez. Th. Macho. 4721 Derks 2017. 4722 François, Schulze (Hrsg.) 2001. 4723 François, Puschner (Hrsg.) 2010.
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hat zum Jubiläumsjahr 2009 über die „Erfindung der deutschen Nation“ als europäische Geschichte publiziert.4724 V. Groebner schreibt dazu: Die drei Bände, Deutsche Erinnerungsorte‘, 2001 von Etienne François und Hagen Schulze publiziert, verstanden sich als Kompendium populärer Geschichtsbenutzung. Sie dokumentierten Material „von ganz unterschiedlichem Gewicht, oft furchtbar trivial“, schreiben die Herausgeber in ihrer Einleitung, das aber „dennoch ein Netz von materiellen und immateriellen Erinnerungsfäden“ darstelle.
Die Schilderung von Erinnerungsorten ist keine Rekonstruktion oder Wiederbelebung der Vergangenheit, sondern eine Geschichtsschreibung, die die Vergangenheit dahingehend jeweils ändert, dass sie hilfreich für die Gegenwart genutzt werden kann. Die Nationalität von Erinnerungskulturen ist ein gesamteuropäisches Phänomen.4725 Wenn die Archäologinnen und Archäologen ehrlich sind, dann wissen sie: Trotz aller methodischen Bemühungen und sorgfältigen Auswertung der Quellen beschreiben sie nicht die vergangenen Lebensrealitäten, sondern eine Fiktion dieser Vergangenheit. Aber archäologische Forschung wird betrieben, in allen Ländern, weil die Neugier fragen lässt: Können wir herausbekommen, wie es damals war (nicht einfach im Sinne Leopold von Ranke: Wie es seinerzeit gewesen ist. Das gelingt nicht, wie gerade ausführlich begründet). Aber wir möchten es eigentlich wissen und arbeiten daran. Alexandra Pesch, die sich intensiv mit den Kunsterzeugnissen in Germanien bis in die Völkerwanderungs- und Merowingerzeit befasst hat und die Bilder zu deuten versucht, hat geschrieben, dass wir wohl nie erfahren können und werden, was sich die damalige Bevölkerung dabei wirklich gedacht hat. Die Gruppe, die sich jahrelang ausgrabend und auswertend mit der Erforschung der Heeresausrüstungsopfer beschäftigt hat, müht sich, Erklärungen für die rituellen Vorgänge zu finden und ändert doch ständig die Deutungsmuster. Ein weiterer Zugang zur Vergangenheit sind Mythen. Ingo Wiwjorra hat den „Germanenmythos“ als „Konstruktion einer Weltanschauung in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts“ 2006 beschrieben.4726 Ausführlich erläutert er, wie sich auf dem damaligen fast vorwissenschaftlichen Stand der Altertumsforschung das Bild von den Germanen zum Mythos und zur politisch nutzbaren Fiktion entwickelt hat. Dabei ist der Irrweg der Rassentheorien nur ein Aspekt, aber mit den bekannten katastrophalen Folgen. Der Politologe Herfried Münkler kam dann im Erinnerungsjahr 2009 gleich mit den „Deutschen und ihren Mythen“.4727 Ein Abschnitt unter dem Titel „Ein Kampf gegen Rom“ bringt die Schilderung der „Sittlichkeit der Hinterwäldner“ zu Tacitus und dem frühen Germanenmythos sowie unter dem Gedicht „Als die Römer frech geworden …“ Arminius und die Schlacht im Teutoburger Wald, woran sich 4724 Ottomeyer 2009. 4725 Cornelißen 2011. 4726 Wiwjorra 2006. 4727 Münkler 2009; dazu früher schon Demandt 2007a, ohne Bezug zur Archäologie.
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gleich das Kapitel „Luthers Kampf gegen Rom“ anschließt. Die Erfindung der Deutschen und die Rezeption der Varusschlacht hingen früher und hängen teilweise heute immer noch zusammen.4728 (Vgl. auch dazu die Gedichte im Anhang 1). Näher eingehen kann ich in diesem Buch auf weitere Publikationen mit diesem Thema nicht, beispielsweise „Die Deutschen und ihre Germanen“,4729 oder „Mythos Germanien“4730 oder „Germanenmythos im deutschen Kaiserreich“.4731 In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. August 2010 schrieb Herfried Münkler zu seinem Buch gewissermaßen, politisches Handeln bedarf […] der Einbettung in eine große, die Vergangenheit mit der Zukunft verbindende Erzählung […]. Solche Mythen können Mut machen, sie sind aber immer auch ein Mittel im Kampf um die Macht.
In einem weiteren Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 15. Juli 2010 bezog sich Reinhard Müller zuvor auf das Buch der Mythen und zeigte auf, dass das Hermannsdenkmal immer noch ein zentraler Ausflugsort war und ist, der seit den 1950er Jahren mit den jährlichen Besucherzahlen teilweise die Millionengrenze überschritten hat, und dass seit der Eröffnung der Ausstellung zur Varusschlacht 2009 rund 100 000 Besucher in Kalkriese waren. Sogar die Bundeskanzlerin Angela Merkel hielt 2009 am Ort eine Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Imperium Konflikt Mythos“, ebenso wie Alexander Demandt. Somit machten unsere Politiker und Historiker die alten Germanen wieder zu einem Mythos der Deutschen, und wohl aus demselben Denken heraus hatte man im Deutschen Historischen Museum in Berlin zu Anfang der Ausstellung zur deutschen Geschichte oben vor der Treppe – wenn man hinaufgegangen ist – die römische Gesichtsmaske eines Helms vom Schlachtfeld bei Kalkriese 9 n. Chr. positioniert. Germanen und Deutsche werden verknüpft, die alten Mythen verfestigt. Im Jahr 2019 habe ich gesehen, dass man diesen Eingang zur Ausstellung verändert hat. Und dieses Buch könnte, wenn man nicht sorgfältig liest, die Vorurteile und Mythen ebenfalls bestätigt finden. Jasper von Altenbockum hat in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 1. Juni 2016 etwa Folgendes geschrieben: „Die alte deutsche Frage. Die AfD stellt sie wieder neu: Was ist deutsch, was ist ‚uns‘ fremd?“. Er erläuterte im Sinne der AfD, wenn Boateng eine deutsche Mutter hat, deutsch spricht und sogar deutscher Staatsangehöriger ist, dann ist er doch noch lange kein „richtiger“ Deutscher in der für ihn „richtigen“ Nachbarschaft. Die AfD formuliert eine Abstufung des Deutschseins, je nach nationaler, ethnischer und religiöser Herkunft der Eltern, knüpft damit an Traditionen, die auf das 19. Jahrhundert zurückgehen. Damals erarbeitete Julius Langbehn einen völkischen Gegenentwurf zur Französischen Revolution. Und heute fordern 4728 Killguss (Hrsg.) 2009. 4729 Sievertsen 2013. 4730 Sénécheau 2015; Sénécheau, Samida 2016. 4731 Kipper 2002.
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manche Gruppen eine sogenannte „Deutsche Leitkultur“. In einem Leserbrief fragt Professor Dr. Lothar R. Waas aus Bissendorf in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 23. Juni 2016 zum Beitrag von Jasper von Altenbockum: Was macht uns zu einem Volk? Das rückwärtsgewandte „romantisch-nationalistische“ Abstammungsprinzip (ius sanguinis) oder aber das vorwärts gerichtete „multikulturalistisch-egalitäre“ Prinzip (ius soli). Der Vorwurf richtet sich gegen von Altenbockum und seinen rückwärtsgewandten Standpunkt, expressis verbis also gegen den Standpunkt der AfD, den der Pegida und allgemein der „Neuen Rechten“; denn diese definierten den „wahren Volks- und Gemeinschaftswillen nicht mehr nur demokratisch, sondern auch gegen das ethnisch Fremde“. In diesem Zusammenhang referierte Mechthild Küpper, Deutschland stehe schließlich voller Kirchen und sei dennoch kein christlicher Gottesstaat. Zitiert wird Alexander Gauland, der die Flucht aus dem Nahen Osten mit der Völkerwanderung der „Barbaren“ verglich, die dem Römischen Reich das Ende brachte. Und die AfD wolle das Land so erhalten, „wie wir es von unseren Vorvätern übernommen haben“. Der Historiker Christian Scholz formuliert in einem Interview am 10. September 2015 auf der Website der Gerda Henkel Stiftung L.I.S.A: „Der Begriff ‚Völkerwanderung‘ ist irreführend“. Er geht auf die transkulturelle Geschichte unserer Epoche ein und bewertet die historischen Analogien: „Völker“ der damaligen Zeit waren keine Abstammungsgemeinschaften mit gemeinsamen Sitten und Bräuchen, sondern plurale und äußerst heterogen zusammengesetzte Verbände, die in permanenter Wechselbeziehung zu ihrer Umgebung standen. Es gab – wie die Schriftquellen belegen – eine Wechselseitigkeit der Austauschprozesse von Menschengruppen, in der Regel Kriegergruppen, die sich diesem oder jenem Anführer zuordneten, der dann den Namen für die Gesamtheit wählte. Die Beeinflussung der Barbaren, der Nicht-Römer, durch die Römer führte zu einer Romanisierung der Barbaren. Dabei übersieht Scholz, dass in manchen kulturellen und technischen Bereichen auch bedeutende Transfers von den Germanen zu den Römern zu konstatieren sind, wie das Jahrhunderte zuvor schon von den Kelten zu den Römern geschehen ist (vgl. S. 1147). Völker, Stämme oder gentes zogen aus unterschiedlichen Gründen in das Römische Reich. Scholz stellt zu Recht fest, dass Migrationen die Regel waren und nicht die Ausnahme. Mobilität von Menschengruppen war üblich. Doch wurde diese These aus der damaligen jeweiligen Gegenwart durch Historiker aufgestellt, aufgrund eigener Erfahrungen. Der Begriff „Völkerwanderung“ war die Übersetzung von migratio gentes und erfolgte im 16. Jahrhundert, als der österreichische Humanist Wolfgang Lazius über „Die Wanderung einiger Völker De aliquot gentium migrationibus“ schrieb (vgl. S. 127). Auf Deutsch erschien der Begriff aber erst ab dem späten 18. Jahrhundert, und im 19. Jahrhundert setzte er sich für die Bezeichnung der Epoche der Spätantike und des Frühmittelalters durch, da „Germanenvölker“ in die anderen Länder eindrangen. In diesen Ländern sprach man von invasions barbares (französisch) oder invasioni barbari (italienisch), weil von außen Völkerschaften eingefallen sind. Und daraus folgte dann die Behauptung, kulturlose und primitive Barbaren hätten die römische Zivilisation zerstört. In
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Deutschland behielt der Begriff „Völkerwanderung“ seinen „positiven“ Gehalt, die „wandernden Germanen“ wurden mit den Deutschen gleichgesetzt, gegenüber dem dekadenten Rom brachten sie den Völkern die Freiheit vom römischen Joch. Aber – wie ich zu erläutern versucht habe – damals wanderten nicht Völker, sondern bewaffnete Heeresverbände, die zwar oftmals im Tross Frauen und Kinder mitführten, aber deshalb noch lange keine Völker darstellten, sondern am ehesten polyethnische Verbände, die sich permanent veränderten. Die Ursachen für die Wanderungen sieht Chr. Scholz unterschiedlich. Es gab Pushfaktoren – Armut und Perspektivlosigkeit in der Heimat, oder Pullfaktoren – Wohlstand und Stabilität in den Zielländern, die Flüchtlinge und Migranten anzogen. Pushfaktoren waren damals und zu anderen Zeiten und Räumen Überbevölkerung, Klimaverschlechterungen und Hungersnöte; Pullfaktoren waren die Anziehungskräfte des Römischen Reiches. Die historischen Parallelen bleiben aber anachronistisch. Die spätantiken Völkerwanderungen und die heutigen Flüchtlingsströme können nicht parallelisiert werden, das sei auf ganzer Linie eine Fehleinschätzung, so Chr. Scholz, zumal damals keine Völker wanderten und auch heute nicht. Viele der „Barbaren“ hatten im Laufe der Zeit die Herrschaft über die Regionen übernommen, in die sie eingewandert sind. Das führt heute dazu, die Einwanderung von Germanen ins spätantike Römische Reich mit der Einwanderung von Muslimen und Türken ins heutige Europa zu vergleichen und ähnliche Folgen zu vermuten. Peter Graf von Kielmansegg verwendet im Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 13. Februar 2017 den Begriff Völkerwanderung, um damit ebenfalls aktuelle Migrationen zu beschreiben. Aber: Kein Mensch käme auf die Idee, die ähnlich massenhafte Wanderung von Deutschen, Iren, Italienern oder Chinesen in die Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert mit diesem Begriff zu umschreiben. Das liegt daran, dass Völkerwanderung in unserem kulturellen Gedächtnis mit marodierenden Horden assoziiert wird, die das Abendland in die Finsternis stürzten. Es ist ganz offensichtlich, dass weder aus Syrien noch aus Eritrea kriegerische Rotten unter Führung eines neuen Attila auf unser Land zustürmen. (Leserbrief in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von Clemens Schneider, Berlin, vom 24.2.2017).
In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 22. Dezember 2017 meint H.-J. Heinrich: Nun ersetze ich Ethnologie durch Archäologie und finde als Zitat: „Das eigene im Austausch mit dem im inneren und äußeren Fremden zu erfahren“, in dem Sinne „sei Politik ein kreativer und im weitesten Sinn ästhetischer und ethnologischer Prozess“. Ich frage nun, ist die Antike in Germanien für uns und von unseren Lebensumständen ausgehend das Fremde, das wir nur durch den Filter unserer Gegenwart betrachten und daher auch nicht real erkennen können, oder verbindet uns doch mehr – einfach weil alltägliches Leben immer und überall ähnlich verläuft und sicherlich ähnlicher sogar dem 19. Jahrhundert ist, das wir aus Erzählungen noch erahnen können. Ein Zeitungsbericht des Althistorikers Alexander Demandt ebenfalls in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 21. Januar 2016 hat vielseitig Verwunderung
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hervorgerufen, wenn es um den Untergang des Römischen Reichs und die Wirkung der Völkerwanderung geht, und wenn man zugleich an seine bedeutenden Monographien denkt zur Spätantike und an den Fall Roms.4732 Denn der Inhalt steht beispielhaft dafür, dass die Forschungsergebnisse unserer Jahrzehnte, nicht nur die der Archäologen, sondern auch die der Historiker, übersehen und ignoriert werden und fast wieder die alten Klischees und Vorurteile neu formuliert aufkommen, so wie auch die Grundtendenz der verdienstvollen Monographien von P. Heather zum „Untergang des römischen Weltreiches“ und von B. Ward-Perkins zum „Untergang des Römischen Reiches und zum Ende der Zivilisation“ eigentlich einen Rückschritt im Verlauf des Flusses wissenschaftlicher Erkenntnis bieten. Man kann den Verdacht hegen, dass in diesen Fällen die Analogien von den gegenwärtigen Ereignissen auf die antiken Verhältnisse zwischen Germanen und Römern zurückschließen lassen, statt umgekehrt vielleicht von den antiken Verhältnissen Anregungen zum Verständnis der Gegenwart zu erfahren. Kriegstechnisch waren die Römer den Germanen meist überlegen, aber durch den Söldnerdienst und den Zugriff auf römische Waffen waren diese schließlich auf gleichem Niveau. Sie modernisierten ihr Kriegswesen gewissermaßen mit römischer Entwicklungshilfe, was im Übrigen auch umgekehrt erfolgte, Römer modernisierten sich aufgrund der Überlegenheit der germanischen Kriegsführung. Fremdenfeindliche Literatur, Massaker und Mordaktionen richteten sich gegen die Germanen, die man aber nicht mehr los wurde und auf die man auch nicht verzichten konnte, denn sie stellten die besten militärischen Kontingente. Die Regierung verlor die Kontrolle über die Provinzen, das staatliche Waffenmonopol war nicht aufrecht zu erhalten. A. Demandt bietet wieder die alten Klischees: Die Verkehrswege zu Land wie zu Wasser waren nicht mehr sicher, der für den Wohlstand wichtige Fernhandel erlahmte. Naturalwirtschaft machte sich breit. Die Wasserleitungen zerfielen, die Bäder konnten nicht mehr beheizt, Straßen und Brücken nicht mehr ausgebessert werden. Doch betrifft diese pessimistische Schilderung nur römische Städte im Zentrum des Reiches. Der Grund für den Niedergang sei Dekadenz einer im Wohlstand bequem gewordenen Gesellschaft, die das süße Leben des Einzelnen erstrebte, aber den vitalen und aktiven Germanenhorden [! Verf.] nichts entgegenzusetzen hatte, als diese über die Grenze strömten. Überschaubare Zahlen von Zuwanderern ließen sich integrieren. Sobald diese eine kritische Menge überschritten und als eigenständige handlungsfähige Gruppen organisiert waren, verschob sich das Machtgefüge, die alte Ordnung löste sich auf, so A. Demandt. Zu allem gibt es Gegenargumente, auch zum sogenannten Niedergang der Städte. Meine knappen Kenntnisse wissen aber sowohl von Rom als von Köln, dass man besser von einer Transformation sprechen sollte. In Rom haben Ausgrabungen vor vielen Jahren im Bereich der Crypta Balbi gezeigt, dass Handwerk, Wirtschaft und Handel kontinuierlich weiter bis ins 7. Jahrhundert durch
4732 Demandt 2007b; 1984/2014.
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Befunde und Funde nachgewiesen sind. Neue Ausgrabungen der letzte 20 Jahre haben in Köln ebenfalls weiterlebende Strukturen freigelegt.4733 In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Nr. 147 vom 28. Juni 2017 schrieb Armin Nassehi „Zu Fakten gibt es oft eine Alternative“ zu dieser Diskussion: Der Text ist aber nicht objektiv, denn er hat einen Autor, fast könnte man sagen: ein Subjekt – und die Dynamik der Wissenschaft besteht darin, dass sich die Texte gegenseitig nicht nur widersprechen, sondern auch explicit kritisieren und stets mehrere Antworten auf dieselbe Frage anbieten […]. (Es sind) Enquetekommissionen […], die sich jeweils die Expertise ins Haus holen, die ihren Macht- und Mehrheitschancen in die Karten spielen […]. Was Wissenschaft vorführt, sind nicht alternativlose Fakten, sondern alternative Aussagen über jene Fakten, die die Wissenschaft stets nur durch die Brille ihrer Theorien, Methoden und Verfahren sehen kann […]. Dafür braucht man eine Sozialfigur, die man unter Wissenschaftlern, wenn es gut läuft, öfter findet […] eine Figur […], die in der Lage ist, die ausgetretenen Pfade des Gewohnten zu verlassen und die Gesellschaft mit Abweichung zu versorgen, an der sie sich wie an einem Spiegel abarbeiten kann.
4733 Manacorda 2001; Manacorda et al. 2000; Dietmar, Trier 2011, 17 ff. Im Abschnitt Rückblende: Das römische Köln mit den neuen Ausgrabungsergebnissen und außerdem Berichte im Kölner Jahrbuch in den Jahren nach 2000.
6 Bilanzen Nach der Niederlage der römischen Legionen in der Varusschlacht 9 n. Chr. und der Beendigung der Kriegszüge ins Innere Germaniens 16 n. Chr. unter Tiberius (Kaiser 14–37 n. Chr.) konnten die Bewohner Germaniens selbst entscheiden, in welchem Maße sie Anregungen aus den römischen Provinzen in ihr kulturelles System übernehmen wollten. Heinrich Heine formulierte 1844 in „Deutschland – Ein Wintermärchen“ die alten, vielfach bis heute nachwirkenden Vorurteile (vgl. Anhang 1):4734 Das ist der klassische Morast, Wo Varus stecken geblieben... Wenn Hermann nicht die Schlacht gewann, Mit seinen blonden Horden, So gäb es deutsche Freiheit nicht mehr, Wir wären römisch geworden. In unserem Vaterland herrschten jetzt Nur römische Sprache und Sitten... Wir blieben deutsch, wir sprechen deutsch, Wie wir es gesprochen haben...
Das war zur Zeit Heinrich Heines das Geschichtsbild der Deutschen, und sie führten damals ihre deutsche Sprache bis in die ersten Jahrzehnte n. Chr. zurück. Heute sprechen wir von Deutschen und ihrer Sprache erst mit guten Gründen seit dem 9./10. Jahrhundert; damals in den ersten Jahrhunderten n. Chr. sprach die Bevölkerung in Germanien germanische Dialekte, wie sie in Namen und frühen Runeninschriften seit dem 2./3. Jahrhundert fassbar sind. Von Germanen spricht die Wissenschaft, ebenfalls aufgrund der Sprachentwicklung, seit den letzten Jahrhunderten v. Chr. und sieht archäologisch parallel dazu die Jastorf-Kultur. Vertreter einer revisionistischen Geschichtsauffassung finden nun in den ersten, kaum statistisch abzusichernden, genetischen aDNA-Analysen neue Gründe, Deutsche über die Germanen in die Urgeschichte, das Neolithikum, zurückzuverfolgen; warum nicht gleich bis zu den Neandertalern? Es gibt noch ein zweites Gedicht, das im bürgerlichen Geschichtsbild verankert ist. Verfasst von Josef Victor von Scheffel (1826–1886), der die Zeilen im Jahr 1847 veröffentlicht hat.4735 Es gibt sehr unterschiedliche Fassungen, aber mit demselben Inhalt. Hier ein Ausschnitt; das vollständige Gedicht steht ebenfalls im Anhang 1.
4734 Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermärchen. Caput XI. 4735 Dreyer 2008. https://doi.org/10.1515/9783110702675-041
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Neunzehnhundert Jahr’ verflossen, Seit hier Römer Blut vergossen, Das uns Knechtschaft zugedacht. Hermanns Denkmal hält nun Wacht Deutscher Kraft und Stärke. (Und zu Ehren der Geschichten Tat ein Denkmal man errichten, Deutschlands Kraft und Einigkeit Kündet es jetzt weit und breit: „Mögen sie nur kommen!“
Schließlich haben die Niedersachsen in ihrer Hymne für das Land mit „Sturmfest und erdverwachsen“ aus dem Jahr 1926 ebenfalls auf die Vergangenheit der Germanen zurückgegriffen; zitiert im Anhang 1.4736 Eine weitere Parallele für Assoziationen zu Germanen und Römern bietet die „Komödie“ von Friedrich Dürrenmatt (1921–1990) „Romulus der Große“ aus dem Jahr.4737 Die Uraufführung fand im Jahr 1949 statt. Meine Zitate aus dem Werk bringe ich zum Nachlesen im Anhang 2. Die Archäologie in Germanien hat im Gegensatz zu den zahlreichen überlieferten Klischees geschafft, ein neues Bild von den Germanen und Germanien zu entwerfen. Das hat wie immer zwei Ursachen: Zum einen hat die archäologische Forschung allein in den letzten 20 Jahren, im 21. Jahrhundert, die Quellengrundlage durch den Einsatz neuer technischer Verfahren und durch die Durchführung großflächiger Ausgrabungen so quantitativ und qualitativ erweitert, dass die Auswertung einfach ganz neu angegangen werden muss. Deshalb habe ich in diesem Buch auch vorwiegend Veröffentlichungen aus diesen letzten 20 Jahren zitiert, ohne damit ältere wissenschaftliche Arbeiten zu ignorieren, die immer noch Bestand haben. Zum anderen haben sich auch die Fragestellungen, nämlich beispielsweise die Frage nach dem, was wir heute eigentlich von der Vergangenheit wissen wollen, ebenfalls beträchtlich verändert. Zwar muss immer noch unterschieden werden zwischen der allgemein interessierten bürgerlichen Gesellschaft und den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Im allgemeinen Geschichtsbewusstsein sind die Vorstellungen des 19. Jahrhunderts – um das vereinfacht zu sagen – auf der Grundlage des Denkens in Nationalstaaten noch nicht ersetzt worden durch das, was die Wissenschaft neu zu bieten hat. Die jüngere Generation hat zudem messbar weniger Interesse an Geschichte, auch der eigenen, was nicht nur am entsprechend einseitigen, verkürzten und teils mangelhaften Schulunterricht beruht, sondern auf dem Stellenwert, dem man Geschichte überhaupt im allgemeinen Denken des Alltags einräumt. Dem widerspricht auch nicht, dass die Medien – das öffentliche Fernsehprogramm – doch immer wieder historische
4736 O. Zimmermann 2019a, b. 4737 Dürrenmatt 1998: Die Zitate werden einfach aneinander gereiht.
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Sendungen anbieten, auch zur älteren Geschichte beispielsweise der Germanen.4738 Vermischung von Sequenzen aus Historienfilmen, Reenactment und Statements von Historikern oder Archäologen verwischen aber jeden Hinweis auf einen weiterführenden neuen Interpretationsansatz, verstärken vielmehr unbewusst die alten Klischees. Kompetente Beratung verschwindet dann meist im Aktionismus der filmschaffenden Redakteure. Dabei geht es nicht darum, in den neuen Ansichten nur das Ergebnis von gegenwärtigen Dekonstruktionen herkömmlicher Meinungen zu sehen. Denn statt nur alte Theorien einzureißen, erlauben die geschilderten Erweiterungen der Quellenbasis tatsächlich unabhängig vom sogenannten Zeitgeist neue Bilder von der Vergangenheit zu entwerfen und dem interessierten Publikum anzubieten. Das geschieht nicht nur über die wissenschaftliche Literatur, sondern erfreulicherweise auch über die Arbeit von Museen, und das auch zu den Germanen in Germanien. Aufgrund neuer Ausgrabungsergebnisse gab es wirkmächtige große Ausstellungen. Die Entdeckung des Schlachtfeldes der Varusniederlage führte zu den Ausstellungen in Kalkriese und in den Nachbarstädten im Jahr 2009, die Funde vom Harzhorn erbrachten die Ausstellung in Braunschweig „Roms vergessener Feldzug“ im Jahr 2013, oder aufgrund von Erinnerungstagen wurde die Ausstellung in Kalkriese 2015 „Ich Germanicus Feldherr Priester Superstar“ organisiert; eine weitere Publikation zu Germanicus ist 2018 erschienen.4739 Die wissenschaftlichen Mitglieder der archäologischen und der historischen Forschung geben sich alle Mühe, gegen die Vorurteile im Denken seriöse Fakten zu setzen. Diese werden jedem neugierig Interessierten leicht erreichbar angeboten, entweder konventionell im Buch, wozu auch das „Reallexikon der Germanischen Altertumskunde“ (RGA) mit 38 Bänden (bis 2008) gehört oder auch „Der Neue Pauly“ mit inzwischen ebenfalls rund 30 und weiteren im Erscheinen begriffenen Bänden. Manches wie das RGA ist zugleich Online zu lesen und wird dort laufend aktualisiert, einschließlich der über 120 bisher herausgegebenen Ergänzungsbände. Die populäre Zeitschrift „Archäologie in Deutschland“, die schon seit einigen Jahrzehnten jährlich mit mehreren Heften erscheint, sowie deren zusätzliche Sonderhefte informieren laufend über neue Ausgrabungsergebnisse, neue Bücher und Ausstellungen. Es besteht also Hoffnung, dass ein „neues Bild auch der alten Germanen“ im allgemeinen Geschichtsbewusstsein ankommen kann. Wie dem auch sei. Immerhin bestätigt sich immer wieder die Erscheinung, dass wissenschaftliche Thesen und Meinungen nicht leicht zu ändern sind, vielmehr mit ihren Vertretern irgendwann aussterben. Vom Römischen Reich aus gesehen wurde Germanien – auch von der Wissenschaft – als antike Randkultur eingeordnet. Die Elite in Germanien wird sich aber
4738 Die Völkerwanderung. Germanen gegen Rom. GEO-Epoche 2015; Die Germanen. Der Spiegel Geschichte Nr. 2, 2013 mit reichem Bildmaterial. 4739 Burmeister, Rottmann (Hrsg) 2015; Burmeister, Ortisi (Hrsg.) 2018.
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sicherlich nicht als randständig aufgefasst haben. Jeder Seite war natürlich bewusst, dass im Römischen Reich andere Organisationsformen bestanden und ein „höherer“ Zivilisationsstand erreicht war. Deshalb gingen junge Männer auch gern als Söldner in die römische Armee, blieben aber nicht dort, sondern kehrten mit Geld, Gold und Kenntnissen in die Heimatgebiete zurück. Der intensive Abwehrkampf gegen immer neue Eroberungsversuche der römischen Heere bringt doch unmittelbar zum Ausdruck, dass die Bewohner dieser Gebiete nicht in einer römischen Provinz leben und lieber ihren eigenen Lebensstil beibehalten wollten. So sollte man nicht von Randkultur sprechen, sondern von einer andersartigen Parallelkultur. Beide Kulturen – so könnte man formulieren – näherten sich einander an; die römische Seite machte wirtschaftliche Geschäfte in Germanien und sah das Gebiet als Rekrutierungsraum für die Armee an, die germanische Seite übernahm Zivilisatorisches aus dem Römischen Reich. Schließlich fand auf beiden Seiten eine Transformation der gesamten politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Situationen statt, so dass schließlich die neuen „Stammesverbände“ der Franken, Alemannen, Sachsen, Thüringer und Bajuwaren in Germanien entstanden, deren Eliten sich in die römischen Verwaltungssysteme einfügten bzw. diese für sich übernahmen, Germanen übernahmen römische Positionen und bildeten statt Provinzen Königreiche. Ein Nachtrag: Nach Abschluss meines Manuskripts und Einreichung beim Verlag für den Druck erschien das Bonner Jahrbuch 218, 2018 (2019), ausgeliefert im Mai 2020, so dass ich den Aufsatz von Michael Schmauder nicht mehr berücksichtigen und einarbeiten konnte: „Der Raum zwischen Rhein, Donau und Oder vom fünften bis zum Ende des 7. Jahrhunderts“.4740 Zum 5. Jahrhundert und nachfolgend bis ins 6. Jahrhundert hinein berühren seine Thesen meine Erörterungen zu diesem Zeitraum. Ehe ich auf einige Aussagen eingehe, gilt es, die methodischen Voraussetzungen des Autors zu nennen. Im Gegensatz zu meiner Ausgangsthese meint M. Schmauder, die historischen Ereignisse der Schriftüberlieferung berücksichtigen zu dürfen und gar müssen. „Erforderlich ist hierfür eine enge Verzahnung zwischen historischer Ereignisgeschichte und archäologischer Quellenlage“.4741 Das ist eine Festlegung ohne eine methodische Grundlegung dazu. Der Leser findet deshalb einen ständiges Hin- und Herspringen zwischen historischen Daten und Vorgängen sowie archäologischen Funden und Befunden. Es sieht so aus, als ob sich Ereignisse unmittelbar in der archäologischen Überlieferung abbilden bzw. niederschlagen würden. Ein solches Axiom gegenseitiger Abhängigkeit öffnet jedoch Kreisschlüssen unkontrollierbar für viele Argumentationen Tür und Tor, und das wird schließlich nicht mehr nachvollziehbar.
4740 Schmauder 2018 (2019) 193–248. 4741 Schmauder 2018 (2019) 193 Anm. 3.
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Unabhängig davon ist die angebotene Zitierweise sehr unpraktisch. Einerseits finden sich zu viele Kurzzitate in den Anmerkungen gebündelt, so dass meist nicht zu erkennen ist, woher die Vergleichsaussage stammt. Andererseits fehlen dann auch noch oftmals Seitenhinweise in der zitierten Literatur, um etwas nachprüfen zu können. Meine methodischen Zugänge sehen anders aus. Nicht jede Fund- und Befundverbreitung ist Abbild einer Wanderung, für die dann häufig eine größere Menschenmenge stehen soll. Gegen einzelne Migrationen geht das nicht, doch archäologische Verteilungen stehen in der Regel für eine große Menge, da wir meist nur ein 1% des ehemaligen Befundes bisher entdeckt und dokumentiert haben; und außerdem übergreifen archäologische Befunde größere Zeitspannen, mit denen punktuelle historische Daten nicht korrespondieren können. Das passt einfach nicht zusammen. Die Möglichkeit der „ethnischen Deutung“ archäologischer Kultur- und Verbreitungsgruppen mit Blick auf schriftlich überlieferte Stämme wird seit einigen Jahren diskutiert und abgelehnt. Es fehlen dazu jegliche begründbaren methodischen Grundlagen, was ich ebenfalls so sehe.
Anhänge
Anhang 1: Gedichte zu Römern und Germanen 1) Heinrich Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen. Caput XI. Das ist der Teutoburger Wald, Den Tacitus beschrieben, Das ist der klassische Morast, Wo Varus steckengeblieben.
Gottlob! Der Hermann gewann die Schlacht, Die Römer wurden vertrieben, Varus mit seinen Legionen erlag, Und wir sind Deutsche geblieben!
Hier schlug ihn der Cheruskerfürst, der Hermann, der edle Recke, Die deutsche Nationalität, die siegte in diesem Drecke.
Wir blieben deutsch, wir sprechen deutsch, Wie wir es gesprochen haben, Der Esel heißt Esel, nicht asinus, Die Schwaben blieben Schwaben....
Wenn Hermann nicht die Schlacht gewann, Mit seinen blonden Horden, So gäb es die deutsche Freiheit nicht mehr, Wir wären römisch geworden.
O Hermann, dir verdanken wir das! Drum wird dir, wie sich gebühret, Zu Detmold ein Monument gesetzt. Hab selber subskribieret.
In unserem Vaterland herrschten jetzt Nur römische Sprache und Sitten...
2) Josef Victor von Scheffel (1826–1886) aus dem Jahr 1847. Als die Römer frech geworden, zogen sie nach Deutschlands (!) Norden, Vorne mit Trompetenschall, ritt der Generalfeldmarschall, Herr Quintilius Varus.
O! Quintili, armer Feldherr, Dachtest du, daß so die Welt wär‘? Er geriet in einen Sumpf, Verlor zwei Stiefel und einen Strumpf Und blieb elend stecken.
In dem Teutoburger Walde, Huh! Wie pfiff der Wind so kalte, Raben flogen durch die Luft, Und es war ein Moderduft, Wie von Blut und Leichen.
Da sprach er voll Ärgernussen Zum Centurio Titiussen: „Kam’rad, zeuch dein Schwert hervor Und von hinten mich durchbohr, Da/Weil doch alles futsch ist!“.
Plötzlich aus des Waldes Duster Brachen k(r)ampfhaft die Cherusker, Mit Gott für Fürst/König und Vaterland Stürzten sie sich wutentbrannt Auf die Legionen.
In dem armen röm’schen Heere Diente auch als Volontäre Scaevola, ein Rechtskandidat, Den man schnöd‘ gefangen hat, Wie die andern alle.
Weh! Das ward ein großes Morden, Sie schlugen die Kohorten; Nur die röm’sche Reiterei Rettete sich noch ins Frei’, Denn sie war zu Pferde.
Diesem ist es schlimm ergangen, Eh’ daß man ihn aufgehangen, Stach man ihm durch Zung’ und Herz, Nagelte ihn hinterwärts Auf sein corpus iuris.
https://doi.org/10.1515/9783110702675-042
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Anhang 1: Gedichte zu Römern und Germanen
Als das Morden war zu Ende, Rieb Fürst Hermann sich die Hände, Und um seinen Sieg zu weih’n, (Und um sich noch mehr zu freu’n) Lud er die Cherusker ein Zu ‘nem großen Frühstück. Wild gab’s und westfäl’schen Schinken, Bier, soviel sie wollten (man wollte) trinken Auch im Zechen blieb er Held, Doch auch seine Frau Thusneld Soff walkürenmäßig. Nur in Rom war man nicht heiter, Sondern kaufte Trauerkleider; G’rade als beim Mittagsmahl Augustus saß im Kaisersaal, kam die Trauerbotschaft. Erst blieb ihm vor jähem Schrecken Ein Stück Pfau im Halse stecken, Dann geriet er außer sich: (Und schrie):„Varus, Varus, schäme dich, Redde legiones!“
Sein deutscher Sklave, Schmidt geheißen, dacht: Ihn soll das Mäusle beißen, Wenn er je sie wieder kriegt, Denn wer einmal tot da liegt, Wird nicht mehr lebendig. Neunzehnhundert Jahr’ verflossen, Seit hier Römer Blut vergossen, Das uns Knechtschaft zugedacht. Hermanns Denkmal hält nun Wacht Deutscher Kraft und Stärke. (Und zu Ehren der Geschichten Tat ein Denkmal man errichten, Deutschlands Kraft und Einigkeit Kündet es jetzt weit und breit: „Mögen sie nur kommen!“) Um des Denkmals Glanz zu mehreren Laßt uns seinen Schöpfer ehren! Deinen Namen trag die Bank Bandel, die wir dir zum Dank Und zur Ehr’ erbauten.
3) Das Niedersachsenlied aus dem Jahr 1926 (Auszug) des Braunschweiger Lehrers, Komponisten und Texteschreibers Hermann Grote aus dem Harz (1885–1971). Wo fielen die römischen Schergen? Wo versank die welsche Brut? In Niedersachsens Bergen, an Niedersachsens Wut. Wer warf den römischen Adler nieder in den Sand?
Wer hielt die Freiheit hoch im deutschen Vaterland? Das waren die Niedersachsen, sturmfest und erdverwachsen, heil Herzog Widukinds Stamm.
Anhang 2: Friedrich Dürrenmatt (1921–1990): Romulus der Große, 1949 Zitiert nach: F. Dürremmatt, Romulus der Große. Eine ungeschichtliche historische Kommödie in vier Akten Neufassung 1980 (Zürich 1998). Die Seitenzahlen finden sich in Klammern vor dem Zitat. Ich nenne nicht die jeweiligen Redner oder einen näheren Zusammenhang, da es mir nur um die gespiegelte Geschichtsauffassung zu Germanen und Römern geht. Wir lesen darin folgende Zeilen: (14) „Ein so großes Unternehmen wie das römische Imperium kann gar nicht vollständig zusammenkrachen. Die Germanen kommen! Die kommen schon seit fünfhundert Jahren.“ (19) „Man soll von den Germanen nehmen, was sie Gutes hervorbringen, wenn sie schon einmal kommen.“ (22) „Das Licht der Vernunft lässt sich nicht aufhalten. Wenn die Germanen ihr Land zivilisieren, brechen sie nicht mehr ins römische Reich ein.“ (22) „Wenn die Germanen nach Italien oder Gallien kommen, zivilisieren wir sie, aber wenn sie in Germanien bleiben, zivilisieren sie sich selbst, und das muss fürchterlich werden […].“ (33) „Die Germanen überfluten unsere Reiche. Die Dämme sind mehr oder weniger eingerissen […].“ (34) „Die Erfolge der Germanen sind nicht aus materiellen Gründen zu erklären. Wir müssen tiefer sehen. Unsere Städte ergeben sich, unsere Soldaten laufen über, unsere Völker glauben nicht mehr an uns, weil wir an uns selbst zweifeln.“ (40) „Ich bin mir eiskalt bewusst, dass die konservativen Kreise Roms gegen die Hosen sind, wie immer, wenn wieder einmal eine Erleuchtung dämmert.“ (55) „Ein so vollkommen durchorganisiertes Gebilde wie das römische Imperium steht auf Grund seiner inneren Werte noch die schlimmsten Krisen durch. Unsere höhere Kultur wird die Germanen besiegen.“ (77) „Es ist ein Weltreich geworden und damit eine Einrichtung, die öffentlich Mord, Plünderung, Unterdrückung und Brandschatzung auf Kosten der andern Völker betrieb […].“ (80) „Soll man denn nicht das Vaterland mehr lieben als alles in der Welt? Nein, man soll es weniger lieben als einen Menschen. Man soll vor allem gegen sein Vaterland misstrauisch sein. Es wird niemand leichter zum Mörder als ein Vaterland.“ (81) „Vaterland nennt sich der Staat immer dann, wenn er sich anschickt, auf Menschenmord auszugehen.“ (96) „Zu denken, dass eine Zeit kommt, wo man nicht einmal mehr Lateinisch oder Griechisch spricht, sondern so unmögliche Sprachen wie dieses Germanisch!“ https://doi.org/10.1515/9783110702675-043
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Anhang 2: Friedrich Dürrenmatt (1921–1990): Romulus der Große, 1949
„[…] denn wir haben keine Macht über das, was war, und über das, was sein wird. Macht haben wir nur über die Gegenwart, an die wir nicht gedacht haben und an der wir nun beide scheitern.“ (Anmerkung II von F. Dürrenmatt) (121) „Auch lockte es mich, einmal einen Helden nicht an der Zeit, sondern eine Zeit an einem Helden zugrunde gehen zu lassen.“ (Vierter Akt der ersten Fassung S. 125 ff.) (137) „Völker, die sich einbilden, sie seien jung, fühlen sich zu so vielen Dummheiten berechtigt, dass sie schon aus diesem Grunde nie alt werden.“ (138) „Es ist ungesund […] die Weltgeschichte rückgängig zu machen. Ihr seid nun einmal da, und Germanien ist für die Menschheit offenbar ein doch zu problematisches Land […].“ (138) „Man muss die Rassen ein wenig mischen, wenn etwas Vernünftiges herauskommen soll.“ (151) „[…] die Germanen lassen sich ebensowenig aufhalten wie die Slawen. Ein Volk kommt nach dem anderen.“
Anhang 3: Die kulturellen Lebensverhältnisse der Indianer Nordamerikas, nach Th. Perdue, M. D. Green, Die Indianer Nordamerikas (Stuttgart 2010) Die Seitenzahlen in Klammern weisen auf die Stellen hin, an denen die zitierten und hier von mir kommentierten Textstellen zu finden sind. Wörtliche Zitate und meine Kommentare gehen ineinander über Wie sah es zu Beginn aus: (27) Einige Gruppen lebten in kleinen umherziehenden Jagdverbänden, andere in Ackerbaudörfern. In kriegerischen Zeiten organisierten Verwandtschaftsnetze Truppenverbände; der Krieg war das normale Verhältnis gegenüber fremden Gruppen. Fremde wurden in die Verwandtschaftssysteme integriert, wenn man Frieden wollte, denn erst dann war es möglich, über Stammesgrenzen hinweg Handel zu treiben. (30) Zur Zeit der europäischen Invasion im frühen 16. Jahrhundert gab es ungefähr 400 verschiedene Sprachen auf dem nordamerikanischen Kontinent. „Begreift man Kultur als ein mentales Konstrukt und Sprache als das Mittel, mit dem Menschen denken und ihr Weltverhältnis ordnen, dann ist die Sprachenvielfalt ein starker Indikator für die Vielfalt der indianischen Kulturen“. Zur Zeit des Kolumbus lebten in Nordamerika fünf bis sieben oder acht Millionen Indianer (1890 nur noch 250 000). (36) Im Jahr 1565 umfassten in Florida die Timucua 200 000 Menschen in 35 autonomen Herrschaftsgebieten. In New Mexiko lebten die Indianer in etwa 60 bis 70 autonomen Dörfern und etwa ungefähr 40 000 Menschen. (37) Die Häuptlinge kooperierten vielfältig miteinander. (39) Die Indianer waren sehr daran interessiert, europäische Metallwaren zu erwerben, und boten im Gegenzug Pelze an. (40) Und: Der Handel wurde vor allem als Austausch von Geschenken verstanden, und es gab Zwischenhändler bis hin zu den Europäern. Im Krieg schuf man Bündnisse zwischen den kleinen Gruppen. (41) Die Irokesenkonföderation und die Huronenkonföderation bestanden aus mehreren, vier und mehr, Völkern, die Wendat-Konföderation um 1600 umfasste rund 30 000 Menschen; auf den großen Seen (Quebec) fuhren Flotten von 60 Kanus vollbeladen mit Pelzen. (42) Die Huronen konvertierten zum Christentum mit dem Hauptziel, Gewehre zu erhalten (wie von den Germanen die römischen Schwerter begehrt wurden). (43) Die Verwandtschaftsnetzwerke waren durch Austausch von Geschenken zu Allianzen verbunden.
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Anhang 3: Die kulturellen Lebensverhältnisse der Indianer Nordamerikas
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Ein Oberhäuptling herrschte über 15 000 Menschen, davon stellte ein Viertel Krieger, also 3500 bis 4000 Mann. Ein erster Indianerkrieg 1675 zerstörte Dutzende von indianischen und englischen Siedlungen, 5000 Indianer und 2500 Engländer wurden getötet. Es gab Sklavenhandel, gefangene Indianer wurden verkauft; sogar ein ganzer Stamm wurde verkauft, verschwand damit und hörte auf zu existieren: 50 000 Creek zwischen den Indianerverbänden. Kaufleute aus Charles Town exportierten 1740 mehr als 136 Tonnen Hirschfelle nach England, bis zu den 1760er Jahren verdreifachte sich die Menge (ein Hirschfell wiegt 900 Gramm). Die indianischen Lieferanten erhielten im Austausch Metallwaren, Waffen, Tabak und Alkohol. Zwischen 1689 und 1763 fochten England und Frankreich vier imperiale Kriege aus, mit Einbeziehung der Indianer, was aber dazu führte, dass Stämme weiter zogen, vertrieben und verdrängt wurden. Wenn zwischen Weißen und Indianern Verträge geschlossen werden sollten, dann nur zwischen souveränen Mächten. Das Aushandeln von Verträgen bedeutete implizit die Anerkennung der Souveränität der Stämme. Im Jahr fielen in der vernichtenden Niederlage des Generals Arthur St. Clair mehr als 600 Soldaten. Die europäische Kultur war den Indianern schon lange bekannt, von Anfang an haben sie Waren und Ideen übernommen, sie ersetzten nicht ihr kulturelles System durch ein anderes, sondern integrierten in der Regel bestimmte Entlehnungen, ohne dabei ihre Grundwerte radikal zu ändern. Manche Indianer kauften Pflüge und Webstühle, die Bundesregierung baute Straßen durch das Indianergebiet, was zur Zunahme der Kontakte führte; indianische Geschäftsleute eröffneten eigene Läden, stellten Schmiede, Müller und andere Handwerker ein (und zwar Weiße), die für die indianische Kundschaft arbeiteten. Im 19. Jahrhundert traten Indianerstämme gegen Bargeld, Waren und jährliche Zahlungen Land ab, die Summen gingen an die Häuptlinge. Die politische Struktur der Creek bestand in einer dezentralisierten Konföderation aus weitgehend autonomen Siedlungen, die zeremoniell, gesellschaftlich und politisch für sich lebten. Die Cherokee behielten 1805 ihr Land, schlossen aber 2000 Personen aus ihrer Stammesgemeinschaft aus, die umgesiedelt wurden. Mitte der 1820er Jahre besaßen ungefähr 14 000 Cherokee 22 000 Rinder, 46 000 Schweine, fast 3000 Pflüge, 2500 Spinnräder und 800 Webstühle; sie wurden europäisiert: Einige Unternehmer betrieben zehn Sägemühlen, 18 Fähren und 31 Getreidemühlen und besaßen mehr als 1200 afroamerikanische Sklaven. Im Jahr 1826 tauschten die Creek ihr Land in Georgia gegen ein Gebiet westlich des Missisippi, was eine Umsiedlung zur Folge hatte.
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Im Jahr 1810 und nachfolgend bis 1819 zogen Cherokee nach Arkansas, wo sie Land im Austausch gegen Abtretungen im Osten erhalten hatten, später zogen sie noch weiter nach Westen, wobei die Umsiedlungen freiwillig erfolgten. Ab 1820 aber begannen weiße Politiker die gewaltsame Vertreibung der östlichen Indianer zu diskutieren. (90) Die Indianer im Westen gewöhnten sich an die Tierhaltung, von Rindern, Schafen, Ziegen und vor allem von Pferden. Seit dem 17. Jahrhundert begannen Pueblo-Indianer, auch die Apachen, damit, Pferde zähmen und zu reiten. Die Einführung des Reitpferdes bedeutete eine gewaltige Veränderung: Die Indianer konnten schneller und weiter umherziehen und mehr Ausrüstung mitnehmen, als berittene Jäger konnten sie auch Krieg führen, (92) „Das Erstaunlichste an der Geschichte der Verbreitung der Pferde bei den Völkern der Plains war jedoch, dass sich diese Entwicklung in gerade einmal fünfzig Jahren vollzog. Pferde waren zu einer Ware in einem gut etablierten Tausch-Netzwerk geworden […]“ (Abb. 6 Karte zur Verbreitung der Pferde). (98) Pferde und Gewehre waren die wichtigsten Requisiten der Prärieindianer. – Die Arikara, die einst in 32 Dörfern gelebt hatten, schmolzen auf zwei Dörfer zusammen. (99) Die Kriegerkultur der Prärieindianer nahm einen stark religiösen Charakter an. Das erinnert unmittelbar an die Verreiterung der Goten in Südrussland im 3./4. Jahrhundert. (102) Märkte und Handelsstationen wurden ausgebaut: Zwischen 1825 und 1830 passierten 785 000 Büffelfelle St. Louis auf dem Weg nach New Orleans; 500 000 Bisons brauchte man für den Eigenbedarf der Indianer. Im frühen 19. Jahrhundert konkurrierten rund 2,5 Millionen verwilderte und domestizierte Pferde mit den Bisons um die Weiden. (103) Reiterüberfälle und Stammeskriege wurden häufiger, aus Konkurrenzgründen. (104) Die Stämme waren in der Regel mit selten mehr als 500 Mitgliedern sehr klein. (110) Die Armee war gegen die Indianer ineffektiv. Die Krieger aus den Plains waren geübte Guerillakkämpfer; mit Jahreszahlungen wollte man sie befrieden. (128) Zwischen 1883 und 1916 erhielten alle Indianer das US-Amerikanische Bürgerrecht.
Anhang 4: Artikel aus Zeitungen, die auf das Thema eingehen; vielfach Frankfurter Allgemeine Zeitung und DIE ZEIT (chronologisch geordnet) Zeitungsartikel geben die gegenwärtige tagesaktuelle Diskussion auch zu histori schen Vorgängen wider, die zeigt, welche Ansichten in der Gesellschaft gerade herr schen – altüberlieferte oder moderne – und auch, ob nachgedacht oder nur referiert wird. Aussagen, die für meine Argumentation relevant sind, habe ich kursiv markiert, sowohl in den Zitaten als auch in meinem Kommentar. – Bätz, Der lange Weg nach Süden. In der Spätantike war das nördliche Europa arm und krisengeschüttelt. Tausende Germanen brachen auf in Richtung Mittelmeer – der Beginn der immer noch von Mythen umrankten Völkerwanderung, in: DIE ZEIT Nr. 29, 16. Juli 2014, S. 17. Wieder wird hier die konventionelle Sicht, was die Völkerwanderung wäh rend der Spätantike war, kritiklos übernommen. Dazu passt denn auch das zum Text ausgewählte Gemälde aus dem 19. Jahrhundert „Stolze Krieger mit Kind und Kegel“. Das liegt an den antiken Schriftquellen, die als Ursachen für die Germanen züge existenzielle Notlagen, Naturkatastrophen, Klimaveränderungen und Ver treibungen durch Kriege annahmen. Doch das kann die archäologische Forschung also gerade nicht bestätigen; in Germanien würde ein raues Klima herrschen, die Ausstattung des gesamten Landes wäre eher traurig; denn rückständige ländliche Lebensweise herrschte. Andererseits bietet der Autor auch Thesen, wie sie die For schung heute vertritt, nämlich statt der wandernden Völker wird von organisier ten Kriegerverbänden ausgegangen. Das waren aber keine „riesigen germanischen Heerhaufen“, die plündernd durch Gallien zogen, sondern die Größenordnungen hielten sich in Grenzen. Und zuzustimmen ist, wenn der Autor schreibt: „Das Ziel der germanischen Wanderungen war gleichwohl nie eine Zerstörung des Impe rium Romanum gewesen. Dessen überlegene Administration und Organisation hatte auch den weniger besonnenen Anführern langfristig mehr Anreiz geboten als ein reines Chaos.“ – Patrick Bahners, Für „Nation“ lies einfach: „die Allgemeinheit“. Ein „völkisches“ Gesetz? Die Kritiker der Reform des Kulturgüterschutzes blieben maßlos bis zum Schluss, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. Juli 2016. Im Artikel heißt es: „Was ist schon zweifelsfrei von nationaler Bedeutung? Michael Stürmer hatte die Bürger unseres ‚geschichtslosen Landes‘ vom Wert der Nationalgeschichte überzeugen wollen. Die Debatte um die Begrifflichkeit der Gesetzesvorlage belegt den Topos des Nationalen, der nur noch in der Kulturpo litik eine Rolle spielt. In den Erläuterungen der Gesetzesbegründung findet sich kein Ansatzpunkt für eine ethnische Definition der Nation oder für die Frage nach dem Wesen des Deutschen.“ https://doi.org/10.1515/9783110702675-045
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Anhang 4: Artikel aus Zeitungen, die auf das Thema eingehen
Georg Blume, Interview mit Stephen Smith „Wir schaffen es nicht“, Millio nen kommen, doch es kümmert niemanden: Der USamerikanische Afrikanist Stephen Smith über den bevorstehenden Ansturm afrikanischer Flüchtlinge auf Europa, in: DIE ZEIT Nr. 40, 27. September 2018. Es geht um Mobilitäten und Wanderungen. 60 Millionen Europäer wander ten im 19. Jahrhundert nach Nordamerika aus; schon 1960 waren 60 Millionen Afrikaner in Afrika unterwegs und nur 20 Millionen außerhalb, heute haben 140 Millionen ihren Kontinent verlassen. Blume sieht Analogien: „Der Niedergang des Römischen Reichs erfolgte auf Grund der Zuwanderung von Germanen, die ein besseres Leben suchten und wollten [die alte These wird wieder aufgegrif fen, Verf.]; in Germanien entstand wegen des wirtschaftlichen Aufschwungs eine Überbevölkerung, die als Lösung zu Kriegerbanden unter Heerkönigen führte, die ihre Beute anderswo suchten und schließlich auf dem Boden der römischen Provinzen sich niedergelassen haben, was sie gewissermaßen für sich erzwungen haben.“ Alexander Demandt, Das Ende der alten Ordnung. Das Römische Reich war fremdenfreundlich. Doch Einwanderer ließen sich nur in überschaubarer Zahl integrieren. Das Machtgefüge verschob sich, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 27, 21. Januar 2016. Zu diesem Beitrag erschienen aufschlussreiche Leserbriefe: – Leserbrief vom 3. Februar 2016 von Dr. Herbert Feilke, „Freiheit der Wissen schaft?: Ein Artikel gegen Alexander Demandt, der schrieb, dass das Imperium an Einwanderern gescheitert sei, eine falsche, weil monokausale Erklärung.“ – Leserbrief vom 3. Februar 2016 von Prof. Dr. Holger Thünemann, „Historia magistra vitae?“. Thünemann sagt: „Zum einen weiß wohl niemand besser als Demandt selbst, dass für das Ende des Römischen Reiches nicht nur ‚Germanenhorden‘, wie er schreibt, und unüberschaubare ‚Zahlen von Zuwan derern‘ verantwortlich waren. Was hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung dazu bewogen, Demandts Beitrag, der geschichtstheoretisch überholt und geschichtspolitisch fragwürdig ist, überhaupt abzudrucken? Dass wir im Fremden das Eigene und im Eigenen das Fremde erkennen können. Sind das die Germanenhorden?“ Jörg Feuchter, Die Mischung macht es. Männer waren sesshaft, Frauen mobil, jedenfalls während der Bronzezeit im Lechtal: Die zur Vergangenheit arbeiten den Genetiker produzieren revolutionäres Wissen. In Heidelberg hielt diese neue Subdisziplin der Biologie in diesem Jahr ihr erstes Welttreffen ab. Wie steht es um die Zusammenarbeit mit Archäologen und Historikern?, in: Frankfurter Allge meine Zeitung Nr. 282, 4. Dezember 2019, Seite N 3 (vgl. dazu auch Patrick Geary, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. Dezember 2018). Ein weiterer Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 20. Februar 2020 von Jörg Fechter berichtet über einen Vortrag beim Mittelalterzentrum der
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BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften: „Die Knochenarbeit fängt erst an. Der Mediävist Patrick Geary zeigt in Berlin Grenzen und Chancen der ‚Genetischen Geschichte‘ auf. Deutsche Historiker sind auf die Methodendis kussion kaum vorbereitet.“ P. Geary meinte, nicht die germanischen Wanderun gen hätten das Ende Roms herbeigeführt, sondern umgekehrt das Ende rief die Wanderungen erst hervor. Und er betonte, dass es keine direkte Übereinstimmung von biologischer und ethnischer Identität gegeben hat aufgrund der variablen Zusammensetzung der Kriegerverbände und Familienverbände, so auch der fara der einwandernden „Langobarden“ der Jahre um 568. Die ersten aDNAAnalysen für Italien zeigen, dass Krieger eingewandert sind und die zugehörigen Frauen wären nicht mit ihnen verwandt. Christian Geyer, Gewalt? Gab’s auch anderswo. Die Kolonialherrschaft wird schöngerechnet: Im Namen von Humanismus und Aufklärung basteln Philoso phen und Historiker globale Bilanzen zur Entlastung des europäischen Gewis sens, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Februar 2018. Der Artikel verweist auf arabischen, islamischen und chinesischen Kolonia lismus, vergisst aber das Römische Reich. Rezension von M. Simons zu F. Jullien, Es gibt keine kulturelle Identität. (Berlin 2017), in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. Dezember 2017. „Den richtigen Abstand finden. Immer Unterschiede festzustellen, das bringt doch nichts: François Jullien überlegt, wie man eine Kultur verteidigt. Der Autor weiß – im Gegensatz zu Populisten – „dass die Vorstellung feststehender, sich scharf voneinander abgrenzender kollektiver Kulturen eine Fiktion ist und eine gefährliche obendrein.“ Kulturen sind etwas Fließendes, wie soll man sich da integrieren. Er schlägt vor, nicht von Unterschieden, sondern von Abständen zwischen den Kulturen zu sprechen. Auch sollte man nicht von der „Identität“ einer Kultur reden, sondern von deren Ressourcen. Andreas Kilb, Eine Maria Theresia lässt sich nicht herumstoßen. Tagungsbericht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 62, 14. März 2018, Seite N3. Darin liest man theoretische Bemerkungen, am Anfang zur Geschichts schreibung allgemein: „Geschichte ist ein Puzzle, eine Planskizze oder ein Gemälde. Je nachdem, für welche Darstellungsart man sich entscheidet, entsteht ein anderes Bild. Die Mikro geschichte trägt ein Puzzlestück nach dem anderen zusammen – Geschichte von Dörfern, Landschaften, Produkten, Metiers –, ohne dass die Lücken zwischen den Teilchen geringer würden. Die Makrogeschichte zeigt die Strukturen der longue durée in Zeit und Raum, ohne oft genau erklären zu können, warum sie sich ver ändert. Am vielversprechendsten ist immer noch die klassische erzählende Dar stellung. Aber auch sie bewegt sich in dem Spannungsfeld, das Georg Simmel 1916 in seinem Essay zum ‚Problem der historischen Zeit‘ beschrieben hat. Geht sie zu nah an ihre Gegenstände heran, verliert sie ihre Kohärenz. Entfernt sie sich
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zu weit von ihnen, wird sie zum bloßen Begriffsgeschiebe […]. Die Geschichts wissenschaft, meinte Simmel, solle darauf verzichten, ständig neue ‚Gesche hensatome‘ in unser Bild der Ereignisse einzufügen, denn diese enthielten ein zu geringes ‚Quantum eigenen Sinnes‘ […] Vielmehr geht es darum, scheinbar bekannte Puzzleteile gegen das Licht zu halten, das von anderen Partikeln her auf sie fällt. So entsteht […] immer wieder neuer Sinn.“ Frank Schätzing in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 26. September 2015. Der Beitrag wird in meiner Darstellung ausführlich referiert (vgl. S. 1299). Markus Schauer, Horaz als Slammer – der Hammer!, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Juli 2018. Er bringt ein wichtiges Zitat aus Ciceros Gesetzen (De legibus 2, 3–5): Ein Mensch kann zwei Vaterländer haben – Duas esse censeo patrias, unam naturae, alteram civitatis – das eine sei der natürliche Geburtstort, das andere der Staat, dessen Bürgerrecht man angenommen habe. Dr. Christian Scholz, Der Begriff „Völkerwanderung“ ist irreführend, in: L.I.S.A. 10. September 2015. Das Interview wird in meiner Darstellung ausführlich referiert (vgl. S. 1307). Jörg Seewald, Hauptsache, die Hühner sind echt. So sieht es also aus, wenn Ame rikaner die europäische Geschichte inszenieren: Bei History läuft der „Aufstand der Barbaren“. Hört man die versammelten Experten, meint man, es gehe um die Gegenwart, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. September 2016 (zum Film: Aufstand der Barbaren). Der Autor meint mit überholten und neuen Thesen vermischt: Während sich die Römer hinter dem Limes sicher glaubten, bekämpften sich die Germanen gegenseitig. Dabei wurden ihre Heere zu gefährlichen Gegnern, und zu dem Buch von Thomas Brock „Archäologie des Krieges. Die Schlachtfelder der deutschen Geschichte“ sagt er etwa: Archäologische Funde beschreiben Situationen, für die es keine Schriftquellen gibt. Es gab Kriege vom 2. bis 4. Jahrhundert im Inneren Germaniens und in Skandinavien. Als die sich neu formierten Großstämme der Alamannen, Markomannen, Franken oder Sachsen über die Grenze drängten, blieb Roms Chronisten nur, das Entsetzen der Zeitgenossen festzuhalten. „Dass die Römer den Wandel von den überschaubaren Stammesgemeinschaften des 1. zu den Großstämmen des 3. Jahrhunderts buchstäblich übersahen, sollte welthis torische Folgen haben.“ Die Bevölkerungszahl bestand in Germanien nach seiner Ansicht nur aus wenigen Menschen pro Quadratkilometer; es herrschte aber fast Überbevölkerung, wie ich erläutert habe. Die Truppen des Arminius waren keine Stammeshorden, sondern römische Auxiliareinheiten; das Bild der „germanischen Bauernkrieger“ im Film ist ebenfalls ein Fehlurteil, sondern „straff orga nisierte, professionell ausgebildete, taktisch abgestimmte Truppenteile“ führten Krieg im Inneren Germanien und bedrohten Rom. Michael Sommer, Eines Kaisers große Geste. Römer wie wir: Die sogenannte Con stitutio Antoniniana machte alle freien Einwohner des Reichs zu Bürgern. Klingt
Anhang 4: Artikel aus Zeitungen, die auf das Thema eingehen
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gut, weshalb die Unesco sie nun zum Kulturerbe erklärte. Hat aber auch einen Haken, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. Juni 2018. Der Verfasser meint zur Constitutio des Kaisers Caracalla (211–217) aus dem Jahr: Massenware entwertet! Prof. Dr. Daniel Thym, Freiheit, Vielfalt und Gemeinsinn, in: Frankfurter Allge meine Zeitung Nr. 12, 15. Januar 2018, S. 8. Einige Zitate aus dem Artikel: „Gewiss wissen wir seit der Postmoderne, dass individuelle und kollektive Identitäten keine feststehenden Größen sind, sondern beständig neu verhandelt werden.“ „Viele Eigenschaften sind nicht spezifisch deutsch, sondern regional ver schieden, vielfach europäisch und teils universal – und Migration gestaltet den Wandel mit […].“ „Die Relativität der Alltagskultur […]. Wenn sich die Alltagskultur beständig verändert […].“ „Auch heute noch schützen die Grundrechte vor Identitätszumutungen […].“ „Gerade weil Identitäten beständig neu verhandelt werden, muss sorgfältig bedacht werden, welches Selbstbild eine Gesellschaft von sich zeichnet.“ Prof. Dr. Hans Dieter Zimmermann, Berlin, Leserbrief in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. März 2018. „Komfort dank Rom. Zum Artikel ‚Gewalt? Gab’s auch anderswo‘ von Chris tian Geyer (F.A.Z. vom 14. Februar). Er schreibt: Ein kleiner historischer Rück blick. Als Gymnasiast in Bingen am Rhein habe ich noch gelernt, dass Kolonien etwas Gutes sind. Wir waren stolz darauf, eine römische Kolonie gewesen zu sein. Unser Lateinlehrer bedauerte immer mal die armen Germanen hinter dem Limes, die noch auf den Bäumen saßen, während wir schon gekachelte Bäder hatten. Das war nur wenig übertrieben, sieht man die Erdlöcher mit Strohdach im Heimatmuseum Berlin-Reinickendorf, die die Vorfahren der Berliner einst bewohn ten, und sieht man etwa die Ausgrabung der prächtigen römischen Villa in Bad Kreuznach, fünfzehn Kilometer links des Rheins. Die römischen Kolonien hatten ein hohes zivilisatorisches Niveau: gepflasterte Straßen, steinerne Brücken, Was serzufuhr, Bäder. Im Binger Museum kann man das chirurgische Besteck eines römischen Arztes bewundern. Diese Zivilisation hatte ein Ende, als die Grenze, der Limes nicht mehr hielt und die plündernden Germanen kamen: Für Jahrhunderte herrschte Finsternis. Das Reich Karls des Großen entstand in der Sehnsucht nach der Wiederherstellung des Römischen Reiches. Also hier lesen wir: Das ist das Geschichtsbild der bürgerlichen Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, wie es die Schule vermittelt hat und einfach im Bewusstsein vieler Bürger bestehen blieb.“
Literatur Abkürzungen RGA = Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Erg. Bde. zum RGA = Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Rez. = Einige Rezensionen sind im Literaturverzeichnis hinter den zitierten Werken aufgeführt. CRFB = Corpus der römischen Funde im europäischen Barbaricum. SFMA = Studien zu Fundmünzen der Antike, hrsg. von M. R. Alföldi und H.-M. Kaenel in Zusammenarbeit mit der Römisch-Germanischen Kommission des Deutschen Archäologischen Instituts Frankfurt am Main (Mainz).
Quellen Ammianus Marcellinus. Römische Geschichte, Lateinisch und deutsch und mit einem Kommentar versehen, Erster Teil. Schriften und Quellen der alten Welt Bd. 21,1; hrsg. von W. Seyfarth (Berlin 1968). P. Cornelius Tacitus, Annalen. Lateinisch und deutsch, hrsg. von Erich Heller (München, Zürich 1982). P. Cornelius Tacitus, Germania. Lateinisch und Deutsch, übersetzt und hrsg. von Josef Lindauer (München 1967). P. Cornelius Tacitus, Historien. Lateinisch-deutsch, hrsg. von Joseph Borst (Darmstadt 1984).
Allgemeines Die Vornamen in der Bibliographie werden nur mit dem Anfangsbuchstaben zitiert; in den Anmerkungen fallen auch diese weg; nur, wenn verschiedene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler desselben Namens zitiert werden, wird anhand des abgekürzten Vornamens unterschieden. Die umfangreiche Bibliographie berücksichtigt die Forschungsgeschichte in mehreren Aspekten. Der erste Aspekt: In das Literaturverzeichnis sind zahlreiche Stichworte aus dem RGA eingefügt, die vor allem in den jüngeren Bänden veröffentlicht sind. Nach dem Start mit Bd. 1, 1973 folgten die nächsten Bände nur in größeren Abständen, so dass Bd. 10 erst 1998 erschienen ist. Dann setzte eine Beschleunigung ein, was dazu geführt hat, nachfolgend pro Jahr zwei oder meist drei Bände herauszubringen. Parallel dazu hat sich die archäologische Geländeforschung in ähnlicher Weise beschleunigt, d. h. die meisten großflächigen Ausgrabungen in Siedlungen der ersten Jahrhunderte in Germanien setzten nach dem Jahr 2000 ein und konnten dann erst im RGA etwa ab Bd. 15 (Hobel bis Iznik) aufgenommen werden. Der zweite Aspekt ist, dass Siedlungsgrabungen östlich der Elbe – um neutral zu formulieren – bis zur Wende 1990 nicht die Größenordnungen erreicht hatten, wie sie im Westen schon finanziert werden konnten, und daher sind die Berichte zu dortigen Siedlungen und auch Gräberfeldern wesentlich knapper, und großflächige Pläne fehlen. Der dritte Aspekt ist, dass der Stand der archäologischen Forschung in Germanien für die ersten fünf Jahrhunderte von mir schon ab 1982 mehrfach vorgelegt worden ist: H. Steuer, Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa (Göttingen 1982).
https://doi.org/10.1515/9783110702675-046
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Literatur
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