Gerechtigkeit und Politik: Philosophische Perspektiven 9783050047669, 9783050036540

Gibt es Bedingungen gerechten Handelns, die die Politik zu beachten hat? Namhafte Philosophen aus dem deutschen Sprachra

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German Pages 260 [252] Year 2002

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Gerechtigkeit und Politik: Philosophische Perspektiven
 9783050047669, 9783050036540

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Gerechtigkeit und Politik Herausgegeben Reinold Schmücker und Ulrich Steinvorth von

Deutsche Zeitschrift für Philosophie Zweimonatsschrift der internationalen

philosophischen Forschung

_

Sonderband D

Gerechtigkeit

und Politik

Philosophische Perspektiven Herausgegeben

Reinold Schmücker und Ulrich Steinvorth von

In HJMS

Akademie Verlag

Gedruckt mit

Unterstützung der Universität Hamburg

Die Deutsche Bibliothek

CI P-Einheitsaufnahme -

Ein Titelsatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich.

ISBN 3-05-003654-0 © Akademie Das

Verlag GmbH, Berlin 2002

eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706.

Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. -

-

Lektorat: Mischka Dammaschke

Einbandgestaltung: Günter Schorcht, Schildow Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal

Republic of Germany

Inhalt

Vorwort.

I Zur

philosophischen Grundlegung gerechter

Politik

.

7

11

Philosophie

Ulrich Steinvorth und Politik.

13

Michael Köhler lustitia fundamentum regnorum Gerechtigkeit als Grund der Politik.

25

Ludwig Siep Selbstverwirklichung, Anerkennung und politische Existenz Zur Aktualität der politischen Philosophie Hegels.

41

Andreas Wildt Gibt es Marxsche Kriterien der

57

II Die Idee

gerechter Politik

politischen Gerechtigkeit?.

als

Herausforderung

an

den Liberalismus

.

75

Herlinde Pauer-Studer

Liberalismus, bürgerliche Tugenden und perfektionistische Bestrebungen

.

Peter Koller Was ist und was soll soziale Gleichheit?.

Wolfgang Kersting

Grundriß einer liberalen

Sozialstaatsbegründung

.

77

95

117

6

Inhalt

III Biomedizinische

Gerechtigkeit

als

politisches

Problem

.

133

Anton Leist

Angewandte

Ethik und öffentlicher

Vernunftgebrauch

.

135

Reinhard Merkel Verbrauchende Embryonenforschung? Grundlagen einer Ethik der Präimplantationsdiagnostik und der Forschung an embryonalen Stammzellen.

151

Dieter Birnbacher Politik zwischen nationaler ethischer Kultur und internationaler Freizügigkeit: Das Beispiel des Menschenrechtsübereinkommens zur Biomedizin.

179

IV

Gerechtigkeit

und internationale Politik

Stefan Gosepath Die globale Ausdehnung

der

Gerechtigkeit

Rainer Forst Zu einer kritischen Theorie transnationaler

.

195

.

197

Gerechtigkeit

.

215

Reinold Schmücker

Wiedergutmachung und Sezession Gerechtigkeit zwischen

Zur historischen

Zu den Autoren

Personenregister

Nationen

.

233

.

253

.

257

Vorwort

Gerechtigkeit ist eines der ältesten Themen der Philosophie. Schon in der Antike haben Philosophen nicht nur beschrieben, was sie für die Idee oder den Begriff der Gerechtigkeit hielten; sie haben auch Theorien des gerechten Handelns entworfen und gehofft, daß die Politik ihnen folgt. Bis in die Neuzeit hinein hielt sich diese Erwartung der politischen Philosophie durch: Noch im 18. Jahrhundert stand die Idee der Gerechtigkeit im Mittelpunkt einer Philosophie der Politik, die sich als normative Disziplin verstand. Im 19. Jahrhundert wurde jedoch die Auffassung vorherrschend, die Theorie der Politik solle sich auf die Beschreibung und Analyse des politischen Handelns und seiner Bedingungen und Formen beschränken. Diese Auffassung entsprach der Emanzipation der politischen Wissenschaft von der Philosophie, die Max Weber besiegelte, und bestimmt den Politikbegriff der Sozialwissenschaften bis heute. John Rawls hat ihr indessen vor dreißig Jahren eine Theorie der Gerechtigkeit entgegengestellt, die die philosophische Diskussion über das Verhältnis von Gerechtigkeit und Politik neu belebte. Rawls wendet sich gegen die normativ abstinente Politiktheorie gleichsam mit deren eigener wichtigster Waffe, indem er ihr Bild vom Menschen als einem rationalen Egoisten zum Ausgangspunkt einer Theorie macht, die die Prinzipien einer gerechten Politik begründet und rekonstruiert. Seine Theorie, die der Politik wieder explizit normative Vorgaben macht, markiert den Beginn einer Renaissance der klassischen politischen Philosophie, die zugleich eine Emanzipation der praktischen Philosophie von den empirischen Sozialwis-

senschaften ist. Der vorliegende Band nimmt im Streit um die Bedeutung des Gerechtigkeitsideals einseitig Partei um die Auseinandersetzung zugleich auf ein anderes Terrain zu verlagern. Ihm ist es nicht nur um den Nachweis zu tun, daß die politische Philosophie die Gerechtigkeit als Maßstab der Politik nicht preisgeben darf (auch wenn sich dafür bessere Begründungen finden lassen als die von Rawls). Im Mittelpunkt der hier versammelten Beiträge steht vielmehr zugleich die nicht minder wichtige Frage, welchen Prinzipien die Politik folgen muß, um den Anspruch erheben zu können, sie sei gerecht. Während sich die meisten Philosophen heute einig sind, daß die Politik erstreben muß, gerecht zu sein, herrscht darüber Uneinigkeit und Streit, wie sie dies kann sowohl in bezug auf die Grundprinzipien einer gerechten Politik als auch im Hinblick auf aktuelle politische Fragen. Diesen Dissens, der zum Teil auf unterschiedliche Begründungen dafür verweist, -

-

Vorwort

s

wir überhaupt philosophischer tiert der vorliegende Band. warum

Perspektiven gerechter Politik bedürfen, dokumen-

philosophischen Grundlegung gerechter Politik sind die Beiträge des ersten Teils gewidmet. Ulrich Steinvorth eröffnet den Band mit einem Plädoyer für die Anerkennung des Marktes als des gerechtesten Instruments der Güterverteilung. Für eine gerechte Güterverteilung sorge der Markt jedoch nur unter der Bedingung der Freiwilligkeit des Tausches, die wiederum nur dann nicht zu unakzeptablen Ungleichheiten führe, wenn der Markt durch Verwaltungseingriffe reguliert wird. Um zu ermitteln, wann solche Eingriffe notwendig sind, bedarf es nach Steinvorth zweier Prinzipien: des Gemeineigentums natürlicher Ressourcen und des Prinzips erzwingbarer zumutbarer Hilfeleistung. Aus ihnen sind die drei wichtigsten sozialen Rechte das Recht auf Ausbildung, das Der

Recht auf Arbeit und das Recht auf Schutz im Krankheitsfall unmittelbar ableitbar. Daß es unter Bedingungen hochgradig arbeitsteiliger Gesellschaften erforderlich ist, dem einzelnen ein Teilhaberecht an der gemeinschaftlichen Existenzgrundlage zuzuerkennen, macht auch Michael Köhler in seinem Entwurf einer Gerechtigkeitstheorie geltend, die den freiheitlichen Rechtsbegriff Kants zur Grundlage hat. Eine empirische Auslegung dieses Teilhaberechts, wie sie Locke nahelegt, laufe jedoch auf eine Privilegierung derjenigen hinaus, die sich aktiv etwas anzueignen vermögen. Teilhabegerechtigkeit müsse sich daher in einem System von Gesetzen manifestieren, die den einzelnen vom Beginn seiner Existenz an in dem Maß an der gemeinsamen Existenzgrundlage partizipieren lassen, in dem er ihrer zur Selbstentfaltung und zur Entwicklung seiner individuellen Fähigkeiten bedarf. Für Ludwig Siep, der den Zusammenhang von Selbstverwirklichung und politischer Existenz aus einer hegelschen Perspektive rekonstruiert, kann sich erfüllende Selbstverwirklichung nicht in privaten Selbstfindungsprozessen erschöpfen. In Sieps Augen darf sich der Staat deshalb nicht auf die rechtsstaatliche Lösung von Interessenkonflikten beschränken; vielmehr muß er den Individuen auch die Teilhabe an einem öffentlichen Leben ermöglichen, in dem Rechtsordnung und Kultur weiterentwickelt werden. Fraglich erscheint es aus dieser Perspektive, ob es das Ziel gerechter Politik sein kann, den Staat soweit wie möglich von Gemeinschaftsaufgaben zu entlasten. Können aber die Belange der Gemeinschaft die ungerechte Behandlung einzelner legitimieren, wie es der marxistische Gedanke „gesellschaftlich notwendiger Ausbeutung" nahelegt? Eine angemessene Antwort setzt nach Auffassung von Andreas Wildt ein differenzierteres Verständnis moralischer und juridischer Geltung voraus, als es der Moralund Rechtsphilosophie der Gegenwart zugrunde liegt. Erst ein solches Verständnis lasse uns nämlich erkennen, daß es moralisches Unrecht gibt, dem, wie jenem Unrecht, das das kapitalistische Lohnverhältnis impliziert, kein moralischer Unterlassungsanspruch korreliert weshalb eine freiheitliche Rechtsordnung das Institut des kapitalistischen Lohnverhältnisses zulassen sollte. Während Siep und Wildt an die kommunitäre Dimension politischer Gerechtigkeit erinnern, begreifen die Beiträge des zweiten Teils die Idee gerechter Politik als Herausforderung an den Liberalismus. Ihm stellt der Perfektionismus eine tugendethische Konzeption gerechter Politik entgegen, die die politischen Institutionen auf die Beförderung -

-

-

9

Vorwort

des Guten zu verpflichten sucht. Sofern der Perfektionismus kein Zwangsmodell moralischer Erziehung verficht, steht er jedoch, wie Herlinde Pauer-Studer zeigt, zum politischen Liberalismus gar nicht im Widerspruch. Denn dieser erkennt durchaus an, daß eine freiheitliche Gesellschaft auf Mitglieder angewiesen ist, die die grundlegenden Prinzipien der Gerechtigkeit respektieren. Im Streit, ob eine gerechte Politik der Freiheit oder der Gleichheit den Vorrang einräumen müsse, vertreten Peter Koller und Wolfgang Kersting gegensätzliche Positionen. Für Koller ist Gleichheit ein kollektives soziales Gut, das sowohl intrinsischen als auch instrumenteilen Wert besitzt. Denn die Notwendigkeit sozialer Gleichheit folge nicht nur aus der Unvermeidlichkeit einer kommunitären Gesellschaftsauffassung und einer universalistischen Theorie der Legitimation einer politischen Ordnung, sondern werde darüber hinaus dadurch unterstrichen, daß sich andere erstrebenswerte Ziele z. B. ein fairer ökonomischer Wettbewerb oder eine möglichst gleiche Verteilung sozialer Anerkennung nur unter der Voraussetzung sozialer Gleichheit verwirklichen lassen. Soziale Ungleichheit bedürfe deshalb grundsätzlich der Rechtfertigung, für die Koller ein „spezielles Ungleichheitsprinzip" formuliert, das dem Rawlsschen Differenzprinzip entspricht. Für Kersting hingegen taugt das auf die Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit innerhalb einer Kooperationsgemeinschaft zugeschnittene Differenzprinzip nicht als Sozialstaatsprinzip, weil der Sozialstaat gerade diejenigen versorgen müsse, die keiner Gemeinschaft angehören, deren Mitglieder zum wechselseitigen Vorteil kooperieren. Kersting skizziert deshalb eine freiheitsrechtliche Begründung des Sozialstaats, die diesen nicht auf ein Gleichheitspostulat gründet, sondern wie Köhlers Theorie der Teilhabegerechtigkeit in hinreichendem Ressourcenbesitz eine elementare Bedingung der Möglichkeit von Freiheit erblickt. Sozialstaatliche Leistungen sind nach diesem Modell durch Benutzungsgebühren zu finanzieren, die die Individuen für den Gebrauch vorfmdlicher kollektiver Ressourcen entrichten müssen. Zum aktuellen politischen Problem der biomedizinischen Gerechtigkeit nehmen die Beiträge des dritten Teils Stellung. Für Anton Leist verlangen solche „neuen moralischen Themen", die mehr oder weniger direkt Gegenstände politischer Konflikte bezeichnen, von der Ethik die Mitwirkung an einem diskursiven Verfahren „öffentlicher Vernunft", das auf die öffentlich bedeutsame Beilegung von Meinungskonflikten abzielt, die werthafte Fragen betreffen. Die Ethik sollte sich dabei um Argumente bemühen, die in dem genauen Sinn „öffentlich-vernünftig" sind, daß sie sich auf moralische Gehalte zurückbeziehen lassen, in denen sich die Ermöglichungsbedingungen diskursiv-demokratischer Konfliktlösung manifestieren. Wie eine Ethik der Präimplantationsdiagnostik und der Stammzellforschung aussehen könnte, die darauf verzichtet, sich auf absolute ethische Werte und Prinzipien zu berufen, und sich primär an den Bedürfnissen und Interessen der von einer Handlung betroffenen Wesen orientiert, verdeutlicht der Beitrag von Reinhard Merkel. Er kommt zu dem Schluß, daß es für ein Verbot der Präimplantationsdiagnostik kein moralisches Fundament gibt und der deutsche Gesetzgeber durch das Verbot der Stammzellgewinnung zu Forschungszwecken sogar ein elementares Gebot der sozialen Gerechtigkeit, nämlich das Gebot, gesellschaftliche Chancengleichheit zu gewährleisten, verletzt. -

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Vorwort

10

Auch Dieter Birnbacher sieht für die restriktiven Bestimmungen des deutschen Embryonenschutzgesetzes, die teilweise im Widerspruch zu dem (von Deutschland nicht paraphierten) Menschenrechtsübereinkommen des Europarats zur Biomedizin stehen, keine moralische Grundlage. Seines Erachtens verkennt die strafrechtliche Sanktionierung der Embryonenforschung den normativen Status des Embryonenschutzes. Dieser sei nämlich nicht moralisch geboten, sondern als Ausdruck eines kulturellen Wollens zu verstehen, das nur für die eigene ethische Kultur Verbindlichkeit beanspruchen könne. Die Ablehnung der Embryonenforschung und die Bereitschaft, deren in einer anderen Kultur erzielte Resultate zu nutzen, sind für Birnbacher deshalb durchaus miteinander vereinbar. Nach den Prinzipien einer gerechten internationalen Politik fragen die Beiträge des vierten Teils. Daß es keinen Grund gibt, die Reichweite einer egalitären Konzeption universaler Verteilungsgerechtigkeit auf einzelne Staaten oder Gemeinschaften zu beschränken, macht Stefan Gosepath geltend. Er verteidigt jedoch ein Stufenmodell globaler Gerechtigkeit, das der Bedeutung Rechnung trägt, die lokale Institutionen als primäre Bezugspunkte der Gerechtigkeit besitzen. Globale Gerechtigkeit beschränkt sich danach auf solche Probleme, die sich auf lokaler Ebene nicht lösen lassen, und manifestiert sich in der Struktur der Kooperation von Staaten. Eine empirisch fundierte kritische Theorie transnationaler Gerechtigkeit darf sich indessen nicht über die Ungerechtigkeit der bestehenden globalen Strukturen hinwegtäuschen, die Rainer Forst als ein „komplexes System erzwungener Kooperation und einseitiger Abhängigkeiten" beschreibt. Forst postuliert deshalb ein Prinzip „minimaler transnationaler Gerechtigkeit", das den Mitgliedern der durch interne und externe Beherrschung geprägten Gesellschaften die zur Errichtung einer minimal gerechten demokratischen Ordnung erforderlichen Ressourcen und das moralische Recht auf die gleichberechtigte Teilnahme ihres Staates am globalen ökonomischen und politischen System

zubilligt.

Grundlinien einer Theorie der historischen Gerechtigkeit zwischen Nationen skizziert Reinold Schmücker im letzten Beitrag des Bandes am Beispiel des moralischen Rechts auf wiedergutmachende Sezession. Weil Nationen Kollektive sind, deren personelle Zusammensetzung im Laufe der Zeit variiert, kann es für sie in seinen Augen kein unbegrenztes Recht auf Wiedergutmachung geben. Schmücker zufolge ist es daher moralisch geboten, Verjährungsfristen für Wiedergutmachungsansprüche völkerrechtlich zu positi-

vieren. Die meisten Beiträge des Bandes gehen auf eine Ringvorlesung der Universität Hamburg im Wintersemester 2000/01 zurück. Die ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, die Arbeitsstelle für wissenschaftliche Weiterbildung der Universität Hamburg und die Hansische Universitätsstiftung haben die Durchführung dieser Vortragsreihe durch ihre großzügige finanzielle Unterstützung möglich gemacht. Die Universität Hamburg hat uns darüber hinaus für die Publikation einen Druckkostenzuschuß gewährt. Alexandra Werdes hat uns bei den Korrekturen unterstützt und das Personenregister erstellt. Ihnen allen gilt an dieser Stelle unser besonderer Dank.

Hamburg,

18. November 2001

Die

Herausgeber

philosophischen Grundlegung gerechter Politik

I Zur

Ulrich Steinvorth

Philosophie und Politik

Die politische Philosophie hat in den letzten drei Jahrzehnten eine Wiedergeburt erlebt, die die Beachtung auch der Nichtphilosophen verdient. Ich möchte im folgenden erstens die Unbescheidenheit der Ansprüche der politischen Philosophie hervorheben, zweitens die zentralen Probleme der heutigen politischen Philosophie beschreiben und drittens einen Ausweg aus ihnen vorschlagen.

Die

Anmaßungen der politischen Philosophen

Die politischen Philosophen von Hobbes bis Hegel, aber auch viele Philosophen der Antike und seit drei Jahrzehnten zeitgenössische Philosophen glaubten und glauben den Politikern Bedingungen des gerechten Handelns vorschreiben zu können. Wie können sich intelligente Menschen im Ernst einbilden, der Politik Vorschriften machen zu können der Politik, von der seit Max Weber fast jeder Soziologe lehrt, daß es in ihr um Macht geht? Der Glaube an die Beiehrbarkeit der Politik gehört zu den Geburtsfehlern oder, wie man's nimmt, den angeborenen Tugenden der westlichen Philosophie. Sokrates, ihr wichtigster Ahnherr, büßte die Hartnäckigkeit, seine Mitbürger nach dem Prinzip der Gerechtigkeit zu fragen, mit dem Tod und machte es seinen Nachfolgern schwer, nicht auch nach dem zu fragen, was die Politik leiten sollte. Und Sokrates folgte mit seiner Frage nach dem Gerechten den Sophisten und den Pythagoreern. Die Politik stand der Philosophie von Anfang an als ihr Gegenstand nahe. Noch wichtiger ist, daß sie auch ihre Voraussetzung oder ihr Geburtshelfer ist. Denn Politik war bei den Griechen keine Angelegenheit einer Kriegerkaste oder eines Königshauses, sondern Sache aller Freien. Sie bildeten die Polis, von der die Politik ihren Namen hat. Politische Angelegenheiten wurden öffentlich diskutiert; wer etwas vorschlug und erst recht, wer einen Auftrag übernommen hatte, mußte für seinen Vorschlag und die Ausführung seines Auftrags Rede und Antwort stehen. Er mußte, wie die Griechen sagten, logon didonai: Gründe für seine Entscheidungen angeben, sich rechtfertigen, Argumente ausfechten und die Richtigkeit und Vernünftigkeit seines Handelns nachweisen.1 Er mußte, wie man die-

1

Vgl.

dazu Jean-Pierre Vernant, Les

origines

de la

pensée

grecque, Paris 1962.

14

Ulrich Steinvorth

Vokabular entnehmen kann, genau das tun, was Philosophen tun müssen: Argumenoder Gründe und Gegengründe anführen und zwischen richtig und falsch und vernünftig und unvernünftig unterscheiden, und das alles jedem Bürger verständlich und öffentlich. Die Polisbürger entdeckten etwas, was für die Menschheit wichtiger war als die Entdeckung Amerikas und der Drehung der Erde um die Sonne: daß Menschen nicht nur vom Zwang der Gewalt und der Reize geleitet werden, sondern sicherer von dem, was Habermas den eigentümlich zwangfreien Zwang des besseren Arguments nennt. Diese Entdeckung macht Philosophie, Wissenschaft und gerechte Institutionen möglich. Die Philosophen und die übrigen Wissenschaftler wandten diese Entdeckung auf jedes Gebiet an, in dem wir Reizbefolgung durch begründete Urteile ersetzen können. Sie begannen die Revolution, die Aufklärung heißt. Sie wandten das Prinzip des Rechenschaftgebens auch auf das Gebiet an, in dem es sich zuerst gezeigt hatte: auf die Politik. Daher sind die Anmaßungen der politischen Philosophen nicht ganz so abenteuerlich, wie sie auf den ersten Blick scheinen können. Wenn ich feststelle, daß die Philosophen die Technik des Rechenschaftforderns von den Gegenständen der Politik auf ihre Prinzipien übertrugen, erkläre ich nur, wie sie sich einbilden konnten, den Politikern Gerechtigkeitsbedingungen diktieren zu können. Können sie ihre Einbildung aber auch glaubwürdig rechtfertigen! Dagegen scheint zu sprechen, daß die politischen Philosophen genauso querulant sind wie die übrigen Philosophen. Ihre Haupttätigkeit besteht in der Kritik ihrer Kollegen. Sie lassen aneinander kein gutes Haar. Jeder hat seine eigene Meinung, manche haben sogar mehrere. Aber wenn schon kein Philosoph dem andern glaubt, wie sollte da ein Politiker, oder gar alle Politiker, einem Philosophen glauben? Der Anspruch der politischen Philosophie, die Politik zu belehren, scheint daher heller Wahnsinn. Aber er ist nur Wahnsinn unter der falschen Voraussetzung, daß die Philosophen eine Expertenklasse sind, die unter sich ausmachen kann, was richtig und falsch ist. Manche Philosophen haben diese falsche Voraussetzung genährt, vor allem Piaton. Die Voraussetzung ist zwar in der Mathematik, den Naturwissenschaften und den Techniken berechtigt. Dort findet tatsächlich die Entdeckung der Wahrheit unter den Experten statt. Unter ihnen setzt sich, wenn auch nie unrevidierbar, die Meinung durch, der sich die Nichtexperten in demütiger Anerkennung ihrer Inkompetenz anschließen müssen. Die politische Philosophie unterscheidet sich von solchen Disziplinen. Der Wissenschaftler kann besser als der Laie zwischen wahr und falsch unterscheiden, weil er entweder über die empirischen Fakten besser Bescheid weiß oder die formale, meist mathematische Sprache besser beherrscht, in der die Fakten beschrieben werden. Die Probleme der politischen Philosophie dagegen sind Probleme der allgemein menschlichen Praxis. In ihren Fragen ist grundsätzlich niemand inkompetent. Der Philosoph kann nie besser als der Laie zwischen moralisch oder praktisch richtig und falsch unterscheiden. Dennoch hat er dem Laien etwas voraus. Er kann die Auffassungen, die man zu praktischen Problemen haben kann, besser formulieren und die Punkte hervorheben, an denen sie voneinander abweichen. Er kann Konsequenzen und Voraussetzungen der Auffassungen formulieren und Widersprüche zu solchen Meinungen nachweisen, an denen man gern festhält. Er kann Auffassungen von den schönsten und von den sem

te

Philosophie

15

und Politik

häßlichsten Seiten zeigen. Dadurch kann er argumentativ zu einer Klärung der Auffassungen beitragen und darauf hoffen, daß nach einigen Jahrhunderten der notwendig öffentlichen Diskussion eine Übereinstimmung darüber entsteht, was gerecht, und vor allem, was ungerecht ist. Aber auch wenn er Kalküle und Formalismen gebraucht, in denen sich der Laie sowenig auskennt wie in der Mathematik des Physikers, bleiben seine normativen Voraussetzungen für den Laien überprüfbar. In ihnen hat niemand eine privilegierte Kompetenz. Die Meinungsverschiedenheiten der politischen Philosophen wären allerdings deprimierend, wenn man nicht hoffen könnte, daß sie schließlich doch zur allgemeinen Anerkennung grundlegender Gerechtigkeitsregeln führen werden. Ist diese Hoffnung nicht utopisch? John Locke schrieb, noch bevor er 1683 aus England ins holländische Exil floh,2 in seiner Abhandlung über die Regierung, nichts sei „evidenter, als daß Geschöpfe derselben Art, die promiskuös zum Gebrauch derselben Natur und derselben Anlagen geboren werden, auch untereinander gleich sein sollten ohne Unterordnung oder Unterwerfung".3 Genaugenommen war das eine eklatante Falschheit. Denn damals war nur wenigen Zeitgenossen evident, daß alle Menschen mit denselben Rechten zum Gebrauch ihrer eigenen Anlagen und der natürlichen Ressourcen geboren werden. Den meisten schien vielmehr ein Königssohn mit mehr Rechten geboren zu werden. Aber nach drei Jahrhunderten erbitterter Diskussion und noch bitterer Versuche, die Idee der Gleichheit praktisch zu widerlegen, hat sie sich so weit durchgesetzt, daß ihr kein Politiker außerhalb der unverbesserlichen radikalen Rechten öffentlich zu widersprechen wagt. Wenn Gerechtigkeitsfragen nur ebenso intensiv diskutiert werden wie zur Zeit Lockes, im 18. Jahrhundert und in den letzten Jahrzehnten, dann werden nach weiteren drei Jahrhunderten auch solche Teile der Gerechtigkeit, die heute heftig umstritten sind, zu allgemeiner Anerkennung gekommen sein.

Die Probleme der

heutigen politischen Philosophie

Der Sieg von Lockes Ideen war in gewisser Hinsicht ein Pyrrhussieg. Das Ideal seiner Politik war nicht nur die Gleichheit, sondern auch die Freiheit. Genauer gesagt forderte er die gleiche Freiheit, die Freiheit für jeden, über sich selbst, seine Anlagen und sein Eigentum, unbehelligt von Anmaßungen anderer zu verfügen. Die einzige, wenn auch tiefgehende Begrenzung dieser Freiheit der Selbstverfügung oder Selbstbestimmung besteht darin, daß jedem andern dieselbe Freiheit einzuräumen ist. Man darf, grob gesagt, mit seinen Fähigkeiten anfangen, was man will, wenn man nur jedem andern dieselbe Freiheit im Gebrauch seiner Fähigkeiten einräumt. Kant hat dies Grundprinzip des Liberalismus in seine oft zitierte Definition des Rechts eingebracht. Das Recht, so Kant, ist „der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die 2

Vgl. dazu Peter Laslett in seiner Introduction of Government, Cambridge 1960, 55 f.

3

John

zu

seiner

Ausgabe

von

Lockes Two Treatises

Locke, The Second Treatise of Government (§4), ebenda, 283-446, hier 287.

16

Ulrich Steinvorth

Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann".4 Kant impliziert damit wie Locke, daß der Staat keine andere Aufgabe hat, als ein Recht durchzusetzen, das jedem die größtmögliche Freiheit der Selbstverfügung sichert. Zu dessen Durchsetzung muß der Staat notfalls auch Zwang gebrauchen. Aber er tut es nur, um den Gebrauch von Zwang zu vermindern. Denn die Verletzung des Rechts ist immer die Behinderung der Selbstverfügung eines Menschen und damit Zwang, und die Verhinderung von Rechtsverletzungen ist die Verhinderung von Zwang. Das Recht ist daher, wie Kant sagt, „mit der Befugniß zu zwingen verbunden".5 Aber sein einziger Sinn und Existenzgrund ist die Verhinderung von Zwang, und dasselbe gilt vom Staat. Ich nenne den Sieg der liberalen Ideen Lockes und Kants einen Pyrrhussieg, weil ihre Anerkennung ihre Durchsetzung in der politischen Wirklichkeit eher behinderte. Das Problem ist oft beschrieben worden. Die liberale Idee der gleichen Freiheit gibt jedem, auch dem ökonomisch Talentierten, das Recht, nach eigener Willkür seine Talente zu gebrauchen. Er wird bald ökonomische Vorteile errungen haben, die ihn befähigen und bei Respektierung der Verbote von Gewalt und Betrug berechtigen, den weniger Talentierten von sich abhängig zu machen. Die gleiche Freiheit macht die Menschen über kurz oder lang ökonomisch ungleich; die Akkumulation von Reichtum zieht die Akkumulation von Macht nach sich, und so schlägt die Freiheit eines jeden in die Freiheit für wenige und die Knechtschaft vieler um. Das Ideal der Freiheit scheint den Zwang für die vielen zu vermehren. Die liberalen Ideen Lockes und Kants scheinen daher revisionsbedürftig. Die politische Philosophie, die vor dreißig Jahren mit John Rawls' Theorie der Gerechtigkeit neu geboren wurde, versucht genau diese Revision. Natürlich wurde der Liberalismus nicht erst vor dreißig Jahren als revisionsbedürftig erkannt. Daß es trotzdem keine Revisionsversuche im Rahmen der politischen Philosophie gab, lag daran, daß die Diskussion über den Liberalismus bis in die siebziger Jahre vom Marxismus bestimmt war. Der Marxismus aber griff den Liberalismus nicht mit Argumenten an, in denen es um die Richtigkeit der Theorie geht, sondern mit einer Kritik, die ihm Abhängigkeit vom Klasseninteresse der Bourgeoisie vorhielt. Die Verteidiger wiederum versuchten den Liberalismus von diesem Vorwurf reinzuwaschen. Beide übersahen, daß eine Theorie auch dann richtig sein kann, wenn ihr die Anhänger interessenmotiviert und nicht von Gründen bestimmt zustimmen; sie ist richtig, wenn es gute Gründe für sie gibt, ob ihre Anhänger oder Kritiker sie erkennen oder nicht. Erst als der Marxismus seine letzte Attraktion verlor, begann mit Rawls die argumentative Revision des Lockeschen Liberalismus. Das hat zum Glück manche Politiker vor allem in Westeuropa nicht daran gehindert, den liberalen Rechtsstaat schon lange vorher durch Institutionen eines Sozialstaats zu ergänzen. Die von Rawls ausgehenden Versuche einer Liberalismusrevision sind daher zugleich Versuche, den westeuropäischen Sozialstaat und die von ihm voraus4

5

Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten (Einleitung in die Rechtslehre, § B), in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 6, Berlin-Leipzig 21914, 203-493, hier 230. Ebenda (§ D), 231.

Philosophie

17

und Politik

zu begründen. Sie unterstellen, daß ihre Gründe nicht hinreichend geklärt sind. Die Unsicherheit der Verteidiger sozialer Rechte gegen den Angriff auf sie durch die Verfechter des mageren Staats bestätigt diese Unterstellung. Rawls' Revision ist einfach. Er fügte dem liberalen Freiheitsprinzip, das in Kants Definition des Rechts eingegangen ist, einen zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz hinzu, dessen wichtige Neuerung das sogenannte Differenzprinzip ist.6 Dies fordert für jeden Gleichheit in den Grundgütern, zu denen vor allem das Einkommen gehört,7 und erlaubt Abweichungen von der Einkommensgleichheit nur dann, wenn sie jedem nützen. Das Differenzprinzip ist die philosophische Formulierung des Stachanowprinzips der früheren sozialistischen Staaten. Diese sahen auch grundsätzlich Einkommensgleichheit vor, erlaubten aber Abweichungen für Musterarbeiter wie Stachanow und für Parteibosse -, wenn dadurch ein materialer Anreiz zur Produktionssteigerung geschaffen wird und durch die Produktionssteigerung auch die Schlechterbezahlten mehr erhalten, als sie bei Einkommensgleichheit hätten. Das Differenzprinzip rechtfertigt Umverteilung durch progressive Steuern und ähnliche Maßnahmen zugunsten der Schlechtergestellten. Dies Ziel entspricht zwar der moralischen Forderung der Wohltätigkeit. Aber es spricht dem Staat auch die Aufgabe zu, Wohltätigkeit mit seinen Mitteln des Rechtszwangs durchzusetzen. Die Anerkennung des Differenzprinzips impliziert eine Staatsaufgabe, die mit dem klassischen Liberalismus unvereinbar ist. Sie erlaubt Zwang nicht nur zur Verminderung von Zwang zu gebrauchen, sondern auch zum Zweck, die Bessergestellten zur Wohltätigkeit für die Schlechter-

gesetzten sozialen Rechte

-

gestellten

zu

zwingen.

Natürlich stößt diese Revision des Liberalismus auf heftige Kritik bei allen, denen an der Erhaltung der Freiheit der ökonomisch Begünstigten gelegen ist. Deswegen muß ihre Kritik nicht schlecht sein. Wenn sich aus Rawls' Revision Konsequenzen ableiten lassen, die mit seinem ersten Gerechtigkeitsgrundsatz, dem traditionellen Freiheitsprinzip, unvereinbar sind, dann ist sie unakzeptabel. Wenn wir dennoch einen Sozialstaat wollen, müssen wir eine bessere Begründung suchen. Tatsächlich hat Rawls' Revision schwerverdauliche Konsequenzen. Sie lassen sich nicht erst aus seinem Differenzprinzip ableiten, sondern schon aus der Konzeption der Fairneßgerechtigkeit, die Rawls zu Recht für seine wichtigste Leistung hält. Die Fairneßgerechtigkeit ist ein Verfahren zur Auffindung von Gerechtigkeitsprinzipien auf beliebigen strittigen Gebieten. Es besteht in einer Abwandlung der Vertragsidee. Der 6

7

John Rawls, A Theory of Justice, Oxford 1972, 69 formuliert seine Gerechtigkeitsprinzipien so: „First: each person is to have an equal right to the most extensive basic liberty compatible with a similar liberty for others. Second: social and economic inequalities are to be arranged so that they are both (a) reasonably expected to be to everyone's advantage, and (b) attached to positions and offices open to all." (a) ist das Differenzprinzip, (b) das Prinzip der Chan-

cengleichheit. Ebenda, 62: „[...] primary goods, that is, things that every rational man is presumed to want. [...] For simplicity, assume that the chief primary goods at the disposition of society are rights and liberties, powers and opportunities, income and wealth. (Later on [...] the primary good of self-respect has a central place.)"

18

Ulrich Steinvorth

Philosoph denkt sich Parteien, die ihren Streit über Gerechtigkeitsregeln vertraglich unter zwei Bedingungen ausgleichen: Sie haben erstens bei ihrer Verhandlung nur die Maximierung des Eigennutzens im Auge, kennen aber zweitens nicht sich selbst; sie wissen nicht, welche Eigenschaften und Fähigkeiten sie haben; sie verhandeln unter dem „Schleier der Unwissenheit", wie Rawls sagt.8 Auch die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze, die er in seiner Theorie der Gerechtigkeit verficht, werden nach der Fairneßgerechtigkeit gewählt. Die erste Bedingung der Fairneßgerechtigkeit, die Maximierung des Eigennutzens, entspricht dem Utilitarismus. Die zweite, der Schleier der Unwissenheit, soll utilitaristische Konsequenzen verhindern. Das ist jedoch unglaubwürdig, weil Rawls den Schleier der Unwissenheit von Harsanyi übernahm, der damit eine elegantere Version des Utilitarismus vertreten wollte.9 In der Tat legt der Schleier der Unwissenheit die Fairneßgerechtigkeit auf schwerverdauliche utilitaristische Konsequenzen fest. Betrachten wir folgende Regel ärztlicher Gerechtigkeit: „Nach Unfällen muß ein schwerverletztes Unfallopfer geschlachtet werden, wenn mit seinen Organen mehr als drei Personen das Leben gerettet werden kann." Denken wir uns folgende Konstellation: Nach einem Unfall erhält ein Chirurg fünf Opfer; das erste hat eine Hirnschädigung, alle seine übrigen Organe sind tadellos, dem zweiten und dritten sind die Nieren zerquetscht, das vierte braucht ein neues Herz, das fünfte eine neue Leber. Darf oder muß der Chirurg dem ersten die gesunden Organe ausschlachten, um sie den übrigen Opfern einzupflanzen? Nach der Fairneßgerechtigkeit müssen sich die Vertreter möglicher Unfallopfer, und das sind wir alle, eigennutzenmaximierend und unter dem Schleier der Unwissenheit zusammensetzen und entscheiden. Da sie nicht wissen, ob sie das Opfer oder einer der Nutznießer der Ausschlachtung sind, aber den Eigennutzen maximieren müssen, werden sie nach der Wahrscheinlichkeit, daß sie im Verhältnis 4:1 eher zu den Nutznießern als den Opfern gehören, dem Ausschlachtungsprinzip zustimmen müssen. Wenn wir dies Prinzip für unakzeptabel halten, was ich unterstelle, müssen wir Rawls' Fairneßgerechtigkeit verwerfen. Rawls würde die Kritik mit dem Argument zurückweisen, sein erster, liberaler, Gerechtigkeitsgrundsatz lasse die Wahl des Ausschlachtungsprinzips nicht zu. Das ist wahr. Aber das heißt nur, daß die Parteien nach der Fairneßgerechtigkeit gar nicht erst seinen ersten Gerechtigkeitsgrundsatz wählen würden. Denn das würde ihnen ja verbieten, konsequent eigennutzenmaximierend und unter dem Schleier der Unwissenheit zu entscheiden. Soviel zur Kritik an Rawls. Die nächste Frage ist: Gibt es eine Alternative zur Rawlsschen Liberalismusrevision, oder müssen wir am Liberalismus unrevidiert festhalten und konsequenterweise auch den Sozialstaat verwerfen? Daß wir den Sozialstaat verwerfen müssen, ist die Konsequenz, die die zweite große Fraktion der zeitgenössischen politischen Philosophie aus der Kritik an Rawls zieht. Es ist die Fraktion der Libertaristen, deren Wortführer Robert Nozick war.10 Ihre wichtigste positive Stütze ist ein Argument, 8 9

Ebenda, 12.

Rawls verweist auf Harsanyi ebenda, 137 (Anm.) mit der Bemerkung: „The veil of ignorance is so natural a condition that something like it must have occurred to many." 10 Gemeint ist der Nozick, der Anarchy, State, and Utopia (New York 1974) schrieb. Mittlerweile hat sich Nozick von den früheren Auffassungen losgesagt.

Philosophie

und Politik

19

das den Markt als die gerechteste Lösung für Verteilungsprobleme behauptet. Auf dies Argument haben die Rawlsianer bisher keine überzeugende Antwort gefunden; im Gegenteil haben wichtige Autoren, die Rawls gegen Nozick verteidigen, wie Dworkin und Van Parijs, es selbst übernommen. Es geht so:" Arbeitsteilige Gesellschaften stellen ihre Mitglieder vor das Problem, wie ihnen das, was sie zum Reichtum ihrer Gesellschaft beitragen oder auch nicht beitragen, in Form eines Anteils an diesem Reichtum anzurechnen ist. Dies Problem kann ohne Rückgriff auf Ideen der Gerechtigkeit oder Nützlichkeit in sehr verschiedenen Weisen gelöst werden, etwa nach der einfachen Regel, daß jeder unabhängig von seinen Beiträgen gleich viel Einkommen erhält oder die Einkommenshöhe nach Alter, Körpergewicht oder Pigmentierungsgrad bestimmt wird. Will man das Problem gerecht lösen, dann kommen solche schematischen Lösungen nicht in Frage. Es kommen vielmehr nur zwei Lösungstypen in Frage. Erstens der Verwaltungsweg. Die Gesellschaft setzt demokratisch oder diktatorisch einen Rat der Weisen ein, der jede Tätigkeit und Untätigkeit klassifiziert und ihr abhängig oder unabhängig von der Dauer ihrer Ausübung eine Einkommensklasse zuordnet. Eine Variante dieses Lösungstyps ist die Bindung des Rats der Weisen an Gerechtigkeitsgrundsätze, die einer politischen Philosophie entnommen werden, etwa der von Rawls, Habermas oder Piaton. Der zweite Lösungstyp besteht darin, den Wert eines Beitrags zum gesellschaftlichen Reichtum von den Individuen, die an ihm interessiert sind, selbst messen zu lassen. Das heißt, daß der Wert der Leistung vom höchsten Angebot gemessen wird, das ein Interessent macht, um die Leistung für sich zu erhalten. Als höchstes Angebot gilt das, das der, dem es angeboten wird, am liebsten annimmt. Eine solche Wertmessung setzt einen wirklichen oder virtuellen Ort voraus, an dem möglichst viele Anbieter vergleichbarer Leistungen möglichst vielen Interessenten an solchen Leistungen gegenübertreten und entscheiden, wieviel sie zu opfern bereit sind, um das Erwünschte zu erhalten, und für wieviel sie das Angebotene weggeben. Ein solcher Ort ist der Markt, und daher ist der zweite Lösungstyp der Marktweg. Wenn wir nun fragen: ,Ist der Verwaltungs- oder der Marktweg die gerechtere Lösung unseres Problems?', so ist die Antwort klar: der Marktweg. Sowohl die Gerechtigkeitsintuitionen der meisten als auch die Erfahrung sprechen gegen den Verwaltungsweg. Also müssen wir, so scheint es, den Markt für Verteilungsgerechtigkeit sorgen lassen. Durch sozialstaatliche Maßnahmen aber greifen wir so sehr in den Markt ein, daß er nicht mehr die unbestechliche Waage sein kann, die die Leistungen und Güter der Individuen gegeneinander abwägt. Anderseits bieten nach den Gerechtigkeitsintuitionen der meisten Menschen die realen Marktgesellschaften viele Ungerechtigkeiten. Sie lassen sich offenbar nur durch den Verwaltungsweg beheben. Wie kann man ihn aber dem Marktweg vorziehen? Das ist das erste Dilemma der heutigen politischen Philosophie. 11

Argument verwenden nicht nur Libertaristen wie Nozick, sondern auch Van Parijs und Dworkin, die man wie Rawls dem sozialdemokratischen politischen Lager zurechnen muß. Das Argument gebraucht auch schon Henry Sidgwick (Methods of Ethics, London 71907, Nachdruck: Indianapolis, Ind. 1981, 288 f.). Das

Ulrich Steinvorth

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Zur Dramatik der heutigen politischen Philosophie gehört, daß auch die Libertaristen, die jeden Rückgriff auf den Verwaltungsweg verwerfen, vor einem Dilemma stehen. Denn dasselbe Argument, das für die Überlegenheit des Marktwegs spricht, spricht auch dafür, daß der Markt seine Funktion, den Wert eines Beitrags zum gesellschaftlichen Reichtum gerecht zu messen, nur unter einer Bedingung erfüllt, die auf den wirklichen Märkten nicht immer gegeben ist. Die Bedingung ist die Freiwilligkeit der Tauschakte. Anbieter und Nachfrager dürfen zu ihren Tauschentscheidungen nicht durch Not gezwungen sein. Andernfalls entscheiden nicht die Interessenten selbst über den Wert eines Beitrags. Auf den wirklichen Märkten aber sind viele, die ihre Dienste oder Waren anbieten, gezwungen, das erstbeste Angebot anzunehmen, weil sie sonst nicht überleben könnten. Dies Problem erkannte schon Adam Smith, als er das Tauschverhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern beschrieb: „The masters, being fewer in number, can combine much more easily; and the law, besides, authorises, or at least does not prohibit their combinations, while it prohibits those of the workmen [...]. In the long run the workman may be as necessary to his master as his master is to him; but the necessity is not so

immediate."12

Heute können die Arbeiter zwar in vielen Ländern dank Gewerkschaftsbildung auf dem Arbeitsmarkt eine annähernd gleiche Stellung einnehmen wie die Arbeitgeber. Aber in andern Ländern und auf andern Märkten fehlt die gleiche Tauschmacht der Tauschpartner. Diese Tatsache macht das zweite Dilemma deutlich, von dem die Libertaristen betroffen sind. Einerseits impliziert das Argument für den Marktweg, daß die Marktpartner freiwillig tauschen, und dazu gehört, daß ihre Stellung auf dem Markt gleich stark ist. Anderseits können die Libertaristen nicht auf der Freiwilligkeit bestehen, weil sie den Markt auch dann für gerecht halten, wenn die ökonomisch Erfolgreichen den weniger Erfolgreichen Preise oder Löhne diktieren. Dafür haben sie gute Gründe. Es gehört zur Marktfreiheit, die die Freiwilligkeit des Tauschens impliziert, daß die Talentierten das Recht haben, ihr Talent zur Anhäufung von Reichtum zu gebrauchen und diesen als Machtmittel beim Tauschen einzusetzen. Wir finden daher in der zeitgenössischen politischen Philosophie folgende Problemlage. Ist man von der Revisionsbedürftigkeit des Liberalismus überzeugt und folgt der Rawlsschen Fraktion, so muß man nicht nur unliebsame utilitaristische Konsequenzen in Kauf nehmen, sondern Markteingriffe gutheißen, die das gerechteste Mittel zur Lösung von Verteilungsproblemen verletzen. Folgt man aber den Libertaristen, so kann man nicht auf der Freiwilligkeit der Tauschentscheidungen bestehen, ohne die doch der Markt seine gerechte Verteilungsfunktion nicht erfüllen kann. Das Problem besteht darin, daß 12

Adam Smith, The Wealth of Nations, hrsg. v. Andrew S. Skinner, Harmondsworth 1970, 169. Smith rechnete nicht mit einer Aufhebung des Koalitionsverbots für Arbeiter. Denn „Civil government, so far as it is instituted for the security of property, is in reality instituted for the defence of the rich against the poor, or of those who have some property against those who have none at all" (zitiert nach Skinners Introduction, ebenda, 33). Wie Smith betont auch noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts Henry Sidgwick (Methods of Ethics, 286), daß der Markt Preise nur dann gerecht mißt, wenn es kein Monopolungleichgewicht gibt, und sieht diese Bedingung auf dem Arbeitsmarkt nicht erfüllt.

Philosophie

und Politik

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die folgenden drei Sätze wahr scheinen, aber nicht zugleich wahr sein können. Es hat die Form eines Trilemmas: M Der Markt ist ein gerechteres Verteilungsmittel als der Verwaltungsweg. N Der Markt ist nur gerecht, wenn freiwillig getauscht wird. O Freiwilligkeit des Tauschens führt zu unakzeptablen Ungleichheiten.

Ein

Ausweg?

Aus dem Trilemma liegt ein Ausweg nahe: zu argumentieren, daß N uneingeschränkt wahr ist und M und O nur bedingt wahr sind. M ist nur bedingt wahr, weil der Markt ohne Verwaltungseingriffe ungerecht ist. Deren Einführung verhindert die Entstehung unakzeptabler Ungleichheiten auf dem Markt. Wenn man solche Ungleichheiten verhindern kann, ist O nicht uneingeschränkt wahr. Das Problem dieses Arguments ist freilich anzugeben, wann Eingriffe in den Markt gerecht sind. Es genügt nicht zu sagen, sie seien genau dann gerecht, wenn sie die Freiwilligkeit des Tauschens sichern; denn diese kann offensichtlich zu unakzeptablen Ungleichheiten führen. Wir brauchen daher ein Kriterium gerechter Markteingriffe. Ich werde nun dafür argumentieren, daß wir ein solches Kriterium durch zwei Prinzipien erhalten: durch das Gemeineigentum natürlicher Ressourcen und das Prinzip erzwingbarer

zumutbarer Hilfeleistung. Die Rolle des Gemeineigentums wird deutlich, wenn wir einen Punkt beachten, der im Argument von der Überlegenheit des Marktwegs gegenüber dem Verwaltungsweg übersehen wird. Dies Argument unterstellt, daß die Individuen oder Gruppen, die auf dem Markt einander den Wert ihrer Waren und Leistungen messen, legitime Besitzer oder Eigentümer ihrer Waren sind; weil sie selbst sie produziert haben, weil sie sie von anderen Produzenten durch legitimen Tausch erworben haben oder weil sie die Eigentümer der Fähigkeiten und Talente sind, in deren Betätigung die angebotenen Leistungen bestehen. Diese Unterstellung ist nur bedingt richtig. Sie gilt für die Leistungen, aber nur zum Teil für die Waren. Denn diese sind entweder unbearbeitete Rohstoffe oder Produkte, die immer auch die Be- und Verarbeitung natürlicher Ressourcen sind. In die Waren ist nicht nur die Arbeit der Produzenten eingegangen, sondern auch Naturgut in dieser oder jener Form. Wenn es aber darum geht, Individuen oder Gruppen für ihre Beiträge zum Reichtum einer Gesellschaft gerecht zu entgelten, dann müssen wir annehmen, daß das, wofür sie entgolten werden sollen, ein Wert ist, der sich im Fall von Gütern oder Waren, die auf dem Markt geschätzt werden, aus zwei Quellen speist, nämlich der Arbeit und der Natur. Der Wert der Waren ist daher immer zusammengesetzt aus dem Wert der Arbeit, die in ihre Produktion oder auch nur in ihren Transport zum Markt eingegangen ist, und dem Wert der Naturgüter, die in ihnen be- und verarbeitet wurden. Wem aber gehören die Naturgüter? Nach den liberalen politischen Philosophen von Locke bis Nozick ebenso wie nach den Scholastikern: der Menschheit insgesamt in allen ihren Generationen. Diese Annahme läßt sich aus der Idee der gleichen Freiheit ableiten. Nach dieser Idee ist jeder gleich berechtigt, über sich und seine Anlagen und über

22

Ulrich Steinvorth

das Ergebnis der Betätigung seiner Anlagen zu verfügen. Das impliziert, daß niemand ein Vorrecht im Gebrauch solcher Güter hat, die niemand produziert hat. Hätte jemand ein Vorrecht in ihrem Gebrauch, so würde er andere im Gebrauch ihrer Anlagen behindern. Gleicher Zugang zu den Naturgütern ist daher für den klassischen Liberalismus unverzichtbar. Das heißt wiederum, daß der Markttausch auch dann noch nicht gerecht ist, wenn er freiwillig ist. Er kann erst dann gerecht sein, wenn jeder gleichen Zugang zu den natürlichen Ressourcen hat. Was aber heißt das? Was einmal natürliche Ressource war, wie Grund und Boden, ist über viele Generationen hinweg so mit Arbeit getränkt worden, daß man wohl nirgendwo auf der Erde an einem Stück Land den Wertteil der Arbeit von dem der Natur unterscheiden kann. Manche politische Philosophen, die das Gemeineigentum natürlicher Ressourcen anerkennen, verwerfen deshalb den Gedanken, aus der Anerkennung des Gemeineigentums natürlicher Ressourcen könnten politische Konsequenzen fließen. So auch Nozick.13 In der Tat sind die Versuche politischer Philosophen, den Preis oder ökonomischen Wert der natürlichen Ressourcen an den einzelnen Gütern zu berechnen, aussichtslos. Arbeit und Natur sind in den meisten Gütern zu eng verschmolzen, um durch eine Wertrechnung unterscheidbar zu sein. Aber deswegen ist die Tatsache, daß es ohne Naturgüter keinen Reichtum gäbe, nicht politisch irrelevant. Wenn in allem Reichtum auch ein Element der Natur enthalten ist, dann ist es eine gerechte Forderung, daß jede Generation und jedes Individuum innerhalb einer Generation gleichen Zugang zu diesem Element habe. Denn daß etwas Gemeineigentum ist, heißt, daß jeder Gemeineigentümer ein gleiches Recht über seine Verfügung hat. Gleiches Verfügungsrecht über die Natur wiederum heißt erstens, daß jede Generation Ressourcen vorfindet, deren Nutzen für sie ebenso groß ist wie der Nutzen der Natur, die die ersten Menschen vorfanden; zweitens, daß jedes Individuum innerhalb einer Generation mit gleichem Recht über die in den Ressourcen insgesamt enthaltenen natürlichen Ressourcen verfügen darf. Der erste Teil der Forderung, nämlich daß alle Generationen gleichen Zugang zur Natur haben, ist die Grundlage für ökologische Staatsaufgaben. Der zweite Teil, daß alle Individuen über die im Reichtum einer Gesellschaft enthaltene Natur verfügen dürfen, ist die Grundlage für zwei soziale Rechte, nämlich das Recht auf Ausbildung angeborener Fähigkeiten und das Recht auf Arbeit. Über die Naturgüter wird heute im Produktionsprozeß unserer arbeitsteiligen Gesellschaften verfügt. An der Verfügung kann nur teilnehmen, wer seine Anlagen ausbilden und zudem einen Arbeitsplatz finden konnte. Daher ist die Teilnahme an ihr nur erreichbar durch Institutionen, die dem Armen ebenso eine Ausbildung erlauben wie dem Reichen und dem ökonomisch Untalentierten ebenso einen Arbeitsplatz sichern wie dem Talentierten. Das Recht auf Ausbildung und das auf Arbeit schließen soziale Ungleichheiten nicht aus. Sie implizieren sogar, daß jemand eine längere Ausbildung erhält, wenn sie seinen Talenten entspricht, und daß er aus seiner Teilnahme an der gesellschaftlichen Arbeit für sich einen größeren Nutzen schlägt als der, der weniger leistet. Aber sie sind nicht 13

Nozick, Anarchy, State, and Utopia, 175.

Philosophie

und Politik

23

durch andere Rechte ersetzbar. Insbesondere ist das Recht auf Arbeit nicht durch ein Recht auf Arbeitslosenunterstützung oder auf ein Grundeinkommen ersetzbar. Solche Ersatzrechte sind nur Abfindungen oder Bestechungen zum Verzicht auf die Verfügung über das, was jedem als sein Teil des Gemeineigentums gehört, nämlich über die natürlichen Ressourcen, die im gesellschaftlichen Arbeitsprozeß be- und verarbeitet werden. Wenn der Arbeitsmarkt einer Gesellschaft unfähig ist, jedem Arbeitswilligen einen Arbeitsplatz zu sichern, verlangt das Recht auf Arbeit einen arbeitsmarktunabhängigen Zugang zur gesellschaftlichen Arbeit, etwa in Form eines Sozialdienstes.'4 Wenn diese Überlegung richtig ist, können wir den Sozialstaat nur bedingt rechtfertigen. Der Staat hätte nicht die Aufgabe, notleidenden Mitbürgern unter die Arme zu greifen, sondern die, jedem, auch dem Schlechtestgestellten, seinen Gemeineigentumanteil zu sichern, und zwar durch Sicherung zweier sozialer Rechte: des Rechts auf Ausbildung und des Rechts auf Arbeit. Dagegen kann das Gemeineigentum natürlicher Ressourcen nicht das Recht auf Schutz vor Krankheit und anderen Unglücken, die jeden treffen können, begründen. Auch wenn wir zum Gemeineigentum über die natürlichen Ressourcen hinaus das technische Wissen und Können zählen, wenn es einige Generationen alt ist und nicht mehr Privateigentum der Erfinder sein kann, läßt sich auf das Gemeineigentum nicht das Recht auf Schutz vor unverschuldetem Unglück gründen. Die Rechtfertigung dieses Rechts stößt auf besondere Probleme. Nach den üblichen Vorstellungen muß der Sozialstaat für eine Kasse sorgen, in die die Bessergestellten höhere Beiträge einzahlen als die Schlechtergestellten und aus der alle Unglücklichen allein nach ihrer Bedürftigkeit behandelt werden. Das entspricht dem Motto, das Marx auf die Fahne „einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft" geschrieben sah: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!"15 Eine solche kommunistische Gesellschaft lebte jedoch im Überfluß und hätte keine Verteilungsgerechtigkeit mehr nötig. Ist es aber ein Gebot nicht nur der nicht erzwingbaren Wohltätigkeit, sondern der erzwingbaren Gerechtigkeit, jemandem in einem Unglück zu helfen? Wenn jeder Unglückliche ein erzwingbares Recht daraufhätte, daß wir sein Unglück beseitigen, so müßten wir unsere Autonomie oder Freiheit, selbst über den Gebrauch unserer Anlagen zu entscheiden, aufgeben. Bei dem vielen unverschuldeten Unglück in dieser Welt dürften wir nur noch für dessen Beseitigung leben. Wir stehen hier vor einem Konflikt zwischen der Gerechtigkeitsintuition, daß es ungerecht wäre, wenn wir zu einem Leben der Beseitigung unverschuldeten Unglücks gezwungen würden, und der Intuition, daß wir in zivilisierten Gesellschaften Unglückliche nicht allein lassen dürfen. Ich halte nur folgende Konfliktlösung für akzeptabel. Unter drei Bedingungen hat ein Mensch ein erzwingbares Recht auf Hilfeleistung auch von denen, die seine Not nicht verschuldet haben: Erstens, der Betroffene hat das Unglück 14 15

Ulrich Steinvorth, Gleiche Freiheit. Politische Philosophie und Verteilungsgerechtigkeit, Berlin 1999, 224 ff. und meine Kritik an Van Parijs in: Analyse und Kritik 22 (2000), 257-268. So Marx in seiner Kritik des Gothaer Programms (in: ders./Friedrich Engels, Werke, hrsg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 19, Berlin 1962, 11-32, hier 21).

Vgl.

24

Ulrich Steinvorth

nicht selbst verschuldet; zweitens, er kann sich nicht selbst helfen; drittens, die Belastung der Helfenden ist gering. Das einfachste Beispiel, das diese Bedingungen erfüllt, ist der Fall des Kindes, das im Wasser zu ertrinken droht und vom Passanten gerettet werden kann, wenn der seine Hand nach ihm ausstreckt. Als Kind muß das Kind als unschuldig an seinem Unglück gelten; es kann sich nicht selbst helfen, weil es nicht schwimmen kann; die Belastung des Helfenden ist gering. Der Passant, der die Hilfe unterläßt, mit dem Argument, er sei nicht schuld am Unglück, ist zwar in der Tat nicht schuld am Unglück des Kinds, muß aber als jemand gelten, der das Kind als so wertlos betrachtet, daß es ihm nicht die Mühe wert ist, den Arm auszustrecken. Man hält ihm obendrein nicht nur ein Desinteresse am Zustand des Kindes vor, sondern ein Interesse an seinem Tod, weil man seine Unterlassung der Hilfeleistung als Zustimmung zur Folge der Unterlassung versteht. Daher gilt in vielen Gesetzgebungen die unterlassene zumutbare Hilfeleistung als strafbare Verletzung eines Rechts des Hilfebedürftigen. Das unverschuldete Unglück durch Krankheit, das jeden treffen kann, sollte man analog verstehen. Der Rettende ist hier kein zufälliger Passant, sondern die Gesamtheit der Angehörigen der Gesellschaft, der der Kranke angehört, und der rettende Akt ist die Einrichtung einer Solidarversicherung. Eine solche Institution gibt jedem Schutz, belastet allerdings die Gesunden und Reichen stärker als die Kranken und Armen. Ihre Mehrbelastung ist jedoch, wenn die Versicherung gut organisiert ist, nicht groß und zumutbar, zumal wenn jeder der Versicherung von Geburt an angehört, zunächst also nicht weiß, ob er eher zu den Gesunden und Reichen oder den Kranken und Armen gehören wird. Die Weigerung, einer solchen Versicherung anzugehören, ist der Unterlassung einer zumutbaren Hilfe vergleichbar. Dies Argument für das soziale Recht auf Krankheitsschutz kann freilich nur eine relativ geringe Belastung der Glücklicheren rechtfertigen. Übersteigt ihre Mehrbelastung das zumutbare Maß, kann sie nicht gerechtfertigt werden. Wann dies Maß überschritten wird, läßt sich nicht genauer angeben. Es ist wichtig genug zu zeigen, daß man das Prinzip der Solidarversicherung rechtfertigen kann, ohne das Prinzip allzu sehr zu verletzen, daß niemand zur Behebung von Schäden gezwungen werden darf, die er nicht verschuldet hat. Wir können so die drei wichtigsten sozialen Rechte rechtfertigen, die Rechte auf Ausbildung, auf Arbeit und auf Krankheitsschutz. Wir brauchen dazu auf kein Prinzip der Wohltätigkeit oder solche Gleichheitsprinzipien zurückzugreifen, die mit der Freiheit der Selbstverfügung unvereinbar sind, sondern nur auf das Gemeineigentum und das Prinzip der zumutbaren Hilfe. Diese Prinzipien liefern das Kriterium für die Gerechtigkeit von Eingriffen in den Markt. Ich kann natürlich nicht hoffen, durch einen kurzen Aufsatz von meiner Revision des Liberalismus und zugleich des Sozialstaats zu überzeugen.16 Genug, wenn ich ein orientierendes Bild über die Probleme und die Möglichkeiten der politischen Philosophie ge-

geben

hätte.

16 Ausführlicher bin ich in: Steinvorth, Gleiche Freiheit.

Michael Köhler.

Iustitia fundamentum regnorum

Gerechtigkeit als

Grund der Politik

Einleitung Iustitia fundamentum regnorum: Die Gerechtigkeit ist die Grundlage der Politik, der politischen Verfassungen, sowohl der staatlichen als auch der internationalen Rechtsorganisation. Zitiert wird damit eine weit zurückreichende Begriffsverknüpfung schon in Piatos Staatsschrift geht es im Kern um die Gerechtigkeit, die gerechte Einrichtung der politischen Gemeinschaft. Deshalb reduziert sich der Begriff der Politik nicht auf kluge Machttechnik, sondern er ist ein im weiteren Sinne moralischer Begriff- in der Friedensschrift entwickelt Kant letztlich die Einhelligkeit von Moral und Politik, eine Konvergenz von kategorischem Rechtsprinzip und Zweckmäßigkeit, welche in staatlicher und internationaler Politik allein die Aussicht auf dauerhaften Rechtsfrieden bietet.1 Politik als richtige Einrichtung des Gemeinwesens setzt daher ein gesichertes Prinzip des Rechts voraus, das sich zur gerechten Ordnung entfaltet. Der Bezug darauf identifiziert den Staat und überhaupt alle Rechtsverfassungen begriffswesentlich.2 Das Motiv des Nachdenkens über die Gerechtigkeit ist ihr Mangel.3 Besonders in Betracht kommen soll hier die tiefe Rechtsspaltung in unserer Welt nicht bloß der unter-

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1

2

3

Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 8, Berlin-Leipzig 21923, 340-386, hier 369 u. 380ff.; dazu Volker Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf ,Zum ewigen Frieden'. Eine Theorie der Politik, Darmstadt 1995, 212 ff. Vgl. Augustinus, De civitate dei, Buch IV, Kap. 4: „Was sind Staaten anderes als große Räuberbanden, wenn es ihnen an der Gerechtigkeit fehlt?"; siehe auch Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten (Einleitung in die Rechtslehre, § B), in: ders., Gesammelte Schriften (Akad.Ausg.), Bd. 6, Berlin-Leipzig 21914, 203-493, hier 229. Zum Folgenden auch Michael Köhler, Iustitia distributiva. Zum Begriff und zu den Formen der Gerechtigkeit, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 79 (1993), 457-482; ders., Ursprünglicher Gesamtbesitz, ursprünglicher Erwerb und Teilhabegerechtigkeit, in: Festschrift für E. A. Wolff. Zum 70. Geburtstag am 1.10.1998, hrsg. v. Rainer Zaczyk, Michael Köhler u. Michael Kahlo, Berlin 1998, 247-271; ders., Freiheitliches Rechtsprinzip und Teilhabegerechtigkeit in der modernen Gesellschaft, in: Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit. Zur Aktualität der Rechtsphilosophie Kants für die Gerechtigkeit in der modernen Gesellschaft, hrsg. v. Götz Landwehr, Göttingen 1999, 103-128.

Vgl.

Michael Köhler

26

schiedliche Wohlstand, der legitimerweise aus der Ungleichheit der Menschen folgt, sondern die Spaltung zwischen einerseits entwickelter Rechts- und Wohlverwirklichung auf der starken Seite der nordwestlichen Gesellschaften, andererseits dem systembedingten Rechts- und Wohlverlust. Innerhalb der Wohlstandsgesellschaft zeigt sich diese Spaltung an Millionen von strukturbedingt Erwerbslosen und Sozialhilfeempfängern und an einer Reihe schwerer Krisensymptome, weltweit an der unsäglichen Not von Abermillionen mit

Begleit- und Folgeerscheinungen. Dem Tanz um das goldene Kalb entspricht die angestrengte Verdrängung des Ungeheuerlichen. Im neuzeitlichen Begriff der subjektiven Freiheit, der als Grundvoraussetzung des Moral- und Rechtsprinzips gewiß unaufgebbar ist, liegt ein Element grenzenloser Selbstsucht, die, zumal wenn sie sich gegenständlichökonomisch verfestigt, in die Nichtachtung des Schwächeren umschlägt. Die Einsicht in dieses negative Moment des Freiheitsbegriffs begleitet das neuzeitliche Rechtsdenken von Beginn an. Hobbes spricht im Leviathan von der Glückssuche des modernen Menschen als ,,ständige[m] Fortschreiten des Verlangens von einem Gegenstand zu einem anderen, wobei jedoch das Erlangen des einen Gegenstandes nur der Weg ist, der zum nächsten Gegenstand führt", und dementsprechend von einem „fortwährende^] und rastlose[n] Verlangen nach immer neuer Macht" als ,,allgemeine[m] Trieb der gesamten Menschheit, der nur mit dem Tode endet".4 Locke nennt als Grund für die Kapitalfunktion des Geldes das Verlangen, immer mehr zu haben, als die Menschen brauchen („desire of having more than Men needed"),5 Rousseau identifiziert die Eigenliebe („amour propre") als Grund der gesellschaftlichen Verfallsgeschichte zur Grundungleichheit unter den Menschen.6 Marx schließlich bezieht sich fast ehrfürchtig auf die ethische Kritik des Aristoteles am Erwerb um des Erwerbs willen und an seiner Maßlosigkeit die Chrematistikkritik.7 Die Lösung muß auf einer Theorie des Menschen beruhen, welche die ganze Wirklichkeit des Humanen systematisch entfaltet, in praktischer Hinsicht daher vor allem die eindimensionale Orientierung bloß am gesellschaftlichen Erwerbsprozeß aufhebt, ihn in ein Gesamtkonzept selbstbestimmten menschlichen Lebensvollzuges einordnet und folglich

allen

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die Ökonomie wieder auf ihre dienende Funktion zurückführt. Methodisch kommen nach der Kritik an der alten Metaphysik objektiv-teleologische Konzeptionen nicht mehr in Betracht also nicht Piatos Entwurf einer herrschenden Erkenntniselite, nicht alle möglichen Kommunismen und Kommunitarismen, die ein objektiv Gutes voraussetzen, dem die Individuen notfalls mittels Rechtszwangs einzuordnen sind. Vielmehr ist es methodisch unverzichtbar, die Einheit von Subjekt und Welt in der kategorialen Schlüssig-

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4 5

6

7

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Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hrsg. u. eingel. v. Iring Fetscher, übers, v. Walter Euchner, Frankfurt/M. 71996, 75. John Locke, The Second Treatise of Government (Kap. 5, § 37), in: Two Treatises of Government, hrsg. v. Peter Laslett, Cambridge 1988, 265-428, hier 294. Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l'origine et les fondemens de l'inégalité parmi les hommes (2. Teil), in: Œuvres complètes, hrsg. v. Bernard Gagnebin u. Marcel Raymond, Bd. 3, Paris 1964, 109-237, hier 177 ff. Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1 (ders./Friedrich Engels, Werke, hrsg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 23), Berlin 1962, 167 (Anm. 6).

Thomas Hobbes, Leviathan oder

Gerechtigkeit

27

als Grund der Politik

keit der Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung aller auszuweisen und darauf die Gemeinschaftsformen zu gründen. Praktischen Ausdruck hat dies zuerst in Kants kategorischem Imperativ und dem ihm entsprechenden, die Leistungen der menschlichen Vernunft kritisch-systematisch verknüpfenden Begründungszusammenhang gefunden.8 In diesem Projekt hat das Rechtsdenken die von der Ethik des guten Willens streng unterschiedene und vorrangige Aufgabe, die äußeren Freiheitsräume für die allgemeine Selbstverwirklichung in zwingenden Regeln zu ordnen also jeder Person den Selbststand in Gemeinschaft und Gesellschaft zu öffnen und zu sichern, dessen sie bedarf, um ihr huwelch letzteres man freilich keineswegs erzwinmanes Selbstsein entfalten zu können sondern der ethischen gen darf, Selbstorientierung überlassen muß.9 Die Gerechtigkeitstheorie, die auf der Grundlage des freiheitlichen Rechtsbegriffs zu entfalten ist, muß im Blick auf den herausgestellten Grundmangel besonders diejenige Teilform bestimmen, die ungenau mit „sozialer Gerechtigkeit" umschrieben wird. Dem Ansatz gemäß unterscheidet sich jedoch die rechtsphilosophische Fragestellung von der sozialethischen: Brüderlichkeit, „Solidarität" mit dem Schwächeren ist ein ethisches Gebot, aber keine Rechtspflicht. Gerechtigkeitsfragen sind dagegen, was man zwingend dem schuldet, der zufällig in Existenznot geraten ist (insbesondere also Fragen des Notstandsrechts, des Sozialhilfe- und Asylrechts), welche Erwerbsmöglichkeit den strukturbedingt Erwerbslosen einzuräumen ist, da doch wohl das bloße Ausgehaltenwerden einem Recht auf tätig-selbständige Teilhabe nicht genügen kann. Der Schwerpunkt der im Folgenden entwickelten Überlegungen liegt daher auf derjenigen Gerechtigkeitsform, die Teilhabegerechtigkeit10 genannt sei. Diese beruht so lautet die These auf dem ursprünglichen Erwerbsrecht jeder Person an der gemeinschaftlichen Existenzgrundlage. Je mehr das Individuum nicht mehr wesentlich nur in unmittelbarer Gemeinsamkeit mit anderen (der Familie, der Hausökonomie) existiert wie in der alten Welt, sondern auf einen hoch arbeitsteiligen gesellschaftlichen Prozeß angewiesen und davon abhängig ist nach einem Wort Hegels Sohn der bürgerlichen Gesellschaft ist -, desto schlüssiger muß sein Selbststand gerade im gesellschaftlichen Vermögen bestimmt werden. Im ersten Teil werden die Termini Gerechtigkeit und Recht begrifflich geklärt, im zweiten Teil wird näher eingegangen auf die privatrechtsbezogenen Gerechtigkeitsformen, besonders die Teilhabegerechtigkeit. -

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Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: ders., Gesammelte Schriften (Akad.-Ausg.), Bd. 4, Berlin-Leipzig 21911, 385-463, hier 412 ff.; eingehend Ernst Amadeus Wolff, Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen, in: Strafrechtspolitik. Bedingungen der Strafrechtsreform, hrsg. v. Winfried Hassemer, Frankfurt/M. 1987, 137-224, hier 137 u. 162ff. 9 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten (Einleitung in die Rechtslehre, § B u. Einleitung in die Tugendlehre, Iff.), 229f. u. 379ff. 10 Von lat. participatio; zur Geschichte des Teilhabebegriffs siehe Rolf Schönberger, [Art.] Teilhabe, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter f u. Karlfried Gründer, Bd. 10, Basel 1998, Sp. 961-969; der Wortsinn (partem capere) impliziert ein praktischproduktives Aktionsmoment, das im Spätmittelalter akzentuiert wird; vgl. Kurt Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter, Stuttgart 22000, 462 ff. (zu Meister Eckhart). 8

Michael Köhler

28

I. Der Begriff der Gerechtigkeit in seiner auf das Rechtsprinzip 1.

Der

Beziehung

Begriff der Gerechtigkeit

Der vorpositive Oberbegriff Gerechtigkeit (iustitia) setzt das Recht," sein Prinzip und seine systematische Entfaltung in Teilbestimmungen der Rechtsordnung das ursprüngliche Menschenrecht und subjektive Grundpflichten, das Privatrecht, das Staatsrecht und das internationale Recht voraus. Entsprechend dem Wortsinn gerecht (iustitia von iustum gegenüber iniustum) bedeutet er also die normative Eigenschaft von persönlichen Haltungen, Handlungen, Handlungs- und Organisationszusammenhängen, dem Rechtsprinzip gemäß sich zu bestimmen. Der subjektiven Einstellung, eine gerechte, rechtschaffene Person zu sein, entspricht zunächst die universale Bedeutung einer alle Teilmomente schlüssig ordnenden Rechtsgerechtigkeit. Diese umfaßt mithin ebenso die staatlichen Ordnungen wie die internationale Rechtsorganisation. In diesem Sinne spricht man treffend auch von politischer oder öffentlicher Gerechtigkeit; der Sache nach ist das die Hauptbedeutung bei Plato12 in der Staatsschrift. Persönliche Gerechtigkeitshaltung und politische Gerechtigkeitsorganisation bedingen einander, insofern Recht und Gerechtigkeit sich aus Rechtsvernunft von Individuen konstituieren, entfalten und erhalten müssen:13 Ohne gerecht handelnde Bürger und Amtsträger kann das Gemeinwesen nicht existieren, wie umgekehrt die Wirksamkeit der Gerechten auch gut eingerichtete Institutionen voraussetzt. Besondere Formen der Gerechtigkeit werden im Hinblick auf Teilprinzipien unterschieden, in der aristotelischen Tradition zunächst die ausgleichend-schützende Gerechtigkeit, -

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die „wiedervergeltend"-austauschende, die politisch-distributive Gerechtigkeit, worunter Aristoteles die gerechte Ämter- und Würdenverteilung in der politischen Verfassung begreift, ferner die Strafgerechtigkeit, sodann in modernem Bezug die vorläufig so genannte distributiv-soziale Gerechtigkeit, die Verfahrensgerechtigkeit und andere Formen. Diesen besonderen Gerechtigkeitsformen, die je ein Teilprinzip des Rechts systematisch entfalten, entsprechen Teile der geltenden Rechtsordnung, etwa das deliktische Schadensersatzrecht, die privatrechtlichen Vertragsbeziehungen, das Strafrecht, die Verfahrensordnungen. Der inhaltliche Zusammenhang ist freilich noch kritisch zu bedenken, vor allem im Hinblick auf die oben benannte Form der Teilhabegerechtigkeit. Zuvor muß aber der zugrundeliegende Begriff des Rechts, das freiheitliche Rechtsprinzip, erläutert werden.

11 12

Vgl. methodologisch Köhler, Iustitia distributiva, 461 ff. (mit weiteren Nachweisen). Vgl. Plato, Politeia, 368dff.; Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch V, Kap. 1 ff.; siehe auch Kant, Metaphysik der Sitten (Rechtslehre, § 41), 306 zum Begriff der öffentlichen Gerechtigkeit.

13

Vgl. Aristoteles,

Nikomachische Ethik, Buch V,

Kap.

3.

Gerechtigkeit 2.

Der

29

als Grund der Politik

Begriff des

Rechts

Rechts als vorpositiver Begriff, der zum geltenden Recht die kritische Grundlage bietet muß auf einer Theorie des Menschen beruhen, welche die Handlungsverfassung, die eine der drei Grundfragen Was soll ich tun? aus der ganzen Kraft der theoretischen und praktischen Vernunft zu klären sucht. Die Prinzipienfrage stellt sich zunächst in kritischem Gegenzug zur alten Metaphysik, wonach man ein objektiv Gutes, ein ideales Ziel, im absoluten Wissen erkennen könne eine Auffassung, die dem kritischen Selbstbewußtsein des Menschen in Wahrheits- und Richtigkeitserkenntnis nicht angemessen ist. Schlüsselbedeutung kommt dagegen dem Begriff der Freiheit oder der Selbstbestimmung zu, worin sich das Denken auf eine immanent schlüssige Weise als praktische Vernunft allgemeingültig gesetzgebend begreift, d. h. bloß subjektive Setzungen der Willkür, der Bedürfnisse, der Interessen auf eine intersubjektiv ausweisbare Systematik von Handlungskategorien hin überschreitet. Das bedeutet zunächst eine Revolution der Ethik und zwar gegen teleologische und empiristische Konzeptionen oder ihre heute weltmächtige Verknüpfung. In der kritischen Handlungssystematik allgemeiner Selbstbestimmung hat das Recht eine von der Ethik des guten Willens und der Pragmatik klugen Glücksstrebens sachlich unterschiedene, und zwar systematisch vorrangige, Funktion. Es bezieht und beschränkt sich darauf, die Felder des interpersonalen Handelns, besonders den konfliktanfälligen gegenständlichen Bereich, möglichst widerspruchsfrei und freiheitsgemäß zu eröffnen und zu ordnen in Gesetzen der äußeren Freiheit, die den individuell und kulturell unterschiedlich konkretisierten Glücks- und Gutskonzepten der Subjekte und ihren Gemeinschaftsformen entsprechen. In diesem Sinne spricht Locke vom Inhalt des neuzeitlichen Naturrechts als „perfect Freedom".14 Diese subjektrechtliche Grundlage wird mit ihren rechtssystematischen Folgerungen besonders eindrucksvoll repräsentiert in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776: „Wir halten die folgenden Wahrheiten für aus sich selbst heraus evident (self-evident), daß alle Menschen als Gleiche geschaffen sind (created equal); daß sie durch ihren Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, darunter Leben, Freiheit und Verfolgung des eigenen Glücks; daß, um diese Rechte zu sichern, Rechtsorganisationen (governments) unter den Menschen eingerichtet sind, die ihre Rechtsmacht (just power) vom Konsens der Regierten ableiten; daß, wenn immer eine Regierungsform diesen Zielen widerstreitet (becomes destructive), es das Recht des Volkes ist, sie zu ändern oder abzuschaffen." Die Kantische Definition des freiheitlichen Rechts erscheint demgegenüber zunächst trocken: „Das Recht ist [...] der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann."15 Doch ist darin ein Begründungszusammenhang gefaßt, der auf dem Hintergrund der gesamten Vernunftkritik die gedanklichen Leistungen der Naturrechtslehre seit Hobbes kritisch aufnimmt. Daher geht er zwar im Begriff der Willkür Der

Begriff des

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14 15

Vgl. Locke, Second Treatise of Government (Kap. 2, § 4), 269. Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten (Einleitung in die Rechtslehre, § B),

229f.

30

Michael Köhler

der entfalteten Selbstkonzeption weltbezogen-handlungsmächtiger, an eigenen pragmatischen und moralischen Maximen orientierter Subjekte aus und läßt sie als selbstproduktiven Regelungspol gelten, begründet aber in der vernünftig-schlüssigen Selbstbestimmung aller die Notwendigkeit der die äußeren Freiheitsräume freiheitsgemäß organisierenden Rechtsregel. So ist es die empirisch zwar bedingte, aber nicht festgelegte Formkraft die Rechtsvernunft der Personen selbst -, aus der sich im Rückschluß die allgemeinen Regelbedingungen subjektiver Selbstverwirklichung in Gemeinschaft entfalten. Dadurch gelangt der subjektive Grundrechtsstatus die Menschen- und Bürgerrechte zu einer nicht nur intuitiven, sondern begründeten Evidenz. Zugleich bleibt er aber formoffen für das gesamte gegenständliche Feld der Freiheitsregelung namentlich im Vergleich zu empiristischen Reduktionen, zu denen die Lockesche Begründungsweise neigt, besonders, was den Privat- und Erwerbsrechtsstatus der Person angeht.16 Im Begriff des Rechts und in seiner subjektrechtlichen Grundlage liegt unmittelbar die schlüssig objektivierte Allgemeingültigkeit der Handlungsregel und daher immer auch ein Anspruch der Gleichheit, des Gleichmaßes hinsichtlich derjenigen allgemeinen oder besonderen Subjekt-Qualität, aufgrund deren und im Hinblick auf die die Rechtsregel konzipiert ist. Deshalb handelt es sich nicht um eine nur formale, positivistische Allgemeingültigkeit; denn dann wäre jedes Diskriminierungsgesetz „Recht", weil es in einem formellen Sinn von gleicher Allgemeinheit ist. Mit gutem Grund spricht vielmehr unsere Verfassung nicht nur von der „Gleichheit vor dem Gesetz", sondern von einer im Rechtsgesetz selbst durchzusetzenden kategorisch-gleichen Allgemeingültigkeit, deutlich zunächst in den Diskriminierungsverboten und schon enthalten in dem Satz: „Die Würde des Menschen als Person ist unverletzlich." Das heißt: Jede Person muß als regel-, als gesetzeskonzipierendes Mitsubjekt anerkannt, darf nicht bloß als Objekt der Regelbildung anderer behandelt werden.17 Darunter ordnen sich zwar sachgemäße Unterscheidungen der Gleichheitskriterien, z. B. die Erwerbsgleichheit nach Fähigkeit. Aber die Basis bleibt die menschenrechtliche Grundgleichheit aller mit fundamentalen Verbotsgehalten, die unbeirrt auch in den Grenzsituationen personaler Existenz, zumal am Beginn und am Ende des Lebens, zu behaupten sind. Kritisch bezieht sich der subjektrechtliche oder freiheitsrechtliche Begriff des Rechts einesteils auf jede Art von Rechtsteleologie, die ein objektiv Gutes, ein Gemeinschaftsethos, voraussetzt, dem das „Subjekt" unvermittelt eingeordnet wird. Ist aber die subjektive Selbstbestimmung im Ansatz nicht rechtskonstitutiv, so können die Rechte der Person für den vorausgesetzten guten Zweck auch aufgeopfert werden. Anderenteils kritisiert der freiheitsrechtliche Rechtsbegriff empiristische Ansätze, die Rechtsansprüche aus Bevon

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Vgl. Wolfgang Kersting, Eigentum, Vertrag und Staat bei Kant und Locke, in: John Locke und/ and Immanuel Kant. Historische Rezeption und gegenwärtige Relevanz/Historical Reception and Contemporary Relevance, hrsg. v. Martyn P. Thompson, Berlin 1991, 109-134, hier 123 ff; siehe auch Köhler, Ursprünglicher Gesamtbesitz, 257 f. 17 Siehe zum ursprünglichen Menschenrecht Michael Köhler, Das angeborene Recht ist nur ein einziges, in: Vielfalt des Rechts Einheit der Rechtsordnung? Hamburger Ringvorlesung, im Auftr. des Fachbereichs hrsg. v. Karsten Schmidt, Berlin 1994, 61-84. 16

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Gerechtigkeit

31

als Grund der Politik

dürfnissen, Interessen, besonders in ihrer kollektiven Verbindung, herleiten möchten.

Handlungs- und Regelutilitarismus sind weltmächtige Ansätze dieser Art. Darin liegt für den Konfliktfall die Tendenz zum „Recht" des Stärkeren, also der mächtigeren gesellschaftlichen Interessen. Besonders mächtig ist die Verknüpfung der Rechtsteleologie eines objektiv Guten mit einem einhergehenden Gesamtnutzeninteresse. Wird unter solchen Voraussetzungen eine „Abwägung" gegenüber dem subjektivem Recht der Person eröffnet, so ist der Ausgang klar: Der Schwächere hat schon verloren. Beispiele finden sich etwa in der „Bioethik", wenn nichteinwilligungsfähigen Kranken (z. B. Alzheimer-Patienten) zugemutet wird, sie sollten bloß fremdnützige Forschungseingriffe, wenn auch zunächst nur in „geringfügigem" Maße, im Hinblick auf ihre Gemeinschaftsgebundenheit hinnehmen. Genau betrachtet handelt es sich aber darum, das subjektive Recht des einen für die Interessen anderer aufzulösen. Solche Vorstellungen sind eigentlich durch die Kantische Kritik erledigt, die zusammengefaßt in einem Satz lautet: „Der Nutz[en] vieler giebt ihnen kein Recht gegen einen."18 Genug zu tun bleibt freilich für die Durchsetzung des freiheitlichen Rechtsprinzips in alten und neuen Anwendungsfeldern. Was die Freiheitsgrundrechte angeht, so erscheinen sie zwar durch die vergangenen zweihundert Jahre der Verfassungsgeschichte an sich so gefestigt, daß die immer wieder auftretenden Widersprüche sich um so deutlicher identifizieren. Begrifflich noch unzureichend erschlossen ist jedoch der Teil der Gerechtigkeitsfrage, der mit den Termini „Verteilungsgerechtigkeit", „soziale Gerechtigkeit" angesprochen wurde. Der freiheitsrechtliche Lösungsweg ist unter dem Titel der

Teilhabegerechtigkeit II. Die

nun

anzugehen.

privatrechtsbezogenen Formen der Gerechtigkeit

Thema ist der jeder Person aufgrund des freiheitlichen Rechtsprinzips zukommende Selbststand ihre Selbständigkeit in der gemeinsamen Existenzgrundlage. Die hier genauer zu bestimmenden Gerechtigkeitsformen setzen das Privatrecht (Besitz, Eigentum, property) an äußerer Gegenständlichkeit, aber auch am Handeln, an der personalen Entäußerung anderer als in der rechtlichen Freiheit des Subjekts begründet voraus.19 Dem ursprünglichen Menschenrecht freier Personen ihrer Würde und den unmittelbar personalen Grundrechten muß also auch eine gegenständliche Gebrauchsbefugnis, besonders an der Grundlage der gemeinsamen Existenz, entsprechen. Bestimmung und Erwerb privater Rechte sind aber nicht schon unmittelbar mit dem personalen Status gesetzt („ange-

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18

Kant, Reflexion zur Moralphilosophie (Nr. 6586), in: ders., Gesammelte SchrifBd. 19, Berlin-Leipzig 1934, 92-317, hier 97; ders., Kritik der praktischen Vernunft, in: ders., Gesammelte Schriften (Akad.-Ausg.), Bd. 5, Berlin-Leipzig 21913, 1-163, Immanuel

ten

(Akad.-Ausg.),

hier 21 ff.; zur Utilitarismuskritik siehe auch Otfried Hoffe, Kategorische Rechtsprinzipien. Ein Kontrapunkt der Moderne, Frankfurt/M. 1990, 153 ff. 19 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten (Rechtslehre, 1. Teil, §§ 1 ff.), 245ff.; dazu Köhler, Ursprünglicher Gesamtbesitz, 253 ff. (mit weiteren Nachweisen).

32

Michael Köhler

boren"), sondern fordern im Hinblick auf die darin liegende Freiheitsbeschränkung für

andere eine zusätzliche, allgemeiner Freiheit gemäße Begründung.20 In den privatrechtlichen Gerechtigkeitsformen sind deren Prinzipien als je maßgebend vorausgesetzt. Der Zusammenhang ist zu wesentlichen Teilen schon in der Gerechtigkeitslehre des Aristoteles enthalten; sie ist aber aus der freiheitsprinzipiierten Grundlage zu ergänzen.21 /.

Die

schützend-ausgleichende Gerechtigkeit

schützend-ausgleichende Gerechtigkeit ist die erste Form, da sie überhaupt erst auf Möglichkeit subjektiver (Privat-)Rechte beruht also der Rechtsfähigkeit der Person in den ihr unmittelbar zustehenden Rechten (Leben, Leib, Handlungsfreiheit) und in bestimmten gegenständlichen Privatrechten. Deren inhaltliche Bestimmung und gerechter Erwerb müssen vorläufig nach gesonderten Prinzipien (und Gerechtigkeitsformen) vorausgesetzt werden; auf die Erwerbsprinzipien wird noch eingegangen. Die ausgleichende Gerechtigkeit selbst besteht daher in einem System von Rechtsnormen, welche die Persönlichkeits- und Privatrechte der Person systematisch bestimmen und entfalten sowie gegen rechtswidrige Eingriffe wahren und, falls solche dennoch geschehen sind, sie zumindest wertmäßig restituieren z. B. durch Selbsthilfe, polizeilichen Gefahrenschutz oder Schadensersatz, Bereicherungsausgleich etc. Der zugrundeliegende Gleichheitsmaßstab ist die abstrakt-gleiche Personalität im Status ihrer wohlerworbenen Rechte. Das Maß der zuvor schon zustehenden subjektiven Rechte und Güterwerte definiert das „Zuviel" oder „Zuwenig", das infolge des verbotenen Eingriffs zwischen den Parteien jeweils auszugleichen ist nach Aristoteles eine arithmetische Proportion. In der Grundlage einfach, fordert diese Gerechtigkeitsform aber im Hinblick auf komplexe gesellschaftliche Verhältnisse entwickelte Zurechnungsregeln etwa im Hinblick auf erlaubte oder verbotene Risiken sowie effiziente Durchsetzung des Schutzes und Ausgleichs, z. B. für die Lebensmittelsicherheit, den Datenschutz oder den Patientenschutz Die der

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im Medizinrecht.

2.

Die erwerbende

Gerechtigkeit,

insbesondere die

Austauschgerechtigkeit

Grundmöglichkeit und dem ausgleichenden Schutz privater Rechte entsprechen Prinzipien ihres rechtlichen Erwerbs im Verhältnis zu anderen Personen es müssen wohlDer

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20

21

sozialer Rechte, die diese unmittelbar aus den Freiheitsrechten entnehmen will; dazu kritisch Köhler, Das angeborene Recht ist nur ein einziges. Vgl. zum folgenden Köhler, Iustitia distributiva; ders., Ursprünglicher Gesamtbesitz; ders., Freiheitliches Rechtsprinzip; siehe auch Diethelm Klesczewski, Kants Ausdifferenzierung des Gerechtigkeitsbegriffs als Leitfaden der Unterscheidung von Unrechtsformen, in: Ethische und strukturelle Herausforderungen des Rechts, hrsg. v. Annette Brockmöller u. a. (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 66), Stuttgart 1997, 77-103.

Kurzschlüssig ist daher eine Theorie des Sozialstaates bzw.

Gerechtigkeit

33

als Grund der Politik

erworbene Rechte sein. Darauf beruht die wechselseitig-erwerbende Gerechtigkeit oder iustitia commutativa. Aber in den Erwerbsprinzipien liegt eine Doppeldeutigkeit, die unter dem Gesichtspunkt allgemeiner privatrechtlicher Freiheit der Klärung bedarf. In einer Teilform, die schon Aristoteles darlegte, bestimmt sich die Erwerbsgerechtigkeit im wesentlichen als Tauschgerechtigkeit; sie folgt dem Prinzip des (vom Willen eines anderen) abgeleiteten Erwerbs.22 In der Privatautonomie der Personen, gemäß ihren eigenen Bedarfskonzeptionen den Bestand ihrer privaten Rechte zu organisieren, liegt es, nach eigenem Gutdünken zu veräußern und zu erwerben paradigmatisch im Ausund der durch die je eigene LeistungsGrundist tauschvertrag. gegenseitige, Maßprinzip Bedarf. Der Tauschwert fähigkeit handlungsmächtige vertraglich gesetzte geht daher auf die subjektiven Gebrauchswertbestimmungen zurück insofern gilt eine subjektive Werttheorie. Das Prinzip des abgeleiteten Erwerbs oder der Tauschgerechtigkeit liegt den ursprünglichsten Formen des Handels, des Marktes bis hin zu komplexen gesellschaftlichen Systemen der arbeitsteiligen Produktion zugrunde. Die Tauschprozesse das hat Aristoteles schon entwickelt tragen daher mit der Autonomie der Marktentscheidungen zugleich ihre Wertgerechtigkeit (Preisgerechtigkeit) in gewisser Weise in sich. Aber in der Gerechtigkeitssystematik fehlt noch ein wesentlicher Teil, nämlich das Prinzip des nicht nur abgeleiteten, sondern ursprünglichen Erwerbs. Das zeigt eine kritische Zwischenüberlegung. Reduziert man die Erwerbsgerechtigkeit nur auf den abgeleiteten (Tausch-)Erwerb, so stehen die aufgrund ihres Rechtsstatus nicht besitzenden, nicht tauschfähigen, nicht marktmächtigen Individuen oder Personenverbände in einseitiger Abhängigkeit oder überhaupt außerhalb der Erwerbsgemeinschaft bis hin zur Nichtigkeit ihrer Existenz. Das ist zwar ein alter Befund aus vorfreiheitlichen Verhältnissen. Aber mit dem Prinzip allgemeiner rechtlicher Freiheit wird er zum Grundsatzwiderspruch. Besonders mit der gesellschaftlichen Produktionsweise seit der industriellen Revolution, mit dem Übergang zu machtvollen Privatrechtsverbänden Unternehmen, Kapital hat das Problem eine neue Dimension erreicht. Die privatrechtliche Grundsituation ist unter der begrifflichen Dominanz des Tauscherwerbs nach wie vor gespalten, mögen auch die Erscheinungsformen sich wandeln gespalten zwischen Besitzenden, die heute namentlich in gesellschaftlichen Teilverbänden („Kapital und Arbeit") verfaßt sind, und davon abhängigen Individuen: „abhängiger Arbeit" in dem bestimmten Sinne, daß ihr Einbezug in das Gesamtsystem von den Marktentscheidungen anderer Personen (Personenverbände) abhängt. Diese besitzrechtliche Grundkonstellation präsentiert sich seit den Klassikern, seit Smith, Ricardo, Hegel, Marx als „soziale Frage", wenn auch in veränderter Form etwa der strukturbedingten Erwerbslosigkeit von Millionen, die mehr oder weniger notdürftig ausgehalten werden. Die Frage ist also nicht das „Privateigentum", das an sich in der rechtlichen Freiheit begründet ist, sondern das Prinzip seines ausgeglichen-gerechten Erwerbs. -

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22

Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch V, Kap. 8; den systematischen Nachrang gegenüber dem und den Bezug auf den ursprünglichen Erwerb entwickeln vor allem Locke, Second Treatise of Government (Kap. 5) und Kant, Metaphysik der Sitten (Rechtslehre, Privatrecht, §§ 10ff.), 258 ff.

34

Michael Köhler

Bisher existieren drei Lösungsansätze. Der „minimalstaatliche" beschränkt die (staatliche) Gerechtigkeitsordnung auf den Schutz personaler Rechte und die Organisation der Tauschprozesse und überläßt die Herausfallenden sich selbst. Den Gegensatz bildet eine Gemeinschaftsauffassung mit totalitärer Aufhebung des Privatrechtsprinzips, weltmächtig namentlich in dem von Marx inspirierten Lösungsversuch der Zentralverwaltungsund Verteilungswirtschaft ein Ideologischer Grundansatz mit entsprechend negativen Konsequenzen für die persönliche Freiheit. Eine Zwischenform ist der europäische -

Wohlfahrts- oder Sozialstaat oder mit einem neueren Terminus: der Interventionsstaat mit großer historischer und internationaler Spielbreite. Dieser Lösungsansatz besteht aus zwei Teilen. Zum einen gilt das Privatrecht der arbeitsteiligen Tauschgesellschaft auf der Grundlage des Privateigentums, der freien Arbeit, des Wettbewerbs, des Systems der kollektiven Arbeitsbeziehungen in Interessenverbänden. Der Rechts- und Verwaltungsstaat organisiert das Rechtswesen, den Rechtsschutz und die allgemeinen Funktionsbedingungen der Privatrechtsgesellschaft (z. B. Geld- und Verkehrswesen, Wettbewerbsregeln etc.). Diese Seite hat sich zu imponierender Rechtsverwirklichung und großem Wohlstand entfaltet. Zum anderen aber fungiert der Staat, im Hinblick auf die Spaltung der Gesellschaft in ihrer privat- und erwerbsrechtlichen Grundstruktur, unter dem Titel der „sozialen Gerechtigkeit" als allenthalben eingreifender Wirtschaftsinterventions-, Steuer-, Subventions-, Sozialstaat, der in undurchschaubarem Dickicht der Regelungen dort wegnimmt und hier „gewährt". Sein unklares Prinzip ist vielleicht mit allgemeiner „Sicherheit" oder „Systemstabilität" zu umschreiben. Insofern könnte Thomas Hobbes sein rechtsphilosophischer Ahnherr genannt werden. Eine Vielzahl von Ansätzen irgendwie sekundär ausgleichender „egalitärer Verteilungsgerechtigkeit" gehören hierher. Die sozialstaatlichen Regelungen enthalten nun zwar unabdingbare Gerechtigkeitsgehalte, z. B. im Sozialversicherungs- und Sozialhilferecht. Aber wie auch das Problem der strukturellen Erwerbslosigkeit zeigt, bleibt die privatrechtliche Selbstbestimmung in der modernen Gesellschaft noch unzureichend begriffen. Die Vorstellung, der Staat solle wie ein Obereigentümer an abhängige Individuen nach Gutdünken Privatrechte verteilen oder umverteilen, kann daher nur vorläufig gelten. Nozick ironisiert diese Prinzipienlosigkeit mit der Wendung: „Jedem nach seinem x/y."23 Vielmehr muß nach dem freiheitlichen Privatrechtsprinzip davon ausgegangen werden, daß jeder Person schon ursprünglich ein Besitzerwerbsrecht an der gemeinsamen Existenzgrundlage, mithin privatrechtliche Selbständigkeit als Voraussetzung der gesellschaftlichen Austauschprozesse und ihrer Mitgestaltung zusteht. Dies muß der feste Maßstab staatlichen Gerechtigkeitshandelns sein. Dem Ideologischen Verständnis einer fürsorgend bevormundenden „VerteP lungsgerechtigkeit" ist daher ein erweiterter Privatrechtsgrundsatz der ursprüngliche Erwerb entgegenzusetzen. Dem entspricht die Teilform der ursprünglich erwerbenden oder Teilhabegerechtigkeit. -

-

23

Robert Nozick, Anarchie, Staat, 148 ff.

Vgl.

Utopia,

übers,

v.

Hermann

Vetter,

o.

O.

(München) 1974,

Gerechtigkeit 3.

Die

35

als Grund der Politik

ursprünglich-erwerbende

oder

Teilhabegerechtigkeit

Aufzunehmen ist im Anschluß an Locke und Kant24 das subjektive Recht auf ursprünglichen Erwerb jeder Person nicht also nur, wie Person und Eigentum zu schützen und ökonomische Austauschprozesse zu organisieren sind, sondern die Vorfrage, wie die Person überhaupt erst zu gegenständlichen Rechten kommt. Auf dem Erwerbsprinzip gründen ein spezifisches Gleichheitskriterium und das System der Teilhabegerechtigkeit. -

Das

ursprüngliche

Erwerbsrecht

ursprüngliche Erwerbsrecht begründet sich im Umriß folgendermaßen: Das freie Subjekt ist um seiner Selbstverwirklichung willen auf gegenständliche Besitzrechte Privatrechte angewiesen. Mit dem personalen Status ist nun keineswegs unmittelbar ein bestimmter Eigentumsstatus verbunden; wir kommen nackt und bloß zur Welt. Im Existenzvollzug müssen daher gegenständliche und personal vermittelte Besitzrechte im Verhältnis zu anderen erworben werden. Das ist kein bloß empirischer Vorgang, sondern ein Akt wechselseitiger Selbstbestimmung nach Rechtsprinzipien. Stellte man sich nun den Besitzrechtserwerb der Person bloß als abgeleitet von einem Übertragungsakt vorangehender Personen in deren Belieben vor in unendlicher historischer Ableitungsreihe zurück bis auf Adam und Gott Vater, so widerspräche ein solches Legitimationsprinzip der Voraussetzung grundgleicher Freiheit und Selbständigkeit aller im Weltbezug. Zwar liegt in der Generationenabfolge gewiß ein prioritäres Moment vorläufiger Aneignung in Gebrauchskonzeptionen. Aber das kann nicht bedeuten, daß alle Nachfolgenden zu bloßen Bittstellern herabsänken, die von der Willkür der Vorangehenden abhängig wären. Dies kann an aktuellen Beispielen kritisch veranschaulicht werden, etwa an der Verschwendung endlicher Ressourcen oder an der enormen Staatsverschuldung zu Lasten der nachfolgenden Generationen. Schlüssig führt diese Lösung zu dem Grenzbegriff oder der Idee eines ursprünglichen Gemeinbesitzes der Menschheit an der formbaren Weltsubstanz, den man nicht als Gegenbegriff zum Privatrecht verstehen darf, sondern vielmehr als seinen freiheitsgemäßen Grund.25 Das bedeutet: Die Erde, die Weltsubstanz, steht der Menschheit, der menschlichen praktischen Vernunft in ihrer subjekthaften Entfaltung zunächst ungeteilt zu. Die religiöse Analogie lautet: Gott hat die Welt allen Menschen zur vernünftigen Selbstverwirklichung gegeben. Diese Voraussetzung allein erlaubt es, freiheitsnotwendigen ursprünglichen Privatrechtserwerb widerspruchsfrei zu denken, nämlich als kontinuierlichen subjektiven Aneignungsakt aller nach allgemeinen Erwerbsgesetzen. Auf dem Grund allgemeiner Freiheit in zunächst ursprünglicher Weltgemeinsamkeit beruht daher ein subjektives Recht des ursprünglichen Erwerbs für jede Person, also eine Befugnis zu eigenmächtiger Aneignung der Existenzgrundlage unabhängig von der bloDas

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-

24

25

Vgl. Locke, Second Treatise of Government (Kap. 5, §§ 25 ff); Kant, Metaphysik der Sitten (Rechtslehre, Privatrecht, §§ lOff), 258ff; dazu Köhler, Ursprünglicher Gesamtbesitz (mit weiteren Nachweisen). Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten (Rechtslehre, Privatrecht, § 13), 262 f.

36

Michael Köhler

ßen Willkür anderer. Dies ist im Begriff der Okkupation ausgedrückt, am angemessensten, wie Locke und Hegel es formuliert haben, in der Formung der Substanz nach den verschiedenen Produktionsweisen. Für das neu in die Welt tretende Individuum vermittelt sich der ursprüngliche Erwerb übrigens personenrechtlich, im Familienrecht; beispielhaft vorgreifend gehört deshalb der langjährig schwerstens vernachlässigte sogenannte Familienlastenausgleich innerhalb der Gesellschaft ebenfalls zum hier verhandelten Thema strikter Teilhabegerechtigkeit. Jedoch beruht das ursprüngliche Erwerbsrecht der Person nicht auf einseitiger Willkür. Aus dem rechtlichen Anerkennungsverhältnis wechselseitig allgemeiner Selbstbestimmung folgen vielmehr Erwerbsgesetze, die aus dem Gesichtspunkt der Erwerbsbefugnis potentiell aller Subjekte gedacht werden müssen. Das ist zunächst noch abstrakt und bedarf systematischer Konkretisierung.26 Vorläufige Beispiele seien Gesetze, auch internationale Verträge, zum Natur- und Ressourcenschutz, die sich allein aus dem Weltaneignungsrecht der ganzen, auch künftigen Menschheit begreifen lassen. Zur kritischen Klärung und Abgrenzung: Dem praktischen Gewicht und der Aktualität des Ansatzes wird eine empirische Auslegung, wie sie bei Locke nahegelegt wird, nicht gerecht. Denn damit verbindet sich tendenziell ein einseitiges Vorrecht der Handlungs- und Aneignungsmächtigen im Selbstlauf der historischen Akkumulationsprozesse. Die zunächst offene Welt ist dann irgendwann weggegeben, und der Staat schützt nur die Besitzenden. Rousseau hat im Ungleichheitsdiskurs die dreiste List kritisiert, mit dem Minimalstaat eine Sicherheitsgemeinschaft der Besitzenden mit den Besitzlosen vorzuschlagen. Gegenüber einer empiristischen Engführung muß also die kategorisch-allgemeingesetzliche Seite des ursprünglichen Erwerbs festgehalten werden ihr formender Bezug auf sich ändernde Bedingungen. Ursprünglicher Erwerb und teilhabegerechte Erwerbsgesetze sind deshalb aktuelle Gegenbegriffe zu einer vorläufigen historischen Akkumulation, zu einer Verkürzung des Privatrechts und dann auch der Staatsfunktionen auf die ausgleichend-schützende und die ökonomisch-austauschende Gerechtigkeit also das bloße Marktmodell. Weiter ausgelegt besteht die Teilhabegerechtigkeit in einem System von Gesetzen, die jedem Subjekt der Menschheit von Beginn seiner Existenz an kontinuierlich Erwerbsrechte entsprechend seinem Vermögen zu selbständiger Freiheitsverwirklichung einräumen. Der Begriff steht in kritischer Beziehung sowohl zu einer minimalstaatlichen Reduktion auf die schützende und die Marktgerechtigkeit als auch zu einem Ideologischen Verständnis von Verteilungsgerechtigkeit. Das Erwerbsrecht ist also nicht angemessen erfaßt als „Zuweisung" oder Übriglassen durch andere, sondern richtet sich primär auf den frei formenden, selbständig tätigen Einbezug auch in die gesellschaftlichen (Produktions-)Verhältnisse. Dies ist im Grundbegriff der erwerbsrechtlichen Okkupation impliziert. In der gesetzlichen Bestimmung der Erwerbsbefugnisse liegt daher ein formoffenes Moment. Es ist relativ sowohl zur historisch-empirischen Entwicklungsstufe der Gemeinschafts- und Gesellschaftsverhältnisse (also auch der Produktionsweisen) als auch hinsichtlich der prozeßhaften Selbstentfaltung des Individuums von der noch vegetativen Unmittelbarkeit bis zu seiner entwickelt selbstbewußten Subjektivität. -

-

26

Vgl. Köhler,

Freiheitliches

Rechtsprinzip.

Gerechtigkeit Die

37

als Grund der Politik

vermögensbezogene Erwerbsgleichheit

Dem ursprünglichen Erwerbsrecht, der Teilhabegerechtigkeit, entspricht ein eigenes Maßkriterium der proportionalen Erwerbsgleichheit der Personen im gegenständlich-materialen Bezug. Der Gleichheitsmaßstab leitet sich aus dem ursprünglichen Okkupationsverhältnis ab. Das Maß des Erwerbsrechts wird einesteils bestimmt durch die zu entwikkelnde subjektive Fähigkeit, dann auch: das produktive Vermögen, sich in das entwickelte gesellschaftliche Vermögen, d.h. auch in den Erwerbsprozeß, einzubeziehen. Die Grundoder Formbedingungen dafür und dies ist die andere Seite der (geometrischen) Proportion haben alle anderen entsprechend ihrem Vermögen nach wechselseitig-allgemeinen Regeln einzuräumen. Für die erste Anschauung hinzuweisen ist auf die entsprechenden Teilsysteme der familiären Erziehung, des gesellschaftlichen Familienleistungsausgleichs, der Bildung, Ausbildung, Fortbildung, und zwar sowohl in ihren realisierten Gerechtigkeitsgehalten als auch in ihren Mängeln. Das Kriterium proportionaler, material-vermögensbezogener Erwerbsgleichheit ist kritisch zu präzisieren. Die Rechtsgleichheit unmittelbar mit der Allgemeinheit und Wechselseitigkeit des Rechts verbunden legt sich in ihren Maßstäben nach der Handlungssystematik der Person aus. Das „suum cuique" ist also nicht uniform-statisch, sondern systematisch sachgemäß gegliedert. Der ursprünglichen Grundgleichheit im Menschenrecht der rechtsfähigen Person folgt zunächst die arithmetische Gleichheit hinsichtlich erworbener Rechte. Die Wertgleichheit von Gütern und Leistungen gemäß der Tauschgerechtigkeit basiert auf der gegenständlichen Privatautonomie und ihren Wertsetzungen. Die politische Gerechtigkeit muß sich nach verfassungsmäßiger (Amts-)Fähigkeit richten. Die nun thematische ursprüngliche Erwerbsgleichheit bezieht ihren Maßstab aus der ursprünglich gleichen Zugänglichkeit der Weltsubstanz, des allgemeinen Vermögens, handlungssystematisch differenziert nach dem entwickelten subjektiven Potential der Individuen, sich selbständig im gesellschaftlichen Verhältnis zu erhalten und zu entfalten. Man könnte auch von Chancengleichheit sprechen, wäre dieser Terminus nicht vorbelastet durch die Reduktion auf das bloße Marktmodell. Deshalb wird hier von materialvermögensbezogener Erwerbsgleichheit gesprochen, die sich proportional der zu entwikkelnden Fähigkeit der Individuen bestimmt. Kritisch bezieht sich der dargelegte Begriff der Erwerbsgleichheit auf praktischhandlungssystematisch nicht vermittelte Vorstellungen von Gerechtigkeit und materialer Gleichheit namentlich einer umverteilenden Zuweisung von Gütern im Sinne eines festen Ensembles von Grundgütern bis hin zu gegenständlicher Gleichverteilung oder in der Weise bedarfsentsprechender Versorgung. Zum einen: Das bloße Bedürfnis gibt kein Erwerbsrecht gegenüber anderen; deshalb ist die Vorstellung eines unkonditionierten Grundeinkommens, also unabhängig vom praktischen Potential der Person und ohne die besondere Notlage der Sozialhilfe, ein Grundirrtum „Manna vom Himmel" (Nozick) ist kein rechtliches Erwerbsprinzip. Zum anderen: Eine gegenständliche Gleichverteilung jedem das gleiche Einkommen, den gleichen Wohnraum usw. -, zu der eine Bedürfnisse vorschreibende Zentralverwaltungswirtschaft tendiert, widerspricht der selbstbestimmten Besonderheit der Individuen in ihrer gegenständlichen Freiheitsorganisation, wie sie sich -

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38

Michael Köhler

dann auch im gesellschaftlichen Tauschprozeß zu aller Vorteil verwirklichen darf. Gegen den Marktprozeß richtet sich jene ideologische Verteilungsanmaßung, möchte ihn immerfort korrigieren oder aufheben. Zwar muß dem gesellschaftlichen Tauschprozeß die dargelegte Grundgleichheit hinsichtlich der Formbedingungen selbständiger Existenz die Zugänglichkeit des gesellschaftlichen Vermögens für jeden vorausgesetzt werden. Aber dies impliziert selbst die Differenz der entwickelten subjektiven Vermögen in ihren Selbstentwürfen und Verwirklichungsweisen, daher auch in den Resultaten materialer Selbstorganisation. Deshalb kann auf keine sinnvolle Weise von „Ergebnisgleichheit" die Rede sein: „Die bisweilen gemachte Forderung der Gleichheit in Austeilung des Erdbodens oder gar des weiter vorhandenen Vermögens ist ein um so leererer und oberflächlicherer Verstand, als in diese Besonderheit nicht nur die äußere Naturzufälligkeit, sondern auch der ganze Umfang der geistigen Natur in ihrer unendlichen Besonderheit und Verschiedenheit sowie in ihrer zum Organismus entwickelten Vernunft fällt."27 Der amerikanische Rechtstheoretiker Dworkin fügt hinzu: „Jede Gemeinschaft, die in Anspruch nähme, die Leute in ihrer Wohlfahrt (well being) gleichzumachen, brauchte eine kollektive Identität dessen, was Wohlfahrt ist und was ein Leben besser oder erfolgreicher macht als das andere, und jede kollektive Identifizierung würde die Prinzipien des ethischen Individualismus verletzen"28 widerspräche also dem Prinzip rechtlicher Freiheit in der Besonderheit des Glücks- und Gutsstrebens und daher in der Unterschiedlichkeit auch der Ergebnisse. Der Kritik unterliegen daher alle Vorschläge, auf empirischer Grundlage die Wohlfahrt der Individuen mit Hilfe von (kardinalen oder ordinalen) Nutzenvergleichen direkt zum („egalitären") Gleichheits- und Gerechtigkeitskriterium für einen damit totalen Interventionsstaat zu erheben.29 Auch das sogenannte Differenzprinzip von Rawls, das in die kooperierende Gesellschaft die Regel der steten Besserstellung der relativ am schlechtesten Gestellten einführt, ist kritisch zu betrachten, da es die erwerbsrechtliche Selbständigkeit der Personen in einer unbestimmt-diffusen Gemeinschaftssolidarität auflöst.30 Die systematische Entfaltung teilhabegerechter Erwerbsgesetze wird übrigens von selbst zu ausgeglichenen gesellschaftlichen Verhältnissen führen. Also: Ursprüngliche Erwerbsgleichheit ist nicht Bedarfs-, Gegenstands-, Ergebnisgleichheit, wohl aber im bestimmten Sinne materiale, vermögensbezogene Gleichheit zur -

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-

27

28 29

30

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (§ 49 Anm.) (TheorieWerkausgabe in 20 Bdn., Redaktion: Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Bd. 7), Frankfurt/M. 1970, 113; ähnlich ebenda (§ 200), 353 f. Vgl. Ronald Dworkin, Do Liberty and Equality Conflict?, in: Living as Equals, hrsg. v. Paul Barker, Oxford 1996, 39-57, hier 39 u. 45. Vgl. ursprünglich die Kantische Imperativen-Kritik (siehe oben, Seite 27, Anm. 8); eingehend zu einer Vielzahl empirischer (ökonomischer) Ansätze John Rawls (Eine Theorie der Gerechtigkeit, übers, v. Hermann Vetter, Frankfurt/M. 1975) und Amartya Sen (Inequality reexamined, Oxford 1992), der selbst (ebenda, 129ff., 150f.) weiterführend vorschlägt, Wohlstand bzw. strukturelle Armut nach zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten (freedoms, basic capabilities) zu bestimmen. Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 81 ff.; eingehend kritisch zuletzt Wolfgang Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, Stuttgart-Weimar 2000, 118 ff.; siehe auch Köhler, Iustitia distributiva, 471 ff.

Gerechtigkeit

39

als Grund der Politik

selbständigen Existenz. Diese beschränkt sich aber keineswegs auf die Einräumung eines Existenzminimums würdiger Erhaltung (Ernährung, Wohnung, Gesundheitfürsorge)

nach dem Standard der Gesellschaft; Notstands- oder Sozialhilfe ist vielmehr nur der Grenzfall bei Unfähigkeit zur Selbsterhaltung, also der letzte Systemteil der Teilhabegerechtigkeit. Ursprüngliche Erwerbsgleichheit bezieht sich vielmehr hauptsächlich auf die Grund- oder besser: Formbedingungen zur kontinuierlichen Entfaltung und Erhaltung der menschlichen Fähigkeiten, einschließlich des produktiven Vermögens der Person im gesellschaftlichen Tätigkeitsprozeß und zwar gerade auch im Hinblick auf dessen verantwortliche Mitgestaltung. Ethisch entspricht dem all dies, was über Selbstkultivierung und Selbstachtung durch anerkannte Tätigkeit (Arbeit) zu sagen ist. Aber der Rechtsanspruch folgt zwingend aus dem freiheitsgemäßen Formmoment der ursprünglichen Okkupationsbefugnis. Teilhabegerechtigkeit bedeutet deshalb auch nicht nur einen Anfangszustand, eine Art Anfangsverteilung wie nach dem Gleichnis von den Talenten,31 sondern ist in ihrer systematischen Ausformung die stetige Grundlage der gemeinschaftlichen Existenz. -

Zum

System

der

Teilhabegerechtigkeit

Die Kontinuität der Teilhabegerechtigkeit soll noch durch einen Blick auf ihr System verdeutlicht werden. Die sekundäre Stelle der Sozial- oder auch Erwerbslosenhilfe im Gegensatz zur heutigen Verkehrtheit wurde schon bezeichnet. In der Hauptsache handelt es sich vielmehr um eine Systematik der subjektiven Erwerbsrechte, die sich entlang des Selbstverwirklichungsprozesses des Subjekts im Verhältnis zur Gemeinschaft entfalten, nämlich das Recht auf familiäre Personensorge und infolgedessen auf gesellschaftlichen Leistungsausgleich, der übrigens ebenso die Besitz- und Chanceneinräumung für die Kinder wie eine Anerkennung der Erziehungstätigkeit und Chancenwahrung für die Eltern, namentlich die Frauen, bedeuten müßte (besonders: die Abstimmung von Familientätigkeit und gesellschaftlicher Tätigkeit ein in der Realität leider dunkler Punkt, dem einiges an Instabilität des Gesamtsystems geschuldet ist), sodann das Recht auf eine der Fähigkeit, dem Vermögen entsprechende Teilhabe an gesellschaftlichen Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen, schließlich in bestimmtem Sinne auch ein Recht auf gesellschaftlichen Erwerb oder Recht auf Arbeit. Die weitere Konkretisierung der Systemteile fordert noch je spezifische Überlegungen einschließlich ökonomischer Erwägungen; maßgebend ist vor allem die vermögensproportionale Verpflichtung aller, zu den Grundbedingungen des fähigkeitsentsprechenden Einbezuges aller beizutragen.32 Im Umriß soll dies abschließend am Recht auf gesellschaftlichen Erwerb gezeigt werden: „Recht auf Arbeit" kann in einer auf Privatautonomie beruhenden Gesellschaft nicht -

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31 32

Vgl. Matthäus 25, 14-30. Vgl. eingehender Köhler, Freiheitliches Rechtsprinzip.

40

Michael Köhler

im Grenzfall das Recht auf ein bestimmtes Arbeitsverhältnis bedeuten (z. B. ein gewisser Kündigungsschutz für Arbeitsverhältnisse in größeren Unternehmen). Andererseits kann es aber nicht nur reduziert werden auf die Chance, sich zur Arbeit anzubieten; denn das hindert das strukturelle Herausfallen oder „work for food" nicht. Die dem Tauschprozeß zugrunde liegende Teilhabegerechtigkeit begründet vielmehr ein Recht der Person, kontinuierlich gemäß ihrem entwickelten Tätigkeitsvermögen in den Erwerbsprozeß der Gesellschaft einbezogen zu werden und zwar mindestens zu Mindestbedingungen würdiger Existenz und Wertteilhabe, wofür das ganze System, vor allem auch die hochproduktiven, hochrationellen Unternehmen proportional ihrer Produktivität aufzukommen haben. Im Kern handelt es sich also darum, nicht die strukturelle Erwerbslosigkeit auszuhalten dies ist vielmehr ein permanenter Unrechtszustand,33 sondern, über das gegenwärtige System der Arbeitsvermittlung hinaus, einen Ausgleichsmechanismus einzurichten, der gerade auch die hochproduktiven Unternehmensverbände proportional mit in Anspruch nimmt, um auf den Einbezug aller hinzuwirken. Dadurch verwirklicht sich eine Grundgleichheit erster Stufe im gesellschaftlichen Vermögenserwerb die Voraussetzung dafür, sich in den Teilverbänden im Tauschprozeß überhaupt zu etablieren und den Zusammenhang selbständig mitzugestalten.34 Die Grundorientierung bleibt also stets, der freien Person das gesellschaftliche Vermögen zur selbständigen Existenz nach eigenem Vermögen wechselseitig einzuräumen. Diese materiale Grundgleichheit bedeutet nicht Ergebnisgleichheit, sondern impliziert durchaus die Differenz in den besonderen Selbstentwürfen der Individuen und daher auch in den materiellen Resultaten von einfachen, weniger produktiven bis zu hochproduktiven Tätigkeiten. Reformuliert ist damit das alte Autarkie-Ideal, aber nicht in seiner naturwüchsig Ideologischen Fassung, die eben auch Sklaven, Grundabhängige, Tagelöhner zum Subsistenzlohn zuläßt, sondern auf der Grundlage allgemeiner Freiheit: die erwerbsrechtliche Zugänglichkeit der gemeinsamen Existenzgrundlage, des allgemeinen Vermögens, für jede Person entsprechend ihrer zu entwickelnden und entwickelten praktischen (produktiven)

oder

nur

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Fähigkeit.

Wird im System der Gerechtigkeitsformen die Teilhabegerechtigkeit aus dem ursprünglichen Welterwerbsrecht aller mit dem Ziel der Selbständigkeit entfaltet, so vermag gerechte Politik aus der Kraft gemeinschaftlich verwirklichter Freiheit die Ökonomie wieder an die dienende Stelle zu rücken es werden die Früchte der gemeinschaftlichen Anstrengung, der imponierenden technischen Rationalisierung und die gewonnene Lebenszeit zu menschlichem Selbstsein in Gemeinschaft gebraucht werden können. -

Vgl. auch zur unterschiedlichen Werteinstellung zur Arbeitslosigkeit in Europa und in den USA Amartya Sen, Soziale Gerechtigkeit und ökonomische Effizienz, in: Philosophie und Politik II. Soziale Gerechtigkeit und ökonomische Effizienz, hrsg. v. Julian Nida-Rümelin u. Wolfgang Thierse, Essen 1998 (Kultur in der Diskussion, Bd. 4), 14-26, hier 17 ff. 34 Zur Einbeziehung der Privatrechtsverbände in die Gerechtigkeitstheorie siehe Michael Köhler, Gesellschaft und Staat nach freiheitlichem Rechtsprinzip im Übergang zu einer internationalen Gerechtigkeitsverfassung, in: Festschrift für Ernst-Joachim Mestmäcker zum siebzigsten Geburtstag, hrsg. v. Ulrich Immenga, Wernhard Möschel u. Dieter Reuter, Baden-Baden 1996, 211-225, hier 211 u. 217ff. 33

Ludwig Siep

Selbstverwirklichung, Anerkennung und politische Existenz Zur Aktualität der

politischen Philosophie Hegels

Es ist kein Streitpunkt in der politischen Philosophie der Gegenwart, daß Menschen das Recht haben, sich selbst zu verwirklichen, und daß der Staat dafür Bedingungen bereitstellt. Kontrovers ist dagegen, etwa zwischen Liberalen und Kommunitariern, ob dies bloß negative oder auch positive Bedingungen sind. Hat der Staat nur die Unabhängigkeit der Individuen voneinander zu garantieren, so daß jeder sein Bild von sich selber entwerfen oder auch entdecken und danach sein Leben gestalten kann? Oder bieten die Grundwerte einer Staatsordnung, zumindest die politische und rechtliche Kultur, ein Reservoir an Normen, Werten und Verhaltensmustern, die für die Selbstverwirklichung der Bürger von Belang sind? Hat der Staat eine Verantwortung auch für Sprache, Kunst und religiöse Traditionen der Bevölkerung, die seiner Souveränität untersteht? Oder ist dies in Zeiten der Glaubens- und Überzeugungsfreiheit der Bürger sowie der Pluralität der Religionen und Weltanschauungen obsolet? Sind Werte und wertvolle Lebensweisen nicht Privat-, Gewissens- oder Geschmackssache, solange das davon geleitete Verhalten andere nicht in ihren Rechten beeinträchtigt? Man hat in Deutschland die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus als bloße Wiederaufnahme der Kontroverse zwischen Kantianern und Hegelianern relativiert. Das ist gewiß überzogen: Die Staaten und Gesellschaften, mit denen es Kant und Hegel zu tun hatten, waren von den Verhältnissen, um die sich die gegenwärtige Debatte dreht, weit entfernt. Es handelte sich um religiös und sprachlich homogene Monarchien mit ersten Ansätzen zu Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Marktökonomie. Auf der anderen Seite konstatieren moderne Soziologen und Gesellschaftstheoretiker wie Luhmann, daß die gesamte Begrifflichkeit der „,bürgerlichen' Ideen und Theorien, die zwischen 1760 und 1820 formuliert" wurden, den modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaften nicht mehr gerecht werde.1 Die Begriffe des Subjekts, der Individualität, der Freiheit und der Autonomie, wie sie in den Philosophien und politischen Programmen dieser Zeit entwickelt wurden, stellen nach Luhmann einen historisch überholten Versuch dar, die Anfange der modernen Gesellschaft in der Auflösung der hierarchisch strukturierten Standesgesellschaften zu erfassen und normativ zu idealisieren.2 -

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Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1998, 289 (Anm. 179). Vgl. ebenda, 1025: „Die Figur des Subjekts hatte [!] die Funktion, die Inklusion aller in die Gesellschaft durch die Selbstreferenz eines jeden zu begründen."

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Ludwig Siep

Beide Positionen, die der Vorwegnahme und die der bereits begrifflich irreversiblen Vergangenheit, erscheinen mir unhaltbar. Unter bestimmten Aspekten ist die praktische Philosophie Kants oder Hegels von großer Aktualität. Aber sie enthält keine Antworten, die man heute übernehmen könnte. Die Aktualität der politischen Philosophie Hegels, die er selber als Rechtsphilosophie und als eine Philosophie des objektiven Geistes konzipiert hat, soll hier hinsichtlich des Verhältnisses von individueller Selbstverwirklichung, Intersubjektivität und politischer Existenz untersucht werden. Im ersten Teil geht es um die Entwicklung des Selbstbewußtseins und ihre Bedeutung für die Selbstverwirklichung (I), im zweiten um intersubjektive Anerkennung als Bedingung von Selbstverwirklichung (II), im dritten um die Bedeutung der politischen Existenz für die Selbstverwirklichung (III). Dabei suche ich jeweils die Nähe und Ferne der Konzeption Hegels zum gegenwärtigen Verständnis von Selbstverwirklichung zu verdeutlichen.

I Die Vorgeschichte der modernen Ideen von Selbstverwirklichung, Authentizität und benachbarter Begriffe und Werte ist gut erforscht. Charles Taylor, Richard Rorty und andere führen sie vor allem auf die Romantik und das Künstlerideal seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zurück.3 Diese Ursprünge mögen in der heutigen alltäglichen und politischen Forderung nach Selbstverwirklichung wirksam sein. Da es mir hier aber nicht um Ideengeschichte oder die Ambivalenzen des Projekts der Moderne zu tun ist,4 gehe ich im folgenden von einem weniger anspruchsvollen und weniger historisch „belasteten" Be-

griff von Selbstverwirklichung aus. Die gewöhnliche Bedeutung von Selbstverwirklichung im modernen Sprachgebrauch ist etwa die folgende: Ein Individuum findet heraus, woran ihm besonders gelegen ist, was

ihm das Leben lebenswert macht, was für ein Mensch sie oder er sein möchte, welche Fähigkeiten es hat, welche Tätigkeit, welcher Genuß und welche „Bezugspersonen" sein Leben erfüllen könnten. In vielen Fällen entdeckt die Person diese Lebensinhalte und -plane in Spannung zu den Rollen, die sie in ihrer Sozialisation übernommen hat. Der Übergang von der angenommenen Rolle zu der ihr selber einleuchtenden kann in Graden von der eher konfliktfreien Transformation bis zum Bruch mit den Konventionen und bisherigen sozialen Beziehungen stattfinden. Daß der Selbstverwirklichung bisherige Rollen, Aufgaben und Partnerschaften zum Opfer fallen, kann natürlich auch eine neue Form des Selbstmißverständnisses sein. So wird es schließlich fraglich, ob SelbstCharles Taylor, Das Unbehagen an der Moderne, übers, v. Joachim Schulte, Frankfurt/M. 1995; ders., Quellen des Selbst, übers, v. Joachim Schulte, Frankfurt/M. 1996; Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, übers, v. Christa Krüger, Frankfurt/M. 1992.

3

Vgl.

4

Zur Bedeutung der romantischen Idee der Selbstverwirklichung für die Ambivalenz der Moderne vgl. Josef Früchtl, Der romantische Diskurs der Moderne. Überlegungen zu einem unendlichen Projekt, in: Die Weltgeschichte das Weltgericht? Stuttgarter Hegel-Kongreß 1999, hrsg. v. Rüdiger Bubner u. Walter Mesch, Stuttgart 2001, 56-74. -

Selbstverwirklichung, Anerkennung

und

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politische Existenz

Verwirklichung abschließbar ist, ja ob die Differenz zwischen dem authentischen Selbst und der konventionellen Rolle überhaupt eine stabile ist. Was bei diesem Verständnis im Vergleich mit der philosophischen Tradition, der auch Hegel zumindest teilweise verpflichtet ist, auffällt, ist der fehlende Bezug darauf, was der Mensch ist. Diesen Maßstab mußte jeder, wenn auch in individuellen „Abschattungen", seinem Handeln zugrunde legen, um in der aristotelischen Tradition ein er-

fülltes Leben zu führen oder sich nach der stoischen und kantischen Tradition moralisch zu vervollkommnen. Aristotelisch gesprochen hat der Mensch, wie jedes andere Lebewesen, eine bestimmte Funktion und spezielle Leistungsfähigkeit, deren kompetente Ausführung ihn glücklich macht. Dazu gehört, daß er nach Wissen und Selbsterkenntnis strebt, gut handeln will, sich mit anderen über gerecht und ungerecht einigen, körperlich gesund sein sowie Ansehen und Güter erwerben will. Zwischen diesen Fähigkeiten, Bedürfnissen und natürlichen Strebungen besteht eine Hierarchie ich habe sie in etwa absteigend nachgeahmt -, die eine Güter- und Zielordnung für das individuelle Leben impliziert. Hegels Idee von Selbstverwirklichung bleibt insoweit in dieser Tradition, als er dem Menschen bestimmte Wesenseigenschaften zuerkennt, an denen der einzelne bei seiner Selbst- und Glückssuche nicht ohne Strafe des Scheiterns vorbeigehen kann. Aber Hegel ist von der neuzeitlichen Kritik an einer objektiven Güterhierarchie, von Hobbes bis Kant, doch so weit erschüttert, daß er ein erheblich dynamischeres und holistischeres Konzept des menschlichen Wesens und damit des Maßes seiner Selbstverwirklichung entwickelt. Das soll hier nicht von seiner Transformation der Begriffe „Wesen" und „Mensch" her dargestellt werden, sondern im Ausgang von der Grundthese, daß der Mensch ein geistiges Wesen ist vor allem von der Entfaltung dieser These in der Philosophie des objektiven Geistes her.5 Hegel hat für die Struktur dessen, was „Geist" ist, verschiedene Kurzformeln angegeben. Die kürzeste, in der Vorrede der Phänomenologie des Geistes, lautet, der Geist sei das in „seinem Außersichsein in sich selbst Bleibende".6 Man tut aber gut daran, diese Formeln zu erläutern im Hinblick auf die Inhalte der Hegeischen Geistphilosophie. Dann sieht man, daß geistige Prozesse erstens charakterisiert sind durch ein Zu-sich-Kommen oder Seiner-selbst-bewußt-Werden aus einer unreflektierten Vorstufe, die Hegel oft „Anderssein" oder „Außersichsein" nennt. Für Menschen bzw. geistig-natürliche Individuen ist das ein Vorgang der Selbstfindung, der mit der ersten Stufe der Selbstverwirklichung im heutigen Verständnis vieles gemeinsam hat. Dazu bedarf es, wie Hegel im Abschnitt „Anthropologie" der Enzyklopädie zeigt, zunächst einmal eines Prozesses der Vergeistigung des menschlichen Körpers.7 -

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5

6 7

Hegels Theorie des objektiven Geistes als einer politischen Philosophie vgl. Ludwig Siep, Hegels politische Philosophie, in: ders., Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus,

Zu

Frankfurt/M. 1992, 307-328. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes (Theorie-Werkausgabe in 20 Bdn., Redaktion: Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Bd. 3), Frankfurt/M. 1970, 28. Vgl. zum Folgenden Ludwig Siep, Leiblichkeit, Selbstgefühl und Personalität in Hegels Philosophie des Geistes, in: ders., Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, 195-216.

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Ludwig Siep

Die Entwicklungs- und Lernprozesse des Kindheits- und Jugendalters, vom routinierten Gebrauch der Wahrnehmungs- und Mitteilungswerkzeuge über den aufrechten Gang bis zur Ausbildung eines leistungsfähigen Gedächtnisses sowie kognitiver und voluntativer Kompetenzen einschließlich der Beherrschung von Begierden und Affekten -, werden von Hegel verstanden als Selbstaneignung eines „an sich" geistigen, zur Selbstbestimmung und Selbstreflexion gleichsam angelegten Körpers. Schon auf dieser Stufe des Prozesses zeigt sich im übrigen ein zweites wesentliches Strukturmoment des Geistes, die Reflexion und Manifestation eines Ganzen in seinen Teilen. Ein solches Ganzes ist hier der beseelte menschliche Körper, der sich in seinen Gliedern artikuliert, sie durch Selbstwahrnehmung und gesteuerte Bewegung aneignet und sich in solchen Bewegungen, z. B. Gesten oder dem Ausdruck von Emotionen, als ganzer im besonderen Teil manifestiert. Die Ganzheiten, die sich in der individuellen Entwicklung manifestieren, gehen für Hegel sogar über das Individuum hinaus. Im Erlernen von Körperbewegungen, Gesten und sprachlichen Mitteilungen werden überindividuelle kulturelle Muster sichtbar etwa die Gestik und der Gefühlsausdruck des Italieners oder Chinesen. Sie hängen ihrerseits mit klimatischen, rassischen und geographischen Determinanten zusammen. Aber nicht jede dieser Ganzheiten kann sich selber als eine geistige konstituieren und artikulieren, die zur Selbstabgrenzung und zu kollektiven Formen des Selbstbewußtseins fähig ist. Ein Volk kann das, eine Rasse dagegen nicht. Die Vergeistigung des menschlichen Körpers ist zugleich, wenn auch phasenverschoben, eine Entwicklung von Bewußtsein und Selbstbewußtsein. Dabei bildet sich eine dreifache Distanz heraus: die zum eigenen Körper, die zur wahrgenommen Umgebung der Gegenstände und die zu den anderen Menschen, mit denen zunächst eine symbiotische und emotionale Gemeinsamkeit bestand. In diesen sozialen Prozessen der Distanzierung und der Herausbildung von Formen bewußter Gemeinsamkeit zeigt sich neben den beiden erwähnten Strukturmomenten der Rückkehr aus dem Anderssein und der Selbstartikulation eines Ganzen ein Drittes, für den Geist Wesentliches: die Struktur der Selbstvergegenständlichung, die ihrerseits Stufen des „Sichanderswerdens" bis zur Selbstentfremdung und zum Selbstverlust enthält. Gefühle, Meinungen, Absichten werden durch ihre Äußerung und Verwirklichung im Medium von Körperlichkeit, Sprache, Handlung in einer Weise transformiert, durch die es immer auch zu Verfälschungs- und Verlusterfahrungen kommt. Gegen diesen Verlust seiner Intentionen wehrt sich das Individuum durch Versuche der Zurücknahme oder der Korrektur bis hin zur Zerstörung und das gilt nach Hegel für alle materiellen, sozialen und kulturellen Gebilde, an denen der einzelne durch seine Taten teils bewußt, teils unbewußt beteiligt ist. Da diese Taten aber zugleich seinen Charakter, sein Selbstbild, seine soziale Identität formen, ist der Vorgang der Bekämpfung von Entfremdung8 zugleich einer der Selbstnegation. Hegel hat diese Prozesse vor -

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8

nur eine Bedeutung von Entfremdung bei Hegel. Zu den verschiedenen Bedeutungen von „Entfremdung" bei Hegel, vor allem in der Phänomenologie des Geistes, vgl. Ludwig Siep, Der Weg der Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/M. 2000, 199 ff.

Dies ist freilich

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Selbstverwirklichung, Anerkennung und politische Existenz

Phänomenologie des Geistes9 subtil analysiert in Auseinandersetzung mit Zeitströmungen vor allem des Rousseauismus und der Romantik, aber auch in einer heute sichtbaren Vorwegnahme späterer Formen kultureller und politischer Revolutionen. Auch damit trifft er Momente der modernen Ideen von Selbstverwirklichung durch Bruch mit allem in der

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dem Bestehenden, Konventionellen, Nichtauthentischen. Aber Hegel war, wie Goethe, der Auffassung, das permanente Jagen nach Authentizität sei ein Mißverständnis der geistigen Natur des Menschen. Sichanderswerden, Selbstentfremdung und ihre Negation müßten vielmehr als notwendige Phasen im Zu-sichKommen des Geistes verstanden werden, der schließlich die Souveränität erreiche, im scheinbar Geistfremden zu Hause zu sein. Das gilt zum einen für die Bildung des Individuums durch Aneignung von traditionellen Kenntnissen und Verhaltensweisen, von sozialen Konventionen, technischem Know-how und rechtlichen Prozeduren. Es gilt zum anderen aber auch für seine Mitwirkung an der Selbstartikulation und Selbstreflexion einer Kultur. Als eine solche kann man den Begriff des „Volksgeistes" verstehen, der sich in den unbewußten und bewußten Handlungen der Individuen und Institutionen ausdrückt und zum Gegenstand werden kann sei es zum Gegenstand der Kodifizierung von Rechten, der Bestimmung des Gemeinwohls oder auch der Wissenschaften, die sich der Auslegung der Gesetze, Institutionen und der Kultur eines Volkes widmen. Die bewußte Teilhabe an dieser Kultur und das Verständnis der Rolle, die das Individuum darin spielt, ist für Hegel der einzige Weg zu einer nicht permanent rebellierenden, sondern sich erfüllenden Selbstverwirklichung. Die ständige Rebellion wird nicht wirklich frei weder von dem, was sie negiert, dem entfremdeten Zustand, noch von den Geistern und Kräften, die sie ruft und freisetzt.10 Sie kommt nicht zur Selbstverwirklichung in den Gegenständen und Konstellationen ihres Handelns. -

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9

In den Teilen B und C des

Vernunftkapitels. Für Christoph Menke gibt Hegel seine positive romantischen Ideal der ironischen Subjektivität in der Phänomenologie erst in der Berliner Rechtsphilosophie auf: „Damit verkennt Hegel in den Grundlinien Recht wie Struktur einer Individualität, die er in der Phänomenologie selbst noch als ,ewige Ironie des Gemeinwesens' verstanden hatte." (Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel, Frankfurt/M. 1996, 156) Für die historische Perspektive der Auflösung traditionaler Sittlichkeit durch das Subjekt bis hin zum „moralischen Genie" der Romantik (Kapitel VI der Phänomenologie) ist dem zwar zuzustimmen. Die Anerkennung des von den herrschenden Normen abweichenden Urteilens und Handelns beschränkt sich aber nach meiner Auffassung auf die moralisch-religiöse Gemeinde. Für die Sittlichkeit deren „moderne" Form in der Phänomenologie allerdings nur in Umrissen sichtbar ist gilt die Kritik der Rechtsphilosophie am Anspruch des „romantischen" Subjekts im wesentlichen schon in Jena. Vgl. dazu auch GustavH. H. Falke, Begriffne Geschichte. Das historische Substrat und die systematische Anordnung Einstellung

zum

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der Bewußtseinsgestalten in Hegels Phänomenologie des Geistes. Interpretation und Kommentar, Berlin 1996, 22. Zur Stellung der Phänomenologie zur Romantik vgl. neben den klassischen Arbeiten von Hirsch und Pöggeler auch Ludwig Siep, Individuality in Hegel's Phenomenology of Spirit, in: The Modern Subject. Conceptions Of The Self In Classical German Philosophy, hrsg. v. Karl Ameriks u. Dieter Sturma, Albany, N.Y. 1995, 131-148. 10 Vgl. dazu vor allem den Abschnitt „Das Gesetz des Herzens und der Wahnsinn des Eigendünkels" in Hegels Phänomenologie des Geistes. -

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46

Ludwig Siep

Selbstverwirklichung fordert Vereinigung mit Individuen und Gemeinschafeiner rechtlich-politischen sowie ästhetischen, religiösen und wissenschaftlichen Kultur. In deren Rechtsverfassung muß das Individuum „Mitgesetzgeber" sein, aber nicht im Sinne Rousseaus und Kants als direkter bzw. repräsentierter Teilnehmer einer permanenten Erneuerung des Gesellschaftsvertrages durch Rechtsgesetze. Sondern durch eine Form der öffentlichen bzw. politischen Existenz, die mit seinen persönlichen Interessen und seinen gesellschaftlichen Funktionen und Kompetenzen vermittelt ist. Was das bedeutet und worin es sich von modernen Formen politischen Lebens unterscheidet, ist Thema des dritten Teils dieses Beitrags. Zuvor geht es mir um die intersubjektiven Verhältnisse, die für eine nichtentfremdete und nicht in permanenter Selbstsuche befangene Selbstverwirklichung notwendig sind. Autonome

ten in

II

Hegel hat die intersubjektiven Bedingungen vernünftiger Selbstbildung bekanntlich mit den Termini „Anerkennen" (so in der Formel von der „Bewegung des Anerkennens") und „Anerkennung" (vor allem im Ausdruck „Kampf um Anerkennung") bezeichnet und systematisiert. Von dieser Konzeption her muß auch sein Verständnis des Verhältnisses von Selbstverwirklichung und politischer Existenz verdeutlicht werden." Hegel hat diesen Begriff wohl von Fichte übernommen. Auch den Grundgedanken Fichtes, daß sich ein vernünftiges Selbstbewußtsein nicht ohne wechselseitige rechtliche und moralische Anerkennung zwischen Individuen ausbilden kann, nimmt Hegel auf. Zugleich bezieht er in diesen notwendigen Prozeß der Anerkennung aber die Elemente der Gemeinschaftsbildung gemäß der klassischen und neuzeitlichen politischen Philosophie ein. Aristoteles' zwei elementare Symbiosen des Hauses, das Verhältnis zwischen Mann und Frau sowie das von Herr und Knecht, werden ebenso als Momente der Anerkennungsbewegung verstanden wie Hobbes' Konzeption des Kampfes um Ehre und Macht als Voraussetzung der Einsicht in die vernünftig-rechtliche Form der Staatsbildung. Gegen Hobbes hält Hegel aber an der Aristotelischen These fest, daß die Einführung des Rechtszustandes 11

Hegels Konzeption des Zusammenhangs von Anerkennungsbeziehungen, sozialen Institutionen und adäquater Entwicklung des individuellen Selbstbewußtseins in den Jenaer Schriften habe ich untersucht in Ludwig Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes, Freiburg i. Brsg.-München 1979. Zu meiner Sicht des Verhältnisses Phänomenologie Rechtsphilosophie in diesen Fragen vgl. auch Ludwig Siep, Die Bewegung des Anerkennens in der Phänomenologie des Geistes, in: G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, hrsg. v. Dietmar Köhler u. Otto Pöggeler, Berlin 1998, 107-127. Als Basis einer systematischen Untersuchung der „intersubjektiven Voraussetzungen [...] die heute erfüllt sein müssen, damit die Subjekte sich in den Bedingungen ihrer Selbstverwirklichung geschützt wissen können", hat Axel Honneth Hegels frühe Jenaer Geistphilosophie in Anspruch genommen (Der Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/M. 1992, 275). Dazu auch: Axel Honneth, Posttraditionale Gemeinschaften. Ein konzeptueller Vorschlag, in: ders., Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie, Frankfurt/M. 2000, 328-338. -

Selbstverwirklichung, Anerkennung

und

politische

47

Existenz

keine artifizielle Vereinbarung ursprünglich selbständiger, buchstäblich souveräner Individuen ist. Er versteht sie vielmehr als teleologischen Prozeß der Verwirklichung der menschlichen Natur als eines Wesens, das nur in der politischen Gemeinschaft seine Autarkie und seine Erfüllung erreichen kann. Dieser Prozeß wird bei Hegel wieder entsprechend den Strukturmomenten des Geistes verstanden: der Rückkehr aus dem Anderssein, der Individuierung und dem Selbstverlust sowie dem Zu-sich-Kommen eines Ganzen in seinen Momenten. Das läßt sich an den Formen der Anerkennung, die Hegel in den Jenaer Schriften einschließlich der Phänomenologie darstellt, gut erkennen. In der Berliner Rechtsphilosophie tritt die Konzeption einer Stufenfolge intersubjektiver Bedingungen der Bewußtseinsbildung dann zwar hinter die Entwicklung der Formen des Rechts, der Moral und der Sittlichkeit aus der Freiheitsidee zurück. Vor allem wird die Figur des Kampfes um Anerkennung nur noch den geschichtlichen Vorstufen des Rechtsstaates zugewiesen.12 Aber die Verwirklichung der Freiheit des Individuums in Familie, Stand und Staat wird an den entscheidenden Stellen wieder in den Termini der Aner-

kennung gefaßt.13 Eine Schwierigkeit, Hegels Aussagen zu den Prozessen individueller Bewußtseinsbildung und Selbstverwirklichung adäquat zu verdeutlichen, liegt in der Verschränkung verschiedener Prozesse in seiner Geistphilosophie. Die Entwicklung des individuellen Bewußtseins ist nicht nur verbunden mit der Gattungs- bzw. der Kulturgeschichte der Menschheit, sondern auch mit einer philosophischen Genese und Legitimation der Rechte, Sitten, Institutionen und Ämter, die der Gegenstand der klassischen und modernen politischen Philosophie bzw. neuzeitlich von Ethik, Rechts- und Staatsphilosophie sind. Präpariert man aus dieser Verschränkung Hegels Aussagen zur Selbstverwirklichung der Individuen heraus, so ergibt sich, vor allem angesichts der Jenaer Texte, folgendes Bild: Ausgangspunkt der Individualisierung ist die soziale Primärgruppe der Familie, in Hegels Entwicklung zunehmend der Kleinfamilie und nicht mehr des Aristotelischen oikos, der noch die Produktion umfaßte. In der Familie kann das Individuum seine körperli-

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Kampf um Anerkennung, der wirklich auf Leben und Tod geht, ist in einem modernen, die Existenzrechte eines jeden anerkennenden Staat keine Notwendigkeit mehr tolerabel ist er allenfalls in einem besonders auf die Rangordnung durch Ehre gegründeten Stand. Resultat der historischen Erfahrung dieses Kampfes ist nicht nur die Notwendigkeit des allgemeinen und gleichen Rechts, sondern auch, daß die Existenz und die Mitgliedschaft in einem „geistigen", auf Recht und Sitten beruhenden Gemeinwesen wichtiger ist als die physische Existenz. Dieses Bewußtsein müssen die Staaten nach Hegel periodisch durch Kriege erneuern eine Gelegenheit, die sie nicht staatspädagogisch suchen müssen, sondern die ihnen durch die Entwicklung der Kultur, gerade auch der Rechtskultur, in immer wieder gewaltsam werdenden Auseinandersetzungen der Völker gegeben wird (vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts [Theorie-Werkausgabe, Bd. 7], Frankfurt/M. 1970, §§ 57, 71, 324ff., 334). Zu Hegels Rechtfertigung des Krieges vgl. auch Ludwig Siep, Kant and Hegel on Peace and International Law, in: Proceedings of the Eighth International Kant Congress Memphis 1995, hrsg. v. Hoke Robinson, 2 Bde. in 5 Bdn., Milwaukee, Wis. 1995, Bd. 1/1, 259-272. 13 Vgl. unten, 51 f.

12

Der

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chen und emotionalen Bedürfnisse befriedigen und sein Selbstbild nach dem Vorbild und den Erwartungen seiner Umgebung, vor allem der Eltern, entwickeln. Als einzigartig, unverwechsel- und unersetzbar erfahrt es sich in der Liebe eines anderen, dessen eigene Individualität seinerseits von ihm anerkannt werden will. In der Liebe kann das Individuum aber auch seine Konturen verlieren und die des anderen nicht mehr wahrnehmen. Ausgeprägt wird die Individualität erst durch die Bestreitung des Selbstbewußtseins von Seiten des anderen und die Selbstbehauptung dagegen. Aber auch der Kampf und die erzwungene Anerkennung des eigenen Selbstbildes führt nur zu wechselseitiger Abhängigkeit, solange nicht bewußt geworden ist, daß wechselseitig anerkannte Individualisierung ihre Grundlage in einem gemeinsamen bewußten Willen hat. Seine erste Stufe ist der Wille zum Recht.14 Träger des gemeinsamen Willens zu den individuellen Rechten kann für Hegel keine bloße Vertragsgemeinschaft sein, sondern ein selbständiger und selbstbewußter Allgemeinwille. In der Selbständigkeit der Entwicklung einer Rechtskultur sowie im Selbstbewußtsein, das sie durch die Entscheidungen und das Wissen der Rechtsprechung und der Rechtswissenschaft gewinnt, zeigt sich eine eigene, die natürlichen Individuen übergreifende geistige Individualität. Individualisierung im Sinne der Entwicklung des Selbstbewußtseins einzelner Menschen hat daher zum Ziel, daß sich der einzelne zu den anderen ins Verhältnis setzt und sich über seine Stellung in einem organisierten Gemeinwesen klarwird. Den Prozeß, sich den Sinn dieser objektiven Institutionen anzueignen und darin die eigene Autonomie zu bewahren, nennt Hegel „Bildung". Er umfaßt die Kantische Revolution der Denkungsart, d. h. die Unterordnung des Selbstinteresses unter die vernünftigen Prinzipien des Rechts sowie der institutionellen Voraussetzungen der arbeitsteiligen Gesellschaft und des handlungsfähigen Staates. Sie hat aber eher die Züge der Sozialisation als der Konversion, der Entäußerung als der moralischen Verinnerlichung. Das Individuum muß darauf verzichten, nach dem „Gesetz seines Herzens" zu handeln und die soziale Wirklichkeit an seinem privaten moralischen Urteil zu messen. Worauf es ankommt, ist die Bewältigung sozialer Aufgaben in Familie, Beruf und Staat. Moralische Werte sind in den Institutionen und in den kompetenten, gemeinwohlbezogenen Handlungs- und Denkweisen der Berufsstände verwirklicht. Berufliche und soziale Kompetenz, auch hinsichtlich der symbolischen Kommunikation, der Alltags- und Feiertagsrituale, wird von den Standesmitgliedern anerkannt durch die Verleihung von Oualifikationen, durch Ansehen und durch geregelte Unterstützung in Notlagen. Das sind vor allem nach der Berliner Rechtsphilosophie die interaktiven Momente sittlicher Anerkennung in Familie und Gesellschaft. Man kann nicht bestreiten, daß Hegels Konzeption der Selbstverwirklichung ein gerütteltes Maß an sozialem Konformismus enthält. Gewissenstäter und Sozialrevolutionäre haben die Rationalität einer arbeitsteiligen Gesellschaft und ihrer verschiedenen ausdif14

Darin ist auch der Kampf „aufgehoben", d.h. institutionell auf Dauer gestellt, zugleich aber „entschärft" und in den allgemeinen Willen zum Recht integriert. Denn zu den Rechtsverhältnissen der Eigentumsmarktgesellschaft gehört der prinzipiell stets mögliche Rechtsstreit (vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 84-86).

Selbstverwirklichung, Anerkennung

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Existenz

ferenzierten Systeme in aller Regel nicht begriffen. Sie verstehen auch die historische Logik der Ausbildung des modernen Staates nicht. Statt dessen versuchen sie, ihre privaten Meinungen zu öffentlichen Standards zu machen, und üben damit Gesinnungszwänge gegen andere aus. Wechselseitige Anerkennung setzt den Verzicht auf öffentliche Durchsetzung privater moralischer Urteile, auch eines nicht rechtskonformen Gewissens, voraus. Das beinhaltet eine zumindest phasenweise Entfremdung vom eigenen Selbstbild. Gibt es bei Hegel also keine Entsprechung zum Moment des Ausbrechens aus den sozialen Konventionen, wie es für den modernen Begriff der Selbstverwirklichung so charakteristisch ist? Das wird zweifelhaft, wenn man bedenkt, daß die Figur des Bruches des einzelnen mit dem Recht und mit den öffentlichen moralischen Urteilen in allen wichtigen Texten zur Geistphilosophie Hegels eine bedeutende Funktion hat. Die antike Tragödie, der christliche Gedanke der Versöhnung mit dem Sünder und zwar nicht nur durch göttliche Gnade, sondern auch durch das Verständnis der religiösen Gemeinde -, schließlich auch die straf- und staatsrechtlichen Momente von Verbrechen, Strafe und Begnadigung sind für ihn notwendige Momente des Gemeingeistes.15 Aber zum einen handelt es sich dabei offenbar nicht um private Vorgänge wie die Befreiung des Individuums von sozialen Bindungen und Konventionen auf der Suche nach seiner authentischen Lebensweise. Zum anderen gehört der radikale Bruch mit Rechtsgesetzen und Standessitten nicht zur Notwendigkeit jedes individuellen Reifeprozesses. Es genügt offenbar, diese Momente der Selbstisolierung des Verbrechers und der Reintegration durch Strafe oder Vergebung als Momente der Rechtsverwirklichung und damit der Selbstreflexion des allen gemeinsamen Geistes zu begreifen. Der Gesetzesbruch, auch das Kapitalverbrechen, sind nicht, wie noch bei Fichte, ein Rückfall in den Naturzustand, sondern gehören zum normalen staatlichen Leben. So, wie die Staaten den Gemeingeist der Bürger durch gelegentliche Ausnahmezustände erproben und beleben müssen, so gibt ihnen das Verbrechen die Gelegenheit, die Geltung des Rechts gegen jede Form von Selbstprivilegierung unter Beweis zu stellen. Aber Gesetze können sich auch überleben, hinter dem vernünftigen Zeitgeist zurückbleiben. Dann werden die Übertretungen vom seltenen Ausnahmefall zur Alltäglichkeit und erzwingen damit die Fortbildung des Rechtsbewußtseins und die Novellierung der Gesetze. Gewiß hat Hegel nicht an das Tempo moderner Gesetzes- und Rechtsreformen gedacht. Wie für Rousseau, so ist auch für ihn die Zahl der Gesetze klein und ihre Veränderungsbedürftigkeit gering. Zugleich kritisiert er aber schon früh die mechanistische Vorstellung des Rechtes als exakt bestimmbarer und lückenlos wirksamer „zweiter Natur" bei Kant, Fichte und dem frühen Schelling. Zwar muß das Recht zur gesinnungsunabhängigen sozialen Realität werden. Dafür muß es Kodifikationen, stabile Verfahren und gewohnheitsmäßige Rechtsgesinnung geben. Aber alle mechanischen Formen des individuellen und des Gemeingeistes müssen vor Verknö-

15

Bedeutung der „Tragödie im Sittlichen" für die Anerkennung individueller Selbstverwirklichung vgl. Menke, Tragödie im Sittlichen. Zur Bedeutung der Begnadigung für Hegels Gedanken der Versöhnung des Gemeingeists mit dem Außenseiter vgl. ebenda, 310 und Siep, Individuality in Hegel's Phenomenology of Spirit, 142 f.

Zur

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Ludwig Siep

und dadurch, wie Hegel in enger Anlehnung an naturphilosophische Gedanken vor dem geistigen Tode bewahrt werden.16 Dann aber ist die Fortbildung des Rechtes durch Abweichungen und die Belebung sozialer Konventionen durch individuelle Interpretationen eine Notwendigkeit für den lebendigen Geist der Sitten und Institutionen. Nach dieser, in Hegels Texten allerdings nicht sehr expliziten, Konzeption würde Selbstverwirklichung in sozialen Rollen erfordern, diesen Rollen und Funktionen den eigenen Stempel aufzudrücken, sie analog zur Inszenierung von Kunstwerken nach der eigenen Einsicht in das Notwendige und Zeitgemäße, auf persönliche, in Maßen auch innovatorische Weise zu „inszenieren". Natürlich ist der Spielraum der persönlichen Auslegung eines Rechtes wesentlich enger als bei einer Inszenierung von Kunstwerken, vor allem wenn man nicht ein durch wissenschaftliche Kompetenz, persönliche Erfahrung und öffentliche Zustimmung ausgewiesener Richter ist. Aber es kann auch in der Hegeischen Konzeption beträchtliche graduelle Unterschiede hinsichtlich dieses Interpretationsspielraumes geben von den strikten Regeln des kodifizierten Rechts bis zu den familiären Umgangsweisen, den ständischen Zeremoniellen oder den Pflichten politischer Ämter. Wenn Selbstverwirklichung bei Hegel wesentlich rigider als heute an die Erfüllung sozialer Aufgaben und die Ausfüllung sozialer Rollen gebunden ist, so hat das zwei Gründe: Der erste liegt in der obenerwähnten Vorstellung, daß Menschen als geistige Wesen zwar graduell abweichende, aber im wesentlichen gleiche Prozesse der Selbstaneignung, der Individualisierung und der Integration in Gemeinschaften durchlaufen müssen. Dabei wird ihr Selbstbildnis substanzlos und unfrei, wenn es sich nur aus der Distanz zu den öffentlichen Sitten, der Befreiung von Erwartungen und der Suche nach Einmaligkeit konstituiert. Es wird aber andererseits auch geistlos und dumpf, wenn es sich bloß in angepaßter, rigider Pflichterfüllung und Konventionalität erschöpft. Nur die persönliche Deutung und Lösung gemeinsamer und institutioneller Aufgaben sichert bleibende

cherung

feststellt,

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Selbsterfüllung. Der zweite Grund für Hegels Skepsis gegen Selbstverwirklichung durch Nonkonformismus liegt in der Bedeutung der Anerkennung für das Selbstbewußtsein. Unser Wissen von uns als selbständigen und selbstbestimmten Individuen setzt nicht nur die Bestätigung und die Bestreitung, die Liebe und die Auseinandersetzung mit anderen, ebenso intersubjektiv „empfindlichen" Wesen voraus. Es bedarf auch der Verständlichkeit und der möglichen Integrierbarkeit in ein gemeinsames Bewußtsein von dem, was gesellschaftlich notwendige und anerkennenswerte Aufgaben, Rollen und Leistungen sind. Ein Geistwesen ist immer Teil eines gemeinsamen Bewußtseins und seiner Entwicklungsprozesse. Es kann seine Erfüllung nicht durch Flucht ins gänzlich Private finden, also in eine Authentizität, die nicht in berechtigte soziale Erwartungen integrierbar ist. Aber müssen soziale Lebensweisen auch politische sein? Muß der Mensch wirklich, um kein beschränkter Privat- oder Fach-„Idiot" zu sein, ein „öffentliches Leben führen" 16

Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), 3 Bde. (Theorie-Werkausgabe, Bde. 8-10), Frankfurt/M. 1970, Bd. 2, § 375 u. Bd. 3, § 410.

Selbstverwirklichung, Anerkennung

und

politische

Existenz

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und an den Funktionen des politischen Staates teilnehmen? Was macht eine politische Existenz im Sinne Hegels überhaupt aus? Diesen Fragen will ich mich im Schlußteil meiner Ausführungen zuwenden.

Ill Die Selbstverwirklichung des Individuums als eines geistigen Wesens kann nach Hegel nicht allein in privater Tätigkeit oder privatem Genuß gelingen. In § 207 der Grundlinien der Philosophie des Rechts heißt es: Das Individuum gibt sich nur Wirklichkeit, indem es in das Dasein überhaupt, somit in die bestimmte Besonderheit tritt, hiermit ausschließend sich auf eine der besonderen Sphären des Bedürfnisses beschränkt. Die sittliche Gesinnung in diesem Systeme ist daher die Rechtschaffenheit und die Standesehre, sich, und zwar aus eigener Bestimmung, durch seine Tätigkeit, Fleiß und Geschicklichkeit zum Gliede eines der Momente der bürgerlichen Gesellschaft zu machen und als solches zu erhalten und nur durch diese Vermittlung mit dem Allgemeinen für sich zu sorgen sowie dadurch in seiner Vorstellung und der Vorstellung anderer anerkannt zu sein.

Die Selbstverwirklichung setzt also einerseits die eigene Bestimmung, d.h. die Wahl des Standes voraus, wie Hegel in scharfer Absetzung von der Fremdbestimmung hervorhebt sei es durch „Regenten" wie in Sparta und in der Platonischen Politeia oder durch Geburt und religiöse Autorität wie im indischen Kastensystem.17 Die Zulassung zu einem Stand kann nur an Qualifikationsprüfungen und an die Wahrung des Standesethos gebunden sein. In der persönlichen Wahl eines Berufes liegt also das entscheidende Moment der „Besonderung" innerhalb der Gesellschaft. Dazu kommt die Erfüllung eigener Wünsche durch Eigentumserwerb und Austausch auf dem Markt. Dies alles ist aber vermittelt durch das „Allgemeine" der Rechtsvorschriften, der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten und der Kenntnisse und Verhaltensvorschriften des Berufsstandes. Für Hegel sind die Berufe und ihre Zuordnung zum Agrar-, Gewerbe- und Beamtenstand nicht nur für die Erhaltung der gesellschaftlichen Bedürfnisse notwendig, sondern sie entsprechen auch der begrifflichen Struktur und der ihr folgenden Entwicklung des Geistes. Ihre Notwendigkeit ist in den Begriffsmomenten der Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit enthalten. Indem das Individuum seinen Unterhalt durch einen im doppelten Sinne gesellschaftlich notwendigen Beruf verdient, ist es anerkannt, d.h. vom gemeinsamen Bewußtsein aller getragen. Erst dadurch realisiert es seine geistige Natur. Denn das Wesen des Geistes war ja nicht nur, sich auf dem Hintergrund eines gemeinsamen Bewußtseins seiner Besonderheit bewußt zu werden, sondern auch, als ein Ganzes sich in seinen gedanklich notwendigen Momenten zu manifestieren und zu reflektieren. Aber selbst in dieser sozialen Auffassung von Selbsterhaltung und Selbstverwirklichung ist die Bestimmung des Menschen, die wahre Natur eines geistigen Wesens, noch nicht -

17

Vgl. Hegel,

Grundlinien der

Philosophie

des Rechts,

§ 206.

Ludwig Siep

52 Die berühmt-berüchtigten daran keinen Zweifel. So heißt es in

erschöpft.

Formulierungen Hegels §

in den

§§ 257-260 lassen

260:

Der Staat ist die Wirklichkeit der konkreten Freiheit; die konkrete Freiheit aber besteht darin, daß die persönliche Einzelheit und deren besondere Interessen sowohl ihre vollständige Entwicklung und die Anerkennung ihres Rechts für sich (im Systeme der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft) haben, als sie durch sich selbst in das Interesse des Allgemeinen teils

teils mit Wissen und Willen dasselbe und zwar als ihren eigenen substantiellen Geist anerkennen und für dasselbe als ihren Endzweck tätig sind, so daß weder das Allgemeine ohne das besondere Interesse, Wissen und Wollen gelte und vollbracht werde, noch daß die Individuen bloß für das letztere als Privatpersonen leben und nicht zugleich in und für das Allgemeine wollen und eine dieses Zwecks bewußte Wirksamkeit haben.

übergehen,

Der Staat muß nach Hegel eine doppelte Funktion erfüllen: Er muß einerseits die Ausdifferenzierung der Sphären von Familie und Gesellschaft, sowie innerhalb der Gesellschaft die der Berufsstände, ermöglichen und garantieren. Dafür ist nicht nur der Rechtsschutz, sondern auch eine ganze Reihe von interventionistischen Maßnahmen nötig, in denen Hegel den modernen Sozialstaat beträchtlich antizipiert. Zum anderen muß der Staat dem einzelnen aber auch einen letzten Zweck des Handelns zur Verfügung stellen, nämlich die vernünftige Verfassung des Gemeinwesens zu erhalten und an der Fortbildung der Rechtskultur und der übrigen kulturellen Sphären mitzuwirken. Das geistige Lebewesen ist notwendig ein politisches, so wie die Vernunft des Aristotelischen zoon logon echón die politische war. Durch sie wird in öffentlicher Rede und Entscheidung gemeinsam festgelegt, was für alle gerecht und ungerecht, nützlich und schädlich ist.18 In diesem Staat muß das Recht der Individuen anerkannt sein, ihre persönlichen Interessen in den selbständigen Sphären der Familie und der Gesellschaft, mit ihren Marktprozessen und ihren selbstorganisierten Berufen, zu verfolgen. Daß diese mit den Interessen der anderen verbunden sind, aber auch mit allgemeinen Gesetzen, seien diese unbewußter Natur wie die ökonomischen, seien es explizite Normen wie die Rechtsgesetze, läßt das Individuum unbewußt in den allgemeinen Willen „übergehen". Aber es muß sich seiner Funktion für den Staat und seines Anteils an der Bildung des allgemeinen Willens auch bewußt werden und sie bejahen. Ohne dies, etwa in einem Staat der Eliten und Experten, würde der allgemeine Geist selber tot sein. Es ist das Prinzip des modernen Staates, daß in ihm die notwendige Verbindung von individueller Persönlichkeitsentwicklung und Mitwirkung an den staatlichen Aufgaben bewußt und von den Individuen gewollt ist. Nur in diesem Bewußtsein gewinnen die Individuen „Substanz" und das Gemeinwesen Lebendigkeit. Diese Grundthese gilt, auch wenn Hegel die politische Beteiligung in deutlich vordemokratischer Weise konzipiert.19 Volkssouveränität, allgemeines Wahlrecht, Primat der 18 19

Vgl. Aristoteles, Politik 1253al0ff. Zwar ist Horstmann recht zu geben, wenn er konstatiert: „Thus in Hegel's model state, both chambers are constituted without the direct (Herv. L.S.) political involvement of the population." (Rolf-Peter Horstmann, [Art.] Hegel, in: Routledge Encyclopedia of Philosophy, hrsg. v. Edward Craig, 10 Bde., London-New York 1998, Bd. 4, 259-280, hier 275) Die Beteili-

Selbstverwirklichung, Anerkennung

und

politische Existenz

53

Legislative u.a. machen nach Hegel den Staat zum Spielball privater Interessen und zufalliger Mehrheiten: Das „Wählen [...] reduziert sich auf ein geringes Spiel der Meinung und der Willkür" (§ 311). Die Abgeordneten haben vielmehr die Lücken in der Kompetenz der fürstlichen Beamtenregierung, die auf Wissenschaft beruht, durch ihre Detailkenntnisse

zu

ergänzen.

von selbst das Interesse dar, daß unter den Abgeordneten sich für jeden besongroßen Zweig der Gesellschaft, z.B. für den Handel, für die Fabriken usf. Individuen befinden, die ihn gründlich kennen und ihm selbst angehören [...]. Wenn die Abgeordneten als Repräsentanten betrachtet werden, so hat dies einen organisch vernünftigen Sinn nur dann,

Es bietet sich

deren

daß

[!]

sie nicht Repräsentanten als von Einzelnen, von einer Menge seien, sondern Repräeiner der wesentlichen Sphären der Gesellschaft, Repräsentanten ihrer großen In-

sentanten

teressen.

(Ebd.)

Wenn dies auch sicher zu vormodern korporatistischen Staatskonzeptionen gehört, so wird man doch zugestehen müssen, daß auch in modernen Parlamentsfraktionen die einflußreichsten gesellschaftlichen Gruppen repräsentiert sind und überdies schon in die Gesetzesvorschläge die Kompetenz und die Interessen von Verbandsvertretern eingehen. Insofern enthält auch die moderne Demokratie korporatistische Elemente. Das bewußte Teilnehmen am allgemeinen Willen ist bei Hegel nicht die demokrati-

sche Wahl und noch weniger die Teilnahme an der Konzeption einer mehrheitsfähigen Politik in politischen Parteien. Es ist vermittelt über berufsständische Beteiligung an der Gesetzgebung -jedenfalls sofern es nicht direkt auf Staatsaufgaben bezogen ist wie beim Stand der Allgemeinheit, dem wissenschaftlich gebildeten Beamtentum. Aber ohne das Bewußtsein und die Absicht, auf wie immer vermittelte Art am Gemeinwohl mitzuwirken, kann sich die geistige Existenz des Individuums nicht verwirklichen. Ohne die bewußte Vereinigung zu einem selbstbestimmten und handlungsfähigen Gemeinwesen, das auf vernünftigen Rechtsprinzipien beruht, unterschreitet das Individuum sein Potential als vernünftiges Lebewesen. Dieses Defizit ist bei Hegel, nicht anders als der Verzicht auf Autonomie bei Rousseau oder Kant, ein Verstoß gegen die Pflicht, ein vollständiger Mensch zu sein. Hegels These zum anfangs erwähnten Streit über die negative oder positive Aufgabe des Staates für die individuelle Selbstverwirklichung ist eindeutig: Der Staat hat nicht nur günstige Bedingungen für private Selbstfindungs- und Verwirklichungsprozesse bereitzustellen. Er muß den Individuen vielmehr die Beteiligung an einem öffentlichen Leben ermöglichen,20 in dem die Rechtsordnung und die Kultur, nicht nur die politische, songung an der Gesetzgebung über die Abordnung der Korporationen ist aber nach meiner Auffassung, auch wenn sie erheblich „kanalisiert" ist, doch eine echte und für die sittliche Existenz eines jeden essentielle Teilnahme am staatlichen Handeln. Hegel hebt ja auch die Funktion der Ständeversammlungen für die Bildung der öffentlichen Meinung hervor (Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 315). 20 Hegel hat in den Jenaer Schriften den griechischen Begriff des politeuein mit dem Ausdruck „ein öffentliches Leben führen" übersetzt. Man kann sich fragen, ob er in der Berliner Rechtsphilosophie nicht hinter seinen frühen, an der antiken Republik orientierten Begriff des politischen Lebewesens zurückfallt.

54

Ludwig Siep

dem auch die wissenschaftliche, ästhetische und religiöse, weiterentwickelt wird. Er muß lohnende Gemeinschaftsaufgaben bereitstellen und die Kompetenz der Individuen zu ihrer Erfüllung fördern. Diese politische Existenz ist freilich vorbereitet und vermittelt durch eine soziale, in der das Individuum seine eigene Besonderheit nur so entwickeln kann, daß es zugleich soziale seien es familiäre oder berufsständische Pflichten erfüllt und dafür Anerkennung erhält. Eines der Probleme der Aktualisierung dieses Modells liegt darin, daß in einer technologischen Gesellschaft, die menschliche Arbeit zunehmend erübrigt oder in Bereiche der Freizeit- und Unterhaltungsindustrie verlagert, gesellschaftlich notwendige Berufe und Berufsstände immer seltener werden.21 Die Produktion von Gütern und das Angebot von Dienstleistungen sowie ihre Verteilung über den Markt wird eine Beziehung „von privat zu privat". Ihre Anerkennung besteht fast nur noch in monetären Vergütungen oder anderen privaten „Gratifikationen". Hinzu kommen andere Prozesse, die Hegels Konzeption der Vermittlung von besonderen Interessen und Gemeinschaftsaufgaben sozusagen an den Gelenkstellen treffen: Die Ersetzung der Familie durch temporäre Lebensgemeinschaften oder die Entstehung überstaatlicher Organisationen im Bereich der Wirtschaft, des Rechts, der Verwaltung oder der Kultur. „Corporate identity" und die Anerkennung durch Beiträge zum staatlichen Gemeinwohl können auseinandertreten. Öffentliche Aufgaben können auch direkt auf die internationale Gemeinschaft oder Menschen in anderen Weltregionen bezogen sein. Einige dieser Veränderungen könnten durch hermeneutisch legitime Aktualisierungen von Hegels Thesen sozusagen aufgefangen werden. So sind etwa Hegels Aussagen über die Solidarität innerhalb der Familie und ihren überrechtlichen Verpflichtungscharakter sicher auch auf andere Lebensgemeinschaften anwendbar wenn man einmal von Hegels Geschlechtermetaphysik absieht.22 Es bleiben aber Grenzen, die eine zu weit gehende Aktualisierung Hegels ausschließen, vor allem hinsichtlich des absoluten Primats der Einzelstaaten, die mit einer relativ homogenen Kultur verknüpft sind. Bedenkenswert scheint mir gleichwohl die These, daß der Prozeß der Individualisierung, Bewußtwerdung und Selbstverwirklichung nicht gelingt, wenn er nur an den Zielen der individuellen Selbstfindung, der Erfindung eines Lebensplanes und seiner Realisierung orientiert ist. -

-

-

21 22

Auflösung der Berufsstände und des ständischen Ehrbegriffs vgl. Honneth, Kampf um Anerkennung, 202 ff. Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 165: „Die natürliche Bestimmtheit der beiden Geschlechter erhält durch ihre Vernünftigkeit intellektuelle und sittliche Bedeutung." Für Hegel ist also der natürliche Unterschied nicht schon durch sich selbst d.h. aufgrund einer Metaphysik der Natur oder der göttlichen Schöpfungsordnung ein wesentlicher, sondern erst durch die sittliche Ordnung der Institution Familie und die „Rollenverteilung" in ihr. Diese aber ist nicht historisch zufallig, sondern „durch den Unterschied bestimmt, in welchen sich die sittliche Substantialität als Begriff an sich selbst dirimiert, um aus ihm ihre Lebendigkeit als konkrete Einheit zu gewinnen". So wie für die ältere Metaphysik war es für Hegel undenkbar, daß ein physisch und kulturell so fundamentaler Unterschied wie die Geschlechterdifferenz nicht auch eine begriffliche Notwendigkeit zum Ausdruck bringe. Zur

-

-

Selbstverwirklichung, Anerkennung

und

politische

55

Existenz

Von aktueller Bedeutung scheint mir auch Hegels These, daß die Entstehung von individuellem Selbstbewußtsein schon auf dem Hintergrund gemeinsamer Konventionen und Werte erfolgt und daß sie von der unterstützenden und kontrastierenden Anerkennung anderer abhängt, die letztlich nur dann vernünftig und verläßlich ist, wenn sie sich auf Beiträge zur Lösung gemeinsamer Aufgaben bezieht. Man darf und muß das Netz sozialer Erwartungen dann zerreißen, wenn es einen wirklich zur dauerhaften Selbstentfremdung zwingt. Aber die Freiheit sozialer Ungebundenheit bleibt ein illusionäres Ziel. Man wird das aufgegebene Netz durch ein neues ersetzen müssen. Selbstverwirklichung bleibt auf die Anerkennung bei der Erfüllung gemeinsamer Aufgaben angewiesen. Wenn Menschen auf diese Weise von sozialer Anerkennung und Verständigung über das Wichtige und Unwichtige, Notwendige und Überflüssige, Gerechte und Ungerechte abhängen, dann ist es fraglich, ob sich die Ordnung und die Leitung eines Gemeinwesens beschränken kann auf den Schutz der individuellen Interessen und die rechtsstaatliche Lösung von Interessenkonflikten. Die Ermöglichung der Beteiligung an sinnvollen Gemeinschaftsaufgaben ist ein mindestens ebenso wichtiges politisches Ziel. Über diese Aufgaben und über die Güter und Werte, die ihnen zugrunde liegen, muß ein öffentlicher Dialog stattfinden. Es geht nicht nur darum, auf wieviel Prozent man den Anteil der Staatsausgaben senkt. Wie schon erwähnt, sind Güter und Werte heute weitgehend inkorporiert und konkretisiert in sozialen und politischen Institutionen.23 Gesundheit etwa ist ein anerkannter Wert, den zu realisieren wir ein riesiges, teils privates, teils öffentliches Gesundheitssystem unterhalten. Aber über das, was Gesundheit ist, was dazu gehört und welcher menschliche Körper Gegenstand unserer Gesundheitsdienste ist, der „ererbte" oder der technisch in Zukunft mögliche, muß eine permanente öffentliche Diskussion stattfinden. Das gleiche gilt für die Güter der Sicherheit, der Mobilität, der Bildung und auch derjenigen Aufgaben und Ziele der Wissenschaft, die durch Belastungen aller Bürger zu finanzieren sind. Ob die Entlastung des Staates von mehr und mehr dieser Gemeinschaftsaufgaben noch vereinbar ist mit der gleichen Beteiligung aller an der Festlegung und Realisierung öffentlicher Güter, ist ein wichtiges Thema politischer Philosophie heute. Wenn die politische Existenz zur Selbstverwirklichung von vernünftigen oder geistigen Wesen gehört, dann kann Politik nicht den Experten überlassen werden auch nicht der Konkurrenz und Kooperation der Systeme von Politik und Wirtschaft, wie es, vergröbert gesagt, der systemtheoretischen Diagnose etwa Luhmanns entspräche.24 Ebensowenig können sich die Ziele der Politik darauf beschränken, die materiellen Mittel und institutionellen Bedingungen privater Interessenverfolgung zu optimieren. Ohnehin werden -

23

24

Vgl. dazu Franz-Xaver Kaufmann, Democracy Versus Values?, in: Democracy. Some Acute Questions. The Proceedings of the Fourth Plenary Session of the Pontifical Academy of Social Sciences. 22.-25. April 1998, hrsg. v. Hans F. Zacher, Vatican City 1999, 115-143. „Diese Umstrukturierungen im Verhältnis von Gesellschaft und Wirtschaft haben dazu beigetragen, den gesamtgesellschaftlichen Primat der Politik durch einen Primat der Wirtschaft zu ersetzen." Niklas Luhmann, Gerechtigkeit in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Frankfurt/M. 1981, 374-418, hier 383.

56

dabei, wie die Folgen

Ludwig Siep

von Energie-, Verkehrs- oder Kommunikationspolitik zeigen, kollektive und individuelle Verhaltensweisen und Lebensformen tiefgreifend verändert. Dasselbe wird sich noch radikaler in den Bereichen der Gesundheits-, Wissenschaftsund Technologiepolitik erweisen. Es geht um Wertentscheidungen und nicht nur um die Förderung eines Wirtschaftsstandorts. Und daran müssen politische Lebewesen in irgendeiner Art beteiligt sein. Sonst verkommt die Selbstverwirklichung zum belanglos ästhetischen Spiel im Schatten der Mächtigen.

Andreas Wildt

Gibt

es

Marxsche Kriterien der

politischen Gerechtigkeit?

Karl Marx war der Meinung, daß Recht und Moral, der Kernbestand sozialer Normen, nicht dazu geeignet sind, eine Gesellschaft wirklich gerecht oder normativ richtig zu formen. Mit dieser Skepsis hatte Marx meines Erachtens Recht. Er zog daraus die Konsequenz, Recht und Moral als Formen für eine humane Gesellschaft zu verwerfen und die menschliche Emanzipation auch als eine Emanzipation von Recht und Moral zu verstehen. Das aber war eine Illusion, die in ihren Konsequenzen viel schlimmer ist als die Illusion, daß Recht und Moral die Aufgabe der menschlichen Emanzipation befriedigend lösen könnten. Marx' berechtigte Skepsis bleibt aber ein wichtiger Anstoß, um sich mit den prinzipiellen Schwierigkeiten und Grenzen einer Realisierung von politisch-sozialer Gerechtigkeit auseinanderzusetzen. Meine Grundthese zum Thema möchte ich vorgreifend so formulieren: Es gibt durchaus Marxsche Kriterien der Gerechtigkeit. Diese sind allerdings nicht originell, sondern einfach Ausdruck eines radikalen Universalismus und Egalitarismus. Aber sie sind bei Marx gerade keine ausreichenden Kriterien der politischen Gerechtigkeit oder gerechten Politik. Die spezifisch politische Gerechtigkeit hat vielmehr auch inegalitäre und relativistisch-partikularistische Züge. Ähnlich wie die Moral normativ weiter reicht als jede Gerechtigkeit, reicht die vorpolitische Gerechtigkeit weiter als jede gerechte Politik. Marx kann unserem Nachdenken über Gerechtigkeit, Recht und Moral demnach wichtige Anstöße geben. Die Erwartung wäre allerdings schnell enttäuscht, daß bei Marx so etwas wie eine Theorie oder auch nur Konzeption von Moral und Gerechtigkeit aufgefunden oder rekonstruiert werden könnte. Dafür ist der Textbefund viel zu fragmentarisch und widersprüchlich. Aber gerade diese Widersprüchlichkeit ist im Kontext von Marx' charakteristischer Verbindung von theoretischer Gründlichkeit und politischem Engagement ein Stachel -jedenfalls für mich -, um die gewohnte Art des Denkens über Moral und Gerechtigkeit zu hinterfragen. Mein Ergebnis ist eine Differenzierung innerhalb unserer üblichen Vorstellungen von Moral, Recht und Gerechtigkeit, die weit über das hinausgeht, was sowohl in der Umgangssprache als auch in der bisherigen Ideengeschichte üblich und bekannt ist. Erst wenn man unsere üblichen Ideen von Moral und Recht jeweils mindestens dreifach differenziert, werden sie geeignet, unsere wohlüberlegten Intuitionen zur moralischen Bewertung von sozialen Verhältnissen und sozialem Verhalten überzeugend zu formulieren. Dabei

Andreas Wildt

58

wird sich auch herausstellen, daß die Idee der „Gerechtigkeit" in gewisser Hinsicht überhaupt unzureichend und irreführend ist zur moralischen Bewertung von Institutionen und von Politik. Insofern ist die gegebene Formulierung meines Themas, in der nur von „politischer Gerechtigkeit" die Rede ist, zu eng. Mehr als um Gerechtigkeit geht es mir um die Realisierung von moralischen Rechten in einem mehrfachen Sinn. Meine Darstellung möchte ich folgendermaßen gliedern. Erstens gebe ich einen kurzen Überblick über Marx' Aussagen zu Moral, Recht und Gerechtigkeit sowie über mögliche Strategien, sie sinnvoll zu interpretieren. Zweitens analysiere ich exemplarisch Marx' erstaunliche Aussagen über Fragen der Gerechtigkeit und des Rechts im kapitalistischen Lohnverhältnis. Drittens mache ich Vorschläge, wie die Begriffe der „Rechte" und der „Gerechtigkeit" differenziert werden müssen, um einige zentrale Aussagen von Marx verständlich und überzeugend zu machen. Viertens behandele ich kurz Marx' Ideen über Rechte und Pflichten materieller Verteilung im „Kommunismus". Und fünftens nehme ich Stellung zu einigen Kontroversen der heutigen Debatte über politische Gerechtigkeit aus der Sicht der Ergebnisse meiner Marxdeutung.

1.

Moral, Gerechtigkeit und Recht bei

Marx

Marx hat keine

eigene Arbeit zu Fragen der Moral oder der Gerechtigkeit und der Rechte oder auch nur konzipiert. In Engels' Anti-Dühring gibt es einige Kapitel zu geschrieben Gerechtigkeit und Moral, die aber weitgehend auf ihren polemischen Kontext begrenzt sind und nicht ohne weiteres als Erläuterungen Marxscher Positionen gelten können. Aus Marx' verstreuten Bemerkungen zum Thema, die bezüglich „Gerechtigkeit" übrigens dünn gesät sind, läßt sich schon deshalb ein Ansatz zu einer Konzeption nicht ohne weiteres entnehmen, weil sie ganz offensichtlich widersprüchlich sind, mindestens prima facie. Die Marx-Forschung der Gegenwart hat diesen Tatbestand auch mit aller wünschenswerten Klarheit und Genauigkeit herausgearbeitet.1 Die genannte Widersprüchlichkeit besteht darin, daß Marx und Engels einerseits an exponierten und programmatischen Stellen jede Moral und jede normative Rede von Gerechtigkeit und Moral abgelehnt haben, jedenfalls aber jeden Anspruch auf theoretische Begründungen von oder Folgerungen aus dieser Rede. So heißt es schon in der Deutschen Ideologie, daß „die Kommunisten überhaupt keine Moral predigen" (3: 229)2 und „aller Moral [...] den Stab gebrochen" haben (3: 404). Das Kommunistische Manifest bezeichnet die Moral und die Gesetze als „bürgerliche Vorurteile" und akzeptiert ausdrücklich den Vorwurf, die Kommunisten wollten dieselben „abschaffen, statt sie neu zu gestalten" (4: 480). In der „materialistischen Geschichtsauffassung" von Marx und Engels gelten Moral und Gerechtigkeit grundsätzlich in einem stark pejorativen Sinne als „Ideologie" -

1 2

-

Zur einschlägigen Literatur siehe Andreas Wildt, Paradoxien in der Marxschen Moralkritik und ihre Auflösungen, in: Logos 4 (1997), 210-242. Im laufenden Text bezeichnen Zahlen in Klammern zunächst die Bände und, nach dem Doppelpunkt, die Seiten der Marx Engels Werke (hrsg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, 43 Bde., Berlin 1956-1990).

Marxsche Kriterien der

politischen Gerechtigkeit

59

oder „Überbau". Dazu paßt, daß Marx im Kapital betont, die Aneignung des vom Lohnarbeiter geschaffenen Mehrwerts durch den Kapitalisten sei dennoch gegenüber jenem „kein Unrecht" (23: 208). Noch in seinen späten Randglossen zum Gothaer Programm der SPD denunziert Marx die dortige Rede von „gleichen Rechten" und „gerechter Verteilung" als „reaktionären Phrasenkram" und „ideologische Flausen" (19: 22). Engels schließlich nennt die Gerechtigkeit das „soziale Phlogiston" (18: 277), also so etwas wie eine vorwissenschaftliche oder jedenfalls überholte Annahme. Marx und Engels waren demnach anscheinend sowohl in der Theorie als auch in der politischen Praxis Gegner und Feinde der Moral, also radikale „Immoralisten". Die immoralistische Rhetorik von Marx und Engels ist jedoch im Kontext ihrer Schriften zum Teil ausgesprochen befremdlich und irreführend. Denn es kann keinen vernünftigen Zweifel daran geben, daß sie die Klassengesellschaften und insbesondere den Kapitalismus ihrer Zeit aufs schärfste moralisch verurteilen. Der zentrale klassentheoretische Begriff der „Ausbeutung" hat bei ihnen immer einen moralisch-kritischen Sinn, auch wenn dieser geschichtstheoretisch relativiert und entschärft wird. Das Kapitalverhältnis im besonderen charakterisiert Marx oft als „Betrug", „Diebstahl", „Prellerei", „Unterschlagung", „Raub", „Gewalt", „Herrschaft des Toten über das Lebendige" und als systematischen Mord, insbesondere in seinen Bildern eines blutsaugenden Vampirs oder eines Werwolfs. Weiterhin ist unübersehbar, daß der Sozialismus oder Kommunismus für Marx immer die „menschliche" Emanzipation auch in einem moralischen Sinne war. Diese Emanzipation bedeutete ihm immer die Überwindung oder jedenfalls Minimierung von Gewalt, auch in der Form des Strafrechts (siehe insbesondere seine Heilige Familie). An der Revolution der Pariser Kommune hatte Marx vor allem ihre moralische Überlegenheit gegenüber ihren Feinden und ihre Kraft zu einer moralischen Wiedergeburt des sozialen Lebens gepriesen; Beweis dafür war ihm vor allem das Verschwinden der Prostitution und jeder Gewaltkriminalität. Engels hat sogar ausdrücklich von „der wirklich menschlichen Moral" im entwickelten Kommunismus gesprochen (20: 88). Auf den skizzierten Widerspruch zwischen den antimoralischen und den promoralischen Zügen der Texte von Marx (und Engels) hat die Marx-Forschung nun in der Hauptsache so reagiert, einen der beiden Pole zu stützen und den anderen irgendwie herunterzuspielen oder zu entwerten. Marx wird dann entweder als (theoretischer oder praktischer) „Immoralist" oder jedenfalls „Antimoralist" verstanden3 oder aber im Gegenteil als besonders konsequenter Verfechter der modern-aufgeklärten, universalistisch-egalitären Moral.4 Angemessener und produktiver scheint mir die dritte Strategie, Marx' ambivalente und geradezu paradoxe Haltung zur Moral und insbesondere zu moralischen Rechten als vorläufigen Ausdruck einer tiefgehenden, aber konstruktiven Kritik an dem Moralverständnis zu verstehen, das in seiner Epoche dominiert hat. Eine erste Möglichkeit dazu besteht darin, Marx' Antimoralismus als Zurückweisung 3 4

wichtigste Vertreter dieser (immoralistischen) Lesart ist Allen W. Wood; zur Literatur siehe Wildt, Paradoxien in der Marxschen Moralkritik. Die wichtigsten Vertreter dieser (moralistischen) Lesart sind Gerald A. Cohen und Rodney G. Pfeffer; zur Literatur siehe Wildt, Paradoxien in der Marxschen Moralkritik. Der

60

Andreas Wildt

jedes deontologischen Verständnisses von Moral zu deuten, also jeder Annahme moralischer Verpflichtungen und folglich auch jeder Annahme moralischer Rechte sowie als Ablehnung der dazu passenden Redeformen wie Forderung, Tadel, Vorwurf und der ent-

sprechenden Affekte wie Empörung, Schuld und Scham. Moral wäre dann akzeptabel und wertvoll nur als bloßer Altruismus, auf den man wie auf die besondere Güte von Heiligen und Helden nur positiv mit Lob und Bewunderung -, aber auf deren Fehlen man nicht sinnvoll mit negativen Sanktionen wie Tadel, Empörung, Schuldgefühlen oder mit Formen des Rückzugs reagieren kann. Demgegenüber meine ich, daß wir auch im Verständnis von Marx an der Idee moralischen Verpflichtetseins festhalten müssen. Ein zweiter Schritt einer eingeschränkten Rehabilitation der Moral könnte darin bestehen, die moralische Geltung von Verpflichtungen zu bestimmten Handlungen zu akzeptieren, aber diese ausschließlich durch eine Optimierung der tatsächlichen Handlungsfolgen zu bestimmen, also ohne Rückgriff auf Handlungsrege/«, insbesondere auf Rechte. Es ergäbe sich dann eine utilitaristische Moralkonzeption, die in der Tat von einigen Interpreten Marx zugeschrieben worden ist. Ich meine aber, daß wir auch in der Deutung von Marx auf die Annahme von moralischen Regeln und insbesondere von moralischen Rechten nicht verzichten können. Wenn man nun beachtet, wie selten gerade die Begriffe der „Gerechtigkeit" und der (moralisch verstandenen) „Rechte" bei Marx seit der Entwicklung seiner materialistischen Geschichtsauffassung vorkommen, so legt sich drittens die Frage nahe, wie das Verhältnis von Pflichten und Rechten gerade in einer Marx-nahen Moralauffassung näher bestimmt werden müßte. Ich unterstelle hier, daß die Idee moralischer Rechte die moralischer Ver-

-

-

-

-

pflichtungen logisch voraussetzt. Die Frage ist dann, ob auch umgekehrt alle moralischen Verpflichtungen Korrelate moralischer Rechte im Sinne von legitimen Ansprüchen sind. Die meisten deontologischen und nichtutilitaristischen Moralkonzeptionen nehmen das ohne weiteres an, sie vertreten also, wie man im Englischen sagt, eine right-based morality. Nun ist es sicher so, daß der harte Kern der Moral, die besonders starken Verpflichtungen, auf moralischen Rechten aufbauen. Aber das gilt meines Erachtens nur für einen Teil der moralischen Verpflichtungen, nicht für ihren ganzen Umfang. Menschliche Beziehungen im emphatischen Sinn zeichnen sich gerade dadurch aus, daß in ihnen intersubjektive Verpflichtungen akzeptiert werden, ohne daß deren Erfüllung sinnvollerweise auch nur als moralisches, nichtjuridisches Recht beansprucht werden könnte. Das gilt etwa für viele Fälle von Solidarität, riskanter Hilfe, Gefälligkeit, Freundlichkeit, Takt, Dankbarkeit und Versöhnlichkeit.5 Mir scheint, daß vor allem Marx' frühe Reflexionen über die Bedingungen für eine Überwindung der Strafe (2: 190) am besten als Hinweis auf die Möglichkeit einer moralischen Praxis verstanden werden können, in der Verpflichtungen anerkannt werden, ohne daß deshalb auch Rechte im nichtjuridischen Sinn gefordert und 5

beansprucht

werden dürften.

Auf solche Phänomene habe ich mich bereits bei meiner

Hegeldeutung bezogen, siehe Andreas Wildt, Autonomie und Anerkennung. Hegels Moralitätskritik im Lichte seiner FichteRezeption, Stuttgart 1982, 115 ff. Eine verbesserte Konzeption zur Sache habe ich im September 2000 auf dem 4. Kongreß der Gesellschaft für analytische Philosophie in Bielefeld unter dem Titel Supererogatorische Verpflichtungen vorgetragen.

Marxsche Kriterien der

politischen Gerechtigkeit

61

Ein vierter Schritt der kritischen Aufwertung der Moral könnte darin bestehen, den Universalismus der modernen Moral in der entscheidenden Hinsicht zu akzeptieren, daß deren Verpflichtungen uns gegenüber allen (Menschen oder auch Tieren) binden, ohne daß damit verbunden sein müßte, daß sie für alle (zurechnungsfähigen) Personen normativ verbindlich sind. Die moderne Moral wäre dann universalistisch hinsichtlich ihrer Objekte, aber partikularistisch oder relativistisch hinsichtlich ihrer Subjekte. Ähnlich hatte die Deutsche Ideologie gegen „die Heuchelei einer solchen Philosophie" polemisiert, „die sich an alle Individuen ohne Unterschied richtet" (3: 403). Engels geht im Anti-Dühring davon aus, daß sich die historisch-materialistische Sicht der Moral gegen alle „ewigen Wahrheiten" richtet und deshalb „relativistisch" sein muß (20: 78-88). Daß mit diesem Relativismus auch bei Engels keine Ablehnung einer normativen Moralauffassung verbunden ist, sieht man schon daran, daß Engels ganz ungeniert von „der wirklich menschlichen Moral" im entwickelten Kommunismus spricht (20: 88). Dieser Relativismus der Marxschen Moralauffassung6 soll nun hier nicht mein Ansatzpunkt sein. Vielmehr geht es mir hier vor allem um begriffliche und normative Differenzierungen, die nur den Kernbereich der Moral betreffen, sich also auf Gerechtigkeit und Rechte beziehen. Die Geltung eines normativen Relativismus wird sich hier speziell für einen Grundtyp dieser Rechte ergeben. Da Marx diese Differenzierungen kaum explizit gemacht hat, gewinne ich sie im folgenden durch eine rekonstruierende Deutung von Marx' erstaunlichen Aussagen über Recht und Unrecht im kapitalistischen Lohnverhältnis.

2. Recht und Unrecht im

kapitalistischen Lohnverhältnis

Wohl die irritierendste These im gesamten Werk von Marx ist seine Versicherung in einem der früheren Kapitel des Kapitals, dem über den „Verwertungsprozeß", die Aneignung des vom Lohnarbeiter geschaffenen Mehrwerts durch den kapitalistischen Käufer der Arbeitskraft sei „kein Unrecht" (23: 208). Selbstverständlich ist diese Enteignung oder Ausbeutung des Arbeiters im Kapitalismus im bloß juridischen, positiv-rechtlichen Sinne kein Unrecht. Will man den Marxschen Text also nicht gänzlich trivialisieren, so muß er meinen, daß diese Enteignung auch in einem moralischen Sinne kein Unrecht ist. Wie ist das aber damit vereinbar, daß Marx die kapitalistische Ausbeutung ansonsten als zentrales Unrecht des Kapitalismus als Klassengesellschaft anklagt, wenn auch meist nur indirekt durch seine moralgeladene Sprache, Metaphorik und Darstellungsweise? Meine Hypothese dazu lautet, daß Marx an dieser Stelle seiner Darstellung noch nicht wirklich das Kapitalverhältnis als dominierende Grundstruktur der Gesellschaft thematisiert und daß die Rede von „Unrecht" hier einen starken Sinn hat, in dem sich moralische und juridische Bedeutungen miteinander verbinden. Marx will demnach hier sagen, daß die bloße Tatsache, daß ein Käufer von Arbeitskraft sich den von dieser geschaffebzw. das Mehrprodukt, also das Produkt, das über das hinausgeht, was nen Mehrwert -

6

In meinem in Anm. 1 genannten Aufsatz habe ich diesen Relativismus ins Zentrum

gestellt.

62

Andreas Wildt

der Arbeiter zu seiner Reproduktion benötigt aneignen könnte, nicht von der Art ist, daß es moralisch legitim wäre, ein solches Verhalten juristisch zu verbieten oder mit anderen öffentlichen Mitteln zu unterbinden. Unter welchen Umständen aber könnte es moralisch legitim sein, kapitalistische Ausbeutung oder Mehrwertenteignung politisch und juristisch zu ermöglichen? Marx und Engels haben immer wieder von der „historischen Berechtigung" von (zeitweiliger) Ausbeutung und Gewalt gesprochen, aber den genaueren Sinn dieser Redeweise offengelassen. Sie meinen damit offenbar, daß hier moralisch prima facie unakzeptable Praktiken deshalb berechtigt sind, weil sie die Aufrechterhaltung oder sogar Erhöhung eines gewissen Niveaus der menschlichen Zivilisation ermöglichen. Das kann man allerdings meines Erachtens höchstens dann als moralische Rechtfertigung akzeptieren, wenn damit nicht nur der (langfristige) Gesamt- oder Durchschnittsnutzen, sondern im Sinne des Rawlsschen „Differenzprinzips" auch die Lage aller, mindestens aber der Schlechtgestellten optimiert wird. Genau in diesem Sinne sprechen heutige Marxisten wie John Roemer in Anlehnung an eine bekannte Begrifflichkeit der Marxschen Werttheorie von „gesellschaftlich notwendiger Ausbeutung".7 Es spricht vieles dafür, daß in diesem Sinne die kapitalistische Ausbeutung in einem sozialstaatlich verfaßten Kapitalismus gesellschaftlich notwendig sein kann. Diese Notwendigkeit ist auch trotz der entgegenstehenden Ansicht von Marx möglicherweise nicht nur „historisch" im Sinn von „transitorisch". In seinen späten Randglossen zu Adolf Wagner sagt Marx sogar, daß der Kapitalist, sofern er funktional notwendig ist zur Erzeugung des Mehrprodukts, das hier offenbar als gesellschaftlich nützlich unterstellt ist, den Mehrwert „mit vollem Recht" gewinne (19: 359). Das klingt so, als würde Marx hier nicht nur die Institutionen der gesellschaftlich notwendigen Ausbeutung als moralisch rechtmäßig akzeptieren, sondern auch das entsprechende Verhalten des individuellen Kapitalisten. Tatsächlich sagt er aber, daß der Kapitalist gleichwohl den Mehrwert „abzieht" und „raubt", also offenbar (rein) moralische Rechte des Lohnarbeiters verletzt. Auch wenn die Institution, die Ausbeutung legalisiert, gesellschaftlich notwendig ist im Interesse aller oder jedenfalls der Schlechtgestellten, so ist also deshalb die einzelne Ausbeutungspraxis doch keineswegs moralisch richtig. Anders wäre allerdings der Modellfall zu beurteilen, den u. a. Roemer behandelt, in dem Kapitalisten ihre gesellschaftliche Nützlichkeit und Notwendigkeit für den Fortschritt für alle dadurch beweisen, daß sie den gesamten Mehrwert reinvestieren, also qua Kapitalisten gar nicht konsumieren. Hier wäre die Mehrwertaneignung durch die idealen Kapitalisten tatsächlich in keiner Weise ein Unrecht, jedenfalls kein Unrecht in der Verteilung materieller Güter. Aber natürlich würde Marx dieses Modell als vollkommen unrealistisch zurückweisen. Ich möchte nun versuchen, Marx' Ansatz zu einer moralischen Rechtfertigung von institutionellem Unrecht, das die Möglichkeit einer moralischen Kritik des individuellen Verhaltens noch offenhält, zu erweitern. Für eine solche Rechtfertigung ist nicht nur relevant, daß die Institutionen die ökonomische Position von allen oder jedenfalls den -

-

-

-

7

-

John E. Roemer, A General

Theory of Exploitation

and

Class, Cambridge, Mass. 1982, 241 ff.

Marxsche Kriterien der

politischen Gerechtigkeit

63

Schlechtgestellten verbessern, sondern auch, daß sie den Freiheitsspielraum für alle erweitern. Nach der Grundthese von Marx ist zwar ein ökonomisches System, das vom Kapitalverhältnis dominiert ist, kurz: „Kapitalismus", mit ökonomischer Freiheit der großen Mehrheit unvereinbar. Marx spricht deshalb bezüglich des entfalteten Kapitalismus von „ökonomischer Hörigkeit" (23: 603), „Lohnsklaverei" und „Despotie" (23: 351). Marx schließt damit die Möglichkeit einer sozialstaatlich akzeptablen Verfassung des Kapitalismus offenbar aus. Das schließt aber nicht aus, daß in einem nichtkapitalistischen System, in dem Formen des öffentlichen oder assoziierten Eigentums dominieren und das dominierende Produktionsziel nicht der Profit ist, ein kapitalistischer Sektor nicht nur die ökonomische Effizienz erhöhen, sondern auch die individuelle Freiheit erweitern kann, und zwar sowohl auf Seiten der dortigen Kapitalisten wie der Lohnarbeiter. Tatsächlich meine ich, daß zu jeder Form einer modernen, freiheitlichen und nichtkapitalistischen Gesellschaft gehört, daß hier kapitalistische Beziehungen legal sind und politisch als legitim gelten. Trotzdem wäre hier jede Aneignung der Arbeitsleistung der Lohnarbeiter, die über eine Kompensation für den Konsumverzicht, die Risikobereitschaft und die Organisationsarbeit des Kapitalisten hinausgeht, ein moralisches Unrecht, das dennoch aus moralischen Gründen juridisch und politisch akzeptiert werden muß. Nun muß man zugeben, daß bei Marx von der Möglichkeit eines kapitalistischen Sektors in einer nichtkapitalistischen Ökonomie oder Gesellschaft keine Rede ist. Und Marx' Hauptthese zur ökonomischen Gerechtigkeit scheint sogar auszuschließen, daß dies Rechtens sein könnte. Marx sagt nämlich im Kapital von dem „Inhalt" der ökonomischen Transaktionen: „Dieser Inhalt ist gerecht, sobald er der Produktionsweise entspricht, ihr adäquat ist. Er ist ungerecht, sobald er ihr widerspricht. Sklaverei, auf der Basis der kapitalistischen Produktionsweise, ist ungerecht." (25: 352) Muß man dann nicht sagen, daß auch kapitalistische Lohnarbeit auf der Basis einer nichtkapitalistischen Produktionsweise ungerecht ist? Im starken, auch juridischen Sinne von „ungerecht" muß man das aber nicht sagen, wenn man mindestens zeigen kann, daß diese Lohnarbeit sowohl den ökonomischen Reichtum wie den Freiheitsspielraum für alle erhöht, auch wenn diese Lohnarbeit im rein moralischen Sinne ungerecht entlohnt wird. Nun kann man natürlich bezweifeln, daß eine nichtkapitalistische Ökonomie, welcher Spielart auch immer, in der Moderne dadurch legitim sein kann, daß sie so effizient ist, daß sie die Position von allen verbessert. Aber hier genügt bereits die Möglichkeit einer kapitalistischen Ökonomie, die effizient bleibt, obwohl sie von einem Sozialstaat ergänzt wird, der das Recht auf Arbeit durch das Angebot staatlicher Beschäftigung garantiert, etwa durch einen Sozialdienst, wie ihn Ulrich Steinvorth konzipiert hat.8 Bei einem solchen System handelt es sich nämlich nicht mehr im strengen Sinn um „Kapitalismus", weil hier der strukturelle Zwang zu einer Arbeit unter dem Imperativ der Selbstverwertung des Kapitals gebrochen ist. 8

Siehe Ulrich Steinvorth, Gleiche Freiheit. Politische Berlin 1999, 227 ff.

Philosophie und Verteilungsgerechtigkeit,

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3.

Andreas Wildt

Differenzierungen in den Begriffen „Recht" und „Gerechtigkeit"

Die bisherigen Ergebnisse möchte ich nun in einer eigenen Terminologie festhalten, die verschiedene Typen und Stärkegrade von Rechten unterscheidet. Natürlich muß man zunächst zwischen juridischen und moralischen Rechten unterscheiden, entsprechend zwischen juridischem und moralischem Unrecht. An dieser Stelle scheint mir der Versuch unnötig, den Begriff „juridisch" allgemein zu definieren. Mir steht hier immer das moderne, in der Hauptsache positive Recht vor Augen, das hauptsächlich durch staatlichen Zwang sanktioniert wird und das Marx meistens „das bürgerliche Recht" nennt. Wichtig aber ist hier, daß man die Rede von „moralischen Rechten" in einem engeren oder weiteren Sinne verstehen kann. In einem engen Sinn meint sie die Ansprüche, nämlich die Korrelate moralischer Verpflichtungen, deren Erfüllung moralisch legitim gefordert und auf deren Nichterfüllung mit Tadel, Vorwurf und Empörung reagiert werden kann, ohne daß hier stärkere Sanktionsformen, insbesondere irgendwelche Formen von Zwang und Gewalt legitim sein können.9 In diesem Sinne sind wir etwa der Meinung, daß wir als Personen ein moralisches Recht darauf haben, generell mit Achtung und insbesondere mit Höflichkeit behandelt zu werden, glauben aber keineswegs, daß es moralisch richtig wäre, Ausdrucksformen der Achtung wie Höflichkeit mit Zwang und schon gar nicht mit staatlichem Zwang durchzusetzen. Das gilt vielmehr erst für massivere Verletzungen der Achtung, etwa durch Beleidigung, üble Nachrede oder physischen Zwang. In den Fällen, in denen moralische Rechte im genannten engen Sinn gemeint sind, könnte man genauer von „rein moralischen Rechten" sprechen. In einem anderen, aber ebenfalls engen Sinn wird der Begriff der „moralischen Rechte" dann verwandt, wenn damit nur die Rechte gemeint sind, die zwar faktisch ausschließlich moralisch sanktioniert sind, von denen es aber moralisch legitim oder wünschenswert ist, daß sie auch juridische Geltung haben. Manche Autoren wollen den Begriff der „moralischen Rechte" auf diese Rechte beschränken, weil sie meinen meines Erachtens zu Unrecht -, daß die Rede von „Rechten" ohne jeden Zusammenhang mit dem Juridischen ihren spezifischen Sinn verliert. Auf der anderen Seite wird der Begriff der „moralischen Rechte" oft auch in dem etwas weiteren bzw. anderen Sinn verwandt, daß er auch und gerade die moralischen Rechte umfaßt, die bereits juridische Geltung haben. Darüber hinaus ist es möglich, die Rede von „moralischen Rechten" so weit zu verstehen, daß sie alle Rechte umfaßt, die moralisch gerechtfertigt werden können. Das ist etwa der Sprachgebrauch von Habermas. Für eine zuverlässige Verständigung ist es hier meines Erachtens zweckmäßig, differenzierende Begriffe ausdrücklich einzuführen. Es ist offensichtlich, daß die juridischen Zwangssanktionen stärker sind als die rein moralischen Sanktionen durch Tadel, Empö-

9

Siehe Andreas Wildt, Recht und Selbstachtung, im Anschluß an die Anerkennungslehren von Fichte und Hegel, in: Fichtes Lehre vom Rechtsverhältnis, hrsg. v. Michael Kahlo, Ernst A. Wolff u. Rainer Zaczyk, Frankfurt/M. 1992, 127-172, hier 162ff. sowie ders., Menschenrechte und moralische Rechte, in: Philosophie der Menschenrechte, hrsg. v. Stefan Gosepath u. Georg Lohmann, Frankfurt/M. 1998, 124-145, hier 125 ff.

Marxsche Kriterien der

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politischen Gerechtigkeit

geltende Rechte „starke", rein moralisch geltende demRechte.10 Stärker als die rein moralischen Rechte sind aber auch gegenüber „schwache" die die moralischen Rechte, juridische Geltung haben sollten, sie aber faktisch nicht haben. Und die stärksten Rechte sind offenbar die, die sowohl juridisch als auch moralisch rung

usw.

Demnach sind juridisch

Im Gesamtbereich sowohl der Rechte überhaupt als auch der moralischen Rechlassen sich so „starke", „schwächere" bzw. „stärkere" und „schwache" Rechte unterscheiden. Ähnlich hatte, wie wir sahen, Marx von dem „vollen Recht" der Mehrwertaneignung durch den Kapitalisten gesprochen, dieses Recht aber durch den Zusatz „d. h. dem dieser Produktionsweise entsprechenden Recht" (19: 359) doch wieder abgeschwächt. Eine verwandte, aber prägnantere Terminologie hatte bereits das neuzeitliche Naturrecht mit der Unterscheidung von „vollkommenen" und „unvollkommenen" Rechten entwickelt. Seit langem ist diese Unterscheidung fast nur noch in der Kantischen Form der Unterscheidung der Pflichten in „vollkommene" und „unvollkommene" bekannt. Diese bezieht sich bei Kant auch nicht auf die Sanktionsform, sondern nur auf die Bestimmtheit bzw. Unbestimmtheit der Pflichten, während Kant einfach unterstellt, daß die Rechte, auch die rein moralischen Rechte, vollkommen bestimmt sind. Im Naturrecht bei Grotius bezog sich diese Unterscheidung von „Vollkommenheit" und „Unvollkommenheit" aber auf den Bereich der Rechte und betraf dabei auch weniger die Frage der Bestimmtheit als die der Sanktionierbarkeit. ' ' In diesem Sinne möchte ich vorschlagen, die Rechte, die sowohl juridisch als auch moralisch gelten, also die starken moralischen Rechte, als „vollkommene Rechte" zu bezeichnen, die übrigen aber als „unvollkommene Rechte". Rechte können also „unvollkommen" sein entweder, sofern sie keine juridische Geltung haben, obgleich sie diese aus moralischen Gründen haben sollten, oder, sofern sie diese nicht haben und auch nicht haben sollten. Dabei scheint es näherliegend, im ersten Fall von „unvollkommenen" oder jedenfalls von „unvollkommeneren" Rechten zu sprechen als im zweiten Fall. Im ersteren Fall sind die Rechte aber im erläuterten Sinne „stärker" als im zweiten. Aus diesem Grunde ziehe ich die Unterscheidung von „starken" und „schwachen" sowie „stärkeren" und „schwächeren" der von „vollkommenen" und „unvollkommenen" bzw. „vollkommeneren" und

gelten. te

-

-

-

„unvollkommeneren"

vor.

Meine Interpretationsergebnisse zu Marx' Aussagen über Recht und Unrecht des Lohnverhältnisses lassen sich demnach wie folgt formulieren. Die Ausbeutung im kapitalistischen Lohnverhältnis ist starkes Unrecht, wenn jenes ökonomisch dominiert und nicht gesellschaftlich notwendig ist. Wenn das Lohnverhältnis gesellschaftlich notwendig ist und ökonomisch dominiert oder wenn es (wie im Sozialismus) nicht dominiert, muß die Ausbeutung kein starkes, rechtlich-politisches Unrecht sein, ist aber durchaus ein schwaches, also rein moralisches (oder unvollkommenes) Unrecht. Die Individuen haben dann -

10 11

Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt/M. 1993, 348 ff. Joachim Hruschka, Supererogation and Meritorious Duties, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 6 (1998), 99ff; Jerome B. Schneewind, The Misfortunes of Virtue, in: Ethics 101 (1990), 4263, hier 49.

Vgl.

66

Andreas Wildt

eine moralische Verpflichtung, diese Praxis zu unterlassen, auch wenn es nicht moralisch erlaubt sein sollte, diese juridisch zu verbieten. Ich möchte hier noch betonen, daß die Begriffe der „Gerechtigkeit" bzw. „Ungerechtigkeit" viel weniger geeignet sind, dieses Ergebnis zu formulieren, als die der „Rechte" bzw. des „Unrechts". Natürlich könnte man ähnlich wie bei den Rechten zwischen „starker" und „schwacher" Ungerechtigkeit unterscheiden; die Ausbeutung im dominanten, aber nichtnotwendigen Kapitalismus wäre dann eine „starke Ungerechtigkeit" und die Ausbeutung im kapitalistischen Sektor einer sozialistischen Gesellschaft lediglich eine „schwache Ungerechtigkeit". Diese Unterscheidung fände jedoch keine Stütze in der Umgangs-

sprache.

Wenn die kapitalistische Ausbeutung in dem Sinne gesellschaftlich notwendig ist, daß sie die Position aller oder jedenfalls der Schlechtgestellten optimiert, so verletzt sie keinerlei moralische Rechte, bleibt aber dennoch im umgangssprachlichen Sinne „ungerecht", weil es keine moralische Rechtfertigung dafür gibt, daß sich der jeweilige Kapitalist (oder irgendwer) den vom Arbeiter produzierten Mehrwert aneignet. Die Rede von „politischer Gerechtigkeit" ist also in diesem Fall irreführend. Die moralisch richtige Politik ist diejenige, die ausschließlich die starken (oder „stärkeren") moralischen Rechte realisiert. Dadurch kann aber die Gerechtigkeit durchaus verletzt bleiben, indem nämlich schwache moralische Rechte verletzt sind. Ich möchte meine Überlegungen zur Vieldeutigkeit des Rechtsbegriffs abschließend noch dadurch zuspitzen, daß ich eine weitere Idee von „Recht" expliziere, die Marx emphatisch in Anspruch nimmt, ohne sie ausdrücklich zu erläutern. Marx hat sie ebenfalls bei der grundlegenden Analyse des kapitalistischen Lohnverhältnisses im Kapital benutzt, nämlich im Kapitel über den Arbeitstag. Marx behauptet hier, daß im Kampf von Arbeiter und Kapitalist um die Länge des Normalarbeitstages eine „Antinomie stattfindet, Recht wider Recht" (23: 249). Die Rede von einer „Antinomie" wäre sicher übertrieben, wenn es sich hier nur um einen Konflikt von juridischen und moralischen Rechten handeln würde. Durch seine Erläuterung, beide Rechte seien „gleichmäßig durch das Gesetz des Warentausches besiegelt" (23: 249), betont Marx auch selbst, daß diese Rechte sich wesentlich in demselben normativen Raum befinden. Nun wird Marx' nähere Darstellung diesem Anspruch allerdings nicht gerecht, da sich in ihr der Kapitalist einfach auf die juristische Form des Tausches beruft, die ihm eine unbegrenzte Nutzung der von ihm gekauften Arbeitskraft erlaubt (23: 247), der Arbeiter aber auf das Wertgesetz der klassischen Ökonomie, das seiner Meinung nach seinen Anspruch auf eine volle Reproduktion seiner individuellen Arbeitskraft stützt (23: 248)/ Letzteres ist nun für Marx sicher auch keine ausreichende moralische Argumentation, da es sich bei dem „Wertgesetz" gar nicht um ein normatives Gesetz handelt und der Arbeiter sich auf keine andere normative Prämisse beruft. Trotzdem sympathisiert Marx anscheinend mit der Position des Arbeiters, ohne sich aber dabei auf ein moralisches Recht zu berufen, etwa auf das im neuzeitlichen Naturrecht, insbesondere bei Locke, dem Stammvater der Arbeitswertlehre, fundamentale Recht auf individuelle Selbsterhaltung. Was meint Marx also mit seiner zugespitzten Rede von „Recht wider Recht" in der genannten „Antinomie"?

Marxsche Kriterien der

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Marx kommt in seiner weiteren Darstellung des Kampfes um den Normalarbeitstag dem Ergebnis, daß sich die Forderung des Arbeiters nach einer gesetzlichen und effektiven Begrenzung des Normalarbeitstages in dem Maße durchsetzt, als das Kapital den Arbeitsprozeß revolutioniert oder „reell subsumiert", wodurch erst die „spezifisch kapitalistische Produktionsweise", die der großen Industrie, entstehen kann. Das liegt nun nicht nur daran, daß die spezifisch kapitalistische, technologische Produktionsweise eine Beschränkung des Arbeitstages zunehmend funktional erforderlich macht, sondern auch daran, daß erst mit deren Entwicklung die Überzeugung von der Rechtmäßigkeit dieser Beschränkung sozial vorherrschend wird, während in der Phase der bloß formellen Subsumption der Standpunkt des Kapitalisten ideologisch dominiert. So wie man bezüglich der juridischen Sanktionierung einer Rechtsvorstellung von „Recht" spricht, kann man nun auch bezüglich der sozialen Dominanz einer Rechtsvorstellung von einer Art von „Recht" sprechen, da es sich auch hier um eine sozial dominierende Form von Sanktionierung handelt. Im ganz schwachen Sinn von „moralisch" handelt es sich hier auch um „moralische", nämlich nichtjuridische Rechte, aber dieser wesentlich negative Sinn von „moralisch" ist im Deutschen, anders als im Englischen und Französischen, selten und ungewohnt. „Moralisch" gültig im normalen Sinn können solche sozial dominierenden Rechte oder Rechtsüberzeugungen nur unter zusätzlichen Annahmen sein. Die radikalste wäre die eines sozialen und historischen Relativismus der Moral, die die moralische Geltung von Überzeugungen von ihrer sozial-historischen Dominanz abhängig macht. Obwohl ich hier mit Marx und Engels insofern einig bin, als ich einen prinzipiellen Relativismus in der Moral für unvermeidbar halte, nämlich einen metaethischen Relativismus, weil moralische Geltung prinzipiell relativ ist auf Dispositionen für moralische Gefühle, die wohl keine strikten anthropologischen Universalien sind, meine ich dennoch, daß moralische Geltung nicht schon auf ökonomische Grundstrukturen und dominierende Meinungen, sondern höchstens auf Stufen der Evolution des moralischen Bewußtseins hin relativ ist. Trotzdem bleibt ein wichtiger Zusammenhang von sozial dominierenden Rechtsüberzeugungen und (starken) moralischen Rechten in einem bestimmten Sinn. Daß Rechtsüberzeugungen sozial nicht dominieren was Marx auch dadurch ausdrückt, daß es keine „vollen" Rechte seien -, berührt nicht ihre rein moralische Geltung. Aber es kann es ausschließen, daß es moralisch legitim wäre, sie politisch und juridisch zu positivieren und zu institutionalisieren. Dafür, daß moralische Rechte starke, volle oder vollständige oder jedenfalls stärkere Rechte im Sinne der legitimen Positivierbarkeit sein können, müssen sie in vielen Fällen (siehe unten) nicht nur „gesellschaftlich notwendig" im erläuterten Sinn sein, sondern auch volle, starke oder stärkere Rechte im neuen Sinne sozial dominierender Rechtsvorstellungen. Das Umgekehrte gilt freilich nicht: Moralische Rechte werden nicht allein dadurch legitim positivierbar, daß sie im Marxschen Sinne sozial dominierend überzeugen. Ich möchte im folgenden plausibel machen, daß diese beiden Thesen wichtig sind auch für ein angemessenes Verständnis von Marx' Aussagen über Rechte und Pflichten der Verteilung materieller Güter im Kommunismus. zu

-

-

-

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Andreas Wildt

4. Rechte und Pflichten materieller Marxschen Kommunismus

Verteilung im

Meine Untersuchung zu verschiedenen Typen von Recht und Unrecht im Lohnverhältnis werde ich jetzt auch auf nichtkapitalistische Lohnformen ausweiten und damit die meines Erachtens wichtigste Frage der moralischen Bewertung von Verteilungen materieller Güter, nämlich die der gerechten Vergütung von Arbeit, allgemeiner stellen. Marx hat sich mit dieser Frage vor allem in seiner Kritik des Gothaer Programms der SPD von 1875 auseinandergesetzt. Marx scheint hier zwar zunächst gegen die ganze Fragestellung nach einer „gerechten Verteilung" (19: 18) zu polemisieren, aber man muß ihn deshalb doch nicht so verstehen, daß er die Frage in dem Sinne verwirft, daß es dabei um die Realisierung von moralischen Rechten und Verpflichtungen geht. Marx sagt hier am Ende folgendes: In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft [...] kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahnen schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen! (19: 21)

Das muß meines Erachtens nicht bedeuten, daß nach Marx diese Gesellschaft gar nicht mehr rechtlich oder nicht einmal mehr moralisch-normativ geformt sein wird. Mit dem „bürgerlichen" Recht ist hier, wie der Kontext zeigt, das modern-positive Recht gemeint; „überschritten" wird es nicht erst durch normfreien Altruismus, sondern bereits durch rein moralische Rechte und rechtsfreie moralische Verpflichtungen. Daß Marx nicht sagt, daß hier das bürgerliche Recht ganz überschritten werden kann, sondern dies nur für ,,de[n] enge[n] bürgerliche^] Rechtshorizont" behauptet, läßt auch die Möglichkeit offen, daß das positive Recht nicht einfach abgeschafft wird oder abstirbt, sondern durch rein moralische Rechte und rechtsfreie moralische Verpflichtungen wesentlich ergänzt wird. Welche Fragen der Verteilungsgerechtigkeit entziehen sich nun nach Marx jeder „bürgerlichen", positiv-rechtlichen Lösung? Nach Marx kann auch im Kommunismus zunächst bestenfalls durch Gleichwertiges entlohnt werden, nämlich durch Arbeitsäquivalente. Dadurch bleiben aber die Bevor- und Benachteiligungen erhalten, die einerseits durch unterschiedliche physische, psychische und geistige Begabungen und andererseits durch unterschiedlichen Bedarf bedingt sind. Marx sieht das eindeutig als Ungerechtigkeit oder jedenfalls als moralisches Unrecht an, denn er spricht hier nicht nur überhaupt von „Miß-

ständen", sondern

von

„natürlichen Privilegien" (19: 21).

Was die Probleme des Bedarfs angeht, so ist allerdings wenig deutlich, wie weit sie reichen sollen. Marx erwähnt hier nur: „Ein Arbeiter ist verheiratet, der andere nicht; einer hat mehr Kinder als der andere etc. etc." (19:21). Solche Unterschiede lassen sich aber durch eine geeignete Sozialgesetzgebung natürlich ohne weiteres ausgleichen, wie das im kapitalistischen Sozialstaat ja auch geschieht. Unklar bleibt hier, ob Marx auch schon die Unterschiede in den „Bedürfnissen", die sich nicht aus objektiven Merkmalen des Bedarfs ableiten lassen, nämlich die Unterschiede in den subjektiven Präferenzen, als rechtliche oder moralische Probleme sieht. Die entscheidende Frage ist aber, ob oder in welchem Sinne eine Bezahlung nach Lei-

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stung moralisch Rechtens sein kann, sofern sie sich aus ungleichen Begabungen ergibt, die doch so etwas wie „natürliche Privilegien", also moralisches Unrecht sind oder dieses jedenfalls entstehen lassen. Marx hält eine solche Verteilung nach Leistung offensichtlich für ungerecht und faßt eine Verteilung nach „Bedürfnissen" ins Auge. Meines Erachtens wäre wirklich gerecht nur eine Verteilung nach Gesichtspunkten von Länge und Schwere der Arbeit einerseits, objektivierbarem Bedarf andererseits. Damit ist jedoch noch nicht die entscheidende Frage beantwortet, ob diese Gerechtigkeit durch öffentliche, juridische und politische Mittel moralisch legitim durchgesetzt werden kann. Das ist vor allem deshalb zweifelhaft, weil eine effiziente Allokation von Fähigkeiten kaum ohne eine materielle Honorierung von begabungsabhängigen Leistungen möglich ist, jedenfalls nicht in einer Marktwirtschaft, die zur Sicherung ökonomischer Effizienz auch sonst unverzichtbar scheint. Ohne diese effiziente Allokation wird aber das Differenzprinzip und damit ein zentrales Prinzip moralischen Rechts verletzt. Das Unrecht der Privilegierung durch Begabungen scheint also durch eine politisch-rechtliche Formung sozialer Verhältnisse nicht legitim abschaffbar. Daraus folgt aber nicht, daß es gar nicht wirksam normativ eingeschränkt werden kann. Es bleiben nämlich die moralischen Sanktionen zum Schutz der rein moralischen Rechte. Ebenso bleibt zum Ausgleich der Folgen unterschiedlicher Präferenzen der Rekurs auf die moralischen Verpflichtungen zu solidarischer Hilfe und Gefälligkeit, die meist gar keine Korrelate moralischer Rechte sind. Hier erhebt sich natürlich sofort die Frage, ob die Moral nicht so lange gesellschaftlich ohnmächtig bleiben muß, wie sie die gesellschaftlichen Grundstrukturen und das positive Recht nicht entscheidend prägt. Und dieser Einwand ist sicher ein Leitmotiv der materialistischen Geschichtsauffassung, aber ich meine, daß sich gerade bei Marx Ansätze finden, um ihn zu relativieren, insbesondere für unsere Epoche. Mit wachsender sozialer Komplexität wird immer deutlicher, daß Gerechtigkeit und moralische Rechte durch politisch-institutionelle und juridische Mittel allein nicht legitim realisiert werden können, auch wenn diese dadurch sozial dominierende Rechte geworden sind, daß sich die entsprechenden Überzeugungen weitgehend durchgesetzt haben. Diese soziale Dominanz verhindert aber andererseits, daß die rein moralischen Rechte wirkungslos bleiben. Allerdings legt sich von Marx her die Annahme nahe, daß die rein moralischen Rechte zur Verteilung materieller Güter erst dann sozial wirksam sein können, wenn die ökonomische Grundstruktur die moralischen Rechte nicht mehr zentral verletzt. Demnach wäre nicht zu erwarten, daß ein kapitalistischer Sozialstaat in der Realisierung moralischer Rechte von einer sozial dominierenden Moral wirksam unterstützt werden kann. Eine solche Unterstützung wäre vielmehr erst im Rahmen eines nichtkapitalistischen Systems zu erwarten. In der vorgeschlagenen Terminologie gesprochen: Eine gerechte Grundstruktur der Ökonomie und damit des Kerns des positiven Rechts ermöglicht, daß rein moralische Rechte oder auch bloße Verpflichtungen sozial dominieren und auf diesem Wege realisiert werden. Ein entsprechender Bedingungszusammenhang gilt vielleicht auch für die Realisierung der moralischen Rechte und der moralischen Verpflichtungen jenseits moralischer Rechte, jedenfalls im Bereich der Verteilung materieller Güter: Erst wenn das Unrecht infolge

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70

der „natürlichen Privilegien" besonderer Begabungen weitgehend juridisch oder rein moralisch aufgehoben ist, lassen sich die moralischen Mißstände überwinden, die durch unterschiedliche Präferenzen entstehen können, indem moralische Verpflichtungen wirksam werden, die nicht mehr in moralischen Rechten fundiert sind. Oder kurz: Nur in einer soweit möglich gerechten Gesellschaft sind Solidarität und Humanität allgemein möglich. -

-

5. Eine Perspektive auf die und Gleichheit

heutige

Debatte über

Gerechtigkeit

Die Differenzierungen und Thesen, die sich aus meinen Versuchen ergeben haben, aus Marx' ambivalenten Aussagen zu Recht und Moral überzeugende Positionen zu gewinnen, sind meines Erachtens nützlich, um in einigen Kontroversen der heutigen politischen Philosophie Orientierung zu gewinnen, insbesondere in der neueren Debatte über das Verhältnis von Gerechtigkeit und Gleichheit. Bevor ich das zeige, möchte ich meine Ergebnisse kurz zusammenfassen. Der erste Schritt sind Differenzierungen in den Grundbegriffen der normativen Ethik. In der Moral im allgemeinen unterscheide ich drei Ebenen: die der moralischen Rechte bzw. der ihnen korrelativen Verpflichtungen, der „schwachen" Verpflichtungen jenseits moralischer Rechte und des Altruistisch-Guten jenseits aller Verpflichtungen. In der Dimension der Rechte unterscheide ich nicht nur, wie üblich, zwischen juridischen und moralischen Rechten (sowie innerhalb der moralischen Rechte diejenigen, die juridisch positiviert sind oder sein sollten, von denen, die nicht positiviert sein sollten), sondern außerdem die juridische Geltung von einer anderen Form von sozialer Geltung, die noch keine moralische Geltung impliziert, für diese aber teilweise notwendig ist, nämlich die soziale Dominanz von Rechtsideen. Der zweite Schritt besteht in normativen Thesen, die erst durch diese ungewohnten Differenzierungen formulierbar werden. Die erste lautet, daß es viele moralische Verpflichtungen gibt, die keine Korrelate moralischer Rechte sind. Diese Verpflichtungen ergeben sich teilweise aus der Unterschiedlichkeit menschlicher Wünsche. Die zweite lautet, daß das Rechtssystem moderner Gesellschaften Institute wie das kapitalistische Lohnverhältnis enthalten sollte, die Ungerechtigkeiten implizieren und insofern auch (rein) moralische Rechte verletzen. Die dritte These lautet, daß eine juristische Implementierung prima facie starker moralischer Rechte oft erst dann moralisch legitim ist, wenn diese auch zu vorherrschenden Rechtsüberzeugungen geworden sind, also zu, wie ich sage, „sozial dominierenden Rechten". Der dritte Schritt besteht in Hypothesen über die Grenzen der sozialen Realisierbarkeit der differenten Ebenen der Moral. Die erste Hypothese lautet, daß rein moralische Rechte erst dann in großem Maßstab sozial wirksam werden können, wenn die starken moralischen Rechte auch juridische Geltung haben. Die zweite Hypothese lautet analog, daß die moralischen Verpflichtungen jenseits moralischer Rechte erst dann im großen Maßstab sozial wirksam werden können, wenn die moralischen Rechte im wesentlichen realisiert sind.

Marxsche Kriterien der

politischen Gerechtigkeit

71

Aus der Perspektive dieser Überlegungen erscheint die zeitgenössische politische Philosophie meines Erachtens in einem klareren Licht. Das gilt bereits für Rawls' Theorie der Gerechtigkeit. Rawls hat seine Theorie programmatisch „Gerechtigkeit als Fairneß" genannt, aber damit hat er die Differenz verschliffen, die tatsächlich zwischen Gerechtigkeit und politisch-sozialer Fairneß besteht. Rawls geht es allerdings zentral speziell um politisch-soziale Gerechtigkeit, und er zeigt meines Erachtens überzeugend, daß dafür die Fairneß im Sinne des Nutzens für jeden und damit im Sinne seines „Differenzprinzips" entscheidend ist.12 Was Rawls dabei übergeht, ist jedoch, daß das Differenzprinzip Ungleichheiten legitimiert, die, wie die Entlohnung nach Leistung, in dem Sinne ungerecht sind, daß sie keineswegs nur moralische Rechte realisieren, sondern diese auch verletzen. Im Widerspruch zur Selbstdeutung von Rawls kann man es gerade als das Verdienst seines Ansatzes bei der Fairneß sehen, daß er es erlaubt, die tiefe Differenz zwischen dem moralisch legitimen positiven Recht und der Gerechtigkeit zu erkennen. Diese Differenz ist meines Erachtens auch grundlegend für eine angemessene Stellungnahme zur neueren Debatte über den Stellenwert, der der Idee der Gleichheit in der Theorie der Gerechtigkeit zukommen sollte. Rawls hatte angenommen, daß die Aufgabe der politischen Gerechtigkeit darin bestehe, die Ungerechtigkeiten auszugleichen, die sich aus den Unterschieden ergeben, die die Konsequenzen der sozialen Positionen und der natürlichen Ausstattungen bewirken. Seine Rede von der „moralischen Willkür" der „natürlichen Lotterie" bringt dabei offenbar dieselbe moralische Intuition zum Ausdruck wie Marx' Rede von den „Mißständen" der „natürlichen Privilegien". Von einigen von Rawls' Nachfolgern ist seine Annahme dann meines Erachtens zu Recht eingeschränkt worden: Ein Anspruch auf Ausgleich läßt sich im Bereich der „Lotterie der Natur" nur aus den Differenzen der (ökonomisch produktiven) Begabungen ableiten, nicht jedoch aus Differenzen in Aspekten der persönlichen Motivation wie Wünschen, Entscheidungen und Personen weil für diese die selbst verantwortlich sind. Tugenden, Neuerdings mehrt sich jedoch eine grundsätzlichere Kritik an dem Programm einer egalitären Kompensation von Kontingenzen, insbesondere von Kontingenzen innerer Natur. Die radikalste Form dieser Kritik besteht in einer prinzipiellen Ablehnung des Programms der egalisierenden Kompensation von Zufallen, insbesondere der Zufalle innerer Natur.13 Diese Kritik kann sich vor allem, wie bereits Nozick gegen Rawls, darauf berufen, daß das egalitaristische Kompensationsprinzip anscheinend zu abstoßenden Konsequenzen führen muß, etwa zur Forderung einer Entschädigung für mangelnde erotische Attraktivität in Aussehen oder Verhalten, z. B. durch Besteuerung knapper Eheplätze (so der Vorschlag von Van Parijs). Dagegen kann man einwenden, daß sich das egalitaristische Kompensationsprinzip in der Theorie sozialer Gerechtigkeit nur oder je12

13

Siehe John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, übers, v. Hermann Vetter, Frankfurt/M. 1975, 86 ff. Zu dieser Begründung des Differenzprinzips, die von Rawls' Theorie der rationalen Wahl unter Bedingungen der Unwissenheit unabhängig ist, vgl. meinen Aufsatz: Gleichheit, Gerechtigkeit und Optimierung für jeden. Zur Begründung von Rawls' Differenzprinzip, in: Politik und Ethik, hrsg. v. Kurt Bayertz, Stuttgart 1996, 249-276, hier 268 ff. Siehe neuerdings: Gleichheit und Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik, hrsg. v. Angelika Krebs, Frankfurt/M. 2000.

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denfalls primär auf diejenigen Fähigkeiten beziehen sollte, die für den Ertrag der Erwerbsarbeit relevant sind. Ulrich Steinvorth hat klargestellt, daß es sich dabei um die Fähigkeiten zur Aneignung des Gemeineigentums an den Ressourcen der äußeren Natur handelt.14 Außerdem hat das Recht auf Kompensation natürlich dort seine Grenzen, wo die Nebenfolgen seiner Realisierung die moralische Achtung vor Personen verletzen. Aussichtsreicher als ein genereller Angriff auf den moralischen Eigenwert aller Egalisierungsprinzipien scheint der Versuch, speziell das Prinzip der Kompensation von Begabungsdifferenzen zu kritisieren. So meint Ulrich Steinvorth, daß das fundamentale Menschenrecht der Selbstbestimmung nicht nur das Recht auf freie Betätigung der eigenen Begabungen, sondern auch das Recht auf die Resultate dieser Betätigung einschließt.15 Nun ist es richtig, daß das Recht auf Selbstbestimmung in der Tradition des Liberalismus stets so verstanden wurde und daß das auch so sein muß, wenn man das Recht auf Selbstbestimmung als Recht auf das Privateigentum an der eigenen Person versteht. Aber meines Erachtens spricht nichts dafür, das Recht auf Selbstbestimmung so „possessivindividualistisch" zu verstehen. Meines Erachtens gibt es gute Gründe dafür, an dem moralischen Recht auf Kompensation der „natürlichen Privilegien" differenter Begabungen zur Erwerbsarbeit festzuhalten. Daraus folgt aber noch lange nicht, daß es legitim wäre, eine Entlohnung nach Leistungen juridisch zu verbieten oder durch Besteuerung rückgängig zu machen. Solange die Entlohnung nach Leistung allen oder jedenfalls den Schlechtgestellten nützt und dabei den meisten legitim erscheint, ist sie vielmehr tatsächlich moralisch legitim. Trotzdem bleibt sie ungerecht, sofern sie die Begabten privilegiert. Sofern die Begabten die Vorteile der Entlohnung nach ihren Leistungen genießen, ohne sie mit den anderen egalitär zu teilen, verletzen sie (rein) moralische Rechte der anderen, auch wenn sie dazu legitim juridisch ermächtigt sind. Ganz analog läßt sich die noch stärker umstrittene Frage, ob es moralische Gründe zur Kompensation von Ungleichheiten gibt, die sich aus der Unterschiedlichkeit der Motivationen von Personen ergeben, meines Erachtens nur dann befriedigend beantworten, wenn man in der Moral ganz grundsätzlich verschiedene Typen von Verpflichtungen unterscheidet, nämlich Verpflichtungen, die moralischen Rechten korrelieren, und solche, die das nicht tun. Aus der Unterschiedlichkeit von bloßen Wünschen, Zielen, Entscheidungen und Tugenden läßt sich, anders als offenbar Rawls und Marx glauben, grundsätzlich keinerlei Rechtsanspruch auf egalisierende Kompensation ableiten. Das liegt daran, daß jeder sich seine Motivationen selbst zurechnen muß, falls sie nur nicht die pathologische Form innerer Zwänge haben. Deshalb können aus (normalen) Motivationsdifferenzen keine Ansprüche an andere abgeleitet werden. Wie Dworkin gezeigt hat, sieht man das auch daran, daß es nicht rational wäre, in diesen Hinsichten Versicherungen abzuschließen. Das schließt aber keineswegs aus, wie Kritiker des Egalitarismus meist glauben, daß andere moralisch verpflichtet sein können, mir bei der Erfüllung meiner Wünsche zu helfen. Wenn sich diese Wünsche nicht aus echten Benachteiligungen er14 15

Steinvorth, Gleiche Freiheit, 224 ff. Ebenda, 114 f., 128, 131.

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geben, wäre es aber illegitim, deren Erfüllung von anderen zu fordern oder sich über ihre Nichterfüllung zu empören. Dadurch würden diese Verpflichtungen nämlich als Konsequenzen moralischer Rechte behauptet. Schließlich scheint mir die Idee sozial dominierender Rechtsüberzeugungen und Rechte, die ich zur Deutung von Marx' Rechtsantinomie vorgeschlagen habe, hilfreich, um eine Unterscheidung zu präzisieren, die in der politischen Philosophie der Gegenwart wichtig geworden ist, nämlich die von Ungerechtigkeit und Entwürdigung. Margalit hat zu zeigen versucht, daß Übel wie gesellschaftlich akzeptierte Armut und Krankheit oder das Fehlen von sinnvollen Betätigungsmöglichkeiten nicht nur Unrecht sind, sondern auch die Menschenwürde verletzen, während dies für Arbeitslosigkeit und Ausbeutung nicht gelten muß, obgleich sie sicher Unrecht sind.16 Nun ist offensichtlich, daß Entwürdigung eine besonders schlimme Form von Unrecht ist. Aber nach welchen Kriterien soll man die Formen von Unrecht, die entwürdigend sind, von solchen unterscheiden, die das nicht sind? Meines Erachtens besteht das Kriterium darin, ob das demokratische Mehrheitsprinzip hier Legitimität verschaffen kann oder nicht. Verletzungen von Menschenwürde können (auf unserem Niveau der kulturellen Evolution) auch dann nicht legitim sein, wenn sie Ausdruck von Überzeugungen der Mehrheit sind. Denn sie verletzen Menschenrechte, über deren Gehalt nicht bloße Mehrheiten, sondern höchstens Verfassungen und oberste Gerichte legitim entscheiden können. Das bedeutet aber keineswegs, daß sich die Idee der politischen Gerechtigkeit auf die der Realisierung von Menschenrechten und Menschenwürde reduzieren läßt. Und sofern das nicht der Fall ist, ist der Gehalt der politischen Gerechtigkeit und der gerechten Politik von den vorherrschenden Gerechtigkeitsüberzeugungen abhängig, wie Marx glaubte. Zwar sollte man meines Erachtens gegenüber einem radikalen normativen Relativismus daran festhalten, daß die Idee der Gerechtigkeit auch jenseits der Menschenrechte in der Moderne einen Gehalt hat, der von Mehrheitsmeinungen unabhängig ist. Aber um starke moralische Rechte, die also Kriterien einer gerechten Politik sind, handelt es sich hier nur dann, wenn sie sozial vorherrschenden Überzeugungen entsprechen. Für die heute zentrale Frage der Verteilungsgerechtigkeit, die nach der Legitimität der Bezahlung nach Leistung, auch wenn diese nicht auf Mühe und Anstrengung beruht, heißt das meines Erachtens folgendes: Anders als bei der Hilfe für Behinderte handelt es sich bei der Bezahlung nach Leistung nicht um eine Frage der Menschenwürde und der Menschenrechte, aber sie ist offensichtlich ungerecht gegenüber den Minderbegabten. Trotzdem muß es kein Unrecht sein, wenn sie legal ist, nämlich dann nicht, wenn dies allen nützt und wenn es von der Mehrheit als rechtmäßig akzeptiert wird. Es leuchtet auch ein, daß diese beiden Bedingungen normalerweise zusammen erfüllt sind. Denn wenn die meisten sehen, daß eine Regelung allen nutzt, werden sie dazu neigen, sie als gerecht zu akzeptieren. Wenn wir also Margalits Unterscheidung von Entwürdigung und Ungerechtigkeit bzw. von Anstand und Gerechtigkeit als Unterscheidung von stärkeren und schwächeren Rech16

Avishai u.

Anne

Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, übers, Vonderstein, Frankfurt/M. 1999, 285 ff.

Margalit,

v.

Gunnar Schmidt

74

Andreas Wildt

können wir sagen, daß sich diese Unterscheidung mit Hilfe der stärkeren und schwächeren Rechten präzisieren läßt, die wir zur Unterscheidungen entwickelt Marx von haben: Die schwächeren Rechte von Margalit, die keine Deutung des bloßen Anstands und des Schutzes vor Entwürdigung sind, sind solche, die nur dann politisch implementiert werden dürfen, wenn sie allen nützen und wenn sie sozial dominierende Ideen geworden sind, also im Marxschen Sinn volle oder starke Rechte sind. ten

reformulieren,

so

von

II Die Idee

gerechter

Politik als Herausforderung an den Liberalismus

Herlinde Pauer-Studer

Liberalismus, bürgerliche Tugenden und

perfektionistische Bestrebungen

Eine merkwürdige Konsequenz der intensiven Debatten der letzten beiden Jahrzehnte über die Vorzüge und Schwächen des Liberalismus ist die jüngste Renaissance des Perfektionismus.1 Auf den ersten Blick gilt der Perfektionismus als hoffnungslos überholte Position der politischen Philosophie. Mit dem Perfektionismus verbinden wir Piatos Entwurf eines Staates, in dem die Regierenden über absolutes Wissen und über noblere Gesinnungen als die Regierten verfügen. Ihre epistemisch privilegierte Position verleiht den Regierenden die Autorität, von den Regierten verlangen zu können, nach jenem Ideal des Guten zu leben, welches die staatlichen Autoritäten als das richtige erkannt haben. Die moderne Demokratietheorie erschauert vor dieser Form des Perfektionismus. Mit seiner Berufung auf das absolut Wahre und Ideale gilt der Perfektionismus als gefährlich, als Hort der Intoleranz und als potentieller Wegbereiter totalitärer Entwicklungen.2 Doch die zeitgenössischen Vertreter des Perfektionismus konfrontieren uns mit weniger abstoßend wirkenden Versionen dieser Doktrin. Sie verteidigen eine Form des Perfektionismus, die beansprucht, sowohl mit dem grundlegenden Prinzip individueller Autonomie als auch mit dem Faktum des Wertepluralismus verträglich zu sein. Der Liberalismus, so die These der modernen Anhänger des Perfektionismus, muß auf die Kernpostulate des Perfektionismus zurückgreifen, wenn er seine Defizite überwinden will. Die derzeitige Aktualität des Perfektionismus wird von einem neu erwachten Interesse am Begriff der bürgerlichen Tugend begleitet. Eine zentrale These des Perfektionismus lautet, daß sich die politischen Institutionen an der Idee der Beförderung des Guten orientieren sollten. Die Frage der bürgerlichen Tugend wird insofern relevant, als sich die moralische Qualität von Gesellschaften nicht zuletzt am moralischen Status der Konzeptionen des Guten der einzelnen Gesellschaftsmitglieder bemißt. Wenn man sich an der Annahme „Je anständiger die Gesellschaftsmitglieder, um so besser die Gesellschaft" orientiert, dann folgt daraus, daß sich die staatlichen Institutionen und Funktionsträger für die moralischen Standards interessieren sollten, welche das Verhalten der Bürgerin1

2

Joseph Raz, The Morality of Freedom, Oxford 1986; Thomas Hurka, Perfectionism, Oxford 1993; George Sher, Beyond Neutrality. Perfectionism and Politics, Cambridge 1997; Joseph Chan, Legitimacy, Unanimity, and Perfectionism, in: Philosophy & Public Affairs 29 (2000), 5-42. Vgl. Karl R.

Popper, The Open Society and

Its

Enemies, Bd. 1, Princeton, N.J. 1962, Kap. 3.

78

Herlinde Pauer-Studer

in der Regel leiten. Doch diese Position scheint im Widerspruch zum des Liberalismus zu stehen, daß die politischen Institutionen einer Postulat grundlegenden Gesellschaft gegenüber den unterschiedlichen Konzeptionen des Guten der Bürgerinnen und Bürger neutral sein sollten. Der leitende Gesichtspunkt hinter dem liberalen Neutralitätspostalat ist der Schutz individueller Freiheit. Die Gesellschaftsmitglieder sollten frei wählen können, welche Form des Lebens sie für gut und erstrebenswert erachten. Dies bedingt, daß eine liberale Gesellschaft einige Lebensformen tolerieren muß, die von Idealen des Guten weit entfernt sind. Was folgt daraus für die liberale Haltung zum Problem der Tugenden? Kann der Liberalismus überhaupt eine akzeptable Konzeption der bürgerlichen Tugend entwickeln? Kann der Liberalismus dem Einwand begegnen, daß er dabei unweigerlich auf Prämissen und Annahmen des Perfektionismus zurückgreifen muß? Ich vertrete im folgenden die These, daß eine bestimmte Form des politischen Liberalismus den Herausforderungen durch den Perfektionismus durchaus begegnen kann und daß der Liberalismus auch in der Lage ist, der Idee der bürgerlichen Tugend Raum zu geben. Eine demokratische Gesellschaft läßt perfektionistische Bestrebungen zu, verzichtet aber auf den Perfektionismus, wenn es um die Rechtfertigung der grundlegenden politischen Institutionen geht. Abschließend versuche ich zu zeigen, daß das erneute Interesse am Perfektionismus und am Begriff der bürgerlichen Tugend in einigen Ausformungen einem fehlgeleiteten Versuch entspricht, die soziomoralischen Grundlagen demokratischer Gesellschaften zu definieren und zu festigen. nen

und

Bürger

Liberalismus und Neutralität

Neutralitätspostulat gilt als grundlegend für den Liberalismus. In den Formulierunprominenter Vertreter des Liberalismus, Ronald Dworkin und John Rawls, es: besagt Das

gen zweier It is

tenet of liberalism that the government of a political comshould be tolerant of the different and often antagonistic convictions its citizens have about the right way to live: that it should be neutral, for example, between citizens who insist that a good life is necessarily a religious one and other citizens who fear religion as the only a

fundamental, almost defining,

munity

dangerous superstition.3 [Individuals find their good in different ways, and many things may be good for one person that would not be good for another. Moreover, there is no urgency to reach a publicly accepted judgement as to what is the good of particular individuals.4

Anhänger des Perfektionismus konzentrieren ihre Einwände auf das Neutralitätsprinzip. Wenn die Neutralität nicht gilt, dann scheint es durchaus plausibel, eine Lebensform als wertvoller als eine andere und einige Konzeptionen des Guten als besser als andere Die

3

Ronald Dworkin, Foundations of Liberal Equality, in: Equal Freedom. Selected Tanner Lectures Human Values, hrsg. v. Stephen Darwall, Ann Arbor, Mich. 1995, 190-306, hier 191. John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge, Mass. 1971, 448. on

4

Liberalismus, bürgerliche Tugenden und perfektionistische Bestrebungen

79

betrachten. Doch die Frage stellt sich, ob die Zurückweisung des Neutralitätspostulats bereits als Rechtfertigung für den Perfektionismus ausreicht. Dworkins Haltung in der Neutralitätsfrage ist Teil seiner Liberalismuskonzeption, für die ein grundlegendes Gleichheitsprinzip zentral ist, welches verlangt, daß die Gesellschaftsmitglieder mit gleicher Achtung und Rücksichtnahme behandelt werden sollen. Dworkin interpretiert dieses abstrakte Gleichheitsprinzip als Basis einer spezifischen Konzeption distributiver Gleichheit, die besagt, daß die Bürgerinnen und Bürger dann als gleich behandelt werden, wenn ihnen ein gleicher Anteil an Ressourcen zusteht. Auf der Ebene der distributiven Gleichheit ergibt sich ein erstes Argument für die Neutralität. Gleichheit der Ressourcen impliziert Neutralität, da kein Gesellschaftsmitglied einen größeren Anteil an Ressourcen mit dem Argument beanspruchen kann, daß sein oder ihr Leben wertvoller als jenes der anderen ist. Die Ressourcen werden in Dworkins Konzeption durch ein Fairneß garantierendes Auktionsverfahren verteilt, das niemanden bevorzugt, da alle die gleichen Startbedingungen der Besitzlosigkeit vorfinden. Dworkins Theorie sieht nur im Fall unverdienter Ungleichheit eine Kompensation vor, also im Fall von Ungleichheiten, die das Resultat von natürlichem Pech (bad luck) sind (z.B. Behinderungen) und nicht das Ergebnis frei gewählter Risiken (option luck). Aus dem abstrakten Gleichheitsprinzip, dem Recht auf gleiche Achtung und Berücksichtigung, folgt ein allgemeineres Argument für Neutralität. Dieses Argument besagt, daß es der Idee der Gleichheit und Gleichwertigkeit widerspreche, wenn Regierungen und politische Institutionen die Bürgerinnen und Bürger zu einer bestimmten Form des guten Lebens zwingen. Die Bürgerinnen und Bürger, die eine von der Majorität abweichende Vorstellung des Guten verfolgen, erfahren dann keine gleiche Beachtung.5 Um Dworkins Rechtfertigung der Neutralitätsbedingung gut zu verstehen, ist es wichtig, seine Erklärung der ethischen Grundlagen des Liberalismus zu berücksichtigen. Dworkin setzt keine strikte Trennung des Rechten und des Guten voraus. Er versucht vielmehr, Politik und Ethik so zu verknüpfen, daß eine Kontinuität zwischen den Prinzipien der liberalen Moral und den philosophischen Ideen des guten Lebens gegeben ist. Dworkin betrachtet Gerechtigkeit als einen Parameter der Ethik, da nur jemand mit einem gerechten Anteil an Ressourcen ein gutes Leben zu führen vermag. Individuen können die ethischen Grundlagen des Liberalismus akzeptieren, ohne ihre grundlegenden Überzeugungen aufgeben zu müssen. Dworkins Prinzip liberaler Gleichheit ist aber nicht neutral gegenüber allen vorstellbaren Konzeptionen des guten Lebens. Jene, die nicht mit der Idee der Gleichwertigkeit aller und dem Prinzip der Gleichheit der Ressourcen übereinstimmen, werden nicht gefördert. Neutralität verbietet nicht „[that] a racist is thwarted who claims that his life's mission is to promote white superiority".6 Wir können die Freiheit, unterschiedliche Vorstellungen des Guten zu verfolgen, auf der Basis von Gründen der Gerechtigkeit oder aufgrund von ethischen Gründen einschränken. Im ersten Fall verbietet eine Gesellschaft eine bestimmte Form des Verhaltens, weil zu

5 6

Ronald Dworkin, Liberalism, in: ders., A Matter of Principle, Cambridge, Mass.-London 1985, 181-204, hier 191 ff.; ders., Foundations of Liberal Equality, 223 ff. Dworkin, Foundations of Liberal Equality, 304.

Herlinde Pauer-Studer

so

diese unverträglich ist mit den von der Gerechtigkeit gewährten individuellen Rechten. Im anderen Fall untersagt eine Gesellschaft ein bestimmtes Verhalten, weil dieses als herabsetzend, wertlos, erniedrigend, korrumpierend oder als einfach schlecht und böse wahrgenommen wird. Dworkin betrachtet nur die erste Art von Gründen als zulässig. Die Tatsache, daß eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe, ja sogar die Majorität, die ethischen Überzeugungen einer Person als falsch oder herabsetzend beurteilt, kann keine Begründung dafür sein, die Freiheit dieser Person einzuschränken.7 Liberale Gleichheit ist nicht neutral, was die Konsequenzen von Vorstellungen des Guten betrifft. Einige Lebensformen sind nach Dworkins Konzeption schwieriger zu leben als andere, nämlich jene, die gegen die Prinzipien der Gleichheit der Achtung und der Gleichheit der Ressourcen verstoßen. Doch Neutralität ist unabdingbar, wenn es um die Rechtfertigung politischer Regelungen und Maßnahmen geht. Es wäre mit der Idee der Gleichheit unvereinbar, wenn eine Regierung ihre Entscheidungen von den besonderen Präferenzen einiger Gesellschaftsmitglieder dahin gehend, wie andere leben sollten, abhängig macht. Auch bei Rawls findet sich eine subtile Verteidigung der Neutralität, da er zwischen prozeduraler Neutralität, Neutralität der Ziele und Neutralität der Konsequenzen und der Einflußnahme unterscheidet. Rawls' Theorie des Liberalismus ist nicht prozedural neutral, da die für Gerechtigkeit als Fairneß konstitutiven Prinzipien der Gerechtigkeit substantielle moralische Werte voraussetzen und nicht lediglich prozedurale Werte wie Unparteilichkeit, Konsistenz und gleiche Chancen für alle, ihre Ansprüche geltend zu machen. Gerechtigkeit als Fairneß ist neutral in bezug auf Ziele. Die grundlegenden Institutionen der Gesellschaft sind so strukturiert, daß sie von Gesellschaftsmitgliedern anerkannt werden können, die verschiedenen umfassenden Konzeptionen anhängen. Rawls unterscheidet klar zwischen der Neutralität der Ziele und der Neutralität der Konsequenzen. Neutralität der Konsequenzen ist nicht gegeben, da der politische Liberalismus es wahrscheinlicher macht, daß die Bürgerinnen und Bürger eine bestimmte umfassende Theorie wählen. Der politische Liberalismus ist nicht indifferent gegenüber unterschiedlichen umfassenden Konzeptionen, da er nur jene als zulässig erachtet, die mit den grundlegenden demokratischen Prinzipien übereinstimmen und die in einem übergreifenden Konsens Zustimmung finden können. Der politische Liberalismus zeigt sich nicht indifferent gegenüber den Verhaltensweisen der Gesellschaftsmitglieder, sondern ermutigt die Bürgerinnen und Bürger zur Annahme gewisser moralischer und politischer Tugenden. Die Stabilität einer liberalen Gesellschaft hängt davon ab, daß ihre Mitglieder Haltungen entwickeln, die sie zur Akzeptanz der Gerechtigkeitsprinzipien motivieren. Die politischen Tugenden, die Rawls als wesentlich für den politischen Liberalismus erachtet, beinhalten Arten des Urteilens und des Verhaltens, die eine soziale Kooperation ermöglichen.8 Die politischen Institutionen definie7

as no one deserves compensation because his ethical beliefs are (as judge) mistaken, so no one should be denied liberty on the same ground. In both cases, paternalism is misguided because it wrongly treats convictions as limitations or handicaps." (Ebenda, 303)

Dworkin schreibt: „Just we

8

Ebenda, 194.

Liberalismus, bürgerliche Tugenden und perfektionistische Bestrebungen

81

die Rolle der guten Bürger über die Anerkennung der Regeln, welche die grundlegenden Institutionen der Gesellschaft definieren. Die politischen Tugenden sind von jenen Tugenden zu trennen, die Teil einer umfassenden religiösen oder politischen Lehre sind. Rawls und auch Dworkin vertreten gleichermaßen eine Konzeption begrenzter Neutralität. Ihre Theorien setzen den Konzeptionen des Guten und des guten Lebens der Individuen Grenzen. Diese Einschränkungen leiten sich aber aus der Theorie der Gerechtigkeit ab, die den Kern dieser Liberalismusversionen bildet. Dennoch kritisieren die Vertreter des Perfektionismus selbst diese limitierte Neutralität. Worin liegen genau die Gründe ihres Unbehagens? Was kann denn so falsch daran sein, daß man Individuen eine gewisse Freiheit im Entwickeln einer ihnen wertvoll scheinenden Lebenskonzeption zugesteht? Warum sollte eine Gesellschaft mehr Ambitionen haben als jene, die Freiheit und Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger zu garantieren? Der wesentliche Einwand der Vertreter des Perfektionismus geht dahin, daß die limitierte Neutralität ein zu großes Maß an Indifferenz gegenüber den Konzeptionen des Guten der Individuen beinhaltet. Abgesehen von der Verletzung legal abgesicherter Normen haben Regierungen keinen Anlaß, sich in das Leben der Gesellschaftsmitglieder einzumischen. Doch Philosophinnen und Philosophen, die den Perfektionismus überzeugend finden, betrachten es als die Aufgabe von Regierungen „to promote morality. That means that governments should promote the moral quality of the life of those whose lives and actions they can affect".9 Die politischen Institutionen müssen sicherstellen, daß die Bürgerinnen und Bürger die wertvolleren Lebensformen den moralisch defizienten vorziehen. Gesellschaften haben ihre politischen Maßnahmen an Verbesserungen in diesem Sinn auszurichten. Es gibt einen Aspekt in Dworkins Liberalismus, der die Einwände von seiten der Verteidiger des Perfektionismus zumindest verständlich macht. Nach Dworkins Auffassung muß eine liberale Gesellschaft öffentliche Demonstrationen rassistischer und antisemitischer Haltungen tolerieren. Eine solche Gesellschaft muß in Kauf nehmen, daß einige Gesellschaftsmitglieder „böse Präferenzen" kultivieren und diese auch öffentlich kundtun. Dies scheint genau der Punkt zu sein, auf den die Anhänger des Perfektionismus ihre Kritik richten daß der Liberalismus, indem er böse Präferenzen zur Kenntnis nimmt, aber nicht verbietet, die Grenzziehung zwischen wertvollen und moralisch mangelhaften Lebensformen vernachlässigt. Ich halte diese Konklusion für falsch. Dworkins Toleranz rassistischer Äußerungen und Kundgebungen folgt nicht aus seinem Neutralitätspostulat, sondern ergibt sich als eine direkte Konsequenz seiner Interpretation des Rechts der freien Meinungsäußerung. Nach Dworkin haben Regierungen keinerlei Grund, rassistische oder sexistische Äußerungen gesetzlich zu verbieten. Im Kontext einer demokratischen Gesellschaft belaufen sich solche Äußerungen, wie Dworkin betont, auf eine Verletzung von Gefühlen. Doch dieser Umstand könne keine Rechtfertigung für ein gesetzliches Verbot sein. Denn dann wäre der Zensur Tür und Tor geöffnet, einer Zensur, die mit Hilfe einer bequemen Berufung auf Beleidigung und verletzte Gefühle letztlich vor der Unterdrückung politischer Kritik in Form von Satire und Pamphlet nicht haltmachen würde. ren

-

9

Raz, Morality of Freedom, 415.

82

Herlinde Pauer-Studer

Dworkin subsumiert Verhaltensformen unter die Kategorie „Rede", die nach Meinung einer Reihe von Kritikerinnen Handlungsarten darstellen.10 Mit Bezug auf Antisemitismus und Faschismus haben einige Länder wesentlich restriktivere legale Bestimmungen, als Dworkins Theorie erlaubt. Im Kontext unserer Diskussion muß Dworkins Interpretation des Rechts der freien Meinungsäußerung von der Frage der Neutralität getrennt werden. Es gibt gute Gründe, Dworkins zu weite Auslegung des Rechts der freien Meinungsäußerung zu kritisieren. Doch seine äußerst liberale Auslegung dieses Rechts bedeutet nicht, daß er indifferent gegenüber Rassismus und Antisemitismus ist. Obwohl wir, wie er betont, kein Recht zum gesetzlichen Verbot solcher Kundgebungen haben, so haben wir doch genügend Anlaß und jede Berechtigung, diese Weltanschauungen auf politischer Ebene mit politischen Mitteln zu bekämpfen. Liberale wie Dworkin setzen selbstredend nicht Rassismus mit moralisch wertvollen Lebensformen auf eine Stufe. Sie betrachten lediglich die Tatsache, daß eine politische Anschauung moralisch defizitär ist, als nicht ausreichend für das gesetzliche Untersagen ihrer öffentlichen

Äußerung.

Jede einigermaßen plausible politische Philosophie muß eine Unterscheidung zwischen gut und schlecht, zwischen wertvoll und wertlos machen. Der Liberalismus verfügt durchaus über einen Sinn für das Wertvolle und für die Suche nach einer besseren Gesellschaft. Da sich die liberale Neutralität nicht auf Indifferenz reduziert, kann der Perfektionismus nicht den Liberalismus mit dem Argument widerlegen, daß es wichtig sei, wertvolle politische Entscheidungen zu fördern. Vielleicht sind die Ziele des Perfektionismus „höherer Art". Möglicherweise geht es dem Perfektionismus nicht darum, von zwei Alternativen die moralisch wertvollere zu wählen, sondern um das wahre Gute und das absolut Beste für Gesellschaften und ihre Mitglieder. Wenn dies das Ziel des Perfektionismus ist, dann müssen sich die Vertreter des Perfektionismus fragen, ob die Maßnahmen, die sie zum Erreichen dieses Zieles einsetzen, nicht schlußendlich mit dem Prinzip der individuellen Freiheit in Konflikt geraten. Die zeitgenössischen Vertreter des Perfektionismus wollen keinesfalls das Prinzip der persönlichen Autonomie verletzen. Doch dann bleibt es unklar, wie sie für eine Form des Perfektionismus votieren können, die über die liberale Suche nach dem Wertvollen und Guten hinausgeht.

Perfektionismus Es gibt eine auffällige Differenz zwischen den antiken und den modernen Erscheinungsformen des Perfektionismus. In der antiken politischen Philosophie findet sich der Perfektionismus mit einer bestimmten erkenntnistheoretischen Doktrin verknüpft. Nur einige Menschen befinden sich in einer epistemischen Position, die Ideen des Richtigen und Guten zu erkennen. Und genau dieses Wissen verleiht ihnen die Autorität, über andere zu bestimmen. Da dieses Wissen einer Form absoluter Wahrheit entspricht, scheint es für die 10

Beispiel ist die feministische Kritik Only Words, Cambridge, Mass. 1993. Ein

der

Pornographie.

Siehe Catharine A. MacKinnon,

83

Liberalismus, bürgerliche Tugenden und perfektionistische Bestrebungen

Herrschenden legitim, die Untergebenen mit den Mitteln einer entsprechend restriktiven Erziehung in tugendhafte Bürgerinnen und Bürger zu formen. Dem modernen Perfektionismus, der sich im kategorialen Rahmen grundlegender demokratischer Werte wie Freiheit, Autonomie und Gleichheit bewegt, sind solche Ambitionen fremd. Doch die zentrale These des Perfektionismus lautet, daß die politische Philosophie eine wesentlich engere Verbindung zwischen intrinsischen Werten, die Teil einer objektiven Theorie des Guten sind, und politischen Maßnahmen annehmen muß, als dies der Liberalismus tat. So definiert Thomas Hurka den Perfektionismus als eine Theorie der Moral, die ein Ideal menschlicher Perfektion voraussetzt, das auf der Idee eines „guten menschlichen Lebens" als eines „intrinsisch wünschenswerten Lebens" basiert." Hurka definiert das gute Leben als eines, das die Eigenschaften kultiviert, die für die menschliche Natur konstitutiv sind, und zwar für die menschliche Natur in ihrer bestmöglichen Form. Der Perfektionismus kann, wie er schreibt, als eine Konzeption der persönlichen Moral verstanden werden, er kann aber auch als Form einer politischen Doktrin ausgelegt werden. Als eine Form der persönlichen Moral schreibt der Perfektionismus vor, welche Art von Menschen Individuen sein sollten und wie sie gegenüber anderen handeln sollten, um den Standards des perfektionistisch Guten zu entsprechen. Als politische Doktrin baut der Perfektionismus auf dem Prinzip auf „[that] the best political act, institution or government is that which most promotes the perfection of all humans".12 Ein Standardeinwand gegen den Perfektionismus lautet, daß er immer versucht ist, Maßnahmen in einer Art und Weise durchzusetzen, die mit dem Prinzip individueller Freiheit in Konflikt geraten. Nach Hurka kann jedoch der Perfektionismus Autonomie als intrinsisches Gut betrachten. Hurkas Perfektionismus betrachtet die Autonomie als nicht-absolutes Prinzip. Die Einschränkungen der Autonomie einer Person sind gerechtfertigt, wenn sie die zukünftige Freiheit der Person vergrößern. Ganz auf der Linie liberaler Theoretiker vertritt Hurka die These „that the state should not interfere with liberty except to protect the greater liberty of others".13 Damit befindet er sich in der Tradition des kantischen Liberalismus. Er muß also eine Form der Abgrenzung vom Liberalismus dahin gehend finden, daß für die Rechtfertigung der Einschränkungen der Autonomie andere Gründe angeführt werden, als sie der Liberalismus anbietet. Andernfalls würde Hurkas Argumentation im liberalen Paradigma verbleiben und könnte nicht die Vereinbarkeit von Autonomie und Perfektionismus begründen. Hurka formuliert das Argument zur Rechtfertigung der Einschränkungen der Autonomie auch in der Begrifflichkeit des Perfektionismus: Wenn dieser das Prinzip individueller Freiheit bejaht, indem er Autonomie als intrinsisches Gut betrachtet, dann verursacht jede Beschränkung der Autonomie „perfektionistische Kosten" und ist von daher nicht gerechtfertigt. So gesehen kann nur das Verfolgen eines größeren perfektionistischen Gutes nämlich jenes der größeren Freiheit der anderen dem Staat erlauben, die Freiheit einer Person einzuschränken.14 -

11 12 13

Hurka, Perfectionism, 149. Ebenda, 147.

14

Ebenda, 149.

Ebenda.

-

84

Herlinde Pauer-Studer

Die liberale Begründung von Einschränkungen der Autonomie verzichtet auf jeden Bezug auf ein perfektionistisches Gut und begnügt sich mit dem Verweis auf den grundlegenden Wert der Freiheit und dessen Reichweite. Doch genaugenommen spielt die Idee der Perfektion nicht die maßgebliche Rolle in Hurkas Begründung von Autonomiebegrenzungen. Die entscheidende Frage für Hurka ist, ob Einschränkungen der Freiheit die zukünftige Freiheit einer Person vergrößern. Doch dies beläuft sich auf ein von perfektionistischen Überlegungen freies Abwägen zwischen zwei Gütern. Es stellt keinen Ausdruck unseres Verlangens nach dem Vollkommenen dar, wenn wir von zwei Optio-

die eine wählen, weil diese die bessere Alternative zu sein scheint. Manchmal ist auch mit der minimal besseren Option zufrieden, weil dies unter den gegebenen Umständen einfach sinnvoller und einzig möglich scheint. Es ist ein grundlegendes Rationalitätspostulat, sich um das Bessere und Vielversprechendere zu bemühen. Wenn man die Wahl der besseren von zwei Alternativen als Ausdruck eines Strebens nach Perfektion versteht, dann erklärt man gleichsam alle Theorien der Moral und der Politik per definitionem zu perfektionistischen Theorien. Auf diese Weise würde der Perfektionismus trivialisiert. Somit folgt aus der Notwendigkeit legitimer Einschränkungen der Autonomie noch kein Argument für den Perfektionismus. In der Sphäre des Persönlichen ist das Streben nach Perfektion den Individuen überlassen. Sie entscheiden, welchen Gebrauch sie von ihren persönlichen Ressourcen für die bestmögliche Verwirklichung ihrer Ziele machen ob sie ausgezeichnete Musikerinnen, Dichter oder Basketballspielerinnen werden wollen oder ob sie keines dieser Ziele anspricht. Perfektion kann sich auch auf die Realisierung moralisch relevanter Eigenschaften und Ziele richten. Wenn diese moralisch relevanten Eigenschaften Charakteristika von Personen darstellen, befinden wir uns in der Sphäre der persönlichen Moral.15 Die meisten moralischen Theorien16 lassen die Vorstellung der Perfektion im Bereich der persönlichen Moral zu. Kant identifiziert zum Beispiel die moralisch gute Handlung mit einem Handeln in Übereinstimmung mit den Kriterien, die für den guten Willen konsumtiv sind. Moralische Perfektion bedeutet, einen guten Willen zu entwickeln. Kants Trennung zwischen Moral und Recht und die Art, wie er Moral mit der inneren Freiheit und das Recht mit der äußeren Freiheit assoziiert, zeigt klar, daß Kant die moralische Perfektion den Individuen überläßt. Autonome und selbstgesetzgebende Individuen entscheiden, ob sie willens sind, den Ansprüchen der Moral zu folgen, ob sie sich selbst als unter dem moralischen Gesetz stehend begreifen. Im Bereich der persönlichen Moral ist die Einmischung des Staates nicht erlaubt. Der Staat darf nicht vom inneren Leben der Gesellschaftsmitglieder Besitz ergreifen, um sie zu zwingen, moralisch perfekte und tunen

man

-

nicht aber eine beliebige subjektive Kennzeichnend für die Individualethik ist, daß sie sich auf die Frage richtet, welche Art von Personen Individuen sein sollten, welche Kriterien des guten Handelns für sie verbindlich sein sollten. Die „öffentliche Moral" ist demgegenüber die Summe der Prinzipien des Rechten, die angeben, nach welchen moralischen Richtlinien Gesellschaften gestaltet sein sollen. Den vorrangigen Status haben hier die Grundsätze der Freiheit und Gleichheit. 16 Dies gilt auch für den Utilitarismus in der von Mill vertretenen Version.

15

Mit

„persönlicher

Moral" ist Individualethik

gemeint,

Überzeugung, die sich eine Person als ihre „Ethik" zurechtgelegt hat.

Liberalismus, bürgerliche Tugenden und perfektionistische Bestrebungen

85

Staatliche Einmischung ist nur in der Sphäre des Rechts erlaubt, wenn dann die Freiheit der einen Person mit der Freiheit der anderen also angemessen, in Konflikt gerät. Kant betrachtet jeden Versuch, die Bürgerinnen und Bürger zu einer bestimmten Konzeption des guten Lebens zu zwingen, als Despotismus. Hurka selbst akzentuiert die Grenzen staatlichen Handelns. Da sich die Perfektion auf etwas „Aktives und Inneres" bezieht und das perfektionistische Gute für Hurka in einem „inneren Charakterzustand" besteht, scheinen die Grenzen der Einmischung offensichtlich.17 Der Staat kann die Bürgerinnen und Bürger nicht zwingen, tugendhaft und moralisch perfekt zu sein. Das Argument, daß der Staat sich nicht in das innere Leben der Individuen einmischen und ihre Freiheitsrechte respektieren sollte, wird für gewöhnlich als Rechtfertigung der liberalen Neutralitätsthese gelesen. Doch Hurka interpretiert die offensichtlichen Grenzen der staatlichen Einmischung dahin gehend, daß Perfektionismus und Liberalismus verknüpft sind. Der Umstand, daß perfektionistische Bestrebungen den Individuen nicht von außen aufgezwungen werden können, gebe dem Liberalismus eine neue Grundlage: „The liberal commitment to liberty need not rest on agnosticism about the good or on the view that only free choice is good. It can be grounded in a deep fact about human perfection: that each person's achievement of it must be largely her own."18 Dieses Argument ist merkwürdig, fast rätselhaft, da es im Grunde nur die liberale Position bekräftigt. Es untermauert nicht den Perfektionismus und weist diesen nicht als eine Alternative zum Liberalismus aus. Der Liberalismus ist nicht agnostisch in bezug auf das Gute. Die liberale Theorie verbindet Freiheit und Autonomie mit einer Theorie des Guten. Kants Liberalismus verbannt nicht die Idee der Perfektion, ordnet diese jedoch dem Bereich der persönlichen Moral zu und steckt die Grenzen perfektionistischer Ambitionen über das Prinzip der Neutralität ab. Hurka räumt einerseits die Notwendigkeit der Neutralität ein, auf der anderen Seite versucht er, aus diesem Faktum ein Argument für den Perfektionismus zu gewinnen. Aber wenn es als kennzeichnend für den Liberalismus gilt, das Streben nach Perfektion den Individuen zu überlassen, dann kann man diesen Umstand nicht als Rechtfertigung des Perfektionismus interpretieren. Daß man den Perfektionismus im persönlichen Bereich zuläßt, etabliert nicht den Perfektionismus als Doktrin der politischen Philosophie. Hurka versucht, den Perfektionismus als attraktive politische Philosophie zu präsentieren. Auf der politischen Ebene steht der Perfektionismus für die These, daß jene politischen Maßnahmen und Regelungen gut sind, welche die Perfektion aller Menschen optimal ermöglichen.19 Doch Hurka kommt um die Frage der Neutralität im Bereich des Politischen nicht herum. Dies folgt aus seiner Definition der Perfektion als eines „aktiven und inneren" Zustandes. Hurka räumt die tiefgehende Asymmetrie im Perfektionismus ein. Personen können ihre eigene Perfektion, nicht aber die der anderen verfolgen. Jeder Versuch staatlicher Institutionen, sich direkt die Vervollkommnung der Individuen zum Ziel zu setzen, führt mit hoher Wahrscheinlichkeit zu gegenteiligen Effekten.20

gendhafte Wesen zu sein.

17 18 19 20

Hurka, Perfectionism, 152 Ebenda, 153. Ebenda, 147. Ebenda, 155.

u.

153.

86

Herlinde Pauer-Studer

An diesem Punkt sind wir mit der Frage konfrontiert, ob sich irgendwelche substantiellen Differenzen zwischen dem Liberalismus und Hurkas autonomiebezogenem Perfektionismus aufzeigen lassen. Einer Theorie des Perfektionismus, die sich zu Neutralität, Freiheit und Abwesenheit von Zwang bekennt und die zu jeder Vorstellung absoluter Wahrheit Distanz hält, gehört zweifellos unsere Sympathie. Doch die Skepsis stellt sich ein, ob wir mit dem Akzeptieren einer solchen Theorie nicht vielmehr den Liberalismus in einer leicht veränderten Version bejahen. Der Disput zwischen Liberalismus und Perfektionismus konzentriert sich im wesentlichen auf folgende Punkte: erstens die zugmndeliegende Theorie der Werte, zweitens die Haltung gegenüber dem Paternalismus und drittens eine unterschiedliche Haltung in der Frage der staatlichen Verantwortung für die Förderung von Erziehungseinrichtungen und kulturellen Institutionen. Man muß aber genau analysieren, ob die Zugänge des Liberalismus und Perfektionismus zu diesen Fragen so verschieden sind, daß man von zwei unterschiedlichen Paradigmen der politischen Philosophie sprechen kann. Der Perfektionismus setzt eine objektive Theorie des Guten voraus, die einige Perfektionisten mit dem Begriff des intrinsischen Wertes verbinden. So müssen nach Hurka die politischen Maßnahmen von Regierungen auf der Annahme basieren, daß einige Lebensformen intrinsisch besser sind als andere.21 Aber warum sollte aus der These, daß es sinnvoll ist, den Begriff des intrinsischen Wertes einzuführen, bereits der Perfektionismus folgen? Dies hängt mit einem Defizit gewisser Versionen des Liberalismus zusammen. Einige Formen des Liberalismus verteidigen eine subjektive Wertekonzeption. Sie gehen davon aus, daß Werte und das Wertvolle von den unmittelbaren Präferenzen der Individuen und deren affektiven Verfaßtheiten abhängen.22 Gemäß einem präferenzbezogenen Verständnis von Werten stellt X einen Wert dar, wenn man eine Präferenz für X hat und X wählt. Ein Wert ist demnach der Ausdruck eines rein subjektiven Wunsches oder einer

subjektiven Entscheidung. Der Wertesubjektivismus

ist keine überzeugende Position.23 Wir können gute Gründe haben, rational über unsere Wünsche zu reflektieren und uns selbst zu fragen, ob unsere Präferenzen mit Prinzipien gerechtfertigt werden können, die niemand rationalerweise zurückweisen kann. Doch aus der Tatsache, daß es plausibel scheint, eine objektive oder intersubjektive Theorie der Werte anzunehmen, die Werte nicht auf den unmittelbaren Ausdruck von Wünschen und Präferenzen reduziert, können wir nicht ableiten, daß der Perfektionismus überzeugender als der Liberalismus ist. Es gibt Versionen des Liberalismus, die objektive Theorien des Guten und der Werte voraussetzen. Auf der Ebene ihres Zuganges zu Werten und ihrer Annahmen über Werte sind die Differenzen zwischen Perfektionismus und Liberalismus nicht entscheidend.24 21 22 23

Ebenda, 159. Sher, Beyond Neutrality, 8.

konkreten aktuellen Präferenzen lesen, auf unseren wohlerwogenen Präferenzen basieEntscheidungen ren sollten. Siehe Richard Arneson, Equality and Equal Opportunity for Welfare, in: Philosophy & Public Affairs 56 (1989), 77-93. 24 Für eine konstruktivistische Theorie der Werte, die sich mit dem Liberalismus vereinbaren läßt, siehe Elizabeth Anderson, Values in Ethics and Economics, Cambridge, Mass. 1993. Auch

Philosophen,

räumen

die Werte als Ausdruck

ein, daß wir

unsere

unserer

Liberalismus, bürgerliche Tugenden und perfektionistische Bestrebungen

87

Manchmal betrachten die Vertreter des Perfektionismus bereits die Verpflichtung einer politischen Theorie auf Werte als Argument dafür, daß sie diese Theorie als Form des Perfektionismus interpretieren. Der Grund für diese seltsame Interpretation geht auf Rawls' Verständnis des Perfektionismus zurück. Rawls assoziiert das Prinzip der Perfektion mit der Idee intrinsischer Werte, und er interpretiert den Begriff des Wertes als einen Ausdruck des Guten, der von den Prinzipien der Gerechtigkeit getrennt wird, die zu dem Konzept des Rechten gehören.25 Auf diese Weise unterscheidet Rawls scharf zwischen Werten und Prinzipien, und er zieht nicht in Betracht, daß die Prinzipien der Gerechtigkeit auch eine zugrundeliegende Wertekonzeption ausdrücken. Doch wir können uns sehr wohl fragen, ob Freiheit und Gleichheit für sich genommen wertvoll sind oder ob einer dieser Werte nur instrumentellen Status hat und wie sich diese zu dem übergeordneten Wert verhalten, daß nämlich die Mitglieder der Gesellschaft als Zwecke an sich behandelt werden sollen.26 Der politische Liberalismus basiert auf einer Konzeption grundlegender politischer Werte und kann überdies Platz machen für eine ausgereifte Theorie moralischer Werte. Daher genügt der bloße Appell an Werte nicht, um eine politische Theorie als eine Version des Perfektionismus zu begreifen. Ein nächster Unterschied zwischen dem Liberalismus und dem Perfektionismus betrifft deren Haltungen zum Paternalismus. Der Perfektionismus erlaubt einen moderaten Paternalismus, der „seatbelt legislation, compulsory medical insurance, and perhaps laws discouraging smoking" bejaht.27 Der Perfektionismus rechtfertigt den Paternalismus charakteristischerweise durch die Bezugnahme auf eine Theorie des Guten als einer Form menschlicher Vorzüglichkeit. Ich denke nicht, daß eine Berufung auf Ideen eines moralisch wertvollen oder perfekten Lebens notwendig ist, um eine Rechtfertigung für paternalistische Interventionen zu finden. Dies hätte überdies sehr problematische Konsequenzen. Wenn wir Restriktionen der Freiheit in einem bestimmten Fall damit rechtfertigen, daß wir auf ein Ideal des guten Lebens Bezug nehmen, das perfekter und erstrebenswerter als andere scheint, dann müssen wir einräumen, daß dieser Art des Argumentierens ein allgemeines Prinzip korrespondiert. Doch dann kann es leicht geschehen, daß die Freiheit, ein nichtreligiöses Leben zu führen, auf dem Spiel steht, da ein nichtreligiöses Leben vielen Bürgerinnen und Bürgern als nicht genügend perfektionistisch und idealitätsbezogen erscheint. Und wir können dann auch leicht mit der Forderung konfrontiert sein, daß homosexuelle Partnerschaften und Ehen verboten werden sollten, da sie nicht den Idealen der Perfektion und der intrinsischen Werte vieler Bürger entsprechen. Die Spannung zwischen Autonomie und dem Perfekten ist offensichtlich, und die Frage stellt sich, ob der Idee des Guten in einem genuin perfektionistischen System nicht Vorrang zukommt. Der Liberalismus rechtfertigt Restriktionen der individuellen Autonomie auf der Basis von drei Prinzipien, dem Prinzip der gleichen Freiheit, dem Prinzip der negativen

Rawls, Theory of Justice, 329. Vgl. dazu Herlinde Pauer-Studer, Autonom leben. Reflexionen über Freiheit und Gleichheit, Frankfurt/M. 2000, Kap. 1. 27 Hurka, Perfectionism, 158.

25 26

88

Herlinde Pauer-Studer

Konsequenzen und dem Schadensprinzip (harm principle).2^ Das erste Prinzip betrachtet Einschränkungen als zulässig, wenn sie notwendig sind, um die Freiheitsrechte anderer zu schützen. Gemäß dem zweiten Prinzip sind Einschränkungen dann legitim, wenn die Nichteinmischung zu größeren negativen Konsequenzen für eine andere Person führt als die Einmischung. Nach dem Schadensprinzip gelten Einschränkungen der Freiheit als legitim, wenn diese helfen, insgesamt Schaden zu vermeiden. Das Schadensprinzip und das Prinzip der negativen Konsequenzen gehören zu der liberalen Tradition.29 Der Liberalismus kann ebensogut wie der Perfektionismus paternalistische Interventionen

rechtfertigen. In der

Frage der Regierungsverantwortlichkeiten für die Subventionierung

von

Er-

scheint der Fall für den Perfektionismus aussichtsdie Idee von intrinsisch wertvolleren Lebensformen glauben, um den verpflichtenden Schulbesuch und auch die Subventionierung von Theatern, Opernhäusern und Konzerthallen zu rechtfertigen? Die Förderung von Kunst muß nicht Ausdruck einer perfektionistischen politischen Konzeption sein. Regierungen unterstützen kulturelle Institutionen, weil ein großer Teil der Gesellschaftsmitglieder Haltungen des Respekts diesen Institutionen gegenüber zum Ausdruck bringt und weil es gute Gründe gibt, diese Institutionen als wertvoll zu betrachten. Doch dies verpflichtet Regierungen um nichts mehr auf den Perfektionismus, als die Tatsache, daß ein Raucher das Rauchen aufgibt, diesen in einen Perfektionisten verwandelt. Hehre Ambitionen können dem Raucher gleichgültig sein, er hat vielleicht einfach entdeckt, daß er gute Gründe hat, das Rauchen aufzugeben um gesundheitlich zu überleben. Wir sehen also, daß eine Reflexion auf die Differenzen zwischen Perfektionismus und Liberalismus nicht schlüssig begründen kann, daß der Perfektionismus dem Liberalismus vorgezogen werden sollte. Notwendig sind allerdings einige Modifikationen gewisser liberaler Voraussetzungen.

ziehungs-

und

Kultureinrichtungen

reicher. Müssen wir nicht

an

-

28 29

Vgl. dazu Pauer-Studer, Autonom leben, 237-247. Anhänger des Perfektionismus wie Raz vertreten die These, daß das Schadensprinzip Teil einer perfektionistischen Moraltheorie ist. Ich denke aber nicht, daß Raz ein überzeugendes Argument dafür anbietet, warum das Schadensprinzip nur im Kontext des Perfektionismus von Bedeutung ist. Er schreibt: „Since .causing harm' entails by its very meaning that the action is prima facie wrong, it is a normative concept acquiring its specific meaning from the moral theory within which it is embedded. Without such a connection to a moral theory the harm principle is a formal principle lacking specific concrete content and leading to no policy conclusions." (Raz, Morality of Freedom, 414) Doch diese Aussage bezieht sich lediglich auf die Rolle der Moraltheorie bei der Bestimmung des Inhalts moralischer Prinzipien. Man kann aus diesem Faktum nur dann die Konklusion ableiten, daß der Perfektionismus unabdingbar ist, wenn man annimmt, daß jede Moraltheorie, welche mit den Begriffen ,gut', .besser' und ,böse' arbeitet, bereits perfektionistisch ist. Doch dies beläuft sich auf eine inflationäre Lesart des Begriffs der Perfektion, die beinahe alle Moraltheorien in Formen des Perfektionismus verwandelt.

Liberalismus, bürgerliche Tugenden und perfektionistische Bestrebungen

Die

bürgerlichen Tugenden und das Projekt des

89

Perfektionismus

Der Begriff der bürgerlichen Tugend spielt in den Diskussionen über die Verdienste und Defizite des Liberalismus, des Perfektionismus und des Republikanismus eine zentrale Rolle.30 Es ist ein interessanter Aspekt der gegenwärtigen Debatten, daß die Anhänger des Perfektionismus mittlerweile den Kommunitarismus als Form des Perfektionismus interpretieren.31 Der Hauptgrund dafür scheint zu sein, daß der Kommunitarismus eine objektive Theorie des Guten verteidigt, die starke Ansprüche in bezug auf die Werthaltungen der Gesellschaftsmitglieder erhebt. Diese sollten sich demnach an die Gemeinschaftswerte und an die Werte der sozialen Gruppen halten, in denen sie aufgewachsen sind. Es gibt auch andere Verlagerungen und Veränderungen zu beobachten. Michael Sandel, einer der wichtigsten kommunitaristischen Kritiker des Liberalismus, beschreibt nun seine Position als eine Form des Republikanismus.32 In der republikanischen Tradition finden sich laut Sandel die Ressourcen für eine überzeugendere Antwort auf die Frage der bürgerlichen Tugenden. Doch warum sollte uns der Appell an den Begriff der bürgerlichen Tugend auf den Perfektionismus oder den Republikanismus verpflichten? Warum brauchen demokratische Gesellschaften tugendhafte und wertorientierte Bürgerinnen und Bürger? Benötigen demokratische Gesellschaften mehr an moralischen Vorgaben als die rationale Erwartung, daß sich ein großer Teil der Bürgerinnen und Bürger an die Gesetze hält? Ein Rechtsstaat, so könnte man einwenden, entspricht doch nicht einer Institution moralischer Verdienstlichkeiten und moralischer Empfindungen; dem Rechtsstaat geht es vor allem darum, Regeln für die friedliche und gewaltfreie Koexistenz der Gesellschaftsmitglieder zu schaffen. Doch, so lautet ein wohlbekanntes Argument, ein Rechtsstaat kann nicht die soziomoralischen Voraussetzungen schaffen, damit die Gesellschaftsmitglieder kooperativ zusammenleben können.33 Dieses Verlangen nach einer soziomoralischen Basis einer regelorientierten Gesellschaft kreiert auch das Bedürfnis nach den

bürgerlichen Tugenden. Die mit dem Republikanismus und dem Perfektionismus sympathisierende Tradition der politischen Theorie assoziiert den Begriff der bürgerlichen Tugend mit der BereitIch möchte hier nicht in allen Details analysieren, welche Typen von Tugenden eine liberale Gesellschaft voraussetzt. Zur Debatte stehen in diesem Kontext Toleranz, Mut, Loyalität, Treue, Unabhängigkeit, Rechtsbewußtsein, die Tugenden der Arbeitsethik. Vgl. dazu William Galston, Liberal Purposes. Goods, Virtues, and Diversity in the Liberal State, Cambridge, Mass. 1991, Kap. 10. Ein Problem solcher Spezifizierungen liberaler Tugenden ist, daß sie oft tief in die Sphäre der persönlichen Moral hineinreichen. 31 Siehe Sher, Beyond Neutrality, 156. 32 Siehe Michael Sandel, Die Grenzen der Gerechtigkeit und das Gut der Gemeinschaft, in: Herlinde Pauer-Studer, Konstruktionen praktischer Vernunft. Philosophie im Gespräch, Frankfurt/M. 2000, 237-259, hier 252. 33 Siehe Ernst-Wolfgang Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt/M. 1976, 65-92. 30

90

Herlinde Pauer-Studer

schaft der Individuen, Ansprüche auf subjektive Vorteile zugunsten des gemeinsamen Guten aufzugeben. Die politische Gemeinschaft wird als ein Wert an sich selbst betrachtet. Die Bürgerinnen und Bürger zeigen bürgerliche Tugendhaltungen, wenn sie willens sind, von ihren egoistischen Interessen Abstand zu nehmen und das gemeinsame Gute zu

verfolgen. Im Republikanismus ist der Begriff der bürgerlichen Tugend mit der Idee der politischen Selbstgesetzgebung verbunden, wie dies etwa in Rousseaus politischer Philosophie der Fall ist. Die Gesellschaftsmitglieder sehen sich durch das Gesetz des allgemeinen Willens gebunden. Die mit der Idee des Bürgerstatus verknüpften spezifischeren politischen Tugenden, nicht zuletzt die der Teilnahme an den politischen Aktivitäten der Gemeinschaft, stellen nur einen spezifischen Aspekt der Idee der Selbstgesetzgebung in der öffentlichen Sphäre dar. Oft charakterisieren Philosophen die Unterschiede zwischen Liberalismus und Republikanismus in einer Weise, die einigen Formen des Liberalismus nicht gerecht wird. Der Liberalismus wird demnach mit der rationalen Maximierung egoistischer, in erster Linie ökonomischer Interessen assoziiert und gilt als die Philosophie der negativen Freiheit, als eine Doktrin, die nur Marktinteressen unterstützt. Aus dieser politischen Lehre, argumentieren die Kritiker, lasse sich nur schwerlich eine plausible Konzeption bürgerlicher Tugend gewinnen. Im Republikanismus, um diese Beschreibung des Gegensatzes zwischen Liberalismus und Republikanismus fortzusetzen, finde sich dagegen eine positive Konzeption der Freiheit. Eine positive Konzeption der Freiheit hängt mit der Idee zusammen, daß eine Gesellschaft ihre Bürgerinnen und Bürger befähigen sollte, ihre Ziele zu realisieren, indem sie ihnen die dafür notwendigen Mittel zur Verfügung stellt. Einen Aspekt dieser positiven Konzeption von Freiheit stellt die Idee der Selbstgesetzgebung dar. Die Selbstgesetzgebung findet zum einen in der Sphäre der persönlichen Moral Ausdruck in der Idee, daß das Subjekt sich selbst das moralische Gesetz gibt. Doch die Selbstgesetzgebung spielt auch in der Sphäre der politischen Moral eine Rolle hier ist sie an die Idee des gemeinschaftlichen Wohlergehens gebunden. Die bürgerliche Tugend wird als der freiwillige Beitrag zum gemeinsamen Guten verstanden. Die Vertreter dieser Charakterisierung von Republikanismus und Liberalismus argumentieren oft, daß der Republikanismus eine Erklärung für die soziomoralischen Voraussetzungen demokratischer Gesellschaften liefere, während das liberale Modell nur auf die sozioökonomischen Grundlagen -

-

der Gesellschaft reflektiere.34 Diese Interpretation des Liberalismus wird aber nur dem Libertarianismus oder Radikalliberalismus gerecht. Der egalitäre Liberalismus ist keineswegs auf ein Konzept negativer Freiheit und die egoistische Verfolgung der eigenen Interessen beschränkt. In den Theorien von Rawls und Dworkin finden wir die These, daß Individuen Anspruch auf Grundgüter und Ressourcen haben, die sie in positiver Hinsicht frei machen. 34

Siehe Herfried Münkler, Civil Society and Civic Virtue. Do Democratically Constituted Communities Require a Socio-Moral Foundation?, in: International Revue of Sociology 8(1998), 425-438, hier 435.

Liberalismus, bürgerliche Tugenden und perfektionistische Bestrebungen

91

Gleichermaßen können egalitäre Liberale nicht den Begriff der bürgerlichen Tugend ignorieren. Rawls ist sich sehr wohl im klaren, daß die Stabilität einer wohlgeordneten Gesellschaft auf Bürgerinnen und Bürger angewiesen ist, die in Übereinstimmung mit

den Prinzipien der Gerechtigkeit handeln. Rawls nimmt an, daß die Mitglieder der Gesellschaft aufgrund einer vernünftigen und angemessenen Sozialisation über einen Sinn der Gerechtigkeit verfügen, der sie motiviert, die grundlegenden Prinzipien der Gerechtigkeit zu respektieren.35 Das Problem der Stabilität zeigt sehr klar, daß liberale Gesellschaften in ihrer Existenz und ihrem Fortbestand von den moralischen Dispositionen und Tugenden ihrer Mitglieder abhängig sind. Daher können Republikaner und Perfektionisten ihre Position nur stärker machen, indem sie zeigen, daß die liberale Erklärung bürgerlicher Tugend mangelhaft und fehlerhaft ist. Wenn die bürgerliche Tugend als die Disposition definiert wird, sich an die Prinzipien der Gerechtigkeit zu halten, dann gilt der Respekt für die Rechte anderer als die zentrale Tugend. Republikaner und Perfektionisten interpretieren das Konzept bürgerlicher Tugend unterschiedlich. Ein voller Bürgerstatus umfaßt für sie die Möglichkeit, am Leben der Gemeinschaft teilzunehmen. Dies, so ihr Argument, setze mehr voraus als einen Sinn für Gerechtigkeit und Fairneß, nämlich einen Sinn für Gemeinschaft und Solidarität. Die Mitglieder der Gesellschaft sollten sich für jene verantwortlich fühlen, mit denen sie eine Gemeinschaft bilden. Dieses Verständnis bürgerlicher Tugend betont Aspekte, die in einigen Versionen des radikalen Liberalismus gewiß nicht vorrangig betont werden. Doch der Unterschied zum Konzept der bürgerlichen Tugend, welches der egalitäre Liberalismus vertritt, ist recht besehen nicht gravierend. Die Tugend der Achtung für die Rechte anderer steht im egalitären Liberalismus im Mittelpunkt. Solidarität wird in der Form des Respekts für die sozialen Rechte anderer präsent. Wenn man Solidarität nicht auf Wohltätigkeit und Mitleid reduzieren möchte, dann scheint es vernünftig, „Solidarität" als Achtang fur die Ansprüche anderer auf sozialen Schutz zu definieren. Der Einwand legt sich hier nahe, daß uns dies auf die Defizite des Liberalismus zurückwirft. Hier muß man berücksichtigen, auf welche Art der Tugend sich die Kritik genau bezieht. Das Problem ist, daß Republikaner, Perfektionisten und Kommunitaristen manchmal keine scharfe Unterscheidung zwischen der öffentlichen Moral und der persönlichen Moral ziehen, zwischen den Tugenden, die mit der Akzeptanz der grundlegenden Prinzipien einer demokratischen Gesellschaft zusammenhängen, und jenen Tugenden, die zum Bereich der persönlichen Moral zu zählen sind. Selbstredend ist eine Gesellschaft, in der sich die Mitglieder an den hohen Standards der persönlichen Moral orientieren und Empathie und Mitgefühl für ihre Mitmenschen zeigen, besser als eine Gesellschaft ohne diese moralischen Verbindlichkeiten. Fürsorglichkeit, Empathie, Freundlichkeit und Mitgefühl schaffen ein Klima des Vertrauens, der Toleranz und der sozialen Qualität. Es ist aber wichtig, ins Kalkül zu ziehen, daß diese Phänomene Teil der persönlichen Moral 35

Theory of Justice, § 76. In seinem späteren Werk modifiziert Stabilitätsproblems, da er nunmehr dem Faktum des Pluralismus

Siehe Rawls, sung des schenkt.

Rawls diese Lömehr Beachtung

92

Herlinde Pauer-Studer

sind und daß sie von der individuellen Bereitschaft der Individuen erzeugt werden, sich auf die moralischen Prinzipien einzulassen, welche diesen Haltungen zugrunde liegen. Der Begriff „Tugend" kann die Tugenden der persönlichen Moral meinen, also die Einstellungen einer moralisch anständigen Person. Darüber hinaus kann sich der Begriff aber auch auf die spezifischen Tugenden beziehen, die Bürgerinnen und Bürger auf der Ebene der öffentlichen Moral zeigen. In demokratischen Gesellschaften konzentriert sich die öffentliche Moral auf die grundlegenden Werte von Freiheit, Gleichheit und Autonomie. Die bürgerlichen Tugenden umfassen im Kontext der öffentlichen Moral, wie schon betont, die Achtung für die Rechte anderer, nämlich ihre Rechte auf Nichteinmischung, auf politische Teilnahme und ihre sozialen Rechte. So sehen wir, daß die soziomoralischen Grundlagen des Rechtsstaates von beiden Sphären konstituiert werden, von der Sphäre der persönlichen sowie jener der öffentlichen Moral. Wenn wir die Trennung zwischen persönlicher und öffentlicher Moral berücksichtigen, wird auch deutlich, daß die Kritik an der liberalen Konzeption der bürgerlichen Tugend nicht gerechtfertigt ist. Der egalitäre Liberalismus definiert den Begriff der bürgerlichen Tugend als die Disposition, sich an die Regeln zu halten, welche den vorrangigen Werten der öffentlichen Moral, nämlich Freiheit und Gleichheit, korrespondieren. Der Einwand, daß dies einer reduzierten Konzeption der Tugend entspricht, geht ins Leere. Denn diese Kritik beruht auf der Überlegung, daß der Begriff der Tugenden, um sinnvoll zu sein, von den vollen Möglichkeiten der persönlichen Moral Gebrauch machen muß. Selbstredend summieren sich die individualethischen Maximen und Haltungen im günstigsten Fall zu einer reichen Konzeption des sozialen Lebens und machen die Gesellschaften besser. Wer wollte dieser Banalität widersprechen? Es ist aber nicht die Aufgabe einer politischen Doktrin, eine Theorie der persönlichen Moral zu entwickeln. Es genügt, wenn die politische Theorie Raum schafft für die Individualmoral. Die jüngste Renaissance des Perfektionismus hat viel mit dem Projekt zu tun, die politische Philosophie moralisch substantieller zu gestalten. Der Perfektionismus bewegt sich auf beiden Ebenen der Ebene der persönlichen Moral und der Ebene der öffentlichen Moral. Ich habe dafür argumentiert, daß die Idee der moralischen Perfektion ihren adäquaten Ausdruck im Bereich der individuellen Moral findet. Liberalismus und Perfektionismus sind dann miteinander verträglich, wenn sich die Idee der Perfektion auf Vorstellungen der Vorzüglichkeit und Exzellenz in der Sphäre der Individualethik bezieht. Daß eine Gesellschaft Bürgerinnen und Bürger braucht, die nach moralischer Verbesserung und sogar nach Perfektion streben, ist aber noch lange kein Grund, den Perfektionismus als politische Lehre zu unterschreiben. Kann der politische Perfektionismus eine Alternative zum Liberalismus sein? Der klassische Perfektionismus verteidigt ein Zwangsmodell der moralischen Erziehung der Bürgerinnen und Bürger. Die zeitgenössischen Vertreter des Perfektionismus betonen jedoch, daß sie die Grundsätze der individuellen Autonomie und das Faktum des Pluralismus respektieren. Doch dann reduziert sich die Verbesserung der moralischen Qualität des Lebens der Bürgerinnen und Bürger auf eine recht bescheidene Angelegenheit ein Ziel, das überdies vom Liberalismus geteilt wird: daß nämlich der Staat die rechtlichen und sozialen Rahmenbedingungen für die moralischen Ambitionen der Bürgerinnen und Bürger -

-

Liberalismus, bürgerliche Tugenden und perfektionistische Bestrebungen

93

schaffen sollte. Der Staat kann nur Anreizsysteme schaffen, indem er Erziehung und kulturelle Förderung anbietet. Genau dies führt uns zum Liberalismus als der dahinterstehenden politischen Theorie zurück. Der Perfektionismus kann schlicht nicht über diese vorsichtige Form der Motivationsverstärkung hinausgehen, da alle weiter gehenden Ambitionen das zentrale Prinzip der Demokratietheorie verletzen würden, nämlich das der Autonomie. Autonomie besagt, daß die Bürgerinnen und Bürger jene Form des Lebens wählen, die sie leben wollen. Selbst wenn wir die Autonomie als ein perfektionistisches Prinzip, das auf das Wertvolle gerichtet ist,36 verstehen, gilt, daß die moralische Verbesserung dem autonomen Willen der Gesellschaftsmitglieder überlassen bleibt. Die Sinnhaftigkeit des Schaffens von Anreizsystemen für die moralische Verbesserung kann für sich genommen den Perfektionismus nicht als politische Alternative zum Liberalismus ausweisen. Gesellschaften sind bessere Orte des Zusammenlebens, wenn ihre Mitglieder gute Personen sind. Aber wie gut sie sein wollen, das bleibt ihnen überlassen. Es mag unbefriedigend scheinen, einen solch großen Teil der moralischen Qualität der Gesellschaft dem Willen der einzelnen zu überlassen, gut zu handeln. Doch die politische Philosophie sollte der Versuchung widerstehen, sich in einer stärkeren Form der Idee der bürgerlichen Tugend zu bemächtigen. Die Haltungen der bürgerlichen Tugend entwickeln sich am besten in den Händen der Bürgerinnen und Bürger. Der Preis einer freiheitsbezogenen politischen Philosophie ist, den Bürgerinnen und Bürgern zu vertrauen, daß sie das Beste aus ihren moralischen Ambitionen und Anstrengungen machen. Es wird unweigerlich Enttäuschungen geben, aber insgesamt wird eine solche Gesellschaft viel besser sein als die möglichen Alternativen bei weitem nicht perfekt, aber auch kein despotisches Desaster. -

36

Raz interpretiert die Autonomie als 417.

perfektionistisches Prinzip. Vgl. Raz, Morality of Freedom,

Peter Koller

Was ist und

soll soziale Gleichheit?

was

Einleitung Soziale Gleichheit ist derzeit jedenfalls in den reichen, fortgeschrittenen Gesellschafnicht sehr gefragt, weder in der realen Politik noch in der politischen Theorie. In der politischen Alltagsdebatte ist heute, anders als noch vor wenigen Jahrzehnten, von Gleichheit, sofern es nicht um Geschlechtergleichheit geht, kaum mehr die Rede. Die bestehenden gesellschaftlichen Ungleichheiten regen offenbar nicht sehr viele Leute auf, sei es, weil sie ihnen als normal oder zumindest erträglich erscheinen, oder auch nur deshalb, weil ihre wahren Dimensionen weithin unbekannt sind. Dieser Stimmungslage der öffentlichen Meinung entsprechen ähnliche Tendenzen in der gegenwärtigen politischen Theorie. Auch hier ist soziale Gleichheit nicht nur kein großes Thema mehr, sondern sie stößt in letzter Zeit sogar zunehmend auf harsche Kritik. Es werden immer mehr Stimmen laut, die den ,Egalitarismus', die angebliche Gleichheitsversessenheit des politischen Denkens der Moderne, als haltlos und verhängnisvoll verdammen und statt dessen die Werte der Würde, der Autonomie, der Freiheit und der Eigenverantwortung -

ten

-

beschwören.1

Dieser Befund mag einerseits überraschen, ist andererseits aber doch nicht schwer zu erklären. Er überrascht, wenn man bedenkt, daß die sozialen Ungleichheiten, vor allem die ökonomischen, in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur nicht abgenommen haben, sondern sogar enorm gewachsen sind und ständig weiter wachsen. In den meisten reichen Ländern der Welt, um von den armen gar nicht zu reden, sind die Arbeitseinkommen in Relation zu den Erträgen aus Kapital, ja mitunter sogar real, erheblich gesunken, und auch die Sozialquote, also die Höhe der staatlichen Sozialtransfers im Verhältnis zum Sozialprodukt, ist kleiner geworden. Ferner nehmen selbst in den reichsten Gesellschaften Knappheit und Armut nicht nur im Sinne relativer Benachteiligung, sondern auch in Gestalt absoluter Not wieder zu, während gleichzeitig der Reichtum der privi-

-

1

Siehe dazu den Sammelband: Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismusv. Angelika Krebs, Frankfurt/M. 2000. Vgl. auch Wolfgang Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, Stuttgart-Weimar 2000; Herlinde Pauer-Studer, Autonom leben. Reflexionen über Freiheit und Gleichheit, Frankfurt/M. 2000.

kritik, hrsg.

96

Peter Koller

legierten Gruppen ständig wächst, und zwar in erheblichem Umfang.2 Angesichts dieses Befundes fragt man sich, warum die in früheren Zeiten so wirkungsmächtige Idee der Gleichheit derzeit so wenig Resonanz findet und warum sie auch in der politischen Theorie auf zunehmende Ablehnung stößt. Dafür gibt es sicher mehrere verschiedene Gründe, die zusammenwirken. Ich möchte

nur

drei erwähnen, die mir besonders augen-

fällig

scheinen. Erstens sind zumindest in den fortgeschrittenen Gesellschaften, in denen sich eine rechtsstaatliche und demokratische Ordnung fest etablieren konnte, die fundamentalsten Erfordernisse sozialer Gleichheit, so vor allem die Gleichheit der bürgerlichen und politischen Rechte, heute weitgehend realisiert und unbestritten, und in den meisten von ihnen gibt es auch ein mehr oder minder gut entwickeltes System sozialer Sicherheit, das die Menschen gegen schlimme Notlagen schützt, ja ihnen mitunter sogar ein einigermaßen anständiges Auskommen gewährt. Damit sind immerhin gewisse Grundbedingungen sozialer Gleichheit erfüllt, welche die verbleibenden gesellschaftlichen Ungleichheiten nicht als so kraß erscheinen lassen mögen, daß ihnen viel Beachtung gebührte. Zugleich sind diese basalen Bedingungen sozialer Gleichheit offenbar so selbstverständlich geworden, daß ihre ideellen und sozialen Grundlagen gar nicht mehr weiter reflektiert werden, was ohnedies im Interesse der privilegierten Gruppen liegt, die der Gleichheitsidee aus naheliegenden Gründen ja seit jeher nicht viel abgewinnen konnten. Zweitens führt die erhebliche Beschleunigung des ökonomischen Wettbewerbs, die sich gegenwärtig im Gefolge des tiefgreifenden technischen Wandels und der Globalisierung der Märkte vollzieht, zu einer deutlichen Verschiebung der sozialen Machtverhältnisse, welche jenen gesellschaftlichen Kräften Auftrieb gibt, die vom Marktwettbewerb profitieren, und die Gruppen zum Schweigen bringt, die durch ihn verlieren. Darüber hinaus fördert der verschärfte Wettbewerb ein Konkurrenzdenken, das unvermeidlich eine gewisse Umpolung gemeinschaftsorientierter Wertorientierungen auf individualistischeigennützige Ziele wie Selbstbehauptung und persönliche Freiheit zur Folge hat.3 Das erklärt die gegenwärtige Renaissance eines ebenso abgestandenen wie vulgären Wirtschaftsliberalismus, der jede Forderung nach einer Regulierung des Wettbewerbs und des unternehmerischen Profitstrebens im Interesse der Arbeitenden und Konsumenten mit dem Hinweis auf den drohenden Verlust der Wettbewerbsfähigkeit und der Arbeitsplätze

pariert.4

Und drittens ist die Idee sozialer Gleichheit unter den Bedingungen entwickelter demokratischer Gesellschaften auch nicht mehr ohne weiteres evident, weil weder recht klar scheint, was soziale Gleichheit bedeutet, noch, warum sie überhaupt angestrebt werden soll. Da ihre einleuchtendsten und grundlegendsten Elemente, die rechtliche und die politische Gleichheit, weitgehend erfüllt sind und auch gar nicht zur Debatte ste2

3 4

Vgl. Ernst-Ulrich Huster, Armut in Europa, Opladen 1996; Wilhelm Adamy/Johannes Steffen, Abseits des Wohlstands, Darmstadt 1998; Alex Callinicos, Equality, Cambridge 2000.

Siehe dazu Robert B. Reich, Die neue Weltwirtschaft. Das Ende der nationalen Ökonomie (engl. 1991), übers, v. Hans-Ullrich Seebohm, Frankfurt/M. 1996. Vgl. Robert Kuttner, Everything for Sale (1996), Chicago, 111. 1999.

97

Soziale Gleichheit

nur noch die schwierige und umstrittene Frage, was soziale Gleichheit denn eigentlich meint, wenn es um die Verteilung sozialer Chancen und ökonomischer Mittel geht. Und da Gleichheit anders als Freiheit, Reichtum und andere schöne Dinge, die man für sich alleine genießen kann kein individuelles Gut ist, das die meisten Menschen für sich selber anstreben, ist in einer von individualistischen Werthaltungen dominierten Konkurrenzgesellschaft auch nicht mehr sofort einsichtig, worin ihr Wert besteht. Erschwerend kommt hinzu, daß die sozioökonomischen Ungleichheiten heute nicht mehr so offen zutage treten wie in den Klassengesellschaften früherer Zeiten, sondern sich in einer unüberschaubaren Pluralität individueller Existenzformen und Lebensstile verbergen.5 Alle diese Umstände, neben denen sich sicher noch einige weitere nennen ließen, tragen zu einem Meinungsklima bei, das für die Gleichheitsidee nicht günstig ist. Dabei ist es ganz normal und keineswegs erstaunlich, daß sich dieses Meinungsklima auch auf den philosophischen und sozialtheoretischen Diskurs niederschlägt, der ja für externe Einflüsse für gesellschaftliche Interessen und politische Machtverhältnisse keineswegs unempfindlich ist. Dennoch hat dieser Diskurs seine eigene Logik, nach der jede Auffassung mit entsprechenden Argumenten begründet werden muß und mit der Kraft der für oder gegen sie vorgebrachten Argumente steht und fällt. Da die meisten Autoren, die sich neuerdings gegen die Gleichheit und den Egalitarismus exponieren, ihr Geschäft natürlich verstehen, hat auch ihre Kritik insofern Hand und Fuß, als sie auf durchaus bedenkenswerten Argumenten beruht. Im großen und ganzen laufen diese Argumente, in grober Verkürzung zusammengefaßt, auf zwei Einwände hinaus. Der erste Einwand, der schon recht alt und auch ziemlich krude ist, geht dahin, daß soziale Gleichheit mit der Autonomie der Menschen unvereinbar, weil nur um den Preis unakzeptabler Einschränkungen ihrer individuellen Freiheit realisierbar sei.6 Freilich folgt aus diesem Argument allein nicht viel, solange nicht geklärt ist, was individuelle Freiheit meint und welches Gewicht sie hat, worauf soziale Gleichheit zielt und worin ihr Wert besteht, und schließlich, in welchen Hinsichten Freiheit und Gleichheit in Konflikt geraten. Hier springt der zweite Einwand ein, der einigermaßen neu und auch raffinierter ist. Er besagt, daß soziale Gleichheit als solche überhaupt keinen intrinsischen, keinen originären Eigenwert besitze, sondern bloß ein Mittel zu anderen in sich wertvollen Zwecken oder eine Nebenfolge der Realisierung solcher Zwecke darstelle, die ihrerseits nur aus der Autonomie jeder Person begründbar seien, wie z.B. die Gewährleistung universeller Menschenrechte oder die Bereitstellung der für ein anständiges Leben erforderlichen wirtschaftlichen Mittel.7

hen, stellt sich

-

-

-

5 6

7

-

Hans-Peter Müller, Sozialstruktur und Lebensstile, Frankfurt/M. 1992. So z.B. Friedrich August von Hayek, Die Verfassung der Freiheit (engl. 1960), Tübingen 1971, 105ff; Robert Nozick, Anarchie, Staat, Utopia (1974), übers, v. Hermann Vetter, München o.J. (1976), 152ff. In diese Richtung argumentieren u.a. Harry Frankfurt, Gleichheit und Achtung (engl. 1997), übers, v. Thomas Bonschab, in: Gleichheit oder Gerechtigkeit, 38-49; Angelika Krebs, Würde statt Gleichheit, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47 (1999), 291-311; Pauer-Studer, Autonom leben, 37 ff.

Vgl.

98

Peter Koller

Ich finde beide Einwände, die sich ergänzen und nur zusammen eine interessante Kritik der Gleichheitsidee ergeben, unzutreffend und möchte diese Idee verteidigen. Dabei will ich aber die rezente Egalitarismusdiskussion, die mir in vielen Hinsichten irreführend und verquer erscheint, auf sich beruhen lassen und statt dessen zu klären versuchen, was soziale Gleichheit eigentlich meint und worin ihr Wert besteht. Zu diesem Zweck werde ich zuerst den Begriff der Gleichheit untersuchen und explizieren, was soziale Gleichheit ist oder genauer: wie sie im Einklang mit ihrem vorherrschenden Verständnis in der politischen Debatte und im wissenschaftlichen Diskurs sinnvollerweise zu verstehen ist. Danach werde ich mich der Frage zuwenden, was soziale Gleichheit soll, d. h., worin ihr Wert oder Zweck besteht. In diesem Kontext, in dem meine persönliche politische Haltung ganz unvermeidlich stärker zum Vorschein kommen wird, werde ich zu begründen versuchen, warum soziale Gleichheit trotz des Gegenwindes, der ihr gegenwärtig entgegenweht, nach wie vor wünschens- und erstrebenswert ist.

Was ist soziale Gleichheit? Der Begriff der sozialen Gleichheit, der hier zur Debatte steht, unterscheidet sich in wesentlichen Hinsichten von jenem Gleichheitskonzept, das in den empirischen Sozialwissenschaften, wie in der Soziologie, Politikwissenschaft und Ökonomie, zur Beschreibung und Erklärung sozialer Ungleichheiten, vor allem solcher des politischen Einflusses, der sozialen Reputation oder der ökonomischen Lage, verwendet wird. Für diese Zwecke ist ein wertfreies Konzept von Gleichheit und Ungleichheit vonnöten, mit dem es möglich ist, die in Betracht stehenden Ungleichheiten in angemessener Weise zu klassifizieren, zu beschreiben und allenfalls auch zu messen, ohne damit eine Wertung zu verbinden.8 Demgegenüber ist der Begriff der sozialen Gleichheit, um den es im vorliegenden Zusammenhang geht, ein politischer Begriff, der nicht in erster Linie zur Beschreibung, sondern vielmehr zur Bewertung, also zur Legitimation oder Kritik sozialer Verhältnisse dient und darum im wesentlichen normativ-evaluativen Charakter hat.9 Damit hängen einige hervorstechende Merkmale seiner Struktur zusammen.

Die Struktur sozialer Gleichheit Der normative Charakter des politischen Gleichheitsbegriffs erklärt, warum dieser Begriff, wie im übrigen auch viele andere Konzepte der politischen Sprache, stets in hohem Maße umstritten war und es auch heute noch ist. Gerade weil er als eine öffentliche Richt8

9

Vgl. Amartya Sen, Ökonomische Ungleichheit (engl. 1973), übers, u. eingel. v. Hans G. Nutzinger, Frankfurt/M.-New York 1975; Manfred Prisching, Soziologie, Wien-Köln-Weimar 31995, 312 ff.; Anthony Giddens, Soziologie (engl. 1989), hrsg. v. Christian Fleck u. Hans Georg Zilian, nach der 3. engl. Aufl. 1997 übers, v. Hans Georg Zilian, Graz 21999, 263ff. Vgl. Ronald Dworkin, Sovereign Virtue. The Theory and Practice of Equality, Cambridge, Mass.-London 2000, 125f.

Soziale Gleichheit

99

schnür zur Bewertung sozialer Verhältnisse verstanden wird, ist er unvermeidlich selber ein Gegenstand des politischen Meinungsstreits, in dem verschiedene gesellschaftliche Interessen und Ordnungsvorstellungen versuchen, die Deutung des Gleichheitsbegriffs in ihrem Sinne zu beeinflussen. Dennoch wäre es verfehlt, daraus zu folgern, dieser Begriff besitze gar keinen allgemein akzeptierten Sinngehalt, weil es in diesem Falle völlig unerklärlich bliebe, warum die Gleichheitsidee im politischen Denken eine so wichtige Rolle spielt. Es ist daher sehr wahrscheinlich, daß es trotz aller politischen Meinungsdifferenzen um den Gleichheitsbegriff doch einen gewissen, wenn auch möglicherweise nur kleinen gemeinsamen Nenner übereinstimmender Begriffsverwendungen gibt, der den heute weithin akzeptierten Bedeutungskern dieses Begriffs ausmacht. Um diesen Bedeutungskern herauszuschälen, möchte ich im folgenden eine Explikation des Gleichheitsbegriffs versuchen, die aus der Sicht aller oder zumindest der meisten politischen Auffassungen, die einer Moral der gleichen Achtung verpflichtet sind, akzeptabel ist. Ich beginne mit einigen wenigen Bemerkungen zur logischen Struktur der Sätze, die das sprachliche Inventar des politischen Konzepts sozialer Gleichheit bzw. Ungleichheit bilden. In logischer Hinsicht stellen die Terme .Gleichheit', ,gleich', .Ungleichheit' und .ungleich' Relationsbegriffe dar, die im vorliegenden Kontext dazu dienen, verschiedene Menschen unter bestimmten Gesichtspunkten, nämlich im Hinblick auf bestimmte Eigenschaften oder Umstände, in Beziehung zu setzen bzw. zu vergleichen. So kann man sagen, daß sich Menschen in Hinsicht auf bestimmte Eigenschaften oder Umstände entweder gleich oder ungleich sind, z.B.: ,X leistet gleich viel (mehr/weniger) wie (als) Y.' Das ist freilich nichts weiter als ein einfacher Aussagesatz, der für sich alleine keinerlei normative Konsequenzen impliziert. Das politische Konzept der sozialen Gleichheit operiert nun mit etwas komplexeren Sätzen, die jeweils einen solchen Aussagesatz mit einem zweiten Relationssatz verknüpfen, der normativen Charakter hat und eine bestimmte Behandlung der betreffenden Personen verlangt, z.B.: ,X soll gleich viel (mehr/weniger) verdienen wie (als) Y.' Wir haben es also mit zwei Relationen zu tun, einer Relation zwischen irgendwelchen Eigenschaften oder Lebensumständen von Personen und einer weiteren Relation zwischen Handlungsweisen gegenüber diesen Personen, wobei diese Relationen so verknüpft werden, daß sich ein konditionaler Normsatz ergibt, der zum Ausdruck bringt, daß die betreffenden Personen, insoweit sie sich hinsichtlich jener Eigenschaften oder Lebensumstände entweder gleichen oder unterscheiden, entweder gleich oder verschieden zu behandeln sind. Werden die beiden früher genannten Beispielsätze auf diese Weise verknüpft, so ergeben sie zusammen den Normsatz: .Wenn X gleich viel (mehr/weniger) leistet wie (als) Y, dann soll X gleich viel (mehr/weniger) verdienen wie (als) Y.' Natürlich können solche Sätze vielfältig abgewandelte Gestalten annehmen, etwa auch generelle Forderungen zum Ausdruck bringen, wie z. B. die Sätze: ,Wer mehr leistet, der soll auch mehr verdienen'; ,Wenn Eltern keine einsichtigen Gründe haben, die eine Ungleichbehandlung ihrer Kinder rechtfertigen, sollen sie diese gleich behandeln'. Soviel zur formalen Grundstruktur der Sätze, welche die Elemente des Konzepts der sozialen Gleichheit darstellen. Bei näherer Betrachtung erweist sich dieses Konzept als ein ziemlich komplexes und vielschichtiges Ding, das sich aus einer ganzen Reihe von

100

Peter Koller

teils allgemeinen, teils spezielleren Sätzen der beschriebenen Art zusammensetzt. Da alle diese Sätze eine gewisse Gleichbehandlung von Menschen unter bestimmten Ausgangsbedingungen fordern, seien sie Gleichheitspostulate genannt. Um sich ein anschauliches Bild vom Gleichheitsbegriff zu machen, kann man ihn mit einem Kohlkopf vergleichen: Ähnlich wie ein Kohlkopf enthält der Gleichheitsbegriff in seinem Innersten einen kompakten Stamm, den seine grundlegendsten und allgemein akzeptierten Postulate bilden. Um diesen Stamm herum liegt ein relativ fester Korpus von mehreren aus ihm entspringenden, übereinanderliegenden, schmackhaften Blattschichten, denen die mehr speziellen und substantiellen, im großen und ganzen aber ebenfalls unstrittigen Postulate sozialer Gleichheit entsprechen. Und ganz außen befinden sich einige weitere Blätter, die loser am Stamm hängen, mehr harte Fasern enthalten und oft auch von Schnecken angenagt sind; das sind die zwar irgendwie einsichtigen, aber ziemlich umstrittenen und meist sehr vagen Postulate. Insgesamt setzt sich das Konzept der sozialen Gleichheit aus sieben Postulaten zusamoder vom Allgemeinen zum men, die man in der Reihenfolge von innen nach außen Besonderen wie folgt benennen kann: -

-

allgemeinste, unbestrittene Postulate (Stamm)

(1) (2)

gleiche Achtung soziale Gleichbehandlung

(3) (4) (5)

rechtliche Gleichheit gleiche Freiheit gleiche politische Teilhabe

speziellere, weithin anerkannte Postulate

(6) (1)

soziale Chancengleichheit ökonomische Gerechtigkeit

umstrittene Postulate

(feste Blattschichten) (lose Außenblätter)

Ich möchte diese Postulate, die zusammen den gesuchten Bedeutungskern des der sozialen Gleichheit ausmachen, der Reihe nach in Kürze erläutern.

Begriffs

Die Postulate sozialer Gleichheit

gleichen Achtung geht von der durchaus anspruchsvollen normatiVoraussetzung aus, daß alle Menschen grundsätzlich, sozusagen von Natur aus, gleichwertig sind oder gleiche Würde haben, und es fordert, daß wir andere Menschen als Gleiche behandeln sollen. Das schließt nicht aus, daß es unter gewissen Umständen zulässig, ja sogar geboten ist, Menschen ungleich zu behandeln, aber eben nur dann, wenn eine solche Ungleichbehandlung mit ihrer Anerkennung als Gleiche verträglich ist. Das bedeutet, daß wir andere nicht bloß als Mittel für unsere eigenen Zwecke betrachten dürfen, sondern sie nach Regeln behandeln müssen, von denen wir glauben, daß ihnen jede (1)

Das Postulat der

ven

Person bei rechter 10

Erwägung zustimmen könnte.10

Vgl. Dworkin, Sovereign Virtue, 11; Pauer-Studer,

Autonom

leben, 54ff.

101

Soziale Gleichheit

Das Postulat der

gleichen Achtung bildet das Fundament jeder universellen

Moral und in diversen Normen Universalität moralischer sowie bekannten findet Ausdruck in der Moralprinzipien, wie etwa der Goldenen Regel, dem Kategorischen Imperativ und anderen Versionen des Universalisierungsgrundsatzes. Das Postulat führt zwar für sich allein genommen nicht sehr weit, bekommt aber zunehmenden Biß, wenn es mit weiteren, gehaltvollen Annahmen verbunden wird. Wird es nur mit einigen banalen anthropologischen Einsichten betreffend die Natur des Menschen und die Bedingungen menschlicher Koexistenz verknüpft, so kann es schon eine universelle Minimalmoral fundieren, die aus den überall akzeptierten moralischen Unterlassungspflichten besteht. Nimmt man noch einige weitere, ebenfalls sehr plausible Annahmen hinzu, kann man damit einige der grundlegendsten Menschenrechte begründen." (2) Das Postulat der sozialen Gleichbehandlung bezieht sich, anders als das Gebot der gleichen Achtung, nicht auf zwischenmenschliches Handeln schlechthin, sondern auf das wechselseitige Verhalten von Menschen, insoweit sie eine soziale Gemeinschaft bilden, etwa eine Familiengemeinschaft, eine Dorfgemeinschaft, eine Arbeitsgemeinschaft oder ein politisches Gemeinwesen. Menschen, die in irgendeiner Hinsicht in einem Gemeinschaftsverhältnis stehen, sind miteinander enger verbunden als mit anderen: Sie schulden einander mehr und können auch mehr voneinander fordern, weil sie bezüglich der ihnen gemeinsam zukommenden Güter und Lasten entsprechenden Forderungen der Verteilungsgerechtigkeit unterliegen, die sonst nicht bestehen. In dieser Verstärkung wechselseitiger Verbindlichkeiten und Ansprüche liegt ja überhaupt der moralische Sinn menschlichen Gemeinschaftsbildung.12 Wenn wir als Mitglieder einer Gemeinschaft einander gleiche Achtung zollen, kommen wir nicht umhin, das Postulat der sozialen Gleichbehandlung zu akzeptieren. Es verlangt, daß die Mitglieder einer Gemeinschaft einander gleich behandeln sollen und daß ihnen hinsichtlich ihrer gemeinsamen Angelegenheiten gegeneinander die gleichen Ansprüche und Verbindlichkeiten zukommen müssen, sofern eine Ungleichbehandlung nicht durch gute Gründe gerechtfertigt ist, durch Gründe also, die aus unparteiischer Sicht

jeder

allgemein akzeptabel scheinen.13

Siehe dazu Otfried Hoffe, Sieben Thesen zur Anthropologie der Menschenrechte, in: Der Mensch ein politisches Tier?, hrsg. v. Otfried Hoffe, Stuttgart 1992, 188-211. 12 Vgl. Peter Koller, Gemeinschaft und Gerechtigkeit im Disput zwischen Liberalismus und Kommunitarismus, in: Soziologie und Gesellschaftskritik. Beiträge zum Verhältnis von Normativität und sozialwissenschaftlicher Analyse, hrsg. v. Andreas Balog u. Johann August Schülein, Wien 1993, 75-109; David Miller, Principles of Social Justice, Cambridge, Mass.London 1999, 25 ff. 13 Vgl. David D. Raphael, Equality and Equity (1946), in: ders., Justice and Liberty, London 1980, 1-17; Hugo A. Bedau, Egalitarianism and the Idea of Equality, in: Equality, hrsg. v. J. Roland Pennock u. John W. Chapman, New York 1967, 168-180; William T. Blackstone, On the Meaning and Justification of the Equality Principle, in: Ethics 77 (1967), 239-253; Joel Feinberg, Social Philosophy, Englewood Cliffs, N.J. 1973, 99ff.; John C. Rees, Soziale Gleichheit. Anspruch und Wirklichkeit eines politischen Begriffs (engl. 1971), übers, v. Heinzgeorg Neumann, Frankfurt/M.-New York 1974, 107 ff. 11

-

102

Peter Koller

eine sehr abstrakte und auch eine ziemlich schwache Gleichheitsforderung, eigentlich bloß eine Präsumtion für die Gleichheit, der zufolge relevante Ungleichheiten zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft, nämlich Ungleichheiten ihrer wechselseitigen Rechte und Pflichten betreffend die gemeinsamen Angelegenheiten, begründungspflichtig sind. Welche Ungleichheiten relevant sind bzw. worin die gemeinsamen Angelegenheiten bestehen, welche Gründe Ungleichheiten rechtfertigen können und wie weit diese Ungleichheiten gehen dürfen, das alles läßt sie offen. Um diese Variablen weiter zu konkretisieren, sind konkretere Sozialverhältnisse ins Auge zu fassen. Soviel zu den beiden ersten Postulaten, die zusammen gewissermaßen den inneren Stamm des Begriffs der sozialen Gleichheit verkörpern, aus dem dann seine anderen Blattschichten wachsen. Das erste der genannten Postulate ist überhaupt das Grundprinzip einer jeden universellen Moral, das zweite das allgemeinste Grundprinzip der sozialen Gerechtigkeit. Beide haben sich zwar erst in der Neuzeit in den westlichen Gesellschaften allgemein durchgesetzt, sind aber heute so gut wie unbestritten. Die nächsten drei Postulate, die die festeren Blattschichten um den Stamm herum bilden, beziehen sich nicht mehr auf irgendwelche Gemeinschaften, sondern auf gesellschaftliche Gemeinwesen oder genauer: auf deren institutionelle Ordnungen. Sie sind schon etwas speziellere und gehaltvollere Forderungen, die aber gegenwärtig ebenfalls allgemein akzeptiert und nicht einmal von den Kritikern der Gleichheitsidee angezweifelt werden. (3) Das Postulat der rechtlichen Gleichheit besagt, daß alle Mitglieder einer Gesellschaft den gleichen Rechtsstatus bzw. die gleichen allgemeinen Rechte und Pflichten haben müssen. Und das impliziert, daß diese Rechte und Pflichten auf allgemeinen Regeln oder Gesetzen beruhen müssen, die für alle Mitglieder gleichermaßen gelten. Das schließt rechtliche Ungleichheiten oder Differenzierungen nicht aus, aber diese Differenzierungen müssen ihrerseits durch rechtliche Regeln vorgenommen werden, denen alle unterworfen sind.14 Das Postulat der rechtlichen Gleichheit ergibt sich unmittelbar aus den beiden ersten Postulaten, weil jeder Versuch, Ungleichheiten der allgemeinen Rechte und Pflichten zu begründen, notwendig mit dem Postulat der gleichen Achtung in Widerspruch gerät. Wenn rechtliche Differenzierungen, also Unterschiede der besonderen Rechte oder Pflichten, als gerechtfertigt erscheinen, kann dies immer durch eine geeignete Formulierung der Anwendungsbedingungen der allgemeinen Rechtsregeln geschehen; aber dafür, schon diese Regeln selber auf bestimmte Personen zu begrenzen und andere davon auszunehmen, kann es a priori keine guten Gründe geben. (4) Das Postulat der gleichen Freiheit bringt zum Ausdruck, daß jede Person Anspruch auf die gleiche Freiheit hat, ihr Leben nach eigenem Gutdünken zu gestalten, und zwar im weitestgehenden Umfang, in dem dies im Rahmen einer friedlichen und zweckmäßigen sozialen Ordnung möglich ist.15 Auch diese Forderung ergibt sich aus den beiDas ist offensichtlich

14

Alexy, Theorie der Grundrechte, Baden-Baden 1985, 357ff.; Reinhold Zippelius, (1989), in: ders., Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, Berlin 21996, 306-327. Siehe John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit (engl. 1971), übers, v. Hermann Vetter, Frankfurt/M. 1975, 223 ff.; Peter Koller, Grundlinien einer Theorie gesellschaftlicher FreiVgl.

Robert

Der Gleichheitssatz

15

nur

Soziale Gleichheit

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den erstgenannten Postulaten, wenn erstens Freiheit als ein grundlegendes Gut verstanden wird, von dem jede Person möglichst viel haben will, und wenn man zweitens davon ausgeht, daß es gute Gründe für eine Ungleichverteilung der individuellen Freiheiten nicht gibt. Wenn es zutrifft, daß solche Gründe nicht existieren, dann aber nicht deshalb, weil solche Gründe per se mit dem Gebot der gleichen Achtung unvereinbar wären, sondern weil die Gründe, die sich vorbringen ließen, schwerlich überzeugen. Denn es ist kaum einsichtig zu machen, daß es ein allgemeines Interesse daran geben könnte, ungleiche Freiheiten zu etablieren.16 Obwohl das Postulat der gleichen Freiheit als solches allgemein akzeptiert und unbestritten ist, gibt es über seine Interpretation und Konkretisierung beträchtliche Meinungsverschiedenheiten, auf die ich hier aber nicht einzugehen brauche, weil ich mich darauf beschränken will, den allgemein geteilten Bedeutungskern des Begriffs der sozialen Gleichheit herauszuarbeiten. (5) Das Postulat der gleichen politischen Teilhabe bekräftigt den gleichen Anspruch aller Gesellschaftsmitglieder, an der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung über gemeinsame Angelegenheiten mitzuwirken. Hier gilt cum grano salis dasselbe wie im Fall der gleichen Freiheit, mit der die politische Teilhabe ja große Ähnlichkeiten hat, falls sie nicht überhaupt als eine Art der Freiheit verstanden werden sollte. Wenn man die heute weithin akzeptierte Auffassung teilt, daß es keine wirklich guten Gründe für Ungleichheiten der politischen Mitsprache und Teilhabe gibt, dann folgt aus dem Postulat der sozialen Gleichbehandlung, daß jeder Bürger das gleiche Recht auf politische Betätigung und das gleiche Recht zur Mitwirkung an der Entscheidung über öffentliche Angelegenheiten besitzen muß. Und dieses Recht impliziert seinerseits ein allgemeines und gleiches Stimmrecht aller Bürger.17 Soviel zu den drei Postulaten der sozialen Gleichheit, die zum einigermaßen festen Umgebungsbereich des Begriffsstammes gehören, aus dem sie sprießen. Auch diese Postulate sind weitgehend akzeptiert und unproblematisch. Sie stehen auch in der gegenwärtigen Debatte um die Gleichheit nicht in Frage. Worum es in dieser Debatte vor allem geht, das sind die beiden nächsten Postulate, die gleichsam die äußeren Blätter des Kohlkopfes bilden, nämlich die soziale Chancengleichheit und die ökonomische Gerechtigkeit. Ihnen ist gemeinsam, daß sich hier, anders als bei den bereits besprochenen Postulaten, offenbar doch gute Gründe finden lassen, die Ungleichheiten zu rechtfertigen

vermögen.

(6) Das Postulat der sozialen Chancengleichheit stellt die Forderung auf, daß alle Mitglieder einer Gesellschaft die gleiche Möglichkeit haben sollen, nach Maßgabe ihrer Fähigkeiten und Ambitionen in begehrte soziale Positionen (wie berufliche Stellungen, heit, in: Ethische und politische Freiheit, hrsg. v. Julian Nida-Rümelin u. Wilhelm Vossenkuhl, Berlin-New York 1998, 476-508. 16 Davon gibt es allerdings einige Ausnahmen, die entweder Menschen betreffen, die zur Ausübung der gleichen Freiheit nicht fähig sind, wie Kinder und Geisteskranke, oder aber Personen, die ihre Freiheit dazu mißbrauchen, die Rechte anderer Personen gravierend zu ver17

letzen, also Schwerkriminelle. Vgl. Charles R. Beitz, Political Equality, Princeton, N.J. 1989; Dworkin, Sovereign Virtue, 184 ff.

104

Peter Koller

öffentliche Funktionen,

Karrierewege) zu gelangen, wobei angenommen wird, daß diese Positionen selber, jedenfalls bis zu einem gewissen Umfang, berechtigtermaßen ungleich, also mit mehr oder weniger Einkommen, Macht und Ansehen verbunden sind. Was das im einzelnen bedeutet, ist freilich ziemlich umstritten. Übereinstimmung besteht nur darüber, daß die diversen sozialen Positionen grundsätzlich allen Personen offenstehen müssen in dem Sinne, daß von ihnen niemand wegen irgendwelcher persönlicher Eigenschaften, die für die betreffenden Stellungen irrelevant sind, ausgeschlossen sein darf. Und in Hinsicht auf öffentliche Berufspositionen besteht auch Einigkeit darüber, daß sie mit den jeweils bestgeeigneten Bewerbern besetzt werden sollten.18 Was aber die Gleichheit der sozialen Chancen darüber hinaus verlangt, ist weder klar noch unkontrovers. Was sind die relevanten Ausgangsbedingungen, an denen sich diese Gleichheit bemißt: muß jede Person, unabhängig von Herkunft und sozialem Background, tatsächlich gleiche Ausbildungsmöglichkeiten haben, oder genügt es, wenn die Bildungseinrichtungen allen prinzipiell zugänglich sind? Haben eher die Begabten oder die weniger Begabten Anspruch auf besondere Förderung? Diese und viele andere Fragen sind bekanntlich Gegenstand einer fortdauernden Debatte, bei der die Meinungen weit auseinandergehen.19 Das Postulat der sozialen Chancengleichheit geht aus dem Gebot der sozialen Gleichbehandlung hervor, wenn man annimmt, daß die verschiedenen sozialen Positionen und die damit verknüpften Vorteile oder Nachteile nicht bloß das Ergebnis individueller Bemühungen und Leistungen sind, sondern sich in einem erheblichen Maße der gesamten sozialen Ordnung verdanken und darum eine allgemeine Angelegenheit sind. Dabei wird vorausgesetzt, daß die bestehenden Ungleichheiten der sozialen Positionen im großen und ganzen durch allgemein zustimmungsfähige Gründe gerechtfertigt sind, wie etwa durch die ungleichen Leistungen und Beiträge ihrer Inhaber zum gesellschaftlichen Wohl. Und es spricht in der Tat viel dafür, daß es solche Gründe gibt. Das führt zur Frage der ökonomischen Gerechtigkeit. (7) Das Postulat der ökonomischen Gerechtigkeit ist in einem viel höheren Maße umstritten als die anderen und daher am schwersten auf eine Formel zu bringen, die mit allen seinen verschiedenen Interpretationen vereinbar ist. Aber vielleicht kann man es so formulieren: Alle Mitglieder einer Gesellschaft haben gleichen Anspruch erstens auf Teilhabe am ererbten gesellschaftlichen Reichtum und zweitens auf Teilnahme am gesellschaftlichen Wirtschaftsleben im Rahmen einer zweckmäßigen ökonomischen Ordnung, die auf längere Sicht für alle von Vorteil ist; dieser Anspruch läßt ökonomische Ungleichheiten nur dann und insoweit zu, wenn sie erstens nicht verhindern, daß jede Person eine den gesellschaftlichen Verhältnissen angemessene Grundausstattung von materiellen und immateriellen Ressourcen bekommt, die es ihr ermöglicht, sich mit eigenen Kräften die Mittel zum Überleben und Wohlergehen zu beschaffen, und wenn sie zweitens mit einer zweckmäßigen Wirtschaftsordnung kompatibel sind, die auf lan-

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18 19

Peter Westen, The Concept of Equal Opportunity, in: Ethics 95 (1985), 837-850. Siehe dazu Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 86 ff.; Thomas W. Pogge, Realizing Rawls, Ithaca, N.Y-London 1989, 161 ff.

Vgl.

105

Soziale Gleichheit

Mitgliedern zugute kommt und jedem wenigstens ein gewisses, dem gesellschaftlichen Reichtum angemessenes Auskommen sichert; insofern sind auch ökonomische Ungleichheiten begründungsbedürftig. Diese Formulierung läßt zwar weitgehend offen, in welchem Umfang wirtschaftliche Ungleichheiten zulässig sind, aber sie macht doch deutlich, daß solche Ungleichheiten jedenfalls auch gewisse Grenzen haben müssen, die sich aus der Idee der sozialen Gleichheit ergeben. Darüber dürften sich, denke ich, alle politischen Auffassungen, die die grundsätzliche Gleichwertigkeit aller Menschen akzeptieren, vom extremen Liberalismus bis zum radikalen Sozialismus, einig sein, wie stark ihre Vorstellungen von ökonomischer Gerechtigkeit sonst auch differieren mögen. Meinungsverschiedenheiten bestehen z. B. darüber, worin die materiellen und geistigen Ressourcen bestehen, auf die alle Gesellschaftsmitglieder gleichen Anspruch haben, in welchem Umfang sie darauf Anspruch haben, welche Gründe wirtschaftliche Ungleichheiten rechtfertigen können und in welchem Ausmaß diese Ungleichheiten gerechtfertigt sind.20 Trotz dieser Meinungsverschiedenheiten scheinen zumindest einige Gründe für ökonomische Ungleichheiten im Grundsätzlichen weithin Zustimmung zu finden, so insbesondere die folgenden: das Leistungsargument, dem zufolge jene Personen, die mehr zum allgemeinen Wohlergehen beitragen, auch einen größeren Anteil an den Erträgen bekommen sollen; das Effizienzargument, das manche Ungleichheiten damit rechtfertigt, daß sie im Interesse einer effizienten, d. h. für alle vorteilhaften sozialen Kooperation erforderlich sind; und das Freiheitsargument, nach dem Ungleichheiten dann gerechtfertigt sind, wenn sie sich unvermeidlich aus dem freien Handeln der Einzelpersonen im Rahmen von Verhaltensregeln oder individuellen Rechten ergeben, die selber im langfristigen Interesse aller Beteiligten liegen. Es ist nicht schwer zu zeigen, daß auch das Postulat der ökonomischen Gerechtigkeit eine Forderung sozialer Gleichheit darstellt. Was seine Begründung angeht, so folgt der gleiche Anspruch jedes Gesellschaftsmitglieds auf Teilhabe am wirtschaftlichen Leben unmittelbar aus dem Prinzip der Gleichbehandlung, wenn dieses auf die allgemein verbindliche und kollektiver Entscheidung unterliegende Regelung der Wirtschaftsordnung einer Gesellschaft angewendet wird. Und insoweit es wirtschaftliche Ungleichheiten ge Sicht allen

-

20

-

Um diese Fragen ging es in der sogenannten Equality-of-What-Debatte in der neueren politischen Philosophie. Siehe dazu Amartya Sen, Equality of What?, in: The Tanner Lectures on Human Values, hrsg. v. Sterling M. McMurrin, Cambridge 1980, 195-220; ders., Capability and Well-Being, in: The Quality of Life, hrsg. v. Martha Nussbaum u. Amartya Sen, Oxford 1993, 30-53; Ronald Dworkin, Equality of Welfare (1981), in: ders., Sovereign Virtue, 1164; ders., Equality of Resources (1981), ebenda, 65-119; Richard Arneson, Equality and Equality of Opportunity for Welfare, in: Philosophical Studies 56 (1989), 77-93; Gerald A. Cohen, On the Currency of Egalitarian Justice, in: Ethics 99 (1989), 906-944; ders., Equality of What? On Welfare, Goods, and Capabilities, in: The Quality of Life, 9-29. Siehe auch die instruktiven Übersichten bei John Roemer, Theories of Distributive Justice, Cambridge, Mass.London 1996, 237ff.; Ulrich Steinvorth, Gleiche Freiheit. Politische Philosophie und Verteilungsgerechtigkeit, Berlin 1999, 83 ff; Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, 172ff; Pauer-Studer, Autonom leben, 66 ff.

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findet auch in seinem Inhalt jene Präsumtion für die Gleichheit Ausdruck, die den wesentlichen Kern der Idee der sozialen Gleichheit ausmacht. Damit bin ich mit meiner Explikation des Begriffs der sozialen Gleichheit am Ende. Sie zeigt jedenfalls, daß dieser Begriff ein recht facettenreiches und vielschichtiges Konzept ist. Einige seiner Forderungen sind heute offenbar so selbstverständlich, daß wir manchmal vergessen, daß sie zentrale Komponenten des modernen Verständnisses der sozialen Gleichheit sind. Und diese Forderungen stehen auch in der gegenwärtigen Diskussion um die Gleichheit gar nicht zur Debatte. Zur Debatte stehen im wesentlichen nur die beiden zuletzt genannten Forderungen, die soziale Chancengleichheit und, mehr noch, die ökonomische Gerechtigkeit, insoweit sie in die Richtung der Gleichheit führt. Ich komme damit zum zweiten Teil, in dem es um die Frage geht, was soziale Gleichheit soll, worin ihr Wert besteht.

begründungsbedürftig macht und begrenzt,

Was soll soziale Gleichheit? Ich möchte

nun

den Versuch unternehmen, eine

zwar

nicht extreme, aber durchaus

an-

spruchsvolle Konzeption der sozialen Gleichheit zu verteidigen, die nicht nur die heute allgemein anerkannten Postulate rechtlicher Gleichheit, gleicher Freiheit und gleicher politischer Teilnahme, sondern gerade auch die umstrittenen, ja vielfach angefeindeten Forderungen der sozialen Chancengleichheit und der ökonomischen Gerechtigkeit unterstreicht. Zu diesem Zweck werde ich zwei verschiedene Begründungswege beschreiten, die sich der Idee der Gleichheit von verschiedenen Seiten, einmal eher direkt und einmal eher indirekt, nähern. Der erste, direkte Weg soll zum Ergebnis führen, daß soziale Gleichheit originären Eigenwert hat oder, wie die Philosophen gern sagen: einen intrinsischen Wert, der sie um ihrer selbst willen erstrebenswert macht. Der zweite, indirekte Weg verfolgt das Ziel, soziale Gleichheit darum als wünschbar und erstrebenswert erscheinen zu lassen, weil ihr ein erheblicher instrumenteller oder abgeleiteter Wert zukommt, ein Wert, der sich daraus ergibt, daß sie eine wichtige Voraussetzung der Realisierung anderer wichtiger Werte oder Güter ist. Der Kürze halber werde ich meine Überlegungen auf beiden Wegen von vornherein hauptsächlich auf die beiden letzten, umstrittenen

Der

Postulate ausrichten,

um

deren Pointe

zu

akzentuieren.

originäre Eigenwert sozialer Gleichheit

Der erste, direkte Begründungsweg zielt darauf ab, den originären Eigenwert der sozialen Gleichheit zu erweisen, der sie um ihrer selbst willen als erstrebenswert erscheinen läßt. Und dieses Ziel ist, so nehme ich an, dann erreicht, wenn gezeigt werden kann, daß die genannten Postulate der sozialen Gleichheit deshalb akzeptiert werden sollten, weil sie selber ein notwendiges und unverzichtbares Element einer gerechten sozialen Ordnung bilden, und nicht bloß deshalb, weil Gleichheit eine (erwünschte oder unwillkommene) Nebenfolge oder ein (mehr oder minder kontingentes) Mittel zur Realisierung einer

Soziale Gleichheit

107

Ordnung ist. Der Weg, der zu diesem Ziel führen soll, ist trotz seiner Direktheit einigermaßen verschlungen und kompliziert, weil er sich erst aus der Verbindung zweier verschiedener, zunächst unabhängig verlaufender Argumentationspfade ergibt. Denn zur Rechtfertigung von Prinzipien einer gerechten sozialen Ordnung, die überhaupt erst den originären Wert irgendwelcher sozialer Zustände einsichtig machen können, sind zwei Dinge vonnöten: erstens eine sozialtheoretische Konzeption, nämlich eine angemessene Auffassung davon, was eine Gesellschaft eigentlich ist, und zweitens ein Ansatz der politischen Legitimation, der eine tragfähige Grundlage für eine rationale, d.h. intersubjektiv überzeugungskräftige Begründung von Grundsätzen des sozialen Zusammenlebens bietet. Obwohl jede dieser beiden Voraussetzungen schon jeweils für sich ein abendfüllendes Thema wäre, versuche ich, sie in der gebotenen Kürze nacheinander zu erläutern.21 (A) Sozialtheoretische Auffassungen: Auf die sozialtheoretische Frage, was denn eine Gesellschaft eigentlich ist, gibt es eine Vielzahl von Antworten. Für meine Zwecke genügt es, grob zwei idealtypische Auffassungen zu unterscheiden: eine atomistische und eine kommunitäre Auffassung der Gesellschaft.22 Die atomistische Auffassung, die in der einen oder anderen Form in den politischen Theorien des klassischen Liberalismus (etwa bei Hobbes, Locke, Smith, Hume und Kant) zum Vorschein kommt, stellt sich eine Gesellschaft als eine Menge von lauter unabhängigen Personen vor, die alle hauptsächlich auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind und bereits über gewisse grundlegende materielle Ressourcen und intellektuelle Kapazitäten verfügen, die sie in die Lage versetzen, ihr Leben selber zu meistern. Da diese Personen einsehen, daß eine ungeordnete, anarchische Koexistenz erhebliche Nachteile hat, schließen sie sich zu einer Gesellschaft zusammen, deren Zweck einzig und allein darin besteht, ihr soziales Zusammenleben auf eine Weise zu regulieren, die ihrem wechselseitigen Vorteil dient: nämlich jeder Person Sicherheit gegen fremde Gewalt zu bieten, die Freiheit aller in einem größtmöglichen Umfang zu garantieren und das Eigentum eines jeden zu schützen. Im Ergebnis läuft die atomistische Auffassung also auf die Vorstellung hinaus, eine Gesellschaft sei nichts weiter als eine bloße Friedensordnung, die von den Gesellschaftsmitgliedern nur die Einhaltung der bekannten allgemeinen Unterlassungspflichten und der von ihnen freiwillig übernommenen vertraglichen Verpflichtungen, also ein äußerst bescheidenes Maß an Kooperation verlangt. Im Rahmen dieser Ordnung bleibt jedes Individuum der Schmied seines eigenen Glücks, der das verdient, was er durch eigene Arbeit schafft oder im Wege vorteilhafter Tauschbeziehungen erwirbt. Die atomistische Gesellschaftsauffassung führt demnach unmittelbar zur Konzeption einer liberalen Gesellschaft mit einer freien, d. h. nur durch zivil- und strafrechtliche Normen regulierten Marktwirtschaft. Eine solche Gesellschaft setzt zwar eine grundlegende Gleichheit der Rechtspositionen und der bürgerlichen Freiheiten ihrer Mitglieder und vielleicht auch die Gleichheit der politischen Beteiligung voraus, aber sie braucht solchen

21

22

Siehe dazu die näheren Ausführungen bei Peter Koller, Soziale Gleichheit und Gerechtigkeit, in: Soziale Ungleichheit und Gerechtigkeit, hrsg. v. Hans-Peter Müller u. Bernd Wegener, Opladen 1995, 53-79. Diese Unterscheidung geht zurück auf Charles Taylor, Atomism, in: ders., Philosophy and the Social Sciences. Philosophical Papers 2, Cambridge 1985, 103-130.

108

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sich weder

die soziale Chancengleichheit noch um die ökonomische Gerechtigkeit Sorgen machen, weil die Verhältnisse, die sich aus den individuellen Aktivitäten von selber ergeben, sowieso per se als gerecht erscheinen.23 Daß diese Auffassung der Gesellschaft an der Realität vorbeigeht, ja selbst als eine erste Annäherung an diese unzureichend ist, ist offensichtlich. Weder sprießen die Menschen als selbständige Personen, die mit allen erforderlichen Ressourcen und Kapazitäten für ihre Lebensgestaltung ausgestattet sind, aus dem Boden, noch trifft es zu, daß ihre Erfolge nur von ihren eigenen Anstrengungen abhängen. Auch die Ergebnisse eines Marktsystems sind in einem erheblichen Maße gesellschaftlich bedingt: nämlich erstens durch die Anfangsbedingungen, unter denen Individuen in den Marktprozeß eintreten, zweitens durch die rechtlichen Rahmenbedingungen, welche die Markttransaktionen regulieren, und drittens auch durch komplexe und schwer durchschaubare systemische Vorgänge, die auf das Operieren des Marktes Einfluß nehmen. Wir brauchen also eine andere Gesellschaftsauffassung, die der Wirklichkeit näher kommt. Die kommunitäre Auffassung, die allen sozialistischen Sozialtheorien, aber auch den Überlegungen des zeitgenössischen Kommunitarismus zugrunde liegt, versteht eine Gesellschaft als eine übergreifende soziale Gemeinschaft, die in sich viele kleinere Gemeinschaften zu einer größeren Einheit zusammenfaßt, die ein solidarisches Netzwerk sozialer Beziehungen und ein effizientes System der sozialen Kooperation zum Zweck der Existenzsicherung und der bestmöglichen Lebensgestaltung aller ihrer Mitglieder möglich macht. Eine Gesellschaft wird also verstanden als ein einigermaßen selbstsuffizientes soziales Gemeinwesen zum Vorteil aller Mitglieder, die durch ein dichtes Beziehungsgeflecht der allgemein vorteilhaften sozialen Kooperation und der wechselseitigen Solidarität miteinander verbunden und voneinander abhängig sind.24 So verstanden, hat jede Gesellschaft stets auch den Charakter einer Gemeinschaft, und zwar in drei Hinsichten: Sie ist erstens eine Besitzgemeinschaft in dem Sinne, daß alle ihre Mitglieder grundsätzlich einen gleichen Anspruch auf die Teilhabe an den natürlichen Ressourcen und am kulturellen Erbe der Gesellschaft haben; das Netzwerk ihrer arbeitsteiligen sozialen Kooperation macht sie zweitens zu einer Kooperationsgemeinschaft, auf deren Wertschöpfung alle Gesellschaftsmitglieder prima facie einen gleichberechtigten Anspruch haben; und sie stellt drittens eine Solidaritätsgemeinschaft dar, deren Mitglieder füreinander verantwortlich sind, woraus sich die Verpflichtung ergibt, für die hilfsbedürftigen Mitglieder Sorge zu tragen, um auch ihnen eine angemessene Existenzgrundlage zu sichern. Die Vorteile und Lasten, die mit diesen Gemeinschaftsaspekten einer jeden Gesellschaft verbunden sind, bedürfen einer gerechten Verteilung, die sich ihrerseits am Postulat der sozialen Gleichbehandlung orientieren muß.25 um

zu

23 24

25

So etwa Nozick, Anarchie, Staat, Utopia, 144ff. Diese Auffassung wird, wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten, u.a. vertreten von Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 565 ff.; Michael J. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice, Cambridge 1982; Michael Walzer, Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit (engl. 1983), übers, v. Hanne Herkommer, Frankfurt/M.-New York 1992, 65ff.; Dworkin, Sovereign Virtue, 21 If. Vgl. Koller, Gemeinschaft und Gerechtigkeit.

109

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die Die kommunitäre Gesellschaftsauffassung hat ebenso wie die atomistische zur imaber sie Folge, grundlegenden und allgemein akzeptierten Gleichheitspostulate pliziert darüber hinaus auch die beiden umstrittenen Postulate in einer anspruchsvollen Interpretation, die ein starkes Gewicht auf die Gleichheit der tatsächlichen Gelegenheiten der Individuen und auf eine gewisse Ausgewogenheit der wirtschaftlichen Verhältnisse legt. Die Gleichheitspräferenz der kommunitären Auffassung tritt noch stärker hervor, wenn sie mit einer weiteren Überlegung verknüpft wird, welche die Legitimation von Grundsätzen sozialer Ordnung betrifft. Das ist der zweite Argumentationspfad, der in den zur Debatte stehenden direkten Begründungsweg mündet. (B) Ansätze der politischen Legitimation: Jeder Versuch, Grundsätze einer gerechten sozialen Ordnung auf rationale Weise zu rechtfertigen, muß darauf zielen, den Nachweis zu erbringen, daß diese Grundsätze für alle betroffenen Personen bei vernünftiger Erwägung, d.h. bei Berücksichtigung der relevanten Tatsachen und bei unparteiischer Betrachtung, annehmbar oder zustimmungsfähig sind. Da nun aber verschiedene Möglichkeiten bestehen, das Erfordernis der allgemeinen Annehmbarkeit solcher Grundsätze zu modellieren, gibt es auch eine ganze Reihe von verschiedenen Ansätzen der politischen Rechtfertigung. Ich begnüge mich wiederum damit, zwei idealtypische Ansätze zu unterscheiden: einen individualistischen und einen universalistischen Ansatz.26 Der individualistische Ansatz nimmt an, daß politische Grundsätze genau dann allgemein annehmbar sind, wenn ihre allgemeine Geltung de facto, d.h. unter den tatsächlich gegebenen kontingenten Bedingungen, im rationalen Selbstinteresse aller beteiligten Personen liegt. Sofern etwa plausibel gemacht werden kann, daß die Existenz stabiler und weitreichender Eigentumsrechte für alle Mitglieder einer Gesellschaft de facto vorteilhafter ist als weniger stabile und weitreichende Rechte, dann können jene Eigentumsrechte als begründet angesehen werden. Dieser Ansatz der politischen Legitimation, den man z. B. bei Hobbes und den heutigen politischen Theorien der Rational-Choice-Schule findet,27 ist zwar sehr elegant und attraktiv, weil er von den Schwächstmöglichen Voraussetzungen ausgeht, er hat aber einen mächtigen Haken. Das ist der Umstand, daß seine Ergebnisse ganz und gar von den kontingenten Kräften der beteiligten Individuen und den zwischen ihnen bestehenden Machtverhältnissen abhängen. Wenn die Menschen über ungefähr gleiche Kräfte und Machtressourcen verfügen, dann ist alles o.k., weil dann auch einigermaßen gleiche Rechte und symmetrische Beziehungen zustande kommen. Ist das aber nicht der Fall, dann ist alles möglich, bis hin zur Sklaverei, wenn die einen den anderen so überlegen sind, daß es für die letzteren besser ist, den ersten als Sklaven zu dienen, als sich von ihnen töten zu lassen. Das ist ganz sicher kein akzeptabler Ansatz der politischen Legitimation.28 Wir brauchen also einen anderen. -

-

Diese Unterscheidung entspricht im wesentlichen der von Brian Barry (Theories of Justice, London 1989, 3 ff.) vorgenommenen Differenzierung zwischen „justice as mutual advantange" und „justice as impartiality"; vgl. Koller, Soziale Gleichheit und Gerechtigkeit. 27 Exponenten dieser Richtung sind z.B. James M. Buchanan, The Limits of Liberty, Chicago, 111. 1975; David Gauthier, Morals by Agreement, Oxford 1986. 28 Zur Kritik des individualistischen Ansatzes siehe Peter Koller, Neue Theorien des Sozial-

26

Peter Koller

110 Der universalistische Ansatz

geht demgegenüber davon aus, daß Grundsätze der polidann als begründet gelten können, wenn es plausibel nur dann und Ordnung alle betroffenen Personen bei rechter Erwägung, nämlich bei Berückscheint, daß ihnen sichtigung aller relevanten Tatsachen und bei allgemeiner und unparteiischer Betrachtung, vernünftigerweise zustimmen sollten, und zwar deswegen, weil diese Grundsätze im gleichen Interesse aller Beteiligten liegen, gleichgültig, in welcher sozialen Position sich diese befinden. Um von diesem Ansatz aus stabile und weitreichende Eigentumsrechte zu begründen, müßte daher gezeigt werden, daß solche Eigentumsrechte besser als schwächere dazu geeignet sind, die wirtschaftlichen Verhältnisse der Gesellschaft auf eine Weise zu regulieren, die im vernünftigen Interesse aller liegt, gleichgültig, ob sie viel oder wenig Eigentum besitzen. Der universalistische Ansatz kann seinerseits wieder auf verschiedene Weisen modelliert werden, sei es durch eine Summierung der Nutzen aller betroffenen Personen (Utilitarismus), durch eine Kompatibilitätsprüfung der individuellen Handlungsabsichten (Kant), durch einen Schleier des Nichtwissens (Rawls) oder durch eine ideale Sprechsituation mit Rollentausch (Habermas).29 Ich brauche mich hier aber gar nicht darauf einzulassen, wie man sich den allgemeinen und unparteiischen Standpunkt einer universalistischen Begründung vorstellen sollte. Für meine Zwecke genügt es, erstens festzuhalten, daß eine rational vertretbare Begründung politischer Ordnungen jedenfalls nur auf der Grundlage eines universalistischen Ansatzes möglich ist, und zweitens, daß jeder derartige Ansatz, wenn auch vielleicht mit verschiedenen Akzenten, den Postulaten der sozialen Gleichheit ein mehr oder minder großes Gewicht gibt, und zwar allen. Das ist deshalb so, weil eine Rechtfertigung politischer Grundsätze unter jeder möglichen Deutung des Universalismus nur dann gelingt, wenn diese Grundsätze so beschaffen sind, daß alle Betroffenen sie vernünftigerweise akzeptieren können, gleichgültig, welche Fähigkeiten oder Gebrechen sie haben, und gleichgültig, ob sie Glücksritter oder Pechvögel sind. Denn wenn man sich vorstellt, daß man selber in jede der vielfältigen sozialen Lagen geraten könnte, die in einer Gesellschaft vorkommen können, dann besteht vernünftiger Grund, die gesellschaftliche Ordnung so zu gestalten, daß diese Lagen auch dann, wenn man Pech hat, erträglich sind. Resultat: Führt man beide Argumentationsstränge eine kommunitäre Gesellschaftsauffassung und einen universalistischen Legitimationsansatz zusammen, so kommt eine ziemlich solide Begründung aller Postulate der sozialen Gleichheit, einschließlich der sozialen Chancengleichheit und der ökonomischen Gerechtigkeit, zustande. Da diese Begründung alle Aspekte sozialer Gleichheit als inhärente Elemente einer gerechten sozialen Ordnung erscheinen läßt, nötigt sie dazu, Gleichheit als ein kollektives soziales Gut zu betrachten, das seinen Wert in sich selber trägt und um seiner selbst willen erstrebenswert ist. Soweit mein direkter Begründungsversuch, der durch einen zweiten, einen indirekten, verstärkt werden kann. tischen

-

-

kontrakts, Berlin 1987, 187ff.; ders., Rationales Entscheiden und moralisches Handeln, in: Praktische Rationalität, hrsg. v. Julian Nida-Rümelin, Berlin-New York 1994, 281-311. 29 Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 159ff.; Jürgen Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt/M. 1991, 152 ff.

Soziale Gleichheit

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Der instrumenteile Wert sozialer Gleichheit Daß soziale Gleichheit einen instrumentellen Wert hat, also entweder eine wesentliche Voraussetzung oder aber eine Nebenfolge der Realisierung anderer grundlegender Güter ist, wird weithin anerkannt, selbst von vielen jener, die ihren inneren Eigenwert nicht erkennen, weil sie die Gesellschaft mit einem Marktplatz verwechseln, auf dem jeder nur auf seinen individuellen Nutzen aus ist. Allerdings wird das Gewicht des instrumenteilen Werts der Gleichheit oft unterschätzt, weil meist nur ein einziges Argument beachtet wird, das diesen Wert erhellt: nämlich das Argument, daß allzu große Ungleichheiten der sozialen und wirtschaftlichen Lage den Gebrauch der gleichen individuellen Freiheit für alle behindern oder, wie es im heutigen Philosophenkauderwelsch gewöhnlich heißt: daß soziale Gleichheit einen „freiheitsfunktionalen" Wert hat. Tatsächlich gibt es viel mehr Argumente, die den instrumenteilen Wert der Gleichheit bekräftigen. Ich möchte vier Argumente, das erwähnte eingeschlossen, namhaft machen, die sich auf verschiedene Aspekte des sozialen Handelns beziehen, denen entsprechend ich sie wie folgt nenne: das Argument des ökonomischen Wettbewerbs, das Argument des kollektiven Guten, das Argument der politischen Freiheit und das Argument der sozialen Anerkennung. (1) Das Argument des ökonomischen Wettbewerbs: Die Lebenschancen und Erfolgsaussichten von Menschen hängen, sofern ihre Grundbedürfnisse einmal gesättigt sind, nicht in erster Linie vom absoluten Umfang ihrer Güterausstattung als vielmehr von den relativen Ausgangspositionen und Handlungsmöglichkeiten ab, die sie gegenüber und im Vergleich zu anderen haben. Das ist schon deshalb so, weil die Ergebnisse ihres erfolgsorientierten Handelns, mit dem sie im Wettbewerb mit anderen ihre eigenen Interessen verfolgen, in signifikanter Weise durch Besitzungleichheiten und Machtunterschiede beeinflußt werden. Kleine Ungleichheiten, die für sich allein genommen völlig unproblematisch scheinen, können sich rasch zu größeren auswachsen, die sich nicht mehr akzeptieren, aber auch nicht mehr ohne weiteres zurückschrauben lassen. Soziale Ungleichheit ist zwar gewiß eine Triebkraft eines effizienten sozialen Wettbewerbs, zugleich aber verzerrt sie die Bedingungen eines fairen Wettbewerbs und ist daher eine ständige Bedrohung für eine gerechte soziale Kooperation. Und je größer die Ungleichheiten sind, desto eher kann ein System der kompetitiven Kooperation, das dem Vorteil aller dient, in einen erbarmungslosen sozialen Wettkampf umkippen, in dem das Prinzip „winner takes it all" regiert. Infolgedessen besteht schon zur Sicherung eines fairen ökonomischen Wettbewerbs guter Grund, die aus dem Marktprozeß resultierenden ökonomischen Ungleichheiten in erträglichen Grenzen zu halten. (2) Das Argument des kollektiven Guten: Signifikante Ungleichheiten der sozioökonomischen Lage wirken nicht nur auf privaten Gütermärkten wettbewerbsverzerrend, sondern behindern auch die kollektive Konsensfindung über öffentliche und meritorische Güter. Das sind Güter, die zwar einen ihre Produktionskosten übersteigenden Nutzen bringen, aber wegen ihrer besonderen Eigenschaften (z. B. Nichtexklusivität ihrer Nutzung, Nichtrivalität ihres Konsums, Fehlen zahlungsfähiger Nachfrage) nicht oder nicht in ausreichendem Maße am privaten Gütermarkt produziert und angeboten werden, z.B. die Gewährleistung öffentlicher Sicherheit, die Schaffung öffentlicher Räume der Begegnung

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Peter Koller

und der freien Kommunikation, die Bereitstellung von Einrichtungen des öffentlichen Verkehrs und die Etablierung eines hochwertigen und gerechten Bildungssystems. Daß krasse Ungleichheiten der Bereitstellung solcher Güter entgegenwirken, kann in der Realität leicht beobachtet werden, und warum das so ist, läßt sich theoretisch leicht erklären. Die Erklärung ist, daß diese Ungleichheiten große Unterschiede der individuellen Präferenzen für öffentliche Güter bedingen, was zur Folge hat, daß eine entsprechende Willensbildung für die Bereitstellung solcher Güter nicht mehr zustande kommt oder am Widerstand derer scheitert, die kein Interesse an ihnen haben. Die Konsequenzen sind bekannt: Die Sicherheit der Begüterten wird privatisiert, während man die Armen ihrem Schicksal überläßt; die urbanen Räume verkommen, weil die Privilegierten sich ohnehin nicht mit dem Gesindel mischen wollen; die öffentlichen Verkehrseinrichtungen werden abgebaut, da die Bereitschaft der öffentlichen Hände schwindet, die unrentablen Verbindungen zu finanzieren; und die Fragmentierung des Bildungssystems wächst, weil für die öffentlichen Schulen die Mittel fehlen, die die Reichen in die Eliteschulen für ihren Nachwuchs stecken. (3) Das Argument der politischen Freiheit: Dieses Argument betrifft den Zusammenhang zwischen gleicher Freiheit und politischer Teilhabe einerseits und der sozioökonomischen Lage der Individuen andererseits, der auch von vielen Kritikern der Gleichheitsidee gesehen wird. Daß die Gewährleistung gleicher Freiheits- und Teilnahmerechte alleine noch nicht deren gleichen Genuß garantiert, weil es zum Gebrauch dieser Rechte auch entsprechender ökonomischer Mittel und einer gewissen Unabhängigkeit bedarf, ist evident. Da die gleichen Freiheiten und politischen Rechte infolgedessen um so weniger realen Wert haben, je weniger Mittel man zu ihrem Gebrauch besitzt, verlieren sie in dem Maße an Substanz, je größer die sozioökonomischen Ungleichheiten sind. Personen, die über viel weniger Mittel als andere verfügen, werden nicht nur im Privatleben mit ihren Freiheiten viel weniger anfangen, sondern auch in der politischen Sphäre ihrer Stimme kaum Gehör verschaffen können. Kurz gesagt: Krasse sozioökonomische Ungleichheiten schmälern die gleiche Freiheit und lassen die Demokratie zur Farce werden. Dieser Befund führt selbst viele der Gleichheitsskeptiker dazu, den sozialen Chancen und relativen ökonomischen Möglichkeiten der Menschen ein gewisses, wenn auch meist nur begrenztes Gewicht einzuräumen. In der Regel begnügen sie sich damit, eine gewisse, eher bescheidene Basisausstattung aller Beteiligten mit entsprechenden sozialen und ökonomischen Ressourcen zu verlangen. Das ist freilich weder vom Standpunkt einer freiheitsfunktionalen noch aus der Sicht einer gleichheitsorientierten Konzeption der politischen Legitimation konsequent. Denn da sich die Autonomie und das Wohlergehen der Menschen im sozialen, vor allem im öffentlichen Leben ja nicht allein an ihren absoluten, sondern stets auch an den relativen Möglichkeiten des Freiheitsgebrauchs und der politischen Betätigung bemißt, müssen gleichgültig, ob man von einer autonomiezentrierten oder von einer gleichheitsorientierten Position ausgeht erhebliche sozioökonomische Ungleichheiten prima facie stets als unerwünscht erscheinen, weshalb man sie nur dann akzeptabel finden wird, wenn es für sie gute Gründe gibt. (4) Das Argument der sozialen Anerkennung: Ich nehme an, daß die soziale Anerkennung die Wertschätzung, die Personen durch die soziale Umwelt erfahren und die maß-

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Soziale Gleichheit

Selbstachtung bestimmt ein wichtiges, ja grundlegendes soziales Gut darnahezu jeder Person um seiner selbst willen begehrt wird und nicht durch andere soziale Güter ersetzbar ist. Die Anerkennung unterscheidet sich aber in mehreren Hinsichten von vielen anderen sozialen Gütern, deren Wert oft gerade darin liegt, geblich

ihre

stellt, das

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von

daß man sie alleine für sich nutzen kann: Sie ist erstens kein teilbares, sondern ein positionelles Gut, das aus dem relativen Verhältnis von Menschen erwächst, und zwar aus der Anerkennung, die sie sich wechselseitig zollen; sie ist zweitens kein alleinstehendes, sondern ein unselbständiges Gut, das untrennbar mit der Teilhabe an anderen sozialen Gütern, wie Macht, Ansehen, Vermögen und Beruf, zusammenhängt; und sie ist drittens kein variables Gut in dem Sinne, daß seine Gesamtmenge durch effiziente Formen der sozialen Kooperation gesteigert werden kann, sondern es hat den Charakter einer Konstantsumme, um die strikte Rivalität besteht, so daß man die eigene Wertschätzung nur auf Kosten anderer steigern kann. Diese Umstände erklären, warum die meisten Menschen zumindest in den Bereichen, in denen sie sich miteinander vergleichen, so empfindlich auf Unterschiede der sozialen Position reagieren, sei es durch das Gefühl des Stolzes, wenn sie nach oben kommen, oder durch die Empfindung von Scham, wenn sie unten landen. Wäre die soziale Anerkennung ein teilbares und selbständiges Gut, so würde das Gebot der gleichen Achtung wohl eine vollkommene Gleichverteilung dieses Guts, also gleiche soziale Anerkennung, verlangen. Aber natürlich geht das nicht, weil diese Anerkennung ja mit den sozialen Positionen und ökonomischen Aussichten der Menschen verbunden ist, deren Ungleichverteilung zumindest bis zu einem gewissen Ausmaß gerechtfertigt scheint. Aus diesem Grunde ist es zwar unumgänglich, gewisse Ungleichheiten der sozialen Wertschätzung in Kauf zu nehmen, aber das ändert nichts daran, daß gleiche Anerkennung ein kollektives Gut darstellt, das ein möglichst hohes Maß an sozialer Gleichheit als wünschbar erscheinen läßt und seinerseits stets mit dem Gewicht der Gründe für soziale Ungleichheiten abzuwägen ist. Resümee: Alle vier Argumente, die freilich nicht unabhängig voneinander sind, sondern sachlich zusammenhängen und einander ergänzen, führen zu dem Ergebnis, daß soziale Gleichheit, insbesondere auch die umstrittene Gleichheit der sozioökonomischen Sphäre, einen erheblichen instrumentellen Wert besitzt, der sie unabhängig davon, ob sie einen Eigenwert besitzt erstrebenswert macht. Und dies hat zur Konsequenz, daß soziöökonomische Ungleichheiten selbst dann, wenn Gleichheit kein Selbstzweck ist, keineswegs harmlos, sondern stets begründungsbedürftig sind. -

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Schlußbemerkungen Damit

meine Verteidigung der Gleichheitsidee ihrem Ende entgegen. Wenn meine Überlegungen auch nur im großen und ganzen stimmen, dann kann sich diese Idee auf eine doppelte Grundlage stützen: zum einen auf den originären Eigenwert der sozialen Gleichheit, der aus ihrer Unverzichtbarkeit für eine gute und gerechte soziale Ordnung erfließt; und zum anderen aus ihrem instrumentellen Wert, der in ihrer Bedeutung für

geht

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Peter Koller

Realisierung vieler anderer erstrebenswerter sozialer Werte und Ziele besteht, wozu vor allem die folgenden gehören: ein fairer ökonomischer Wettbewerb, eine erfolgreiche Konsensfindung über das kollektiv Gute, eine ausgewogene Verteilung individueller Freiheit und politischer Macht und nicht zuletzt eine möglichst gleiche Verteilung sozialer die

Anerkennung. Beide Gesichtspunkte zusammen nötigen dazu, soziale Ungleichheiten nicht einfach für natürlich oder unproblematisch zu halten, sondern sie vielmehr immer wieder auf ihre möglichen Rechtfertigungsgründe hin zu prüfen und ihnen entsprechende Grenzen zu setzen. Damit erhebt sich die Frage, welche Gründe zur Rechtfertigung sozialer Ungleichheiten taugen mögen und in welchem Umfang sie solche Ungleichheiten zu rechtfertigen vermögen. Ich kann diese Frage hier nicht mehr vertiefen, möchte aber abschließend doch noch einige knappe Bemerkungen darüber machen, wie solche Gründe überhaupt aussehen könnten, d.h. welche Form sie haben müssen, um für alle betroffenen Personen bei unparteiischer Betrachtung akzeptabel zu sein. Geht man davon aus, daß jedes Gesellschaftsmitglied darauf bedacht sein muß, für sich einen möglichst großen oder zumindest befriedigenden Anteil von sozialen Gütern zu erlangen, um seine grundlegenden Interessen in bestmöglicher Weise zu befriedigen, kann es für alle nur dann guten Grund geben, einer Ungleichverteilung solcher Güter zuzustimmen, wenn diese Ungleichverteilung entweder eine notwendige Voraussetzung oder eine unvermeidliche Folge einer Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse ist, die verglichen mit einer gleichmäßigeren Verteilung zu einer Vermehrung gesellschaftlicher Güter führt, von der auf längere Sicht alle Beteiligten profitieren. Das setzt freilich voraus, daß jene Güter keine Konstantsumme bilden, deren Gesamtumfang stets unverändert bleibt, sondern daß sie eine variable Menge darstellen, deren Umfang durch eine zweckmäßige Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse gesteigert werden kann. Zweifellos gibt es solche Güter: Das gesellschaftliche Leben ist kein Konstantsummenspiel, sondern ein Gemeinschaftsunternehmen, dessen Ertrag durch geeignete Formen der sozialen Kooperation beträchtlich gesteigert werden kann. Und einiges spricht dafür, daß manche dieser Kooperationsformen notwendig mit gewissen sozialen Ungleichheiten verbunden sind, sei es, weil sie solche Ungleichheiten schon voraussetzen, oder, weil sie diese unvermeidlich zur Folge haben. Diese Überlegung führt zu einem allgemeinen Prinzip sozialer Ungleichheit, das so formuliert werden kann: Soziale Ungleichheiten sind gerechtfertigt, wenn und soweit sie notwendig mit einer Regelung des gesellschaftlichen Lebens verbunden sind, die verglichen mit anderen Regelungsmöglichkeiten, die weniger Ungleichheiten zulassen auf längere Sicht allen Gesellschaftsmitgliedern zum Vorteil dient. Es ist möglich, dieses Prinzip in Verbindung mit der folgenden Überlegung noch etwas weiter zu spezifizieren. Falls es gute Gründe für eine Ungleichverteilung sozialer Güter gibt, müssen sie auch für jene Mitglieder akzeptabel sein, die durch diese Ungleichverteilung insofern benachteiligt werden, als sie von jenen Gütern weniger als andere bekommen. Aus unparteiischer Sicht, unter der man damit rechnen muß, daß man selber zu diesen Mitgliedern gehören könnte, wird man eine Ungleichverteilung solcher Güter rationalerweise nur dann akzeptieren können, wenn man von ihr um so mehr profitiert, je schlechter man -

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Soziale Gleichheit

anderen dran ist, weil sich nur auf diese Weise das grundlegende Interesse jedes Menschen, möglichst viel von jenen Gütern zu bekommen, realisieren läßt. Denn da man annehmen kann, daß ein Zuwachs von Gütern um so mehr Nutzen bringt, je weniger man davon bereits besitzt, muß jede Person angesichts der Möglichkeit, in jede soziale Lage geraten zu können, vernünftigerweise darauf aus sein, sich eine möglichst große Basisausstattung von sozialen Grundgütern zu sichern, um ihren Nutzen bei unparteiischer Betrachtung zu maximieren. Daraus folgt ein spezielles Ungleichheitsprinzip, das im Ergebnis dem Differenzprinzip von Rawls nahekommt.30 Es lautet so: Soziale Ungleichheiten sind gerechtfertigt, wenn und soweit sie notwendig mit einer Regelung des gesellschaftlichen Lebens verbunden sind, die auf längere Sicht allen Gesellschaftsmitgliedern zum Vorteil gereicht, und zwar derart, daß die jeweils schlechter gestellten Mitglieder verglichen mit einer gleichen oder gleichmäßigeren Verteilung jeweils größtmöglichen Vorteil daraus ziehen. Oder anders formuliert: Soziale Ungleichheiten sind gerechtfertigt, sofern es nicht möglich ist, durch eine Umverteilung gesellschaftlicher Güter von oben nach unten die Lage der jeweils schlechter gestellten Personen nachhaltig zu verbessern. Wann immer eine solche Umverteilung möglich ist, sind soziale Ungleichheiten ungerecht, weil sie die zulässigen Grenzen überschreiten. im Verhältnis

zu

-

-

30

Vgl. Rawls,

Theorie der

Gerechtigkeit,

95 ff.

Wolfgang Kersting

Grundriß einer liberalen

Sozialstaatsbegründung

Eine Theorie der sozialen oder distributiven Gerechtigkeit hat die Aufgabe, den Sozialstaat mit einer normativen Hintergrundtheorie auszustatten, sozialstaatliche Wirksamkeit mit einer allgemeinen, notwendig abstrakten normativen Begründung zu versehen. Die Reichweite einer solchen gerechtigkeitsphilosophischen Sozialstaatsbegründung darf nicht überschätzt werden. Das Ziel einer Sozialstaatsbegründung kann nicht die Bereitstellung eines sozialpolitischen Distributionsalgorithmus sein. Es gibt keine gerechtigkeitstheoretische Blaupause für die Reform sozialer Sicherungssysteme. Allenfalls kann der politischen Philosophie eine Interpretation des verfassungsrechtlichen Sozialstaatsprinzips gelingen. Genausowenig wie sich ein institutionelles Arrangement aus der normativen Hintergrundtheorie des Sozialstaats destillieren läßt, enthält sie selbst bereits ein hinreichendes begriffliches Instrumentarium zur gerechtigkeitstheoretischen Analyse der vorhandenen, historisch gewachsenen sozialstaatlichen Institutionen. Denn diese bilden zumeist ein nur noch Spezialisten zugängliches Gemenge unterschiedlichster Versicherungs-, Versorgungs- und Fürsorgeformen mit je eigenen normativen Leitvorstellungen. Und da diese Leistungssegmente unterschiedlich ausgestaltet sind, teils dem versicherungseigentümlichen Äquivalenzprinzip, teils dem Solidaritätsprinzip, teils dem Prinzip der Gleichbelastung und Benachteiligungsvermeidung, teils dem Prinzip der Suffizienz folgen, sind sie auch mit verschiedenen Ungerechtigkeitsrisiken konfrontiert. Folglich entstehen hier allerorten gerechtigkeitstheoretische Sonderprobleme, deren Lösung mit Hilfe des großformatigen Legitimationsarguments nicht vorangebracht werden kann. Man denke nur an die soziale Alterssicherung, die auf einem geschichtlich gewachsenen Umlageverfahren beruht, das bei seiner Einführung von der Doppelvoraussetzung einer zumindest konstanten Bevölkerung zum einen und homogenen Familienstrukturen zum anderen ausging, daher aufgrund der sich seit langem abzeichnenden demographischen und familiensoziologischen Veränderung zunehmend zu gerechtigkeitsriskanten intragenerationellen und intergenerationellen Umverteilungseffekten führen wird. Keine Ruhestandsgeneration war ja so wohlversorgt wie die jetzige, und keine zukünftige Ruhestandsgeneration, auch nicht die, die die jetzige alimentiert, wird je ein so hohes Versorgungsniveau erreichen können. Ähnliche Ungleichgewichte finden wir, wenn wir andere Leistungssegmente des sozialstaatlichen Versorgungssystems betrachten. Je differenzierter ein sozialstaatliches Leistungssystem, um so schwieriger ist es, auf allen Ebenen

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Wolfgang Kersting

der Verteilung, in allen Versorgungssegmenten die leitenden Gerechtigkeitsstandards aufrechtzuerhalten. Oft geht ein Gerechtigkeitsfortschritt mit neuer Ungerechtigkeit einher. Der Sozialstaat ist ein leckes Schiff; während man im Bugraum abdichtet, dringt im Heckbereich wieder Wasser ein. Aber das Schiff ist gleichwohl schwimmfähig; und die, die im Wasser treiben, sind froh, wenn sie an Bord genommen werden. Für eine gerechtigkeitstheoretische Analyse der komplexen sozialstaatlichen Realität benötigen wir also ein multiples normatives Instrumentarium, das auf der philosophischen Begründungsebene selbst nicht entwickelt werden kann. Hier ist ein Abwägen und Ausbalancieren unterschiedlichster normativer und rationaler Ansprüche vonnöten, das sich gegen eine Integration in ein prinzipielles Begründungsargument sperrt. Die Ebenen des großformatigen Legitimationsarguments und der kleinformatigen gerechtigkeitsethischen Analysen vorfindlicher gesetzlicher Versicherungs- und Versorgungssegmente dürfen nicht vermischt werden. Eine Sozialstaatsphilosophie muß sich damit begnügen, unser Verständnis des Sozialstaats und seiner legitimatorischen Leitbegriffe zu verdeutlichen. Wenn es ihr gelingt, uns zu zeigen, welche Bedeutung der Sozialstaat, welche Bedeutung die Institutionalisierung sozialer kollektiver Verantwortung vor dem Hintergrund der maßgeblichen normativen Orientierungen unserer politisch-kulturellen Selbstverständigung besitzt und welche Bedeutung wir den sozialstaatlichen Leistungssystemen, dem Sozialversicherungsstaat mit seinen Versorgungs- und Fürsorgeeinrichtungen daher als konsistente Bürger, Demokraten und Freunde von Freiheit und Gleichheit geben müssen, dann sollten wir zufrieden sein. Die Ökonomie kann uns zeigen, wieviel uns der Sozialstaat kostet; um jedoch herauszufinden, was uns der Sozialstaat wert ist, benötigen wir die Hilfe der Philosophie. Nur normative Reflexion kann uns das logische Gewebe unserer normativen Leit- und Orientierungsbegriffe verdeutlichen, in das wir unsere Gerechtigkeitskonzepte, Sozialstaatsbegründungen und politischen Handlungsrechtfertigungen einfügen müssen, wenn sie rationaler Anerkennung fähig sein sollen. Begründungen dieser Art bezeichnet man als kohärentistisch. Sie erheben keinen Letztbegründungsanspruch, sondern machen Voraussetzungen. In meinem Fall sind die Voraussetzungen die menschenrechtlichen Fundamente von Rechtsstaat und Demokratie. Eine kohärenztheoretische Rechtfertigung des Sozialstaats gelingt dann, wenn sie das Sozialstaatsprinzip in das Netz unserer Menschenrechts-, Rechtsstaatlichkeits- und Demokratieüberzeugungen hängen kann, so daß die Maschen nicht reißen und das Sozialstaatsprinzip genauso Halt empfängt, wie es umgekehrt den Elementen des Menschenrechts, des Rechtsstaats und der Demokratie selbst auch neuen und stärkeren Halt gibt. Ihre Achse wird von einem Argument gebildet, das im Rahmen einer plausiblen Interpretation der menschenrechtlichen Basisprinzipien die Einsicht vermitteln möchte, daß der Rechtsstaat aus Gründen normativer Konsistenz sich zur Einräumung von Leistungsansprüchen und zur Übernahme von Leistungspflichten bereitfinden muß und um der allgemeinen Wirksamkeit des Freiheitsrechts willen sich zu progressiver Einkommensbesteuerung und sozialstaatlicher Umverteilung genötigt sieht. Denn normative Konsistenz besagt, daß ein angemessenes, normative Implikationen wie Verwirklichungsbedingungen gleichermaßen berücksichtigendes Verständnis der naturrechtlichen Grundlagen des Rechtsstaats ein über Rechtsstaatlichkeitsgewähr hinausreichendes staatliches

Grundriß einer liberalen

Sozialstaatsbegründung

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Engagement fordert, daß Positivierung und Institutionalisierung der menschenrechtlichen oder vemunftrechtlichen Basisprinzipien der Freiheit und Gleichheit selbst eine sozialstaatliche Erweiterung rechtsstaatlicher Aufgabenstellung verlangen, der Rechtsstaat also bei Lichte betrachtet den Sozialstaat selbst aus sich heraustreibt. Es ist evident, daß der Dreh- und Angelpunkt eines solchen Arguments der Freiheitsbegriff ist, daß der Nachweis zu führen ist, daß normative Konsistenz verlangt, den in reiner Eingriffs- und Übergriffsabwehr begründeten Absolutismus des negativen Freiheitsbegriffs zu durchbrechen und der materialen Ermöglichung des Gebrauchs des Freiheitsrechts, der materialen Ermöglichung selbstbestimmter Lebensführung ebenfalls fundamentalrechtliche Relevanz einzuräumen. Es ist ersichtlich, daß kohärenztheoretische Begründungen normative Rechtfertigungen liefern. Normative Rechtfertigungen bilden jedoch nicht die einzige Möglichkeit, den Sozialstaat zu begründen. Man kann den Sozialstaat auch technisch begründen, als unerläßliches stabilitätspolitisches Instrument. Seit jeher wußte die politische Philosophie, daß gute Politik auch auf die Entschärfung sozialer Spannungen, auf den Abbau extremer, gesellschaftsspaltender sozioökonomischer Ungleichheit, auf die Stärkung der bürgerlichen Mitte und daher auch auf die Vergrößerung sozioökonomischer Gleichheit gerichtet sein muß. Von Aristoteles' Politik bis zu Hayeks Verfassung der Freiheit finden sich einschlägige Ermahnungen an den Gesetzgeber. Und auch Kant ist der Meinung, daß es um des Bestands der bürgerlichen Verfassungsordnung willen notwendig und daher indirekte Pflicht sei, die durch Versorgungsunsicherheit, Armut und Elend hervorgerufenen stabilitätspolitischen Risiken durch geeignete Versorgungsarrangements zu bekämpfen. Aber eine politische Begründung ist instrumentalistisch und ganz etwas anderes als eine normative Begründung. Eine normative Sozialstaatsbegründung zielt auf den Nachweis interner moralischer Notwendigkeit, betrachtet den Sozialstaat als integralen Bestandteil unserer politischen Lebenswelt und moralischen Wirklichkeit und daher als substantiell wertvoll. Für die politische Begründung hingegen ist der Sozialstaat nur ein dem Rechtssystem äußerliches, nur technisch wichtiges Instrument. Sozialstaatliche Versorgungsleistungen dienen nicht konsequenter Freiheitsrechtsverwirklichung, sondern fungieren nur als Berstschutz, um das System privater Freiheit und privaten Eigentums vor seinen autodestruktiven Auswirkungen zu schützen. Die folgende Skizze einer liberalen Sozialstaatsbegründung stützt sich auf drei Argumente. Das erste entfaltet den grundlegenden Gedanken. Es ist sehr einfach. Die beiden folgenden dienen der zusätzlichen Plausibilisierung des in dem grundlegenden Argument vorgetragenen Konzepts. Dabei wird einmal Gebrauch gemacht von dem altvertrauten Gedankenexperiment des Vertrages; zum anderen werde ich ein Argument skizzieren, das in genauer Umkehrung der Rawlsschen Common-asset-Metaphcr die politische Verpflichtung zur Finanzierung eines freiheitsrechtlich begründeten Sozialstaats als Benutzungsgebühr für die erfolgreiche Verwendung vorgefundener kooperativer Ressourcen aus-

legt.

120

Wolfgang Kersting I

Menschen sind

Hypoleptiker,

zum

Anknüpfen

an

Vorfindliches,

zur

Abhängigkeit

von

Voraussetzungen verurteilt. Diese Voraussetzungen sind einerseits handlungsermöglichend, andererseits handlungsbestimmend. Sie zerfallen in zwei Klassen: in individuelle Ressourcen und strukturelle Gegebenheiten. Individuelle Ressourcen umfassen alle Eigenschaften, die der Mensch an sich und in sich vorfindet. Sie sind teils genetisch formiert, teils Auswirkungen von sozialer Herkunft und Erziehung. Der Ort der strukturellen Voraussetzungen ist hingegen die individuellem Handeln vorgängige gesellschaftliche Verfassung mit ihren ökonomischen, rechtlichen und politischen Systembereichen. Ersichtlich besteht zwischen beiden Gruppen von Handlungsvoraussetzungen eine Korrelation: Gesellschaftliche Verfassungen können die Entwicklung der individuellen Anlagen und Fähigkeiten begünstigen oder hemmen. Die Geschichte der politischen Philosophie ist charakterisiert durch ein wachsendes Bewußtsein von der Wichtigkeit institutioneller Lebensvoraussetzungen. Der Anspruch an die konstitutionellen Rahmenbedingungen individueller Lebensplanungen ist dabei stetig gestiegen: vom Sicherheitsstaat über den Rechts- und Verfassungsstaat zum Sozialstaat. Hinter dieser Ausweitung steht die Einsicht, daß selbstbestimmte und eigenverantwortliche Lebensgestaltung, daß der Genuß von Freiheit und Freizügigkeit an materielle Voraussetzungen gebunden ist. Wenn der Wert des Freiheitsrechts im Zustand der Mittellosigkeit verschwindet, wird aus der Grammatik unserer ethisch-politischen Selbstverständigung das naturrechtliche Herzstück herausgebrochen. Wenn die Menschen über keine materiellen Ressourcen verfügen können, dann rückt hinreichender Ressourcenbesitz in den Rang einer freiheitsermöglichenden Bedingung, dann wird hinreichender materieller Ressourcenbesitz zur Voraussetzung von Recht, personaler Würde und bürgerlicher Existenz, dann erweist er sich wie das Recht selbst als Grundgut, dann muß bürgerliche Solidarität für eine hinreichende materielle Versorgung einstehen. Zumindest dann gilt dieser Ermöglichungszusammenhang zwischen dem immateriellen Zentralgut des Rechts und einem materiellen Zentralgut hinreichenden Ressourcenbesitzes, wenn wir das Recht nicht nur im Lichte des status negativus, als Abwehrrecht betrachten, sondern uns auf die in den normativ-individualistischen Begriff der Rechtsordnung eingelassene normative Leitvorstellung einer eigenverantwortlichen, zur selbstbestimmten Lebensführung fähigen Person beziehen. Angesichts dieser operationalen Abhängigkeit des Freiheits- und Freizügigkeitsrechts von hinreichendem materiellen Güterbesitz muß eine um gerechte Grundgüterversorgung bemühte Gesellschaft auch eine zumindest básale Versorgung mit einem Ersatzeinkommen im Falle wie auch immer verursachter Erwerbsunfähigkeit sicherstellen. Die menschenrechtliche Verpflichtung zur Rechtsstaatlichkeit treibt aus sich selbst eine freiheitsrechtliche Verpflichtung zur Sozialstaatlichkeit hervor. In der Numerus-clausus-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1972 finden sich die Umrisse einer leistungsrechtlichen Grundrechtsauslegung, die eine solche Überlegung aufgenommen hat. Hier geht es nicht mehr um Daseinsfürsorge im Sinne biologischer Kontinuitäts- und Existenzsicherung. Hier geht es um Exklusionsabwehr, um die teilhaberechtlichen Voraussetzungen wirksamer Grundrechtswahrnehmung, genauer:

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Sozialstaatsbegründung

die Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, damit das Freiheitsrecht verwirklicht werden kann, denn, so heißt es im Urteil, „das Freiheitsrecht wäre ohne die tatsächliche Voraussetzung, es in Anspruch nehmen zu können, wertlos".1 Der Freiheitsrechtsanspruch muß also um der Konsistenz willen nicht nur Abwehransprüche umfassen, sondern auf die Gewährleistung der „notwendigen Voraussetzungen für die Verwirklichung des Freiheitsrechts" selbst ausgedehnt werden.2 Das Bundesverfassungsgericht variiert damit ein Argument, das zuerst in der Sozialstaatskonzeption von Lorenz von Stein vorgetragen worden ist. „Die Freiheit ist eine wirkliche erst in dem, der die Bedingungen derselben, den Besitz der materiellen und geistigen Güter, als die Voraussetzungen der Selbstbestimmung, besitzt."3 Da zu den notwendigen Voraussetzungen für die Verwirklichung des Freiheitsrechts auch eine hinreichende Versorgung mit materiellen Gütern gehört, weist diese Argumentation auch einen direkten Weg zu einer freiheitsrechtlichen Sozialstaatsbegründung. Sie könnte folgendermaßen aussehen. Jeder Mensch hat das Recht, über seine Kräfte und Fähigkeiten selbstbestimmt verfügen zu können, ein Leben nach seinen Vorstellungen führen zu können und von der Gesellschaft und seinen Mitmenschen als selbstverantwortliches Wesen, als Zweck an sich selbst respektiert zu werden. Diese autonomieethische Ausweitung verwandelt das Freiheitsrecht in ein unverkürztes Selbstverfügungsrecht, das eine bürgerrechtliche Anspruchsgrundlage begründet, die ihrerseits zur Bereitstellung von Sozialleistungen, zur Bereitstellung eines interimistischen Ersatzeinkommens bei Erwerbslosigkeit verpflichtet. Hier geht es nicht um Subsistenzsicherung, hier ist ein anspruchsvolleres sozialstaatliches Leistungsniveau verlangt, geht es doch um eine Versorgung, die die Aufrechterhaltung der bürgerlichen Lebensform gestattet. Biologisch lebt der Mensch wirklich nur von Brot allein. Daher muß ein sich der Subsistenzsicherung verpflichtender Sozialstaat über die Bereitstellung von Suppenküchen, Wolldecken und Massenunterkünften nicht sonderlich hinausgehen. Ein Sozialstaat der Daseinsfürsorge ist ein Hobbesscher Sozialstaat, wie der Leviathan auf den Sicherheitsbedarf der Menschen, ihr Selbsterhaltungsinteresse ausgerichtet. Da im ungeregelt-naturwüchsigen Miteinander nicht nur direkte Gewalthandlungen, sondern auch eine drastisch asymmetrische Mittelverteilung Existenzrisiken birgt, muß ein sich der Erhaltung der Menschen widmender Staat auch zur Daseinsfürsorge verpflichten und die Fortexistenz mittelloser und selbstversorgungsunfähiger Bürger sichern. Wenn es aber nicht mehr nur um Existenzsicherung geht, sondern um die freiheitsrechtliche Voraussetzung der Selbständigkeit, dann ist seitens der Allgemeinheit ein größeres Engagement erforderlich, dann müssen wir den minimalistischen Hobbesschen Sozialstaat durch einen kantischen Sozialstaat ersetzen. Selbstverfügung, Selbstbestimmung, ein Leben nach eigenen Vorstellungen zu führen verlangt mehr als Existenzgarantie, als die Sicherung der Möglichkeit, am Leben zu bleiben. Selbstbestimmung verlangt den Besitz materielum

1 2 3

BVerfGE 33, 303 (331). BVerfGE 33, 303 (337). Lorenz von Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich Tage, Bd. 3, München 1921, Nachdruck: Darmstadt 1959, 104.

von

1789 bis auf unsere

122

Wolfgang Kersting

1er Ressourcen, verlangt Optionen und Alternativen. Ein Leben, das nur den Geleisen der Not und Mittellosigkeit folgt, findet ohne Eigenbeteiligung statt. Wenn wir das Kantische Rechtsverständnis von seiner koordinationspolitischen Restriktivität befreien und etwa die sozialen und ökonomischen Bedingungen des Rechts auf selbstbestimmte Lebensführung mit in den begrifflichen Kranz des Freiheitsrechts hineinnehmen, dann kann seine sowohl rechtlich als auch rational gebotene Institutionalisierung nicht bei der Etablierung rechtsstaatlicher Verhältnisse haltmachen, da Markt und Eigentumsordnung immer nur eine selektive Garantie für eine Wahrnehmung dieses Selbstbestimmungsrechts bieten, dann muß sie als notwendige strukturelle Ergänzung sozialstaatliche Einrichtungen verlangen. Übrigens, um einem möglichen philologischen Einwand entgegenzutreten: Wenn ich von einem kantischen Sozialstaat spreche, behaupte ich nicht, daß sich in der Kantischen Rechtsphilosophie eine normative, freiheitsrechtliche Sozialstaatsbegründung findet. Kants Freiheitsrecht ist ausschließlich am status negativus interessiert und dehnt die menschenrechtliche Anspruchsgrundlage gerade nicht auf die materiellen Voraussetzungen der Wahrnehmung des Freiheitsrechts aus. Das ist aber eine freiheitsrechtliche Verkürzung, die von Kant zu übernehmen keinerlei Veranlassung besteht. Die freiheitsrechtliche Verankerung sozialstaatlicher Leistungen hat jedoch nicht nur Auswirkungen auf das Niveau der Transferzahlungen. Ist es eine legitimationsentscheidende Aufgabe des Staates, für die Voraussetzungen einer selbstbestimmten Lebensführung seiner Bürger zu sorgen, dann darf er sich nicht mit Umverteilung begnügen. Sozialstaatliches Engagement darf nicht monetaristisch verkürzt werden, es muß zumindest auf zwei Feldern politische Initiative und institutionelle Phantasie entwickeln: auf dem Gebiet der Beschäftigungspolitik und auf dem Gebiet der Ausbildung. Denn zum einen ist der Selbsterhaltung ermöglichende Arbeitsplatz autonomieethisch dem Bezug von sozialstaatlichen Transfereinkommen grundsätzlich vorzuziehen. Zum anderen ist die Entwicklung der Fähigkeiten und Fertigkeiten die Voraussetzung für selbstbestimmte Lebensführung; nur aus der Anspannung der eigenen Kräfte, aus der selbstbeanspruchenden Leistung läßt sich Selbstgenuß und Selbstwert gewinnen. Daher verlangt ein freiheitsrechtlicher Sozialstaat sowohl offensive Arbeitsmarktpolitik als auch die Etablierung und Pflege eines horizontal wie vertikal hinreichend ausdifferenzierten Ausbildungssystems. Der freiheitsrechtliche Sozialstaat ist um die Ermöglichung der Wahrnehmung des Freiheitsrechts, ist um die Ermöglichung selbstbestimmter Lebensführung bemüht. Sein Hauptziel ist die Minimierung von Autonomierisiken, nicht die Erträglichmachung der Folgen manifesten Autonomieverlustes. Daher ist der freiheitsrechtliche Sozialstaat nicht auf das Versicherungsprinzip zu reduzieren, das ihn in komfortabler Nachträglichkeit verharren und auf den Versicherungsfall warten läßt. Daher zeigt sich seine Leistungsstärke auch nicht an dem Niveau der Versorgung, mit der die Ertragseinbußen eingetretener Unselbständigkeit kompensiert werden, sondern an dem Ausmaß seiner autonomiepolitischen Kreativität, seiner institutionellen Phantasie. Aus freiheitsrechtlicher Perspektive ist der Sozialstaat vordringlich ein Ermöglicher, der Vorsorge für die Freiheit trifft, kein Reparaturunternehmen, das Autonomieschäden flickt. Die Leistungsdifferenz zwischen sozialstaatlicher Daseinsfürsorge und sozialstaatlicher Freiheitsfürsorge ist materialer Ausdruck eines wichtigen begründungstheoretischen Un-

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terschiedes, der seinerseits die Konsequenz zweier divergierender Menschenbilder ist. Die anthropologische Basis der subsistenzrechtlichen Argumentation ist der Homo sapiens, das biologische Gattungswesen Mensch. Hier geht es um den rechtlichen Schutz der fundamentalen biologischen Kontinuität, um das Weiterleben, das einerseits durch Folter und Tod, andererseits aber auch durch Lebensmittellosigkeit gefährdet werden kann. In dem subsistenzrechtlichen Argument wird nur der Kreis der biologisch relevanten Dependenzen kausal abgeschritten. Das autonomieethische Argument, das ein freiheitsfürsorgerisches Sozialstaatsengagement begründet, geht hingegen von dem Begriff der Personalität aus. Während der Homo sapiens erst durch menschenrechtliche Zuschreibungen normative Signifikanz erhält, ist der Begriff der Persönlichkeit ein Grundbegriff der mo-

ralisch-kulturellen Grammatik unserer Selbstverständigung und von Haus aus mit normativer Signifikanz ausgestattet. Die ihm durch menschenrechtliche Zuschreibungen zugewiesenen normativen Bestimmungen differenzieren diese originäre normative Signifikanz nur aus. Daher besteht nicht nur der Quantität nach, sondern auch der Qualität nach ein erheblicher Unterschied zwischen einer biologischen Kontinuitätssicherung und Existenzsicherung zum einen und einer materialen Ermöglichung personaler und freiheitlicher Lebensführung zum anderen. Erstere steht dafür ein, daß Menschen am Leben bleiben und weiter existieren; letztere verlangt die Gewährleistung des Maßes an faktischer Freiheit, das Menschen brauchen, um handeln und das Leben einer Person führen zu können. Hier muß einem weiteren Einwand begegnet werden. Keinesfalls impliziert dieses Begründungsargument die These, daß die menschenrechtliche Anspruchsgrundlage ein Recht auf Glück beinhalten würde. Natürlich ist dem von kantianischen Eiferern bis zum Überdruß repetierten Argument, daß „für dasjenige, worin Menschen ihre Glückseligkeit suchen, sich überhaupt kein allgemeines Gesetz finden läßt", zuzustimmen. Zuzustimmen ist auch der Folgerung, daß die politische Freiheit eben darin bestehe, „daß der Mensch in diesem seinem Streben [...] keinem gesetzlichen Zwange unterliegt".4 Kant hat sich dem eudämonistischen Despotismus des Polizei- und Wohlfahrtsstaats seines Jahrhunderts entgegengestellt, der in der Nachfolge eines Glück und Sittlichkeit amalgamierenden Aristotelismus das zwangsbewehrte Recht zur Durchsetzung material-ethischer Vorstellungen eines sittlich-glücklichen Lebens benutzte. Aber in der hier skizzierten Konzeption der Verteilungsgerechtigkeit geht es um materiale Voraussetzungen individueller Freiheitsausübung, nicht um ein sittlich ausgezeichnetes Glücksverständnis. Und auch dann, wenn wir den Glücksbegriff von seinen Sittlichkeitseinlagerungen befreien, ihn psychologisieren und präferenzindividualistisch zuspitzen, können wir ihm keine menschenrechtliche Unterstützung geben. Wir können ihn daher auch nicht als gerechtigkeitsethisches Kriterium staatlicher Versorgungs- und Verteilungspolitik verwenden. Auf ein Recht auf Glück läßt sich kein Sozialstaat gründen. Aber das will auch keiner, daher laufen die Kantianer mit diesem Hinweis offene Türen ein. Erst dann begeben sie sich ins rechts4

Julius Ebbinghaus, Sozialismus der Wohlfahrt und Sozialismus des Rechtes, in: ders., Sittlichkeit und Recht. Praktische Philosophie 1929-1954 (Gesammelte Schriften, Bd. 1), hrsg. v. Hariolf Oberer u. Georg Geismann, Bonn 1986, 231-264, hier 235.

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124

philosophische Abseits,

wenn

Arguments notwendig ausweisbar sei.

aufgrund des eudämonismuskritischen Verteilungshandeln grundsätzlich nicht als rechtlich

sie meinen, daß

Kants sozialstaatliches

II

Gerechtigkeitstheorie will Regeln zur Lösung innerkooperationsgemeinTeilungsprobleme entwickeln. Sie etabliert eine Gerechtigkeit zwischen Kooperationspartnern. Die unter dem Schleier der Unwissenheit ermittelte Verfassung bestimmt allein die Grundstruktur einer Gesellschaft selbständiger Wirtschaftssubjekte, die Grundstruktur einer geschlossenen, alle Erwerbsunfähigen ausschließenden Marktgesellschaft. Gerade weil es auf die internen Verteilungsprobleme des Kooperationssystems eingeschränkt ist, taugt das Differenzprinzip nicht als Sozialstaatsprinzip. Denn obwohl das Differenzprinzip sozioökonomische Ungleichheit zuläßt, liegt ihm eine „conception of reciprocity" zugrunde, ist es ein „principle of mutual benefit".5 Die Vereinbarkeit von wechselseitiger Vorteilhaftigkeit und Ungleichheit ist darin begründet, daß der Kooperationsgewinn in ungleicher Gesellschaft größer ist als in gleicher Gesellschaft, somit selbst der Schlechtestgestellte in ungleichen Gesellschaften eine größere Kooperationsdividende erhalten kann als in gleichen Gesellschaften. Wird die Verteilungsgerechtigkeit als moralisch vorzugswürdige Regulation interner kooperationsgemeinschaftlicher Verteilungskonflikte entwickelt, dann kommen Individuen nur dann in den Genuß der Gerechtigkeit, wenn sie Mitglieder der Kooperationsgemeinschaft sind. Für Rawls konvergieren Gerechtigkeitsgemeinschaft und Kooperationsgemeinschaft. Daher vermag seine Gerechtigkeitstheorie keine Sozialstaatsbegründung, keine Begründung der moralischen Vorzugswürdigkeit kollektiver Sicherungssysteme zu liefern. Denn die Adressaten sozialstaatlicher Versorgung sind gerade die Mitmenschen, die entweder aus der Kooperationsgemeinschaft ausgestoßen oder nicht in sie aufgenommen werden. Die Adressaten der sozialstaatlichen Versorgung sind Arbeitslose, Arbeitsunfähige, Rentner, Kranke und geistig, psychisch und körperlich Behinderte, all die also, die sich in einer Gesellschaft der Gegenseitigkeit, des wechselseitigen Vorteils nicht behaupten können, da sie nichts anzubieten haben, das zu

Die Rawlssche

schaftlicher

erwerben andere interessiert sein könnten.6

Obwohl wegen der Wiederentdeckung des Themas der sozialen Gerechtigkeit so hochgelobt, hat Rawls doch gerade den Bereich gerechtigkeitstheoretisch völlig ausgeklammert, den wir vordringlich mit dem Thema der sozialen Gerechtigkeit verknüpfen, nämlich den Bereich, der durch die Versorgungsleistungen der gesetzlichen Sozialversicherungssysteme von der Rentenversicherung über die Krankenversicherung bis zur Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfeversicherung definiert ist, also den sozialstaatlichen Bereich. Rawls war sich über diese Lücke in seiner Gerechtigkeitstheorie freilich im klaren. „We 5 6

Theory of Justice, Cambridge, Mass. 1971, 102. Vgl. Wolfgang Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, Stuttgart-Weimar 2000, 171; ders., John Rawls, Hamburg 1993, vollständige Neufassung: Hamburg 2001.

John Rawls, A

68-

Grundriß einer liberalen

125

Sozialstaatsbegründung

so Rawls, „that all citizens are fully cooperating members of society over of a complete life. This means that everyone has sufficient intellectual powers to play a normal part in society, and no one suffers from unusual needs that are especially difficult to fulfil, for example, unusual and costly medical requirements."7 Rawls gibt zu, daß „care for those with such requirements is a pressing practical question". Aber daß diese Frage innerhalb des Horizonts seiner Theorie nicht zur Beantwortung ansteht, wird sofort deutlich, wenn er anmerkt, daß „at this initial stage, the fundamental problem of social justice arises between those who are full and active and morally conscientious participants in society and directly or indirectly associated together throughout a complete life".8 Es ist offensichtlich, daß Rawls mit seinen idealisierenden Unterstellungen eines Vollbeschäftigung ermöglichenden Arbeitsmarktes und einer lebenslangen Arbeitsfähigkeit der Bürger der Fairneßgerechtigkeit eine Anwendungssituation auf den Leib schneidert, die mit den Verteilungsproblemen der politischen Realität keinerlei Berührung hat. Daher muß sich seine Theorie in dem Maße, in dem die Realität hinter diesen Idealvorstellungen zurückbleibt, notwendigerweise als unvollständig und ungenügend erweisen. Wie läßt sich dieser Mangel beheben? Wie läßt sich die Rawlssche Konzeption vervollständigen? Eine vollständige Konzeption der Verteilungsgerechtigkeit wird zwei unterschiedliche gerechtigkeitstheoretische Dimensionen miteinander verknüpfen müssen: auf der einen Seite die auf Kooperationsgemeinschaften zugeschnittene Gerechtigkeitsdimension der angemessenen Lasten- und Gewinnverteilung innerhalb eines Systems des wechselseitigen Vorteils, kurz: die Dimension einer Gerechtigkeit des wechselseitigen Vorteils; und auf der anderen Seite die auf Solidargemeinschaften zugeschnittene Gerechtigkeitsdimension der markt- und leistungsunabhängigen, unparteilich jedem Anspruchsberechtigten zuteil werdenden Grundversorgung. Glücklicherweise ist das Vertragsargument so flexibel, daß es auch mit dieser schwierigeren Begründungsaufgabe betraut werden kann. Freilich müssen wir dann die parametrischen Idealisierungen des Rawlsschen Arguments rückgängig machen und den Markt nicht länger von den Beschäftigungs- und Versorgungsrisiken trennen, denen Menschen auf dem Markt und durch den Markt ausgesetzt sein können. Es ist nämlich überhaupt nicht einzusehen, daß die Verfassungswähler, die kein besonderes, sondern nur allgemeines Wissen haben, die sich also als Jedermann vor dem Hintergrund allgemeiner Struktur- und Problembeschreibungen situieren, sich nicht fragen, was aus ihnen wird, wenn ihr Leben keinen Normalverlauf nimmt oder nur stotternd startet, wenn ihre Arbeitskraft nicht mehr nachgefragt wird, wenn sie das Schicksal der Arbeitslosigkeit ereilt oder wenn sie gänzlich arbeitsunfähig werden oder es gar von vornherein sind, was aus ihnen also wird, wenn sie ein Leben außerhalb der Kooperationsgemeinschaft führen müssen, weil sie der Markt entweder von Anfang an zurückweist oder irgendwann ausgespuckt hat. Die Arbeitslosigkeitsoption ist analytischer Bestandteil einer allgemeinen Beschreibung des kapitalistischen Wirtschaftssystems, und die Arbeitsunfähigkeitsoption ist analytischer

assume",

are

to

the

course

7

8

John Rawls, Kantian Constructivism in Moral of Philosophy 77 (1980), 515-572, hier 546. Ebenda.

Theory:

The

Dewey Lectures, in: The Journal

126

Wolfgang Kersting

allgemeinen Beschreibung menschlichen Lebens. Gerade weil sie ihre auf ein ganzes Leben treffen und damit rechnen müssen, daß im Hinblick Entscheidung ein Teil ihres Leben in der Arbeitslosigkeit verbracht werden kann, werden sie das Verteilungsproblem nicht auf das Problem der Verteilung der kooperativ erwirtschafteten Güter auf die aktiven Kooperationsmitglieder beschränken, sondern auf alle Mitglieder der sich hinsichtlich der Güterproduktion kooperationsgemeinschaftlich organisierenden politischen Gemeinschaft ausdehnen. Diese sozialstaatliche Erweiterung des kontraktualistischen Begründungsszenarios führt somit zu einem Argument, das der normativ-freiheitsrechtlichen Sozialstaatsbegründung eine rationale Sozialstaatsrechtfertigung zur Seite stellt. Da jeder damit rechnen muß, in eine Lage zu geraten, in der er nicht mehr selbst für sich und seine von ihm abhängigen Angehörigen sorgen kann und daher fremder Hilfe und Unterstützung bedarf, werden sich die Verfassungswähler auf ein Verfahren der Verstaatlichung der Solidarität einigen, auf eine Regelung also, durch die sich die verfaßte Allgemeinheit verpflichtet, den hilfsbedürftigen Mitgliedern der Gesellschaft jene Unterstützung zuteil werden zu lassen, die sie benötigen, um zumindest ihre grundlegenden Bedürfnisse befriedigen zu können. Bei Rawls haben wir im Kontrakt eine Betriebsversammlung vor uns: Wirtschaftsbürger, Mitglieder des Kooperationsunternehmens Marktgesellschaft kommen unter dem Schleier der Unwissenheit zusammen, um sich eine gerechte Verfassung zu geben. Jetzt hingegen ist der organisationspolitische Referenzrahmen ausgeweitet: Jetzt gibt sich eine politische Bürgergemeinschaft eine Verfassung, und die Ausstattung mit Rechten, Chancen und materiellen Gütern, die erforderlich sind, um das Leben eines Bürgers zu führen, bildet jetzt den kriteriellen Bezugspunkt für die konstitutionellen Entscheidungen. Bestandteil einer

III

folgende Argument bietet eine individualistische Umkehrung des kollektivistischen Arguments Rawls' vom common asset.9 Das Rawlssche Argument besagt, grob vereinfacht, daß die Kooperationsgemeinschaft als ideeller Gesamtbesitzer aller individuellen Talente und Begabungen anzusehen ist und die durch ihren Einsatz erwirtschafteten Güter dann nach Maßgabe der Grundregeln der Verteilungsgerechtigkeit an die Individuen verteilt. Dieses Argument, das die altvertraute Gemeinbesitzidee auf die individuellen Produktivitätsressourcen der Individuen überträgt, hat eine dezidiert antiliberale Pointe, denn es spricht den Individuen a limine jeden grundrechtlichen und meritorischen Anspruch auf die von ihnen unter Einsatz ihrer Talente und Fähigkeiten erarbeiteten Güter ab. Wir alle sind Nutznießer der gesellschaftlichen Kooperation auf mehreren Ebenen. Und ohne das gedeihliche Klima einer entwicklungsfreundlichen Kooperation könnten wir grundsätzlich nicht die Anlagen, Fähigkeiten und Talente zur Entfaltung bringen, die in Das

schlummern. Als Kehrseite des Common-asset-Gedankens entdeckt sich die ökonomisch-ethische Benutzung der Gemeinschaft durch den einzelnen. Und auch hier ist es so, uns

9

Vgl. Kersting,

Theorien der sozialen

Gerechtigkeit,

168 ff.

Grundriß einer liberalen

127

Sozialstaatsbegründung

daß gerade die Hochtalentierten von der Gemeinschaft profitieren, denn nur eine komplexe, ausdifferenzierte Gesellschaft mit hochentwickelten wissenschaftlichen, künstlerischen und technisch-wirtschaftlichen Sektoren enthält die erforderlichen perfektionistischen Anreize und Herausforderungen, kann der außergewöhnlichen Begabung ein geeignetes Entwicklungsmilieu bieten. Insofern korrespondiert der Besserstellungsabgabe der wirtschaftlich Erfolgreichen im Rahmen des Common-asset-Gedankens eine Benutzungsabgabe für gesellschaftliche Talententwicklung und Begabungstraining im Rahmen des Gedankens gesellschaftlicher Entwicklungshilfe. Wir haben hier ein stabiles Verhältnis der Wechselseitigkeit: Nicht nur verwendet die Gesellschaft die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der natürlich Bevorzugten in gerechtigkeitspolitischer Absicht; ebenso verwenden insbesondere die natürlich Bevorzugten das gesellschaftliche Anreiz-, Entwicklungs- und Bildungssystem zur Vervollkommnung ihrer natürlichen Anlagen. Daher kann man anstatt von einer kollektiven Bewirtschaftung der individuellen Talente auch von einer individuellen Benutzung sozialer Vervollkommnungsagenturen sprechen. Und aus liberaler Perspektive ist der letzten Lesart der Vorzug zu geben, weil sie mit den Voraussetzungen des normativen Individualismus vereinbar ist, die Rawlssche Idee eines Gemeinbesitzes der lebenserfolgsrelevanten Talente, Fähigkeiten und natürlichen Eigenschaften hingegen grundlegenden normativen und personentheoretischen Überzeugungen des Individualismus widerspricht.10 Diese Umkehrung des Common-asset-Gedankens, dieser Wechsel von der distributiven Talentpoolbewirtschaftung zur perfektionistischen Ausnutzung des Kooperationssystems, zeigt einen zweiten Weg zu einer rationalen Begründung des Sozialstaats. Diese Begründung stützt sich auf die Vorstellung einer Benutzungsgebühr, die im Rahmen einer progressiven Einkommenssteuer entrichtet und für die Finanzierung der freiheitsrechtlich notwendigen sozialstaatlichen Leistungen verwendet wird. In dem Gedanken der Benutzungsgebühr ist die Überlegung enthalten, daß der karrierepolitisch erfolgreiche Einsatz der natürlichen Fähigkeiten, Talente und Begabungen ebenso wie die positive Verzinsung günstiger sozialer Startbedingungen abhängig von einem gut funktionierenden, hinreichend ausdifferenzierten und politisch stabilen, durch allgemeine Anerkennung getragenen sozioökonomischen Kooperationssystem ist. Ebenso wie eine Wachstumsökonomie dem Kapital gute Verwertungsmöglichkeiten bietet, bietet ein entwickeltes gesellschaftliches Kooperationssystem den individuellen Anlagen, Talenten und Begabungen gute Entfaltungsbedingungen. Vor diesem Hintergrund läßt sich das sozialstaatliche Verteilungsprinzip als progressive Benutzungsgebühr verstehen, die die Individuen für die perfektionistische, ihren Lebenserfolg verbessernde, zumindest ihren sozioökonomischen Grundgüterbesitz mehrende Inanspruchnahme des günstigen kooperationsgemeinschaftlichen Entwicklungssystems zu entrichten haben und die für die Besserstellung der Schlechtestgestellten innerhalb des Gesamtsystems zu verwenden ist. Und daß dabei die Einkommensstärkeren größere Benutzungsabgaben zu entrichten haben als die Einkommensschwächeren, versteht sich von selbst. Denn der, der am meisten von den günstigen Entfaltungschancen eines kooperativen Systems profitiert, muß auch, das ist das Grundgebot proportionaler Gerechtigkeit, die höchsten Benutzungsgebühren entrichten. Natürlich ist das Ausmaß 10 Dazu ausführlich meine Rawls-Kritik ebenda,

Kap. III.

128

Wolfgang Kersting

systemabhängigen Lebenserfolgs nicht objektiv festzustellen, ist ein Vergleich karrierepolitischer Bilanzen mit denselben Schwierigkeiten behaftet wie der notorische interpersonelle Nutzenvergleich. Aber wir benötigen eine operationeile Größe. Daher müssen des

wir auf das Einkommen zurückgreifen und seine Höhe ermöglichten Lebenskarriere erklären.

zum

Erfolgsmaß

einer system-

IV Die hier skizzierte Sozialstaatsbegründung hält an der menschenrechtlichen Orthodoxie fest und hat darum den Vorzug äußerster begrifflicher Sparsamkeit. Sie kommt mit dem normativen Fundus der Kernmenschenrechte aus und benötigt neben dem gleichermaßen für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zuständigen Grundprinzip der gleichen Freiheit kein weiteres Prinzip. Insbesondere benötigt sie kein selbständiges Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit. Dadurch unterscheidet sie sich vom Egalitarismus, der in all seinen Spielarten dem Rechtsstaatsprinzip ein eigenständiges Verteilungsprinzip zur Seite stellt, das als Unterschiedsprinzip, als Ressourcengleichheitsprinzip oder Wohlfahrtsgleichheitsprinzip die Verteilung der gesellschaftlichen Güter organisiert. Ich habe mich mit dem Egalitarismus ausführlich an anderer Stelle auseinandergesetzt und möchte hier daher von einer Gegenüberstellung liberaler und egalitärer Sozialstaatsbegründung absehen.11 Statt dessen möchte ich noch einen kurzen Blick auf zwei Sozialstaatskonzeptionen werfen, die sich ebenfalls ausschließlich auf den Begriff der Freiheit stützen und eine Ausweitung der normativen Plattform um ein Verteilungsprinzip entschieden ablehnen. Das ist einmal die von Lockes Gemeinbesitzmythologie inspirierte Konzeption von Hillel Steiner,12 die gleiche Freiheit als gleiches Verfügungsrecht über einen gleich großen Gemeinbesitzanteil auslegt. Das ist zum anderen Van Parijs' Überzeugung, daß Freiheit nur dann reale, wirkliche Freiheit ist, wenn jeder über ein unbedingtes, von allen Gegenleistungen unabhängiges Grundeinkommen verfügt.13 11

12

13

Vgl. Wolfgang Kersting, Politische Solidarität statt Verteilungsgerechtigkeit. Eine Kritik egalitaristischer Sozialstaatsbegründung, in: Politische Philosophie des Sozialstaats, hrsg. v. Wolfgang Kersting, Weilerswist 2000, 202-256; ders., Theorien der sozialen Gerechtigkeit; ders., Rechtsphilosophische Probleme des Sozialstaats, Baden-Baden 2000; ders., Kritik der Verteilungsgerechtigkeit, in: Kursbuch, Bd. 143: Die Neidgesellschaft, Berlin 2001, 23-38. Vgl. Hillel Steiner, An Essay on Rights, Oxford 1994; ders., Just Taxation and International Redistribution, in: Global Justice, hrsg. v. Ian Shapiro u. Lea Brilmayer, New York 1999, 171-191; zu Steiners Theorie vgl. Ulrich Steinvorth, Gleiche Freiheit. Politische Philosophie und Verteilungsgerechtigkeit, Berlin 1999, 123-137; Wolfgang Kersting, Suffizienzorientierung versus Gleichheitsorientierung. Bemerkungen zur Konzeption einer internationalen Verteilungsgerechtigkeit, in: Internationale Gerechtigkeit, hrsg. v. Karl Graf Ballestrem, Opladen 2001, 278-315. Philippe Van Parijs, Real Freedom for All. What (if Anything) Can Justify Capitalism?, Oxford 1995; zu Van Parijs vgl. Steinvorth, Gleiche Freiheit, 157-181; Basic Income? Symposium on P. Van Parijs's ,Real Freedom for All', in: Analyse & Kritik 22 (2000), Nr. 2; Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, 266-273.

Grundriß einer liberalen

Sozialstaatsbegründung

129

Gerechtigkeitsfragen als Eigentumsfragen buchstabiert werden und das Recht gleiche Freiheit ein Recht auf einen gleichwertigen Anteil an den natürlichen Ressourcen impliziert, wird das systematische Interesse notwendig auf den Anfang aller Eigentumsverhältnisse und die begrenzte Menge des originär Appropriierbaren gelenkt. Wenn

auf

Nehme ich mein básales Aneignungsrecht wahr, verschlechtere ich nolens volens die Bedingungen der Wahrnehmung desselben Rechts für alle anderen, Zeitgenossen und Nachgeborene. Grundsätzlich also verlangt die Endlichkeit des zu Appropriierenden einerseits und der Zeitvorteil der je Gegenwärtigen andererseits, daß die Wahrnehmung des Appropriationsrechts unter einschränkenden Bedingungen erfolgt. Diese einschränkenden Bedingungen müssen die fundamentale Anspruchsgleichheit aller zum Zwecke ihres Freiheitsgebrauchs auf äußere Güter angewiesenen Rechtssubjekte berücksichtigen. Wie sieht dieser Gerechtigkeitsvorbehalt bei der Aneignung natürlicher Ressourcen aus? Locke versieht die durch Bearbeitung ins Werk gesetzte prima occupatio mit der Bedingung, daß „enough, and as good left in common for others".14 Während Locke noch glaubte, daß die Weiten Nordamerikas seine Theorie retten würden, sieht sich der Neolockeanismus Nozicks mit der Situation konfrontiert, daß die Erde seit langem aufgeteilt ist und das Appropriationsrecht der Nachgeborenen nur noch auf dem philosophischen Papier steht. Nozick muß daher den Lockeschen Gerechtigkeitsvorbehalt reformulieren: Die Nachgeborenen haben dann keinen Grund, sich zu beklagen, wenn ihnen der Zugang zur Nutzung des Begehrten ermöglicht wird, wenn sie also auf dem Markt Nutzungsrechte erwerben können. Der Appropriationsoptimismus Lockes weicht bei Nozick einem Marktoptimismus; denn von einem Optimismus, d.h. von einer angestrengten Realitätsverschönerung muß hier geredet werden, da im Falle signifikanter Mittellosigkeit die Nutzung nicht erworben werden kann. Der, der nichts zu tauschen hat, dessen Arbeitskraft nicht nachgefragt wird, wird sowohl um sein angestammtes Recht auf Appropriation als auch um dessen ökonomisches Surrogat betrogen. Die Gerechtigkeitstheorie der property rights weist hier also eine beträchtliche Lücke auf. Wie kann die Theorie gerettet werden? Wie kann man diese Lücke füllen, ohne daß die naturrechtlichen Voraussetzungen preisgegeben werden? Es ist evident, daß auf dem Nozickschen Wege der Bereitstellung eines Surrogats, der Kompensation für entgangene, vereitelte Rechtswahrnehmung weitergegangen werden muß. Denn da die Aufteilung der Erde abgeschlossen ist, nicht jeder sich die gewünschten Nutzungsrechte erwerben kann, folglich der Markt als Gerechtigkeitsgarant ausscheidet, bedarf es eines neuen Entschädigungsanlaufs. In dieser neuen Kompensationsrunde kommt der Akteur ins Spiel, der immer dann gerufen wird, wenn die Verteilungsleistungen des Marktes Gerechtigkeitsmängel aufweisen, der Staat. Aufgabe des Staates ist es nach Steiner, den Anspruch eines jeden auf einen qualitativ gleichen Anteil an den natürlichen Ressourcen zu garantieren. Wie aber ist das möglich? Wie kann denn überhaupt ermittelt werden, wieviel jedem zusteht, wenn jeder einen Anspruch auf einen gleichen Teil an dem Gesamtwert aller natürlichen Ressourcen hat? 14

John Locke, The Second Treatise of Government (§ 27), in: ders., Two Treatises of Government, hrsg. v. Peter Laslett, Cambridge 1988, 265-428, hier 288.

130

Wolfgang Kersting

Steiners Antwort ist arithmetisch einfach, ökonomisch und ethisch falsch und politisch völlig unpraktikabel. Man stelle sich eine Art Börsengang der Natur vor. Wir bieten die Natur auf dem Weltmarkt zum Verkauf an und teilen dann den Erlös unter die Weltbevölkerung auf. Mit dieser gedankenexperimentell ermittelten Natur- und Rohstoffaktie hat der Staat einen Maßstab für seine kompensatorischen Redistributionsanstrengungen an der Hand. Diejenigen, die mehr besitzen, als ihnen zusteht, müssen eine entsprechend bemessene Überappropriationssteuer bezahlen, mit der diejenigen, die weniger besitzen, als ihnen zusteht, nach dem je individuellen Maß ihrer Unterappropriation entschädigt werden. So heilt das Geld des Steuerstaats die Wunden, die die kontingenten, endlichkeitsbestimmten Umstände der acquisitio originaria der Gleichheit geschlagen haben. Der Einwand liegt nahe, daß politische Philosophie hier zu realitätsabgewandter Modellbastelei degeneriert, und dieser Einwand wiegt schwer, wenn man daran festhält, daß politische Philosophie zur Praktikabilität ihrer Konzepte verpflichtet ist und nicht tagträumen sollte. Auch irritiert der unbekümmerte Etatismus des bekennenden Libertaristen Steiner, denn die für die Durchführung eines solchen zugleich nationalen und globalen Bemessungs- und Redistributionsarrangements erforderliche staatliche Bürokratie muß zweifellos leviathanische Ausmaße annehmen. Weiterhin ist die von Steiner ins Spiel gebrachte Bemessungsgrundlage selbst äußerst fragwürdig. Nur dann könnte der Marktpreis der Naturaktie eine Geldwertentsprechung des gleichen Rechts auf natürliche Ressourcen sein, wenn alle mitbieten würden. Aber nur die können mitbieten, die anwesend sind und damit scheiden alle zukünftigen Generationen aus und über Kaufkraft verfügen und damit scheiden alle Unbemittelten aus. Somit haben die kein ökonomisches Mitspracherecht bei der Festlegung des Naturanteilwertes, die an einer möglichst umfassenden Unteraneignungskompensation interessiert sind, so daß allein diejenigen durch ihr Nachfrageverhalten den Wert bestimmen können, die von dem gegenteiligen Interesse an einer Minimierung der Überaneignungssteuer geleitet sind. Am schwersten aber wiegt der Einwand des libertär-lockeanischen Grundlagenverrats. Obwohl sich Steiner an Locke orientiert, schenkt er der Arbeit und ihrer wertsteigernden Wirkung keinerlei Aufmerksamkeit. Wenn wir beispielsweise Deutschlands natürliche Ressourcen auf dem Weltmarkt anbieten, dann wird die Begehrlichkeit durch den Zustand geweckt, den die Ressourcen jetzt besitzen. Die Arbeit, die in ihre Zugänglichkeit, Veredlung und Verwertbarkeit investiert wurde, wird in hohem Maße ihren Wert ausmachen. Die Produkte der Arbeit gehören aber nach liberaler Auffassung dem, der sie geleistet hat. Daher muß die durch investierte Arbeit herbeigeführte Wertsteigerung rechtens der kompensatorischen Umverteilung entzogen werden. Kein Staat, der sich der Verteilungsgerechtigkeit annehmen will, hat nackte Ressourcen zur Verfügung. Immer stößt die Theorie, die sich mit imaginierten egalitären Ausgangsverteilungen einen Bewertungsmaßstab für Gegenwärtiges verschaffen möchte, auf schon bestehende kontingente Verteilungsmuster. Und immer sind die in Frage kommenden Ressourcen dabei schon mit Arbeit vermischt. Diese Arbeit muß aber aus dem Wert, den die Ressource auf dem hypothetischen Markt erzielt, herausgerechnet werden, anderenfalls würde der aus der Gemeinbesitzmythologie geborene Sozialstaat die sich als Überaneigner entpuppenden leistungs-

-

-

Grundriß einer liberalen

Sozialstaatsbegründung

131

starken Bürger berauben und enteignen. Aber diese Scheidekunst übersteigt menschliche Möglichkeiten.15 Van Parijs bezeichnet sich als „real-libertarian",16 ist jedoch ein Egalitarist. Zwar soll seine ausgefeilte Argumentation dazu dienen, den Weg von der formalen zur realen Freiheit zu ermöglichen. Doch führt dieser Weg nicht zu einem liberalen Sozialstaat, sondern zu einer staatlichen Egalisierungspolitik, die vor allem darauf gerichtet ist, in Form eines bedingungsfrei ausgezahlten Grundeinkommens die ungleichen natürlichen Startbedingungen der individuellen Lebenskarrieren auszugleichen und die mit externen, sowohl natürlichen als auch sozialen Ressourcen Überausgestatteten zugunsten der mit Talenten, Schenkungen und Erbschaften Unterausgestatteten steuerlich zu belasten. Um die Kompensationshöhe festzulegen, schickt auch Van Parijs die externen Ressourcen auf eine fiktive Auktion, auf der gleich kaufkräftige Interessenten gegeneinander bieten. Würde man dann den Erlös dieser Auktion gleichmäßig auf alle verteilen, hätte man einen Wertmaßstab sowohl für die reale Freiheit reale Freiheit ist ursprüngliche Verfügung über den einer Person zukommenden Anteil des Gesamtwertes aller externer Ressourcen als auch für die Höhe des durch Besteuerung und Umverteilung an jeden bedingungslos auszuzahlenden Grundeinkommens. Vergleiche ich die von mir oben skizzierte liberale Sozialstaatsbegründung mit diesen beiden Konzeptionen, dann scheint mein Argument von der Notwendigkeit sozialstaatlicher Politik zumindest drei Vorteile zu haben. Zum einen kommt es ohne eine egalitäre Metrik aus. Der aus dem Freiheitsrecht selbst abgeleitete Anspruch auf materielle Versorgung im Falle wie auch immer verursachter Selbstversorgungsunfähigkeit wird nicht als materialer Anspruch auf einen gleichen Anteil an natürlichen und externen Ressourcen ausgelegt. Daher bedarf mein liberales Argument von der materialen Ermöglichung der Freiheit und von der Benutzungsgebühr auch keiner fiktiven Auktionen, auf denen über den Umweg der fiktiven Ermittlung kompetitiver Gleichgewichtspreise die fiktive Höhe des jedem gleichermaßen zukommenden Ressourcenanteils festgestellt wird. Damit ist es auch frei von dem irritierenden Ökonomismus, der alle egalitaristischen Konzeptionen prägt, die gezwungen sind, die von ihnen ins Spiel gebrachten gleichen Ressourcenansprüche zu bemessen. Die Höhe der Benutzungsgebühr ist von dem Wert irgendwelcher natürlichen -

-

15

zeigt sich nicht nur in seiner Mißachtung der sowohl rechtlichen als auch ökonomiBedeutung der Arbeit als merkwürdiger Libertärer. Auch seine Überzeugung, der Be-

Steiner schen

steuerung der Überaneignung eine Erbschaftssteuer und vor allem eine Talentsteuer zur Seite stellen zu müssen, rückt ihn in eine erstaunliche Nähe zu sozialistischen und egalitaristischen Konzeptionen. Wie kann jemand das libertäre Erzprinzip der self-ownership vertreten und gleichzeitig Eltern begabterer Kinder eine Talentsteuer auferlegen wollen, mit der Familien mit minderbegabten Kindern entschädigt werden sollen? Steiner schlägt sich hier ganz auf die Seite der Egalitaristen, die den Staat mit der Aufgabe belasten, natürliche Unterschiede zwischen den Menschen dahin gehend auszugleichen, daß die einen aus ihrer genetischsozialen Bevorzugung keine Vorteile und die anderen aus ihrer genetisch-sozialen Benachteiligung keine Nachteile haben sollen. Vgl. dazu Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, insbesondere das Dworkin-Kapitel; zur Kritik Steiners vgl. auch Steinvorth, Gleiche

Freiheit, 123 ff. 16

Van

Parijs,

Real Freedom for AU, 25.

132

Wolfgang Kersting

völlig unabhängig und ist ausschließlich eine Angelegenheit der politischen Festlegung. Es ist eine verhängnisvolle Überstrapazierung der Leistungsfähigkeit politischer Philosophie, wenn sie sich daran macht, durch solche fiktiven Szenarien eine TaxoRessourcen

nomie der Equalisanda zu entwickeln. Sie gerät dann in die Falle der Pseudokonkretheit. Ein weiterer Vorzug meines Arguments ist, daß es nicht durch die unselige Vorstellung belastet ist, soziale Gerechtigkeit hätte etwas mit dem Ausgleich unverdienter natürlicher und sozialer Ungleichheiten zu tun und der Sozialstaat hätte die Aufgabe, vor allem diejenigen, die durch ein ungünstiges und unverdientes Natur- und Sozialschicksal benachteiligt worden sind, zu Lasten der natürlich Bevorzugten und sozial Privilegierten zu entschädigen. Sowohl Van Parijs als merkwürdigerweise auch Steiner glauben an diesen egalitaristischen Mythos von der sozialstaatlichen Pflicht zur Entschädigung naturbedingter, unverdienter Benachteiligung und machen damit aus der progressiven Einkommenssteuer ein Instrument moralischer Naturkritik.17 Es versteht sich, daß ein Sozialstaat, der mit derartigen prinzipiellen Egalisierungsaufgaben betraut wird, den Anspruch einer marktunabhängigen moralischen Notwendigkeit erheben muß. Sowohl Steiner als auch Van Parijs und die Egalitaristen ohnehin schreiben dem Sozialstaat eine Rolle zu, die beträchtlich von der Aufgabe abweicht, die ihm in meiner Begründungsargumentation zugewiesen wird. Der den Ausgleich zwischen Ressourcenüberappropriation und Ressourcenunterappropriation organisierende Sozialstaat ist ebenso wie der sozialstaatliche Grundeinkommensauszahler kein Subsidium mehr. Die dem Sozialstaat von Steiner wie von Van Parijs zugeordnete Funktion macht das sozialstaatliche Engagement unabhängig von der Marktsituation, unabhängig von der Fähigkeit der Individuen, sich selbst zu versorgen. Nach meinen liberalen Vorstellungen ist der Sozialstaat notwendigerweise dem Subsidiaritätsprinzip verpflichtet. Auch wenn aufgrund der gegebenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse nicht damit zu rechnen ist, daß je ein Beschäftigungsniveau erreicht werden könnte, das sozialstaatliche Transferzahlungen überflüssig machen könnte, ist der Begründungsidee nach doch der liberale Sozialstaat eine auf ihre eigene Überflüssigkeit wartende Überbrükkungsveranstaltung. Ausdruck dieser Subsidiaritätsverpflichtung ist die Vorrangigkeit eigenverantwortlicher und selbstversorgungsfähiger Lebensführung, ist die lebensethische Vorzugswürdigkeit einer auf staatliche Versorgung nicht angewiesenen Existenz. Selbstbestimmung ist weniger freies Schalten und Walten mit fremden, staatlich umverteilten Ressourcen, sondern eine Lebensführung auf der Grundlage der Selbstversorgung. Nur dann, wenn wohlgemerkt: aus welchen Gründen auch immer -jemand nicht in der Lage ist, sich und die von ihm einschlägig Abhängigen selbst zu versorgen, springt der Sozialstaat mit seinen Fremderhaltungs- und Fremdversorgungsleistungen ein. Der Sozialstaat übernimmt gleichsam in solchen Fällen die freiheitsrechtliche Ausfallbürgschaft. Diese Sekundarität verliert er in den Konzeptionen Steiners und Van Parijs'. Der einem Egalitätsprinzip unterworfene, seine egalisierenden Kompensationsaktivitäten selbst auf die individuellen Naturausstattungen ausdehnende Sozialstaat ist eine eigenständige Gerechtigkeitsveranstaltung, die einem Moralprogramm folgt, das mit den fundamentalen Voraussetzungen des normativen Individualismus nicht vereinbar ist. -

-

-

17

Dazu ausführlich

Kersting,

Theorien der sozialen

Gerechtigkeit, Kap. III, Kap. IV, Kap.

VII.

Ill Biomedizinische Gerechtigkeit als

politisches Problem

Anton Leist

Angewandte Ethik und öffentlicher Vernunftgebrauch

1. Bedarf an öffentlicher Moral In den

späten fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde der öffentliche Bann

Kunstprodukten abgezogen, die davor aus moralischen Gründen vom Konsum ausgeschlossen waren. Die Bücher von Henry Miller oder ein Film von Ingmar Bergman konnten jetzt zumindest von als solchen ausgewiesenen Erwachsenen gelesen und gesehen werden. Danach folgte eine bis heute anhaltende Massenverbreitung erotischer und pornographischer Produkte. Auch wenn es manchmal so scheint: das staatliche Tolerieren pornographischer Produkte ist nicht gleichzusetzen damit, daß diese Produkte dem moralischen Urteil völlig entzogen wären. Sicher ist nur, daß sie einem öffentlich-moravon

lischen Urteil entzogen sind. Ein öffentlich-moralisches Urteil ist bestenfalls noch nötig, um die Grenzen des Tolerierten zu ziehen. Die Details der tolerierten Pornographie zu beurteilen ist nur noch Sache der individuellen Moral oder auch der Moral der einzelnen Bürger je für sich. Natürlich läßt sich diese Methode der Privatisierung der Moral' als Antwort auf moralische Konflikte in der Gesellschaft nicht beliebig fortsetzen. Würde man etwa Konflikte der Gesundheits- und Sozialpolitik, der Bildungs- und Forschungspolitik, der Grenzen von Märkten alle durch bloße Toleranz beantworten, so würde eine sozialstaatliche Politik unmöglich werden. Der freie Fall in die privatisierte Gesellschaft ist aber umgekehrt nur aufzuhalten, wenn moralische Argumente zugelassen werden, und zwar als öffentlichmoralische. Dies letztere schließt nicht nur generell ein, daß Formen und Methoden für solche öffentlich-moralischen Auseinandersetzungen gefunden werden müssen, sondern auch, daß Lösungen für den häufig auftretenden Fall gegeben sein müssen, daß der Konflikt zwischen den unterschiedlichen moralischen Argumenten nicht zu beheben ist. Als eine zweite Beobachtung ist deshalb festzuhalten, daß die Politik unausweichlich der öffentlichen Moral bedarf, und zwar in desto umfangreicherem Ausmaß, je anspruchsvoller die Erwartungen gegenüber dem Sozialstaat sind. Wem öffentliche Moral ein Greuel ist, der sollte entsprechend für Privatisierung sein, und er ist es häufig auch. Nun schien es bis vor kurzem, daß die moralischen Positionen zu den klassischen Aufgaben des Wohlfahrtsstaats in übersichtlicher Weise entsprechend den bekannten politischen Lagern zerfallen, also aus unterschiedlichen, als solchen aber bekannten, Gewich-

136

Anton Leist

tungen der demokratischen Grundwerte Freiheit, Gleichheit und Solidarität

hergeleitet

werden können, so daß sich die öffentliche Moral auf die Interpretation dieser Grundwerte beschränken würde. Die neuere politische Philosophie und Ethik, beginnend mit John Rawls und Robert Nozick in den siebziger Jahren, hat einiges dazu getan, den verschiedenen politischen Lagern Argumente zu liefern. Die eigentliche Überzeugungskraft requirierten diese Positionen aber kaum aus der Evidenz der abstrakten Grundwerte, sondern vielmehr aus ihrer Implementierung in umfassendere politische Programme und deren praktischem Erfolg in der aktuellen Politik. Rawls hat mit dem Begründungsverfahren seiner politischen Ethik, sich vorrangig auf die alltäglichen Intuitionen abzustützen (,Überlegungsgleichgewicht'), dem Verlust von wertenden Grundüberzeugungen in gewisser Weise auch methodisch Tribut gezollt.1 Dieses schwach-normative Verständnis der politischen Ethik läßt sich auch so zusammenfassen, daß die Bedeutung einer öffentlichen Moral für die Legitimationsprozesse des Wohlfahrtsstaats zwar eingeräumt wird, diese Moral sich aber auf die demokratischen Grundwerte beschränkt. Der akademischen Ethik komme bei der Interpretation dieser Werte deshalb keine große Rolle zu, weil nicht die Begründung der Werte gefragt ist, sondern ihre Konkretisierung in der sozialen Realität der aktuellen Gesetzgebung und praktischen Politik. Nach diesem Verständnis werden die demokratischen Grundwerte solide erst durch den Erfolg der konkreten Politik begründet, während sie für die politischen Entscheidungen nur als globale Wegweiser dienen. Solche globalen Wegweiser benötigen keine philosophische Analyse. Sie müssen nicht interpretiert, sie müssen vielmehr über die Veränderung der Welt realisiert werden. Natürlich ist dieses Bild selbst für die kurzen Phasen des stabilen Wohlfahrtsstaats vereinfachend. Die gegenwärtige Entwicklung bringt es aber mit sich, daß die Bruchlinien zwischen den demokratischen Grundwerten und der tatsächlichen Politik, oder zwischen der Wegweiserfunktion der Werte und den konkreten politischen Lösungsstrategien, immer stärker hervortreten. Betrachten wir nämlich die folgenden neueren Problemfelder: Grenzen des Wohlfahrtsstaats: Die gemeinschaftliche Gesundheits- und Altersversorgung muß reduziert und das System entsprechend umgebaut werden. Grenzen der Umweltbelastung: Angesichts des industrietechnologischen Umgangs mit natürlichen Gütern und der Umwelt müssen Gefahren und Risiken durch angemessene Maßnahmen geregelt oder behoben werden. Grenzen der Forschungsfreiheit: Angesichts der neuen Möglichkeiten der Biowissenschaften müssen Möglichkeiten und Grenzen des Forschens mit Menschen, Tieren und Pflanzen neu bestimmt werden. -

-

-

1

Dabei hat Rawls nicht von Beginn an deutlich erkennen lassen, in welchem Ausmaß die Methode des Überlegungsgleichgewichts dem philosophischen Begründen aus Grundwerten tatsächlich entgegengesetzt sein soll. Erst mit der Definition des Politischen als explizit ,nichtmetaphysisch' (John Rawls, The Independence of Moral Theory, in: Proceedings and Addresses of the American Philosophical Association 48 [1975], 5-22; ders., Justice as Fairness: Political not Metaphysical, in: Philosophy & Public Affairs 14 [1985], 223-251) bindet er seine Methode zunehmend an die Übereinstimmung mit den Alltagsmeinungen sicher zum Schaden mindestens der Theorie. -

Angewandte

Ethik und öffentlicher

Vernunftgebrauch

137

Grenzen der Medizin: Gewichte und Strukturen der öffentlich wie privat betriebenen Medizin müssen neu tariert, das Erlaubte und Gebotene muß entsprechend dem täglich wachsenden Machbaren neu ermittelt werden. Grenzen der kulturellen Homogenität: Die Idee einer nationalen kulturellen Geschlossenheit muß zeitgemäß interpretiert und den Forderungen von Toleranz und experimenteller Offenheit entsprechend formuliert werden. Ich nenne diese Problemfelder im folgenden stichwortartig die ,neuen moralischen Themen'. Um moralische Themen handelt es sich deshalb, weil moralische Fragestellungen jeweils mehr oder weniger direkt Bestandteil der jeweiligen Konfliktlagen sind. Wie direkt, das ist teilweise abhängig von den moralischen Ansichten selbst. Zum einen handelt es sich bei den neuen Themen um verschärfte Problemstellungen bekannten Typs. So fordern die Überlastung des Wohlfahrtsstaats, die Bewältigung der Umweltkrise und die Machbarkeitsexplosion in der Medizin auch Antworten im Themenbereich von Freiheit und Gleichheit oder von sozialer Gerechtigkeit. Die ökonomischen Kosten stehen bei diesen Konflikten im Vordergrund, so daß sie auf eine im Prinzip bewährte Weise ,sozialgerecht' beantwortet werden können. Allerdings sind in Forschung und Medizin auch Freiheitsspielräume in Gefahr, deren Bilanzierung nicht nur ökonomisch möglich ist. Neben sozialer Gerechtigkeit werden also auch Fragen politischer Freiheit aufgeworfen. Zum anderen: Mit der steigenden Möglichkeit, die Natur nicht nur indirekt, über das Nutzen von kontrollierten Gesetzeszusammenhängen, sondern auch direkt über die Baupläne biologischer Lebewesen zu kontrollieren, werden auch qualitativ neue Fragen aufgeworfen, die sich in der politischen und öffentlichen Ethik bisher nicht gestellt haben. Global gesehen sind das Fragen, die die genetische Beschaffenheit von Pflanzen und Tieren, zunehmend aber auch die genetische Kontrolle und Veränderung von Menschen selbst betreffen. Bei Pflanzen und Tieren steht deren Nutzung zu menschlichen Zwecken, bei den Menschen die Therapie oder Verhinderung von Krankheiten im Vordergrund. Aufgrund der manifesten Interessen hinter beidem: landwirtschaftlicher Nutzung und medizinischer Therapie, greifen auch die biotechnischen Neuerungen in Zusammenhänge von Freiheit und Gleichheit ein. Die Nutzung dieser Techniken kann zur Gerechtigkeitsfrage werden, wie bei der pränatalen Diagnose; es können Freiheitsbereiche bedroht sein, wie beim genetischen Fingerabdruck; es kann Gleichheit in Frage stehen, wie bei genetischen Auskünften an Versicherer und Arbeitgeber. Darüber hinaus aber stehen Fragen an derart, wieweit Menschen Menschen verändern wollen oder dürfen. Das, könnte man sagen, sind unter den neuen moralischen Themen die wirklich neuen Themen. Für diese Fragen ist die bekannte politische Ethik nicht gerüstet, weil Freiheit und Gleichheit normalerweise als Werte angesehen werden, die durchschnittliche Menschen in einem ,normalen' Leben betreffen. Bisher ging es vorrangig darum, individuelle Freiheit zu fördern und das materielle Lebensniveau von sich in ihren Eigenschaften vorfindenden Menschen zu verbessern. Nun ginge es darum, die Eigenschaften von Menschen selbst zu verändern. Je mehr sich die Handlungsmöglichkeiten aus dem Bereich des bloßen Heilens hinausbewegen, um so weniger wird die klassische politische Ethik selbst der geeignete Rahmen sein, um über Verbote oder Regulierungen zu entscheiden. -

-

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Anton Leist

Halten wir vorläufig fest: Die neuen moralischen Themen erfordern vertiefte Anstrengungen der öffentlichen Moral. Ohne explizit moralische Argumente sind diese Themen nicht zu bewältigen. Die öffentliche Moral muß an die moralischen Grundwerte der Demokratie anschließen. Selbst wenn das gelingt, werden durch die Biotechniken Fragestellungen eröffnet, die zu beantworten die demokratischen Grundwerte nicht sichtbar geeignet sind. Die öffentliche Moral muß dann entweder erweitert werden, eventuell unter Einbezug anderer Teile der Ethik, oder die entsprechenden Fragen müssen der privaten Moral zugeschlagen werden. Um die zweite dieser Alternativen nicht zu leichtfertig zu ergreifen, will ich zuerst an die wichtige Bedeutung der öffentlichen Moral erinnern. Danach will ich auf die Möglichkeiten der Ethik genauer eingehen.

2. Diskursive

vs.

Interessenvernunft

Wieweit die öffentliche Moral tauglich ist, bioethische Fragen zu behandeln, läßt sich zunächst am leichtesten an einem historischen Vorläufer der heutigen und zukünftigen Problemfalle studieren, am Schwangerschaftsabbruch. In gewisser Weise war der Schwangerschaftsabbruch das erste neue moralische Thema, sogar das erste wirklich neue moralische Thema. Von anhaltendem Interesse ist er darüber hinaus auch deshalb, weil sich wissenschaftlich und politisch aktuellere Themen, wie der Embryonenschutz, wegen des übereinstimmenden moralischen Grundproblems des ,moralischen Status' des ungeborenen menschlichen Lebens in die früher ausgelegte Argumentationslogik einfügen müssen. Nicht selten wird ja kritisiert, daß beispielsweise die deutsche Rechtsprechung: liberal gegenüber dem Schwangerschaftsabbruch und illiberal beim Embryonenschutz, inkohärent ist. In der öffentlichen Diskussion wird die Konfliktlage beim Schwangerschaftsabbruch manchmal so dargestellt, als ginge es bei ihm einzig um einen Konflikt zwischen den Interessen, oder in anderer Terminologie: der Freiheit, der Schwangeren und dem moralischen Schutz des Ungeborenen. Bei dieser Ausgangslage würde weitgehend unverständlich, wieso ein Recht auf Töten zugunsten der Schwangeren, und zuungunsten des Ungeborenen, überhaupt eingeräumt wird. Zu ungleich wären dann die konfligierenden Interessen, die auf dem Spiel stehen. Vielmehr kommt ein Drittes hinzu. Um gleichrangig von Schwangerer und Fötus zu reden, ist das Unterstellen der westlich-konventionellen Moral nötig, in der das Urteil akzeptiert wird, daß alle menschlichen Wesen, ungeachtet ihrer konkreten Eigenschaften, gleich schützenswert sind. In einer kritischen Moral werden hingegen die Gründe des Schutzes erfragt. Anstöße zu einer kritischen Moral ergeben sich etwa dann, wenn man nach dem Schutz auch von Tieren fragt. In Reaktion auf solche Fragen müssen nämlich konkrete Eigenschaften von menschlichen Wesen angeführt werden und verschiedene bieten sich darunter an. Aus der so eröffneten Unsicherheit im moralischen Urteil gegenüber dem Fötus entsteht ein zusätzliches Element im Konflikt des Schwangerschaftsabbruchs, das letztlich die öffentliche Moral wichtig werden läßt. Ohne ein Aufbrechen der konventionellen Moral wäre ein politischer Diskurs über den Konflikt nicht nötig oder sogar nicht möglich. -

Angewandte

Ethik und öffentlicher

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Vernunftgebrauch

Wird die Antwort der konventionellen Moral verworfen, so entsteht eine Vielfalt von möglichen Antworten, die mindestens nach dem Maßstab sozialer Autoritäten nicht auf eine repräsentative Antwort reduziert werden kann. Von verschiedenen Ethikem werden unterschiedliche Kriterien der moralischen Relevanz vertreten, die im Fall des Schwangerschaftsabbruchs zu teilweise stark unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten führen. Die Dreimonatsfrist erscheint jedoch in jedem Fall als willkürlich. Die katholisch-naturrechtliche Tradition favorisiert Potentialität bzw. ein potentielles Individuum. Danach wären der Zeitpunkt der Befruchtung bzw. die 14 Tage danach eine moralische Grenze. (Erst nach 14 Tagen ist ausgeschlossen, daß mehr als ein Individuum entsteht.) Neuere ethische Theorien unterstellen Empfindungsfähigkeit, Bewußtsein oder Selbstbewußtsein als Kriterien. Danach läge die moralische Grenze beim Beginn des Sichentwickeins dieser Fähigkeiten, also etwa beim 7. Monat der Schwangerschaft (Empfinden) oder überhaupt erst nach der Geburt (Selbstbewußtsein). Nach allen vier Kriterien ist die dreimonatige Abbruchsfrist jedenfalls nicht einsichtig. Allerdings zeigt sich an diesem Beispiel auch, daß sich die öffentliche Antwort auf einen tiefgreifenden moralischen Konflikt auch nicht unmittelbar aus der kritischen Moral gewinnen läßt, weil in ihr oder zu ihr verschiedene Positionen bestehen. Alle die verschiedenen ethischen Positionen repräsentieren eine kritische Moral aber, wie gerade angedeutet, sie widersprechen sich. Eine Konsequenz scheint zu sein, daß eine Antwort im Sinn eines direkten Urteils aus einer ethischen Theorie heraus nicht möglich ist, so daß ein Verfahren gefunden werden muß, ein indirektes Urteil zu gewinnen. Die in Deutschland in der Praxis gefundene Lösung, nämlich die Fristenlösung mit Beratung, basiert zweifelsohne auf keinem direkten Urteil und ist insofern eine indirekte Lösung, als sie auf einer Übereinkunft der beteiligten Streitparteien beruht. Dennoch ist nicht jede indirekte Lösung und nicht jede Übereinkunft als solche gleich geeignet. Die zwei in politischer Theorie und Praxis entwickelten Modelle einer solchen Übereinkunft könnte man die Interessenübereinkunft und die diskursive Übereinkunft nennen. Beide Arten von Übereinkünften drücken ein je verschiedenes Demokratieverständnis aus. Beide stellen allerdings auch unterschiedliche Anforderungen an die öffentliche Moral und an ein Verfahren, Übereinkünfte bei konfligierenden moralischen Standpunkten zu finden. Ein solches Verfahren, bei Meinungskonflikten werthafter Art zu einer öffentlich bedeutsamen Einigung zu kommen, könnte man eines der öffentlichen Vernunft nennen. Interessen- und diskursive Übereinkunft repräsentieren verschiedene Auffassungen von öffentlicher Vernunft. Öffentliche Vernunft heißt beim Interessenmodell, daß die Repräsentanten der Gesellschaft die relevanten betroffenen Interessen angemessen vertreten und kompromißfähig verteidigen müssen. Unter den Interessen können dabei solche gegenüber ökonomischen Gütern, wie Einkommen, solche gegenüber nichtökonomischen Gütern, wie Freiheit oder sozialer Gemeinschaft, und solche gegenüber der Moral selbst sein. Zu einem Kompromiß oder, in Rawlsscher Terminologie, zu einem ,modus vivendi' führt das Interessenmodell insofern, als die kategorialen Unterschiede zwischen diesen Gütern aufgelöst und alle Güter nur noch anhand der von ihren Vertretern behaupteten Dringlichkeit gemessen werden. Vor allem bei den moralischen Ansichten selbst wird nicht mehr auf die Über-

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oder die interne Gültigkeit der Ansicht gesetzt, sondern nur noch auf die emotionale oder praktisch wirksame Bedeutung, welche die Vertreter der Ansichten den Ansichten geben. Demgegenüber wird beim diskursiven Modell die kategoriale Differenz zwischen den verschiedenen Gütern beibehalten und eine Einigung nach Maßgabe von bzw. orientiert an Gründen und Argumenten gesucht. Da moralische Gründe nach moralischem Verständnis mehr zählen als sonstige, außermoralische, Gründe und das im diskursiven Modell von allen Seiten anerkannt werden muß, ergibt sich in der Übereinkunft letztlich eine Dominanz der moralischen Gründe. Die Übereinkunft muß eine explizit moralische Übereinkunft sein. Nur im diskursiven Modell spielt die öffentliche Moral also eine tragende Rolle; im Interessenmodell wird ein öffentlich-moralischer Konflikt in das Medium moralisch neutraler Interessen übertragen und jedenfalls nicht mehr durch eine sich explizit moralisch verstehende Übereinkunft gelöst. Der Vorteil des Interessenmodells und des entsprechenden Kompromißbildungsverfahrens liegt offensichtlich darin, daß auf Anhieb zu erkennen ist, inwiefern es zumindest prinzipiell praktisch funktionieren könnte. Vorausgesetzt, alle Beteiligten sind bereit, ihre moralischen Ansichten in Form privater Interessen auszudrücken und darin beliebigen anderen Interessen gleichzustellen, sollte unter den in diesem Sinn nationalen Akteuren' auch ein Kompromiß gefunden werden können. Akzeptiert man erst den entscheidenden Schritt der Übersetzung von Überzeugungen in Interessen, so entsteht sogar ein rationaler Zwang zu einem Kompromiß, insofern eine zuvor durch ein moralisches Urteil gesetzte Ja-oder-nein-Entscheidung zu einem gradualisierten Entscheidungsmenü wird, in dem man dann rationalerweise diejenige Position einnimmt, die sich in der strategischen Situation gerade noch erringen läßt. Die Fristenlösung beim Schwangerschaftsabbruch hat insofern Züge eines Interessenkompromisses, als sich, wie angedeutet, die dreimonatige Abbruchsfrist aus keiner gängigen ethischen Argumentation heraus ergibt. Überdies ist die offizielle moralische Argumentation, nach der ungeborenes Leben von Beginn an als schützenswert gilt, aber dieser Schutz durch die Notsituation der Schwangeren aufgehoben wird, angesichts der Praxis bis zum Zynismus unglaubwürdig. Auch entspricht die dreimonatige Frist insofern den tatsächlichen Interessen, als innerhalb dieses Zeitraums die meisten Wünsche nach einer Abtreibung erfüllt werden können. Für die zu einem späteren Zeitpunkt diagnostizierten genetisch geschädigten Föten wird außerdem eine zusätzliche Ausnahme eingeräumt. Ist also, zusammenfassend, das Interessenmodell nicht das hinreichende, weil offensichtlich praktisch erfolgreiche Modell öffentlicher Vernunft? Der wichtigste Einwand gegen das Interessenmodell scheint mir jedoch darin zu liegen, daß es keine zwingende Verbindung mit den demokratischen Grundwerten Freiheit und Gleichheit herstellt und daß sich deshalb zweifeln läßt, ob das entsprechende Verfahren den Anspruch der öffentlichen Vernunft überhaupt zu Recht trägt. Im Grunde ist sogar zweifelhaft, ob die entsprechend gewonnenen Übereinkünfte demokratische sind. Öffentlich-vernünftige Lösungen sind nur solche, die irgendwie an die demokratischen Grundwerte zurückgebunden sind. Und das ist nur im diskursiven Modell möglich.

zeugungskraft

Angewandte

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Das Interessenmodell ist nicht nur in dem prinzipiellen Sinn von Freiheit und Gleichheit abgekoppelt, daß in ihm alle moralischen Werte in das Medium der Interessen übersetzt werden und damit auch aufgelöst, also durch andere Interessen neutralisiert werden können. Es ist ganz konkret von den realen Interessenverteilungen in der Gesellschaft abhängig. In einem Interessenkompromiß sind wirksam vertretene Interessen dominant, -

womit nicht unbedingt Freiheit und Gleichheit für alle Bürger garantiert sind. Die jetzige Fristenlösung mag dem Interessenmodell aus der Sicht der Frauen ein akzeptables Zeugnis ausstellen. Aber dasselbe Modell würde auch eine konservativere Politik decken, sofern die Interessen der Frauen nur schwächer repräsentiert sind, wie das vor noch nicht allzu langer Zeit der Fall war. Die jeweilige Übereinkunft wandert gleichsam immer in die Richtung der wirksamen Interessenverteilung und ist von ihr nicht unabhängig. Wie wenig in einem Interessenmodell Gleichheit gewahrt wird, zeigt auch das Beispiel der herrschenden Organgewinnung. Die Methode der Organgewinnung folgt einem Verhältnis von Autonomie und Gleichheit, in dem die Autonomie so weitgehend dominiert Ausdruck davon ist die sog. ,Zustimmungslösung' -, daß die Gleichheit der Organbedürftigen bedroht ist. Aus irrationalen Ängsten heraus weigern sich viele, sich nach dem Tod ihre Organe entnehmen zu lassen, während gleichzeitig die verbesserten Operationstechniken einen steigenden Organbedarf verursachen. Da die irrational bedingten Interessen, keine Organe zu spenden, in der Mehrheit sind, die Zahl der Betroffenen, die keine Organe erhalten, sie aber dringend benötigen, in der Minderheit, schlägt die Interessenübereinkunft zu ihren Ungunsten aus. Moralisch gesehen würde Gleichheit, etwa im Sinn von gleichen Chancen auf Gesundheit, eine Umverteilung von Organen erfordern. Die Interessenübereinkunft schließt eine solche Lösung jedoch aus. Nicht zuletzt diese Beispiele motivieren dazu, das diskursive Modell zu favorisieren. Das diskursive Modell verspricht ja gerade, was dem Interessenmodell fehlt: eine Methode des Beilegens von Konflikten, die auch an Werte zurückgebunden ist und in die deshalb, könnte man annehmen, Restriktionen für alle zu findenden Lösungen eingebaut sind. Im Gegensatz zum Interessenmodell liegt ein Nachteil des diskursiven Modells aber darin, daß nicht auf Anhieb sichtbar ist, wie es eigentlich funktionieren soll. Eine direkte Lösung der moralischen Konflikte, so nahm ich an, ist nicht möglich. Das erklärt sich auch gerade aus der Natur moralischer Konflikte bzw. der solchen Konflikten zugrunde liegenden Überzeugungen. Ökonomische Konflikte können (etwa in Tarifverhandlungen) graduell bereinigt werden, moralische Konflikte nicht, wenn sie auf wahrheitsfähigen, oder wahrheitsanalogen, Überzeugungen beruhen. Die einzelnen Kriterien in der Abtreibungsethik schließen einander kompromißlos aus. Obwohl also auch im Diskursmodell eine indirekte Lösung gesucht wird, ist weniger leicht zu sehen, wie sie möglich sein kann. An eine indirekte Lösung werden tendenziell widersprüchliche Anforderungen gestellt. Auf der einen Seite sollen die moralischen Meinungskonflikte durch eine zweite Ebene des gemeinsamen Argumentierens überwunden werden. Auf der anderen Seite soll diese zweite Ebene ebenfalls moralisch gehaltvoll sein, nämlich bezogen auf die demokratischen Grundwerte. Bei den lange anhaltenden moralischen Meinungskonflikten, wie sie für die Medizinethik typisch sind, handelt es sich aber meist um solche, in denen bereits moralische Grundwerte im Spiel sind, so daß die -

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Anton Leist

erste und die zweite Ebene in dieser Hinsicht nicht voneinander

getrennt sind. Der dis-

Zwang des Herstellens von Kohärenz läßt es dann nicht zu, daß der Meinungsgegenstand gegenüber dem Meinungsträger neutralisiert wird, wie das etwa im Interessenmodell geschieht. Anders gesagt: Wenn sich die Bürger nach Maßgabe von Freiheit und Gleichheit einigen sollen, dann ist nicht irrelevant, worüber sie sich einigen. Die Inhalte ihrer Meinungen sind dem Einigungsprozeß nicht entzogen. Damit drohen aber die kontroversen Meinungen auf den Einigungsprozeß durchzuschlagen. Natürlich sind diese Beobachtungen nicht neu, sondern begleiten demokratische Argumentationsformen insofern von Beginn an, als die individuelle Freiheit spätestens seit Kant und Mill zu ihrem klassischen Repertoire gehört und die moralischen Meinungskonflikte meist als Konflikte mit der individuellen Freiheit angesehen wurden. Solange die Unterscheidung zwischen privater und öffentlicher Moral effektiv war, wie im Beispiel der Sexualmoral, bot sich über den Grundwert Freiheit eine Möglichkeit, die moralischen Konflikte demokratisch zu entschärfen. Prinzipiell ist dieser Ausweg auch heute noch denkbar, er würde aber den bereits erwähnten freien Fall der Privatisierung bedeuten. Man kann nicht beispielsweise Schwangerschaftsabbrüche einerseits freistellen, sie andererseits aber im öffentlichen Gesundheitssystem finanzieren. Und man kann nicht etwa einen freien Organmarkt zulassen, andererseits aber den Anspruch auf solidarische Gesundheitspolitik erheben. Toleranz tritt in diesen Fällen lebenswichtiger Güter unter kursive

einem falschen Namen auf, bedeutet nämlich soviel wie soziale Gleichgültigkeit. Die wohlfahrtsstaatlichen Errungenschaften, an denen wir festhalten wollen, verhindern diesen einfachen Ausweg der Toleranz. Wenn das Diskursmodell erfolgreich sein soll, ist also eine Verbindung der beiden Ebenen nötig. Verbindung heißt, daß die demokratischen Grundwerte der Moral nicht eigentlich äußerlich sein können. Vielmehr muß die Moral so reinterpretiert werden, daß in ihr selbst nicht alle Konflikte gleich vernünftig sind. Wenn die öffentliche Vernunft einen Rückhalt in der Moral benötigt, so muß der entsprechende Wert sowohl in der Moral grundlegend wie für die demokratische Politik konstitutiv sein.

3.

Angewandte Ethik und Öffentlichkeit

Wir sind also an einem Punkt angelangt, an dem eine Berufung auf öffentliche Moral unausweichlich erscheint, hingegen nicht zu sehen ist, nach welcher Methode sie erfolgen soll. Eine naheliegende Vermutung ist natürlich, daß die ethischen Theorien selbst diese Methode offerieren, daß sie selbst eine Form der öffentlichen Vernunft darstellen. Einfach läßt sich diese Vermutung aber nicht bestätigen, weil die ethischen Theorien zunächst normative Theorien der Moral sind, was heißt, daß ihre vorrangige Aufgabe darin besteht, der tradierten Moral einen rationalen Sinn zu geben, zu sagen, welche Anteile der traditionellen Alltagsmoral von uns ernst genommen werden müssen und welche nicht. Die übliche Perspektive der moralischen Theorien ist die hochabstraktive Perspektive von Menschen als Menschen. Von dieser abstraktiven Ebene unterscheidet sich ebendiejenige von Menschen als Gesellschaftsmitgliedern, und insbesondere von

Angewandte

Ethik und öffentlicher

Vernunftgebrauch

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Bürgern in einer politischen Gemeinschaft, eventuell einer demokratischen Gemeinschaft. Die philosophische Ethik ist zunächst, wenn auch mit leichten Differenzen, gewissermaßen eine ,Ethik 1. Stufe', oder eine abstraktive Ethik, in der die speziellen Belange des politisch zu regelnden Zusammenlebens ausgeklammert werden. Diese Beobachtung gilt auch für die meisten normativen Stellungnahmen, die in den letzten etwa dreißig Jahren unter dem Titel einer angewandten Ethik vorgebracht wurden. Die Gesellschaft erbittet von einem angewandten Ethiker eine Expertise zu einem der neuen moralischen Themen, und der angewandte Ethiker geht bei seiner Reaktion auf diese Anfragen typischerweise so vor, daß er die ethische Theorie seiner Wahl in ihrer abstrakten Form auf die Fragestellung anwendet. Wie von distanzierteren Beobachtern dieses Vorgangs, etwa von Stephen Toulmin,2 bemerkt wurde, hat diese Art der ethischen Bedarfsdeckung' vor allem der Ethik selbst neues Leben eingehaucht. Im Grunde hat die angewandte Ethik mehr Licht auf die Eigenheiten und Schwachstellen der ethischen Theorien geworfen, als daß sie praktische Probleme gelöst hätte. In der Öffentlichkeit war nämlich nicht zu übersehen, daß verschiedene Ethiker häufig verschiedene Antworten geben und somit die letzte Urteilslast wiederum allein bei der Öffentlichkeit liegt. (Zumindest gilt das, wenn die Gründe für eine Lösung zur Lösung hinzugenommen werden müssen, was unter aufgeklärten Bürgern gefordert wird. Divergente Gründe für äußerlich gleiche Urteile lassen häufig auch die Urteile divergieren.) In gewisser Weise ist das Verhalten der angewandten Ethiker naheliegend. Daß sie die abstraktive Perspektive ihrer elementarsten Theorien bemühen, sollte nicht nur ein Gegenstand des Kopfschütteins sein. Gerade die traditionsreichen ethischen Theorien, wie

die Aristotelische Tugendethik, die Hobbes-Humesche Vertragstheorie, der Millsche Utilitarismus oder die Kantische Ethik der Grundlegung, beziehen ja ihre Überzeugungskraft aus einem wohldurchdachten Gesamtmodell der menschlichen Existenz, einschließlich sowohl allgemeinster wie auch konkreter menschlicher Eigenschaften. Darin sind diese Theorien manchen anwendungsschlanken zeitgenössischen Ethikangeboten, etwa in der Medizinethik, immer noch weit überlegen. Den ethischen Theorien ist nicht vorzuwerfen, daß sie abstraktiv sind. Das entspricht ihrer Aufgabe als Theorie. Zu einem .abstraktiven Fehlschluß' gegenüber der Öffentlichkeit wird ihre Anwendung auf die neuen moralischen Themen erst dann, wenn der Ebenenwechsel mißachtet wird, der darin besteht, daß die neuen moralischen Themen Problemstellungen im öffentlichen Raum sind. Um diese Kritik zu präzisieren: Nicht unbedingt alle Themen der angewandten Ethik sind per se bereits öffentliche. Wenn etwa die Frage nach der moralischen Gebotenheit des Vegetarismus aufgeworfen wird, so kann sie in Form einer moralischen Empfehlung an die private Lebensführung, als ein Rezept des guten Lebens verstanden werden. Der Vegetarismus kann aber auch als Aufforderung an die Öffentlichkeit verstanden werden, die mit der Fleischproduktion verbundenen Märkte zu regulieren und den Umgang mit Tieren generell zu verändern. Natürlich haben viele angewandte Ethiker mit ihren Vorschlägen mindestens auch auf die Öffentlichkeit gezielt. Wie im Fall von Peter Singer 2

Stephen Toulmin, Medicine 25

How Medicine Saved the Life of

(1982), 736-750.

Ethics, in: Perspectives in Biology and

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haben sie den Aufruhr in dieser Öffentlichkeit teilweise insofern mit vorbereitet, als sie die Ambivalenz ihrer Vorschläge mehr oder weniger bewußt in Kauf genommen haben. Die Ambivalenz liegt darin, daß eine Übertragung der abstraktiv-ethischen Argumente auf die Ebene der öffentlichen Diskussion unterbleibt und damit offen ist, wie diese Argumente selbst zu verstehen sind. Im günstigen Fall kann der angewandte Ethiker so verstanden werden, daß er der Öffentlichkeit Informationen über abstrakte Argumente verfügbar macht. An der Öffentlichkeit liegt es dann, mit diesen Informationen weiter zu verfahren, ebenso wie mit wissenschaftlichen Expertisen anderer Art. Im ungünstigen Fall gerät der angewandte Ethiker in die Rolle eines moralischen Dogmatikers, der eine Sicht der Moral anpreist, obwohl er sie gegen konkurrierende Modelle nicht eigentlich herausheben kann. Gerade der Vergleich zwischen dem Ethiker und dem Wissenschaftler ist in diesem Punkt gefährlich, weil eine wichtige Differenz leicht verlorengeht. Der Wissenschaftler, indem er etwa der Öffentlichkeit seine Theorie vom Entstehen von BSE vorlegt, wird ebenfalls, sofern er von dieser Theorie überzeugt ist, der Öffentlichkeit raten, diese Theorie anzunehmen. Und er wird dadurch nicht zum Dogmatiker, selbst wenn er weiß, daß es andere Theorien gibt, von denen er glaubt, daß sie falsch sind. Der Ethiker hingegen, indem er der Öffentlichkeit seine moralische Argumentation zugunsten des Vegetarismus vorlegt und ihr rät, vegetarisch zu werden, ist deshalb in der Gefahr, zum Dogmatiker zu werden, weil die Rolle des wissenschaftlichen Wissens und die der Moral sich in einem wichtigen Punkt unterscheiden. Beide sind unterschiedlich eng mit dem Selbstverständnis als vernünftige Akteure und damit auch mit dem Selbstverständnis der Bürger und der Öffentlichkeit verbunden. Der entscheidende Unterschied liegt darin: Unser Anspruch, als einzelne Personen ein selbstbestimmtes Leben zu führen, oder, kantisch ausgedrückt, aus .eigener Vernunft' zu leben, wird nicht dadurch eingeschränkt, daß wir die Theorie des Wissenschaftlers zu BSE übernehmen, vorausgesetzt natürlich, daß sie aus der Laienperspektive plausibel erscheint, nicht gegen elementare Fakten verstößt usw. Hingegen würde unser Anspruch auf ein selbstbestimmtes Leben eingeschränkt, würden wir eine philosophische Theorie zugunsten des Vegetarismus in analoger Weise übernehmen. Im Grunde ist es unmöglich, die Vorstellung des analogen Übernehmens genauer zu schildern, weil die Verhältnisse von vornherein zu verschieden sind. Die Unterscheidung zwischen Theoretiker und Laien ist im Bereich der Moral nicht ähnlich möglich wie im Bereich der Wissenschaft. Der Ethiker bietet immer nur Argumente an, die prinzipiell jedem Menschen zugänglich sind, ohne daß er eine langwierige Ausbildung durchlaufen müßte.3 Wie sehen die Anforderungen an eine angewandt-ethische Expertise aus, in denen diese Eigenart, an autonome Personen adressiert zu sein, zum Ausdruck käme? Eine verbreitete Haltung vor allem unter den analytisch orientierten Ethikern ist die, zu glau3

der für Laien häufig unverständlichen Texte von Philosophen könnte das auch bezweifelt werden. Richtig bleibt aber, daß gute philosophische Argumente für moralische Urteile ihren Wahrheitsgehalt nicht verlieren, wenn sie in allgemein nachvollziehbarer Sprache formuliert werden, während viele naturwissenschaftliche Argumente nicht alltagssprachlich formulierbar sind. Der Grund hinter dieser Differenz ist, daß die Philosophie unser alltägliches Weltverständnis vertieft, aber nicht verläßt, die Wissenschaft hingegen schon.

Angesichts

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Ethik und öffentlicher

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Vernunftgebrauch

ben, einem öffentlichen Aufklärungszweck sei schon dadurch gedient, daß der Ethiker

Argumente logisch durchsichtig und semantisch präzise vorbringt im Unterschied etwas verworrenen Alltagsverstand. Diese Haltung ist nicht nur unangenehm elisie unterstellt auch zu Unrecht, moralische Ansprüche müßten allein dann bereits tär, akzeptabel sein, wenn sie logisch und semantisch durchsichtig werden als könnte es keine logisch durchsichtigen amoralischen Argumente geben! Die abstraktive Ebene des seine

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zum

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moralischen Argumentierens wird erst verlassen, wenn zusätzlich beachtet wird, aus welchen Gründen die anderen, denen man moralische Argumente präsentiert, diese Argumente akzeptieren könnten. ,Öffentlichkeitstauglich' wird die Ethik erst dann, wenn sie Argumente umfaßt, warum ihre Argumente akzeptiert werden sollten und das nicht unter allen Menschen als Menschen, sondern unter den Bürgern der politischen Gemeinschaft. Neben dem rein formalistischen Mißverständnis, klar formulierte moralische Ansichten seien bereits öffentlichkeitstauglich, kann diese Forderung auch im Sinn der internen Überzeugungskraft der jeweiligen Theorie mißverstanden werden. Sind nicht die besten Argumente so diese Auffassung -, um die ethischen Argumente zu akzeptieren, diese Argumente selbst? Hinter diesem Plädoyer steckt aber wiederum die Gleichsetzung der Ethik mit einer beliebigen wissenschaftlichen Theorie. Für wissenschaftliche Theorien gilt diese Identität. Für die Ethik gilt sie nicht, und der bereits angeführte Unterschied kann vielleicht besser so ausgedrückt werden, daß die Ethik, im Unterschied zur Wissenschaft, kein distanziertes oder kein Dritte-Personen-Wissen ist. Die Wissenschaft steht zu Fakten auf eine Weise, daß wir als Personen in die Geltung dieser Fakten nicht wesentlich einbezogen sind. Die Ethik steht zu moralischen Sachverhalten nicht in einer vergleichbaren Weise distanziert. Wir sind als Personen in die Geltung der moralischen Sachverhalte einbezogen. Es ist deshalb kein Zufall, daß sich diejenigen angewandten Ethiker, die sich der Öffentlichkeit am offensivsten anbieten, meist in irgendeiner Form als Utilitaristen verstehen. Der Utilitarismus kommt von allen ethischen Ansätzen einer wissenschaftlichen Theorie am nächsten, indem er die Gesellschaft aus einer Perspektive des unparteilichen, gewissermaßen .außerirdischen Beobachters' betrachtet, der stellvertretend für alle Menschen urteilt. Ein solches stellvertretendes Urteilen für alle Menschen wäre dann sinnvoll, wenn es zwingend an elementare Eigenschaften aller Menschen anknüpfte, so daß alle Menschen den Ergebnissen zustimmen müßten. Die Interessen und Präferenzen, an die sich der Utilitarismus hält, sind dafür nicht zwingend genug. Die menschlichen Geschmäcker sind, wie bereits George Bernard Shaw anläßlich der Goldenen Regel gesagt hat, zu verschieden, als daß mit ihnen allgemein verbindlich argumentiert werden könnte. Wie bereits einmal betont, könnten sich diejenigen, die eine ethische Theorie nach dem Muster einer wissenschaftlichen Theorie verstehen, auch auf den Standpunkt zurückziehen, daß sie der Öffentlichkeit ethische Argumente anbieten, deren Berücksichtigung eben Sache der Öffentlichkeit ist. Diese Rückzugsposition scheint aber deshalb unplausibel, weil sie davon ausgehen muß, daß sich die moralischen Beziehungen zwischen Menschen und die zwischen Bürgern so radikal voneinander unterscheiden, daß ihre Theorie nur -

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die ersten, nicht aber die letzteren adressieren kann. Würde sie sich nämlich auch an die Beziehungen zwischen Bürgern richten, so müßte zusätzlich gesagt werden, warum die Öffentlichkeit gerade diese Argumente ernst nehmen sollte. Das ist nur möglich, wenn die Beziehungen zwischen Bürgern und der korrespondierende Begriff der politischen Öffentlichkeit in der entsprechenden Ethik eine konstitutive Rolle spielen was etwa im Utilitarismus sicher nicht der Fall ist. Auf einem zweiten Weg sind wir damit wiederum beim Diskursmodell angelangt. Der Diskurs zwischen den sich eigenständig eine moralische Meinung bildenden Bürgern scheint für ein Verständnis der politischen Öffentlichkeit unverzichtbar. Zu sagen ist jetzt aber, wie sich ethische Argumente zu dieser Öffentlichkeit verhalten. Welche Ethik wäre öffentlichkeitstauglich in einem weitergehenden Sinn? -

4. Diskurs und öffentliche Vernunft Nach der wiederholt

angeführten Unterscheidung zweier Ebenen der ethischen und der öffentlich-politischen Argumente oder der Beziehungen unter Menschen als Menschen und unter Bürgern mag der Eindruck herrschen, daß es gar keine inhaltlichen moralischen Prinzipien geben kann, die auf beiden Ebenen eine Rolle spielen und die insofern auch beide Ebenen miteinander verbinden. Die allgemeine praktische Vernunft und die öffentliche Vernunft fielen dann völlig auseinander, in dem eben geschilderten Sinn, wonach die Öffentlichkeit mit normativen Ratschlägen konfrontiert ist, aber über kein Instrumentarium mehr verfügt, wie mit ihnen zu verfahren ist. Ich habe vorhin die Kantische Ethik der Grundlegung ebenfalls unter die abstraktiven Theorien eingereiht, was einfach deshalb zutrifft, weil es in Kants Werksentwicklung der später geschriebenen Rechtslehre überlassen bleibt, die politisch-ethischen Ergänzungen -

-

liefern. Dennoch bietet bereits die inhaltlich-moralische Grundidee von Kants Ethik geforderte Verbindung der Ebenen, vorausgesetzt natürlich, daß sie sich als tragfähig erweist, was, beginnend mit Hegels Tautologievorwurf, häufig bezweifelt wird. Die Grundidee lautet, daß diejenige Moral gelten soll, die vom Standpunkt aller selbstbestimmungsfähigen Individuen übereinstimmend akzeptiert werden kann. Diese Idee kann man so zweiteilen, daß sie in einer ersten Stufe dazu führt, daß bestimmte inhaltliche Rechte aller selbstbestimmungsfähigen Individuen unter diesen selbst eingehalten werden müsdas sind die Beziehungen unter Menschen als Menschen; sowie daß bestimmte sosen ziale Verfahrensweisen und Institutionen installiert werden müssen, um die Probleme des Zusammenlebens in politischen Gemeinschaften zu bewältigen das sind die Beziehungen unter Menschen als Bürgern. Zu den ,Verfahrensweisen und Institutionen' gehören die Institutionen der bürgerlichen Welt (Eigentum, Recht, Staat) wie auch die politischen Verfahrensweisen der Öffentlichkeit selbst (Diskurs, Kommissionen, Abstimmungen, Gerichte). Wie die reale Welt beschaffen ist, werden diese Verfahrensweisen vermutlich unbegrenzt komplexer, müssen aber dennoch irgendwie an den Ausgangspunkt der inhaltlichen Rechte zurückgebunden bleiben, um moralisch akzeptabel zu sein. Gerade auf die Art dieser Rückbindung kommt es aber an, wenn eine öffentliche zu

die

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Vernunftmethode nicht nur prozeduralistisch sein soll. Die Diskursethik von Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel hat eine Weile insofern in die Irre geführt, als sie den Eindruck erweckte, daß der Diskurs in ethischer Hinsicht nur prozedural, nämlich über ideale Diskursbedingungen, verstanden werden könnte. Habermas hat etwa über längere Zeit die Ansicht vertreten, über moralische Probleme lasse sich nicht mehr sagen, als daß die richtige Antwort auf sie in einem Diskurs gegeben werden müsse, der idealen Teilnahmebedingungen gehorcht. Diese Antwort wäre im Hinblick auf die neuen moralischen Themen ebenso unbefriedigend, wie sie es für alle moralischen Themen ist. Das rein prozeduralistische Verständnis ist gleichzeitig zu konkret und zu abstrakt. Vor allem zu abstrakt: Wenn es sich auf einen real stattfindenden Diskurs bezieht, so müssen für einen solchen Diskurs in der Gesellschaft mehr Voraussetzungen erfüllt sein als nur Bedingungen des Kommunizierens im engeren Sinn. Es müssen soziale und politische Verhältnisse im Sinn von Freiheit und Gleichheit im allgemeinen herrschen. Dieser Zusammenhang muß vielleicht nicht eigens ausgeführt werden: Die Verhältnisse in den USA zeigen, in welchem Ausmaß sich eine Bevölkerung am politischen System und Diskurs beteiligt, die sozial nicht eingebunden ist. Die Grundidee der Zustimmungsfähigkeit von seiten aller beruht auf einem Vorrang der Autonomie, ansonsten würde Zustimmung nicht diese vorrangige Rolle erhalten. Vorrang' bedeutet Vorrang vor allen anderen Werten, vor allem vor Gleichheit. Anders als zu Kants Zeiten müssen wir heute Autonomie nicht einfach nur als Nichteinmischung, sondern eben auch als positive Fähigkeit des qualifizierten Zustimmenkönnens oder des qualifizierten Mitgestaltens der Gemeinschaft verstehen. Damit ergibt sich, zumindest in Umrissen, die Forderung von politischer Autonomie und sozialer Chancengleichheit, wie sie in den Entwürfen vor allem von Rawls und Ronald Dworkin detaillierter ausgearbeitet wurde. Sofern die neuen moralischen Themen Autonomie und Gleichheit berühren wie etwa die Forderungen nach dem freien Organmarkt, nach aktiver Sterbehilfe, nach einem rationierenden Gesundheitssystem -, so müssen sie im Rahmen dieser demokratischen Werte beantwortet werden. Die entsprechenden Vorschläge dazu sind in dem Sinn öffentliche Argumente, als sie sich über die sie einbeziehenden Werte Freiheit und Gleichheit an die anderen Bürger richten. Ich will jetzt aber noch auf die wirklich neuen moralischen Themen zurückkommen, weil sie es ja sind, die die angewandte Ethik auf den Plan gerufen haben. Wie bereits beim Problem des Schwangerschaftskonflikts lassen sich beim therapeutischen Klonen, bei der Embryonenforschung, beim Herstellen von Chimären, also Mensch-Tier-Wesen, bei der Geschlechtsselektion, bei der Keimbahntherapie die bekannten Pfade des Gerechtigkeitsdiskurses nicht durchlaufen. Typische Argumente der angewandten Ethik zu diesen Themen setzen entweder .Interessen', .Autonomie', ,Würde', ,Natürlichkeit', -

.Leiden' oder einen anderen moralischen Wert voraus eben einen Grundwert aus der Tradition, der sich der jeweilige Ethiker selbst verbunden fühlt. Im öffentlichen Diskurs stehen sich dann so viele Expertenurteile gegenüber, wie Experten angefragt wurden. Kann der öffentliche Diskurs mehr bieten, als dieses kontroverse Verhältnis auf die demokratische Ebene zu heben, also letztlich die Meinung der Mehrheit entscheiden zu -

lassen?

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Anton Leist

An diesem Punkt teile ich in der

neueren Kontroverse zwischen Rawls und Habermas öffentlichen Vernunft die Kritik von Habermas.4 Rawls hat die Bedeutung öffentlichvernünftiger Diskurse in einer Situation des moralischen Pluralismus besonders hervorgehoben. Darüber hinaus fordert Rawls für Methoden der öffentlichen Vernunft jedoch nur, daß sie zum einen die anderen in ihren Bürgerrechten respektieren und zum anderen von .umfassenden Lehren', sprich Weltanschauungen,/re/ sind. Beide Bedingungen sind nicht hilfreich, weil nicht aussagekräftig. Rawls' konkrete Urteile, etwa zum Schwangerschaftsabbruch,5 scheinen dementsprechend willkürlich. Die bessere Antwort und genauer sogar die einzige Antwort scheint mir die zu sein, wonach in der moralischen Grundidee, wie sie vor allem Kant formuliert hat, so weit inhaltliche Kriterien gegeben sind, daß sich die öffentlich-vernünftigen Vorschläge zu moralischen Konflikten als Vorschläge zu diesen Kriterien verstehen lassen. Öffentlich-vernünftige Vorschläge adressieren sich an die anderen Bürger in diesem Sinn: Wir argumentieren deshalb öffentlichvernünftig, weil wir uns auf moralische Gehalte zurückbeziehen, die dafür nötig sind, daß wir überhaupt miteinander argumentieren, genauer: daß wir einander die demokratischen Grundwerte und Grundrechte zugestehen. Vielleicht erscheint das zu spekulativ. Inwiefern enthält denn die moralische Grundidee etwas, womit sich sogar die wirklich neuen Themen beantworten ließen? Wie beim Übergang zu den Werten Freiheit und Gleichheit kann man sich dazu zweier Rahmenbedingungen bedienen, die beide reale Voraussetzungen des Vernunftgebrauchs betreffen. Die erste betrifft die biologischen und sozialen Voraussetzungen des individuellen Vernunftgebrauchs, oder der individuellen Autonomie. Wenn die Moral nur unter dieser Bedingung möglich ist, so werden soziale Verhältnisse und biotechnische Veränderungen ausgeschlossen, die in diese Voraussetzungen selbst eingreifen. Die zweite betrifft die sozialen und ökonomischen Voraussetzungen des öffentlichen Vernunftgebrauchs selbst. Wenn ein öffentlicher Diskurs nötig ist, um moralische Konflikte beizulegen, so dürfen die Antworten auf die moralischen Konflikte natürlich nicht mit sozialen und politischen Bedingungen in Widerspruch geraten, die den Diskurs selbst erst ermöglichen. Man könnte diese Rahmenbedingungen die individuell- und sozial-empirischen Bedingungen des zur

-

-

Vernunftgebrauchs

nennen.

Um sowohl den moralischen Gehalt der Grundidee zu veranschaulichen wie ihre Anwendung zur Konfliktlösung, sei noch einmal der Abtreibungsstreit bemüht. Wenn die Vernunftfähigkeit das letzte moralische Kriterium ist und das auch biologisch verstanden werden kann, so entscheidet sich der moralische Status von Ungeborenen über die Eigenschaften von Bewußtsein oder Selbstbewußtsein. Potentialität ist damit nicht völlig unwichtig, denn es scheint widersprüchlich, die Vernunftfähigkeit selbst hoch zu gewichten, das Potential zu ihr aber für wertlos zu halten. Dennoch bleibt offen, wie stark die Potentialität zu gewichten ist. Zu bedenken ist nämlich, daß diese Eigenschaft der 4

5

Jürgen Habermas, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/M. 1996, 65-94; ders., .Vernünftig' versus .Wahr' oder die Moral der Weltbilder, ebenda, 95-127; John Rawls, Reply to Habermas, in: The Journal of Philosophy 92 (1995), 109-131. Siehe John Rawls, Political Liberalism, Paperback Edition, New York 1996, 243 (Anm.). Siehe

Angewandte

Ethik und öffentlicher

Vernunftgebrauch

149

Potentialität beim sich erst entwickelnden Menschen noch nicht dessen selbst wertvolle Existenz voraussetzt, sondern zu ihr führen soll. Und wenn wir Zeugungsgebote ablehnen, können wir diese allgemeine Potentialität nicht für besonders wertvoll halten. Diese Argumentation würde in etwa zu einer Beratungslösung führen, wenn auch nicht zu einer mit der dreimonatigen Frist. Zu einem drastisch anderen Ergebnis käme die traditionelle naturrechtliche Argumentation, die ich so wiedergebe, daß das Ungeborene geschützt werden muß, weil Potentialität ein hoher Wert an sich ist oder weil das Ungeborene über ,Würde' verfügt. Da wir in öffentlichen Diskussionen gewohnt sind, daß sich die Kontrahenten an irgendeiner Stelle auf Werte an sich beziehen, klingt diese Position nicht ungewöhnlich. Sie könnte im weiteren auch die demokratischen Grundwerte aus der Würde abzuleiten versuchen und dabei im großen und ganzen zu ähnlichen Ergebnissen gelangen wie bisher geschildert. Allerdings: Der Abtreibungskonflikt wäre dann mit Gründen nicht lösbar. Die öffentliche Vernunft würde diesem und anderen ähnlichen Konflikten hilflos gegenüberstehen. Wie verhalten sich beide Positionen unter dem Gesichtspunkt der Anforderung, daß dem Gegenüber berechtigt zugemutet werden muß, die entsprechende Argumentation zu teilen? Für den Wert an sich von Würde ist eine berechtigte Zumutung kaum vorstellbar, es sei denn, es würde gezeigt werden können, daß das Zusammenleben im demokratischen Sinn ohne diese Annahme unmöglich ist. Die Unverletzlichkeit menschlichen Lebens in jeder Erscheinungsform wäre dann die notwendige Voraussetzung für ein gegenseitiges Achten im Rahmen der demokratischen Werte. Rein empirisch, etwa sozialpsychologisch, ist dieser Nachweis nicht zu führen, weil die demokratischen Verhältnisse unter der Abtreibungspraxis nicht sichtbar gelitten haben. Er müßte also irgendwie philosophisch geführt werden. Dazu benötigt er aber Wertressourcen, oder Wertvorstellungen, die selbst aus dem demokratischen Verständnis und seinen notwendigen begrifflichen Voraussetzungen nicht hergeleitet werden können. Deshalb fällt die Annahme der Würde an sich, oder ähnlicher Wertannahmen, auf die Seite der Weltanschauung, die zwar privat zugelassen und toleriert werden muß, die aber nicht als Grundlage öffentlicher Praktiken dienen kann, zu denen ja letztlich gehört, daß auf Mitbürger rechtlicher Zwang ausgeübt wird. Das Diskursmodell der Öffentlichkeit ist deshalb in sich geschlossen, weil es aus den real verstandenen Voraussetzungen des Diskurses konkrete Antworten gewinnen kann, die alle der moralischen Grundidee unterstehen, oder vielleicht besser gesagt: die alle diese Grundidee konkret transformieren, die ihrerseits dem freien und gleichen Diskurs und damit wiederum der freien und gleichen Gesellschaft zugrunde liegt. Einen prozeduralen Charakter hat dieses Modell deshalb, weil das Auffinden der Voraussetzungen und die Anwendung auf sich je aktuell neu stellende Konflikte eine immer wieder neu zu leistende Aufgabe ist. Das Diskursmodell liefert keine fixe Zahl von öffentlich-moralischen Prinzipien, die dann schematisch angewandt werden könnten. Andererseits handelt es sich um keinen leeren Prozeduralismus, wie er bei Rawls zu beobachten ist. Rawls hofft nur noch auf tatsächliche Schnittmengen in unseren moralischen Intuitionen, ohne diese Schnittmengen selbst organisieren zu können. Demgegenüber ist das Diskursmodell grundsätzlich ein normatives Modell, nämlich zurückgebunden an Freiheit und Gleich-

150

Anton Leist

heit im allgemeinsten Sinn. An der immer offenstehenden Berufung auf diese Werte scheiden sich die Geister und auch die Antworten auf moralische und politische Konflikte. Ein Einwand liegt an diesem Punkt nahe. Wenn die Voraussetzungen des Diskurses in einem empirischen Sinn verstanden werden und sich normative Gehalte unter Einbezug solcher Voraussetzungen (wie eben der biologischen) ermitteln lassen sollen, werden doch die verschiedenen Teilnehmer diese Voraussetzungen sehr unterschiedlich gewichten. Empirische Voraussetzungen sind immer für weitere Interpretation offen. Der Einwand von George Bernard Shaw wiederholt sich dabei in gewissser Weise. Wenn ein moralischer Pluralismus bereits herrscht, wie kann er dann überwunden werden? Wird er sich nicht in einen Streit über die Voraussetzungen des Diskurses hineinverlagern und damit unlösbar werden? Dieser Einwand verkennt allerdings die einigende Wirksamkeit der Ideen von Freiheit und Gleichheit. In diesen Ideen ist eine Einigung bereits angelegt, und indem der Diskurs an ihnen festhält, zwingt er auch zur Einigung über die Voraussetzungen dieser Ideen. Öffentlicher Vernunftgebrauch besteht deshalb in nichts anderem als darin, diesem Einigungszwang zu folgen.

Reinhard Merkel

Verbrauchende

Embryonenforschung?

Grundlagen einer Ethik der Präimplantationsdiagnostik und der Forschung an embryonalen Stammzellen A.

Einleitung

Zwei methodische Bemerkungen will ich meiner Analyse voranstellen. Die erste bezeichnet deren Gegenstand etwas genauer, die zweite betrifft die Art der Argumente, mit denen sich ethische und rechtliche Normen begründen lassen. 1. Man kann bei der moralischen Beurteilung menschlichen Verhaltens primär die jeweils fraglichen Handlungen als solche, man kann aber auch vornehmlich den Handelnden selbst, nämlich seine Motive und Gesinnungen, in den Blick nehmen. Beide Perspektiven haben in jeweils unterschiedlichen Zusammenhängen ihre Berechtigung. Die Beurteilung der Handlung als solcher läßt sich dabei grob dem Bereich der Sozialethik, die des Handelnden selbst der Individualethik zurechnen. Für mein Thema ist allein die erstere, also die primär sozialethische Betrachtungsweise bedeutsam. Sie ist es auch, der sich die gegenwärtige Unsicherheit über Grenzen des Umgangs mit menschlichen Embryonen verdankt: Es geht allein um die Frage der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit von Handlungen, aus welchen Motiven immer sie vorgenommen werden mögen. Die öffentliche Debatte bei uns leidet noch immer an der gelegentlichen Vermischung beider Perspektiven. Das zeigt einen Mangel an Rationalität an. Ob es wahr ist, daß viele Reproduktionsmediziner und Genetiker aus verdächtigen Motiven handeln, etwa aus persönlichem Ehrgeiz oder aus Gewinnsucht, weiß ich nicht. Es ist aber für mein Thema belanglos. Man kann ebenso aus schäbigen Motiven das moralisch Richtige tun, wie man aus den edelsten Motiven moralisch falsch handeln kann. Allein die Frage der Richtigkeit von Handlungen soll uns daher im folgenden beschäftigen. 2. Schwieriger ist die Frage, mit welchen Argumenten Handlungsnormen überhaupt begründbar sind. Die einschlägige Grundlagendebatte werde ich hier nicht berühren. Statt dessen will ich eine grobe und prinzipielle Unterscheidung markieren und meine eigene Position in dem daraus resultierenden Schema deutlich machen. a) Zwei Argumentstrategien lassen sich auseinanderhalten. Die des ersten Typs orientiert sich primär an den Bedürfnissen und Interessen der von einer Handlung Betroffenen. Sie fragt daher vornehmlich nach den Auswirkungen einer Handlung auf deren direkte oder mittelbare Adressaten. Argumente des zweiten Typs berufen sich dagegen vorrangig auf ethische Werte, Prinzipien und Ideale, die allein mit Blick auf die

152

Reinhard Merkel

selbst und unabhängig von ihren absehbaren Folgen über ihren moralischen Wert oder Unwert entscheiden. Mit einem Terminus des Politikphilosophen Brian Barry kann man die Argumente des ersteren Typs „bedürfnisorientiert" und die des zweiten Typs „ideal- oder prinzipienorientiert" nennen.1 b) Das ist eine sehr grobe Kennzeichnung. Und allenfalls ebenso grob deckt sie sich mit der geläufigen Unterscheidung zwischen konsequenzialistischen und deontologischen Moralbegründungen. Auch gibt es gute Gründe für die Behauptung, daß vernünftige ethische Begründungen regelmäßig Elemente beider Argumenttypen enthalten müssen. Dennoch ist die Unterscheidung wichtig. Sie macht sozusagen auf vorgängige Richtungsentscheidungen in der Ethik aufmerksam, die gerade im Bereich unseres Themas nicht selten zu kontroversen Ergebnissen führen. c) Das will ich vorweg an einem Beispiel illustrieren; in den Diskussionen zu unserem Thema spielt es nicht von ungefähr eine erhebliche Rolle. Eine verbreitete idealorientierte Betrachtungsweise beruft sich in bioethischen Fragen gerne auf das Prinzip der Menschenwürde, das Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes bekanntlich als Grundnorm unserer Verfassung statuiert. Es hat seine berühmte Wurzel im Kategorischen Imperativ Immanuel Kants, und zwar in dessen zweiter, wie Kant sagt, „materialer" Vorstellungsart: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst."2 Orientiert man sich daran, so könnte man im Bereich unseres Themas beispielsweise folgendes sagen: „Wer eine sogenannte verbrauchende Embryonenforschung betreibt, instrumentalisiert den dabei zerstörten Embryo, der zweifellos ein lebendes menschliches Wesen ist, ausschließlich als Mittel für die Zwecke anderer und verstößt damit gegen dessen Menschenwürde. Ein solches Handeln ist daher stets verwerflich und jenseits jeder Möglichkeit der Rechtfertigung." Das ist im übrigen ungefähr die Position, die der Gesetzgeber dem Embryonenschutzgesetz zugrunde gelegt hat. Wer dagegen eine primär bedürfnis- oder interessenorientierte Begründungsstrategie bevorzugt, wird etwa folgendermaßen antworten: „So einfach ist das nicht. Erstens kennen wir zahlreiche Handlungen, die andere Menschen ausschließlich als Mittel für eigene Zwek-

Handlung

1

Vgl. Brian Barry, Political Argument, London 1965, 37ff; ihm folgend Dieter Birnbacher, Embryonenforschung erlauben oder verbieten?, in: Verantwortung in Recht und Moral. Referate der Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie vom 2. bis zum 3. Oktober 1998 in Frankfurt am Main, hrsg. v. Ulfrid Neumann u. Lorenz Schulz, Stuttgart 2000, 157-172, hier 159ff. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 4, Berlin-Leipzig 21911, 385-463, hier 429 (Herv. des Originals getilgt); zur Materialität dieser Vorstellungsweise des Kategorischen Imperativs siehe ebenda, 436. Der Nötiger in meinem Beispiel handelt nach deutschem Strafrecht rechtmäßig (§ 34 StGB), nicht etwa bloß persönlich entschuldigt. Übrigens setzt sich auch in der Verfassungsrechtsdogmatik allmählich eine profunde Skepsis gegen die folgenblinde Anwendung der sogenannten „Objektformel" zur Menschenwürde durch; siehe statt vieler Matthias Herdegen, Die Menschenwürde im Fluß des bioethischen Diskurses, in: Juristenzeitung 56 (2001), 773-779, hier 775 („leere Hülse"). -

2

3

Ethik der

153

Präimplantationsdiagnostik

ke instrumentalisieren und die wir dennoch für richtig halten. Jede gerechtfertigte Notstandshandlung gibt dafür ein Beispiel. Wer einen widerstrebenden Autofahrer mit vorgehaltener Pistole nötigt, einen Schwerverletzten zur Lebensrettung in die nächste Klinik zu fahren, benützt diesen Autofahrer ausschließlich als Mittel für fremde Zwecke. Gleichwohl käme wohl niemand ernsthaft auf die Idee, hier von einer Verletzung der Menschenwürde des Autofahrers zu sprechen. Und daran sieht man, zweitens, daß wir auch solche Instrumentalisierungen anderer nicht ohne Blick auf die konkreten Folgen des entsprechenden Verhaltens beurteilen können.3 Und schließlich gibt uns, drittens, ein solches Prinzip wie das der Menschenwürde keinerlei Auskunft darüber, wen wir mit guten Gründen in seinen Schutzbereich einbeziehen können oder müssen und wen nicht. Ob dazu auch der menschliche Embryo gehört, ist eine gänzlich offene Frage." (GROBE) UNTERSCHEIDUNG VON Wenn wir nun hiergegen ARGUMENTTYPEN ZUR BEGRÜNDUNG wieder unseren idealorientierten ETHISCHER NORMEN Ethiker zu Wort kommen lasÍ ~. sen, dann sind wir bereits mitbedürfnisideal- (wert-, tendrin in den Diskussionen zu (interessen-) Prinzipien-) unserem Thema. Das soll aber orientiert orientiert ~

nun

systematisch geschehen.

Die bisherige Skizze will ich lediglich mit einem grundsätzliprimar: primar: chen Bekenntnis abschließen. Blick Blick auf die auf die ÜberIch daß die d) meine, priFolgen der einstimmung der mär an den Bedürfnissen, den Interessen der von einer HandHandlung Handlung als solcher mit normativem Ideal (Abwägung) lung betroffenen Wesen orientierte ethische Betrachtungsweise die vernünftigere ist. Das ist keine utilitaristische PositiBeispiel zur Illustration: on!4 Denn ein ethischer Primafacie-Vorrang der Handlungsfolgen schließt es nicht aus, deren Abwägung im Einzelfall „Instrumentalisierung" Prinzip der von gut begründeten Werten anderer im Menschenwürde als Notstand nach absolutes Verbot der und Prinzipien beeinflussen und ggf. korrigieren zu lassen. Folgenabwägung Instrumentalisierung anderer Wer sich aber ausschließlich an (in Grenzen) zulässig solchen Idealen orientiert, verkennt nicht nur eben ihre Abwägbarkeit in konkreten Einzelfällen; er verkennt auch, daß sie geschichtlich wandelbar oder kulturell begrenzt sein mögen, späteren Generationen korrekturbedürftig erscheinen könnten und für Anhänger anderer Ideale möglicherweise nicht konsensfähig sind. Diese Zusammenhänge hält Abb. 1 in einer knappen Übersicht fest.

Reinhard Merkel

154

Die Unterscheidung betrifft nur die Argumente zur Begründung von Normen, nicht diese Normen selbst. Die meisten unserer Handlungsnormen lassen sich mit beiden Argumenttypen gleichermaßen begründen. Aber eben nicht alle. Und gerade an den Streitfragen zu unserem Thema zeigt sich das deutlich. Noch einmal

B.

zur

Klarstellung:

Präimplantationsdiagnostik und der normative

Status des

Embryos

Embryonenforschung kann in vielerlei folgenden mit den beiden Formen, die

Gestalt betrieben werden. Ich befasse mich im ethisch am meisten umstritten und in Deutschland rechtlich bei Strafe verboten sind: mit der sogenannten Präimplantationsdiagnostik und mit der Gewinnung von und der Forschung an embryonalen Stammzellen. I. Präimplantationsdiagnostik (PGD) funktioniert ungefähr so: Einem in vitro gezeugten, also durch künstliche Befruchtung entstandenen Embryo wird in einem sehr frühen Stadium, wenige Tage nach der Fertilisierung, eine Zelle entnommen und mittels einer Biopsie auf genetische Defekte untersucht. Dabei geht es einerseits um sogenannte monogene, also von einem einzelnen irregulären Gen verursachte Defekte und andererseits um Chromosomenaberrationen, also um Abweichungen in Zahl oder Struktur ganzer Chromosomen. Zeigt die Untersuchung einen solchen Defekt, dann wird der Embryo nicht in den Uterus der prospektiven Mutter implantiert, sondern verworfen. An anderen Embryonen derselben oder einer neuerlichen In-vitro-Fertilisierung kann das Verfahren wiederholt werden. Ermittelt man damit einen genetisch gesunden Embryo, so wird er implantiert, und das heißt: die Schwangerschaft der Frau eingeleitet. II. Das erste ethische Bedenken gegen die PGD an Embryonen liegt damit auf der Hand: Erweist sich das Genom des untersuchten Embryos als defekt, so wird er nicht implantiert, sondern verworfen, und das heißt: getötet. (Man könnte ihn freilich zuvor noch zu weiteren Forschungszwecken verwenden, etwa zur Stammzellgewinnung; davon wird später die Rede sein.) Nicht immer deutlich gesehen wird aber, daß bereits die Entnahme und die Biopsie einer einzelnen Zelle des Embryos ethische Fragen aufwerfen. Das ist jedenfalls dann der Fall, wenn die Zellentnahme zu einer Zeit stattfindet, in der die embryonale Entwicklung das sogenannte Achtzellstadium noch nicht überschritten hat, also regelmäßig bis ungefähr zum Ende des dritten Tages nach der Befruchtung. Denn bis dahin haben alle Zellen des Embryos die Eigenschaft der sogenannten Totipotenz: Jede von ihnen kann sich, wenn sie von den anderen Zellen abgetrennt wird, auch allein zu einem vollständigen Menschen entwickeln. Damit erweist sich eine solche Zellbiopsie als zweifach problematisch. Einerseits bedeutet das Abtrennen der Zelle wegen deren Totipotenz die Herstellung eines zweiten Embryos; und da dieser mit dem Ursprungsembryo, aus dem er stammt, genetisch identisch 4

begründen zu können, den Utilitarismus in allen mir bekannten SpielBegründung moralischer Normen für dubios, zur Begründung von Rechtsdefinitiv ungeeignet.

Ich halte, ohne das hier arten schon zur

prinzipien

für

Ethik der

155

Präimplantationsdiagnostik

ist, heißt das: Er ist geklont worden. Und andererseits bedeutet die anschließende Biopsie der totipotenten Zelle die Zerstörung eines potentiellen menschlichen Individuums. Damit sind die wichtigsten Einwände gegen die PGD formuliert. Es gibt aber noch weitere. Sie entstammen einer anderen Perspektive: nicht der auf den Embryo, sondern der auf schützenswerte Belange der Allgemeinheit. Beide Argumenttypen will ich zunächst wieder in einer Übersicht zeigen (Abb. 2). 1. Betrachten wir zunächst die Rechtslage in Deutschland. Sie ist eindeutig: Die

Präimplantationsdiagnostik an totipotenten Embryonalzellen ist verboten und strafbar, und zwar sowohl nach § 2 Abs. 1

ARGUMENTSTRATEGIEN GEGEN DIE

PRÄIMPLANTATIONSDIAGNOSTIK

(PGD) UND GEGEN DIE STAMMZELLFORSCHUNG

Embryonenschutzgesetz (ESchG), dem Mißbrauchsverbot, als auch nach § 6 Abs. 1, dem Klonierungsverbot.5

Viele Medizinethiker halten diese Regelungen des ESchG auch moralisch für zwingend. Die Begründung dafür ist freilich alles andere als klar. Im Hinblick auf den Schutz des Embryos kommen zwei fundamentale Normen in Betracht: das Tötungsverbot und der Schutz der Menschenwürde. Sie lassen sich in vier konkre-

Argumente ausbuchstabieMan kann sie plastisch mit den folgenden Titeln bezeichnen: (1) Spezieszugehörigkeit, (2) Entwicklungskontinuum, (3) Potentialität, (4) Identität. Nennen wir diese Argumente das Spezies-, das Kontinu-

Zwei

grundsätzliche Perspektiven:

Argumente im Hinblick auf den Schutz des Embryos selbst

Argumente im Hinblick auf die

Allgemeinheit (oder Teile davon)

insbesondere:

T

T

gegen

Schutz von Rechten bzw. Interessen Drit-

Tötung

te

Schutz

vor

späterer Interessen-

ter gegen

verletzung (z.B.

gegen Menschenwürde-

unmittelbare Verletzung (v. a. bei der

„slippery slope" o.a.)

verletzung

PGD)

ren.

durch

ums-, das Potentialitäts- und

Identitätsargument. Ihre Tauglichkeit zur Begründung eines moralisch berücksichtigungsfähigen und -bedürftigen Status des Embryos innerhalb des Schutzbereichs unserer fundamentalen ethischen Normen will ich im folgenden untersuchen. das

Unter Medizinrechtlern wird gestritten, ob die Biopsie an nicht mehr toti-, sondern nur noch also erst nach dem Achtzellstadium in der Embryonalentwicklung, erlaubt sei oder ebenfalls unter das Mißbrauchsverbot des § 2 falle. Die juristische Auslegung läßt freilich wenig Zweifel: Auch diese PGD ist nach § 2 Abs. 1 strafbar. Zwar ist die ent-

pluripotenten Zellen,

156

Reinhard Merkel

Das Speziesargument ist sehr einfach: Der Schutz des Tötungsverbots gelte für den schon und einfach deshalb, weil er biologisch der Spezies Homo sapiens angehört. Da alle geborenen Angehörigen dieser Spezies zweifellos ein Grundrecht auf Leben haben, gebiete das Prinzip der Gleichbehandlung auch den Schutz des Embryos. a) Das Argument ist nicht haltbar. Ob das Gleichbehandlungsgebot diesen schützenden Einbezug des Embryos gebietet, kann ersichtlich erst dann entschieden werden, wenn dessen Status als der eines normativ „Gleichen" geklärt ist. Dafür taugt der Hinweis auf die Gattungszugehörigkeit jedoch nicht. Wer allein das Faktum einer bestimmten biologischen Beschaffenheit heranzieht, um damit eine Norm zu begründen nämlich ein Recht des Embryos auf Leben, also eine Pflicht aller anderen, seine Tötung zu unterlassen -, der demonstriert einen klassischen naturalistischen Fehlschluß.6 Auch jenseits aller philosophischen Argumente wäre es im übrigen schwer verständlich, wie und warum allein die molekulare MikroStruktur der Basenpaare unserer DNA so etwas wie fundamentale Rechte sollte begründen können. b) Wer das Speziesargument plausibler machen will, wird zunächst bestimmte menschliche Eigenschaften benennen und dann eine Norm, die es moralisch gebietet, für Wesen mit genau solchen Eigenschaften ein Lebensrecht zu gewährleisten. Und er wird dann in einem weiteren Schritt das Gebot der Gleichbehandlung aller menschlichen Lebewesen als weitere Norm heranzuziehen versuchen, um den Schutzbereich dieses Rechts auch auf den Embryo zu erstrecken. Welche Eigenschaften sind es, die eine Lebensschutznorm zwar für Menschen, aber z. B. nicht für Schafe, Rinder und Schweine gebieten? Daß es der rein äußere, biologische Unterschied nicht sein kann, haben wir gesehen. Es müssen daher im weitesten Sinne innere, also mit einem subjektiven Erleben verbundene Eigenschaften sein. Und da genau sie den spezifischen Unterschied zwischen Mensch und Tier in Fragen des Lebensund Würdeschutzes begründen sollen, müssen es solche sein, die das eigene Leben für den Menschen in einem höheren Grad, als das bei Tieren der Fall ist, wünschbar, schätzenswert, kurz: zu einem höheren Gut oder zum Gegenstand eines gewichtigeren subjektiven Wohls oder Interesses machen. 2.

Embryo

-

6

nommene und in der Biopsie verbrauchte Zelle selbst kein Embryo mehr. Aber der Ursprungsembryo wird ganz offensichtlich zu einem „nicht seiner Erhaltung dienenden Zweck" verwendet, nämlich zu einer diagnostischen Untersuchung, deren Ergebnis ggf. das genaue Gegenteil seiner Erhaltung, nämlich seine Vernichtung, nach sich zieht. Daran ändert die durchaus ebenfalls vorhandene „bedingte" Absicht zur Implantation des Embryos (also zu seiner Erhaltung) nichts. Denn daß im Vergleich zu der sofortigen Implantation ohne Untersuchung die diagnostische Zellentnahme eine „nicht der Erhaltung dienende", sondern möglicherweise die Option der Zerstörung eröffnende Handlung ist, liegt auf der Hand. Nach dem eindeutigen Wortlaut des ESchG macht nicht etwa das „(Auch-)Haben" der korrekten Absicht die Handlung rechtmäßig; vielmehr macht jede falsche (Mit-)Absicht sie rechtswidrig. Ob man hier korrekter von einem „Sein-Sollen-Fehlschluß" sprechen sollte, wie mir Otfried

Hoffe in der Zeit vom 1. Februar 2001, 43 vorhält, oder ob der von mir verwendete, international gerade in dieser Rolle gängige Terminus akzeptabel ist, mag dahinstehen; es ist (was wohl auch Hoffe nicht bestreitet) für die Sache ganz unerheblich.

Ethik der

157

Präimplantationsdiagnostik

Gewiß ist all dies umstritten.7 Ich habe aber keinen Zweifel, daß in einem fundamentalen ethischen Sinn subjektive moralische Schutzpositionen, oder, wie ich der Kürze halber sagen will, subjektive moralische Rechte, mit Vernunftgründen nicht anders zu beglaubigen sind. Das hat, knapp skizziert, den folgenden Grund. Der Begriffeines subjektiven Rechts ist analytisch, also zwingend, mit dem des Schutzes verknüpft, und dieser wiederum analytisch mit dem der Verletzbarkeit seines Inhabers im Hinblick auf die von dem Recht geschützten Positionen oder Inhalte. Verletzbarkeit setzt aber, zum drittenmal analytisch, das „Habenkönnen" bestimmter Interessen voraus: Wer bestimmte Interessen nicht haben kann, der kann insofern nicht verletzt werden. Es hat daher schon begrifflich keinen Sinn, ihm insofern ein subjektives Schutzrecht zu gewähren, also Schutz gegen eine Verletzung, die ihm nicht angetan werden kann. Beispielhaft: Es hat keinen Sinn, einem Zeitungsexemplar ein Recht darauf einzuräumen, nicht zerrissen zu werden, einem Holzscheit, nicht ins Feuer zu wandern, einem Goldhamster, nicht ohne Schulbildung zu bleiben etc.8 Für sie alle mag es zwar objektive Folgen haben, daß ihnen solche Rechte nicht eingeräumt werden, und diese Konsequenzen mögen, wie bei der Zeitung und dem Holzscheit, auch zerstörerisch sein. Aber sie können keine subjektiv erlebbare Verletzung sein. Daher können sie nicht als Rechtsverletzungen (sondern allenfalls aus anderen Gründen) verboten werden. Denn subjektive Rechte beinhalten stets die Pflicht anderer, sie zu achten. Sie erzwingen also für diese anderen eine Freiheitseinschränkung, und da diese als Schutz für den „Rechtsinhaber" keinerlei Sinn haben kann, ist sie als solcher nicht legitimierbar (sondern allenfalls anders). c) Mit dieser knappen Skizze muß es hier sein Bewenden haben. Kehren wir zurück zum Embryo. Was immer genau die innerseelischen Eigenschaften sein mögen, die ein subjektives Interesse am eigenen Überleben begründen, und von welchem biologischen Substrat (etwa der Gehirnentwicklung) sie abhängen mögen über all das läßt sich streiten und wird ja gestritten9 -, eines steht außer Zweifel: Der frühe Embryo kann noch keine -

-

7

Man erinnere sich an mein Schaubild zur Unterscheidung der Begründungsstrategien für moralische Normen (Abb. 1) und an mein Votum für die „bedürfnisorientierte". Wer sich dagegen an einem jedem Räsonnement vorgegebenen „absoluten Wert" des Menschen, etwa seiner Gottesebenbildlichkeit, orientiert, kann von meiner gegenwärtigen Ableitung nicht überzeugt, nicht einmal erreicht werden. Er kann freilich seine Position schon in einer säkularisierten Ethik nicht mehr verbindlich machen erst recht nicht und keinesfalls als grundle-

gendes Prinzip unserer Rechtsordnung. Grundlegend zu diesen Zusammenhängen Michael Tooley, Abortion and Infanticide, in: Philosophy & Public Affairs 2 (1972), 37-65, hier 37 ff; Joel Feinberg, The Rights of Animals and Unborn Generations, in: ders., Rights, Justice and the Bounds of Liberty. Essays in Social Philosophy, Princeton, N.J. 1980, 159-184; ähnliche Überlegungen übrigens schon vor über achtzig Jahren bei Leonard Nelson, Kritik der praktischen Vernunft (Vorlesungen über die -

8

der Ethik, Bd. 1), Leipzig 1917, 144 ff, 344 ff. und passim; in Deutschland siehe heute etwa Anton Leist, Eine Frage des Lebens. Ethik der Abtreibung und künstlichen Befruchtung, Frankfurt/M.-New York 1990, 134ff; ausführlich Reinhard Merkel, Früheuthanasie. Rechtsethische und strafrechtliche Grundlagen ärztlicher Entscheidungen über Leben und Tod in der Neonatalmedizin, Baden-Baden 2001, 440 ff. Dazu eingehend und mit einem eigenen Lösungsvorschlag Merkel, Früheuthanasie, 503 ff.

Grundlagen

9

158

Reinhard Merkel

einzige der hier in Betracht kommenden Eigenschaften haben. Damit scheidet er als möglicher Inhaber eines genuin subjektiven Rechts auf Leben aus.10 d) Nun könnte man freilich das Speziesargument ein wenig erweitern, und zwar so: Für den Einbezug eines Individuums in den Schutzkreis moralischer Rechte komme es nicht allein auf seine eigenen, sondern auch auf die typischen Eigenschaften der Gattung an, der es zugehört: Entweder bei ihm selbst oder (typischerweise) bei seiner Gattung müßten die schutzwürdigen Eigenschaften vorliegen. Und ist lediglich das letztere der Fall, dann erfolge der Einbezug des Individuums eben über ein weiteres moralisches Prinzip. Nennen wir es knapp und plastisch das der Gattungssolidarität. Das läßt sich gewiß hören. Aber man sieht auf den ersten Blick, daß die normative Basis, also die VerpflichtungsWICHTIGE NORMATIVE FUNDAMENTE FÜR ETHISCHE UND RECHTLICHE SCHUTZPFLICHTEN

kraft eines solchen Solidaritätsprinzips für die Zuschreibung von Rechten bei weitem schwächer ist als die vorhin NormenVerletzungs- Solidaritätsskizzierte eines genuinen subverbot schutz pflichten jektiven Rechts. Ein Wesen, das (unter(„Gesamttex- ein eigenes aktuelles Interesse („neminem schiedlichen tur" der Norlaede!") an seinem Überleben hat, zu töGewichts) menordnung) ten, ist ein schweres Unrecht. I Einem Wesen, das noch kein _L I setzt (mindestens) voraus: solches Interesse haben kann, die Gattungssolidarität und daeine der beipotentielle subjektive mit den Lebensschutz zu verVerletzbarkeit Erlebensden vorgen. weigern, mag im Normalfall und diese: Schutzposifähigkeit unerfreulich oder tadelnswert aktuelle Erletionen (die er sein: ein nur annähernd verbensfähigkeit verstärkt) gleichbares Unrecht wie das erI X I stere ist es nicht. führt zu: e) Die Feststellung gibt 4Anlaß zu einer genaueren Erechten Schutzobjektivem kundigung nach den normatigrundintensivierung: ven Pflichtgründen und den subjektiven sätzlich ab(Grund-) ggf. zugekorrespondierenden Schutzschriebenes Rechten wägbarem oder Rechtspositionen, die wir Schutz Recht kennen und ggf. in Gewicht und Reichweite unterscheiden. Ich schlage die in Abb. 3 skizzierten groben, aber, wie ich meine, grundlegenden Diffe-

=

renzierungen 10

vor.

Zur Erinnerung: Die Rede ist hier von moralischen Rechten; „genuin" soll dabei heißen: ethisch zwingend geboten. Man kann, das soll damit angedeutet sein, subjektive Rechte auch ohne eine solche zwingende Verpflichtung zuschreiben und dann im gleichen Schutzmodus garantieren. Der Rechtsordnung etwa steht diese Möglichkeit freilich im Rahmen der ge-

Ethik der

159

Präimplantationsdiagnostik

Das erste und fundamentalste Prinzip der Ethik wohl aller Zeiten und Kulturen lauverletze niemanden. Das Schaubild verdeutlicht nun knapp und tet: neminem laede plastisch meine wichtigste These: Zwischen dem Verletzungsverbot und genuin subjektiven Rechten gibt es eine normenlogische Korrespondenz genauso wie zwischen dem weniger gewichtigen Prinzip der Solidarität und „bloß" objektiven Schutzpositionen, die grundsätzlich abwägbar sind. Eine formal sekundäre, nämlich Pflichten bzw. Rechte, die aus den beiden Primärquellen stammen, voraussetzende und verstärkende Rolle spielt das von mir so bezeichnete Prinzip des Normenschutzes: Auch Schutzpositionen, die nicht genuin subjektiven Rechten entstammen, können danach per Zuschreibung zum Geltungsund Durchsetzungsmodus subjektiver Rechte verstärkt werden." Ordnet man in dieses Schema den Schutz des Embryos ein, so ergibt sich, wie unschwer zu sehen ist, eine Bestätigung der schon vorhin skizzierten Überlegung: Da der frühe Embryo gänzlich erlebensunfähig und daher aktuell auch nicht durch seine Tötung verletzbar ist, da er aber andererseits (regelmäßig, wenngleich nicht immer) das Potential der Entwicklung zur erlebensfähigen Person hat, obliegt uns ihm gegenüber eine objektive Pn/wa-^/âci'e-Schutzpflicht aus dem Prinzip der Solidarität das eben, was ich oben „Gattungssolidarität" genannt habe. Normschutzerwägungen, die hier (wie bei allem Umgang mit menschlichem Leben) sehr wohl eine Rolle spielen, gebieten im Falle früher Embryoanders als bei geborenen Menschen eine Intensivierung des Solidaritätsschutzes nen zu einem zugeschriebenen subjektiven Recht nicht. Knapp und salopp formuliert: Wir fühlen auch bei der aktiven Tötung selbst erheblich weiter entwickelter Embryonen als der hier in Frage stehenden keine Bedrohung unserer Verbotsnorm gegen aktive Tötungen. Schon die Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs in unserer Rechtsordnung zeigt das deutlich.12 Was bleibt, ist (bislang jedenfalls) eine abwägbare Prima-facie-Schutzpflicht zugunsten des embryonalen Lebens; sie hat erheblich geringeres Gewicht als das Verletzungs-, nämlich Tötungsverbot gegenüber geborenen Menschen. -

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botenen Achtung möglicher Gegenrechte anderer durchaus prinzipiell frei, etwa im Hinblick auf Personengemeinschaften, juristische Personen oder Tiere. 11 Mit dieser Überlegung erst läßt sich erklären, warum wir bei geborenen Menschen, die subjektiv vollständig erlebensunfähig, also im Sinne des Verletzungsverbots nicht (mehr) subjektiv schädigungsfähig sind etwa bei anenzephalen Neugeborenen oder irreversibel bewußtlosen Apallikern -, einerseits ganz offenbar keinen Wert mehr auf die Lebenserhaltung legen (auch das Strafrecht akzeptiert hier die tödliche Nichtbehandlung), also die „passive Sterbehilfe" rechtfertigen, andererseits eine gezielte aktive Tötung nach wie vor streng verbieten: Es geht ersichtlich nicht mehr um das Leben des jeweiligen Patienten, sondern nur noch um den (Gesellschafts-)Schutz der Verbotsnorm gegen aktive Tötungen. Vgl. zu diesen Zusammenhängen Merkel, Früheuthanasie, Kap. 2, 3 sowie insbesondere 4 (407 ff). Daß dieser Bereich des Normenschutzes kompliziert ist, teilweise sehr heterogene Elemente vereinigt und im einzelnen noch wenig durchdrungen ist, sei ausdrücklich zugestanden. Ohne die von ihm eröffnete Perspektive wird man allerdings Grundprobleme und -phänomene des ethischen wie des rechtlichen Lebensschutzes nicht verstehen können. 12 Gewiß stellen sich hier zahlreiche weitere Fragen; darauf kann ich hier nicht eingehen; genauer zum Ganzen Reinhard Merkel, Grundrechte für frühe Embryonen?, in: Festschrift für Heinz Müller-Dietz, hrsg. v. Heike Jung u.a., München 2001, 493-521. -

-

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160

Reinhard Merkel

f) Wer dies im Hinblick auf den menschlichen Embryo bezweifelt, erwäge das folSzenario: In einem biotechnischen Labor bricht ein Feuer aus. Dort befinden sich zehn am Vortag in vitro gezeugte, lebende Embryonen und außerdem ein durch den Rauch bereits tief bewußtloser Säugling. Ein in letzter Sekunde in das Labor eindringender Retter erkennt, daß er nur noch entweder den Säugling oder die zehn Embryonen retten kann. Gattungssolidarität hin oder her: Hätte irgend jemand ernsthafte Zweifel, wie sich der Retter entscheiden sollte? Und hätte jemand solche Zweifel, wenn es nicht um zehn, sondern um hundert, tausend, ja um beliebig viele Embryonen ginge? Gegen die Triftigkeit dieser Veranschaulichung hat Hoffe eingewendet, sie operiere mit positiven (Hilfs-)Pflichten, während es bei der verbrauchenden Forschung an Embryonen um deren Tötung, also (ggf.) um negative Pflichten gehe, die bekanntlich (wie ja auch von mir vorausgesetzt) erheblich größeres Gewicht hätten.13 Das ist, bei allem Respekt, ein merkwürdiger Einwand. Es wäre ja wahrhaftig mehr als seltsam, würden wir zwar bei positiven Pflichten zwischen frühen Embryonen und geborenen Menschen einen gewaltigen Unterschied machen, aber bei negativen überhaupt keinen. Das tun wir selbstverständlich nicht; und es ist auch leicht, den Unterschied an einem Beispiel mit negativen Pflichten zu zeigen, ja stärker noch: an einer Kollision von (ggf.) fundamentalen negativen Pflichten auf der einen und lediglich positiven auf der anderen Seite. Bleiben wir bei meinem Szenario: Der Retter habe nur dann eine Möglichkeit zur Rettung des Säuglings, wenn er die im Wege stehende Apparatur mit den zehn (tausend, zehntausend, ...) Embryonen zur Seite und dabei ins Feuer stößt, also die Embryonen aktiv tötet. Auch in dieser Situation besteht kein Zweifel an der moralischen Pflicht, den Säugling zu retten und die Embryonen dabei aktiv zu opfern. Selbstverständlich ersetzen solche Szenarien nicht die tragenden ethischen Argumente. Sie illustrieren diese, sie zeigen aber außerdem auch ihre Konsonanz mit unseren fundamentalen moralischen Intuitionen. Sie sind das, was in Amerika ganz treffend „intuition pumps" genannt wird. Deutlich machen sie für unseren Fall dies: Die Gattungssolidarität mag im Normalfall einen gewissen Grund für den Einbezug des Embryos in die moralische Sphäre des Lebensschutzes abgeben. In jedem halbwegs gewichtigen Sonderfall ist dieser Schutzreflex gegen kollidierende andere Interessen abwägbar ganz anders als ein echtes Recht auf Leben. Und er ist, wie die Ausdehnung meines Laborfalles auf beliebig viele Embryonen zeigen soll, von relativ geringem Gewicht. Die Konsequenz aus all dem liegt nun auf der Hand: Beurteilt man den Embryo ausschließlich nach seinem aktuellen Status quo, dann ist es nicht möglich, ein genuin subjektives Recht auf Leben für ihn zu begründen.

gende

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13

Hoffe (wie Anm. 6); ähnlich Eberhard Schockenhoff, Süddeutsche Zeitung vom 30. Mai 2001, 17, der mir (wie ich in aller Bescheidenheit versichern darf, mit Unrecht) unterstellt, ich übersähe den Unterschied zwischen positiven und negativen Pflichten; ganz abwegig Regine Kollek, ebenda, die behauptet, es sei lediglich eine Frage der subjektiven Präferenzen, wie die Entscheidung des Retters ausfalle; ein moralisches Urteil lasse sich darüber nicht fallen. Das ist so offensichtlich falsch, wie eine Rettung der Embryonen statt des Säuglings moralisch indiskutabel wäre.

Ethik der

Präimplantationsdiagnostik

161

3. Man muß ihn freilich für die Frage seiner Rechtsfähigkeit nicht allein nach seinem aktuellen Status beurteilen. Und das genau ist der Sinn des zweiten unserer Argumente: des Kontinuumsarguments. Trifft es zu, so mag es jenseits der bisherigen Erwägungen gleichwohl als Grundlage eines embryonalen Lebensrechts tragfähig sein. Seinen Inhalt hat am klarsten das Bundesverfassungsgericht 1975 im ersten seiner beiden „Fristenlösungsurteile" zur Abtreibung formuliert. Die entscheidende Passage lautet so: Der [menschliche] Entwicklungsprozeß ist ein kontinuierlicher Vorgang, der keine scharfen Einschnitte aufweist und eine genaue Abgrenzung der verschiedenen Entwicklungsstufen des menschlichen Lebens nicht zuläßt. Deshalb kann der Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes [= Grundrecht auf Leben] weder auf den „fertigen" Menschen nach der Geburt noch auf den selbständig lebensfähigen Nasciturus beschränkt werden. Das Recht auf Leben wird jedem gewährleistet, der „lebt"; zwischen den einzelnen Abschnitten des sich entwickelnden Lebens vor der Geburt oder zwischen ungeborenem und geborenem Leben kann hier kein Unterschied

gemacht werden.14

Der Passus formuliert das tragende Argument der Entscheidung. Erstaunlich ist dies deshalb, weil es einen buchstäblich klassischen (nämlich seit der Antike bekannten) Fehlschluß demonstriert.15 Natürlich ist das behauptete Kontinuum der menschlichen Entwicklung eine unbestreitbare Tatsache. Der daraus vom Verfassungsgericht abgeleitete Schluß ist dennoch falsch. Überlegen wir das Folgende: Ein Mann von 1,50 m Körpergröße ist ein kleiner Mann; 1 mm mehr an Größe bedeutet keinesfalls den entscheidenden Übergang von „klein" zu „groß"; also ist ein Mann von 1,50 m + 1 mm ebenfalls ein kleiner Mann. Nun fahre man fort: Ein Mann von 1,50 m + 1 mm ist also ein kleiner Mann; 1 mm mehr an Größe kann keinesfalls den entscheidenden Unterschied zwischen „klein" und „groß" ausmachen; also ist ein Mann von 1,50 m + 1 mm + 1 weiteren mm ein kleiner Mann. Und nun zähle man weiter. Wenn ich richtig rechne, muß man den Vorgang genau tausendmal wiederholen, um bei dem Ergebnis zu landen, daß ein Mann von 2,50 m Größe ein kleiner Mann ist. Man kann das Spiel natürlich auch umgekehrt spielen und bei einem großen Mann von 2,50 m Länge millimeterweise (und wenn man will und Geduld hat: auch mikrometerweise) rückwärts zählen, um irgendwann bei dem Satz anzukommen, daß ein Mann von 1,50 m Größe ein großer Mann ist.16 Keiner dieser Übergänge stellt einen „scharfen Einschnitt" dar, wie ihn das Verfassungsgericht als notwendig zum Ausschluß von Willkür verlangt. Dennoch können wir völlig willkürfrei zwischen einem kleinen Mann von 1,50 m und einem großen von 2,50 m unterscheiden, genauso wie wir zwischen stockdunkler Nacht und sonnenhellem Tag unterscheiden können, auch wenn im Zwielicht der Morgendämmerung keine einzige der dabei verrinnenden Hundertstelsekunden einen „scharfen Einschnitt" markieren könnte, vor dem es dunkel und nach dem es hell gewesen wäre. Bei Tausenden anderer Konti14 15

16

BVerfGE 39, 1

(37) (Herv. R.M.).

Das sogenannte Sorites- oder Haufen-Paradox; eingehend zu dessen logischer Form und zu allen seinen Varianten Douglas N. Walton, Slippery Slope Arguments, Oxford 1992, 37 ff. Beispiel nach Max Black, Reasoning with Loose Concepts, in: ders., Margins of Precision. Essays in Logic and Language, Ithaca, N.Y. 1970, 1-13.

162

Reinhard Merkel

werte es nicht als Respektloaber das Kontinuumsargument allein Bundesverfassungsgericht, sigkeit gegenüber ist für die ihm zugedachte Beweislast gänzlich unbrauchbar. 4. Das dritte unserer Argumente pro Embryonenschutz, das Potentialitätsargument, lautet etwa so: Zwar mögen sich die aktuellen Eigenschaften menschlicher Embryonen nicht dafür eignen, ein Tötungsverbot zu begründen; aber seine erwartbaren künftigen Eigenschaften sind genau die, auf denen das allgemeine Menschenrecht auf Leben moralisch gründet. Diese Chance der Zukunft, gewissermaßen sein status potentialis, darf ihm daher nicht genommen, sein Leben also nicht zerstört werden. Über dieses Argument ist viel gestritten worden. Auch diese Diskussion kann ich hier nicht referieren. Was sie deutlich gemacht hat, scheint mir jedenfalls dies: Der apostrophierte status potentialis allein kann ein Tötungsverbot nicht begründen. Vor allem läßt er keine vernünftige Abgrenzung zu anderen Trägern eines Potentials zur künftigen Menschenexistenz zu: zur Ei- und zur Samenzelle. Ihr Potential zur Person-Entwicklung kann dem eines Embryos vollständig gleichkommen und begründet nach vermutlich allseits geteilter moralischer Überzeugung dennoch keinen ethischen Anspruch auf Lebensschutz. Auch das läßt sich leicht veranschaulichen. In deutschen Reproduktionskliniken lagern derzeit, glaubt man Expertenschätzungen, nur rund 30 bis 60 kryokonservierte Embryonen. Dagegen gibt es dort etwa hunderttausend tiefgefrorene sogenannte Vorkerne oder Pronuklei: Eizellen, in die während einer In-vitro-Fertilisierung ein Spermium bereits eingedrungen ist, deren Befruchtung damit bereits begonnen hat, aber noch nicht zum Abschluß gekommen ist, da wohl die beiden Gameten als ganze, nicht aber ihre Zellkerne, also ihre Chromosomensätze, miteinander fusioniert sind. Daher ist biologisch wie nach der Definition von § 8 Abs. 1 ESchG noch kein neuer Embryo entstanden. Das Potential dieser Pronuklei entspricht aber gleichwohl, wie unschwer zu sehen ist, genau dem eines Embryos. Denn nach dem Eindringen des Spermiums in die Eizelle ist der kurzzeitige Vorgang bis zur Fusion der Kerne vollständig naturkausal determiniert. Der Unterschied beider Potentiale besteht allein in einem knappen Zeitvorsprung des einen vor dem anderen, nicht in einer unterschiedlichen Stärke ihrer Entwicklungschancen. Diese Pronuklei wird man in absehbarer Zeit zu Zehntausenden wegwerfen, „entsorgen". Protest von irgendeiner Seite ist nicht zu erwarten. Schließlich geht es nicht um Embryonen. Das ist gewiß wahr doch geht es sehr wohl um „Personen-Potentiale" gleicher Provenienz und Stärke. Nun wird man vielleicht einwenden: Aber Ei- und Samenzelle, selbst in ihrer schon vollzogenen Verbindung, sind doch etwas ganz anderes als der Embryo, nämlich als menschliche Wesen noch nicht biologisch individualisiert und daher für sich allein genommen überhaupt nicht zur Entwicklung fähig! Und meine Antwort darauf lautet: Ganz genau. Aber der Einwand zeigt deutlich, worum das Potentialitätsargument ergänzt werden muß, damit es die ihm zugewiesene Beweislast tragen kann: nämlich um irgendein weiteres Argument, das auf die bereits feststehende menschliche Individualität des Embryos verweist. Nun bietet sich dafür natürlich die genetische Individualität an, die ja auch beim frühesten Embryo bereits definitiv festliegt, und genau sie wird daher auch oft bemüht. Aber

nua, die wir

kennen, verhält sich das ganz genauso. Man dem

-

Ethik der

163

Präimplantationsdiagnostik

die genetische Individualität eines Wesens besagt als solche gar nichts für sein Lebensrecht. Jedes durch geschlechtliche Fortpflanzung entstandene Tier ist ein genetisch singulares, individuelles Lebewesen. Daraus folgt ersichtlich nichts für ein Lebensrecht. Und daß wir es bei menschlichen Embryonen eben außerdem mit Angehörigen der Gattung Homo sapiens zu tun haben, ist, wie wir vorhin bei der Diskussion des Speziesarguments gesehen haben, für ein Tötungsverbot ebenfalls ohne Belang. 5. Nach meiner Erfahrung wird mit dem Individualitätshinweis, der meist mit dem Potentialitätsargument verbunden wird, freilich regelmäßig eine andere Behauptung propagiert, nämlich diese: Schon beim Embryo bestehe eine Identität mit dem geborenen Menschen, der später daraus entstehen kann. Und damit bin ich ersichtlich bei dem letzten unserer vier Einwände gegen die verbrauchende Embryonenforschung. Ist bereits der Embryo, so könnte man das Argument ausbuchstabieren, mit dem geborenen Menschen, der später aus ihm werden kann, in der entscheidenden Hinsicht identisch, dann muß schon aus Gründen der Logik das spätere zweifelsfreie Tötungsverbot auch auf den Embryo ausgedehnt werden. a) Das Problem dieses Arguments besteht in der Frage, welches denn die entscheidende Hinsicht ist, in der bereits der Embryo identisch ist mit dem geborenen Menschen, der aus ihm werden kann. Denn die einzige Identitätsbeziehung, die sich hier finden läßt, besteht wieder ausschließlich in der Identität der DNA, des genetischen Programms. Wenn aber dieses als rein biologisches Faktum, wie wir bereits beim Speziesargument gesehen haben, keine normative Grundlage für ein Lebensrecht darstellen kann, dann natürlich und a fortiori auch nicht der Umstand, daß es mit sich über die vergehende Zeit hinweg identisch bleibt. Daher kommen nur und genau diejenigen Eigenschaften als Lebensrechtsgrundlage in Betracht, die in der späteren Entwicklung des Menschen zweifelsfrei sein subjektives Überlebensinteresse begründen und damit das normative Fundament seines Rechts auf Leben bilden.17 Frühestens dann, wenn sich diese Eigenschaften in ersten Ansätzen zu entwickeln beginnen, kann eine normativ relevante Identität zwischen diesem und einem späteren Stadium der menschlichen Entwicklung sinnvoll behauptet werden. Worin immer nun diese identitätsstiftenden Eigenschaften genau bestehen, von welchem organischen Substrat, etwa der Gehirnentwicklung, sie abhängen und wann immer sie rudimentär vorhanden sein mögen:18 was sie jedenfalls voraussetzen, ist ein Minimum an mentaler Aktivität. Und dieses Kriterium erfüllt der frühe Embryo ganz zweifellos und unbestritten nicht. b) Wer dennoch zweifelt, der sei wieder zu einem Gedankenexperiment eingeladen, einem Szenario, das nicht das Geringste mit Science fiction zu tun hat, sondern ganz realistisch denk- und machbar, ja in seiner einleitenden Handlung sogar Teil jeder normalen Präimplantationsdiagnostik ist. Sehen wir uns das wieder im Bild an

(Abb. 4): 17

18

Eine mögliche Zuschreibung per „Normschutz"-Erwägung dürfen wir siehe dazu noch einmal oben im Text. Eingehend dazu Merkel, Früheuthanasie, 49Iff.

nun

vernachlässigen;

164

Reinhard Merkel

SCHEMADARSTELLUNG EINES EMBRYOS IM VIERZELLSTADIUM

(AUSGANGSZUSTAND)

„Totipotenz" der vier Blastomeren bedeutet: Jede von ihnen ist, wenn und sobald sie aus dem Zellverbund herausgelöst wird, selbst ein individueller, vollständiger und normal entwicklungsfähiger Embryo. Hier haben wir einen frühen, vierzelligen Embryo, etwa zu der Zeit, in der eine PGD sinnvoll, aber nach deutschem Recht strafbar ist. Nun geschieht folgendes (Abb. 5):

DERSELBE EMBRYO 3 MINUTEN SPÄTER NACH ABLÖSEN DER ZELLE

(ZWISCHENZUSTAND

3)

Blastomere Nr. 3 wird mittels einer Pipette aus dem Zellverbund herausgelöst. Das führt zur Existenz zweier Embryonen.

Ethik der

165

Präimplantationsdiagnostik

Genau das wird bei einer normalen PGD gemacht. Auf natürlichem Wege entstehen durch solche Zellablösungen im Totipotenzstadium übrigens eineiige Zwillinge. Und nun, so wollen wir annehmen, verwendet unser Reproduktionsmediziner die entnommene Zelle nicht zur PGD, sondern tut das folgende (Abb. 6):

DERSELBE EMBRYO, WEITERE 3 MINUTEN SPÄTER DER ZELLE 3)

(ENDZUSTAND NACH WIEDEREINFÜGEN

Identisch mit

Ausgangszustand! Anschließend Implantation und normale Entwicklung des Embryos zu einem gesunden Kind. Er steckt die Zelle einfach in den Verbund der drei anderen zurück, stellt also genau den Ausgangszustand wieder her. Wir haben nun wieder und nur den Ausgangsembryo vor uns, und zwar in genau demselben Zustand, in dem er vorher war, in dem er also auch wäre, wenn diese Sechs-Minuten-Episode nicht stattgefunden hätte. Und dieser Embryo wird nun implantiert und entwickelt sich, so wollen wir annehmen, zu einem gesunden

Baby.

Ist hier etwas Verwerfliches passiert? Intuitiv möchte man wohl sagen: Nein, was soll denn passiert sein?19 Der Embryo ist genau derselbe geblieben, und das aus ihm entstandene gesunde Kind ist ebenfalls genau das, das ohne das fünfminütige Zwischenspiel entstanden wäre. Und genau diese unbefangene, meinetwegen naive Position würde ich für die ethisch richtige halten. Die Normen des ESchG besagen freilich etwas ganz anderes, und jede Ethik des individuellen Grundrechtsschutzes bereits frühester Embryonen muß dies ebenfalls, nämlich ungefähr folgendes: „Nichts Verwerfliches? Hier sind drei gravierende Delikte begangen worden! Erstens wurde ein Embryo zu einem nicht seiner Erhaltung dienenden 19

Von dem etwas frivolen und möglicherweise riskanten Intermezzo des Reproduktionsmediziners abgesehen, das durchaus tadelnswert sein mag, aber nicht sub specie Tötungsverbot.

166

Reinhard Merkel

Zweck, nämlich dem seiner Teilung, mißbraucht. Zweitens und schlimmer wurde dadurch ein Embryo geklont; denn die beiden so entstandenen Embryonen waren genetisch identisch. Und schließlich, drittens, wurde durch die vermeintliche Wiedergutmachungshandlung des Zurücksteckens das schwerste Unrecht begangen. Denn dadurch wurde ein Embryo vernichtet, also ein menschliches Wesen vorsätzlich getötet. Schließlich waren im Zwischenstadium nach der Ablösung von Blastomere 3 ganz offensichtlich zwei Embryonen vorhanden, im Endstadium nach der Wiedereinfügung nur noch einer. Also ist einer vernichtet worden nicht anders, als wenn man von zwei eineiigen Zwillingen einen getötet hätte. Genau das waren schließlich die beiden Embryonen: eineiige Zwillinge ungeborene. Einer davon ist zum Verschwinden gebracht, also getötet worden." Wer sich nun am Rande des Absurden wähnt, hat durchaus recht. Und die Irritation läßt sich mit der Überlegung steigern, daß wir hier die wohl singuläre Form einer Tötung vor uns haben, die nichts Totes hinterläßt. Was das Beispiel in Wahrheit deutlich macht, ist unsere obige These: Es hat im Frühstadium der zellulären Totipotenz des Embryos noch keinerlei Sinn, von einer normativ auch nur irgendwie relevanten Identität des Embryos mit der Person, die aus ihm werden kann, zu sprechen. Noch nicht einmal seine numerische Identität mit dieser Person steht ja fest. Eine für die Zuschreibung von Rechten bedeutsame Identitätsbeziehung kann jedenfalls erst lange nach jener Frühphase des Embryos entstehen. c) Wer mir darin zustimmen kann, dem mag sich nun der folgende Gedanke aufdrängen: Hätte der Genetiker meines Beispiels nun die Blastomere 3 nicht zurückgesteckt, sondern in einer Biopsie für eine genetische Diagnostik verbraucht, dann hätten sich die verbliebenen drei Zellen selbstverständlich ebenfalls zu ganz genau demselben Kind entwickelt, das aus dem Vierzellembryo entstanden ist. Was wäre dann in diesem Fall eigentlich Verwerfliches geschehen? 6. Ein Verstoß gegen das Tötungsverbot jedenfalls nicht; das hat unsere bisherige Analyse gezeigt. Aber vielleicht einer gegen die Menschenwürde des Embryos. Denn direkter, handgreiflicher zu einem „bloßen Mittel" für fremde Zwecke gemacht werden kann man wohl nicht, als es mit der für eine Biopsie verbrauchten Zelle geschieht, die ja ihrerseits selbst ein Embryo ist. Es geht also jetzt nicht mehr nur um dessen Tötung, sondern um seine darin begründete vollständige Funktionalisierung für die Zwecke anderer. Ich habe am Anfang darauf hingewiesen, daß entgegen der Auffassung Kants in Notstandsfallen gewisse selbst vollständige Zwangsfunktionalisierungen eines anderen zu fremden Zwecken gerechtfertigt sein können. Aber seine Tötung gehört keinesfalls dazu. Daran ist ethisch wie rechtlich nicht zu rütteln.20 a) Zur genaueren Prüfung dieses Arguments empfiehlt es sich, verschiedene Versionen des Menschenwürdeprinzips zu unterscheiden (Abb. 7). Diese Unterscheidung ist übrigens alt; sie war sachlich durchaus schon dem Denken der Scholastik geläufig. Die Behauptung der Menschenwürde im Sinne eines individuellen subjektiven Grundrechts bereits beim frühen Embryo ist unbegründbar. Sie scheitert an genau denselben -

-

20

Notstandsdogmatik zu § 34 StGB unbestritten. Die Gründe dafür mögen hier offenbleiben; irgendein kantianisches Element setzen sie nicht voraus. Auch in der

Ethik der

167

Präimplantationsdiagnostik

Überlegungen, die eine Erstreckung des Tötungsverbots auf ihn ausschließen. lei Hinsicht ist

er

subjektiv nicht verletzungs-,

nicht interessens- und damit nicht

rechtsfähig. Was

In beider-

dagegen den „speziestypischen" Menschenwürdebegriff angeht,

so

genuin

schließt

er

die

Art, wie wir mit Embryonen umgehen, ganz gewiß mit ein. Aber dieser speziesbezogene Menschenwürdebegriff ist nicht der, den Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes meint, der nach

Wertentscheidung der Verfassung kategorisch gilt und

der

ZWEI VERSIONEN DES PRINZIPS DER MENSCHENWÜRDE

der nach der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts ein echtes subjektives Grundrecht ist. Mit dem Kantischen Instruindividuelle „speziestypische" mentalisierungsverbot hat jener Menschenwürde: Menschenwürde: zweite Begriff nichts zu tun. auf die Menschauf den einzelnen Die von ihm bezeichnete Norm heit als Gattung schützt nicht fundamentale als Subjekt Rechte des einzelnen, sondern bezogen bezogen lediglich ein normativ-symbolisches Bild der Menschheit von sich selbst, in aller Unscharfe und Wandelbarkeit, fundamentales die einem solchen Bild im Schutzinteresse Wechsel der Zeiten und Kultusubjektives am „Bild des Grundrecht ren notwendig anhaften. Diese Menschen" des einzelnen gattungsbezogene Menschenwürde bezeichnet ersichtlich eine die Interessen der Gesamtheit schützende Norm.21 Daher kann sie sehr wohl mit anderen schließt schließt kollektiven Interessen abgewoArt des Umgangs frühen Embryo gen und im Ergebnis vielfältimit dem frühen als Rechtssubjekt gen Einschränkungen und Veränderungen unterworfen wernicht ein Embryo ein den, und sie wird es ja auch in zahllosen Zusammenhängen. Als etwa vor zwei Jahrzehnten die Technik der In-vitro-Fertilisation eingeführt wurde, sahen viele Skeptiker unser Menschheitsbild, eben jenen Würdebegriff im speziesbezogenen Sinne, bedroht. Heute leben viele Millionen in vitro gezeugter Kinder. Wer würde sie im Ernst als Anschlag auf unsere kollektive Würde empfinden? b) Auch hier liegt nun das Ergebnis meiner Überlegungen auf der Hand: Die Präimplantationsdiagnostik ist ja kein Selbstzweck; sie dient hochrangigen und schutz-

t

t

objektives

i

21

Sie

gehört

t

daher dem Bereich des oben

apostrophierten Prinzips

des Normenschutzes

zu.

168

Reinhard Merkel

Interessen. Daraufkomme ich gleich zurück. Die Behauptung, daß ein solches Verfahren das normative Bild der Menschheit von sich selbst, ihre symbolische Würde als Gattung antasten könnte, erscheint mir gänzlich abwegig. 7. Mein Resümee fällt nun knapp aus: Im Hinblick auf schützenswerte Belange des Embryos läßt sich kein Argument finden, das ein subjektives Recht des Embryos auf Leben und Menschenwürde begründen könnte. Was bleibt, ist ein objektiver Solidaritätsschutz relativ geringen Gewichts. Ich habe keinen Zweifel, daß der ethisch ganz gewiß gebilligte Wunsch prospektiver Eltern nach einem gesunden Kind unsere Solidaritätspflicht gegenüber frühen Embryonen deutlich überwiegt. Für das Verbot der Präimplantationsdiagnostik gibt es kein normatives Fundament. Das gilt sowohl für den diagnostischen Vorgang der Zellbiopsie als auch für die sich daran etwa anschließende Verwerfung des genetisch kranken Embryos. III. Selbst wer mir bis hierhin zustimmt, mag nun vielleicht folgendes einwenden: „Sind die Ziele der PGD wirklich ethisch beglaubigt und schützenswert? Und ist es ihre Methode? Ist das Bestreben, Erbkrankheiten zu verhindern, nicht eine Form der Eugenik? Und diskriminiert die Methode der pränatalen Selektion kranker Embryonen nicht geborene Menschen, die mit solchen Krankheiten leben, in der radikalsten Form, die denkbar ist: indem sie ihr Leben mit dem Akt der Verwerfung jener Embryonen für nicht lebenswert erklärt?" Damit bin ich ersichtlich bei der zweiten meiner vorhin (und in Abb. 2) skizzierten Grundsatzperspektiven, in denen die Kritik an der PGD formulierbar ist: dem Blick auf schützenswerte Belange der Allgemeinheit oder jedenfalls eines Teils davon: der genetisch kranken Menschen. 1. Ich beginne mit dem Einwand der „Eugenik". Wer diesen Begriff in seiner populären, sagen wir medientauglichen Diskreditierungsform verwendet: vage, undeutlich, stigmatisierend, belastet mit finsteren Reminiszenzen an die Verbrechen der Nazis, der tut mehr als unrecht, ihn auf die PGD anzuwenden. Daß eine von Staats wegen betriebene Zwangssterilisierung, daß die massenhafte Ermordung „rassisch" oder genetisch zu Minderwertigen gestempelter Menschen ein schweres und noch für das Schamgefühl der Nachwelt schwer erträgliches Verbrechen ist das steht so gänzlich außer Zweifel wie der Umstand, daß es mit der Präimplantationsdiagnostik nicht das geringste zu tun hat. Mehr ist dazu eigentlich nicht zu sagen. Wer dagegen den Begriff der Eugenik von den Konnotationen einer offensichtlich verbrecherischen staatlichen Politik befreien und einfach jede Einzelentscheidung so nennen will, die pränatal auf die Vermeidung der Geburt eines genetisch kranken Kindes zielt, der müßte für jeden denkbaren Falltypus einer solchen Vermeidung zeigen, was daran verwerflich wäre. Ist es verwerflich, einer kettenrauchenden Frau, die eine Schwangerschaft plant, das Aufgeben des Rauchens zu empfehlen, weil sonst das Kind geschädigt werde? Ist es verwerflich, die Abschaltung strahlender Kernkraftwerke zu fordern, weil in ihrer Umgebung signifikant mehr genetisch kranke Kinder geboren werden? Ist es verwerflich, wenn eine Schwangere im ersten Schwangerschaftsdrittel abtreibt, weil ihr Embryo genetisch geschädigt ist, während es nicht verwerflich wäre, wenn sie dies aus Gründen ihrer Berufsplanung täte?

würdigen

-

Ethik der

Präimplantationsdiagnostik

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Sämtliche Antworten lauten: nein. Betrachtet man das jeweilige Ziel „Vermeidung der Geburt eines erbkranken Kindes" für sich allein, so ist daran nichts zu tadeln. Das ist evident, und es wird von meinem Raucherbeispiel nur verdeutlicht. Sind dann die dafür eingesetzten Mittel moralisch ebenfalls bedenkenfrei (was natürlich im Fall der Abtreibung viele bestreiten, aber ich auf dem Boden der hier entwickelten Argumente nicht), dann gibt es keine Einwände gegen ein solches Verhalten. Es trotzdem „eugenisch" zu nennen, kann gewiß niemandem verboten werden. Nur verschlägt die bloße Etikettierung nichts mehr für den Vorwurf, den sie offenbar begründen soll. 2. Das gilt gleichermaßen für den ebenfalls desavouierend gemeinten Begriff der „Selektion", die mit jeder Pränataldiagnostik jedenfalls als Möglichkeit verbunden ist. Wenn aber sowohl das Ziel der Selektion als auch das Mittel zu seiner Herbeiführung moralisch zulässig ist, dann kann die entsprechende Handlung, wie immer man sie nennen mag, nicht moralisch unzulässig sein. Wer das nicht akzeptieren will, möge folgendes Beispiel erwägen: Eine Frau, die in einem bestimmten Monat schwanger werden will, geht kurz vor den entsprechend geeigneten Tagen zum Arzt, um sich untersuchen zu lassen, und erfährt, daß sie an einer Rötelninfektion erkrankt ist und ihr Kind, wenn sie jetzt schwanger würde, höchstwahrscheinlich schwer behindert zur Welt käme. Daraufhin beschließt sie, die Einleitung der Schwangerschaft bis nach ihrer Genesung zu verschieben, und wird erst zwei Monate später schwanger. Was wäre an diesem Verhalten verwerflich? Die Frau hat ihr Ziel, die Geburt eines schwerbehinderten Kindes zu vermeiden, mit einem moralisch zulässigen Mittel erreicht. Aber dieses Mittel, und darauf kommt es mir hier an, war selbstverständlich das einer Selektion. Sie hat nicht etwa zwischen zwei verschiedenen Zuständen eines und desselben Kindes gewählt einmal krank, einmal gesund -, sondern sie hat zwischen zwei verschiedenen Kindern gewählt, selektiert: einem kranken und einem gesunden. Denn die zwei Monate später eingeleitete Schwangerschaft hat, da sie zur Fertilisierung einer ganz anderen Eizelle mit einem ganz anderen Spermium geführt hat, als es acht Wochen früher der Fall gewesen wäre, natürlich zur Geburt eines genetisch ganz anderen Kindes geführt. Gewiß ist der Unterschied zwischen einer Selektion vor und einer nach der Zeugung offensichtlich: Im letzteren Fall, also z. B. dem der PGD, existiert ja immerhin bereits ein menschliches Wesen, das dann vernichtet wird, im ersteren dagegen nicht. Aber dieser Unterschied ist allein einer der jeweiligen Ausführungshandlungen: Selektionsmo/iV und die Wahl zwischen den vorhandenen Alternativen selbst sind in beiden Fällen vollständig gleich. Wenn also beide Handlungen, die Nichtzeugung wie die Nichtimplantierung eines Embryos, gleichermaßen moralisch zulässig sind, dann bleibt in beiden Fällen genau die gleiche Selektionsentscheidung übrig; und ist sie im Röteln-Fall zulässig, dann auch in dem der PGD. Sowenig wie die Kennzeichnung als „Eugenik" kann daher die als „Selektion" einen moralischen Vorwurf gegen die PGD begründen. 3. Die Kritik reicht freilich weiter: in den Bereich der sozialen Folgen, die man bei einer Zulassung der PGD befürchtet. Das Stichwort lautet: Diskriminierung Behinderter. Dahinter stecken zwei Vorwürfe: Es müsse, erstens, die ohnehin ressentimentgeladene Einstellung der Bevölkerung gegenüber Behinderten weiter verschlechtern, wenn es eine -

-

-

170

Reinhard Merkel

Praxis zur Vermeidung solcher Behinderungen gebe. Und zweitens bedeute diese Praxis selbst eine unmittelbare und schwere Kränkung aller Behinderten. a) Der erste Vorwurf ist schon empirisch wenig überzeugend. Als vor Jahrzehnten die allgemeine Schutzimpfung gegen Kinderlähmung eingeführt wurde, hat das keineswegs zu einer negativen Veränderung der Einstellung gegenüber Menschen geführt, die zuvor an Polio erkrankt waren; eher das Gegenteil war der Fall.22 Aber selbst wenn ein solcher Negativeinfluß der PGD auf die Einstellung der Mehrheit der Gesellschaft gegenüber Behinderten feststellbar würde, so ließe sich damit allein ein Verbot der PGD noch nicht begründen. Denn eine Gesellschaftsmehrheit, die aus einem solchen Grund ihre Einstellung zu Behinderten negativ veränderte, verhielte sich in hohem Grade schäbig und verwerflich. Dagegen wäre deshalb vorzugehen, nicht gegen einen äußeren Anlaß, der als solcher moralisch legitim ist und für einen solchen Einstellungswandel nicht die geringste Rechtfertigung abgibt. Ein illegitimes Verhalten, das als Reaktion auf eine legitime Praxis auftritt, kann nicht diese Praxis, sondern immer nur sich selbst desavouieren. Wäre tatsächlich eine durch die Praxis der PGD nachweislich verursachte Verschlechterung des „gesellschaftlichen Klimas" für Behinderte nicht anders zu beheben, so käme im übrigen selbstverständlich ein erneutes Verbot der PGD in Frage; unter diesen Voraussetzungen wäre im demokratischen Staat des Grundgesetzes die Durchsetzung eines solchen Verbots schwerlich ein Problem. b) Es bleibt der Vorwurf der Kränkung Behinderter. Er dürfte jedenfalls empirisch in einem gewissen Grade zutreffen. Denn genau mit ihm protestieren Behindertenverbände seit langem gegen eine Zulassung der PGD. Dennoch läßt sich damit sowenig wie mit den bisher diskutierten Erwägungen das Verbot der PGD plausibel machen. Denn dieses Empfinden der Kränkung beruht auf einem fundamentalen Mißverständnis. Wer genetische Defekte oder Behinderungen im Vergleich zu einem Zustand der Gesundheit für etwas Schlechteres und daher Bekämpfenswertes hält, der hält damit selbstverständlich nicht Menschen mit Behinderungen für etwas Schlechteres als Gesunde, oder gar für etwas Bekämpfenswertes. Das wird schon daran deutlich, daß die allermeisten Behinderten selbst ganz gewiß lieber gesund als behindert wären, sich selbst deshalb aber keineswegs in irgendeinem Sinne für weniger wertvoll halten als Gesunde, und das vollkommen zu Recht. Zu sagen, es wäre besser, wenn es keine Behinderungen gäbe, heißt selbstverständlich nicht, es wäre besser, wenn Frau X oder Herr Y, die behindert sind, nicht leben würden, sondern: Es wäre besser, wenn sie nicht behindert wären.23 Und vermutlich sehen Frau X und Herr Y das ganz genauso. Nicht von ungefähr wird die PGD in den Ländern, in denen sie zulässig ist, auch und gerade von genetisch kranken Menschen in Anspruch genommen, die verhindern wollen, ein Kind mit ihrer eigenen Erbkrankheit zu bekommen. Es mutet mehr als seltsam an, das als Kränkung, als Herabsetzung ihrer selbst zu

gesellschaftlich organisierte

22

23

Beispiel nach Günther Patzig, Ethische Probleme der Gentechnologie: Pränataldiagnostik und Postnataldiagnostik, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II, Göttingen 1993, 128-143, hier 133. Auch dieses

Beispiel

im Anschluß

an

Patzig: ebenda,

134.

Ethik der

171

Präimplantationsdiagnostik

deuten oder gar als Ausdruck ihrer Überzeugung, daß ein Leben mit ihren eigenen Schädigungen nicht lebenswert sei. Es ist daher nicht im geringsten widersprüchlich, einerseits die PGD und die Verwerfung genetisch kranker Embryonen für zulässig zu halten und andererseits mit Nachdruck auf dem selbstverständlichen Anspruch aller geborenen Behinderten zu bestehen, als rechtlich und moralisch Gleiche mit genau derselben Achtung wie alle anderen behandelt zu werden. Was eine solche Haltung vollkommen konsistent macht, ist der moralisch fundamentale Statusunterschied zwischen dem frühen Embryo und dem geborenen Menschen. Das und diesen habe ich zu zeigen versucht. Das bloße Faktum, daß sich gleichwohl viele Behinderte durch die PGD gekränkt fühlen, kann daher keinen prinzipiellen Einwand gegen die PGD begründen. Was hier zu tun wäre, ist etwas anderes: die behutsame wechselseitige Aufklärung und der gemeinsame Kampf gegen jede Form der sozialen Benachteiligung Behinderter. Das ist ein wichtiges, aber ein anderes Thema. -

C.

Stammzellforschung

Die Grundlagenargumente der Diskussion um die Stammzellforschung decken sich nahezu vollständig mit denen, die ich zur PGD erörtert habe. Freilich gibt es hier einen zusätzlichen Aspekt; und zu ihm will ich auch eine zusätzliche These vortragen und begründen. Diese schlägt dann gewissermaßen von selbst einen Bogen zu meinem letzten Problem: dem des sogenannten therapeutischen Klonens. Auch dazu will ich ein Postulat formulieren, das sich an jene These anschließen wird. Embryonale Stammzellen sind funktional noch unspezialisierte Zellen in einem frühen Stadium der Entwicklung. Unter bestimmten biologischen Bedingungen können sie sich teilen und in verschiedene Zelltypen des Organismus ausdifferenzieren, also die verschiedenen Gewebe ganz unterschiedlicher Organe des Körpers produzieren. Genau das geschieht auch im Prozeß der natürlichen Entwicklung eines Embryos. Diese Stammzellen haben außerdem die nahezu unbegrenzte Fähigkeit der Selbsterneuerung und der Proliferation durch Teilung. Um sie dazu künstlich anzuregen, muß zunächst ihre funktionale Weiterdifferenzierung blockiert und dann ihre rein quantitative Vermehrung als nach wie vor eben unspezialisierte Zellen induziert werden. Dieses Verfahren wurde vor knapp drei Jahren erstmals auch bei menschlichen Stammzellen als beherrschbar demonstriert.24 Es bedeutet, daß aus einer kleinen Zahl embryonaler Stammzellen große Stammzellmassen produziert werden können, die dann für die jeweils gewünschte klinische Anwendung ausreichen. Schon heute gibt es dafür eine Reihe therapeutischer Möglichkeiten, die man vor wenigen Jahren als utopisch angesehen hat; andere stehen unmittelbar vor ihrer Erprobung. Auch die fernere Perspektive dieser Forschung liegt auf der Hand: irgendwann in abseh24

James A. Thomson u.a., Embryonic Stem Cell Lines Derived from Human Science 282 (1998), 1145-1147.

Blastocysts, in:

172

Reinhard Merkel

barer Zukunft Zellmaterial zum Zweck einer rekonstruierenden „Reparatur" für jedes kranke Organ des Körpers aus Stammzellen im Labor züchten und anschließend implantieren zu können, also auch und gerade für solche Organe, deren zelluläres Absterben mit allen Morbiditätsfolgen bislang als irreversibel galt, wie etwa das Gehirn und das zentrale Nervensystem. Einige die ser

therapeutischen Möglich

keiten habe ich in einem Schaubild zusammengestellt

(Abb. 8). Es gibt allerdings

verschiedene Arten menschlicher Stammzellen. Sie sind unterschiedlicher physiologischer Herkunft, haben unterschiedliche Fähigkeiten der Differenzierung und der Proliferation und eröffnen daher unterschiedliche therapeutische Perspektiven (Abb. 9, auf der gegenüber-

liegenden Seite). Die sowohl therapeutisch am meisten versprechenden als auch für die weitere Forschung und Entwicklung offenbar unbedingt erforderlichen, nämlich

die funktional mit Abstand vielseitigsten, sind die aus frühen Embryonen gewonnenen Stammzellen.25 Als 1998 dem amerikanischen Genetikerteam

EINIGE BEISPIELE

(REALISTISCHER)

THERAPEUTISCHER MÖGLICHKEITEN DER STAMMZELLVERWENDUNG BEREITS IN NÄHERER ZUKUNFT Ersatz zerstörter Gehirnzellen bei Parkinsonund Alzheimer-Erkrankung => Therapie der multiplen Sklerose => Heilung von Querschnittslähmungen durch Reparatur des zerstörten Rückenmarkgewebes => Herstellung und Implantierung insulinproduzierender Zellen bei Diabetes-Erkrankungen => Erneuerung zerstörter Herzmuskelzellen (z. B. nach schweren Herzinfarkten) Erneuerung zerstörter Leberzellen nach Hepatitis-Erkrankungen oder in Fällen *=>

von

"=>

i ;

Leberzirrhose

Erneuerung der Osteoporose

Knochenzellen in Fällen

erst in fernerer

zukunft

(wenn

jemals):

überhaupt

von

\ ;

James A. Thomson erstmals => Herstellung vollständiger transplantabler Organe die Isolierung und Kultivierung embryonaler Stammzellen gelang,26 wurde in den zuständigen wissenschaftlichen Kreisen von der vielleicht bedeutendsten medizinischen Entwicklung des 20. Jahrhunderts gesprochen.

um

Das wird, vor allem in der öffentlichen (Laien-)Diskussion und vornehmlich von Gegnern der embryonalen Stammzellforschung mit dem Hinweis auf Entwicklungen in der Forschung an adulten Stammzellen bestritten. Es ist aber, soweit ich sehen kann, nach wie vor die ganz überwiegende Auffassung der zuständigen molekularbiologischen Experten; vgl. dazu neuestens die amerikanischen National Institutes of Health, Report „Stem Cells: Scientific Progress and Future Research Directions", Juni 2001: www.nih.gov/news/stemcell/scireport.htm. 26 Siehe Thomson u.a., Embryonic Stem Cell Lines.

25

173

Präimplantationsdiagnostik

Ethik der

Stammzellen werden dem Embryo im sogenannten Blastozytenstadium entnommen. Das ist der etwa fünf bis sechs Tage nach der Befruchtung erreichte Entwicklungszustand; in ihm hat der Embryo zwischen 100 und 150 Zellen. In diesem Stadium sind Stammzellen (wie alle anderen Embryonalzellen) nicht mehr totipotent, also keine individuellen Embryonen, wenn sie isoliert werden. Dem Schutz des

STAMMZELLEN: heute bereits

MÖGLICHE QUELLEN

möglich:

:

Keimzellen ab-

aus bestimmten adulten Geweben

aus

getriebener Feten aus

künftig vielleicht:

frühen

I

Embryonen (150- bis

aus

„repro-

grammierten

200-

"

erwachsenen

Zellstadium)

(„adulten") Stammzellen)

ESchG unterfallen sie daher nicht selbst. Doch stirbt nach der Stammzellentnahme der restliche Embryo ab. Daher verbietet § 2 des ESchG auch die Gewinnung embryonaler Stammzellen zu Forschungsoder Therapiezwecken strikt. Daß sich dieses Verbot nicht

begründen läßt, folgt aus sämtlichen Argumenten, die ich vorhin zur Frage eines Lebensrechts und eines Menschenwürdeanspruchs des Embryos erörtert habe. Und Befürchtungen schädlicher sozialer Folgen, wie sie gegen die Präim-

plantationsdiagnostik über-

zählige Embryonen

eigens Ver-

zum

aus

brauch für Stammzellen

In-vitroFertilisation

hergestellte Embryonen

durch Kerntransfer aus

Körperzellen der Empfängeklonte Embryonen

ger

vorge-

bracht werden, entfallen hier gänzlich.27 Jedenfalls vermag ich nicht zu sehen, wie sich etwa Behinderte durch die Stammzellforschung in ihrem Achtungsanspruch verletzt fühlen könnten. Im Gegenteil: Die

Stammzellforschung verspricht

schon in näherer Zukunft für von bislang nicht vorstellheute Hilfen lebenden Behinderten viele der therapeutische barem Ausmaß. Das ethische Gebot zur möglichen Entwicklung solcher und vielerlei 27

Beurteilung mußte ich nach meinem Vortrag revidieren. Regine Kollek bringt den folgenden Einwand: Da zur Gewinnung embryonaler Stammzellen In-vitro-Fertilisierungen und dafür Oozyten erforderlich seien, deren Entnahme für die betreffenden Frauen aber belastend sei, müsse die Stammzellforschung selbst dann bei Strafe verboten bleiben, wenn man einen Grundrechtsschutz des einzelnen Embryos verneinen wollte; vgl. dies., Falsche Rechtfertigungen und vernachlässigte Alternativen, in: Die Genkontroverse. Grundpositionen, hrsg. v. Sigrid Graumann, Freiburg i. Brsg. 2001, 148-156, hier 151 f. Das Argument ist der Musterfall einer rechtlich wie ethisch unzulässigen, in ihrer Rigidität nachgerade beklemmenDiese

174

Reinhard Merkel

anderer Hilfen überwiegt die Prima-facie-Pflicht zur Solidarität mit dem frühen Embryo bei weitem. Vor diesem Hintergrund erhält meine bisherige Kritik am ESchG nun schärfere Konturen: Seine Verbote sind nicht etwa nur der unbegründete Ausdruck einer übertriebenen moralischen Strenge. Sie sind ganz im Gegenteil selbst moralisch objektiv verwerflich, wenn dies auch die Motive ihrer Urheber ganz gewiß nicht gewesen sind. Der Vorwurf deutet zunächst auf eine unerfüllte staatliche Hilfspflicht gegenüber schwerkranken Menschen. Aber er reicht darüber hinaus: Der Gesetzgeber verletzt mit seiner Weigerung, die prohibitiven Klammern des Embryonenschutzgesetzes zu lockern, ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit, nämlich seine Pflicht zur Gewährleistung der Bedingungen gesellschaftlicher Chancengleichheit. Zu ihnen zählt nicht zuletzt die medizinische Versorgung; denn sie ist eine wichtige Instanz zur Kompensation der krankheitsbedingten natürlichen Ungleichverteilung von Lebens-, Handlungs- und Erfüllungschancen. Die Entwicklung von Heilverfahren einer Dimension, wie sie die Stammzellforschung erhoffen läßt, ohne überzeugende Gründe zu blockieren erscheint mir daher nicht nur ethisch, sondern auch verfassungsrechtlich illegitim.28

D.

Therapeutisches Klonen

Hoffnungen im Zusammenhang mit der Stammzellforschung richten sich, wie meiknappe Skizze zeigen sollte, auf die irgendwann mögliche Produktion von Körpergeweben in den erforderlichen großen Mengen zur Transplantation. Organtransplantationen werfen stets das Problem der sogenannten Histokompatibilität auf, der Verträglichkeit des Spendergewebes mit dem des Empfängers. Heutige Empfänger einer postmortalen Organspende sind lebenslang auf die Einnahme schwerer Medikamente zur Immunsuppression angewiesen, damit das fremde Organ nicht abgestoßen wird. Diese Medikamente verringern nicht nur die Lebensqualität, sondern vor allem die Lebenserwartung der Betroffenen ganz erheblich. Denn sie erhöhen mit der Ausschaltung der Die ne

den paternalistischen (oder maternalistischen) Argumentation. Daß für jede Eizellenentnahme die Einwilligung der Frau und davor deren gründliche Aufklärung erforderlich wäre, braucht nicht betont zu werden. Angesichts dieser Selbstverständlichkeit allen zur Einwilligung disponierten Frauen das eigene „bessere" Wissen um ihr Wohl und Wehe zwangsrechtlich aufnötigen zu wollen, erfordert schon eine beträchtliche Indolenz, nicht nur gegenüber liberalrechtsstaatlichen Minimalbedingungen übrigens, sondern auch und gerade in frauenpolitischen

Belangen.

28

Betont sei freilich, daß der Gesetzgeber angesichts so hoch umstrittener Probleme wie der Stammzellforschung nicht nur das Recht und die Pflicht zur vorherigen sorgfältigen Klärung, sondern auch nach dieser noch einen weiten Beurteilungsspielraum für eigene Entscheidungen hat. Die gegenwärtig andauernde Weigerung, das ESchG zu ändern, ist daher nicht etwa de lege verfassungswidrig (von der Frage, ob es auf solche Änderungen einen durchsetzbaund wessen geben könnte, einmal abgesehen). Ist aber meine ren Individualanspruch Analyse zutreffend, was ich natürlich annehme, dann stellt der gegenwärtige Rechtszustand allerdings eine Art verfassungsrechtlicher Dissonanz dar. Mehr soll nicht behauptet werden. -

-

Ethik der

175

Präimplantationsdiagnostik

körpereigenen Immunabwehr natürlich die Anfälligkeit für jederlei Infektion und vor allem für Tumorerkrankungen in großem Ausmaß. Dieses Problem wäre gelöst, wenn es gelänge, die Spenderorgane aus gewissermaßen körpereigenem Gewebe zu gewinnen. Mit der Stammzellforschung ist genau diese Lösung in den Bereich des Möglichen gerückt. Freilich müßte man dafür zugleich bereit sein, die Herstellung der Stammzellquellen, nämlich die Produktion der dafür erforderlichen Embryonen, im Verfahren der Klonierung zuzulassen. Warum das so ist, liegt auf der Hand: Wird die durch Klonen verdoppelte DNA aus einer KörperZWEI FORMEN (METHODEN) UND zelle des Organempfängers geZWEI ZWECKE DES KLONENS nommen, so entsteht ein mit

genetisch identischer Embryo. „Züchtet" man aus den ihm

ihm entnommenen Stammzellen dann transplantables Gewebe, dann ist es, wenn man so will, genetisch das eigene des

Empfängers.29

durch Abtrennung

totipotenter embryonaler Zellen

(„Embryonensplitting")

durch Transfer des Zellkerns der DNA) einer (= Körperzelle in eine „entkernte" Eizelle

Damit bin ich bei meinem letzten Punkt. Seit der Klonierung des Schafes Dolly im Frühjahr 1997 wissen wir, daß beides gleichermaßen einsetzbar zu es auch bei höheren Säugern, zu denen bekanntlich der Mensch gehört, zwei ganz unterschiedliche Formen des "\ r Klonens gibt. Damit ist außerFortpflanzungsForschungs- bzw. dem auch eine zweite Zielsetzwecken Therapiezwecken zung des Klonens neben der bekannten und allseits verwor(„therapeutisches („reproduktives fenen der Reproduktion stärKlonen") Klonen") ker ins Bewußtsein getreten: die sogenannte therapeutische, eben zur Gewinnung embryonaler Stammzellen. Sehen wir uns diese beiden Methoden und Ziele des Klonens in ihrem Verhältnis zueinander ebenfalls in einer Übersicht an (Abb. 10). Die an Dolly praktizierte Methode ist bekanntlich die hier rechts eingezeichnete, die des Zellkerntransfers gewesen. Mir geht es aber nur um die Frage der Zulässigkeit des

\ /

\\

-

-

29

Es gibt allerdings inzwischen Anhaltspunkte dafür, daß sich die immunologische Abstoßung auch aus genetisch fremden Embryonen gewonnener Stammzellen durch bestimmte Formen des „genetic engineering" möglicherweise vermeiden läßt; siehe National Institutes of Health, Report „Stem Cells", 17 und passim.

Reinhard Merkel

176

sogenannten therapeutischen Klonens

zur Gewinnung genetisch passender Körpergewebe Organempfänger. Warum ich den anschließenden „Verbrauch" des ggf. geklonten Embryos trotz seiner hierin liegenden vollständigen Instrumentalisierung für die Zwecke anderer für moralisch zulässig halte, habe ich vorhin mit meinen Analysen zur PGD zu begründen versucht. Hier kommen nun aber zwei neue Modi des Umgangs mit Embryonen hinzu, die beide zusätzliche moralische Probleme aufwerfen: (1) die eigens und nur zum Verbrauch erfolgende Herstellung des Embryos (während es bei der PGD immerhin um seine mögliche Implantation und Entwicklung bis zur Geburt geht) und (2) die Form dieser Herstellung selbst, nämlich nicht durch eine künstliche Befruchtung, sondern mittels des

für einen

Klonens. Was die eigens zum Verbrauch bestimmte Herstellung angeht, so ist schwer zu erkennen, wie sie gegenüber einem Verbrauch, der ursprünglich nicht zwingend vorgesehen war, ein moralisches Verwerfungsurteil sollte begründen können. In beiden Fällen wird der Embryo gleichermaßen, nämlich vollständig, als Mittel für fremde Zwecke verbraucht. Ist dies, wie ich zu zeigen versucht habe, ohne Menschenwürdeverstoß bei der PGD zulässig, dann ändert eine vorherige Absicht, die genau auf dieses zulässige Ziel gerichtet ist, nichts an der moralischen Zulässigkeit der Handlung. Selbstverständlich schließt der auch hier relevante gattungsbezogene Menschenwürdebegriff, von dem oben die Rede war, ein Klonen zu frivolen Zwecken aus. Wie immer solche Zwecke genau zu bestimmen wären: das Ziel der Stammzellgewinnung zur Rettung eines Menschenlebens gehört nicht dazu. Was bleibt, ist der Einwand gegen das Verfahren selbst. Wer den verbreiteten Abscheu angesichts der Vorstellung eines geklonten erwachsenen Menschen teilt eine Haltung, die mit Vernunftgründen nicht ganz einfach zu beglaubigen ist30 -, der kann das therapeutische Klonen jedenfalls nicht aus diesem Grund verwerfen. Daß die Methode des Klonens durch Embryonensplitting zum Zweck der PGD nichts Verwerfliches hat, habe ich vorhin mit meinem Beispiel der Entnahme einer totipotenten Blastomere zu zeigen versucht. Daran ändert sich natürlich nichts, wenn man die Blastomere dann nicht für eine genetische Diagnose, sondern zur Entnahme von Stammzellen verwendet. Und was die Klonierung durch Kerntransfer angeht, so ist nun freilich ebenfalls nicht zu sehen, wie allein die Technik der Embryonengewinnung einen moralisch relevanten Unterschied ausmachen könnte. Nimmt man einmal die sozusagen ungefilterten Affekte aus der Debatte heraus,31 dann muß man, scheint mir, einfach das folgende konstatie-

30

31

Was nichts daran ändert, daß wegen des derzeit noch gänzlich unkontrollierbaren Schädigungspotentials des reproduktiven Klonens für den daraus möglicherweise entstehenden geborenen Menschen ein solches Verfahren moralisch nicht akzeptabel ist. Mit der angeblichen Menschenwürdeverletzung, die im Mangel einer genetischen Singularität liegen soll (angesichts weltweit Hunderttausender von eineiigen Zwillingen gewiß eine seltsame Behauptung), hat das freilich nichts zu tun. Die allerdings, auch das sei nicht verkannt, sehr wohl moralische Relevanz haben. Weit verbreitete moralische Einstellungen dürfen, da sie ein durchaus erhebliches Verletzungspotential für viele Menschen darstellen, selbst dann nicht einfach ignoriert und gewissermaßen „über-

Ethik der

177

Präimplantationsdiagnostik

Was hierbei geschieht, ist auf der Ebene mikroskopischer Winzigkeit die Umprogrammierung der DNA einer einzelnen Körperzelle zu einer Stammzelle, und zwar unter Zuhilfenahme einer leeren Eizellhülle und eines bestimmten biologischen Ambientes für diese Zelle. Mehr nicht. Doch: Zwischendrin hat die so reprogrammierte Körperzelle begonnen, sich zu teilen. Sie war ein Embryo geworden. Länger als fünf Tage war für diesen eine weitere Teilung von Anfang an nicht vorgesehen. Dann werden ihm die Stammzellen entnommen. Was daran verwerflich wäre, vermag ich nach allem bislang Erörterten nicht mehr zu erkennen. ren:

E. Schluß Damit bin ich am Ende meiner Überlegungen. Ich weiß, daß diese Ausführungen das von unseren Medien imprägnierte und von genaueren Erwägungen der einschlägigen Argumente noch nicht gewarnte Empfinden irritieren, ja empören können. Das nehme ich hin. Der Irrtum solcher Anmutungen scheint mir darin zu liegen, daß die im Spiel unserer Probleme befindlichen Begriffe Embryo, Verbrauchen, Selektion, Klonieren intuitiv auf geborene Menschen projiziert werden. Das ist verständlich, aber nicht richtig. Wer sich diese Vorgänge, die ja nur unter dem Mikroskop sichtbar sind, einmal tatsächlich so betrachten würde, wäre vielleicht eher bereit, über Argumente nachzudenken, die dem frühen Embryo subjektive Menschenrechte noch nicht zuerkennen wollen. Eine Gesellschaft, die klaglos jedes Jahr über 200 000 Abtreibungen erheblich weiter entwickelter Embryonen toleriert, sollte dazu eigentlich in der Lage sein. Der australische Medizinethiker Julian Savulescu schrieb vor zwei Jahren zur Frage des therapeutischen Klonens: „Während wir uns an die Brust klopfen und stolz auf unsere Verteidigung der Menschenwürde und der Rechte von Zellen jedweder Art sind, sterben Menschen an Leukämie oder terminalem Nierenversagen, die vielleicht zu retten -

-

gewesen wären.

fahren" werden, wenn sie einer genaueren ethischen Überprüfung nicht standhalten. Die Frage, wie dieses Potential gegen die Gebote einer besseren moralischen Einsicht abwägbar ist, ist nicht leicht zu beantworten. Ethisch wie politisch ist jedenfalls zunächst eine intensive Aufklärung geboten. Danach wird man allerdings, wie zuvor Grenzen der Zumutbarkeit, solche der Freiheit von Zumutungen ziehen dürfen und müssen. 32 Julian Savulescu, Should we clone human beings? Cloning as a source of tissue for transplantation, in: Journal of Medical Ethics 25 (1999), 87-96, hier 94.

Dieter Birnbacher

Politik zwischen nationaler ethischer Kultur und internationaler Freizügigkeit: Das Beispiel des Menschenrechtsübereinkommens zur Biomedizin 1. Das Menschenrechtsübereinkommen des zur Biomedizin von 1996

Europarats

Das Menschenrechtsübereinkommen des Europarats zur Biomedizin auch unter dem irreführenden Namen „Bioethik-Konvention" diskutiert hat unter den vielen Fragen, die es aufgeworfen hat, u.a. auch eine grundsätzliche Frage der politischen Philosophie aufgeworfen: die Frage, wie sich die nationale Politik verhalten kann, soll und darf, wenn in einem bestimmten Regelungsbereich die national geltenden oder vorherrschenden moralischen und rechtlichen Vorstellungen von den international geltenden moralischen und rechtlichen Vorstellungen signifikant abweichen und somit das Ziel der internationalen Vereinheitlichung und Integration mit dem Ziel der Wahrung der eigenen besonderen Wertvorstellungen konfligiert. Im Bereich der Biomedizin nimmt dieser Konflikt eine besondere Schärfe an, da viele der Fragen, um die es hier geht (z. B. Fragen im Kontext von Schwangerschaft und Tod), als existentiell wichtig empfunden werden und entsprechend affektiv besetzt sind. Deshalb ist es nicht verwunderlich, daß die öffentliche Diskussion um das Übereinkommen durch eine starke Emotionalisierung gekennzeichnet war (und zum Teil weiterhin ist) wenn auch, soweit ich sehe, weitgehend nur in Deutschland. In den meisten anderen Ländern hat eine öffentliche Diskussion um das Übereinkommen, wenn überhaupt, nur in sehr geringem Umfang stattgefunden. Deutschland spielt auch insofern eine Sonderrolle, als es eines der wenigen im Europarat vertretenen Länder ist, die das Übereinkommen nicht unterzeichnet haben (die anderen Länder sind Belgien und Polen). Das bedeutet, daß Deutschland das Übereinkommen auch nicht ratifizieren kann und daß es da es nur dort gelten kann, wo es ratifiziert worden ist deshalb auch bis auf weiteres hierzulande nicht gilt. Eine weitere Konsequenz der NichtUnterzeichnung ist, daß auch die Zusatzprotokolle nicht unterzeichnet und ratifiziert werden können. Deshalb konnte Deutschland dem Anfang 1998 verabschiedeten Zusatzprotokoll über das Verbot des Klonens von menschlichen Lebewesen nicht beitreten. Dennoch wird allgemein erwartet, daß das Übereinkommen auch in den Ländern, in denen es nicht ratifiziert worden ist, eine gewisse Wirkung entfaltet. So wird etwa heute -

-

-

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180

Dieter Birnbacher

schon bei der Prüfung von Forschungsanträgen an die EU geprüft, ob das Forschungsvorhaben nicht nur mit der Helsinki-Deklaration, sondern auch mit dem Menschenrechtsübereinkommen vereinbar ist, gleichgültig, aus welchem Land der Antrag kommt. Die Gründe für die NichtUnterzeichnung liegen im wesentlichen darin, daß der Schutz, den das Übereinkommen dem Individuum gegen die Inanspruchnahme durch die biomedizinische Forschung zuweist, von deutscher Seite als ungenügend empfunden wird und ein darüber hinausgehender Schutz verlangt wird. In wichtigen Bereichen, insbesondere im Schutz menschlicher Embryonen vor Embryonenforschung und im Schutz von nichteinwilligungsfähigen Menschen wie Kleinkindern und Dementen, bleibt das im Übereinkommen formulierte Schutzniveau deutlich hinter dem im deutschen Recht kodifizierten Schutzniveau zurück. In Deutschland ist durch das Embryonenschutzgesetz von 1990 jegliche Forschung an Embryonen in vitro verboten. Demgegenüber läßt Artikel 18,1 des Übereinkommens die Forschung an menschlichen Embryonen zu, wenn auch nur unter der Bedingung eines „angemessenen Schutzes". Was diese letzte Bedingung betrifft, muß man sich allerdings fragen, ob sie mehr als eine Leerformel sein kann, die aus dem gesamten Artikel einen „Formelkompromiß" macht, der je nach Belieben ausgelegt werden kann. Die deutsche Seite interpretiert den Artikel im Sinne eines umfassenden Embryonenschutzes, die britische Seite im Sinne der britischen Gesetzeslage, nach der eine Forschung an Embryonen bis zum Entwicklungsstand von 14 Tagen zugunsten hochrangiger Forschungsziele erlaubt ist. Bei der Verabschiedung des entsprechenden Gesetzes übrigens mit jeweils eindeutigen Mehrheiten in Unter- und Oberhaus ist das britische Parlament weitgehend den entsprechenden Empfehlungen der von der Philosophin Mary Warnock geleiteten Kommission gefolgt. Weniger radikal, aber doch immer noch erheblich sind die Unterschiede zwischen den Bestimmungen des Übereinkommens und der deutschen Rechtslage bei der Zulassung von fremdnütziger Forschung an und mit Nichteinwilligungsfähigen. Nach Artikel 17,2 des Übereinkommens müssen für die Zulässigkeit von fremdnützigen Versuchen an Nichteinwilligungsfähigen im wesentlichen fünf Bedingungen erfüllt sein: 1. Es gibt keine Alternative zur Forschung am Menschen von vergleichbarer Wirksamkeit. 2. Die Forschung hat einen potentiellen Nutzen für Personen gleicher Altersstufe oder für Personen mit der gleichen Krankheit oder Störung. 3. Die Risiken für die Person stehen in keinem Mißverhältnis zum potentiellen Nutzen der Forschung. 4. Die Forschung ist für den Betroffenen nur mit einem minimalen Risiko und einer minimalen Belastung verbunden. 5. Das Forschungsprojekt ist von einer Ethikkommission gebilligt worden. Eine fremdnützige Forschung an Nichteinwilligungsfähigen ist nach deutschem Recht demgegenüber allenfalls mit Minderjährigen, nicht aber mit hospitalisierten Patienten wie etwa schwer Dementen zulässig. Jede Forschung an Personen, die „auf gerichtliche und behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt" werden, ist verboten, auch dann, wenn diese Forschung für den Patienten möglicherweise einen individuellen Nutzen hat (§ 40, -

-

Nationale ethische Kultur und internationale

181

Freizügigkeit

Abs. 1, Satz 3 AMG). Am gesunden Minderjährigen (und damit Nichteinwilligungsfähigen) ist nach dem deutschen Arzneimittelgesetz zwar eine klinische Forschung zugelassen, aber nur mit Arzneimitteln zum Erkennen oder zum Verhüten von Krankheiten bei Minderjährigen (§ 40, Abs. 4 Satz 1 AMG). Nach deutschem Recht ist es also erlaubt, diagnostische Verfahren wie die Kernspintomographie auch rein fremdnützig einzusetzen, zum Beispiel, um zu klären, welche Befunde normal sind, und bestimmte Säuglingsnahrungsmittel am gesunden Kind daraufhin zu überprüfen, ob sie zur Prävention von Allergien geeignet sind. Aber verboten (zum Leidwesen vieler Kinderärzte) ist eine fremdnützige Therapieforschung. An einem krebskranken Kind dürfen z. B. keine Versuche mit neuen Arzneimitteln gemacht werden, von denen man voraussieht, daß sie nicht diesem individuellen Kind, aber möglicherweise anderen (späteren) Kindern mit derselben oder einer ähnlichen Krankheit zugute kommen. Es gibt zwar auch einige Bestimmungen des Übereinkommens, die im Vergleich zur deutschen Rechtslage einen weiter gehenden Schutz erzwingen. Diese betreffen z.B. die Praxis, Körpersubstanzen ohne Zustimmung des Betroffenen weiterzugeben und zu verwenden (Art. 22). Nach deutschem Recht war bisher auch eine Nutzung von entnommenen Körpersubstanzen erlaubt, die über die vom Patienten gebilligten Zwecke hinausgeht. Auch das Verbot in Artikel 21, den menschlichen Körper und seine Teile zu kommerziellen Zwecken zu verwenden, geht über die in Deutschland gegenwärtig geltenden rechtlichen Regelungen hinaus.1 Diese Vorschriften haben aber kaum mehr als eine mar,

ginale Bedeutung. 2. Was

spricht dagegen,

einen Minimalkonsens

zu

akzeptieren?

Das Menschenrechtsübereinkommen ist angesichts der tiefgreifenden Verschiedenheiten der „bioethischen Kulturen" in Europa zwangsläufig nicht mehr als ein Konsens auf dem kleinstmöglichen Nenner. Deutlich wird der Minimalismus des Übereinkommens vor allem in dem begrenzten Themenspektrum. Es fehlen gerade die brisantesten Themen der Bioethik, so etwa der gesamte Bereich der Sterbehilfe, der Pränataldiagnostik, der meisten Anwendungsfelder der Reproduktionsmedizin und der Entnahme und Nutzung fetaler Zellen und Gewebe. Wie sehr das auch zu bedauern ist, mehr zu erwarten wäre schlicht unrealistisch. Ein europäischer Konsens zu den eigentlich brisanten Themen der Biomedizin scheint nicht nur für die Gegenwart, sondern auch für die Zukunft unwahrscheinlich. Es ist in der Tat schwer zu sehen, wie etwa hinsichtlich der Sterbehilfe eine gemeinsame europäische Norm aussehen soll, die nicht gänzlich inhaltsleer und sowohl für die Niederlande als auch für den Vatikanstaat akzeptabel ist. Um mehr an Konsens zu erwarten, sind die durch unterschiedliche religiöse und außerreligiöse Traditionen und unterschiedliche historische Erfahrungen geprägten bioethischen Kulturen in Europa einfach zu heterogen. 1

Vgl. Jochen Taupitz, Die Menschenrechtskonvention zur Biomedizin akzeptabel, notwendig oder unannehmbar für die Bundesrepublik Deutschland?, in: Versicherungsrecht 13 (1998), -

542-546.

182

Dieter Birnbacher

Ähnliche Gegensätze zeigen sich auf der Ebene der bioethischen Argumentation. Hier aus meiner Sicht in idealtypischer Vereinfachung im wesentlichen zwei „Kulturen" gegenüber, eine primär pragmatische Denkweise (etwa in Großbritannien, den Niederlanden und den skandinavischen Ländern) und eine primär gesellschaftspolitische (etwa in Deutschland und Frankreich), die insbesondere die von bestimmten Verfahren stehen sich

ausgehenden symbolischen Wirkungen in den Vordergrund stellt. Ablesen lassen sich die Gegensätze etwa in den Stellungnahmen zum reproduktiven Klonen von Menschen, die von Beratungsgremien innerhalb der verschiedenen „Kulturen" in den letzten Jahren vorgelegt worden sind.2 Alle Stellungnahmen schlagen für das Klonen von Menschen -jedenfalls bis auf weiteres und für das reproduktive Klonen ein gesetzliches Verbot vor. Sie unterscheiden sich jedoch in den dafür angegebenen Begründungen. Die englischsprachigen Stellungnahmen begründen das Verbot des Klonens im wesentlichen mit dem dieser Methode innewohnenden Schädigungspotential. Die französischen und deutschen Stellungnahmen argumentieren primär mit der Gefährdung von gesellschaftlichen Werthaltungen. Die Hauptgefahren des Klonens werden hier nicht so sehr in der Gefährdung konkreter Menschen als vielmehr in der Gefährdung von individuellen und gesellschaftlichen Wertvorstellungen wie Identität und Menschenwürde, also in Gefährdungen, die primär unabhängig davon sind, ob und inwieweit das Resultat des Klonens, der geklonte Mensch, von der Methode seiner Hervorbringung subjektiv betroffen ist. Im Gegensatz dazu kommen die Begriffe Identität und Menschenwürde in den britischen Stellungnahmen bezeichnenderweise gar nicht vor. Wie tiefgreifend die Differenzen sind, zeigt sich auch daran, daß für einige nationale

-

Gremien der Minimalkonsens des Übereinkommens nicht minimal genug ist. So hat etwa der Health Council of the Netherlands in seiner Stellungnahme zur Embryonenforschung von 1998 die niederländische Regierung aufgefordert, das Übereinkommen nicht zu ratifizieren, solange dieses die Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken ausschließt. Auch wenn die Verwendung von „überzähligen" Embryonen aus In-vitro-Fertilisationen aus moralischen Gründen vorzuziehen sei, sei eine solche Erzeugung nicht von vornherein inakzeptabel. Immer dann, wenn entweder solche Embryonen nicht verfügbar sind oder die Natur der Forschung ihre Verwendung nicht zulasse, sei es durchaus annehmbar, Embryonen eigens zu Forschungszwecken zu erzeugen. Darüber hinaus stellt sich eine Redlichkeitsfrage. Man muß sich fragen, ob alle Staaten, die das Übereinkommen unterschrieben haben, ernsthaft gewillt sind, es konsequent umzusetzen, auch in den Punkten, in denen es mit gegenwärtig bestehenden und gebilligten Praktiken unvereinbar ist. So wird etwa in Artikel 14 jede Form der Geschlechtswahl verboten. Das Geschlecht eines Kindes soll in keiner Weise künstlich beeinflußt werden, etwa durch eine Spermientrennung mit anschließender künstlicher Befruchtung. Andererseits existieren in Europa aber mindestens vier gender clinics (von weltweit 45), die genau diese Dienstleistung anbieten.3 2 3

Abgedruckt in Band 2 (1997) und Band 3 (1998) des Jahrbuchs für Wissenschaft und Ethik. Möglicherweise kann diese Unvereinbarkeit allerdings durch juristische Interpretationskünste beseitigt werden: Der Artikel 14 verbietet eine Geschlechtswahl nur insoweit, als sie mit

Nationale ethische Kultur und internationale

183

Freizügigkeit

Trotz dieser erheblichen bis dramatischen Abweichungen stellt sich die Frage, wardas Übereinkommen nicht dennoch zumindest als Minimalkonsens für die deutsche Seite akzeptabel war. Schließlich verbietet es das Übereinkommen keinem unterzeichnenden oder ratifizierenden europäischen Staat, die Grenzen enger zu ziehen, als sie im Übereinkommen selbst gezogen sind. Für die NichtUnterzeichnung scheinen mehrere Gründe bestimmend gewesen zu sein. Erstens scheint die deutsche Delegation von einem stärker prinzipiellen und weniger pragmatischen Verständnis des Übereinkommens ausgegangen zu sein als die Delegationen anderer Nationen. Ich schließe das daraus, daß die deutsche Delegation im Lenkungsausschuß die im Übereinkommen enthaltene sogenannte Revisionsklausel (Art. 32, 4) abgelehnt hat, die eine Überprüfung spätestens fünf Jahre nach dem Inkrafttreten des Übereinkommens vorsieht. Diese Revisionsklausel will das Übereinkommen offenhalten für Änderungen, die sich im Zuge der Fortentwicklung von Wissenschaft und medizinischer Technik als unumgänglich erweisen. Die Ablehnung dieser Klausel wurde von deutscher Seite so begründet, daß „dadurch die Ernsthaftigkeit und Beständigkeit der in dem Übereinkommen statuierten Rechte und Grundsätze in Frage gestellt sein könnte".4 Das deutet darauf hin, daß die deutsche Delegation in dem Übereinkommen weniger einen völkerrechtlichen Vertrag (denn das ist das Übereinkommen) über ein Minimum an Rechtsgrundsätzen gesehen hat als vielmehr eine Art bioethisches Grundsatzprogramm, eine „Bioethik-Konvention" im wörtlichen Sinne. Eine Unterschrift unter eine „BioethikKonvention", in der es um Ethik und nicht nur um Recht geht, könnte aber so verstanden werden, daß die deutsche Regierung damit etwa die darin implizit enthaltene Erlaubnis der Embryonenforschung auch in einem moralischen Sinne billigt, was sie jedoch gerade nicht tut. Sie lehnt sie im Gegenteil moralisch ab. Ein Verständnis eines Übereinkommens als moralische und das heißt mit dem für moralische Beurteilungen charakteristischen „Ewigkeitsanspruch" auftretende Festlegung scheint jedoch aus mehreren Gründen fragwürdig. Erstens läuft es auf eine Art „Kategorienfehler" hinaus, moralische Grundsätze durch einen Vertrag festschreiben zu wollen. Moralische Prinzipien lassen sich anders als Rechtsgrundsätze nicht durch Vertrag oder Setzung in Geltung setzen. Moral kann man allenfalls predigen, aber nicht dekretieren oder vereinbaren. Zweitens ist es eine Erfahrungstatsache, daß sich in einem so dynamischen Bereich wie der biomedizinischen Forschung dauerhafte und gegen Revision gefeite Festlegungen kaum je treffen lassen. Kategorische Verdikte, die zunächst auf dem Hintergrund bestimmter Zukunftsszenarien plausibel sein mögen, erweisen sich wenige Jahre später, angesichts neu am Horizont auftauchender Verfahren, als überprüfungsbedürftig. So scheint etwa die zumindest in Europa weitgehend einhellige

um

-

-

-

-

einer „medizinisch assistierten Fortpflanzung" verknüpft ist. Faßt man die Geschlechtswahl jedoch nicht als spezifisch medizinische, sondern als rein technische Dienstleistung auf, die nicht notwendig von Ärzten erbracht werden muß, lassen sich Norm und Realität möglicherweise vereinbaren. Während die Insemination von einem Arzt vorgenommen werden muß, kann die ihr vorgeschaltete Spermienanalyse und -separation auch von Biologen außerhalb eines spezifisch medizinischen Kontexts durchgeführt werden. -

4

BT-Drucksache 13/5435, 4.

-

Dieter Birnbacher

184

Ablehnung der Intervention in die menschliche Keimbahn nicht mehr in ihrer bisherigen apodiktischen Form aufrechterhalten lassen, nachdem mit der Methode der Transplantation des Zellkerns einer Eizelle (in vitro ovum nuclear transplantation) eine Korrektur des an die Nachkommen weitergegebenen Genoms möglich geworden ist, die nicht auf gentechnische, sondern auf reproduktionsmedizinische Mittel zurückgreift. Diese Methode zielt auf die Vermeidung genetischer Erkrankungen, die über die mitochondriale DNA vererbt werden. Die mütterliche mitochondriale DNA wird ausgetauscht, so daß das Kind einen kleinen, nämlich den die genetische Erkrankung auslösenden Teil seines Genoms nicht von seinen Eltern, sondern von einer fremden Eispenderin erhält. Unver-

kennbar handelt es sich bei diesem Verfahren um eine Intervention in die Keimbahn. Aber es entfallen die für eine Intervention in das Genom des Zellkerns spezifischen und gravierenden Risiken einer möglicherweise vererbbaren und nicht wieder rückgängig zu machenden genetischen Schädigung. Eine Revisionsklausel scheint schon aus Gründen der wissenschaftlichen Dynamik unverzichtbar. Auffällig ist jedoch, daß das Übereinkommen die Notwendigkeit solcher Revisionen ausschließlich durch wissenschaftliche Entwicklungen gegeben sieht und nicht auch durch mögliche Veränderungen in der gesellschaftlichen Akzeptanz biomedizinischer Verfahren und in möglichen Tendenzänderungen der bioethischen Diskussion. Aber soweit es zulässig ist, die „Fieberkurve" der öffentlichen Meinung etwa über die In-vitro-Fertilisation zu verallgemeinern, ist damit zu rechnen, daß ähnlich wie in diesem Fall auch bei einigen der neuen Verfahren die anfängliche spontane Ablehnung nach und nach einer ausgewogeneren Haltung Platz macht. Ein zweiter Grund für die Ablehnung des Minimalkonsenses von deutscher Seite scheint folgenorientierter Natur zu sein: Es wird befürchtet, daß sich der Minimalismus des Übereinkommens, auch wenn er im Prinzip weiter gehende Schutzbestimmungen nicht ausschließt, dennoch nivellierend auf die nationale Gesetzgebung auswirkt und das dort festgelegte strengere Schutzniveau unterminiert. Diese Befürchtung erhält Nahrung vor allem durch zwei Überlegungen: 1. die Befürchtung, daß die biomedizinische Forschung die Politik zunehmend unter Anpassungsdruck setzt und mit der Auslagerung in Länder mit geringerem Schutzniveau droht; 2. das Zusammentreffen des Übereinkommens mit gleichgerichteten Liberalisierungsforderungen von Seiten einiger Forschergruppen in Deutschland. So fordert eine große Gruppe von Psychiatern seit längerem eine Erleichterung von wissenschaftlichen therapeutischen Versuchen an und mit Dementen.5 Diese Bestrebungen könnten durch die Berufung auf das Übereinkommen Aufwind bekommen. In vielen Kliniken und reproduktionsmedizinischen Instituten bereitet man sich auf die Einführung der Präimplantationsdiagnostik vor, die durch das Embryonenschutzgesetz in Deutschland verboten ist, in anderen Ländern aber bereits praktiziert wird. Auch der Druck von dieser Seite könnte durch die Berufung auf die liberalen Bestimmungen des Übereinkommens verschärft werden.

5

Vgl. Hanfried Helmchen/Hans Lauter, gart/New York 1995.

Dürfen Ärzte mit Demenzkranken forschen?, Stutt-

Nationale ethische Kultur und internationale

185

Freizügigkeit

Ich sehe auch in diesem zweiten Bedenken kein unüberwindliches Hindernis für einen Beitritt Deutschlands zum Übereinkommen. Es müßte lediglich klargestellt werden, was im Grunde offensichtlich ist, nämlich daß mit diesem Beitritt der nationale Gesetzgeber seine Zuständigkeit für die Gestaltung der Forschungslandschaft in Deutschland nicht verliert und seine Verantwortung nicht auf den Europarat oder eine andere europäische Institution überträgt.

3. Das Menschenrechtsübereinkommen

zu -

forschungsfreundlich?

Die hierzulande vorherrschende Kritik am Übereinkommen geht dahin, daß es zuwenig Optionen ausschließt und der Forschung mehr Freiraum läßt, als ethisch vertretbar scheint. Ich muß gestehen, daß ich zumindest bei einigen Bestimmungen des Übereinkommens eher die umgekehrte Befürchtung habe, nämlich daß es die Grenzen zu eng zieht und damit möglicherweise Forschungsanstrengungen behindert, die sich für viele Menschen, vor allem für die zukünftiger Generationen, segensreich auswirken können. Sicherlich tut das Übereinkommen richtig daran, den Schutz des einzelnen den Belangen und Begehrlichkeiten anderer und der Gesellschaft vorzuordnen. Gerade der Kranke und Hilfsbedürftige muß vor der Suggestivkraft von für ihn nicht nachprüfbaren Forschungszielen geschützt werden, vor allem dann, wenn Ärzte in Personalunion medizinische Forscher sind. Problematisch erscheint mir aber die Tendenz des Übereinkommens, die Schutzrechte, die für empfindungsfähige und durch Krankheit, Leiden und Hilfsbedürftigkeit zusätzlich sensibilisierte Menschen unabdingbar sind, auf mehr oder weniger alle Stadien menschlichen Lebens, auch diejenigen vor der Geburt, zu übertragen. So enthält der erste Halbsatz des Artikels 12, der feststellt, daß genetische Tests ausschließlich zu gesundheitlichen Zwecken erlaubt sein sollen, keinen Hinweis darauf, daß sich diese Regelung auf persons, also auf geborene Menschen bezieht. Falls diese Bestimmung aber auch für frühe Stadien der Embryonalentwicklung gelten soll, kommt es zu einem Konflikt mit der ausdrücklichen Erlaubnis der Präimplantationsdiagnostik (PGD) in Belgien, Großbritannien und Frankreich. Zu diesem Konflikt kommt es jedenfalls dann, wenn, wie der Explanatory Report klarstellt, mit „gesundheitlichen Zwecken" stets Zwecke gemeint sind, die sich auf die Gesundheit des Getesteten beziehen. Aber auch wenn die PGD und die nachfolgende Auswahl eines genetisch nicht belasteten Embryos als ganze „gesundheitlichen" Gesichtspunkten dienen mögen, dienen sie doch nicht der Gesundheit des jeweils getesteten individuellen Embryos. Problematisch vor dem Hintergrund des sich abzeichnenden Forschungshorizonts scheint mir auch das Verbot einer Erzeugung menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken in Artikel 18,2 des Übereinkommens. Zunächst ist nicht zu sehen, warum, wenn die Forschung an menschlichen Embryonen im Prinzip zulässig sein soll, nicht auch die Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken zulässig sein soll. Auch die „überzähligen" Embryonen, an denen gegenwärtig geforscht wird, sind ja nicht vom Himmel gefallen, sondern durch menschliche Einwirkung, nämlich durch In-vitro-Fertilisation, erzeugt. Andererseits scheint ein Verbot der Erzeugung von Embryonen aber eine durch-

186

Dieter Birnbacher

die des therapeutischen Kloeines zweifellos Denn menschlichen Klons durch die Transplanist die nens. Erzeugung Eizelle des Kerns einer Körperzelle in eine entkernte die Erzeugung eines menschtation lichen Embryos zu Forschungszwecken auch wenn dieser Embryo sich nicht zu einem Menschen entwickeln soll, sondern lediglich zu bestimmten, vom „Spender" der Zelle benötigten Geweben oder Organen. Natürlich hat diese Forschungsrichtung aus heutiger Sicht noch etwas weitgehend Abenteuerliches und Utopisches. Aber vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Situation einer Stagnation in der Verfügbarkeit transplantierbarer Organe und Gewebe und angesichts der aktuellen Debatte um die Risiken der Xenotransplantation nicht nur für den Organempfänger, sondern auch für die Allgemeinheit scheint die Suche nach alternativen Verfahren der Gewinnung von Organ- und Gewebeersatz vordringlich. Auch wenn noch nicht abzusehen ist, welches der gegenwärtig ins Auge gefaßten Verfahren letztlich erfolgreich ist, erscheint es der Mühe wert, alle Verfahren weiterzuverfolgen, für die eine solche Chance nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, inklusive des therapeutischen Klonens. Nicht nur Artikel 18,2 des Übereinkommens scheint das therapeutische Klonen auszuschließen, sondern auch das eigens dem Klonen gewidmete Zusatzprotokoll. Dessen Kernsatz lautet, daß jede Intervention verboten ist, die darauf abzielt, ein menschliches Lebewesen zu erzeugen, das mit einem anderen lebenden oder toten menschlichen Lebewesen genetisch identisch ist (wobei unter „identisch" zu verstehen ist, daß es dasselbe Kerngenom besitzt). Wird aber der Ausdruck human being in dieser Bestimmung in Übereinstimmung mit der Terminologie des Übereinkommens interpretiert, nämlich so, daß human being für menschliche Wesen in allen Entwicklungsstadien steht, ist damit neben dem reproduktiven auch das therapeutische Klonen kategorisch verboten. Das ist nicht der einzige und wichtigste Kritikpunkt am Zusatzprotokoll zum Klonen aus philosophischer Sicht. Kritikwürdig ist die auch in diesem Protokoll strapazierte Argumentationsfigur der Instrumentalisierung. Das Zusatzprotokoll begründet das uneingeschränkte Verbot des Klonens von Menschen primär durch die im Klonen von Menschen liegende Verletzung der Menschenwürde. Diese soll dabei im wesentlichen darin bestehen, daß menschliche Lebewesen durch die bewußte Erzeugung genetisch identischer menschlicher Wesen instrumentalisiert werden. So vertraut diese Redeweise ist, so unklar ist sie bei näherem Hinsehen. Weder beim reproduktiven noch beim therapeutischen Klonen werden Menschen oder andere der Ausnutzung und Ausbeutung fähige Wesen zum Mittel zu Zwecken gemacht. Beim reproduktiven Klonen wird kein Mensch, sondern Zellen und Zellbestandteile zum Mittel zu Zwecken gemacht. Zu dem Zeitpunkt, zu dem der Klon zu existieren beginnt, gehört die Instrumentalisierung bereits der Vergangenheit an. Beim therapeutischen Klonen wird darüber hinaus der erzeugte Klon selbst zum Mittel gemacht. Aber diese Instrumentalisierung vollzieht sich in einem Stadium, in dem von „Erniedrigung" oder „Ausbeutung" eines Menschen zu sprechen eine unzulässige Anthropomorphisierung bedeuten würde. Eine „echte" Instrumentalisierung von Menschen durch Menschen wird vom Übereinkommen an zwei Stellen ausdrücklich zugelassen: in Artikel 17,2, der die rein fremdaus

vielversprechende Entwicklungslinie auszuschließen,

-

Nationale ethische Kultur und internationale

Freizügigkeit

187

an Nichteinwilligungsfähigen unter bestimmten Bedingungen erlaubt, und in Artikel 20,2, der die Entnahme von Knochenmark und anderem regenerationsfähigem Gewebe bei Minderjährigen zur Lebensrettang unter Geschwistern zuläßt. Es liegt nahe, daß beide Artikel hochgradig umstritten sind. Nicht zufällig haben zwei Länder (die Türkei und Dänemark) bei ihrem Beitritt zum Übereinkommen bezüglich des letzteren Artikels einen Vorbehalt erklärt. Befremdlich ist allerdings der Quasi-Automatismus, mit dem auf der Seite der Kritiker des Übereinkommens zuweilen von dem Sachverhalt der Instrumentalisierung auf ihre moralische Unzulässigkeit, wenn nicht sogar auf ihre Unvereinbarkeit mit der Menschenwürde geschlossen wird. Der Begriff „Instrumentalisierung" wird vielfach in einem von vornherein pejorativen Sinne gebraucht. Ist das der Fall, ist die Ablehnung von Instrumentalisierung tautologisch und uninformativ. Wird er dagegen wertneutral und rein deskriptiv gebraucht, ist nicht von vornherein klar, daß Instrumentalisierung als Form der Indienstnahme zu fremden Zwecken schlechthin moralisch unzulässig ist, geschweige denn, daß sie eine Verletzung der Menschenwürde darstellt. Das gilt selbst dann noch, wenn es sich bei dem instrumentalisierten Menschen um einen Menschen handelt, der in diese Indienstnahme nicht eingewilligt hat oder nicht einwilligen kann. Kants zweite Formel des Kategorischen Imperativs besagt ja nicht, daß niemand als Mittel gebraucht, sondern, daß niemand bloß als Mittel gebraucht werden darf, und dieses „bloß" läßt einen gewissen Interpretationsspielraum. Kant für seinen Teil dachte u. a. an die Versklavung, an den Menschenhandel und an entehrende Strafen, also an Formen radikaler Herabwürdigung. Nicht jede unfreiwillige Indienstnahme eines anderen Menschen ist eine derart radikale Herabwürdigung. Allerdings finden sich auch auf Seiten derer, die die umstrittenen Bestimmungen des Übereinkommens verteidigen, Ungereimtheiten. Dazu gehört etwa die Fiktion eines latenten Wunsches des Nichteinwilligungsfähigen, anderen Menschen mit gleicher Erkrankung einen Dienst zu erweisen, oder die Konstruktion, daß eine fremdnützige Forschung an Kindern (wie die Bundesregierung auf eine kleine Anfrage im Bundestag einmal formulierte) „im Hinblick auf den pädagogischen Wert eines gemeinschaftsnützigen Opfers [...] mit dem Wohl des Kindes zu vereinbaren" sei.6 Aber wäre es wirklich so, daß dem aktuellen Wohl des Kindes mit einem rein fremdnützigen Eingriff gedient wäre, wäre der Eingriff nicht rein fremdnützig und weniger rechtfertigungsbedürftig. Und ob sich das gemeinschaftsnützige Opfer des Kindes pädagogisch auswirkt, ist, solange es gar nicht aus eigenem Willen erbracht worden ist, mehr als zweifelhaft. Auch die Konstruktion eines im Menschenwürdeprinzip enthaltenen „Gemeinschaftsbezugs", der eine rein fremdnützige Instrumentalisierung eines Nichteinwilligungsfähigen mit dessen Menschenwürde vereinbar machen soll, sofern diese der Gruppe ähnlich Betroffener nützt, scheint bereits im Ansatz verfehlt. (Sie findet sich etwa in der Stellungnahme des Deutschen Anwaltsvereins zum Übereinkommen.) Das Menschenwürdeprinzip ist zugegebenermaßen inhaltlich wenig festgelegt. Aber zumindest soviel läßt sich doch eindeutig feststellen, daß es ein Ensemble höchstpersönlicher und individueller Rechte ist. Es wäre eine Verdrehung des ureigensten Sinnes dieses Prinzip, wenn es dazu her-

nützige Forschung

6

BT-Drucksache 13/9577, 9.

Dieter Birnbacher

188

müßte, statt Rechten des Individuums auf Leistungen der Gesellschaft Rechte der Gesellschaft auf Leistungen des Individuums zu rechtfertigen. Wenn die umstrittenen fremdnützigen Forschungen an Kindern, Dementen, Komatösen halten

und anderen Menschen im Zustand der Nichteinwilligungsfähigkeit akzeptabel sind, dann nicht deshalb, weil sie einem mysteriösen latenten oder hypothetischen Willen dieser Menschen oder einer in ihrer Menschenwürde enthaltenen Gemeinschaftsbindung entsprechen, sondern aus zwei Gründen: weil ihr Schädigungspotential minimal ist und das heißt: keine ernstliche Beeinträchtigung ihres Wohl bedeutet und weil der Unwertgehalt der bewußten Verletzung ihres Rechts auf Selbstbestimmung weniger gravierend scheint als der Wert der dadurch zu erwartenden Fortschritte in der Behandlung ähnlicher Fälle. Sind diese Bedingungen für eine Instrumentalisierung von Nichteinwilligungsfähigen moralisch vertretbar? Ich tendiere zu einer bejahenden Antwort allerdings nur in den engen Grenzen, die ihr im Übereinkommen gesetzt werden, und bei einer minimalistischen Interpretation der beiden Schlüsselbegriffe „minimales Risiko" und „minimale Belastung". Diese letztere Einschränkung ist wichtig, denn man kann dem Übereinkommen den Vorwurf nicht ersparen, daß es gerade in diesem empfindlichen Punkt Präzisierungslücken aufweist, die eine Zustimmung erschweren. Die Tatsache, daß Präzisierungen in dem angekündigten Zusatzprotokoll zur medizinischen Forschung gegeben werden sollen, entlastet von diesem Vorwurf nur wenig. Leider findet man auch im Erläuternden Bericht wenig Konkretes zu diesen Begriffen. Für „minimales Risiko" werden als Beispiele die Entnahme einer Blutprobe bei einem Kleinkind (Nr. 111) und Ultraschalluntersuchungen bei Kindern (Nr. 113) angegeben. Für die Gruppe der nichteinwilligungsfähigen Erwachsenen wird nur sehr unkonkret auf eine Forschung an Patienten in Intensivbehandlung oder im Koma verwiesen. Für den Begriff des „minimal burden" werden sogar überhaupt keine exemplifizierenden Anwendungen angegeben. Die damit eröffneten Interpretationsspielräume sind jedoch nicht nur ein Einfallstor für Ablehnungshaltungen gegenüber der nichttherapeutischen Forschung überhaupt, sondern lassen auch wichtige Sachfragen offen, vor allem die, wie ein „minimal burden" bei Nichteinwilligungsfähigen verläßlich zu ermitteln ist, z.B. bei der Vornahme einer Computertomographie bei einem hochgradig Dementen. Meines Erachtens fehlt es in der Diskussion um diese prekären, aber im Sinne einer großen Zahl zukünftiger Patienten dringend erforderlichen Forschungen an einer ernsthaften Erörterung von Möglichkeiten, dem Dilemma von Forschungsnotwendigkeit und Autonomieverletzung zu entkommen und noch im Zustand der Einwilligungsfähigkeit vorgreifende Entscheidungen für den Zustand der Einwilligungsiwfähigkeit zu treffen. Es wäre dann möglich, vorsorglich die Bereitschaft zu erklären, später für bestimmte Forschungen zur Verfügung zu stehen, die der Erkennung, Heilung oder Linderung derselben Krankheit dienen, durch die die Einwillungsfähigkeit eingeschränkt ist. Selbstverständlich ist auch diese Lösung nicht ohne ihre Schwierigkeiten (einige davon sind aus der Diskussion um Patientenverfügungen zum Behandlungsabbruch bekannt).7 Aber -

-

-

7

Vgl. Rebecca Dresser, Advance directives in Subjects Research 23 (2001), Nr. 2, 1-6.

dementia research, in: IRB. A Review of Human

Nationale ethische Kultur und internationale

Freizügigkeit

189

erwarten ist, daß viele gern von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, vor allem, wenn sie Angehörige mit den entsprechenden Krankheiten erlebt haben und gesehen haben, wie machtlos die Medizin künftigen „Volkskrankheiten" wie der Alzheimer-Demenz nach wie vor gegenübersteht.

zu

4. Wie weit reicht das Recht auf eine nationale Moral? Es gehört zu den Selbstverständlichkeiten der internationalen Ordnung, daß jede Nation ein Recht daraufhat, eigene Moralvorstellungen nicht nur zu pflegen, sondern auch durch Erziehung an die kommenden Generationen weiterzuvermitteln und im Rahmen ihrer nationalen Gesetzgebung in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet durchzusetzen. Ebenso selbstverständlich ist, daß dieses Recht nicht grenzenlos ist. Eine Grenze liegt z.B. da, wo diese Moralvorstellungen (die sich aus der Sicht anderer Nationen möglicherweise lediglich als kulturelle Besonderheiten darstellen) sich nicht nur für Angehörige anderer Nationen, sondern auch für die Angehörigen der eigenen Nation in schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen auswirken. Zumindest aus der Sicht einer aufgeklärten Moral hat keine Nation ein Recht, die Folter oder das ius talionis in ihren eigenen Grenzen zu erlauben oder sogar zu fordern, auch dann nicht, wenn diese Praxis durch die in diesem Land selbst herrschende Moral zugelassen oder sogar gefordert wird. In der Biomedizin ist sehr viel weniger klar, was ein Menschenrecht ist, aufgrund dessen eine andernorts als moralisch erlaubt oder sogar geboten geltende Praxis abgelehnt werden muß. Zur Anerkennung von Menschenrechten gehört ein tiefgreifender gesellschaftlicher und politischer Konsens, so wie er hinsichtlich der Verbotenheit der Folter und grausamer Strafen besteht. Dieser Konsens besteht im Bereich der Biomedizin nur sehr fragmentarisch. Nicht zuletzt die Debatte um das Übereinkommen des Europarats hat gezeigt, wie tief die Gräben sind, die sich selbst innerhalb der einzelnen Nationen zwischen den Meinungsgruppen in der Frage des angemessenen Schutzniveaus bei biomedizinischen Forschungen und Anwendungen auftun. Ein Folgeproblem dieser Ausgangslage ist die Frage nach der Legitimität der Ausübung staatlichen Zwanges zur Durchsetzung der von der jeweiligen Mehrheit vertretenen Moralvorstellungen. Ist es unter rechtsethischen Gesichtspunkten vertretbar, Normen wie die des absoluten Embryonenschutzes etwa auch mit den Mitteln des Strafrechts (wie dem strafrechtlich konzipierten deutschen Embryonenschutzgesetz) durchzusetzen? Die allgemeine oder mehrheitliche moralische Ablehnung einer Handlungsweise ist im allgemeinen kein hinreichender Grund, die betreffende Handlungsweise unter Strafe zu stellen. Wäre unsere Gesellschaft überwiegend der Auffassung, daß Homosexualität unter Erwachsenen moralisch verwerflich ist (wie sie es noch vor nicht allzu langer Zeit war), hieße das nicht automatisch, daß sie berechtigt wäre, Strafbestimmungen gegen Homosexualität zu erlassen. Derart schwerwiegende Einschränkungen der persönlichen Handlungsfreiheit bedürfen weiter gehender Begründungen, etwa der, daß die inkriminierte Handlungsweise andere spürbar schädigt oder ihrerseits in ihrer Handlungsfreiheit einschränkt. Dies gilt besonders dann, wenn die strafrechtlichen Sanktionen, wie

190

Dieter Birnbacher

etwa bei der Homosexualität unter Erwachsenen, unmittelbar die Privatsphäre berühren und damit in Bereiche eingreifen, aus denen sich der Staat schon von Verfassungs wegen herauszuhalten hat. Mit der Bedingung der Sozialschädlichkeit, nach der ein Verhalten nur dann unter Strafe gestellt werden darf, wenn es andere oder die Gesellschaft als ganze spürbar schädigt, bekennt sich seit der Heinemannschen Strafrechtsreform von 1969 auch unser Strafrecht zu dem Grundsatz, die Moral der Mehrheit immer nur dort mit strafrechtlichen Mitteln durchzusetzen, wo die Unmoral einiger das Wohl anderer in erheblicher und nicht zu vernachlässigender Weise tangiert. Unter rechtsethischen Gesichtspunkten stellt sich damit die Frage: Können die im Menschenrechtsübereinkommen zugelassenen, aber in Deutschland überwiegend mißbilligten Verfahren wie etwa die Embryonenforschung, angenommen, sie seien moralisch nicht zu rechtfertigen, als ein sozialschädliches Verhalten gelten, das nach dieser Strafrechtsauffassung strafrechtlich sanktioniert werden darf? Handelt es sich bei der Embryonenforschung etwa schon deshalb um ein sozialschädliches Verhalten, weil sie von anderen als anstößig empfunden wird? In anderen Worten: Gibt es so etwas wie „morality-dependent harms", wie sie Ted Honderich genannt hat, d.h. „moralabhängige" Schadenszufügungen, die in dem bloßen Wissen bestehen, daß andere etwas moralisch Unakzeptables tun? Man kann hier zwischen zwei verschieden starken rechtsethischen Positionen unterscheiden: einer stark und einer schwach liberalen Position. Die stark liberale Position ist so definiert, daß nach ihr „bare-knowledge offenses" unter keiner Bedingung als Schädigung gelten. Für sie ist das bloße Wissen, daß andere etwas moralisch Verwerfliches tun, in keinem Fall ein hinreichender Grund für die Anwendung oder auch nur Androhung strafrechtlicher Sanktionen. Dieser Standpunkt wird von dem amerikanischen Rechtsphilosophen und Ethiker Joel Feinberg eingenommen. Feinberg schildert in seinem Buch Offense to others (1985) eine Reihe fiktiver Fälle, in denen wir in der Tat versucht sind, das bloße Wissen, daß jemand etwas moralisch Anstößiges tut, als so unerträglich zu empfinden, daß wir versucht sind, dem schlimmen Treiben mit Hilfe von Strafsanktionen ein Ende zu setzen. In bewußter Distanzierung von den eigenen gefühlsmäßigen Reaktionen erklärt sich Feinberg dezidiert für die Position, daß der Staat auch in solchen Fällen kein Recht hat, „bare-knowledge offenses" unter Strafe zu stellen: Das bloße Wissen um die moralischen Abscheulichkeiten, die andere privatim begehen, könne anders als das Risiko, diese Abscheulichkeiten unfreiwillig miterleben zu müssen niemals so schwer wiegen, daß es moralisch einer Schädigung gleichzustellen ist.8 Demgegenüber wäre eine schwach liberale Position dadurch definiert, daß sie „bareknowledge offenses" in begrenztem Umfang als Schädigungen anerkennt, und zwar immer dann, wenn sehr tief liegende moralische Werte und Prinzipien tangiert sind und wenn das Interesse der Beteiligten an der für andere moralisch anstößigen Aktivität im Verhältnis zur Verbreitung, Intensität und Stabilität der gefühlsmäßigen Betroffenheit anderer gering wiegt. Eine strafrechtliche Sanktionierung der Embryonenforschung ist allenfalls aus der Sicht der schwach liberalen Position akzeptabel jedenfalls so lange, als nicht aus der -

-

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8

Joel

Feinberg, Offense

to

others,

New York

1985, 69

u.

94.

Nationale ethische Kultur und internationale

191

Freizügigkeit

Embryonenforschung weitere Gefährdungen wie etwa weitere „Dammbrüche" im Bereich des Lebensschutzes drohen. Unerwünschte „Dammbrüche" scheinen mir jedoch bei der Embryonenforschung ohne daß ich das hier weiter ausführen könnte nicht ernstlich -

befürchten. Aus der schwach liberalen rechtsethischen Sicht kann ein strafrechtliches Verbot der Embryonenforschung danach nur durch die gegenwärtigen Folgen und nicht durch die möglichen zukünftigen Folgen dieser Forschungspraxis begründet werden. Aus der Sicht der von Feinberg vertretenen stark liberalen Position (für die sich dieser insbesondere auf John Stuart Mill beruft) würde das allerdings bedeuten, wesentliche Errungenschaften des liberalen Rechtsverständnisses aufzugeben. Der im starken Sinne Liberale muß hier einen Dammbruch ganz neuer Art befürchten: eine Aushöhlung der persönlichen Freiheit durch das Eindringen des Strafrechts in Bereiche moralisch umstrittenen, aber nicht eindeutig schädigenden Verhaltens, etwa im Bereich des Sexual- und Reproduktionsverhaltens. Mir erscheint die schwach liberale rechtsethische Position moralisch entschieden akzeptabler als die stark liberale Position. Für die moralische Beurteilung eines Verhaltens sind alle Auswirkungen dieses Verhaltens auf die Bedürfnisse der von ihm Betroffenen relevant. Zu diesen Bedürfnissen gehört aber auch das Bedürfnis, in einer Gesellschaft zu leben, die bestimmte für grundlegend gehaltene moralische Normen respektiert. Angenommen, die moralische Anstößigkeit eines bestimmten Verhaltens werde von sehr vielen sehr intensiv empfunden, müßte die schwach liberale rechtsethische Position im Grenzfall auch eine strafrechtliche Sanktionierung dieses Verhaltens für moralisch zulässig halten. Handelt es sich bei der Embryonenforschung um einen solchen Grenzfall? Die Erfahrungen der letzten Jahre haben mich zunehmend daran zweifeln lassen, daß die Ablehnung der Embryonenforschung (in der Phase bis zum Entwicklungsstand von 14 Tagen) die Kriterien erfüllt, die an eine strafrechtliche Sanktionierung nach schwach liberaler Auffassung zu stellen sind. Zweifellos wurzeln die Vorbehalte gegen eine Manipulation an menschlichen Embryonen, auch an solchen, die nicht eigens zu Forschungszwecken erzeugt worden sind, bei vielen in einer emotionalen Tiefenschicht. Auf die elementare, quasi instinktive Qualität der Abwehr, die sich in der verbreiteten Ablehnung dieser Praxis manifestiert, hat insbesondere Mary Warnock aufmerksam gemacht, wohl nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen in der von ihr geleiteten englischen Regierungskommission.9 Fraglich erscheint mir allerdings die Stabilität der verbreiteten Ablehnungshaltungen. „Stabilität" bezieht sich dabei auf zweierlei: einerseits auf die Stabilität unter Bedingungen sachgemäßer Information, also auf das, was man Aufklärungsresistenz nennen könnte das Ausmaß, in dem eine Reaktion auch nach umfassender Würdigung aller Sachaspekte fortbesteht; andererseits auf die Stabilität unter der Bedingung, daß sich herausstellt, daß mit der abgelehnten Praxis wichtige Erfolge z.B. in der Therapie von verbreiteten und schweren Erkrankungen erzielt werden können, also das, was man Güterabwägungsresistenz nennen könnte das Ausmaß, in dem eine Reaktion auch nach der Würdigung der positiven Folgenaspekte der Sache weiterbesteht. -

zu

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-

-

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9

Vgl. Mary Warnock, A question embryology, Oxford 1985, 61 f.

of life. The Warnock report

on

human fertilisation and

192

Dieter Birnbacher

Verschiedene Beobachtungen sprechen für mich sowohl gegen die Aufklärungsresials auch gegen die Güterabwägungsresistenz der Ablehnung der Embryonenforschung. Viele, die eine Forschung an Embryonen kategorisch ablehnen, hegen Vorstellungen vom frühen Embryo, die einer sachlichen Betrachtung schwerlich standhalten, z. B. die Vorstellung, daß bereits der ganz frühe Embryo über Bewußtsein verfügt (eine Auffassung, die möglicherweise durch die katholische Auffassung von der Beseeltheit des Embryos vom Zeitpunkt der Befruchtung an begünstigt wird). Durchweg neigen Beurteiler, die die potentiellen positiven Erträge der Embryonenforschung überblicken, zu einem gemäßigteren Urteil. In Deutschland hat sich sogar die überwiegend konservativ besetzte Benda-Kommission für eine begrenzte Erlaubnis der Embryonenforschung (in dem fraglichen Zeitraum bis zu 14 Tagen) ausgesprochen. Auch die Richtlinien zur Embryonenforschung des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer von 1985 erlaubten eine Kultivierung von menschlichen Embryonen in vitro bis zum Entwicklungsstand stenz

Tagen. Gegen die Annahme einer Abwägungsresistenz spricht auch das fast völlige Fehlen von Skrupeln, sobald es darum geht, die Ergebnisse von Forschungen zu nutzen, die man aus moralischen Gründen ablehnt, solange sie von Mitgliedern anderer „bioethischer Kulturkreise" durchgeführt werden oder worden sind. So werden in Deutschland und Frankreich kaum jemals Bedenken dagegen geäußert, die Ergebnisse der umfangreichen Embryonenforschung zur In-vitro-Fertilisation in Großbritannien und Australien zu nutzen, also einer Forschung, die im eigenen Land ausdrücklich verboten ist. Aus meiner Sicht sind die Wertvorstellungen, von denen gegenwärtig das Embryonenschutzgesetz und in einem gewissen Umfang auch die Ablehnung des Menschenrechtsübereinkommens des Europarats getragen ist, insgesamt zu wenig konsensfähig und zu wenig stabil, um eine strafrechtliche Sanktionierung zu rechtfertigen. Das Embryonenschutzgesetz in seiner gegenwärtigen Form ist unter politisch-ethischen Gesichtspunkvon

14

nicht zu verantworten. Eine Aufgabe der strafrechtlichen Sanktionierung würde allerdings nicht bedeuten, die spezifisch deutschen Bedenklichkeiten und Empfindlichkeiten, die vor allem in der älteren Generation u. a. in den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus wurzeln, weniger ernst zu nehmen. Sie würde aus meiner Sicht lediglich bedeuten, daß die vermeintlichen moralischen Prioritäten als kulturelle Prioritäten aufgefaßt werden müssen, d.h. als Ausdruck bestimmter kultureller Ideale und nicht unmittelbar auch als Ausdruck eines für alle Verbindlichkeit beanspruchenden moralischen Sollens. Eine Schwächung der Ablehnung der Embryonenforschung würde zweifellos nicht bedeuten, daß man diese Forschung nunmehr mit offenen Armen begrüßen müßte. Es gäbe weiterhin gute Gründe, sie lieber dort stattfinden zu lassen, wo sie auf eine breitere Akzeptanz rechnen kann. Auch der erklärte Wille, ihre Resultate zu einem späteren Zeitpunkt übernehmen und im Gegensatz zu einem von vielen Forschern gegenwärtig nutzen zu wollen, zwingt nicht dazu, sie ausgerechnet dort zu etablieren, wo sie auf vorgebrachten Argument besondere Sensibilitäten trifft und in höherem Maße als anderswo Anstoß erregt. Wenn es sich beim Embryonenschutz, wie ich es sehe, nicht um eine eigentlich moralische, sondern um eine kulturelle Norm handelt, in der sich bestimmte kollektive

ten

-

-

Nationale ethische Kultur und internationale

Freizügigkeit

193

Selbstbilder, Zielvorstellungen und Lebensideale ausdrücken, löst sich vielleicht auch die Inkonsistenz auf, die gegenwärtig zwischen der Ablehnung der Forschung und der Bereitschaft zur Nutzung ihrer Früchte besteht. Es kann nicht moralisch bedenklich sein, sich die Früchte von Unternehmungen zunutze machen, die, ohne im strengen Sinn moralisch bedenklich zu sein, eigenen Lebensidealen widerstreiten. Nur wenn andere moralische Normen verletzen, sind sie berechtigterweise Gegenstand von Kritik und Tadel. Wenn andere sich jedoch lediglich anders verhalten, als es den eigenen kulturellen

Normen entspricht, sind Kritik und Tadel unangebracht. Sofern die abweichenden kulturellen Normen der anderen nicht ihrerseits moralische Normen verletzen, kann man lediglich (möglicherweise mit Bedauern) feststellen, daß die anderen anderen Idealen nachleben und andere Vorstellungen von einem gelungenen Umgang mit sich und ihresgleichen haben. Daß der deutsche Gesetzgeber etwa die Widerspruchsregelung bei der Organentnahme abgelehnt hat, bedeutet nicht, daß er sie für moralisch bedenklich hält. Aber nur dann, wenn er sie für moralisch bedenklich hielte, müßte er die Praxis der Nutzung der in Österreich nach der Widerspruchsregelung entnommenen Transplantate ihrerseits für moralisch bedenklich halten. Diese Schwierigkeit entfällt jedoch, wenn die Präferenz für die geltende Regelung als Ausdruck eines kulturellen Wollens und nicht unmittelbar auch als Ausdruck eines für alle Verbindlichkeit beanspruchenden Sollens aufgefaßt wird.

IV

Gerechtigkeit und

internationale Politik

Stefan

Gosepath

globale Ausdehnung der Gerechtigkeit

Die

Wie weit reicht die

Ausdehnung der Gerechtigkeit? Ist sie universal, somit global und Oder grenzenlos? gibt es begriffliche, normative oder pragmatische Gründe, Gerechtigkeit lokal zu verorten? Greift Gerechtigkeit eher vor Ort, in einer Gemeinschaft oder einer staatlich verfaßten Gesellschaft? Dann würde sie vis-à-vis Fremden und Ausländern weniger verlangen als gegenüber unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern. Dieser Frage nachgehend werde ich im ersten Teil eine nicht ungewöhnliche und meiner Auffassung nach recht plausible universalistische Konzeption der Gerechtigkeit skizzieren. Danach ist Gerechtigkeit zumindest prima facie unmittelbar universal und hat deshalb prima facie eine globale Ausdehnung. Staatliche Grenzen aller Art haben für sie keine unmittelbare Bedeutung. Eine solche weitreichende Schlußfolgerung erscheint vielen Menschen jedoch als kontraintuitiv. Im zweiten Teil werde ich deshalb prüfen, ob es moralische oder pragmatische Gründe gibt, die universelle Reichweite der egalitären Konzeption der Gerechtigkeit zu begrenzen oder ganz zurückzuweisen. Beide Teile bewegen sich im Rahmen einer idealen Theorie der Gerechtigkeit, insofern sie sich mit der abstrakten, philosophischen, normativen Frage beschäftigen, ob und warum die Reichweite der Gerechtigkeit global ist. Meine Schlußfolgerung, daß Gerechtigkeit unmittelbar universal und global ist, wirft, wenn sie denn richtig ist, im weiteren sicherlich eine Menge normativpragmatischer Fragen auf, die in den Bereich der nichtidealen Theorie gehören, insbesondere die, wie man eine globale oder transnationale gerechte institutionelle Weltordnung am besten etabliert. Leider können diese weiteren Fragen hier nicht behandelt werden. -

I. Eine Da wir

tig

-

egalitäre Konzeption universaler Verteilungsgerechtigkeit

selbst gern als moralische Personen verstehen, schulden wir uns wechselseiGerechtigkeit. Die Bedeutung des einheitlichen ahistorischen Begriffs der Gerechtiguns

keit kann

man am besten so definieren: Gerecht ist eine Handlung, wenn sie jedem das ihm zukommt. Alle Gerechtigkeit scheint auf das jemandem Zukommende oder gibt, Angemessene bezogen zu sein.1 Diese Definition ist rein formal, denn offen ist natürwas

1

Vgl. Piaton, Der Staat (1. Buch), 33 le, 332b-c; Hugo, Berlin 41822, 10, pr. Dig.

Domitius

Ulpian, Fragmenta, hrsg. v.

G. Ritter

Stefan

198

Gosepath

lieh noch die entscheidende Frage, wem was zukommt. Die Definition enthält verschiedene Variablen, die gefüllt werden müssen, damit man zu spezifischen Gerechtigkeitsauffassungen gelangt. So gibt der Begriff der Gerechtigkeit das Problem an, für das die jeweiligen Konzeptionen der Gerechtigkeit Lösungen anbieten.2 Diese erste allgemeine Definition der Gerechtigkeit als Angemessenheit läßt sich mittels weiterer klassischer Bestimmungen näher spezifizieren, vor allem durch folgende Gesichtspunkte, die ich nur sehr kurz zusammenfasse: Unparteilichkeit (a), Rechtsförmigkeit der Ansprüche anderer (b), die Veränderungs- bzw. Verantwortungsbedingung (c) und Gleichheit (d). (a) Für Gerechtigkeit ist der Gesichtspunkt der Unparteilichkeit wesentlich. Auf einer ersten Ebene bedeutet Unparteilichkeit die unparteiische Anwendung einer vorgegebenen Norm. Auf einer zweiten Ebene hingegen wird für die Regeln Unparteilichkeit verlangt, im Sinne eines Verbots rein aufs Subjektive, Egoistische bezogener Normen oder Regeln. Verlangt wird eine unparteiliche Rechtfertigung bzw. Rechtfertigbarkeit der in Frage stehenden Normen. Die Idee der Unparteilichkeit läßt sich am besten durch den Test des „Schleiers der Unwissenheit" modellieren. (b) Spätestens seit der Naturrechtstheorie der frühen Neuzeit versteht man das dem anderen angemessen Zukommende als das, worauf der andere einen individuellen, moralischen Anspruch oder ein moralisches Recht hat. Fragen der Gerechtigkeit beziehen sich primär auf die angemessene Erfüllung der individuellen Ansprüche einzelner.3 Dieses weitere, definierende Merkmal der Gerechtigkeit meint die Berücksichtigung rechtsförmiger Ansprüche anderer. Gerecht handeln heißt, Ansprüche zu befriedigen, die die Form subjektiver Rechte im Sinne Hohfelds haben:4 A hat ein Anspruchsrecht gegenüber B, daß B X tut, genau dann, wenn B eine entsprechende Pflicht gegenüber A hat, X

zu

tun.

(c) Die Prädikate „gerecht" und „ungerecht" finden nur da Anwendung, wo wir es mit freiwilligem und verantwortbarem Handeln zu tun haben. Prima facie könnte man zwar fälschlich den Eindruck haben, als liege der angemessenen Anwendung des Gerechtigkeitsbegriffs die begriffliche Opposition zwischen dem Schicksal auf der einen und menschengemachtem Unrecht auf der anderen Seite zugrunde. Der grundlegende Unterschied betrifft jedoch nicht die Frage, ob der Mensch für ein Ereignis verantwortlich ist oder nicht. Die allgemeinste Trennlinie verläuft nicht zwischen menschengemachtem und nichtmenschengemachtem Unglück, sondern zwischen einem Unrecht, bei dem menschliche Korrekturen, Eingriffe möglich sind, und dem schieren Unglück oder Schicksal, bei dem dies nicht möglich ist.5 Eine Bedingung für die adäquate Anwendung des Gerechtigkeitsbegriffs ist also, daß wir es mit Akteuren zu tun haben, die effektiv in der Lage sind, institutionelle Strukturen, Praktiken oder Handlungen entsprechend den Prinzipien der Gerechtigkeit zu verändern. Gerechtigkeit verlangt Veränderbarkeit und Verantwortung. 2 3 4 5

Vgl. Christine M. Korsgaard u.a., The Sources of Normativity, hrsg. v. Onora O'Neill, Cambridge 1996, 114. Vgl. Wilfried Hinsch, Angemessene Gleichheit, Ms. 2000. Vgl. Wesley N. Hohfeld, Fundamental Legal Conceptions, New Haven, Conn. 1923. Vgl. Judith Shklar, The Faces of Injustice, New Haven, Conn. 71990; Beate Rössler, Unglück und Unrecht, in: Konzeptionen der Gerechtigkeit, hrsg. v. Herfried Münkler u. Marcus Llanque,

Die

globale Ausdehnung

der

Gerechtigkeit

199

(d) Gerechtigkeit bezieht sich damit primär auf individuelle Handlungen. Verantwortung tragen primär Individuen, und zwar in erster Linie für ihre eigenen Handlungen oder deren Unterlassungen. Dies ist die Position des ethischen oder normativen Individualismus. Die Adressaten von Gerechtigkeitsansprüchen sind zunächst einmal wir als Mitglieder der umfassenden Gemeinschaft aller Menschen in der ganzen Welt, und zwar jeweils einzeln und alle zusammen. Primär sind wir es, die aufgefordert sind, subjektive moralische Rechte anderer zu achten und sich entsprechend zu verhalten. Als individuelle Personen müssen wir die Verantwortung für unsere Einzelhandlungen und jene daraus resultierenden Umstände tragen, die wir durch unsere Handlungen oder deren Unterlassungen nach unserem besten Wissen ändern können. Insbesondere in bezug auf die gesellschaftliche Grundordnung, d.h. die wesentlichen Institutionen einer Gesellschaft, vor allem deren grundrechtliche Verfassung und die wichtigsten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, verbleiben jedem einzelnen nur in geringem Umfang persönliche Steuerungsmöglichkeiten. Entsprechend gering ist die persönliche moralische Verantwortung. Alle Individuen zusammen haben jedoch eine kollektive moralische Verantwortung. Damit sie ihr gerecht werden können, bedarf es der gerechten Einrichtung einer politischen, staatlichen Grundordnung. Dies ist ein wesentliches moralisches oder gerechtigkeitstheoretisches Argument für die Etablierung von staatlich verfaßten Institutionen, mit deren Hilfe politische Gemeinschaften dieser kollektiven Verantwortung auf die bestmögliche Weise nachkommen können.

Institutionen sind von daher nur in einem derivativen Sinn gerecht. Die Hauptströmung der gegenwärtigen politischen Philosophie bindet jedoch Gerechtigkeit primär an Institutionen statt an Handlungen. Danach bezieht sich das Prädikat ,gerecht' primär auf soziale Institutionen, insbesondere die Grundstruktur der Gesellschaft.6 Ist der Bezug auf individuelle Handlungen jedoch in der Tat primär, so sind die Schaffung der betreffenden Institutionen oder auch die von diesen Institutionen geforderten Handlungen ,gerecht' oder .ungerecht' zu nennen, nicht eigentlich aber die Institutionen selbst. Jegliche sachliche Beschränkung der Gerechtigkeitstheorie auf Institutionen oder staatliche Ordnungen widerspräche dem ethischen Individualismus.7 Hier liegen die gerechtigkeitstheoretischen Wurzeln des juridischen oder positiven Rechts. Die (gerecht einzurichtenden) Institutionen werden in modernen ausdifferenzierten Staaten politisch durch das Medium des positiven Rechts gesteuert. Indem moralische Rechte in legale staatliche Rechte umgesetzt werden, ergibt sich begrifflich eine

6

7

Baden-Baden 1999, 347-364; Larry S. Temkin, Inequality, in: Philosophy & Public Affairs 15 (1986), 99-121, hier 101 (Anm. 2). Vgl. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit (§ 1), übers, v. Hermann Vetter, Frankfurt/M. 1975, 19. Rawls' .Beschränkung' der Gerechtigkeit auf die Grundstruktur wird u.a. von Thomas W. Pogge, On the Site of Distributive Justice, in: Philosophy & Public Affairs 29 (2000), 139-169 verteidigt. Dies soll nicht implizieren, daß Rawls Gerechtigkeit der Sache nach auf Institutionen beschränkt sieht. Vielmehr unterscheidet er strikt zwischen der Gerechtigkeit von individuellen Handlungen, der Grundstruktur einer Gesellschaft und der internationalen Ordnung, vgl. John Rawls, The Law of Peoples, Cambridge, Mass. 1999.

200

Stefan

Gosepath

zusätzliche Komponente: Ein legales Recht haben bedeutet immer auch, einen effektiv durchsetzbaren Anspruch auf den Schutz dieses Rechts zu haben.8 Erst auf dieser staatlichen Ebene sind subjektive Rechte einklagbar. Erst hier werden sie zu Grundrechten und als solche garantiert. Das soll nicht bedeuten, daß sie faktisch nie verletzt werden könnten, aber es sind Mechanismen in Kraft, die in einem vernünftigen Maße effektiv dafür sorgen, daß Personen ihr Recht bekommen. Rechtsstaatlich verfaßte politische Gemeinschaften9 sind also sekundär die politischen Adressaten von Gerechtigkeit.10 Justitia richtet sich nicht bloß aus historisch kontingenten Gründen an Rechtsstaaten, sondern weil moralischen Personen geboten ist, zentrale Garanten zu schaffen und zu bewahren, die Gerechtigkeit von abstrakten moralischen Forderungen in konkrete, garantierte Rechtsansprüche transformieren können. Pflichten der Gerechtigkeit sollen so unter Umständen zwangsbewehrt, Rechte so geschützt werden. Dies vermögen Rechtsstaaten nach bisheriger allgemeiner Kenntnis am besten zu leisten. Dabei muß das positive Recht freilich moralisch legitim sein, das heißt, die berechtigten Ansprüche der Personen dürfen nicht verletzt werden. Aus der Forderung der Gerechtigkeit, kollektiv gerechte Institutionen zu schaffen und zu befördern, die so effektiv wie möglich die basalen Rechte durch einen Rechtsstaat schützen, folgt unsere natürliche Pflicht, die Gesetze und Institutionen einer gerechten staatlichen Ordnung zu schaffen und zu verbessern." (e) Last but not least verlangt Gerechtigkeit verschiedene Prinzipien der Gleichheit. Neben dem Prinzip der formalen Gleichheit „Gleiche Fälle gleich behandeln!" und dem der proportionalen Gleichheit, verlangt Gerechtigkeit moralische Gleichheit. Alle Personen sollen trotz ihrer Unterschiede in bestimmten relevanten Hinsichten als moralisch gleich betrachtet und als Gleiche behandelt werden, so daß ihnen im wesentlichen gleiche moralische Rechte und Pflichten zustehen und sie auf dieselbe Weise mit gleicher Achtung und Rücksicht behandelt werden.12 Das ist das moralisch und politisch fundamentale Prinzip moralischer Gleichheit. Es beruht auf einer Präsumtion der gleichen Würde aller Personen,13 denen damit sowohl gleiche Autonomie als auch ein gleiches básales Interesse an Selbstachtung unterstellt wird. Objekt des gleichen wechselseitigen Respekts ist die Autonomie einer jeden Person. Diese Vorstellung von der gleichen Achtung gegenüber allen Personen oder der gleichen Würde aller Personen wird von allen Hauptströmungen der modernen westlichen Kultur als Minimalstandard akzeptiert. Jede konstitutive politische Moral, die wenigstens eine anfängliche Plausibilität beansprucht, muß mit dieser Gleichheitsvorstellung begin-

wichtige

-

8 9

10 11

12 13

-

Vgl. Henry Shue, Basic Rights, Princeton, N.J. 1980, 13. Bezüglich der Größe, der Art der internen Verfaßtheit und der historischen, ethnischen, religiösen, kommunitären Situierung von rechtsstaatlich verfaßten politischen Gemeinschaften bleibt dieses Argument neutral. Dies läßt als Grenzfall einen einzigen Weltstaat zu. Vgl. Thomas W. Pogge, How should Human Rights be Conceived?, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 3 (1995), 103-120. Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit (§§ 19 u. 51), 135ff. u. 368ff. Vgl. Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, Cambridge, Mass. 1977, 179-183 u. 227. Vgl. Gregory Vlastos, Justice and Equality, in: Theories of Rights, hrsg. v. Jeremy Waldron, Oxford 1984, 41-76, hier 60.

Die

globale Ausdehnung

der

Gerechtigkeit

201

postmetaphysischen Zeitalter, nachdem metaphysische, religiöse und traditionelle Auffassungen ihre allgemeine Plausibilität verloren haben, scheint es unmöglich, friedlich eine allgemeine Einigung über gemeinsame politische Anliegen zu erzielen, ohne nen.

Im

die

Forderung anzuerkennen, daß Personen in diesem fundamentalen Sinn als Gleiche behandeln sind. Moralische Gleichheit stellt somit das „egalitäre Plateau" dar, auf dem sich alle gegenwärtigen Theorien bewegen.14 Moralische Gleichheit läßt sich aus dem Prinzip der gegenseitigen Rechtfertigung begründen. Da es unmoralisch ist, jemanden zu etwas zu zwingen, von dem er oder sie nicht im Prinzip überzeugt ist und dem er oder sie deshalb zustimmen kann, verleihen nur Gründe, die der oder die andere prinzipiell akzeptieren kann, das moralische Recht, die Person diesen Gründen gemäß zu behandeln. Dabei bedarf es für die unparteiische Rechtfertigung von Normen der Reziprozität und Allgemeinheit der Gründe. Allgemeine, durch Sanktionen bewehrte Normen und Rechte sind nur dann moralisch begründet, wenn sie zum einen reziprok zu rechtfertigen sind, d.h. wenn die eine Person nicht mehr von der anderen verlangt, als sie selbst zuzugestehen bereit ist (Gegenseitigkeit), und zum anderen, wenn sie mit dem Hinweis auf die Interessen aller Betroffenen gerechtfertigt werden, d.h. von allen mit guten Gründen akzeptiert werden bzw. von keinem Betroffenen mit gutem Grund zurückgewiesen werden können (Allgemeinheit).15 Letztlich können nur die Betroffenen selbst ihre (wahren) Interessen formulieren und vertreten. Die gleiche Achtung, die wir uns wechselseitig schulden, verlangt deshalb Respekt vor der jeweiligen autonomen Entscheidung der Individuen als unvertretbare einzelne.16 Diese prozedurale Konzeption moralischer Legitimität sieht in der Autonomie der Individuen jene Instanz, der gegenüber allgemeine Regeln, Normen, Rechte usw. rechtfertigungsbedürftig sind. Gegenüber den autonomen Individuen läßt sich eine prinzipielle Ungleichberücksichtigung nicht (mehr) allgemeinverbindlich begründen. So können nur solche Regelungen als legitim gelten, denen alle Betroffenen gleichermaßen mittels allgemeiner, diskursiv einlösbarer, geteilter Gründe frei zustimmen können. Das fundamentale Prinzip moralischer Gleichheit verstärkt somit die Idee der Unparteilichkeit (die ja schon eine Bedingung der Gerechtigkeit überhaupt darstellt) um einen inhaltlichen Gesichtspunkt, so daß sie besagt, daß jede Person gleiches Gewicht besitzt und die essentiellen Interessen jeder Person in öffentlichen Angelegenheiten gleiche Berücksichtigung in Gestalt einer unparteilichen interpersonalen Regelung oder Verteilungsregelung finden müssen. Daraus läßt sich ein Verbot willkürlicher Ungleichbehandlung, also ein Diskriminierungsverbot ableiten: Gerechtigkeit bedeutet, niemanden willkürlich zu

zu

14

15

16

benachteiligen. Vgl.

Will Kymlicka, Politische Philosophie heute. Eine Einführung, übers, v. Hermann Vetter, Frankfurt/M. 1996, 5. Die Letztbegründungsfrage bleibt mit dieser Feststellung einer weitgehenden Übereinstimmung erklärtermaßen offen. Vgl. Rainer Forst, Kontexte der Gerechtigkeit. Politische Philosophie jenseits von Liberalismus und Kommunitarismus, Frankfurt/M. 1994, 68. Vgl. Lutz Wingert, Gemeinsinn und Moral. Grundzüge einer intersubjektivistischen Moralkonzeption, Frankfurt/M. 1993, 90-96.

Stefan

202

Gosepath

Ausgangspunkt für die Bestimmung des Inhalts der politischen Moral ist die Idee der (Verteilungs-)Gerechtigkeit und zwar in ihrer ganzen Breite. Unsere politisch-moralischen, subjektiven Rechte können mittels des Rechtfertigungsprinzips ermittelt werden.

Sie dienen dazu, die Forderungen der Gerechtigkeit zu konkretisieren und zuzuschreiben, wenn wir Menschen willens sind, unserer Gerechtigkeitspflicht nachzukommen, gerechte Verhältnisse herzustellen und Güter und Lasten gerecht zu verteilen. Welche Prinzipien als in diesem Sinne gerechtfertigte Prinzipien der Gerechtigkeit gelten können, ist in der Philosophie strittig. Allerdings kommt es hier für die Klärung der anstehenden Frage nach dem Umfang der Gerechtigkeit nicht auf die besonderen und gegebenenfalls strittigen Aspekte der spezifischen Gerechtigkeitstheorien an. Wesentlich ist vielmehr, ob sie trotz ihrer Differenzen im weiten Sinne zu einer Familie von Gerechtigkeitskonzeptionen gehören, die von der gegenwärtigen Hauptströmung der Sozial- und Moralphilosophie und politischen Philosophie als ziemlich plausibel akzeptiert wird. Die Familie wird durch drei gemeinsame Merkmale charakterisiert: Gerechtigkeit ist danach distributiv, moralisch egalitär und universalistisch. Gemäß dem ersten Gesichtspunkt ist es die primäre Aufgabe der Gerechtigkeit, Rechte und Pflichten, Güter und Lasten mit guten Gründen so zu verteilen bzw. umzuverteilen, daß jede Person das bekommt bzw. hat, was ihr zusteht (Prämisse der Verteilung). Gemäß dem zweiten Gesichtspunkt wird allen Menschen gleiche Würde und ein Anspruch auf gleiche Achtung und Rücksicht zugestanden (Prämisse der moralischen Gleichheit). Gemäß dem dritten Gesichtspunkt muß jede Norm, um als moralisch gerechtfertigt gelten zu können, gegenüber jeder betroffenen Person gerechtfertigt werden können, d.h. alle berechtigten relevanten Ansprüche (zumindest) aller Menschen müssen berücksichtigt werden (Prämisse des Universalismus). Alle Theorien, die diese drei Merkmale teilen, müssen Gerechtigkeit als global

begreifen.17

Anwendungsbereich von Gerechtigkeit bilden soziale Verhältnisse, in denen Perihr Zusammenleben und ihre Ansprüche gegeneinander durch wechselseitige Zusonen weisungen von Pflichten und Rechten gemeinsam moralisch regeln müssen. Sofern es sich um die sozialen Verhältnisse aller Menschen qua „Mitgliedschaft" in der Menschengemeinschaft handelt, sind diese Rechte und Pflichten, Lasten und Güter weltweit gerecht zu verteilen. Es handelt sich demnach um Forderungen der Gerechtigkeit, die prima facie alle Menschen qua Menschen betreffen. Diese moralischen Pflichten und Ansprüche, die sich aus der Gerechtigkeit ergeben, gelten somit prima facie weltweit. Denn nach dem Prinzip der Rechtfertigung müssen alle Regelungen, Handlungen und zu verantwortenden Verhältnisse bzw. Zustände allen Betroffenen gegenüber gerechtfertigt werden. Den

17

Gosepath, Zu Begründungen sozialer Menschenrechte, in: Philosophie der Menschenrechte, hrsg. v. Stefan Gosepath u. Georg Lohmann, Frankfurt/M. 1998, 146-187.

Vgl.

Stefan

der

Die

globale Ausdehnung

II.

Zurückweisung möglicher Gründe Beschränkung der Gerechtigkeit

203

Gerechtigkeit

für eine theoretische

Eine Sichtweise wie die skizzierte hat sicherlich ihre Vorzüge. Indem die Philosophie schon früh eine universalistische Konzeption der Gerechtigkeit entwickelte, legte sie zugleich eine Theorie globaler Gerechtigkeit in nuce vor, die ihrer Zeit vorauseilte und ihr immer noch voraus ist, da sie der Globalisierung und der Entmachtung der Nationalstaaten, die erst jetzt ins öffentliche Bewußtsein rücken, bereits systematisch Rechnung trägt. Hier kommt die Philosophie einmal nicht zu spät. Gerechtigkeit kann nicht mehr nationalstaatlich verfaßt werden, wenn Nationalstaaten zunehmend ihre ursprüngliche Macht an supranationale Akteure verlieren, weil zum einen supranationale politische Allianzen wie EU, NATO, UN und zum anderen international operierende, privat finanzierte Firmen durch ihr enormes Kapital als global players finanziell viel potenter, politisch viel mächtiger und oft auch flexibler sind, als es viele Staaten sein können. Wir scheinen uns auf eine neue, postnationale Konstellation zuzubewegen.18 Gegenüber der Herausforderung der Globalisierung ist eine Konzeption globaler statt nationaler Gerechtigkeit die beste, wenn nicht die einzige angemessene und zeitgemäße Antwort. Eine solche Theorie hat jedoch auch ihre Nachteile und Probleme. In den Augen vieler, wenn nicht der meisten Menschen verlangt globale Gerechtigkeit zu viel, sowohl von den Individuen als auch von den Staaten.19 Der Vorwurf lautet also auf Überforderung. Wenn alle Menschen weltweit wirklich einen prima facie gleichen Rechtsanspruch auf Gerechtigkeit hätten, würde dies für die Bürger und Bürgerinnen vieler Länder viel mehr Rechte und eine enorme Umverteilung von den wohlhabenden Gesellschaften zu den Armen dieser Welt bedeuten. Dies entspricht allem Anschein nach nicht den wohlüberlegten Gerechtigkeitsurteilen der Bürger und Bürgerinnen weltweit. Die globale Theorie scheint also wegen ihrer radikalen Konsequenzen nicht akzeptabel, und zwar was ihren räumlichen wie ihren inhaltlichen Umfang angeht. Scheinbar wird zuviel an zu viele verteilt. Dies sind die intuitiven Quellen der starken Vorbehalte dagegen, soziale Gerechtigkeit mit der Garantie prima facie weltweit geltender Rechtsansprüche in eins zu setzen. Die Forderung globaler Gerechtigkeit ist dem Einwand ausgesetzt, für ein weit verbreitetes Verständnis von globalen (Menschen-)Rechten nicht angemessen aufkommen zu können, wonach Menschenrechte nur einen Kern von besonders fundamentalen und wichtigen Rechten weltweit garantieren, jedoch nicht das Ganze der Gerechtigkeit. Deshalb gilt es die Gründe zu prüfen, die nach Meinung vieler für eine restriktivere Konzeption universaler Gerechtigkeit sprechen, der zufolge Menschenrechte nur eine weltweite Minimalgerechtigkeit umfassen. Der Vorwurf der Überforderung bleibt so lange abstrakt und leer, wie die Opponenten globaler Gerechtigkeit nicht andere moralische Prinzipien angeben können, die besser zu unseren wohlüberlegten Gerechtigkeitsurteilen 18 19

Vgl. Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt/M. 1998. Vgl. David Miller, The Limits of Cosmopolitan Justice, in: International Society. Diverse Ethical Perspectives, hrsg. v. David R. Mapel u. Terry Nardin, Princeton, N.J. 1998, 164-181 und Brian Barry, International Society from a Cosmopolitan Perspective, ebenda, 144-163.

Stefan

204

Gosepath

passen. Was wären solche möglichen Prinzipien oder theoretischen Konstrukte, mittels deren ein beschränkter Geltungsbereich der Gerechtigkeit begründet werden kann? Eine Vielzahl der bekannten Einwände sowie konkurrierender Theorien, wie z.B. rein marktliberale oder kommunitaristische Auffassungen, stammen von außerhalb des beschriebenen distributionistischen, moralegalitaristischen, universalistischen „Lagers". Ihnen gebührte eine eingehende Würdigung und Widerlegung, die hier jedoch unterbleiben muß. Statt dessen konzentriere ich mich im folgenden auf die Frage, ob es auch innerhalb der Familie distributionistischer, moralegalitaristischer, universalistischer Gerechtigkeitstheorien plausible Einwände gegen eine globale Ausdehnung der Prinzipien der Gerechtigkeit gibt. Denn auch im „universalistischen Lager" läßt sich eine generelle Tendenz beobachten, die Ansprüche der Angehörigen eines Staates gegenüber denen Außenstehender stärker zu gewichten. Vier verschiedene universalistische Einwände gegen eine umstandslose Verallgemeinerung von Forderungen der Gerechtigkeit, die nicht an Staatsgrenzen haltmacht, spielen in der gegenwärtigen Diskussion eine Rolle. Diese Einwände berufen sich (1) auf den Zusammenhang von Kooperation und Verteilungsgerechtigkeit, (2) auf das Prinzip der „moralischen Arbeitsteilung", (3) auf den Vorrang der Demokratie und (4) auf die Gefahren eines Weltstaates. Sie sollen im folgenden kurz skizziert und geprüft werden. (1) Für die Bestimmung der Reichweite der Gerechtigkeit sind, wie immer eine Theorie der Gerechtigkeit im einzelnen konstruiert werden mag, vor allem zwei Fragen relevant: zum einen die Frage, welche Güter und Lasten zur Verteilung stehen bzw. stehen sollten; zum anderen die Frage, an wen verteilt werden soll bzw. wer prima facie einen Anspruch auf einen fairen Anteil hat. Einige Theorien argumentieren diesbezüglich, daß Probleme der Verteilungsgerechtigkeit nur im Rahmen von Kooperationsbeziehungen auftreten. Solange Personen oder Gruppen nicht in institutionalisierte, gegenseitig förderliche soziale Kooperationen miteinander treten, bestehen demnach keine berechtigten Ansprüche des einen auf die erarbeiteten Gewinne des anderen. Umfang und Personenkreis der Gerechtigkeit werden dabei durch eine Art Kontraktualismus bestimmt, der an Reziprozität und gegenseitigen Nutzen appelliert.20 Verteilungsgerechtigkeit beziehe sich nur auf solche Güter, die gemeinsam, d. h. durch gesellschaftliche und wirtschaftliche faire Kooperation hergestellt worden sind. Verteilt werden sollen nur die gemeinsamen Früchte der Kooperation, auf die nur all jene einen prima facie gleichen Anspruch haben, die an der Herstellung der Güter beteiligt waren. Über andere Güter, wie z.B. natürliche Ressourcen, die nicht das Ergebnis gemeinsamer Kooperation sind, wird nichts gesagt. Indem Verteilungsgerechtigkeit bzw. die zu verteilenden Güter an gesellschaftliche Kooperation oder Produktion geknüpft werden, wird die Gruppe der Anspruchsberechtigten bereits vor der Überprüfung konkreter Ansprüche eingeschränkt. Infolgedessen haben solche Personen, die nichts zur Kooperation beitragen können, wie Behinderte, Kinder oder zukünftige Generationen, keinen Anspruch auf einen gerechten Anteil. Andere Theorien sind weniger restrik20

Das

gegenwärtig prominenteste Beispiel dafür ist Rawls' Anhänger und Kritiker folgen ihr darin.

viele

Theorie der

Gerechtigkeit, und sehr

Die

globale Ausdehnung

der

Gerechtigkeit

205

tiv, indem sie die Verteilung

zwar nicht an die tatsächliche Koproduktion koppeln, jedoch beschränken sie die Reichweite der Gerechtigkeit dadurch, daß sie sie an den Mitbürgerstatus oder ähnliches binden, also nicht an gemeinschaftliche Güterproduktion, sondern an gesellschaftliche Kooperation. Danach bleibt die Verteilungsgerechtigkeit auf die Mitglieder einer Gesellschaft begrenzt. Personen außerhalb der Gemeinschaft haben keinen Anspruch. Ungleichverteilung zwischen Staaten und die soziale Lage von Personen außerhalb der betreffenden Gesellschaft wären demnach kein Problem sozialer

Verteilungsgerechtigkeit. Diese nicht zu

Einschränkung auf gemeinsame Kooperation vermag aus mehreren Gründen überzeugen. Kooperation stellt nur einen speziellen Grund für Verteilungsgerechtigkeit dar. Die Idee distributiver Gerechtigkeit ist nicht notwendig an einen institutionellen Rahmen gegenseitig förderlicher sozialer Kooperationen gebunden. Auf keinen Fall schränkt sie die globale Ausdehnung der Gerechtigkeit ein. Es gibt erstens Ansprüche auf Güter, die nicht aufgrund von Kooperationsleistungen, sondern aufgrund von Bedürfnissen legitimiert erscheinen. Folgendes Gedankenexperiment soll intuitiv verdeutlichen, daß auch beim Fehlen von gesellschaftlichen Strukturen und sozialer Kooperation Pflichten der Gerechtigkeit bestehen.21 Man stelle sich Menschen vor, die auf verschiedenen Inseln leben. Die Inseln offerieren ihren Bewohverschiedene Lebensmöglichkeiten und -qualitäten, und die Individuen haben unterschiedliche Fähigkeiten, wie Körperstärke, körperliche Begabungen oder Intelligenz. Zwischen den Inseln sind soziale Interaktionen und Kooperationen unmöglich, jedoch besitzen die Bewohner irgendwie akkurates Wissen über die Lage der Einwohner der anderen Inseln. Zufällig ist es möglich, von bestimmten Inseln mit der Tide Boote zu anderen Inseln fahren zu lassen, die so allein von Wind und Wellen an die Ufer der anderen Inseln gebracht werden. Stellen in einem solchen Szenario tiefgreifende Ungleichheiten ein Gerechtigkeitsproblem dar? Nach unseren wohlüberlegten Urteilen müssen wir das wohl bejahen. Die Ungleichheiten an inneren und äußeren Ressourcen der Inselbewohner, die sie mit den Umständen einfach übernommen haben, ohne etwas dafür zu können oder dagegen unternehmen zu können, stellen Ungerechtigkeiten dar, weil sie unverschuldet und veränderbar sind. Deshalb müssen diese Ungleichheiten, soweit dies möglich ist, ausgeglichen werden. Wem das intuitiv zu weit zu gehen scheint, der sollte sich vorstellen, daß die Einwohner auf einer der Inseln zu verhungern drohen. Ist es nicht eine Pflicht der Gerechtigkeit, ihnen zu helfen, wenn Hilfe möglich ist, auch wenn keine wechselseitig vorteilhafte soziale Kooperation und keine gemeinsame Gesellschaft mit Institutionen und Praktiken vorhanden ist? Selbst in einer Kooperationsgemeinschaft macht Kooperationsgerechtigkeit nicht das Ganze der Gerechtigkeit aus. Neben der Gerechtigkeit innerhalb einer Kooperationsgemeinschaft gibt es auch noch, was man die Gerechtigkeit der Solidarität nennen könnte, die zumindest auf eine der jeweiligen Benern

dürftigkeit Rechnung tragende Grundsicherung zielt.22

Richard Arneson, Egalitarianism and Responsibility, in: The Journal of Ethics 3 (1999), 225-247, hier 226. 22 Vgl. Wolfgang Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, Stuttgart-Weimar 2000, 22-26. 21

Vgl.

Stefan

206

Gosepath

Zweitens muß die gerechte Verteilung nicht produzierter Ressourcen berücksichtigt werden. Dies kann man sich am Beispiel natürlicher Ressourcen wie Bodenschätze, die man zufällig auf oder unter seinem Boden findet, einsichtig machen. Warum sollten sie allein dem gehören, der sie entdeckt oder auf dessen Grund und Boden sie sich befinden? Plausibler scheint es deshalb, alle erwünschten Güter und unerwünschten Lasten sowie alle Vorteile und Nachteile des menschlichen Zusammenlebens, über die wir zusammen die Kontrolle haben und die wir verteilen können, prima facie als zu verteilende Güter anzusehen. Sollen bestimmte Güter ausgeschlossen werden, ist dies allgemein von denjenigen, die dies verlangen, zu begründen. Jede Form gegenwärtigen Eigentums muß sich rechtfertigen lassen können. Dieses Erfordernis ergibt sich aus dem Rechtfertigungsprinzip. Wenn der gegenwärtige Eigentümer oder die Eigentümerin keine allgemeine und reziproke Rechtfertigung für seinen oder ihren Besitzanspruch geben kann, die keine und keiner der Betroffenen vernünftigerweise zurückweisen kann, muß das betreffende Gut umverteilt werden. Vorhergehende Besitzrechte und Rechte, die sich aus Handel und Tausch ergeben, sind also möglich, müssen aber vor dem Hintergrund einer fairen „ersten Aneignung" der fraglichen Güter rechtfertigbar sein. So mag die Begründungskette recht weit und gewunden in die Vergangenheit zurückreichen. Kooperation insbesondere bei der Güterproduktion mag ein guter Grund für eine ungleiche Güterverteilung sein. Die Gewinne aus gemeinsamer Kooperation können jedoch auch nach landläufiger Auffassung nur dann allein den Kooperationspartnern zustehen, wenn mindestens zwei Bedingungen erfüllt sind: wenn erstens alle weltweiten Ansprüche aus objektiver physischer und eventuell sozialer Bedürftigkeit durch Absicherung ökonomischer Mindeststandards befriedigt sind und zweitens sofern das keineswegs unumstrittene Leistungsprinzip akzeptabel ist die Besserstellungen aufgrund besonderer Aufwendungen mindestens teilweise verdient sind. Die universale Moral der gleichen Achtung und das Rechtfertigungsprinzip verlangen drittens, jede Person als mit prima facie gleichem Anspruch auf die Güter anzusehen, außer es können Gründe für eine Ungleichverteilung angeführt werden. In dem Rechtfertigungsprozeß mag es nun Gründe geben, Personen, die an der Herstellung eines Gutes besonders beteiligt waren, bei der Verteilung zu bevorzugen. Aber prima facie gibt es keinen Grund, Menschen, z. B. solche aus anderen Ländern oder außerhalb bestimmter Kooperationsbeziehungen, von vornherein vom Verteilungs- und Begründungsprozeß auszuschließen. Bei (distributiver) Gerechtigkeit geht es stets darum, welche Ansprüche aufweiche Güter und Rechte gegenüber wem mit welchen Gründen zu rechtfertigen sind. Gebote der Gerechtigkeit haben es stets mit dem fairen Anteil zu tun, der nur im Rechtfertigungsverfahren ermittelt werden kann. Dieses Rechtfertigungsverfahren muß gegenüber jeder Person für jedes zu verteilende Gut angewandt werden. Es ist viertens plausibel, die jetzigen Weltverhältnisse als eine solche wechselseitig förderliche Kooperation anzusehen. Wenn es stimmen würde, daß materielle Ansprüche nur als Ansprüche auf die Ergebnisse einer wechselseitig förderlichen Kooperation begründet werden können, hinge einiges von der empirischen Frage nach der Art der weltweiten Konstellation ab. Die gegenwärtige globale Situation scheint zunehmend ver-

-

Die

globale Ausdehnung

der

Gerechtigkeit

207

gleichbar mit sozialer Kooperation, wie sie innerhalb von Einzelstaaten herrscht.23 Demnach sind die auf sozialer Kooperation basierenden Bedingungen für die Anwendung der Prinzipien der Gerechtigkeit auch auf der internationalen Ebene erfüllt. Dieser Ansicht wird aber auch widersprochen. Ihre Gegner behaupten, weder auf der politischen, kulturellen, sozialen noch auf der legalen Ebene liege genügend weltweite Kooperation vor, als daß die Bedingungen kooperationsbasierter Gerechtigkeit erfüllt wären. Die tatsächlich bestehenden Kooperationen seien (noch) zu schwach und zersplittert, als daß sie eine globale Anwendung kooperationsbasierter Gerechtigkeitsprinzipien rechtfertigen könnten.24 Diese Behauptung unterschätzt jedoch die gemeinsamen Wirkungen, die die neuen Realitäten auf uns alle haben. Krieg und Frieden, die atomare Bedrohung und ökologische Veränderungen betreffen uns international. Am meisten verändern sich unsere Gesellschaften durch die globalisierenden Effekte gleichzeitiger weltweiter Kommunikation. Durch diese Möglichkeit etabliert sich zur Zeit ein instantaner globaler Informationsaustausch und mit seiner Hilfe eine weltweite finanzielle und ökonomische Kooperation. Zudem gibt es eine nicht zu unterschätzende Entwicklung hin zu einem globalen moralischen Gewissen oder zumindest einem globalen Sinn für schwerwiegende Ungerechtigkeit, die sich z.B. in Sachen Menschenrechte durch öffentlichen Druck oder weltweite Proteste eines informierten globalen Bürgertums bemerkbar macht. Die langsame Etablierung von internationalem Recht und von internationalen Regierungs- wie Nichtregierungsorganisationen hat enorme Folgen für die Verwirklichung globaler Gerechtigkeit. Der Streit um die korrekte Beschreibung der gegenwärtigen internationalen Beziehungen ist von einem philosophischen Standpunkt aus jedoch nicht zentral. Immer wenn es um Gerechtigkeit geht, kommt es vielmehr wesentlich auf die sogenannten „Umstände der Gerechtigkeit" an,25 die immer dann vorliegen, wenn Ansprüche auf knappe Güter konfligieren. Diese Umstände der Gerechtigkeit liegen im menschlichen Leben stets vor, sind also empirisch unvermeidbar und machen damit Gerechtigkeit notwendig. Denn viele der begehrten Güter sind knapp, weil Menschen unerfüllbare und konfligierende Interessen zu entwickeln pflegen. Diese durch Interessensgegensätze gekennzeichnete Situation können sie selbst nicht lindern oder überwinden. Deshalb liegen die Umstände Vgl. für solche Ansätze Thomas W. Pogge, Rawls and Global Justice, in: Canadian Journal of Philosophy 18 (1988), 227-256; Charles R. Beitz, Political Theory and International Relations, Princeton, N.J. 1979, 143ff. 24 Vgl. William Nelson, Special Rights, General Rights, and Social Justice, in: Philosophy & Public Affairs 3 (1974), 410-430, bes. 425 ff; Wolfgang Kersting, Weltfriedensordung und globale Verteilungsgerechtigkeit. Kants Konzeption eines vollständigen Rechtsfriedens und die gegenwärtige politische Philosophie der internationalen Beziehungen, in: „Zum ewigen Frieden". Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant, hrsg. v. Reinhard Merkel u. Roland Wittmann, Frankfurt/M. 1996, 172-212, hier 197 ff; Christine Chwaszcza, Politische Ethik II: Ethik der Internationalen Beziehungen, in: Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung. Ein Handbuch, hrsg. v. Julian Nida-Rümelin, Stuttgart 1996, 154-198, hier 173. 25 Vgl. David Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur (Buch 3, Teil 2, Abs. 2), übers. u. mit Anm. u. Register vers. v. Theodor Lipps, 2 Bde., Hamburg 1978, Bd. 2, 227 ff; Rawls, Theorie der Gerechtigkeit (§ 22), 148 ff. 23

208

Stefan

Gosepath

der

Gerechtigkeit weltweit vor. Aus diesem und den oben genannten Gründen ist eine Einschränkung der Reichweite der Gerechtigkeit auf funktionierende, institutionalisierte, gegenseitig förderliche Formen sozialer Kooperation zurückzuweisen. (2) Es gibt universalistische Theorien, die die Position vertreten, daß eine besondere Fürsorge der Staaten für ihre Einwohner im Rahmen einer moralischen Arbeitsteilung gerechtfertigt werden kann. Moralische Arbeitsteilung gibt es in verschiedenen Formen, hier sind vor allem zwei konkurrierende Modelle einschlägig: zum einen das Modell der zweckmäßigen Pflichtzuweisung, zum anderen das Modell der beziehungsabhängigen -

Verantwortlichkeiten. Nach dem Modell der zweckmäßigen Pflichtzuweisung haben alle Menschen unabhängig von ihren besonderen Beziehungen untereinander die gleichen wechselseitigen Rechte und Pflichten.26 Einige dieser Rechte, insbesondere die auf positive Leistungen, können nur dann effektiv garantiert werden, wenn ihre Befolgung nicht dem unkoordinierten Handeln von Individuen allein überlassen bleibt, sondern die Sicherung dieser Rechte und die Befolgung der entsprechenden Pflichten gemeinschaftlich geregelt wird. Um diese Rechte effektiv umsetzen zu können, müssen die entsprechenden Pflichten gesellschaftlich verteilt werden, so daß bestimmte Personen oder Institutionen verpflichtet werden, die Rechte gewisser Personen zu wahren. Aufweiche Art und Weise diese Pflichten verteilt werden, ist bloß eine Frage der Zweckmäßigkeit. Die Pflichten sollten so verteilt werden, daß die Rechte aller Personen soweit wie möglich erfüllt werden. Man kann sich das an dem Beispiel klarmachen, wie Eltern gegenüber ihren Kindern spezielle Verpflichtungen übernehmen und diese gegebenenfalls gegenüber anderen Personen bevorzugt behandeln dürfen und sollen.27 Es muß nicht behauptet werden, daß die eigenen Kinder prinzipiell in besonderer Weise zu berücksichtigen sind. Im Sinne einer moralischen Arbeitsteilung reicht es aus, daß die Fürsorgepflicht von den Eltern in der Regel besonders gut ausgeübt wird. Das Modell der zweckmäßigen Pflichtzuweisung hat seine Vorzüge. Es ist jedoch ungeeignet, um gegen die globale Ausdehnung der Gerechtigkeit zu opponieren, weil es die Menge der moralischen Rechte und Pflichten zwischen den Menschen schlicht als gegeben voraussetzt und sich nur fragt, wie die Pflichten Individuen zugeteilt werden sollen, damit die Rechte effizient garantiert sind. Es setzt somit ein davon unabhängiges Kriterium globaler oder lokaler Gerechtigkeit schon voraus. Das jeweils präsupponierte Kriterium, nicht die moralische Arbeitsteilung, trägt folglich die ganze argumentative Last. Das Modell der beziehungsabhängigen Verantwortlichkeiten bezieht sich demgegenüber auf die speziellen sozialen Beziehungen von Personen. Deren gegenseitige Rechte und Pflichten werden im einzelnen nach dem Grad ihrer Beziehung untereinander fest26

27

Für diese Unterscheidung und ihre Exposition stütze ich mich im folgenden auf Peter Koller, Der Geltungsbereich der Menschenrechte, in: Philosophie der Menschenrechte, 96-123, hier 105f. Vertreten wird das Modell z.B. von Robert E. Goodin, What Is So Special about Our Fellow Countrymen?, in: Ethics 98 (1988), 663-686, hier 678 ff. Vgl. Stephan Schlothfeldt, Migration als Problem der internationalen Verteilungsgerechtigkeit (Arbeitsbericht Nr. 1 der Nachwuchsgruppe „Interdisziplinäre soziale Gerechtigkeitsforschung"), Ts., Berlin 2000.

Die

globale Ausdehnung der Gerechtigkeit

209

gelegt. Nach diesem Modell haben Menschen gegeneinander um so stärkere Ansprüche und Verpflichtungen, je enger sie durch ein Verhältnis der Kooperation oder durch Abhängigkeiten miteinander verbunden sind.28 Damit ein solches Verhältnis vorliegt, muß zumindest eine der beiden folgenden Bedingungen erfüllt sein: (1) Den Beteiligten muß bewußt sein, an einem gemeinsamen Unternehmen der wechselseitigen Zusammenarbeit oder der gegenseitigen Unterstützung beteiligt zu sein. (2) Das Handeln der jeweiligen

Personen muß faktische Auswirkungen auf das Leben bzw. die Lebenschancen der andehaben. Je stärker der Interaktionszusammenhang, in dem die Menschen sich befinden, desto stärker auch die moralischen Verpflichtungen, die zwischen ihnen bestehen. Dieses Modell mag besser als das erste erklären, warum die Verpflichtungen zwischen Familienmitgliedern stärker sind als die zwischen den Bürgern und Bürgerinnen eines Staates und warum die Bürger und Bürgerinnen untereinander wiederum mehr Verpflichtungen haben als zu den Mitgliedern anderer Staaten. Es bildet also eine geeignete Basis für ein Argument gegen die globale Ausdehnung der Gerechtigkeit. Für sich genommen ist das Modell der beziehungsabhängigen Verantwortlichkeiten jedoch nicht überzeugend. Das Modell legt nämlich ein verdinglichtes Verständnis sozialer Beziehungen nahe. Denn es nimmt die existierenden Merkmale sozialer Beziehungen zwischen den Menschen einfach als gegeben an, ohne nach ihrer Angemessenheit zu fragen. Diese Merkmale sind jedoch kontingent und oft genug fragwürdig. Andere Beziehungen oder Beziehungen anderer Art wären womöglich besser geeignet, den Forderungen der Gerechtigkeit und den Bedürfnissen der Betroffenen zu entsprechen. Hingen die moralischen Verpflichtungen von Menschen nur von ihren tatsächlich existierenden Beziehungen ab, gäbe es keine Möglichkeit, diese vom moralischen Standpunkt aus zu hinterfragen und dadurch gegebenenfalls zu verändern. Der moralische Standpunkt und die Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit sind nicht an zufällig bestehende persönliche Beziehungen gebunden und sie werden auch in den wohlüberlegten Gerechtigkeitsurteilen der Menschen nicht so verstanden.29 Beide Modelle haben zudem einen gemeinsamen Mangel. Wenn die Familie als ein passendes Beispiel für moralische Arbeitsteilung gelten kann, so zeigt das nur, daß die moralische Arbeitsteilung nur so lange aufrechterhalten werden kann, wie die Parteien, denen die Verpflichtungen obliegen, ihnen auch effektiv nachkommen können. Ansonsten müssen andere Institutionen für sie einspringen. Es bedarf eines föderalen Systems, das die notwendige Unterstützung oder einen Ersatz gewähren kann, wenn sich die Pflichtenverteilung als ineffizient herausstellt. Eine bedingungslose moralische Arbeitsteilung wäre gesellschaftlich zu riskant, weil sie für diejenigen eine ungebührliche Benachteiligung bedeuten würde, deren moralische Rechte durch Nachlässigkeit oder Überforderung der zunächst zuständigen Instanz nicht ausreichend gewährleistet werden. Deshalb bedarf die Idee der moralischen Arbeitsteilung einer Supplementierung durch ein föderales System globaler Gerechtigkeit. (Dazu weiter unten mehr.) ren

Dieses Modell, dessen Beschreibung von Koller, Geltungsbereich der Menschenrechte, 106 f. übernommen wurde, vertritt z.B. Michael Walzer, Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit, übers, v. Hanne Herkommer, Frankfurt/M. 1992. 29 Vgl. Koller, Geltungsbereich der Menschenrechte, 106.

28

Stefan

210

Gosepath

(3) Demokraten akzeptieren zwei politische Ideale gleichzeitig: zum einen die Idee der Menschenrechte als universalistische Ansprüche aller Menschen weltweit, die von allen Menschen und Staaten akzeptiert werden müssen, und zum anderen die Idee der Demokratie als beste Herrschaftsform, als die Herrschaft des Volkes für das Volk. Die beiden Ideale scheinen jedoch in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander zu stehen.30 Viele Kritiker sehen globale Gerechtigkeit in einem fundamentalen Konflikt mit Demokratie oder Selbstregierung als den leitenden normativen Idealen für kollektive Organisationen. Dabei schreiben sie dem Ideal der öffentlichen kollektiven Selbstgesetzgebung der Staatsbürger einen Vorrang vor den liberalen Grundrechten zu.31 Die (Menschen-)Rechte sollen ihre legitime Geltung dem Ergebnis der souveränen Selbstbestimmung eines politischen Gemeinwesens verdanken. Die Grundrechte stellen demnach eine Funktion bzw. einen konstitutiven Bestandteil demokratischer Partizipations- und Kommunikationsrechte dar. Der Vorrang der Demokratie wird mit dem gleichen grundlegenden Recht einer jeden Person auf Freiheit und damit Selbstbestimmung begründet: Der gleiche Respekt, den wir uns moralisch wechselseitig schulden, verlangt Respekt vor der autonomen Entscheidung eines jeden Individuums als eines unvertretbaren einzelnen. Menschen dürfen deshalb nicht durch irgendwelche Regelungen oder Regierungen zu etwas gezwungen werden, außer sie können dem im Prinzip frei zustimmen. Aus dem Prinzip der Selbstbestimmung oder Selbstgesetzgebung leitet sich das Argument für die Demokratie ab. Das Kriterium für politische Legitimität kann unter den anerkannten Bedingungen der subjektiven Freiheit nur der Konsens sein. Denn nur wenn es eine Übereinstimmung über eine fragliche Regelung gibt, stimmt dieser Regelung jede Person für sich selbst freiwillig zu. Somit folgt jede Person dabei ihrem eigenen Willen als Regel. Jede Person bestimmt sich selbst und regiert sich selbst. Ergebnisse sind dann demokratisch legitimiert, wenn sie das gemeinsame Ergebnis einer freien und vernünftigen Übereinkunft unter Gleichen sein könnten.32 Freiheit, Gleichheit und Rationalität geben die Bedingungen an, unter denen demokratische Partizipation und Entscheidungen legitimierte Ergebnisse hervorbringen. Eine solche „demokratisch-republikanische" Auffassung versucht aus dem moralischen Kriterium der allgemeinen prinzipiellen Zustimmungsfähigkeit das Primat von Verfahren politischer Selbstgesetzgebung und demokratischer Legitimation von Gesetzen abzum folgenden Punkt ausführlicher Stefan Gosepath, Das Verhältnis von Demokratie und Menschenrecht, in: Demokratischer Experimentalismus, hrsg. v. Hauke Brunkhorst, Frankfurt/M. 1998, 201-241. 3 1 Diese „demokratisch-republikanische" Auffassung vertritt klassisch Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, in: ders., Politische Schriften, Bd. 1, übers, u. eingef. v. Ludwig Schmidts, Paderborn u.a. 1977, 59-208, heute Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/M. 1992 und besonders radikal Richard Rorty, Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie, in: ders., Solidarität oder Objektivität? Drei philosophische Essays, übers, v. Joachim Schulte, Stuttgart 1987, 82-125. 32 Vgl. Joshua Cohen, Deliberation and Democratic Legitimacy, in: The Good Polity. Normative Analysis of the State, hrsg. v. Alan Hamlin u. Philip Pettit, Oxford 1989, 17-34, hier

30

Vgl.

22.

Die

globale Ausdehnung

der

Gerechtigkeit

211

zuleiten, die Gerechtigkeit verbürgen sollen. Wenn die skizzierte Argumentation gültig ist,33 hätte Demokratie eine gleich starke, wenn nicht sogar stärkere moralische Fundierung wie die Gerechtigkeit. Globale Gerechtigkeit geht der Demokratie nicht voraus, sondern entsteht allenfalls als weltweiter überlappender Konsens über die moralischen Präsuppositionen demokratischer Selbstbestimmung der Völker. Konflikte zwischen Forderungen globaler Gerechtigkeit, die bestimmte Maßnahmen für bestimmte Gebiete fordert, und den Ergebnissen eines demokratischen Entscheidungsverfahrens jener Gesellschaft, die sich in dem betreffenden Gebiet selbst regieren darf, sind nicht ausgeschlossen.34 Die demokratischen Entscheidungen einer Gesellschaft brauchen nicht dem zu entsprechen, was wir für Gerechtigkeitsforderungen halten, und tun es oft auch nicht. Von der moralischen Sonderstellung des Rechtfertigungsprinzips als prozedurales Prinzip der Normengenerierung darf jedoch nicht auf ein Primat des Demokratieprinzips geschlossen werden.35 Vielmehr muß die Moral „konstruktiv" als ein Kanon von Grundprinzipien der Gerechtigkeit und Menschenrechte interpretiert werden. Die Prinzipien der Gerechtigkeit bilden ihrerseits die substantielle Basis einer jeden legitimen Gesetzgebung.36 Die Selbstregierung bzw. Volkssouveränität ist dabei selbst eine Forderung der Gerechtigkeit. Selbstregierung in politischen Angelegenheiten ist ihrerseits auch eine Norm der Moral bzw. politischen Gerechtigkeit; und sie ist nur eine von vielen solchen Normen. Aus dem allgemeinen Rechtfertigungsprinzip müssen sich alle (Menschen-) Rechte gleichermaßen begründen lassen. Die durch das universale Gerechtigkeitsprinzip begründeten basalen Rechte bzw. Menschenrechte beschränken somit auch den Spielraum demokratischer Entscheidungsverfahren. Sie legen der Souveränität der Betroffenen moralisch gerechtfertigte Beschränkungen auf. Das demokratisch gesetzte positive Recht muß selbst moralisch legitim sein, d. h. die berechtigten Ansprüche der Personen auf gleiche Achtung dürfen nicht verletzt werden. Jeder Rechtszwang muß reziprok und allgemein rechtfertigbar sein und aus Einsicht befolgt werden können. Ein staatlich verfaßtes Gemeinwesen hat nur dann eine gerechte Grundordnung, wenn es ihm wesentlich um die Etablierung gerechter Verhältnisse geht. Insofern muß die Etablierung von Menschenrechten als moralischer Kern juridischer Rechte ein wesentliches ,Staatsziel' sein. Das bedeutet jedoch nicht, daß alle Rechtsgeltung zur rein moralischen Rechtsgeltung 33

Die

Hauptschwierigkeit dieser Argumentation

ist offensichtlich. Ihre wichtigste Stütze ist die auf einen Konsens. Sie vernachlässigt das grundlegende Faktum der Nichtübereinstimmung oder des Dissenses. Das ist kein Zufall. In dieser Demokratietheorie herrscht eine große Spannung zwischen der Idee, daß ein Individuum frei sein soll, die Welt, die es mit anderen zusammen bewohnt, selbst zu regieren, und dem Anspruch, daß alle die gleiche Freiheit, dies zu tun, haben sollen. Demokratie scheint nicht mit der Selbstgesetzgebung eines jeden zusammen bestehen zu können. 34 Ein weiteres Problem internationaler Gerechtigkeit besteht darin, daß internationale Institutionen sehr oft, meist durch Druck der Reichen auf die Armen, anderen aufgezwungen werden. Vgl. Thomas W. Pogge, A Global Resources Dividend, in: Ethics of Consumption. The Good Life, Justice, and Global Stewardship, hrsg. v. David A. Crocker u. Toby Linden, Lanham, Md. 1998, 501-536; ders., Priorities of Global Justice, in: Metaphilosophy 32 (2001), 6-24. 35 Vgl. Stefan Gosepath, Democracy out of Reason?, in: Ratio Juris 14 (2001), 379-389. 36 Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit.

übergroße Hoffnung

212

Stefan

Gosepath

wird. Nur für die Rechtfertigung basaler Menschenrechte, d. h. für den abstrakten moralischen Kern, der rechtlich noch konkretisiert und institutionalisiert werden muß, bedarf es moralischer Argumente. Diese abstrakten Menschenrechte bilden den Rahmen, der den Spielraum für legitime demokratische Entscheidungsmöglichkeiten markiert. Innerhalb dieses normativen Rahmens kann es demokratischen Prozessen obliegen, zum einen die notwendige rechtliche Interpretation und Konkretisierung der Menschenrechte vorzunehmen und zum anderen nach Maßgabe pragmatischer, ethischer und (über die Menschenrechte hinausgehender) moralischer Gründe eine politische Ordnung zu institutionalisieren und zu regeln.37 (4) In ihrer grundsätzlichen Tendenz scheint globale Gerechtigkeit auf die Forderung nach einem Weltstaat hinauszulaufen oder zumindest auf eine Art Kosmopolitanismus. Diese Tendenz wird auch von vielen Universalisten als politisch und moralisch gefährlich eingestuft.38 Prima facie stellt ein Weltstaat eine potentielle Gefahr dar, sofern er stets in der Lage ist, sich in einen die Welt absolutistisch oder gar tyrannisch regierenden Leviathan zu verwandeln, weil er von keiner anderen gleich mächtigen Entität mehr gestoppt oder in seine Schranken verwiesen werden kann. Diesen Einwand, globale Gerechtigkeit laufe auf einen Weltstaat hinaus, können die Verteidiger globaler Gerechtigkeit jedoch abweisen, indem sie auf einen Unterschied hinweisen zwischen der moralischen Forderung, jeden Mitmenschen weltweit mit gleicher Achtung und Rücksicht zu behandeln, und den legalen Forderungen, die sich aus der moralischen Forderung hinsichtlich der Art und des Umfangs von Rechtsstaaten ergeben.39 Die legalen Forderungen einer globalen Gerechtigkeit implizieren nicht notwendig irgendeine Art legalen Kosmopolitanismus, der ein Regime mit einer einzigen alles überragenden globalen politischen Autorität gebieten würde. Globale Gerechtigkeit enthält deshalb auch keine implizite Forderung nach einem Weltstaat, vielmehr können Gerechtigkeitsforderungen und moralische Rechte weltweit in unterschiedlichen Staaten realisiert sein. Moralische Ansprüche und Rechte machen zwar nicht an Grenzen halt; sie gelten weltweit für alle Menschen. Aber die Institutionen, die die Menschen errichten und befördern müssen, damit sie mit deren Hilfe ihren Gerechtigkeitspflichten nachkommen können, dürfen lokal und pluralistisch organisiert sein. Zu diesem Zweck können sie auch durch Grenzen eingefaßt sein, die jedoch keine moralische, sondern lediglich eine derivative Bedeutung haben. Diese Institutionen und ihre Grenzen müssen natürlich selber wiederum gerecht sein, also sich an die grundlegenden weltweiten Prinzipien für gerecht institutionalisierte Organisationen halten.40 Eine föderale Gemeinschaft institutionalisierter Gesellschaften, die nicht Staaten, wie wir sie kennen, sein 37

Zur

Spannung zwischen Grundrechten und deren demokratischen Interpretationen vgl. Albrecht

Wellmer, Demokratie und Menschenrechte, in: Philosophie der Menschenrechte, 265-292. 38 Vgl. Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 8, Berlin-Leipzig

21923,

341-386. Thomas W. Pogge, Cosmopolitanism and Sovereignty, in: Ethics 103 49; Beitz, Political Theory and International Relations, 199. 40 Vgl. Pogge, Cosmopolitanism and Sovereignty. 39

Vgl.

(1992), 48-75,

hier

Die

globale Ausdehnung

der

213

Gerechtigkeit

von Kulturen, Traditionen und Weltanmit den universalen, moralisch egalitären, Prinzipien schauungen zulassen, sofern diese der Gerechtigkeit verträglich sind. Globale Gerechtigkeit sollte man als kontinuierliche Ausdehnung und Erweiterung der Gerechtigkeit nach einem mehrstufigen Modell auffassen. Der primäre Bezugspunkt der Gerechtigkeit sind eher lokale Institutionen. Nur solche Probleme, die auf der lokalen Ebene nicht ausreichend gelöst werden können, müssen auf der nächsthöheren Ebene behandelt werden. So geht die Stufenfolge weiter bis zur höchsten und globalsten Ebene: bis zur Welt als ganzer. Dieses vielstufige Modell beschränkt globale Gerechtigkeit nicht nur auf solche Themen, mit denen kleinere Gemeinschaften nicht umgehen dürfen, sondern auch auf strukturelle Maßnahmen und strukturelle Kooperation. Denn verlangt wird nur eine Kooperation zwischen den kleineren Einheiten, die den fairen Umgang der Staaten miteinander sichert und so Gerechtigkeit auch in bezug auf jene Themen ermöglicht, mit denen Staaten jeweils allein nicht angemessen umgehen können. Das staatliche Modell, das für Einzelstaaten passend sein mag, darf also aus mindestens zwei Gründen nicht einfach auf den Weltmaßstab übertragen werden. Zum einen könnte ein einziger Weltstaat gefährlich sein. Zum anderen wird ein mehrstufiger Aufbau einer Weltordnung von der moralischen Idee der Subsidiarität gefordert.41 Dem normativen Individualismus zufolge, nach dem die einzelnen Individuen die Adressaten moralischer Ansprüche sind und jegliche Begründung bei ihnen beginnt, bleiben die Individuen auch primär zuständig für die Bewältigung ihrer Verantwortung. Was der einzelne aus eigener Initiative und mit eigenen Kräften leisten kann, muß er auch leisten und darf nicht der Gemeinschaft überlassen werden. Das Individuum hat also die Pflicht wie auch das Recht zur Eigenverantwortung und Selbsthilfe. Dieses Prinzip überträgt sich entsprechend auf die hierarchische Aufstufung der Gemeinschaften. Was die kleinere, niedrigere Einheit leisten kann, muß sie allein vollbringen. An die höhere darf sie nur abgeben, womit sie allein überfordert ist. Diese moralische Idee paßt sich gut ein in die schon genannten moralischen Ideale der Demokratie und des Föderalismus. Ein Weltzentralstaat darf nicht von oben geschaffen werden, sondern nur von unten. Von den lokalen Einheiten her muß etwas ähnliches wie ein föderaler Weltbund demokratisch und subsidiar aufgebaut werden. Einer solchen Weltorganisation verbleiben nur Restaufgaben. Sie komplementiert die einzelnen lokalen, föderal organisierten Institutionen, wo sie Ergänzung nötig haben, ohne sie abzulösen. Alle Aufgaben, auch die, welche die Gerechtigkeit betreffen, sind zunächst auf der niedrigstmöglichen Ebene zu behandeln und zu lösen, beispielsweise das Zivil- und Strafrecht. Dann bleiben immer noch genügend Aufgaben für die Institutionen auf der globalen Ebene übrig. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, daß das Prinzip der Subsidiarität, wenn es gerecht sein soll, eine anfänglich faire globale Ressourcenverteilung verlangt. Denn

müssen, kann damit eine Menge und Vielfalt

41

Andreas Follesdal, Subsidiarity, in: The Journal of Political Philosophy 6 (1998), 231259; Otfried Hoffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 1999, 126-134; Stefan Gosepath, Globale Gerechtigkeit und Subsidiarität, in: Föderale Weltrepublik. Über

Vgl.

die Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, Merle, erscheint: München 2002.

hrsg.

v.

Stefan

Gosepath

u.

Jean-Christophe

214

Stefan

Gosepath

Selbsthilfe zu verlangen, die ungerechterweise weniger als andere haben, aber sich selbst helfen könnten, scheint unfair. Deshalb entspringt die Entwicklungshilfe der Ersten Welt, die der Dritten Welt Hilfe zur Selbsthilfe geben will, zwar einem richtigen moralischen Impuls, realisiert aber keineswegs die dafür nötigen fairen Hintervon

denjenigen

grundbedingungen.

*

Obwohl die genannten Einwände genauer geprüft und diskutiert werden müßten, als es hier möglich war, können sie meines Erachtens die universalistische Auffassung globaler Gerechtigkeit nicht unterminieren. Angesichts der Art und Weise, in der die Weltgemeinschaft zur Zeit existiert, der Möglichkeiten der Kontrolle, die sie über die sozialen Verhältnisse hat, und der mit diesen Möglichkeiten verbundenen Verantwortung müssen alle Güter- und Lastenverteilungen den Betroffenen gegenüber gerechtfertigt werden können. Aus der Perspektive eines distributionistischen, moralegalitaristischen und universalistischen Ansatzes ist nicht zu sehen, warum der berechtigte moralische Anspruch auf den gerechten Anteil an weltweiten Gütern und Lastern nicht in Form globaler Anspruchsrechte gefaßt werden sollte. Wir Universalisten sind jedoch weiterhin mit dem gewaltigen Problem konfrontiert, daß diese Ansicht bei vielen nicht auf Zustimmung stößt. Welchen Sinn und Nutzen hat eine Gerechtigkeitskonzeption, wenn sie nicht von den meisten Mitmenschen geteilt wird? Dieses Problem wirft eine Menge Fragen auf, die weiterhin nach Antworten verlangen: Basiert die Ablehnung der Prinzipien globaler Gerechtigkeit wirklich auf wohlüberlegten Urteilen?42 Wenn dem so sein sollte: Gibt es jetzt oder zukünftig eine Möglichkeit, weltweit eine Theorie globaler Gerechtigkeit und die wohlüberlegten Gerechtigkeitsurteile in ein Gleichgewicht zu bringen? Welche Seite muß sich dazu gegebenenfalls anpassen, die Theorie oder die basalen Intuitionen? Wenn dem jedoch nicht so sein sollte, müßte es möglich sein zu zeigen, daß kosmopolitische Theorien sehr wohl So für die handfestesten weltweiten Gerechtigkeitsintuitionen aufkommen können. bleibt selbst in der abstrakten, idealen Theorie noch viel zu klären, ganz zu schweigen von den noch ganz ungeklärten Fragen im Bereich der nichtidealen Theorie.* -

42

*

John Rawls (Law of Peoples) scheint den Kosmopolitanismus abzulehnen, weil dieser zur Zeit nicht den Begriffen, Prinzipien und basalen Ideen entspricht, die sich in der dünnen öffentlichen Kultur internationaler Vereinbarungen finden. Nach Rawls sind die geteilten Gründe für globale Gerechtigkeit demnach noch zu schwach. Dies ist eine wesentlich kürzere und veränderte deutsche Fassung von Stefan Gosepath, The Global Scope of Justice, in: Metaphilosophy 32 (2001), 135-159. Autor, Herausgeber und Verlag danken dem Verlag Blackwell, Oxford für die freundlich erteilte Zustimmung zum Abdruck.

Rainer Forst

Zu einer kritischen Theorie transnationaler

Gerechtigkeit

1. Dem Nachdenken über eine Konzeption von Gerechtigkeit, die die Grenzen von Einzelstaaten transzendiert, stellt sich an erster Stelle die Frage, ob diese Konzeption Prinzipien internationaler oder vielmehr globaler Gerechtigkeit enthalten sollte. Während nach der ersten Sichtweise staatlich organisierte politische Gemeinschaften die Hauptakteure der Gerechtigkeit (d. h. zu gerechtem Handeln aufgefordert bzw. gerecht zu behandeln) sind, sind es letzterer zufolge Einzelpersonen, ungeachtet ihrer politischen Mitgliedschaft, auf die die Gerechtigkeit konzentriert ist. In der einen Perspektive sollen Grundsätze internationaler Gerechtigkeit die Beziehungen zwischen Staaten auf faire Weise regulieren, in der anderen sollen Prinzipien globaler Gerechtigkeit die Verhältnisse zwischen allen Menschen auf der Welt regeln und ihr individuelles Wohlergehen sichern. Vertreter des ersten Ansatzes kann man als „Etatisten" bezeichnen, die des zweiten als „Globalisten". Diese Kennzeichnungen sind natürlich künstlich und vereinigen eine Reihe ganz unterschiedlicher Vorstellungen in sich. So findet man im ersten Lager liberale Theoretiker, die die Autonomie der Völker betonen, Kommunitaristen, die die Integrität kultureller Gemeinschaften hervorheben, Nationalisten, die den Vorrang nationaler Bindungen und Mitgliedschaften vertreten, und Souveränitätstheoretiker, die die Unabhängigkeit der Staaten verteidigen, und natürlich Mischformen solcher Ansätze.1 Im Zentrum der Debatte zwischen Etatisten und Globalisten steht die Frage, in welchem Maße die Welt insgesamt als ein Kontext der Gerechtigkeit anzusehen ist: als ein Kontext, der durch sich widerstreitende Ansprüche gekennzeichnet ist, die nach einer Beurteilung im Lichte von Gerechtigkeitsprinzipien verlangen. Um von solch einem Kontext sprechen zu können, muß deutlich sein, wer an wen welche Ansprüche auf welcher normativen Basis stellt, etwa auf der Grundlage einer Liste von Menschenrechten oder anderer Gerechtigkeitsgrundsätze. Den Globalisten zufolge ist der globale Kontext eindeutig der grundlegende Gerechtigkeitskontext, während andere, lokalere Zusammenhänge erst dann zu berücksichtigen sind, wenn der erste wohlgeordnet ist. Die Etatisten

§

1

folge daher nicht dem Vorschlag von Charles R. Beitz (Social and Cosmopolitan Liberalism, in: International Affairs 75 [1999], 515-529), zwischen „social" und „cosmopolitan liberalism" zu unterscheiden, und auch nicht Otfried Hoffe (Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 1999, 296) und Janna Thompson (Justice and World Order, London 1992), die Vertreter solcher Positionen insgesamt als „Kommunitaristen" bezeichnen. Ich

216

Rainer Forst

wiederum bezweifeln zwar nicht, daß es auf internationaler Ebene relevante Gerechtigkeitsansprüche gibt. Doch beschränken sie diese auf eine aktualisierte Version des traditionellen ius gentium (welche einige Komponenten ökonomischer Gerechtigkeit enthalten mag).2 Das entscheidende Argument für diese Beschränkung lautet, daß hinsichtlich politischer und distributiver Gerechtigkeit der Globus nicht der vorrangige Gerechtigkeitskontext ist; im Vergleich zu den „dichten" nationalen Kontexten ist dieser lediglich ein „dünner", nachgeordneter Zusammenhang. Im folgenden werde ich zunächst die wichtigsten kontroversen Punkte in der Debatte zwischen Etatisten und Globalisten skizzieren, um anhand dieser Punkte eine alternative Analyse des globalen Gerechtigkeitskontexts zu entwickeln. Dabei geht es mir darum zu zeigen, daß eine kritische Theorie transnationaler Gerechtigkeit Möglichkeiten bietet, die Kontroverse zwischen den Ansätzen internationaler und globaler Gerechtigkeit in sowohl normativer als auch empirischer Hinsicht zu transformieren und zu überschreiten. § 2. Die etatistische Skepsis gegenüber Theorien globaler Gerechtigkeit beruht auf fol-

genden Überlegungen. (a) Es wird darauf hingewiesen,

daß ein Gerechtigkeitskontext nur dort besteht, wo es ein bestimmtes Maß institutionalisierter sozialer Kooperation gibt, die es erlaubt, die zu verteilenden Güter, die legitimen Ansprüche der Kooperationspartner und die Adressaten solcher Ansprüche zu identifizieren. Solche Bedingungen seien auf der internationalen Ebene weder in ökonomischer noch in politischer, sozialer, kultureller oder rechtlicher Hinsicht gegeben.3 Die schwachen und verstreuten Formen von Zusammenarbeit in dieser Sphäre erlaubten keine starke Konzeption von Verteilungsgerechtigkeit. (b) Weiterhin wird argumentiert, daß nationale Kontexte der Gerechtigkeit auf ihre je eigene Weise strukturiert und geordnet sind und daß kontextfremde globale Prinzipien diese Strukturen (der Eigentumsverteilung beispielsweise) verletzen würden.4 Die Gesamtheit der Güter ist dieser Sichtweise zufolge in hohem Maße bereits auf eine rechtmäßig etablierte Weise produziert und verteilt. (c) Darüber hinaus warnen Etatisten vor einem globalen Super-Staat, den globalistische Ansätze in ihren Augen implizieren. Solch ein Staat liefe Gefahr, zu einem „seelenlosen Despotism" und einem „Kirchhof der Freiheit" zu verkommen, um Kants Worte5 2 3

4

5

Die in dieser Hinsicht prägnanteste normative Theorie ist die von John Rawls, The Law of Peoples, Cambridge, Mass. 1999. Vgl. Brian Barry, Humanity and Justice in Global Perspective, in: ders., Liberty and Justice. Essays in Political Theory 2, Oxford 1991, 182-210, hier 194f; Wolfgang Kersting, Weltfriedensordnung und globale Verteilungsgerechtigkeit. Kants Konzeption eines vollständigen Rechtsfriedens und die gegenwärtige politische Philosophie der internationalen Beziehungen, in: „Zum ewigen Frieden". Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant, hrsg. v. Reinhard Merkel u. Roland Wittmann, Frankfurt/M. 1996, 172-212, hier 197f; Christine Chwaszcza, Politische Ethik II: Ethik der Internationalen Beziehungen, in: Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung. Ein Handbuch, hrsg. v. Julian Nida-Rümelin, Stuttgart 1996, 154-198, hier 173. Vgl. Kersting, Weltfriedensordnung und globale Verteilungsgerechtigkeit, 195; Chwaszcza, Ethik der Internationalen Beziehungen, 174f. Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in: ders., Gesammelte

Zu einer kritischen Theorie transnationaler

Gerechtigkeit

217

verwenden, da er das unersättliche Bedürfnis nach immer größerer Macht und Autorität entwickeln würde, um solch ein großes und unübersichtliches Territorium beherrschen zu können. (d) Zudem führe die Anwendung eines übergeordneten Schemas globaler Verteilungsgerechtigkeit zu einer depolitisierten Sichtweise, nach der Personen nur noch als Teile einer großen Maschinerie von Produktion und Distribution angesehen werden, ohne daß sie daran politisch partizipierten. Globale Verteilungsgerechtigkeit marginalisiere auf diese Weise politische Autonomie. In Kerstings Worten verurteilt dies die einen dazu, „Produktionssklaven in einem globalen unpersönlichen Verteilungsarrangement" zu werden, die anderen dazu, bloß „Klientel einer anonymen globalen Verteilungsagentur" zu sein.6 (e) In einem weiteren Sinne verletze die globalistische Perspektive die normative Infrastruktur gegebener Gerechtigkeitskontexte, da sie die Ordnung normativer Erwägungen auf den Kopf stelle, indem sie den Verpflichtungen gegenüber allen Menschen gleichermaßen Vorrang gibt, Fremden ebenso wie Mitgliedern der eigenen Nation. Dadurch ignoriere sie die ethische Bedeutung partikularer Bindungen und Mitgliedschaften zugunsten abstrakter, unparteilicher und dekontextualisierter Moralprinzipien.7 (f) Den Globalisten wird vorgeworfen, von einer falschen Prämisse bezüglich der Ursachen für die Ungleichheit zwischen politischen Gemeinschaften auszugehen. Der Hauptgrund für Unterentwicklung und das hohe Ausmaß bestehender Armut, von Analphabetismus etc. liege weder in dem Fehlen natürlicher Ressourcen noch in der Unfairneß globaler politischer und ökonomischer Verhältnisse, sondern in der internen Struktur der betroffenen Gesellschaften. Deren kulturelle und politische Traditionen stünden einer funktionierenden sozialen Kooperation und Organisation im Wege und bildeten das Haupthindernis für die ökonomische Entwicklung und faire Verteilung von Gütern.8 (g) Schließlich sähen sich globalistische Ansätze dem Dilemma gegenüber, auf der Basis spezifisch liberaler Prämissen Gerechtigkeitsgrundsätze für eine Welt konstruieren zu wollen, die durch eine starke Pluralität von Kulturen und Traditionen geprägt ist. Sie vernachlässigten daher auf der globalen Ebene das, was Rawls das „Faktum des Plurazu

Schriften, hrsg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 8, Berlin-Leipzig 21923, 341-386, hier 367; vgl. auch Hoffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, 316; Kersting, Weltfriedensordnung und globale Verteilungsgerechtigkeit, 198; Chwaszcza, Ethik

6 7

8

der Internationalen Beziehungen, 173 ff; Ingeborg Maus, Menschenrechte als Ermächtigungsnormen internationaler Politik oder: der zerstörte Zusammenhang von Menschenrechten und Demokratie, in: Recht auf Menschenrechte. Menschenrechte, Demokratie und internationale Politik, hrsg. v. Hauke Brunkhorst, Wolfgang R. Köhler u. Matthias Lutz-Bachmann, Frankfurt/M. 1999, 276-292. Kersting, Weltfriedensordnung und globale Verteilungsgerechtigkeit, 201 u. 192. Vgl. David Miller, On Nationality, Oxford 1995, Kap. 3; Friedrich V Kratochwil, Vergeßt Kant! Reflexionen zur Debatte über Ethik und internationale Politik, in: Politische Philosophie der internationalen Beziehungen, hrsg. v. Christine Chwaszcza u. Wolfgang Kersting, Frankfurt/M. 1998, 96-149; vgl. zu dieser Kontroverse meine Diskussion des Kommunitarismus in: Rainer Forst, Kontexte der Gerechtigkeit. Politische Philosophie jenseits von Liberalismus und Kommunitarismus, Frankfurt/M. 1994, Kap. 3 u. 4. Vgl. Rawls, Law of Peoples, 105 ff.

218

Rainer Forst

lismus" nennt, und liefen Gefahr, gegenüber nichtliberalen Gesellschaften intolerant zu sein, indem sie an sie den Anspruch stellen, Mitglieder eines globalen liberalen Regimes zu werden.9 So gesehen erscheint der Globalismus als verschleierter Ethnozentrismus, da ihm ein normativ neutraler Ausgangspunkt fehle. § 3. Die globalistischen Antworten auf diese Einwände bestehen aus einer Reihe von Argumenten, die diese Kritiken entweder zurückweisen oder zumindest abschwächen. Sie seien hier in aller Kürze genannt. (a) Was die Frage globaler Kooperation anlangt, bieten Globalisten zwei Antworten an. Entweder gehen sie davon aus, daß es gegenwärtig eine globale Struktur sozialer Kooperation gibt, die derjenigen in einem Einzelstaat vergleichbar ist und die Anwendung von Verteilungsprinzipien wie dem Rawlsschen Differenzprinzip erlaubt;10 oder sie weisen daraufhin, daß das bestehende Ausmaß an Globalisierung und Interdependenz zur Betrachtung des globalen Kontexts als Kontext der Verteilungsgerechtigkeit ausreiche und eine Art von gemeinsamer Grundstruktur notwendig mache." Folge man Humes und Rawls' Auffassung von den subjektiven und objektiven „Anwendungsverhältnissen der Gerechtigkeit",12 so seien diese auf der globalen Ebene in einem relevanten Sinne vorhanden.13 (b) Sofern der globale Kontext einer der Gerechtigkeit ist, kann nach Auffassung der Globalisten die Frage der Gerechtigkeit in einem Staat nicht länger unabhängig von oder vorrangig gegenüber der Frage globaler Gerechtigkeit beantwortet werden. Denn selbst wenn eine begrenzte Gesellschaft intern gerecht organisiert wäre, könnte sie gleichzeitig von vergangenen oder gegenwärtigen Ungerechtigkeiten auf globaler Ebene profitieren.14 In den Worten von Shue: ,,[I]t is impossible to settle the magnitude of one's duties injustice (if any) toward the fellow members of one's nation-state [...] prior to and independent of settling the magnitude of one's duties injustice (if any) toward nonmembers. The magnitude of both sets of duties must be settled together."15 9 Ebenda, 82 f. 10 Charles R. Beitz, Political Theory and International Relations, Neuausgabe, Princeton, N.J. 1999, 143ff; Thomas W. Pogge, Realizing Rawls, Ithaca, N.Y. 1989, 241 ff. 11 Beitz formuliert im Nachwort zur Neuausgabe von Political Theory and International Relations vorsichtig: „[...] some type of basic structure is both required and inevitable, given the facts about the extent and character of social and economic relations [...]" (203). Vgl. die Revision seines Ansatzes in: Beitz, Cosmopolitan Ideals and National Sentiments, in: The Journal of Philosophy 80 (1983), 591-600. 12 David Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, übers, u. mit Anm. u. Register vers, v. Theodor Lipps, 2 Bde., Hamburg 1978, Bd. 2, 238; John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, übers, v. Hermann Vetter, Frankfurt/M. 1975, 148 ff. 13 Vgl. Onora O'Neill, Justice and Boundaries, in: Politische Philosophie der internationalen Beziehungen, 502-522, hier 515 ff; Jürgen Habermas, Kants Idee des ewigen Friedens aus dem historischen Abstand von zweihundert Jahren, in: Frieden durch Recht: Kants Friedensidee und das Problem einer neuen Weltordnung, hrsg. v. Matthias Lutz-Bachmann u. James Bohman, Frankfurt/M. 1996, 7-24. 14 Beitz, Political Theory and International Relations, 149f.; Pogge, Realizing Rawls, 246 ff. 15 Henry Shue, The Burdens of Justice, in: The Journal of Philosophy 80 (1983), 600-608, hier 603. -

Zu einer kritischen Theorie transnationaler

219

Gerechtigkeit

(c) Um die Gefahren eines globalen Super-Staates zu vermeiden, unterscheiden globalistische Ansätze zwischen einem „moralischen Kosmopolitismus" der Pogge zufolge beinhaltet, daß „every human being has a global stature as an ultimate unit of moral concern"16 und einem „rechtlichen Kosmopolitismus" (Pogge) oder einem „Kosmopoli-

tismus der Institutionen" (Beitz),17 welcher die Notwendigkeit einer übergreifenden globalen politischen Autorität oder einer Weltregierung impliziert. Ersteres sei nicht automatisch mit letzterem verknüpft, denn selbst wenn eine „institutionelle Konzeption" (Pogge) fundamentale Prinzipien der Gerechtigkeit für die Beurteilung institutionalisierter globaler Grundregeln enthalte, sei dies mit einem System differenzierter politischer Souveränität unterhalb eines Weltstaates kompatibel. (d) Obwohl globalistische Theorien der Verteilungsgerechtigkeit die politische Autonomie von Staaten insofern in Frage stellen, als Einzelstaaten nicht als primäre und geschlossene Gerechtigkeitskontexte angesehen werden, und obwohl sie keine interne Verbindung zwischen distributiver Gerechtigkeit und Selbstregierung betonen, berücksichtigen sie die politische Autonomie von Personen als sich selbst bestimmende Mitglieder politischer Institutionen. Pogge zufolge gibt es ein Menschenrecht auf politische Partizipation, und Shue argumentiert für ein básales Recht auf „effektive Partizipation" in den wichtigsten politischen und sozialen Institutionen, die die Bedingungen von Sicherheit und Subsistenz bestimmen.18 (e) In einem globalistischen Rahmen können Staatsgrenzen nur eine sekundäre, abgeleitete Bedeutung haben,19 und das Prinzip „Mitbürger genießen Priorität" kann angesichts der Pflichten gegenüber anderen, die möglicherweise eine Beeinträchtigung ihrer basalen Rechte erleiden, nicht akzeptiert werden.20 Da die moralisch-kosmopolitische Forderung gleichen Respekts für ein jedes Individuum als fundamental angesehen wird, erscheint Nationalität lediglich als moralisch kontingente Tatsache.21 Auf einer „intermediären" Ebene erlaube eine solche individualistische Position allerdings die Möglichkeit einer kontraktualistischen Einigung auf ein globales System von Staaten, das bei fairen Hintergrundbedingungen eine begrenzte besondere Behandlung von Mitbürgern des eigenen Staates zuläßt.22 Dies setzt freilich weiterhin voraus, daß die partikulare politische Mitgliedschaft in einer „Nation" keinen unabhängigen normativen Rang besitzt. (f) Globalisten weisen die Diagnose, daß die wesentlichen Ursachen globaler Ungleichheit und der Unterentwicklung in vielen Ländern und Erdteilen „hausgemacht" -

-

-

16 Thomas W. Pogge, Cosmopolitanism and Sovereignty, in: Ethics 103 (1992), 48-75, hier 49. 17 Beitz, Political Theory and International Relations, 199. 18 Pogge, Cosmopolitanism and Sovereignty, 64; Henry Shue, Basic Rights, Neuausgabe, Princeton, N.J. 1996, 71. Vgl. auch Stefan Gosepath, Die globale Ausdehnung der Gerechtigkeit, in diesem Band, 197-213. 19 Beitz, Political Theory and International Relations, 182. 20 Shue, Basic Rights, 131 f. 21 Vgl. Pogge, Realizing Rawls, 247; Gosepath, Die globale Ausdehnung der Gerechtigkeit. 22 Vgl. Beitz, Cosmopolitan Ideals and National Sentiment, 597.

220

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sind, als empirisch falsch und als „explanatorischen Nationalismus" zurück.23 Sie stellen nicht in Abrede, daß interne Faktoren zu Fehlmanagement und besonders unter politischen Eliten zu Korruption führen, sind jedoch der Überzeugung, daß diese Phä-

ihre Wurzel in vergangenen und gegenwärtigen internationalen politischen und ökonomischen Verhältnissen haben. So wird nicht nur darauf hingewiesen, wie schwierig es ist, interne und externe Ursachen für Fehlentwicklungen auseinanderzuhalten,24 sondern auch darauf, wie sehr die gegenwärtige Situation den wohlhabenden Staaten zugute kommt und von ihnen unterstützt wird.25 (g) Die globalistischen Theorien verteidigen ihre universalistischen Prämissen gegen den Vorwurf des Ethnozentrismus mit verschiedenen Argumenten. Diese reichen von dem vorgreifenden Verweis auf einen globalen, interkulturellen Diskurs, der einen „overlapping consensus" über Grundprinzipien der Gerechtigkeit hervorbringen werde,26 bis zum Rückgriff auf básale Menschenrechte auf Sicherheit und Subsistenz, deren Geltung als jenseits vernünftiger Meinungsverschiedenheiten liegend angesehen wird.27 Umfassendere Rechtfertigungsstrategien berufen sich auf substantielle universelle Konzeptionen menschlichen Wohlergehens, die den moralischen Kern einer jeden legitimen Gesellschaftsordnung darstellen sollen.28 § 4. Im folgenden werde ich die zentralen Streitfragen der damit umrissenen Debatte aufgreifen, indem ich zunächst ein alternatives Bild des globalen Kontexts der Gerechtigkeit (der erste Punkt der Kontroverse) vorschlage, um anschließend eine Konzeption transnationaler Gerechtigkeit zu entwickeln, die die weiteren Punkte in einem neuen Licht erscheinen läßt. Dadurch wird es möglich, die engen Grenzen der Kontroverse hin zu einer dritten Position zu überschreiten. Einerseits scheint es auf der Hand zu liegen, daß ein national begrenzter, gewachsener politischer Gerechtigkeitskontext durch ein Maß an institutionalisierter und nichtinstitutionalisierter sozialer Kooperation gekennzeichnet ist, das auf der globalen Ebene keine Entsprechung findet, weder in politischer noch in rechtlicher, ökonomischer oder kultureller Hinsicht. Dies erfordert eine spezielle Berücksichtigung solcher Kontexte bei der Frage transnationaler Gerechtigkeit. Andererseits aber scheint ebenso unbestreitbar, daß gegenwärtig das Ausmaß globalisierter Interdependenz einen Punkt erreicht hat, an dem es unmöglich geworden ist, diesen Kontext nicht als einen der Gerechtigkeit anzusehen: Neben dem globalen Handelskontext gibt es in wachsendem Maße einen globalen Kontext von Produktion und von Arbeit, und wichtige Akteure in dieser Sphäre werden zu Recht als „transnational" charakterisiert (besonders große Konzerne); ferner ist der globale ökologische Kontext zu bedenken, mit all den Problemen wie der Knappheit -

nomene

23 24 25 26 27 28

Thomas W. Pogge, Human Flourishing and Universal Justice, in: Social Philosophy and Policy 16 (1999), 333-361, hier 356. Beitz, Social and Cosmopolitan Liberalism, 525. Thomas W. Pogge, Priorities of Global Justice, in: Metaphilosophy 32 (2001), 8-24. Pogge, Realizing Rawls, 271. Shue, Basic Rights. Etwa Martha Nussbaum, Aristotelian Social Democracy, in: Liberalism and the Good, hrsg. v. R. Bruce Douglass, Gerald M. Mara u. Henry S. Richardson, New York 1990, 203-252.

Zu einer kritischen Theorie transnationaler

Gerechtigkeit

221

natürlicher Ressourcen und der Verschmutzung der Umwelt; es gibt einen globalen Kontext von Institutionen von den Vereinten Nationen über den Internationalen Währungsfonds bis zu Nichtregierungsorganisationen wie Greenpeace oder Amnesty International; es besteht ein globaler Kontext von Verträgen und rechtlichen Verpflichtungen, von technologischer Zusammenarbeit und Abhängigkeit (man denke nur an die Konsequenzen eines Virus im World Wide Web), von militärischer Zusammenarbeit und von Konflikten und Kriegen, von Ein- und Auswanderung über die Kontinente hinweg; und es gibt schließlich einen stetig wachsenden globalen Kontext kultureller Produktion, Konsumtion und Kommunikation.29 Will man jedoch zum Zwecke der Entwicklung einer Konzeption transnationaler Gerechtigkeit zu einer realistischen globalen Perspektive kommen, bedarf es eines näheren, kritischen Blicks auf diese Phänomene. Denn bei nüchterner Betrachtung der Geschichte und des konkreten Charakters dieser vielfältigen Beziehungen scheint es ein Euphemismus zu sein, sie ohne weitere Qualifizierung mit den Worten „Kooperation" oder „Interdependenz" zu beschreiben, da solche Begriffe Verhältnisse der Wechselseitigkeit implizieren, die offensichtlich gar nicht bestehen. Eher liegt ein komplexes System erzwungener Kooperation und einseitiger Abhängigkeiten vor; in anderen Worten: ein Kontext von Zwang und Beherrschung. Das bedeutet nicht, daß etwa zwischen „reichen" und „armen" Staaten einfach und klar strukturierte, übersichtliche Machtverhältnisse vorlägen; es heißt vielmehr, daß es in den meisten der oben genannten Dimensionen nicht nur konkrete, ungleiche Machtverteilungen gibt, sondern auch mehr oder weniger feste Herrschaftsstrukturen. Um hier von einem „System" zu sprechen, muß dieses nicht als intentional geplant angesehen werden, mit einem einzigen es kontrollierenden Zentrum; es genügt festzustellen, daß es eine gewisse Stabilität und Regularitäten aufweist und von verschiedenen Akteuren aufgrund der Vorteile, die sie davon haben, intentional genutzt und aufrechterhalten wird.30 Und obwohl das System des globalen Marktes eine gewisse Durchlässigkeit hat, so daß einige Länder und Regionen durchaus an ökonomischer Stärke und politischem Einfluß gewinnen können, ist ihnen dies doch nur möglich, sofern sie die Regeln des Systems einhalten, die wie die Anforderungen des Währungsfonds an ökonomische Stabilität beispielsweise intern zu erheblichen Härten und sozialer Desintegration führen können. Und von diesen Ausnahmen abgesehen, hat das globale System überwiegend den Effekt, ärmere Länder und Regionen in eine untergeordnete ökonomische und politische Position zu zwingen, aus der heraus sie (bestenfalls) als Anbieter von bestimmten Gütern (natürliche Ressourcen oder Arbeitskraft) agieren können, für die sie schlecht kompensiert werden.31 Ihre Schulden wachsen beständig und wirken sich insgesamt paralysierend aus. -

-

29

30

31

Eine ausführliche Analyse dieser vielfältigen Entwicklungen findet sich in David Held/ Anthony McGrew/David Goldblatt/Jonathan Perraton, Global Transformations. Politics, Economics and Culture, Oxford 1999. Ich spiele hier (sehr allgemein) auf Foucaults Konzeption der Macht an. Vgl. etwa Michel Foucault, Der Wille zum Wissen (Sexualität und Wahrheit, Bd. 1), übers, v. Ulrich Raulff u. Walter Seiner, Frankfurt/M. 1983, 113 ff. Vgl. dazu Elmar Altvater/Birgit Mahnkopf, Grenzen der Globalisierung. Ökonomie, Ökologie und Politik in der Weltgesellschaft, Münster 1999, bes. Kap. 6.

222

Rainer Forst

Soll also die Konstruktion von Prinzipien transnationaler Gerechtigkeit von einer Analyse des gegenwärtigen globalen Kontexts der Ungerechtigkeit ausgehen, so muß dieser Kontext als komplexes System von Macht und Herrschaft mit einer Vielzahl einflußreicher Akteure angesehen werden, von Regierungen über internationale Institutionen, transnationale Unternehmen bis zu lokalen Eliten. Aus der Perspektive der Beherrschten wiederum stellt sich dies als eine Situation mehrfacher Beherrschung dar: Sie werden zumeist von ihren eigenen (kaum legitimierten) Regierungen, Eliten oder Kriegsherren32 beherrscht, die umgekehrt mit mächtigen globalen Akteuren zugleich zusammenarbeiten und selbst (zumindest teilweise) von diesen beherrscht werden. Besonders Frauen und Kinder sind zudem weiteren Herrschaftsverhältnissen unterworfen, in der Familie und lokalen Gemeinschaften. Auf diese Situationen mehrfacher Beherrschung muß eine empirisch fundierte, kritische Konzeption der Gerechtigkeit eingehen. Auf der globalen Ebene muß sie fragen, wer auf welche Weise vom globalen System profitiert, worin die Bedingungen der „Kooperation" bestehen und wie sie fixiert werden etc. Auf der Mikroebene muß sie fragen, wie globale Strukturen lokalere (und sogar traditionelle) Verhältnisse von Herrschaft und Ausbeutung unterstützen. Die verschiedenen Kontexte der Gerechtigkeit lokal, national, international, global sind durch die Arten von Ungerechtigkeit, die sie hervorrufen, verbunden, und an dieser Verknüpfung muß eine Theorie der Gerechtigkeit ansetzen. Im folgenden beschränke ich mich darauf, nur die groben Umrisse solch einer Theorie zu skizzieren; weder eine hinreichende Analyse der Ungerechtigkeit noch eine normative Konstruktion der Gerechtigkeit wird dabei im Detail geliefert. § 5. An dieser Stelle könnte der Einwand erhoben werden, daß diese kritische Perspektive, die sich auf Phänomene von Macht und Herrschaft konzentriert, das verfehlt, was von vielen als das moralisch zentrale Problem angesehen wird, nämlich schwerste Armut, der gravierende Mangel an den wichtigsten, zum Überleben notwendigen Gütern in sehr vielen Ländern der Erde. Dies jedoch nicht nur als moralisches Problem zu sehen, sondern als Problem ökonomischer Gerechtigkeit, setzt die Analyse des allgemeinen Systems der (internen und externen) Ungerechtigkeit voraus, das diese Situation der ungleichen Güterverteilung, von Armut und Hunger herbeigeführt hat und aufrechterhält. Ohne Zweifel erfordert das Vorhandensein extremer Armut in einer Welt, die über genügend Möglichkeiten verfügt, dem abzuhelfen, eine eindeutige moralische Reaktion und entsprechende Maßnahmen zur Beseitigung des Leidens. Doch um diese Situation als ungerecht zu kritisieren und an konkrete Gerechtigkeitspflichten zu ihrer dauerhaften Beseitigung zu appellieren, muß man sie als Resultat dessen ansehen, was Pogge „the imposition of a skewed global order that aggravates international inequalities and makes it exceedingly hard for the weaker and poorer societies to secure a proportional share of global economic growth" nennt.33 Ein Urteil über Ungerechtigkeit unterscheidet sich von einem moralischen Urteil über menschliche Bedürfnisse und Leid oder Ungleichheiten -

32 33

-

Dies trifft besonders auf Afrika zu, wo viele Staaten entweder zerfallen sind und Bürgerkrieg herrscht oder ein Zerfall droht. Pogge, Priorities of Global Justice, 17. Vgl. auch die Analyse der „Deformation" des internationalen ökonomischen und politischen Systems bei Andrew Hurrell, Global Inequality and International Institutions, in: Metaphilosophy 32 (2001), 34-57.

Zu einer kritischen Theorie transnationaler

223

Gerechtigkeit

insofern, als es nicht nur bestimmte Zustände als schlecht und daher zu verändern identifiziert, sondern zugleich konkrete Verantwortlichkeiten für bestehende Asymmetrien und benennt. Aus zwei Gründen sollte eine kritische Theorie der

entsprechende Gerechtigkeitspflichten

mit dem „Faktum möchte. Erstens ist es notwenmehrfacher Beherrschung" beginnen, wie ich es nennen dig, daß eine solche Theorie auf einer umfassenden Analyse von Phänomenen der Ungerechtigkeit und ihrer Wurzeln beruht. Sofern etwa extreme Ungleichheit und Armut das Ergebnis eines komplexen Systems von Beherrschung und Ausbeutung sind, ist eine Konzentration auf rein distributive Gerechtigkeit unzureichend und kann Gefahr laufen, das bestehende ungerechte System in seinen Grundzügen zu affirmieren und die Beherrschten lediglich zu Personen mit (begrenzten) Ansprüchen auf bestimmte Güter zu machen, sie dabei aber in ihrer abhängigen Stellung zu belassen. Dies ist der Funken Wahrheit in der oben erwähnten Kritik (§ 2 [d]), daß eine Konzeption der Verteilungsgerechtigkeit politische Autonomie und wie hinzuzufügen ist, die Frage der Macht vernachlässige.34 Es ist gerechtfertigt zu sagen, daß die Frage der Macht die erste Frage der Gerechtigkeit ist. Sie erfordert eine Theorie, die nicht allein auf die im Ergebnis gerechte Verteilung von Gütern achtet, sondern auf die Gerechtigkeit der umfassenden Grundstruktur von Verhältnissen politischer und ökonomischer Macht, d. h. Verhältnissen politischer Herrschaft, der Produktion und der Distribution von Gütern. Zweitens ist es falsch anzunehmen, daß Verteilungsgerechtigkeit und politische Gerechtigkeit, als Freiheit von ungerechtfertigter Herrschaft, grundsätzlich unterschiedliche normative Überlegungen verlangen. Beide gehen auf das übergeordnete Prinzip der Rechtfertigung der Gerechtigkeit zurück, dem zufolge in einem gegebenen Kontext der Gerechtigkeit all die relevanten gesellschaftlichen Verhältnisse, denen man unterworfen ist und die politisch verändert werden können, gegenüber allen Betroffenen reziprok und allgemein gerechtfertigt werden müssen, um legitim zu sein seien dies ökonomische Strukturen oder Beziehungen politischer Autorität.35 Für eine kritische Theorie der Gerechtigkeit liegen diese sozialen Verhältnisse keinesfalls „jenseits" der Rechtfertigung, und ihre Kritik richtet sich gegen all die Institutionen, Regeln oder Praktiken, von denen fälschlicherweise entweder gesagt wird, daß sie gerechtfertigt sind oder daß sie nicht rechtfertigungsbedürftig, z. B. naturhaft oder unveränderbar, sind. In beiden Fällen ist eine ideologiekritische Betrachtung vonnöten.36

Gerechtigkeit

-

-

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34 Die

Notwendigkeit einer Analyse von Machtverhältnissen im Zusammenhang globaler Gerechtigkeit betonen auch Kai Nielsen, Global Justice and the Imperatives of Capitalism, in: The Journal of Philosophy 80 (1983), 608-610 und (auf andere Weise) Onora O'Neill, Transnational Justice, in: Political Theory Today, hrsg. v. David Held, Stanford, Calif. 1991, 276304, hier 300ff.

Vgl.

dazu Rainer Forst, Die Rechtfertigung der Gerechtigkeit. Rawls' Politischer Liberalisund Habermas' Diskurstheorie in der Diskussion, in: Das Recht der Republik, hrsg. v. Hauke Brunkhorst u. Peter Niesen, Frankfurt/M. 1999, 105-168. 36 Dieser Begriff von Ideologie versucht, Annahmen über „wahre" Interessen zu vermeiden, und konzentriert sich auf die Beurteilung von Ansprüchen auf Rechtfertigbarkeit auf der Basis der Kriterien von Reziprozität und Allgemeinheit. In substantieller Hinsicht enthält er neben 35

mus

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224

Der Kern des Projekts einer kritischen Theorie der (Un-)Gerechtigkeit besteht somit folgenden vier Punkten: (a) Sie enthält eine Analyse bestehender sozialer Verhältnisse, einschließlich ihrer historischen Genese, besonders hinsichtlich der Ungleichheiten und Machtasymmetrien, die sie kennzeichnen. (b) Sie verbindet dies mit einer Kritik falscher Rechtfertigungen für diese Verhältnisse auf der Basis des Prinzips reziprok-allgemeiner Rechtfertigung falscher Legitimationen, die soziale Widersprüche und Machtbeziehungen verschleiern. (c) Sie verweist auf die Notwendigkeit und die Möglichkeit von Rechtfertigungen, die den Test von Reziprozität und Allgemeinheit bestehen können. Reziprozität bedeutet dabei, daß keine der betroffenen Parteien bestimmte Rechte oder Privilegien für sich beanspruchen darf, die sie anderen verweigert, und daß die Formulierung, Begründung und Bewertung der jeweiligen Ansprüche nicht einseitig vorgenommen werden darf. Allgemeinheit bedeutet, daß alle Betroffenen das gleiche Recht haben, Rechtfertigungen vorzubringen und einzufordern. Dieses Grundrecht auf Rechtfertigung impliziert, daß der Rechtfertigungstest real und nicht nur hypothetisch vorgenommen werden muß: Letztlich können nur die Beteiligten selbst die Legitimation ihrer eigenen Grundstruktur leisten.37 Auf diese Weise schließt die kritische Theorie an die Ansprüche und Forderungen an, die gesellschaftliche Akteure in konkreten sozialen Kontexten erheben.38 Es sind deren Ansprüche, deren Interessen, Bedürfnisse und Forderungen, die die Substanz der Rechtfertigungsdiskurse und der schließlich zu etablierenden Grundstruktur ausmachen. (d) Eine kritische Theorie der Gerechtigkeit fordert somit die Realisierung gerechtfertigter gesellschaftlicher Verhältnisse, als ersten Schritt jedoch die Schaffung einer Praxis der Rechtfertigung selbst. Ersteres kann als maximale, letzteres als minimale Gerechtigkeit bezeichnet werden. Die Forderung nach einer reziprok-allgemeinen Rechtfertigung aller gerechtigkeitsrelevanten gesellschaftlichen Institutionen und Beziehungen gründet auf dem Prinzip der Rechtfertigung, welches selbst „rekursiv"39 begründet wird: Da in einem Kontext der Gerechtigkeit der Anspruch erhoben wird, daß gesellschaftliche Normen, die Institutio-

aus

-

nach einer Untersuchung der realen Akteure. sozialer „Rechtfertigungsmacht" 37 Damit schließe ich an einen zentralen Punkt von Habermas' Reformulierung der kritischen Theorie an, die auf eine Analyse der sozialen Bedingungen abzielt, unter denen Rechtfertigungen überhaupt möglich werden, sei es in institutionalisierten Verfahren oder Foren der Öffentlichkeit; vgl. besonders das Vorwort zur Neuauflage von Strukturwandel der Öffentlichkeit (Frankfurt/M. 1990, 11-50), daneben ders., Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/M. 1992, Kap. 7 u. 8. 38 Die Notwendigkeit einer internen Verbindung zwischen den Begriffen der Kritik und den Interessen und Bedürfnissen sozialer Akteure betont besonders Axel Honneth, Die soziale Dynamik von Mißachtung. Zur Ortsbestimmung einer kritischen Gesellschaftstheorie, in: ders., Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie, Frankfurt/M. 2000, 88-109. 39 Vgl. dazu näher Forst, Kontexte der Gerechtigkeit, Kap. 4 u. 5 und ders., Die Rechtfertigung der Gerechtigkeit.

der

Analyse gegebener Rechtfertigungen die Forderung

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225

Gerechtigkeit

und Praktiken legitimieren, reziprok und allgemein gültig und bindend sind, müssie diesen Kriterien gemäß gerechtfertigt werden können. Die Kriterien der Geltung sen sind zugleich die Kriterien für die Rechtfertigung und die Legitimität dieser Normen. Dem Grundprinzip der Rechtfertigung entsprechend haben Personen ein fundamentales Recht auf Rechtfertigung: ein qualifiziertes Vetorecht gegen all die Normen und Praktiken, die nicht reziprok-allgemein gerechtfertigt werden können oder, um ScanIons Formulierung40 zu modifizieren, gegen Normen, die mit reziprok-allgemeinen Gründen zurückgewiesen werden können. Dies ist das básale moralische Recht von Personen, das in einem gegebenen Gerechtigkeitskontext substantielle Form annimmt und zu institutionalisieren ist. Es bildet die Grundlage für eine Konzeption von Menschenrechten41 wie auch für die Rechtfertigung einer konkreten gesellschaftlichen Grundstruktur. Meine These ist, daß dieser Ausgangspunkt für die Konstruktion von Gerechtigkeitsprinzipien es erlaubt, die verschiedenen Dimensionen transnationaler Gerechtigkeit zu rekonstruieren (und falsche Annahmen zu dekonstruieren): Er ermöglicht eine differenzierende Berücksichtigung der verschiedenen Aspekte der Gerechtigkeit in ihrer spezifischen Rechtfertigungsqualität (etwa Menschenrechte oder die Einzelheiten distributiver Gerechtigkeit) und führt zu einer integrierten, umfassenden und komplexen Sichtweise der verschiedenen Kontexte nationaler und globaler Gerechtigkeit. Denn das Recht auf Rechtfertigung bildet den Kern einer gerechtfertigten nationalen wie auch einer gerechtfertigten transnationalen Grundstruktur, ohne die eine auf die andere zu reduzieren. So gibt es also einen „moralisch-kosmopolitischen" Ausgangspunkt, der eine angemessene Betrachtung der verschiedenen Kontexte der Gerechtigkeit als Kontexte der Rechtfertigung und der Selbstbestimmung erfordert, von lokalen bis zum globalen. Allgemein gesprochen unterscheidet sich eine „transnationale" Betrachtungsweise daher von einer globalistischen dadurch, daß sie partikulare politische Kontexte als Gerechtigkeitskontexte ansieht, die eine eigene Berechtigung haben, und daß sie auf die Konstruktion von Prinzipien für gerechte Beziehungen zwischen autonomen politischen Gemeinschaften abzielt. Sie unterscheidet sich von etatistischen Theorien dadurch, daß sie von einem universalistischen individuellen Recht ausgeht und den globalen Kontext als nicht min-

nen

-

40 41

Vgl. Thomas Scanion, What We Owe to Each Other, Cambridge, Mass. 1998, 4f. Vgl. Rainer Forst, Das grundlegende Recht auf Rechtfertigung. Zu einer konstruktivistischen Konzeption von Menschenrechten, in: Recht auf Menschenrechte, 66-105. Obgleich ich mich

Shue darin unterscheide, daß ich dieses Recht und nicht erst die Rechte auf Subsistenz, Sicherheit und Freiheit als basal bezeichne, teile ich sein Verständnis basaler Rechte als „everyone's minimum reasonable demands upon the rest of humanity. They are the rational basis for justified demands the denial of which no self-respecting person can reasonably be expected to accept. Why should anything be so important? The reason is that rights are basic in the sense used here only if enjoyment of them is essential to the enjoyment of all other rights." (Shue, Basic Rights, 19) Sofern ein básales Recht solch ein moralisch nichtzurückweisbarer Anspruch ist und die Basis für weitere Ansprüche, muß das Recht auf reziprokallgemeine Rechtfertigung das grundlegende Recht sein, denn es steht für den gleichen, nichtzurückweisbaren Anspruch einer jeden Person, überhaupt als Autor und Adressat von Ansprüchen und Träger von spezifischen Rechten anerkannt zu werden. Es ist das Recht, als Gründe gebende und Gründe verdienende Person behandelt zu werden. von

226

Rainer Forst

ansieht. Da es ihr zentrales Ziel ist, das Recht auf innerhalb als auch zwischen Staaten angemessen zur Geltung von sowohl Rechtfertigung zu bringen, um den Teufelskreis von interner und externer Beherrschung aufzubrechen, versucht eine Theorie transnationaler Gerechtigkeit, die verschiedenen Kontexte der Gerechtigkeit auf die richtige Weise zu kombinieren.42 Im folgenden sei dies kurz mit Bezug auf die eingangs erwähnten Punkte skizziert. § 6. Ein wichtiger Einwand muß zunächst zurückgewiesen werden: der Vorwurf des Ethnozentrismus (vgl. § 2 [g]). Ist die Idee eines Grundrechts auf Rechtfertigung hinreichend „kulturneutral", um als Grundlage einer Theorie transnationaler Gerechtigkeit dienen zu können? Dazu müssen hier einige wenige Bemerkungen genügen. Erstens ist daraufhinzuweisen, daß neben den globalistischen auch die etatistischen Positionen nicht ohne universal gültige normative Begriffe auskommen. Denn sie gehen etwa davon aus, daß bestimmte Formen der Staatsorganisation oder politischer Gemeinschaft allgemein vorliegen, und ebenso davon, daß Begriffe wie Frieden, Kooperation und (minimale) Menschenrechte universal anwendbare normative Begriffe sind. Nicht nur diejenigen, die von einem individualistischen, moralisch-kosmopolitischen Ansatz ausgehen, machen universalistische Annahmen; auch die, die einen solchen ablehnen, tun das. Zweitens muß man sich die Argumente gegen einen solchen universalistischen Ausgangspunkt genauer ansehen.43 Auf Seiten der Vertreter einer etatistischen Perspektive scheint die Befürchtung zu bestehen, daß eine vorbehaltlose Anwendung eines liberalen Personenbegriffs oder einer umfassenden Konzeption von Menschenrechten beispielsweise der kulturellen und politischen Integrität bestimmter Gesellschaften (die als Staat organisiert sind) nicht gerecht wird. Untersucht man dieses Verständnis von Integrität näher, lautet der stärkste anzutreffende und wenig realistische Anspruch (den etwa Vertreter einiger asiatischer Länder vorbringen), daß der betreffende Staat monokulturell sei und seine Gesellschaft sozusagen eine „vollständig integrierte Einheit vollkommener Integrität". „Externe" normative Begriffe seien dieser Einheit fremd und stellten eine potentielle Verletzung dieser Integrität dar. Ein wichtiger Bestandteil dieses Anspruchs auf gesellschaftliche Integrität ist es, daß diese für die Integrität der Gesellschaftsmitglieder konstitutiv ist, so daß auch deren je einzelne Integrität durch das Eindringen externer normativer Standards angegriffen wird. Dies hat jedoch eine wichtige Implikation: Die Integrität der ganzen Gemeinschaft kann dann nicht auf Kosten der Integrität einzelner ihrer Mitglieder verteidigt werden; der Anspruch auf kommunale Integrität hängt vielmehr davon ab, ob plausibel gemacht werden kann, daß die gemeinschaftliche Struktur aus freien Stücken von den Mitgliedern gestützt und anerkannt wird. Damit weist diese Verteidigung gemeinschaftlicher und politischer Autonomie ein wichtiges internes Legitimations- und Akzeptabilitätskriterium auf ein Kriterium, das den Anspruch auf der

wichtigen Gerechtigkeitskontext

-

-

-

42

43

Verwiesen sei an dieser Stelle auf eine alternative Theorie transnationaler Gerechtigkeit, die gegenüber der vorgeschlagenen wichtige Unterschiede aufweist, mit ihr aber auch Gemeinsamkeiten teilt: Onora O'Neill, Faces of Hunger. An Essay on Poverty, Justice and Development, London 1986 und dies., Transnational Justice. Zum folgenden ausführlich Forst, Das grundlegende Recht auf Rechtfertigung, Abschnitt I.

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Gerechtigkeit

227

kommunale Integrität dann in Frage stellt, wenn innerhalb dieser Gemeinschaft ein Dissens darüber auftaucht, inwiefern die jeweilige Grundstruktur anerkannt und anerkennenswert ist. Der Integritätsanspruch setzt eine anspruchsvolle Form der Akzeptanz voraus, und sobald beispielsweise bestimmte Menschenrechte „von innen", von Mitgliedern dieser Gesellschaft beansprucht werden, kann dies nicht länger als „externe" Beeinflussung angesehen werden, sondern stellt eine deutliche Herausforderung an die Integritätsannahme dar. Wenn daher von innerhalb solch einer Kultur oder Gesellschaft der Anspruch auf Rechtfertigung erhoben wird, kann er nicht als integritätsstörend zurückgewiesen werden, sondern muß argumentativ, mit in dem jeweiligen Kontext guten Gründen beantwortet werden. Dies zeigt, daß die Argumente gegen eine Aufdrängung externer Wertvorstellungen nicht auf einer Alternative zu, sondern auf ebendem Recht auf Rechtfertigung beruhen, das zunächst im Verdacht stand, ethnozentrisch zu sein. Ein solches Aufdrängen verletzt dann nämlich die Rechte der Mitglieder einer gegebenen Gesellschaft, ihre Grundstruktur selbst zu bestimmen, nach ihren Vorstellungen, die freilich grundlegende Standards politischer Mitgliedschaft und politischen Einflusses nicht unterschreiten dürfen, um einen Legitimitätsanspruch erheben zu können intern wie extern. Dieser Gedanke liegt auch Rawls' Argument für die Respektierung einer „decent hierarchical society" zugrunde44 und ebenso Walzers Begriff einer „dünnen" Moral, die in „dichten" Kontexten reiteriert wird.45 In beiden Fällen ist die Selbstbestimmung46 eines Volkes oder einer Gemeinschaft der leitende normative Standard. Globalistische Ansätze wiederum beruhen ebenfalls auf dem individuellen Recht auf Rechtfertigung, wenden es jedoch unmittelbar auf die Legitimation einer umfassenden, globalen Grundstruktur an. Worauf es ankommt, ist demnach eine Kontextualisierung dieses Grundrechts, die beiden Zielen gerecht wird: dem Respekt für autonome politische Gemeinschaften ebenso wie dem für die essentiellen Interessen und Ansprüche von Individuen ungeachtet ihrer politischen Mitgliedschaft. Von einem moralisch-kosmopolitischen Standpunkt aus führt, wie oben (§ 3 [c]) erwähnt, kein direkter Weg zu einem institutionell-kosmopolitischen Standpunkt, der partikulare Kontexte vernachlässigt. § 7. Wie ist das Recht auf Rechtfertigung angemessen zu situieren? Welches ist sein primärer Kontext? Die erste Antwort lautet, daß das Grundrecht auf Rechtfertigung das básale moralische Recht ist, als autonome moralische Person mit der Fähigkeit zur Rechtfertigung und dem nichtzurückweisbaren Anspruch, Rechtfertigungen zu verlangen, geachtet zu werden und daß daher der primäre Kontext, in dem dieses Recht gilt, der -

-

44 Rawls, Law of Peoples, 64f. Zur Kritik an Rawls' Vernachlässigung eines Rechts auf politische Partizipation in diesem Zusammenhang vgl. Rainer Forst, Konstruktionen transnationaler Gerechtigkeit. John Rawls' The Law of Peoples und Otfried Höffes Demokratie im Zeitalter der Globalisierung im Vergleich, in: Föderale Weltrepublik. Über die Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, hrsg. v. Stefan Gosepath u. Jean-Christophe Merle, erscheint: München 2002. 45 Michael Walzer, Thick and Thin. Moral Argument at Home and Abroad, Notre Dame, Ind. 1994. 46 Rawls, Law of Peoples, 61; Walzer, Thick and Thin, 68.

Rainer Forst

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moralische Kontext von Handlungen ist, die andere Personen auf relevante Weise betreffen. Hier fordert das Rechtfertigungsprinzip, daß Handlungen auf Gründen beruhen müssen, die unter Zugrundelegung der Kriterien von Reziprozität und Allgemeinheit nicht vernünftigerweise zurückweisbar sind. Dies ist eine nichtinstitutionelle Perspektive moralischer Rechte und Pflichten, die sich auf alle Mitglieder der Menschengemeinschaft bezieht, ohne Ansehen politischer Besonderheiten. Dies läßt freilich die Frage unbeantwortet, welches der primäre politische Kontext ist, in dem dieses Recht sich in ein politisches Grundrecht auf Rechtfertigung verwandelt. Und die Antwort darauf lautet, daß dies der Kontext einer besonderen, der „eigenen" Gesellschaft und ihrer Grundstruktur ist der politische Kontext, in den Personen (in der Regel) als Bürger hineingeboren werden und wo sie sich als Mitglieder einer historisch situierten politischen Gemeinschaft und Ordnung wiederfinden und als solche verstehen. Hier sind sie Subjekte einer für sie geltenden rechtlichen und politischen Autorität, und als Bürger haben sie das Recht zu verlangen, daß diese Autorität im Lichte ihrer Interessen und Ansprüche legitimiert wird. Dann ist es sozusagen ihr gemeinsames „Projekt", eine gerecht(fertigt)e Grundstruktur in diesem Rahmen zu entwickeln und zu erhalten. Im Zentrum solch einer Grundstruktur steht das básale Recht auf Rechtfertigung, das im Sinne des partikularen Selbstverständnisses der Mitglieder der politischen Gemeinschaft ausgeübt und institutionalisiert wird, so daß die „Konstruktion" ihrer institutionellen Struktur es verdient, ihr gemeinsames Unternehmen genannt zu werden. Während es auf der (oben genannten) moralischen Ebene möglich ist, eine Liste von Menschenrechten zu konstruieren, die in jeder legitimen Grundstruktur akzeptiert und realisiert sein sollten, können diese nur in partikularen politischen Kontexten konkret interpretiert, institutionalisiert und garantiert werden.47 So stellt das abstrakte Rechtfertigungsrecht substantielle Bedingungen an eine gerechtfertigte Gesellschaftsstruktur, die in konkreter Form die nichtzurückweisbaren Ansprüche der Bürger selbst sind womit die Realisierung politischer Autonomie zum zentralen Ziel dieser Struktur wird. Dies bringt die (oben bereits erwähnte) Unterscheidung zwischen minimaler und maximaler Gerechtigkeit ins Spiel. Mit ersterem sind die Grundrechte und Institutionen bezeichnet, die den Respekt der Person garantieren und die Ausübung des Rechts auf politische Rechtfertigung ermöglichen, d.h. persönliche Freiheitsrechte, politische Partizipationsrechte und soziale Rechte zur Nutzung solcher Rechte. Dies gehört zur Etablierung einer minimal gerechten diskursiven Grundstruktur. Maximale Gerechtigkeit ist das Ergebnis der dadurch ermöglichten Rechtfertigungsdiskurse, d.h. Diskurse über die Ordnung der ökonomischen Produktion und Verteilung, des Rechtssystems, der Erziehung etc. Die minimale Gerechtigkeit deckt dies nicht alles ab, denn sie sorgt nur für eine Schwelle politischer und sozialer Gleichheit, um Legitimationsdiskurse überhaupt erst zu verwirklichen.48 Minimale Gerechtigkeit zielt auf eine Grundstruktur der Rechtfer-

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47 48

Das grundlegende Recht auf Rechtfertigung, Abschnitte II u. III. Obwohl er diese Unterscheidung nicht trifft, sehe ich die Grundrechte, die Habermas (Faktizität und Geltung, 155 f.) in seinem „System der Rechte" aufzählt, als für minimale Gerech-

Vgl. Forst,

Zu einer kritischen Theorie transnationaler

229

Gerechtigkeit

tigung ab, maximale Gerechtigkeit auf eine vollständig gerechtfertigte Grundstruktur. Ersteres ist Voraussetzung von letzterem. Die Betonung der politisch autonomen Errichtung einer gerechten Grundstruktur in einem partikularen Gerechtigkeitskontext berücksichtigt die Bedenken (§ 2 [b] u. [e]), daß eine globalistische Perspektive konkrete Formen der Selbstbestimmung von Bürgern, lokaler Gerechtigkeit und spezifischer Verpflichtungen gegenüber Mitbürgern übergeht.

daß der primäre politische Gerechtigkeitskontext der des eigenen, Staates „heimischen" ist, und dies zu vernachlässigen ist eine mögliche Quelle von UngeDie Gerechtigkeit beginnt „von innen", von innerhalb eines politisch-sozialen rechtigkeit. Kontexts von Auseinandersetzungen um eine bessere Gesellschaft, eines Zusammenhangs von Konflikten wie auch von gegenseitigen Verpflichtungen und Solidaritäten. Auf der Basis des allgemeinen Rechts auf Rechtfertigung erlaubt diese normative Perspektive somit eine Pluralität von konkreten, historisch situierten „Gerechtigkeitsprojekten". Die kulturelle Neutralität des Ausgangspunktes des Rechtfertigungsrechtes vermittelt sich so mit einem kultursensitiven Argument für politische Pluralität und Autonomie. § 8. Dies ist jedoch nur ein Teil der geforderten Theorie, denn aus zwei Gründen kann ein begrenztes politisches Gerechtigkeitsprojekt nicht ohne eine Konzeption transnationaler Gerechtigkeit gedacht werden. Erstens könnte die Annahme, ein begrenzter Kontext der Gerechtigkeit sei exklusiv und habe normative Priorität, zu Ungerechtigkeit führen, etwa dort, wo der betreffende Staat von ungerechten Beziehungen zu anderen Staaten profitiert, seien dies Beziehungen direkter politischer oder gar militärischer Herrschaft oder solche ökonomischer Dominanz und Ausbeutung. Zu Recht weisen globalistische Ansätze daraufhin, daß interne Gerechtigkeit nicht auf der Grundlage externer Ungerechtigkeit etabliert werden kann (§ 3 [b]). Daher sind Grundsätze der Gerechtigkeit nötig, die von den klassischen Prinzipien internationaler Gerechtigkeit49 bis zu Grundsätzen globaler Verteilungsgerechtigkeit reichen. Zweitens mag um zur Perspektive benachteiligter Gesellschaften zu wechseln die Herstellung interner, einzelstaatlicher Gerechtigkeit nicht möglich sein, da das internationale Regime solche Versuche behindert und zum Scheitern verurteilt. Externe Faktoren können (a) zu unfairen ökonomischen Verhältnissen, wirtschaftlichem Versagen oder gar zu einem Mangel grundlegender Subsistenzmittel in einem Staat führen und dabei zugleich (b) ein System interner politischer Herrschaft und Repression stützen. Wie Pogge50 in seiner Kritik des internationalen Rohstoff- und Kreditprivilegs gezeigt hat, gibt es eine Reihe von Punkten, an denen das internationale System nicht nur zu einer unterprivilegierten Position ökonomisch schwacher Staaten führt, sondern auch zu repressiven Herrschaftsverhältnissen innerhalb solcher Staaten. Denn deren Eliten (allzu Denn

es

ist

richtig,

-

-

49

50

tigkeit wesentlich an. Über dieses System hinausgehend muß ferner betont werden, daß ein (qualifiziertes) Vetorecht von Bürgern in Grundfragen der Gerechtigkeit, die dieses Minimum betreffen, für minimale Gerechtigkeit unabdingbar ist. Die wichtige Formulierung eines „Vetorechts" der Schlechtestgestellten findet sich bei Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 175. Vgl. etwa Rawls' Liste von Völkerrechtsprinzipien, mit der Besonderheit der „duty of assistance", auf die ich unten zurückkomme (Law of Peoples, 37). Pogge, Priorities of Global Justice.

230

Rainer Forst

mit mächtigen globalen Akteuren (Regiekooperieren, die natürlichen und menschlichen Ressourrungen, Banken, Konzerne) cen ihrer Länder auszubeuten und dabei ihre eigene Position zu sichern und sich zu bereichern.51 Auch hier bedingen demnach interne und externe Gerechtigkeit einander, aber auf andere Weise: Interne Gerechtigkeit wird durch externe Einflüsse verunmöglicht. Um den Teufelskreis mehrfacher, interner und externer Beherrschung zu durchbrechen und politische Autonomie sowohl innerhalb von Einzelstaaten als auch im internationalen Rahmen zu etablieren, ist ein Prinzip minimaler transnationaler Gerechtigkeit gefordert. Diesem Prinzip zufolge haben die Mitglieder von mehrfach beherrschten Gesellschaften den berechtigten Anspruch auf die Ressourcen, die zur Errichtung einer (minimal) gerechten demokratischen Ordnung in ihrem Staat notwendig sind, und darauf, daß dieser Staat ein gleichberechtigter Teilnehmer am globalen ökonomischen und politischen System wird. Die Bürger der Gesellschaften wiederum, die von dem bestehenden System profitieren, haben eine kollektive Gerechtigkeitspflicht, die dazu notwendigen Mittel (von Ernährung über medizinische Versorgung bis zu Bildungs-, Informations- und Partizipationsmöglichkeiten) bereitzustellen. Dieses Argument für minimale transnationale Gerechtigkeit schließt einerseits an Rawls' Idee einer „duty of assistance" an, die fordert, benachteiligten Staaten dazu zu verhelfen, vollwertige, autonome Mitglieder in der Völkergemeinschaft zu werden,52 versteht diese jedoch deutlicher als konkrete Gerechtigkeitspflicht und akzeptiert keine eindeutige Trennung zwischen internen und externen Faktoren von ökonomischem und politischem Versagen, da diese auf komplexe Weise verknüpft sind. Was die Frage der Ursachen von Armut und Unterentwicklung betrifft (§ 2 [f]), ist es zugleich richtig, auf interne politische Probleme zu verweisen und darauf, daß dies nicht allein (und oft nicht primär) „hausgemachte" Schwierigkeiten sind. Daher haben Gesellschaften, die von dem bestehenden globalen System (und damit auch von den Herrschaftsverhältnissen in den unterprivilegierten Ländern und Regionen) auf vielfältige Weise profitieren, konkrete Pflichten der Gerechtigkeit, faire transnationale Diskurs- und Kooperationsverhältnisse zu schaffen. Transnationale minimale Gerechtigkeit zielt auf die Etablierung einer Grundstruktur der Rechtfertigung sowohl innerhalb von Einzelstaaten als auch zwischen ihnen ab; dies ist der einzige Weg, um die zusammenhängenden Formen der internen und externen Beherrschung zu überwinden. Die Pflicht der Schaffung minimaler Gerechtigkeit enthält eine Reihe von Maßnahmen, die hier nicht weiter diskutiert werden können; sie sollen das gegenwärtige globale politische und ökonomische System so verändern, daß Bedingungen gleichberechtigter Partizipation der Staaten an Entscheidungsverfahren entstehen, die über ausreichend Macht verfügen, um die Wirkungsweise des Systems zu be-

häufig Diktatoren)

nutzen ihre

Position,

um

zu

51

52

Vgl. beispielsweise die Berichte darüber, wie deutsche Banken, Unternehmen und die Regierung mit dem nigerianischen Diktator Abacha bzw. dem indonesischen Präsidenten Suharto zusammenarbeiteten: Beat Balzi/Jan Dirk Herbermann, Berüchtigte Kundschaft, in: Der Spiegel vom 29. Mai 2000, 102; Inge Altemeier/Harald Schumann, Der überflüssige Strom, ebenda, 204 f. Vgl. Rawls, Law of Peoples, 118; kritisch Forst, Konstruktionen transnationaler Gerechtigkeit.

Zu einer kritischen Theorie transnationaler

Gerechtigkeit

231

einflussen und beispielsweise die Unterstützung für diktatorische Regime zu beenden.53 Schließlich müssen in allen Gesellschaften básale Menschenrechte verwirklicht und (eventuell durch supranationale Institutionen) garantiert werden, damit sichergestellt ist, daß der Einfluß der Staaten in solchen Verfahren auch der Einfluß ihrer Bürger und nicht nur derjenige mächtiger Eliten ist. Interne und externe Demokratisierung müssen gemeinsam voranschreiten; beide setzen freilich in hohem Maße eine Neuverteilung von Ressourcen und einen Wandel der bestehenden globalen Ordnung voraus.54 § 9. Dies wäre allerdings nur ein Schritt hin zur Etablierung einer vollständig gerechtfertigten transnationalen Grundstruktur, d.h. maximaler Gerechtigkeit auf dieser Ebene. Die Minimalgerechtigkeit fordert allein faire Bedingungen wechselseitiger Rechtfertigung, d.h. Bedingungen für Diskurse über gerechte ökonomische und soziale Kooperation, den Gebrauch und die Verteilung von Ressourcen, die Errichtung von Institutionen mit der Aufgabe der Kontrolle transnationaler Akteure etc. Und in diese Diskurse gehen eine ganze Reihe von Gesichtspunkten der Gerechtigkeit ein: Überlegungen historischer Gerechtigkeit (etwa im Verhältnis von Kolonialstaaten und früheren Kolonien), aber auch Prinzipien bezüglich der Aufteilung natürlicher Ressourcen oder ökologischer Gerechtigkeit, um nur einige zu nennen. Neben dem übergeordneten Rechtfertigungsgrundsatz gibt es auf dieser Ebene eine Pluralität von Gerechtigkeitsprinzipien, die auf die spezifischen Fälle angewendet werden müssen. Da solche Diskurse auf der Grundlage eines Standards minimaler Gerechtigkeit und (ungefähr) gleicher Partizipationsmacht erfolgen, werden sie nicht wie es gegenwärtig der Fall ist unter Bedingungen von Ungleichheit und Beherrschung erfolgen, die den schwächeren Staaten kaum Einflußchancen belassen. Die Basis minimaler Gerechtigkeit vorausgesetzt, kann so ein Bild komplexer Gerechtigkeit entstehen, das ganz unterschiedliche Grundsätze und Überlegungen enthält. Eine Variante von Rawls' Differenzprinzip taucht dabei freilich als transformierter demokratischer Grundsatz auf: In Fragen grundlegender Gerechtigkeit, die das erwähnte Minimum betreffen, gibt es insofern ein (qualifiziertes) „Vetorecht" der Schlechtestgestellten, als keine Entscheidung getroffen werden darf, die von diesen reziprok und allgemein zurückweisbar ist.55 Ob die Institutionalisierung minimaler Gerechtigkeit oder die Resultate der Diskurse mit dem Ziel einer Maximierung der Gerechtigkeit zu einer Staatenföderation in einer subsidiaren „Weltrepublik"56 oder zu einem „Weltstaat"57 führen werden, läßt sich nicht -

-

53 54

55 56

57

Vgl. dazu James Bohman, International Regimes and Democratic Governance. Political Equality and Influence in Global Institutions, in: International Affairs 75 (1999), 499-513. Vorausgesetzt ist dabei auch ein bedeutender Wandel von Haltungen und die Herausbildung dessen, was Habermas ein „Bewußtsein kosmopolitischer Zwangssolidarisierung" nennt (Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie, in: Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt/M. 1998, 91-169, hier 168). Vgl. oben, 228f., Anm. 48. Vgl. Hoffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, Teil 2; Matthias Lutz-Bachmann, Kants Friedensidee und das rechtsphilosophische Konzept einer Weltrepublik, in: Frieden durch Recht, 25-44, ders., ,Weltstaatlichkeit' und Menschenrechte nach dem Ende des überlieferten Nationalstaats', in: Recht auf Menschenrechte, 276-292. Vgl. Christoph Horn, Philosophische Argumente für einen Weltstaat, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 21 (1996), 229-251.

232

Rainer Forst

vorhersagen; dies hängt von den Institutionen ab, die sich als notwendig zur Erfüllung der Gerechtigkeitsforderungen erweisen. Ohne Zweifel setzt jedoch bereits die Verwirklichung des Minimums ein höheres Maß an Institutionalisierung voraus, als es gegenwärtig gegeben ist, sowohl zur Sicherstellung des sozialen Minimums innerhalb der Staaten als auch zur Herstellung von (weitestgehender) Partizipationsgleichheit zwischen ihnen. § 10. Zum Schluß ein kurzer Rückblick auf die vorangegangene Argumentation, die gezeigt hat, daß eine kritische Theorie transnationaler Gerechtigkeit, zu der ich hier erste Schritte unternommen habe, die stärksten Argumente der Etatisten wie auch der Globalisten aufnimmt und transformiert. Sie beginnt mit einer kritischen, differenzierten Perspektive auf die relevanten Kontexte der Gerechtigkeit, ohne partikulare Kontexte bzw. den globalen Zusammenhang zu vernachlässigen oder diese aufeinander zu reduzieren; sie enthält eine komplexe Diagnose der Arten von Ungerechtigkeit, auf die Prinzipien transnationaler Gerechtigkeit eingehen müssen; sie beruht auf einer „dünnen", aber tragfähigen normativen Grundlage, die sowohl kulturübergreifend als auch kultursensitiv ist; sie enthält eine Pluralität von Gerechtigkeitsgesichtspunkten; und sie betont an erster Stelle die Autonomie der einzelnen Mitglieder politischer Gemeinschaften als internes und als externes Prinzip: Die Ermöglichung demokratischer Selbstbestimmung in einer gerechtfertigten Grundstruktur ist das zentrale Ziel der Theorie. Ohne eine solche Autonomie kann Gerechtigkeit nicht verwirklicht werden, denn in politischen Kontexten fordert sie, daß keine sozialen Verhältnisse „jenseits" der Rechtfertigung liegen.*

Eine englische Version dieses Textes wurde auf der Konferenz „Global Justice" am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld vorgetragen und findet sich in einer von Thomas Pogge herausgegebenen Sondernummer von Metaphilosophy 32 (2001), die auch als Buch erschienen ist: Global Justice, hrsg. v. Thomas Pogge, Oxford 2001. Ich danke den Teilnehmern der Konferenz für ihre hilfreichen Fragen und Einwände. Autor, Herausgeber und Verlag danken dem Verlag Blackwell, Oxford für die freundlich erteilte Zustimmung zum Abdruck. -

Reinold Schmücker

Wiedergutmachung und Sezession Zur historischen

Gerechtigkeit zwischen Nationen

Sezessionsbestrebungen sind heute weit verbreitet, und sie betreffen, wie die Beispiele Spaniens zeigen, auch demokratische Rechtsstaaten. Sind solche Bestrebungen legitim? Sollten die Verfassungen demokratischer Staaten womöglich sogar ein Recht auf Sezession enthalten, wie es in der Verfassung der Sowjetunion verankert war? Oder sind im Gegenteil die bestehenden Staaten moralisch dazu berechtigt, Sezessionsbestrebungen zu unterbinden? Um zu zeigen, daß die Legitimität von Sezessionen nicht pauschal, d.h. ohne Ansehung der für ein Sezessionsbegehren geltend gemachten Gründe, beurteilt werden kann, unterscheide ich im folgenden zunächst die Argumente, die zur moralischen Rechtfertigung von Sezessionsbestrebungen angeführt werden (I). Anschließend weise ich zwei in der politischen Philosophie der Gegenwart besonders populäre Rechtfertigungsstrategien zurück (II) und erörtere ausführlich die Legitimität wiedergutmachender Sezession (III). Das Resultat meiner Analyse legt eine völkerrechtliche Berücksichtigung historischen Unrechts nahe, die dem moralischen Erfordernis, historisch motivierte (Gebiets-)Ansprüche gegen Ansprüche abzuwägen, die ihrer Verwirklichung entgegenstehen, systematisch Rechnung trägt (IV). Kanadas oder

I Wenn

man unter einer Sezession die „Abtrennung eines Gebietsteiles eines Staates gedessen Willen durch die dort ansässige Bevölkerung" versteht gleichgültig, ob diese gen dem Ziel dient, „einen neuen selbständigen Staat zu bilden oder sich einem bestehenden anderen Staat anzuschließen" -,' dann lassen sich vier verschiedene Argumente zur moralischen Rechtfertigung von Sezessionen unterscheiden.2 -

1 2

[Art.] Sezession (2), in: Brockhaus Enzyklopädie in vierundzwanzig Bänden, 19., völlig neu bearb. Aufl., Bd. 20, Mannheim 1993, 189. Ich übergehe hier ein fünftes Argument, dem zufolge Sezessionen grundsätzlich legitim sind, weil die Auflösung der bestehenden Staaten in eine möglichst große Zahl möglichst kleiner Staaten ökonomisch (und migrationspolitisch) wünschenswert sei (Hans-Hermann Hoppe, Small is Beautiful and Efficient: The Case For Secession, in: Telos 107 [1996], 95-101). Meines Erachtens unterschätzt dieses ökonomische Argument in dramatischer Weise die mit

Reinold Schmücker

234

Das erste Rechtfertigungsargument deutet das Selbstbestimmungsrecht eines Kollektivs nicht als ein Kollektivrecht sui generis, sondern als ein Derivat des Selbstbestimmungsrechts individueller Personen: Wenn die in einem bestimmten Teilgebiet eines Staates lebenden Personen mehrheitlich übereinkommen, ihr je individuelles Selbstbestimmungsrecht nicht länger an diesen Staat zu delegieren, sondern auf einen anderen, unter Umständen erst noch zu gründenden Staat zu übertragen, dann legitimiert dem ersten Rechtfertigungsargument zufolge dieser Wille der Gebietsbevölkerungsmehrheit eine von ihr intendierte Sezession. Wir können deshalb Sezessionsrechtfertigungen dieses Typs, wie sie sich bei Harry Beran, David Copp und anderen Autoren finden,3 majoritaristische Sezessionsrechtfertigungen nennen. Das zweite Rechtfertigungsargument interpretiert das Selbstbestimmungsrecht eines Kollektivs demgegenüber als ein dem Kollektiv als solchem zukommendes Recht. Rechtfertigungen dieses Typs erkennen jedoch nicht jedem beliebigen Kollektiv ein solches Selbstbestimmungsrecht zu, sondern schränken dieses Recht auf Kollektive ein, die bestimmte Kriterien erfüllen (beispielsweise eine gemeinsame Sprache sprechen, eine gemeinsame Religion besitzen oder über eine gemeinsame Kultur verfügen) und sich deshalb in den Augen der Anhänger dieses Rechtfertigungsarguments als Völker, als Nationen oder als Gemeinschaften ansprechen lassen. Ich bezeichne Sezessionsrechtfertigungen des zweiten Typs, wie man sie etwa bei Avishai Margalit und Joseph Raz finden kann,4 deshalb als kommunitaristische Sezessionsrechtfertigungen.

größeren staatlichen Fragmentierung der Welt aller Wahrscheinlichkeit nach verbundene Erhöhung der Zahl zwischenstaatlicher Konflikte und der diesbezüglichen ,Reibungskosten', während es andererseits die ökonomischen Vorteile eines global erfolgreichen Sezessionismus insbesondere dessen Beitrag zum Abbau von Handelsschranken und das daraus resultierende Wirtschaftswachstum (vgl. ebenda, 99 ff.) ebenso dramatisch überschätzt; vgl. dazu z.B. Amitai Etzionis gegenteilige Prognose hoher politischer und ökonomischer Folgekosten einer staatlichen Fragmentierung der Welt: ders., The Evils of Self-Determination, in: Foreign Policy, Nr. 89 (Winter 1992/93), 21-35. Der moralischen Rechtfertigung von Sezessionen könnte das ökonomische Argument im übrigen allenfalls dann dienen, wenn sich diese von Gerechtigkeitsanforderungen freihalten und auf Effizienzgesichtspunkte beschränken ließe. Siehe Harry Beran, A Liberal Theory of Secession, in: Political Studies 32 (1984), 21-31; einer

-

-

3

ders., More Theory of Secession: A Response to Birch, in: Political Studies 36 (1988), 316323; ders., A democratic theory of political self-determination for a new world order, in: Theories of Secession, hrsg. v. Percy B. Lehning, London-New York 1998, 32-59; David Copp, Democracy and Communal Self-Determination, in: The Morality of Nationalism, hrsg. v. Robert McKim u. Jeff McMahan, New York-Oxford 1997, 277-300; ders., International

4

Law and Morality in the Theory of Secession, in: The Journal of Ethics 2 (1998), 219-245; vgl. ferner: David Gauthier, Breaking Up: An Essay on Secession, in: Canadian Journal of Philosophy 24 (1994), 357-372; Christopher H. Wellman, A Defense of Secession and Political Self-Determination, in: Philosophy & Public Affairs 24 (1995), 142-171; Daniel Philpott, In Defense of Self-Determination, in: Ethics 105 (1995), 352-385; ders., Self-Determination in Practice, in: National Self-Determination and Secession, hrsg. v. Margaret Moore, Oxford-New York 1998, 79-102. Siehe Avishai Margalit/Joseph Raz, National Self-Determination, in: The Journal of Philosophy 87 (1990), 439-461; vgl. ferner: Kai Nielsen, Secession: The Case of Quebec, in: Jour-

Wiedergutmachung

235

und Sezession

Das dritte Rechtfertigungsargument nimmt weder auf ein individuelles noch auf ein kollektives Selbstbestimmungsrecht Bezug, sondern begründet die Legitimität von Sezessionen mit der Legitimität der Abschüttelung ungerechter Herrschaft einer Abschüttelung, die unter bestimmten Umständen die Form einer Sezession annehmen könne.5 Sezessionen sind diesem Argument zufolge dann legitim, wenn sich der sezessionierende Gebietsteil eines Staates dadurch von ungerechter Herrschaft befreit. Sezessionsrechtfertigungen dieses Typs können deshalb emanzipatorische Sezessionsrechtfertigungen heißen. Das vierte Rechtfertigungsargument teilt mit dem dritten die Bezugnahme auf vorgängiges Unrecht.6 Im Fall des vierten Arguments ist es jedoch keine gegenwärtige Repression, die eine Sezession legitimiert, sondern ein Unrecht historischer Art. Diesem Rechtfertigungsargument zufolge ist eine Sezession nämlich dann legitim, wenn sie die vorherige Souveränität eines annektierten Staates wiederherstellt oder einen kolonisatorischen Akt rückgängig macht. Ich werde Sezessionsrechtfertigungen dieses Typs restitutionalistische Sezessionsrechtfertigungen nennen. Natürlich stellt diese Typologie eine idealtypische Unterscheidung dar. Tatsächlich konfrontiert uns die politische Philosophie, vor allem aber die politische Realität meistens mit Argumentationen, die Sezessionsrechtfertigungen unterschiedlichen Typs miteinander verknüpfen. Wenn wir jedoch wissen wollen, ob ein bestimmter Sezessionsan-

5

6

nal of Applied Philosophy 10 (1993), 29-43; ders., Liberal Nationalism and Secession, in: National Self-Determination and Secession, 103-133; David Miller, On Nationality, Oxford 1995, 194; ders., Secession and the Principle of Nationality, in: Rethinking Nationalism, hrsg. v. Jocelyne Couture, Kai Nielsen u. Michel Seymour, Calgary 1996 (Canadian Journal of Philosophy, Sonderbd. 22), 261-282; Daniel K. Donnelly, States and Substates in a Free World: a Proposed General Theory of National Self-determination, in: Nationalism & Ethnic Politics 2 (1996), 286-311; Margaret Moore, On National Self-Determination, in: Political Studies 45 (1997), 900-913. Ungerecht ist jede staatliche Herrschaft, deren Organe schwere Menschenrechtsverletzungen dulden, fördern oder begehen, insbesondere solche, die die physische Integrität der Staatsbevölkerung oder eines Teils von ihr bedrohen. Für die meisten Vertreter von „Remedial Right Only Theories" wie Allen Buchanan (Theories of Secession, in: Philosophy & Public Affairs 26 [1997], 30-61, hier 35) diejenigen Auffassungen nennt, die allein vorgängiges Unrecht als Legitimationsgrund zulassen kann deshalb sowohl das dritte als auch das vierte Argument eine Sezession legitimieren; vgl. Anthony H. Birch, Another Liberal Theory of Secession, in: Political Theory 32 (1984), 596-602, bes. 599ff; Allen Buchanan, Secession. The Morality of Political Divorce from Fort Sumter to Lithuania and Quebec, Boulder, Col. 1991, 74; ders., Theories of Secession, 37; ders., SelfDetermination, Secession, and the Rule of Law, in: The Morality of Nationalism, 301-323, hier 310; ders., Democracy and Secession, in: National Self-Determination and Secession, 14-33; Christine Chwaszcza, Selbstbestimmung, Sezession und Souveränität. Überlegungen zur normativen Bedeutung politischer Grenzen, in: Politische Philosophie der internationalen Beziehungen, hrsg. v. Christine Chwaszcza u. Wolfgang Kersting, Frankfurt/M. 1998, 467501, hier 472f. u. 491 ff; Wayne Norman, The Ethics of Secession as the Regulation of Secessionist Politics, in: National Self-Determination and Secession, 34-61, hier 41; Otfried Hoffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 1999, 392. -

-

Reinold Schmücker

236

moralisch begründet ist oder nicht, kommen wir nicht umhin, solche Knäuel zu entwirren. Denn nicht jedes Argument, das zur moralischen Begründung eines Sezessionsanspruchs aufgeboten wird, kann diesen tatsächlich legitimieren. Ob in einem kon-

spruch

kreten Fall die empirischen Voraussetzungen eines legitimen Sezessionsanspruchs vorliegen, läßt sich aber erst entscheiden, wenn klar ist, welche Argumente überhaupt eine Sezession zu legitimieren vermögen.

II Das majoritaristische und das kommunitaristische Argument scheinen auf den ersten Blick sehr attraktive Strategien der moralischen Legitimation von Sezessionsbestrebungen zu sein. Weil beide die Legitimität eines Sezessionsanspruchs nicht an vorgängiges Unrecht binden, entbinden sie nämlich das anspruchstellende Kollektiv von dem Nachweis, daß es Unrecht erleidet oder erlitten hat.7 Um die Legitimität seines Sezessionsanspruchs zu belegen, muß es lediglich dartun, daß es als Kollektiv bestimmte Qualitäten besitzt. Nach kommunitaristischer Auffassung sind dies in der Regel eine gemeinsame Sprache, Geschichte, Religion oder kulturelle Tradition. Dem majoritaristischen Argument zufolge genügt es sogar, daß das anspruchstellende Kollektiv die Bevölkerungsmehrheit des fraglichen Gebietes bildet. Darüber hinaus kann sich das majoritaristische Argument auf zwei Grundüberzeugun-

politischen Liberalismus berufen, die heute weltweit sehr große Zustimmung genießen: auf die Annahme, daß jeder Mensch ein moralisches Recht auf politische Selbstbestimmung besitzt, und auf die Überzeugung, daß Konflikte, die aus der allseitigen Inanspruchnahme dieses Selbstbestimmungsrechts erwachsen, nur auf demokratische Weise, d. h. durch Mehrheitsentscheid, gerecht gelöst werden können. Das kommunitaristische Argument verdankt seine Prima-facie-Plausibilität dagegen nicht zuletzt dem gen des

das Sezessionsrecht im wesentlichen auf solche Kollektive beschränkt, heutige Völkerrecht ein Selbstbestimmungsrecht bereits zuerkennt.8

Umstand, daß denen das 7

Die zur

8

es

Bedeutung dieser Entlastung' läßt sich kaum überschätzen. Sie trägt nämlich erheblich Erleichterung der Rechtfertigung von Sezessionsansprüchen gegenüber rechtsstaatlichen

Demokratien bei. Siehe Knut Ipsen u.a., Völkerrecht, 4., völlig neu bearb. Aufl., München 1999, 354ff, bes. 355 u. 358: „Beim Selbstbestimmungsrecht handelt es sich um ein Recht der Völker. [...] Völker sind aufgrund subjektiver und objektiver Kriterien zu identifizieren. Der subjektive Ansatz geht davon aus, daß ein Volk eine Menschengruppe ist, die sich selbst als Volk mit einer eigenen Identität versteht. Somit ist die Selbstidentifikation das zentrale Moment. [...] Die Selbstidentifikation von Völkern wird durch objektive Faktoren mitgeprägt. Daß diese notwendig sind, wird daran deutlich, daß andernfalls ein Volk im selben Weg gebildet werden könnte, wie man einen Verein gründet. [...] Als objektive Faktoren sind die Komponenten einer Gruppenqualität wie Territorium, Sprache, Kultur, Religion, Mentalität oder gemeinsames geschichtliches Erbe anzusehen." Vgl. auch die beim UNESCO-Expertentreffen 1989 vorgeschlagene Definition eines Volkes als „a group of individual human beings who enjoy some or all of the following common features: (a) a common historical tradition, (b) racial

Wiedergutmachung

237

und Sezession

Bei näherem Hinsehen büßen allerdings sowohl die majoritaristische als auch die kommunitaristische Sezessionsrechtfertigung ihre Prima-facie-Attraktivität ein. (a) Das majoritaristische Argument erscheint, da es als eine spezifisch demokratische Sezessionsbegründung auftritt, als selbstwidersprüchlich. Wäre nämlich Sezession allein auf Grund des Mehrheitsvotums einer Gebietsbevölkerung legitim, dann stünde jeder in einem demokratischen Staat lebenden Minderheit, die in einem bestimmten Teilterritorium die Bevölkerungsmehrheit bildet, mit dem Instrument der Sezessionsdrohung ein moralisch nicht zu mißbilligendes Mittel zur Verfügung, mit dem sie die Korrektur ihr unliebsamer Mehrheitsentscheidungen erzwingen könnte. In Deutschland könnte in diesem Fall beispielsweise die Bevölkerung Bayerns durch eine Sezessionsdrohung eine für Bayern günstigere Regelung des innerdeutschen Länderfinanzausgleichs erzwingen ungeachtet der Tatsache, daß dessen derzeitige Regelung auf Gesetzen beruht, die Bundestag und Bundesrat mit der jeweils erforderlichen Mehrheit verabschiedet haben.9 Das majoritaristische Argument impliziert insofern die Außerkraftsetzung des Mehrheitsprinzips, dessen unbedingte Geltung es andererseits postuliert.10 (b) Darüber hinaus ist das majoritaristische Argument mit tief verwurzelten Gerechtigkeitsintuitionen unvereinbar. Denn es würde, wie Christine Chwaszcza zu Recht eingewandt hat, „beispielsweise die Sezession eines ökonomisch prosperierenden Landesteiles von einem weniger prosperierenden erlauben, wenn dies[e] dem Willen der Bürger des ersteren entspricht, sich der ,armen Verwandten' zu entledigen".11 So würde es das majoritaristische Argument beispielsweise der Bevölkerung Bayerns gestatten, sich durch Sezession ihrer aus dem innerdeutschen Länderfinanzausgleich resultierenden Zahlungsverpflichtungen zu entledigen obwohl die heutige wirtschaftliche Prosperität Bayerns nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, daß Bayern durch den Länderfinanzausgleich jahrzehntelang erhebliche Mittel anderer Bundesländer zugeflossen sind, die u. a. für Wirtschaftsförderung und Infrastrukturmaßnahmen verwendet werden konnten.12 Ebenso wie ein solches Verhalten widerspräche unseren moralischen Intuitionen auch das Verhalten eines Kollektivs, das sich gezielt in einem sehr dünn besiedelten Gebiet eines Staates, dessen liberale Einwanderungsbestimmungen dies zulassen, ansiedelt, um dem Staat sodann durch Sezession diesen Teil des Staatsgebiets zu entreißen ein Verhalten, das der sezessionstheoretische Majoritarist für legitim erachten muß, sofern das eingewanderte Kollektiv tatsächlich die Bevölkerungsmehrheit des fraglichen Territoriums bildet.13 -

-

-

ethnic identity, (c) cultural homogenity, (d) linguistic unity, (e) religious or ideological affinity, (f) territorial connection, (g) common economic life" (zitiert nach: Kay Hailbronner, Der Staat und der Einzelne als Völkerrechtssubjekte, in: Völkerrecht, hrsg. v. Wolfgang Graf Vitzthum, 2., neubearb. u. erw. Aufl., Berlin-New York 2001, 161-265, hier 206 [Anm. 186]). Maßgeblich ist Art. 107 GG in Verbindung mit § 25 FAG. Vgl. Buchanan, Democracy, 21 f.; Chwaszcza, Selbstbestimmung, 483. Chwaszcza, Selbstbestimmung, 481. Noch 1980 war Bayern Empfangerland und erhielt mit 402,6 Millionen DM die zweithöchste Ausgleichszuweisung aller ausgleichsberechtigten Länder. Vgl. Robert E. Ewin, Peoples and Secession, in: Journal of Applied Philosophy 11 (1994), or

9 10 11 12

13

225-231, hier 229.

238

Reinold Schmücker

Zu diesen beiden Einwänden tritt ein pragmatisches Bedenken hinzu: Indem das majoritaristische Argument allein auf den Mehrheitswillen einer Gebietsbevölkerung abhebt, bietet es keine Handhabe, die Progression von Sezessionen oberhalb der Existenz bloßer Ein-Personen-Staaten zu begrenzen. Denn durch die Wahl eines hinreichend kleinen Gebietes könnte jedwede Gruppe (wie groß auch immer sie sei), und im Extremfall sogar eine Einzelperson, ihren Willen als den Mehrheitswillen einer Gebietsbevölkerung ausweisen.14 Das majoritaristische Argument droht deshalb einer extremen staatlichen Fragmentierung der Welt Vorschub zu leisten, die Staaten entstehen läßt, welche derart klein sind, daß sie die ihnen zuvörderst obliegende Aufgabe der Friedenssicherung nicht mehr zu erfüllen vermögen.15 (d) Auch das kommunitaristische Argument steht auf tönernen Füßen. Hier ist vor allem zu fragen, warum nur der Bevölkerungsmehrheit ethnisch, religiös oder kulturell weitgehend homogen besiedelter Territorien ein Recht auf politische Selbstbestimmung und einen eigenen Staat zustehen sollte auf diese Konsequenz liefe die kommunitaristische Sezessionsrechtfertigung nämlich hinaus.16 Der Kommunitarismus hat zwar plausibel gemacht, daß der Verlust ihrer ethnisch, religiös oder kulturell bedingten Identität für die Mitglieder eines Kollektivs mit erheblichen psychischen und sozialen Kosten verbunden wäre.17 Der Hinweis auf die Bedeutung und den Nutzen, den die Eigenstaatlichkeit für die Bewahrung einer solchen Identität hat, taugt aber nicht zur Begründung einer Privilegierung solcher Kollektive, die in einem weitgehend homogen besiedelten Gebiet leben, in dem sie die Bevölkerungsmehrheit stellen. Wollte man diesem Hinweis ein Argument entnehmen, das die kommunitaristische Sezessionsrechtfertigung zu stützen vermag, müßte man zumindest allen Kollektiven, deren Identität sich einer gemeinsamen Sprache, Religion oder Kultur verdankt, ein Selbstbestimmungsrecht zusprechen, das das Recht auf einen eigenen Staat impliziert unabhängig davon, ob sie die Mehrheitsbevölkerung irgendeines Territoriums bilden oder nicht. Vor der Annahme eines so weitreichenden kollektiven Selbstbestimmungsrechts hüten sich aber selbst die Anhänger der kommunitaristischen Sezessionsrechtfertigung zumindest sprechen sie sie nicht offen aus -; denn die Realisierung eines so weitreichenden Selbstbestimmungsrechts wäre zumindest immer dann nur durch Vertreibungen und ,ethnische Säuberungen' möglich, wenn ein Kollektiv es in Anspruch nähme, das in keinem für einen lebensfähigen Staat hinreichend großen Gebiet die Mehrheitsbevölkerung stellt.

(c)

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14 Vgl. Miller, On Nationality, 111. 15 Daß Ein-Personen-Staaten vor dieser Aufgabe versagen, ist evident: Hier steht jeder mögliche Konfliktgegner B der Staatsperson A bereits außerhalb derjenigen staatlichen Rechtsordnung, deren Geltung A anerkennt. Tendenziell gilt aber auch für größere Kleinstaaten, daß ihr Konfliktregelungs- und Friedenssicherungspotential vergleichsweise gering ist, weil die Zahl der möglichen Konfliktgegner, die die jeweilige Rechtsordnung nicht anerkennen, relativ hoch ist. 16 Vgl. Copp, Democracy, 286 u. 289. 17 Will Kymlicka, Multicultural Citizenship. A Liberal Theory of Minority Rights (Kap. 2), Oxford 1995.

Wiedergutmachung

und Sezession

239

(e) Darüber hinaus abstrahiert die majoritaristische wie die kommunitaristische Sezessionsrechtfertigung zunächst davon, daß dem Sezessionsanspruch in aller Regel Ansprüche entgegenstehen, die nicht ohne weiteres als illegitim abgewiesen werden können. Insbesondere der Restbevölkerung des bisherigen Staates, unter Umständen aber auch Drittstaaten oder der internationalen Staatengemeinschaft, entstehen nämlich durch

eine Sezession meistens Nachteile, deren Hinnahme ihnen nicht unbesehen zugemutet werden kann. Solchen Ansprüchen müssen die sezessionstheoretischen Majoritarier und Kommunitaristen gleichsam nachträglich Rechnung tragen, indem sie die Legitimität einer Sezession zusätzlich an die Erfüllung von Bedingungen binden, die die angemessene Berücksichtigung derjenigen legitimen Ansprüche gewährleisten sollen, die dem Sezessionsanspruch entgegenstehen.18 So ist für David Copp die Ausübung eines prima facie bestehenden Sezessionsrechts nur dann legitim, wenn dadurch weder der Weltfrieden noch die weltweite Sicherheit bedroht und auch das nach der Sezession dem bisherigen Staat verbleibende Territorium nicht übermäßig fragmentiert würde.19 Das majoritaristisch begründete Sezessionsrecht ist insofern kein unbedingtes, sondern nur ein „schwaches Recht" („weak right").20 Diese Bedingungen stellen zwar sehr erhebliche Einschränkungen dar, gehen aber noch nicht so weit, daß sie einer indirekten Aufhebung des majoritaristisch begründeten Sezessionsrechts gleichkämen. Der sezessionstheoretische Majoritarismus steht jedoch vor einem Problem, das ihn dazu nötigt, noch eine weitere Zusatzklausel einzuführen. Es ist nämlich nicht ersichtlich, warum sich der Kreis der sezessionsberechtigten Kollektive auf Gee/e/sbevölkerungen beschränken sollte, wenn sich doch das Kollektivrecht auf politische Selbstbestimmung, wie das majoritaristische Argument voraussetzt, der Akkumulation je individueller Selbstbestimmungsrechte verdankt. Warum sollten nur solche Individuen ihre Rechte akkumulieren dürfen, die ein geschlossenes Gebiet besiedeln? Das majoritaristische Argument bietet für eine solche Einschränkung des Rechts auf politische Selbstbestimmung und Eigenstaatlichkeit keine unmittelbare Handhabe. Ohne 18 Wellman versteht diese Zusatzbedingungen als ein Äquivalent zur Straßenverkehrsordnung: Wie diese erforderlich sei, damit die Freiheit des Autofahrens nicht zur Körperverletzung vieler Menschen führe, so bedürfe es zur Abwendung analoger Gefahren auch entsprechender Regeln für den Gebrauch der Sezessionsfreiheit (Defense of Secession, 164). Diese Analogisierung gibt Anlaß, daran zu erinnern, daß die Gewährleistung der Freiheit des Autofahrens ungeachtet der Tatsache, daß das Autofahren nahezu überall auf der Welt durch Regeln beschränkt ist, die dem Schutz Dritter dienen, mit der Inkaufnahme der Körperverletzung zahlloser Dritter verbunden ist. Erlaubt sein muß deshalb die Frage, ob die Einräumung einer Freiheit, die, wie die von Wellman angenommene Sezessionsfreiheit, aller Voraussicht nach mit noch weitaus höheren Leidenskosten verbunden wäre, nicht selbst unter Bedingungen illegitim ist, die sie genauso stark einschränken wie die Straßenverkehrsordnung das Autofahren. 19 Copp, Democracy, 280. Auf die Vermeidung ungerechter Güter(um)verteilung zielt Gauthiers „proviso", die es nicht erlaubt „that one [...] better oneself by worsening another" (Breaking Up, 363). Beran (Liberal Theory, 30 f.) führt eine Reihe weiterer Kriterien an, will sie aber ausdrücklich nicht als notwendige Bedingungen einer legitimen Sezession verstanden wissen (More Theory of Secession, 319f), so daß ihr Status letztlich unklar bleibt. 20 Gauthier, Breaking Up, 360 ff.

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eine solche

Einschränkung ließe es sich jedoch zur Rechtfertigung von Vertreibungen und .ethnischen Säuberungen' in Anspruch nehmen, um deren Illegitimität wir intuitiv wissen. Der sezessionstheoretische Majoritarismus sieht sich deshalb gezwungen, eine pragmatisch motivierte Territorialklausel einzuführen. Diese muß jedoch um unseren moralischen Intuitionen nicht diametral zu widersprechen der Möglichkeit der illegitimen Annexion eines Territoriums und der gewaltsamen Vertreibung seiner Residenten Rechnung tragen. Copp hebt daher hervor, daß ein Recht auf politische Selbstbestimmung grundsätzlich nur solchen Kollektiven zukommen könne, die ein bestimmtes Territorium bevölkern oder aus historischen Gründen einen Anspruch auf ein solches Territorium besitzend Dies aber bedeutet im Umkehrschluß, daß die Bevölkerung eines bestimmten Territoriums auch nach majoritaristischer Sicht nur dann zu einer Sezession durch Mehrheitsentscheid berechtigt ist, wenn ihrem Territoriumsanspruch keine in historischem Unrecht wurzelnden Ansprüche anderer auf dasselbe Gebiet entgegenstehen.22 Ungewollt rückt der sezessionstheoretische Majoritarismus damit die Frage der Reichweite historisch begründeter Gebietsansprüche in den Mittelpunkt. (f) Auch der sezessionstheoretische Kommunitarist kann dieser Frage nicht ausweichen. Das wird deutlich, wenn man die kommunitaristische Sezessionsrechtfertigung mit der Frage konfrontiert, welche von zwei gleich großen Bevölkerungsgruppen, die beide dasselbe Teilterritorium eines Staates besiedeln und beide gleichermaßen die für die Zuerkennung des Nationen- oder Gemeinschaftscharakters maßgeblichen Bedingungen erfüllen, sich zur Begründung ihres Sezessionsanspruchs auf das kommunitaristische -

-

Argument berufen könnte.

Der sezessionstheoretische Kommunitarist muß dieses Recht grundsätzlich beiden Bevölkerungsgruppen zuerkennen (es sei denn, er wollte einer normativen Hierarchisierung von Kulturen, Sprachen oder Ethnien das Wort reden, die sich jedoch nur an willkürlich gewählten Kriterien orientieren könnte). Das aber bedeutet, daß die kommunitaristische Sezessionsrechtfertigung unter Umständen gar nichts zur Klärung der Legitimität von Sezessionsansprüchen beitragen kann: Wenn nämlich An21

„If a society does not occupy a territory, then there is no territory in which a state could be formed for its members, except by moving populations around in order to create space for

the society. The creation of a state for the society would require more than simply the formation of a government and the noninterference of others. For this reason, the decision whether to form a state for the society could not be viewed as simply the business of the society, and it is therefore compatible with democratic considerations to give other groups some authority over the decision unless there is a territory it has a historical right to occupy. Unless there is a territory the society has a special moral right to occupy, a society that does not have a territory does not have the right to self-determination, for it does not have the power to constitute itself as a state by any action of its own." (Copp, Democracy, 295) 22 Auch durch ihre konjunktivische Formulierung kann Copp diese Konsequenz nicht verdekken: „My account allows self-determination rights to conflict. For example, in a case where one society wrongfully exiled another society from its territory, my account implies that both the society occupying the territory and the society wrongfully displaced from it may have the right to constitute states in that territory. However, the right to self-determination is defeasible. A society may be wrong to exercise the right in a territory it wrongfully acquired." (Ebenda, S. 296, Herv. R.S.) Vgl. auch Beran, Democratic theory, 39.

Wiedergutmachung

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und Sezession

Sprüche konfligieren, die

nach ihren Maßstäben gleichermaßen gerechtfertigt sind und daß ein solcher Fall eintreten kann, zeigt beispielsweise der israelisch-palästinensische Konflikt-, kommt sie nicht umhin, nach der Legitimität des jeweiligen Territoriumsan-

spruchs

zu

fragen.

Ziehen wir eine kurze Zwischenbilanz. Weder das majoritaristische noch das kommunitaristische Argument kann Sezessionsansprüche moralisch begründen. Beide Argumente sind gravierenden Einwänden ausgesetzt und müssen den Entscheid über die Legitimität eines Sezessionsanspruchs unter Umständen an eine Prüfung der Legitimität des mit ihm verknüpften Territoriumsanspruchs delegieren, die eine historische Betrachtung erforderlich macht. Das bedeutet, daß das Recht auf politische Selbstbestimmung, auf das sich sowohl das majoritaristische als auch das kommunitaristische Argument stützt, nicht mit dem Recht auf Sezession gleichgesetzt werden darf.23 Dagegen ist es nicht möglich, das emanzipatorische Argument prinzipiell abzuweisen.24 Auch wenn man den völkerrechtlichen Grundsatz, daß staatliche Grenzen nur im Einvernehmen aller Beteiligten verändert werden dürfen, als durch unsere moralische Intuition, gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Staaten seien wo irgend möglich zu vermeiden, gedeckt ansieht, wird man zugeben müssen, daß unter bestimmten Umständen eine Sezession als Ultima ratio legitim sein kann.25 Das emanzipatorische Argument ist also grundsätzlich zur moralischen Begründung von Sezessionsansprüchen geeignet. Art und Ausmaß der abzuschüttelnden ungerechten Herrschaft müssen aber die Sezession als ein Mittel erscheinen lassen, das zu ihrer Abschüttelung sowohl tauglich als auch notwendig und im Hinblick auf seine voraussehbaren negativen Folgen (wen auch immer diese betreffen) verhältnismäßig ist. Ob die Abschüttelung ungerechter Herrschaft der einzige Grund ist, der ein Kollektiv moralisch zu einer Sezession berechtigen kann,26 hängt jedoch davon ab, wie das restitutionalistische Argument zu beurteilen ist. Angesichts dieses Befunds muß das geringe Interesse verwundern, das diesem Argument wie überhaupt Fragen der Restitutionsgerechtigkeit zwischen Nationen in der politischen Philosophie entgegengebracht wird Fragen, die in der Realität bei der Begründung der meisten Sezessionsbestrebungen eine zentrale Rolle spielen. -

23

Kampelman, Secession and the Right of Self-Determination, in: The WashingQuarterly 16 (1993), 5-12, hier 5 f.; Otto Kimminich/Stephan Höbe, Einführung in das Völkerrecht, Tübingen-Basel 72000, 115. Die Zulässigkeit der Sezession in ,,höchste[r] Not" erkennt bereits das frühneuzeitliche Naturrechtsdenken an; siehe Hugo Grotius, De jure belli ac pacis libri tres. Paris 1625 (2. Buch, Kap. 6). Neuer deutscher Text und Einleitung v. Walter Schätzel, Tübingen 1950, 193 (Zitat); vgl. auch Johannes Althusius, Política. Methodice digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata (Kap. 38, §§ 46-52, 76, 110-114), Herborn 31614, 904-906, 915, 928-930. Vgl. Allen Buchanan, Secession and nationalism, in: A Companion to Contemporary Political Philosophy, hrsg. v. Robert E. Goodin u. Philip Pettit, Oxford 1993, 586-596, hier 589; Chwaszcza, Selbstbestimmung, 49Iff; Vittorio Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer Vgl.

Max M.

ton

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Politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, München 1997, 987 f.; Hoffe, Demokratie, 391; Ulrich Steinvorth, Gleiche Freiheit. Politische Philosophie und Verteilungsgerechtigkeit, Berlin 1999, 208. 26 Diese Auffassung vertritt Hösle (Moral und Politik, 987 f.).

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III Warum findet das restitutionalistische Argument nur wenig Aufmerksamkeit? Christine Chwaszcza, der wir den besten deutschsprachigen Überblick über die Diskussion der Legitimität von Sezessionen verdanken, gibt darauf eine indirekte Antwort. In ihren Augen sind restitutionalistisch begründete Sezessionsansprüche „sowohl philosophisch als auch völkerrechtlich weitgehend unproblematisch".27 Im Hinblick auf die völkerrechtliche Lage leuchtet diese Einschätzung ein. Bisher gibt es zwar keine völkerrechtliche Norm, „die ein Sezessionsrecht ausdrücklich bejahen oder verbieten würde".28 Das geltende Völkerrecht schützt aber die territoriale Integrität aller Staaten, die, wie es in der Friendly Relations Declaration vom 24. Oktober 1970 heißt, „eine Regierung besitzen, welche die gesamte Bevölkerung des Gebiets ohne Unterschied der Rasse, des Glaubens oder der Hautfarbe vertritt".29 Nur durch diskriminierende Herrschaftsausübung kann ein Staat also nach dem derzeitigen Völkerrecht seinen Anspruch auf territoriale Integrität verwirken,30 nicht aber dadurch, daß er von einem anderen Staat erobert und annektiert wird. Eine Annexion kann daher grundsätzlich keinen legalen Territoriumsanspruch begründen, so daß eine Sezession, durch die die vorherige staatliche Souveränität eines annektierten Staates wiederhergestellt wird, trotz des Fehlens expliziter Bestimmungen völkerrechtlich als gerechtfertigt erscheint.31 Für die politische Philosophie ist die indirekte völkerrechtliche Billigung einer restitutionalistisch begründeten Sezession allerdings kein Präjudiz. Auch wenn eine solche 27 Chwaszcza, Selbstbestimmung, 470. 28 Ipsen u.a., Völkerrecht, 369. 29 Erklärung über völkerrechtliche Grundsätze für freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten im Sinne der Charta der Vereinten Nationen, in: Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen, hrsg. v. der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 31999, 210-220, hier 218 f. 30 So auch Ipsen u.a., Völkerrecht, 368f. 31 Dies legt vor allem die internationale Behandlung der Annexion Osttimors durch Indonesien nahe. So bekräftigte die UN-Generalversammlung mehrfach „das unveräußerliche Recht des Volkes von Osttimor auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit" (zitiert nach: Ipsen u. a., Völkerrecht, 353, Herv. R. S.), das auch der IGH (anläßlich der Klage Portugals gegen Australien wegen des von diesem mit Indonesien über die Erforschung und Ausbeutung des Festlandsockels zwischen Australien und Osttimor geschlossenen Vertrags) ausdrücklich unterstrich (vgl. Ipsen u.a., Völkerrecht, 354f.). Meines Erachtens kann man deshalb nicht wie Hoffe (Demokratie, 390) aus Artikel 6 der Resolution über die Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker vom 14. Dezember 1960 schließen, das geltende Völkerrecht lehne ein Sezessionsrecht generell ab. Siehe dazu Stefan Oeter, Selbstbestimmungsrecht im Wandel. Überlegungen zur Debatte um Selbstbestimmung, Sezessionsrecht und „vorzeitige" Anerkennung, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 52 (1992), 741-780, hier 756ff. sowie Kimminich/Hobe, Einführung in das Völkerrecht, 115 f. Zur Begründung der gegenteiligen Auffassung vgl. Hailbronner, Der Staat und der Einzelne, 206 (mit weiteren Nachweisen); Alfred P. Rubin, Secession and Self-Determination: A Legal, Moral, and Political Analysis, in: War Crimes and Collective Wrongdoing, hrsg. v. Aleksandar Jokic, Maiden, Mass.-Oxford 2001, 176-197, bes. 179ff.

Wiedergutmachung

und Sezession

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Sezession völkerrechtlich erlaubt erscheint, könnte sie moralisch verboten sein. Die politische Philosophie, die die moralische Erlaubtheit von Sezessionen zu erörtern hat, darf sich daher nicht durch den aktuellen Entwicklungsstand des Völkerrechts gebunden wähnen. Ihre Aufgabe, zur Weiterentwicklung (und nötigenfalls auch zu einer Revision) des Völkerrechts beizutragen, könnte sie sonst nicht erfüllen. Chwaszcza ist jedoch darin unbedingt zuzustimmen, daß sich „kaum moralphilosophisch valide Gründe für Kolonialismus und gewaltsame Annexion anführen" lassen.32 Aber folgt aus der Illegitimität solcher Akte in jedem Fall die grundsätzliche Legitimität der Wiederherstellung des vorherigen Zustands durch Sezession? Diese Meinung teilen Chwaszcza und Hoffe mit Allen Buchanan: „Die Legitimität eines Staates kann nicht nur durch schwere und dauerhafte Menschenrechtsverletzungen und durch die Tatsache, daß er nicht demokratisch regiert wird, aufs Spiel gesetzt werden, sondern auch durch die unrechtmäßige Annexion des Territoriums eines legitimen Staates. Man stelle sich vor, die Sowjetunion hätte, anders als in Wirklichkeit, nach der Annexion der baltischen Republiken im Jahr 1940 dort demokratische Strukturen errichtet und für die strikte Beachtung der Menschenrechte gesorgt. Dies würde nicht genügen, um die Behauptung zurückzuweisen, daß die baltischen Staaten das Recht hatten, von der Sowjetunion zu sezedieren, um ihre verlorene Souveränität wiederzuerlangen."33 Just die hier von Buchanan abgewiesene Auffassung vertritt indessen Vittorio Hösle: Für ihn hatten die baltischen Staaten „moralisch ein Sezessionsrecht gegenüber der Sowjetunion, solange diese ein totalitärer Staat war [...]; sie hätten es dagegen nicht mehr gehabt, wenn die Umgestaltung der Sowjetunion in einen rechtsstaatlichen Bundesstaat gelungen wäre".34 Hösle begründet seine Ablehnung einer wiedergutmachenden Sezession mit zwei Argumenten: Erstens stehe ihr die Notwendigkeit entgegen, eine Vermehrung der Anzahl der Staaten soweit wie möglich zu vermeiden. Zweitens stellte die Anerkennung eines moralischen Rechts auf die Wiedergutmachung von Gebietsunrecht durch Sezession praktisch jeden existierenden Staat zur Disposition: „Die meisten Staaten sind durch Gewalt entstanden; selbst die Ehen von Fürsten könnten nach den heute anerkannten naturstaatsrechtlichen Prinzipien keine Fusion begründen; ja, selbst eine demokratisch beschlossene Fusion vor einer Generation kann nicht ohne weiteres die heutigen Bewohner binden kurz, nach jenem Argument hätte nahezu jede politische Organisationseinheit bis hin zur Gemeinde ein präsumptives Sezessionsrecht."35 -

32 Chwaszcza, Selbstbestimmung, 470 (Druckfehler des Originals korrigiert). 33 Buchanan, Democracy, 29 („[...] a state's legitimacy can be compromised not only by serious and persistent violations of human rights and failure to govern democratically but also by unjust annexation of the territory of a legitimate state. Suppose, contrary to fact, that when the Soviet Union unjustly annexed the Baltic republics in 1940 it instituted democratic rule and strict respect for human rights. This would not suffice to defeat the claim that the Baltic republics had the right to secede from the Soviet Union to recover their lost sovereignty."). Vgl. ders., Toward a Theory of Secession, in: Ethics 101 (1991), 322-342, hier 342; ders., Secession, 140; Chwaszcza, Selbstbestimmung, 472 f.; Hoffe, Demokratie, 392. 34 Hösle, Moral und Politik, 989. 35 Ebenda; vgl. auch ebenda, 826.

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Hösles Verwerfung der restitutionalistischen Sezessionsrechtfertigung ist nicht nachvollziehbar. Denn sie widerspricht der in den Moralen aller Völker tief verankerten Überzeugung, daß zugefügtes Unrecht wiedergutgemacht werden sollte, sofern dies möglich ist. Die Forderung, die Zahl der Staaten insgesamt so wenig wie irgend möglich zu vermehren, gewinnt überdies nur vor dem Hintergrund von Hösles Überzeugung, es sei moralisch geboten, einen Weltstaat zu schaffen, einen nachvollziehbaren Sinn. Ich möchte diese Überzeugung hier nicht diskutieren.36 Meines Erachtens genügt es, festzuhalten, daß es höchst fraglich ist, ob ein Welteinheitsstaat, wie Hösle ihn postuliert, auf eine moralisch vertretbare Weise hergestellt werden kann. Denn eine Verwerfung der restitutionalistischen Sezessionsrechtfertigung, die sich auf Gegengründe stützt, die derart anfechtbare Prämissen erfordern, ist wenig plausibel. Auch Hösles zweites Argument ist eo ipso kein zwingender Einwand gegen die Anerkennung eines moralischen Rechts auf wiedergutmachende Sezession. Denn die bloße Tatsache, daß die meisten gegenwärtigen Staaten in historischem Gebietsunrecht gründen und ein Recht auf wiedergutmachende Sezession daher von einer Vielzahl von Kollektiven beansprucht werden könnte, stellt noch keinen Einwand gegen ein solches Recht dar. Wir kämen ja auch nicht auf die Idee, den Opfern eines besonders häufigen Unrechts deshalb einen Anspruch auf Wiedergutmachung abzusprechen, weil es sonst besonders viele Anspruchsteller gäbe. Mir scheint indes, daß Hösles zweites Argument dennoch einen wahren Kern enthält. Indirekt macht es nämlich darauf aufmerksam, daß die restitutionalistische Sezessionsrechtfertigung einen Sezessionsregreß in Gang zu setzen (oder zumindest zu befördern) droht, von dem jedenfalls nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, daß er größeres Unrecht hervorbringt, als er wiedergutzumachen vermag. Im übrigen erscheint Hösles Position in einem günstigeren Licht, wenn man berücksichtigt, daß in allen baltischen Staaten zum Zeitpunkt ihrer Annexion durch die Sowjetunion diktatorische Regime herrschten und Minderheiten enteignet, unterdrückt und zwangsumgesiedelt wurden. So berechtigt Hösles Warnung vor der Gefahr eines Sezessionsregresses ist, so sehr stellt sich andererseits freilich die Frage, ob diese von der restitutionalistischen Sezessionsrechtfertigung implizierte Gefahr die fundamentale moralische Intuition, daß zugefügtes Unrecht wiedergutgemacht werden sollte, sofern dies möglich ist, grundsätzlich aufzuwiegen vermag. Hösle scheint dieser Meinung zu sein, und er legt sich an anderer Stelle auch auf die generell restitutionskritische Auffassung fest, es sei „nicht gerecht, die Kinder der Besetzer eines Landes zu zwingen, ihre Heimat zu verlassen, weil jenes Land widerrechtlich besetzt wurde; denn sie tragen daran keine Schuld".37 Dieses Urteil ist aber ebenso einseitig wie Chwaszczas Ansicht, es sei „theoretisch unstrittig", daß Annexion und Kolonisation eine den vorherigen Zustand wiederherstellende Sezession zu 36 Zur Kritik dieser Auffassung vgl. Ulrich Steinvorth, Soll es mehrere Staaten geben?, in: „Zum ewigen Frieden". Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant, hrsg. v. Reinhard Merkel u. Roland Wittmann, Frankfurt/M. 1996, 256-289, bes. 276 ff; Peter Koller, Die moralische Relevanz staatlicher Grenzen, in: Internationale Gerechtigkeit, hrsg. v. Karl Graf Ballestrem, Opladen 2001, 109-130, bes. 124 f. 37 Hösle, Moral und Politik, 826.

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rechtfertigen vermöchten (die Chwaszcza darum auch gar nicht als Sezession bezeichnet wissen will). Selbst wenn man davon absieht, daß eine Sezession keineswegs, wie Hösle suggeriert, die Vertreibung der Nachfahren der Besetzer implizieren muß (die keinesfalls moralisch gerechtfertigt wäre), bleibt nämlich festzuhalten, daß die „Kinder der Besetzer eines Landes" in den allermeisten Fällen Nutznießer der illegitimen Tat ihrer Vorfahren

sind. Und in einem zumeist wahrscheinlich von Generation zu Generation sich verringernden Maß trifft dies auch auf die Kindeskinder der Besetzer zu. Dieser Profitzusammenhang, der die Kinder und Kindeskinder der Täter mit deren Tat verbindet,38 läßt Hösles generelle Ablehnung einer restituierenden Sezession als unplausibel erscheinen. Andererseits begründet der Profitzusammenhang jedoch, wie mir scheint, nicht in jedem Fall einen zwingenden Rückgabeanspruch. Denn die Kinder und Kindeskinder der Besetzer eines Landes müssen sich nur ihre Nutznießerschaft zurechnen lassen, nicht aber die Annexionshandlung selbst. Anders als gegenüber den Besetzern selbst besteht daher ihnen gegenüber kein Strafanspruch. Falsch wäre es deshalb, anzunehmen, durch die Annexion hätten nicht nur die Besetzer selbst, sondern auch ihre Kinder und Kindeskinder prinzipiell auch jene Ansprüche verwirkt, die sie beispielsweise dadurch erworben haben, daß sie ihre Arbeitskraft in die Kultivierung oder in die ökonomisch-kulturelle Entwicklung eines Gebiets investiert haben. Dieser Befund zeigt, daß auch ein restitutionalistisch begründeter Sezessionsanspruch gegen Ansprüche abgewogen werden muß, die ihm entgegenstehen. Darüber hinaus gibt der Befund aber auch einen Hinweis auf die moralische Bedeutung des zeitlichen Abstands zwischen Sezessionsbegehren und Annexion: Ob aus der Illegitimität einer Annexion die Legitimität der Wiederherstellung des vorherigen Status durch Sezession abgeleitet werden kann, hängt insbesondere davon ab, wieviel Zeit seit dem Unrechtsakt verstrichen ist. Davon wiederum hängt nämlich ab, wie viele legitime Ansprüche dem Restitutionsanspruch entgegenstehen und gegen ihn abgewogen werden müssen. Denn die legitimen Ansprüche, die einer Restitution entgegenstehen, wachsen mit fortgesetzter kultureller und ökonomischer Investitionstätigkeit von Nachfahren der Okkupatoren, die selber kein Unrecht begangen haben, im Laufe der Zeit an. Dieser Umstand erklärt, warum die Anspruchsabwägung desto eher zuungunsten des Restitutionsanspruchs, also zuungunsten eines aus dem Anspruch auf Wiedergutmachung herleitbaren moralischen Rechts zur Sezession ausfallen wird, je mehr Zeit seit einer Annexion verflossen ist. Die moralische Bedeutung des zeitlichen Abstands zwischen Sezessionsbegehren und Annexion läßt sich weiter erhärten, wenn man nicht die Kinder und Kindeskinder der Besetzer, sondern die Kinder und Kindeskinder der Annektierten in den Blick nimmt. Ihr Restitutionsanspruch ist offenkundig von anderer Art als derjenige der Annektierten selbst. Denn die Annektierten selbst sind, so muß man zumindest bei der Annexion de38 Auf diesen

Profitzusammenhang, der eine Verpflichtung der ehemaligen Kolonialmächte zu wiedergutmachender Entwicklungshilfe begründe, hat Helmut Gollwitzer mit Recht immer wieder hingewiesen; vgl. insbesondere ders., Die reichen Christen und der arme Lazarus. Die Konsequenzen von Uppsala, München 21969, 2Iff.

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mokratisch regierter Staaten unterstellen, gewaltsam ihres Rechts auf politische Selbstbestimmung beraubt worden und haben deshalb einen unmittelbaren Anspruch auf die Wiederherstellung der Souveränität ihres früheren Staates. Ihre Kinder und Kindeskinder sind jedoch in einer anderen Situation: Wenn das Gemeinwesen, in dem sie leben,

nicht rechtsstaatlich und demokratisch verfaßt ist, wird ihnen zwar ihr moralisches Recht auf politische Selbstbestimmung vorenthalten. Und wenn keine anderen Mittel zu Gebote stehen, dieses Recht zu verwirklichen, ist auch in diesem Fall eine Sezession legitim. Aber das moralische Recht zur Sezession erwächst in diesem Fall nicht aus der Annexion des Staates ihrer Vorfahren, sondern gründet als eine Form des Widerstandsrechts in der Legitimität der Abschüttelung ungerechter Herrschaft. Ist das Gemeinwesen, in dem die Nachfahren leben, jedoch rechtsstaatlich und demokratisch verfaßt, dann wird den Nachkommen ihr moralisches Recht auf politische Selbstbestimmung gewährt. In diesem Fall läßt sich aus dem bloßen Umstand, daß der betreffende Staat nicht die gleiche territoriale Ausdehnung hat wie der Staat, in dem die Vorfahren gelebt haben, keine Sezessionsbefugnis ableiten. Denn Individuen haben zwar ein moralisches Recht auf politische Selbstbestimmung, aber kein moralisches Recht auf genau den gleichen staatlichen Rahmen für die Ausübung dieses Rechts, den ihre Vorfahren hatten. Ein restitutionalistisch begründeter Sezessionsanspruch kann deshalb im zweiten Fall nur mehr insoweit bestehen, als dem eben skizzierten Profitzusammenhang ein Benachteiligungszusammenhang entspricht, durch den die Kinder und Kindeskinder der Annektierten nicht allein materiell, sondern beispielsweise auch hinsichtlich ihrer Zugangschancen zu öffentlichen Ämtern, prosperierenden Gewerben und ähnlichem schlechter gestellt sind, als sie es ohne die Annexion des von ihren Vorfahren gebildeten Staates wären. Daß ein solcher Benachteiligungszusammenhang grundsätzlich besteht, dürfte unbezweifelbar sein. Ebenso deutlich scheint mir andererseits aber auch zu sein, daß er sich in aller Regel von Generation zu Generation lockert.39 Die restitutionalistische Begründung eines Sezessionsanspruchs verliert deshalb um so mehr ihre Durchschlagskraft, je weiter die Annexion des betreffenden Territoriums zurückliegt.40 Das gilt selbst dann, wenn in der Zwischenzeit erfolglose Versuche zur Wiedergewinnung der einstigen staatlichen Autonomie unternommen wurden. Nur wenn diese Versuche gewaltsam niedergeschlagen wurden, gewinnt die restitutionalistische Begründung des Sezessionsanspruchs neue Kraft, weil die gewaltsame Niederschlagung solcher Versuche die ursprüngliche Anne39 Eine solche Lockerung wird allerdings dort nicht zu beobachten sein, wo die Kinder und Kindeskinder der Annektierten als Bewohner des annektierten Gebiets oder auf Grund eines anderen gemeinsamen Merkmals von Staats wegen fortgesetzt diskriminiert werden. In diesem Fall kommt ihnen unter Umständen ein moralisches Sezessionsrecht zu jedoch nicht auf Grund der Annexion des Staates, in dem ihre Vorfahren lebten, sondern wegen der ungerechten Herrschaft, der sie unterworfen sind und die sie selbst in fundamentalen moralischen Rechten verletzt. 40 Vgl. Cass R. Sunstein, Approaching democracy: a new legal order for Eastern Europe Constitutionalism and secession, in: Political restructuring in Europe. Ethical perspectives, hrsg. v. Chris Brown, London-New York 1994, 11-49, hier 33; Buchanan, Self-Determination, Secession, and the Rule of Law, 311. -

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Wiedergutmachung

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und Sezession

xion gleichsam wiederholt und deshalb einen Restitutionsanspruch zu begründen vermag, der in seiner Art dem Restitutionsanspruch der Annektierten gleichkommt. Die sezessionslegitimierende Kraft des restitutionalistischen Arguments läßt also grundsätzlich im Laufe der nach einer Annexion verstreichenden Zeit nach, wobei insbesondere mit jedem Übergang der politischen und ökonomischen Entscheidungsträgerschaft auf eine jüngere Generation eine deutliche Verringerung der sezessionslegitimierenden Kraft eintritt. Natürlich ist der zeitliche Abstand nicht der einzige Faktor, den die für die moralische Beurteilung notwendige Abwägung eines Sezessionsanspruchs gegen ihm entgegenstehende Ansprüche zu berücksichtigen hat. Einem Staat, der einen anderen annektiert, diesen aber dann mit einem vorbildlichen System sozialer Sicherung für Alte und Kranke ausgestattet hat, wird man zum Beispiel größere Ansprüche auf den Erhalt des Status quo zubilligen als einem anderen Staat, der die Bodenschätze des annektierten Territoriums rücksichtslos ausgebeutet und dessen Bevölkerung an den Rand des Hungertods gebracht hat. Dies gilt jedoch zu jedem nach der Annexion liegenden Zeitpunkt der Betrachtung gleichermaßen. Die grundsätzliche Bedeutung des zeitlichen Abstands bleibt von solchen Erwägungen also unberührt. Denn unabhängig davon, wie die alle anderen Faktoren berücksichtigende Abwägung der sezessionslegitimierenden und der sezessionsdelegitimierenden Ansprüche im konkreten Fall ausfällt, macht sich die seit der Annexionshandlung verstrichene Zeit immer sezessionsi/elegitimierend geltend es sei denn, durch die gewaltsame Niederschlagung eines Versuchs zur Wiedererlangung der Eigenstaatlichkeit wurde die Annexionshandlung gleichsam wiederholt. -

IV

moralphilosophische Analyse wiedergutmachender Sezession hat ein doppeltes Ergebnis erbracht: Zum einen kann die von Buchanan, Chwaszcza, Hoffe und anderen geltend gemachte Legitimität eines restitutionalistisch begründeten Sezessionsanspruchs im Die

Grundsatz nicht bestritten werden. Andererseits aber wirkt sich der zeitliche Abstand zu jenem Akt der Annexion oder Kolonisation, der durch Sezession rückgängig gemacht werden soll, sezessionsdelegitimierend aus. Welche rechtlichen Konsequenzen legt dieser Befund nahe? Zunächst ergibt sich aus dem Resultat der moralphilosophischen Betrachtung, daß nicht nur das Ziel der Abschüttelung ungerechter Herrschaft, sondern auch das Bestreben, Gebietsunrecht rückgängig zu machen, ein Kollektiv moralisch zur Sezession berechtigen kann. Wenn dies freilich die einzigen Gründe sind, die eine Sezession zu legitimieren vermögen, ist die Verankerung eines Sezessionsrechts in den Verfassungen von Einzelstaaten4] weder nötig noch sinnvoll. Ein solches Recht vermöchte ungerechter Herrschaft ebensowenig vorzubeugen wie einer Annexion, und es dürfte auch die Abschüttelung ungerechter Herrschaft und die Wiederherstellung der staatlichen Souverä41

Buchanan (Secession, 127 ff.) erwägt ein konstitutionelles Sezessionsrecht insbesondere für Staaten mit inhomogener Bevölkerung und föderaler Struktur.

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nität eines annektierten Staates nicht wesentlich erleichtern. Denn es ist unwahrscheinlich, daß ein ungerechtes Regime oder gar ein Aggressorstaat, der sich ein fremdes Territorium unterworfen hat, ausgerechnet ein konstitutionelles Sezessionsrecht respektieren würde.42 Geboten erscheint dagegen die völkerrechtliche Positivierung des moralischen Rechts auf Sezession zum Zweck der Abschüttelung ungerechter Herrschaft oder der Wiedergutmachung historischen Unrechts. Denn ein völkerrechtlich (auf welchem Weg auch immer) positiviertes, aber auf diese beiden Fälle beschränktes Sezessionsrecht, das der internationalen Staatengemeinschaft bei der Entscheidung über die Unterstützung von Sezessionsbestrebungen und über die Anerkennung sezedierter Territorien als Richtschnur zu dienen vermöchte, dürfte zumindest auf längere Sicht den Erfolg legitimer Sezessionsbestrebungen erleichtern und die Erfolgsaussichten illegitimer Sezessionsbestrebungen verringern.43 Jede völkerrechtliche Positivierung des moralischen Rechts auf Sezession muß freilich dem zwiespältigen Befund Rechnung tragen, daß es zwar prinzipiell legitim ist, historisches Unrecht durch Sezession zu korrigieren, das moralische Recht dazu jedoch mit der Zeit, die nach einem Unrechtsakt verstreicht, gleichsam verrinnt. Meines Erachtens ist es deshalb geboten, die restitutionalistische Sezessionsrechtfertigung einerseits im Völkerrecht ausdrücklich zu verankern, sie aber andererseits durch eine Verjährungsklausel einzuschränken, die der sezessionsdelegitimierenden Wirkung des zeitlichen Abstands zwischen Annexionshandlung und Sezessionsbegehren Rechnung trägt.44 Für eine solche Positivierung des Resultats unserer moralphilosophischen Analyse spricht auch ein Umstand, der bisher noch nicht zur Sprache gekommen ist: Die AbwäDiese Argumente gegen ein konstitutionelles Sezessionsrecht wiegen meines Erachtens schwerer als das Bedenken, ein solches Recht könne den Eindruck erwecken, es gäbe auch ein majoritaristisch oder kommunitaristisch begründetes moralisches Recht auf Sezession. Denn diesem Mißverständnis ließe sich durch präzise gefaßte Bedingungen vorbeugen, die das Sezessionsrecht auf die Abschüttelung ungerechter Herrschaft und die Wiedergutmachung historischen Unrechts beschränken. Ein konstitutionelles Sezessionsrecht dürfte aber die demokratische Lösung binnenstaatlicher Verteilungskonflikte auf jedem Fall erschweren; denn es lüde Minderheiten geradezu dazu ein, mehrheitlich beschlossene Regelungen als Indizien ungerechter, weil diskriminierender Herrschaft zu interpretieren. Zur Kritik der Idee eines verfassungsmäßigen Sezessionsrechts vgl. im übrigen Sunstein, Approaching democracy. 43 Chwaszczas Fazit, „die Frage der Anerkennung bzw. Legitimität von Staatengebilden [werde] immer primär ein Problem der politischen (und moralischen) Urteilskraft i.S. der Einzelfallbeurteilung (phronesis) bleiben" (Selbstbestimmung, 475), scheint mir demgegenüber die Chancen völkerrechtlicher Regelungen zu unterschätzen (die gewiß auch nicht überschätzt werden dürfen) -jedenfalls dann, wenn damit gemeint sein sollte, daß sich die Einzelfallbeurteilung nicht an allgemeinen, moralisch begründeten völkerrechtlichen Prinzipien orientieren könne und solle. 44 Eine solche Lösung deutet auch Buchanan neuerdings an: „Of course, any defensible institutional recognition of a right to recover unjustly taken territory must address what I have called elsewhere ,the moral statute of limitations problem'. A reasonable convention to set a time before which claims of unjust taking would not be regarded as justiciable would seem to be unavoidable. Here as in other areas of the law, some conventions are more reasonable than others, and being a convention is not equivalent to being arbitrary." (Democracy, 33 [Anm. 30]).

42

Wiedergutmachung

249

und Sezession

gung zwischen einem restitutionalistisch begründeten Sezessionsanspruch und Ansprüchen, die ihm entgegenstehen, stellt prinzipiell eine erhebliche, kaum ohne Willkür zu lösende Schwierigkeit dar. Denn abzuwägen sind dabei Ansprüche sehr unterschiedlicher Art, die sich nicht ohne weiteres auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen, der sie quantitativ zu gewichten erlaubte. Über das Resultat des Abwägungsprozesses wird deshalb oft schon durch die Wahl der Vergleichsparameter entschieden. Die rechtliche Formalisierung des Abwägungsprozesses anhand eines Kriteriums von so unbestreitbarer Relevanz, wie es die seit der Annexion verstrichene Zeit ist die ebenso leicht wie eindeutig festgestellt werden kann -, verspricht daher die größtmögliche Willkürfreiheit bei der internationalen Anerkennung restitutionalistisch begründeter Sezessionsansprüche. Gegenüber der herrschenden Anerkennungspraxis, die in Ermangelung klarer und verbindlicher Richtlinien zumeist allein von den jeweiligen Interessen der anerkennenden Staaten geleitet ist,45 bedeutete dies einen erheblichen Zugewinn an zwischenstaatlicher -

Gerechtigkeit.

Wenn diese Überlegungen richtig sind, ist die Einführung von Verjährungsklauseln in das Völkerrecht nicht aus rechtsökonomischen, sondern aus moralischen Gründen geboten. Darin liegt ein grundsätzlicher Unterschied zur Verjährung im Strafrecht, die nach der herrschenden Meinung ihre „materielle Begründung [...] im Schwinden des Strafbedürfnisses trotz fortbestehender Strafwürdigkeit der Tat" findet.46 Die völkerrechtliche

Verjährung von Wiedergutmachungsansprüchen, die sich auf Gebietsunrecht gründen, trüge demgegenüber einem moralischen Gebot Rechnung, das sich der eigentümlichen historischen Identität von Nationen verdankt. Weil das menschliche Leben endlich ist, wenn diese nur weit genug setzt sich eine Nation zu zwei verschiedenen Zeitpunkten auseinander liegen aus unterschiedlichen und meist auch aus unterschiedlich vielen Personen zusammen. Wenn sie gleichwohl zu beiden Zeitpunkten dieselbe Nation ist, so liegt das daran, daß die interne und externe kollektive Identität, die sie als Nation konstituiert, nicht an eine bestimmte Gruppe oder Zahl von Personen gebunden ist.47 Inhaber moralischer Rechte sind indes primär Personen. Das Bemühen um historische Gerechtigkeit zwischen Nationen muß deshalb berücksichtigen, daß sich deren personelle Zusammensetzung in aller Regel im Laufe der seit einer Unrechtstat verstrichenen Zeit verändert hat. Daraus aber folgt, daß historische Gerechtigkeit zwischen Nationen nicht in jedem Fall durch die Wiederherstellung eines unrechtlich veränderten Zustands verwirklicht -

-

45

46 47

Vgl. Hoffe, Demokratie, 392: „In manchen Regionen oder bei gewissen Völkern sieht man schon wenige Generationen nach der gewaltsamen Aneignung ein Sezessionsrecht als verjährt an, während man andernorts sich auf Umstände berufen darf, die vor vielen Jahrhunderten zutrafen." Daß die internationale Staatengemeinschaft die Sezession der baltischen Staaten gebilligt, Tibet hingegen, das seine staatliche Unabhängigkeit erst 1950 eingebüßt hat, kein Sezessionsrecht zuerkennt, ist für diese von Hoffe konstatierte „Willkür" und „doppelte Moral" (ebenda) ein sprechender Beleg. Hans-Heinrich Jescheck/Thomas Weigend, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, 5., vollständig neubearb. u. erw. Aufl., Berlin 1996, 910 (Herv. des Originals getilgt). Vgl. Reinold Schmücker/Rainer Hering, Identität und Nation, in: Rechtsphilosophische Hefte 3

(1994), 33-50, hier 39.

250

Reinold Schmücker

werden kann. Denn die moralischen Rechte von Personen, die selbst nicht verwerflich gehandelt haben, dürfen nicht deshalb grundsätzlich unberücksichtigt bleiben, weil diese Personen Mitglieder eines Kollektivs sind, dem auch diejenigen angehörten (und unter Umständen immer noch angehören), die verwerflich gehandelt haben. Sie müssen vielmehr selbst dann in Betracht gezogen werden, wenn diese Personen Nachkommen derjenigen sind, die verwerflich gehandelt haben, und von deren Unrecht profitieren. Historische Gerechtigkeit zwischen Nationen setzt daher unvermeidlich eine Abwägung konfligierender Ansprüche voraus. Weil diese indes kaum von einem unparteilichen Standpunkt aus durchführbar erscheint, empfiehlt sich die völkerrechtliche Anerkennung von Verjährungsfristen als größtmögliche Gerechtigkeit verbürgendes Substitut. Die Frage nach der sachlich angemessenen Verjährungsfrist scheint mir allerdings durch eine philosophische Rekonstruktion unserer moralischen Intuitionen nicht hinreichend genau entscheidbar zu sein. Hier ist die Staatengemeinschaft gefordert, eine Entscheidung zu treffen, für die die moralphilosophische Analyse nur vage Vorgaben erbringt. Keinesfalls dürfte eine solche Frist die (großzügig bemessene) Generationenfrist von dreißig Jahren, die in den Rechtsordnungen der meisten Rechtsstaaten die obere Grenze der gesetzlich vorgesehenen Verjährungsfristen bildet, unterschreiten. Denn sonst verjährten Ansprüche gegen Staaten binnen kürzerer Frist als (manche) Ansprüche gegen individuelle Personen. Das wäre sachlich unangemessen. Ansprüche gegen andere Staaten sind nämlich in aller Regel erheblich schwerer durchsetzbar, als es Ansprüche gegen dritte Personen innerhalb von Rechtsstaaten sind. Die Verjährungsfrist für Gebietsunrecht sollte deshalb nicht unterhalb, sondern deutlich oberhalb der Generationenfrist liegen. Andererseits gilt es aber bei ihrer Festsetzung zu berücksichtigen, daß Kinder und Jugendliche noch kein eigenes Recht auf politische Selbstbestimmung besitzen und auch noch nicht selbst politische Verantwortung tragen. Sie werden also durch eine Annexion noch nicht selbst in einem Recht verletzt, dessen Verletzung einen Anspruch auf Wiedergutmachung begründet. Deshalb dürften nach etwa achtzig Jahren keine unmittelbaren Restitutionsansprüche und keine unmittelbaren Restitutionspflichten mehr bestehen. Eine Verjährungsfrist für Territorialunrecht, die achtzig Jahre übersteigt, scheint mir daher nicht notwendig zu sein. Die Restitution ungerechter Herrschaft wäre freilich auch dann illegitim, wenn sie vor Ablauf einer völkerrechtlich festgelegten Verjährungsfrist erfolgte. Das zeigt, daß es nicht ausreicht, die völkerrechtliche Anerkennung der restitutionalistischen Sezessionsrechtfertigung lediglich durch eine Verjährungsklausel einzuschränken. Wiedergutmachende Sezession darf vielmehr auch innerhalb einer von der Staatengemeinschaft festzulegenden Verjährungsfrist nur dann völkerrechtliche Billigung erfahren, wenn sie einer weiteren Bedingung genügt: Sie darf keine Staaten wiedererstehen lassen, die ihrerseits Grund gäben zu legitimer Sezession. Ignorierte aber die völkerrechtliche Anerkennung der Verjährung von Territorialunrecht nicht die legitimen Ansprüche indigener Völker? Und lüde sie nicht militärisch starke Staaten, die sich in der Lage wähnen, etwaige Sezessionsbestrebungen bis zum Ablauf der Verjährungsfrist erfolgreich zu unterdrücken, zur Annexion schwächerer Staaten geradezu ein?

Wiedergutmachung

251

und Sezession

Weder das eine noch das andere ist meines Erachtens der Fall. Natürlich kommt jedem Mitglied eines indigenen Volkes das Recht auf politische Selbstbestimmung zu. Ein prinzipielles Recht auf einen eigenen Staat, das von der Abwägung gegen andere legitime Ansprüche auszunehmen wäre, impliziert dieses Recht jedoch im Fall eines indigenen Volkes ebensowenig wie in jedem anderen Fall. Ich sehe jedenfalls nicht, wie sich ein solches Privileg indigener Völker überzeugend begründen ließe. Das bedeutet nicht, daß einem indigenen Volk nach Ablauf einer völkerrechtlich festgelegten Verjährungsfrist kein Sezessionsrecht zukommen kann. Wenn es in einem Staat lebt, der fundamentale Menschenrechtsverletzungen begeht, und nur durch eine Sezession sein Recht auf politische Selbstbestimmung verwirklichen kann, hat natürlich auch jedes indigene Volk das moralische Recht zur Sezession und hätte, meinem Vorschlag zufolge, auch ein entsprechendes juridisches Recht. Aber dieses Recht erwächst ihm nicht aus einem Wiedergutmachungsanspruch, sondern aus der Legitimität der Abschüttelung ungerechter Herrschaft. Daß die völkerrechtliche Festlegung einer Verjährungsfrist für Gebietsunrecht die Annexionsgefahr für schwächere Staaten erhöhen würde, scheint mir ebensowenig plausibel zu sein. Denn die Festlegung einer Verjährungsfrist kommt ja überhaupt nur im Rahmen einer prinzipiellen völkerrechtlichen Anerkennung des moralischen Rechts auf wiedergutmachende Sezession in Betracht. Ein derart legalisierter Anspruch auf wiedergutmachende Sezession dürfte aber, auch wenn er auf einen Zeitraum beispielsweise von achtzig Jahren beschränkt wäre, die Annexion eines anderen Staates zumindest mittelfristig zu einer politisch (und vermutlich auch ökonomisch) weitaus riskanteren Unternehmung machen, als sie es heute ist. Denn ein solcher Anspruch würde den politischen (und wahrscheinlich auch den ökonomischen) Preis eines Gebietsunrechts erhöhen, weil er es Drittstaaten erheblich erschweren würde, Gebietsunrecht zu ignorieren oder gar zu billigen. Wäre das moralische Recht auf wiedergutmachende Sezession völkerrechtlich positiviert, müßte deshalb ein Staat, der Gebietsunrecht begeht, jedenfalls bis zum Ablauf der Verjährungsfrist mit erheblich höheren politischen und ökonomischen Folgekosten rechnen als heute. Müßte aber eine Verjährungsklausel, wie ich sie für restitutionalistisch begründete Sezessionsansprüche vorgeschlagen habe, nicht auch auf andere Formen historischen Unrechts angewandt werden? Und führte das nicht zu moralisch unvertretbaren Resultaten? Würden dann nicht beispielsweise weitere Wiedergutmachungszahlungen an Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie als unnötig, weil moralisch und rechtlich nicht mehr erforderlich erscheinen? Weil Nationen Kollektive sind, deren personelle Zusammensetzung sich im Laufe der Zeit verändert, kann es für sie prinzipiell kein unbegrenztes Recht auf Restitution geben. Der Gedanke, daß Wiedergutmachungsansprüche zwischen Nationen verjähren, scheint mir daher grundsätzlich richtig und nicht auf restitutionalistisch begründete Sezessionsansprüche beschränkbar zu sein. Auch für die Wiedergutmachung von Vertreibungen sollte zum Beispiel ähnliches gelten. Im Hinblick auf die unterschiedliche Art und Begründung von Wiedergutmachungsansprüchen zwischen Nationen dürften jedoch unterschiedlich lange Verjährungsfristen (wie sie die Rechtsordnungen der meisten -

252

Reinold Schmücker

kennen) angemessen sein. Vor allem sollten Ansprüche, die auf VölkerAnsprüche, die sich, sofern es keine Überlebenden gibt, auch als Herausgabeanspruch der internationalen Staatengemeinschaft auf ein bestimmtes Territorium oder als Einwanderungszulassungsanspruch konzipieren lassen -, einer besonders langen Verjährungsfrist unterliegen, die vielleicht sogar über die eben genannten Fristen deutlich hinausgehen muß.48 Dafür spricht zum einen die besondere Schwere und Verwerflichkeit dieses Verbrechens, die nicht zuletzt darin liegt, daß Völkermordhandlungen darauf abzielen, die Zahl derjenigen, die die Täter mit Wiedergutmachungsansprüchen konfrontieren können, so weit wie möglich zu verringern. Aus ebendiesem Umstand folgt aber noch ein zweiter Grund, der für Ansprüche, die auf Völkermord beruhen, eine besonders lange Verjährungsfrist nahelegt. Denn die für Völkermordhandlungen charakteristische Ermordung eines Großteils der Wiedergutmachungsberechtigten erschwert die Geltendmachung von Wiedergutmachungsansprüchen in der Regel so erheblich, daß nur durch eine besonders lange Verjährungsfrist die Chance gewahrt werden kann, daß solche Ansprüche überhaupt geltend gemacht werden. Diese Chance zu wahren ist aber ein Gebot der Gerechtigkeit und der rechtspolitischen Vernunft. Die vergleichsweise geringe Gewichtung der legitimen Ansprüche der Nachfahren der Täter, die in einer besonders langen Verjährungsfrist zum Ausdruck kommt, ist daher bei diesem Delikt gerechtfertigt. Wenn Wiedergutmachungsansprüche, die auf Völkermord beruhen, einer extrem langen Verjährungsfrist unterworfen werden, sehe ich nicht, daß Verjährungsklauseln im Völkerrecht zu unmoralischen Konsequenzen führten. Vielmehr könnte gerade eine Diskussion über die moralische Notwendigkeit solcher Klauseln den Blick für Unterschiede schärfen, die 1999 in der Debatte über die Legitimität des Kosovokriegs oftmals übersehen oder verwischt worden sind: Die Vernichtung einer Ethnie (oder einer anderen Gruppe) und die Okkupation eines fremden Territoriums sind gleichermaßen illegitim. Aber sie sind nicht das gleiche. Der Holocaust war keine Annexion. Die moralphilosophische Analyse wiedergutmachender Sezession kann und muß auch daran erinnern. Staaten ohnehin mord beruhen

-

48 Daß sich eine solche Ausnahmeregelung nicht nur auf die Wiedergutmachungsansprüche von Kollektiven, sondern auch auf entsprechende Ansprüche einzelner Personen an Staaten beziehen müßte, versteht sich dabei von selbst. Denn sonst würde derjenige, der etwa als einziger eines Kollektivs einen Pogrom überlebt, allein deshalb schlechtergestellt, weil es keine anderen Überlebenden gibt.

Zu den Autoren

Dieter Birnbacher, geb. 1946, ist Professor für Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Buchveröffentlichungen: Die Logik der Kriterien. Analysen zur Spätphilosophie Wittgensteins (1974), Texte zur Ethik (1976, "2000, Mithrsg.), John Stuart Mill, Der Utilitarismus (1976, 62000, Hrsg. u. Übers.), Was braucht der Mensch um glücklich zu sein. Bedürfnisforschung und Konsumkritik (1979, Mithrsg.), Ökologie und Ethik (1980, 61996, Hrsg.), Glück. Arbeitstexte für den Unterricht (1983, 41997, Hrsg.), John Stuart Mill, Drei Essays über Religion (1984, Bearb.), Sprachspiel und Methode. Zum Stand der Wittgenstein-Diskussion (1985, Mithrsg.), Medizin-Ethik (1986, 21990), Verantwortung für zukünftige Generationen (1988, 21995, frz. 1994, poln. 1999), Verantwortungfür die Natur (1988, Mitautor), Die Zukunft der Arbeit (1990, Mithrsg.), Tun und Unterlassen (1995), Schopenhauer in der Philosophie der Gegenwart (1996, Hrsg.), Ökophilosophie (1997, Hrsg.), Bioethik als Tabu? Toleranz und ihre Grenzen (2000, Hrsg.), Zukunftsverantwortung und Generationensolidarität (2001, Mithrsg.). Rainer Forst, geb. 1964, ist Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Philosophie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Buchveröffentlichungen: Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung (1990, Mithrsg.), Kontexte der Gerechtigkeit. Politische Philosophie jenseits von Liberalismus und Kommunitarismus (1994, 21996, engl. 2001), Toleranz. Philosophische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis einer umstrittenen Tugend (2000, Hrsg.).

Stefan Gosepath, geb. 1959, ist Privatdozent für Philosophie an der Freien Universität Berlin. Buchveröffentlichungen: Aufgeklärtes Eigeninteresse. Eine Theorie theoretischer und praktischer Rationalität (1992), Philosophie der Menschenrechte (1998, 21999, Mithrsg.), Motive, Gründe, Zwecke. Theorien praktischer Rationalität (1999, Hrsg.), Föderale Weltrepublik. Über die Demokratie im Zeitalter der Globalisierung (2002,

Mithrsg.). ist Professor für Philosophie an der Christian-AlbrechtsUniversität Kiel. Buchveröffentlichungen: Die Ethik in Hegels „Phänomenologie des Geistes" (1974), Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie

Wolfgang Kersting, geb. 1946,

254

Zu den Autoren

(1984,21993), Niccolo Machiavelli (1988,21998), Thomas Hobbes zur Einführung (1992, 22002), John Rawls zur Einführung (1993, Neufassung 2001), Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags (1994, 21996), Gerechtigkeit und Medizin (1995), Tho-

Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates (1996, Hrsg.), Gerechtigkeit als Tausch? Auseinandersetzungen mit der politischen Philosophie Otfried Höffes (1997, Hrsg.), Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend. Abhandlungen zur praktischen Philosophie der Gegenwart (1997), Politische Philosophie der internationalen Beziehungen (1998, Mithrsg.), Piatons „Staat" (1999), Politische Philosophie des Sozialstaats (2000, Hrsg.), Theorien der sozialen Gerechtigkeit (2000), Politik und Recht. Abhandlungen zur politischen Philosophie der Gegenwart und zur neuzeitlichen Rechtsphilosophie (2000), Rechtsphilosophische Probleme des Sozialstaats (2000), Filosofía Política del Contractualismo Moderno (2001). mas

Michael

Köhler, geb. 1945, ist Professor für Strafrecht, Strafprozeßrecht und Rechts-

philosophie an der Universität Hamburg. Buchveröffentlichungen: Die Lehre vom Widerstandsrecht in der deutschen konstitutionellen Staatsrechtstheorie der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (1973), Inquisitionsprinzip und autonome Beweisvorführung (§ 245 StPO) (1979), Die bewußte Fahrlässigkeit. Eine strafrechtlich-rechtsphilosophische Untersuchung (1982), Über den Zusammenhang von Strafrechtsbegründung und Strafzumessung. Erörtert am Problem der Generalprävention (1983), Der Begriff der Strafe (1986), Strafrecht. Allgemeiner Teil (1997). Peter

Koller, geb. 1947, ist Professor für Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechts-

der Karl-Franzens-Universität Graz. Buchveröffentlichungen: Neue Theo(1987), Philosophie des Rechts, der Politik und der Gesellschaft (1988, Mithrsg.), Theorie des Rechts. Eine Einführung (1992, 21997), Theoretische Grundlagen der Rechtspolitik (1992, Mithrsg.), Institution und Recht (1994, Mithrsg.), Aktuelle Fragen politischer Philosophie. Gerechtigkeit in Gesellschaft und Weltordnung (1997', Mithrsg.), Gerechtigkeit im politischen Diskurs der Gegenwart (2001, Hrsg.).

soziologie

an

rien des Sozialkontrakts

Anton

Leist, geb. 1947, ist Professor für Philosophie und Leiter der Arbeits- und For-

schungsstelle für Ethik an der Universität Zürich. Buchveröffentlichungen: Ansätze zur materialistischen Sprachtheorie (1975, Hrsg.), Sprachen und Dinge. Der Gegenstandsbereich instrumenteilen Handelns (1979), Eine Frage des Lebens. Ethik der Abtreibung und künstlichen Befruchtung (1990), Um Leben und Tod. Moralische Probleme bei Abtreibung, künstlicher Befruchtung, Euthanasie und Selbstmord (1990, 31992, Hrsg.), Das Dilemma der aktiven Euthanasie (1996), Philippa Foot, Die Wirklichkeit des Guten. Moralphilosophische Aufsätze (1997, Mithrsg.), Die gute Handlung. Eine Einführung in die Ethik (2000). Reinhard Merkel, geb. 1950, ist Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg. Buchveröffentlichungen: Allan Janik/Stephen Toulmin, Wittgensteins Vienna (1983,31985, Übers, u. Bearb.), Zur Debatte über Euthanasie. Beiträge und Stel-

255

Zu den Autoren

lungnahmen (1991, 21992, Mithrsg.), Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus (1994, 21998), „Zum ewigen Frieden". Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant (1996, Mithrsg.), Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht (2000, 22001,

Hrsg.), Früheuthanasie. Rechtsethische und strafrechtliche Grundlagen ärztlicher scheidungen über Leben und Tod in der Neonatalmedizin (2001).

Ent-

Herlinde Pauer-Studer, geb. 1953, ist ao. Professorin für Philosophie an der Universität Wien. Buchveröffentlichungen: Denkverhältnisse. Feminismus und Kritik (1989, Mithrsg.), Denken der Geschlechterdifferenz. Neue Fragen und Perspektiven der Feministischen Philosophie (1990, Mithrsg.), Jenseits der Geschlechtermoral. Beiträge zur feministischen Ethik (1993, Mithrsg.), Norms, Values and Society (1994, Hrsg.), Das Andere der Gerechtigkeit. Moraltheorie im Kontext der Geschlechterdifferenz (1996), Politische Theorie. Differenz und Lebensqualität (1996, Mithrsg.), Martha C. Nussbaum, Gerechtigkeit oder: Das gute Leben (1999, Hrsg.), Autonom leben. Reflexionen über Freiheit und Gleichheit (2000), Konstruktionen praktischer Vernunft. Philosophie im Gespräch (2000, Gespräche mit Ch. Korsgaard, S. Benhabib, D. Gauthier, A. Sen, M. Nussbaum, T. Scanlon, M. Walzer, M. Sandel, R. Dworkin). Reinold Schmücker, geb. 1964, ist Wissenschaftlicher Assistent am Philosophischen Seminar der Universität Hamburg. Buchveröffentlichungen: Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie (1997, Mithrsg.), Was ist Kunst? Eine Grundlegung (1998), Dialogische Wissenschaft. Perspektiven der Philosophie Schleiermachers (1998, Mithrsg.), Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (2000, Bearb.), Ernst Cassirer, Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (2001, Bearb.), Ernst Cassirer, Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen (2001, Bearb.), Wozu Kunst? Die Frage nach ihrer Funktion (2001, Mithrsg.), Kunst und Kunstbegriff. Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik (2002, Mithrsg.).

Ludwig Siep, geb. 1942, ist Professor für Philosophie an der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster. Buchveröffentlichungen: Hegels Fichtekritik und die Wissenschaftslehre von 1804 (1970), Der Idealismus und seine Gegenwart. Festschriftfür Werner Marx (1976, Mithrsg.), Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes (1979), Identität der Person. Aufsätze aus der nordamerikanischen Gegenwartsphilosophie (1983, Hrsg.), Lehren und Lernen der Philosophie als philosophisches Problem (1987, Mithrsg.), Ethik als Anspruch an die Wissenschaft oder: Ethik in der Wissenschaft (1988, Hrsg.), Sterblichkeitserfahrung und Ethikbegründung (1988, Mithrsg.), Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus (1992, Japan. 1995), Eric Weil Ethik und politische Philosophie (1997, Mithrsg.), G.W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1997, Hrsg.), Zwei Formen der Ethik (1997), Angemessenheit (1998, Mithrsg.), Ethik und Menschenbild (1999), Der Weg der „Phänomenologie des Geistes". Ein einführender Kommentar zu Hegels „Differenzschrift" -

und

zur

„Phänomenologie

des Geistes"

(2000).

Zu den Autoren

256

geb. 1941, ist Professor für Philosophie an der Universität Hamburg. Buchveröffentlichungen: Bertrand Russell, Philosophische und politische Aufsätze (1971, 31995, Hrsg.), Eine analytische Interpretation der Marxschen Dialektik (1977), Stationen der politischen Theorie ( 1981,31994), Freiheitstheorien in der Philosophie der Neuzeit

Ulrich Steinvorth,

(1987,21994), Klassische und moderne Ethik.

Grundlinien einer materialen Moraltheorie

demiurgische Metaphysik (1994), Die offene überhaupt (1990), ihre Fremden und (1998, Mithrsg.), Gleiche Freiheit. Politische Philosophie Gesellschaft und Verteilungsgerechtigkeit (1999), Vernunft was sie ist und was sie kann (2002). Warum

etwas ist.

Kleine

-

Andreas Wildt, geb. 1943, ist Privatdozent für Philosophie an der Freien Universität Berlin. Buch Veröffentlichungen: Autonomie und Anerkennung. Hegels Moralitätskritik im Lichte seiner Fichte-Rezeption (1982), Die Anthropologie des frühen Marx (1987).

Personenregister

Adamy, Wilhelm 96 Alexy, Robert 102 Altemeier, Inge 230 Althusius, Johannes 241 Altvater, Elmar 221 Anderson, Elizabeth 86 Karl-Otto 147 Aristoteles 26. 28. 32f. 46f. 52. 119.

Apel,

143

Arneson, Richard 86. 105. 205

Augustinus,

Aurelius 25

Balzi, Beat 230 Barry, Brian 109. 152. 203. 216 Bedau, Hugo A. 101 Beitz, Charles R. 103.207.212.215. 218-220

Chwaszcza, Christine 207. 216 f. 235. 237. 241-245. 247 f. Cohen, Gerald A. 59. 105 Cohen,Joshua 210 Copp, David 234. 238-240

Daniel K. 235 Rebecca 188 Dresser, Ronald 19. 38. 72. 78-82. Dworkin, 90. 98. 100. 103. 105. 108. 131. 147. 200

Donnelly,

Ebbinghaus,

Julius 123

Eckhart, Meister 27 Friedrich 58-62. 67 Etzioni, Amitai 234 Ewin, Robert E. 237

Engels,

Beran, Harry 234. 239 f.

Bergman, Ingmar Birch, Anthony H. Birnbacher, Dieter Black, Max 161

135 235 10. 152

Blackstone, William T. 101

Böckenförde, Ernst-Wolfgang 89 Bohmann, James 23 1 Buchanan, Allen 235.237.241.243. 246-248

Falke, Gustav-Hans H. 45

Feinberg,

Joel 101. 157. 190 f.

Fichte, Johann Gottlieb 46. 49 Flasch, Kurt 27 Follesdal, Andreas 213 Forst, Rainer 10.201.217.223-228 Foucault, Michel 221 Frankfurt, Harry 97 Früchtl, Josef 42

Buchanan, James M. 109 Callinicos, Alex 96 Chan, Joseph 77

Galston, William 89 Gauthier, David 109. 234. 239 Gerhardt, Volker 25

258

Personenregister

Giddens, Anthony 98 Goethe, Johann Wolfgang 45 Goldblatt, David 221 Gollwitzer, Helmut 245 Goodin, Robert E. 208

Gosepath,

Stefan 10. 202. 210 f. 213 f.

219

Grotius, Hugo 65. 241 Habermas, Jürgen 14. 19. 64. 110. 147 f. 203. 210. 218. 224. 228. 231 Hailbronner, Kay 237. 242 Harsanyi, John C. 18 Hayek, Friedrich August von 97.119 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 13. 27. 33. 36. 38. 41-55. 60. 146 Heinemann, Gustav 190 Held, David 221 Helmchen, Hanfried 184 Herbermann, Dirk 230 Herdegen, Matthias 152 Hering, Rainer 249 Hinsch, Wilfried 198 Hirsch, Emanuel 45 Hobbes, Thomas 13.26.29.34.43. 46. 107. 121. 143 Höbe, Stephan 241 f. Hoffe, Otfried 31. 101. 156. 160. 213. 215. 217. 231. 235. 241-243. 247. 249 Hohfeld, Wesley N. 198 Honderich, Ted 190 Honneth, Axel 46. 54. 224 Hoppe, Hans-Hermann 233 f. Horn, Christoph 231 Horstmann, Rolf-Peter 52 Hösle, Vittorio 241. 243-245 Hruschka, Joachim 65 Hume, David 107. 143. 207. 218 Hurka, Thomas 77. 83-87 Hurrell, Andrew 222 Huster, Ernst-Ulrich 96

Ipsen,

Knut 236. 242

Jescheck, Hans-Heinrich 249 M. 241 Immanuel 8. 15 f. 25. 27-29. 31. Kant, 33. 35. 41-43. 46. 48 f. 53. 65. 84f. 107. 110. 119. 122-124. 142 f. 146-148. 152. 166f. 212. 216 Kaufmann, Franz-Xaver 55 Kersting, Wolfgang 9. 30. 38. 95. 105. 124. 126. 128. 131f. 205. 207. 216f. Kimminich, Otto 241 f. Klesczewski, Diethelm 32 Köhler, Michael 8 f. 25. 28. 30-32. 35 f. 38-40 Kollek, Regine 160. 173 Koller, Peter 9. 101 f. 107-109. 208 f. 244 Korsgaard, Christine M. 198 Kratochwil, Friedrich V 217 Krebs, Angelika 71. 95. 97 Kuttner, Robert 96 Kymlicka, Will 201. 238

Kampelman, Max

Laslett, Peter 15 Lauter, Hans 184 Leist, Anton 9. 157 Locke, John 8. 15 f. 21. 26. 29f. 33. 35 f. 66. 107. 128-130 Luhmann, Niklas 41. 55 Lutz-Bachmann, Matthias 231

MacKinnon, Catharine A. 82 221 73 f. 234 Marx, Karl 23. 26. 33 f. 57-74 Maus, Ingeborg 217 McGrew, Anthony 221 Menke, Christoph 45. 49 Merkel, Reinhard 9. 157. 159. 163 Mill, John Stuart 84. 142 f. 191 Miller, David 101. 203. 217. 235. 238 Miller, Henry 135 Moore, Margaret 235

Mahnkopf, Birgit Margalit, Avishai

259

Personenregister

Müller, Hans-Peter 97 Münkler, Herfried 90

Sandel, Michael J. 89. 108 Savulescu, Julian 177 Scanion, Thomas 225

Nelson, Leonard 157 Nelson, William 207 Nielsen, Kai 223. 234f. Norman, Wayne 235 Nozick, Robert 18-21.34.37.71.97.

Schelling,

108. 129. 136

Nussbaum, Martha 220 Oeter, Stefan 242 O'Neill, Onora 198.218.223.226 170 Pauer-Studer, Herlinde 9. 87-89. 95. 97. 100. 105 Perraton, Jonathan 221 Pfeffer, Rodney G. 59 Philpott, Daniel 234 Piaton 14. 19. 25 f. 28. 51. 77. 197 Pogge, Thomas W. 104. 199 f. 207. 211 f. 218-220. 222. 229. 232 Pöggeler, Otto 45 Popper, Karl R. 77 Prisching, Manfred 98

Patzig, Günther

Raphael,

David D. 101

Friedrich Wilhelm

Joseph

von

49

Schlothfeldt, Stephan 208 Schmücker, Reinold 10. 249 Schneewind, Jerome B. 65 Schockenhoff, Eberhard 160

Schönberger,

Rolf 27

Schumann, Harald 230 Sen, Amartya 38. 40. 98. 105 Shaw, George Bernard 145. 150 Sher, George 77. 86. 89 Shklar, Judith 198 Shue, Henry 200. 218-220. 225

Sidgwick, Henry 19 f. Siep, Ludwig 8. 43-47.

49 Peter 143 Skinner, Andrew S. 20 Smith, Adam 20. 33. 107 Sokrates 13

Singer,

Stachanow, Aleksej Grigorjewitsch 17 Steffen, Johannes 96 Stein, Lorenz von 121 Steiner, Hillel 128-132 Steinvorth, Ulrich 8. 23 f. 63. 72. 105. 128. 131. 241. 244 R. 246. 248

Rawls, John 7. 9. 16-19. 38. 62. 71 f. 78. 80f. 87. 90f. 102. 104. 108.

Sunstein, Cass

110. 115. 119. 124-127. 136. 139. 147-149. 199 f. 204. 207. 211. 214. 216-218. 227. 229-231 Raz, Joseph 77. 81. 88. 93. 234 Rees, JohnC. 101 Reich, Robert B. 96 Ricardo, David 33 Roemer, John E. 62. 105 Rorty, Richard 42. 210 Rössler, Beate 198 Rousseau, Jean-Jacques 26. 36. 46. 49. 53. 90. 210 Rubin, Alfred P. 242

Taupitz, Jochen Taylor, Charles

181

42. 107 S. 199 Temkin, Larry Thompson, Janna 215 Thomson, James A. 171 f. Tooley, Michael 157

Toulmin, Stephen 143

Tugendhat,

Ernst 65

Van Parijs, 131 f.

Philippe

19. 23. 71. 128.

Vernant, Jean-Pierre 13

Vlastos, Gregory 200

260 Adolf 62 Walton, Douglas N. 161 Walzer, Michael 108. 209. 227 Warnock, Mary 180. 191 Weber, Max 7. 13 Weigend, Thomas 249 Wellman, Christopher H. 234. 239 Wellmer, Albrecht 212

Wagner,

Personenregister Werdes, Alexandra 10 Westen, Peter 104 Wildt, Andreas 8. 58-60. 64

Wingert, Wolff, Wood,

Lutz 201 Ernst Amadeus 27 Allen W. 59

Zippelius,

Reinhold 102