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German Pages 418 Year 2014
Hartmann Tyrell, Otthein Rammstedt, Ingo Meyer (Hg.) Georg Simmels große »Soziologie«
Sozialtheorie
Hartmann Tyrell (Prof. i.R. Dr.) lehrte allgemeine Soziologie an der Universität Bielefeld und war 1999-2008 Redakteur und Herausgeber der »Zeitschrift für Soziologie«. Seine Forschungsschwerpunkte sind Geschichte der Soziologie, Gesellschaftstheorie und Religionssoziologie. Otthein Rammstedt (Prof. Dr. em.) lehrte Soziologie, insbesondere Soziologiegeschichte und Sozialphilosophie an der Universität Bielefeld. Er ist Herausgeber der »Georg Simmel Gesamtausgabe«. Ingo Meyer (Dr. phil.) war von 2005-2011 Redakteur der »Simmel Studies«.
Hartmann Tyrell, Otthein Rammstedt, Ingo Meyer (Hg.)
Georg Simmels große »Soziologie« Eine kritische Sichtung nach hundert Jahren
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Inhalt
Vorwort Otthein Rammstedt | 7
I. ZU S IMMELS S OZIOLOGIE Georg Simmels ,großeʻ Soziologie (1908). Einleitende Bemerkungen
Hartmann Tyrell | 9 Die ‚Große Soziologie‘ und die ‚große‘ Philosophie
Kurt Röttgers | 69
II. DIE GROSSE S OZIOLOGIE ALS P ROBLEM Die Formen der Vergesellschaftung und die soziologischen Aprioris. Das gesellschaftstheoretische Erkenntnisprogramm. Eine Argumentskizze
Uta Gerhardt | 83 Von der Wechselwirkung zur Interaktion – Georg Simmel und die Mikrosoziologie heute
Jörg Bergmann | 125 Soziale Differenzierung im Werk Georg Simmels – mit besonderem Blick auf Wilhelm Dilthey
Martin Petzke | 149 Simmels Sozialformenlehre: Probleme eines Theorieprogramms
André Kieserling | 181
III. ASPEKTE Die Zahl als soziologische Kategorie und die Quantität sozialer Verhältnisse
Andreas Ziemann | 207 Zur sozialen Konstruktion moderner Konkurrenzen. Das Publikum in der ‚Soziologie der Konkurrenz‘
Tobias Werron | 227
Materialität der Sinne. Simmel und der ‚New Materialism‘
Urs Stäheli | 259 Simmel und die Religionssoziologie
Austin Harrington | 275 Hausputz. Über Georg Simmels Marginalisierung der Ästhetik in der ‚großen‘ Soziologie
Ingo Meyer | 301 Geheim
Alois Hahn | 323
IV. NACHKLANG Der Weg zu Simmels ‚kleiner‘ Soziologie
Otthein Rammstedt | 347 Biographische Aspekte der amerikanischen Simmelrezeption
Guenther Roth | 367
V. ANHANG Das Materienverzeichnis der ‚großen‘ Soziologie (GSG 11), nach Seitenzahlen geordnet | 395 Ausgewählte Rezensionen bis 1912 | 407 Siglenverzeichnis | 413
Vorwort
Das Centenarium von Georg Simmels Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung wurde Juni 2008 im Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) an der Universität Bielefeld mit einem Kolloquium begangen, das weniger das Jubiläum feiern wollte, als vielmehr das Buch ernst nehmen sollte. Nicht ging es primär um eine Würdigung des soziologischen opus magnum Simmels – keine Elogen, keine Reminiszenzen, kein Pomp, keine Lüster –, vielmehr war eine neuerliche Beschäftigung mit dem Simmelʼschen Werk vorgesehen. Das Unternehmen war der Frage geschuldet, was es uns heute noch sagt, ob seine Überlegungen für uns anschlussfähig, ja, vielleicht sogar innovativ für den zähen Fluss des aktuellen soziologischen Diskurses geblieben sind Für die geplante vertiefende Auseinandersetzung mit Simmels Großwerk waren, um jeder Self-fulfilling prophecy zu entgehen, vornehmlich Referenten gebeten, die gerade nicht zu den Simmel-Spezialisten zählten. Das Ergebnis der Tagung war überraschend und übertraf alle Erwartungen. Das belegt die hier vorgelegte Sammlung. Sie lässt – mag es auch nebensächlich scheinen – die kritische Haltung gegenüber Simmels Soziologie obsolet werden, die seit Erscheinen des Buchs allzeit gegenwärtig war und sich seit Jahrzehnten in dem Urteil verdichtete, dass es letztlich bedeutungslos für die Soziologie sei, mit der Konsequenz: Es wurde immer weniger beachtet, immer weniger gelesen; aber das zwischenzeitlich eherne Urteil geriet zum soziologischen Common Sense – auch bei denen, die es nie zur Hand genommen hatten. Neben allen inhaltlichen Ergebnissen hatte das Kolloquium schon einmal eine Empfehlung zu geben: Lassen Sie sich auf Simmels Soziologie ein, entdecken Sie Simmel für sich, lesen sie in der Soziologie; ach, schlagen sie irgendeine Stelle in ihr auf, sehen Sie Ihren Alltag in Distanz geraten und denken Sie dann mit Simmel weiter. Es lohnt sich. Der vorliegende Sammelband ergänzt sinnvoll Simmels sogenannte ‚große‘ Soziologie. Dass er realisiert werden konnte und Gestalt gewann, ist zuerst den Referenten zu danken, die ihre Vortragsmanuskripte meist unter Termindruck aufberei-
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teten, sodann Ingo Meyer, der umsichtig den Band besorgte, Björn Vedder, der die Herstellung des Satzes übernahm, und Klaus D. Dey, der für einen weiteren Korrekturgang zur Verfügung stand; sowie schließlich dem transcript Verlag, insbesondere Gero Wierichs, für das verlegerische Engagement zugunsten Simmels.
Bielefeld, im Mai 2011 Otthein Rammstedt
Georg Simmels ‚große‘ Soziologie (1908). Einleitende Bemerkungen H ARTMANN T YRELL
I. P RÄLUDIUM
UND
P ANEGYRIKUS
Der einhundertste Jahrestag des Erscheinens von Georg Simmels, wie gern gesagt wird, ‚großer‘ Soziologie (1908) war der Bielefelder Fakultät für Soziologie Anlass zu einer größeren Tagung. Sie fand vom 18. bis 20. Juni 2008 im Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld statt. Mit ihrer Vorbereitung waren Otthein Rammstedt und der Verfasser dieser Einleitung betraut. Nun fiel in das Jahr 2008 aber auch Simmels hundertfünfzigster Geburtstag, und auf den Tag des Geburtstages genau erschien im Suhrkamp Verlag als Band 23 der Georg Simmel Gesamtausgabe – von Otthein und Angela Rammstedt ediert und sorgfältig bearbeitet – der zweite Briefband (GSG 23). In ihm kann man, wie schon im ersten (GSG 22), den Klaus Christian Köhnke herausgegeben hat, die persönliche Bekanntschaft Georg Simmels machen. Und noch ein Drittes galt es zu feiern: Es war die fast zu Ende gebrachte Georg Simmel Gesamtausgabe als solche. Diese ist, wie man sagen darf, in der Fakultät für Soziologie entstanden; genauer noch: sie ist von Otthein Rammstedt und dem Kreis der Mitarbeiter1 in einer Art „splendid isolation“ innerhalb der Fakultät erstellt, erarbeitet worden, ungestört durch die Fakultätsumwelt, aber doch immer gestützt durch die wechselnden Dekanate, und, wenn man sich der editorischen Arbeit auf den Fluren U3 und U4 entsann, war die Edition immer auch Gegenstand des Selbststolzes der Fakultät. Die Rückendeckung, die sie auch von Seiten des Rektorats der Universität Bielefeld erhalten hat, soll nicht unerwähnt bleiben. Auf der Tagung durfte der Verfasser dieser Einleitung im Namen des Dekans dem vor dem Abschluss stehenden Editionswerk die An-
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Natürlich im Verein mit den ja nicht wenigen auswärtigen Herausgebern der einzelnen Bände!
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erkennung durch die Fakultät aussprechen und dem Herausgeber des Ganzen Dank und Applaus für das Geleistete übermitteln. Blickt man zurück auf die Würdigungen, wie sie Georg Simmel im Jahre 1958 2 anlässlich seines hundertsten Geburtstags zuteil wurden , so stößt man, zumal was seine Soziologie angeht, auf den – aus heutiger und zumal deutscher Sicht – doch überraschenden Sachverhalt, dass das Werk seinerzeit vorzugsweise in den USA präsent war und Wirkung hatte. Friedrich H. Tenbruck sprach mit Blick auf die deutsche Nachkriegssoziologie geradezu von „Vergessen heute“, demgegenüber aber vom „Fortwirken im Ausland“, vor allem in Nordamerika: „Hier nimmt“ Simmel, so Tenbruck, „nicht nur in geschichtlichen Lehrbüchern und theoretischen Beiträgen einen festen Platz ein, sondern greift direkt in die empirische Forschung hinüber; soziologische und anthropologische Untersuchungen haben wiederholt versucht, einzelne Theoreme Simmels empirischen Testen zu unterwerfen.“3 Simmel war, wie der biographische Bericht zur amerikanischen Simmelrezeption, den Guenther Roth zu dem vorliegenden Band beigesteuert hat, eindringlich darlegt, in den USA dank Albion W. Smalls Vermittlungs- und Übersetzungsarbeit eben schon zu Lebzeiten mit wichtigen soziologischen Werkstücken vertreten, und er blieb dort ein Autor von Bedeutung. Die umfangreichste Bibliographie der Simmelʼschen Arbeiten, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit verfügbar war, findet sich, wie der deutsche Leser bei Tenbruck erfahren konnte, im Band 51 des American Journal of Sociology (1945/46); sie schließt die englischsprachigen Publikationen Simmels ein, macht aber vor allem den Grad der Zerstreuung des Werks deutlich.4
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Das American Journal of Sociology hat das komplette, prominent besetzte Heft 6/1958 – als „Durkheim–Simmel Commemorative Issue“ – dem Gedenken Émile Durkheims (ja ebenfalls 1858 geboren) und Georg Simmels gemeinsam gewidmet; Peter H. Rossi, An Editorial Foreword: Émile Durkheim – Georg Simmel 1858–1958, in: American Journal of Sociology 63 (1958), 579; ferner Kurt H. Wolff (Hg.), Georg Simmel, 1958-1918. A Collection of Essays, with Translations, and a Bibliography, Ohio State University 1959, 61-99.
3
Friedrich H. Tenbruck, Georg Simmel (1958-1918), in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 10 (1958), 587-614, hier 591f.; ders., Formal Sociology, in: Wolff, a.a.O., 61-99.
4
Erich Rosenthal, Kurt Oberlaender, Books, Papers, and Essays by Georg Simmel, in: American Journal of Sociology 51 (1945/46), 238-247, hier 238, wo man erfährt: „The bibliography presented here was originally prepared for a study of the intellectual development of Simmel, a plan which had to be abondened.“ Auch Lewis A. Coser, Georg Simmels‘s Style of Work: A Contribution to the Sociology of the Sociologist, in: American Journal of Sociology 63 (1958), 635-641, hält sich an Rosenthal und Oberlaender. Aber schon die in Berkeley entstandene Simmel-Dissertation von Nicholas J. Spykman
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Simmels hundertster Geburtstag war dann in Deutschland wie in den USA Anlass zu erweiterten bibliographischen Bemühungen, die auch die Literatur über Simmel einbezog. Der Name Kurt Gassen darf dabei nicht unerwähnt bleiben.5 – Angesichts der unmittelbar vor dem Abschluss stehenden Gesamtausgabe darf man heute, fünfzig Jahre später, mit gutem Recht sagen: Simmel ist nach Deutschland zurückgekehrt. Wer von Georg Simmel etwas weiß, der kennt jene Tagebuchnotiz, die darüber nachsinnt, wie es dem hinterlassenen Werk nach dem Tode des Autors ergehen werde. Man kann bei dieser Notiz auch von einer Rezeptionsprognose sprechen. „Ich weiß“, schreibt Simmel, „daß ich ohne geistigen Erben sterben werde (und es ist gut so). Meine Hinterlassenschaft ist eine wie in barem Gelde, das an viele Erben verteilt wird, und jeder setzt seinen Teil in irgendeinen Erwerb um, der seiner Natur entspricht: dem die Provenienz aus jener Hinterlassenschaft nicht anzusehen ist.“6 Dass diese Voraussage sich bewahrheitet hat, wer wollte dem widersprechen? In den 1970er Jahren sah man an der Art der Rezeption, wie Simmel sie sich beschieden sah (und gutgeheißen hatte), eine verdeckte Intention (oder doch Motivlage) beteiligt und hat die Rezeptionsgeschichte als Verdrängungsgeschichte beschrieben.7 Schon einige Jahre später aber war in der Soziologie – gerade auch auf Simmel bezogen – von einer „Klassiker-Renaissance“ die Rede. Wie immer man dazu steht: ‚Klassiker‘ sind solche Autoren, die sich – auf die Zurechnung von Ideengut hin und unter Namensnennung – in der Kommunikation von 1925, über die Guenther Roth unten näher informiert, hatte eine Bibliographie der Simmelʼschen Arbeiten enthalten. 5
Kurt Gassen, Michael Landmann (Hg.), Buch des Dankes. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie. Zu seinem100. Geburtstag am 1. März, Berlin 1958, 311ff.; 349ff.; ferner Wolff, a.a.O., 357ff.; 377ff. Otthein Rammstedt nennt die von Gassen erstellte Bibliographie (brieflich) „die eigentlich bis heute noch gültige Gesamtbibliographie“. Zu verweisen ist, was das Jahr 1958 angeht, aber auch auf die Neuauflage sowohl der Soziologie als auch der Philosophie des Geldes bei Duncker & Humblot, Berlin.
6
Darauf nimmt schon die Simmelrezeption der 1920er Jahre Bezug; dazu immer noch lesenswert Maria Steinhoff, Die Form als soziologische Grundkategorie bei Georg Simmel, in: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie 4 (1924/25), 215-259, hier 259.
7
Peter-Ernst Schnabel, Die soziologische Gesamtkonzeption Georg Simmels. Eine wissenschaftshistorische und wissenschaftstheoretische Untersuchung. Stuttgart 1974. Gern zitiert wird, was Simmel angeht, auch Erich Przywara, der 1955 mit einer Schöpf- und Trinkmetapher von Aneignungen gesprochen hat, die sich nicht zu erkennen geben wollen. Er bezieht sich allerdings nicht allein auf Simmel, sondern auf „die drei großen vergessenen Juden: Georg Simmel, Edmund Husserl, Max Scheler. Sie sind so groß und so vergessen, daß sie heute Brunnen sind, aus denen man geheim schöpft, ohne Gefahr zu laufen, daß einer diese Brunnen entdeckt“, Gassen, Landmann, a.a.O., 224.
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und im Gedächtnis ihrer Disziplin halten bzw. darin gehalten werden. Und wenigstens in der Soziologie steht Simmel heute unbestritten, wenn auch vielfach wohl eher ‚nominell‘, als ‚Klassiker‘ da; es mag dahingestellt bleiben, wieweit er in heutigen Bachelorstudiengängen noch eine Chance auf Gelesenwerden hat. Trotzdem: in jenen Prozess eines ideellen Überlebens ‚inkognito und anonym‘ (nach Art des verteilten Geldes), wie ihn Simmel für seine geistige Hinterlassenschaft vorausgesehen hat, hat die Bielefelder Editionstätigkeit – das klassische Textgut sammelnd, bündelnd, wiederentdeckend und nun auf leichte Art zugänglich machend – eingegriffen. Das Texterbe ist uns nun ‚nahegelegt‘, und vor allem: der Zerstreuung und Unübersichtlichkeit des Werks ist ein Ende gemacht; alles ist beisammen und kann nun in dieser Zusammengehörigkeit erneut in die verschiedensten Hände geraten. Und in gewisser Weise dreht die Gesamtausgabe den Spieß inzwischen sogar um: indem der Band 17 nun auch anonyme und pseudonyme Veröffentlichungen in das namentlich zuzurechnende Werk zurückholt. Man kann nun aber nicht umhin zu fragen: war denn Bielefeld der rechte Ort, den hundertsten Geburtstag der Soziologie von 1908 – und den hundertfünfzigsten ihres Autors dazu – auszurichten? Simmel selbst hätte es sich wohl nicht träumen lassen, ausgerechnet am Teutoburger Wald oder (bedenkt man die Lage des ZiF) genauer: im Teutoburger Wald für seine Soziologie gepriesen zu werden. Denkt man von ihm her, so hätte natürlich Berlin nahegelegen, seine Großstadt; auch hätte man an Straßburg, die Stadt der letzten Lebensjahre, denken können und hätte die besten deutsch-französischen Gründe dafür gehabt. Erst recht aber wäre an jene drei italienischen Städte zu denken, die Simmel porträtierte, denen er – jeder einzeln – eine „ästhetische Analyse“ gewidmet hat: Rom, Florenz und Venedig. Paola Giacomoni, Trento, hat den drei ästhetischen Städteporträts jüngst einen lesenswerten Essay gewidmet und sie auf wunderschöne Art vergleichend nebeneinandergestellt.8 Florenz wäre wohl Simmels Favorit gewesen; er hat die Stadt in einem Brief an Husserl vom 12. März 1907 „‚mein Land‘“ genannt, „die Heimat meiner Seele, soweit unser einer überhaupt eine Heimat hat. Freilich nicht die Stadt allein, sondern die Stadt in ihrer Landschaft“ (GSG 22: 570).9 Was aber Rom betrifft, so hatte dort zu Anfang Juni 2008 bereits ein Simmel-Kongress stattgefunden, ein viel größerer
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Paola Giacomoni, Georg Simmel und Italien, in: Simmel Studies 18 (2008), 149-167; dem Essay liegt ein Vortrag zugrunde, den die Autorin am 11. Juni 2008, kurz vor der ZiF-Tagung, in Bielefeld gehalten hat.
9
Dazu Gregor Fitzi, Florenz in der ästhetischen Anschauung von Georg Simmel, in: Simmel Newsletter 5 (1995), 34-45. Hier kommt auch der Brief an Husserl zur Sprache; Simmel legt Husserl in diesem, was „die Stadt in ihrer Landschaft“ angeht, verschiedene Wanderwege in und durch die Florentiner Umgebung ans Herz. Er bevorzugte dabei, wie man bei Fitzi lernt, die Südseite der Stadt.
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als der, dem sich dieser Band verdankt, und natürlich hatte man auch dort die Soziologie von 1908 im Sinn. Dennoch: Bielefeld als Tagungsort braucht sein Licht nicht unter den Scheffel zu stellen. Es – genauer das ZiF – hat sich nämlich in Bezug auf Simmel längst verdient gemacht. Hier hat schon im Sommer 1982 eine große Tagung zum Thema „Die Aktualität Georg Simmels“ stattgefunden, und auf dieser Tagung wurde die Idee einer Gesamtausgabe erstmals präsentiert. Hier wurden die Weichen gestellt, und eine weitere Tagung im Herbst 1985 – das zweite „Georg Simmel-Kolloquium“, abermals im ZiF – befestigte den Weg zur Edition. Die entsprechenden Tagungsbände haben unter den Simmelforschern ihre Bedeutung bis heute nicht verloren.10 Das Schöne und Bemerkenswerte der beiden Tagungen, vor allem der ersten, war, dass hier eine Art Stabübergabe stattgefunden hat: Die ältere Generation der seinerzeit in Amerika wie in Deutschland um Simmel bemühten Autoren war ansehnlich versammelt: Kurt H. Wolff, Lewis Coser, Donald Levine, die (teils mit deutschen Wurzeln) Simmels Sache in den USA wissensschaftlich bedeutsam und hochgehalten hatten, aber deutscherseits auch Michael Landmann (1984 verstorben) und viele andere waren vor Ort und stärkten den Jüngeren, allen voran natürlich Otthein Rammstedt, den Rücken, was das Simmelengagement und das Editionsvorhaben anging. Auch Niklas Luhmann, der mit am Anfang des Vorhabens stand, kam, blieb allerdings nicht die ganze Zeit über. Ich persönlich habe gerade das erste der beiden Kolloquien, dem auch das Wetter sehr gewogen war, in ausgesprochen schöner Erinnerung, gerade auch was die Berührung mit den seinerzeit Älteren angeht. Der erste Band im Rahmen der Gesamtausgabe erschien dann 1989; es war, mit großer Resonanz, unter Simmels Büchern kein geringeres als die Philosophie des Geldes. Ihr widmete man im Jahr 2000 ein Kolloquium, das „fast auf den Tag genau 100 Jahre nach der Erstveröffentlichung [...] im Zentrum für interdisziplinäre Forschung an der Universität Bielefeld stattfand.“11 Angesichts solcher ‚Tradition‘ aber war klar, wo und wie es des hundertsten Geburtstags der Simmelʼschen Soziologie von 1908 zu gedenken galt: mit einem Kolloquium im ZiF. Die Soziologie ist – von Otthein Rammstedt herausgegeben und in ihrer Entstehungsgeschichte rekonstruiert – mit einem Umfang von 1051 Seiten einer der umfangreichsten Bände der Gesamtausgabe. Die Bielefelder Fakultät für Soziologie sah nicht nur die klassisch-fachhistorische Bedeutung dieses Buches; sie hatte darüber hinaus gute Grün10 Heinz-Jürgen Dahme, Otthein Rammstedt (Hg.), Georg Simmel und die Moderne. Neue Interpretationen und Materialien, Frankfurt/M. 1984; Otthein Rammstedt (Hg.), Simmel und die frühen Soziologen. Nähe und Distanz zu Durkheim, Tönnies und Max Weber, Frankfurt/M. 1988. 11 Otthein Rammstedt, Vorwort, in: Ders. u.a. (Hg.), Georg Simmels Philosophie des Geldes. Aufsätze und Materialien, Frankfurt/M. 2003, 7-24, hier 18.
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de, es pars pro toto zu nehmen: als schwergewichtigen Teil der insgesamt unter ihrem Dach entstandenen Simmeledition. Und so hat sie es sich nicht nehmen lassen, dem Tagungsvorhaben im ZiF alle Unterstützung zukommen zu lassen, derer es für die angemessene Würdigung des Simmelʼschen Werks von 1908 im Besonderen und der Gesamtausgabe im Allgemeinen bedurfte. Ihr sei dafür herzlich gedankt.
II. V ORBEMERKUNG Was der Tagung im Juni 2008 aufgegeben war, war dreierlei: Es galt erstens von den Möglichkeiten Gebrauch zu machen, die die Georg Simmel Gesamtausgabe nunmehr für eine neuerliche Befassung mit dem Simmelʼschen Werk offeriert. All die (publizierten) Texte, die Simmel so zahlreich in die große Soziologie integriert hat, sind ja nun vor allem in den Bänden 5, 7 und 8 der Gesamtausgabe, also den Aufsätzen und Abhandlungen vor 1900 bzw. von 1901-1908 greifbar; hingewiesen sei aber auch auf den Band 18, der im Kontext englischsprachiger Veröffentlichungen Simmels wesentliche Textstücke aus dem Vorfeld der Soziologie präsentiert. Angestrebt war auf dieser Grundlage zweitens eine vertiefte Auseinandersetzung mit Simmels soziologischem Hauptwerk, die dessen Systematik und Struktur, dessen Feinheiten und dessen Vielfalt nach Möglichkeit gründlicher erschließen helfen sollte, als das bis dato der Fall war. Drittens und vor allem aber sollte die Tagung prüfen, was von der Simmelʼschen Soziologie ‚bleibt‘, was an ihr – immer noch oder erneut – zu entdecken ist, was an ihr historisch geworden ist und was sich an ihr andererseits für den aktuellen Theorie- und Empiriebetrieb des Faches als stimulierend, als anschluss- und tragfähig zeigt. Es muss kaum hinzugefügt werden, dass damit die wesentlichen Ziele auch dieses Sammelbandes umschrieben sind, der aus der seinerzeitigen Tagung heraus entstanden ist. Die folgenden einleitenden Darlegungen12 sind in der Sache vor allem um die beiden erstgenannten Zielsetzungen bemüht. Sie verzichten, wie schon hier gesagt sei, auf eine Darstellung der Rezeptionsgeschichte.13 Sie verzichten ebenfalls weit-
12 Sie folgen, erheblich erweitert und ausgebaut, dem vom Verfasser für die Bielefelder Tagung vorgelegten Aufsatz: Georg Simmels „große“ Soziologie (1908). Einige Überlegungen anläßlich des bevorstehenden 100. Geburtstags, in: Simmel Studies 17 (2007), 539; hingewiesen sei an dieser Stelle auch auf den materialreichen und ergänzenden Beitrag von Gert Schmidt, Georg Simmels Projekt (s)einer Soziologie – aus den Briefen gelesen, in: Simmel Studies 19 (2009), 110-143. 13 Für die besonders wichtige nordamerkanische Rezeptionsgeschichte sei aber auf den Beitrag von Guenther Roth in diesem Band verwiesen.
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gehend darauf, den Weg der Simmelʼschen Soziologie innerhalb der internationalen oder auch der speziell deutschen Entwicklung des Faches um 1900 nachzuzeichnen. Sie können das aber guten Gewissens tun, denn schon das erwähnte zweite „Georg Simmel-Kolloquium“ von 1985 war in Gänze dem Verhältnis Simmels zu den „frühen Soziologen“ gewidmet. Vor allem aber: Cécile Rol hat jüngst in einem Sammelband, der ebenfalls Bezug nimmt auf die „100 Jahre“ des Vorliegens der Simmelʼschen Soziologie, einen wesentlichen Beitrag zur ‚frühen Soziologie‘ vorgelegt. Hier wird Simmels soziologisches Engagement im Zuge der Institutionalisierung der Disziplin (1893-1913) detailliert nachgezeichnet; der Beitrag hat obendrein den Vorzug, sich auf die einstweilen noch unpublizierte Korrespondenz zwischen Simmel und René Worms stützen zu können.14 Gelegentliche Berücksichtigung sollen im Folgenden allerdings einige zeitgenössische Reaktionen auf Simmels Soziologie finden, zumal die fragmentarische von der Hand Max Webers.15 Im Übrigen aber fehlt es den Beiträgen, die in diesem Band versammelt sind, wahrhaftig nicht an Darlegungen, die das Simmelʼsche Gedankengut im Allgemeinen wie im Einzelnen auch in seinem zeitgenössischen Kontext verhandeln. Zwei Schritte gilt es im Zuge der einleitenden Überlegungen zu tun, die den Beiträgen dieses Bandes vorangestellt sind: In einem ersten und kürzeren Schritt (III.) hat es um einige Characteristica der Simmelʼschen Soziologie als Buch und als wissenschaftliches Werk zu gehen. Das Buch ist bekanntlich von enormem Umfang, es weist eine Kapitelfolge auf, die durchaus nichts Zwingendes hat und die obendrein mit einer Vielzahl von Exkursen angereichert ist; auch kommt es, zumal wenn man die Aufmachung und Ausstattung von 1908 vor Augen hat, dem Leser wenig entgegen. So scheint es zunächst angebracht, den Blick auf verschiedene zumal ‚formale‘ Eigentümlichkeiten des Buches zu richten. Von Beginn an hat man es nicht nur als ‚schwergewichtig‘ und unübersichtlich empfunden, sondern ihm auch in der Sache einen „Hang zum Systemlosen“, geradezu zur ‚Unordnung‘ attestiert.16 Gegenläufig dazu ist es dem zweiten und größeren Schritt (IV.) dieser Einleitung darum zu tun, einige Stichworte zur Systematik wie zur Vielschichtigkeit des Werks zu formulieren und zusammenzustellen; es sollen, um es in Simmels eigener 14 Cécile Rol, Die ‚Soziologie‘, faute de mieux. Zwanzig Jahre Streit mit René Worms um die Fachinstitutionalisierung (1893-1913), in: Dies., Christian Papilloud (Hg.), Soziologie als Möglichkeit. 100 Jahre Georg Simmels Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Wiesbaden 2009, 367-400. 15 Max Weber, Georg Simmel als Soziologe und Theoretiker der Geldwirtschaft; das Fragment, das mit einem fulminanten, über eine dreiviertel Seite sich hinziehenden (gleichwohl ‚störungsfrei durchlesbaren‘) Satz beginnt, ist abgedruckt in: Simmel Newsletter 1 (1991), 9-13. 16 Das Buch spricht gelegentlich selbst in entsprechender Weise über sich; etwa GSG 11: 31.
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Sprache zu sagen, einige ‚Linien‘ durch das Werk ‚gelegt werden‘, dabei nach Möglichkeit solche, die er selbst im Sinn hatte und die er in den Eingangsüberlegungen des Buches angesprochen und mitgeteilt hat. Es wird auf die Art einerseits mehr an ‚Ordnung‘ zum Vorschein kommen, als es den Textmassen auf den ersten Blick anzusehen ist. Andererseits aber bieten sich von den besagten Stichworten her Wege und Zugänge zu den vielfältigen Beiträgen an, die in diesem Band versammelt sind. Auch in dieser Hinsicht gilt es, Linien zu ziehen. Zu den wesentlichen Aufgaben dieser Einleitung und zumal des Abschnitts IV gehört es damit, die Beiträge, die der Sammelband enthält zu annoncieren und ansatzweise zu kontextuieren. Der Band will Simmels soziologische Leistung und fortgeltende Besonderheit in der erforderlichen Breite und Vielseitigkeit zur Sprache bringen und würdigen. Seine Autoren sind allesamt bemüht, reichlich zu schöpfen aus dem nach wie unausgeschöpften Brunnen des soziologischen Ideenreichtums Simmels, diesen (wieder) fruchtbar zu machen bzw. fruchtbar zu halten. Das Bemühen ist zugleich, dies Ideengut an das heranzuführen, was in der soziologischen Theorien- und Forschungslandschaft aktuell verhandelt wird und für intellektuelle Unruhe sorgt. Dass dies Bemühen wiederholt an die Grenzen stößt, die Simmel seiner Soziologie auferlegt hat, ist unvermeidlich. Die Herausgeber dieses Bandes schätzen sich glücklich, dass es gelungen ist, in solcher Reichhaltigkeit Arbeiten zusammenzubringen, die sich nicht nur auf Georg Simmel eingelassen haben, sondern die sich auf einem ‚intellektuellen Niveau‘ mit dessen soziologischer Hinterlassenschaft auseinandersetzen, das dieser, wie wir glauben, adäquat ist. Es darf an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass einige der Vorträge, die während der ZiF-Tagung im Juni 2008 gehalten und debattiert worden sind, den Weg zur Publikation in diesem Band nicht gefunden haben. Dies gilt bedauerlicher Weise für den stimulierenden Vortrag, den Jürgen Kaube zum Thema „Eigentum als Mitteilung – Simmels Soziologie des Schmucks“ gehalten hat.17 Und es gilt leider auch für den Vortrag von Klaus Lichtblau zur Simmelʼschen Religionssoziologie. Dessen Part hat für diesen Band dankenswerter Weise Austin Harrington übernommen. Neu hinzugestoßen ist als Autor dieses Bandes außerdem Martin Petzke mit seinem Aufsatz zur Differenzierungsthematik, der den Blick zugleich auf Wilhelm Dilthey richtet. Der Beitrag von Guenther Roth hat, anders als geplant, als Vortrag leider nicht stattfinden können; er lag den Bielefelder Tagungsteilnehmern aber rechtzeitig vor. Alle anderen Beiträge des Bandes stellen Ausarbeitungen dessen vor, was seinerzeit vorgetragen und lebhaft diskutiert worden ist.
17 Dazu, in Berührung mit dem Vorgetragenen Kaubes Überlegungen zu Tätowierung und Piercing in ders., Otto Normalabweicher. Der Aufstieg der Minderheiten, Springe 2007, 33ff., wo man dann auch auf ein Simmelzitat stößt: „Man schmückt sich für sich und kann das nur, indem man sich für andere schmückt“.
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III. G EORG S IMMELS ‚ GROSSE ‘ S OZIOLOGIE Georg Simmels Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung erschien „in der ersten Juni-Woche 1908“ (im Verlag von Duncker und Humblot, Leipzig); es erschien als ein, mit Wilhelm Windelband gesprochen, „Wälzer von 775 Seiten“ (GSG 11: 904f.),18 bestehend aus zehn umfänglichen Kapiteln und dreizehn diesen implantierten Exkursen. Beigegeben ist dem Buch ein kurzes Vorwort, ferner das Kapitelverzeichnis sowie das ans Ende gestellte ‚Materienverzeichnis‘. Man darf es ein leserunfreundliches und ‚in die Breite gegangenes‘ Buch nennen. Ganz und gar nicht ist es ein Werk ‚aus einem Guss‘. Es greift, was der Autor aber (mit einer Ausnahme) nirgendwo mitteilt, auf ältere Textstücke seit 1890 zurück. Simmels soziologische Produktion hatte seit Ende 1896 eine „zukünftige Soziologie“ (als Buchvorhaben) vor Augen19, damit in der Tendenz jenes voluminöse Buch, das dann 1908 erschienen ist (ebd.: 884). Simmel hat 1908 rückblickend geäußert, dass „die Arbeit daran sich durch fünfzehn Jahre hingezogen“ habe (GSG 22: 619). Man wird die Soziologie so gesehen auch eine große Kompilation nennen dürfen. Bemerkenswert ist aber die ‚kumulative Präexistenz‘ des Simmelʼschen Buches im American Journal of Sociology. Es ist die schon erwähnte Verbindung Simmels zu Albion Small, die das ermöglicht hat; nicht zuletzt war es dessen Übersetzungsarbeit. Bis 1908 erschienen – von 1896 an und zu jeweils wesentlichen Teilen – fünf der großen Kapitel der Soziologie im AJS. Small drückt es dort in seiner kurzen Rezension der Simmelʼschen Soziologie eher zurückhaltend aus: „Readers of this Journal have already seen forestudies for portions of several of the chapters“.20 Und 1910 war dann auch das komplette Eingangskapitel im AJS publiziert. Es erschien zweigeteilt: zunächst „The Problem of Sociology“ (1909), dann im Folgejahr „How is Society Possible?“ (GSG 18, 465-497; 498-518). Der seit 2008 vorliegende Band 18 der Gesamtausgabe, der die englischsprachigen Veröffentlichungen Simmels bietet, besteht zum größeren Teil aus dem Material der Soziologie.21 Und so kann es
18 Nimmt man das Materienverzeichnis am Ende hinzu, so kommt man auf einen Umfang von 782 Seiten. 19 Und das teilen zumal die Untertitel der betreffenden Publikationen wiederholt mit, etwa Zur Philosophie der Herrschaft. Bruchstück aus einer Soziologie (GSG 8: 142-179), desgleichen Der Mensch als Feind. Zwei Fragmente aus einer Soziologie, GSG 8: 335-343. 20 Albion W. Small, in: American Journal of Sociology 14 (1908/09), 544f.; hier wird zugleich deutlich ausgedrückt, dass Simmel mit seinem Soziologieverständnis in Europa wie in den USA isoliert dasteht. 21 Dazu der instruktive Editorische Bericht von David Frisby, GSG 18, 519ff. Simmel kommt zwischen 1896/97 und 1910 auf insgesamt neun im American Journal publizierte
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zumindest im Blick auf die Vereinigten Staaten nicht verwundern, dass Simmel, wie er selbst 1899 – mit Bedauern und einer Präferenz für die Philosophie – konstatierte, „im Ausland nur als Soziologe“ galt (GSG 22: 342). Man wird vor diesem Hintergrund aber sagen dürfen: Es ist kein Wunder und auch ‚kein Unrecht‘, dass es – der streckenweisen nordamerikanischen Simmelzuneigung zum Trotz – bislang eine geschlossene englische Übersetzung und Publikation der großen Soziologie nicht gibt.22 Einige der Exkurse sind bis heute nicht übersetzt. Das Buch, dessen publizistische Anfänge nach Chicago führen, hat im Englischen nach wie vor nur eine verstreute Textexistenz und ist hier als Einheit einstweilen nicht gut erkennbar. Kurt Wolff hat dies bereits 1960 genauer dokumentiert.23 Bemerkenswert früh dagegen, nämlich schon 1926/27, und zudem vollständig ist Simmels Soziologie ins Spanische übersetzt worden, und seit 1989 bzw. 1999 liegt die Soziologie nun auch in kompletter Übersetzung im Italienischen und im Französischen vor.24 In diesen beiden Sprachen hatte Simmel zu Lebzeiten, auch was den soziologischen Teil seines Oeuvres angeht, deutlich weniger publiziert als seinerzeit in den USA (vgl. GSG 19). Simmels Soziologie von 1908 heißt gemeinhin die „große“, und auch der vorliegende Band hält es bis in den Titel hinein mit dieser Redeweise. Es ist unvermeidlich, dazu ein Wort zu sagen. Simmel selbst hat im Jahre 1908 brieflich von „meiner grossen ‚Soziologie‘“ gesprochen (GSG 22: 619, auch 299); er dürfte sich damit auf das Volumen des Buches bezogen haben, hätte also auch von seiner ‚dicken‘ Soziologie sprechen können.25 Er könnte hier rückblickend auch die eher schmale Sociale Differenzierung von 1890 kontrastiv mit im Sinn gehabt haben. Es versteht sich im Übrigen, dass er jenes Buch, das dann späterhin den Beinamen der Aufsätze. Vergleiche, was Simmel und Albion Small angeht, (vom letzteren her) Gary Dean Jaworsky, Simmel in Early American Sociology: Translation as Social Action, in: International Journal of Politics, Culture and Society 8 (1995), 389-417. 22 Es gibt sie, wie der Verfasser dieser Zeilen nachträglich und mit Zerknirschung einräumen muss, nun doch, in zweibändiger Gestalt und von Hans Jürgen Helle eingeleitet: Georg Simmel, Sociology. Inquiries into the Construction of Social Forms, hg. u. übers. v. Anthony J. Blasi, Anton K. Jacobs, Matthew Kanjirathinkal, Leiden 2009. 23 Dazu seine Rezension der vierten Auflage der Soziologie, Berlin, Duncker & Humblot 1958, in: American Journal of Sociology 65 (1960), 519f., ferner auch das Nachwort, das Guenther Roth seinem Beitrag in diesem Bande angefügt hat. 24 Georg Simmel, Sociologia, übers. v. Giorgio Giordano, eingel. v. Alessandro Cavalli, Mailand 1989; Georg Simmel, Sociologie. Etudes sur les formes de la socialisation, übers. v. Lilyane Deroche-Gurcel u. Sibylle Muller, Paris 1999. Inzwischen liegt bemerkenswerterweise auch eine chinesische Übersetzung vor. 25 Otthein Rammstedt, Georg Simmels „Große Soziologie“ – und das uns geschuldete Missverständnis, in: Rol, Papilloud, a.a.O., 15-32.
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‚kleinen Soziologie‘ erhalten hat, zu dieser Zeit noch nicht im Kopf haben konnte: die Grundfragen der Soziologie von 1917, auf deren Entstehungsgeschichte Otthein Rammstedt unten näher eingeht. Die Soziologie von 1908 war – im Unterschied zu den beiden anderen soziologischen Werken – der Versuch, eine Disziplin neu zu erfinden, ihr exemplarisch ein neues Gesicht zu geben, und von dem „umfänglichen“ Buch konnte Simmel guten Gewissens (brieflich) sagen, dass sein „Prinzip keine Vorgänger hat“ (ebd.: 597). Wenn man hinzusetzt, dass dies Prinzip auch wenig an Nachfolgern gefunden hat, so man wird ‚die Größe‘, die dem Buch zu attestieren ist, als ‚einsame Größe‘ zu bezeichnen haben. Für eine ganz andere Blickrichtung auf die ‚Größe‘ der Simmelʼschen Soziologie steht in diesem Band der Beitrag von Kurt Röttgers; dies einerseits, weil er sie zur ‚großen‘ Philosophie, nämlich zu der Kants ins Verhältnis setzt, und andererseits, weil er sie – ihres Verzichts auf große Einheits- und ‚System-Architektur‘ wegen – im Anschluss an Jacques Derrida und Michel Serres zur ‚kleinen Wissenschaft‘ erklärt. Darüber wird die ‚Systemlosigkeit‘ gerade zur Tugend der „kleinen ‚großen‘ Soziologie“ Simmels. Man muss weiterhin wissen: Der ‚junge Simmel‘ war soziologisch außerordentlich engagiert, wofür – über seine internationale Publikationstätigkeit hinaus – nur auf das Vorhaben der Gründung einer „Zeitschrift für Soziologie“ verwiesen sei, das er seit 1893 für einige Jahre mit Nachdruck verfolgte.26 Auch seine Veröffentlichungen in dieser Zeit liegen durchaus auf dieser Linie. Folgt man nun dem Editorischen Bericht von Otthein Rammstedt, der der Soziologie in der Gesamtausgabe beigegeben ist (GSG 11: 877ff.)27 und in dem die wesentlichen Befunde zur Werkgeschichte mitgeteilt sind, so wird man sagen müssen: Georg Simmel ist auf der Lösung ‚sitzen geblieben‘, die er 1894 für „Das Problem der Sociologie“ gefunden und publiziert hatte – auf jener Lösung, um deren internationale Verbreitung er nachhaltig bemüht gewesen war und von deren sachlicher Tragfähigkeit er überzeugt war und blieb (GSG 5: 52ff.; 585ff.). Da, wo er mit erheblicher Resonanz gerechnet hatte und vor allem damit, andere würden sein Programm aufnehmen und umsetzen, musste er brieflich schon 1899 einräumen, dass es für ‚seine Soziologie‘ außer ihm selbst „keinen Vertreter in Deutschland“ gebe (GSG 22: 342). Geradezu widerwillig hat er deshalb seine große Soziologie selbst schreiben müssen.28 Und er 26 Dazu zuletzt und materialreich Rol, a.a.O., 369ff. 27 Dazu auch Rammstedt, a.a.O. 28 „Es bleibt mir also, aus diesem Grunde wissenschaftlicher Moral“, schreibt er 1898 brieflich, GSG 22: 298f., „nichts übrig, als im Lauf der Zeit eine große Soziologie zu schreiben, – von der übrigens die Arbeiten über Selbsterhaltung u. über Superiority etc. schon Abschnitte sind. Ich bräuchte das nicht zu thun, wenn andre das Problem aufgenommen hätten, wenn andre die Ausführung übernähmen, nachdem ich den Grundriß gezeichnet habe. Daß ich dies alles selbst thun soll, wird mir nur durch die Umstände oktroirt“.
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hat es dann über ein Jahrzehnt hin Stück für Stück getan und aus diesen kleineren und größeren Vorarbeiten den Bau des programmatischen Werkes errichtet. Als das Ende der Arbeit an der „umfänglichen Soziologie“ dann absehbar war, äußerte sich Simmel im Dezember 1907 brieflich vorwiegend skeptisch zu diesem Buch (ebd.: 597f.). Niemand kenne „die Schwächen u. Lücken dieses Buches“ besser als er selbst; „vielleicht ist es einer der Erstlinge, die geopfert werden.“29 Was das Betreten des Großbauwerks und die Orientierung darin angeht, so möchte ich im Folgenden fünf Anmerkungen machen, die sich überwiegend einer neuerlichen Durchsicht des Buches verdanken und die nicht zuletzt einige formale Besonderheiten von Simmels ‚Wälzer‘ im Blick haben. ‚Simmelphilologie‘ ist damit nicht beabsichtigt. Die Anmerkungen haben zunächst damit zu tun, dass die Simmelʼsche Soziologie von 1908, wie angedeutet, ein ungewöhnlich unübersichtliches Werk ist, eines, das dem orientierungsbedürftigen Leser wenig Hilfe an die Hand gibt, ihm sogar, wie man noch hören wird, zumutet, für die Herstellung des sachlichen Zusammenhangs des Ganzen selbst zu sorgen. Weitere Eigentümlichkeiten kommen hinzu, nicht zuletzt die, dass der Autor selbst durchblicken lässt, wie deutlich ihm die Kohärenzprobleme seines Buches vor Augen sind. 1.) Wie wenig die große Soziologie mit ihren Textmassen dem Leser entgegenkommt, ersieht man schon – nimmt man die dreizehn eingestreuten „Exkurse“ aus – an dem gänzlichen Verzicht auf Zwischenüberschriften innerhalb der zehn umfangreichen Kapitel des Buches. Auch in früheren Buchpublikationen hatte Simmel das so gehalten; immerhin aber war der Socialen Differenzierung, der Einleitung in die Moralwissenschaft sowie der Philosophie des Geldes ein angereichertes Inhaltsverzeichnis von der Art beigegeben gewesen, wie man es zeitgenössisch (in durchweg noch reicherer Austattung) auch von den Büchern Émile Durkheims her kennt. Das „Kapitelverzeichnis“ der Soziologie (GSG 11: 11) verzichtet darauf, und es tut das selbst da, wo die frühere Veröffentlichung der entsprechenden Kapitel bzw. Kapitelteile ein solches (vorangestelltes) Inhaltsverzeichnis durchaus enthalten hatte.30 Über die bewusst allgemein gehaltenen Kapitelüberschriften hinaus führt das ‚Kapitelverzeichnis‘ von 1908 nur die Titel der Exkurse auf. Von dem, was die Kapitel inhaltlich verhandeln, ist aus dem Verzeichnis fast nichts zu ersehen. Die großen Kapitel ihrerseits sind, was ihre innere Verküpfung angeht, locker komponiert. Lehrreich und charakteristisch ist gerade dazu die Fußnote, die Simmel seinem Kapitelverzeichnis anfügt; hier wird der Leser auf die Weitläufigkeit der im 29 Auch innerhalb der Soziologie fehlt es nicht an Bemerkungen, die in die gleiche Richtung gehen und etwa „den völlig bruchstückhaften und unvollständigen Charakter des Buches“ herausstellen, GSG 11: 31. 30 So im Falle von Zur Philosophie der Herrschaft. Bruchstück aus einer Soziologie von 1907, GSG 8: 142, und der Soziologie des Raumes von 1903, GSG 7: 132.
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Buch verhandelten Themen und Gegenstände vorbereitet: „Jedes dieser Kapitel“, heißt es da, „enthält vielerlei Erörterungen, die in mehr oder weniger weitem Abstand sein Titelproblem umgeben und, außer der Beziehung zu diesem, relativ selbständige Beiträge zum Problem des Ganzen bilden. Die Endabsicht und methodische Struktur forderte ebenso ihre Aufteilung unter wenige Zentralbegriffe, wie eine große Latitüde der unter diesen abgehandelten Einzelfragen. Nur sehr unvollkommen decken deshalb die Kapitelüberschriften den Inhalt, den vielmehr erst das Materienverzeichnis am Schluß angibt“ (ebd.). Deutlich instruktiver sind naturgemäß die Überschriften der eingestreuten Exkurse (als kürzerer Textstücke). Was schließlich die Reihenfolge der Kapitel angeht, so ist daran, von der Positionierung des Eingangskapitels abgesehen, eine ‚ordnende Hand‘, die sich (etwa) hinsichtlich der verschiedenen „Formen der Vergesellschaftung“ mit systematisierenden Absichten trägt, nicht erkennbar. Jedenfalls wird eine solche Absicht nicht verraten; die Abfolge der Kapitel bleibt unkommentiert. Das Nacheinander ist so ein austauschbares Nebeneinander, und dem Leser ist, was die Sequenzierung der Lektüre angeht, die Wahl gelassen.31 Das gilt umso mehr, wenn man von Simmel (ebd.: 31) hinsichtlich der ‚Kapitel seines Buches‘ vernimmt, sie seien „der Methode nach als Beispiele, dem Inhalte nach nur als Fragmente dessen gedacht, was ich für die Wissenschaft von der Gesellschaft halten muß.“ 2.) Damit zum „Materienverzeichnis“ (ebd.: 865ff.), das, wie man vorab erfährt, seine Gegenstände samt Seitenzahl nur im Falle der „ausführlicheren Erörterung“ anzeigt! Dies alphabetisch geordnete Verzeichnis scheint mir im Sinne eines Registers, das schnelle Zugriffe ermöglichen oder der Themenerschließung dienen soll, geradezu untauglich - und dies aus zwei Gründen: Einerseits will Simmels geschmeidige und variantenreiche Sprache auch für seine Soziologie nicht auf eine konsistente (registertaugliche) ‚Terminologie‘ hinaus. Fragt man etwa danach, wie und wo im Materienverzeichnis festgehalten ist, was man heute Simmels Programm einer ‚Mikrosoziologie‘ nennen könnte (ebd.:
31 Eine kleine Beobachtung dazu: Die ‚große‘ Soziologie übernimmt aus der Socialen Differenzierung von 1890 zwei Kapitel; sie baut diese allerdings erheblich aus und weist in einer Fußnote auf die ‚Teilentnahme‘ jeweils ausdrücklich hin, GSG 11: 456, 791. „Die Ausdehnung der Gruppe und die Ausbildung der Individualität“ ist in der Socialen Differenzierung das dritte Kapitel und vor der „Kreuzung socialer Kreise“ als fünftes Kapitel angesiedelt, GSG 2: 169ff., 237ff. In der Soziologie ist es umgekehrt: „Die Erweiterung der Gruppe und die Ausbildung der Individualität“ fungiert hier als das zehnte und Schlusskapitel, die „Kreuzung sozialer Kreise“ kommt dagegen schon als Kapitel VI zum Zuge. Allerdings hat das ‚Erweiterungskapitel‘ eine noch anzusprechende Sonderstellung, die die Stellung des Schlusskapitels rechtfertigt.
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33ff.),32 dann wird man dort unter dem Eintrag „Fließende und molekulare Vergesellschaftungen“ fündig – ein Titel, unter dem man jene ‚soziologische Mikroskopie‘ wohl schwerlich suchen würde. Vor allem aber: Mit dem Eintrag ist die Terminologie im Verhältnis zu der angegebenen Textpassage noch einmal variiert. Mein Eindruck ist, dass sich für die große Soziologie weniger der Weg vom Register zum Buchtext empfiehlt als vielmehr das Umgekehrte: Es hilft bei der Lektüre und der systematisierenden Texterschließung, wenn man sich begleitend oder im Nachhinein der für den Autor wichtigen „Tatsachen und Reflexionen“ (und der zugehörigen Begrifflichkeit) im Materienverzeichnis vergewissern kann. Dort findet man ja nicht nur dürre Stichworte, sondern ebensogut thesenhafte Zusammenhangsaussagen wie zum Beispiel: „Kosmopolitismus und seine Beziehung zum Individualismus“. Es könnte sich also erweisen, dass in die Erstellung dieses Verzeichnisses doch mehr Mühe und Sorgfalt geflossen ist, als man zunächst meint.33 Andererseits aber: Ganz entgegen der Logik eines Registers, das ja dem ‚Querleser‘ helfen will, bietet das Materienverzeichnis zu seinem jeweiligen Stichwort fast immer nur eine Seitenangabe; nur in ganz seltenen Fällen ist es anders. Und in diesem Sinne – also geradezu als Dementi von ‚Register‘! – ist der Hinweis zu verstehen, der dem Materienverzeichnis vorangestellt ist: „Die Seitenzahlen geben nicht jede Erwähnung des Gegenstandes, sondern nur den Beginn seiner ausführlicheren Erörterung an“ (ebd.: 865). Dies Verzeichnis ist also eher ein Inhaltsverzeichnis, wenngleich eines, das nicht nach der Seitenzahl, sondern alphabetisch geordnet ist. Mir scheint aber: Mit einer Sortierung nach der Seitenzahl wäre dem Leser viel besser gedient, und die Nöte der so wenig instruktiven Kapitelübersicht wären auf diese Weise zu heilen gewesen. Das aber legt die Umsortierung von Simmels Materienverzeichnis entsprechend den angegebenen Seitenzahlen nahe,
32 Simmel selbst spricht von „Mikroskopie“, GSG 11: 33; dazu in diesem Band den Beitrag von Jörg Bergmann. 33 Simmels Einträge im Materienverzeichnis sind im Übrigen nicht notwendig identisch mit den Angaben, wie sie die Inhaltsverzeichnisse enthalten, die Simmel gelegentlich den Erst- und Aufsatzpublikationen des jeweils gleichen Textmaterials vorangestellt hat. Ein Beispiel aus Simmels Herrschaftssoziologie: Die unter Wechselwirkungsvorzeichen geradezu aufregende Passage in GSG 11: 246ff. hat im Materienverzeichnis den Eintrag „Übergeordnetheit als Charakter der Gesamtgruppe und als absolute Qualität“; im Inhaltsverzeichnis des Aufsatzes Zur Philosophie der Herrschaft, GSG 8: 142, lautet die Angabe: „Fälle eines allgemeinen Superioritätscharakters der Gruppe, ohne korrelative Unterordnung“. Die letztere Angabe scheint mir die präzisere. Für die Fußnote GSG 11: 248f. sieht (nur) das Materienverzeichnis einen eigenen Eintrag vor: „Pairtum“.
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und man gewinnt auf die Art das so hilfreiche erweiterte Inhaltsverzeichnis.34 Frederic Schuft, Student in meinem Simmel-Seminar im Sommersemester 2008, hat die entsprechende Neuordnung vorgenommen und seinen Kommilitonen zugänglich gemacht, und auch alle Autoren dieses Bandes haben davon Gebrauch machen können. Wir haben das Materienverzeichnis in dieser veränderten Gestalt auch in den Anhang dieses Bandes aufgenommen. 3.) Fast immer lohnt (nicht nur für Liebhaber und Philologen) das, was die Gesamtausgabe samt Variantenverzeichnis jetzt so leicht möglich macht: eine Lektüre der Soziologie von 1908, die die Erstfassung der jeweiligen Texte mehr oder minder gründlich mit im Blick hat. Dabei kommt es nicht zuletzt auf die Naht- und Schnittstellen an, und man kann dann darüber staunen, wie nahtlos etwa die so geschlossen wirkende „Soziologie der Konkurrenz“ von 1903 (GSG 7: 221-246) in das „Streit“Kapitel integriert ist, dort an die Eifersuchtsthematik angeschlossen (GSG 11: 323ff.). Oder es fällt auf, dass der Einleitungsteil der „Selbsterhaltung der socialen Gruppe. Sociologische Studie“ von 1898 (GSG 5: 311-372), der sich sich nachdrücklich in Sachen ‚Soziologie‘ und ‚Gesellschaft‘ äußert, im „Selbsterhaltungs“Kapitel der Soziologie (GSG 11: 556-686) komplett getilgt ist; Simmels Soziologieverständnis von 1908 setzt einige Akzente anders und ist im ersten Kapitel zusammengefasst. Und natürlich lohnt es, wie Martin Petzke es im vorliegenden Band tut, in die beiden Kapitel „Die Ausdehnung der Gruppe und die Ausbildung der Individualität“ sowie „Die Kreuzung socialer Kreise“ aus der Socialen Differenzierung von 1890 (GSG 2: 169-198, 237-257) mit den beiden erheblich ausgebauten Kapiteln (fast) gleichen Namens in der Soziologie (GSG 11: 456-511, 791-863) zu vergleichen. Im Übrigen sieht Simmel nur in diesen beiden Fällen Anlass, Auskunft zu geben über die teilweise Herkunft seiner Kapitel aus früher schon Publiziertem. Die Simmelʼsche Soziologie von 1908 ist aber nicht nur das große Auffangbecken für eine Vielzahl schon veröffentlichter kleinerer soziologischer Arbeiten und für ihre Zusammenfügung zu zehn Kapiteln von jeweils ‚großer Latitüde‘. Sie ist, Simmelʼsch gesprochen, in einigen Fällen auch ‚Durchgangspunkt’, etwa auf dem Wege hin zu den Grundfragen der Soziologie, also der ‚kleinen Soziologie‘ von 1917. Dem Verhältnis dieser beiden Buchpublikationen geht in diesem Band Otthein Rammstedt detailliert nach. Hier sei unter Hinzunahme der Socialen Differenzierung von 1890 nur auf die Thematik des ‚sozialen Niveaus‘ – Stichwort auch im Materienverzeichnis – aufmerksam gemacht, dem in der Socialen Differenzierung das zweite Kapitel gewidmet ist (GSG 2: 199-236). Dieses Kapitel ist (mit Bourdieu gesprochen) der ‚Distinktionsthematik‘ gewidmet; es enthält zugleich, worauf noch zurückzukommen sein wird, (mit Blick auf‘s niedrigere Niveau hin) sehr we34 Es ist durchaus vorstellbar, dass Simmel, die paginierten Druckfahnen durchgehend, das Verzeichnis zunächst auch in dieser Form hergestellt und dann erst in die alphabetische Ordnung überführt hat.
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sentliche Überlegungen zur Massenproblematik. Diesen Faden nimmt Simmel, verknappt, im „Selbsterhaltungs“-Kapitel der großen Soziologie wieder auf (GSG 11: 617ff.) und breiter dann noch einmal in den Grundfragen von 1917, dort wieder als eigenes Kapitel (und zugleich als „Beispiel der Allgemeinen Soziologie“, GSG 16: 88ff.). In allen drei Passagen wird auf das Schillersche Epigramm Bezug genommen: „Jeder, sieht man ihn einzeln, ist leidlich klug und verständig. Sind sie in corpore, gleich wird euch ein Dummkopf daraus.“ 1908 und 1917 wird dann aber auch die ‚Gegenrede‘ von Carl Maria von Weber hinzugenommen, der über das große Publikum sagt: „Der Einzelne ist ein Esel und das Ganze ist doch Gottes Stimme“. Den Widerspruch löst Simmel so auf, dass er das letztere „die Erfahrung eines Musikers“ nennt, „der an das Gefühl der Masse appelliert, nicht an ihre Intellektualität“ (GSG 11: 619).35 Andererseits sei schon hier die Frage aufgeworfen: welche (erklärtermaßen) soziologischen Aufsätze und Arbeiten aus der Zeit vor 1908 haben in das so vieles integrierende Großwerk nicht Eingang gefunden und warum nicht? Ein besonders auffälliges Beispiel dafür ist der Aufsatz „Zur Soziologie der Religion“ von 1898 (GSG 5: 266-286), von dem noch zu sprechen sein wird. Der Frage nach den Gründen von dessen Nichtberücksichtigung hat sich in diesem Band Austin Harrington angenommen; der Beitrag geht der religiösen Frage bis ins Spätwerk Simmels nach. Auch an die „Soziologische Aesthetik“ von 1896 (ebd.: 197-214) ließe sich denken. Diesen Faden auffälliger ‚Lücken‘ in der Soziologie nimmt Ingo Meyer auf, der zeigen kann, dass die Engführung von soziologischer und ästhetischer Reflexion, wie sie etwa das Schlusskapitel der Philosophie des Geldes so bestechend vornahm, dem Simmel von 1908 schon nicht mehr überzeugend schien. Überhaupt ist auffällig, wie sehr die ‚große‘ Soziologie Wert auf Abstand zur Philosophie des Geldes legt. Das Materienverzeichnis sieht das Stichwort „Geld“ nicht vor; nur die „Geldwirtschaft“ ist einmal aufgeführt, nicht als solche, sondern bezogen auf ihre Korrelation mit Individualisierung und gesellschaftlichem Größenwachstum: „in ihrer Bedeutung für das Zusammen von persönlicher Unabhängigkeit und Erweiterung des Wirtschaftskreises“ (GSG 11: 868). Die ‚ausführliche Erörterung‘ dieses Zusammenhangs findet sich im Schlusskapitel. 35 Auffällig ist aber, worauf schon Steinhoff, a.a.O., 222ff., aufmerksam gemacht hat, dass ein zentrales theoretisches Argument, das in der Einleitung der Socialen Differenzierung vorgetragen wird, von dem aber die Soziologie schweigt, 1917 in den Grundfragen der Soziologie, GSG 16: 63ff., wiederaufgenommen wird. Es geht um die Kritik einer Kritik, die den Gesellschaftsbegriff „vom Standpunkte des individualistischen Realismus“ aus attackiert, GSG 2: 111, 126ff.; solche Kritik bringt aber diesen Realismus, der nur die Individuen als „reale Wesen“ gelten lassen will, selbst in Schwierigkeiten. Auch die Individuen, so der Einwand, sind synthetische Einheiten und „keineswegs letzte Elemente, ‚Atome‘“ der sozialen Welt.
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4.) Simmel wählt seine Stoffe und Illustrationen bekanntlich aus den allerverschiedensten „Gebieten des geschichtlich-gesellschaftlichen Lebens“, und auf die Heterogenität der neben- und nacheinander behandelten Inhalte kommt es für seine ‚formale‘ Soziologie als „Möglichkeit einer neuen wissenschaftlichen Abstraktion“ (ebd.: 65, 31) gerade an. Ihre Tendenz ins Überhistorische hat dieser Soziologie bekanntlich Erhebliches an Kritik eingetragen. Die Latitüde der Simmelʼschen Überlegungen schloss allerdings – im Blick auf die „ruhelose Evolution der gesellschaftlichen Formen“ – gelegentliche historische Entwicklungsskizzen keineswegs aus. Eine besonders eindrucksvolle Skizze dieser Art bietet etwa der „Exkurs über die Überstimmung“, angesiedelt innerhalb der Herrschaftssoziologie (ebd.: 218ff.). Er führt dem Leser die Unwahrscheinlichkeit der langfristigen Durchsetzung des Mehrheitsprinzips, das auch die dissentierende Minderheit bindet, vor Augen, und zeigt historisch auf, dass „diese Form [...] keineswegs immer so selbstverständlich gewesen“ ist, „wie sie uns heute vorkommt“ (ebd.: 218).36 Der soziologische Problemhorizont aber, vor dem die besagte Entwicklung nachgezeichnet wird, ist der tiefgreifende Widerspruch zwischen den selbständigen Individuen und ihrem jeweiligen Fürsichsein hier und den sozialen Ganzheiten dort, an denen doch impliziert ist, dass die Individuen in ihnen bloß Teil und Glied sind.37 Dass Simmel für sein vielfältiges Historisieren und für das Einbeziehen der verschiedensten Disziplinen (von der Biologie bis zur Ethik) auf entsprechend vielfältiges „historisches Material“ und auf unterschiedlichste Literaturen zurückgegriffen hat, versteht sich. Allerdings: auch für das große Werk der Soziologie gilt, dass es seine Quellen nicht nennt. Simmel, der sich nur in seinen frühen Jahren auf das Rezensieren von Büchern eingelassen hat (GSG 1: 443f.), hat es ganz allgemein vermieden, über die Herkunft seiner Ideen, Gedanken und Aussagen zu informieren, also über ihre Zurechenbarkeit auf Gelesenes (bzw. auf andere Autoren) Rechenschaft zu geben, was dann im Nachhinein hinsichtlich des „Was hat er woher?“ umso neugieriger macht.38 Mit anderen Worten: Simmel – „der Soziologe und 36 Anmerkungen dazu bei Hans-Joachim Lieber, Peter Furth, Zur Dialektik der Simmelʼschen Konzeption einer formalen Soziologie, in: Gassen, Landmann, a.a.O., 39-59, hier 52ff. 37 Es findet sich an dieser Stelle, GSG 11: 218, bezüglich der Individuen als „in sich geschlossenen Einheiten“ der berühmte Satz: „Man kann doch nicht ein Gemälde aus Gemälden herstellen; es entsteht doch kein Baum aus Bäumen; das Ganze und Selbständige erwächst nicht aus Ganzheiten, sondern aus unselbständigen Teilen. Ganz allein die Gesellschaft macht das Ganze und in sich Zentrierende zum bloßen Gliede eines übergreifenden Ganzen.“ 38 Wichtige Arbeit hinsichtlich der Aufhellung der Quellenlage ist, auch was die Soziologie von 1908 angeht, speziell religionsbezogen geleistet bei Volkhard Krech, Georg Simmels Religionstheorie, Tübingen 1998, 175ff.
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Theoretiker“ des modernen Individualismus39 – hat es mit der Aneignung des Gedankenguts anderer ganz ebenso gehalten, wie er selbst nach seinem Tode intellektuell fortzuleben gedachte: nach der ‚farblos-anonymen‘ Art des Geldes, das, in andere Hände gelangt, über seine Provenienz nichts mehr verrät. Es ist aber noch mehr Anlass zu staunen. Klaus Christian Köhnke sagt es so: „Georg Simmel befolgte nicht – und kannte vielleicht gar nicht – die auch zu seiner Zeit bereits weitgehend durchgesetzten formellen Anforderungen an wissenschaftliches Arbeiten. Er hat seinen Zitaten nicht eine einzige korrekte bibliographische Angabe beigegeben“ (ebd.: 444).40 Der ‚großen‘ Soziologie ist nun im Eingangskapitel eine längere Fußnote beigegeben, die sich zu den Verpflichtungen gegenüber dem ‚historischen Material‘ äußert, „dessen diese Untersuchungen sich bedienen“ (GSG 11: 64f.). Sie hat, wovon noch sprechen sein wird, mit einigen ihrer Sätze – in Sachen wissenschaftliche Standards – wohl geradezu Anstoß erregt. Den normativen Anforderungen des Wissenschaftsbetriebs wird in der Fußnote in einem Punkt („Stand der Forschung“) aber sehr wohl die Reverenz erwiesen, allerdings auf ‚Nichterfüllung‘ hin. Simmel macht hier ‚mildernde Umstände‘ für sich geltend: „die Erstreckung“ der Materialsammlung „durch eine lange Reihe von Jahren“ mache es begreiflich, „daß nicht jede Tatsache noch unmittelbar vor der Veröffentlichung des Buches mit dem momentanen Stande der Forschung konfrontiert werden konnte“ (ebd.). 5.) Wenn es nun in den weiteren Darlegungen dieser Einleitung darum zu gehen hat, Linien durch das Werk zu legen und seine Leitideen zur Sprache zu bringen, so ist es unvermeidlich, auf das kurze „Vorwort“ zu sprechen zu kommen, das Simmel der großen Soziologie vorangestellt hat.41 An dessen Ende nämlich erhebt er eine bemerkenswerte „Forderung“, eine Forderung an den Leser, die diesen anhält, für den sachlichen Zusammenhalts des Buches selbst zu Sorge zu tragen: „Die Forderung an den Leser, diese eine Fragestellung, wie das erste Kapitel sie entwickelt, ununterbrochen festzuhalten, – da sonst diese Seiten als eine Anhäufung zusammenhangloser Tatsachen und Reflexionen erscheinen könnten, – ist das einzige, was dem Buch vorangestellt werden muß“ (ebd.: 9). Hier wird im Hinblick auf die Einheit und den Zusammenhang des Werks der Leser in die Pflicht genommen und mit allem Nachdruck auf das Eingangskapitel verwiesen. Das Buch hält nur zu39 Den Höhepunkt der Individualismusreflexion bildet das Kapitel „Individuum und Gesellschaft in Lebensanschauungen des 18. und 19. Jahrhunderts“ in der ‚kleinen‘ Soziologie von 1917, GSG 16: 122ff.; dazu Hartmann Tyrell, ‚Individualismus‘ vor ‚der Individualisierung‘. Begriffs- und theoriegeschichtliche Anmerkungen, in: Wilhelm Gräb, Lars Charbonnier (Hg.), Transformationsprozesse auf dem religiösen Feld in interdisziplinärer Perspektive, Berlin 2008, 59-86. 40 Man lese dort, in Köhnkes Editorischem Bericht, GSG 1: 443f., unbedingt auch weiter! 41 Auf das Vorwort macht auch Steinhoff, a.a.O., 254, aufmerksam.
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sammen, wenn man es konsequent von diesem her liest. Man darf hinzufügen: Auch in Simmels letztem Buch, seiner Lebensanschauung von 1918 beansprucht das zuletzt, ja im Nachhinein geschriebene Eingangskapitel dieselbe Funktion, den Zusammenhalt des Ganzen her- und sicherzustellen.42 Zur Bauweise von Simmels großer Soziologie gehört also wesentlich das Gegenüber von Eingangskapitel hier und den ihm folgenden (unter bestimmte ‚Zentralbegriffe‘ gestellten) „Einzeluntersuchungen“ dort (ebd.: 62). Die hier folgenden Überlegungen wollen nun versuchen, in zehn Abschnitten einiges von dem sichtbar zu machen, was ‚den Wälzer‘ zusammenhält. Und es ist dabei ihr Bemühen, der Instruktion des Autors zu folgen, sich also führen zu lassen von den Darlegungen des Eingangskapitels „Das Problem der Soziologie“. Im Blick zu behalten ist dabei auch, dass das Buch, wie sein Autor sagt, „ein allererster Anfang ist, sich an keine Tradition u. bestehende Technik anschließt“ und anschließen kann (GSG 22: 598f.).
IV. W ECHSELWIRKUNG – F ORMEN DER V ERGESELLSCHAFTUNG – ‚F ÜRSICHSEIN ‘ VERSUS ‚V ERGESELLSCHAFTETSEIN ‘ 1. Eine ‚bescheidene‘ Soziologie Georg Simmels soziologisches Engagement ist wohl zu keiner Zeit lebhafter gewesen als in der der Mitte der 1890er Jahre. Mit seiner Lösung des Problems der Soziologie verband sich zu dieser Zeit, wie schon erwähnt, das Projekt einer „Zeitschrift für Soziologie“. An seinem Werben für dieses Projekt, wie es seit 1893 in einer Reihe von Briefen zum Ausdruck kommt (ebd.: 83ff.), fällt nicht zuletzt zweierlei auf, das eine positiv, das andere negativ akzentuiert. Ein nachdrücklich positiver Akzent liegt auf der Internationalität des Vorhabens. An eine „internationale und polyglotte Vierteljahrsschrift“ war gedacht, und Simmel warb dafür, „die soziologischen Arbeiter“ der verschiedenen Länder aus ihrer Isolierung herauszuführen und ihnen ein gemeinsames Forum für ihre Wissenschaft zu offerieren, für
42 Hier wird es in einer Fußnote gesagt, die dem Beginn des zweiten Kapitels zugehört, GSG 16: 236, und die so schließt: „Das Entscheidende aber – das in den Einzelveröffentlichungen nicht hervortreten konnte – ist, daß sie nun alle von dem metaphysischen Lebensbegriff, den das 1. Kapitel darlegt, zusammengehalten sind und als Teile von dessen möglicher Entfaltung ihren letzten Sinn zeigen.“
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die „Erforschung der Gesellschaftsformen“ und die „Folgen der Vergesellschaftung überhaupt“ (ebd.: 86f., 83).43 Negativ äußert sich Simmel dagegen in ‚praktisch-sozialpolitischer‘ Hinsicht; aus der Zeitschrift sollen „alle Probleme aktueller Sozialpolitik absolut ausgeschlossen bleiben“ (ebd.). Bei dieser Ausschließung ist es, auch was die große Soziologie angeht, geblieben; deren Kapitel VII „Der Arme“ widerspricht dem durchaus nicht. Was hier nun – soziologiebezogen – an der Ausschließung des ‚Sozialpolitischen‘ besonders ins Gewicht fällt, ist die Neutralisierung der Begrifflichkeit ‚des Sozialen‘. Die Simmelʼsche Soziologie fasst, was ihren Gegenstand angeht, ‚das Soziale‘ eben nicht im Sinne der ‚sozialen Frage‘ auf, und sie nimmt dem Begriff absichtsvoll jenen positiv-sozialen, etwa ‚solidarischen‘ Zuschnitt, der ihm in der Alltagssprache zugehört und zu dem – als seinem Gegenteil – auch die von Rede von ‚unsozialem‘ oder ‚unsolidarischem‘ Verhalten gehört. Der Soziologie Simmels sind Grausamkeiten und Ausbeutung, Konflikt und Streit ebenso ‚Vergesellschaftungen‘, wie es Liebe und Treue sind. Hier gilt ganz das Gleiche, was Max Weber später für seinen soziologischen Grundbegriff der ‚sozialen Beziehung‘ in Anspruch genommen hat: „Der Begriff besagt [...] nichts darüber: ob ‚Solidarität‘ der Handelnden besteht oder das gerade Gegenteil.“ 44 Solche sozialmoralische Neutralisierung versteht sich erst recht, wenn man Sozialität und Vergesellschaftung mit Simmel auf die Formel der „Wechselwirkung“ bringt, wovon dann im folgenden Abschnitt die Rede sein soll. Zunächst aber zur programmatischen Bescheidenheit der Simmelʼschen Soziologie! Eberhard Gothein hat in seinem bemerkenswerten, 1909 veröffentlichten Lexikonartikel „Gesellschaft und Gesellschaftswissenschaft“ den Ausgangspunkt der Soziologie Georg Simmels präzise charakterisiert, die Idee nämlich einer, wie man sagen darf, bescheidenen und kompatiblen Soziologie. Im Gefolge der Diltheyʼschen Soziologiekritik, die Comte und Spencer im Blick hatte, heißt es bei Gothein: „Es gehört zu den Verdiensten des bedeutendsten deutschen Soziologen, G. Simmel, jene übertriebenen Ansprüche der Soziologie, mit denen sie sich als rechte 43 Dazu auch Rol, a.a.O., 369ff.; vergleiche zu den 1890er Jahren als einem Jahrzehnt der selten wieder erreichten Internationalität der Soziologie, von der Religionssoziologie her, Hartmann Tyrell, Von der ‚Soziologie statt Religion‘ zur Religionssoziologie, in: Volkhard Krech, Hartmann Tyrell (Hg.), Religionssoziologie um 1900. Würzburg 1995, 79127, hier 94ff.; auch Friedrich H. Tenbruck, Deutsche Soziologie im internationalen Kontext. Ihre Ideengeschichte und ihr Gesellschaftsbezug, in: Günther Lüschen (Hg.), Deutsche Soziologie seit 1945: Entwicklungsrichtungen und Praxisbezug, Opladen 1979, 71107, hier 74ff. 44 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 41973, 568; treffend zur Sache auch André Kieserling, Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung: Beiträge zur Soziologie des sozialen Wissens. Frankfurt/M., 293ff.
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Erbin der Geschichtsphilosophie erweist, auf ein bescheideneres Maß zurückgeführt zu haben“.45 Vor allem aber geht es um ‚Bescheidenheit‘ im Verhältnis der Soziologie zu anderen Disziplinen. Hier sind es zumal die umfassenden Ambitionen des Gesellschaftsbegriffs gewesen, die (auch) seinerzeit für viele Soziologen der Bescheidung im Wege standen.46 Simmels Soziologie soll zwar ihr eigenes, grenzbestimmtes Terrain haben und will sich disziplinär unterscheiden.47 Aber sie usurpiert nichts für sich, will fremde Bestände nicht antasten und schon gar nicht intellektuelle Großreiche schaffen. Ihr ist es nachdrücklich darum zu tun, sich dem bestehenden Disziplinenspektrum einzufügen: „Die Soziologie“, sagt Gothein, „soll nach ihm nicht eingreifen in das Stoffgebiet bestehender Wissenschaften“.48 Für das Wie dieser Einfügung war die Lösung teilweise schon 1890 in der Socialen Differenzierung gefunden:49 Die Soziologie wird dort als Wissenschaft „zweiter Potenz“ charakterisiert; sie ist eine Art ‚weiterverarbeitender‘ Disziplin und „verfährt mit den Ergebnissen der Geschichtsforschung, der Anthropologie, der Statistik, der Psychologie wie mit Halbprodukten“ (GSG 2: 116). Der Standpunkt, demzufolge die Soziologie „nur eine neue Linie durch Tatsachen legt, die als solche schon durchaus bekannt sind“, wird dann auch in den Eingangsüberlegungen der großen Soziologie bezogen (GSG 11: 13ff., 17). Am Anfang stehen also das Pro45 Eberhard Gothein, Gesellschaft und Gesellschaftswissenschaft, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, hg. v. J. Conrad u.a., Jena 31909, Bd. 4, 680-706, hier 683; zu Simmels soziologischer Distanzierung „gegen die Philosophie der Geschichte“ nur GSG 5: 59ff.; zu Dilthey auch Hartmann Tyrell, Zur Diversität der Differenzierungstheorie. Soziologiehistorische Anmerkungen, in: Soziale Systeme 4 (1998), 119-149, hier 138ff. Wichtig zu Gothein im Verhältnis zu Dilthey, Simmel und Max Weber jetzt Hubert Treiber, Zwischen „Dichtung und Wahrheit“: Max Weber und das Heidelberger Gelehrtenkränzchen des „Eranos“ (1904-1908/9), in: Reinhard Achenbach, Martin Arneth (Hg.), „Gerechtigkeit und Recht üben“: Studien zur altorientalischen und biblischen Rechtsgeschichte, zur Religionsgeschichte und zur Religionssoziologie. Festschrift für Eckart Otto zum 65. Geburtstag, Wiesbaden 2009, 458-493, hier 471ff. 46 „In Deutschland und Nordamerika dagegen sind jene bescheidneren Theorien entstanden, die darauf verzichten, in einer Wissenschaft die Erkenntnis alles dessen zusammenzufassen, was sich je im Rahmen einer Gesellschaft abgespielt hat“ – so in Zur Soziologie der Familie von 1895, GSG 5: 75; 311ff. 47 GSG 11: 16: „Welches aber kann das eigne und neue Objekt sein, dessen Erforschung die Soziologie zu einer selbständigen und grenzbestimmten Wissenschaft macht?“ 48 Gothein, a.a.O., 683. 49 Grundlegend zur Frühgeschichte der Simmelʼschen Soziologie – unter Einbeziehung auch der zweibändigen Einleitung in die Moralwissenschaft von 1892/93, GSG 3/4 – Klaus Christian Köhnke, Der junge Simmel – in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen, Frankfurt/M. 1996, insbes. 397ff.
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blem der disziplinären ‚Umweltverträglichkeit‘ und seine Lösung, die die Soziologie auf Tatsachen verweist, die nicht nur ihr gehören, denen sie aber eine spezifische Seite abgewinnt, aus der ihr dann die disziplinäre Einheit und Identität zuwachsen sollen. Im Übrigen liegt Simmel daran, dass die Bildung einer solchen Disziplin „zweiter Potenz“ und höherer Abstraktheit in wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht durchaus nichts Neues sei und verweist dafür etwa auf das Verhältnis der vergleichenden Sprachwissenschaft zu den Philologien (ebd.: 16f.). André Kieserling macht in seinem Beitrag zu diesem Band darauf aufmerksam, dass für die (nach der Ära von Comte und Spencer) neuansetzende Soziologie vor und um 1900 die ‚soziologische Sache‘ unvermeidlich verquickt war mit der Abgrenzung und Unterscheidung des Faches. Ein klassisches Textstück dafür ist (auch) Durkheims Essay „La sociologia e il suo dominio scientifico“ aus dem Jahre 1900, ein Text, der gleich zu Beginn die Auseinandersetzung mit der Soziologie Georg Simmels sucht, deren Kompatibilitätsanliegen allerdings nur unzureichend registriert.50 Bedenkt man nun, wie sehr dieses Anliegen den Ausgangspunkt von Simmels soziologischer Konzeption bildete, dann liegt fast ein Moment von Tragik darin, dass dessen ‚weiterverarbeitende‘ Soziologie mit ihrer Freiheit, sich aus den „allerverschiedensten Wissensgebieten“ zu bedienen, in ihrer disziplinären Nachbarschaft durchaus keine Freunde fand, stattdessen auf Antipathien stieß. Man ahnt etwas von den Ursachen, wenn man sieht, dass Simmel – in der zuvor bereits erwähnten Fußnote (ebd.: 64f.) – hinsichtlich des ‚historischen Fallmaterials’, mit dem er arbeitet, zugespitzt sagen kann, es komme ihm letzten Endes „nur darauf an, daß diese Beispiele möglich, aber weniger darauf, daß sie wirklich sind“ (ebd.: 65). Bei Max Weber ist zu lesen, dass die Soziologie, wie Simmel sie verstand und betrieb, gerade unter ‚gewichtigen‘ Fachleuten der benachbarten Disziplinen auf Abneigung stieß.51 Solche, Simmelʼsch gesprochen, ‚Repulsion‘ nahm Weber als ‚soziales Datum‘, und seine Fragment gebliebene Auseinandersetzung mit Simmel sollte zu Teilen offenbar der Versuch werden, eine Erklärung zu finden für jene „an das Gehässige streifende Stimmung“, für den „Unterton von Animosität“ diesem gegenüber.
50 Émile Durkheim, Die Soziologie und ihr Wissenschaftsbereich, in: Berliner Journal für Soziologie 19 (2009), 164-180, hier 165ff. 51 Weber, Georg Simmel als Soziologe, a.a.O., 10f.; man liest da, „daß es auch solche ernst zu nehmende Gelehrte in den an Simmels soziologischen Arbeitsbezirk angrenzenden Disziplinen gibt, welche, wenigstens auf eine summarische Anfrage hin geneigt sind, Simmel als Gelehrten abzulehnen. Man kann bei Nationalökonomen geradezu förmliche Wutausbrüche über ihn erleben“.
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2. Wechselwirkung Am Anfang der Simmelʼschen Soziologie (ebd.: 15), so darf man sagen, steht „die Einsicht: der Mensch sei in seinem ganzen Wesen und allen Äußerungen dadurch bestimmt, daß er in Wechselwirkung mit anderen Menschen lebt“. Der solcherart an den Anfang gestellte Begriff von Wechselwirkung ist in seiner auf Kant zurückgehenden und über Dilthey zu Simmel führenden Geschichte in den letzten Jahren weitläufig erschlossen worden.52 Auch die Simmel voran liegende Soziologie hatte sich den Begriff zueigen gemacht, was insbesondere für Albert Schäffle galt, der ihn allerdings zusammenführte mit dem kommunikationsnahen Vokabular von „Mittheilung“ und „Verkehr“. Schäffle hat diese Begrifflichkeit zwar nicht übermäßig präzisiert, sie aber doch in einem explizit gemachten und ‚soziologisch-grundbegrifflichen‘ Sinne benutzt.53 Überhaupt ist ja – bis hin zum ‚Weltverkehr‘ als der zeitgenössischen Globalisierungsformel – der Verkehrsbegriff im 19. Jahrhundert (im Gefolge des englisch/französischen „commerce“) von einiger Prominenz, und er war durchaus ein Kandidat für den Begriffshaushalt der entstehenden Soziologie. Im „Exkurs über den schriftlichen Verkehr“ (ebd.: 429ff.) etwa, einem kommunikationstheoretisch bedeutsamen Text, taucht der Begriff auch in der Soziologie auf, tut es allerdings gerade nicht in terminologisch aufgewerteter Weise.54 Der Simmelʼschen Soziologie ist ‚die Wechselwirkung‘ (auch „Wechselbeziehung“) zugrunde gelegt: als ihr Grundbegriff, der ohne terminologische Zutaten auskommt und ohne Abstriche gilt.55 ‚Wechselwirkung‘ ist das, was Vergesellschaftung ausmacht und zustande bringt. Der Begriff steht gegen Kausalität und ist offen für Zirkularität in den sozialen Verhältnissen. Klaus Lichtblau hat die Implikationen davon in einem sehr instruktiven Beitrag, der die Positionen Simmels und Webers vergleicht, detailliert dargelegt. Man darf man aber hinzusetzen: Max Webers späte 52 Dazu aber schon Steinhoff, a.a.O., 226f., sowie Tenbruck, Georg Simmel, a.a.O., 594ff.; ferner Köhnke, a.a.O., 380ff.; Andreas Ziemann, Die Brücke zur Gesellschaft. Erkenntniskritische und topographische Implikationen der Soziologie Georg Simmels, Konstanz 2000, 113ff.; P. Ziche, Art. Wechselwirkung, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Karlfried Gründer u. Joachim Ritter, Darmstadt 1971ff., Bd. 12, Sp. 334-341. 53 Sehr instruktiv Jens Loenhoff, Albert Schäffle über Symbol, Verkehr und Wechselwirkung. Ein vergessenes Kapitel Soziologie, in: Sociologia Internationalis 31 (1991), 197219. 54 Dem ‚schriftlichen‘ wird nicht etwa der Kontrastbegriff des ‚mündlichen Verkehrs‘ beigegeben, und der Exkurs spricht, was sein Kommunikationsvokabular angeht, entgegen der Überschrift und eher umgangssprachlich von ‚Brief‘ und ‚Rede‘; er vergleicht sie als verschiedenartige „Äußerungen“. Der Text ist 1908 auch gesondert erschienen unter dem Titel Der Brief. Aus einer Soziologie des Geheimnisses, GSG 8: 394-397. 55 Es muss also nicht einmal ‚soziale Wechselwirkung‘ heißen!
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Begriffsbildung der „sozialen Beziehung“, so sehr sie auch auf Sinn- und Orientierungszusammenhänge setzt, ist durchaus wechselwirkungsinspiriert; man kann das an den Beispielsfällen ablesen, die als denkbare ‚Inhalte‘ des Begriffs benannt werden. Es geht bei der ‚sozialen Beziehung‘ eben um ein wechselseitig aufeinander „eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer“.56 Die Simmelʼsche Gleichung von Wechselwirkung und Vergesellschaftung überzeugt nun soziologisch wohl nirgendwo so unmittelbar wie an dem (unter Vorbehalt) elementaren kommunikativen Sozialgeschehen unter Anwesenden, der faceto-face-Interaktion. Und in der Tat findet man die Zusammenführung von ‚Wechselwirkung‘ und ‚Vergesellschaftung‘ bei Simmel kaum irgendwo so lebhaft, ja redundant ausgesprochen wie im Aufsatz über die „Soziologie der Geselligkeit“ (GSG 12: 177-193, insbes. 184ff.).57 Es kommt der Umstand hinzu, dass man in der amerikanischen Soziologie ‚die Wechselwirkung‘ vorrangig mit interaction übersetzt hat; allen voran hat es Albion Small getan. Der Begriff hat dann bekanntlich den Weg in prominente ‚interaktionistische Hände‘ gefunden, nicht zuletzt in die Erving Goffmans.58 Es sei aber hinzugesetzt: Eine soziologische Privilegierung des Interaktionalen, des sozialen Nahverkehrs lag Simmel, worauf zurückzukommen sein wird, durchaus fern; die Wechselwirkung unter Anwesenden hat für ihn nicht den Status der elementaren oder fundierenden Vergesellschaftung. Das hinderte ihn allerdings nicht, auf Perfektionsformen der Sozialität, die dem face-to-face inhärent sind, hinzuweisen. So kann Simmel von der Unmittelbarkeit des ‚Auge in Auge‘
56 Klaus Lichtblau, Kausalität oder Wechselwirkung? Max Weber und Georg Simmel im Vergleich, in: Gerhard Wagner, Heinz Zipprian (Hg.), Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik, Frankfurt/M. 1994, 527-562. Was die ‚soziale Beziehung‘ in den Weberschen ‚Grundbegriffen‘ angeht, so betont Weber, ihr „Inhalt“ könne „der allerverschiedenste sein: Kampf, Feindschaft, Geschlechtsliebe, Freundschaft, Pietät, Marktaustausch, [...], ökonomische oder erotische oder andere ‚Konkurrenz‘“, Weber, Wissenschaftslehre, a.a.O., 567. Das ist hörbar nah bei Simmel. 57 Im geselligen Verkehr wird „das Reden zum Selbstzweck“ und zum Träger von Reizen, „die der lebendige Wechseltausch der Rede als solcher entfaltet“, GSG 12: 187. 58 Was Small und „interaction“ angeht, nur die ‚allgemeinsoziologischen‘ ersten Seiten von Superiority and Subordination as Subject-Matter of Sociology, GSG 18: 38ff., dem ersten großen Textstück aus der späteren Soziologie, das den Weg ins American Journal of Sociology (den zweiten Jahrgang 1896/97) gefunden hat. Dazu auch Ziemann, a.a.O., 139ff. Ziemann warnt dabei zu Recht vor einer mikrosoziologisch-interaktionistischen Engführung des Simmelʼschen Wechselwirkungskonzepts. In diesem Band ist die Verbindung von Wechselwirkung und Interaktion mit Nachdruck Thema des Beitrags von Jörg Bergmann.
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sagen, sie stelle „die vollkommenste Gegenseitigkeit im ganzen Bereich menschlicher Beziehungen“ her.59 Der interaktionsnahen Soziabilität zum Trotz ist mit der ‚Wechselwirkung‘ auf einen für die Soziologie problematischen Begriff gesetzt: Einerseits ist mit dem Begriff – anders als im Falle ‚des Verkehrs‘ – nichts spezifisch Soziales bezeichnet, nichts, das den menschlichen Vergesellschaftungen spezifisch und sie unterscheidend zukäme; „in der Mechanik, Physik, Chemie“ war der Begriff (zeitgenössisch) ebenso zu Hause.60 Andererseits ist er wie in physischer so auch in sozialer Hinsicht so offen, dass er außer dem ‚Solipsismus‘ kaum etwas ausschließt: „so weit“ ist er, wie es bei Max Weber skeptisch heißt, ausgelegt, „daß sich nur mit der größten Künstlichkeit eine rein ‚einseitige‘, d.h. nicht irgendwie ein Moment von ‚Wechselwirkung‘ enthaltende Beeinflussung eines Menschen durch einen anderen ausdenken ließe.“61 Genau darauf aber kam es Simmel an, der seine Begriffswahl als solche (im soziologischen Kontext) nie erläutert hat; gerade die Offenheit des Begriffs hat ihn von der frühen Socialen Differenzierung an daran festhalten lassen. Das formale Minimum für Wechselwirkung ist dann das Gegebensein mehrerer Elemente und eines wie immer gearteten ‚Wirkungsgeschehens‘ zwischen ihnen. In diesem Sinne nennt Simmel (GSG 11: 284) etwa den „Kampf“ – Austausch schädigender Akte zwischen Feinden – „eine der lebhaftesten Wechselwirkungen [...], der in der Beschränkung auf ein einzelnes Element logisch unmöglich ist“.62 Das (relationale) ‚Zwischen‘ wird dann zur maßgeblichen Sozial-Präposition der Simmelʼschen So-
59 So im Exkurs über die Soziologie der Sinne, GSG 11: 724. 60 Hier setzt die Simmelkritik von Othmar Spann (1907) an, auf die Max Webers Fragment ausdrücklich Bezug nimmt; Spann, Wirtschaft und Gesellschaft. Eine dogmenkritische Untersuchung (1907), in: Ders., Gesamtausgabe 1: Frühe Schriften in Auswahl, Graz 1974, 1-436, hier 223ff. 61 Weber, Georg Simmel, a.a.O., 12. Im Weberschen Kategorienaufsatz von 1913 fehlt es nicht an (implizit bleibenden) Bezugnahmen auf Simmel, auch nicht auf die ‚Wechselwirkung‘. Von Bedeutung ist, dass Weber seinen Grundbegriff, den des Gemeinschaftshandelns (später: ‚soziales Handeln‘, ‚soziale Beziehung‘), bewusst enger ansetzt. Dessen Definition setzt auf die „sinnhafte Bezogenheit des Handelns der einen ‚auf‘ das der anderen“. Im Blick speziell auf Fälle des „‚Massen‘handelns“ fügt Weber hinzu: „‚Gleichartigkeit‘ des Verhaltens mehrerer genügt also nicht. Auch nicht jede Art von ‚Wechselwirkung‘. Auch nicht die ‚Nachahmung‘ rein als solche.“ Die Bezugnahme auf Simmel und Tarde ist deutlich, Weber, Wissenschaftslehre, a.a.O., 454. 62 Man sieht hier zugleich: Der Wechselwirkungsbegriff sträubt sich – ganz anders etwa als die Tönniesʼsche ‚Gemeinschaft‘ – ganz und gar nicht gegen Streit und Konflikt.
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ziologie.63 Wenn man es (der Einfachheit halber) bei einer Relation von nur zwei Elementen belässt, so meint das „zwischen ihnen“ (ganz im Sinne Webers) immer eine irgendwie zusammenhängende Wirksamkeit in beide Richtungen, mag die ‚Mitwirksamkeit‘ der einen Seite dabei auch noch so geringfügig oder minimal ausfallen. Solche Ungleichheit der Anteile fällt in Simmels Soziologie erst sekundär ins Gewicht. Das Feld der ‚wechselwirkenden‘ Vergesellschaftungen, das damit aufgetan ist, lässt zwischen den Individuen, aber nicht minder zwischen Gruppen, in engen wie in weitläufigen Kreisen die verschiedensten Arten von Beziehungsgeschehen, von Interdependenz und Dynamik zu – direkt wie indirekt, hoch verdichtet oder auch nur ganz ephemer. Hier ist Raum für die Wechselwirkungsdynamik von „Attraktion und Repulsion“, „Assoziation und Konkurrenz“ (ebd.: 284ff.); für Herrschaft und Unterwerfung ebenso wie für Tauschverhältnisse; für die Dynamik im Verhältnis der sozialen Schichten zueinander etwa im Blick auf den „Mittelstand“, dem die Besonderheit zukommt, eine untere und obere Grenze zu haben (ebd.: 676ff.); für Intimität und „die Gesellschaft zu zweien“; für die Wechselwirkung als „Verkehr“: als ‚brieflich-schriftlichen‘ oder als ‚geselligen‘ unter Anwesenden, als Kommunikation, in der Geheimnisse gewahrt bleiben und in der die Lüge ihren Ort hat; für die Wechselwirkung, wie sie an den sozialen Affektlagen impliziert ist, an Hass, Neid und Eifersucht, Treue und Dankbarkeit; für inkludierende wie exkludierende Verhaltensweisen und Verhältnisse, auch für solche, die ‚den Fremden‘ oder ‚den Armen‘ einschließen und zugleich ausschließen. Die Liste ist nach Belieben verlängerbar. Allerdings gibt es für Simmel nicht nur die Wechselwirkung zwischen verschiedenen Individuen oder sozialen Einheiten, es gibt auch Wechselwirkung innerhalb sozialer Einheiten sowie verdichtete Wechselwirkung, die ihrerseits solche Einheiten erst zustandebringt. Das Schlussstück des Einleitungskapitels der Socialen Differenzierung ist im Inhaltsverzeichnis des Buches (GSG 2: 111) wie folgt gekennzeichnet: „Die Einheit der Gesellschaft als Wechselwirkung ihrer Teile. Die Verdichtung dieser Wechselwirkung zu objektiven Gebilden“. Und das Einleitungskapitel der großen Soziologie nimmt dies graduelle Verständnis von „Einheit oder Vergesellschaftung“ – „je nach der Art und Enge der Wechselwirkung“ – ausdrücklich auf (GSG 11: 18). Nun ist es allerdings nicht so, dass der Wechselwirkungsbegriff bei Simmel beständig aktiviert oder im Text vorgezeigt würde. Dafür fehlt es ihm an Pedanterie. Die Wechselwirksamkeiten sind vorausgesetzt; Simmel ‚arbeitet‘ – allerdings mit Ausnahmen – eher nicht mit dem Begriff, und bisweilen ist man fast verwundert, dass 63 Dazu allerdings der „Doppelsinn des Zwischen“ im Sinne einerseits des Geschehens zwischen zwei Elementen, das sie beide tangiert, und andererseits im räumlichen und Distanzsinne; GSG 11: 689.
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dieser nicht zum Einsatz kommt.64 Vor diesem Hintergrund sollte es dann interessieren, wo der Begriff zum Zuge kommt, wo also die Wechselwirkungsthematik für Simmel als solche und explizit wichtig ist. Es sind typisch solche Fälle, in denen das Vorliegen von Wechselwirkung (wenigstens auf den ersten Blick) problematisch scheint. Ich möchte dafür drei Beispiele nennen und einen vierten Fall anfügen. a) Die Wechselwirkung wird zum Thema am Falle von nur „ephemeren Vergesellschaftungen“, wo zwischen den Beteiligten an Wirkungsgeschehen zu wenig anfällt; wie bei minimalen, flüchtigen oder geringfügigen sozialen Vorkommnissen, wenn etwa „zwei Personen sich flüchtig anblicken oder sich an einer Billetkasse gegenseitig drängen“ (GSG 16: 68f.). b) In der zweiten Beispielsreihe, die nicht zufällig in die Herrschaftssoziologie führt, ist die Einseitigkeit der ‚Wirksamkeit‘ das Problem. Für das Kapitel II „Überund Unterordnung“ (GSG 11: 160ff.) ist die soziale Wechselwirkung ein naturgemäß maßgebliches Thema. Das Kapitel wird von Simmel unmittelbar mit einem Grenzfall eröffnet, den man bei Max Weber65 ausdrücklich aufgenommen und problematisiert findet: mit dem Fall nämlich „jener abstrakten Herrschsucht [...], die daran befriedigt ist, daß das Handeln und Leiden, der positive oder negative Zustand des Andern sich dem Subjekt als das Erzeugnis seines Willens darbietet.“66 Simmel sieht hier, obwohl von jenem (vom Herrschenden bloß beobachteten) Zustand keinerlei ‚feedback‘ seitens der Beherrschten ausgeht, gleichwohl ein ‚Zurückwirken‘ auf den Herrschenden gegeben; er nimmt den Fall folglich für (allerdings ‚rudimentäre‘) Wechselwirkung in Anspruch. Im Weiteren betreibt er dann ‚soziologische Aufklärung‘ und demonstriert – entgegen dem einseitigen Kausalitätsschein der gängig-‚oberfächlichen‘ Herrschaftsbeschreibungen – die unumgängliche „Mitwirksamkeit des untergeordneten Subjektes“ (meine Hervorh., H.T.) am Herrschaftsverhältnis. Noch „der ‚unbedingte‘ Zwang, den der grausamste Tyrann auf uns ausübt“, impliziert notwendig solche ‚Mitwirksamkeit‘: coactus tamen voluit (ebd.: 161f.). c) Weiterhin ist von Simmels Überlegungen zur „soziologische[n] Charakterisierung der Einzahl“ (ebd.: 96ff.) im zweiten, dem Quantitätskapitel zu sprechen. Auch hier geht es um das Auflösen falschen Scheins: im Falle von Begriffen und Selbstbeschreibungen, die den Einzelnen ganz für sich und jenseits der Wechselwirkung mit anderen positionieren. Die zwei „Erscheinungen“, die gemeint sind, 64 Etwa im Blick auf die noch anzusprechende Korrelations- und Sonderthematik des zehnten Kapitels: „die Korrelation zwischen der sozialen Erweiterung und der individuellen Zuspitzung des Lebens“, GSG 11: 791ff., 831ff. 65 Weber, Georg Simmel, a.a.O., 12. 66 Bei Weber, ebd., wird der Akzent, in Machtrichtung, auf das „potentielle Bestimmenkönnen“ fremder Schicksale verschoben.
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heißen „die Einsamkeit und die Freiheit“ (ebd.). Für beide kann Simmel dann ihren sozialen Voraussetzungsreichtum mit klaren Strichen aufzeigen; beide sind nur inmitten sozialer Wechselwirkung möglich und erlebbar. Der Beitrag von Andreas Ziemann geht darauf unten näher ein. d) Schließlich ein Fall, der auf den ersten Blick das Gegenteil von ‚problematisch‘ ist: als solche und mit Nachdruck kommt ‚die Wechselwirkung‘ bei Simmel auf ‚reziproke‘ Verhältnisse hin zur Sprache, also bezüglich jener Verhältnisse, auf die der Begriff zuallererst zu verweisen scheint. Man denke im engeren Sinne an den Tausch, den Simmel „die Sachwerdung der Wechselwirkung zwischen Menschen“ genannt hat (ebd.: 662).67 Sind Tausch und Reziprozität damit aber von besonderer Prominenz und Modellqualität auf dem Felde der sozialen Wechselwirkungen? Sind sie in Simmels Denken ein in einem systematischen Sinne privilegierter Wechselwirkungsfall? Vor solcher ‚Überschätzung‘ gilt es zu warnen. Anlass, das zu tun, gibt (u.a.) George Caspar Homans‘ berühmt gewordener Aufsatz „Social Behavior as Exchange“ von 1958, ausdrücklich dem Gedächtnis Georg Simmels gewidmet. In diesem Aufsatz wird die Simmelʼsche ‚Wechselwirkung‘ recht umstandslos für Austausch, „exchange“ in Anspruch genommen und mit Bezug darauf für ‚elementar‘ erklärt.68 Natürlich hat Homans für solche Inanspruchnahme durchaus etwas in der Hand; man denke nur an die Philosophie des Geldes, wo der Mensch ‚das tauschende Tier‘ heißt und der Tausch seinerseits als „die zugleich reinste und gesteigertste Wechselwirkung“ bezeichnet ist. Und erst recht kommt es der Botschaft von Homans nahe, wenn Simmel dort sagt, „daß die Mehrzahl der Beziehungen von Menschen als Tausch gelten kann“ (GSG 6: 59). Gegen eine Gleichsetzung von Wechselwirkung und Austausch wird man gleichwohl Widerspruch einlegen müssen, denn der umfassend-grundbegriffliche Status der ‚Wechselwirkung‘ hängt ja entscheidend daran, dass sie auch nichtreziproke Sozialbeziehungen zu inkludieren vermag, und Simmels soziologischer Sprachgebrauch ist in dieser Hinsicht unbedingt konsequent. Man sieht das schon an dem Typus von Sozialprozessen, dem er den Tausch (auf Vergleich hin) zunächst einordnet, nämlich an den Prozessen des Besitzwechsels. Bei Simmel werden „Geschenk, Raub, Tausch“ (gleichermaßen) als „die äußerlichen Wechselwirkungsformen“ behandelt, „die sich unmittelbar an die Besitzfrage knüpfen“ (GSG 11: 67 In der Philosophie des Geldes wird der Tausch in seiner zeitlich-sozialen Komplexität charakterisiert als „die kausal verknüpfte Zweimaligkeit der Tatsache, daß ein Subjekt jetzt etwas hat, was es vorher nicht hatte, und dafür etwas nicht hat, was es vorher hatte“, GSG 6: 61f. 68 George C. Homans, Social Behavior as Exchange, in: American Journal of Sociology 62 (1958), 597-606, hier 597f.; Simmel wird hier u.a. als Ahnherr des „Small-group Research“ geehrt. Der Aufsatz entstammt dem „Durkheim-Simmel Commemorative Issue” des AJS.
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550). Unter das Dach des Wechselwirkungsbegriffs ist damit auch jene asymmetrische Sorte des Besitzwechsels gezogen, die das Tauschen direkt negiert: der Raub, und ebenso die andere Alternative zum Tausch: (die Bitte und) das Geschenk. Auch wenn Simmel beide zu den „primitiven Formen des Besitzwechsels“ zählt, so sind sie ihm doch unbestritten Fälle von wechselwirksamer Vergesellschaftung. Dass „alle Wirtschaft“ in einem besonderen Sinn, nämlich im „Sinne des aufopfernden Tausches“ (GSG 6: 61f.), Wechselwirkung ist, ist so richtig wie die Aussage, dass der ‚soziale Verkehr‘ in vielfältiger Weise ‚Austausch‘ beinhaltet. Das Insgesamt dessen, was Simmel als ‚Vergesellschaftung(en)‘ oder als soziale Wechselwirkung vor Augen war, ist darin aber durchaus nicht erfasst, und auch ein Elementarstatus kommt dem Tausch nicht zu!
3. Gesellschaft Der Simmelʼschen Auseinandersetzung mit dem Begriff der ‚Gesellschaft‘ ist jüngst Klaus Lichtblau in einer knappen Zusammenfassung nachgegangen; gewürdigt ist da nicht zuletzt der berühmte „Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich?“ (GSG 11: 42-61).69 Das braucht hier nicht wiederholt zu werden. Hinweisen möchte ich aber auf eine begriffsbezogene Bemerkung gleich zu Beginn des ersten Kapitels der Soziologie; sie markiert, was ‚die Gesellschaft‘ angeht, den begriffsgeschichtlichen Ausgangspunkt im 19. Jahrhundert. Simmel skizziert an dieser Stelle mit Blick auf den sozialen Wandel der Zeit den Weg, der vom „Begriff der ‚Gesellschaft‘“ hin zu der „neuen Wissenschaft“ der Soziologie (als „Wissenschaft von der Gesellschaft“) führt (ebd.: 13f.). Wichtig ist: er legt hier Wert darauf, dass die Durchsetzung des Begriffs der ‚Gesellschaft‘ von unten her erfolgt ist: im Zuge der „Aufmerksamkeit, die die unteren Stände den höheren abzwangen“, und man hat das wohl zu Recht in die Nähe jener Auffassung gerückt, die im 19. Jahrhundert von der ‚Gesellschaft‘ als „Drittenstandsbegriff“ (Bluntschli) sprach.70 Für den Begriff, der sich hier formte, ist dann das Verschwinden des Individuums im Klassen- und Massenkollektiv charakteristisch und ebenso der Umstand, dass der Gesellschaftsbegriff die Klassendistanzen übergreift; dass die Klassen „zusammen ‚eine Gesellschaft‘ bilden“, ist der maßgebliche Punkt. Es versteht sich, dass Simmels soziologische Anfangsüberlegungen von diesem mit der ‚sozialen Frage‘ ver-
69 Klaus Lichtblau, Von der „Gesellschaft“ zur „Vergesellschaftung“. Zur deutschen Tradition des Gesellschaftsbegrifs, in: Bettina Heintz u.a. (Hg.), Weltgesellschaft. Theoretische Zugänge und empirische Problemlagen, Stuttgart 2005, 68-88, hier 80ff. 70 Institut für Sozialforschung, Soziologische Exkurse. Nach Vorträgen und Diskussionen, Frankfurt/M. 1956, 23, 37, Anm. 2 (im Kapitel „Gesellschaft“).
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bundenen Gesellschaftsbegriff dann bald wegführen. Mir scheint gleichwohl von Interesse, dass er diesen Ausgangspunkt festgehalten hat. Zu verhandeln sind hier weiterhin einige Probleme, die primär mit dem Kapitel VIII. („Die Selbsterhaltung der sozialen Gruppe“) der großen Soziologie (ebd.: 556686) zu tun haben. Dieses Kapitel greift zurück auf einen bekanntlich auch in L’Année Sociologique 1898 erschienenen, von Durkheim allerdings ‚misshandelten‘ Aufsatz (GSG 19: 66-106, 392ff.), den Simmel im selben Jahr als „Die Selbsterhaltung der socialen Gruppe: Sociologische Studie“ (GSG 5: 311-372) publiziert hat.71 Dem Aufsatz waren einige Überlegungen vorangestellt, die mit besonderem Nachdruck die Probleme von Soziologie und Gesellschaft ansprechen.72 Die Textfassung in der Soziologie hat diesen Vorspann aus nachvollziehbaren Gründen beiseite gelassen. Der „Selbsterhaltungs“-Aufsatz war die Umsetzung eines soziologisch programmatischen Gedankengangs, den Simmel bereits im Eingangskapitel der Socialen Differenzierung angestellt hatte. ‚Gesellschaft‘ wird dort – wie dann auch in der großen Soziologie (GSG 11: 25) – „ein gradueller Begriff“ genannt, „von dem auch ein Mehr oder Weniger anwendbar ist, je nach der größeren Zahl und Innigkeit der zwischen den gegebenen Personen bestehenden Wechselwirkungen“ (GSG 2: 131). Wo Wechselwirkung, da Gesellschaft! Allerdings macht Simmel im nächsten Schritt gesellschaftsbezogen doch einen Unterschied und folgt darin Herbert Spencer.73 Die nur ephemeren, folgenlos-flüchtigen Sozialbeziehungen nämlich will er 1890 aus dem Gesellschaftsbegriff, aus dem „eigentlich socialen Wesen“ ausgeschlossen wissen (ebd.: 133f.). Nur dort, wo die soziale Wechselwirkung „ein objektives Gebilde zustande bringt“, da soll von ‚Gesellschaft‘ die Rede sein (dürfen). Und an dieser Stelle wird dann das Thema des „Selbsterhaltungs“-Aufsatzes ganz explizit und programmatisch umrissen: „Wo eine Vereinigung stattgefunden hat, deren Formen beharren, wenngleich einzelne Mitglieder ausscheiden und andere eintreten; [...] wo Recht, Sitte, Verkehr Formen ausgebildet haben, denen jeder sich fügt und fügen muß, der in ein gewisses räumliches Zusammensein mit anderen eintritt – da überall ist Gesellschaft, da hat die Wechselwirkung sich zu einem Kör71 Ebenfalls 1898 im AJS publiziert: The Persistence of Social Groups, GSG 18: 83-140. 72 Ausdrücklich distanziert sich Simmel dort von ‚Gesellschaft‘ „in dem jetzt üblichen Sinne [...] als den umfassenden Komplex aller durch gemeinsame Nationalität oder gemeinsame Kultur zusammengehaltenen Individuen und Kreise“, GSG 5: 313. Es sei auch darauf aufmerksam gemacht, dass sich Durkheims Auseinandersetzung mit Simmel aus dem Jahre 1900 an diese Passage (in der französischen Fassung) hält; Durkheim, a.a.O., 165ff. Insgesamt zu den Durkheim/Simmel-Problemen Otthein Rammstedt, Das Durkheim-Simmelʼsche Projekt einer „rein wissenschaftlichen Soziologie“ im Schatten der Dreyfus-Affäre, in: Zeitschrift für Soziologie 26 (1997), 444-457. 73 Darauf hat bereits Spann, a.a.O., 227f., aufmerksam gemacht.
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per verdichtet, der sie eben als gesellschaftliche von denjenigen unterscheidet, die mit den unmittelbar ins Spiel kommenden Subjekten und ihrem augenblicklichen Verhalten verschwindet“ (ebd.). Dies ist ein klares Votum zugunsten eines makrosoziologischen Ansatzes, wie ihn Simmel 1908 in aller Deutlichkeit zurückgenommen hat. Aber im Sinne dieses Votums ist der „Selbsterhaltungs“-Aufsatz geschrieben. Dieser Text von 1898, der austauschbar von ‚Gesellschaft‘ (bzw. ‚Gesellschaften“) und ‚Gruppe‘ spricht und der (wohl vermittelt über die Soziologie) in Max Webers Kategorienaufsatz von 1913 deutlich ‚nachklingt‘,74 artikuliert sein Anliegen auch in der Sprache des Gegensatzes von Individuum und Gesellschaft (GSG 5: 313ff.).75 Er fragt nach dem Recht, „von der Gesellschaft als einer besonderen Einheit jenseits ihrer individuellen Elemente zu sprechen“; „der überindividuelle Charakter“, der Generationen überdauernde Bestand, „die Objektivität“ der Makrogebilde („der Sprache, der Sitte, der Kirche, des Rechts, der politischen und socialen Organisationen“) sind das, auf dessen Erklärbarmachung der Aufsatz zielt. Nochmals: er ist in die große Soziologie übernommen und dort um drei Exkurse erweitert. Der dabei weggelassene Vorspann enthält aber gesellschaftsbezogen noch eine weitere Akzentsetzung, die er aus dem „Problem“-Aufsatz von 1894 übernimmt und die dann auch die Soziologie von 1908 mit großem Nachdruck geltend macht. Dabei ist, was ‚die Gesellschaft‘ angeht, nicht mehr auf die verdichtete Wechselwirkung (als solche), sondern auf deren Formen abgestellt, und das führt zu einer eigentümlichen Verdoppelung ‚der Gesellschaft‘. Es geht darum, dass die Soziologie an der Gesellschaft auf „das Specifisch-Gesellschaftliche“ verwiesen wird (ebd.: 54; meine Hervorh., H.T.).76 Der besagte Vorspann von 1898 greift die im „Problem“-Aufsatz geltend gemachte Form/Inhalt-Unterscheidung auf und verweist auf „die Über- und Unterordnung, die Bildung von Hierarchien, die Konkurrenz, die Arbeitsteilung, die Nachahmung, die Vertretung“ als „Formen der menschlichen Vergesellschaftung“ (neben ‚unzähligen anderen‘). Die Analyse dieser Formen sei das Kerngeschäft der Soziologie, und von ihr verspricht sich Simmel die Lösung des Rätsels, „was denn eigentlich ‚Gesellschaft‘ ist“ (GSG 5: 312). Die Formel, die dann die große Soziologie in dieser Sache verwendet, ist die von dem, „was an der Gesellschaft wirklich ‚Gesellschaft‘ ist“ (GSG 11: 25, auch 19, 61f., 899f.). Simmels knappe Selbstanzei74 Zur Frage des Kontinuierens von ‚Ordnungen‘ „trotz Wechsels der Personen“ Weber, Wissenschaftslehre, a.a.O., 448f. 75 Dieser Gegensatz ist hier deutlich anders akzentuiert als in der Socialen Differenzierung, GSG 2: 62ff., denn hier wird eingeräumt, „daß schließlich doch nur Individuen existieren“, GSG 5: 314. 76 Also nicht (wie bei Niklas Luhmann) „Die Gesellschaft der Gesellschaft“, sondern „die Gesellschaft an der Gesellschaft“!
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ge des Buches setzt sogar ausschließlich diesen Akzent.77 Das Paradoxe der Formel hatte er allerdings am deutlichsten schon 1894 in „Das Problem der Sociologie“ selbst kenntlich gemacht; dort ist der doppeldeutige Gebrauch des Gesellschaftsbegriffs, den die Formel impliziert, klar markiert: ‚die Gesellschaft‘ als Totalität einerseits und ‚die Gesellschaft‘ im spezifischen Sinne als Formenensemble andererseits.78
4. Formen der Vergesellschaftung I Simmels Programmaufsatz von 1894 hatte, wie angedeutet, in den „Socialisierungsformen“ das „spezifisch Gesellschaftliche“ erkannt und damit jenen Königsweg für eine ‚bescheidene‘ oder schlanke Soziologie gefunden, wie ihn die Soziologie von 1908 dann im großen Stil beschritten hat. Deren Untertitel lautet bekanntlich: Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, und dementsprechend geht das erste Kapitel des Buches zielstrebig darauf los, die „Formen der Wechselwirkung oder Vergesellschaftung, in gedanklicher Ablösung von den Inhalten,“ (neuerlich) darzulegen: „Es muß sich einerseits finden, daß die gleiche Form der Vergesellschaftung an ganz verschiedenem Inhalt, für ganz verschiedene Zwecke auftritt, und umgekehrt, daß das gleiche inhaltliche Interesse in ganz verschiedene Formen der Vergesellschaftung als seine Träger oder Verwirklichungsarten kleidet“ (ebd.: 20f.). Die gedankliche Ablösung geschieht also dadurch, dass man einerseits die Form konstant hält und die Inhalte variiert und andererseits den Inhalt konstant hält und die Formen variiert, und dafür folgt dann bei Simmel reichliche Illustration. Man kann auch sagen: Es ist ein doppeltes Gegeneinander von gleich und verschieden (bzw. konstant und variabel), an dem die Tragfähigkeit des Auseinanderhaltens von Form und Inhalt hängt. Und immer kommt es auf eine Kombination
77 „Es werden aus den geschichtlich-gesellschaftlichen Erscheinungen die Formen der Wechselwirkung abstrahiert, durch welche das bloße Nebeneinander der Individuen zur Gesellschaft wird. Diese Formen sind die gleichen bei größter Verschiedenheit der materialen Inhalte und Interessen des Gruppenlebens, welche an und für sich noch nicht ‚gesellschaftlich‘ sind. Es kann also nur die hier versuchte Analyse und Herleitung jener Formen [...] dasjenige herausstellen, was an der Gesellschaft als konkreter Gesamterscheinung wirklich ‚Gesellschaft‘ oder Vergesellschaftung im wahren Sinne ist“, GSG 17: 442. Zum Thema des „spezifisch Gesellschaftlichen“ auch Spann, a.a.O., 254f. 78 In GSG 5: 57 heißt es: „die Sociologie als Einzelwissenschaft [...] löst eben das bloß gesellschaftliche Element aus der Totalität der Menschengeschichte, d.h. des Geschehens in der Gesellschaft, zu gesonderter Betrachtung aus; oder, mit etwas paradoxer Kürze: sie erforscht dasjenige, was an der Gesellschaft ‚Gesellschaft‘ ist.“ Zur ‚Zweideutigkeit‘ des Gesellschaftsbegriffs im Übrigen GSG 11: 23f.
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von Singular und Plural an: eine Form an verschiedenen Inhalten, verschiedene Formen an demselben Inhalt. Die Dinge sind hinreichend bekannt und brauchen hier im Detail nicht nachgezeichnet zu werden.79 Woran mir aber liegt, sind drei Dinge, wobei ich mich zuerst auf das Verfahren der gedanklichen Ablösung und des Gegeneinandervariierens von Formen und Inhalten beziehe. Man kann ja fragen: Wird ein solches Verfahren zur Isolierung einzelner Formen (als solches) innerhalb des Buches praktiziert? Wird es gar als ‚Methode‘ erkennbar? Für die zu erbringende Abstraktionsarbeit ist vorausgesetzt, dass im sozialen Leben Inhalt und Form unlösbar miteinander verbunden sind und dass es zu beider Abhebung voneinander intellektueller Anstrengung bedarf. In einer frühen Äußerung und im Kontext akademisch-soziologischer Lehre hatte Simmel diesbezüglich vom „soziologischen Blick“ gesprochen, zu dem es „die Studenten [...] zu erziehen“ gelte.80 Auch 1908 spricht er von „einer besonderen Einstellung des Blicks“, sieht sich aber doch genötigt, „das Odium auf sich zu nehmen, von intuitivem Verfahren“ zu sprechen; er sieht dieses aber auf dem Weg, „später einmal“ zur Methode ausgebaut zu werden (ebd.: 29). Aus dem Tastenden des soziologischen Vorhabens und dem Bewusstsein, methodisch noch nicht auf festen Füßen zu stehen, wird hier kein Hehl gemacht. Mit dem Volumen und den Mannigfaltigkeiten des Buches steht das in einem zweifellosen Zusammenhang. Man muss aber hinzufügen: ‚Formen‘ und ‚Inhalte‘, wie sie der soziologische Blick voneinander scheidet, sind nicht von immerwährender Eindeutigkeit und als ‚stabile Größen‘ auseinanderzuhalten. Simmel wäre nicht Simmel, wenn ihm nicht auch Form und Inhalt, wie es an einer Stelle im Kapitel über die „Kreuzung sozialer Kreise“ heißt, „nur relative Begriffe“ und vielfach eine Frage der Perspektive wären; was in der einen Hinsicht ‚Form‘ sei, könne in anderen Hinsicht durchaus als ‚Inhalt‘ fungieren (ebd.: 492). Trotz alledem: Man tut als Soziologe noch heute gut daran, sich der Simmelʼschen Intuition anzuvertrauen. Weiterhin: Simmel neigt in der großen Soziologie nicht unbedingt dazu, die im Einzelnen thematisierten sozialen Formen explizit als solche zu annoncieren oder auszuweisen;81; nur vom ersten Kapitel her erkennt man die ‚formale Soziologie‘, 79 Verwiesen sei hier nur auf Steinhoff, a.a.O., 228ff., im Widerspruch gegen Spanns Satz: „Der Formbegriff Simmels verwirrt nur.“ 80 In einem Brief an Célestin Bouglé von 1896 ist von einem solchen Blick die Rede, „auf den alles ankommt, u. der in den einzelnen sozialen Erscheinungen die soziale Form u. den materialen Inhalt zu scheiden versteht“, GSG 22: 229. Hingewiesen sei auf den frühen Widerspruch, den das Abstraktionsverfahren bei Durkheim, a.a.O., 165ff., gefunden hat. 81 Aber natürlich kommt das vor; etwa „die Form der Intimität“, GSG 11: 104ff., oder: die „Feindseligkeit als natürlicher und formaler Trieb“, GSG 11: 298ff., 866. Die Dinge wären aber im Einzelnen zu prüfen.
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die das Buch (vielerorts) betreibt. Auch lag es Simmel fern, die vielfältigen „Formen der Vergesellschaftung“, die ihm im Sinn waren, in die Form einer (gar abschließenden) Liste zu bringen, sie zu sortieren oder unter irgendeine Systematik zu bringen.82 Gleichwohl dürfte es von allgemeinsoziologischem Interesse sein, die exemplarisch gemeinten Aufzählungen, wie es sie seit dem Aufsatz von 1894 immer wieder gibt, nebeneinander zu halten und zu vergleichen. Was kontinuiert? Was variiert? Damit schließlich zu den Formenaufzählungen, die das Eingangskapitel der großen Soziologie an zwei Stellen offeriert. In beiden Fällen geht es um mehr als um bloße illustrative Aufzählung, denn schon das Volumen des Buches gibt dem Leser Anlass, damit zu rechnen, dass die genannten Dinge im Weiteren verhandelt werden und zur Sprache kommen. Hält man sich an die erste Aufzählung83 und konsultiert dazu das Kapitel- und Materienverzeichnis, so bleibt man, wovon noch zu sprechen ist, nur in Sachen ‚Nachahmung‘ unbefriedigt. Für die zweite und wichtigere Aufzählung (ebd.: 26f.) bildet die neukantianische Alternative von ‚nomothetischer‘ und ‚idiographischer‘ Wissenschaft den Hintergrund; von dieser Unterscheidung sieht Simmel seine Soziologie „nicht berührt“. Er begründet das am Exempel der ‚Konkurrenz‘ und erklärt dann: „Entsprechend ist also mit all den großen gesellschaftsformenden Verhältnissen und Wechselwirkungen zu verfahren: mit der Parteibildung, der Nachahmung, der Bildung von Klassen, Kreisen, sekundären Abteilungen, mit Verkörperungen der sozialen Wechselwirkungen in Sondergebilden sachlicher, personeller, ideeller Art, mit dem Aufwachsen und der Rolle der Hierarchien, mit der ‚Vertretung‘ von Gesamtheiten durch Einzelne, mit der Bedeutung gemeinsamer Gegnerschaft für den inneren Zusammenhalt der Gruppe“. Hier endet die Aufzählung; ihr folgt aber eine weitere, die erst recht auf Themen vorbereitet, die im Fortgang des Buches auf den Leser, der seine Pflicht tut, warten. Für das, was nun aufgezählt wird und teilweise auf ganze Kapitel des Buches vorverweist, gilt allerdings, dass es sich (zumindest) nicht unmittelbar aus der Form/Inhalt-Problematik herleitet. Simmel unterscheidet nach ‚spezieller‘ und ‚komplizierter‘. Ich zitierte weiter: „an solche Hauptprobleme schließen sich dann, gleichmäßig die Formbestimmtheit der Gruppe tragend, einerseits speziellere, ande82 Ausdrücklich sagt Simmel am Ende des ersten Kapitels, die Darlegungen des Buches seien „weit von dem Anspruch entfernt, der Zahl der Wechselwirkungsformen, die die Gesellschaft ausmachen, auch nur von Ferne gerecht zu werden“, GSG 11: 62; zur Frage der Systematisierung auch Steinhoff, a.a.O., 255f. 83 GSG 11: 21: „Über- und Unterordnung, Konkurrenz, Nachahmung, Arbeitsteilung, Parteibildung, Vertretung, Gleichzeitigkeit des Zusammenschlusses nach innen und des Abschlusses nach außen und unzähliges Ähnliches“. Vgl. aber auch den Brief an Lester Ward von 1893: „Konkurrenz, Vereinigung der Arbeit, Differenzirung, Entstehung von Über- und Unterordnung“, GSG 22: 87.
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rerseits kompliziertere Tatsachen, jene z.B.: die Bedeutung des ‚Unparteiischen‘, die des ‚Armen‘ als organischen Gliedes der Gesellschaften, die der numerischen Bestimmtheit der Gruppenelemente, die des primus inter pares und des tertius gaudens. Als kompliziertere Vorgänge wären zu nennen: die Kreuzung mannigfaltiger Kreise in einzelnen Persönlichkeiten, die besondere Bedeutung des ‚Geheimen‘ in der Bildung von Kreisen, die Modifikation der Gruppencharaktere, je nachdem sie lokal zusammenbefindliche oder durch nicht dazu gehörige Elemente getrennte Individuen umfassen, und unzähliges anderes“ (ebd.: 27). Simmels Formensoziologie hat bekanntlich eine Kehrseite. Ihr sind die Inhalte, die sie der ‚primären‘ Zuständigkeit der anderen Disziplinen überlässt, in gewisser Weise ‚sekundär‘, sie sind ihr, wie gern befunden wurde, nur Spiel- und Vergleichsmaterial. In jedem Fall aber gilt, wie Werner Gephart treffend (auf den Kontrast zu Durkheim hin) formuliert hat: Für die Simmelʼsche Soziologie „verschwindet das Recht auf eine Soziologie von Moral, Ökonomie, Politik und Ästhetik, eine Aufteilung, wie sie in raffinierter Form in der Année Sociologique betrieben wird.“84 Eberhard Gothein aber, Max Weber nicht fernstehend und von Animositäten sichtlich frei, hat schon sehr früh prognostiziert, dass die Soziologie die ihr von Simmel verordnete ‚nachbarschaftliche Zurückhaltung‘ und Bescheidenheit schwerlich realisieren und durchhalten werde.85 Und man braucht nur an die Webersche Soziologie – mit ihrer Rechts-, Wirtschafts- oder Religionssoziologie – zu denken, um zu sehen, dass das Fach, was seine Subdisziplinen und ‚speziellen Soziologien‘ angeht, sich vorzugsweise für den Weg entschieden hat, der den Inhalten folgt. In den Grundfragen der Soziologie von 1917 aber, auf die in diesem Band der Beitrag von Otthein Rammstedt näher eingeht, findet man dann auch bei Simmel selbst die ‚Inhaltsscheu‘ wenigstens teilweise aufgegeben. Das einleitende Kapitel dort („Das Gebiet der Soziologie“, GSG 16: 62-87) nimmt zwar die Form/InhaltUnterscheidung in besonders klarer Form wieder auf und präsentiert noch einmal die vertraute Aufzählung der Formen, aber es nennt diese „Forschung“ nun „die ‚reine Sozologie‘“ (oder auch ‚formale Soziologie‘; ebd.: 82f., 103) und beschreibt sie als den ‚zweiten Problemkreis‘ der Soziologie – im Kontrast zu einem ‚ersten‘, der befasst ist mit dem „ganzen geschichtlichen Leben, soweit es gesellschaftlich geformt ist, immer aber diese Gesellschaftlichkeit als Ganzes umgreifend“ (ebd.: 82). Einer Soziologie, die „die großen Inhalte des geschichtlichen Lebens“ – „die
84 Werner Gephart, Soziologie im Aufbruch. Zur Wechselwirkung von Durkheim, Schäffle, Tönnies und Simmel, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 34 (1982), 1-25, hier 13. 85 Gothein, a.a.O., 683: „Die Soziologie wird sich auch in Zukunft die Uebergriffe in die Gebiete der anderen Kulturwissenschaften ebensowenig übelnehmen wie diese sich das gleiche Verhalten untereinander.“
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Sprache wie die Religion, die Staatenbildung wie die materielle Kultur“ – zum Gegenstand macht (ebd.: 72ff.), steht nun nichts mehr im Wege. Zu den materialen Soziologien aber führt noch ein anderer Weg. Man braucht nämlich nur von einer Möglichkeit Gebrauch machen, die Simmel erklärtermaßen auch anbietet: Man kann nämlich den „Stoff beharren“ lassen, um der „Mannigfaltigkeit von Formen“, die er darbietet, nachzugehen (ebd.: 83). Man kann dementsprechend Simmels Soziologie ‚gegen den Strich bürsten‘, sie nämlich – an der Inhaltsseite interessiert – durch die Brille verschiedenster ‚spezieller Soziologien‘ lesen. Tut man das und hält dabei etwa den Familiengesichtspunkt konstant, so führt das zu einem Strauß aus Einsichten, die familiensoziologisch bis heute an Gewicht und Interesse nicht verloren haben.86 Und Volkhard Krech hat Simmels Soziologie in diesem Sinne auf ihre religionsbezogenen Aussagen hin durchforstet und gezeigt, wie viel an religionssoziologischem Honig sich aus diesem Buch saugen lässt,87 und dies, obwohl Simmel dem älteren Aufsatz „Zur Soziologie der Religion“ von 1898 keinen Eingang in das Buch gewähren mochte. Ich füge eine bewusst fragmentarisch gehaltene Anmerkung zur Rezeptionsgeschichte an und will damit nur auf die kurze soziologiehistorische Phase aufmerksam machen, die der Formensoziologie in besonderer Weise gewogen war. Man weiß: Der Simmelʼschen Soziologie war in Europa keine wohlwollende Aufnahme beschieden. Man denke nur an die Ablehnung, auf die sie bei Durkheim stieß, oder auch an Raymond Arons 1936 publizierte Auseinandersetzung mit der deutschen Soziologie, die der ‚formalen Soziologie‘ Simmels und Leopold von Wieses wenig, umso mehr dafür aber dem Werk Max Webers abgewinnen konnte.88 Auch in den USA war die Simmelrezeption, wie Guenther Roth in diesem Band zeigt, vielschichtig und durchaus nicht frei von Gegenrede. Die ‚sozialen Formen‘ aber konnte man sich hier relativ unbefangen aneignen: für sich genommen, also ohne das Mitführen und Mitbedenken der ‚inhaltlichen‘ Gegenbegrifflichkeit, und übersetzt mit „social processes“.89 Und in der Hochzeit des Strukturfunktionalismus war das formalsoziologische Gedankengut – obwohl von Parsons nahezu ignoriert – für die 86 Dazu Hartmann Tyrell, Das konflikttheoretische Defizit der Familiensoziologie. Überlegungen im Anschluss an Georg Simmel, in: Ders., Soziale und gesellschaftliche Differenzierung. Aufsätze zur soziologischen Theorie, Wiesbaden 2008, 315-337. 87 Krech, a.a.O., 34ff. 88 In deutscher Übersetzung: Raymond Aron, Die deutsche Soziologie der Gegenwart. Systematische Einführung in das soziologische Denken, Stuttgart 1965. 89 Etwa Rosenthal, Oberlaender, Books, Papers, and Essays by Georg Simmel, a.a.O., 238: „‚formal‘“ sociology“ ist da bestimmt als „the analysis of social processes such as competition and conflict, subordination and superordination“. André Kieserling verweist, was die „social processes“ angeht, auf Edward A. Ross und dessen, wie man wohl sagen darf, Parallelprojekt zur Simmelʼschen Sozialformenlehre.
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soziologische Theoriebildung dann durchaus von einiger Prominenz. Man denke nur an die Konfliktsoziologie und den Konflikt als sozialen Prozess. Hier war es Lewis Coser, der das Simmelʼsche Gedankengut ins Funktionalistische wendete und die eigene Konflikttheorie auf der ganzen Linie an das „Streit“-Kapitel der Soziologie von 1908 anlehnte.90 Nicht anders auf dem Feld der Rollentheorie. Friedrich Tenbruck konnte im Blick auf diese 1958 sogar sagen: „Simmels Soziologie bekommt zuerst Gesellschaft als soziale Struktur im Sinne der Verhältnisse von Gruppen, Rollen und Status (soziale Position) in den Griff. ‚Formale‘ Soziologie ist insofern auch keine soziologische Theorie neben anderen. Alle Soziologie ist in diesem Sinne ‚formal‘.“ Was Tenbruck an der Simmelʼschen Soziologie vermisst, ist dann einzig, dass er den Schritt hin zu einer „expliziten Theorie der sozialen Struktur“ nicht getan habe.91 In solcher Position – in enger Berührung mit der vordersten Front soziologischer Theoriebildung – hat sich die Simmelʼsche Soziologie seither nicht mehr befunden.
5. Formen der Vergesellschaftung II Es sei noch einmal wiederholt: Das Eingangskapitel der Soziologie kommt, nachdem Wechselwirkung und Gesellschaft zusammengebracht sind, sogleich auf die Unterscheidung von Inhalt und Form zu sprechen (GSG 11: 18ff.). Das Materienverzeichnis betitelt das mit „Form und Inhalt des sozialen Lebens“ (ebd.: 867). Die Frage nach der Herkunft der Simmelʼschen Form/Inhalt-Unterscheidung mag hier offen bleiben. Klaus Christian Köhnke findet sie erstmals in Simmels Einleitung in die Moralwissenschaft verwendet; dort geht es an bestimmter Stelle um die Trennung der Inhalte von der Form des Sollens, und Köhnke sieht dabei Herbert Spencer im Hintergrund.92 Angesprochen und offen gelassen sei hier auch das Problem, das 90 Lewis A. Coser, The Functions of Social Conflict. Glencoe/Ill. 1956; dt. 1965; ferner Rudolf Tartler, Georg Simmels Beitrag zur Integrations- und Konflikttheorie der Gesellschaft, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft 16 (1965), 1-12. 91 Tenbruck, Georg Simmel, a.a.O., 601, 604: „So ist eben die Situation entstanden, daß der Leser zwar den Begriffen Rolle, Norm, Position in Simmels Arbeiten ständig begegnet, dem Autor aber eine zusammenhängende Theorie derselben verschlossen bleibt.“ Siehe auch Tenbruck, Formal Sociology, a.a.O.; literaturreich, allerdings skeptisch zur amerikanischen Simmelrezeption im übrigen Schnabel, a.a.O., 39ff. Auch Lewis Cosers schönes soziologisches Simmelporträt von 1958 ist, von Merton her, struktur- und rollentheoretisch angelegt; Coser, Georg Simmel‘s Style of Work, a.a.O. 92 Köhnke, Der junge Simmel, a.a.O., 216ff. Es lässt sich aber auch an eine andere oder zusätzliche Quelle denken, nämlich an die Ästhetik Theodor Vischers; auf die dort vorgenommene Scheidung von Form und Inhalt hatte Heinrich von Treitschke in seiner Atta-
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darin steckt, dass Simmel ‚das Soziale‘ einseitig den Formen zuspricht; die Inhalte dagegen, die er gern an psychische Dispositionen (Triebe, Zwecke usw.) bindet, sind so charakterisiert, dass sie „noch nicht sozialen Wesens“ seien (ebd.: 18).93 Geboten aber – und ganz auf der Linie des mit den Sozialformen befassten Beitrags von André Kieserling in diesem Band – ist es hier, darauf hinzuweisen, dass Simmel sich, was seine Inhalte und deren „Mannigfaltigkeit“ angeht, nicht zurück bezieht auf die eigenen früheren Arbeiten zu ‚sozialer Differenzierung‘ und auch nicht auf die Differenzierungsideen Diltheys und auf dessen „Kultursysteme“.94 Und ebenfalls nicht auf die verschiedenen gesellschaftlichen institutions, mit denen die Spencersche Soziologie95 so breit befasst gewesen war; diese Soziologie war Simmel, dem jungen zumal, ja bestens vertraut. Man kommt indes schwerlich daran vorbei, an ‚funktionale Differenzierung‘ zu denken, wenn Simmel (GSG 16: 72) etwa von den „große(n) Inhalten des geschichtlichen Lebens“ spricht. Und erst recht führt es in Differenzierungsnähe, wenn er von seinen einzelnen Formen (Über- und Unterordnung, Konkurrenz, Nachahmung usw.) sagt, sie fänden sich (als an ganz heterogenen Inhalten) gleichermaßen „an einer staatlichen Gesellschaft wie an einer Religionsgemeinde, an einer Verschwörerbande wie an einer Wirtschaftsgenossenschaft, an einer Kunstschule wie an einer Familie“ (GSG 11: 21; auch GSG 16: 83). Hier sind es ersichtlich die verschiedenen (mit Niklas Luhmann gesprochen) ‚gesellschaftlichen Funktionssysteme‘, die Simmel illustrativ vor Augen hat und deren qualitative Unterschiedlichkeit er voraussetzt.96 Auf die Art ist eben die Heterogenität der Inhalte sichergestellt, die es braucht, um die Gleichheit der Formen (als Sichdurchhalten gegen die Heterogenität) als nichttrivialen Sachverhalt geltend machen zu können. Und nicht anders in der Fortführung des Gedankengangs, in dem es nun cke auf Robert von Mohls ‚Gesellschaftswissenschaft‘ zurückgegriffen; auch die „Historik“ Droysens operiert mit der Form/Inhalt-Differenz. Zu beidem Thomas Burger, Deutsche Geschichtstheorie und Webersche Soziologie, in: Wagner, Zipprian, a.a.O., 29-104, hier 45ff., 54f. Wichtig ist im Übrigen, dass in der späteren Lebensphilosphie Simmels der Formbegriff seinen Gehalt verändert und mit einem neuen Gegenbegriff ausgestattet wird, nämlich dem des ‚Lebens‘. 93 Dieses „noch nicht“ findet sich auch in der kleinen Soziologie von 1917, GSG 16: 82f. 94 Verwiesen sei dafür noch einmal auf Tenbruck, Georg Simmel, a.a.O., 592ff.; Tyrell, Diversität, a.a.O., 139ff., vor allem auch auf den Beitrag von Martin Petzke in diesem Band. 95 Dazu instruktiv Michael Beetz, Das unliebsame System. Herbert Spencers Werk als Prototyp einer Universaltheorie, in: Zeitschrift für Soziologie 39 (2010), 22-37, hier 31f. 96 Auch GSG 11: 26, wo es um die Konkurrenz – „auf den verschiedensten“ Gebieten geht; „die Politik wie die Volkswirtschaft, die Geschichte der Religionen wie die der Kunst erzählen uns unzählige Fälle derselben.“
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um die verschiedenen Formen geht, die ihrerseits an jeweils gleichen Inhalten aufweisbar sind. Auch mit dem, was er dort zur Illustration anbietet – mit den wirtschaftlichen und den religiösen Sozialverhältnissen, mit dem Geschlechterverhältnis, mit Familie und Schule (ebd.) –, setzt Simmel auf die gegeneinander differenten Funktionskontexte. Es führt noch einen Schritt weiter, wenn man unter diesen Vorzeichen auch den Simmelʼschen Aufsatz „Zur Soziologie der Religion“ von 1898 einbezieht. Dieser Aufsatz, auf den in diesem Band der Beitrag von Austin Harrington näher eingeht, ist hier von besonderem Interesse, weil in ihm die Form/Inhalt-Problematik mit der Differenzierungsthematik in aller Deutlichkeit zusammengeführt wird. Die Simmelʼsche Religionssoziologie hat die Religion doppelt zum Gegenstand, nämlich sowohl als soziale Form wie auch als Inhalt, genauer: erst als Form, dann als Inhalt, mithin in einem Abfolgeverhältnis. Man kann sagen: Der Aufsatz, dessen religionsbezogene Sachaussagen hier beiseite bleiben mögen, behandelt die ‚Ausdifferenzierung der Religion‘ als Mutation der religioiden Form in substantielle Religion. Was Simmel später als ‚religioid‘ bezeichnet hat und hier ‚religiös‘ nennt, ist ihm zunächst eine „gleiche Form“, die sich „an vielerlei Inhalten auslebt“ (GSG 5: 273). Vor diesem Hintergrund aber kommt es dann auf ein Steigerungs- und Differenzierungsargument an. Simmel spricht von einem Prozess der „Substantialisierung“, der die religiöse Disposition aufnimmt, verselbständigt und steigert. Die Religion, „bis dahin bloße Beziehungsform“ und mit anderen Lebensinhalten verschmolzen, wird nun etwas ‚für sich‘, sie wird zum inhaltlich-eigenständigen Gebiet und ist dabei doch „etwas Abgeleitetes“ (ebd.: 270ff.). Es dürfte nicht schwerfallen, das Operieren mit dieser Denkfigur am Simmelʼschen Material auch bezüglich anderer Felder oder Funktionssysteme aufzuweisen, wirtschaftsbezogen etwa in der Philosophie des Geldes. Es soll nun im Weiteren der Blick kurz auf einzelne Sozialformen gerichtet werden, die in Simmels Soziologie verhandelt sind. Das kann hier naturgemäß nur für wenige Fälle geschehen, und ich will mich, mit einer Ausnahme, an diejenigen halten, die Simmel selbst am häufigsten nennt. Mir geht es um vier Bemerkungen; deren erste befasst sich mit einer ‚Form der Vergesellschaftung‘, die in sämtlichen Aufzählungen Simmels (und typisch an vorderer Stelle) genannt ist, die in der großen Soziologie als solche aber gar nicht zur Sprache kommt. Die Rede ist von der Nachahmung. a) Im Materienverzeichnis findet sich kein Eintrag in Sachen ‚Nachahmung‘. Schon das ist angesichts der wiederkehrenden Nennung der Nachahmung unter den Sozialformen merkwürdig. Und zur Verwunderung ist noch mehr Anlass, wenn man bedenkt, dass die Nachahmung in der Socialen Differenzierung von 1890 durchaus Thema gewesen war, nämlich im dortigen Kapitel IV, „Das sociale Niveau“ (GSG 2: 199-236). Es ist die dort verhandelte Problematik der ‚Masse‘ (und
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zudem die Idee einer modernitätsspezifischen „Kollektivnervosität“), die den Autor zur Thematisierung der Nachahmung nötigt; dies immer im Sinne der „Wechselwirkung der Individuen untereinander“ (ebd.: 214ff.). Die Nachahmung ist hier einerseits auf Intersubjektivität hin im Blick: als Brücke zum Verstehen (des imitierten Anderen). Andererseits ist sie es niveaubezogen. Simmel sagt es so: „Auch ist die Nachahmung, die die Gleichheit des Niveaus herstellt, eine der niedrigeren geistigen Funktionen, wenngleich sie in socialer Beziehung von der größten [...] Bedeutung ist“ (ebd.: 216). Der Gedankengang, der sich anschließt und auf das Thema der ‚Mode‘97 hinführt, sieht die soziale Bedeutung der Nachahmung nicht zuletzt darin, dass sie „eines der hauptsächlichen Mittel gegenseitigen Verständnisses ist.“ Die kurze Passage zum „sozialen Niveau“, die die Sociologie (GSG 11: 617ff.) enthält, nimmt diesen Faden jedoch nicht wieder auf. Aber noch etwas erstaunt: Simmel hat, als er noch rezensierte, das klassischsoziologische Werk zur Nachahmung, das in jüngster Zeit wieder zu hohen Ehren gekommen ist, besprochen: Gabriel Tardes 1890 erschienenes Buch Les lois de l’imitation.98 Simmel, der mit Tarde korrespondierte99, hat das Buch im Jahr nach seinem Erscheinen mit einer ausgesprochen freundlichen Rezension bedacht (GSG 1: 248ff.). Und schon in dieser Rezension ist er auf das Formenproblem gestoßen und dies gewissermaßen doppelt. Denn einerseits sieht er es gerade als die Leistung Tardes an, die Form der Nachahmung freigelegt zu haben;100 andererseits aber geht er auf Distanz zu der Tardeschen Tendenz, die Nachahmung für das Ganze des Sozialen in Anspruch zu nehmen: als „Schlüssel“ für „alle Rätsel der Sozialseele“ (ebd.: 249f.). Simmel musste demgegenüber auf der Pluralität der ‚Formen der Vergesellschaftung‘ und ihrer Nichtrückführbarkeit aufeinander bestehen. Unter den Formen kann die Nachahmung nur eine neben anderen sein. Auch wenn Tarde also 97 Der Aufsatz Zur Psychologie der Mode. Sociologische Studie von 1895 nimmt das (inklusive Nachahmung) wieder auf, GSG 5: 105-114. 98 Dazu nur Christian Borch, Urs Stäheli (Hg.), Soziologie der Nachahmung und des Begehrens. Materialien zu Gabriel Tarde, Frankfurt/M. 2009; in der Einleitung des Bandes ist auf Simmels Rezension hingewiesen. 99 Es ist allerdings nur ein Brief (von 1894) erhalten, GSG 22: 135; im Übrigen Cécile Rol, Le possible dans la sociologie de Simmel et de Tarde, in: Simmel Studies 13 (2003), 233262. 100 Tarde, sagt Simmel, GSG 1: 249, hat „der Sozialpsychologie einen großen Dienst erwiesen, indem er die Nachahmung als blosse Form von dem Inhalt, den sie sich gibt, abtrennt und es dadurch [...] möglich macht, funktionelle Gleichmäßigkeiten zu finden, die sich sonst leicht durch die außerordentlichen Verschiedenheiten dessen, was nachgeahmt wird, dem Blick verbergen. Wie die Konkurrenz typische Formen und Entwicklungen besitzt, relativ unabhängig von dem Objekt, um das es geht, so mag es auch bei der Nachahmung der Fall sein.“
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in Simmels Augen des Guten zuviel getan hatte, so darf man, was die Nachahmung angeht, mit Einschränkungen wohl sagen: wenigstens für diese Sozialform war die Arbeit von einem anderen Soziologen getan, und Simmel brauchte sie nicht mehr selbst zu tun. Die bloße Nennung der Nachahmung in den Formenkatalogen war ausreichend, denn immer verband sie sich ja mit einer stillschweigenden Anspielung auf die (vorliegende) Tardesche Soziologie. b) Die Soziologien Georg Simmels und Max Webers sind, was beider Entstehungszeit angeht, einander zeitlich nah; trotzdem sind sie ‚ungleichzeitig‘. Abgekürzt gesagt: Simmels soziologisches Jahrzehnt ist vor allem das erste des 20. Jahrhunderts, während die Webersche Soziologie weit überwiegend der Zeit nach 1910 angehört. Simmels Soziologie lag weitestgehend vor, als Weber soziologisch begann; im Œuvre des Letzteren ist auf den ersten Blick allerdings wenig an ‚Nachfolge‘ zu verspüren. Die Webersche Soziologie steht als ‚materiale‘ und historische Soziologie da und darin dem formalsoziologischen Unternehmen Simmels deutlich entgegen. Sieht man aber, was Weber angeht, etwas genauer hin, so ist solche Aussage mit einer nicht unerheblichen Einschränkung zu versehen. Denn dessen Herrschaftssoziologie – Schlussstück der Erstfassung von Wirtschaft und Gesellschaft und auch sonst ein zentrales Werkstück – ist, was Weber klar vor Augen war, ein Fall von formaler Soziologie. ‚Herrschaft‘, wie Weber, der gründliche Leser und Kritiker Simmels, sie verstand, ist ein Verhältnis, das unter den ‚gesellschaftlichen Ordnungen‘ nicht nur der Politik eigentümlich ist, sondern ebenso der religiösen, der wirtschaftlichen oder der ‚häuslichen‘ Sozialsphäre zugehört, und gerade deswegen, in systematischer Absicht also, sollte die Herrschaftsthematik, wiewohl mit politischer Schwerpunktsetzung, den Schlussstein von Wirtschaft und Gesellschaft bilden. Die Rede von „Formen“ bzw. „Strukturformen der Herrschaft“ bei Weber ist denn auch, worauf Edith Hanke zu Recht hinweist, alles andere als zufällig, auch wenn der Plural – sozusagen herrschaftsintern – auf verschiedene Ausprägungen der (mit Simmel gesprochen) „Über- und Unterordnung“ abzielt.101 Auch stößt Webers Fragment gebliebene Auseinandersetzung mit Simmel recht bald auf die herrschaftlichen Wechselwirkungen.102 Man darf also sagen: die Simmelʼsche Herrschaftssoziologie, auch wenn sie sehr anders angelegt ist, geht der Weberschen voraus; auch der Herrschaftsbegriff ist bei Simmel in Gebrauch (GSG 8: 142ff.). Das Kapitel über „Überund Unterordnung“, auf das in diesem Band vor allem der Beitrag von Uta Gerhardt eingeht, hat aber seinerseits eine Vorgeschichte; ist es doch zum größeren Teil und in englischer Sprache bereits 1896/97 im AJS erschienen, dann auch 1907 101 Edith Hanke, Einleitung, in: Max Weber, Gesamtausgabe, Tübingen 1984ff., Bd. I/22, 4: Wirtschaft und Gesellschaft. Nachlass. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte, hg. v. ders., I-XXX, hier XXVIIff. 102 Weber, Georg Simmel als Soziologe, a.a.O., 12.
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im von Weber mitherausgegebenen Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. In diesem seinem Hauptstück ist das Herrschaftskapitel (GSG 11: 160-283) dreiteilig angelegt: entsprechend der Ausübung der Überordnung „von einem Einzelnen, von einer Gruppe, von einer objektiven, sei es sozialen, sei es idealen Macht“ (ebd.: 168). Das Schlussstück des Kapitels, das zuvor - ebenfalls 1907 - unter dem Titel „Zur Philosophie der Herrschaft“ erschienen war (GSG 8: 142-179), hat „die Maße der Herrschaft“ und Freiheitsfragen zum Thema (GSG 11: 246ff.). Im Selbsterhaltungs-Kapitel der Soziologie finden sich dann auch Überlegungen zur Bürokratie, als „Organ und Selbstzweck“, wie es im Materienverzeichnis heißt (ebd.: 866). c) Die Simmelʼschen Aufzählungen der ‚Sozialformen‘ führen die „Über- und Unterordnung“ typisch an erster Stelle. Was dann folgt, ist fast immer die Konkurrenz. Auch dieser Sozialform hat Simmel beträchtliches Nachdenken gewidmet; sie kommt bereits im Eingangskapitel als exemplarischer Fall einer Form zur Sprache (ebd.: 26f.). Schon 1903 hat Simmel den Aufsatz „Soziologie der Konkurrenz“ publiziert (GSG 7: 221-246). Diesen hat er in der Soziologie nahezu komplett dem vierten, dem „Streit“-Kapitel eingefügt (GSG 11: 323ff.), mit einer interessanten Modifikation am Ende. Hier ist der letzte Abschnitt des Aufsatzes von 1903 in eine Fußnote überführt (GSG 12: 246; GSG 11: 349); das Materienverzeichnis aber wertet diese Fußnote mit einem eigenen Eintrag auf: „Konkurrenz und moderne Differenzierung“.103 Simmels Darlegungen zur Konkurrenz, denen sich in diesem Band der Beitrag von Tobias Werron detailliert und weiterführend widmet, präsentieren diese im Streit-Kapitel als eine „Kampfform“ neben anderen; dabei ist es zunächst ihre Indirektheit, die die Konkurrenz „gegen andere Kampfarten“ unterscheidet (ebd.: 323). Auch hier also ein forminterner Plural. Die Darlegungen fügen sich dem „Streit“-Kapitel auch deshalb nahtlos ein, weil sie von dessen Leitidee stark mitbestimmt sind, die sich auf die Kantische Formel von der ‚ungeselligen Geselligkeit‘ bringen lässt. Gerade auch an der Konkurrenz geht es Simmel um das Zugleich von ‚Assoziation und Dissoziation‘, wie es besonders schön in dem in dem bekannten Satz zum Ausdruck gebracht ist: „Die moderne Konkurrenz, die man als Kampf Aller gegen Alle kennzeichnet, ist doch zugleich der Kampf Aller um Alle“ (ebd.: 328). Das Materienverzeichnis spricht hier von „Konkurrenz in ihrer sozialisierenden Wirkung“ (ebd.: 870). Der Rang des Konkurrenztexts braucht hier nicht herausgestellt zu werden; bei Werron ist die exponierte Stellung kenntlich gemacht, die Simmels Darlegungen innerhalb der eher schwach entwickelten soziologischen Reflexion bezüglich Konkurrenz und Knappheit zukommen. Herausgestellt sei aber der Modernitätsakzent, den diese Darlegungen nachdrücklich setzen. Und in diesem Zusammenhang kommt dann doch, wenigstens ansatzweise, zur Sprache, was der Beitrag von André 103 „Dies scharf differenzierte Sach- und Selbstbewußtsein des modernen Menschen“, heißt es dort, „läßt die Kampfform der Konkurrenz wie für ihn geschaffen erscheinen.“
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Kieserling ansonsten an Simmels Formensoziologie so stark vermisst: die Anwendung des Differenzierungsgedankens auf die Formen selbst und auf ihr Verhältnis zueinander. Wo es um die Wertsteigerungseffekte geht, die Konkurrenz mit sich führt, ist von Simmel klar gesagt, dass dies da umso stärker gilt, „wo sie sich von der Beimischung der anderen Kampfformen frei hält“ (ebd.: 325). Und das Kapitel zur „Kreuzung sozialer Kreise“ macht an bestimmter Stelle das Verhältnis von „Konkurrenz und Zusammenschluss“ zum Thema; das Materienverzeichnis spricht von Konkurrenz „bei gleichzeitiger Solidarität“ (ebd.: 478ff., 870). Die Differenzierungsidee kommt hier auf Rollenkombinationen hin ins Spiel, etwa mit der These: „Wo innerhalb eines Kreises starke Konkurrenz herrscht“, da werden „die Mitglieder sich gern anderweitige Kreise suchen, die möglichst konkurrenzlos sind“ (ebd.: 479). Die Mitglieder, wenn sie sich so verhalten, kombinieren dann die Kreise, an die sie sich binden, unter dem Gesichtspunkt der Formdifferenzierung. d) Hingewiesen sei schließlich auf einen Fall, bezüglich dessen Simmel von einer „soziologische[n] Form zweiter Ordnung“ spricht. Peter von Moos hat vor wenigen Jahren zu Recht darauf aufmerksam gemacht. Es geht – im „Exkurs über Treue und Dankbarkeit“ (ebd.: 652-670)104 – um die Treue und ihr ‚Nachwachsen‘. Simmel weist der Treue, was die Selbsterhaltung von (nach Form und Inhalt) verschiedensten Sozialverhältnissen105 angeht, eine sehr bedeutende Funktion zu. So gesehen bedarf es zum Kontinuieren der Gesellschaft allenthalben der Treue. Bei von Moos wird das Gemeinte parallelisiert mit dem Charisma und seiner Überführung ins Institutionelle, in stabilisierte (‚traditionale‘) Pietätsverhältnisse etwa. Das Gefühl der Treue ist ein ‚nachträgliches‘; es bezieht sich, wie Simmel es beschreibt, nicht auf die Anfangsaffektivität (Enthusiasmus, Hingabe, Liebe usw.), um derentwillen bestimmte Sozialbeziehungen in Gang kommen, vielmehr wächst es nach, und die affektive Spezifik ist, dass sich das Gefühl an dem schon bestehenden Verhältnis festsetzt und sich dessen Bestand als solchen „innerlich zu eigen macht“ (ebd.: 654f., 661). Was mit der ‚Form zweiter Ordnung‘ gemeint ist, kann Simmel im Blick auf die Treue dann so umschreiben: „[I]n ihrer Allgemeinheit verhält sie sich gewissermaßen zu den von ihr erhaltenen soziologischen Formen, wie diese 104 Der kurze Essay Treue, GSG 8: 398-403, ist im Juni 1908 fast gleichzeitig mit der großen Soziologie erschienen; er lässt den soziologischen Vorspann des Exkurses, in dem sich auch die Formel von der „soziologische[n] Form zweiter Ordnung“ findet, beiseite. 105 Das gilt „in Über- und Unterordnungen wie in Gleichstellungen, innerhalb kollektiver Gegnerschaften gegen einen Dritten wie innerhalb kollektiver Freundschaften, in Familien wie dem Staat gegenüber, in der Liebe wie in dem Verhältnis zum Berufskreise“, GSG 11: 652. Peter von Moos, Krise und Kritik der Institutionalität. Die mittelalterliche Kirche als „Anstalt“ und „Himmelreich auf Erden“, in: Gert Melville (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln 2001, 293-340, hier 338ff.
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sich zu den materiellen Inhalten und Motiven des gesellschaftlichen Daseins verhalten“ (ebd.: 652).
6. Soziologische Mikroskopie Innerhalb der klassischen Soziologie um 1900 steht Georg Simmel mit seinem Interesse „an den mikrologischen, interaktionalen Wechselwirkungen“ und am sozialen Nahverkehr vereinzelt da.106 Dieses Interesse folgt, wie zuvor schon angedeutet, zunächst aus der Logik der Wechselwirkung, nicht (oder doch weniger) aus der der Sozialformen. Es war der Aufsatz „Soziologie der Sinne“ von 1907 (GSG 8: 276292),107 in dem Simmel, wenn ich es recht sehe, erstmals sein Plädoyer für eine, wie ich unter Vorbehalt sage, ‚Mikrosoziologie‘ formuliert und den „Beginn der mikroskopischen Untersuchung“ in der „Gesellschaftswissenschaft“ ausgerufen hat. Das Anfangsstück des Aufsatzes hat er (mit einiger Variation) in das Eingangskapitel der großen Soziologie übernommen (GSG 11: 32ff.). Das Hauptstück findet sich als „Exkurs über die Soziologie der Sinne“ in das neunte, das „Raum“-Kapitel integriert (ebd.: 722ff.). Man muss aber im Blick auf die Formensoziologie Simmels hinzusetzen: Es ist erst der Aufsatz zur „Soziologie der Geselligkeit“ (zunächst Soziologentagsvortrag, 1911 publiziert) gewesen, der – bezogen auf „das gesellige Zusammensein“ – die Formenproblematik mit den ‚interaktionalen Wechselwirkungen‘ zusammengeführt hat. Es braucht hier nur an die berühmte These von ‚der Geselligkeit‘ als der „Spielform der Vergesellschaftung“ erinnert zu werden; in dieser ist eben einer Vielfalt von Formen ‚Spielraum‘ gegeben (GSG 12: 177ff.). Mit Simmels ‚soziologisch-mikroskopischer‘ Botschaft, die sich in die ‚kleine‘ Soziologie hinein verlängert (GSG 16: 68ff.), ist in diesem Band der Beitrag von Jörg Bergmann näher befasst; er meldet vom Standpunkt heutiger qualitativ-empirischer Forschung her wohlbegründete Zweifel an, ob der Titel einer ‚Mikrosoziologie‘ für Simmels Untersuchungen zur ‚Sozialität im Kleinen‘ der adäquate ist. Das Materienverzeichnis spricht bezüglich solcher Sozialität, wie schon gesagt, von „fließenden und molekularen Vergesellschaftungen“. Zu Simmels soziologischer Befassung mit diesen sei hier nur dreierlei festgehalten. Zunächst: Das Simmelʼsche Programm widerruft die oben angesprochene frühere Ausschließung der ‚ephemeren‘ und kurzfristigen Sozialbeziehungen aus der Soziologie.108 Simmel tut das so, dass er die „mikroskopisch-molekularen Vorgänge“ 106 Dazu nur Ziemann, a.a.O., 139ff. 107 Dazu aber auch der schöne Auftakt von Die Gesellschaft zu zweien von 1908, GSG 8: 348. 108 „Es ist ein oberflächliches Haften an dem [...] Sprachgebrauch, wenn man die Benennung als Gesellschaft nur der dauernden Wechselbeziehung vorbehalten will, nur derje-
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in die Gesellschaft nicht nur (wieder) hineinnimt, sondern mehr noch: sie für unerlässlich für den Zusammenhalt der Gesellschaft erklärt. „Die Gesellschaft, wie wir sie kennen“, das sind nicht nur die Institutionen, nicht nur, wie Simmel organismus-analog formuliert, „die großen fest umschriebenen Organe“, das ist ebenso das kleinteilig-namenlose Bindegewebe, „die mikroskopisch-molekularen Vorgänge innerhalb des Menschenmaterials, die aber doch das wirkliche Geschehen sind, das sich zu jenen makroskopischen [...] Systemen erst zusammenkettet“. Es geht um jene interaktiven Vergesellschaftungen, die ‚sich fortwährend knüpfen, sich lösen und von neuem knüpfen‘ (GSG 11: 32f.). Fragt man danach, wie jene „fließenden und molekularen Vergesellschaftungen“, soweit sie von Simmel ereignisförmig beschrieben werden, näher charakterisiert sind, so stehen – von Spezifikationen wie ‚klein‘ und geringfügig abgesehen – zeitliche Bestimmungen im Vordergrund: ephemer, kurz, flüchtig, folgenlosvergänglich, unbeständig. Selbst der „Exkurs über die Soziologie der Sinne“, auf den in diesem Band Urs Stäheli gesondert eingeht, ist mit Auge und Ohr nicht nur als sehr unterschiedlichen ‚Sozialorganen‘ befasst; auch beider unterschiedliche Zeitlichkeit ist Thema, nämlich die Arbeitsteilung und Ergänzung zwischen dem Auge, das eher mit den Beständen zu tun hat, und dem auf den Fluss der „auftauchenden und versinkenden Äußerungen“ sich richtenden Ohr (ebd.: 728f.). Zu der zeitlichen tritt bei Simmel eine quantitativ-soziale Akzentsetzung: Solches Sozialgeschehen, solcher Verkehr, zu dem man sich mit diesem oder mit jenen zusammenfindet und sich wieder trennt, zu dem man kommt und geht, findet gesellschaftsweit in beständigem Wechsel statt, allerorten, mit wechselndem Personal und ‚in unermesslicher Zahl‘ (ebd.: 33). Auch in diesem Kontext bietet Simmel eine illustrative Aufzählung des Gemeinten, und gerade hier ist die Aufzählung zugleich Ankündigung einer Vielfalt von Themen, die in der großen Soziologie im Weiteren, teilweise in eigenen Exkursen, zur Sprache kommen. Ich zitiere: „Daß die Menschen sich gegenseitig anblicken, und daß sie aufeinander eifersüchtig sind; daß sie sich Briefe schreiben oder miteinander zu Mittag essen; daß sie sich, ganz jenseits aller greifbaren Interessen, sympathisch oder antipathisch berühren; daß die Dankbarkeit der altruistischen Leistung eine unzerreißbare bindende Weiterwirkung bietet; daß einer den anderen nach dem Weg fragt und daß sie sich füreinander anziehn und schmücken – all die tausend, von Person zu Person spielenden, momentanen oder dauernden [...] Bezie-
nigen, die sich zu einem bezeichenbaren Einheitsgebilde objektiviert hat [...]. Außer diesen aber besteht eine unermeßliche Zahl von kleineren, in den einzelnen Fällen geringfügig erscheinenden Beziehungsformen [...] die, indem sie sich zwischen die umfassenden, sozusagen offiziellen sozialen Formungen schieben, doch erst die Gesellschaft, wie wir sie kennen, zustande bringen“, GSG 16: 68f.
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hungen [...] knüpfen uns unaufhörlich zusammen“ (ebd.: 33; fast deckungsgleich GSG 16: 69). Es sei im Blick auf diese Aufzählung angemerkt, dass es sich lohnen könnte, die mikrosoziale Vielfalt, die hier angedeutet ist, zu ordnen und zu differenzieren. Es fällt ja auf, dass sich das Mikrosoziale zunächst auf die Interaktion, auf den Verkehr „bei unmittelbarer Gegenwärtigkeit“ (im Unterschied zum ‚schriftlichen‘, GSG 11: 429ff.) beziehen lässt; ich verweise illustrativ nur auf ‚die Geselligkeit‘ und ‚die Mahlzeit‘109, auf das Schweigenkönnen, das Sichschmücken und Sichkleiden für andere, erst recht auf Simmels differentielle Beschreibung von Auge, Ohr und Nase in der Kommunikation usw. Gerade für die face-to-face-Vergesellschaftungen kommt, schon angesprochen, die Zeitlichkeit des Mikrosozialen zum Tragen: das Flüchtige, Nichtdauernde, Wechselhafte des Miteinanders und Auseinanders im ‚Personennahverkehr‘. Simmel stellt dies gerade für das wechselseitige „Sich-Anblicken“ heraus, das ihm in seiner zweiseitig-synchronen Unmittelbarkeit den Perfektionsfall reziproker Sozialität darstellt; es währt nur ‚einen Augenblick‘.110 Das Mikrosoziale ist weiterhin quantitativ bestimmt: „die Gesellschaft zu zweien“ bzw. zu dritt; der ‚kleine Kreis‘ usw. (ebd.: 100ff.). Nicht unwesentlich ‚quantitativ mitbestimmt‘ treten die Sozialaffekte111 hinzu, die Simmel so meisterlich beschreibt: Eifersucht, Treue, Dankbarkeit, Hass, Neid usw. – als sozial adressierte Affekte, die zum Teil gerade auf ihre Bindungsqualität hin interessieren, auf die Dauerhaftigkeit, die sie zustande bringen. Ich belasse es bei diesen Andeutungen. Eine interaktionsbezogene Anmerkung ist noch geboten. Sie will auf eine eigentümliche Disbalance aufmerksam machen. Es fällt ja – im Nachhinein und von Goffman her gedacht – auf: Auf der einen Seite finden sich bei Simmel, was das „Zusammensein“ und die Kommunikation unter Anwesenden angeht, Beobachtungen und Formulierungen von unverlierbarer soziologischer Gültigkeit. Genannt sei 109 Wie die Soziologie der Geselligkeit, so ist die 1910 publizierte Soziologie der Mahlzeit, GSG 12: 140-147, ein Aufsatztext, der der großen Soziologie nachfolgt. Dass die Menschen essen und trinken müssen, ist dort einerseits als das ihnen „Gemeinsamste“, andererseits aber als „das Egoistischste, [...] am unmittelbarsten auf das Individuum Beschränkte“ beschrieben. Simmel fährt fort: „was ich denke, kann ich andere wissen lassen; was ich sehe, kann ich sie sehen lassen; was ich rede, können Hunderte hören – aber was der Einzelne ißt, kann unter keinen Umständen ein anderer essen“ (ebd.: 140). 110 „Und so stark und fein ist diese Verbindung, daß sie nur durch die kürzeste, die gerade Linie zwischen den Augen getragen wird, und daß die geringste Abweichung von dieser, das leiseste Zurseitesehn, das Einzigartige dieser Verbindung völlig zerstört. Es bleibt hier [...] keine objektive Spur zurück“, GSG 11: 723f. 111 Simmel spricht auf die Treue bezogen von einem „soziologischen oder, wenn man so will, soziologisch orientierten Affekt“, GSG 11: 658.
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im Blick auf ‚Anwesenheit‘ und Kopräsenz die Bemerkung: „Der Mensch ist für den Andern keineswegs schon da, wenn dieser ihn ansieht, sondern erst, wenn er auch jenen ansieht“ (ebd.: 724f.). Der „Exkurs über die Soziologie der Sinne“112, der unten im Beitrag von Urs Stäheli gewürdigt und an die aktuellen Sinnlichkeitsdebatten herangeführt wird, bietet noch weit mehr an solchen Einsichten. Auf der anderen Seite aber fehlt es (auch) bei Simmel an einer Begriffsbildung, die die ‚Vergesellschaftung unter Anwesenden‘, wie man sagen könnte, für sich nimmt und sie – im Sinne Goffmans von „encounters“ – ‚isoliert‘, d.h. als Sozialsystem eigener Art und mit eigenen Selbsterhaltungsproblemen herausstellt.113 Es findet sich bei Erving Goffman indes auch ein Hinweis, der einen der Gründe namhaft macht, die der soziologischen Klassik den Weg zur ‚Interaktion‘ (als dem ‚einfachen Sozialsystem‘) versperrte. Es waren die Massenpsychologie und ihre Breitenwirkung, die, was Sozialsituationen der Kopräsenz anging, zunächst an das „enge Zusammensein mit vielerlei Menschen“ (meine Hervorh., H.T.) denken ließ, nämlich an die Probleme der „aktuell zusammenbefindlichen Masse“ (GSG 2: 214, 211). Damit aber verband sich zuallererst eine massive Irrationalitätsunterstellung und bei Simmel speziell: der Befund von niedrigem Niveau.114
7. Zahl, Raum, Zeit Die bisherigen Darlegungen waren bemüht, Linien durch Simmels Sammelwerk zu legen und dies, wie es dem Leser aufgetragen ist, vom Eingangskapitel aus zu tun. Nun tut man sich aber damit schwer, für gleich drei der großen Kapitel des Buches den Anschlusspunkt zu identifizieren, der sie an die Gedankengänge des ersten Kapitels an- und rückbindet. Es sind jene Kapitel, an die man wohl zuerst denkt, wenn man bei Eberhard Gothein im Blick auf Simmels Soziologie liest: „Fast möchte man sagen: er gibt eine Kategorienlehre der Gesellschaft; denn es sind größtenteils
112 Es sei hier auch hingewiesen auf den „Exkurs: Auge und Ohr“, den man bei Hans Blumenberg, Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung, in: Studium Generale 10 (1957), 432-447, hier 441ff., findet. 113 Erving Goffman, Interaktion. Spaß am Spiel/Rollendistanz, München 1973, 7ff.; auch Niklas Luhmann, Einfache Sozialsysteme, in: Zeitschrift für Soziologie 1 (1972), 51-65, sowie André Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme, Frankfurt/M. 1999. 114 Auch die Kollektiverregung der Masse aber stellte in Simmels Augen „die reinste Wechselwirkung“ dar: „[J]eder Einzelne leistet seinen Beitrag zu der Gesamtstimmung, die auf ihn freilich mit einem Quantum wirkt, in dem sein eigener Beitrag sich ihm verbirgt“, GSG 11: 211f.
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die allgemeinsten Beziehungen, [...] die er zum Rahmen seiner Darstellung nimmt.“115 Gemeint sind das Kapitel II., „Die quantitative Bestimmtheit der Gruppe“, das Kapitel VIII., „Die Selbsterhaltung der sozialen Gruppe“ und schließlich das Kapitel IX., „Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft“. Wenn man den ‚Kategorien‘-Gedanken vorsichtig aufnimmt, dann hat man es mit Raum, Zeit und Zahl – projiziert auf die sozialen Verhältnisse – zu tun. Ich will im Weiteren vorzugsweise nur prüfen, mit welchen Vorüberlegungen und Richtungsangaben Simmel die besagten Kapitel jeweils ausstattet und lasse es offen, ob hier eine ‚soziologische Kategorienlehre‘ intendiert ist.116 Was das zweite Kapitel117 angeht, dem sich in diesem Band Andreas Ziemann mit seinem Beitrag widmet, so hat man es leicht. In ihm geht es nicht um bestimmte Formen der Vergesellschaftung (als solche), sondern einerseits darum, das Moment des Quantitativen oder Numerischen am Sozialen zu isolieren; das Quantitative ist dabei nicht selbst Form. Und andererseits geht es darum, die (Mit-)Bestimmtheit des Sozialen und seiner Formen durch dieses Moment zu untersuchen. Es soll die Bedeutung „geprüft werden, die die bloße Zahl der [...] vergesellschaften Individuen für diese Formen hat“ (GSG 11: 63).118 Und dies sowohl im Positiven wie auch im negativen Sinne, also darauf hin, was an sozialer Formung unterhalb bzw. oberhalb einer bestimmten quantitativen Schwelle nicht möglich ist. Simmel geht der Frage der „Abhängigkeit des soziologischen Formcharakters einer Gruppe“ dann vor allem mit der, wie er einräumt, groben Unterscheidung „großer und kleiner Kreis“ nach (ebd.: 82ff.), und das Kapitel ist im Weiteren so angelegt, dass mit ‚mikroskopischer‘ Perspektive zunächst die ‚niedrigen Zahlenverhältnisse‘ Thema sind, vor allem die Zweizahl und die Dreizahl (ebd.: 96ff.).119 Simmel wechselt im Schlussstück zu Fragen der Gruppengröße (ebd.: 151ff.). Soviel ist schon daraus ersichtlich: Die Mikro/Makro-Frage, wenn man so formulieren darf, stellt eine Linie dar, die das Kapitel durchzieht. Zugleich sind in ihm – im Blick auf Größen115 Gothein, a.a.O., 683. 116 Die Frage ist unten im Beitrag von Andreas Ziemann näher angesprochen. 117 Auch dieses ein AJS-Kapitel, The Number of Members Determining the Sociological Form of the Group von 1902, GSG 18: 203-287; eine kürzere Fassung war schon 1895 auf Französisch erschienen, GSG 19: 36-45. Ferner: im Eingangskapitel der Soziologie findet sich natürlich, etwa GSG 11: 27, diese und jene Anspielung auf die Probleme des zweiten Kapitels. 118 Die ‚Formen‘ sind dabei aber nicht streng im Sinne der Form/Inhalt-Unterscheidung zu verstehen! 119 Gerade Simmels Überlegungen zur Rolle des Dritten haben in den Theoriediskussionen der letzten Jahre ein nicht geringes Echo gefunden; dazu nur Gesa Lindemann, Die Emergenzfunktion und die konstitutive Funktion des Dritten. Perspektiven einer kritischsystematischen Theorieentwicklung, in: Zeitschrift für Soziologie 35 (2006), 82-101.
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wachstum (= „Erweiterung der Gruppe“) – Entwicklungsthemen verhandelt, wie sie dann das zehnte Kapitel explizit wieder aufnimmt. Höchst eindrucksvoll ist etwa der ‚differenzierende‘ Abschnitt zu Sitte, Recht und Moral (ebd.: 75ff.), dem das Materienverzeichnis den Titel „Normierungsarten des Verhaltens in ihrer Abhängigkeit von der Größe des Kreises“ gibt. Mit dem neunten, dem „Raum“-Kapitel ist es schwieriger. Immerhin gibt es einige deutliche Analogien zum Quantitätskapitel. Da der Simmelʼschen Raumsoziologie (und ihrer Rezeption) jüngst wichtige Beiträge gewidmet worden sind,120 kann ich mich hier auf drei Beobachtungen bzw. Anmerkungen beschränken. Ich möchte zunächst auf den Aufsatz „Soziologie des Raumes“ von 1903 (GSG 7: 132-183) aufmerksam machen, mit dem Simmel den ersten Teil des „Raum“-Kapitels von 1908 (GSG 11: 687-790) bestreitet. Dem Aufsatz hat Simmel eine Bemerkung vorangestellt, die diesen als „Kapitel einer von mir künftig zu veröffentlichenden Soziologie“ vorstellt. Zugleich spielt er an dieser Stelle auf den Problemaufsatz von 1894 an, nennt diesen als Hintergrund des Buchvorhabens, rückt dann bemerkenswerterweise aber bezüglich seiner Raumuntersuchungen von dessen Programm ab und nennt diese „unabhängig davon“.121 Das träfe dann aber wohl auch das zweite Kapitel. Sodann: Während Simmel die ‚Bestimmtheiten‘ des Sozialen durch „die bloße Zahl“ im zweiten Kapitel ganz umstandslos geltend macht, geht er die Frage nach der ‚räumlichen Bestimmtheit‘ der Gesellschaft erheblich vorsichtiger an. Am Beginn des Kapitels steht ein Dementi, das die gängige kausale Zurechnung der Eigenart bestimmter sozialer Verhältnisse auf den ‚Raum‘ oder auf bestimmte räumliche Gegebenheiten erst einmal zurückweist – als eine der „häufigsten Ausartungen des menschlichen Kausaltriebes“ (ebd.: 687). Nur unter sehr spezifischen Konditionen ist es für Simmel gerechtfertigt, „nach der Bedeutung“ zu fragen, „die die Raumbedingungen einer Vergesellschaftung für ihre sonstige Bestimmtheit und Entwicklungen [...] besitzen.“ Und solchen Konditionierungen geht Simmel dann Schritt für Schritt nach (ebd.: 690ff.). Es ist in diesem Zusammenhang die Frage nach den spezifischen Effekten ‚räumlicher Nähe‘, die die Anschlussstelle für den „Exkurs über die Soziologie der Sinne“ bildet (ebd.: 722-742). „Wanderschaft und 120 Ziemann, a.a.O., 228ff.; Andrea Glauser, Pionierarbeit mit paradoxen Folgen? Zur neueren Rezeption der Raumsoziologie Georg Simmels, in: Zeitschrift für Soziologie 35 (2006), 250-268, sowie die Beiträge von Lawrence Scaff und Glauser in Rol, Papilloud, a.a.O, 45-62, 63-86. 121 „Ich hoffe, daß sie [die Untersuchungen, H.T.] ihren Beitrag zur Analyse des gesellschaftlichen Daseins unabhängig davon liefern werden, ob man jenes Programm als das der Soziologie eigene anerkennt oder nicht“, GSG 7: 132. Natürlich artikuliert sich hier eine gewisse Bitterkeit, aber gemeint ist doch auch: Mit dem Programm der Formensoziologie sind die Untersuchungen nur lose gekoppelt.
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sozialer Antagonismus“ nennt das Materienverzeichnis den Passus, an den der „Exkurs über den Fremden“ anschließt (ebd.: 761ff., 764ff.). Das Schlussstück des Kapitels (ebd.: 771ff.) schließlich folgt dem Aufsatz „Über räumliche Projektionen socialer Formen“, ebenfalls von 1903 (GSG 7: 201219), und hier ist nun „umgekehrt, die Einwirkung, die die räumlichen Bestimmtheiten einer Gruppe durch ihre eigentlich soziologischen Gestaltungen und Energien erfahren“, das Thema. „Einteilung der Gruppe nach räumlichen Gesichtspunkten“ sagt das Materienverzeichnis. Hier finden sich sehr instruktive Überlegungen u.a. über die „behausten Vereinigungen“(GSG 11: 779ff.). In diesem Kontext verhandelt Simmel auch das „Männerhaus“; er gibt sich dabei als beeindruckter Leser von Heinrich Schurtz zu erkennen, wie es bezogen auf dessen Altersklassen und Männerbünde (1902) Max Weber ja nicht minder war.122 Dass das (jeweilige) ‚gemeinsame Haus‘ den „Kristallisationspunkt“ jener interkulturell so verbreiteten maskulinen „Klassenbildung“ (und geschlechtlichen Klassenspaltung) darstellte, ist hier eindrucksvoll auf den Begriff gebracht. Was Zahl und Raum betrifft, so darf man sagen, dass die Simmelʼsche Soziologie die Frage nach der quantitativen bzw. räumlichen Bestimmtheit des Sozialen in gewisser Parallelität stellt. Diese Parallelität findet in zeitlicher Hinsicht nun eindeutig keine Weiterführung. Dafür findet sich eine andere Parallele, nämlich in Hinsicht auf die Mikro/Makro-Unterscheidung, wie sie gerade im Quantitätskapitel bestimmend war: kleiner versus großer Kreis. In zeitlicher Hinsicht bestimmt sich die Mikro/Makro-Unterscheidung, wie Simmel sie pflegt, zu einem wesentlichen Teil über den Gegensatz von Ereignis und Bestand. Was diesen Gegensatz angeht, so braucht nur noch einmal jener Passus aus der Socialen Differenzierung von 1890 zitiert zu werden, der die Weichen für das (spätere) Kapitel VIII., „Die Selbsterhaltung der sozialen Gruppe“ stellt. Dieser Passus kontrastierte jene soziale Wechselwirkung, die „ein objektives Gebilde zustande bringt“, „deren Formen beharren“ und die sich institutionell „zu einem Körper verdichtet“, mit jener ephemeren Sorte von Vergesellschaftung, „die mit den unmittelbar ins Spiel kommenden Subjekten und ihrem augenblicklichen Verhalten verschwindet“ (GSG 2: 133f.). Diese letztere Art von sich ereignender und vergehender, „fließender und molekularer Vergesellschaftung“ bildet, wie schon gesagt, zu einem wesentlichen Teil den Stoff für das Geschäft der ‚mikroskopischen Soziologie‘. Die erstere aber ist Thema des achten Kapitels. Dieses Kapitel hat Simmel 1908 mit einer gravierenden neuen Anfangsüberlegung ausgestattet, die soziologisch erheblich zu denken gibt und die abermals ein Dementi formuliert, das ich nur andeuten will. Am ‚Bestand‘ der Kollektivgebilde sehen wir normalerweise nicht, was uns an der (Daueranstrengung der) ‚Selbst122 Der Name von Schurtz fällt hier, GSG 11: 780f. – ganz im Unterschied zu Weber –, natürlich nicht.
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erhaltung‘ der Individuen (als „Lebensprozeß“) sofort vor Augen ist: den Prozessund „Kampfcharakter“ davon, den ‚Kampf ums Dasein‘,123 wenn man so will. „Daß wir in der Erhaltung von Staat und Zunft, Kirche und Zweckverband [...] nicht so sehr den Prozeß, die hin und her spielenden Ausgleichungen, die Anbildung immer neuer Mittel gegen immer neue Gefahren erblicken, sondern eher eine einfache Nicht-Änderung, die Kontinuität unberührter Ruhe“, dafür weiß Simmel mehrere Gründe namhaft zu machen. Aber die soziologische ‚Realbotschaft‘ ist: Auch (und gerade) für die Kollektivgebilde oder Institutionen besagt „die Selbsterhaltung durch die Zeit hindurch“ alles andere als „starre Fraglosigkeit oder innere Unbewegtheit“ (GSG 11: 556, 557f.); allem Makrobestand, den Simmel prozessualisiert sehen will, wohnt, was das Bestehen als solches angeht, ein Moment von Unwahrscheinlichkeit inne. Ich belasse es bei dieser Andeutung und möchte nur noch auf zweierlei hinweisen: Dabei geht es einerseits und im Mikrosozialen um einen weiteren Fall von Bestandsunwahrscheinlichkeit. Dem „Selbsterhaltungs“-Kapitel ist aus gutem Grund der „Exkurs über Treue und Dankbarkeit“ eingefügt (ebd.: 652-670). Im Hinblick auf die sozial adressierten Affekte, um die es dort geht, führt Simmel dem Leser vor Augen, dass das ‚Gefühlsleben‘, dass die Affekte etwas konstitutionell Fluktuierendes, Instabiles darstellen, dass Treue und Dankbarkeit dagegen gerade gegenteilig Bestand und Dauer zum Gefühlsinhalt haben. So ist Treue jenes „eigentümliche Gefühl“, das nicht „den Besitz [...] des Andern, [...] auch nicht [...] das Wohl des Andern“ präferentiell im Sinn hat, sondern „die Erhaltung der Beziehung“ zu ihm (ebd.: 658). Andererseits möchte ich auf die Ehre zu sprechen kommen, die bei Simmel an zwei Stellen soziologisch zur Sprache kommt: zum einen als die Ehre (etwa „Standesehre“) eines bestimmten, sich unterscheidenden sozialen Kreises (ebd.: 485ff.), zum anderen „als Selbsterhaltung der Gruppe“, wie es im Materienverzeichnis heißt (ebd.: 866, 599ff.). In dem letzteren Kontext wird die Ehre zunächst als normativer Sachverhalt verhandelt, als bestimmte ‚Normierungsart‘, die sich ‚in einer mittleren Stellung‘ zwischen Moral und Recht befindet. (Bei Max Weber wäre hier von ‚Konvention‘ die Rede). Simmels These ist dabei, die Ehre sei als „eigenartige Garantieform“ zu nehmen, die „das richtige Verhalten“ der Mitglieder eines ‚Sonderkreises‘ „auf denjenigen praktischen Gebieten“ sicherstellt, „die das Recht nicht ergreifen kann und für die die nur gewissensmäßigen Garantien der Moral zu unzuverlässig sind“ (ebd.: 599f.). Dieser These, die dann näher begründet wird, ist eine Fußnote beigegeben, die bezüglich der Normierungsarten
123 „Man hat mit Recht hervorgehoben, daß der sociale Zusammenschluß eines der wesentlichsten Mittel der Menschen im Kampfe ums Dasein ist und sich deshalb wahrscheinlich durch natürliche Zuchtwahl zu seiner thatsächlichen Enge und Strenge erhoben hat“, GSG 2: 140.
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auf das zweite, das Quantitätskapitel zurückverweist. Dort nämlich wird die soziale Normierung zum gesellschaftlichen Größenwachstum ins Verhältnis gesetzt.124
8. Gegeneinander und Mit- bzw. Füreinander Ferdinand Tönnies hat, wie ihm gern nachgesagt wird, die „verneinenden“ Sozialverhältnisse aus denen der ‚Gemeinschaft‘ wie denen der ‚Gesellschaft‘ heraushalten wollen und ihnen einen Platz nicht in der Soziologie, sondern der Sozialpsychologie zugewiesen. Simmel hat dagegen bereits im „Problem der Sociologie“ die „Gegnerschaft und Konkurrenz“ in das „Mit-, Für- und Nebeneinandersein der Individuen“, mit dem es die Soziologie zu tun hat, hineingenommen. Auch das ‚gegen‘ ist ihm eine Sozialpräposition; auch ‚gegen‘ ist ein Fall von ‚mit‘ (GSG 5: 57f.). Schon vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass man Simmel zu Recht den nennt, der „den Konflikt zum begrifflichen Grundinventar soziologischen Denkens erhoben“ hat.125 Es ist nicht ohne Bedeutung, dass die einschlägige Publikation dazu im Jahre 1904 zunächst in drei Teilen im American Journal of Sociology erschienen ist: übersetzt von Albion Small und unter dem Titel „Sociology of Conflict“ (GSG 18: 288-354).126 Aus diesem Textmaterial hat Simmel dann unter Hinzunahme der „Soziologie der Konkurrenz“ von 1903 das „Streit“-Kapitel seiner großen Soziologie von 1908 geformt. Soziologiehistorisch ist es das vielleicht einflussreichste Kapitel des Buches. Schon im „Problem der Sociologie“ war Simmel um die ‚Differenzierung‘ von Soziologie und Psychologie bemüht (GSG 5: 53f.). Der Aufgabe dieser Differenzierung stellt er sich auch im Eingangskapitel der Soziologie (GSG 11: 35ff.); im Materienverzeichnis findet sich dafür der Eintrag „Psychologie und Soziologie“ (ebd.: 871). Die Notwendigkeit, die Disziplinen auseinanderzuhalten, ergibt sich hier aus der zuvor propagierten Öffnung der Soziologie auch für die mikrosozialen Verhältnisse, für die „minimalen Beziehungen zwischen den Menschen“ (ebd.: 35). Den „soziologischen Blickpunkt“, der die ‚seelischen‘ Gegebenheiten an den sozialen 124 Der Querverweis führt auf einen Passus, den das Materienverzeichnis so benennt: „Normierungsarten des Verhaltens in ihrer Abhängigkeit von der Größe des Kreises“, GSG 11: 871, 75ff. Hier geht es um die Trias von Recht, Sitte und Moral. Natürlich gibt es einen Zusammenhang mit der Einleitung in die Moralwissenschaft. 125 Heinz Messmer, Der soziale Konflikt. Kommunikative Emergenz und systemische Reproduktion. Stuttgart 2003, 16; verwiesen sei hier auch auf Tyrell, Konflikt als Interaktion, in: Ders., Soziale und gesellschaftliche Differenzierung, a.a.O., 17-38. 126 Der Teil III davon – Das Ende des Streits, GSG 7: 333-344 – ist 1905 auch in deutscher Sprache erschienen, ferner auch (und für sich nach wie vor faszinierend!) Der Mensch als Feind. Zwei Fragmente aus einer Soziologie von 1908 (GSG 8: 335-343).
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Prozessen durchaus nicht in Abrede stellt, verdeutlicht Simmel an dieser Stelle nun in besonderer Weise mit Blick auf die Sozialform von Gegnerschaft und Konflikt, und zugleich entfaltet er schon hier das Leitmotiv des „Streit“-Kapitels. Er stellt zunächst fest, „daß Gegnerschaften dann am erbittertsten sind, wenn sie sich auf der Grundlage einer früheren oder noch irgendwie fühlbaren Gemeinsamkeit und Zusammengehörigkeit erheben, wie man als den glühendsten Haß etwa den unter Blutsverwandten bezeichnet hat“ (ebd.: 37f.). Zweifellos nun ist dieser Hass – als „in jedem von zwei Individuen ablaufende seelische Reihe“ – ein Fall für die Psychologie. Die Soziologie dagegen interessiert sich für etwas anderes. Ihr Blick auf diesen Fall ist ein synoptischer; sie sieht ihn nämlich „unter der Kategorie der Einung und der Entzweiung“ (ebd.: 38; Hervorh. von mir, H.T.). ‚Gegeneinander‘ und ‚Füreinander‘ mögen konträr zueinander stehen; unter ‚einem höheren Begriff‘ von gesellschaftlicher Einheit aber gehören sie zusammen (ebd.: 284ff.). Im Konkurrenzzusammenhang wird dies, als der spezifisch soziologische Leitgedanke des „Streit“-Kapitels, auf die Formel von der „Synthese von Synthese und Antithese“ gebracht (ebd.: 322). Abermals geht es Simmel damit um das soziologische Dementi gängig-oberflächlicher Anschauungen. Die Antithese verhält sich nicht einfach nur destruktiv zur Synthese; sie geht im weiteren Sozialzusammenhang mit ihr die vielfältigsten Synthesen ein. Und entsprechend durchzieht der Gesichtspunkt „der soziologischen Positivität des Kampfes“ nahezu das gesamte vierte Kapitel der Soziologie, dies, wie schon gesagt, einschließlich der Darlegungen zur Konkurrenz.127 Der Streit ist bei Simmel mithin weniger als eigenständige ‚Form‘ der Vergesellschaftung Thema,128 er ist es vielmehr in seiner Verflochtenheit in die ‚Vergesellschaftung‘. Soziologisch unübertroffen ist die Konfliktanalyse nicht zuletzt darin, das enge ‚Hand in Hand‘ von Konflikt und positiver Bindung, von Hass und Liebe, Repulsion und Attraktion immer neu aufzudecken, sei es (etwa) im Nacheinander, sei es in der unmittelbaren Ambivalenz, wie sie der Fall des Sichschmückens aufweist,129 sei es im Sinne der gleichzeitig-gegenseitigen Forcierung von Gegeneinander nach außen 127 Entsprechend haben Passagen aus den Eingangsüberlegungen der Soziologie der Konkurrenz, GSG 7: 221ff., Eingang in die Anfangsüberlegungen des „Streit“-Kapitels gefunden. Das Anliegen des Aufsatzes war dieses: „Wie sich der Kampf in das gesellschaftliche Leben verwebt, wie er als eine besondere Art der Wechselwirkung die Einheitlichkeit der Gesellschaft beeinflußt [...] – das wollen diese Betrachtungen für eine eigentümliche Form des Kampfes, für die Konkurrenz, deutlich machen“, GSG 7: 222. 128 So sehr auch die Konkurrenz als besondere Form in Anspruch genommen wird! 129 Dazu innerhalb des „Geheimnis“-Kapitels der „Exkurs über den Schmuck“, GSG 11: 414-421, wo die soziologische Pointe die ist, dass dem Sichschmücken ‚in einem‘ die egoistische Tendenz innewohnt, andere auszustechen oder zu überbieten und zugleich das Bedürfnis, den anderen zu gefallen.
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und Füreinander nach innen. Dieser letztere Zusammenhang, der seine stärkste Ausformulierung am Ende des „Selbsterhaltungs“-Kapitels erhält (ebd.: 683ff.), taucht bei Simmel interessanterweise auch selbst als Form auf; die zweite Formenaufzählung des Eingangskapitels nennt als letztes Exempel die „Bedeutung gemeinsamer Gegnerschaft für den Zusammenhalt der Gruppe“ (ebd.: 27). Gerade das „Streit“-Kapitel ist über viele Fäden mit den anderen Kapiteln der großen Soziologie verknüpft, besonders, wie gesagt, mit dem Schluss des „Selbsterhaltungs“-Kapitels, wo Simmel dann auch ausdrücklich auf das ‚besondere Kapitel‘ zur „Soziologie des Kampfes“130 hinweist (ebd.: 685).131 Vor allem das zweite, das Quantitätskapitel ist ‚konflikthaltig‘, wofür ich nur auf die entsprechenden Einträge des Materienverzeichnisses hinweisen will. Die Dualisierungstendenz des Konflikts, die „Aufteilung der Elemente in zwei Parteien“ (ebd.: 121ff.) heißt dort: „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich“. Die darauf reagierende Rolle des Dritten findet man unter „Unparteiische“ und unter „Vermittler“ (ebd.: 125ff.); der „Tertius gaudens“ ist ebenfalls ein streitbezogener Dritter (ebd.: 135ff.). Auch das „Divide et impera“ (ebd.: 142ff.) gehört hierher; unter „Eifersucht“ findet man noch einen Zusatzhinweis: „als Mittel des divide et impera“ (ebd.: 146ff.). Weiterhin ist der „Exkurs über die Analogie der individualpsychologischen und soziologischen Verhältnisse“ zum größten Teil dem ‚inneren Kampf‘ gewidmet: dem „Kampf [...] innerhalb der Elemente des Individuums und unter den Individuen“ (ebd.: 851ff.). Das führt zurück zu den Überlegungen des Eingangskapitels, die die Grenzlinie zwischen Soziologie und Psychologie ziehen sollen und deren Veranschaulichung, wie gezeigt, zu einem wichtigen Teil mit Konfliktmaterial bestritten wird (ebd.: 37f.).
9. Unterbrechungen im Vergesellschaftetsein – Exklusion und Inklusion Der in das Anfangskapitel von Simmels Soziologie hinein genommene „Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich?“ (ebd: 42-61) ist hier bislang vernachlässigt worden und mit ihm das wohl berühmteste Textstück des Buches, das Simmel wohl unmittelbar für das Buch geschrieben hat. Es geht bei diesem Textstück, in dem mit kaum jemals wieder erreichtem Tiefgang das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft verhandelt wird, auch um das Intersubjektivitätsproblem (das „Für-Sich des Andern“). Simmel selbst spricht von „Untersuchungen zur Er130 Simmels semantisches Changieren zwischen „Kampf“ und „Streit“ (aber auch ‚Gegnerschaft‘, ‚Feindschaft‘, ‚Antithese‘ u.a.) wäre einer ‚Sprachprüfung‘ wert. 131 Im Materienverzeichnis findet man ferner mit Bezug aufs Schlusskapitel den Eintrag „Synthese innerhalb der eigenen Gruppe in Korrelation mit der Antithese gegen die fremde“, GSG 11: 796ff.
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kenntnistheorie der Gesellschaft“, für die er dann offen lässt, ob sie „in die Sozialphilosophie oder etwa selbst schon in die Soziologie hineingehören“ (ebd.: 61). Und Klaus Lichtblau liegt wohl richtig, wenn er dem Text „die Funktion“ zuweist, „die dialektischen Beziehung zwischen dem ‚Fürsichsein‘ und dem ‚Vergesellschaftetsein‘ zu verdeutlichen“.132 Was den vorliegenden Band angeht, so steht der Exkurs im Mittelpunkt des umfangreichen Beitrags, den Uta Gerhardt beigesteuert hat. Und auch der sozialphilosophisch orientierte Beitrag von Kurt Röttgers geht, was Simmel und Kant angeht, darauf näher ein; er verweist zudem im Vorfeld des Exkurses auf Simmels Auseinandersetzung mit Rudolf Stammler von 1896. Im Eingangskapitel der Soziologie ist es der Blick auf zwei philosophische Nachbargebiete (auch) der Soziologie, mit dem sich Simmel dem Problem „Wie ist Gesellschaft möglich?“ nähert. Die Rede ist von Erkenntnistheorie und Metaphysik (ebd.: 39ff.). An den Fragen, die beide bezogen auf die Gesellschaft typisch aufwerfen, ist die Gesellschaft vorausgesetzt. Der Exkurs nun kehrt das um und fragt seinerseits „nach den Voraussetzungen der Gesellschaft“ (ebd.: 41). Allerdings ist die ‚Gesellschaft‘, die hier verhandelt wird, nicht die, die an den Wechselwirkungsformen und der Mannigfaltigkeit der Vergesellschaftungen ihre Wirklichkeit hat. Die Gesellschaft des Exkurses ist eine im Bewusstsein und Wissen der Individuen („eine Wissenstatsache“, ebd.: 47), und zugleich ist sie als Einheit thematisch. Es geht um „die gesellschaftliche Einheit“, die „von ihren Elementen, da sie bewußt und synthetisch aktiv sind“, selbst hergestellt und realisiert wird (ebd.: 43). Ich gehe hier auf den Exkurs und seine drei Aprioris nicht näher ein. Da der Beitrag von Uta Gerhardt die zentrale Bedeutung des Exkurses herausstellt und die Dinge detailliert zur Sprache bringt, soll es an dieser Stelle genügen, auf zwei Linien aufmerksam zu machen, die sich von hier aus durch Simmels Buch legen lassen. Ich wiederhole: Der Exkurs stellt die Frage nach der Möglichkeit von Gesellschaft nicht auf Wechselwirkungsfragen hin; er stellt sie ganz vom Individuum und vom individuellen (Ich-)Bewusstsein her, nämlich als Frage nach der synthetischen Herstellung ‚der Gesellschaft‘ bzw. des Vergesellschaftetseins mit anderen – im je individuellen Bewusstsein. Im Unterschied zur „‚Selbstlosigkeit‘ der unbeseelten Dinge“ bilden wir die Vorstellung vom Du als „etwas von unsrer Vorstellung seiner Unabhängiges, als etwas, das genauso für sich ist, wie unsre eigne Existenz“ und dem ein Ich und ein Bewusstsein zukommt wie uns selbst (ebd.: 44f.). Auf das Auch-Ich des Anderen kommt es im Verhältnis zu ihm ebenso an wie auf das an seinem Ich gegebene Fürsich- und In-Differenz-Sein. Im Hinblick auf das Gesellschaftsverhältnis aber tritt ein Problem hinzu; es resultiert aus der „Gleichzeitigkeit der beiden logisch einander entgegengesetzten Bestimmungen der Gliedstellung und des Fürsichseins, des Produziert- und Befaßtseins durch die Gesellschaft und des Lebens aus dem eignen Zentrum heraus und um des eignen Zentrums willen“ 132 Lichtblau, a.a.O., 81.
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(ebd.: 56).133 Um es verkürzt zu sagen: Es sind damit, denkt man von der ‚gesellschaftlichen Totalität‘ her, die aus dem (je) Fürsichsein und der Subjektivität des Einzelnen sich ergebenden Unterbrechungen im Vergesellschaftetsein, worauf Simmels Blick gerichtet ist. Nimmt man an diesem Punkt das erste Apriori hinzu und hält mit diesem fest, dass uns nur gegeben ist, den anderen stets „in irgendeinem Maße verallgemeinert [...] in uns zu repräsentieren“, ihn aber nie in seiner vollen Individualität zu erreichen (ebd.: 47ff.), so ist man schon in der Nähe der Fragen des Kapitels V., das den Titel „Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft“ trägt134 und auf das Alois Hahn unten des Näheren zu sprechen kommt. Das Kapitel hat seinen Ausgangspunkt bekanntlich darin, dass alle Vergesellschaftung darauf beruht, dass die Vergesellschafteten „etwas voneinander wissen“ (ebd.: 383ff.). Nun kommt es hier aber auf das Wissen ebenso an wie auf das Nichtwissen.135 Zugleich führt der Gedankengang auf das Feld der Kommunikation, die bei Simmel ‚Verkehr‘, ‚Mitteilung‘, ‚Äußerung‘, ‚Verlautbarung‘ u.a. heißt, und abermals: vor allem auf deren Schranken. Die ‚Unterbrechungen‘ des vergesellschaftenden Wissens- und Kommunikationszusammenhangs, die sich aus dem ‚Fürsichsein‘ des Einzelnen (und seines Bewusstseins) mit Notwendigkeit ergeben, sind der Gegenstand des ersten Teils des „Geheimnis“-Kapitels.136 In aller Deutlichkeit ist hier, wie Alois Hahn wiederholt herausgestellt hat, auf die konstitutionelle Differenz von Kommunikation und Bewusstsein abgestellt.137 Unsere Gedankenbewegungen operieren eben ganz anders als das, was wir äußern und ‚zur Sprache bringen‘, und die „Zickzackbewegungen“ unserer Bewusstseinstätigkeit sind in keiner Weise synchronisiert und synchronisierbar mit dem, was wir ‚verlautbaren‘. Die kommunikative Vergesellschaftung stößt in der Intransparenz des einen Bewusstseins für das andere, für jedes andere, an prinzipielle Schranken. Es ist, sagt Simmel, „überhaupt kein andrer Verkehr und 133 Dies Problem rahmt auch den „Exkurs über die Überstimmung“, GSG 11: 218-228. 134 Auch dieses Kapitel hat eine im Wesentlichen amerikanische Vorgeschichte: übersetzt von Albion Small und 1906 erschienen als The Sociology of Secrecy and of Secret Societies im American Journal of Sociology, GSG 18: 405-462. 135 Im Aufsatz Psychologie der Diskretion von 1906 heißt es: „Denn nicht nur, was der eine vom andern weiß, sondern dessen Verwebung mit dem, was er nicht weiß, gibt der Beziehung ihren Ton, ihren Umfang, ihr Tiefenmaß“, GSG 8: 108. 136 Insbes. der Gedankengang GSG 11: 386ff. Ein Schlüsselsatz dort lautet: „Kein anderes Wesen kann uns in dieser Weise von sich aus aufklären oder sich verstecken, wie der Mensch es kann, weil kein andres sein Verhalten durch die Rücksicht auf sein Erkanntwerden modifiziert“, GSG 11: 386. 137 Etwa Alois Hahn, Kontingenz und Kommunikation, in: Gerhart von Graevenitz, Odo Marquard (Hg.), Kontingenz, München 1998, 493-521, hier 497ff.
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keine andre Gesellschaft denkbar, als die auf diesem teleologisch bestimmten Nichtwissen des einen um den andern beruht“ (ebd.: 388). Auch von einer „apriorischen [...] Voraussetzung“ ist hier die Rede. Und damit ist ein Ausgangspunkt formuliert für den Blick auf all jene spezifischeren, mindestens einen Vorbehalt mit sich führenden Verhaltens- und Kommunikationsweisen, die das „Geheimnis“Kapitel dann (samt ihrem Gegenteil) zum Thema macht: die Lüge, das Misstrauen, die Diskretion, die Verschwiegenheit, das Geheimhalten usw. Und daran schließt sich dann – im Sinne ‚organisierter Geheimhaltung‘ und Kommunikationsunterbrechung – das Thema der ‚geheimen Gesellschaft‘ an, auf das als eigenen Typus der „Associierung“ Simmel schon im „Problem der Sociologie“ hingewiesen hatte (GSG 5: 57f.; GSG 11: 421ff.). Der „Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich?“ enthält aber noch eine weitere Problemformulierung, von der her sich auf direktem Wege weitere Themenfelder des Buches erschließen. Und in diesem Fall wird es dem Leser explizit auch mitgeteilt. Man kann dem Problem, das gemeint ist, in heutiger Terminologie den Titel von Exklusion und Inklusion geben, wobei Simmels Punkt abermals – analog auch dem Konfliktfall – das Zugleich von beidem ist. Der betreffende Gedankengang findet sich gleich zu Beginn von Simmels Darlegung des zweiten der drei Aprioris. Dessen Leitformulierung lautet bekanntlich, „daß jedes Element einer Gruppe nicht nur Gesellschaftsteil, sondern außerdem noch etwas ist“; im Hinblick auf den Einzelnen als „Element der Gesellschaft“ heißt es aber darüber hinaus (und ganz analog der genannten Relation von Wissen und Nichtwissen), „die Art seines Vergesellschaftet-Seins ist bestimmt oder mitbestimmt durch die Art seines Nicht-Vergesellschaftet-Seins“ (ebd.: 51). Hieran schließt sich unmittelbar eine Ankündigung an: „Die späteren Untersuchungen werden einige Typen ergeben, deren soziologische Bedeutung sogar in ihrem Kern und Wesen dadurch fixiert ist, daß sie von der Gesellschaft, für die ihre Existenz bedeutsam ist, grade irgendwie ausgeschlossen sind: so bei dem Fremden, bei dem Feinde, bei dem Verbrecher, sogar bei dem Armen“ (ebd.). Es ist klar: diese Fälle („Typen“) von gesellschaftsinterner Ausschließung138, die die Art der sozialen Inklusion zumindest mitbestimmen, verweisen auf den bekannten „Exkurs über den Fremden“ (ebd.: 764771) sowie auf das gewichtige Kapitel VII., „Der Arme“ (ebd.: 512-555). Dieses Kapitel ist in den Wohlfahrtsstaatsdebatten der letzten Jahrzehnte wiederentdeckt worden; Lewis Coser hat ihm einen lesenswerten Beitrag gewidmet.139 Da mit dem 138 Für ‚den Armen‘ etwa: „Die eigentümliche Ausschließung, die der Arme erfährt, ist das Bezeichnende für die Rolle, die er innerhalb der Gesellschaft, als ein besonders situiertes Glied derselben spielt“, GSG 11: 526. 139 Das Kapitel ist unter dem Titel „Soziologie der Armut“ zunächst (1906) im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik erschienen, GSG 8: 24-57. Dazu auch Lewis A. Coser, Soziologie der Armut. Georg Simmel zum Gedächtnis, in: Stephan Leibfried,
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Typ des ‚Feindes‘ der Sache nach ‚der Feind in der Gesellschaft‘ gemeint ist und weniger das symmetrische Gegenüber der (einander) Feinde, sollte man an dieser Stelle eher nicht an den so kleinen wie bedeutsamen Aufsatz „Der Mensch als Feind“ von 1908 (GSG 8: 335-347) denken, der zugleich Teil des „Streit“-Kapitels ist (GSG 11: 298ff.).140 Der Logik des zweiten Apriori ist Simmel aber auch im herrschaftssoziologischen Kontext verpflichtet, in einer eindrucksvollen Passage nämlich, die das Materienverzeichnis mit „Teilung und Ganzheit der Persönlichkeit bei dem Herrschaftsverhältnis zwischen Vielen und Einem“ betitelt (ebd.: 873). Ausgangspunkt der Überlegung ist die Irritation, die von dem quantitativen Missverhältnis zwischen dem einen Herrscher und den vielen ihm Unterworfenen ausgeht (ebd.: 179ff.). Simmel lässt sich aber nicht irritieren und stößt an dieser Relation auf „eine sehr eigenartige und folgenreiche soziologische Grundkonstellation“, eine, an der sich eine zweite, aber ganz andersartige Asymmetrie auftut. Es ist nämlich das „außerdem noch etwas anderes“-Sein, das zwischen Herrscher und beherrschter Masse, aber zulasten des Ersteren, ungleich verteilt ist. Simmels These ist, „daß die Masse, d.h. das beherrschte Element, nur einen Teil jeder dazugehörigen Persönlichkeit einschließt, während der Herrscher seine ganze Persönlichkeit in das Verhältnis hineingibt.“ Die vielen Einzelnen sind, wiewohl Beherrschte, in das Herrschaftsverhältnis nur partiell involviert, und darin kann ein Moment liegen, das ihnen das Verhältnis erträglich sein lässt. Ganz im Einvernehmen mit dem Beitrag von Uta Gerhardt unten bleibt hier noch hinzuzufügen, dass das zweite Apriori deutliche Verbindungen nicht zuletzt zu dem so gern rollentheoretisch verstandenen Kapitel VI, „Die Kreuzung sozialer Kreise“ (ebd.: 456-511) aufweist. Man braucht dafür nur jenen Satz aus dem Exkurs zu zitieren, der selbst von ‚sozialer Rolle‘ spricht: „Der ganze Verkehr der Menschen innerhalb der gesellschaftlichen Kategorien wäre ein andrer, wenn ein jeder dem andern nur als das gegenüberträte, was er in seiner jeweiligen Kategorie, als Träger der gerade jetzt ihm zufallenden sozialen Rolle ist“ (ebd.: 51f.). Aber „wir wissen“ eben vom Beamten, vom Kaufmann, vom Offizier, dass er über die jeweilige Rolle hinaus „außerdem noch etwas ist“, wozu natürlich auch gehört, daß er typisch noch andere Rollen hat. Im Übrigen führt auch vom dritten Apriori der ‚sozialen Existenz des Individuums‘ – der „durchgehende[n] Korrelation seines indiviWolfgang Voges (Hg.), Armut im Wohlfahrtsstaat, Opladen 1992, 34-47; ferner mit Blick auf ‚Exklusion‘: Lutz Leisering, Desillusionierung des modernen Fortschrittsglaubens: „Soziale Exklusion“ als gesellschaftliche Selbstbeschreibung und soziologisches Konzept, in: Thomas Schwinn (Hg.), Differenzierung und soziale Ungleichheit. Die zwei Soziologien und ihre Verknüpfung, Frankfurt/M. 2004, 238-268, hier 245ff. 140 Was schließlich den Typ des Verbrechers angeht, so kann ich einen Simmelʼschen Textbezug dafür einstweilen nicht erkennen.
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duellen Seins mit den umgebenden Kreisen“ (ebd.: 59) – der Weg ins sechste Kapitel, dessen Thema bekanntlich eines der gesellschaftlichen Differenzierung ist. Die bestimmende Frage ist hier ja, wie zunehmende Differenzierung die Individuen betrifft. Simmels Antwort: sie schlägt sich an ihnen als sich ausweitender Rollenpluralismus nieder, dies aber zugleich mit ‚individualisierenden‘ Wirkungen.
10. Soziale Differenzierung Ganz einfach möchte ich es mir abschließend mit jenen beiden Kapiteln machen, die ihren Ausgangstext in der Socialen Differenzierung von 1890 haben; Simmel hat beide für die große Soziologie erheblich ausgebaut. Das zuletzt schon berührte Kapitel VI. und das Kapitel X. gehören nicht nur von dem Buchtitel her, unter dem sie ursprünglich erschienen sind, in den differenzierungstheoretischen Kontext. Auf diese Rahmung hat, wie erwähnt, anlässlich von Simmels hundertstem Geburtstag Friedrich Tenbruck mit Nachdruck aufmerksam gemacht und dabei nicht zuletzt auf Dilthey als Vorläufer verwiesen – ein Faden, den Alois Hahn später wieder aufgenommen hat.141 Daran schließt in diesem Band der Beitrag von Martin Petzke an; er führt, mit Simmel gesprochen, die Reihe anspruchsvoll weiter und schlägt den differenzierungsthematischen Bogen von Diltheys Einleitung in die Geisteswissenschaften über Simmels soziologische Schriften bis hin zu dessen Spätwerk. Zu sagen bleibt angesichts dessen an dieser Stelle nur noch dies: Während sich aus dem Eingangskapitel, wie angedeutet, durchaus Linien hin zur „Kreuzung sozialer Kreise“ ziehen lassen, gilt das für das Schlusskapitel „Die Erweiterung der Gruppe und die Ausbildung der Individualität“ nicht. Dieses Kapitel, dem mit dem „Exkurs über den Adel“142 und dem „Exkurs über die Analogie der individualpsychologischen und der soziologischen Verhältnisse“ zwei Exkurse eingefügt sind (ebd.: 816ff., 850ff.), nimmt innerhalb des Buches ausdrücklich einen Sonderstatus für sich in Anspruch und zwar hinsichtlich seiner Bau- und Argumentationsweise. Simmel wirft hier gleich zu Beginn einen Blick zurück auf die voran liegenden Kapitel und kennzeichnet dann den davon abweichenden Fall des Schlusskapitels. Es lohnt, diese Selbstbeschreibung des Buches etwas ausgiebiger zu zitieren: „Die Themata, um die herum die Untersuchungen dieses Buches zu einzelnen Kapiteln gesammelt sind, waren bisher einzelne Begriffe des soziologischen Gebietes überhaupt, die einer großen Vielfältigkeit und oft Gegensätzlichkeit der histori141 Alois Hahn, Die Systemtheorie Wilhelm Diltheys, in: Berliner Journal für Soziologie 9 (1999), 5-24. 142 In der Eingangsüberlegung des Exkurses stößt man auf einen ausdrücklichen Rückbezug auf die „Untersuchungen am Begriff der Gesellschaft“ zu Anfang des Buchs, GSG 11: 816.
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schen, diese Begriffe darbietenden Gestalten und Gestaltungstypen Raum gaben. Die von dem praktischen Einteilungszweck geforderten Zusammenfassungen hatten ein inneres Recht nur darin, daß die Erscheinungen und Reflexionen den fraglichen Begriff gemeinsam enthielten: der Inhalt der einzelnen Kapitel war nicht in einer einheitlichen Behauptung auszudrücken, deren Beweis allmählich erwuchs, sondern nur in einer Summe von Behauptungen, die sich unter seinem Titel zusammenfanden. Die nun folgende Untersuchung soll einen anderen Typus exemplifizieren: sie dient der Aufweisung eines einzigen, wenn auch in vielen Modifikationen [...] auftretenden Zusammenhangs; nicht ein Begriff, sondern ein Satz ist ihren Teilen gemeinsam. Statt eine singuläre abstrahierte Form in die Erscheinungen [...] zu verfolgen, soll nun hier eine bestimmte Korrelation und wechselseitig bestimmte Entwicklung von Formen der Vergesellschaftung dargelegt werden“ (ebd.: 791). Die Korrelation nun, die das zehnte Kapitel in großer Entwicklungsperspektive verhandelt, ist, wie im Titel angegeben, die von gesellschaftlichem Größenwachstum und Individualisierung. Es ist dabei von einiger Faszination, zu beobachten, unter welchen „Modifikationen, Hüllen und Mischungen“ (ebd.) Simmel diesen wechselseitigen ‚Wachstumszusammenhang‘ – „unsere Korrelation“ (ebd.: 841) – im Einzelnen freilegt und sichtbar macht. Unbedingt lohnt es, das genauer zu rekonstruieren. An dieser Stelle sei mit Bezug auf frühere eigene Überlegungen143 nur darauf hingewiesen, dass das Korrelieren das Spezifikum der Differenzierungstheorie Simmels darstellt. Vor allem vier Größen sind es, die dabei in einen wechselseitigen Steigerungszusammenhang miteinander gebracht werden: gesellschaftliches Größenwachstum, gesellschaftliche Differenzierung, Individualisierung und (expandierende) Geldwirtschaft. Und so sehr die Soziologie von 1908 zur Philosophie des Geldes sonst Distanz wahrt, im Schlusskapitel ist das korrelative Thema von Geldwirtschaft und ‚großem Kreis‘ unvermeidlich: „Das größte weltgeschichtliche Beispiel [...] für die Korrelation zwischen der sozialen Erweiterung und der individuellen Zuspitzung des Lebens nach Inhalten und Formen zeigt“ eben „das Aufkommen der Geldwirtschaft“ (ebd.: 831f., auch 845f.).
143 Tyrell, Diversität, a.a.O., 134ff., aber ebenso der Beitrag von Martin Petzke unten.
Die ‚Große Soziologie‘ und die ‚große‘ Philosophie K URT R ÖTTGERS
Auf die ‚große‘ Philosophie – gemeint ist natürlich die Kantische – hat Simmel in vielfältiger Weise Bezug genommen. Und es wäre gewiss eine Untertreibung, wollte man behaupten, die allgemeine neue Kant-Begeisterung der vorletzten Jahrhundertwende wäre an ihm vorbei- oder über ihn hinweggegangen. Immerhin reicht seine erste Publikation zur Kantischen Philosophie, der Aufsatz „Was ist uns Kant?“, ins Jahr 1896 zurück, und seine Kant-Vorlesungen, erstmals veröffentlicht 1904, erlebten zu Simmels Lebzeiten vier Auflagen, Kant-Vorlesungen hielt Simmel aber seit Beginn seiner Lehrtätigkeit an der Berliner Universität, insgesamt von 1885 bis 1897. Viele dieser Vorlesungen waren zugleich deklariert als Einführungen in die Philosophie überhaupt, so dass man annehmen darf, dass Simmel die Kantische Philosophie hierfür besonders geeignet hielt.1 Das ist an sich schon bemerkenswert, vor allem wenn man sich die heute grassierende ‚Einführungs‘-Literatur anschaut, kontrastiert aber außerdem auffällig mit der Tatsache, dass Simmel offensichtlich kein sehr gründlicher Kant-Leser bzw. -Kenner war. Sein Kant-Buch von 1904 enthält dazu die Exkulpation: „Die Absicht dieses Buches ist keine philosophie-geschichtliche, sondern eine rein philosophische. Es gilt ausschließlich, diejenigen Kerngedanken, mit denen Kant ein neues Weltbild gegründet hat, in das zeitlose Inventar des philosophischen Besitzes [...] einzustellen, unabhängig von allen Anwendungen und Ergänzungen, die zwar innerhalb des Kantischen Ge-
1
In einer dieser Vorlesungen aus dem Jahre 1894 soll nach einem Bericht Cassirers, mitgeteilt von John Michael Krois (www.ernstcassirer.uni-hamburg.de/intro/krois.html), Simmel gesagt haben, die besten Werke über Kants Philosophie seien die von Hermann Cohen, aber er – Simmel – verstehe diese Werke nicht.
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Aber selbst wenn wir uns den zuvor erwähnten Aufsatz aus Simmels Frühzeit anschauen, so geht er bereits in eine, hier auch durch den Publikationsort in der Vossischen Zeitung signalisierte, didaktisch motivierte Distanz zur Philosophie Kants. Das zeigt zunächst die unterstellte Distanz des Praktikers als Leser dieser Zeitung zur Philosophie überhaupt, die diesem „abstruse, widerspruchsvolle, jedem unmittelbaren Eindruck der Wirklichkeit ins Gesicht schlagende Phantasmen“ scheinen (GSG 5: 145). Zwar wird dieser Spontaneindruck oder Affekt gegenüber der Philosophie dann schnell durch ein Argument relativiert, das in dieser Form fast von Kant stammen könnte, nämlich die Annahme einer allen Menschen „gemeinsamen Wurzel“, also einer Allgemeinheit, die Kant als die Vernunft identifiziert hatte. Aber, so Simmel hier, Kant habe eben nicht nur die Einheit der Vernunft in allen vernünftigen Wesen postuliert, sondern damit auch – das wird hier noch nicht Kantkritisch formuliert, bleibt aber in Simmels Entwicklung ein Kernproblem – in seiner Moralphilosophie „durch die Welt der Ideale einen Riß gelegt“ (ebd.: 172). Später, um 1900 herum, wird diese Distanz zu Kant deutlicher und führt schließlich zu der Formel „Kant und Goethe“. Doch Simmel begreift seine kritische und zunehmend distanziertere Haltung zur Kantischen Philosophie nicht nur als Eigenständigkeit seines philosophischen Denkens in einer veränderten historischen und kulturellen Situation, sondern er erlaubt sich auch, eingebaut in diese Distanz, eine spezifische Ignoranz. Die Kantische Philosophie hat er nur selektiv zur Kenntnis genommen, nämlich soweit sie zu den „Lebensproblemen“ seiner, Simmels Zeit, in einem produktiven Bezug stehend gedacht werden könne. So konnte für die Kant-Zitate in dem Kant-Buch von 1904 nachgewiesen werden, dass sie sämtlich aus den Hauptschriften stammen (GSG 9: 477ff.). Insofern ist es eine gewisse irreführende Selbststilisierung, wenn er rückschauend behauptet, er sei von erkenntnistheoretischen und „kantwissenschaftlichen“ (!) Studien ausgegangen. Bezogen auf die Bände der Akademie-Ausgabe hat er nur die Werke benutzt, die in den Bänden drei bis fünf enthalten sind. Berücksichtigt man zusätzlich seine Dissertation, verschiebt sich der Eindruck ein wenig, aber eben auch nur ein wenig. Wie gering ihn der Forschungsstand der KantPhilologie, den die Akademie-Ausgabe dokumentierte, interessierte, zeigt ein von ihm als Zitat übernommener Zitierfehler Kants, der in Band fünf (1913) von den
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Herausgebern richtiggestellt worden ist.2 Simmel zitiert unbeirrt auch in der vierten Auflage von 1918 weiterhin das falsche Kant-Zitat (ebd.: 199). Allerdings nahm es Simmel überhaupt mit den Zitaten aus Kants Schriften nicht so genau. ZwischenFazit: Simmel war mit Sicherheit kein Kantwissenschaftler. Die viel wichtigere und vielleicht einzig wichtige Frage ist jedoch: Inwieweit folgt die Methode der ‚Großen Soziologie‘3 der Leitlinie Kants? Bemerkenswert ist in dem Zusammenhang ohne Zweifel, dass bereits der erste Exkurs der Soziologie: „Wie ist Gesellschaft möglich?“ (GSG 11: 42-61) an Kant anknüpft, und zwar mit einer Frage, die Rudolf Stammler bereits 1896 in Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung explizit aufgeworfen hatte, indem er auf eine diesbezügliche Lücke im Kantischen Werk hinwies. Stammler schrieb: „Kant hat seine wissenschaftliche Lebensaufgabe, die Neubegründung der Philosophie als systematischer Wissenschaft, auf das soziale Gebiet nicht ausgedehnt. Er hat [...] keine zusammenhängende Sozialphilosophie geschaffen“. Desiderat also wäre eine ‚Kritik der sozialen Vernunft‘. Eine solche hat nach Stammler eine doppelte Aufgabe. Sie hat erstens die in die theoretische Philosophie fallende Aufgabe der Klärung der Bedingungen, durch die wir die Gesellschaft zum Gegenstand sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse machen können. Grundsätzlich fragte Stammler, „in welchem Sinne eine Gesetzmäßigkeit in der Erkenntnis des sozialen Lebens überhaupt möglich“ sei4, d.h. der Forscher hat seiner Auffassung nach den „objektiven Grundgesetzen seiner Erkenntnis [nämlich des Sozialen, K.R.] nachzuspüren.“5 Das impliziert, wie Gesellschaft als einheitlich-zusammenhängender Gegenstand der Erkenntnis möglich sei. Methodisch hätten die Sozialwissenschaften so vorzugehen, dass sie „diejenigen Begriffe und Sätze, in denen wir unsere soziale Erkenntnis vollziehen, in ihrem Inhalte zergliedern und objektiv-logisch analysieren, um daraus die Eigentümlichkeit der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis [...] klarzustellen.“6 Aber nach Stammler hat die ‚Kritik der sozialen Vernunft‘ auch das andere, praktisch-politische Problem zu klären, das durch die Dringlichkeit der sogenannten ‚sozialen Frage‘ des 19. Jahrhunderts aufgerufen worden war.7 Nach dieser Richtung ist die Aufgabenstellung die Untersuchung, wie eine wohlgeordnete
2
Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, hg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1913, Bd. 5, 529.
3
Mit ,Großer Soziologie‘ ist im Folgenden immer die Soziologie von 1908 gemeint.
4
Rudolf Stammler, Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung.
5
A.a.O., 3.
6
A.a.O., 16.
7
Zu dem Begriff Eckart Pankoke, Art. Soziale Frage, in: Historisches Wörterbuch der Phi-
Eine sozialphilosophische Untersuchung, Leipzig 1896, 14.
losophie, hg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer, Basel 1971ff., Bd. 9, Sp. 1129-1134.
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Gesellschaft „als Sphäre des sozialen Handelns aus Freiheit möglich sei.“8 Oder in einer anderen Formulierung: „Es ist […] mit Hilfe der systematischen Zergliederung unserer sozialen Begriffe derjenige Grundsatz herauszufinden, unter dessen bewußter Festhaltung allein eine Einheit in den wechselvollen Bestrebungen des sozialen Lebens möglich ist.“9 Diese Kombination des deskriptiven und des normativen Aspekts der kritischen Sozialphilosophie hat, so Stammler, keine Vorgänger: „Auch Kant, dessen Erkenntniskritik – wie der Kundige bemerkt haben wird – für die Entwerfung unseres Planes von bestimmendem Einflusse gewesen ist, hat in seiner Metaphysik der Sitten eine grundlegende Theorie des sozialen Lebens nicht geliefert.“10 Ich möchte jedoch hinzufügen, dass es gute Gründe bei Kant gibt, eine solche Kritik der sozialen Vernunft, als einer Mélange aus Deskriptivem und Normativem, zu vermeiden. Die theoretische Vernunft und die praktische Vernunft sind für Kant zwei ‚Stämme‘ unseres Geistes, deren Zusammenhang problematisch bleibt. So etwa nimmt Kant in theoretisch-philosophischer Perspektive einen durchgängigen Determinismus unseres gesamten Verhaltens (durch äußere Ursachen, Motive, Triebe etc.) als möglich an; in praktisch-philosophischer Hinsicht geht er uneingeschränkt von der Freiheit menschlichen Handelns aus. Kant hütete sich sehr wohl, beide Perspektiven zu mischen oder Kompromisse zuzulassen, etwa gemäß der heute üblichen Art der Quantifizierung von Freiheitsgraden im forensischen Gutachterwesen. Man muss daher vielleicht sogar sagen, dass Kant die Sozialphilosophie im neukantianischen Sinne gleichsam nicht vergessen hat, sondern dass sie in seinen Augen eine unmögliche Unternehmung gewesen wäre. Das Fehlen einer solchen vierten Kritik bei Kant hat also gute Gründe. Simmel hatte bereits 1896 in dem Aufsatz „Zur Methodik der Socialwissenschaft“ (GSG 1: 363-377) dazu Stellung bezogen, und er moniert Stammlers enge Definition der Gesellschaft als „ein durch äußerlich verbindende Normen geregeltes Zusammenleben von Menschen“. Simmel reformuliert diesen Ansatz einer normativen Integration mit seiner Formel „Zusammenfassung der Individuen nach Ideen“ (ebd.: 368). Auch die beigefügten Beispiele zeigen, wie Simmel – jenseits seines generellen, aber doch höchst zweischneidigen Applauses für Stammler – Normen durch Werte bzw. Normierungen durch Wertungen ersetzen möchte. Sein schlagendstes Beispiel ist vielleicht die Kirche, die als soziale Einheit eben nicht durch „äußerlich verbindende Normen“ zusammengehalten ist, sondern durch ein gemeinsames Glaubensbekenntnis. In bewusster Absetzung von Stammler kommt Simmel dann zu der berühmten Definition von Gesellschaft, die Normativität und normative
8
Stammler, a.a.O., 17.
9
Ebd.
10 A.a.O., 22.
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Integration nur als eine von mehreren Möglichkeiten vorsieht: Gesellschaft ist überall da, „wo mehrere Individuen in Wechselwirkung stehen“ (GSG 5: 54). Eine solche Formel ist zugleich, das darf nicht übersehen oder unterschätzt werden, der Ursprung einer nicht-normativen Sozialphilosophie, der Begriff kommt explizit vor als Alternative zur Festlegung der Sozialphilosophie auf Normativität, die von Stammler bis Habermas und Honneth reicht und in ihrer Enge zwischenzeitlich auch von der Soziologie fast durchweg affirmiert worden ist. Insofern würde ich Otthein Rammstedts Formulierung, dieses sei „nur eine Skizze“ (GSG 11: 883) ergänzen wollen und sagen, obwohl Skizze, ist sie Programmentwurf von höchster Bedeutsamkeit. Stammler hatte, wie unter normativistischen Sozialphilosophen verbreitet üblich, die Frage „Wie ist Gesellschaft möglich?“ in doppelter Weise interpretiert und zugleich kurzgeschlossen, nämlich als erkenntnistheoretische Frage danach, wie Gesellschaft als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse konstituiert sei (im Sinne der Frage Kants in den Prolegomena: „Wie ist Natur in materieller Bedeutung, nämlich der Anschauung nach, als der Inbegriff der Erscheinungen; wie ist Raum, Zeit und das, was beide erfüllt, der Gegenstand der Empfindung, überhaupt möglich?“11) und zugleich als Frage nach der inhaltlichen Begründung normativer Integration, bei Stammler zusammengefasst in der Formel von der Gesellschaft als „Gemeinschaft frei wollender Menschen“ (GSG 1: 372). Hier wird Simmel noch entschiedener: „Ich lasse diese Bestimmung des normativen Ideals, als nicht von methodischem Interesse, hier bei Seite und frage nach der von Stammler behaupteten Notwendigkeit einer solchen überhaupt“ (ebd.). Simmel erklärt, dass Stammlers Begründung für die Notwendigkeit eines obersten Prinzips normativer Integration, nämlich dass eine solche – als transzendentale Apperzeption bei Kant – auch in der theoretischen Philosophie anzunehmen sei, nichts beweise. Und hier bereits wird die Stammler-Kritik implizit, aber doch umfassend zur KantKritik: Dem theoretischen Erkennen stehe eine objektive Welt gegenüber, an der sich die Resultate der Erkenntnisbemühungen messen lassen müssen, für die wollenden Wertsetzungen des Praktischen gelte das aber nicht. Diese Deutung ignoriert jedoch die Kantische Unterscheidung von Verstand und Vernunft im Bereich der theoretischen Philosophie, denn auch hier ist die Vernunft als Vermögen höchster Einheitsbildungen gerade nicht durch Erfahrungen belehrbar, sondern wie ein ökonomisches Derivat im Hedge Fond nur zu ihren Absicherungen dienlich. Wenn aber Simmel lapidar formuliert, „die Einheit der Erkenntnis findet an der gegenseitigen Kontrolle von Denken und Erfahrung einen festen Punkt“ (ebd.: 373), dann gleitet
11 Kant, a.a.O., Bd. 4, 318, 467.
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er damit elegant über ein Problem hinweg, das Kant als eines der schwierigsten überhaupt erklärt hatte, nämlich den Schematismus.12 Die zunächst lapidar erscheinende Formel bei Kant lautet, ein Schema sei „ein allgemeines Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen“ (KrV B 179f.). Daher darf das Schema weder rein sinnlich noch rein intellektuell sein, sondern muss ein Medium zwischen Sinnlichkeit und Verstand bereithalten. So bringe die Einbildungskraft „das Mannigfaltige der Anschauung in ein Bild“ (KrV A 120). Bei Kant sind ferner theoretische und praktische Vernunft analog und seine zwei Vernunftkritiken dementsprechend aufgebaut, aber – und das ist nun gegen Stammlers Entwurf einer Kritik der sozialen Vernunft zu sagen – ihre Einheit bleibt bei Kant eine ungelöste Problematik. Die Vermittlung der zwei ‚Stämme‘ unseres Geistes beschäftigt als ungelöstes Problem den späten Kant immer mehr, und das Problem der Übergänge ist eines der dominanten Themen der Spätphilosophie im Opus postumum. Daher ist die Forderung nach einer ‚vierten Kritik‘,13 die die Vermittlung leisten sollte, eine Forderung, die ganz im Sinne der Kantischen Spätphilosophie liegt, nur kann sie nicht im Stammlerʼschen Typ eines Kurzschlusses zwischen theoretischer und praktischer Vernunft zu suchen sein. Insofern sind Simmels Bedenken gegen Stammler vollauf berechtigt, ihre Gründe sind jedoch nicht Kantisch, sondern Simmelʼsch. In der Folge geht er noch einen Schritt weiter über Kant hinaus, indem er auch die Einheit der theoretischen Vernunft bezweifelt, weil wir stets mit einer Vielzahl oberster Prinzipien operieren: „Die ‚Einheit der Erkenntnis‘ bedeutet also nur, daß die einzelnen Inhalte dieser sich nach der Norm einiger höchster Principien verhalten, welche Principien aber ihrerseits ihrem Inhalte nach keine ‚Einheit‘ bilden, sondern nur in dem thatsächlichen Weltbild nebeneinander gelten. Die Analogie also zwingt uns keineswegs, das Bild des socialen Lebens für unvollendet zu halten, ehe wir zu einer höchsten Zweckeinheit desselben gelangt sind“ (GSG 1: 373).
Das ist also auch im Bereich der Wertungen so: Es gibt eine Pluralität höchster Werte, je nach der Art der Wertsetzungen. Und dann kommt natürlich Nietzsche und nicht Kant zur Geltung:
12 Steffen Dietzsch, Schema & Bild, in: Kurt Röttgers, Monika Schmitz-Emans (Hg.), Perspektive in Literatur und bildender Kunst, Essen 1999, 166-173. 13 Ob diese ‚vierte Kritik‘ die zugleich nötige und unmögliche, alles auflösende Kritik ist, wie Reinhard Brandt, Die Bestimmung des Menschen bei Kant, Hamburg 2007, 497, annimmt, oder ob eine ihrer vielen möglichen Vermittlungen eine der „kulinarischen Vernunft“ sein könnte, wie ich nahelegte (Kurt Röttgers, Kritik der kulinarischen Vernunft. Ein Menü der Sinne nach Kant, Bielefeld 2009), bleibt eine strittige Frage.
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„Wenn nun im Konfliktfalle zwischen diesen Tendenzen dennoch eine Entscheidung als objektiv richtig, die andere als falsch beurteilt und damit scheinbar ein höheres Kriterium über jenen einzelnen vorausgesetzt wird, so kann man ohne weiteres annehmen [...], daß auch in diesem höheren Kriterium nur die größere psychologische Kraft [bei Nietzsche heißt es „Wille zur Macht“, K.R.] entweder eines einzelnen, oder – häufiger – die einer Kombination derselben zum Ausdruck kommt“ (ebd.: 374).
Wir sehen also, dass Simmel entgegen seiner Selbststilisierung als ‚Kantwissenschaftler‘ von Anfang an eine aus Ignoranz und Eigenständigkeit gemischte Distanz zu dieser ‚großen‘ Philosophie hatte. Wenn er zur Selbstcharakterisierung seines Ansatzes den Begriff des Relativismus verwendet, so ist das natürlich irreführend. Relativismus im gebräuchlichen pejorativen Sinne einer Gleichgültigkeit ist das nicht, sondern man darf es vielleicht eher mit dem Perspektivismus Nietzsches assoziieren. Und vergessen wir doch nicht, dass es später im 20. Jahrhundert eine philosophische Schule gegeben hat, die auch Kant von einem Perspektivismus her deutete (Kaulbach, Herold, Gerhardt). Mit der bei Nietzsche nicht ausgeprägten Betonung sozialer Relationen („Wechselwirkung“ als Definitionsmerkmal von Gesellschaft statt „Einheit“ – allerdings sprach auch Nietzsche von einer „Einheit der Gesellschaft“ nicht als Voraussetzung, sondern als einer durch den Willen zur Macht zu bewerkstelligenden Aufgabe) wird man Simmel eher mit dem später von Mannheim geprägten Begriff des Relationismus verbinden wollen.14 Kommen wir aber nun zum Verhältnis der ‚Großen Soziologie‘ zur Philosophie des „Chinesen von Königsberg“.15 Dafür ist vor allem der erste Exkurs aufschlussreich und von großer Wichtigkeit. Dieser nimmt eigentlich die Stammlerʼsche Frage erneut auf: „Wie ist Gesellschaft möglich?“ Zum Ausgangspunkt nimmt Simmel auch hier die Kantische Frage aus den Prolegomena: „Wie ist Natur möglich?“ und bestimmt die Kantische Antwort völlig zu Recht als: „Natur ist für Kant eine bestimmte Art des Erkennens, ein durch unsre Erkenntniskategorien und in ihnen erwachsendes Bild“ (GSG 11: 43). Aber auch hier geht Simmel davon aus, dass dieses Modell theoretischen Erkennens nicht einfach auf die Erkenntnis des Sozialen übertragen werden kann, sondern fasst nun die Differenz völlig neu und ist, was die Leistungen der theoretischen Vernunft betrifft, tatsächlich Kant näher. Die Einheit des Erkennens ist allein durch die transzendentalen Strukturen von Subjektivität garantiert. Und er kommt genau deswegen zu dem für Kant harten Satz: „Jener Satz Kants: Verbindung könne niemals in den Dingen liegen, da sie nur vom Subjekte
14 Karl Mannheim, Das konservative Denken (1927), in: Ders., Wissenssoziologie, hg. v. Kurt H. Wolff, Neuwied 1964, 408-508, hier 468. 15 So Nietzsche, Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1980, Bd. 5, 144.
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zustande gebracht wird, gilt für die gesellschaftliche Verbindung nicht, die sich vielmehr tatsächlich in den ‚Dingen‘ – welche hier die individuellen Seelen sind – unmittelbar vollzieht“ (ebd.). Genauer gesagt, „das Bewußtsein, mit den andern eine Einheit zu bilden“, kommt hier bereits im Gegenstandsbereich des Erkennens vor und kann auch nicht einfach – wie es dann der Behaviorismus vorschlug – als irrelevant gesetzt werden. Der diese Einheiten beobachtende Dritte ist nicht befähigt, jenseits dieser Einheiten in Vielheit die eine Einheit zu schauen oder zu rekonstruieren. Oder anders gesagt, auch der perspektivistische Relationist als Dritter ist doch nur einer unter vielen Einheitsbildnern. Wenn also Simmel sagt: „Die Gesellschaft aber ist die objektive, des in ihr nicht mitbegriffenen Beschauers unbedürftige Einheit“ (ebd.: 44), so darf das nur im Kontext dieser Gedankenlinien verstanden werden. Dann aber heißt es: Die „Einheit“ der Gesellschaft erzeuge sich selbst (gerade anders als die Kantische Natur) aus der Vielheit der Einheitsbildungen und habe weder auf den Soziologen oder Sozialphilosophen zu warten, der ihr von außerhalb oder oberhalb sagen könnte, was oder wer sie sei, noch auf den Normativisten, der ihr von ebensolchen Positionen aus sagte, was sie sein soll, wenn sie wirklich Gesellschaft sein will. Wer oder was ein Selbst ist, organisiert seine Position im Sozialen und wehrt sich gegen die Ansprüche solcher usurpierter Positionierungen von Über-Subjekten. Simmel führt den Gedanken des Unterschieds zwischen natürlichen und sozialen Objekten der Erkenntnis noch etwas weiter, sich an den cartesianischen Dualismus von res cogitans und res extensa anlehnend, allerdings nur komparativ. Die Dinge im Raum seien „weiter auseinander“ – solch ein Komparativ ist natürlich nicht genuin cartesianisch, für Descartes war die Unterscheidung eine GrundsatzEntscheidung zweier metaphysisch begründeter Formen von Substanz, deren Teile sich gegenseitig ausschließen. Zugleich geht Simmel aber auch mit Kant über Descartes hinaus, indem er von der Einheitsbildung im Bewusstsein spricht und feststellt, dass es sich dabei gerade umgekehrt verhält: „[D]adurch, daß die Gegenstände der Synthese hier selbständige Wesen, seelische Zentren, personale Einheiten sind, wehren sie sich gegen jenes absolute Zusammengehn in der Seele eines andern Subjektes, dem die ‚Selbstlosigkeit‘ der unbeseelten Dinge sich fügen muß“ (ebd.).
Das ist in dem Gedanken der Einheitsbildung ganz Kantisch, in dem Gedanken des Sich-Wehrens aber zugleich ganz Unkantisch, allenfalls könnte man die Schopenhauersche Kant-Umdeutung hier hilfsweise als Erbschaft bemühen. ‚Sich wehren‘ könnte in praktischer Hinsicht bei Kant allenfalls der illegitime Widerstand der Sinnlichkeit gegen die Ansprüche der Vernunft. Aber dass eine Vernunft sich gegen eine andere wehrt, das ist für Kant ganz undenkbar; denn in jedem vernünftigen Subjekt ist Vernunft dieselbe und mit sich identisch. Daher kann Kant ja die ver-
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dächtige Formel der „Menschheit in meiner Person“ verwenden. Simmel dagegen spricht von der „Grundlage des Vorstellens überhaupt“; als Kantianer möchte man nun meinen, er spreche von der transzendentalen Apperzeption – aber bei Simmel heißt diese Grundlage zum Schrecken aller Kantianer strenger Observanz „das Gefühl [!] des seienden Ich“ (ebd.: 44f.). Simmel kommt von dort alsbald zum Du, ebenfalls ein Weg, der für Kant ganz ausgeschlossen ist. Dass dieses Du zugleich – Fichtisch gesprochen – ein Nicht-Ich sein kann, erklärt Simmel zum „psychologisch-erkenntnistheoretischen Schema [...] der Vergesellschaftung“ (ebd.: 45). Dass Simmel hier auf den Begriff des Schemas zurückgreift, ist von höchster Bedeutsamkeit. Kant selbst hatte, wie gesagt, am Ende seines Lebens den Schematismus als „einen der schwierigsten Punkte“ und das entsprechende Kapitel der Kritik der reinen Vernunft für „eines der wichtigsten“ erklärt. Durch das transzendentale Schema begründet sich eine im Unterschied zur diskursiven Erkenntnis symbolische oder figürliche Erkenntnisweise. Genau eine solche Vermittlungsfunktion hat auch bei Simmel das Schema. Denn der Vorstellende unterstellt auch im Du ein solches „Gefühl“ des seienden Ich; die Vermittlung aber, mit der zugleich die verstandesmäßige Objektivierung des Bewusstseinsinhalts des Anderen gegeben ist, geschieht durch das Schema, in diesem Falle durch das Schema der Vergesellschaftung. Diese These ist in mehrererlei Hinsicht höchst bedeutsam: Erstens heißt es, dass diese von der Soziologie zu thematisierende soziale Einheit immer schon in ihrem Objektbereich geleistet ist. Zweitens heißt es aber auch, dass diese perzeptiv und nicht normativ geleistet wird. Im Bereich der praktischen Philosophie gibt es gar keinen Schematismus, weil hier die Sinnlichkeit zur Bestimmung sittlicher Autonomie gar keinen Beitrag leisten kann und daher auch nicht vermittelt zu werden braucht, sondern schlicht ausgeschlossen werden muss. – Kant selbst allerdings hat in seiner späten Anthropologie das Problem noch einmal aufgegriffen und nun doch eine Vermittlung ins Auge gefasst; diese höchst wichtigen Andeutungen des Spätwerks bedürfen einer weiteren Ausführung.16 Vergesellschaftung als Schema heißt bei Simmel drittens aber auch, dass eine Vermittlung nicht selbst normativ begründet werden kann. Die Frage: „Wie ist Gesellschaft möglich?“, die als Doppelfrage nach den erkenntnistheoretischen und nach den praktisch-philosophischen Bedingungen bei Stammler schlicht in einem Kurzschluss zusammengeführt wird und die selbst bei seinen späten sozialphilosophischen Nachfahren noch als Problem jenes merkwürdigen sprachphilosophischen Begründungsversuchs von Normativität fortlebt, wird in Simmels Konzept der Vergesellschaftung als erkenntnistheoretisches Schema
16 Einen Versuch dazu legte ich, wie angedeutet, als „Kritik der kulinarischen Vernunft“ vor.
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unterwandert und untergraben, das den Gegenstandsbereich der Soziologie organisiert und sich selbst mit ihm. Die Verselbständigung und Ablösung normativer Fragen aus dem Zusammenhang der konkreten vergesellschaftenden Wechselwirkung von Ich und Du ist jedenfalls nach Simmel ein kulturelles Spätprodukt und gehört nicht zum Wesen von Vergesellschaftung (ebd.: 239). Im Exkurs über Dankbarkeit finden wir ein Beispiel für diese von aller Pflichtethik freie und ihr vorgängige Wechselwirkung, und in der Socialen Differenzierung hatte er den Pflichtbegriff à la Kant historisch dekonstruiert. Obwohl Simmel sich eindeutig im Fahrwasser der Erkenntnistheorie weiß, erwägt er, ob der Begriff des Erkennens, der sich ja immer im Kantischen Sinne auf eine synthetische Leistung in der Organisierung diffuser Sinnesdaten bezieht, nicht besser durch den Begriff des Wissens ersetzt werden sollte, d.h. schlicht der Bewußtseinsinhalte, und zwar gerade weil nicht der subjektive Übergriff auf das Objekt, genauer auf das soziale Objekt, das wissenschaftliche Leitbild sein kann, sondern die Wechselwirkung. Jetzt redet Simmel auch nur noch davon, dass das, was er mache, „ungefähr wie bei Kant“ sei (ebd.: 50).17 „Die Bewußtseinsprozesse, mit denen sich Vergesellschaftung vollzieht: die Einheit aus Vielen, die gegenseitige Bestimmung der Einzelnen, die Wechselbedeutung des Einzelnen für die Totalität der andern und dieser Totalität für den Einzelnen - verlaufen unter dieser ganz prinzipiellen, nicht abstrakt bewußten, aber in der Realität der Praxis sich ausdrückenden Voraussetzung: daß die Individualität des Einzelnen in der Struktur der Allgemeinheit eine Stelle findet, ja, daß diese Struktur gewissermaßen von vornherein, trotz der Unberechenbarkeit der Individualität, auf diese und ihre Leistung angelegt ist. Der kausale Zusammenhang, der jedes soziale Element in das Sein und Tun jedes andern verflicht und so das äußere Netzwerk der Gesellschaft zustande bringt, verwandelt sich in einen teleologischen, sobald man ihn von den individuellen Trägern her betrachtet, von seinen Produzenten, die sich als Ichs fühlen und deren Verhalten aus dem Boden der für sich seienden, sich selbst bestimmenden Persönlichkeit wächst. Daß jene phänomenale Ganzheit sich dem Zweck dieser, gleichsam von außen an sie herantretenden Individualitäten fügt, dem von innen bestimmten Lebensprozeß dieser die Stätte bietet, an der seine Besonderheit zu einem notwendigen Glied in dem Leben des Ganzen wird - dies gibt, als eine fundamentale Kategorie dem Bewußtsein des Individuums die Form, die es zu einem sozialen Elemente designiert“ (ebd.: 60f.).
17 In der Tat ist der zentrale Begriff der Simmelʼschen Soziologie, die Wechselwirkung, nicht dasselbe wie die Kantische Kategorie der Wechselwirkung unter den Kategorien der Kantischen Erkenntnislehre; darauf weist auch zu Recht hin Wilfried Dreyer, Gesellschaft, Kultur und Individuum. Zur Grundlegung der Soziologie bei Georg Simmel, in: Felicitas Dörr-Backes, Ludwig Nieder (Hg.), Georg Simmel between Modernity and Postmodernity, Würzburg 1995, 59-104, hier 64.
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Wenn man nun der Frage folgt, die Hartmann Tyrell als Hauptfrage der Tagung von 2008 vorangestellt hatte, „was von der Simmelʼschen Soziologie ‚bleibt‘, was sich an ihr [...] als anschluß- und tragfähig zeigt“,18 so kann diese Frage natürlich nicht abschließend beantwortet werden. Es soll nur in den folgenden Ausführungen, ausgehend von eigenen sozialphilosophischen Forschungsinteressen, ein Puzzle-Steinchen zu einer möglichen Antwort beigetragen werden. Hier wäre zunächst vor allem Tyrells Apostrophierung der Simmelʼschen Soziologie als „bescheidener“ aufzugreifen und fortzuführen. Die ‚Große Soziologie‘ ist gerade gerade keine in dem Sinne, wie sie als Charakterisierung der Kantischen Philosophie verwendet wird. Die ‚Große‘ Soziologie ist eine kleine Soziologie vielmehr in dem Sinne, in dem Jacques Derrida von einer „écriture mineure“ oder Michel Serres von einer „science mineure“ gesprochen hat.19 Letztere hat als ‚kleine Wissenschaft‘ nicht das System als Ganzes zum Gegenstand, sondern die Probleme, und diesem Typ von Wissenschaft ist es nicht wichtig, vielleicht nicht einmal zugänglich, ob sich die Probleme zu einem Gesamtsystem zusammenfügen oder nicht. Allerdings bleibt Simmels kleine ‚Große Soziologie‘ hier weniger auf halbem Wege stehen, als vielmehr unterwegs auf dem Weg ihrer Distanznahme von dem System-Architektoniker Kant zu den ‚Problematikern‘ à la Serres oder auch Deleuze.20 Viele haben die NichtArchitektonik der Kapitel zwei bis zehn der Simmelʼschen Soziologie verwirrend gefunden, und Simmel selbst hat das relativierte Einheits-Begehren des ersten Kapitels zum Leitfaden (Ariadnefaden) im Labyrinth der folgenden Einzelstudien erklärt. Aber gerade das ist – aus der Sicht der heutigen problemorientierten „science mineure“ – ihre Stärke. Nehmen wir einmal an, die Wirklichkeit sei ein Labyrinth. Anhänger der ‚imperialen‘ Wissenschaft werden versuchen, den Plan des Labyrinths herauszufinden, um dann den eigenen Ort in ihm zu bestimmen und mögliche Wege aus dem Labyrinth zu projektieren. Die science mineure dagegen experimentiert mit Wegen und Bewegungen. Beiden wird es jedoch niemals gelingen, dieses Labyrinth zu verlassen. Die einen werden planvolle Wege einschlagen, um zu vermeiden, dass sie sich derart verirren, dass sie ‚dieselben‘ Wege zweimal gehen müssen; die anderen dagegen werden einfach losziehen, und sie werden nie genau wissen, ob sie bereits einmal hier waren oder ob dies alles neu ist. Nichts ist ganz neu, alles hat Ähnlichkeiten und alles hat Zusammenhänge und Wechselwirkungen. In einem solchen
18 Hartmann Tyrell, Georg Simmels „große“ Soziologie (1908). Einige Überlegungen anläßlich des bevorstehenden 100. Geburtstags, in: Simmel-Studies 17 (2007), 5-39, hier 6. 19 Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1976, 397ff.; Michel Serres, Hermes IV: Verteilung, Berlin 1993, 7. 20 Gilles Deleuze, Félix Guattari, Was ist Philosophie? Frankfurt/M. 1996.
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Welten- und Wissenswelten-Komplex ist eine kleine Sozialphilosophie mit einer nomadischen Grundausrichtung durchaus angemessen.21 Eine andere Verknüpfung mit gegenwärtigem sozialphilosophischem Denken ergibt sich aus Simmels Relationismus („Relativismus“). Er findet heute seine Einlösung in einer Sozialontologie des ‚Zwischen‘, wie sie in der Soziologie Simmels bereits skizziert ist (ebd.: 689), dann aber von Jean-Luc Nancy, allerdings nicht im Ausgang von Simmel, sondern in einer konsequenten Ausgestaltung des Heideggerʼschen Mitseins radikal formuliert ist.22 Das ‚Zwischen‘ ist das eigentümliche Sein der Relation; es ist zweideutig, weil es für das Soziale konstituierend ist und zugleich trennend: Aber gerade das hält bereits Simmel für soziologisch signifikant, und er weist damit auf eine Problembehandlung voraus, die wir attraktiv finden müssen, weil sie jede Pseudo-Substantialität etwa ‚des‘ Menschen, manifest in den so beliebten Menschenbildern, als Grundlage der Analyse aufgegeben hat, aber auch eine Substantialisierung des Zwischen etwa als Gemeinschaft. Eine solche Sozialphilosophie entzieht sich auch den Stammlerʼschen „frei wollenden“ Individuen, weil sich das Soziale erst im Zwischenraum ergibt, und nicht in der Innenwelt von Individuen fundiert ist, deren Zusammenwirken dann irgendwie erklärt werden müsste. Die Wechselwirkung ist es, von der wir in der Analyse des Sozialen sozialphilosophisch und wahrscheinlich soziologisch auszugehen hätten, allerdings unter Hinzufügung eines Aspekts, den wir ebenfalls Simmel verdanken, nämlich des Dritten mit seiner schon bei ihm angesprochenen Ambivalenz von Ein- und Ausschluss. Das Soziale beginnt überhaupt erst mit dem Dritten und kann nicht aus einer Dyade oder Dyadenverkettung plausibel hergeleitet werden, wie die Anerkennungstheoretiker das noch meinen. Auch hier ist die gegenwärtige sozialphilosophische Forschung über die Simmelʼschen Ansätze hinausgegangen, weil sie eine Rotation der Drittigkeit unterstellt, deutlich herausgearbeitet in Michel Serresʼ Parasit.23 Das Zwischen als kategoriale Ebene der Vermittlung des Sozialen hat Anlass gegeben, die Kategorie des „kommunikativen Textes“ in den Mittelpunkt einer nach Temporalität, Sozialität und Diskursivität kategorial dimensionierten Sozialphilosophie zu stellen.24
21 Kurt Röttgers, Wandern und Wohnen in labyrinthischen Texturen, in: Wieland Jäger, Rainer Schützeichel (Hg.), Universität und Lebenswelt. FS Heinz Abels, Wiesbaden 2008, 9-28; ders., Arbeit am Mythos des Labyrinths, in: Laila Kais (Hg.), Das DädalusPrinzip. Ein Diskurs zur Montage und Demontage von Ideologien. FS Steffen Dietzsch, Berlin 2008, 13-38. 22 Jean-Luc Nancy, singulär plural sein, Berlin 2004; Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 81957, 118ff. 23 Michel Serres, Der Parasit, Frankfurt/M. 1981. 24 Kurt Röttgers, Kategorien der Sozialphilosophie, Magdeburg 2002.
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Schließlich könnte man Simmel sogar als inspirierend für eine konsequente Philosophie der Immanenz ansehen, wie Deleuze sie ausgearbeitet hat.25 Von mehr als einer möglichen Inspiration wird man jedoch in dieser Richtung nicht sprechen können. Denn die Distanznahme vom ‚großen‘ Kant ist zu vorsichtig, als dass man das Projekt einer Immanenzphilosophie hier schon ansatzweise aufspüren könnte. Aber die Einheitsbildung des Sozialen bereits dem Gegenstandsbereich zu unterstellen, ist schon ein halber Abschied von der Transzendentalphilosophie. Und wenn Simmel auf den Schematismus als Vermittlungskonzept zurückgreift, ist das einerseits natürlich auf Kant und sein Schematismus-Kapitel in der Kritik der reinen Vernunft zurückzuführen, andererseits führt es aber bei Simmel weiter, nun auf den Weg zu einer Immanenzphilosophie. Denn Vergesellschaftung kann nicht von außen oder von oben beobachtet werden, sondern jeder Beobachter befindet sich auch mit seinem Beobachten in einer ihrerseits vergesellschaftenden Wechselwirkung; vielfach gewinnt er ein wenig mehr Klarheit, so sollte man, wenn man noch Optimist ist, jedenfalls hoffen, aber seine Position ist nicht kategorial von der seines Gegenstandsbereichs geschieden. Partiell versagt sich die Simmelʼsche Sozialphilosophie trotz aller Kant-Beschwörungen einer Transzendentalphilosophie und ist auf dem Weg zu einer Immanenzphilosophie. Was aber wäre diese Immanenz? Auch hier finden wir bei Simmel eher tastende Versuche in die richtige Richtung als die Einlösung eines Programms. Insgesamt also ist Simmels Stellenwert in meiner Sicht für die gegenwärtig aussichtsreichsten Tendenzen der Sozialphilosophie eher der eines Stichwortgebers als eines Programmatikers, aber das wäre ja auch nur konsequent für eine kleine Soziologie.26
25 Deleuze, Guattari, a.a.O.; dazu Wolfgang Langer, Gilles Deleuze. Kritik und Immanenz, Berlin 2003. 26 Ob die späte Kritik Simmels an Kants Ethik, die auf den Begriff des individuellen Gesetzes hinausläuft, im Sinne eines sozialphilosophischen Anspruchs und gerade nicht als ein neu erfundenes ethisches Prinzip gedeutet werden müsste, so dass die Kritik von Delius ebenso ins Leere läuft, wie sie es Simmel vorwirft, bedürfte einer zukünftigen gründlicheren Ausarbeitung, Harald Delius, Kategorischer Imperativ und individuelles Gesetz, in: Ders., Günther Patzig (Hg.), Argumentationen. FS Josef König, Göttingen 1964, 6774.
Die Formen der Vergesellschaftung und die soziologischen Aprioris. Das gesellschaftstheoretische Erkenntnisprogramm Eine Argumentskizze U TA G ERHARDT
Manche Sekundäranalysen enthalten die These, eine systematisch angelegte Gesellschaftstheorie – etwa wie im Werk Talcott Parsonsʼ – gebe es im Werk Georg Simmels nicht. Stattdessen – wie es die Denkfiguren Flaneur und Bricoleur verkörperten – werde das Gesellschaftliche entsprechend dem unmittelbaren Eindruck wiedergegeben, worin Ernst Troeltsch ein „semijournalistisches Feuerwerk“ gesehen habe.1 Der Simmelʼsche Gesellschaftsbegriff wird außerdem vielfach der Mikrosoziologie zugerechnet, wie sie die Gesellschaft aus der Interaktion herleitet.2 Das Missverständnis, das Gesellschaftliche werde bei Simmel auf das Individuelle reduziert, entstand bereits um die vorige Jahrhundertwende: Den Vorwurf des unangemessenen Individualismus erhob Othmar Spann, Simmels zeitgenössischer Kritiker, der den Simmelʼschen Gesellschaftsbegriff ablehnte, weil er zur Erfassung
1
Den paradigmatischen Topos des ‚Flaneur‘ oder ‚Bricoleur‘ wählt David Frisby, um zu unterstreichen, dass Simmel „[had a] healthy disrespect of an overelaborate discourse or, more often, monologue upon methods and methodology that for several decades now has been commonplace in sociology“ – was indessen die Suche nach Simmels eigener Methodologie keinesfalls leichter mache. David Frisby, Sociological Impressionism. A Reassessment of Georg Simmel‘s Social Theory, London 1981, 69.
2
Jörg Bergmann (in diesem Band) zeigt allerdings, dass Simmels Denken mit der Mikrosoziologie, wie sie heute verstanden wird, wenig Berührung hat.
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des eigenständig Universellen des gesellschaftlichen Ganzen nicht tauge.3 Mit einem Hinweis auf Spann erhob Max Weber den Vorwurf, als er Simmels Soziologie und Idee der Geldwirtschaft – für die Volkswirtschaftslehre – unbrauchbar fand, dass der Begriff der Wechselwirkung allzu vieldeutig sei, so dass der Gegenstand und die Methode der Sozialwissenschaft damit nicht ausreichend präzis zu erfassen wären.4 In den zwanziger und dreißiger Jahren wurde in Deutschland Simmels so genannte „formale“ Soziologie verworfen, weil dabei das Gesellschaftliche auf das Psychologische reduziert werde5, oder sie wurde kritisiert, weil sie bloß eine Logosanstatt der gebotenen Ethoswissenschaft sei.6 In den USA wurde gegen Simmel eingewandt, seine Theorie sage nichts über die Gesetze des Sozialen aus7, und außerdem tauge seine Formenanalyse nicht als Methode der empirischen Sozialforschung.8 Zur Ehrenrettung in den letzten Jahrzehnten haben einige Autoren Themen wie Streit (Konflikt, Krieg) oder Armut bei Simmel hervorgehoben, weil darin über das Individuelle oder das Einzelne hinaus gegangen werde, denn hier werde eindeutig ein gesellschaftlicher Strukturzusammenhang diskutiert.9 Letztlich – kritisch oder zustimmend – meinen die meisten Sekundärinterpretationen, Simmels Soziologie sei von der Interaktion her gedacht. Seine Gesellschaftstheorie sei auf das Einzelne bezogen, nicht auf die übergreifenden Strukturzusammenhänge. Meine These lautet demgegenüber, dass die Theorie der Gesellschaft als einem Strukturganzen und die Analyse der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt im Œuvre Simmels bereits seit den frühen neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts einen festen Platz haben. Schon Über sociale Differenzierung (1890) schaut auf ganze Gesellschaften und begründet dies mit einem erkenntnistheoretischen Anliegen. Das zweite Hauptwerk Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1908) setzt sich dieselbe Aufgabe und stützt sich auf die nunmehr vor-
3
Othmar Spann, Untersuchungen über den Gesellschaftsbegriff zur Einleitung in die So-
4
Max Weber, Georg Simmel als Soziologe und Theoretiker der Geldwirtschaft (ursprüng-
5
Maria Steinhoff, Die Form als soziologische Grundkategorie bei Georg Simmel, in: Vier-
ziologie, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 61 (1905), 302-344. lich unveröffentlicht, 1908), in: Simmel Newsletter 1 (1991), 9-13. teljahreshefte für Soziologie 4 (1924), 215-259. Steinhoff berief sich auf die Gesellschaftslehre Othmar Spanns als Gegengewicht zur ‚formalen‘ Theorie Simmels. 6
Hans Freyer, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. Grundlegung des Systems der Soziologie, Leipzig und Berlin 1930.
7
Pitirim Sorokin, Contemporary Sociological Theories, New York 1928.
8
Theodore Abel, Systematic Sociology in Germany, New York 1929.
9
So Coser zum Thema Armut; ders., Soziologie der Armut. Georg Simmel zum Gedächtnis, in: Stephan Leibfried, Wolfgang Voges (Hg.), Armut im modernen Wohlfahrtsstaat, Opladen 1992, 34-47.
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liegenden, umfassenden Abhandlungen, wie sie seit 1896 die Problemfelder der Über- und Unterordnung, des Geheimnisses und der geheimen Gesellschaften oder der Selbsterhaltung der sozialen Gruppe behandeln – um einige Arbeiten aus den vielen der beinahe zwei Jahrzehnte zu nennen, die in dieses Werk eingehen. Mein Beitrag will das gesellschaftstheoretische Programm Simmels hauptsächlich an Hand seines zweiten Hauptwerks rekonstruieren. Dabei ist wissenschaftsgeschichtlich vorauszuschicken: Die Formen der Vergesellschaftung, die die Soziologie untersucht, sind eine Thematik jenseits der positivistischen Soziologie, wie sie in der damals zeitgenössischen Gesellschaftslehre durch Herbert Spencer paradigmatisch verkörpert wurde. Simmels Formen der Vergesellschaftung in Verbindung mit dem Bewusstsein des oder der Handelnden – wobei das Bewusstsein, das die Wechselwirkung konstituiert, vergesellschaftet und doch individuell ist – bedeuten den wichtigsten Einwand Simmels gegen Spencer. Mein Hauptpunkt: Die Formen der Vergesellschaftung werden nicht als Entitäten oder reifizierte Gesellschaftsgebilde begriffen, sondern sie sind für Simmel mittels der soziologischen Aprioris wirklich. So entstehen die Sinnstrukturen, die in der Wechselwirkung im sozialen Handeln verwirklicht werden.10 Diese Gesellschaftstheorie ist erkenntnistheoretisch gemeint: Soziologie zeigt, wie die „apriorisch wirkenden Bedingungen oder Formen“ (GSG 11: 47), worin die Möglichkeit von Gesellschaft ebenso wie ihrer Erkenntnis liegt, nämlich die drei Aprioris des Sozialen, in den Strukturprozessen und Prozessstrukturen der Formen der Vergesellschaftung wirksam werden. Es sind die „Formen“ des „Bewußtsein[s]“ (ebd.), die wiederum ihrerseits Momente der „Erkenntnistheorie der Gesellschaft“ (ebd.) sind, welche die „‚Gesellschaft‘“ bilden, wie sie in den Formen der Vergesellschaftung erfasst wird. Als Gegenkonzeption der Comte-Spencerschen Lehre lässt sich diese Gesellschaftstheorie, wie ich meine,
10 Zur Klärung des Verhältnisses zwischen Simmels Begriff der Wechselwirkung und Webers Begriff des sozialen Handelns: Bei Weber geht es im sozialen Handeln um ein Tun oder Unterlassen, das einen anderen im Ablauf des Handelns beeinflusst, also ein Handeln, das sozial ist, insofern es auf dasjenige eines anderen bzw. anderer im Ablauf bezogen ist – sozusagen ist dabei der Gegenstand, wie ihn Weber für die Handlungstheorie erkennt, die eine Hälfte der stets mitgedachten sozialen Beziehung, die aus zwei einander zugeordneten Handelnden bzw. korrespondierenden sozialen Rollen besteht. Darin ist allemal eine Wechselwirkung enthalten. Man kann sagen: Bei Simmel ist die Reziprozität explizit im Begriff Wechselwirkung gesetzt, bei Weber ist sie implizit im Begriff des sozialen Handelns postuliert. Wichtig ist, dass beide Denker in den Elementen von Gesellschaft – per soziologischen Grundbegriffen bzw. in der soziologischen Theorie – keine monadenhaft utilitaristisch konzipierten Aktoren erblicken, sondern reziprok (dabei im Normfall rational, d.h. wechselseitig antizipierbar) aneinander orientierte, sinnvoll Handelnde erkennen.
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Parsonsʼ Erkenntnisprogramm von The Structure of Social Action bis in das Spätwerk an die Seite stellen – was abschließend angedeutet werden soll. Meine Argumentation greift Hartmann Tyrells Anregung auf, Simmels eigenen Hinweis auf die Diskrepanz zwischen dem ersten und den späteren Kapiteln der Soziologie ernst zu nehmen.11 Simmel fordert im Vorwort seines Werkes bekanntlich den Leser auf, die Erkenntnisse des ersten Kapitels im Kopf zu behalten, um dadurch sicherzustellen, dass die späteren Kapitel nicht bloß beliebige Aussagen zu bündeln scheinen. Er nennt sein voluminöses Meisterwerk einen „hier unternommenen Versuch, dem schwankenden Begriff der Soziologie einen eindeutigen, von einem methodisch sicheren Problemgedanken beherrschten Inhalt zu geben“ (ebd.: 9). Er richtet zugleich „[d]ie Forderung an den Leser, diese eine Fragestellung, wie das erste Kapitel sie entwickelt, ununterbrochen festzuhalten, – da sonst diese Seiten als eine Anhäufung zusammenhangloser Tatsachen und Reflexionen erscheinen können“. Darin liegt sein aufschlussreicher Ansatzpunkt. Interessanterweise betont Tyrell die Wichtigkeit des ersten Kapitels nur an Hand jener Teile dieses Eingangskapitels, die dem Aufsatz des Jahres 1894 „Das Problem der Sociologie“ entsprechen, jenem ersten Entwurf des Gedankengangs, der sich gegen den zeitgenössischen Positivismus richtet und die geisteswissenschaftliche Soziologie fordert. Für das Kapitel I in Soziologie, ebenfalls unter dem Titel „Das Problem der Soziologie“, überarbeitet Simmel den früheren Text. Vor allem fügt er den eminent wichtigen „Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich?“ hinzu – jenen Exkurs, der das Ergebnis seines fast zwanzigjährigen Nachdenkens über die erkenntnistheoretische Begründung der geisteswissenschaftlichen Soziologie ist. Mit diesem Exkurs, so denke ich, wird dieses Kapitel I trotz des wortgleichen Titels zu etwas entscheidend Anderem als der Aufsatz des Jahres 1894. Mit dem Exkurs, so soll gezeigt werden, wird das Kapitel I zur Grundlegung der geisteswissenschaftlich verstandenen Soziologie als einer systematisch aus der Philosophie begründeten Sozialwissenschaft. Simmels zweites Hauptwerk verbindet seine Analyse(n) der Formen der Vergesellschaftung mit seinem erkenntnistheoretischen Programm, das im „Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich?“ entworfen wird. Gemäß den drei Aprioris geht es um eine eigenständige und ohne Vorbild neue Theorie der Gesellschaft. Jedenfalls ist es Simmel ernst, wenn er den Leser bittet, den Standpunkt des ersten Kapitels während des gesamten Buches festzuhalten, denn nur dadurch könne man vermeiden, die Ausführungen über die Formen der Vergesellschaftung als beliebig – eine „Anhäufung zusammenhangloser Tatsachen und Reflexionen“ – zu empfinden. Das soziologische Erkenntnisprogramm bezieht somit den Leser, sei-
11 Hartmann Tyrell, Georg Simmels „große“ Soziologie (1908). Einige Überlegungen anläßlich des bevorstehenden 100. Geburtstags, in: Simmel Studies 17 (2007), 5-39.
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nerseits einen vergesellschafteten Menschen, in den Erkenntnisprozess ein. Die systematischen Zusammenhänge des gesellschaftlichen Lebens soll der Leser selbstständig in seinem Bewusstsein herstellen. Tyrells Interpretation würdigt den Exkurs, sieht darin allerdings nur eines der acht Themen, die sich die ‚große‘ Soziologie stelle. Er sei der Aufhänger für zwei Problemfelder, nämlich die „Unterbrechungen im Vergesellschaftetsein“ und die „Exklusion und Inklusion“. Meine These ist demgegenüber, dass der „Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich?“ in seiner Tragweite gesellschaftstheoretisch viel weiter reicht. Der Exkurs über die drei Aprioris, wie sie die Bedingung(en) der Möglichkeit von Gesellschaft überhaupt ebenso wie ihrer Erkenntnis bilden, so lautet meine These, ist das Herzstück von Soziologie und liefert den Schlüssel zum Verständnis jeglicher Gesellschaft bzw. Vergesellschaftung. An den Formen der Vergesellschaftung zeigt sich, wie aus den Aprioris die Strukturdynamik der Gesellschaft zu erklären ist. Den Hintergrund, wie nur angedeutet werden kann, bildet Simmels Frontstellung gegen die Soziologie, wie sie seit Comte international etabliert war. Die Analyse der Moderne müsse ohne einen Rekurs auf Gesetze des Sozialen auskommen und müsse ein anderes Prinzip des Kulturfortschritts als die Selektion der Tüchtigsten setzen. Spencers Soziologie, die eine Naturwissenschaft sein wollte, hatte Wilhelm Dilthey in Einleitung in die Geisteswissenschaften überzeugend ad absurdum geführt.12 Simmel will Dilthey gerecht werden und dabei zeigen, dass eine geisteswissenschaftliche Soziologie trotzdem durchaus sinnvoll ist. Die Problemstellung in Soziologie, wie sie die Erkenntnisabsicht des frühen Aufsatzes „Das Problem der Sociologie“ weiterführt, lautet: Wenn die Soziologie den systematischen Bezug zwischen dem Bewusstsein und der Gesellschaft denken will, muss sie zeigen, wie der Zusammenhang zwischen dem Gesellschaftsverständnis und den Formen der Vergesellschaftung aussieht. Diese zur Zeit der vorigen Jahrhundertwende wahrhaft kühne Konzeption kann Simmel in seinem Werk allerdings nicht in allen Einzelheiten darstellen. Er bittet deshalb den Leser, die entscheidende geistige Verknüpfung selbst vorzunehmen! Das Werk verwendet sieben Abhandlungen der Jahre 1896 bis 1907 und außerdem zwei Kapitel aus Über sociale Differenzierung – teilweise fast unverändert. Sie bilden die Kapitel II bis X von Soziologie. Ihre Argumentation ergänzen und vertiefen zwölf Exkurse, die teilweise neue Aspekte der bereits ausgearbeiteten Themen beleuchten. Der erste dieser Exkurse, der „Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich?“ bringt fast zwei Jahrzehnte des Nachdenkens auf einen Nen-
12 Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte (1883), Stuttgart 91990. Siehe dazu auch unten.
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ner. Er setzt einen Angelpunkt für die gesamte Argumentation des Buches. Eigentlich hätte dieser Exkurs des ersten Kapitels wohl erfordert, die sieben Abhandlungen und die zwei Kapitel aus Über sociale Differenzierung noch einmal neu zu schreiben, die nunmehr die ‚materialen‘ Kapitel des Werks Soziologie bilden. Aber Simmel wählt den Ausweg, dass er – so gut es ging – die neun Kapitel im Sinne der Aprioris aus- und umgestaltet, damit sie dem „Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich?“ entsprechen. Den Rest überlässt er dem Leser, den er bittet, er möge den systematischen Bezug, wie dieser im Gefolge des Exkurses des ersten Kapitels sich ergibt, eigenständig während der nachfolgenden „materialen“ Darlegungen im Kopf herstellen. Man muss sich vergegenwärtigen, dass Simmel den „Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich?“ nach den sieben Abhandlungen und den zwei Kapiteln des früheren Buches schrieb, also nach der Fertigstellung der Argumentation, wie sie in Soziologie allerdings erst in den auf diesen Exkurs folgenden Kapiteln vorliegt. Soziologie, so lautet meine These, legt eine systematische Klammer um die neun Kapitel über die Formen der Vergesellschaftung – nämlich die Aproris. Vielleicht wollte Simmel sein – wahrscheinlich zu dem Zeitpunkt, als er den Exkurs des ersten Kapitels verfasste, bereits fertiges oder jedenfalls weitestgehend vollendetes – Buch nicht noch einmal neu schreiben müssen, als er die Lösung des erkenntnistheoretischen „Problems: Wie ist Gesellschaft möglich?“ (endlich, plötzlich, unerwartet) gefunden hatte – des Problems, an dem er seit 1890 arbeitete. So fügt er mitten in das Inhaltsverzeichnis die Bemerkung ein: „Jedes dieser Kapitel enthält vielerlei Erörterungen, die in mehr oder weniger weitem Abstand sein Titelproblem umgeben und, außer der Beziehung zu diesem, relativ selbständige Beiträge zu dem Problem des Ganzen bilden“ (ebd.: 11), und so bittet er den Leser, dieser möge das Kapitel I während der ganzen weiteren Lektüre im Kopf behalten, den – wohl angesichts des Exkurses des ersten Kapitels – durchgängig zu reflektierenden Dreh- und Angelpunkt seiner Argumentation. Mit der Anmerkung im Inhaltsverzeichnis, dass die Kapitel II bis X „relativ selbständige Beiträge zum Problem des Ganzen“ seien, deutet Simmel immerhin an, dass etwas Ganzes für ihn wirklich zu denken ist. Er hat eine gesamtgesellschaftliche Perspektive vor Augen. Im Vorwort betont er zudem, dass die einheitliche Problemstellung methodisch ist: Das Buch sei der „Versuch, dem schwankenden Begriffe der Soziologie einen eindeutigen, von einem methodisch sicheren Problemgedanken beherrschten Inhalt zu geben“ (ebd.: 9).13 Mit anderen Worten: Er hat ein methodisches – eigentlich ein methodologisches – Konzept von Gesellschaft, das bei der soziologischen Analyse der „Gesellschaft“ in Soziologie zugrunde zu legen
13 Siehe auch oben.
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ist. Das erste Kapitel enthält den „Problemgedanken“ im „Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich?“, das erkenntnistheoretische Programm, wie es den riesigen Korpus der Kapitel II bis X zusammenhält, wie sie die Formen der Vergesellschaftung darlegen. Der „Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich?“ soll bei der Lektüre des Buches bewusst bleiben – der geneigte Leser soll die intellektuelle Leistung des Brückenschlags zwischen den Aprioris und den Formen der Vergesellschaftung erbringen. Mein Beitrag will verdeutlichen, wie die soziologischen Aprioris zum Programm der systematischen Gesellschaftsanalyse werden. Dass die erkenntnistheoretische Grundlegung in den Aprioris für Simmel erst die geisteswissenschaftliche Untersuchung der Formen der Vergesellschaftung gestattet, ist sein Credo, das sein systematisches Unterfangen stützt, das mehr sein will als eine Darstellung „zusammenhangloser Tatsachen und Reflexionen“. Dass die Aufgabe beinahe undurchführbar ist, wie er an Georg Jellinek schreibt, ist fast ein Trost, als er, wenngleich mit Zweifeln und Unbehagen, sein zweites Hauptwerk veröffentlicht. Zum Aufbau meines Beitrags:14 Teil I rekonstruiert den Doppelbegriff von Gesellschaft bei Simmel in Abkehr vor allem vom Positivismus Spencers und im Anschluss an Diltheys Philosophie der Geisteswissenschaften. Teil II rekonstruiert die Formen der Vergesellschaftung in ihrer Dynamik und Komplexität, um zu zeigen, wie Simmels Analysen der Strukturprozesse und der Prozessstrukturen den „einen methodisch sicheren Problemgedanken“ zugrunde legen. Teil III geht darauf ein, dass – stets vergesellschaftet – das Bewusstsein als das Medium der Interaktion in den Aprioris seine Bestimmung(en) findet. Teil IV stellt die Frage an Hand von zwei Formen der Vergesellschaftung, nämlich der Herrschaft (Über- und Unterordnung) und der Individualität im Wandel von der einfachen zur komplexen Gesellschaft (Kreuzung sozialer Kreise), wie die drei Aprioris im Einzelnen in den historischen Vorgängen wirken und wie sie dabei die Formen der Vergesellschaftung verändern. Teil V resümiert, dass die apriorische Konstruktion der gesellschaftlichen Gegenstände vom Bewusstsein her für Simmel in Soziologie der „eine methodische Gesichtspunkt“ ist – dieses Erkenntnisprogramm stellt die Soziologie jenseits von Makro oder Mikro. Der Angelpunkt ist das soziale Handeln, also (um Webers Ausdruck zu verwenden) die Sinnstruktur des gesellschaftlichen Bewusstseins, wie sie die Reziprozität voraussetzt, und zwar nicht nur als die Wechselwir-
14 Da meine Argumentation kaum Vorläufer in der Sekundärliteratur hat, dienen lange Zitate und vielfache Hinweise auf Textstellen dazu, im Werk Simmels – hier vor allem Soziologie bzw. den zwei dort ausgewählten Kapiteln sowie zwei näher betrachteten Exkursen – zu belegen, dass meine Interpretation textadäquat ist. Eine Einbettung des hier dargelegten Argumentationsgangs in die Literatur zu Simmel aus den letzten achtzig Jahren in Deutschland und den USA wäre eine weitere Abhandlung, die lohnenswert wäre.
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kung, wie sie gesellschaftlich grundlegend und soziologisch ein Ausgangspunkt ist, sondern wie sie deren erkenntnistheoretisches Substrat bildet. Wenn die Formen der Vergesellschaftung ihrerseits als ‚Gesellschaft‘ verstanden werden, so lautet das Fazit, sind die Aprioris entscheidend. Diese Gesellschaftstheorie, so der Nachtrag (Teil VI), hat nicht nur Ähnlichkeit mit dem Wissenschaftsprogramm Max Webers, sondern enthält auch Parallelen zum Werk Parsonsʼ – allemal waren alle diese gesellschaftstheoretischen Ansätze methodologisch begründet, eine Gemeinsamkeit, die zudem eine Brücke zu Alfred Schütz schlägt.
I. D IE G ESELLSCHAFT UND DIE S OZIOLOGIE . Z UM ZWEIFACHEN ANSATZ DER G ESELLSCHAFTSANALYSE Als Simmel im Jahr 1894 in seinem programmatischen Essay über das Erkenntnisprogramm der Soziologie – wie er es ausdrückt – in „paradoxer Kürze“ sagt, „sie erforscht dasjenige, was an der Gesellschaft ‚Gesellschaft‘ ist“ (GSG 5: 57), unterscheidet er zwischen der „Gesellschaft im weitesten Sinne“ (ebd.: 54) und der Gesellschaft im engeren Sinne. Die Erstere lege die „Vorstellung, die roh und verwirrend“ ist, zugrunde, „dass alles, was allerdings nur in der Gesellschaft und unter der Bedingung ihres Gegebenseins geschieht, schon in die Sociologie hineingehöre“. Aber die Letztere, die „Sociologie in engerer Bedeutung“, spreche lediglich von „der Vergesellschaftung als solcher und ihrer Formen“. Er hält fest: „Diese Formen entwickeln sich bei der Berührung der Individuen, […] und ihre Summe macht dasjenige aus, was man mit dem Abstraktum Gesellschaft benennt“ (ebd.: 55). Die Soziologie, wie sie seit den vierziger bzw. fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts bereits bestand, so Simmel, sei eine „Sociologie, als Geschichte der Gesellschaft und aller ihrer Inhalte, d.h. im Sinne alles Geschehens vermittels der gesellschaftlichen Kräfte und Konfigurationen“ (ebd.: 53) – es war also eine Soziologie über die Gesellschaft sozusagen in ihrer weiteren (nicht engeren) Bedeutung. Comte in Frankreich und Spencer in England hatten die damals zeitgenössische Lehre begründet. Spencer fragte nach den Prinzipien des Kulturfortschritts, also dem „survival of the fittest“ und „struggle for existence“, jenen beiden Prinzipien des „Law of equity“, wie sie die Gleichheit aller Einzelnen und damit das Überleben des Stärkeren gewährleisten sollten: Der Kulturfortschritt der Menschheit in der Gegenwart des neunzehnten Jahrhunderts wäre durch die Begünstigung der Schwachen durch die Armenpolitik, die moderne Medizin etc. gefährdet. Denn die Evolution der Menschheit hänge vom uneingeschränkten Recht des Stärkeren ab, woraus
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sich die Selektion der Tüchtigsten ergebe.15 Seit den 1880er Jahren war diese Lehre in den USA und auch in Deutschland enorm einflussreich. Aber für Simmel war sie „keine besondere selbständige Wissenschaft“ (ebd.: 52). Sondern, so schreibt er im Jahr 1894, Comtes und Spencers Soziologie verkörperten höchstens „eine Erkenntnismethode, ein heuristisches Prinzip, das auf einer Unendlichkeit verschiedenster Wissensgebiete fruchtbar werden kann, ohne doch für sich allein eines auszumachen“ (ebd.: 53).16 Dilthey in seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften richtete eine vernichtende Kritik gegen Comte und Spencer – und außerdem Karl Marx‘ Geschichtsphilosophie: „Daher sind die soziologischen und geschichtsphilosophischen Theorien falsch, welche in der Darstellung des Singularen einen bloßen Rohstoff für ihre Abstraktionen erblicken. Dieser Aberglaube, welcher die Arbeiten der Geschichtsschreiber einem geheimnisvollen Prozeß unterwirft, um den bei ihnen vorgefundenen Stoff des Singularen alchimistisch in das lautere Gold der Abstraktion zu verwandeln und die Geschichte zu zwingen, ihr letztes Geheimnis zu verraten, ist genau so abenteuerlich, als je der Traum eines alchimistischen Naturphilosophen war, welcher das große Wort der Natur ihr zu entlocken gedachte. Es gibt sowenig ein solches letztes und einfaches Wort der Geschichte, das ihren wahren Sinn ausspräche, als die Natur ein solches zu verraten hat. Und ganz so irrig als dieser Aberglaube ist das Verfahren, welches gewöhnlich mit ihm verbunden ist“.17 Diltheys Einsicht ist zum einen, dass nur díe Einzelwissenschaften, die das Geistige in den Systemen der Kultur untersuchen, einen adäquaten Zugang zu den geschichtlich-gesellschaftlichen Phänomenen gewährleisten, weil sie einen speziellen Gegenstand haben – weshalb die Aufgabe unlösbar sei, die Struktur oder die
15 Grundlegend: Herbert Spencer, Social Statics; Or, The Conditions Essential to Human Happiness Specified, and the First of Them Developed, London 1851. Bekanntlich orientierte sich Charles Darwin an den durch Spencers Soziologie explizierten Prinzipien in The Origin of Species (1859), wo die Selektion der Stärksten bei intelligenter Anpassung an die Umwelt etc. durch „survival of the fittest“ und „struggle for existence“, wie es Spencer geschildert hatte, erläutert wurde. Dazu Uta Gerhardt, Darwinismus und Soziologie. Zur Frühgeschichte eines langen Abschieds, in: Heidelberger Jahrbücher 45 (2001), 183-215. Auf meine eigenen Arbeiten wird im Folgenden hingewiesen, sofern dort Teile des hier vorgetragenen Arguments ausführlicher behandelt werden als es diesem Beitrag möglich ist. 16 Dass die Soziologie eine Methode sei, um die Ganzheit Gesellschaft zu erfassen, in die das Individuum sich einfüge (einfügen müsse), vertrat Simmels zeitgenössischer Kritiker Othmar Spann bis in die zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein. In der Weimarer Zeit war Spann als Theoretiker hoch geachtet und äußerst einflussreich. 17 Dilthey, a.a.O., 91f.
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Natur der Gesellschaft als Ganze zu erkennen. Zum anderen bestreitet Dilthey, dass die geschichtlich-gesellschaftliche Welt naturwissenschaftlich zu erfassen wäre (wie Comte und Spencer meinten), weshalb der methodische Ansatz des Positivismus falsch sei. Dilthey klärt für die Geisteswissenschaften – für ihn waren sie die Alternative zur zeitgenössischen Soziologie – unmissverständlich: „Diese Wissenschaften haben eine ganz andere Grundlage und Struktur als die der Natur. Ihr Objekt setzt sich aus gegebenen, nicht erschlossenen Einheiten, welche uns von innen verständlich sind, zusammen; wir wissen, verstehen hier zuerst, um allmählich zu erkennen“.18 „Das Problem der Sociologie“ charakterisiert die neue Perspektive – den Ansatz jenseits von Comte oder Spencer – folgendermaßen: „[D]ie Sociologie als Einzelwissenschaft [...] löst eben das bloß gesellschaftliche Moment aus der Totalität der Menschengeschichte, d. h. des Geschehens in der Gesellschaft, zu gesonderter Betrachtung aus; mit etwas paradoxer Kürze ausgedrückt, sie erforscht dasjenige, was an der Gesellschaft ‚Gesellschaft‘ ist“ (ebd.: 57).19
Das Einleitungskapitel des Jahres 1908 – Überschrift „Das Problem der Soziologie“ – nimmt denselben Standpunkt ein. Simmel grenzt sich noch einmal gegen die Comte-Spencersche Soziologie ab. Noch einmal lehnt er jene „Wissenschaft von der Gesellschaft“ ab, die der Autodidakt und Privatsekretär Comte und der als Philosoph auftretende Ingenieur Spencer, zwei „heimatlose und entwurzelte Existenzen“, vorzeichneten.20 Und wiederum – wie bereits 1894 – kann er angeben, was die Gesellschaft ist, wie sie zum Gegenstand der Soziologie „in engerer Bedeutung“
18 A.a.O., 109. 19 Siehe auch oben. 20 Die vielsagende Textstelle, GSG 11: 14: „Da man sich zum Bewußtsein brachte, daß alles menschliche Tun innerhalb der Gesellschaft verläuft und keines sich ihrem Einfluß entziehen kann, so mußte alles was nicht Wissenschaft von der äußeren Natur war, Wissenschaft von der Gesellschaft sein. Sie erschien als das allumfassende Gebiet, in dem sich Ethik wie Kulturgeschichte, Nationalökonomie wie Religionswissenschaft, Ästhetik wie Demographie, Politik wie Ethnologie zusammenfanden, da die Gegenstände dieser Wissenschaften sich in dem Rahmen der Gesellschaft realisierten: die Wissenschaft vom Menschen sei Wissenschaft von der Gesellschaft. Zu dieser Vorstellung der Soziologie als Wissenschaft von allem Menschlichen überhaupt trug bei, daß sie eine neue Wissenschaft war und infolgedessen alle möglichen, sonst nicht recht unterzubringenden Probleme sich an sie herandrängten – wie ein neuerschlossenes Gebiet immer zuerst das Dorado von heimatlosen und entwurzelten Existenzen wird: die zuerst unvermeidliche Unbestimmtheit und Unverteidigtheit der Grenzen gewährt jedem das Recht, darin unterzukommen“.
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wird. Sie umfasse, so Simmel, zwar die Inhalte, was bei der Analyse der Formen der Vergesellschaftung zu bedenken sei. Diese Inhalte seien indessen das empirisch vorfindliche Material der verstehenden, geisteswissenschaftlichen Soziologie – nicht ihr Gegenstand. Allerdings sei dieses Material nicht (wie bei Comte und Spencer) als chaotische Vielfalt zu denken, sondern als geordnetes Geschehen, wie es einen sinnhaften Aufbau der sozialen Welt nahe lege – um den Ausdruck Alfred Schütz‘ zu verwenden. Das Stichwort für Gesellschaft als das empirische Geschehen der Geschichte heißt Wechselwirkung. Der soziologische Begriff für die empirisch gegebene Gesellschaft ist hier festzumachen: „Was nun die ‚Gesellschaft‘, in jedem bisher gültigen Sinne des Wortes, eben zur Gesellschaft macht, das sind ersichtlich die so angedeuteten Arten der Wechselwirkung“ (GSG 11: 19). Er erläutert, nicht der Mensch „als solcher“ sei das Element der Gesellschaft, sondern die soziale Beziehung, also die Wechselwirkung: „Irgend eine Anzahl von Menschen wird nicht dadurch zur Gesellschaft, daß in jedem für sich irgend ein sachlich bestimmter oder ihn individuell bewegender Lebensinhalt besteht; sondern erst, wenn die Lebendigkeit dieser Inhalte die Form der gegenseitigen Beeinflussung gewinnt, wenn eine Wirkung von einem auf das andere – unmittelbar oder durch ein Drittes vermittelt – stattfindet, ist aus dem bloß räumlichen Nebeneinander oder auch zeitlichen Nacheinander der Menschen eine Gesellschaft geworden“. Der Gegenstand der Soziologie „im engeren Sinne“ ist mithin keine Gesellschaft als Ganzes, und es geht auch nicht darum, ein allgemeines Gebilde durch seine Elemente zu untersuchen. Die Wechselwirkungen sind keine Teile einer Gesamtstruktur, die man daraus erschließt. Sondern – dies ist entscheidend – für Simmel sind es die Arten bzw. die Formen der Wechselwirkung, die das Gegenstandsgebiet der geisteswissenschaftlichen Einzelwissenschaft Soziologie bilden. Es sind die Formen der Vergesellschaftung, die die „Gesellschaft“ – das Erkenntnisfeld der Soziologie – ausmachen. Es geht nicht um die Wechselwirkung(en) als solche, sondern ihre Formen sind zu untersuchen. Die Soziologie nimmt sich die Formen der Vergesellschaftung ins Blickfeld. Simmel unterstreicht: „Daß dieses beides, in der Wirklichkeit untrennbar Vereinte, in der wissenschaftlichen Abstraktion getrennt werde, daß die Formen der Wechselwirkung oder Vergesellschaftung, in gedanklicher Ablösung von den Inhalten, die durch sie erst zu gesellschaftlichen werden, zusammengefaßt und einem einheitlichen wissenschaftlichen Gesichtspunkt methodisch unterstellt werden – dies scheint mir die einzige und die ganze Möglichkeit einer speziellen Wissenschaft von der Gesellschaft als solcher zu begründen“ (ebd.: 20).21
21 Er fügt, GSG 11: 20, hinzu: „Mit ihr erst wären die Tatsachen, die wir als die gesellschaftlich-historische Realität bezeichnen, wirklich auf die Ebene des bloß Gesellschaftlichen projiziert.“
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Die doppelte Konstitution von Gesellschaft ist entscheidend. Zum einen gibt es die Wechselwirkungen der empirisch gegebenen Gesellschaft, gewissermaßen die Inhalte des gesellschaftlichen Lebens. Zum anderen gibt es die Formen der Vergesellschaftung, die soziologisch die erkennbare ‚Gesellschaft‘ ausmachen. Um dieser doppelten Bestimmung gerecht zu werden, muss man zwei Fragen stellen: Untersucht Simmel in seinem Œuvre die beiden Seiten des Sozialen – die Gesellschaft und die ‚Gesellschaft‘ – getrennt voneinander oder zugleich und gemeinsam in ein und demselben Werk? Fasst er ‚Gesellschaft‘ in seinem Essay von 1894 genauso oder anders auf als in Soziologie, wo er die Formen der Vergesellschaftung im Einzelnen untersucht, wie er sie in seinem frühen Essay zunächst benennt? Mein Verständnis ist, dass Simmel in seinem Werk Soziologie die Gesellschaft, wie sie in und aus Wechselwirkungen besteht, nicht zum Hauptgegenstand seines Nachdenkens macht. Denn er will in seinem zweiten Hauptwerk die Formenanalyse der Vergesellschaftung vorlegen. Er untersucht dort nicht die Vergesellschaftung als solche, sondern speziell die Formen der Vergesellschaftung – dies bezeugt sein Untertitel des Buches. Das erste Hauptwerk, das im Jahr 1900 erstmals erscheint, behandelt demgegenüber das Problem der Gesellschaft, auch wenn es kein soziologisches Werk ist. Philosophie des Geldes, so sei kurz rekapituliert, untersucht die Wechselwirkung als geschichtlich-gesellschaftliches Phänomen. Die gegenseitige Bedingtheit der einander antagonistisch zugeordneten Aspekte der Wirklichkeit werden philosophisch erfasst. Die Wechselwirkungen und ihre Strukturen, also vor allem die Zweckverbände der Politik und der Wirtschaft im Zusammenhang der modernen Zivilkultur werden geschildert.22 Bemerkenswert ist, dass das Thema für Simmel zur Philosophie gehört: Philosophie des Geldes ist ein Traktat über die Gesellschaft der Moderne. Das Werk analysiert die Dynamik im Wandel von der undifferenzierten (primitiven, einfachen) zur differenzierten (heutigen, modernen) Gesellschaft. Aus Simmels Perspektive befasst sich Philosophie des Geldes nicht mit Soziologie. Denn die Formen der Vergesellschaftung, wie sie seit 1894 den Gegenstand seines soziologischen Ansatzes bildeten, werden nicht untersucht. Es geht um die Gesellschaft, wie sie in ihren – nicht-nationalökonomisch zu denkenden – Strukturen und Prozessen der Geldwirtschaft und deren Erscheinungen und Folgewirkungen vom einfachen (kollektivistischen) zum modernen (individualistischen) Gemeinwesen wird (werden konnte, geworden ist). Die Formen der Vergesellschaftung sind in diesen Wandel zwar hineingestellt, aber sie bilden in Philosophie des Geldes nicht den eigentlichen Erkenntnisgegenstand des Buches.
22 Uta Gerhardt, Idealtypus. Zur methodologischen Begründung der modernen Soziologie, Frankfurt/M. 2001, insbesondere 135-176 (Kap. IV-V).
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Die Philosophie der Gesellschaft arbeitet mit dem Prozessmodell, wie es seit Georg Wilhelm Friedrich Hegel im neunzehnten Jahrhundert zu den anerkannten Methoden der Argumentführung zählt. Die Kaskade aus These, Antithese und Synthese ist für Simmel ein philosophisch legitimes Denkmodell. Die Prozesse des Bewusstseins und der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt sind mit diesem dynamischen Schema zu erfassen. Simmel kann mit der Denkfigur von These-Antithese-Synthese eine philosophisch bewährte Konzeption der eigendynamischen Entwicklung verwenden: Er braucht sie nicht weiter zu begründen, denn sie ist in der Philosophie bekannt und verständlich. Es ist mittels dieser Denkfigur nachvollziehbar, wie man sich den Prozess des Kulturfortschritts hin zu dem immer höheren intellektuellen Niveau der Lebensformen vorzustellen hat. Die Kaskade aus These, Antithese und Synthese wird zur Logik des Fortschritts hin zur modernen Wirtschaft und Gesellschaft im analytischen Teil des Buches Philosophie des Geldes. Jedes der drei Kapitel hat in seiner Argumentführung das Verhältnis These – Antithese – Synthese vor Augen. Die drei Kapitel des analytischen Teils sind nach diesem Schema angeordnet. Dasselbe Entwicklungsmuster wiederholt sich im synthetischen Teil. Dessen Kapitel über die Freiheit, die Arbeit und den Stil des Lebens sind wiederum nach dem Muster von These – Antithese – Synthese aufgebaut und bilden insgesamt eine Einheit aus diesen Stadien.23 Die doppelte Argumentführung gipfelt im Abschlusskapitel. Die individualistische moderne Kultur gilt als das Ergebnis und ist der Höhepunkt der immer ‚geistigeren‘ Wirtschaftsprozesse. Die Synthese ist erreicht, wie sie sich aus dem analytischen und dem synthetischen Teil des Buches ergibt. Man kann sehen, inwiefern der Funktionswert des Geldes, die hochkomplexen Organisationen in Wirtschaft und Politik, die Freiheit der Entscheidung des Individuums, die Differenzierung der Berufswelt im Sinne der Qualifikation der Arbeitsleistung und schließlich die Großstadtkultur mit ihren charakteristischen Kommunikationsformen zusammenpassen. Man sieht im Stil des Lebens, wie die verschiedenen Stadien der Entwicklung der heutigen Welt in der Moderne aufgehoben sind – im dreifachen Sinn von „Aufhebung“ à la Hegel. Die höchsten Ausprägungen der Geldkultur sind systematisch auch der Höhepunkt des Kulturfortschritts. Das Maximum an Individuierung in der Gesellschaft der Gegenwart entspricht der höchsten Differenzierung der Sozialwelt, wie sie kein geschlossenes Ganzes mehr sein kann, sondern ein Gemeinwesen der hochkomplexen Strukturen und Prozesse ist. Durch seine dialektische Argumentführung kann Simmel in Philosophie des Geldes ein zweites Ziel verwirklichen. Wie es im Vorwort heißt, soll der Gesellschaftsanalyse von Karl Marx etwas Gleichwertiges entgegen gesetzt werden –
23 Uta Gerhardt, Dialektik in Georg Simmels ‚Philosophie des Geldes‘, in: Otthein Rammstedt u.a. (Hg.), Georg Simmels Philosophie des Geldes, Frankfurt/M. 2003, 117-157.
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oder, wie Simmel das Erkenntnisinteresse dieses Werks charakterisiert: „In methodischer Hinsicht kann man diese Grundabsicht so ausdrücken: dem historischen Materialismus ein Stockwerk unterzubauen, derart, daß der Einbeziehung des wirtschaftlichen Lebens in die Ursachen der geistigen Kultur ihr Erklärungswert gewahrt wird, aber eben jene wirtschaftlichen Formen selbst als das Ergebnis tieferer Wertungen und Strömungen, psychologischer, ja, metaphysischer Voraussetzungen erkannt werden“ (GSG 6: 13). Mit anderen Worten: Der bei Marx aus der Philosophie Hegels begründeten Gesellschaftskonzeption des Verhältnisses von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen setzt Simmel sein ebenfalls mit Hegels Prozessschema begründetes Konzept der Dynamik von Wirtschaftsleben und Kultur entgegen. Er kann also das Sein und das Bewusstsein ganz anders als Marx – und doch dialektisch – aufeinander beziehen. Das zweite Hauptwerk ist Soziologie. Nun ist das Thema nicht mehr die Gesellschaft in ihren komplexen, als Dynamik zu denkenden Prozessen der historischgesellschaftlichen Entwicklung. Sondern nun soll die ‚Gesellschaft‘ – also die Gesellschaft als der Gegenstand der Soziologie, nicht (mehr) das Thema der Philosophie – behandelt werden. Es geht nun um die Formen der Vergesellschaftung. Im Brief an Georg Jellinek vom 23. Dezember 1907, wo Simmel das fast fertige Werk selbstkritisch kommentiert, schreibt er über sein neues Buch: „Ich gebe dies Buch mit sehr schwerem Herzen heraus, mit schwererem, als irgendein früheres. Denn da es ein allererster Anfang ist, sich an keine Tradition u. bestehende Technik anschließt – so wird vieles an ihm unvollkommen, tastend, irrend sein; vielleicht ist es einer der Erstlinge, die geopfert werden. [...] Ist dies abgeschlossen, so werde ich schwerlich wieder zu soziologischen Studien zurückkehren, die soziologische Existenz meines Lebens wird damit abgeschlossen sein u. ich werde seinen Rest ganz der Philosophie widmen, […] der mein Herz doch ganz anders als der Soziologie angehört“ (GSG 22: 597f.). Dazu passt, dass er am 20. März 1908, als endlich das Manuskript der Soziologie abgeschlossen ist, gegenüber Jellinek – was auf die glücklosen Verhandlungen im Vorfeld der letztlich gescheiterten Berufung nach Heidelberg anspielt – den „Blödsinn“ moniert, „daß ich eigentlich nicht Philosoph, sondern Soziologe wäre – in Wirklichkeit treibe ich Soziologie nur ‚im Nebenamt‘“ (ebd.: 617).24 So kann man sagen: Simmels Begriff von Gesellschaft in Philosophie des Geldes richtet sich auf die dynamische geschichtliche Wirklichkeit, wie sie aus Wech-
24 Der Brief spielt darauf an, dass Simmel in der Vorbereitung einer (nicht zustande gekommenen) Berufung nach Heidelberg auf den zweiten Lehrstuhl für Philosophie in einem Fakultätsgutachten als schwerpunktmäßig auf Soziologie ausgerichtet bezeichnet wurde.
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selwirkungen besteht. Simmels Thema in „Das Problem der Sociologie“ und in Soziologie ist die ‚Gesellschaft‘ als Gegenstand der Soziologie, die sich den Formen der Vergesellschaftung, ihrer Dynamik und ihrem Verhältnis zueinander widmet. Diese geisteswissenschaftliche Soziologie, so Simmel bereits in seinem Aufsatz von 1894, soll eine solide, überschaubare, machbare Spezialdisziplin mit einem eigenen Gegenstandsbereich sein. Sie habe dadurch, wie er sich ausdrückt, „eine grenzgesicherte Heimstätte zu guten Besitzrechten“ jenseits aller „hochfliegenden Ansprüche“ (GSG 5: 61).
II. D IE F ORMANALYSE , DIE F ORMEN DER V ERGESELLSCHAFTUNG
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Die Untersuchungen über die Formen der Gesellschaftsbildung, wie sie Soziologie vorlegt, sind keine Darstellungen von Bereichen und/oder Gesetzmäßigkeiten des Sozialen wie etwa zeitgenössisch bei Spencer und seinen Anhängern. Sondern Simmels Untersuchungen widmen sich jeder Form der Vergesellschaftung jeweils anders. Seine Ausführungen sollen das Spezielle jeder einzelnen Sozialform erfassen. Die Wechselwirkung bei jeder untersuchten Form der Vergesellschaftung ist anders in ihren Entwicklungsstadien und hat eine eigene Intensität und andere Auswirkungen. In den verschiedenen historischen Gesellschaften und auch in der heutigen Gesellschaft, der Moderne bei verschiedenen Ländern und Staaten, ist jede Form der Vergesellschaftung jeweils anders zu deuten. In seinen Analysen verwendet Simmel drei Grundmuster der Argumentation. Man kann sie die einfache Formanalyse, die logische Formanalyse und die prozessuale Formanalyse nennen.25 Die einfache Formanalyse stellt lediglich verschiedene Möglichkeiten nebeneinander, wie sie historisch bzw. empirisch zu erkennen sind. Eine einfache Formanalyse liefert etwa das Kapitel über die quantitative Bestimmtheit der Gruppe, wo die Form(en) der dyadischen und triadischen Struktur abgehandelt werden, mit dem Grenzfall der Struktur bei einem einzigen Handelnden. Die logische Formanalyse hat ihren Ausgangspunkt in einer Standardsituation, wie sie beim ersten Hinsehen asymmetrisch erscheinen mag, aber dennoch ein Wechselwirkungsverhältnis enthält, das Grundmuster der betreffenden Vergesellschaftungsform. Von hier aus lassen sich Varianten entsprechend den weiteren Einflussfaktoren und/oder besonderen Konstellationen nachzeichnen, wie sie immer komplexere Formtypen der betreffenden Vergesellschaftungsform hervorbringen – wie etwa dargestellt im Kapitel über den Streit. Im Streit ist das Grundmuster ein scheinbar eindeutiger Antagonismus von Angreifer und Angegriffenem, Täter und Opfer, was trotz allem ein Wechselwirkungsverhältnis ist. Von hier aus werden die 25 Gerhardt, Idealtypus, a.a.O., 198-205.
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Variationen als Konkurrenz etc. und ihre Auswirkung auf die Art und die Dauer des Streits geschildert, bis hin zum Frieden, der bloß ein Stadium der Entstehung neuer Konflikte ist. Das Logische dieser Formanalyse liegt im Fortschreiten von dem Standard- oder Grundmuster hin zu den Varianten, die immer komplexer werden, worin die Dynamik der Vergesellschaftungsform offenbar wird. Die prozessuale Formanalyse ist die dritte Vorgehensweise. Diese Art der Formenanalyse wählt Simmel beispielsweise im Kapitel über die Armut. Er macht eingangs klar, dass die Armut ein Verhältnis zwischen den Gruppierungen einer Gesellschaft ist, also kein objektiv messbares Phänomen, sondern ein durch gesellschaftliche Definition geschaffener Zustand der relativen Deprivation – mit einem modernen Begriff gesprochen. Diese Vergesellschaftungsform, dies ist entscheidend, ist das Produkt einer Entwicklung hin zu immer mehr Individualität im Zuge der Ausdifferenzierung der immer komplexeren gesellschaftlichen Lebenszusammenhänge – dabei ist die Armut, ein Verhältnis zwischen antagonisch definierten Statusgruppen, in der modernen Welt mit einer Individualisierungschance für den Einzelnen verbunden, seit im Zuge der Vermittlerrolle des modernen Wohlfahrtsstaates zwischen den Reichen und den Armen die persönliche Ausbeutung zurücktritt hinter die eher unpersönliche Diskriminierung der Besitzlosen. Die zwei hauptsächlichen Argumentationsfiguren bei der Untersuchung der Formen der Vergesellschaftung sind bei Simmel die logische Formenanalyse und die prozessuale Formenanalyse.26 Diese beiden Arten der Analyse entsprechen den zwei hauptsächlichen Formarten. Die Vergesellschaftungsform der Über- und Unterordnung, bestehend aus der Grundform und ihren Varianten, und diejenige der Kreuzung sozialer Kreise, mit der Prozessdynamik der drei Stufen der kulturellen Entwicklung – sprich Modernisierung –, sollen näher erläutert werden. Sie stehen exemplarisch für je eine Formart. Man kann daran das Verhältnis zwischen den Formen der Vergesellschaftung und den Aprioris erläutern. (Die Aprioris sind das nächste Thema [Abschnitt III], dann folgt das Verhältnis zwischen ihnen und den Formen der Vergesellschaftung [Abschnitt IV]). Die Grundform bei Über- und Unterordnung – also Herrschaft – bildet für Simmel die Aussage, dass zwar nicht in allen, allerdings den meisten ÜberUnterordnungs-Verhältnissen ein Rest von Freiheit des Unterworfenen erhalten bleibe: Dass die – wie immer rudimentäre – Freiheit des Beherrschten gegenüber dem Herrscher (Herrschenden) erlaube, sich dem Zwang des Mächtigen trotz allem zu entziehen, erweise es, dass erst der „Glaube des der Autorität Unterworfenen“
26 Die Argumentationsstrukturen von fünf der neun ‚materialen‘ Kapitel aus Soziologie – nämlich der Kapitel II-VII – werden im Einzelnen rekonstruiert bei Gerhardt, a.a.O., 188ff.
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(GSG 11: 163) an deren Geltung ein Vergesellschaftungsphänomen herstelle – also Wechselwirkung: „Die moralische Seite der Betrachtung geht uns hier nichts an, wohl aber die soziologische: dass die Wechselwirkung, d.h. die gegenseitig bestimmte und nur von den Persönlichkeitspunkten her erfolgende Aktion auch in denjenigen Fällen von Über- und Unterordnung besteht und diese also auch da noch zu einer gesellschaftlichen Form macht, wo für die gewöhnliche Auffassung der ‚Zwang‘ durch die eine Partei die andere jeder Spontaneität und damit jeder eigentlichen ‚Wirkung‘, die eine Seite der Wechselwirkung wäre, beraubt“ (ebd.: 161f.). Nach grundsätzlicher Klärung des elementaren Wechselwirkungsverhältnisses (ebd.: 160ff.) geht es um die „Arten der Überordnung“ (ebd.: 168), nämlich dass die Herrschaft – nach einem „dreigliedrigen Schema“ – „von einem Einzelnen, von einer Gruppe, von einer objektiven, sei es sozialen, sei es idealen Macht“ ausgeübt werden könne. Die erste dieser ‚Möglichkeiten‘ der Überordnung lasse sich – interessanterweise – an Hand der Unterordnung erörtern, die dadurch entsteht: Es ist die Einherrschaft (ebd.: 168ff.). Die zweite ‚Möglichkeit‘ ist die Herrschaft einer Mehrzahl (oftmals eingebunden in eine hierarchische Ordnung) bei einer Gruppe oder ganzen Gesellschaft, wobei die Konstellation, sofern es eine mittlere Lage gibt, wegen der dadurch begünstigten vielfältigeren Bündnisverhältnisse nach oben und unten eine komplexere Sozialstruktur erlaubt, aber andererseits für die Niedrigststehenden eine bedauernswert rechtlose Stellung entsteht (ebd.: 184ff.). Daran schließt sich der „Exkurs über die Überstimmung“ an, also die Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit bei Anerkennung der Majoritätsentscheidung durch die Minderheit und dadurch die Herstellung eines Konsenses, einer „Einheit des Ganzen“ (ebd.: 221). Der „dritte Formtypus“ (ebd.: 228) ist, dass „die Unterordnung weder unter den Einzelnen, noch unter eine Mehrheit, sondern unter ein unpersönliches, objektives Prinzip stattfindet“. Obwohl es so scheinen mag, so Simmel, dass dabei keine Wechselwirkung vorliegt, denn einem Gesetz sei unweigerlich Gehorsam geschuldet, dem man sich nicht – per Freiheit – entziehen könne, sei zu sagen: „Dennoch ist für den modernen, objektiven Menschen, der das Gebiet spontaner Wirksamkeit und das des Gehorsams auseinanderzuhalten weiß, die Unterordnung unter ein Gesetz, das von unpersönlichen, unbeeinflußbaren Mächten exekutiert wird, der würdigere Zustand“ (ebd.: 229). Insgesamt sind die unpersönliche ebenso wie die persönliche Herrschaft ihrerseits Spielarten von Über/Unterordnung, wobei das Kriterium für die Zustimmung zu einer Herrschaft in deren Adäquanz liege – Simmel spricht von den „letzten, indiskutablen soziologischen Wertgefühlen“ der Menschen, denen eine Herrschaft entsprechen müsse: „Die ganz allgemeine oder formale Relation zwischen Gesetzesherrschaft und Personenherrschaft ist zunächst freilich praktisch auszudrücken: wo das Gesetz nicht kräftig und weit genug ist, bedarf es der Personen – und wo die Personen nicht zulänglich sind, bedarf es des Gesetzes. Aber, weit darüber hinaus,
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hängt es von den Entscheidungen letzter, indiskutabler soziologischer Wertgefühle ab, ob man die Herrschaft von Menschen als das Provisorium für die Herrschaft des vollendeten Gesetzes ansieht, oder umgekehrt die Herrschaft des Gesetzes nur für einen Lückenbüßer oder ein faute de mieux gegenüber der Herrschaft der zum Herrschen absolut qualifizierten Persönlichkeit“ (ebd.: 231). Nach den Formtypen wendet sich das Kapitel sodann noch der Frage zu, ob denn die Intensität (Qualität) der Herrschaft wichtig sei, nämlich „der Frage [...], [die] die Maße der Herrschaft, besonders in ihrer Korrelation zur Freiheit, und deren Bedingungen unter den soziologischen Blickwinkel rückt“ (ebd.: 246). Simmel zeigt, dass Freiheit und Herrschaft – aus diesem Blickwinkel bei dieser Form der Vergesellschaftung – keine Gegensätze bilden, sondern Korrelate sind. Er hält fest: „In all diesen, nach den verschiedensten Seiten hin ausladenden Erscheinungen bleibt ein immer gleicher soziologischer Kern: daß das Erstreben und Gewinnen von Freiheit, in ihren mannigfachen, negativen und positiven Bedeutungen, sogleich das Erstreben und Gewinnen von Herrschaft zum Korrelat oder zur Folge hat“ (ebd.: 260). Nachdem von dieser Warte aus der Sozialismus und der Anarchismus kritisiert werden, weil sie diese wechselseitige Bedingtheit von Freiheit und Herrschaft leugnen, schließt das Kapitel mit der Bemerkung, dass die moderne Herrschaft – wegen der Chancengleichheit bei der Rekrutierung in die Herrschaftspositionen, also in öffentliche Ämter und leitende Funktionen – auch Chancen der Qualifizierung für diejenigen biete, die ansonsten niemals zu einem hohen Kompetenzniveau gefunden hätten. Unzweifelhaft ist diese Bemerkung ein Seitenhieb gegen die Spencersche Lehre, nur die Selektion der Tüchtigsten im Kampf ums Dasein – also der „von Natur“ (ebd.: 283) zur „superioren Leistung“ Bestimmten – wäre der Garant des Kulturfortschritts: „Die superiore Leistung wird ihm nicht übertragen, weil gerade nur er von Natur zu ihr bestimmt ist (obgleich das natürlich mitwirken kann [...]) [...] – sondern die Weihe schafft, weil sie den Geist überträgt, die besondere Qualifikation für die Leistung, zu der sie beruft. Daß Gott dem, dem er ein Amt gibt, auch den Verstand dazu gibt – dies Prinzip ist nach seinen beiden Seiten: der vorherigen Ungeeignetheit und der nachherigen, durch das ‚Amt‘ geschaffenen Geeignetheit, hier aufs rationalste realisiert“ (ebd.: 283). Ganz anders ist seine Argumentation in „Die Kreuzung sozialer Kreise“, dem einen der zwei Kapitel des Buches, die ein bereits in Über sociale Differenzierung bearbeitetes Thema aufgreifen. Den Ausgangspunkt bildet ein Prozessmodell, das die Entwicklung vom „roheren“ (ebd.: 456) zum „fortgeschrittenen“ Denken zum Vorbild „fortschreitender Entwicklung“ der gesellschaftlichen Beziehungsstrukturen macht: „Wie der höhere Begriff das zusammenbindet, was einer großen Anzahl sehr verschiedener Anschauungskomplexe gemeinsam ist, so schließen die höheren praktischen Gesichtspunkte die gleichen Individuen aus durchaus fremden und unverbundenen Gruppen
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zusammen; es stellen sich neue Berührungskreise her, welche die früheren, relativ naturgegebenen, mehr durch sinnlichere Beziehungen zusammengehaltenen, in den mannigfaltigsten Winkeln durchsetzen“ (ebd.: 457). Die Entwicklung hin zur Vielheit der „Berührungskreise“, die wieder zu einer neuen Einheit zusammengeschlossen werden, ist wichtig, so Simmel, weil dadurch eine „Vermehrung der Freiheit“ zustande kommt: „Überhaupt untersteht der ganze angedeutete Typus der Entwicklung der Tendenz auf Vermehrung der Freiheit: sie hebt zwar nicht die Bindung auf, aber sie macht es zur Sache der Freiheit, an wen man gebunden ist“ (ebd.: 458). Mit anderen Worten: Der Zivilisationsprozess hin zur modernen Gesellschaft ersetzt die „organischen“ (ebd.: 462) Vergesellschaftungen etwa der Sippe oder der Zunft durch ‚rationale‘ Vergesellschaftungen wie etwa den Staat, die Gewerkschaften etc. – und dies wiederum ist ein Zwischenstadium bei der nunmehr feineren Ausdifferenzierung der Gruppierungen: Innerhalb einer Gruppe der formal Gleichen können die Einzelnen wiederum umso feinere individualisierende Vergemeinschaftungen oder Vergesellschaftungen bilden. Simmel lässt keinen Zweifel, dass darin ein Kulturfortschritt liegt: „Die Zahl der verschiedenen Kreise nun, in denen der Einzelne steht, ist ein Gradmesser der Kultur“ (ebd.: 464). Das Kapitel untersucht sodann die zwei hauptsächlichen Erscheinungsformen, welche die Folgewirkungen dieses kulturellen Höherentwicklungsmusters sind. Die eine Folgewirkung ist: Ein hohes Maß an Individualität entsteht im modernen Leben gerade durch die Vielheit der sozialen Kreise, also die Ausdifferenzierung unterschiedlicher gesellschaftlicher Lebenswelten: „[...] so bilden wir aus den einzelnen Lebenselementen, deren jedes sozial entstanden oder verwebt ist, dasjenige, was wir die Subjektivität [κατ‘ έξοχήν] nennen, die Persönlichkeit, die die Elemente der Kultur in individueller Weise kombiniert. Nachdem die Synthese des Subjektiven das Objektive hervorgebracht, erzeugt nun die Synthese des Objektiven ein neueres und höheres Subjektives – wie die Persönlichkeit sich an den sozialen Kreis hingibt und sich in ihm verliert, um dann durch die individuelle Kreuzung der sozialen Kreise in ihr wieder ihre Eigenart zurückzugewinnen“ (ebd.: 467).27
In verschiedenen Zeitaltern und unterschiedlichen gesellschaftlichen Konstellationen ist dieser Zusammenhang jeweils unterschiedlich ausgeprägt, was Simmel mit historischen und zeitgenössischen Materialien belegt. Für die Gesellschaft der Gegenwart gilt gerade die Verschiedenheit als Maßstab der Individualitätschance:
27 Der dialektische Prozess in Simmels Denkfigur beim Fortschreiten vom Subjektiven durch Objektivation hin zum Objektiven und von dort durch Synthese (Aneignung) wiederum zu einem neueren und höheren Subjektiven ist unverkennbar.
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„In dem personalen Erfolge differiert es freilich unermeßlich gegen jene konzentrische Form, wenn jemand außer seiner Berufsstellung etwa noch einem wissenschaftlichen Vereine angehört, Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft ist und ein städtisches Ehrenamt bekleidet; je weniger das Teilhaben an dem einen Kreise von selbst Anweisung gibt auf das Teilhaben an einem anderen, desto bestimmender wird die Person dadurch bezeichnet, daß sie in dem Schnittpunkt beider steht. Insoweit die Teilhaberschaft an Ämtern und Institutionen hier in Frage kommt, hängt es natürlich von der Spannungsweite ihrer Arbeitsteilung ab, ob die Vereinigung mehrerer Funktionen in einer Persönlichkeit an dieser eine charakteristische Begabungskombination, eine besondere Breite der Tätigkeit hervortreten läßt. Die Struktur der objektiven gesellschaftlichen Gebilde gibt auch auf diesem Wege die größere oder geringere Möglichkeit, vermöge ihrer die Unverwechselbarkeit und Singularität des Subjekts zu konstituieren oder auszudrücken“ (ebd.: 474f.). Die zweite Folgewirkung des Prozesses der fortschreitenden Differenzierung sozialer Kreise und der daraus erwachsenden Individualisierung ist ein Mehr an gesellschaftlicher, also kultureller Rationalität – ein „Fortschritt von der Differenzierung und Zusammenfassung nach äußerlichen schematischen Gesichtspunkten zu der nach sachlicher Zusammengehörigkeit“. Simmel weiß: „Auch hier bezeichnet die Vereinigung aus heterogenen Kreisen die höhere Entwicklungsstufe“ (ebd.: 506). Die Höherentwicklung – der Fortschritt – der Kultur geschieht auf dem Wege der drei Prozessstadien: erstens Ausdifferenzierung einer Vielheit heterogener gesellschaftlicher Gruppierungen oder Lagen, oftmals nach Kriterien einer ‚natürlichen‘ Zugehörigkeit; zweitens Zusammenschluss homogener Elemente innerhalb der heterogenen Gruppen zu übergeordneten Einheiten, oftmals nach Kriterien einer ‚rationalen‘ Organisation; drittens Ausdifferenzierung zu feineren, heterogenen Vergesellschaftungen im Rahmen oder unter dem Dach der allgemeinen Großgebilde: „Der rationale, von einer einheitlichen Idee aus organisierte Kreis durchschneidet nicht den primitiveren, wenn man will: natürlicheren, sondern ist nur die sozusagen weihevollere, geistigere Form, in der der letztere sich wie von neuem zusammenfindet“ (ebd.: 507). Am Ende des Kapitels mag Simmel nicht darauf verzichten, auch die Gefahren zu erwähnen, die die Vergesellschaftungsform der Kreuzung sozialer Kreise in sich birgt: „Wenn so der Sieg des rational sachlichen Prinzips über das oberflächlich schematische mit dem allgemeinen Kulturfortschritt Hand in Hand geht, so kann dieser Zusammenhang, da er kein apriorischer ist, doch unter Umständen durchreißen“ (ebd.: 508). Hier zeigen sich die Fehlentwicklungen der Gegenwart, etwa das Unpersönliche des Militärs, die Entpersönlichung der Arbeit, die Anonymität in den Städten:
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„[D]iesen Charakter trägt der moderne Soldat gegenüber dem Ritter des Mittelalters, die Maschinenarbeit gegenüber der Handarbeit, die neuzeitliche Uniformität und Nivellierung so vieler Lebensbeziehungen, die früher der freien individuellen Selbstgestaltung überlassen waren: jetzt ist einerseits das Getriebe zu groß und zu kompliziert, um in jedem seiner Elemente sozusagen einen ganzen Gedanken zum Ausdruck zu bringen; jedes dieser kann vielmehr nur einen mechanischen und für sich bedeutungslosen Charakter haben und erst als Glied des Ganzen seinen Teil zur Realisierung eines Gedankens beitragen“ (ebd.: 511).
Man kann festhalten als das Szenario der Formen der Vergesellschaftung: Soziologie verwendet hauptsächlich zwei Argumentationsmuster. Das eine – durchgängig in den Kapiteln III, IV, VIII und IX – geht von einer Grundform aus und variiert diese, so dass die Formtypen, die Dimensionen und die Entwicklungshorizonte dieser Vergesellschaftungsform geschildert werden. Die andere Argumentation – vornehmlich in den Kapiteln VI, VII und X – setzt ein Prozessmodell als Grundform und stellt dar, inwiefern daraus der gesellschaftliche Wandel von der einfachen zur modernen Gesellschaft verständlich wird, wobei die Freiheit und die Individualität die höchsten Errungenschaften des Gemeinwesens der Gegenwart bilden (das Kapitel II verwendet die einfache Formanalyse, eine vereinfachende Spielart der ersteren Argumentation, und das Kapitel V mischt die beiden Argumentationsmuster).
III. D IE APRIORIS Der „Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich?“ ist der Ausgangspunkt für die neun ‚materialen‘ Kapitel. Sie erklären die Formen der Vergesellschaftung auf der Grundlage, die der Exkurs herstellt, der in das erste Kapitel eingefügt ist. Die erkenntnistheoretischen Prämissen für Simmels Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung werden geklärt. In diesem Exkurs werden die Bedingung(en) der Möglichkeit von Gesellschaft und zugleich ihrer Erkenntnis – skizzenhaft und tentativ, allemal nicht apodiktisch – offengelegt. Wenn alles gesellschaftliche Handeln sich in sozialen Beziehungen zwischen Handelnden – eben in Wechselwirkung – abspielt, so erläutert das Kapitel „Das Problem der Soziologie“, muss man die Voraussetzungen klären, unter denen das Bewusstsein die Wechselwirkung in sich trägt. Das vergesellschaftete Handeln, also die Wechselwirkung, ist in den Formen der Vergesellschaftung grundlegend, wenn eine apriorische Natur des Sozialen angenommen wird. Der gesellschaftlich Handelnde, der in der Wechselwirkung steht, hat vor aller Erfahrung ein Wissen, ein geistiges Bild des Sozialen. Das Gesellschaftliche ist im Bewusstsein verankert, was wiederum die „Gesellschaft“ zum Sozialen im Sinne der Soziologie macht. Und doch liegt hier der Kern der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Drei nahe liegende Begründungen, so Simmel, stützen die Aussage, dass Aprioris gelten. Es sind
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drei Postulate, die implizieren, dass die Wirklichkeit der Formen der Vergesellschaftung anders nicht zu denken ist als durch die Wechselwirkung. Die drei Postulate sind gewissermaßen die Grundlage für die drei Aprioris, die wiederum das gesellschaftliche Bewusstsein in den Formen der Vergesellschaftung konstituieren. Erstens: Zu postulieren ist im Bewusstsein die Einheit mit anderen Handelnden, wie sie dem Subjekt vor aller Erfahrung gegeben ist. Diese Einheit, so Simmel, muss nicht erst durch die Anschauung hergestellt werden, sondern sie besteht a priori: „Jener Satz Kants: Verbindung könne niemals in den Dingen liegen, da sie nur vom Subjekte zustande gebracht wird, gilt für die gesellschaftliche Verbindung nicht, die sich vielmehr tatsächlich in den ‚Dingen‘ – welche hier die individuellen Seelen sind – vollzieht. [...] [D]as Bewußtsein, mit den anderen eine Einheit zu bilden, ist hier tatsächlich die ganze zur Frage stehende Einheit“ (ebd.: 43).
Zweitens: Zu postulieren ist das Gegebensein des anderen, die „Tatsache des Du“ (ebd.: 45), wie sie im „Gefühl des seienden Ich“ (ebd.) immer schon vorhanden ist. Das Du wird also nicht durch das Zusammentreffen mit anderen erst hergestellt, sondern ist bei der Interaktion immer schon vorausgesetzt: „Wenn Kant noch so sehr versichert, daß die räumlichen Objekte genau die gleiche Sicherheit hätten, wie meine eigne Existenz, so können mit der letzteren nur die einzelnen Inhalte meines subjektiven Lebens gemeint sein; denn die Grundlage des Vorstellens überhaupt, das Gefühl des seienden Ich hat eine Unbedingtheit und Unerschütterlichkeit, die von keiner einzelnen Vorstellung eines materiellen Äußeren erreicht wird. Aber eben diese Sicherheit hat für uns, begründbar oder nicht, auch die Tatsache des Du; und als Ursache oder als Wirkung dieser Sicherheit fühlen wir das Du als etwas von unserer Vorstellung seiner Unabhängiges, etwas, das genau so für sich ist, wie unsre eigne Existenz“ (ebd.: 44f.).
Drittens: Das dritte Postulat macht die Phänomene des gesellschaftlichen Lebens wirklich, nicht weil sie irgendwie aus der Anschauung entstehen oder gewonnene Eindrücke wiedergeben, sondern weil sie eine Konsistenz jenseits der eigenen Erfahrungen als idealisierende und zugleich typisierte Muster oder Entwürfe haben. Die gesellschaftlichen Phänomene gehören zu einer „in dieser Perfektion vielleicht niemals realisierten Gesellschaft“ (ebd.: 46), wie sie immer schon im Bewusstsein gegeben ist. Sie sind das Wirkliche, wie es im Handeln sich darstellt – bei der Wechselwirkung im geschichtlich-gesellschaftlichen Leben und für die Formen der Vergesellschaftung: „Die soziologischen Aprioritäten werden dieselbe doppelte Bedeutung haben, wie diejenigen, die die Natur ‚möglich machen‘: sie werden einerseits, vollkommener oder mangelhafter, die
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wirklichen Vergesellschaftungsvorgänge bestimmen, als Funktionen oder Energien des seelischen Verlaufs; andrerseits sind sie die ideellen, logischen Voraussetzungen der perfekten, wenngleich in dieser Perfektion vielleicht niemals realisierten Gesellschaft – wie das Kausalgesetz einerseits in den tatsächlichen Erkenntnisprozessen lebt und wirkt, andrerseits die Form der Wahrheit, als des idealen Systems vollendeter Erkenntnisse, bildet, unabhängig davon, ob diese durch jene zeitliche, relativ zufällige seelische Dynamik realisiert wird oder nicht und unabhängig von der größeren oder geringeren Annäherung der im Bewußtsein wirklichen Wahrheit an jene ideell gültige“ (ebd.: 46).
Die Konstitution der Gesellschaft im Bewusstsein vor aller Erfahrung ist für die Soziologie eminent wichtig – dies soll das Werk Soziologie dartun. Die Soziologie darf nicht einen unzutreffenden Empirismus predigen: „[D]as Subjekt steht hier nicht einem Objekt gegenüber, von dem es allmählich ein theoretisches Bild gewönne, sondern jenes Bewußtsein der Vergesellschaftung ist unmittelbar [...]. Es handelt sich um die Prozesse der Wechselwirkung, die für das Individuum die [...] Tatsache bedeuten, vergesellschaftet zu sein. Welche Formen zum Grunde liegen müssen, oder: welche spezifischen Kategorien der Mensch gleichsam mitbringen muß, damit dieses Bewußtsein entstehe, und welches deshalb die Formen sind, die das entstandene Bewußtsein – die Gesellschaft als eine Wissenstatsache – tragen muß, dies kann man wohl die Erkenntnistheorie der Gesellschaft nennen“ (ebd.: 47).
Mit dieser Erkenntnistheorie der Gesellschaft ist das Substrat der ‚Gesellschaft‘ benannt, wie sie – geisteswissenschaftlich zu begründen – durch die Soziologie untersucht wird. Die Aprioris, die die Formen der Vergesellschaftung durchdringen, so Simmel, sind ihrerseits Formen, es sind „apriorisch wirkende Bedingungen oder Formen der Vergesellschaftung“ (ebd.)28 – gewissermaßen sind es, sit venia verbo, Formen der Formen der Vergesellschaftung. Soziologie ist in ihren ‚materialen‘ Kapiteln, wo diese komplexe Wirklichkeit dargestellt wird, für Simmel „ein allererster Anfang [...], [der] sich an keine Tradition u. bestehende Technik anschließt“, wie er an Jellinek schreibt. Er hält für denkbar, dass es mehr als die drei Aprioris gibt, deren Bestimmungen er begründet, dass sie also nicht das ganze Arsenal relevanter Aprioris bilden: Er spricht davon, vielleicht seien es nur „einige“ (ebd.) derartige „Bedingungen oder Formen“ – als gäbe es weitere und man müsse offen lassen, wie das gesellschaftliche Bewusstsein letztlich insgesamt beschaffen ist. Jedenfalls solle der
28 Gerhardt, a.a.O., 284ff. Streng genommen sind die Aprioris, die wiederum die Formen der Vergesellschaftung durchdringen, in diesem Sinne gewissermaßen die Formen jener Formen, wie sie in den Kapiteln II-X expliziert werden.
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Leser, wie das Vorwort erbittet, die drei Aprioris bei der Lektüre des weiteren Werkes bewusst halten. Die drei Aprioris29: Erstens das Rollenapriori: Es ist vor aller Erfahrung wirklich, dass „das Bild, das ein Mensch vom andern aus der persönlichen Berührung gewinnt“ (ebd.), eines ist, das keineswegs notwendigerweise der „Beschaffenheit des realen Objekts“ entspricht. Sondern eine Verallgemeinerung zum „Typus Mensch“ (ebd.: 48) ist immer schon gegeben. In einer sozialen Beziehung ist der andere Mensch eine Person in einer sozialen Rolle – ein Offizier, ein Beamter oder ein Gelehrter, um die Beispiele anzuführen, wie sie Simmel nennt (ebd.: 47).30 Er weiß, bei derartiger Verallgemeinerung ist in der Typisierung immer auch die Idealisierung mitgesetzt. Zur Typisierung: „Um den Menschen zu erkennen, sehen wir ihn nicht nach seiner reinen Individualität, sondern getragen, erhoben oder auch erniedrigt durch den allgemeinen Typus, unter den wir ihn rechnen“ (ebd.: 48). Zur Idealisierung: „Grade aus der völligen Einzigkeit einer Persönlichkeit formen wir [...] das Bild, das er zeigen würde, wenn er sozusagen ganz er selbst wäre, wenn er nach der guten oder schlechten Seite hin die ideelle Möglichkeit, die in jedem Menschen ist, realisierte“ (ebd.: 48f.). Demgemäß ist der Einzelne im sozialen Leben ein verallgemeinerter Typus, und durch seine Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Gruppierungen kann er dementsprechend eine Identität erlangen: „In den Kreisen der Offiziere, der kirchlich Gläubigen, der Beamten, der Gelehrten, der Familienmitglieder sieht jeder den anderen unter der selbstverständlichen Voraussetzung: dieser ist ein Mitglied meines Kreises“ (ebd.: 49). Zweitens das Individualitätsapriori: Ein weiteres Apriori ist, trotz aller Verallgemeinerung zum ‚Typus Mensch‘, dass zugleich das Einzigartige des Individuums, seine unverwechselbare Eigenheit, ein Faktum ist, wie es nicht durch die Erfahrung erst hergestellt werden muss. Sondern das Individuelle als Anderssein als alle gesellschaftliche Identität ist jenseits aller Erfahrung gegeben und wird unabhängig von den Vergesellschaftungsvorgängen immer schon vorausgesetzt: „Wir wissen von dem Beamten, daß er nicht nur Beamter, von dem Kaufmann, daß er nicht nur Kaufmann, von dem Offizier, daß er nicht nur Offizier ist; und dieses außersoziale Sein [...] gibt ihm doch für jeden ihm Gegenüberstehenden jedes Mal
29 Uta Gerhardt, Rollenanalyse als kritische Soziologie. Ein konzeptueller Rahmen für eine empirische und methodologische Theorie der Vergesellschaftung, Neuwied 1971, insbes. 28ff. 30 Dazu die Textstelle GSG 11: 50: „Der Bürgerliche, der einen Offizier kennenlernt, kann sich gar nicht davon freimachen, daß dieses Individuum ein Offizier ist.“
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eine bestimmte Nuance und durchflicht sein soziales Bild mit außersozialen Imponderabilien“ (ebd.: 51). Das Besondere des Individualitätsapriori ist, dass die Individualität nicht positiv als ein Etwas oder eine Entität gesetzt wird, sondern negativ bestimmt ist, nämlich durch die Negation der gesellschaftlichen Identitäten, insofern sie grundsätzlich den ganzen Menschen nicht ausmachen. „[D]aß die Gesellschaften Gebilde aus Wesen sind, die zugleich innerhalb und außerhalb ihrer stehen“ (ebd.: 53), erläutert Simmel sodann, wozu er das Beispiel des religiösen Menschen heranzieht. Dieser gehe scheinbar ganz in seinem Gott auf, und doch bleibe er dabei – um überhaupt diese Hingabe an seinen Gott zu empfinden – ein Gegenüber des Göttlichen: „Und dennoch, um dieser Einschmelzung auch nur einen Sinn zu geben, muß er irgend ein Selbst-Sein bewahren, irgend ein personales Gegenüber, ein gesondertes Ich, dem die Auflösung in dieses göttliche All-Sein eine unendliche Aufgabe ist, ein Prozeß, der weder metaphysisch möglich noch religiös fühlbar wäre, wenn er nicht von einem Fürsichsein des Subjekts ausginge: das Eins-Sein mit Gott ist in seiner Bedeutung durch das Anders-Sein als Gott bedingt“ (ebd.: 53f.).
Die Individualität, vor aller Erfahrung gegeben, setzt eine Besonderheit des Ich jenseits der Vergesellschaftung der Person. Solche Individualität ist das Pendant und doch auch die Negation der „Gesellschaft“, als Möglichkeit immer präsent und in den Formen der Vergesellschaftung als Movens des sozialen Wandels immer wirksam. Simmel weiß: Der Drang nach Individualität gehört zum Fortschritt in die Moderne, in der modernen Welt gibt es mehr Individualität im gesellschaftlichen Leben als jemals zuvor in der Geschichte. Dass dies möglich ist, ist soziologisch verständlich: Mehr Freiheit wird durch die – zwar schwächeren, jedoch zahlreicheren und vielfältigeren – sozialen Bindungen möglich, wie sie der moderne Mensch pflegt: „Nicht minder nun gilt diese Formel für das Verhältnis zwischen den Individuen und den einzelnen Kreisen seiner gesellschaftlichen Bindungen, oder, wenn man diese zu dem Begriff oder Gefühl des Vergesellschaftetseins überhaupt zusammenfaßt, für das Verhältnis der Individuen schlechthin“ (ebd.: 54). Drittens das Strukturapriori: Das Rollenmäßige und das Individuelle sind ihrerseits wiederum in ein Drittes eingebunden. Durch ihren Bezug auf das gesellschaftliche Ganze werden das Rollenmäßige und das Individuelle des vergesellschafteten Menschen in einer höheren Einheit aufgehoben. Wenn eine Gesellschaft vorgestellt wird, so Simmel, selbst wenn man als Demokrat oder als Sozialist „eine ‚Gleichheit‘ planen oder teilweise erreichen“ (ebd.: 57) will, bleiben doch stets trotz der Betonung der Gleichheit in der Gesellschaft, wie sie gerecht sein soll, ungleiche Momente erhalten. Gleichheit und Ungleichheit sind untrennbar miteinander verbunden. Am Beruf kann man sehen, dass die Gleichheit zugleich immer auch Un-
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gleichheit bedeutet: Der Beruf ist jene Stelle im Gesellschaftsganzen, wo das Individuelle sich in der Rollenkompetenz zeigt. Wenn man sich in einer Gesellschaft orientiert, so Simmel, so denkt jeder, wenn er seine Selbstverwirklichung sucht, dass er durch den Beruf idealiter genau die Position findet, die geradezu für ihn geschaffen ist. Das Image des Berufs ist, dass für jede Individualität gesellschaftlich ein Platz vorhanden ist, wo ihre Begabungen und Fähigkeiten optimal passen – hier verkörpern sich die Einheit von Individuellem und Allgemeinem in einem „Ort“ im postulierten gesellschaftlichen Ganzen: „Damit es überhaupt einen ‚Beruf‘ gäbe, muss jene, wie auch immer entstandene Harmonie zwischen dem Bau und Lebensprozeß der Gesellschaft auf der einen Seite, den individuellen Beschaffenheiten auf der andern, vorhanden sein. Auf ihr als allgemeiner Voraussetzung ruht schließlich die Vorstellung, daß für jede Persönlichkeit eine Position und Leistung innerhalb der Gesellschaft bestehe, zu der sie ‚berufen‘ist, und der Imperativ, so lange zu suchen, bis man sie findet“ (ebd.: 60).
Das heißt: Der in der Interaktion Handelnde hat – vor aller Erfahrung – eine Gesellschaft vor Augen, wobei er seine Individualität in seinen Rollen verwirklichen will, wo ein angemessener Platz für ihn in dem umfassenden Ganzen vorhanden ist: „Daß jedes Individuum durch seine Qualität von sich aus auf eine bestimmte Stelle innerhalb seiner sozialen Milieus hingewiesen ist: daß diese ihm ideell zugewiesene Stelle auch wirklich in dem sozialen Gefüge vorhanden ist – das ist die Voraussetzung, von der aus der Einzelne sein gesellschaftliches Leben lebt und die man als den Allgemeinheitswert der Individualität bezeichnen kann“ (ebd.: 59). Diese apriorische Setzung schafft die Gewissheit vor aller Erfahrung, dass das Individuum durch seine Vergesellschaftung seine Selbstverwirklichung findet. Es ist ein Kernstück der Erkenntnistheorie der Gesellschaft: „Unser Erkenntnisleben ruht auf der Voraussetzung einer prästabilierten Harmonie zwischen unsern geistigen, wenn auch noch so individuellen Energien und dem äußern, objektiven Dasein“ (ebd.). Simmel ist sich durchaus bewusst, dass die empirischen Gesellschaften derartigen apriorischen Vorgaben nur selten und allenfalls teilweise entsprechen. Der Leser soll wissen, dass hier ein Gesellschaftskonzept entworfen wird, damit aber kein kausaler Bedingungsfaktor des gesellschaftlichen Geschehens gemeint ist: „Würde die soziale Wirklichkeit durch diese prinzipielle Voraussetzung hemmungslos und ohne Verfehlungen gestaltet sein, so hätten wir [...] in dem Sinn [...] begrifflicher [Vollkommenheit] [...] die vollkommene Gesellschaft“ (ebd.). Zusammenfassend: Die drei Aprioris, wie sie Simmel erläutert, sind die Kategorien seiner Erkenntnistheorie der Gesellschaft. Er gibt drei Begründungen, warum das Apriorische für die Gesellschaft anders aussieht als für die Natur – also Kants Erkenntnistheorie erweitert und vertieft werden muss, um das Spezifische der Ge-
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sellschaft – eigentlich der ‚Gesellschaft‘ – zu fassen. Es geht um das Verständnis der ‚Gesellschaft‘, den Gegenstand der geisteswissenschaftlichen Soziologie, durch (A) das ‚Typus Mensch‘-Schema (das Rollenapriori), (B) das Individuelle als Negation des Gesellschaftlichen (das Individualitätsapriori) und (C) die „Verallgemeinerung der Individualität“ zum pluralistisch differenzierten und zugleich integrierten Strukturganzen (das Strukturapriori). Die drei Aprioris sind die Formen, die ihrerseits den Postulaten entsprechen, (a) dass die Gesellschaft ‚in‘ den Individuen ist (nicht außerhalb oder jenseits ihrer wie bei der Natur), (b) dass die „Tatsache des Du“ aller Erfahrung vorausgeht und (c) dass das Ideelle der Einheit sich im Schema der Gesellschaft ausdrückt. Er zeichnet entsprechend diesen Postulaten die drei Aprioris – das Rollenapriori, das Individualitätsapriori und das Strukturapriori – als das Szenario der Erkenntnistheorie der Gesellschaft.
IV. D IE APRIORIS IN DEN F ORMEN DER V ERGESELLSCHAFTUNG Die drei Aprioris bilden das Substrat der Soziologie, also der Wissenschaft von der ‚Gesellschaft‘ – einer ‚Gesellschaft‘, wie sie in den Formen der Vergesellschaftung näher zu analysieren ist. In den Kapiteln II bis X greift Simmel in seiner Gedankenführung auf die Aprioris zurück, wenn er die Wirkung oder die Auswirkung bestimmter Vorgänge im gesellschaftlichen Leben erklären will. Die Rekonstruktion der Textstellen, an denen Simmel das Apriorische heranzieht, um die Formen der Vergesellschaftung zu erläutern, kann hier nur exemplarisch verfahren. Will man nicht Seiten um Seiten mit den Belegen füllen, kann man nur paradigmatisch nachzeichnen, was die Aprioris mit den Formen der Vergesellschaftung zu tun haben. Im Folgenden werden die Vergesellschaftungsformen der Über- und Unterordnung und der Kreuzung sozialer Kreise herangezogen, um zu zeigen, wie die Aprioris in den Formen der Vergesellschaftung wirken. Für die Über- und Unterordnung kann das Rollenapriori beim ersten der drei Formtypen (nämlich der Einherrschaft) zusammen mit dem Individualitätsapriori die Besonderheit – das Asymmetrische – dieses Herrschaftsverhältnisses verdeutlichen. Simmel sieht eine „soziologische Grundkonstellation“ (ebd.: 180), nämlich dass der Herrscher dabei seine Persönlichkeit voll in seine Herrschaft einbringt, während die Beherrschten nur einen Teil ihrer Persönlichkeit darin involvieren. Dadurch erst werden die Beherrschten – letztlich Individuen bleibend – zu jener „Masse“ aus formal Gleichen bei diesem Herrschaftsverhältnis, dem Gegenüber des Alleinherrschers:
110 | U TA G ERHARDT „Der Herrscher und der einzelne Beherrschte treten gar nicht mit dem gleichen Quantum ihrer Persönlichkeiten in das Verhältnis ein. Die ‚Masse‘ wird dadurch gebildet, daß viele Individuen Bruchteile ihrer Persönlichkeiten vereinigen, einseitige Triebe, Interessen, Kräfte, – während das, was jede Persönlichkeit als solche ist, jenseits dieser Nivellementsebene steht und in die ‚Masse‘, d.h. in dasjenige, was eigentlich von jenem Einen beherrscht wird, nicht hineinragt“ (ebd.).
Die Einherrschaft, wobei volles Engagement wenigstens auf Herrscherseite verlangt wird, ist eine Art Sonderfall, wie Simmel bemerkt. Selbst in der Ehe, so weiß er, bringe jeder nur einen Teil seiner Persönlichkeit in das Verhältnis ein: „Selbst von einer so engen Verbindung wie der Ehe wird man sagen müssen, daß man nie ganz verheiratet ist, sondern selbst im besten Falle nur mit einem Teile der Persönlichkeit, wie groß er auch sei – wie man nie ganz Stadtbürger, ganz Wirtschaftsgenosse, ganz Kirchenmitglied ist“ (ebd.). Die Variation des Anteils der Identität der Beherrschten an diesem Formtyp, so schließt Simmel den Gedankengang zur Einherrschaft ab, ist jedenfalls der Schlüssel für die „Regierbarkeit“ (ebd.: 181) eines Gemeinwesens: „Die Gruppierungen unterscheiden sich charakteristisch nach der Proportion zwischen den Gesamtpersönlichkeiten und demjenigen Quantum derselben, mit dem sie zur ‚Masse‘ zusammengehen. Von der Verschiedenheit dieses Quantums hängt das Maß ihrer Regierbarkeit ab, und zwar so, daß eine Gruppe um so eher und radikaler von einem Einzelnen beherrscht werden kann, ein je geringeres Teil der Gesamtpersönlichkeit das einzelne Individuum in die Masse hineingibt, die das Objekt der subjectio ist. Wo die soziale Einheit so viel von den Persönlichkeiten in sich einbezieht, diese als ganze ihr so eng verflochten sind, wie in den griechischen Stadtstaaten oder bei den mittelalterlichen Stadtbürgern, wird die Einherrschaft zu etwas Widerspruchsvollem und Undurchführbarem“ (ebd.).
Mit der Herrschaft einer Gruppe oder der Mehrheit – dem zweiten Formtypus – kompliziert sich notabene das Herrschaftsverhältnis: Nun ist auch auf Seiten der Herrschenden nur ein Teil ihrer Persönlichkeit involviert, die herrschenden Gremien sind ihrerseits aus Mehreren (Vielen) zusammengesetzt. Simmel unterstreicht, dass derartige Herrschaft trotz allem ähnlich der Einherrschaft funktioniert (funktionieren kann): „[E]s ist deshalb in soziologischer Hinsicht irrelevant, ob die übergeordnete Stellung des Einen zufällig durch eine Mehrzahl von Personen ausgefüllt wird. Freilich muß bemerkt werden, daß die Einherrschaft der Typus und die primäre Form des Unterordnungsverhältnisses überhaupt ist. Mit ihrer fundamentalen Stellung innerhalb der Überordnungs- und Unterordnungstatsachen hängt es zusammen, daß sie den andern Ordnungsarten: oligarchischen und republikanischen – nicht nur im politischen Sinne dieser Begriffe – innerhalb ihres Umfangs
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legitimen Raum gewährt, daß das Herrschaftsgebiet des Einherrschers sehr wohl sekundäre Strukturen dieser Arten umfassen kann, während sie selbst, wo diese die obersten und umfassendsten sind, nur sehr relativ oder illegitimer Weise unterkommen kann“ (ebd.: 191).
Die Asymmetrien des Grundverhältnisses werden allerdings gemildert, wenn das Gemeinwesen durch eine Mehrheit regiert wird: „Der prinzipielle Grund dieser verschiedenen Erfolge der Mehrzahlherrschaft über den ihr Untergeordneten liegt zunächst in dem Charakter der Objektivität, den sie trägt, in der Ausschaltung gewisser Gefühle, Gesinnungen, Impulse, die nur im individuellen Handeln der Subjekte, aber nicht, sobald sie kollektiv verfahren, wirksam werden“ (ebd.: 203). Der Zusammenhang ist anschaulich im „Exkurs über die Überstimmung“ dargelegt, wo nunmehr die sozialen Rollen – also die vergesellschafteten Teilidentitäten der Individuen – das Ganze der Gesellschaft bilden und dabei die Individualität der Einzelnen nicht berührt wird. Das erste und das zweite Apriori greifen ineinander: „All die ruhelose Evolution der gesellschaftlichen Formen im großen wie im kleinen ist im letzten Grunde nur der immer erneute Versuch, die nach innen hin orientierte Einheit und Totalität des Individuums mit seiner sozialen Rolle als eines Teiles und Beitrages zu versöhnen, die Einheit und Totalität der Gesellschaft vor der Sprengung durch die Selbständigkeit ihrer Teile zu retten“ (ebd.: 218). An diesem Punkt kommt das dritte Apriori ins Spiel – es werden wie von einer unsichtbaren Hand geleitet aus den Individualitäten, deren Einzigartigkeit bestehen bleibt, durch die Herrschaft – hier: die Abstimmung – die Momente der Einheit der Gesellschaft: „Indem nun jeder Konflikt zwischen den Gliedern einer Gesamtheit deren Weiterbestand zweifelhaft macht, ist es der Sinn der Abstimmung, in deren Resultat auch die Minorität sich zu fügen einwilligt, daß die Einheit des Ganzen über den Antagonismus der Überzeugungen und Interessen unter allen Umständen Herr bleiben soll. Sie ist, in all ihrer scheinbaren Einfachheit, eines der genialsten unter den Mitteln, den Widerstreit der Individuen in ein schließlich einheitliches Resultat münden zu lassen“ (ebd.).
Diese Art der Herrschaft entspricht mithin dem ersten Apriori, da die Majorität „nicht im Namen ihrer eigenen größeren Macht, sondern in dem der idealen Einheit der Gesamtheit“ (GSG 11: 222) handelt, also die Herrschenden als ‚Typus Mensch‘ ihre Macht im Sinne des Ganzen ausüben, etwa entsprechend dem zu seiner Vervollkommnung verallgemeinerten Typus des Staatsbürgers; das zweite Apriori ist relevant, weil die Individualität der Handelnden sowohl bei der Mehrheit als auch der Minderheit nicht betroffen ist, also ihre Herrschaftsentscheidungen nichts mit ihrer Person zu tun haben; und das dritte Apriori schlägt eine Brücke zur politischen Theorie von John Locke und Jean-Jacques Rousseau, zumal das Rollen- ebenso wie das Individualitätsapriori mitgedacht werden:
112 | U TA G ERHARDT „Wo derart ein einheitlicher Gruppenwille supponiert wird, da dissentieren die Elemente der Minorität sozusagen als bloße Individuen, nicht als Gruppenglieder. Dies allein kann der tiefere Sinn der Lockeschen Theorie über den Urvertrag sein, der den Staat begründen soll. [...] Indem das Individuum den Sozialvertrag schließt, ist es noch absolut frei, kann also keiner Überstimmung unterworfen werden. Hat es ihn aber geschlossen, so ist es nun nicht mehr freies Individuum, sondern Gesellschaftswesen und als solches ein bloßer Teil einer Einheit, deren Wille seinen entscheidenden Ausdruck in dem Willen der Mehrheit findet. Es ist nur eine entschiedenere Formalisierung dafür, wenn Rousseau in der Überstimmung deshalb keine Vergewaltigung erblickt. [...] Es liegt dem eben auch die Überzeugung zugrunde, daß man als Gruppenelement nichts anderes wollen könne als den Willen der Gruppe, über den sich wohl der Einzelne, aber nicht die Mehrheit der Einzelnen täuschen könne“ (ebd.: 223f.).
Noch einmal anders wird das Herrschaftsverhältnis, wo die Autorität bei einer unpersönlich-normativen Instanz liegt, dem dritten Formtypus der Über- und Unterordnung. Nunmehr ist der „äußerst wichtige Formtypus [...]: Daß der Befehlende sich selbst dem Gesetze unterordnet, das er gegeben hat“ (ebd.: 241). Heutzutage, wie Simmel für diesen modernsten Typus der Herrschaft darlegt, ist das Prinzip der Herrschaftsbeziehung nicht mehr persönlich, sondern sachlich, also durch Sachgesichtspunkte objektiviert – gewissermaßen zu einem anderen Mischungsverhältnis zwischen dem ersten und dem zweiten Apriori geworden: „Viele Über- und Unterordnungen, die früher persönlichen Charakter trugen, so daß also in dem fraglichen Verhältnis der eine schlechthin der Über-, der andere der Untergeordnete war, haben sich jetzt so geändert, daß beide gleichmäßig einem objektiven Zweck untertan sind, und erst innerhalb dieses gemeinsamen Verhältnisses zu dem höheren Prinzip die Unterordnung des einen unter den andern als technische Notwendigkeit fortbesteht“ (ebd.: 241f.).
Daraus, so weiß Simmel, entsteht eine neuartige Vielheit der divergierenden Bindungen. In ihr liegt auch die Chance eines neuartig vermittelten „Lebensgefühls“ (ebd.: 245), das daraus entsteht, dass das Individuum eine Doppelrolle im Militär, im Wirtschaftsleben etc. je nach der Situation des Handelns spielt, wobei das Verhältnis zum gesellschaftlichen Oben und/oder Unten entsprechend dem Kontext variiert: „Solche Doppelrollen des Individuums: daß es innerhalb der Organisation seines speziellen Lebensinhaltes eine über- oder untergeordnete Stellung einnimmt; daß diese Organisation als ganze aber unter einer beherrschenden Idee steht, die jedem ihrer Mitglieder eine gleiche oder nahezu gleiche Position gegenüber allen außerhalb Stehenden verschafft – diese Doppelrollen lassen die rein formale, soziologische Lage zum Träger eigentümlich gemischter Lebensgefühle werden“ (ebd.).
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Im Kapitel „Die Kreuzung sozialer Kreise“ werden die Aprioris bei dieser Vergesellschaftungsform an jenen Stellen relevant, wo Simmel in seinem Argument in Soziologie über das Kapitel aus Über sociale Differenzierung hinausgeht, das ebenfalls „Die Kreuzung socialer Kreise“ heißt (GSG 2: 237-257). Im Eingangs- bzw. Expositionsteil des Kapitels, wo die Grundform dieser Vergesellschaftungsform vorgestellt wird – d.h. der Prozess einer Herausbildung sachlicher Formen auf einem höheren intellektuellen (geistigen) Niveau – fügt Simmel seinem Gedankengang ein neues Moment gegenüber der Argumentation von 1890 hinzu. Er führt aus, dass mehr Freiheit in den sachlicheren Bezügen liege. Der Hinweis auf die Vervielfältigung der Rollenbeziehungen, wie er dem ersten Apriori entspricht (ebd.: 239f.), ist in den vertieften Gedankengang eingebaut (GSG 11: 464f.). Der Freiheitsspielraum in sachlich(er)en Beziehungen ist für Simmel der Angelpunkt einer „Formwandlung“ (ebd.: 457) im Vorgang etwa der Entstehung der Gewerbe – als überregionalen Zusammenschlüssen – aus den mehr lokalen Gruppierungen: „Die lokale oder physiologische, von dem terminus a quo her bestimmte Zusammengehörigkeit ist hier aufs radikalste durch die Synthese nach dem Gesichtspunkt des Zweckes, des innerlich-sachlichen, oder, wenn man will, individuellen Interesses ersetzt worden. Unter etwas komplizierteren Voraussetzungen zeigt eine Entwicklung der englischen Gewerkvereine die gleiche Form. [...] Folgende Tatsache etwa besiegelte die Formwandlung. Als die Baumwollweber einen einheitlichen Stücklohn beschlossen, sah man wohl, daß dies zu einer Konzentrierung der Industrie an den günstig gelegenen Plätzen und zu Verlusten für die entfernteren Dörfer führen würde. Dennoch stimmten auch die Vertreter dieser dafür, weil es so für das Gewerbe als ganzes das beste sei. [...] An Stelle der Stadt, so drückt ein Geschichtsschreiber der Gewerkvereine diesen Wandel aus, ist das Gewerbe die Regierungseinheit der Arbeiterorganisation geworden. Ersichtlich ist ein Moment von Freiheit hier wirksam; denn wieviel Gebundenheit die Lage des Arbeiters noch immer enthalte, die Zugehörigkeit zu einem Gewerbe enthält im allgemeinen mehr individuelle Wahlfreiheit, als die zu einer Stadt“ (ebd.: 457f.).
Sowohl die Zugehörigkeit zu einem Gewerbe, also eine berufliche Bindung, als auch die Stadtbürgerschaft und mithin die Bindung an eine Territorialität – die eine überregional, die andere lokal – sind Rollenformen. Sie gehören zu dem Strukturmustern des ‚Typus Mensch‘, der einen Sozialform, wie sie apriorisch im gesellschaftlichen Leben gegeben ist. Allerdings – dies ist die Einsicht, die Simmel durch den Einschub in den ursprünglich 1890 geschriebenen Text nun seinem Argument hinzufügt – findet eine Entwicklung statt, ein Kulturfortschritt der Formen oder Strukturmuster der Rollenbeziehungen. Auch wenn sie apriorisch gegeben sind, ist
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doch die konkrete Ausgestaltung der Strukturmuster der sozialen Rollen einer dauernden historischen Veränderung, einer „Formwandlung“, zu verdanken. Schon 1890 sieht Simmel, dass die Individualisierungschance höher ist, wenn „die bestimmenden Kreise mehr nebeneinander liegende, als konzentrische sind“ (GSG 2: 241). Das Neue in Soziologie ist die Einsicht, dass die Individualität, wie sie aus der Ausdifferenzierung der pluralen Lebenswelten erwächst, gegenüber den früheren Epochen verfeinert sei – sozusagen eine höher individualisierende Individualität: „Der Kaufmann ist einerseits mit anderen Kaufleuten zu einem Kreise verbunden, der eine große Anzahl gemeinsamer Interessen hat: wirtschaftspolitische Gesetzgebung, soziales Ansehen des Kaufmannsstandes, Repräsentation derselben, Zusammenschluß gegenüber dem Publikum zur Aufrechterhaltung bestimmter Preise und vieles andre – geht die gesamte Handelswelt als solche an und läßt sie Dritten gegenüber als Einheit erscheinen. Andrerseits aber befindet sich jeder Kaufmann in konkurrierendem Gegensatz gegen so und so viele andre, das Eintreten in diesen Beruf schafft ihm im gleichen Moment Verbindung und Isolierung, Gleichstellung und Sonderstellung; er wahrt sein Interesse durch die erbittertste Konkurrenz mit denjenigen, mit denen er sich doch um des gleichen Interesses willen oft aufs engste zusammenschließen muß. Dieser innerliche Gegensatz ist zwar auf dem kaufmännischen Gebiet wohl am krassesten, indes auch auf allen andern bis herab zu der ephemeren Sozialisierung einer Abendgesellschaft irgendwie vorhanden. Eine unermeßliche Möglichkeit von individualisierenden Kombinationen tut sich dadurch auf, daß der Einzelne einer Mannigfaltigkeit von Kreisen angehört, in denen das Verhältnis von Konkurrenz und Zusammenschluß stark variiert“ (GSG 11: 479).
Auch wenn das zweite Apriori die Handelnden zu Individualitäten jenseits ihrer Rollenidentitäten (Nationalität, Beruf, Familienstand etc.) macht, ist doch zu postulieren, dass die solchermaßen gesetzte Individualität heutzutage eine andere als früher ist. Sie umfasst mehr Freiheit, was bedeutet, „daß das Bedürfnis nach klarer Herausstellung, unzweideutiger Entwicklung der Individualität des Einzelnen zur Auswahl gewisser Kreise treibt, in deren Schnittpunkt er sich stelle und von deren Zusammen – der eine im Wesentlichen die Anschlußform, der andre die Konkurrenzform darbietend – er ein Maximum jener individuellen Determiniertheit gewinne“ (ebd.). Das Individualitätsapriori, so ist Simmels Argument in diesem Kapitelteil, wird im Zuge der Modernisierung zum Träger einer anlässlich der „Kreuzung höherer Ordnung“ der Kreise (ebd.: 484) neuen „individualisierenden Synthese“ (ebd.: 477): Für den Handelnden gilt, dass sein „Lebensgefühl als Sozialwesen“ (ebd.) eine „damit gewonnene Freiheit“ (ebd.: 483) ausdrückt. Im modernen vergesellschafteten Menschen, so Simmel, „schneiden sich [...] soziologisch getragene Freiheits- und Bindungsgefühle“ (ebd.: 488f.) derart, dass nunmehr im Sozialen durch-
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aus individualistische Tendenzen entstehen, etwa „das individualistische Moment der Vereinsbildung“ (ebd.: 488), worin ein offensichtliches „Freiheitsquantum [...] gegenüber dem staatlichen Zwang“ (ebd.) liegt, denn die Vereinsbildung, ihrerseits ein Vergesellschaftungsvorgang, setze zugleich ein Gegengewicht gegen den ebenfalls vergesellschaftenden Staat. Das Ergebnis ist, dass der neuerdings erweiterte Individualisierungsspielraum nicht jenseits, sondern innerhalb der sozialen Welt mit ihren vielen verschiedenen Gebilden und Gruppierungen liegt. Die zweite Auswirkung der Vergesellschaftungsform „Kreuzung sozialer Kreise“, so weiß Simmel bereits 1890, ist die „Zusammenfassung zu einheitlichem socialen Bewußtsein“ (GSG 2: 248) durch Organisation bei so genannten sachlichen Zusammenschlüssen, wie sie etwa die „Zusammengehörigkeit der Lohnarbeiter“ (ebd.) bedeuten. In Soziologie wird darüber hinaus deutlich, dass die Verallgemeinerung der Individualität entsprechend dem Strukturapriori angesichts der Modernisierung der modernen Gesellschaft ein neues Niveau des Individuellen im Allgemeinen möglich macht. In eine Darlegung über die Funktionszuweisung bei den französischen Beamten des Ancien Régime fügt Simmel den Passus ein, wo er darauf hinweist, dass es eine Errungenschaft gewesen sei, als die Kompetenz der Beamten (in den gehobenen Rängen) zum Kriterium ihrer Versetzung in andere Landesteile – ihres Avancements – wurde: „Dem entspricht das Avancieren der Beamten durch das ganze Land hindurch. Es gewährt, im Gegensatz zu seiner Bindung an den gleichen lokalen Rayon, die leichtere Möglichkeit, dem einzelnen Beamten die sachlich passendste, seinen Fähigkeiten und Verdiensten in jedem Augenblick angemessenste Stellung zu beschaffen, und fördert außerdem die engere funktionelle Verbindung der Landesteile untereinander. [...] [G]egenüber der lokalen Fixierung zeigt diese Kreuzung sozialer Kreise die größere Freiheit, die das Korrelat des individuellen Lebens ist“ (GSG 11: 489f.).
Mit anderen Worten: Die vor aller Erfahrung postulierte Harmonie zwischen der Begabung und der Position des Einzelnen im arbeitsteiligen Gesellschaftsganzen erhält im Zuge der Modernität eine neue Qualität. Nunmehr kann die Gesellschaft als Ganze – Stichwort Beruf – stärker die tatsächlichen Fähigkeiten der Einzelnen berücksichtigen. Das dritte Apriori wandelt seine Erscheinung und behält dabei seine Gültigkeit in der immer komplexeren und doch – nun anders – zu einem Gemeinwesen integrierten Welt der Moderne: „Die wachsende Differenzierung der Berufe musste dem Individuum zeigen, wie die ganz gleiche Richtung anderweitiger Lebensinhalte mit differenten Berufen verknüpft sein kann und also von seinem Beruf in erheblichem Maße unabhängig sein muß. Und zu derselben Folge führt die gleichfalls mit der Kulturbewegung vorschreitende Differenzierung jener anderen Lebensinhalte. Die Verschiedenheit des Berufs bei Gleichheit der übrigen Interessen
116 | U TA G ERHARDT und die Verschiedenheit dieser bei Gleichheit des Berufs musste in gleicher Weise zu der psychologischen und realen Loslösung des einen vom anderen führen“ (ebd.: 506).
Zusammenfassend kann man die Verbindung zwischen den Formen der Vergesellschaftung und den soziologischen Aprioris als ein Ineinanderweben der zwei Themenfelder kennzeichnen, wobei die Aprioris dazu dienen, einzelne Ausprägungen oder besondere Entwicklungen der Vergesellschaftungsform(en) zu erläutern. Die Darstellung der Formen der Vergesellschaftung in den ‚materialen‘ Kapiteln der Soziologie verwendet die Aprioris in den zwei Arten der Formanalyse. Erstens wird bei dem Standardmodell aus Grundmuster und Variation(en), das die historischen Vorgänge erläutert, das Szenario der drei Aprioris dazu benutzt, die Einzelheiten der Formtypen – also der Variationen – zu schildern. Im Kapitel „Über- und Unterordnung“ ist dies exemplarisch offensichtlich. Andere Kapitel – etwa „Der Streit“ oder „Die Selbsterhaltung der sozialen Gruppe“ – sind analog aufzuschlüsseln. Zweitens kann der Argumentationskontext das Problem sein, wie der Veränderungsprozess zustande kommt, der von der einfachen, segmentären Gesellschaft hin zur komplexen, pluralistisch-individualistischen Gesellschaft führt. Das Kapitel „Die Kreuzung sozialer Kreise“ zeigt exemplarisch, wie die Aprioris diese Modernisierung der Gesellschaft verständlich machen. Andere Kapitel, so „Der Arme“ oder auch „Die Erweiterung der Gruppe und die Ausbildung der Individualität“ können analog aufgeschlüsselt werden.
V. D ER E RKENNTNISGRUND
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Wissenschaftsgeschichtlich bilden „Das Problem der Sociologie“ (1894) und Soziologie (1908) die zwei Eckpfeiler des Entwurfs der geisteswissenschaftlich begründeten Soziologie – Simmels Analyse der ‚Gesellschaft‘ leistet die begrifflich konstituierte und dabei erkenntnistheoretisch legitimierte Untersuchung der Formen der Vergesellschaftung. Als Simmel „Das Problem der Soziologie“ schreibt, ist sein Ansatz ohne Vorbild oder Vorläufer. Er muss allerdings die bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bestehende Soziologie – ihre Gründerväter waren Comte und Spencer – widerlegen, da deren Theorien unhaltbar sind. Er kann dabei die Kritik Diltheys übernehmen, und dementsprechend wird die Erkenntnistheorie zum Bezugshorizont der Analyse von geschichtlich-gesellschaftlichen Strukturen und Prozessen. Simmel entwirft trotz Diltheys Verdikt eine eigene Soziologie, eine geisteswissenschaftliche Spezialdisziplin mit einer eigenständigen Erkenntnisperspektive, Problemstellung und Methode. Der Kritikpunkt ist klar: Die positivistische Soziologie setzt den Horizont von Statik und Dynamik der Gesellschaft(en) außerhalb der Handelnden und jenseits
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ihrer Wechselbeziehungen. Dies kann Simmel nicht gutheißen. Er bestreitet, dass die Gesetze der Natur durch die Prinzipien des „struggle for existence“ und des „survival of the fittest“ den Fortschritt der Menschheit gewährleisten – jene Prinzipien, denen zufolge der Tüchtigste auch der Mächtigste und bei der Fortpflanzung der Erfolgreichste sein sollte, wodurch allererst der Kulturfortschritt der Menschheit zu immer menschlicheren Gesellschaftsformen möglich würde.31 Simmel setzt dagegen die zwei Aussagen: (1) Es gibt Gesellschaft im weiteren und im engeren Sinne, und die Letztere – ‚Gesellschaft‘ – wird soziologisch in den Formen der Vergesellschaftung (Konkurrenz, Arbeitsteilung etc.) virulent. (2) Das Erkenntnisinteresse ist das Entscheidende, wenn das Subjekt – der Sozialwissenschaftler – sich seinem Gegenstand zuwendet: Ohne Erkenntnisinteresse, das stets perspektivisch ist, wäre überhaupt keine sozialwissenschaftliche Erkenntnis möglich. Die Stoßrichtung gegen Spencer und den Positivismus, die darin liegt, wird offensichtlich in einem kleinen Aufsatz, der fast zeitgleich mit „Das Problem der Sociologie“ im Archiv für systematische Philosophie 1895 erscheint. „Über eine Beziehung der Selectionslehre zur Erkenntnistheorie“ (GSG 5: 62-74) wendet sich gegen die These bei Spencer und seiner naturwissenschaftlich verstandenen Soziologie sowie gegen Charles Darwin, der die Spencersche Selektionslehre32 übernimmt, es gebe eine „objective Wahrheit [...], deren Inhalt von den praktischen Interessen des Subjects unbeeinflusst ist“ (ebd.: 62). Diese These sei zu widerlegen. Wird sie entwertet, hängt auch die Ansicht in der Luft, die Höherentwicklung der Kultur der Menschheit hänge von der Selektion der Tüchtigsten ab. Gilt nicht mehr, dass diejenigen, die am effektivsten ihren eigenen Vorteil wahren, also utilitaristisch handeln, im Kampf ums Dasein erfolgreicher wären, was ihre Intelligenz weiter steigere, da ihre Hirnmasse bzw. das Hirnvolumen sich durch „survival of the fittest“ im Zuge von „struggle for existence“ vergrößere, muss eine andere Kulturtheorie als bei Spencer erarbeitet werden. Simmel bezweifelt zunächst, dass die Nützlichkeit und die Wahrheit gleichgesetzt werden können, denn Vorstellen und Wollen – laut Kant – sind unterschiedli-
31 Bekanntlich beweist Spencer die Höherentwicklung aufgrund von „struggle for existence“ und „survival of the fittest“, indem er das Hirnvolumen bei Völkern mit unterschiedlichem Kulturniveau vergleicht: Der Vergleich zwischen den eingeborenen Australiern mit durchschnittlich 75 cm3 und den modernen Briten mit durchschnittlich 94 cm3 liefert diesen Beweis für Spencer, ders., A Theory of Population; deduced from the General Law of Animal Fertility, Republished from The Westminster Review, New York 1852. 32 Dazu Uta Gerhardt, Soziologie im zwanzigsten Jahrhundert. Studien zu ihrer Geschichte in Deutschland, Stuttgart 2009, Kap. I.
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che menschliche Vermögen. Er bezweifelt sodann, dass die Analogie zu Tieren ausreicht, um die Gesetzmäßigkeiten des Sozialen zu erfassen, denn die Menschen, wie er betont, haben andere Sinneseindrücke als die Tiere. Er hält deshalb als erstes Fazit fest: Das Handeln ist entscheidend – und zwar Handeln, bei dem das Subjekt die Wirklichkeit selbst gestaltet, also nicht von außen durch irgendwelche Kräfte gesteuert wird: „Wir haben also einerseits theoretische Vorstellungen, von denen wir wissen, dass sie nicht die reine Objectivität der Dinge, sondern nur ein subjectives Phänomen ihrer geben – und setzen uns andrerseits auf Grund solcher Vorstellungen in ein praktisches, nicht – oder wenigstens nicht in demselben Sinne – phänomenales Verhältnis zur Realität. Und dennoch erfüllt dieses Verhältnis im Ganzen unsre Erwartungen seines Erfolges und ist der Erhaltung und Förderung unsrer Existenz günstig“ (ebd.: 70).
Hieraus ergibt sich, dass der Kulturfortschritt nicht durch „natürliche Zuchtwahl“ geschieht. Sondern die Erfahrungen, die die Menschen im Verlauf der Menschheitsgeschichte machen und die ihre Vorstellungen über die Welt prägen, wie sie sein solle oder wie sie in Wahrheit sei, bestimmen die Handlungen im geschichtlich-gesellschaftlichen Leben. Simmel formuliert pointiert: Nicht etwa die Wahrheit drückt sich in der Nützlichkeit aus, sondern umgekehrt ist die Nützlichkeit der Entstehungszusammenhang, der die Wahrheit konstituiert oder doch Wahrheit genannt wird: „Indem [die Theorie, U.G.] die Wahrheit des Erkennens als eine selbständige Qualität seiner, ihrerseits von der Nützlichkeit desselben principiell unabhängig, voraussetzt, bleibt für sie die Schwierigkeit bestehen, wie das nur subjectiv bestimmte Erkennen überhaupt dazu kommt, ein für unsere reale Existenz günstiges Handeln zu begründen. Dies wird erst dann begreiflich, wenn die Nützlichkeit des Handelns als der primäre Factor erscheint, der gewisse Handlungsweisen und mit ihnen die psychologischen Grundlagen ihrer züchtet, welche Grundlagen eben dann in theoretischer Hinsicht als das ‚wahre‘ Erkennen gelten; so dass ursprünglich das Erkennen nicht zuerst wahr und dann nützlich, sondern erst nützlich ist und dann wahr genannt wird“ (ebd.: 71f.).
Mit anderen Worten: In diesem frühen Aufsatz setzt Simmel seine „hier vorgetragene Ansicht“ (ebd.: 71) gegen die herrschende Soziologie ein. Der Gegenentwurf besagt, dass die Gesellschaft oder die Natur nicht etwa von außen in die Individuen hineinwirken, sondern der Handelnde verkörpert das Gesellschaftliche in sich. Die These, die Simmel der zeitgenössischen Soziologie entgegen stellt, lautet: „Unsere Annahme [...] beseitigt den Dualismus einer für sich bestehenden Wahrheit und einer für sich bestehenden Erfahrung oder Selection über die praktische Einwirkung auf die erkann-
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te Welt – weil die Erfahrung über die Wirkung des Handelns zugleich die Wahrheit schafft. Schon aus dem bloss methodischen Gesichtspunkt des Principia praeter necessitatem non sunt agenda ist deshalb eine Theorie vorzuziehen, für die ein einziger Process genügt, um sowohl die Praxis wie die Erkenntnis zu bestimmen: eben derselbe Act, der gewisse Handlungsmodi fixirt, verleiht notwendigerweise auch ihren psychologisch-intellectuellen Vorbedingungen die Gültigkeit für die Gattung“ (ebd.: 72).33
Dreizehn Jahre später ist Simmel in Soziologie weiterhin überzeugt, dass die Einheit der Gesellschaft im Subjekt liegt, dessen Erkenntnis und Erfahrung zugleich vergesellschaftet und individuell sind. Allerdings ist Simmel nun nicht mehr – wie in der Mitte der 1890er Jahre – der einzige, der eine begrifflich begründete Soziologie vorträgt. In den anderthalb Jahrzehnten sind zwei soziologische Theorien entstanden, die Simmel in seinen Überlegungen berücksichtigen und von denen er sich zugleich abgrenzen muss. Émile Durkheim hatte in De la division du travail (1893) die These vorgetragen, dass zwei Formtypen der Arbeitsteilung zu unterscheiden sind – die „mechanische“ Solidarität der segmentären Gesellschaften und die „organische“ Solidarität der entwickelten, höheren Gesellschaften. Simmel reagiert darauf durch Klarstellung. Den Gedanken der Gegenüberstellung von zwei Gesellschaftsformationen – der segmentären Gesellschaft mit (um Durkheims Ausdruck zu verwenden) mechanischen Solidarität und der pluralistischen Gesellschaft mit (wie Durkheim es nannte) organischer Solidarität – erläutert Simmel in Über sociale Differenzierung, bezieht ihn allerdings dort nicht auf die Arbeitsteilung. Auch 1908 sieht er in der Gegenüberstellung der zwei Gesellschaftsformationen kein Phänomen der Arbeitsteilung – insgesamt verzichtet er nunmehr darauf, in der Arbeitsteilung überhaupt eine Form der Vergesellschaftung zu sehen.34 Er greift in Soziologie den Gedanken dieser dualistischen Gesellschaftsformation bei der prozessualen Formanalyse auf, um den Kulturfortschritt von der einfachen zur komplexen Gesellschaft zu schildern. Es geht dabei um den Wandel von der hermetischen Gesellschaft mit einer eigenen Individualität, deren Mitglieder kaum eine Identität haben, hin zu der lose vernetzten, wenig ausgeprägten Gesellschaft der Gegenwart, deren Mitglieder eine hohe Individualität haben (können). Max Weber hatte in „Die ‚Objektivität‘ der sozialwissenschaftlichen und sozialpolitischen Erkenntnis“ (1904) die These vorgetragen, die perspektivischen Begriffe des Sozialwissenschaftlers seien stets aus dessen Erkenntnisinteresse zu begründen. Als Erkenntnisinstrument schlägt Weber den Idealtypus vor, die „denken-
33 Ein Druckfehler wurde korrigiert. 34 Im Aufsatz von 1904 war die Arbeitsteilung immerhin eine – mögliche – Form der Vergesellschaftung.
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de Konstruktion“, wie sie aus dem Erkenntnisinteresse heraus entwickelt und zugleich typisiertes und idealisiertes Gedankenbild des Untersuchungsgegenstandes ist. Dieses Gedankenbild diene der Erklärung der geschichtlich-gesellschaftlichen Phänomene durch die Konfrontierung mit den empirischen Vorgängen. Simmel kann diesen Gedanken nicht ignorieren.35 Er muss zur Begründung der Soziologie darlegen, wie die Formen der Vergesellschaftung sich zur typisierenden und idealisierenden Wirklichkeitssicht verhalten. Das Gemeinsame der Aprioris, wie sie die „Formen und Bedingungen“ der Formen der Vergesellschaftung sind, sind drei Momente des Bewusstseins. Sie entsprechen den Postulaten – um sie noch einmal zu nennen36 – erstens, „daß die gesellschaftliche Einheit in ihren Elementen, da sie bewußt und synthetisch-aktiv sind, ohne weiteres realisiert wird und keines Betrachters bedarf“ (GSG 11: 43), zweitens, dass „die andre Seele für mich dieselbe Realität [hat] wie ich selbst, eine Realität, die sich von der eines materiellen Dings sehr unterscheidet“ (ebd.: 44), und drittens, dass durch typisierende Idealisierung im begrifflichen Konstrukt „ideelle, logische Voraussetzungen der perfekten, wenngleich in dieser Perfektion vielleicht niemals realisierten Gesellschaft“ (ebd.: 45) geschaffen werden. Das Tentative dieses Erkenntnisprogramms ist Simmel klar, sonst hätte er wohl den Leser nicht gebeten, während der Lektüre der Soziologie das erste Kapitel – wohl hauptsächlich den „Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich?“ – im Gedächtnis zu behalten. Die Kühnheit derartiger Begründung der Soziologie aus dem gesellschaftlichen Handeln – dem Handlungshorizont – der Individuen, wie sie in der Gesellschaft als Interaktion sinnstiftend wirkend, ist atemberaubend. Die Einheit von Gesellschaft und Individualität wird in den Handelnden verlegt. Sein Bewusstsein wird der ‚Ort‘ der Vermittlung zwischen der Gesellschaft und der Individualität im tatsächlichen Tun – heute würde man wohl von agency sprechen. Simmel bekennt sich dadurch zur modernen – methodologisch begründeten – Soziologie, indem er Webers Konzeption der Typisierung plus Idealisierung aufgreift, aber teilweise mit anderen Überlegungen koppelt. Im letzten Kapitel der Soziologie soll ein letzter Exkurs das Thema noch einmal ansprechen, dass im Individuum sich die gesellschaftlichen Kräfte treffen, während dennoch grundsätzlich Handlungsfreiheit besteht. Der „Exkurs über die Analogie der individualpsychologischen und der soziologischen Verhältnisse“ soll am Ende des Buches, nachdem die Formen der Vergesellschaftung abgehandelt worden sind, noch einmal die Frage der Vermittlung zwischen Gesellschaft und Individuum im Handeln aufwerfen. Eingebettet in das Kapitel „Die Erweiterung der Gruppe und die Ausbildung der Individualität“ – es ist neben „Die Kreuzung sozialer Kreise“
35 Gerhardt, Idealtypus, a.a.O., 277ff. 36 Siehe Abschitt III oben.
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das einzige andere Kapitel mit einem Vorläufer in „Über sociale Differenzierung“ – soll das handlungstheoretische Erkenntnisprogramm noch einmal beschworen werden. Simmel stellt sich ein letztes Mal die Frage, wie denn das Gesellschaftliche im Bewusstsein des/der Handelnden sich zum begrifflichen Konstrukt verdichte, woraus das interaktive Handeln entsteht. Er findet nicht eine, sondern drei Antworten – und alle drei scheinen ihn nicht ganz überzeugt zu haben. Zunächst mutmaßt er, wobei er die Vergesellschaftungsform „Der Streit“ als Beispiel heranzieht: „[D]ie inneren Erfahrungen des Subjekts [bilden] wahrscheinlich ein Schema aus, das für seine äußren Erfahrungen als Apriori wirkt, als die Form, in welche das Material des Gegebenen aufgenommen und der gemäß es gedeutet wird. Was ‚Kampf‘ ist, ist überhaupt eine rein innere Erfahrung. Von außen her sieht man gewisse Aktionen von Wesen, deren jedes sozusagen aus seinem Raum nicht zu verdrängen ist, vermöge der Undurchdringlichkeit der Materie in das andre im genauen Sinne nicht eingreifen kann. Daß die eigentümlichen Bewegungen je zweier solcher Wesen ‚Kampf‘ sind, ist eine psychologische Interpretation; das Ineinander, die in Gegenbewegungen sich vollziehende Einheit, die wir so benennen, ist eigentlich garnicht zu definieren und ihrem Wesentlichen nach garnicht äußerlich anzuschauen, sondern kann nur innerlich erlebt werden. Dadurch ist der doppelte Zusammenhang nahegelegt: der reale, mit dem die seelischen Erlebnisse, die wir als das Gegeneinander und Miteinander, das Zusammenballen und Auseinandertreten der Vorstellungen bezeichnen, die Schemata für unser äußres Verhalten abgeben; der ideale, mit dem wir die äußerlich wahrgenommenen Verhaltensweisen der Individuen an der Hand jener inneren Erfahrungen deuten, ordnen und benennen“ (ebd.: 851f.).
Aber dieses Ergebnis befriedigt ihn offenbar noch nicht. Er macht zwei weitere Versuche, das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Einzelnem im Handeln der Subjekte zu bestimmen, wie es im Handeln der Subjekte in den Formen der Vergesellschaftung sich abzeichnet. Er bezeichnet nun die Gesellschaft – im Spannungsfeld zwischen dem Innen und dem Außen – als das „dritte Gebiet“, nämlich „die Gesellschaft, mit der die individuelle Seele zwar aus sich heraustritt, aber nicht in die Raumeswelt, sondern in die Überindividualität der Wechselwirkung mit anderen Seelen“ (ebd.: 853). Er hat also die Gesellschaft und die ‚Gesellschaft‘ im Blickfeld, wie sie im Bewusstsein des vergesellschafteten Individuums sich verbinden, und er sucht die gewünschte Antwort in der apriorisch gegebenen Wirklichkeit der Vorstellungen: „Wie jeder Mensch für uns ‚eine Vorstellung‘ ist – in höherem Maße ‚eine‘ als die übrigen, mehr als Typen auftretenden, mehr in die Verknüpfungen des Gesamtseins hineingezogenen Objekte – so ist gewissermaßen jede Vorstellung für uns ein Mensch, d.h. unser Vorstellen erscheint uns als das Spiel von Wesenheiten, die wie wir es an den Menschen sehen, sich behaupten oder nachgeben,
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sich vereinigen oder trennen, zulängliche oder unzulängliche Kräfte einsetzen“ (ebd.: 854f.). Und schließlich hat er am Ende des Exkurses eine dritte Ansicht, die er in den sicherlich gut gemeinten Satz kleidet, der eigentlich alles wieder offen lässt: „Die uns unmittelbar nicht ergreifbare, nicht ausdrückbare Einheit des Individuums und der Gesellschaft offenbart sich daran, daß die Seele das Bild der Gesellschaft und die Gesellschaft das Bild der Seele ist“ (ebd.: 855). Zusammenfassend: Das makrosoziologische Erkenntnisprogramm Spencers ist für Simmel unannehmbar. Sein gesellschaftstheoretisches Erkenntnisprogramm in Soziologie, das gewisse Vorläufer in Über sociale Differenzierung und vor allem „Das Problem der Sociologie“ hat, umfasst in seinem zweiten Hauptwerk drei zentrale Aussagen. Sie sind: (1) Die ‚Gesellschaft‘, wie sie die Soziologie untersucht, ist nicht dasselbe wie die Gesellschaft in der Analyse, wie sie Philosophie des Geldes darstellt. (2) Die ‚Gesellschaft‘ – bzw. Gesellschaft im engeren Sinne – ist zu untersuchen an Hand der Formen der Vergesellschaftung. (3) Die ‚Gesellschaft‘ ist nur möglich und/oder denkbar, wenn die Formen des Bewusstseins berücksichtigt werden, wie sie wiederum per Aprioritäten alle gesellschaftliche Erfahrung prägen. Man kann in diesem Ansatz vier Schritte der systematischen Argumentation auseinanderhalten. Sie sind: (1) Das gesellschaftliche Bewusstsein entspricht drei Postulaten, wie sie anders als bei den Kategorien der Natur gelten. (2) Die drei Aprioris bezeichnen die Bedingungen der Möglichkeit von Gesellschaft und ihrer Erkenntnis. (3) Der dritte Schritt ist, die Formen der Vergesellschaftung zunächst ohne den direkten Bezug zu den Aprioris zu schildern. – (4) Die Dynamik in den Formen der Vergesellschaftung ergibt sich, wenn die Aprioris in die Untersuchung eingebracht werden: Sie erklären allererst die Variation und die Entwicklungslogik der Formen der Vergesellschaftung. Simmel kann in Soziologie zeigen, wie die Aprioris mit den Formen der Vergesellschaftung verflochten sind. Dabei ist das Bewusstsein – die Erkenntnis vor aller Erfahrung – der interaktiv Handelnden die entscheidende Instanz. Dass Simmels Unterfangen letztlich nicht erfolgreich war, durch sein Werk die Soziologie zu einer klaren Alternative zur Lehre Spencers (und Darwins) zu machen, sollte man ihm nicht vorwerfen. Er bemüht sich bis zur letzten Seite seines Buchs, die wechselseitige Durchdringung von Formen der Vergesellschaftung und Aprioris verständlich zu machen, wie sie das Bewusstsein – das vergesellschaftet und individuell ist – zum Angelpunkt allen sozialen Lebens macht. An Schluss des letzten Exkurses steht der Gemeinplatz, „daß die Seele das Bild der Gesellschaft und die Gesellschaft das Bild der Seele ist“. Und Simmel schreibt an Jellinek, das voluminöse Buch sei „ein allererster Anfang“ (GSG 22: 597) und in vielem „unvollkommen, tastend, irrend“ – und er vermutet: „[V]ielleicht ist es einer der Erstlinge, die geopfert werden“ (ebd.: 598).
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VI. N ACHTRAG : Z UR M ODERNITÄT
VON
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S OZIOLOGIE
Der Gesellschaftsbegriff Simmels, der sich gegen die Makrosoziologie Spencers richtet, ist für Max Weber ein wichtiger Bezugspunkt seiner eigenen Handlungsund Herrschaftssoziologie. Die moderne Soziologie, wie sie Parsons verkörpert, ist auf Max Webers Theorie aufgebaut, was wissenschaftsgeschichtlich unstrittig ist. Dass Parsonsʼ Soziologie deutliche Anklänge an Simmel hat, wird demgegenüber bisher kaum diskutiert. Vier Punkte dokumentieren die Brücken zwischen Simmel und Parsons. (1) Parsons in seinem ersten Hauptwerk The Structure of Social Action fordert eine auf Methodologie gegründete Analyse der gesellschaftlichen Handlungsstruktur(en). Die moderne Gesellschaft – individualistischer Kapitalismus, verfassungsmäßige Demokratie und egalisierender Sozialstaat – ist das Denkmodell für den so genannten „Unit Act“, das von konkret-empirischen Vorgängen abstrahierte Wechselseitigkeitsverhältnis angesichts der inneren und/oder äußeren Umweltsituation. Simmel spricht in Soziologie von Bewusstseinsstrukturen, nicht vom „Unit Act“. Beide Denker sehen das grundlegende Moment des Sozialen im Bewusstsein, das das Handeln in der Interaktion (Wechselwirkung im Vorfeld der Formen der Vergesellschaftung) vorstrukturiert. (2) 1940 erweitert Parsons seine Analyse auf die Untersuchung der sozialen Schichtung. Er geht vom Verhältnis von Handelnden zueinander aus, wobei er berücksichtigt, dass sie für einander eine höhere oder geringere Wertschätzung haben, von wo aus die gesellschaftlichen Werte bzw. Wertorientierungen sich herleiten. Das Gesamtgesellschaftliche der sozialen Schichtung wird bei Parsons aus der Perspektive von Person, Handlung und/oder sozialer Beziehung gesehen. Bei Simmel werden die Formen der Vergesellschaftung vom Grundverhältnis der Wechselwirkung her analysiert. Auch hier liegt eine Parallele zwischen den beiden Theorien. (3) Den methodischen Zugang, von der Interaktion her zu denken, wählt The Social System – gewissermaßen wird die ‚Gesellschaft‘ im Gewand des Handlungssystems untersucht. Die soziale Beziehung – mit Blick auf Max Weber – ist der analytische Bezugsrahmen für die gesellschaftlichen Systemstrukturen und -funktionen. In zwölf Kapiteln werden die Bestimmungen einer als soziales System gedachten „Gesellschaft“ herausgearbeitet. Dabei handelt das Kapitel X, das paradigmatisch diese Art Systemanalyse vorführt, von einer reziprok gestalteten Rollenbeziehung – der Arzt-Patient-Dyade, dem „System der ärztlichen Praxis“. Es geht um das Wechselwirkungsverhältnis als die Verwirklichung der gesamtgesellschaftlich zu denkenden, normativen Wertorientierungsmuster in der reziprok angelegten Interaktion. Auch dieser Gedankengang erinnert unwillkürlich an Simmel. (4) Schließlich kommt Parsons in seinem Spätwerk auf die Medien der Kommunikation und Interaktion zu sprechen. Sie sollen zwischen den Handelnden den
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sozialen Austausch vermitteln – und zwar sind dies das Geld, die politische Macht, der Einfluss und der Glaube an die moralischen, kulturellen Werte. Es sind, wie Parsons unterstreicht, funktionale Größen, wie sie zwischen den Individuen und den Institutionen ein Netzwerk der Reziprozität herstellen. Parsons erfasst die Differenzierung der Gesellschaft als Ausfächern von immer vielfältigeren, pluralen Lebenswelten – bei gleichzeitig fortschreitender Individualisierung der Bezugshorizonte. Der Einzelne vereine in sich immer mehr heterogene Bindungen, und seine Identität komme durch seine Identifikation(en) mit der Nation, der Region, der Berufsgruppe etc. als eine wachsend umfassende, gesellschaftliche Verortung zustande. Mit Simmel kann man darin die „Kreuzung sozialer Kreise“ erblicken, und man kann das Differenzierungstheorem assoziieren, wie es das Kapitel „Die Erweiterung der Gruppe und die Ausbildung der Individualität“ schildert. So gibt es zwischen Simmel und Parsons durchaus Berührungsebenen, die noch entdeckt werden müssten. Beide richten ihre Theorie gegen Spencer. Spätestens mit seinem kleinen Aufsatz des Jahres 1895 war Simmel entschlossen, Spencers Argumentation auf deren eigenem Feld – der Selektionslehre – zu schlagen. Parsons begann sein erstes Hauptwerk mit dem bedeutungsvollen Satz: „Spencer is dead“. Allerdings verbleibt zwischen Simmel und Parsons mehr Abstand, als man beim ersten Hinsehen meinen möchte. Es ist nicht zu leugnen, dass Parsonsʼ zwei Abhandlungen über Simmel, die aus den dreißiger Jahren stammen, gravierende Missverständnisse enthalten. Zwar sind diese beiden Arbeiten zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht geblieben. Aber der Kommentar anlässlich ihrer Veröffentlichung in den neunziger Jahren hat nicht erwähnt, dass Parsonsʼ Verständnis der Simmelʼschen Theorie inadäquat ist. Immerhin befindet sich Parsons – was die Missverständnisse hinsichtlich Simmel anbelangt – wohl in bester Gesellschaft. Parsons‘ unrichtige Ansichten über Simmel standen in der Soziologiegeschichte bei weitem nicht allein – Troeltsch, der meinte, Simmels Theorie sei ein „semijournalistisches Feuerwerk“, war einer unter vielen, die Simmels Denken unzureichend begriffen und dabei unangemessen kritisch beurteilt haben. Man muss wohl die Soziologie Simmels an Hand des gesellschaftstheoretischen Erkenntnisprogramms noch einmal neu reflektieren.
Von der Wechselwirkung zur Interaktion – Georg Simmel und die Mikrosoziologie heute J ÖRG B ERGMANN
1. S IMMEL
ALS
B EGRÜNDER
DER
M IKROSOZIOLOGIE
Dass Georg Simmel in der Ideen- und Theoriegeschichte des Faches als Begründer und Impulsgeber der heutigen Mikrosoziologie gilt, geht im Wesentlichen auf die in der ‚großen‘ Soziologie von 1908 angestellten Überlegungen und Untersuchungen zurück. Zwar taucht der Begriff Mikrosoziologie in diesem Werk nicht auf und findet sich auch nicht in seinem gesamtem sonstigen Œuvre, doch hält man sich an die theoretischen Konstruktionen, konzeptionellen Entscheidungen und materialen Studien, aus denen sich die Soziologie zusammensetzt, dann ist Simmel ohne Zweifel derjenige aus der Gründergeneration des Faches, der die Untersuchung von mikrosozialen Prozessen am nachdrücklichsten zum genuinen Gegenstand der Soziologie erklärt und an einer Vielzahl von Themen exemplarisch durchführt hat. Zur Vergewisserung hier noch einmal die wichtigsten Bezüge aus der Soziologie, auf die sich Simmels Ruf als Nestor der Mikrosoziologie gründet: 1. ‚Kleine‘ soziale Phänomene. Um der Soziologie zu einer unstrittigen Fachidentität zu verhelfen, schlägt Simmel vor, überall dort von Gesellschaft zu sprechen, wo mehrere Individuen in Wechselwirkung treten, und postuliert daran anschließend und mit Hilfe der abstrahierenden Unterscheidung von Form und Inhalt, Soziologie als diejenige Wissenschaft zu konzipieren, die sich mit den Formen vergesellschaftender Wechselwirkung befasst. Bei der Plausibilisierung dieses Programms stößt Simmel auf ein Problem, das er selbst bereits in der Socialen Differenzierung benannt hatte: Aus der formalen, allein auf Wechselwirkung abstellenden Bestimmung von Gesellschaft ergibt sich nämlich, dass „auch zwei Menschen, zwischen denen nur eine ephemere Beziehung existirt, […] eine Gesellschaft bilden [würden]“ (GSG 2: 133). 1890 und ebenso noch – darauf hat Hartmann Tyrell
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jüngst hingewiesen1 – 1898 hatte sich Simmel an dieser Stelle defensiv verhalten und konzediert, dass seine formale Bestimmung von Gesellschaft „quantitativ verengert“ und auf „objektive Gebilde“ beschränkt werden müsse (GSG 5: 311ff.). Zwar bestehe prinzipiell nur ein gradueller Unterschied zwischen der losen Vereinigung von Menschen bei einem Gespräch und der umfassenderen Einheit einer Klasse oder einer politischen Aktion. Doch nur dort, „wo Vereinigung stattgefunden hat, deren Formen beharren“, nur dort, „wo Recht, Sitte, Verkehr Formen ausgebildet haben, denen jeder sich fügt und fügen muß, […] da überall ist Gesellschaft, da hat die Wechselwirkung sich zu einem Körper verdichtet, der sie eben als gesellschaftliche von derjenigen unterscheidet, die mit den unmittelbar ins Spiel kommenden Subjekten und ihrem augenblicklichen Verhalten verschwindet“ (GSG 2: 133f.). Diese Position, die Soziologie im Prinzip auf Makro- oder Institutionensoziologie festlegt, revidiert Simmel zehn Jahre später auf radikale Weise.2 Die bis dahin als nicht zur Gesellschaft zählenden Phänomene wie Gespräche, „ephemere Beziehungen“ etc. werden nun als spezifische Arten der Wechselwirkung charakterisiert, die zwar „klein“ oder „geringfügig“ erscheinen, aber dennoch zum Gegenstandsbereich der Soziologie zu zählen sind. „Im ganzen“, schreibt Simmel kritisch und muss damit auch seine eigene bisherige Position meinen, „hat sich die Soziologie eigentlich auf diejenigen gesellschaftlichen Erscheinungen beschränkt, bei denen die wechselwirkenden Kräfte schon aus ihrem unmittelbaren Träger auskristallisiert sind, mindestens zu ideellen Einheiten. Staaten und Gewerkvereine, Priesterschaften und Familienformen, Wirtschaftsverfassungen und Heerwesen, Zünfte und Gemeinden, Klassenbildung und industrielle Arbeitsteilung – diese und die ähnlichen großen Organe und Systeme scheinen die Gesellschaft auszumachen und den Kreis der Wissenschaft von ihr zu erfüllen. […] [A]ußer jenen weithin sichtbaren, ihren Umfang und ihre äußere Wichtigkeit allenthalben aufdrängenden Erscheinungen [besteht] eine unermeßliche Zahl von kleineren, in den einzelnen Fällen geringfügig erscheinenden Beziehungsformen und Wechselwirkungsarten zwischen den Menschen, die […] sich zwischen die umfassenden, sozusagen offiziellen sozialen Formungen schieben“ (GSG 11: 32).
1
Hartmann Tyrell, Georg Simmels „große“ Soziologie (1908). Einige Überlegungen an-
2
Darüber, was Simmel zu diesem Sinneswandel bewogen hat, ist (dem Autor) nichts be-
läßlich des bevorstehenden 100. Geburtstags, in: Simmel Studies 17 (2007), 5-39, hier 18. kannt. Man kann vermuten, dass systematische Überlegungen sowie die bewusste Wahl einer heterogenen Vielfalt von empirischen Themen während der Arbeit an der Soziologie bei dieser von ihm nicht markierten Revision eine Rolle gespielt haben. Vielleicht war auch seine Nähe zur Psychologie, die ihn überhaupt erst auf diese „ephemeren“ Phänomene gebracht hat, vor 1900 stärker als danach.
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Die Gegensatzpaare, mit denen Simmel hier operiert – groß/klein, umfassend/geringfügig, aufdrängend/unscheinbar, weithin sichtbar/kaum wahrnehmbar, wichtig/ nebensächlich – betreffen ersichtlich die geringe Größe und schwache Sichtbarkeit, aber auch die damit assoziierte Belanglosigkeit und Unwichtigkeit, die diesen Phänomenen in der wissenschaftlichen wie außerwissenschaftlichen Wahrnehmung zugeschrieben werden. Für diese Geringschätzung und Nicht-Beachtung der von ihm benannten Erscheinungen nennt Simmel noch einen zweiten Grund, der ebenfalls für die Mikrosoziologie relevant werden sollte. 2. Flüchtige Objekte. Simmel charakterisiert die Erscheinungen, auf die er die Aufmerksamkeit lenken möchte, nicht nur in der Dimension der Größenordnung, sondern auch in ihrer besonderen Zeitlichkeit. Immer handelt es sich dabei um Vorgänge, die von kurzer zeitlicher Dauer, wenn nicht von ganz punktueller Natur sind, wie etwa das Sich-Gegenseitig-Anblicken. Anstelle der Dauerhaftigkeit sozialer Gebilde rückt Simmel damit die Flüchtigkeit und Ereignishaftigkeit sozialer Vorgänge ins Zentrum. Für diese momenthafte Qualität sozialer Vorgänge, die noch nicht zu festen Strukturen geronnen sind, hat Simmel in seiner Soziologie höchst einprägsame – und fast könnte man sagen: situationistische – Formulierungen gefunden: „Fortwährend knüpft sich und löst sich und knüpft sich von neuem die Vergesellschaftung unter den Menschen, ein ewiges Fließen und Pulsieren, das die Individuen verkettet, auch wo es nicht zu eigentlichen Organisationen aufsteigt“ (ebd.: 33). Und an anderer Stelle: „In jedem Augenblick spinnen sich solche Fäden, werden fallen gelassen, wieder aufgenommen, durch andre ersetzt, mit andern verwebt“ (ebd.). Drei Punkte fallen an diesen Formulierungen auf: Zum einen wird die Kleinheit und Flüchtigkeit dieser pulsierenden Vergesellschaftungsarten dadurch gewissermaßen kompensiert, dass sie allgegenwärtig sind, in unendlich großer Zahl auftreten, von jedermann praktiziert und immer wieder aufs Neue aktiviert werden. Zum andern springt ins Auge, wie sehr sich Simmels Maxime, die darauf hinausläuft, das Soziale konzeptionell zu verflüssigen, es nicht als etwas Dauerhaftes und Dinghaftes, sondern als etwas Prozesshaftes zu verstehen, geradezu als Kontrastentwurf – oder zumindest als Gegenmetapher – zu Durkheims Grundregel lesen lässt, soziale Tatsachen „wie Dinge“ zu betrachten. Und schließlich ist bemerkenswert, dass die Formulierung „ein ewiges Fließen und Pulsieren“ bereits ein lebensphilosophisches Motiv anklingen lässt, das dann erkennbar erst in der Lebensanschauung entfaltet wird, in der es heißt, „daß das Leben absatzloses Fließen ist“ (GSG 16: 223) und in der der Topos des Fließens an zahlreichen weiteren Stellen zu finden ist. Simmel hat im Übrigen deutlich gesehen, dass soziale Ereignisse, weil sie nicht sistierbar, nicht greifbar, nicht fixierbar sind, die besondere Schwierigkeit mit sich bringen, dass sie sich für die wissenschaftliche Beobachtung nur schwer bannen und zugänglich machen lassen. Das ist für ihn allerdings kein Grund, sie links liegen zu lassen, denn viele soziale Vorgänge sind nur deshalb möglich und können
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nur deshalb bestimmt soziale Funktionen erfüllen, weil ihnen diese momenthafttransitorische Qualität eigen ist. 3. Ephemere Vergesellschaftung. Simmel postuliert nicht nur, dass die flüchtigen Wechselwirkungsarten ein legitimer Untersuchungsgegenstand der Soziologie sind, sondern – und erst das lässt die Radikalität der Revision seiner früheren Position erkennen – er erklärt sie zu konstitutiven Elementen der Vergesellschaftung. Wenn zwei Personen sich kurz im Vorübergehen grüßen, so mag das als eine ganz folgenlose und unbedeutende Episode erscheinen, doch Simmels weitreichende These ist, dass diese „geringfügig erscheinenden Beziehungsformen und Wechselwirkungsarten zwischen den Menschen, die […] sich zwischen die umfassenden, sozusagen offiziellen sozialen Formungen schieben, doch erst die Gesellschaft, wie wir sie kennen, zustandebringen“ (GSG 11: 32). Und diesen Gedanken paraphrasierend heißt es an anderer Stelle, dass es nicht möglich ist, aus den großen sozialen Formungen „das wirkliche, in der Erfahrung vorliegende Leben der Gesellschaft […] zusammen[zu]setzen; ohne die Dazwischenwirkung unzähliger, im einzelnen weniger umfänglicher Synthesen […], würde es in eine Vielzahl diskontinuierlicher Systeme auseinanderbrechen“ (ebd.: 32f.). Was Simmel hier in einer etwas mechanistischen Semantik – dazwischenschieben, zusammensetzen, auseinanderbrechen – formuliert,3 ist eine These, die die Soziologie und insbesondere die Mikrosoziologie bis heute umtreibt. Sie bezieht sich auf die Frage, welchen Status die ‚kleinen‘, ‚flüchtigen‘ Arten der Wechselwirkung haben sollen. Gegen die Vorstellung, dass es sich dabei um primär psychische Vorgänge handelt, macht Simmel geltend, „dass die wissenschaftliche Behandlung seelischer Tatsachen noch keineswegs Psychologie zu sein braucht“ (ebd.: 36). Es sei Aufgabe der Soziologie, nach Beziehungsformen der Menschen und den Vergesellschaftungsmomenten zu fragen, die sich in den psychischen Vorgängen realisieren. Und später in den Grundfragen der Soziologie von 1917 wird er es als „oberflächliches Haften an dem – für die äußere Praxis freilich ausreichenden – Sprachgebrauch“ kritisieren, wenn man „die Benennung als Gesellschaft nur der dauernden Wechselbeziehung vorbehalten will, nur derjenigen, die sich zu einem bezeichenbaren Einheitsgebilde objektiviert hat: zu Staat und Familie, Zünften und Kirchen, Klassen und Zweckverbänden usw.“ (GSG 16: 68).
3
Dies verweist auf den ‚Atomismus‘ in Simmels Soziologie, dazu Hannes Boehringer, Spuren von spekulativem Atomismus in Simmels formaler Soziologie, in: Ders., Karlfried Gründer (Hg.), Ästhetik und Soziologie um die Jahrhundertwende: Georg Simmel. Frankfurt/M 1976, 105-114; ferner Mitsuyoshi Ikeda, Atom und Wechselwirkung als regulative Weltprinzipien. Zu den Zentralbegriffen des jungen Simmel, in: Simmel Studies 17 (2007), 77-104.
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Für Simmel zeigt sich in den unscheinbaren Sozialformen „die Gesellschaft gleichsam im status nascens“ (GSG 11: 33), eine Art ephemerer Vergesellschaftung, und diese These, dass Gesellschaft aus den kleinsten sozialen Ereignissen hervorgeht und sich dort reproduziert, ist, wie sich zeigen wird, für die Mikrosoziologie zu einer Kernfrage geworden. 4. Mikroskop als Referenzinstrument. Am nachdrücklichsten ist das Bild von Simmel als dem Begründer der Mikrosoziologie vermutlich dadurch geprägt worden, dass er zur Charakterisierung der von ihm entwickelten neuen Perspektive selbst mehrfach auf das Mikroskop Bezug nimmt, und zwar auf unterschiedliche Weise. Zum einen bezieht er sich vergleichend auf das Mikroskop, um die Größenordnung der ephemeren Wechselwirkungsarten deutlich zu machen, wenn er schreibt: „Hier handelt es sich gleichsam um die mikroskopisch-molekularen Vorgänge innerhalb des Menschenmaterials, die aber doch das wirkliche Geschehen sind, das sich zu jenen makroskopischen, festen Einheiten und Systemen erst zusammenkettet oder hypostasiert“ (ebd.: 33). An anderer Stelle ist sein Sprachgebrauch metaphorischer Natur, so wenn er von den „nur der psychologischen Mikroskopie zugängigen Wechselwirkungen zwischen den Atomen der Gesellschaft“ (ebd.) spricht. Und wenig später taucht das Mikroskop als reale technische Innovation auf: „Vielleicht wird von dieser Erkenntnis aus für die Gesellschaftswissenschaft erreicht, was für die Wissenschaft vom organischen Leben der Beginn der Mikroskopie bedeutete. War die Untersuchung bis dahin auf die großen, entschieden gesonderten Körperorgane beschränkt, […] so zeigte sich nun erst der Lebensprozeß in seiner Bindung an seine kleinsten Träger, die Zellen, und in seiner Identität mit den zahllosen und unaufhörlichen Wechselwirkungen zwischen diesen“ (ebd.: 34).
Es ist vor allem diese Passage, auf die sich die Mikrosoziologie beruft, wenn sie mit weitreichenden Ansprüchen auftritt. Denn was Simmel hier als Möglichkeit anspricht, ist, dass die Entdeckung der fließenden und molekularen Formen der Vergesellschaftung nicht bloß zu einer Erweiterung des thematischen Spektrums der Gesellschaftswissenschaften führt, sondern dem Fach insgesamt eine Innovation beschert. In den Naturwissenschaften, so ist Simmel zu verstehen, werden derartige Innovationen typischerweise durch die Einführung neuer Beobachtungstechnologien ausgelöst,4 in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften geschieht dies durch die Einführung einer neuen Perspektive, durch einen Paradigmenwechsel.
4 Dass Simmel hier keinem technologischen Determinismus das Wort redet, geht aus einer Bemerkung in der Philosophie des Geldes, GSG 6: 662, hervor: „Gewiß sind schon allein durch Mikroskop und Teleskop unendliche Distanzen zwischen uns und den Dingen
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Die Textstelle macht aber noch etwas weiteres deutlich: Simmel kritisiert, was man den makrosoziologischen Bias der damaligen Gesellschaftswissenschaft nennen könnte, und wirbt dafür, das Erkenntnispotential, das eine Beschäftigung mit dem mikrosozialen Bindegewebe der Gesellschaft für das Fach enthält, nicht brach liegen zu lassen. Denn so unbedeutend und nichtig die flüchtigen Arten der Wechselwirkung erscheinen mögen, so bedeutend und wirkmächtig sind sie für den gesamten Prozess der Vergesellschaftung. Die vier dargestellten Aspekte resümierend lässt sich feststellen, dass Simmel, nachdem er zunächst selbst alles Mikrosoziale aus der Gesellschaft ausgeschlossen hatte, in der Soziologie große Mühe darauf verwendet, das Geschehen auf der sozialen Mikroebene in die Gesellschaft hineinzunehmen und als ureigenen Gegenstand der Soziologie zu reklamieren. Er befreit sich damit von seiner früheren, institutionalistischen Perspektive und entdeckt das kleine soziale Hin-und-Her als Ort flüchtiger Vergesellschaftung. Auch wenn Simmel nicht den Begriff der Mikrosoziologie geprägt hat, so geht auf ihn doch die mikroanalytische Perspektive in der Soziologie zurück. Und durch die Betonung der Prozessqualität und Dynamik aller mikrosozialen Ereignisse hat er diesem Paradigma seine spätere Leitidee vorgegeben. Soviel zunächst als Grundlage und zur Erinnerung, weshalb Simmel heute als Begründer der Mikrosoziologie gilt. Zu dem Bild Simmels als dem Pionier der Mikrosoziologie hat aber noch ein anderer Faktor entscheidend beigetragen: Die Überlegungen zu einer Soziologie mikrosozialer Prozesse im ersten Kapitel der Soziologie sind ja eigentlich nur die programmatische Ergänzung der vielfältigen materialen Untersuchungen, die dieses Werk in der Hauptsache ausmachen und in denen Simmel gegenstandsbezogen demonstriert, was eine Mikroperspektive in der Soziologie zu leisten vermag. In der Erfahrungsnähe und Überzeugungskraft, ja Suggestivität dieser Einzelanalysen liegt der Ruf Simmels als Begründer der Mikrosoziologie nicht weniger begründet als in seinen theoretisch-programmatischen Überlegungen. Anstatt aber nun Simmels Einzeluntersuchungen mikrosozialer Phänomene unter philologischer Beschränkung auf die Soziologie zu katalogisieren, soll im Folgenden sogleich die Perspektive auf die Entwicklung der Mikrosoziologie nach Simmel erweitert werden. So kann dann zum einen verfolgt werden, welche seiner Themen in der späteren Mikrosoziologie liegen gelassen oder aufgenommen und weitergeführt wurden, zum andern lässt sich durch diese kontrastreiche Einfärbung besser erkennen, welches unausgeschöpfte Potential, aber auch welche problematischen Aspekte das mikroanalytische Programm Simmels – von heute aus betrachtet – hat.
überwunden worden; aber sie sind doch für das Bewußtsein erst in dem Augenblick entstanden, in dem es sie auch überwand.“
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2. D IE M IKROSOZIOLOGIE
NACH
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S IMMEL
Die Mikrosoziologie hat sich nach Simmels programmatischen und substantiellen Arbeiten zunächst auf eine diffuse und für Simmel unglückliche Weise weiterentwickelt – sofern man überhaupt von ‚Weiterentwicklung‘ und von ‚der‘ Mikrosoziologie sprechen will. Dazu einige Erläuterungen. Spätestens nach der Publikation der Soziologie wandte sich Simmel vermehrt ästhetischen, kulturphilosophischen und metaphysischen Fragen zu, so dass von ihm selbst bis auf wenige Ausnahmen – so etwa die "Soziologie der Mahlzeit" von 1910 – keine Beiträge mehr zu seinem mikroanalytischen Programm kamen. Wie zu seinen Lebzeiten gab es auch nach seinem Tod niemanden in Deutschland, der die von ihm inaugurierte Art der Soziologie fortgeführt hätte. Zwar sind seine Vorliebe für die Form des Essays, sein totalisierender Blick auf soziale Kleinigkeiten und sein offen-dialektisches Denken auch bei Ernst Bloch, Siegfried Kracauer und Walter Benjamin zu finden, die bei Simmel studiert oder seine Vorlesungen besucht hatten,5 doch keiner dieser Autoren hat Simmels Soziologie theoretisch oder substanziell vorangetrieben. Dafür hat dann ein anderer Soziologe in den zwanziger Jahren viele Themen und Gedanken aus Simmels Mikrostudien zu einem System der Allgemeinen Soziologie als Lehre von den sozialen Prozessen und den sozialen Gebilden der Menschen (1924) zusammengetragen. In diesem auch als Beziehungslehre bezeichneten Werk übernimmt Leopold von Wiese Simmels Auffassung, dass Gesellschaft keine Substanz, sondern ein fortwährendes Geschehen ist, und erklärt die Untersuchung der verschiedenen sozialen Beziehungen zur Hauptaufgabe der Soziologie. Dieses Werk ist ein großes Unglück für die Simmelʼsche Soziologie. Was Simmel so dynamisch, immer überraschend und in einen offenen Denkhorizont hinein entwickelte, wird von Wiese pedantisch sortiert, systematisiert und zu Tode verwaltet; eine Mikrosoziologie nach Art der Beziehungslehre erschöpft sich im sterilen Hinundherschieben von Kategorien und im Hantieren mit Taxonomien.6 Über Jahrzehnte hinweg hat von Wieses einflussreiche Beziehungslehre, die 1932 in einer amerikanischen Version erschienen war7 und noch 1966 in der vierten Auflage herauskam, eine kreative Beschäftigung mit Simmels Soziologie behindert. Erst als Anfang der 1970er Jahre in Deutschland die Arbeiten Goffmans, des Sym-
5
Henrik Reeh, Ornaments of the Metropolis. Siegfried Kracauer and Modern Urban Cul-
6
Der Autor erinnert sich noch mit Schrecken an seine erste Begegnung mit der Bezie-
7
Leopold von Wiese, Systematic Sociology: On the Basis of the Beziehungslehre and Ge-
ture, Cambridge MA 2005, 20f. hungslehre im Rahmen seines Studiums Ende der sechziger Jahre. bildelehre, übers. v. Howard Becker, New York 1932.
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bolischen Interaktionismus und der Ethnomethodologie bekannt wurden, wurde es möglich, Simmels Soziologie neu zu entdecken. Zwischen 1896 und 1906 erschienen zahlreiche Arbeiten Simmels auf Englisch, darunter nicht wenige, deren Originaltexte später in überarbeiteter Form Eingang fanden in die Soziologie (versammelt in GSG 18). Maßgeblich beteiligt an diesem Transfer Simmelʼscher Arbeiten in die USA waren Wissenschaftler von der University of Chicago, die zeitweise bei Simmel studiert hatten (Albion Small, Robert Park)8 und später zu den Begründern der sog. Chicago School gehörten. Die Vertreter dieser Schule betrachteten die Großstadt Chicago als Labor, in dem sie die Konflikte und Sozialpathologien der modernen Gesellschaft mit ethnographischen Methoden ‚live‘ beobachten konnten. In ihren Studien über deviante Subkulturen, soziale Marginalität, Professionen, Massenmedien, Öffentlichkeit und stadtsoziologische Themen zeigten sie sich zwar von Simmels Soziologie beeinflusst und repräsentierten seine Arbeiten breit in einem einflussreichen Lehrbuch9, doch zu einer soziologischen Analyse von Mikroprozessen entwickelten sich ihre Arbeiten nicht. Die nachfolgenden Jahrzehnte waren in der amerikanischen Soziologie geprägt von Talcott Parsons, der Simmels Ansatz in seiner Theory of Social Action (1937) bekanntermaßen unberücksichtigt ließ.10 Erst nach dem Zweiten Weltkrieg ist mit Erving Goffman doch noch ein Vertreter aus dieser Tradition hervorgegangen, der in mehrfacher Weise Simmels mikroanalytisches Programm aufgenommen und fortgeführt hat (dazu Näheres unten). Eine zusätzliche Schwierigkeit für die Darstellung ‚der‘ Mikrosoziologie nach Simmel liegt in dem Umstand, dass unter diesem Begriff, der zum erstenmal von Georges Gurvitch gebraucht wurde, alles zusammengefasst wird, was sich aus einer soziologischen Perspektive mit dem Verhalten, den Beziehungen und der Interaktion des Individuums in sozialen Situationen und in sozialen Gruppenzusammen-
8
Dazu Donald N. Levine, Ellwood B. Carter, Eleanor M. Gorman, Simmel's Influence on American Sociology I, in: American Journal of Sociology 81 (1976), 813-845; David Frisby, Georg Simmel, London 22002; zum Einfluss Simmels auf die Chicago School und den Symbolischen Interaktionismus Paul Rock, The Making of Symbolic Interactionism, London 1979.
9
Robert E. Park, Ernest W. Burgess (Hg.), Introduction to the Science of Sociology, Chicago 1921 u.ö.
10 Donald N. Levine, Simmel and Parsons reconsidered, in: American Journal of Sociology, 96 (1991), 1097-1116, hier 1099, berichtet auch von einem Brief Parsons‘, in dem dieser bemerkt: „Becker built it [Wiese‘s ‚Beziehungslehre‘, J.B.] into a large book which was an adaptation of the Wiese position and went under the title ‚Wiese-Becker‘. Indeed, for a few years, Becker and I were rivals for the leadership of the introduction of German sociology into this country.”
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hängen befasst. Viele der mikrosoziologischen Ansätze beziehen sich sogar auf Simmel, wie etwa die Gruppensoziologie, doch nach ihrer theoretischen Anlage und methodischen, manchmal experimentellen Ausrichtung haben sie mit Simmels Idee einer Untersuchung mikrosozialer Vergesellschaftungsprozesse oft nur mehr wenig zu tun. So reicht heute das Spektrum dessen, was als Mikrosoziologie bezeichnet wird, von Blaus Exchange Theory und Homans‘ Verhaltenstheorie über die Rational-Choice-Theorie und die Rollentheorie bis hin zum Symbolischen Interaktionismus, der Ethnomethodologie und Konversationsanalyse.11 Angesichts dieser Heterogenität fällt es schwer, noch weiter von ‚der‘ Mikrosoziologie zu sprechen, und es ist nicht verwunderlich, dass diejenigen, die mit dem Etikett Mikrosoziologie bedacht werden, oft nicht glücklich über diese Rubrizierung sind, weil sie sich in der Nachbarschaft von Ansätzen wiederfinden, in der sie selbst sich in keiner Weise sehen. Ein weiteres Problem kommt hinzu. Der Begriff Mikrosoziologie ist ja das Resultat einer Unterscheidung, er verweist von sich aus auf sein Gegenüber – die Makrosoziologie. Offensichtlich liegt dieser Dichotomie die Vorstellung zugrunde, dass Gesellschaft sich in zwei mehr oder weniger unabhängigen Sphären entfaltet, denen dann die Trennung von Mikro- und Makrosoziologie folgt. Damit aber tut sich eine Lücke zwischen diesen beiden Soziologien auf, eine Leerstelle, die zu zahlreichen Fragen führt: Welchen Realitätsstatus haben diese Ebenen? Bezieht sich die eine Ebene auf ‚agency‘ und die andere auf Struktur? Was hat die eine Seite mit der anderen Seite zu tun? Wie sind die Mikro- und die Makroebene miteinander verbunden? Welche Art von ‚linkage‘ besteht zwischen der Mikro- und Makro-Ebene? Gibt es eine Meso-Ebene – oder mehrere Ebenen – dazwischen? Lässt sich die eine Ebene auf die andere Ebene zurückführen? Fragen dieser Art12 machen deutlich, dass der Begriff Mikrosoziologie diejenigen, die mit ihm hantieren, dazu zwingt, sich in dem Mikro/Makro-Schema zu bewegen und sich auch den von diesem Schema generierten Fragen nach der Verbindung dieser beiden ‚Ebenen‘ zu stellen. Man sucht also in der sozialen Wirklichkeit nach Brückenmechanismen, weil die konzeptionelle Unterscheidung von Mikro- und Makroebene eine solche Verbindung notwendig macht. Dies aber ist eine verhängnisvolle Logik, die jede als
11 Zum Aufkommen der Mikrosoziologie in den sechziger und siebziger Jahren und den wissenschaftspolitsichen Hintergründen dieser Entwicklung George Ritzer, The Rise of Micro-Sociological Theory, in: Sociological Theory 3 (1985), 88-98. 12 Die Mikro/Makro-Verbindung ist Thema zahlreicher Publikationen aus den Achtziger und Neunziger Jahren, etwa Jeffrey Alexander u.a. (Hg.), The Micro-Macro Link, Berkeley 1987; der neuere Diskussionsstand findet sich in Jens Greve, Annette Schnabel. Rainer Schützeichel (Hg.), Das Mikro-Makro-Modell der soziologischen Erklärung. Zur Ontologie, Methodologie und Metatheorie eines Forschungsprogramms, Wiesbaden 2008.
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Mikrosoziologie klassifizierte Arbeit in die Differenz zur ‚Makro‘-Seite einspannt – auch diejenigen Arbeiten, die eine solche Dichotomisierung nicht für sinnvoll halten. Bezieht man diese Überlegungen zurück auf Simmel, kann man konstatieren, dass seine Soziologie mikrosozialer Vergesellschaftungsarten mit der Vorstellung von zwei dichotomen Mikro- und Makro-Ebenen nicht kompatibel ist. Gerade in seinen materialen Einzeluntersuchungen werden die ephemeren Vorgänge immer als mit anderen gesellschaftlichen Kontexten verwoben analysiert und nicht als von diesen getrennte Entitäten betrachtet. Eine Separierung und Gegenüberstellung dieser Kontexte als ‚Makro‘-Bereich wäre der Simmelʼschen Soziologie ganz wesensfremd. Sofern aber der Begriff der Mikrosoziologie – wie etwa in der Rational Choice-Theorie – untrennbar mit dem Mikro/Makro-Dualismus verknüpft ist, muss man sagen: In diesem Sinn war Simmel gewiss kein Mikrosoziologe. Das bedeutet nun nicht, dass Simmels Soziologie flüchtiger Vergesellschaftungsarten nur mehr von theoriegeschichtlichem Interesse ist. ‚Mikrosoziologie‘ ist heute eine Sammelbezeichnung für sehr heterogene Forschungstraditionen, und so lässt sich in umgekehrter Richtung fragen: Wo lassen sich Spuren und Einflüsse der Simmelʼschen Konzepte in der heutigen Mikrosoziologie finden – auch dort, wo gar nicht explizit auf Simmel Bezug genommen wird?
3. S IMMEL ʼ SCHE M OTIVE E RVING G OFFMAN
IN DER
M IKROSOZIOLOGIE
HEUTE :
1953 reichte Erving Goffman an der University of Chicago seine Dissertation ein. Dem Text ist das folgende lange Zitat vorangestellt: Es „besteht eine unermeßliche Zahl von kleineren, in den einzelnen Fällen geringfügig erscheinenden Beziehungsformen und Wechselwirkungsarten zwischen den Menschen, die, indem sie sich zwischen die umfassenden, sozusagen offiziellen sozialen Formungen schieben, doch erst die Gesellschaft, wie wir sie kennen, zustande bringen. Die Beschränkung auf jene gleicht der früheren Wissenschaft vom inneren menschlichen Körper, die sich auf die großen, festumschriebenen Organe: Herz, Leber, Lunge, Magen usw. beschränkte und die unzähligen, populär nicht benannten oder nicht bekannten Gewebe vernachlässigte, ohne die jene deutlicheren Organe niemals einen lebendigen Leib ergeben würden. Aus den Gebilden der genannten Art, die die herkömmlichen Gegenstände der Gesellschaftswissenschaft bilden, ließe sich das in der Erfahrung vorliegende Leben der Gesellschaft durchaus nicht zusammensetzen; ohne die Dazwischenwirkung unzähliger, im einzelnen weniger umfänglicher Synthesen würde es in eine Vielzahl unverbundener Systeme auseinanderbrechen. Fortwährend knüpft sich und löst sich und knüpft sich von neuem die Vergesellschaftung unter den Menschen, ein ewiges Fließen und Pulsieren, das die Individuen verkettet, auch wo es nicht zu eigentlichen
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Organisationen aufsteigt. Daß die Menschen sich gegenseitig anblicken und daß sie aufeinander eifersüchtig sind, daß sie sich Briefe schreiben oder miteinander zu Mittag essen, daß sie sich ganz jenseits aller greifbaren Interessen sympathisch oder antipathisch berühren, daß die Dankbarkeit der altruistischen Leistung eine unzerreißbar bindende Weiterwirkung bietet, daß einer den andern nach dem Wege fragt und daß sie sich füreinander anziehen und schmücken – all die tausend von Person zu Person spielenden momentanen oder dauernden, bewußten oder unbewußten, vorüberfliegenden oder folgenreichen Beziehungen, aus denen diese Beispiele ganz zufällig gewählt sind, knüpfen uns unaufhörlich zusammen. Hier liegen die Wechselwirkungen zwischen den Elementen, die die ganze Zähigkeit und Elastizität, die ganze Buntheit und Einheitlichkeit dieses so deutlichen und so rätselhaften Lebens der Gesellschaft tragen.“
13
Dieses Zitat aus Simmels Grundfragen der Soziologie (GSG 16: 68f.)14 formuliert in komprimierter Form das Programm, das Goffman in seiner Dissertation und all seinen nachfolgenden Arbeiten verfolgt hat: die Untersuchung der unmittelbaren Interaktion als einem eigenen Typus von sozialer Ordnung – einer Ordnung, die er in seiner Dissertation als „conversational order“ und dann in seiner letzten Veröffentlichung als „interaction order“ bezeichnet hat.15 Trotz dieser starken Affiliation gleich zu Beginn seiner Karriere bezieht sich Goffman in seinen Publikationen eher selten explizit auf Simmel.16 Dennoch sind die sachlichen, methodologischen und – wenn man so will – stilistischen Parallelen zu Simmel so evident, dass Paul Rocks Einschätzung, man könne Goffman als „unacknowledged reincarnation of Georg
13 Erving Goffman, Communication Conduct in an Island Community, PhD dissertation University of Chicago, Department of Sociology 1953, iv. 14 Goffman zitiert nur die englische Version aus Kurt Wolffs Simmel-Übersetzung, The Sociology of Georg Simmel, Glencoe Ill. 1950, 9f.; der Abschnitt ist in weiten Teilen identisch mit einer Passage aus der ‘großen’ Soziologie, GSG 11: 32f. Zur Problematik der Übersetzung Wolffs Näheres weiter unten. 15 Goffman, The Interaction Order, in: American Sociological Review 48 (1983), 1-17. 16 „Goffman gave Simmel less credit for founding this field than he deserved“ bemerkt Murray Davis, Georg Simmel and Erving Goffman. Legitimators of the Sociological Investigation of Human Experience, in: Qualitative Sociology 20 (1997), 369-388, hier 370. Über die Gründe, weshalb Goffman – wie Simmel selbst – nur eher karge Auskunft über seine intellektuellen Wurzeln gibt, findet man einiges bei Gary D. Jaworski, Erving Goffman: The Reluctant Apprentice, in: Symbolic Interaction 23 (2000), 299-308, am Beispiel der Beziehung Goffmans zu seinem akademischen Lehrer Everett Hughes, der ein Schüler Robert Parks war und Simmels Geselligkeits-Aufsatz 1949 ins Englische übersetzt hatte.
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Simmel“ betrachten,17 durchaus nahe liegt. Allerdings ist diese Einschätzung auch überzogen, denn Goffmans Soziologie speist sich ebenso aus vielen anderen Quellen – eine unvollständige Liste könnte beginnen mit Durkheim, Hughes, Bateson, der Ethologie, der Sozialanthropologie, der Linguistik –, dass er nicht auf seine Simmelʼschen Anteile reduziert werden kann. Wie Simmel ist Goffman darum bemüht, theoretisch, aber vor allem auch durch seine empirischen Studien die unmittelbare Interaktion als eigenständigen Forschungsbereich der Soziologie auszuweisen. Beiden gemeinsam ist, dass sie ihre Mikroanalysen nicht in ein Mikro/Makro-Schema einzwängen lassen, Goffman dies explizit zurückweist: „In sum, to speak of the relatively autonomous forms of life in the interaction order […] is not to put forward these forms as somehow prior, fundamental, or constitutive of the shape of macroscopic phenomena“.18 Nah sind sich Simmel und Goffman auch bei der Wahl der Themen für ihre mikroanalytischen Studien. Natürlich sind hier an erster Stelle die Formen der sozialen Face-to-FaceInteraktion zu nennen, denen sich beide widmen. Dabei zeigt sich, dass vieles von dem, was bei Simmel als „Formen“ der ephemeren Wechselwirkung beschrieben wird, bei Goffmann als „Interaktionsrituale“ erscheint. So lässt sich etwa Simmels Behandlung der Dankbarkeit – für ihn eines der „stärksten sozialen Bindemittel“, ohne das die Gesellschaft „auseinanderfallen“ würde (GSG 11: 663) – zwanglos mit Goffmans Analyse von „supportive interchanges“ zusammenführen, womit interpersonelle Rituale wie etwa der Austausch von Dankbarkeitsbekundungen gemeint sind, mittels derer die Akteure ihre soziale Beziehung bestätigen und bekräftigen.19 Simmel ist in seiner Beschreibung psychologischer und bewegt sich rasch zwischen seinem Beispiel und sehr prinzipiellen Aussagen („Aller Verkehr der Menschen beruht auf dem Schema von Hingabe und Äquivalent“) hin und her. Goffman bezieht sich zwar unter Verweis auf Marcel Mauss ebenfalls auf das Schema von Gabe und Gegengabe, er ist jedoch insgesamt interaktionistischer und eher an der Formenvielfalt dieses spezifischen Typs von interpersonellem Austausch interessiert – und fast könnte man sagen, er ist in der Umsetzung der Formenanalyse Simmelianischer als Simmel selbst. Die Parallele, die hier zwischen Simmel und Goffman am Beispiel der Interaktionsform Dankbarkeit gezogen wurde, lässt sich mühelos an anderen mikrosoziologischen Themen wiederholen. Das kann an dieser Stelle nicht im Einzelnen geschehen; andere Autoren haben bereits viele Aspekte dieser Verwandtschaft zwi-
17 Rock, a.a.O., 27. 18 Goffman, a.a.O., 9. 19 Goffman, Relations in Public: Microstudies of the Public Order, New York 1971, 63.
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schen Simmel und Goffman – Uta Gerhardt spricht von „kindred spirit“20 – aufgearbeitet.21 Hier nur einige Linien: – Enge Bezüge kann man etwa beobachten am Thema ‚soziale Beziehungen‘, das für beide Autoren von zentraler Bedeutung ist – von Simmels „Kreuzung sozialer Kreise“ führt ein kurzer Weg zu Goffmans „footing“, die „quantitative Bestimmtheit der Gruppe“ führt zu Goffmans „participation framework“. Beide beschäftigen sich in diesem Zusammenhang mit der Dimension Nähe/Ferne und untersuchen die Gestaltung sozialer Beziehungen im Hinblick auf die Regulation von sozialer Distanz. – Ein benachbartes Thema betrifft das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit, bei Simmel behandelt unter dem Stichwort „Geheimnis“, bei Goffman enthalten in der berühmt gewordenen Unterscheidung zwischen Vorderbühne und Hinterbühne. – Simmels Überlegungen zur Ausbildung von Individualität finden ihre Entsprechung in Goffmans Analysen der Selbstpräsentation und des „impression management“. – Was Simmel unter dem Konzept der „ideellen Sphäre“ diskutiert, deckt oder ergänzt sich in vielem mit Goffmans Ausführungen zum „ritual space“.22 – Offensichtlich ist auch, dass beide Autoren die Bedeutung von sozialen Affekten für den Prozess der Vergesellschaftung erkannt und diesem Thema – bei Simmel etwa Treue und Neid, bei Goffmann Verlegenheit – intensive Studien gewidmet haben. Eine weitere Parallele zwischen Simmel und Goffman scheint zunächst oberflächlicher Art zu sein, betrifft aber eine tiefere, eher subkutane Verbindung zwischen diesen beiden Wissenschaftlern. Es ist ja auffällig, dass beide Autoren die Fähigkeit haben, ihre Leser in immer komplexer werdende Argumentationsschleifen zu führen, durch dialektische Sprünge schwindlig zu spielen und durch sanfte aber beständige Perspektivenwechsel regelrecht zu hypnotisieren. Einer der Gründe für diese Wirkung ihrer Texte ist, dass Simmel und Goffman offensichtlich bewusst die Maxime verfolgen, in ihren soziologischen Überlegungen zunächst von der Ebene der Alltagserfahrung und der Alltagssprache auszugehen. So ist für Simmels Soziologie charakteristisch, dass die einzelnen Kapitel mit Überschriften versehen sind, die das jeweilige Thema nicht bereits in soziologischer Fachterminologie (was ja
20 Uta Gerhardt, Of Kindred Spirit: Erving Goffman’s Œuvre and Its Relationship to Georg Simmel, in: A. Javier Trevin (Hg.), Goffman’s Legacy, Lanham 2003, 143-165. 21 Etwa Davis, a.a.O.; Gregory W. H. Smith, Snapshots sub specie aeternitatis. Simmel, Goffman, and Formal Sociology, in: Human Studies 12 (1989), 12-57. 22 Tom Burns, Erving Goffman, London 1992, 39.
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leicht möglich gewesen wäre), sondern – bisweilen bis an die Grenze der Irreführung – alltagssprachlich formulieren, man denke an die Kapitelüberschriften „Der Streit“, „Das Geheimnis“, „Der Arme“. Auf ähnliche Weise hat Goffman in seinen Arbeiten immer wieder Konzepte eingeführt (und dann oft überdehnt), die alltagssprachlich verankert sind und eine hohe Anschauungsqualität besitzen („impression management“, „front stage, back stage“, „interaction ritual“, „frame“, „footing“ etc.).23 Diesem Bezug auf Alltagserfahrung, der sicher mit zum Erfolg der Bücher von Simmel und Goffman beigetragen hat, liegt ein sachliches Motiv zugrunde. Betrachtet man nämlich die entsprechenden Textstellen bei Simmel genauer, stellt man fest, dass dort der Bezug auf die Erfahrungen der Menschen ein wichtiger argumentativer Teilschritt in seiner theoretischen Begründung einer mikrosoziologischen Perspektive ist. So charakterisiert er die unscheinbaren Beziehungsformen als Wechselwirkungsarten, die, „indem sie sich zwischen die umfassenden, sozusagen offiziellen sozialen Formungen schieben, doch erst die Gesellschaft, wie wir sie kennen, zustandebringen“ (GSG 11: 32, meine Hervorhebung, J.B.). Und noch deutlicher heißt es an anderer Stelle über die ‚großen‘ sozialen Institutionen: „Aus den Gebilden der genannten Art, die die herkömmlichen Gegenstände der Gesellschaftswissenschaft bilden, ließe sich das wirkliche, in der Erfahrung vorliegende Leben der Gesellschaft durchaus nicht zusammensetzen“ (ebd., meine Hervorhebung, J.B.). Simmel koppelt also seine Konzeption einer mikroanalytisch ausgerichteten Soziologie mit der alltäglichen Erfahrungswirklichkeit der Gesellschaft, die aus einer institutionalistischen Perspektive allein nicht erfasst werden kann. Diese Anbindung der Soziologie an Alltagserfahrung hat Simmel selbst nicht explizit begründet; das hat systematisch und in kritischer Auseinandersetzung mit Webers Sinnbegriff erst Jahrzehnte später Alfred Schütz getan und in seine bekannte Formel von den „first and second order constructs“ komprimiert.24 In der Soziologie, so das Argument von Schütz, trifft der wissenschaftliche Beobachter immer schon auf andere Beobachter. Damit ist es nicht mehr der soziologische Beobachter, der die Einheit seines Gegenstands herstellt, vielmehr widersetzt sich der eigenmächtige Gegenstand der Soziologie der Einheitsbildung der erkennenden Vernunft. Schütz verlagert damit die Einheitsbildung des Sozialen in den Gegenstands-
23 In den deutschen Übersetzungen geht diese Qualität von Goffmans Arbeiten oft verloren, so etwa wenn die Kapitelüberschrift „Keys and Keying“ aus dem Buch Frame Analysis auf Deutsch „Moduln und Modulationen“ heisst. Umgekehrt gilt für Simmel, dass die suggestive Wirkung seiner Texte in den englischen Übersetzungen kaum mehr zu spüren ist. 24 Alfred Schütz, Common-Sense and Scientific Interpretation of Human Action, in: Ders., Collected Papers I: The Problem of Social Reality, The Hague 1971, 3-47.
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bereich der Soziologie – und genau auf dieser Linie argumentiert, wie Kurt Röttgers nachweist,25 auch Simmel in kritischer Absetzung von Kant: „Die entscheidende Differenz der Einheit einer Gesellschaft gegen die Natureinheit aber ist diese: dass die letztere – für den hier vorausgesetzten Kantischen Standpunkt – ausschließlich in dem betrachtenden Subjekt zustande kommt, ausschließlich von ihm an und aus den an sich unverbundenen Sinneselementen erzeugt wird, wogegen die gesellschaftliche Einheit von ihren Elementen, da sie bewusst und synthetisch aktiv sind, ohne weiteres realisiert wird und keines Betrachters bedarf. Jener Satz Kants: Verbindung könne niemals in den Dingen liegen, da sie nur vom Subjekte zustande gebracht wird, gilt für die gesellschaftliche Verbindung nicht, die sich vielmehr tatsächlich in den ‚Dingen‘ – welche hier die individuellen Seelen sind – unmittelbar vollzieht“ (GSG 11: 43).
Simmels Formulierung von der „Gesellschaft, wie wir sie kennen“, und seine auffällige Verwendung alltagssprachlicher Bezeichnungen als Kapitelüberschriften richten sich also implizit gegen eine Soziologie, die glaubt, ihre Kategorien und Beschreibungseinheiten autonom nach Art der Naturwissenschaften festlegen zu können, unbesehen der Tatsache, dass den sozialwissenschaftlichen Beobachtungen und Kategorien immer schon Alltagsbeobachtungen und -kategorien vorangehen. Für Goffman war die methodologische Bedeutung der Alltagserfahrung durch seine Sozialisation in der Tradition der Chicago School von Beginn an ein Grundpfeiler seiner Soziologie. Zugang zur Alltagserfahrung der von ihm beobachteten Akteure zu finden, war für ihn ein essentieller Bestandteil des Forschungsprozesses, weshalb er für einige seiner Werke mehrjährige Feldforschungsaufenthalte absolvierte.26 In seinem späteren Buch Frame Analysis (1974) hat Goffman dann unter Bezug auf Alfred Schütz die Organisation – die Mechanismen und Stile – der Alltagserfahrung untersucht, also jene interpretativen und synthetisierenden Leistungen der Akteure, die Simmel meint, wenn er sich auf das „in der Erfahrung vorliegende Leben der Gesellschaft“ bezieht.27 Die Rekonstruktion von Bezügen zwischen Simmel und Goffman hat nicht das Ziel, Simmel in Goffman hineinzukopieren (oder umgekehrt), sondern auf Entsprechungen zu verweisen, die die Präsenz Simmels in einem Werk sichtbar werden lassen, das für eine interaktionistische Mikrosoziologie von paradigmatischer Bedeutung ist. Trotz dieser inhaltlichen Nähe sind, wie erwähnt, Verweise auf Simmel
25 In diesem Band. 26 „I think you should spend at least a year in the field“, bemerkte Goffman einmal in einem Vortrag, ders., On Fieldwork (transcribed and edited by Lyn H. Lofland), in: Journal of Contemporary Ethnography 18 (1989), 123-132, hier 130. 27 Zur Erfahrungskategorie bei Simmel und Goffman auch Davis, a.a.O, 369f.
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in Goffmans Texten rar. Diese Beobachtung trifft nun in besonderem Maß auf die Generation von Mikrosoziologen nach Goffman zu. Auch die Schüler Goffmans (u.a. Harvey Sacks, David Sudnow) und deren Schüler haben sich mit Themen befasst, die sich zumeist bereits bei Simmel finden, und sie haben soziale Interaktionsvorgänge in erster Linie im Hinblick auf ihre formalen Elemente untersucht. Doch bis auf knappe Verbeugungen – Harvey Sacks über Simmel: „[O]ne of the greatest of all sociologists“28 – wird ihm selten Reverenz erwiesen.29 So hat sich z.B. Charles Goodwin, ein Schüler Erving Goffmans und Harvey Sacks‘, in mehreren Arbeiten mit der Rolle des Blicks und des Blickkontakts in der sozialen Interaktion befasst. Er beginnt seine Untersuchung30 mit einem längeren Zitat aus dem „Exkurs über die Soziologie der Sinne“, in dem Simmel die Stellung und Funktion des Auges untersucht: „Unter den einzelnen Sinnesorganen ist das Auge auf eine völlig einzigartige soziologische Leistung angelegt: auf die Verknüpfung und Wechselwirkung der Individuen, die in dem gegenseitigen Sich-Anblicken liegt. Vielleicht ist dies die unmittelbarste und reinste Wechselbeziehung, die überhaupt besteht. […] Die höchst lebendige Wechselwirkung, in die der Blick von Auge in Auge die Menschen verwebt, kristallisiert zu keinerlei objektivem Gebilde, die Einheit, die er zwischen ihnen stiftet, bleibt unmittelbar in das Geschehen, in die Funktion aufgelöst. [...] Und so stark und fein ist diese Verbindung, dass sie nur durch die kürzeste, die gerade Linie zwischen den Augen getragen wird, und dass die geringste Abweichung von dieser, das leiseste Zurseitesehen, das Einzigartige dieser Verbindung völlig zerstört. […] Man kann nicht durch das Auge nehmen, ohne zugleich zu geben. Das Auge entschleiert dem Andern die Seele, die ihn zu entschleiern sucht. Indem dies ersichtlich nur bei unmittelbaren Blick von Auge in Auge stattfindet, ist hier die vollkommenste Gegenseitigkeit im ganzen Bereich menschlicher Beziehungen hergestellt“ (ebd.: 723f.).
Doch dies ist nur das Sprungbrett für Goodwin, der im Folgenden auf der Grundlage von Videoaufzeichnungen authentischer Interaktionsepisoden eine genaue Analyse der Blickkoordination und Reziprozität zwischen Interagierenden durchführt.
28 Harvey Sacks, Lectures on Conversation, hg. von Gail Jefferson, Oxford 1992, Bd. 2, 132. 29 Das trifft auch auf neuere mikrosoziologische Lehrbücher zu, etwa Peter Bull, Communication Under the Microscope. The Theory and Practice of Microanalysis, New York 2002. 30 Charles Goodwin, Conversational Organization. Interaction between Speakers and Hearers, New York 1981, 29f. Goodwin zitiert aus der englischen Übersetzung dieses Exkurses, die unter dem Titel „Sociology of the Senses: Visual Interaction“ in dem Band von Park und Burgess, a.a.O., 356-361, erschienen ist.
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Auch er kommt zu dem Ergebnis, dass das Auge nicht nur nimmt, sondern immer auch gibt. Doch dort wo Simmel poetisch beschreibt, was das Auge seinem Gegenüber offenbart, zeigt Goodwin, dass das Auge und die Blickrichtung des Zuhörers demjenigen, der gerade spricht, indiziert, ob seine Aufmerksamkeit auf den Sprecher gerichtet ist. Man könnte also sagen: Dort, wo bei Simmel steht: „Das Auge entschleiert dem Andern die Seele, die ihn zu entschleiern sucht“, würde es bei Goodwin heißen: ‚Das Auge entschleiert dem Andern, ob er bei der Sache ist‘. Auf die gleiche Weise wie am Beispiel der soziologischen Bedeutung des Auges ließen sich nun für andere ‚kleine‘ Interaktionsereignisse – das Schweigen, die Diskretion, den Streit, die Lüge, die Geheimhaltung, die Geselligkeit, räumliche Nähe und Distanz, Unterschied zwischen mündlichem und schriftlichem Verkehr, Einfluss der quantitativen Größe der Gruppe u.a.m. – Parallelen, vor allem aber auch Unterschiede zwischen Simmels Untersuchungen und der heutigen Mikrosoziologie aufzeigen. Worin aber liegen diese Unterschiede? An welchen Punkten hat sich die heutige Mikrosoziologie von Simmel entfernt? Aus welchen Gründen? Und was könnte eine Rückbesinnung auf Simmel der Mikrosoziologie heute noch bringen?
4. S IMMELS B EDEUTUNG
FÜR DIE
M IKROSOZIOLOGIE
HEUTE
Für die Mikrosoziologie, die sich heute für die ephemeren sozialen Wechselwirkungsarten interessiert, sind Simmels mikroanalytische Untersuchungen im Prinzip nur noch als Inspirationsquelle von Bedeutung, keineswegs mehr als Modell. Für diese Abkühlung der Beziehung zwischen der heutigen Mikrosoziologie und ihrem Begründer gibt es mehrere Gründe, von denen der wichtigste, der im Folgenden als erster erörtert werden soll, den methodologischen Status der Empirie betrifft. Simmel entwickelt ja seine Soziologie – und gerade seine Mikrosoziologie – nicht primär als theoretische Konstruktion, sondern über die Untersuchung einzelner sozialer Phänomene. Und obwohl diese Phänomene – der Schmuck, der Brief, die Dankbarkeit, die Unterordnung – für die Leser sehr real sind und im Text als Erfahrungsgegenstände evoziert werden, haben sie doch nicht den Status von empirischen Objekten. Das ist durchaus auch an Simmels Beschreibungen selbst zu erkennen, die keine „dichten Beschreibungen“ (Geertz) sind, also nicht das Ziel verfolgen, den Erscheinungsreichtum eines sozialen Sachverhalts detailliert zu repräsentieren, sondern sehr rasch Soziologie als „abstrahierende Wissenschaft“ (ebd.: 620) betreiben – gerade auch an den vermeintlich empirischen Beispielen. Simmel widmet der hyletischen Erscheinung seiner Beispiele wenig Aufmerksamkeit, er kümmert sich nicht um deren Morphologie, liefert keine ethnographischen Beobachtungsprotokolle, sondern er richtet sein Augenmerk rasch auf das Funktionelle
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und auf abstrahierende Prinzipien, die er aus den Beispielen zieht. Zur Begründung für diese unempirische Sichtweise auf empirische Beispiele verweist Simmel auf die Parallele zwischen formaler Soziologie und Geometrie, die von den empirisch vorliegenden Formen materieller Inhalte abstrahiert und nur die ideellen Raumformen der Körper erforscht (ebd.: 25), und er stellt pointiert fest: „Darf ich es, um der methodischen Klarheit willen, etwas übertrieben ausdrücken, so kommt es nur darauf an, dass diese Beispiele möglich, aber weniger darauf, daß sie wirklich sind […], sind sie doch nur der an sich irrelevante Gegenstand einer Analyse, und die richtige und fruchtbare Art, wie diese vollzogen wird, nicht die Wahrheit über die Realität ihres Objektes, ist dasjenige, was hier entweder erreicht oder verfehlt ist. Prinzipiell wäre die Untersuchung auch an fingierten Schulbeispielen zu führen und für ihre Wirklichkeitsbedeutung auf das jeweilige Tatsachenwissen des Lesers zu verweisen gewesen“ (ebd.: 65).
Simmel untersucht also in seinen Analysen keine empirischen Einzelfälle, vielmehr benutzt er soziale Phänomene als austauschbare Beispiele, um an ihnen exemplarisch Formen und Dynamik von Wechselwirkungen aufzuzeigen. Nun sind aber Simmels Untersuchungsgegenstände keineswegs nur Anlass für die Demonstration seines theoretischen Ansatzes, seine materialen Analysen vermitteln sehr wohl tiefe Einblicke in die jeweils spezifischen Wirklichkeitsausschnitte und haben insofern auch einen hohen empirischen Gehalt. Damit entsteht aber eine Unsicherheit über den methodologischen Status seiner ‚empirischen‘ Beispiele und es bleibt die Frage, wie denn eine Simmelʼsche Untersuchung, die ihre Phänomene nicht bloß als „an sich irrelevante Gegenstände“ betrachtet, aussähe. Dies ist der Punkt, an dem sich die heutige Mikrosoziologie ephemerer Vergesellschaftungsformen am weitesten von Simmels Untersuchungspraxis entfernt hat. Die heutige Mikrosoziologie ist bewusst – und selbstbewusst – empirisch aufgestellt. Ihr genügt es gerade nicht, zur Wirklichkeitsbedeutung eines Untersuchungsobjekts „auf das jeweilige Tatsachenwissen des Lesers zu verweisen“. Im Gegenteil, sie misstraut dem vorgegebenen Wissen des Lesers wie des Forschers und beobachtet das soziale Geschehen, ohne es auf die vom Alltagswissen angebotenen Typisierungen und Schemata zu verdichten. Die heutige Mikrosoziologie will sich in der Forschung von ihrem Gegenstand überraschen lassen, sie ist kontingenzfreudig und auf Entdeckung aus. Interessant ist, dass Simmel bereits eine grundsätzliche Schwierigkeit einer solchen empirisch eingestellten Mikrosoziologie identifiziert hat: Ephemere Vergesellschaftungsprozesse entziehen sich der Beobachtung durch den Forscher, denn ihre prinzipielle Eigenschaft der Flüchtigkeit ist das, „was die wissenschaftliche Fixierung solcher unscheinbaren Sozialformen erschwert“ (ebd.: 33). Um Vorgänge, die in kürzester Zeit ablaufen und keine materialen Spuren hinterlassen haben, zum Gegenstand von Beobachtung machen zu können, ist die Wissenschaft auf rekons-
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truierende Beschreibungen angewiesen, oder genauer: sie war zu Simmels Zeit darauf angewiesen. Simmel selbst aber hatte ja am Beispiel des Mikroskops darauf hingewiesen, dass das wissenschaftliche Erkenntnispotential durch technische Innovationen enorm erweitert werden kann. Die Rolle, die nach Simmels Ansicht (ebd.: 34) das Mikroskop in der Biologie gespielt hat, hat für die Nach-Simmelʼsche Mikrosoziologie die audiovisuelle Reproduktionstechnik eingenommen. Kontinuierliche Ton- und Bildaufzeichnungen lösen zumindest teilweise das Problem, wie man des transitorischen sozialen Geschehens habhaft werden kann. Ebenso wie das Mikroskop für die Biologie eröffnen die Techniken der audiovisuellen Reproduktion für die Mikrosoziologie ganz neuartige Möglichkeiten der Einsicht in die innere Konstitutionslogik mikrosozialer Vorgänge. Vor diesem Hintergrund ist eigentlich erstaunlich, dass Simmel, der sicher über die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich entwickelnde Technik der Ton- und Bildaufzeichnung informiert war und Darwins Emotions-Buch kannte, diese technische Möglichkeit der ‚wissenschaftlichen Fixierung unscheinbarer Sozialformen‘ nicht reflektiert hat. Audio- und Videoaufzeichnung flüchtiger Abläufe lassen die minutiöse Analyse von sozialen Abstimmungs- und Koordinationsaktivitäten im sprachlichen und nicht-sprachlichen Bereich zu. Und es sind nicht zuletzt die Möglichkeiten dieser Technik, die die Mikrosoziologie nach Simmel haben ‚empirisch‘ werden lassen.31 Rolle und Bedeutung der Aufzeichnungstechnologie verweisen auf eine weitere Schwierigkeit mit Simmels Begründung der Mikrosoziologie. Entgegen seiner Mikroskopiemetapher ist bei der Analyse von Vergesellschaftungsprozessen nicht deren Größenordnung das entscheidende Problem, sondern deren Zeitlichkeitsstruktur. Die audiovisuellen Reproduktionsmedien fungieren nicht als Vergrößerungsinstrumente, sondern als Zeitmaschinen. Sie gestatten es dem Sozialforscher, ein sich ereignendes soziales Geschehen, das mit seinem Ablauf vorüber ist und keine materiale Spur hinterlässt, in seinem realen zeitlichen Ablauf zu bewahren und gleichzeitig dessen Temporalstruktur in beliebiger und reversibler Weise zu manipulieren. Die visuelle Erkenntnismetaphorik bei Simmel ist deshalb problematisch, weil sie bei der Analyse von audiovisuellen Aufzeichnungen einem naiven Empirismus Vorschub leistet, da sie das entscheidende konstruktive Moment der zeitlichen Reorganisation eines flüchtigen sozialen Geschehens ausblendet. Dazu kommt als weiteres Problem, dass sich in Simmels Texten auch im Hinblick auf den theoretischen Status von Mikro-Prozessen gewisse Ambivalenzen
31 Dazu Jörg Bergmann, Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozialer Wirklichkeit: Aufzeichnungen als Daten der interpretativen Soziologie, in: Wolfgang Bonß, Heinz Hartmann (Hg.), Entzauberte Wissenschaft. Zur Relativität und Geltung soziologischer Forschung, Göttingen 1985, 299-320.
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zeigen.32 So schreibt er von den mikroskopisch-molekularen Vorgängen, dass sie „das wirkliche Geschehen sind, das sich zu jenen makroskopischen, festen Einheiten und Systemen erst zusammenkettet oder hypostasiert“ (ebd.: 33). An anderer Stelle heißt es von den minimalen Beziehungen zwischen Menschen, dass „von deren kontinuierlicher Wiederholung all jene großen, objektiv gewordenen, eine eigentliche Geschichte bietenden Gebilde begründet und getragen werden“ (ebd.: 35). Man kann Simmel hier so verstehen, dass er Makrostrukturen auf Mikroprozesse zurückführen möchte, also für einen mikrosoziologischen Reduktionismus plädiert – eine Lesart, die auch andere Formulierungen Simmels nahe legen, so etwa, wenn er argumentiert, dass die „geringfügig erscheinenden Beziehungsformen […] erst die Gesellschaft, wie wir sie kennen, zustandebringen“ (ebd.: 32). Und selbst einen psychologischen Reduktionismus nach Art der Rational Choice-Theorie könnte man vermuten, wenn man liest, dass die „Wechselwirkungen zwischen den Atomen der Gesellschaft […] nur der psychologischen Mikroskopie“ (ebd.: 33) zugänglich sind. Ganz im Gegensatz zu den Formulierungen in diesen Passagen löst sich der Dualismus von Mikro und Makro – und die Reduktionismusvermutung – auf, sobald man mit der Lektüre der materialen Untersuchungen Simmels beginnt. Hier werden dann scheinbar feste und starre Strukturen in Prozessen und Beziehungsdynamiken beschrieben und für soziale Interaktionsvorgänge zeigt Simmel, wie sie, etwa am Beispiel der Treue, ihre Flüchtigkeit verlieren und auf Dauer gestellt werden. Die Mikro/Makro-Unterscheidung spielt dann nicht nur keine Rolle mehr, sie wäre sogar zum Verständnis von Simmels Soziologie hinderlich. Vermutlich wäre die Soziologie insgesamt gut beraten, die von Simmel in die Welt gesetzte Mikro-MakroDichotomie weitgehend zu vergessen und durch andere Unterscheidungen zu ersetzen.33 Ein letzter zu nennender Grund für das verhältnismäßig geringe Interesse der heutigen Mikrosoziologie an Simmels Arbeiten liegt in gewissen Versäumnissen Simmels in der Entwicklung seiner mikroanalytischen Perspektive. So finden sich etwa in dem Kapitel aus der Soziologie über den „Raum und die räumlichen Ordnungen“ kaum Überlegungen, die das Thema des Raums auf Mikroprozesse in den sozialen Wechselwirkungen beziehen würden, Prozesse, die etwa die räumliche Distanz, das räumliche Arrangement, die Bedeutung räumlich-architektonischer
32 Frisby, a.a.O., 33ff. 33 Man könnte etwa an Luhmanns Unterscheidung verschiedener Ebenen der Systembildung, Interaktion – Organisation – Gesellschaft denken, oder auch an das Konzept des „methodischen Situationismus“ von Karin Knorr-Cetina, The Micro-Social Order: Towards a Reconception, in: Nigel G. Fielding (Hg.), Actions and Structure. Research Methods and Social Theory, London 1988, 21-53.
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Gegebenheiten für Interaktion betreffen. Weiterhin ist erstaunlich, dass Simmel auch das Thema Zeit, dem er in seinen historisch-methodischen Arbeiten so viel Aufmerksamkeit geschenkt hat, nicht auch aus einer mikroanalytischen Perspektive betrachtet hat. Seine Überlegungen zum Tempo des Lebens, zur Beschleunigung, zur Rhythmik, die sich in seinem Großstadt-Essay (GSG 7: 116-131) und im letzten Kapitel der Philosophie des Geldes finden, sind primär kultursoziologischer Art. Doch das von ihm herausgestellte Merkmal der Flüchtigkeit sozialer Ereignisse hätte eine Untersuchung der spezifischen Temporalstruktur ephemerer sozialer Prozesse dringend erforderlich gemacht.34 Und schließlich soll vor dem Hintergrund der Entwicklung der ethnomethodologischen Konversationsanalyse, die trotz ihrer Beschäftigung mit mikro-sozialen Prozesse eine Etikettierung als Mikrosoziologie ablehnt,35 auf eine überraschende Leerstelle in Simmels Soziologie hingewiesen werden: Es gibt bei Simmel keine Auseinandersetzung mit dem Gespräch als einer elementaren Einrichtung flüchtiger sozialer Wechselwirkung, allenfalls seine Studie über die „Geselligkeit“ wäre hier zu nennen, in der auch auf einzelne Gesprächsphänomene – es „gehört zum Wesen der geselligen Unterhaltung, daß sie ihren Gegenstand leicht und rasch wechseln könne“ (GSG 16: 116) – eingegangen wird. Diese Lücke ist umso erstaunlicher, als ja bereits Moritz Lazarus das alltäglichtriviale Gespräch zu einem Gegenstand wissenschaftlicher Analyse nobilitiert und erste Überlegungen über Wettergespräche, Klatsch, Schweigen u.a.m. angestellt hat.36 Aus mehreren Gründen, von denen einige hier erörtert wurden, sind also Simmels Arbeiten für die heutige Mikrosoziologie kaum mehr relevant. Dennoch soll hier zum Abschluss argumentiert werden, dass eine Rückbesinnung auf Simmel gerade für die heutige, an ephemeren Vergesellschaftungsprozessen interessierte Mikrosoziologie lohnenswert sein könnte. Dazu zwei Punkte: Der erste Punkt betrifft die Beobachtung, dass im Zug der Rezeption und Weiterführung der Simmelʼschen Bemerkungen zu den gesellschaftlichen Mikroprozessen eine bemerkenswerte Verengung stattgefunden hat, was nicht zuletzt seinen Grund in der Übersetzung seiner Texte hat. In den englischsprachigen Übersetzungen der Texte Simmels, die seit Ende des 19. Jahrhunderts erschienen sind, wird der
34 Welch große Bedeutung Zeit in der neueren Mikrosoziologie hat, wird erkennbar an der zentralen Stellung der Sequenzanalyse in der Ethnomethodologie. 35 Richard Hilbert, Ethnomethodology and the Micro-Macro-Order, in: American Sociological Review 55 (1990), 794-808, hier 794: „To view ethnomethodology as microsociology is no less incorrect than to view it as macrosociology“. 36 Moritz Lazarus, Über Gespräche, in: Ders., Ideale Fragen, Berlin 1878, 237-264.
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zentrale Begriff der Wechselwirkung mit „interaction“ wiedergegeben.37 Dieser Praxis folgt Jahre später auch Kurt Wolff, der in der Einleitung zu seiner 1950erAuswahledition bemerkt: „The key term ‚Wechselwirkung‘, literally 'reciprocal effect' has been found to have in 'interaction' its contextually closest English equivalent, and has thus been translated throughout the volume“.38 Dies erscheint zunächst als eine durchaus sinnvolle Übersetzung, da ja der sehr allgemeine Begriff der Wechselwirkung auch auf physikalische oder chemische Vorgänge bezogen werden kann, und der Begriff ‚interaction‘ durchaus dafür geeignet ist, auch die Wechselwirkung zwischen Variablen oder physikalischen Größen zu bezeichnen. Allerdings scheint, dass im Lauf der Zeit die Bedeutung des Begriffs ‚interaction‘ mehr und mehr auf ‚social interaction‘ oder ‚Face-to-FaceInteraction‘ eingeschränkt wurde, womit aber der weitere Sinnhorizont, der den Simmelʼschen Begriff der Wechselwirkung kennzeichnet, verloren geht.39 Eine Rückbesinnung auf Simmel könnte in dieser Situation für die Mikrosoziologie bedeuten, sich an bestimmte Merkmale dessen, was der Simmelʼsche Begriff der Wechselwirkung auch impliziert, zu erinnern. Insbesondere erscheint Simmels Analyse von eigendynamischen Wechselwirkungsprozessen, in denen sich Ursache und Wirkung verkehren – die Wehrlosigkeit des Briefs, die zu einer Schutzwehr seines Geheimbleibens wird –, ein Beobachtungs- und Denkmuster zu sein, mit dem sich die Mikrosoziologie gegen behavioristische Entwicklungen schützen kann. Dies führt unmittelbar zum zweiten Punkt. Aufgrund des Einsatzes von Audio- und Videoaufzeichnungen ist die neuere Mikrosoziologie in der Lage, immer feinere Analysen sozialer Interaktionsvorgänge durchzuführen. Während etwa frühere soziologische Untersuchungen zum Thema Humor und Lachen auf Umschreibungen bzw. auf die Beschreibung von interaktiven Konstellationen und Episoden angewiesen waren, lassen sich heute einzelne Lachpartikel sowie nichtsprachliche und parasprachliche Ausdruckselemente wie etwa Intonation, Lautstärke, Rhythmus, Körperbewegungen u.a.m. genau identifi-
37 Den Begriff ‚Interaktion‘ verwendet Simmel an keiner Stelle in seinen Schriften, der Begriff ‚Kommunikation‘ taucht in der Soziologie genau einmal – in einem ganz nebensächlichen Zusammenhang – auf, GSG 11: 758. 38 The Sociology of Georg Simmel, a.a.O., LXIV. 39 Aus ‚interaction‘ wurde dann im Re-Import nach Deutschland ‚Interaktion‘. Wenn also heute in der deutschsprachigen Soziologie von ‚Interaktion‘ die Rede ist, verbirgt sich dahinter – für die meisten nicht erkennbar – auch Simmels Begriff der Wechselwirkung. Im Übrigen findet sich hier eine Parallele zu Alfred Schütz: Aus dem Begriff ‚Aufbau‘ – Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, Wien 1932 – wurde im Amerikanischen „construction“ (Berger/Luckmann), woraus dann in der Rückübersetzung „Konstruktion“ bzw. ‚Konstruktivismus‘ wurde.
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zieren. Auf diese Weise kann gezeigt werden, dass der scheinbar so anarchische, chaotische und ungeordnete Vorgang des Lachens in hohem Maße durch soziale Koordination und wechselseitige Abstimmung gekennzeichnet ist. Ebenso wie das Lachen kann auch jeder andere mikrosoziale Untersuchungsgegenstand immer weiter zergliedert – d.h. verlangsamt – werden, die Analyse kann immer tiefere Schwelle der Zerkleinerung unterschreiten. Ein Blick auf die Geschichte der mikrosoziologischen Analysen zeigt nun, dass sich mit der Entwicklung von Aufzeichnungstechnologien bei der wissenschaftlichen Interpretation fixierter sozialer Interaktionsvorgänge eine Detaillierungsdynamik entwickelt, die bisher eher selten wahrgenommen oder reflektiert wird. Überraschenderweise können nun gerade an diesem Punkt einige Überlegungen Simmels hilfreich sein. Simmel hat in seinem Essay über „Das Problem der historischen Zeit“ von 1916 einige der erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten behandelt, vor die sich jede Historiographie gestellt sieht. Ausgangspunkt seiner zentralen These ist die Gegenüberstellung von ‚Geschehen‘ und ‚Geschichte‘: Während das wirkliche, erlebte ‚Geschehen‘ sich seiner Form nach durch Kontinuität und Stetigkeit auszeichnet, zerteilt die ‚Geschichte‘ dieses Geschehen unvermeidlich in diskontinuierliche Teilbilder, die gleichsam um je einen zentralen Begriff herum geronnen sind. Sobald aber die historischen Inhalte unter einem solchen Begriff zusammengefasst sind und als jeweilige Einheit gelten (z.B. die „Schlacht von Zorndorf“), nehmen sie wieder die Form der erlebten Wirklichkeit – Stetigkeit und Kontinuität – an. Beginnt man jedoch, nach den Bestandteilen und dem wirklichen Ablauf des unter einer solchen begrifflichen Einheit zusammengefassten Geschehens zu fragen, beginnt damit auch die Stetigkeit dieses Geschehens sich aufzulösen: „In dem Maße aber, in dem wir an jeder solchen Einheit die immer spezialisierendere, immer genauer sehende Funktion des Erkennens üben, zerfällt sie in lauter Diskontinuitäten, deren jede einzelne zunächst wieder als kontinuierliche Dauer gemeint ist, bis das fortschreitende Erkennen auch an ihr die gleiche Zerspaltung und damit die gleiche Entlebendigung vollzieht“ (GSG 15: 301).
Je weiter man nun diesen Prozess der Zertrümmerung treibt, d.h. je exakter man die Dinge , ‚wie sie wirklich gewesen sind‘, zu bestimmen sucht, um so eher wird eine Schwelle der Zerkleinerung unterschritten, unterhalb derer die einzelnen Geschehensatome "ein zu geringes Quantum eigenen Sinnes" (Simmel) haben und nicht mehr in den Gesamtverlauf eingefügt werden können: „Es scheint ein allgemeines Prinzip zu bestehen, daß das Zerfällen einer Erscheinung in Elemente, als deren Summe sie dann wieder begriffen werden soll, bei einer bestimmten Stufe der Zerkleinerung die Individualität der Erscheinung aufhebt“ (ebd.: 302). Simmel sieht daher die geschichtliche Erkenntnis von einer tiefen Antinomie gekennzeichnet: Erfasst sie ein vergangenes Geschehen durch großflächige, einheitsstiftende Begrif-
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fe, so bildet deren ideelle Kontinuität zwar die Form des Geschehens nach, doch dessen wirklicher Verlauf bleibt in seinen einzelnen Elementen unerreichbar; werden dagegen die Ereignisse, wie sie wirklich gewesen sind, in realistischer Manier – bis zur „Muskelzuckung jedes Soldaten“ – nachgezeichnet, bleibt dabei die Kontinuität des realen Geschehens auf der Strecke. Diese von Simmel beschriebene Antinomie identifiziert ein erkenntnistheoretisches Problem, das sich in hohem Maße gerade für die heutige technisch hochgerüstete Mikrosoziologie stellt, die sich tendenziell hin zu einer Nano-Soziologie entwickelt. In dem Moment, in dem sie nicht mehr Beschreibungen von intuitiv leicht zugänglichen Alltagserfahrungen als einzige empirische Grundlage nimmt, sondern technische, audio-visuelle Fixierungen von sozialen Interaktionsvorgängen, kommt das Problem auf sie zu, an welchem Punkt sie eine Schwelle der Zerkleinerung unterschreitet und nur mehr einzelne Geschehensatome ohne Sinn vor sich hat. Eine Auseinandersetzung mit diesem Problem steht der Mikrosoziologie noch bevor. Dass sie sich an diesem Punkt bei ihrem halb-vergessenen Begründer Rat holen kann, zeigt vielleicht, wie sehr Simmels Überlegungen immer noch Bestandteil der Idee einer Mikrosoziologie sind.
Soziale Differenzierung im Werk Georg Simmels – mit besonderem Blick auf Wilhelm Dilthey M ARTIN P ETZKE
Friedrich Tenbruck hat Georg Simmel im Jahre 1958, hundert Jahre nach dessen Geburt und fünfzig Jahre nach dem Erscheinen seines soziologischen Hauptwerks, einen programmatischen Artikel gewidmet. Darin findet sich die These einer Kontinuität des Simmelʼschen Schaffens mit den Arbeiten Wilhelm Diltheys.1 Im Blick ist dabei vor allem Diltheys Einleitung in die Geisteswissenschaften, die Tenbruck zufolge „auch als eine, wenngleich besondere Theorie der Gesellschaft auftritt“.2 Diese führt eine Differenzierung in Kultursysteme vor, etwa Kunst, Wissenschaft und Religion, die in ihrer geschichtlichen Verwirklichung eigene Sachlogiken entfalteten, ihren Ausgangspunkt nehmend von den ‚Wechselwirkungen‘ der Individuen (ursprünglich eine Formulierung Diltheys): „Sie strukturieren somit einen Handlungsraum, und alle individuellen Motive können sich nur in diesem bewegen und verwirklichen, so daß sie ihn auch allemal erhalten“.3 Es ist dieser Gedanke, den Tenbruck auch in Simmels formaler Soziologie am Werk sieht. Hier sind es die Formen, die als ‚gesellschaftliche Struktur‘ in analoger Weise die Vorverständnisse der Individuen integrieren und einen gemeinsamen Handlungshorizont schaffen. Die Untersuchung solcher „Regelmäßigkeiten in der Bezogenheit der Handlungen mehrerer“ kann damit, so das Simmelʼsche Programm, von den individuellen Motivationen, den Inhalten, absehen.4 Was dabei die Simmelʼsche Soziologie Tenbruck zufolge von Diltheys Konzeption trennt, ist die Tatsache, dass das Individuum nun nicht mehr ‚unmittelbar‘ zur objektiven Kultur ist; diese tritt ihm vielmehr als Teil 1
Friedrich Tenbruck, Georg Simmel (1858-1918), in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 10 (1958), 587-614.
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A.a.O., 595.
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von aufeinanderbezogenen Rollenstrukturen gegenüber – den Formen in der Lesart Tenbrucks. Das 100. Jubiläum der ‚großen‘ Soziologie mag nun ein Anlass sein, den Kontinuitäten zwischen den Werken Diltheys und Simmels erneut nachzugehen. In jüngerer Zeit ist Dilthey nicht nur als Vorläufer Simmels, sondern auch als Ideengeber einer Differenzierungstheorie etwa systemtheoretischer Provenienz ins Gespräch gebracht worden.5 Es mag sich also lohnen, gerade differenzierungsbezogen noch einmal genauer hinzusehen. Denn so oft auch die Verpflichtungen Simmels der Diltheyʼschen Philosophie gegenüber Berücksichtigung und Erwähnung gefunden haben6 – die differenzierungstheoretischen Parallelen in den Werken sind dabei nur selten in voller Konsequenz herausgearbeitet worden. Auch der vorliegende Text kann hierzu nur einen bescheidenen Beitrag leisten. Im Vordergrund sollen dabei die differenzierungstheoretischen Aspekte des Simmelʼschen Œuvres stehen. Auf Kontinuitäten zum Werk Diltheys wird jedoch durchgehend geachtet, wie auch die auffällige Nähe zu systemtheoretischen Argumentationsfiguren, die von der Aktualität Simmels Zeugnis gibt, hier gelegentlich zur Sprache kommt. In einem ersten Teil gilt es zunächst, die zentralen differenzierungstheoretischen Gesichtspunkte der Diltheyʼschen Schriften zu skizzieren. Dabei kann ich mich in weiten Teilen an die einschlägigen Vorarbeiten von Alois Hahn und Hartmann Tyrell halten. Vor diesem Hintergrund sind dann jene beiden Kapitel Simmels zu würdigen, die der frühen Schrift Über sociale Differenzierung entstammen und in erheblich erweiterter Form in das voluminöse soziologische Hauptwerk von 1908, die hier zu würdigende ‚große‘ Soziologie, Eingang gefunden haben. Dabei ist auch im Blick zu behalten, inwieweit in der Revision der Kapitel dem formalsoziologischen Programm Rechnung getragen wird. Abschließend soll die Aufmerksamkeit der Kulturphilosophie Simmels gelten, die ohne Zweifel die 5
Alois Hahn, Verstehen bei Dilthey und Luhmann, in: Annali di Sociologia 8 (1992), 421430; ders., Die Systemtheorie Wilhelm Diltheys, in: Berliner Journal für Soziologie 9 (1999), 5-24; Hartmann Tyrell, Zur Diversität der Differenzierungstheorie. Soziologiehistorische Anmerkungen, in: Soziale Systeme 4 (1998), 119-149.
6
Uta Gerhardt, Immanenz und Widerspruch. Die philosophischen Grundlagen der Soziologie Georg Simmels und ihr Verhältnis zur Lebensphilosophie Wilhelm Diltheys, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 25 (1971), 276-292; dies., Die Konzeption des Verstehens und der Begriff der Gesellschaft bei Georg Simmel im Verhältnis zu Wilhelm Dilthey, in: Annali de Sociologia 8 (1992), 245-304; Klaus Christian Köhnke, Die Wechselwirkung zwischen Diltheys Soziologiekritik und Simmels soziologischer Methodik, in: Dilthey-Jahrbuch 6 (1989), 303-326; Horst-Jürgen Helle, Dilthey, Simmel und Verstehen. Vorlesungen zur Geschichte der Soziologie, Frankfurt/M. 1986; Helmut Johach, Handelnder Mensch und objektiver Geist. Zur Theorie der Geistes- und Sozialwissenschaften bei Wilhelm Dilthey, Meisenheim/Glan 1974.
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deutlichere Kontinuität zu dem Diltheyʼschen Gedanken einer Differenzierung in Kultursysteme unterhält.
1. G ESELLSCHAFTLICHE D IFFERENZIERUNG IM W ERK D ILTHEYS Es könnte auf den ersten Blick so scheinen, als stünde es Wilhelm Diltheys geisteswissenschaftlicher Intuition entgegen, ihn als Vorläufer einer soziologischen Differenzierungstheorie in Anspruch zu nehmen. Immerhin bezog Dilthey gerade in der Einleitung gegen die Soziologie, wie sie Comte und Spencer zu jener Zeit vertraten, Stellung. Dies ist allerdings kein Widerspruch, sondern nicht zuletzt eine Konsequenz seiner theoretischen Sensibilität für das Phänomen der Differenzierung.7 Mit seinen ‚Kultursystemen‘, die am Ende eines Differenzierungsprozesses mit ihren eigenen Sachlogiken nebeneinander stehen, setzt Dilthey schließlich Akzente, die den Konzeptionen Comtes diametral sind. Dieser hatte mit seinem fortschrittsgläubigen Dreistadiengesetz stattdessen eine Substitutions- bzw. Sukzessionslogik, also ein Nacheinander von Religion, Metaphysik und Wissenschaft, postuliert.8 Dilthey sah darin nicht zuletzt das Weiterwirken der geschichtsphilosophischen Prätentionen, gesellschaftliche Wirklichkeit auf letzte teleologische ‚Gesetze‘ zurückführen zu können. Diesem Auftreten der Soziologie als Einheitswissenschaft für das ‚Ganze der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit‘ stellt Dilthey eine entsprechende Arbeitsteilung in den Geisteswissenschaften gegenüber. Nur diese werde der Differenzierung in heterogene ‚Kultursysteme‘ gerecht und sei gerade als theoretische „Abspiegelung“9 dieses Verselbständigungsprozesses zu verstehen. Mit Diltheys Sinn für die geschichtliche Gestaltung dieses „wunderbar verschlungene[n] Bau[s]“10 der Gesellschaft sowie für die sich darin offenbarende „Singularität“ und den „Reichtum im Spiel der Wechselwirkungen“11 verbindet sich
7
Dazu Tyrell, a.a.O., 140.
8
Anders als Comte ist Spencer an einer solchen Substitutionslogik unschuldig. Auch von den sozialtechnologischen Ambitionen Comtes distanziert er sich explizit, wenn er auf dem naturwüchsigen, nicht-steuerbaren Charakter der Evolution insistiert; Herbert Spencer, The Works of Herbert Spencer, Osnabrück 1966, Bd. 6: The Principles of Sociology I, 579f. Allerdings trifft ihn mit seiner Annahme von invarianten Evolutionsgesetzen Diltheys Vorwurf einer Fortführung der Geschichtsphilosophie.
9
Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften, Leipzig/Stuttgart 1914ff., Bd. 1: Einleitung in die Geisteswissenschaften, 39.
10 Ebd. 11 A.a.O., 37.
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dementsprechend die Absage an teleologische Fortschrittskonzeptionen und Entwicklungsgesetze nach dem Vorbild der positivistischen Sozialwissenschaften. Eine Darstellung, die dem Diltheyʼschen Werk gerecht wird, kann hier nicht geleistet werden.12 Es gilt lediglich, die wesentlichen differenzierungstheoretischen ‚Pointen‘ Diltheys darzulegen, die das differenzierungsbezogene Gedankengut von Simmel (und auch Weber) maßgeblich prägten. Mit Dilthey sind Grundlagen für eine ‚Gattung‘ von Differenzierungstheorie gelegt, die deutlich andere Akzente setzt, als man sie etwa bei Herbert Spencer und Emile Durkheim findet. In diesem Zusammenhang sind drei Bemerkungen zu machen. Die erste widmet sich der entschieden auf Sinn und Bedeutung abstellenden Differenzierungsperspektive Diltheys. In einem zweiten Punkt ist der Akzent auf die Eigengesetzlichkeit und die Differenz der gesellschaftlichen Bereiche untereinander zu setzen. Abschließend sind dann die Implikationen zu beleuchten, die sich für den Gesellschaftsbegriff ergeben.
Sinn und Bedeutung in der ‚Differenzierungstheorie‘ Diltheys Dilthey unterscheidet zwischen drei Formen von gesellschaftlichen Zusammenhängen: den „Systemen der Kultur“13, der „äußeren Organisation der Gesellschaft“14, schließlich der „natürlichen Gliederung der Menschheit sowie der einzelnen Völker“15. Zu den Kultursystemen zählt Dilthey Kunst, Wissenschaft, Recht, Wirtschaft, Sittlichkeit und Sitte, Sprache, Erziehung und Religion. Ein derartiges System zeichnet sich dadurch aus, dass es unter Maßgabe eines bestimmten in der Natur des Menschen angelegten Zwecks „psychische Akte in den einzelnen Individuen in Beziehung zueinander setzt“.16 Damit wird deutlich, dass Diltheys Systembegriff dem Konzept des Funktionssystems, wie ihn später die Luhmannsche Systemtheorie anbietet, sehr nahe kommt: Hier wie dort geht es um die operationale und vor allem überindividuelle Verknüpfung von Elementen nach bestimmten Sachgesichtspunkten.17 Demgegenüber versteht Dilthey unter der ‚äußeren Organisation der Gesellschaft‘ „Staaten, Verbände, und, wenn man weiter greift, das Gefüge dauernder Bindungen der Willen, nach den Grundverhältnissen von Herrschaft, Abhängigkeit, Eigentum, Gemeinschaft, welches neuerdings in einem engeren Ver-
12 Johach, a.a.O., bietet einen guten Überblick mit besonderer Aufmerksamkeit für den soziologischen Mehrwert der Diltheyʼschen Philosophie. 13 Dilthey, a.a.O., 40. 14 A.a.O., 49. 15 A.a.O., 62. 16 A.a.O., 43. 17 Dazu Hahn, Systemtheorie, a.a.O., passim.
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stande als Gesellschaft im Gegensatz zum Staat bezeichnet worden ist“.18 Auch Kirchen, Körperschaften und Anstalten zählen hierzu.19 Was Dilthey hier vorschwebt, sind tatsächlich-konkrete Organisationsformen der Vergesellschaftung.20 Die Kultursysteme sind in unterschiedlichem Ausmaße auf solche ‚Organisation‘ angewiesen; das Recht ist es im besonders hohen Maße und steht beinahe in einer Zwischenstellung in Bezug auf die Unterscheidung von Kultursystem und äußerer Organisation.21 Wissenschaft und Kunst wiederum zeichnen sich dadurch aus, „daß hinter ihrer Bedeutung die der Verbände, welche sich zur Verwirklichung der künstlerischen und wissenschaftlichen Zwecke gebildet haben, ganz zurücktritt“.22 Dilthey trennt damit die Ausdifferenzierung von spezifischen Sinnmomenten bzw. Bedeutungssystemen sehr deutlich von den Organisationsformen, auf die sie sich in unterschiedlichem Maße stützen, ohne ganz darin aufzugehen; Letztere stehen gewissermaßen quer zu der systemischen „Koordination von selbständigen Einzeltätigkeiten“ nach je eigenen Sinnaspekten.23 Damit liegen die Differenzen zu einer Differenzierungstheorie, wie sie beispielsweise Spencer oder Durkheim vertraten, offen zutage. Spencer etwa hatte in den Principles of Sociology (neben dem an der Organismusanalogie orientierten allgemeinen Kapitel) eine Ausdifferenzierung von „institutions“ beschrieben – den „domestic institutions“, „ceremonial institutions“, „political institutions“, „ecclesiastical institutions“, „professional institutions“ und „industrial institutions“.24 Diese Untersuchung erschöpft sich weitgehend im Nachzeichnen einer zunehmenden Herausdifferenzierung von Rollengefügen und -kompetenzen – ganz im Sinne der allgemeinen Entwicklungsgesetze seiner ‚synthetischen Philosophie‘, die einerseits von einem fortschreitenden Prozess allgemeiner Differenzierung hin zu immer spezielleren Differenzierungen, andererseits vom Übergang „from an incoherent homogeneity to a coherent heterogeneity“ ausgehen.25 Aus der Perspektive des Diltheyʼschen Ansatzes sind nun die Staaten und politischen Verbände, Kirchen und religiöse Körperschaften etc., die bei Spencer als Institutionen auftreten, lediglich als eine untergeordnete Organisationsebene zu verstehen, die den Sinnzusammen18 Dilthey, a.a.O., 43. 19 A.a.O., 65. 20 Es ist exakt diese Stelle, an der die formale Soziologie Simmels mit einer systematischen und katalogisierenden Erörterung solcher Formen anzusetzen weiß, dazu Johach, a.a.O., 66; Hahn, a.a.O., 17. 21 Dilthey, a.a.O., 76ff. 22 A.a.O., 81. 23 Ebd. 24 Spencer, Sociology I, a.a.O., 591ff., a.a.O., Bd. 7: The Principles of Sociology II, 3ff., 229ff., Bd. 8: The Principles of Sociology III, 3ff., 179ff., 321ff. 25 Spencer, a.a.O., Bd. 1: First Principles, 127.
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hang der Kultursysteme bloß ‚trägt‘.26 Dies scheidet den Ansatz auch von der Durkheimschen Theorie der Arbeitsteilung, die überwiegend auf eine Spezialisierung von Berufsfeldern abstellt.27 So konstatiert auch Alois Hahn: „Zum Verständnis Diltheys scheint es mir nun überaus wichtig zu sehen, daß er im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen in England und Frankreich den Ausdifferenzierungsprozeß der Zweckzusammenhänge als Auseinandertreten von kohärenten Sinngefügen begreift und nicht wie jene vor allem als Resultat von Arbeitsteilung, obwohl natürlich auch für Dilthey die Arbeitsteilung eine zentrale Mitursache für Sinndifferenzierungen ist.“28
Die ausdifferenzierten Systeme sind also keine Assoziationen von Individuen, sondern Verkettungen von Sinnereignissen. Im Zuge dieser differenzierten Verknüpfung von Bedeutungen kann selbst ein und derselbe „Lebensakt eines Individuums“ zum Bestandteil ganz verschiedener solcher Zusammenhänge werden. Die Abfassung eines wissenschaftlichen Werks etwa kann „ein Glied in der Verbindung von Wahrheiten bilden, welche die Wissenschaft ausmachen; zugleich ist derselbe das wichtigste Glied des ökonomischen Vorgangs, der in Anfertigung und Verkauf der Exemplare sich vollzieht; derselbe hat weiter als Ausführung eines Vertrags eine rechtliche Seite, und er kann ein Bestandteil der in den Verwaltungszusammenhang eingeordneten Berufsfunktion des Gelehrten sein“.29
Es ist in diesem Zusammenhang zu sehen, dass Dilthey vom Individuum als „Kreuzungspunkt“ der Kultursysteme spricht. Simmel wird diese Formulierung später aufgreifen, wenngleich sein Gedanke vom Individuum als „Kreuzungspunkt sozialer Kreise“ ein etwas anderer ist. Diese Emphase von Sinn und Bedeutung ist eng verbunden mit Diltheys Ablehnung des Positivismus in der Form, wie ihn etwa Comte, Spencer und Mill anbieten. Diese bringen Geschichtlich-Gesellschaftliches unter eine naturwissenschaftliche Perspektive, deren Proprium das Erklären ist. Die Geisteswissenschaften können nach Dilthey ihrem Gegenstand indes nur durch ein Verstehen gerecht werden.30 Dies rührt daher, dass, anders als die Natur, die Gesellschaft uns nicht fremd ist, „da wir in uns selber von innen, in lebendigster Unruhe, die Zustände und Kräf-
26 Die Parallelen zur Luhmannʼschen Ebenenunterscheidung von Organisation und Gesellschaft (neben Interaktion) liegen auf der Hand. So auch Hahn, a.a.O., 18. 27 Emile Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung (1893), Frankfurt/M. 1988. 28 A.a.O., 13. 29 Dilthey, a.a.O., 51. 30 Dilthey, a.a.O., Bd. 5: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens, 144.
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te gewahren, aus denen ihr System sich aufbaut“.31 Entsprechend muss das Studium der Kultursysteme an den „psychischen oder psychophysischen Inhalten“32 des Individuums ansetzen; die Gesellschaft kann gleichsam introspektiv erschlossen werden, da das Individuum selbst Element der zu erforschenden gesellschaftlichen Interaktionszusammenhänge ist. Darüber hinaus kann zum Sinn geschichtlichgesellschaftlicher Prozesse auch im verstehenden Nachvollzug der Innenseite der ‚Lebensäußerungen‘ anderer Persönlichkeiten Zugang gewonnen werden.33 Damit ist allerdings keine individualistische Reduktion des Gesellschaftlichen impliziert. Die Systeme der Kultur beruhen für Dilthey zwar auf „direkten und indirekten Wechselwirkungen von Individuen“;34 sie gewinnen ihre Objektivität allerdings schon allein dadurch, dass sie „Einwirkungen von Individuen, die rasch vergänglich sind, auf eine mehr dauernde oder sich wiedererzeugende Weise aufzubewahren und zu vermitteln“ wissen.35
Eigengesetzlichkeit und Differenz Mit dem zentralen Aspekt der Sinnbasiertheit verbindet sich bei Dilthey eine Eigengesetzlichkeit der Kultursysteme. Dieser Gesichtspunkt kommt schon allein darin zum Tragen, dass Dilthey gerade die Subsumtion einer gesellschaftlichen Totalität unter weltformelhafte, geschichtsphilosophische Gesetze ablehnt und für jedes Kultursystem eine Einzelwissenschaft innerhalb der Geisteswissenschaften vorsieht. Einsichten in das Insgesamt des ‚Geschichtlich-Gesellschaftlichen‘ können somit nur durch einen Durchgang durch die geschiedenen Wissenschaften von der Rechts-, Religions-, Wirtschafts-, und Kunstgeschichte etc. gewonnen werden.36 Die Eigengesetzlichkeit macht sich ferner durch die autonomen und heterogenen Sinnperspektiven der Kultursysteme bemerkbar, wie das oben bereits erwähnte Zitat über die ‚Abfassung eines wissenschaftlichen Werks‘ zeigt: Ein und derselbe Vorgang wird unter verschiedenen Gesichtspunkten in je eigene Zusammenhänge verwoben. Dieser Gedanke einer auf Differenz abstellenden Eigenlogik von ausdifferenzierten Sinnperspektiven findet sich im Spätwerk Diltheys vor allem in Gestalt seiner Weltanschauungslehre wieder. Dabei sind für Dilthey zunächst Unterschiede zwischen den Weltanschauungen durch das Kulturgebiet bedingt, in denen sie auf-
31 Dilthey, Einleitung, a.a.O., 37. 32 A.a.O., 45. 33 Dilthey, a.a.O., Bd. 7: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 205ff. 34 Dilthey, Einleitung, a.a.O., 50. 35 A.a.O., 50f. 36 Johach, a.a.O., 54.
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treten.37 Während Wirtschaft, Recht, der Staat und das gesellschaftliche Zusammenleben sich an „beschränkten Aufgaben“ orientieren, nehmen die Religion, die Poesie bzw. die Kunst und die Metaphysik totalisierende Perspektiven auf das Leben ein. Entscheidend ist dabei, dass für Dilthey etwa die Religion in ihrer Entwicklung hin zur Weltanschauung in Beziehungen zunehmender Gegensätzlichkeit und Differenz zu anderen Weltanschauungen tritt. Die elementare Kategorie des religiösen Lebens ist Dilthey zufolge zunächst der Glaube an eine Wirkungskraft des Unsichtbaren.38 Schließlich wird „der Fortgang zu höheren Stufen durch das religiöse Genie, in den Mysterien, im Einsiedlerleben, im Prophetentum“ vollzogen. Aus den elementaren Ideen entstehen ‚systematisierte‘ religiöse Weltanschauungen und damit verbunden „die Deutung der Wirklichkeit, die Lebenswürdigung und das praktische Ideal“.39 Als solche gerät, in Parallele zu einer Argumentation Webers, die Religion geradezu konstitutiv in einen Konflikt mit der ‚Welt‘: „Und wie nun vom ersten Ansatz ab der Verkehr mit dem Unsichtbaren abgesondert ist von der Arbeit und dem Genuß in den Ordnungen des irdischen gesellschaftlichen Daseins, so sind diese religiösen Weltanschauungen immer im Streit mit der weltlichen Lebensauffassung: in ihr macht sich nun in diesem Widerstreit vielfach ein urwüchsiger Naturalismus geltend: gerade aus dem Gegensatz zu den religiösen Weltanschauungen erhält er seine Energie und Macht.“40 Die Bilder, vermittels derer Dilthey das Verhältnis der Weltanschauungen und ihrer Ansprüche auf Allgemeingültigkeit beschreibt, sind solche des ‚unentscheidbaren Kampfes‘,41 des ‚Widerstreits‘,42 der ‚Antinomie‘ zwischen eigenem Universalitätsanspruch und der Pluralität und Historizität der Systeme43 sowie der ‚Anarchie der Überzeugungen‘.44 Es wird also einerseits eine Ordnung dargestellt, in der Ungleiches sich untereinander in einem Verhältnis der Gleichrangigkeit befindet, so dass eine Hierarchisierung von Weltperspektiven nicht in Frage kommt. Es ist exakt dieser Gesichtspunkt, den Niklas Luhmann im Hinblick auf das Verhältnis der jeweiligen Sinnperspektiven von Funktionssystemen als „Polykontexturalität“ beschreibt.45 Zum anderen liegt Dilthey in der Betonung des konfliktuellen Moments in diesem Verhältnis nahe an
37 Dilthey, a.a.O., Bd. 8: Weltanschauungslehre, 87. 38 A.a.O., 88f. 39 A.a.O., 89. 40 A.a.O., 90. 41 A.a.O., 86. 42 A.a.O., 75. 43 A.a.O., 3. 44 Dilthey, Aufbau, a.a.O., 9. 45 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde., Frankfurt/M. 1997, 88 u. passim.
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Max Webers Metaphorik des ‚Kampfs der Götter‘ und des ‚Polytheismus‘ der Wertsphären.46
Differenzierung und Gesellschaftsbegriff Aus den vorhergehenden Überlegungen wurde bereits deutlich: Dilthey verabschiedet sich in differenzierungstheoretischer Hinsicht von integrationsbezogenen Figuren, wie sie sich etwa bei Spencer oder Durkheim finden. Dies schlägt sich zum einen im Sachverhalt nieder, dass anders als dort bei Dilthey nicht von einer ,Dekomposition‘47 der Gesellschaft in arbeitsteilig-komplementäre Bereiche mit eindeutig zuordbaren Handlungen bzw. Berufsrollen ausgegangen wird. Stattdessen liegt der Akzent auf ausdifferenzierten Sinnperspektiven, die ‚Gesellschaft‘ durchaus auch jeweils in ihrer Gesamtheit in den Blick nehmen können, aber stets nach je eigenen Sachgesichtspunkten. Das schließt Kampf und Konflikt natürlich nicht aus. Entsprechend folgt aus dieser Vorstellung eine explizite Absage an alle Organismusanalogien, wie sie die französische und englische Soziologie zu der Zeit pflegten.48 Von einer Interdependenz der ‚Teile‘ wird hier folglich nicht ausgegangen. Mit der Eigengesetzlichkeit der Systeme und ihren divergenten Sinnperspektiven wird hier umgekehrt auf Interdependenzunterbrechungen abgestellt. Entsprechend ist der Begriff der Gesellschaft bei Dilthey ein verhältnismäßig unambitiöser. Er steht eigentlich nur noch für das Umfassende, für das ‚Worin‘ der Differenzierung von Kultursystemen, äußerer Organisation und Einzelvölkern. Eine Verknüpfung des Gesellschaftsbegriffs mit Kollektiven bzw. ‚Solidargemeinschaften‘, wie sie sich etwa in der Soziologie Durkheims findet, ist hier sichtlich vermieden. Damit ist der weitgehende Verzicht auf den Gesellschaftsbegriff, der die Simmelʼsche und Weberʼsche Soziologie auszeichnet, hier schon vorbereitet, als Gesellschaft in dieser ‚totalisierten‘ Form bei Dilthey insofern „als Analysegegenstand gar nicht mehr in Frage kam“.49 46 Dazu Hartmann Tyrell, „Kampf der Götter“ – „Polytheismus der Werte“. Variationen zu einem Thema von Max Weber, in: Sociogia Internationalis 37 (1999), 157-187, hier 161ff. 47 Zum Begriff des Dekompositionsparadigmas in der Differenzierungstheorie Renate Mayntz, Funktionelle Teilsysteme in der Theorie sozialer Differenzierung, in: Dies. u.a., Differenzierung und Verselbständigung. Zur Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme, Frankfurt/M. 1988, 11-44, hier 14 u. passim; ferner Tyrell, Diversität, a.a.O. 48 Dilthey, Einleitung, a.a.O., 71. 49 Tyrell, a.a.O., 143; dazu auch ders., Max Webers Soziologie – eine Soziologie ohne ‚Gesellschaft‘, in: Gerhard Wagner, Heinz Zipprian (Hg.), Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik, Frankfurt/M. 1994, 390-414.
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Mit den Akzenten auf Ausdifferenzierung von Sinn, auf Eigengesetzlichkeit der gesellschaftlichen Teilbereiche und damit Interdependenzunterbrechung ist ein differenzierungstheoretischer Weg eingeschlagen, der sich deutlich von den auf Differenzierung als kooperativer Arbeitsteilung abzielenden Ansätzen Spencers und Durkheims unterscheidet. Zu zeigen ist, inwieweit dieser Weg bei Simmel seine Fortsetzung findet.
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Simmel liefert zu differenzierungstheoretischen Fragen bereits früh eine einschlägige Monographie mit dem Titel Über sociale Differenzierung. Soziologische und psychologische Untersuchungen (1890). Auch wenn diese bereits vom Einfluss Diltheys zeugt,50 liegt hier der Akzent noch nicht allzu deutlich auf ‚Sinn‘ und der Differenzierung von autonomen Kultursystemen. Auch liegt diese Schrift noch nicht auf der Linie des formalsoziologischen Programms. Dieses sollte erst vier Jahre später im Aufsatz „Das Problem der Soziologie“ skizziert werden. Deshalb ist es überraschend, dass Simmel weite Teile der frühen Monographie später in die ‚große‘ Soziologie übernimmt und sie ausbaut. Das Kapitel „Die Kreuzung sozialer Kreise“ von 1908 beruht hier auf dem gleichnamigen Kapitel in der differenzierungstheoretischen Arbeit; das Kapitel „Die Erweiterung der Gruppe und die Ausbildung der Individualität“ greift auf das dritte Kapitel der Monographie von 1890 mit fast identischem Titel zurück. Es gilt im Folgenden, die Ideen, die aus der frühen Schrift in die ‚große‘ Soziologie Eingang gefunden haben, in ihrer differenzierungstheoretischen Pointierung zu beleuchten – wiederum mit Blick auf das, was zeitgenössisch sonst an Differenzierungsideen in der Soziologie vertreten war. Dabei sind auch einige der Revisionen im Auge zu behalten, die Simmel an den Kapiteln im Zuge ihrer Aufnahme in das Werk von 1908 vollzogen hat.
Die Kreuzung der sozialen Kreise In dem Kapitel über die Kreuzung sozialer Kreise zeichnet Simmel eine entwicklungsgeschichtliche Verlagerung des gruppenbildenden Prinzips von äußerlichen Faktoren wie lokaler Zusammengehörigkeit und familialer Bindung auf stärker sachliche Gesichtspunkte und gemeinsame innere Qualitäten nach. Mit Luhmann
50 Klaus Christian Köhnke, Der junge Simmel – in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen, Frankfurt/M. 1996, 380ff.
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ließe sich hier von einer zunehmenden Privilegierung der Sachdimension gegenüber der Sozialdimension in der Assoziation sprechen: Gegenüber originärer Bindung an bestimmte Personen determinieren modern nun Sachbezüge die Bildung von ‚Kreisen‘. Simmel zufolge ist der evolutionäre Ausgangspunkt dabei nicht segmentäre Gleichheit wie etwa bei Durkheim.51 Im späteren Simmelʼschen Kapitel zur Erweiterung der Gruppe ausführlicher diskutiert, ist der ursprüngliche Zustand vielmehr eine ‚Landschaft‘ von in sich homogenen Gruppen, die untereinander aber höchst verschieden sind; dabei bleibt der Einzelne an diejenigen gebunden, „neben die der Zufall der Geburt ihn gestellt hat“ (GSG 2: 237; GSG 11: 456). Mit der internen Differenzierung der Gruppen kommen dann Ähnlichkeiten der Gruppen untereinander auf.52 Dies macht Assoziationen möglich, die über die Gruppengrenzen hinausgreifen und nun aber gerade das sachlich Homogene zur Vereinigung bringen: „Mit fortschreitender Entwicklung [der Gruppe, M.P.] aber spinnt jeder Einzelne derselben ein Band zu Persönlichkeiten, welche außerhalb dieses ursprünglichen Assoziationskreises liegen und statt dessen durch sachliche Gleichheit der Anlagen, Neigungen und Tätigkeiten usw. eine Beziehung zu ihm besitzen; die Assoziation durch äußerliches Zusammensein wird mehr und mehr durch eine solche nach inhaltlichen Beziehungen ersetzt“ (GSG 2: 238; GSG 11: 457, Hervorh. M.P.). Simmel bringt diesen Gedanken auch in die Form einer ‚Gesellschaftstypologie‘, wenn er zwischen quantitativen und qualitativen Formen der Differenzierung und Arbeitsteilung unterscheidet. Die quantitative Form ist ein klarer Fall von funktionaler Diffusität: Sie „verteilt die Thätigkeitskreise derart, daß zwar einem Individuum oder einer Gruppe ein anderer als einer andern zukommt, aber jeder derselben eine Summe qualitativ verschiedener Beziehungen einschließt; allein später wird dieses Verschiedene herausdifferenziert und aus allen diesen Kreisen zu einem nun qualitativ einheitlichen Thätigkeitskreise zusammengeschlossen“ (GSG 2: 247; GSG 11: 489). Damit trifft Simmel zielsicher einen Aspekt, der auch in der Durkheimschen Unterscheidung von segmentärer und arbeitsteiliger Differenzierung mitschwingt, dort aber hinter den Gesichtspunkt der Solidarität, die im einen Fall auf Ähnlichkeit, im andern Fall auf Komplementarität beruht, zurücktritt. Hartmann Tyrell hat in diesem Zusammenhang auf die ‚schiefe Kontrastierung‘ von segmen51 Dazu nur Durkheim, a.a.O., 232. 52 Simmel muss für diese Argumentation Erkenntnisse voraussetzen, die erst das Kapitel über die Erweiterung der Gruppe liefert: „[D]ie nach allen Seiten gehende Abweichung von der bis dahin für jeden Komplex für sich gültigen Norm muß notwendig eine – zunächst qualitative oder ideelle – Annäherung der Glieder des einen an die des anderen erzeugen“, GSG 11: 792; ähnlich auch GSG 2: 169. Insofern nimmt es ein wenig Wunder, dass Simmel 1908, anders als 1890, das Kapitel über „Die Kreuzung der sozialen Kreise“ weit vor das Kapitel „Die Erweiterung der Gruppe und die Ausbildung der Individualität“ stellt.
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tärer und funktionaler Differenzierung in den Differenzierungstheorien aufmerksam gemacht.53 Simmel liegt hier somit auf der Linie einer ‚ausgewogeneren‘ Entgegensetzung von funktionaler Diffusität und funktionaler Differenzierung. Es ist dieser Akzent der Ordnung nach „Sachgesichtspunkt[en]“ (GSG 11: 459) und „objektiven Funktionsinhalte[n]“ (ebd.: 475), der bei Simmel Parallelen zu differenzierungstheoretischen Argumentationsfiguren der Systemtheorie entdecken lässt. Besonders augenfällig ist dabei die Nähe zum weltgesellschaftstheoretischen Gedankengut: Eine Differenzierung nach Sachgesichtspunkten lässt Simmel zufolge die Kreise „über ihre ursprünglichen Grenzen in räumlicher, ökonomischer und geistiger Beziehung hinaus[greifen] und neben die anfängliche Zentripetalität der einzelnen Gruppe bei wachsender Individualisierung und dadurch eintretender Repulsion ihrer Elemente eine zentrifugale Tendenz als Brücke zu andern Gruppen [...] setzen“ (GSG 2: 170; GSG 11: 793). Niklas Luhmann führt diesen Gedanken weiter:54 Sofern Funktionssysteme je eigenen Sachlogiken folgen, fallen ihre Grenzen in räumlicher Hinsicht nicht mehr einheitlich zusammen – Wahrheitsansprüche der Wissenschaft etwa machen anders als das Gewaltmonopol des Staates nicht an territorialen Grenzen halt. Die Konsequenz ist, dass die Einheit der Funktionssysteme letztlich nur noch im Singular der Weltgesellschaft gedacht werden kann.55 Eine solche Ausbildung von Kreisen nach rein sachlichen Zwecken und Funktionsinhalten in Überwindung von ‚organischen‘ bzw. urwüchsigen Grenzen der Vergesellschaftung veranschaulicht bereits Simmel am Beispiel der ‚Gelehrtenrepublik‘, „jene[r] halb ideelle[n], halb reale[n] Verbindung aller in einem so höchst allgemeinen Ziel, wie Erkenntnis überhaupt, sich zusammenfindenden Persönlichkeiten, die im übrigen den allerverschiedensten Gruppen in Bezug auf Nationalität, persönliche und spezielle Interessen, soziale Stellung usw. angehören“ (GSG 2: 238; GSG 11: 462f.). Rudolf Stichweh hat mit einem ganz ähnlichen Argument für die Wissenschaft den Zusammenhang von interner Differenzierung und Transnationalisierung
53 Hartmann Tyrell, Anfragen an die Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung, in: Zeitschrift für Soziologie 7 (1978), 175-193, hier 177ff. 54 Niklas Luhmann, Die Weltgesellschaft (1971), in: ders., Soziologische Aufklärung 2, Opladen 1975, 51-71. 55 Das Argument einer ‚zentrifugalen‘, über sich hinausgreifenden Tendenz im Zuge interner Differenzierung findet sich im Übrigen schon in Luhmanns früher organisationssoziologischer Schrift Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964, 79. Unter Berufung auf Simmel wird hier die Funktion der formalen Struktur auch darin gesehen, die Integration der differenzierten Organisation angesichts des Problems zu gewährleisten, dass die Subsysteme in ihrer Umwelt Ähnlichkeiten mit Subsystemen in ‚homologen‘ Positionen entdecken.
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aufgezeigt.56 Die ‚zentrifugale Tendenz‘ wissenschaftlicher Spezialisierung, die eine ‚Brücke zu anderen Gruppen‘ schlägt, hat ihre Grundlage darin, dass bei zunehmender Differenzierung schon rein quantitativ die fachliche Community auf internationale Erweiterung angewiesen ist.57 Augenfällig ist ferner ein Akzent, der die Eigenlogik der nach Sachzwecken differenzierten Kreise gegen durchgreifende Formen ‚stratifikatorischer‘ Differenzierung profiliert. Kreise bilden eigene Formen der – systemtheoretisch gesprochen – ‚Substratifikation‘ aus, die zu Statusinkonsistenzen über die verschiedenen Kreise hinweg führen: „Indem die Höhen der Stellungen, welche eine und dieselbe Person in verschiedenen Gruppen einnimmt, von einander völlig unabhängig sind, können so seltsame Kombinationen entstehen, wie die, daß in Ländern mit allgemeiner Wehrpflicht der geistig und sozial höchststehende Mann sich einem Unteroffizier unterzuordnen hat, oder daß die Pariser Bettlergilde einen gewählten ‚König‘ besitzt, der ursprünglich nur ein Bettler wie alle, und, so viel ich weiß, auch weiter ein solcher bleibend, mit wahrhaft fürstlichen Ehren und Bevorzugungen ausgestattet ist – vielleicht die merkwürdigste und individualisierendste Vereinigung von Niedrigkeit in einer und Höhe in andrer sozialen Stellung“ (GSG 2: 242; GSG 11: 478). Das liegt einerseits schon ganz auf der Linie von Eigengesetzlichkeit und Interdependenzunterbrechung; andererseits lassen sich hier unschwer Ansätze zu einer These des ‚Primats‘ sachlicher Differenzierung erkennen, wie sie wiederum die Gesellschaftstheorie Luhmanns vertritt.58 Das Postulat schließt andere Formen der Differenzierung nicht aus; allerdings manifestieren diese sich entweder allein als funktionsspezifische Formen der Subdifferenzierung innerhalb von Funktionssystemen oder als funktionssystemübergreifende Formen von Sekundärdifferenzierungen, die sich in die Ordnung funktionaler Differenzierung als primäres Differenzierungsprinzip ‚einpassen‘. Mit der Differenzierung in sachlich homogene Kreise verbindet sich bei Simmel das Individualitätsthema. Die ‚Individualität‘ des Individuums folgt bei Simmel (GSG 2: 240f.; GSG 11: 466f.) aus der Vielfalt der Kreise, denen das Individuum angehört und deren Kombination es zu einem einzigartigen, so kaum noch einmal 56 Rudolf Stichweh, Science in the System of World Society, in: Social Science Information 35 (1996), 327-340. 57 Auch die globalisierungstheoretischen Figuren der ‚time-space distanciation‘ und des ‚disembedding‘ von Anthony Giddens, The Consequences of Modernity, Stanford 1990, 14ff., liegen ganz auf der Linie der Simmelʼschen Beobachtung, dass Differenzierung und Individualisierung „das Band mit den Nächsten [lockert], um dafür ein neues – reales und ideales – zu den Entfernteren zu spinnen“, GSG 2: 172; GSG 11: 795. 58 Luhmann, Differentiation of Society, in: Canadian Journal of Sociology 2 (1977), 29-53; ders., Zum Begriff der sozialen Klasse, in: Ders. (Hg.), Soziale Differenzierung. Zur Geschichte einer Idee, Opladen 1985, 119-165.
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vorhandenen „Kreuzungspunkt“ macht. Die Individualisierung als Kombination von Zugehörigkeiten oder „partizipativen Identitäten“59 reicht dort am weitesten, wo es sich um eine Differenzierung der Kreise in ein unabhängiges Nebeneinander handelt; also dort, wo eine Teilnahme an einem Kreis nicht automatisch die Zugehörigkeit zu einem bestimmten anderen impliziert, wie dies etwa in hierarchischinklusiven Verhältnissen der Fall ist, bei dem von der Mitgliedschaft im inneren auf die im äußeren Kreis geschlossen werden kann (GSG 2: 241; GSG 11: 472). Jene horizontale und damit ‚moderne‘ Form der Zugehörigkeit wird dabei gegen Inklusionsmodalitäten profiliert, wie sie etwa das ‚mittelalterliche Einungswesen‘ charakterisierten: Dieses „okkupierte den ganzen Menschen, es diente nicht nur einem jeweiligen, objektiv umschriebenen Zweck, sondern war eine die ganze Person umfassende Genossenschaft derer, welche sich um jenes Zweckes willen zusammengetan hatten“ (GSG 11: 473). Dieser Vergleich lässt sich mit dem Luhmannschen Gedanken der Differenz von Inklusionsindividualität und Exklusionsindividualität engführen.60 Unter modernen Bedingungen geht das Individuum nur noch mit einer sachlich umgrenzten ‚Wesensseite‘ seiner Persönlichkeit in die soziale Verbindung ein, d.h. rein ausschnitthaft und allein unter dem Gesichtspunkt der sachlichen Zwecke. Anders als vormoderne Inklusionsformen, die das Individuum als Ganzes erfassten, muss es in der Moderne damit als „extrasozietal“ gedacht werden.61 Auch Dilthey hatte das Bild des Individuums als „Kreuzungspunkt“ benutzt.62 Wie wir gesehen haben, sind dabei aber nicht Kombinationen von Zugehörigkeiten im Blick, wie dies bei Simmel der Fall ist. Es geht dort vielmehr um die Verflechtung desselben ‚Lebensaktes‘ eines Individuums in die unterschiedlichen Bedeu59 Alois Hahn, Partizipative Identitäten (1997), in: Ders., Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Frankfurt/M. 2000, 13-79. 60 Dazu Luhmann, Individuum, Individualität, Individualismus, in: Ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik 3, Frankfurt/M. 1989, 149-258; Cornelia Bohn, Inklusion, Exklusion und die Person, Konstanz 2006. 61 Luhmann, a.a.O., 160. Dies bedeutet natürlich nicht, dass das Individuum eine außergesellschaftliche Existenz führt. Analoges kommt bei Simmel auch in dem zweiten sozialen Apriori aus dem „Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich“ zum Ausdruck. Hier ist der Sachverhalt angesprochen, dass das Individuum immer als etwas mehr erscheint als die aktuell von ihm eingenommene Rolle bzw. ‚gesellschaftliche Kategorie‘. Auch hier ist mit dem „außersoziale[n] Sein“, GSG 11: 51, nichts Vorsoziales gemeint, sondern der Gesamtzusammenhang bzw. die individuelle Synthese an sozialen Zugehörigkeiten, die als solche gesellschaftlich nie völlig manifest wird. Dazu auch Uta Gerhardt, Rollenanalyse als kritische Soziologie, Neuwied 1971, 29ff., sowie ihr Beitrag in diesem Band; ferner Heinrich Popitz, Der Begriff der sozialen Rolle als Element der soziologischen Theorie, Tübingen 1967, 32ff. 62 Dilthey, Einleitung, a.a.O., 51.
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tungszusammenhänge der Kultursysteme. Entsprechend entfällt an dieser Stelle auch die Thematik der ‚Individualisierung‘. Nichtsdestotrotz liegt die Differenzierungsperspektive, mit der Simmel hier auftritt, schon deutlicher auf der Linie Diltheys, als dies etwa bei Spencer und Durkheim der Fall ist. Immerhin steht bei den skizzierten Argumentationsfiguren weniger der Gesichtspunkt der Arbeitsteilung im Vordergrund als der der Ausdifferenzierung von sachlichen Sinnbezügen. Dies zeigt sich auch daran, dass durch ein und dasselbe Verhältnis von Individuen eine Vielzahl unterschiedlicher Sinngrenzen hindurch laufen kann. Simmel führt dies an zwei Beispielen vor, die mit der Fassung von 1908 neu hinzukommen: „Der Hofmeister soll die Superiorität über den Zögling haben, soll ihn dominieren und leiten und ist andrerseits doch der Diener, jener der Herr; oder wenn in der Armee Cromwells irgend ein in der Bibel besonders versierter Korporal seinem Major eine moralische Strafpredigt halten konnte, während er ihm in dienstlichen Angelegenheiten ohne Vorbehalt gehorchte“ (ebd.: 478).
Demgegenüber ist etwa bei Durkheim zumindest in der ‚Arbeitsteilung‘ eine Dekompositionslogik am Werk, die Individuen verschiedenen Berufsgruppen zuordnet. Das Individuum ist hier nicht „Kreuzungspunkt“ der Zusammenhänge, sondern scheint im spezialisierten Beruf annähernd aufzugehen. Die Vielfalt von Gruppenzugehörigkeiten kommt bei Durkheim zwar in der Selbstmordstudie in den Blick; hier werden etwa die Religionsgemeinschaft, die Familie, die politische Gemeinschaft und die Berufsgruppe auf ihre solidarischen, dem egoistischen Selbstmord des Individuums vorbeugenden Qualitäten befragt – mit Favorisierung der Berufsgruppe.63 Differenzierungsbezogene Thesen werden daraus allerdings kaum abgeleitet. Dass sich in einem Individuum verschiedene objektive Sinngehalte kreuzen können, ist für Simmel gerade auch die Voraussetzung für das eigene Gewahrwerden der persönlichen Individualität. Dem Argument nach destilliert die Vielfalt der Kontexte allererst die Persönlichkeit heraus:
63 Emile Durkheim, Der Selbstmord (1897), Frankfurt/M. 1973, 443ff. Diese Einsicht gab auch Anlass zum Vorwort zur zweiten Auflage der Arbeitsteilung mit dem Titel „Einige Bemerkungen über die Berufsgruppen“; dazu Durkheim, Arbeitsteilung, a.a.O., 41ff. Insoweit hier gerade die „mechanische Solidarität“ des Fachverbands als Remedium gegen die anomischen Formen der Arbeitsteilung ins Feld geführt wird, sind die Hoffnungen, die Durkheim zuvor noch in die organischen, auf Komplementarität beruhenden Formen von Solidarität gesetzt hatte, deutlich relativiert; zu dieser Wende im Werk Durkheims auch Hartmann Tyrell, Emile Durkheim – das Dilemma der organischen Solidarität, in: Luhmann (Hg.), Soziale Differenzierung, a.a.O., 181-250, hier 225f.
164 | M ARTIN P ETZKE „Solange die psychischen Anregungen, insbesondere der Gefühle, nur in geringer Zahl stattfinden, ist das Ich mit ihnen verschmolzen, bleibt latent in ihnen stecken; es erhebt sich über sie erst in dem Maße, in dem gerade durch die Fülle des Verschiedenartigen unserem Bewußtsein deutlich wird, was doch allem diesem gemeinsam ist, gerade wie sich uns der höhere Begriff über Einzelerscheinungen nicht dann erhebt, wenn wir erst eine oder wenige Ausgestaltungen desselben kennen, sondern erst durch Kenntnis sehr vieler derselben, und um so höher und reiner, je deutlicher sich das Verschiedenartige an diesen gegenseitig abhebt“ (ebd.: 847f.; GSG 2: 191f.).
Diese Denkfigur liegt auch der Darstellung der Herausbildung des Arbeiter-Begriffs und dem der Frau zugrunde. Was im Zusammenhang der Schrift von 1890 nur sehr knapp zur Sprache kam, wird nun im Kapitel „Über die Kreuzung sozialer Kreise“ von 1908 ausgebaut. Erst in dem Maße, in dem sich die verschiedenen Zweige der Arbeit differenzieren und sich die spezialisierten Tätigkeiten des Webers, Maschinenbauer, Kohlenhauers etc. herausbilden, trete das ihnen allen Gemeinsame – die Lohnarbeit – zu Bewusstsein (GSG 11: 493ff.). Auch für die ‚Frauenfrage‘ wird eine Analogie geltend gemacht. Hier ist das Sekundäre, erst durch Abstraktion zu Beziehende weniger der Begriff der ‚Frau‘ als solcher, sondern das Bewusstsein für das durch ihn zusammengehaltene Gemeinsame und die daraus folgenden solidarischen Empfindungen. Denn das Formal-Allgemeine liegt hier zunächst allein in der allen Frauen zukommenden ‚Einschmelzung‘ in das Individuell-Besondere – das jeweilige Haus und die Familie –, was dem Aufkommen eines genossenschaftliches Bewusstseins geradewegs entgegensteht; „gerade nämlich das Allgemeinste, das sie mit allen andern unter einen weitesten Begriff einstellt: daß sie eine Frau ist und damit den diesem Geschlechte eigenen Funktionen dient – gerade dieser Umstand entzog sie der eigentlichen Genossenschaftsbildung, der praktischen Solidarität mit den anderen Frauen, weil gerade er sie in die Grenzen des Hauses bannte, zu der Hingabe an ganz singuläre Personen veranlaßte, das Hinausgreifen über die durch Ehe, Familie, Geselligkeit, allenfalls durch Wohltätigkeit und Religion gegebenen Beziehungskreise unterband“ (ebd.: 499).64
64 Im frühen Aufsatz Zur Psychologie der Frauen, GSG 2: 66-102, liefert Simmel gewissermaßen das psychische Korrelat dieser rein familialen Integration der Frauen. Die – berüchtigte – These ist hier die einer gewissen Undifferenziertheit und Trägheit des Gefühlslebens im Vergleich zu Männern. Dabei steht es für Simmel zwar „außer Frage, ob dieser Verfassung eine innere Notwendigkeit und Unabänderlichkeit oder eine mögliche Fortentwicklung durch abgeänderte Lebensbedingungen zuzusprechen ist“, ebd.: 68, doch schreibt er wenige Seiten weiter: „Wenn einmal die Erwerbs- und sonstige Tätigkeit der unverheirateten Frauen eine dem jetzigen Zustande gegenüber erweiterte sein wird, so
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Wiederum erst die Freiheit, auch andere Beziehungen als familiale eingehen zu können, löst das ‚Formal-Allgemeine‘ vom ‚Inhaltlich-Speziellen‘ und „läßt ersichtlich dasjenige stärker sichtbar werden, was jenem Wesen mit andern gemeinsam ist und was bisher vor der Enge der Unterordnungs- oder Ergänzungsbeziehung nicht zustande kam“ (ebd.: 501). Bemerkenswert ist dabei, dass die Frauen gerade dann in der Lage sind, sich als ein durch einen „Allgemeinbegriff zusammengeschlossenen Kreis“ parteimäßig gegen den Mann zu formieren, wenn die ‚prinzipielle Andersheit des Seins und des Tuns, des Rechts und der Interessen den Männern gegenüber sich mindert“ (ebd.: 500). Die Voraussetzung einer heterogenen Differenzierung in sachlich homogene Kreise liegt in der Freiheit des Individuums, solche Verbindungen einzugehen. Diese steht in korrelativem Zusammenhang mit der Ausdehnung der Gruppe, wie Simmel im Kapitel „Die Erweiterung der Gruppe und die Ausbildung der Individualität“ vorführt. Anders als im Kapitel über die Kreuzung sozialer Kreise lassen sich hier deutlichere Bemühungen erkennen, die Überlegungen auf das formalsoziologische Programm der ‚großen‘ Soziologie zu beziehen. Das mag insofern verwundern, als Simmel gerade für dieses Kapitel den Ausnahmecharakter unterstreicht: „Statt eine singuläre abstrahierte Form in die Erscheinungen, in denen sie sich finden mag und deren Inhalt durch sie in keiner bestimmten Richtung festgelegt wird, zu verfolgen, soll nun hier eine bestimmte Korrelation und wechselseitig bestimmte Entwicklung von Formen der Vergesellschaftung dargelegt werden“ (ebd.: 791).
Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, sorgt die Organisation der Beispiele wie auch die relationistische Form, in die die Korrelationsthese gebracht wird, dennoch für deutlichere Kontinuität zur Formensoziologie, als dies für das Kreuzungskapitel behauptet werden kann.
Die Erweiterung der Gruppe und die Ausbildung der Individualität Für den Zusammenhang von Größenwachstum, Individualisierung und Differenzierung bemüht Simmel 1890 ein Argument, das sich schon bei Comte findet und auch bei Durkheim wieder auftauchen wird: „[J]e größer das Ganze ist, desto nötiger ist es ihm, bei der stets vorhandenen Knappheit der Lebensbedingungen, daß – innerhalb gewisser selbstverständlicher Schranken – jeder sich andere Ziele setze als der
wird eine Veränderung ihres Gefühlslebens von ganz unberechenbaren Folgen daraus hervorgehen“, ebd.: 74.
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andere und, wo er sich die gleichen setzt, wenigstens andere Wege zu ihnen einschlägt als der andere“ (GSG 2: 164).65 Anders als bei Comte und Durkheim ist bei Simmel nicht allein der Befriedungsaspekt im Ausweichen in Nischen unter Bedingungen erhöhter Konkurrenz entscheidend66, sondern in der arbeitsteiligen Differenzierung liegt primär ein rationales „Prinzip der Kraftersparnis“ (ebd.: 258ff.) und damit ganz unstreitig ein „evolutionistische[r] Vorteil“ (ebd.: 259), der im Wesentlichen in der Vermeidung von Reibungsverlusten besteht. Letztere liegen in sozialer Hinsicht in der Kraft, die aufgebracht werden muss, um Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen: „Erst wachsende Differenzierung kann die Reibung beseitigen, die aus der Setzung des gleichen Ziels hervorgeht, welche die Kräfte von diesem fort auf die persönliche Besiegung des Mitbewerbers lenkt“ (ebd.: 268). Der Vorteil auf der Seite des Individuums: Im nicht-arbeitsteiligen Zustand müssen die Tätigkeiten des Einzelnen die Richtung fortlaufend wechseln. Angesichts der Trägheit und Überschüssigkeit der aufgebrachten Energie führt der stetige Richtungswechsel zu hohem Kraftverlust, der dort, wo die Tätigkeit einseitig auf ein Ziel gerichtet ist, vermieden wird.67 Insbesondere das letzte Argument übernimmt Simmel in die ‚große‘ Soziologie und führt es etwa für das juristische Berufsfeld vor: „Wer nicht sein Leben lang Richter ist, sondern nur, wenn die Gemeinde zusammenberufen wird, ist nicht nur so lange an seiner eigentlichen Tätigkeit behindert, sondern er ist bei der Ausübung des Richteramtes in ganz andrer Weise mit nicht hingehörigen Vorstellungen und Interessen beladen, als der Berufsrichter. Wenn er dagegen in dem vorgeschrittenen Zustand
65 Bei Durkheim steht genauer das Verhältnis von Dichte und Volumen der Gruppe im Vordergrund, Arbeitsteilung, a.a.O., 361. Aber auch bei Simmel ist Dichte, gerade in dem Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben von 1903, deutlich impliziert, GSG 7: 116131. Simmel bezieht in der Philosophie des Geldes von 1900 noch die Geldwirtschaft und das zunehmende Übergewicht der Verstandesfunktionen im Lebensverlauf (im Gegensatz zu vornehmlich „gefühlsmäßigen Betonungen und Entscheidungen“) in diese Korrelation mit ein, GSG 6: 591ff. 66 Wie Dieter Rüschemeyer, Spencer und Durkheim über Arbeitsteilung und Differenzierung: Kontinuität oder Bruch?, in: Luhmann (Hg.), Soziale Differenzierung, a.a.O., 163180, hier 168, bemerkt, bleiben bei Spencer die Ursachen für den Zusammenhang von Größenwachstum und Differenzierung weitgehend ungeklärt. 67 Ähnlich wie Durkheim kennt Simmel, GSG 2: 271f., auch einen pathologischen Fall der Arbeitsteilung. In der dauerhaften Monotonie der Arbeit liege die Gefahr einer ‚Atrophie‘ und ‚Schwächung‘ der Tätigkeit, die den kraftsparenden Vorteil der Spezialisierung wieder abnehmen lasse. Diesen Vergleich ziehen auch Otthein Rammstedt, Heinz-Jürgen Dahme, Einleitung, in: Georg Simmel, Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl, hg. v. dens., Frankfurt/M. 1983, 7-34, hier 26.
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einmal mit dem Gericht zu tun hat, so ist es nur dann, wenn auch wirklich sein ganzes Interesse dafür engagiert ist“ (GSG 11: 848f.).
Bei Simmel wird – ähnlich wie bei Durkheim – ein Rückgang an sozialer Kontrolle als ermöglichender Nebenfaktor der Differenzierung mitgedacht, der ebenfalls mit der Ausdehnung der Gruppe parallel geht. Dies wird in diesem Kapitel indes nur als These einer engeren Gebundenheit des Individuums im kleinen Kreise und eines größeren Spielraums für Individualität im weiteren Kreise thematisch (GSG 2: 174; GSG 11: 798). Der Artikel „Die Großstädte und das Geistesleben“ ist in diesem Zusammenhang aufschlussreicher. Hier führt Simmel es auf die „gegenseitige Reserve und Indifferenz“ (GSG 7: 126) als Folge der kontinuierlichen Reizüberflutung des Großstädters zurück, dass der Einzelne die Unabhängigkeit und Bewegungsfreiheit für individuelle Besonderheiten erlangt. Durkheim hatte zuvor ganz analog die „gegenseitige Gleichgültigkeit“ unter Bedingungen einer hohen ‚moralischen Dichte‘ in seinem Vergleich zwischen großen und kleinen Städten bemüht, um eine Schwächung des Abweichungen reprimierenden Kollektivbewusstseins zu illustrieren.68 Ähnlich wie schon die Umstellung der Kreise auf den Sachprimat wird auch die Ausdehnung der Gruppe bei Simmel in Zusammenhang gebracht mit einem „Nacheinander der Stadien“ (GSG 11: 797). Das Verhältnis von Individualität und Gruppe ist nun etwas anders nuanciert, als dies etwa bei Spencer und Durkheim der Fall ist. Dort gilt für den Ausgangszustand nicht nur die Ähnlichkeit der Individuen, sondern auch eine weitgehende Ähnlichkeit der Segmente.69 Bei Simmel stehen nun Homogenität und Heterogenität der Gruppen untereinander und die Heterogenität bzw. Homogenität der Verhältnisse unter den Individuen innerhalb der Gruppe in einer Komplementärbeziehung: „Jener Grundgedanke läßt sich verallgemeinernd so wenden, daß in jedem Menschen ceteris paribus gleichsam eine unveränderliche Proportion zwischen dem Individuellen und dem Sozialen besteht, die nur die Form wechselt: je enger der Kreis ist, an den wir uns hingeben, desto weniger Freiheit der Individualität besitzen wir; dafür aber ist dieser Kreis selbst etwas Individuelles, scheidet sich, eben weil er ein kleiner ist, mit scharfer Begrenzung gegen die übrigen ab. Und entsprechend: erweitert sich der Kreis, in dem wir uns betätigen und dem unsere Interessen gelten, so ist darin mehr Spielraum für die Entwicklung unserer Individualität; aber als Teile dieses Ganzen haben wir weniger Eigenart, dieses letztere ist als soziale Gruppe weniger individuell“ (ebd.: 797; ähnlich auch GSG 2: 173).
68 Durkheim, a.a.O., 360ff. 69 Spencer, Sociology I, a.a.O., 461ff.; Durkheim, a.a.O., 230ff.
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In der ‚großen‘ Soziologie tritt zu dieser Gegenüberstellung von kleinem und großem Kreis nun noch die Berücksichtigung einer ‚mittleren‘ Ebene hinzu. Diese Figur der „Relativität in der Stellung eines Kreises: als individuelles Gebilde gegenüber dem größeren, als überindividuelles gegenüber dem kleineren oder Individuen“ (so wird bei Simmel der Gedanke im Register ausgewiesen, GSG 11: 872) kommt in der Sache durchaus der formalen Soziologie entgegen, mehr noch: es wird ausdrücklich auf ihren „formalen, jeder inhaltlichen Bestimmtheit zugänglichen Charakter“ (ebd.: 805f.) hingewiesen. Das Formalsoziologische gründet dabei gerade in der ‚inneren Kohäsion‘ und ‚äußeren Repulsion‘, die das mittlere Gebilde „dem allgemeineren, höheren, und dem individuellen, tieferen Gebilde gegenüber aufweist“ (ebd.: 805). Daraus rührt eine Tendenz zur ‚gemeinsamen Antithese‘ des Individuums bzw. kleinsten Kreises und größten Kreises gegen den mittleren, die sich schon subjektiv niederschlägt: „Es knüpft sich das innigste Herzensinteresse einerseits an denjenigen, den wir fortwährend vor Augen haben, mit dem unser tägliches Leben verbunden ist, andrerseits an den, von dem uns weite, unüberbrückbare Entfernung mit eben so großer Erregung wie Unbefriedigung der Sehnsucht scheidet, während eine verhältnismäßige Kühle, ein geringeres Erregen des Bewußtseins demjenigen zukommen wird, der uns zwar nicht ganz nahe, aber doch auch nicht unerreichbar fern ist“ (ebd.: 808).
Tenbruck hat gerade in derartigen Auflösungen von substantiellen Eigenschaften in Relationen eine zentrale Eigenschaft und Leistung der formalen Soziologie erkannt.70 Dieser ‚Formalismus‘ wird bei Simmel im „Exkurs über den Adel“ (ebd.: 816ff.) noch ausführlicher dargelegt. Die zentralen Eigenschaften des Adels werden hier dementsprechend abgeleitet aus seiner eigentümlichen Zwischenstellung: zwischen dem Einzelindividuum und dem weiteren, den Adel einschließenden Kreis bzw. zwischen der herrschenden Macht und der breiten Masse. Aber auch die weiteren Gedanken in diesem Kapitel lassen sich mit dieser Figur eines dreigliedrigen Verhältnisses zwischen Individuum bzw. kleinem, mittlerem und größtem Kreis weitgehend zusammenbinden und auf diese Art näher an die formale Soziologie führen, als dies 1890 der Fall war: „Daß die relativ individuellste und die relativ weiteste Gestaltung sich so aufeinander beziehen, gleichsam über den Kopf der mittleren hinweg – das ist die an diesem Punkt erreichte Fundierung der im Vorhergehenden wie im Folgenden hervortretenden Tatsache, daß der große Kreis die individuelle Freiheit begünstigt, der kleinere sie einschränkt“ (ebd.: 808f.).
70 Tenbruck, a.a.O., 601f.
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Mit diesem antithetischen Verhältnis des mittleren Kreises gegenüber der Ebene der Individualität und dem relativ größeren Kreis gewinnt das Korrelationsverhältnis von Individualisierung und Ausweitung der Gruppe nun stärker die Figur einer dreistelligen Relation. Unter dieser Perspektive behauptet Simmel dann etwa für das Feudalsystem, dass hier die starke Betonung der Mesoebene mittlerer Kreise „weder Raum für nationalen Enthusiasmus oder öffentlichen Geist, noch für individuelle Unternehmungslust und private Energie“ ließ (ebd.: 810). Gleichzeitig zeugt die systematische Variation der Grundfigur für verschiedene Kontexte von der formalsoziologischen Analytik, die die Konstanz der Form an unterschiedlichen Inhalten aufzeigt. In differenzierungstheoretischer Hinsicht augenfällig ist dabei die Organisation der Beispiele. Simmel diskutiert hier in kurzer Abfolge die Arten und Weisen, in denen sich diese dreistellige Relation in den verschiedenen Lebensbereichen Liebe, Wirtschaft, Politik, Religion ausmünzt. Das entspricht auch der Tenbruckschen Beobachtung, dass Simmel in seiner formalen Soziologie ‚objektive Kulturgebilde‘ durchaus im Blick hat, aber mit den Formen der Wechselwirkung das „immediate Verhältnis“ zwischen Individuum und den Diltheyʼschen Kultursystemen durchschneidet und jene zum eigentlichen Gegenstand der Soziologie macht.71 In der ‚Gattenwahl‘ und der Wirtschaft tritt die Form etwa in der Art zutage, dass das Individuum bei zunehmender Individualität über den mittleren Kreis hinaus auf den größeren geradezu hingelenkt wird. „Dem Einzelnen erwächst aus der Einzigkeit seines Wesens eine entsprechende Einzigkeit dessen, was ihn ergänzen und erlösen kann, eine Eindeutigkeit der Bedürfnisse, deren Korrelat es ist, daß ein möglichst großer Kreis möglicher Wahlobjekte zur Verfügung stehe; denn je individueller die Wünsche und inneren Notwendigkeiten sind, desto unwahrscheinlicher, daß sie in einem eng umgrenzten Gebiet ihre Befriedigung finden“ (ebd.: 809f.).
Die Ausbreitung des Kreises geht folglich damit einher, dass die individuelle Auswahl in der Liebe eine „sehr viel strengere“ ist – sorgt doch das Durchgreifen der ganz persönlichen und individuellsten Neigungen für das Bewusstsein, „daß unter allen Menschen diese zwei für einander und nur für einander ‚bestimmt‘ sind“ (ebd.: 809). In den wirtschaftlichen Verhältnissen gilt Analoges nicht nur für den Konsumenten und das Produkt; der Gedanke erscheint hier auch auf der Produzentenseite. Die Individualitätskomponente zeigt sich in Gestalt von wirtschaftlichen Spezialisierungen, „deren auf die Spitze getriebenen Einseitigkeiten [...] nur durch die Ausgleichungen im Rahmen eines ganz großen Kreises möglich sind“ (ebd.: 832). Für die politischen Verhältnisse legt Simmel dar, dass sie „diese Konstellation auf einer großen Zahl singulärer Gebiete [verwirklichen], freilich unter mannigfa71 A.a.O., 597f., 601.
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chen Variierungen des Grundverhältnisses“ (ebd.). Hier schreiten Individualisierung und Erweiterung des Kreises nicht im gleichen Maße voran. Stattdessen kann der Schwerpunkt eher auf der einen oder auf der anderen Seite liegen; so etwa wenn die ‚mittleren‘ Verbände und Korporationen in der nach-mittelalterlichen Entwicklung in Deutschland entweder ins rein privatrechtlich Organisierte entlassen und zur freien Sache des Individuums gemacht oder zur ‚Staatsanstalt‘ erhoben wurden. Analog muss das Moment der Individualität nicht der breiten Masse zukommen, sondern kann auch auf eine einzige Herrscherpersönlichkeit übergehen, die sich über die vormals kleineren, relativ geschlossen Kreise erhebt. Hier zeigt sich in einem Anschlussargument wiederum die Relationalität und ‚Antithetik‘ der Denkfigur: Die Tatsache, dass Simmel zufolge politische Aristokratien wenig militärische Erfolge vorzuweisen haben, liegt an der doppelten ‚Repulsion‘ dieses mittleren Kreises, „sie scheuen sich einerseits, das Gesamtvolk zu Erhebung und vereinigter Aktion aufzurufen, sie sind andrerseits mißtrauisch gegen einzelne Generale mit weiten Vollmachten und großen Erfolgen“ (ebd.: 835). In der Religion schließlich lag unter Bedingungen des Polytheismus eine Streuung relativ kleiner Kreise bzw. Sonderkulte vor. Mit dem Übergang zum christlichen Monotheismus fielen die Schranken zwischen den Kreisen und ein großer Kreis stand nun in ‚Gleichheit vor Gott‘. Damit aber fiel auch die Vermittlung des Verhältnisses zum Sondergott durch die kleine Gruppe fort. Die Haftbarkeit und Verantwortung gegenüber dem Göttlichen lag damit nicht mehr auf der Ebene der mittleren Kreise, die in ‚politisch homogener Solidarität‘ als Gemeinschaft ihrem Gotte gegenüberstanden. Vielmehr steht das Individuum nun unter Umgehung dieser mittleren Ebene in einer unmittelbaren Beziehung zu Gott: „Es entstand das religiöse Individuum mit seiner unbedingten Selbstverantwortlichkeit, die Religiosität des ‚Kämmerleins‘, die Unabhängigkeit von jeglicher Bindung an Welt und Menschen gegenüber der einen, die in der unabgelenkten, unvermittelten Beziehung der Einzelseele zu ihrem Gott gegeben war – zu dem Gotte, der darum nicht weniger, ja gerade deshalb der ‚ihre‘ war, weil er gleichmäßig der Gott aller war“ (ebd.: 837).
In diesem Zusammenhang gewinnen auch Simmels Überlegungen zu den Affinitäten zwischen Individualisierung und Kosmopolitismus, die sich bereits in der Schrift Über sociale Differenzierung von 1890 finden, eine entsprechende Form. Die bloße Korrelationsfigur hinter sich lassend, wird auch hier die Dreistelligkeit der Relation „zwischen starker Ausbildung und Wertschätzung der Individualität und kosmopolitischer, das nächste Milieu des Individuums gleichsam überspringende Gesinnung“ (ebd.: 814) betont.72 Somit gilt wieder die „Berührung der Ex72 Die Parallelen zu Durkheims Vorstellung des aus der Arbeitsteilung erwachsenden „Kults der Person“ liegen auf der Hand. Ebenso wie Letzterer gründet der Kosmopolitismus in
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treme“ (ebd.: 808) unter Umgehung der mittleren Ebene. Die Ausführungen Simmels führen damit nicht bloß korrelative Zusammenhänge vor, sondern fügen der Sache zumindest tendenziell noch den formalsoziologisch relevanten relationalen Aspekt hinzu. In differenzierungstheoretischer Hinsicht sind in Simmels früher Untersuchung zur sozialen Differenzierung Akzente gesetzt, die im Ansatz schon Diltheys Differenzierungsideen aufnehmen. Der Schwerpunkt liegt auf dem Aspekt der sachlichen Differenzierung, die einen Zusammenschluss von Individuen nach thematischen Gesichtspunkten, auch über ursprüngliche Gruppengrenzen hinweg, erlaubt. Damit sind die sinnhaften Momente von Differenzierung schon deutlich mitgeführt. Die Betonung von Eigengesetzlichkeiten tritt insbesondere dort zutage, wo die Unabhängigkeit der Rangordnungen innerhalb der Kreise diskutiert wird. Es kommt hinzu: Auf eine Interdependenz der differenzierten Teile wird bei Simmel gar nicht gesetzt. Organismusanalogien finden sich dementsprechend auch nur punktuell und niemals auf der Ebene der Gesellschaft. Der Gesellschaftsbegriff wird hier nicht vom Kollektiv her gedacht, sondern ist für Simmel dort angemessen, wo Wechselwirkungen zwischen Individuen vorliegen, die durchaus auch ‚ephemeren‘ Charakters sein können. Gesellschaft ist für ihn so ein „gradueller Begriff, von dem auch ein ‚Mehr oder Weniger‘ anwendbar ist, je nach der größeren Zahl und Innigkeit der zwischen den gegebenen Personen bestehenden Wechselwirkungen“ (GSG 2: 131).73 Mit den „Formen“ der Vergesellschaftung stehen allerdings nicht die Kultursysteme im Vordergrund, sondern eine diesen untergeordnete Ebene. Die Untersuchung von 1908 schließt somit bei der Diltheyʼschen Ebenenunterscheidung, wenn
einer Wertschätzung dessen, was dem Menschen ‚bloß als Menschen‘ zukommt, und weist somit auf den Gedanken einer „idealen Einheit der Menschenwelt“ hin, GSG 2: 181; GSG 11: 840. Allein die Begründung dieses Zusammenhangs ist bei beiden unterschiedlich nuanciert. Bei Simmel liegt die Ursache für die zunehmende Wertschätzung des Individuums als solchem in dem ‚Seltenheitsmoment‘, das sich gerade aus der individuellen Zusammensetzung seiner Eigenschaften, was nicht zuletzt ‚Zugehörigkeiten‘ heißen muss, ergibt. Bei Durkheim, a.a.O., 222, begründet sich demgegenüber die ‚Heiligkeit‘ des Individuums in seiner zunehmenden relativen Wichtigkeit, die ihm aufgrund seiner funktionalen Spezialisierung in der Gesellschaft zukommt. 73 Diese frühe Definition schloss ‚ephemere‘ Begegnungen vom Gesellschaftsbegriff noch aus und reservierte diesen für ‚objektive Gebilde‘, die gegenüber den Individuen ‚beharren‘, GSG 2: 133. Hartmann Tyrell sieht darin entsprechend ein Votum zugunsten eines makrosoziologischen Ansatzes, den Simmel 1908 zurückgenommen habe, dazu Hartmann Tyrell, Georg Simmels „große“ Soziologie (1908). Einige Überlegungen anläßlich des bevorstehenden 100. Geburtstags, in: Simmel Studies 17 (2007), 5-39, hier 19.
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man will, an den Organisationsformen an.74 Die deutlichere Kontinuität zu Dilthey (und damit auch eine Verbindung zu der Differenzierungstheorie, wie sie etwa Weber im Konzept der Lebensordnungen bzw. Wertsphären anbietet), scheint meines Dafürhaltens stärker in den kulturphilosophischen Schriften Simmels zu liegen.75 Im Folgenden gilt es daher, diese auf ihre differenzierungstheoretischen Gedanken und die Parallelen zu Dilthey hin zu untersuchen.
3. D IFFERENZIERUNG IN DER K ULTURPHILOSOPHIE S IMMELS Bestimmte der Gedanke der Wechselwirkung und der Gegensatz von Individuum und Gesellschaft die soziologischen Arbeiten Simmels, so ist die Leitdifferenz der kulturphilosophischen Schaffensperiode die Unterscheidung von objektiver und subjektiver Kultur.76 Diese Differenz leitet sich direkt aus Simmels Begriff der Kultivierung ab. Darunter will eine Entwicklung verstanden sein, die von im Subjekt latent vorhanden „Strukturverhältnissen oder Triebkräften“ (GSG 8: 365) ihren Ausgang nimmt und das Subjekt in einen Zustand überführt, den es aus sich heraus nicht hätte erreichen können. Von daher kann Kultivierung des Subjekts nie ‚autarke‘ Selbstkultivierung sein, sondern muss ihren Weg immer über etwas nehmen, das dem Menschen – zunächst – äußerlich ist (ebd.: 367f.). Sie setzt damit eine „objektive Kultur“ voraus, als welche man „die Dinge in jener Ausarbeitung, Steigerung, Vollendung bezeichnen [kann], mit der sie die Seele zu deren eigener Vollendung führen oder die Wegstrecken darstellen, die der Einzelne oder die Gesamtheit auf dem Wege zu einem erhöhten Dasein durchläuft“ (ebd.: 371). Die „subjektive Kultur“ ist demgegenüber „das so erreichte Entwicklungsmaß der Personen“. ‚Spezialistentum‘ ist dabei insofern kein Fall einer gelungenen Kultivierung, als es die seelische Vervollkommnung zu einem harmonischen Ganzen verhindert: „Wir sind noch nicht kultiviert, wenn wir dieses oder jenes einzelne Wissen oder Können in uns ausgebildet haben; sondern erst dann, wenn all solches der zwar daran gebundenen, aber damit nicht zusammenfallenden Entwicklung jener seelischen Zentralität dient [...]. Oder an-
74 Johach, a.a.O., 66; Hahn, Systemtheorie, a.a.O., 17. 75 Zu Simmels Kulturphilosophie als Soziologie auch Otthein Rammstedt, Soziologie und/oder Kulturwissenschaft. Georg Simmels theoretische Zugänge zum Gesellschaftlichen, in: Bernhard Schäfers (Hg.), Soziologie in Deutschland, Opladen 1995, 99-107, hier 103f. 76 Volkhard Krech, Georg Simmels Religionstheorie, Tübingen 1998, 229.
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ders ausgedrückt: Kultur ist der Weg von der geschlossenen Einheit durch die entfaltete Vielheit zur entfalteten Einheit“ (GSG 14: 387).
Im Mittelpunkt steht damit eine dialektische Figur, nach der das Subjekt vermittels überpersönlicher Objektivationen menschlichen Schaffens zu seiner eigenen Vollendung emporsteigt.77 Die „Tragödie der Kultur“ hat für Simmel nun ihre Ursache darin, dass mit ihrer Objektivation die so entstandenen Gebilde einen Gehalt haben, der von der ursprünglichen schöpferischen Intention gänzlich abgekoppelt ist: „Sobald unser Werk dasteht, hat es nicht nur eine objektive Existenz und ein Eigenleben, die sich von uns gelöst haben, sondern es enthält in diesem Selbstsein – wie von Gnaden des objektiven Geistes – Stärken und Schwächen, Bestandteile und Bedeutsamkeiten, an denen wir ganz unschuldig sind und von denen wir selbst oft überrascht werden“ (ebd.: 407). Damit steht einerseits der Weg frei für „Resubjektivierungen“ (ebd.: 408), die dem Objekt unabhängig von den subjektiven Umständen seiner Erzeugung einen ‚Kulturwert‘ im Sinne eines weiteren Schrittes der Selbstvervollkommnung abgewinnen können; andererseits aber ist damit in den Erzeugnissen ein Entwicklungspotential angelegt, das sie in selbstständigen Bahnen immer weiter aus dem Gravitationsfeld subjektiver Kultivierungsmöglichkeiten herausträgt. So stehen diese Inhalte „unter der Paradoxie, dass sie zwar von Subjekten geschaffen und für Subjekte bestimmt sind, aber in der Zwischenform der Objektivität, die sie jenseits und diesseits dieser Instanzen annehmen, einer immanenten Entwicklungslogik folgen und sich damit ihrem Ursprung wie ihrem Zweck entfremden“ (ebd.: 408). Die Folge ist damit ein ‚Anschwellen‘ und eine zunehmende Autonomie der objektiven Gebilde mit der Folge einer verhältnismäßigen Retardierung und Verkümmerung der subjektiven Kultur.78 In seiner Aufzählung dieser ‚ob77 Man vergleiche dies mit der ähnlichen Denkfigur bei Marx, nach der der Mensch in naturwüchsigen Verhältnissen in einem kontinuierlichen Kreislauf von Selbstentäußerung bzw. -entfremdung durch Arbeit und deren Aufhebung durch Genuss des eigenen Produkts steht. Die dauerhafte Entfremdung wird bei Marx durch die Arbeitsteilung bedingt und auch bei Simmel, GSG 14: 405, wird die „Entfremdung“ infolge des Auseinandertretens von objektiver und subjektiver Kultur, genauer: des Übergewichts der Ersteren, mit Arbeitsteilung in Verbindung gebracht. Für Simmel ist allerdings ‚Kultivierung‘ prinzipiell mit der Aneignung von etwas verbunden, das überpersönlich und nicht Erzeugnis des in Frage stehenden Subjekts selbst ist – daher auch die ‚tragische‘ Komponente. Zu dieser Parallele Michael Landmann, Pluralität und Antinomie. Kulturelle Grundlagen seelischer Konflikte, München 1963, 230. 78 Simmel akzentuiert in seiner stärker lebensphilosophischen Phase die Tragödie als Widerspruch von Form und Prozess. Die Emphase liegt hier weniger auf dem Auseinandertreten von objektiver und subjektiver Kultur; vielmehr wird in diesem Zusammenhang herausgestellt, dass die schöpferische Bewegung des Lebens sich immerfort in Formen
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jektiven Gebilde‘ sind bei Simmel die von Dilthey berücksichtigten Kultursysteme aufgenommen – so finden sich etwa Kunst, Recht, Wissenschaft, Technik und Religion als Teilgebiete objektiver Kultur berücksichtigt.79 In dieser Kulturtheorie kommen differenzierungstheoretische Konzepte zum Tragen, die näher an Diltheys Ideen liegen als diejenigen, die sich in den soziologischen Schriften von 1890 und 1908 finden. Eine Kontinuität zu Letzteren liegt allerdings in der Betonung der Herauskristallisation von Ordnungen, die sich primär nach Sachgesichtspunkten bestimmen, obwohl hier noch sehr viel deutlicher auf eigene Sinnperspektiven und Eigengesetzlichkeiten der Kulturgebilde abgehoben wird. Mit dieser Konzeption der objektiven Gebilde als autonomes Sinngebiet ist Simmel ganz in der Nähe von Diltheys Kultursystemen.
Die Ausdifferenzierung von Sinngebieten Mit Simmels Kulturphilosophie verbindet sich eine Akzentverschiebung gegenüber der frühen Differenzierungstheorie: Die hier verhandelten objektiven Gebilde sind keine ‚Kreise‘ von ausschnitthaft inkludierten Individuen, sondern eigenständige Sinnperspektiven. So schreibt Simmel etwa für die Religion: „Das religiöse Leben schafft die Welt noch einmal, es bedeutet das ganze Dasein in einer besonderen Tonart, so daß es seiner reinen Idee nach mit den nach anderen Kategorien erbauten Weltbildern sich überhaupt nicht kreuzen, ihnen nicht widersprechen kann − so sehr das Leben des einzelnen Menschen durch all diese Schichten traversieren und, weil es nicht ihre Ganzheiten, sondern nur jeweils Teile von ihnen erfasst, sie zu Widersprüchen durcheinanderwirren mag“ (GSG 10: 45).
In Simmels Arbeiten zur Religion verbinden sich solche Gedanken mit der Differenzierungskonzeption von 1890, die einen Übergang von ‚funktionaler Diffusität‘ hin zur Spezialisierung bzw. Heraussonderung eines bestimmten, Sachgesichts-
verwirklichen muss, die dann in ihrer Dauer in ‚starre Gegensätzlichkeit‘ zum Leben geraten, etwa GSG 16: 183. Insoweit der differenzierungstheoretische Ertrag an dieser Reakzentuierung keinen Abbruch nimmt, braucht sie uns nicht weiter beschäftigen. 79 Allerdings ist das Konzept des ‚objektiven Gebildes‘ bei Simmel viel umfassender; so zählen hierzu auch „zweckgeformte Gegenstände“, GSG 14: 389. Gar von „unzähligen Gebilde[n]“, ebd.: 385, wird ausgegangen – und muss es auch, wenn das gemeinsame Kriterium, das den Aufzählungen zugrunde liegt, allein darin besteht, die Selbstentäußerung eines Subjekts zu sein, die für Resubjektivierung zugänglich ist.
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punkten unterworfenen Teilbereichs vorsieht.80 Dieser Prozess wird mit einer Semantik der Steigerung und Reinigung versehen. Dabei ist für Simmel hier keine Substitutionslogik am Werk; der spezialisierte, sachlich ‚bereinigte‘ Bereich erhebt sich vielmehr über die diffuseren und weniger ambitionierten Vorformen, die daneben weiter bestehen. So gilt etwa für die Wissenschaft, „daß sie nur eine Steigerung, Durchbildung, Verfeinerung aller der Erkenntnismittel ist, deren niedrigere und trübere Grade uns auch zu den Einsichten und Erfahrungen des täglichen, praktischen Lebens verhelfen. [...] Alle solche hohen und reinen Gestaltungen treten zunächst gleichsam versuchsweise, keimhaft, in Verwebung mit anderen Formen und Inhalten auf“ (GSG 11: 111).81
80 Die in diesem Zusammenhang zentralen Schriften – der 1898 publizierte Aufsatz Zur Soziologie der Religion, GSG 5: 266-286, sowie die 1906 (und 1912 in erweiterter Auflage) erschienene Schrift Die Religion, GSG 10: 39-115 – lassen sich nicht eindeutig der kulturphilosophischen Schaffensphase zuordnen. Krech, a.a.O., 238, etwa sieht in der Abhandlung von 1906/1912 eine Konvergenz der vielfältigen Schwerpunkte des Simmelʼschen Schaffens: des psychologischen, soziologischen, kultur- und lebensphilosophischen; ähnlich Carl-Friedrich Geyer, Georg Simmel. Eine Religion der Immanenz, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 45 (1991), 186-208, hier 186. In ihren differenzierungstheoretischen Akzenten sind sie m.E. jedoch insofern dieser Werkperiode verpflichtet, als hier insbesondere die Ausdifferenzierung religiösen ‚Sinns‘ sowie der Gesichtspunkt religiöser ‚Eigengesetzlichkeit‘ im Vordergrund steht. Für eine solche Zuordnung spricht im Übrigen auch die Tatsache, dass der Aufsatz von 1898 entgegen zahlreichen anderen Aufsätze dieser Schaffensperiode keinen Eingang in die ‚große‘ Soziologie von 1908 gefunden hat. Zu diesem Sachverhalt und Simmels Religionstheorie im Allgemeinen auch der Beitrag von Austin Harrington in diesem Band. 81 Dieser Gedanke findet sich auch im Werk Luhmanns wieder, dazu nur ders., Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1993, 136f.: „Selbstverständlich gibt es zahllose normative Erwartungen ohne Rechtsqualität – so wie es ja auch zahllose Wahrheiten ohne wissenschaftliche Qualität oder zahllose Güter (zum Beispiel saubere Luft) ohne wirtschaftliche Qualität und viel Macht ohne politische Qualität gibt. Die Funktionssystembildung zieht aus dem gesellschaftlichen Alltagsleben nur die irgendwie problematischen Erwartungen heraus; sie reagiert nur auf eine sich im Laufe der Evolution steigernde Unwahrscheinlichkeit des Erfolgs von Kommunikationen. Und dann bilden sich autopoietische Systeme im Hinblick auf Steigerungsmöglichkeiten, die an schon vorhandenen Strukturen ablesbar sind. Deren evolutionäre Ausdifferenzierung setzt, wie wir noch sehen werden, vorbereitetes Terrain voraus. Gerade deshalb differenzieren sich dann aber autopoietische Systeme gegen die Selbstverständlichkeiten des Alltags.“
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Analoges gilt für die Religion. Hier mündet der Steigerungsprozess, der von Sachverhalten mit religiöser Einfärbung – von ‚Religioidem‘ (GSG 10: 61) – abhebt, in Religion als (aus-)differenziertes Gebiet. Als dieses gelten die religiösen „Beziehungswerte, die von ihrem sozialen Interesseninhalt gelöst und in die transzendente Dimension erhoben, Religion im engeren, selbständigen Sinne bedeuten“ (ebd.). Demgegenüber haben die im Sozialen angelegten ‚religiösen Halbprodukte‘ „rein als soziologisches Ereignis mit der Religion als differenziertem Gebiet nichts zu tun“ (ebd.). Simmel geht es dabei folglich, ganz analog zu Dilthey, um die Entstehung eines ideellen Teilbereichs, um die Herauslösung bestimmter Bedeutungs- und Sinnstrukturen, bei denen dann erst in zweiter Instanz bestimmte institutionelle Komplexe bzw. Organisationsformen als Träger solcher Sinndifferenzierungen in den Blick geraten. Die Religion ist dabei nur ein Fall neben vielen anderen ‚Gebilden‘, die dieses Differenzierungsmuster zeigen: „So entstehen aus den zur Selbsterhaltung der Gruppe erforderlichen Verhaltungsweisen einerseits das Recht, das sie kodifiziert, andrerseits der Richterstand, dem die Anwendung desselben arbeitsteilig obliegt. So bildet sich aus der gesellschaftlich notwendigen Arbeit, die zuerst in unmittelbarer Kooperation Aller und nach der rohen Empirie des Tages geleistet wurde, einerseits die Technik heraus, als ein ideales System von Erkenntnissen und Regeln, andrerseits der Arbeiterstand, der nun der differenzierte Träger der entsprechenden Leistungen ist“ (GSG 5: 271f.).
Und ganz analog kommt es bei der Sonderung des im engeren Sinne Religiösen zu einem Komplex ideeller Inhalte, der mit seinem eigenen institutionellen Träger zusammengeht, aber davon zu unterscheiden ist. Jener Komplex umfasst die „Götter, welche die Beschützer der so gestimmten Beziehungen sind, welche als die Erreger dieser Gemütsverfassungen erscheinen, welche durch ihr Wesen das gleichsam gesondert darstellen, was bis dahin als bloße Beziehungsform und in Verschmelzung mit realeren Lebensinhalten existiert hatte. Und dieser Komplex von Ideen oder Phantasievorstellungen gewinnt nun in der Priesterschaft gleichsam eine Exekutive und arbeitsteiligen Träger, wie das Recht im Richterstand oder die Erkenntnissinteressen im Gelehrtenstand“ (ebd.: 272).
Die Eigengesetzlichkeit der objektiven Kulturgebilde Die „besonder[e] Gesetzlichkeit“ (GSG 10: 44) und damit eben: Autonomie der Sinngebiete liegt in der einzigartigen Beobachtungsperspektive, die jeden Sachverhalt nach eigenen Maßgaben thematisieren kann. Wie schon bei Dilthey verbinden
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sich damit deutliche Nähen zu Luhmanns Konzept der „Polykontexturalität“:82 Die Religion bildet mit den übrigen objektiven Gebilden ein desaggregiertes Nebeneinander von eigengesetzlichen Totalansichten. Die Objektivationen der Individuen verküpfen sich dabei innerhalb einer „sachlichen Ordnung von Werten, einer logischen oder sittlichen, einer religiösen oder künstlerischen, einer technischen oder rechtlichen“ (GSG 14: 391). Dabei erhalten sie ihren jeweiligen Wert allein nach Maßgabe eigenlogischer „Sachideale“ mit ‚legitimer Indifferenz‘83 gegenüber anderen Standards: „Das Kunstwerk soll nach den Normen der Kunst vollkommen sein, die nach nichts als nach sich selbst fragen und dem Werke seinen Wert geben oder verweigern würden, auch wenn es sozusagen auf der Welt gar nichts weiter als eben dieses Werk gäbe; das Ergebnis der Forschung als solches soll wahr sein und absolut weiter nichts, die Religion schließt mit dem Heil, das sie der Seele bringt, ihren Sinn in sich ab; das wirtschaftliche Produkt will als wirtschaftliches vollkommen sein und erkennt insoweit keinen anderen als den wirtschaftlichen Wertmaßstab für sich an“ (ebd.: 398).
Die Thematik der Eigengesetzlichkeit entfaltet sich bei Simmel freilich auch in der zeitlichen Dimension. Diesen Akzent findet man bei Dilthey in solcher Deutlichkeit sicher noch nicht. Gelten in sachlicher Hinsicht die Autonomie des jeweiligen Ideals und die eigene Perspektive auf die Welt, so ist in zeitlicher Hinsicht – und differenzierungsbezogen! – die eigengesetzliche Entwicklungslogik, die Simmel den objektiven Gebilden zuschreibt, hervorzuheben. Diese Entwicklungsgesetze treiben allenthalben wie mit „logische[r] Notwendigkeit ein Glied nach dem andern hervor“ (ebd.: 408). Für die Technik ist dies in aller Deutlichkeit gesagt: „So kann etwa die industrielle Herstellung mancher Fabrikate die von Nebenprodukten nahe legen, für die eigentlich kein Bedürfnis vorliegt; allein der Zwang, jene einmal geschaffenen Einrichtungen voll auszunutzen, drängt darauf; die technische Reihe fordert von sich aus, sich durch Glieder zu komplettieren, deren die seelische, eigentlich definitive Reihe nicht bedarf – und so entstehen Angebote von Waren, die erst ihrerseits künstliche und, von der Kultur der Subjekte her gesehen, sinnlose Bedürfnisse wachrufen“ (ebd.: 408f.).
Nichts anderes wird für die Wissenschaft konstatiert: Das bloße „Weitergehen der sachlichen Norm“ und der „Leergang der Methode“ treiben die Wissenschaft immer weiter über sich hinaus in der „Bearbeitung des Unwesentlichen“, der sie von einem sinnvollen Bezug zur Kultur abkoppelt (ebd.: 409) – eine Klage, in die Husserl später in der Krisis der europäischen Wissenschaften einstimmen wird. Auch die Reli82 Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, a.a.O., 88 u. passim. 83 Zu dieser differenzierungstheoretischen Formulierung Tyrell, Anfragen, a.a.O., 183.
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gion bildet hier für Simmel keine Ausnahme, denn „selbst sie hat, einmal aufgekommen, gewisse Bildungsgesetze, die ihre, aber nicht immer unsere Notwendigkeit entfalten“ (ebd.: 403). Sie geht „ihren eigenen, durch ihre immanente Logik bestimmten Weg [...], in den sie zwar das Leben hineinreißt; aber, welche transzendenten Güter auch immer die Seele auf diesem Wege findet, er führt sie oft genug nicht zu der Vollendung ihrer Totalität, auf die ihre eigenen Möglichkeiten sie weisen und die, die Bedeutsamkeit der objektiven Gebilde in sich aufnehmend, eben Kultur heißt“ (ebd.).
Ganz ähnlich spielen bei Max Weber in der Thematik der Eigengesetzlichkeiten die Entwicklungslogiken, die eigene Pfadabhängigkeiten produzieren, gerade für die Religion eine zentrale Rolle.84 Dort findet sich auch die kulturpessimistische Note, die wie bei Simmel in der Person den Leidtragenden der Auseinanderentwicklung und Widersprüchlichkeit der Lebensordnungen speziell in ihren ethischen Postulaten sieht. 85
Konflikt und Desintegration Damit verbindet sich bei Simmel wie schon bei Dilthey mit den Eigengesetzlichkeiten ein desintegratives Verhältnis der Kulturgebiete untereinander. Simmel setzt folglich, wie schon in Über sociale Differenzierung, auch bei seiner Kulturtheorie nicht auf Interdependenz und Integration der Kulturgebiete, sondern auf Interdependenzunterbrechung, die eine Divergenz der Kulturgebilde zur Folge hat –
84 Die bei Simmel mitschwingende Dynamik eines ‚Hypertrophierens‘ ausdifferenzierter Ordnungen findet sich bei Max Weber vor allem in der Beschreibung des Auseinandertretens von formaler und materialer Rationalität, ders., Wirtschaft und Gesellschaft (1921), hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 51972, 45, 59. Auch hier ist mit formaler Rationalität die deduktive Verselbstständigung der spezifisch-sachlichen Postulate gemeint, die dann gegenüber materialen Forderungen, etwa ethischer, politischer, utilitarischer, hedonistischer, ständischer, egalitärer Art, weitgehend unempfindlich bleibt. Religionsbezogen taucht diese Differenz bei Weber, soweit ich sehe, allerdings nicht auf. Luhmann scheint einen ähnlichen Sachverhalt im Sinn zu haben, wenn er von einer Hypostasierung der Funktion spricht, ders., Anspruchsinflation im Krankheitssystem. Eine Stellungnahme aus gesellschaftstheoretischer Sicht, in: Philip Herder-Dorneich, Axel Schuller (Hg.), Die Anspruchsspirale, Stuttgart 1983, 28-49. 85 Dazu Wilhem Hennis, Max Webers Thema. Die Persönlichkeit und die Lebensordnungen, in: Zeitschrift für Politik 31 (1984), 11-52.
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„daß die objektive Kultur sich in einem Maß und Tempo entwickelt, mit dem sie die subjektive Kultur weit und weiter hinter sich läßt, in der doch allein alle Vervollkommnung der Objekte ihren Sinn hat; daß die einzelnen Zweige der Kultur zu einer Richtungsverschiedenheit und gegenseitigen Entfremdung auseinanderwachsen, daß sie als Gesamtheit eigentlich schon vom Schicksal des babylonischen Turmes ereilt und ihr tiefster Wert, der gerade in dem Zusammenhang ihrer Teile besteht, mit Vernichtung bedroht scheint: dies alles sind Widersprüche, die wohl von der Kulturentwicklung als solcher unabtrennlich sind“ (GSG 16: 51f.).
In der Diagnose eines Konflikts und der Kollision der Ordnungen untereinander stimmen somit Dilthey, Simmel und auch Max Weber weitgehend überein.86 Dem widersprüchlichen Auseinandertreten der einzelnen Ordnungen entspricht, noch sehr viel deutlicher als bei Dilthey, auch in der Kulturphilosophie ein weitgehender Verzicht auf einen ‚makrosoziologischen‘ Gesellschaftsbegriff, der vom Ganzen ausgeht.87 Simmel sieht gerade in der „Formlosigkeit des objektivierten Geistes als Ganzheit“ die Bedingung der Möglichkeit des ‚Entwicklungstempos‘ der einzelnen objektiven Kulturgebilde, „hinter dem das des subjektiven Geistes in einem rapid wachsenden Abstand zurückbleiben muß“ (GSG 14: 414f.). Es bleibt damit für Simmel festzuhalten, dass die differenzierungstheoretischen Kontinuitäten mit Dilthey insbesondere in seinen kulturphilosophischen Schriften liegen. Im Einklang mit Dilthey und entgegen der französischen und englischen Tradition wird dabei ganz entscheidend auf die Ausdifferenzierung ‚ideeller Komplexe‘ abgestellt. Rollenkomplexe und institutionelle Momente sind dabei lediglich als arbeitsteilige Träger solcher Sinnhorizonte zu verstehen. Damit verbindet sich die Emphase der Eigengesetzlichkeit, die sich bei Simmel nicht nur in einer eigenen Sachlogik, sondern auch in einer immanenten Entwicklungsdynamik ausdrückt. Wie bei Dilthey werden Interdependenzunterbrechungen der Teilgebiete untereinander betont und gerade nicht auf Interdependenz und Komplementarität abgestellt, wie dies etwa Spencer und Durkheim tun. Die entsprechende Konsequenz ist bei Simmel und Dilthey wie auch bei Max Weber eine Diagnose von Widersprüch86 Hierzu Tyrell, Polytheismus, a.a.O., 161ff. Während in der Kulturphilosophie Simmels eher das Nebeneinander und der Relativismus kognitiv unterschiedlicher „Weisen der Welterzeugung“ (mit Nelson Goodman gesprochen) im Blick sind, findet sich das näher an Weber liegende Gegeneinander von quasi-ethischen Forderungen, die von den jeweiligen Lebensordnungen ausgehen, vor allem in der Einleitung in die Moralwissenschaft von 1892/1893. Hier ist vom „Konflikt der Pflichten“ die Rede, der mit der Differenzierung ins Nebeneinander in Zusammenhang gebracht wird, GSG 4: 348ff. Nicht zuletzt die Tatsache, dass auch hier der Akzent deutlich auf ‚Unaustragbarkeit‘ liegt, lässt Tyrell, Wertkollision, a.a.O., 165, in Simmel eine wesentliche Quelle für Webers eigene Kollisionsthematik sehen. 87 Tyrell, Max Webers Soziologie, a.a.O., passim.
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lichkeit und Konflikt und damit der Verzicht auf Integrationskonzepte. Es liegt folglich auf der Hand, dass sich auch Weber dieser differenzierungstheoretischen Tradition zurechnen lässt,88 was hier nur angedeutet werden kann.89 Bei Weber geht es etwa in Bezug auf die Religion ebenfalls um eine Ausdifferenzierung von Sinn im Zuge einer gesinnungsethischen Systematisierung und Rationalisierung der ‚Stellungnahme gegenüber Welt und Leben‘ nach einheitlichen religiösen Gesichtspunkten. Hier ist das Priester- und Prophetentum ebenfalls bloß ‚Träger‘ und ‚Promotor‘ solcher Sinnperspektiven. Dabei kommt es zur Ausbildung rein religiöser Zwecke und Wertorientierungen, die das Handeln und die gesamte Lebensführung bestimmen: Eine eigenlogische, spezifisch religiöse Rationalität kommt zum Tragen, die aus der Perspektive anderer Lebensordnungen nur als ‚irrational‘ beurteilt werden kann. Wie Tenbruck in einem anderen Zusammenhang deutlich macht, äußert sich diese Ausdifferenzierung zudem in einer spezifischen Eigenproblematik, die als Theodizeeproblem gerade mit einer zunehmenden Vereinheitlichung des religiösen Kosmos schärfer hervortritt und nach kontinuierlicher Bearbeitung verlangt.90 Schließlich liegt auch Webers Verzicht auf einen makrosoziologischen Gesellschaftsbegriff ganz auf der Linie Simmels.91
88 Tyrell, Diversität, a.a.O., 142f. 89 Hierzu insbesondere die Einleitung zu Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen sowie die Zwischenbetrachtung in Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 1920, 237ff., 536ff. 90 Friedrich Tenbruck, Das Werk Max Webers, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 27 (1975), 663-702. 91 Tyrell, Max Webers Soziologie, a.a.O., 390, 395, 401f.
Simmels Sozialformenlehre: Probleme eines Theorieprogramms A NDRÉ K IESERLING
I. Zu den Besonderheiten der soziologischen Klassiker gehört, dass sie in einer wissenschaftsgeschichtlichen Situation formulierten, in der um die Ausdifferenzierung der Soziologie noch gekämpft werden musste. Unter diesen Umständen war es nicht möglich, eine soziologische Theorie so zu vertreten, wie es nach dieser Ausdifferenzierung normal wurde, nämlich mit innersoziologischen Gegnern und Alternativen. Vielmehr fielen die Hauptlinien der Abgrenzung damals noch mit den Außengrenzen des Faches zusammen, und diese Grenzen wurden dabei als Thema von Zweifeln, als Zielpunkt von Angriffen, als Gegenstand von Konflikten erfahren.1 Leicht konnte auf diese Weise der Eindruck entstehen, die Begründung der eigenen Theorie habe zugleich diejenige des Faches selber zu leisten. Soziologischen Begriffsvorschlägen aus dieser Zeit wird jedenfalls häufig beides zugleich abverlangt. Sachkonzepte, über die man reden könnte, werden mit Selbstbehauptungs- und Reflexionsfunktionen verschmolzen – und dadurch überlastet. Einzelne Begriffserfindungen werden zu dem Grundbegriff der Soziologie hochgerechnet – und dadurch in unnötigen Abstraktionshöhen festgehalten und isoliert. Das weitere Schicksal solcher Begriffserfindungen mag dann auch davon abhängen, dass es gelingt, sie aus dieser Isolation zu lösen und jenen Kontakt zu anderen Theorien und Begriffen wiederherzustellen, der unter den schwierigen Bedingungen ihrer Erstformulierung unterbrochen wurde. Eine gute Illustration dafür bietet die Ideengeschichte der Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft. Von Tönnies als Kernstück der Soziologie ersonnen, hat sie sich in dieser Position nicht zu halten vermocht. Wohl aber ist es Talcott Parsons gelungen, das Thema der 1
Dazu etwa Wolf Lepenies, Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München 1985.
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Unterscheidung im Rahmen einer breiter ansetzenden Theorie zu rekonstruieren. Seither, also seitdem es die pattern variables gibt,2 ist das Thema von Tönnies auf der Agenda des Faches nur noch eines neben anderen. Der grundbegriffliche Rang und die konkurrenzlose Stellung wurden ihm also entzogen. In der Folge ist ihm auch das Schicksal der Erstarrung erspart geblieben, dafür hat es den Anschluss an normale Forschung und Theoriebildung gewonnen. Wollte man dieser knappen Analyse eine Maxime für heutige Zugriffe auf klassische Texte entnehmen, dann wäre es offenbar die, zwischen Sacheinsicht und soziologischer Selbstbehauptung deutlicher zu unterscheiden, als die Klassiker selbst es vermocht haben. Nur wenn man diese beiden Funktionen mindestens analytisch trennt, kann man die Frage stellen, wie sinnvoll es ist, sie in einem Begriff zu verbinden. Diese Frage wollen wir im Folgenden an die Sozialformenlehre von Georg Simmel richten, die sich dafür geradezu anbietet. Denn deutlicher noch als in anderen Texten klassischer Prägung wird bei Simmel ja beides ineinandergeschoben: die Artikulation eines soziologischen Interesses, das auf „soziale Formen“ wie Tausch oder Kooperation, Konkurrenz oder Konflikt geht und darin bis heute vorbildlich blieb, und jene Gleichsetzung dieses Interesses mit dem Interesse der Soziologie selbst, die neben Simmel und nach ihm kein zweiter Soziologe von Rang fortzusetzen bereit war. Wir haben es also mit einem paradigmatischen Fall der Bindung von Sacheinsichten an Selbstbehauptungsinteressen zu tun, und wie wir noch sehen werden, ist dies den Sacheinsichten Simmels nicht eben bekommen. Die Frage liegt daher nahe, was geschieht, wenn diese Bindung gekappt wird. Ihr soll der folgende Text nachgehen.
II. Ehe wir in die Diskussion selbst eintreten, soll zunächst das Argumentationsziel geklärt werden. Es betrifft das Verhältnis zwischen sozialer Differenzierung und sozialer Form. Beides sind Themen von Simmel, und nimmt man seine Philosophie des Geldes hier einmal aus, deren fachliche Zuordnung ja bekanntlich umstritten ist, dann sind es sogar die beiden einzigen Themen, denen er soziologische Bücher gewidmet hat: Den Prozess der sozialen und insbesondere der gesellschaftlichen Differenzierung behandelt der junge Simmel der Differenzierungs-Schrift 1890 im Interesse an einer Erklärung für das historische Hervortreten von Individualität, das
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Vorgestellt in: Talcott Parsons, The Social System, Glencoe Ill. 1951.
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reife Hauptwerk über die Sozialformenlehre von 1908 trägt demgegenüber eher Züge einer unhistorischen Invariantenlehre (GSG 11: 13-42).3 Bei dieser Themenwahl des Soziologen würde man eigentlich erwarten, dass Simmel den Zusammenhang dieser beiden Themen auch auf der Ebene grundbegrifflicher Überlegungen klärt. Das ist aber, wie wir noch sehen werden, nur in einer sehr unzureichenden Weise geschehen. Die Gründe dafür liegen in den begrifflichen Dispositionen des zweiten Buches und insbesondere darin, dass sie die eigentlich naheliegende Frage nach der sozialen Differenzierung der Formen selber blockieren. Simmel fehlt denn auch jeder Sinn dafür, dass es schwierig sein oder misslingen kann, Formen gegeneinander zu differenzieren, etwa weil das soziale System, in dem dies geschehen soll, dafür nicht komplex genug ist. Die wechselseitige Unabhängigkeit der Formen wird bei ihm als Konstante, nicht als Variable eingeführt, und damit entfällt die Möglichkeit sich vorzustellen, dass das Ausmaß ihrer Differenzierung von anderen Sozialstrukturen abhängt und mit ihnen sich ändert. Der Atomismus der Sozialformenlehre, aber auch der Zug ihrer Generalisierungen ins Unhistorische, beides geläufige Themen der Simmelkritik,4 haben ihren gemeinsamen Grund in jenen Begriffsdispositionen, die sich ihrerseits jener Verschmelzung von Sacheinsicht und soziologischer Selbstbehauptung verdanken, von der weiter oben die Rede war. Die Folgen davon halten an. Bis heute ist die Soziologie nicht daran gewöhnt, in der Frage nach der sozialen Differenzierung der Formen eine ihrer Aufgaben zu sehen. Aber so wie man sich vorstellen kann, dass die von Simmel unglücklich so ge3
Simmel hat die begrifflichen Grundlagen seiner Sozialformenlehre in verschiedenen Publikationen expliziert, angefangen von dem frühen Entwurf über „Das Problem der Sociologie“ aus dem Jahre 1894 bis zur letzten Behandlung des Themas in den Grundfragen der Soziologie, die dreiundzwanzig Jahre danach publiziert wurden. Die Unterschiede sind minimal. Zwar sehen die Grundfragen neben der Sozialformenlehre auch noch zwei andere Versionen von Soziologie vor – Simmel nennt sie die philosophische und die allgemeine –, aber diese zweiten und dritten Versionen werden einfach nur angestückt und hinzugefügt. Die implizite Selbstrelativierung der Sozialformenlehre, die sich aus der Anerkennung weiterer Spielarten von Soziologie ergibt, führt also zu keiner Änderung ihres Aufbaus und ihrer Argumentationstechnik, und der stillschweigende Verzicht darauf, die Soziologie im Ganzen mit der Sozialformenlehre zu identifizieren, ändert nicht diejenigen Merkmale dieser Lehre, die sich, wie noch zu zeigen sein wird, aus jener Identifikation ergeben hatten. Aber auch sonst sind die Unterschiede zwischen den verschiedenen Versionen des Arguments für die Thesen des folgenden Textes ohne jede Bedeutung. Ich vereinfache daher mir selbst die Belegtechnik und dem Leser die Überprüfung, indem ich mich ausschließlich an diejenigen Formulierungen halte, die Simmel in seinem soziologischen Hauptwerk kodifiziert hat.
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Als Dokumentation dazu Lewis Coser (Hg.), Georg Simmel, Prentice Hall 1965.
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nannten „Inhalte“ der Wissenschaft und der Religion, der Familie und des Betriebs früher einmal weniger stark gegeneinander differenziert waren als heute, so kann man auch fragen, ob nicht im Verhältnis zwischen inhaltlich neutralen Formen ein Mehr oder Weniger an Differenzierung vorliegen könnte. Vor allem bei voller Identität der Beteiligten wird man nicht davon ausgehen können, dass die beiden Sozialmodelle von Kooperation und Konflikt jeweils für sich und ohne Rücksicht auf das jeweilige Gegenmodell praktiziert werden können, sondern auf Mischformen einer ‚antagonistischen Kooperation‘ eingestellt sein müssen, und gemessen daran bilden Situationen mit stärkerer Formendifferenzierung einen dann schon erklärungsbedürftigen, da unwahrscheinlichen Sonderfall. Simmel, der die Differenzierung der Formen gegeneinander schlicht unterstellt, kann eine solche Erklärung nicht anbieten. Aber warum nicht?
III. Die beiden Sacheinsichten, mit denen er anhebt (ebd.: 21ff.), sind ja plausibel genug, jedenfalls solange man sie nur auf die moderne Gesellschaft bezieht: Die erste besagt, dass die Sozialformen zum Schema der gesellschaftlichen wie der sozialen Differenzierung querstehen. Den Tausch zum Beispiel gibt es nicht nur in der Wirtschaft, also nicht nur als geldvermittelte Transaktion, die Konkurrenz findet man nicht nur im eigens zu ihrer Glorifizierung ausdifferenzierten Wettkampfsport,5 soziale Konflikte werden soziologisch völlig zu Recht als ein Phänomen von universeller Verbreitung gesehen, und auch von Kooperation kann man keineswegs nur mit Hinblick auf die Binnenverhältnisse formal organisierter Sozialsysteme sprechen. Deshalb kann man auch nicht sagen: Tausch ist eine wirtschaftliche, Hierarchie ist eine politische, Konkurrenz eine sportliche und Imitation eine ästhetische Kategorie. Weder in dieser noch in irgendeiner anderen Zuordnung lassen sich zwingende Beziehungen zwischen Form und Inhalt, Sozialmodell und Funktionskontext ausmachen. Anders als binäre Codierungen haben Sozialformen also keinen invarianten Bezug zu jeweils einer spezifischen Funktion.6 Daher kann man umgekehrt
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Dazu sehr gut Tobias Werron, Der Weltsport und sein Publikum. Zur Autonomie und Entstehung des modernen Sports, Weilerswist 2010.
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Es daher auch nicht möglich, aus der Präsenz einer Form in verschiedenen Teilsystemen der modernen Gesellschaft auf den Primat eines dieser Teilsysteme über die anderen zu schließen, denn das würde jene zwingenden Beziehungen zwischen Sozialform und Funktionssystem voraussetzten, die es Simmel zufolge nicht gibt. Adorno hatte den gesamtgesellschaftlichen Primat der Wirtschaft aus der gesellschaftsweiten Verbreitung von
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die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft mit Hinblick auf ihren Gebrauch spezifischer Formen vergleichen. Auf dieser Linie formuliert Simmel zum Beispiel, dass Konflikte unter ehemals Nahestehenden, darunter vor allem Familienmitgliedern, von besonderer Heftigkeit seien, verglichen mit Konflikten unter Personen, die zuvor nur rollenspezifische Beziehungen unterhielten.7 Die Konstellation eine Form/mehrere Systeme ist indessen nur die eine Seite der Simmelʼschen Einsicht. Denn umgekehrt sind ja auch alle sozialen Systeme, ob nun als Einzelsysteme oder als Typus genommen, in der Lage, mehr als nur eines dieser Handlungsprogramme zu aktivieren, um eigene Operationen zu ordnen. Auch die Konstellation ein System/mehrere Formen gehört also mit ins Bild: In der Wirtschaft spielen nicht nur Tausch, sondern auch Kooperation und Konkurrenz eine tragende Rolle, vor Gericht gibt es neben der Konfliktentscheidung immer auch tauschförmig paktierte Einigungen, und wer annehmen wollte, dass unter den Mitgliedern formaler Organisationen alles eitel Kooperation sei, der wäre offensichtlich schlecht informiert. Wie die eher beiläufige Erwähnung von Organisationen schon anzeigt, gilt das Querstehen der Formen zur Unterscheidung der Inhalte auch dann, wenn man dabei nicht an Teilsysteme der Gesellschaft, sondern an andere Typen sozialer Systeme wie Organisation oder Interaktion denkt, die sich innerhalb der Gesellschaft, aber unterhalb der Ebene ihrer Teilsysteme bilden: Auch sie lassen sich nicht auf eine und nur eine Form festlegen. Versuche, die allgemeine Theorie solcher Gebilde auf eine spezifische Sozialform zu gründen, müssen denn auch als gescheitert gelten. Das gilt für die vorsoziologische Auffassung von Organisation, die sie als Kooperation mehrerer unter für alle identischen Zwecken denkt, und die die soziologische Kritik an der mangelnden Ordnungskraft von Zwecken nicht überstanden hat.8 Aber tauschförmigen Orientierungen herauszulesen versucht, und die aktuelle Zeitdiagnostik versucht etwas Ähnliches für die gesellschaftsweite Verbreitung von Konkurrenz. Wer so etwas plausibel findet, sollte gelegentlich einmal Simmel lesen. Mit demselben Recht, mit dem man aus der Konkurrenz unter Wissenschaftlern auf eine Ökonomisierung ihres System schließt, könnte man aus dem Streit unter Eheleuten auf eine Juridifizierung ihrer Beziehungen schließen oder auf eine Erotisierung der Wirtschaft daraus, dass es Werbung nun auch um Kunden statt nur um Frauen gibt. Ich notiere diesen Vorbehalt im Anschluss an eine Diskussion mit Hartmut Rosa. 7
Dazu Hartmann Tyrell, Das konflikttheoretische Defizit der Familiensoziologie: Überlegungen im Anschluss an Georg Simmel, in: Ders., Soziale und gesellschaftliche Differenzierung. Aufsätze zur soziologischen Theorie, hg. v. Bettina Heintz, Wiesbaden 2008, 315-339.
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Eine systematische Darstellung dieser Kritik gibt Niklas Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität. Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen, Tübingen 1968.
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auch elementare Kontakte unter Anwesenden lassen sich ja keineswegs nur auf eines dieser formalen Typenprogramme zurückführen, also auch nicht auf Tauschprogramme mit eingebauter Gerechtigkeitsgarantie, so wie Homans und Blau es sich vorstellen konnten.9 Eine allgemeine, auch von Simmel gezogene Konsequenz aus dieser doppelten Einsicht besagt, dass theoretische Generalisierungen über einzelne Formen systemunspezifisch sind, nämlich Informationen über sehr verschiedenartige Systeme aufnehmen und integrieren müssen, während Generalisierungen über einzelne Systeme modellunspezifisch sind, also wenn überhaupt Modelle oder Formen, dann immer mehrere davon berücksichtigen müssen. Eine allgemeine Theorie des Konflikts würde sich ihre Belege, schon um Voreingenommenheiten zu meiden, in mehr als nur einem System suchen müssen, eine allgemeine Theorie der Organisation neben der Kooperation unter für alle identischen Zwecken immer auch noch andere Formen in sich aufnehmen müssen, darunter nicht zuletzt auch Konflikte. Damit ist der Grundgedanke der Sozialformenlehre knapp expliziert. Würde man ihn in die Sprache einer Theorie der Systemdifferenzierung übersetzen, müsste man sagen: Simmel hat zutreffend gesehen, dass die Differenzierung der Gesellschaft in verschiedenartige Sozialsysteme die Formen nicht mit differenziert. Es kommt also nicht dahin, dass ein System sämtliche Gebrauchsfälle einer Form und nur diese in sich hineinzieht, so dass andere Formen nur in der Umwelt Verwendung finden können. Keine Ausdifferenzierung von Teilsystemen führt zu Monopolen auf den Gebrauch einer Einzelform, gleichviel welcher. Solche Monopole gibt es weder auf der Ebene der Gesellschaft: Es bilden nicht alle Tauschakte (und nur diese) ein (und nur ein) gesellschaftliches Teilsystem, etwa das Wirtschaftssystem; noch gibt es sie innerhalb dieser Teilsysteme selbst: Es bilden nicht alle Konflikte unter Wissenschaftlern (und nur diese) ein (und nur ein) Teilsystem innerhalb der Wissenschaft, etwa nach Art einer Disziplin von extremer Streitfreude. Normal ist vielmehr, dass jedes System verschiedene Formen verwendet und darum auch umgekehrt jede Form an verschiedenen Systemen studiert werden kann. Analysen des Gebrauchs einer Einzelform müssen daher nicht in fester, sondern in wechselnder Systemreferenz durchgeführt werden, während Analysen eines Einzelsystems auf wechselnde Formen stoßen werden. 9
Dazu neben George C. Homans, Elementarformen des sozialen Verhaltens, Opladen 1972, vor allem Peter M. Blau, Exchange and Power in Social Life, New York 1964. Zugunsten dieser Auffassung wird gelegentlich auch Simmel selber zitiert, vor allem in der englischsprachigen Literatur. Das liegt aber nur daran, dass man „Wechselwirkung“ dort gelegentlich auch mit „reciprocity“ übersetzt findet. Dass der Tausch, und zwar auch der kommunikativ latente Tausch von Hilfe gegen Dankbarkeit, von dem Blau vornehmlich handelt, bei Simmel nur eine Sozialform neben anderen bildet, ist indessen leicht zu erkennen.
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Die Probleme liegen, wie schon angedeutet, nicht in solchen Sacheinsichten, sondern in ihrer Verschmelzung mit einem Begriff von Soziologie, der auf ihre Gleichsetzung mit der Sozialformenlehre hinausläuft. So wird sie, was ein Thema neben anderen sein könnte, mit den Außengrenzen des Faches identifiziert. Hätte Simmel mit den Sozialformen nur ein Interesse innerhalb der Soziologie umschrieben, das zu dem immer schon gepflegten Interesse an gesellschaftlicher Differenzierung einfach hinzutritt, dann hätte er die Aufgabe einer facheinheitlichen Theorie darin sehen müssen, diese beiden Themen aufeinander zu beziehen. Stattdessen wird die Soziologie mit dem Interesse an den Sozialformen identifiziert, und ihr Verhältnis zu den anderen Sozialwissenschaften wird mit Trennformeln und nicht mit Verbindungsformeln beschrieben – so wie es einer wissenschaftsgeschichtlichen Situation entsprach, in der von interdisziplinärer Forschung die Rede nicht sein konnte, da vorerst noch Probleme der Ausdifferenzierung der eigenen Disziplin überwogen.
IV. Rufen wir uns diese wissenschaftsgeschichtliche Situation zunächst in Erinnerung. Das Muster der Disziplinendifferenzierung, das die Soziologie vorfindet, als sie sich zu etablieren sucht, folgt den Grundlinien der gesellschaftlichen Differenzierung: So gut wie jedem Funktionssystem entspricht bereits eine Wissenschaft (oder eine Anwärterin auf diesen epistemologischen Superlativ). Mindestens im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften ist die Wissenschaft also in Subsysteme differenziert, zu denen es genaue Entsprechungen in der nichtwissenschaftlichen Umwelt gibt. Auf die Frage, wie ihr eigenes Fach sich zu dieser Gruppe von Wissenschaften verhalten soll, mussten daher alle frühen Soziologen eine Antwort geben, darunter auch Simmel. Um das, was ihm bei dieser Gelegenheit einfällt, mit den Antworten von Weber und Durkheim vergleichbar zu machen, möchte ich jedem dieser drei Autoren zwei Wahlen zurechnen: die Wahl eines soziologischen Grundbegriffs, der zugleich alles Soziale und nur dieses bezeichnen soll, und die Wahl eines Schemas seiner Dekomposition, also seiner Zerlegung in Themen, die weniger flächendeckend gefasst, aber dafür auch forschungsgünstiger konturiert sind. Bei allen drei Autoren ist der Grundbegriff so angelegt, dass er nicht einfach einen weiteren Eintrag in jene Liste der Sozialwissenschaften abgeben kann, aber auch nicht mit irgendeinem der bereits vorhandenen Einträge sich deckt. Sozialität wird weder mit Politik noch mit Wirtschaft gleichgesetzt, bildet aber auch keinen weiteren Sektor dieser Art. Erst recht soll die Soziologie nicht rein äußerlich nur zusammenfassen, was Staatslehre oder Rechtswissenschaft, Religionsforschung oder Nationalökonomie zum Verständnis ihrer jeweiligen Themen beisteuern können. In der Theoriesprache von Parsons könnte man sagen, alle drei suchen nach
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einem universalistischen Begriff von Sozialität, der auf alle sozialen Sachverhalte im selben Maß anwendbar ist, also keine partikularen Affinitäten zu Einzelbereichen wie Wirtschaft oder Politik aufweist – und der eben darum auch anderen Bereichen ohne sei es ökonomische, sei es politische Voreingenommenheiten begegnen kann. Das gilt gleichermaßen für ‚soziales Handeln‘, für ‚soziale Tatsachen‘ und für ‚soziale Formen‘. Die Differenzen zwischen Weber bzw. Durkheim auf der einen und Simmel auf der anderen Seite betreffen das Verhältnis zwischen dem jeweiligen Grundbegriff und seiner Zerlegung oder Dekomposition in Unterbegriffe, die dann zugleich Forschungsthemen bezeichnen. Man könnte auch sagen: sie betreffen das Verhältnis von Generalisierung und Respezifikation. An Weber wie an Durkheim (und an den „Soziologischen Grundbegriffen“ nicht anders als an den Regeln) fällt auf, dass sie einerseits beträchtliche Anstrengungen unternehmen, um die eigenen Generalisierungen zu klären – dann aber wenig Bedenken tragen, das Schema jener Differenzierung, dem die anderen Sozialwissenschaften folgen, auch ihrerseits zu verwenden, und zwar überall dort, wo es ihnen um die Respezifikation ihrer Generalisierungen geht. Simmel dagegen verfährt genau umgekehrt. Diese Option von Weber und Durkheim bedeutet einmal, dass beide Autoren zur Soziologie von Teilsystemen der modernen Gesellschaft beitragen, also zur Rechtssoziologie, zur Religionssoziologie, zur politischen Soziologie usw. Sie bedeutet zum anderen, dass sie sich eben deshalb in Abgrenzungskontroversen im Verhältnis zu den jeweiligen Nachbarwissenschaften verstricken.10 Und sie bedeutet drittens, dass ihr Dekompositionsschema sich, wie man allerdings erst von heute aus sehen kann, mit dem unterdessen etablierten Schema der Binnendifferenzierung des Faches in Einklang befindet: Ihre Beiträge zur Soziologie der Teilsysteme sind zugleich Gründungstexte spezieller Soziologien, und sie selbst werden daher immer auch als deren Gründungsfiguren verehrt. Sollte der unwahrscheinliche Fall eintreten, dass die soziologische Theoriebildung das Interesse an Weber verliert, dann würde es immer noch Rechtssoziologen oder Religionssoziologen geben, die sich an ihn erinnern. Bei Simmel ist das Verhältnis jener beiden Wahlen genau umgekehrt – und damit entfallen auch diese drei Konsequenzen. Er steckt wenig Arbeit in seinen Grundbegriff der sozial geformten Wechselwirkung, und der Grund dafür dürfte sein, dass er sich die Unabhängigkeit im Verhältnis zu anderen Sozialwissenschaften nicht schon auf dieser Ebene theoretischer Abstraktion erhofft. Statt dessen soll sich die Autonomie der Soziologie erst aus jener zweiten Schicht von Begriffen er-
10 Als ein Beispiel neben vielen Emile Durkheim, Erziehung und Soziologie, Düsseldorf 1972.
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geben, in die jener leerformelhafte Grundbegriff dekomponiert wird.11 Das Schema dieser Dekomposition darf sich mit dem der anderen Sozialwissenschaften also gerade nicht decken. Es darf nicht mit der Liste der Funktionssysteme übereinstimmen, sondern muss quer dazu stehen. Dies zu garantieren, ist die Funktion der Unterscheidung von Formen und Inhalten. Nach Simmel sind die schon vorhandenen Sozialwissenschaften mit Inhalten wie Wirtschaft oder Politik befasst (ebd.: 22), während die Soziologie sich mit inhaltlich neutralen Formen wie etwa der Konkurrenz zu befassen habe, die es unter Produktionsbetrieben so gut geben kann wie unter Parteien, unter Kirchen nicht anders als unter Künstlern. Sein soziologisches Hauptwerk ist eines über Formen, nicht über Funktionssysteme. Natürlich urteilt er auch über diese, aber die Integrationsform seiner Urteile und damit das eigentlich Theoretische seines Buches, das sich auch in dessen Gliederung spiegelt, findet er in Formen, nicht in Systemen. Zusammen mit der Respezifikation nach Funktionssystemen vermeidet Simmel auch die daran hängenden Abgrenzungskontroversen. Anders als von Weber und Durkheim gibt es von ihm keine Texte, in denen er etwa die Rechtssoziologie gegen die Rechtwissenschaft abgrenzen würde. Und dies ist kein Wunder, weil es von ihm auch keine Rechtssoziologie, keine politische Soziologie,12 keine Soziologie der wissenschaftlichen Forschung gibt. Andererseits ist die Differenz der Formen, anders als die der Funktionssysteme, keine stabile Linie der innersoziologischen Arbeitsteilung. Gerade an den erfolgreichen Subdisziplinen muss auffallen, dass sie sich einen Gegenstand suchen, der sich innerhalb der Gesellschaft ausreichend klar (und am besten: an Hand selbstgezogener Grenzen) unterscheiden und abgrenzen lässt. Man denke nur an Fälle wie Rechtssoziologie, politische Soziologie, Wissenschaftssoziologie. Auch die Binnendifferenzierung der Soziologie folgt also inzwischen jenen Mustern der gesellschaftlichen Differenzierung, denen im Augenblick ihrer Etablierung zunächst einmal nur die Verhältnisse in ihrer innerwissenschaftlichen Umwelt entsprochen hatten. Das Fach ist nicht in Konkurrenzforschung oder Kooperationsforschung differenziert, und die Typik seiner Differenzierung folgt eher Systemen als Formen. Darum fehlt es im Falle Simmels an jener redundanten Aufmerksamkeit für den Klassiker, von der Durkheim und Weber bis heute profitieren. Unter den Gründungsfiguren spezieller Soziologien ist er deutlich unterrepräsentiert. Und mehr als die anderen Klassiker muss er sich ausschließlich mit seinen Generalisierungen behaupten. 11 Den Einwand des Leerformelhaften bringt auch Max Weber, Georg Simmel als Soziologe und Theoretiker der Geldwirtschaft, in: Simmel Newsletter 1 (1991), 9-13. 12 „The significance of Simmel’s sociology for political theory is more implicit than obvious“, notiert denn auch E.V. Walter, Simmel’s Sociology of Power: The Architecture of Politics, in: Kurt H. Wolff (Hg.), Georg Simmel, 1858-1918, Ohio 1959, 139-167, hier 140.
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Das ist aber schwierig genug, denn angesichts dieser Binnendifferenzierung des Faches kommt die Sozialformenlehre als Integrationsformel nicht in Betracht. Stattdessen empfehlen sich an dieser Funktionsstelle einerseits Theorien der gesellschaftlichen Differenzierung wie etwa die Feldertheorie von Bourdieu oder die Systemtheorie von Luhmann in ihrer Anwendung auf die moderne Gesellschaft, andererseits Theorien, die sich zur Überbrückung von Ebenendifferenzen oder von Mikro-Makro-Differenzen eignen, und auch hier kommt, neben anderen Fällen, wie sich versteht, die Systemtheorie in Betracht, nur eben in ihrer Anwendung auf die unterschiedlichen Systembildungsebenen für Interaktion, Organisation und Gesellschaft. Der Grund dieser Überlegenheit liegt hier wie dort darin, dass die Grundbegriffe dieser Theorien in Übereinstimmung mit einem Schema der Binnendifferenzierung dekomponiert werden können. Ich fasse zusammen: Simmel unterscheidet Wechselwirkungen nicht primär nach „Inhalten“ wie Wirtschaft oder Politik, sondern nach „Formen“ wie Konkurrenz oder Kooperation, für die er inhaltliche Neutralität reklamiert. Im Verhältnis zu den anderen Sozialwissenschaften wählt er damit, sehr im Unterschied zu Weber und Durkheim, ein inkongruentes Schema der Respezifikation seines Grundbegriffs. Das bietet ihm den Vorteil, wissenschaftliche Unabhängigkeit nicht schon auf der Ebene des Grundbegriffes selber garantieren zu müssen. Andererseits wird diese Option zum Hindernis, wenn nicht nur jene anderen Sozialwissenschaften, sondern auch die Soziologie selbst dazu übergeht, ihren Gegenstand nach Maßgabe von internen Systemgrenzen differenziert zu erleben und die Typik der eigenen Binnendifferenzierung darauf einzustellen. Die Inkongruenz des Schemas wird dann zum Hindernis weiterer Verbreitung im eigenen Fach. Sie dient nicht der Ausdifferenzierung der Soziologie, sondern hat nur zur Folge, den Erfinder des Schemas innerhalb der bereits ausdifferenzierten Soziologie zu isolieren. Wenn diese Skizze der Wirkungsgeschichte auch nur halbwegs richtig ist, dann müsste sie auch erkennen lassen, auf welche Weise man Simmel aus seiner Isolation innerhalb des Faches herauslösen und in aktuelle Forschungsprogramme einbauen kann. Sicher genügt es nicht, die Sozialformenlehre gegenüber dem Interesse an gesellschaftlicher Differenzierung, eingeschlossen dem eigenen, einfach nur zu isolieren, so wie Simmel es tat. Wenn die Ausdifferenzierung der Sozialformenlehre nicht als Ausdifferenzierung der Soziologie selber vollzogen werden kann, sondern nur ein Interesse innerhalb dieser Wissenschaft artikuliert, dann müsste der Kontakt zu anderen Interessengebieten gestärkt und nicht etwa durch Unabhängigkeitserklärungen unterbrochen werden. Die letzten Abschnitte dieser Übersicht (VI, VII, VIII) möchte ich darauf verwenden, wie Vorschläge dafür zu unterbreiten sind. Zuvor ist jedoch das Problem selbst etwas besser zu konturieren.
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V. Mehr oder minder deutlich unterscheidet Simmel zwei Arten wissenschaftlicher Disziplinen. Die einen haben einen selbständig existenzfähigen Gegenstand und können daher nur solche Disziplinen neben sich dulden, die ihrerseits einen anderen Gegenstand haben, und zwar einen davon getrennten statt nur einen umfassender definierten: Eine gesellschaftstheoretische Superwissenschaft, die eigene Zuständigkeiten für Recht oder Wirtschaft, Religion oder Politik anmelden wollte, müsste unter diesen Umständen abgewehrt werden. In einer zweiten Gruppe von Wissenschaften geht es dagegen netter und freundlicher zu. Ihr Verhältnis zu anderen Disziplinen ist eines der Kooperation, nicht des Konflikts. Hier werden nämlich nicht komplette Gegenstände, sondern nur unselbständige Aspekte an ihnen behandelt, also nur das Sachkorrelat eines wissenschaftlichen Begriffsgebrauchs, das nur analytisch überhaupt isoliert werden kann (ebd.: 22f.). Für diese „Aspektwissenschaften“13 ist ein eigener Gegenstand nicht vonnöten, und es liegt ihnen darum ganz fern, anderer Wissenschaften Gegenstände an sich zu bringen. Zwar finden sie ihre Themen nur an diesen, aber da es ja nur ohnehin um die Aspekte und nicht um die Gegenstände selbst geht, kann dies geschehen, ohne den anderen Wissenschaften etwas wegzunehmen. Im Gedränge der Disziplinen empfehlen sie sich die Aspektwissenschaften also durch Harmlosigkeit ihrer Ansprüche, Folgenlosigkeit ihrer Zulassung, Unbetroffenheit ihrer etwaigen Gegner. Die Soziologie, so wie sie heute existiert, trägt bekanntlich nicht die geringsten Bedenken, nicht nur die Gegenstände anderer Wissenschaften, sondern wissenssoziologisch auch diese selbst zu behandeln, zum Beispiel mit dem Argument, sie dienten immer auch der Selbstbeschreibung der von ihnen Erforschten und kämen ihnen darin zu nahe.14 Vor einhundert Jahren war dies aber noch völlig anders, und bei der damals noch ungesicherten Position der Soziologie, der im Falle Simmels auch die ungesicherte Position des Soziologen selber entsprach, nimmt es nicht Wunder, dass Simmel sein Fach für eine Aspektwissenschaft hielt – und dass er mit eben dieser Begründung versuchte, den zu erwartenden Widerstand der „Systemwissenschaften“ zu brechen.15 Der Theoretiker der Knappheit vollbringt ein Wun-
13 Das Wort stammt von mir und wird hier, ähnlich wie „Systemwissenschaften“ weiter unten im Text, nur zu Verständigungszwecken und nicht etwa in der Absicht auf Gründung einer festen Terminologie gebraucht. 14 Das Argument ist entfaltet in André Kieserling, Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung. Beiträge zur Soziologie soziologischen Wissens, Frankfurt/M. 2004. 15 Diesen Punkt betont auch Otthein Rammstedt, Georg Simmel und die Soziologie, in: Simmel, Individualismus der modernen Zeit und andere soziologische Abhandlungen, ausgew. u. m. e. Nachw. v. Otthein Rammstedt, Frankfurt/M. 2008, 361-393, hier 380.
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der der interdisziplinären Brotvermehrung, das alle Summenkonstanzannahmen hinter sich lässt. Die Soziologie ist demnach ein Gewinn, dem keine Verluste anderer Wissenschaften entsprechen. Der zweite Teil dieses Satzes mag zutreffen. Für die Soziologie selbst hat diese eigentümlich defensive Argumentationsstrategie eine Reihe von spürbaren Nachteilen. Trifft es nämlich zu, dass die Soziologie nur Aspekte an den Gegenständen anderer Wissenschaften zum Thema hat, dann wirkt dies auch auf ihren Begriff der Sozialität zurück. Und soll das eigentliche Soziale sich in den Fällen des Formengebrauchs konzentrieren, dann muss man es den Inhalten absprechen. In seinen exponiertesten Formulierungen ist Simmel dazu bereit. Die Grenze zwischen sozialen und vorsozialen Sachverhalten zieht er nach Maßgabe der Unterscheidung von Formen und Inhalten, und die immanente Sozialität von „Inhalten“ wie Religion oder Wirtschaft wird direkt bestritten, ganz so, als könnten sich mit dem spezifisch Religiösen an der Religion nur die Psychologen und mit dem spezifisch Ökonomischen an der Wirtschaft nur die Biologen befassen (ebd.: 18f.). Lässt man sich darauf ein, dann durchschneidet die Grenze zum Vorsozialen alle bisher so genannten sozialen Einheiten, und zwar in der Weise, dass nur der Formengebrauch dieser Einheiten (oder in Simmels Sprache: dieser Gesellschaften) als ein genuin sozialer Prozess gilt, und dass nur er zum Gegenstand soziologischer Forschung und Theoriebildung taugen soll. Die inhaltliche Bindung der sozialen Einheit, also ihre Lokalisierung im Kontext gesellschaftlicher Differenzierung, aber auch die Frage nach ihrem eigenen Systemcharakter gelten als soziologisch unzugänglich. Verglichen damit hatte der Simmel des Differenzierungsbuches über diesen Systemcharakter noch sehr präzise Vorstellungen.16 Er wollte nämlich nur solche sozialen Einheiten soziologisch behandelt wissen, die in der Lage sind, sämtliche Mitglieder auszutauschen, ohne darüber zu desintegrieren. Aus diesem Konzept, dem man rasch anmerken kann, dass es auf Organisationen fixiert ist, hatte Simmel denn auch jede soziologische Befassung mit Interaktionen ganz explizit ausgeschlossen (GSG 2: 133f.). Dass seine Sozialformenlehre sie nunmehr einschließen will, hat seinen Grund keineswegs darin, dass er den Systemcharakter auch dieser ephemeren Gebilde unterdessen erkannt hätte (dass bei Simmel diese Erkenntnis noch fehlt, war denn auch der spätere Einwand von Goffman, dem sie zu danken ist17), sondern darin, dass die Frage danach an Bedeutung verliert, wenn es soziologisch ohnehin nicht um die Einheit selbst geht, sondern nur um die Episoden des Formengebrauchs, die man ihr zurechnen kann.
16 Auf Simmels „Systemtheorie“ komme ich im letzten Abschnitt noch einmal zurück. 17 Vorgetragen in Erving Goffman, Interaktion. Spaß am Spiel, Rollendistanz, München 1973, 23f.; dazu auch André Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme, Frankfurt/M. 1999, 474ff., bes. 481.
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Eine solche Verschmelzung der Außengrenzen des Faches mit der Unterscheidung zwischen Inhalt und Form, System und Modell, wie Simmel sie projektiert, ist aber praktisch nicht durchführbar. Die Vorstellung, die Sachbindung und der Systemcharakter einer sozialen Einheit gingen die Soziologie gar nichts an, ergibt nicht nur eine zu enge Auffassung von deren Themen und Gegenständen, sie verstellt auch der Sozialformenlehre selbst eine Reihe von Fragen, die sie angesichts ihrer eigenen Themen zu stellen hätte. Nicht dass Simmel einen historisch chancenlosen Begriff von Soziologie vertrat, wäre ihm vorzuhalten, sondern dass dieser Begriff auch die Sozialformenlehre selber beengt. Die folgende Kritik moniert also nicht, dass Simmel der Ausdifferenzierung der Soziologie einige ihrer vermutlich ergiebigsten Themen geopfert hat. Es trifft zwar zu, dass er aufgrund seiner Desozialisierung der Inhalte die Frage nach ihrer Differenzierung nicht stellen kann. Aber diese wie andere Schwächen seines Arguments zählen hier nur in ihren Implikationen für die Sozialformenlehre. Einen ersten Hinweis auf solche Implikationen bietet ein Einwand, von dem die Sozialformenlehre umstellt ist, seitdem es sie gibt. Vorgetragen bevorzugt von Autoren, die entweder noch geschichtsphilosophisch denken, also von Marx her kommen oder Weber folgen und darum an historischer Soziologie interessiert sind, lautet die Kritik hier wie dort und bei Adorno nicht anders als bei Aron, dass Simmel in Modellplatonismus oder Sozialontologie steckenbleibe.18 In der Tat besteht die Sozialformenlehre, so wie Simmel sie entfaltet, aus gegeneinander isolierten Komplexen von Aussagen über einzelne Formen, die dabei an möglichst inhomogener Empirie belegt werden. Alles sieht dann so aus, als läge das Soziale an den Formen darin, dass Aussagen über sie sachlich und zeitlich uneingeschränkt generalisiert werden können. Und nach manchen Anzeichen hat Simmel seine Theorie in der Tat so verstanden, als befasse sie sich mit gesellschaftlichen Universalien, etwa nach der Art des Inzesttabus. Gegen das soziologische Unbehagen daran, das naheliegt, könnten die Anhänger Simmels sich auf zwei Hauptlinien der Verteidigung zurückziehen, die aber beide nicht sehr belastbar sind. Entweder verweisen sie auf den Reichtum an historischem Material, das Simmel zu integrieren wusste, oder sie geben zu bedenken, dass Simmel doch durchaus eine Theorie der modernen Gesellschaft anzubieten habe (oder jedenfalls Ansätze dazu), die deren historischer Besonderheit gerecht zu werden vermag. Die erste Defensive übersieht, dass Simmel auf Daten aus historisch entlegenen Epochen zurückgreift, um die Geschichtsindifferenz seiner Generalisierungen zu belegen. Die zweite Antikritik würdigt nicht ausreichend, dass Simmel seine Theorie der Moderne gerade nicht in der Sprache der sozialen Formen schreibt, sondern in der Sprache der Unterscheidung von Individuum und Gesell18 Dazu Theodor W. Adorno, Einleitung in die Soziologie (1968), Frankfurt/M. 2003, 113ff.; Raymond Aron, Deutsche Soziologie der Gegenwart, Stuttgart 1969, 2ff.
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schaft. Nicht eine besondere Konstellation im Verhältnis der Formen – zum Beispiel: die Differenzierung von Hilfe und Reziprozität – soll das Signum der Moderne ausmachen, sondern eine besondere Konstellation im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, begriffen unter den Vorzeichen von Verdinglichungsgefahr und Entfremdung.19 Um an dieser Stelle weiterzukommen, ist der Vergleich mit Durkheim und Weber abermals aufschlussreich. Fragt man nämlich, wie diese beiden die Beziehung ihrer Begriffe zur Historizität ihres Gegenstands artikuliert haben, dann liegt die bevorzugte Lösung offensichtlich im Begriff der sozialen Differenzierung: Unterschiedliche Niveaus oder unterschiedliche Formen von Differenzierung (bei Weber dann auch: von „Rationalisierung“) werden konstruiert, und Geschichte kann dann als Variation des Niveaus oder Wechsel der Form konzipiert werden. Dass solche Konzepte, mit denen man die soziokulturelle Evolution von ihren Schwellen her zu rekonstruieren versucht, keine ausreichende Antwort auf genetische Fragen geben können, liegt auf der Hand, besagt aber nichts gegen die Fruchtbarkeit des Konzepts, wenn es um die Präzisierung der genetischen Fragen selbst geht. Natürlich verfügt auch Simmel, der frühe zumal, über einen Begriff der sozialen Differenzierung, und natürlich bezeichnet er auch bei ihm, so wie bei den anderen Klassikern, eine steigerbare und in ihrer Steigerbarkeit auch auf Geschichte beziehbare Größe. Nur bleibt das Potential, das dieser Begriff für die Sozialformenlehre entfalten könnte, mehr oder minder ungenutzt, solange er einfach nur neben den anderen Formen steht. Und mir scheint, dass es genau diese Stelle ist, an der bei Simmel die Probleme sich stauen. Man muss nur einmal lesen, wie er zur Illustration seines Leitbegriffs unterschiedliche Formen auflistet und dabei keine Bedenken hat, „Arbeitsteilung“, „Bildung sekundärer Abteilungen“ oder auch „Differenzierung“ selbst20 in einer Reihe mit „Tausch“ oder „Konflikt“ zu nennen, um sich davon zu überzeugen, dass er sich soziale Differenzierung in der Tat als eine Form neben anderen vorgestellt hat. Aber was motiviert diese nachrangige Einführung des Differenzierungskonzepts? Und was sind die Folgen davon? Wenn Simmel den Differenzierungsbegriff dem Formbegriff unterordnet, dann folgt dies aus seiner Auffassung über die Themen und Gegenstände der Soziologie. Seine These, die Zuständigkeit für Inhalte liege bei anderen Wissenschaften, macht es soziologisch unattraktiv, soziale Differenzierung als ein Verhältnis dieser Inhalte zueinander zu fassen, verstanden etwa als Festlegung auf unterschiedliche Funktio19 Diese Zeitdiagnose würdigt das Nachwort von Jürgen Habermas, Georg Simmel über Philosophie und Kultur, in: Georg Simmel, Philosophische Kultur, Berlin 1983, 243-253. 20 Die Einträge für „Arbeitsteilung“ und „sekundäre Abteilungen“ finden sich in Simmels Hauptwerk, GSG 11: 21, 27, und von „Differenzierung“ als Form spricht Simmel in einem Brief an Lester F. Ward vom 24. Februar 1893, GSG 22: 86f. (Den Hinweis auf diesen Brief verdanke ich Hartmann Tyrell).
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nen, so wie es der Tradition des Begriffes entspricht. Denn damit wäre das Konzept aus der Soziologie herausabstrahiert. Soll das Differenzierungskonzept für die Sozialformenlehre verfügbar bleiben, muss es auf der Seite der Formen eingeführt werden, und das wiederum geht am einfachsten, indem man sich vorstellt, Differenzierung sei eine Form unter anderen – ungefähr so wie Konkurrenz oder Konflikt. Diese Problemlösung ist nach Simmels eigenen Prämissen keineswegs unbegründet. Hält man an seiner Bestimmung der Formen durch inhaltliche Neutralität fest, dann spricht zu ihren Gunsten, dass es Systemdifferenzierungen zweiter Stufe gibt, und zwar in jedem inhaltlichen Bereich eine eigene: in der Religion mehrere Kirchen, in der Politik mehrere Parteien usw. Das für Simmel maßgebliche Merkmal von Formen, ihre inhaltliche Neutralität, würde demnach auch von Differenzierungsprozessen erfüllt.21 Man muss solche Einsichten nicht bestreiten und kann sie insbesondere auch systemtheoretisch gut rekonstruieren. Alle Typen von sozialen Systemen, ausgenommen nur Interaktionssysteme, sind in der Lage, Teilsysteme zu bilden. Sobald man aber so formuliert, wird klar, wie wenig Simmel der Tragweite des Differenzierungsbegriffs gerecht wird. Denn nicht nur die Binnendifferenzierung innerhalb von Politik oder Religion, schon ihr Verhältnis zueinander kann mit Hilfe von Differenzierungstheorie beschrieben werden. Umgekehrt sind nicht nur die Teilsysteme der Gesellschaft, sondern auch diese selbst ein soziologisch sinnvoller Anwendungsfall des Begriffs. Simmels Disposition über den Differenzierungsbegriff bringt ihn zwar in derjenigen Theorie unter, die er für die eigentlich soziologische hält, aber gerade das macht nur nochmals erkennbar, welche theoretischen Unkosten sich aus seiner Überschätzung der Sozialformenlehre ergeben. Gleich drei mögliche Funktionen sind es nämlich, die dem Begriff dadurch entzogen werden: Er kann zum einen nicht mehr verwendet werden, um die Differenzierung der Inhalte zu klären - damit verschwinden Themen wie „gesellschaftliche Arbeitsteilung“ oder „Differenzierung der Gesamtgesellschaft“ vom Bildschirm der Soziologie. Die Resultate des Prozesses der funktionalen Differenzierung muss Simmel sich darum vorgeben lassen. Sie erscheinen bei ihm als kategoriale Struktur und nicht als evolutionäre Errungenschaft – so als wäre es ausgemacht, dass man auch in älteren Gesellschaftsformationen mit derselben Trennschärfe wie heute zwischen Wirtschaft und Politik oder zwischen Wissenschaft und Religion unterscheiden konnte, während das Gegenteil doch eigentlich auf der Hand liegt. Damit sind erhebliche Schwierigkeiten im Zugriff auf historisches Material bereits vorprogrammiert.
21 Man mag einwenden, ein Verhältnis zwischen Kirchen oder Parteien sei doch etwas anderes als eine zwischenmenschliche Beziehung, aber da Simmel sich als Substrat geformter Wechselwirkungen sehr wohl auch soziale Systeme vorstellen kann, spricht auch von dieser Seite seiner Grundbegrifflichkeit nichts gegen das Argument.
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Mit Recht könnte man dagegen einwenden, das sei von heute aus gesehen nicht weiter schlimm, denn löse man die Sozialformenlehre erst einmal aus ihrer unglücklichen Gleichsetzung mit Soziologie, dann könnten Fragen nach der Differenzierung der Inhalte ja von anderen Theorien behandelt werden, und zwar sehr wohl auch innerhalb der Soziologie selbst. Gravierender sind denn auch zwei weitere Folgen oder Funktionsverluste, die sich aus Simmels Disposition über den Differenzierungsbegriff ergeben. Sie betreffen Themen, die die Sozialformenlehre in keiner Weise abschieben kann, weder in andere Disziplinen noch in andere Theorien, da es ihre eigenen Themen sind. Soll Differenzierung nur eine Form neben anderen sein, dann kann ihr Begriff nicht mehr verwendet werden, um die Differenzierung der Formen voneinander zu analysieren, und damit entfällt nicht nur die Möglichkeit, hier überhaupt eine Variable zu sehen und sie mit anderen Sozialstrukturen, darunter auch mit gesellschaftlicher bzw. sozialer Differenzierung, zu korrelieren. Es entfällt auch ein Instrument, das man nutzen könnte, um die Sozialformenlehre über die anspruchslose Form einer bloßen Liste hinauszuführen, in der sie bei Simmel verharrt. Bei ihm stehen die einzelnen Formen ja einfach nur nebeneinander, und die eigentliche Theorieleistung, die hier nicht unterschätzt wird, konzentriert sich auf die jeweils spezifische Einzelform. Simmel bildet keine höherstufigen Begriffe, betraut mit der Funktion, die Beziehung mehrerer Formen zueinander zu klären. Der Begriff der Wechselwirkung fasst sie vielmehr nach Art eines Oberbegriffs nur zusammen. In sich selbst wenig konturiert, leistet er weder eine Vollständigkeitskontrolle noch bietet er Anhaltspunkte für einen Formenvergleich, etwa im Sinne einer engeren Typenbildung. Insofern gibt es „die“ Sozialformenlehre im Singular gar nicht. Die Frage nach der Differenzierung der Formen wäre immerhin ein erster Schritt, der über diesen Atomismus der Einzeformen hinausführen könnte. Simmel kann ihn nicht tun, weil er den Differenzierungsbegriff auf untergeordneten Theoriestufen festhält. Schließlich kann man ihn dort nicht mehr verwenden, um die Frage zu stellen, unter welchen sozialstrukturellen Bedingungen man Formen von Inhalten überhaupt unterscheiden kann, denn auch das kann ja nur so lange schlicht unterstellt werden, wie man die spezifisch modernen Plausibilitätsbedingungen dieser Unterscheidung apriorisiert, so wie Simmel es tut, statt sie historisch zu relativieren. Um nur das Einfachste zu nennen: Gesellschaften, die im Tausch das Prinzip ihrer Integration haben, haben bekanntlich nicht zusätzlich dazu auch noch ein Wirtschaftssystem oder ein politisches System, die dann jeweils eigene Tauschoperationen durchführen könnten, sondern inhaltlich unspezifische Dankespflichten werden je nach der Situation mal mit politischer Folgebereitschaft und mal mit wirtschaftlicher Nothilfe entgolten, und genau diese Generalisierung, die angesichts der Differenzierungsform und der geringen Umweltkontrolle segmentärer Gesellschaften in hohem Maß sinnvoll ist, steht dann einer auch strukturellen Differenzierung von Wirtschaft und
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Politik deutlich entgegen. Von einer inhaltlichen Neutralität des Tausches kann hier mangels differenter Inhalte schwerlich die Rede sein, und damit wird auch die Frage artifiziell, ob man es im Tausch mit einer Form oder mit einem Inhalt zu tun habe. Als Form der funktional diffusen Verschmelzung mehrerer Inhalte ist der Gabentausch vielmehr beides zugleich: fait social total, um es mit der berühmten Formulierung von Mauss zu sagen – und diese auch inhaltliche Totalisierung eines Formengebrauchs sprengt Simmels Grundunterscheidung. Man braucht also irgendeinen Begriff von sozialer Differenzierung bereits, um die Einsatzbedingungen der Form/Inhalt-Unterscheidung zu kontrollieren, und auch darum ist es nicht sinnvoll, ihn lediglich auf der einen oder der anderen Seite dieser Unterscheidung zu platzieren. Die von Simmel bevorzugte Einseitigkeit, die Platzierung von Differenzierung innerhalb des ihm bekannten Bestandes an Formen, ergibt sich aus seiner Auffassung von Soziologie. Aber auch die komplementäre Einseitigkeit, nämlich die Festlegung auf inhaltliche Differenzierung, wäre für die Themen der Sozialformenlehre nicht hilfreich, denn auch dort könnte er ja zur Frage der Differenzierung der Formen voneinander nicht beitragen. Wenn diese Analyse zutrifft, dann genügt es nicht, nur die Abschiebung der Inhalte in andere Sozialwissenschaften zu korrigieren, die womöglich schon zu Simmels eigener Zeit nicht recht überzeugen konnte. Auch eine Soziologie, die beides, Formen und Inhalte zu behandeln versucht, könnte nicht einfach mit der These anfangen, dass die Pluralität der Inhalte mit der Pluralität der Formen nicht kongruent ist. Sie müsste vielmehr in beiden Pluralitäten das Ergebnis von Differenzierungsprozessen sehen – und diese dann aufeinander beziehen. Ehe wir daher die Vorstellung differenzierter Formen problematisieren, kommt hier noch einmal eine symmetrische Präsentation des Problems. Während die bei Simmel vorausgesetzte Differenzierung der Inhalte den Anschein erweckt, man könne Formen in jedem Funktionsbereich wählen, ohne Verschmelzungen mit anderen Gebrauchsfällen derselben Formen fürchten zu müssen, sofern diese nur anderen Inhalten sich zuordnen lassen, suggeriert die vorausgesetzte Differenzierung der Formen, dass sie einander auch bei Gebrauch mehrerer Formen durch ein und dasselbe System nicht behindern. Aber weder jene Verschmelzung noch diese Behinderung lassen sich zu empirischen Grenzfällen neutralisieren, von denen die Theorie ohne Schaden absehen könne. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Sowohl Modelle als auch Systeme, sowohl Formen als auch Inhalte können Differenzierungsvorgänge auf der jeweils anderen Seite der Unterscheidung blockieren.
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VI. Beginnen wir zunächst mit dem Fall der Verschmelzung. Simmel scheint zu unterstellen, dass die Differenzierung der Inhalte auch bei einer dazu quer liegenden Übereinstimmung im Formengebrauch nicht in Gefahr sei – ganz so, als wäre es selbstverständlich, dass sich spezifisch religiöse und spezifisch politische Formen der Über- und Unterordnung nebeneinander zu behaupten vermögen, oder dass religiöse und wissenschaftliche Konflikte auch bei voller Identität der Beteiligten problemlos getrennt werden können, während doch einfachste historische Besinnung das Gegenteil lehrt. Fälle der gesamtgesellschaftlichen Relevanz eines Formengebrauchs, der nicht nach Inhalten differenziert ist, sondern solche Differenzierungen gerade aufhebt oder erschwert, sind bei Simmel nicht vorgesehen. Die Vorstellung, die er an dieser Stelle bevorzugt, dass verschiedene Systeme jeweils für sich dieselbe Form verwenden können, ohne sie über die Systemgrenzen hinweg mit dem Formengerauch in der Umwelt zu verschmelzen, ist aber ersichtlich an der modernen Gesellschaft abgelesen – und umschreibt selbst hier keine Selbstverständlichkeit, sondern einen Differenzierungsgewinn, der in seinen sozialstrukturellen Voraussetzungen geklärt werden müsste. Ich erläutere diesen Vorbehalt hier nur in dreifacher Verkürzung: nämlich nur für die moderne Gesellschaft, nur für die Sozialform Konflikt und nur für die Teilsysteme Wissenschaft und Politik. Es versteht sich nicht von selbst, dass Konflikte unter Wissenschaftlern von den Trennlinien der religiösen oder politischen Gegnerschaft abgelöst und unabhängig davon als rein innerwissenschaftliche Konflikte geführt werden können. Wir haben es hier nicht mit einer Konstante, sondern mit einer Variable zu tun, deren Wert historisch, aber auch von Disziplin zu Disziplin variiert. Nach einer von Pierre Bourdieu vertretenen Auffassung liegt in der Differenzierung der innerwissenschaftlichen gegen die außerwissenschaftlichen Konfliktfronten sogar ein Maß für die Autonomie wissenschaftlicher Disziplinen.22 Die Mathematik, die bei allem Grundlagenstreit doch gleichwohl nicht in politisch rechte oder politisch linke Versionen zerfällt, erreicht demnach ein höheres Maß an Autonomie als die soziologische Theoriebildung, der man eine solche Überschneidungen mit dem Schema der politischen und ideologischen Lagerbildung immerhin nachgesagt hat. Ein ähnliches Phänomen der Überschneidung systemeigener Konflikte mit Gegnerschaften in der gesellschaftlichen Umwelt liegt auch den breiter diskutierten Begriffen für Versäulung bzw. vertikale Integration zugrunde, die aus der politischen Soziologie stammen und darum vor allem die spezifisch politischen Folgen
22 Diese These findet sich etwa bei Pierre Bourdieu, Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie des wissenschaftlichen Feldes, Konstanz 1998, 19f.
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vor Augen haben, die sich aus der mangelnden Trennung verschiedenartiger Konfliktfronten ergeben, ohne die Anwendbarkeit dieser Konzeption auf andere Teilsysteme, darunter auch Wissenschaft, zu beachten.23 Der Grundgedanke besteht darin, dass es in einer komplexen Gesellschaft unterschiedliche Motive für Gegnerschaft gibt –, zum Beispiel: ökonomisch bedingte Klassendifferenzen oder Unterschiede des religiösen Glaubens – so dass sich normalerweise mit der Motivgruppe auch die Identität der Gegner verändert. Die Folge davon ist, dass konkrete Personen oder Gruppen füreinander nicht nur Gegner, nicht immer Gegner, nicht Gegner in jedem Betracht sind, sondern an anderen Kontaktflächen auch miteinander kooperieren müssen. Der Begriff der Versäulung bezeichnet den Gegenfall dazu – und verbindet dies mit der Warnung davor, einen derart generalisierten Konflikt dann auch noch innerhalb des politischen Systems zu wiederholen, etwa im Schema der Parteiendifferenzierung. Mir scheint, man muss auf Phänomene dieser Art nur verweisen, um einzusehen, dass die Vorstellung, über Formengebrauch werde mit Hinblick auf Inhalte und also auch Inhalt für Inhalt aufs Neue entschieden, einen Sonderfall meint – und damit ein schlechter Ausgangspunkt für Generalisierungen ist. Will man dies angemessener wiedergeben, muss man von Konstanten auf Variablen umstellen, also die in Rede stehende Differenzierung nicht als Begriffsmerkmal, sondern als evolutionäre Errungenschaft einführen (oder sie auf sonst eine Weise historisieren).
VII. Bleibt die Differenzierung der Formen voneinander. Simmel behandelt dies Thema als Implikation seiner Leitdifferenz, nämlich als Darstellung ihres Sinnes von der Seite der Inhalte her. Wo immer er von den Inhalten her urteilt, wird betont, dass jedem dieser Inhalte mehrere Formen zugeordnet werden können. Der These von der inhaltlichen Neutralität der Formen entspricht also die von der formalen Neutralität der Inhalte. Ging es bei der ersten These um Konstellationen wie wirtschaftliche Konkurrenz/politische Konkurrenz/wissenschaftliche Konkurrenz, so geht es bei der zweiten um Fälle wie Konkurrenz in der Wirtschaft/Kooperation in der Wirtschaft/Tausch in der Wirtschaft. Da Simmel der Soziologie vorschlägt, die Beschreibung der Funktionssysteme und die Suche nach dafür geeigneten Theorien
23 Siehe für typische Darstellungen Lewis A. Coser, The Functions of Social Conflict, New York 1956, 76ff.; Ralf Dahrendorf, Class and Class Conflict in Industrial Society, Stanford 1959; Seymour M. Lipset, Soziologie der Demokratie, Neuwied 1962, 18, 77ff.; Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, Reinbek 1972, 284; ders., Politische Soziologie, hg. v. André Kieserling, Frankfurt/M. 2010, 400ff.
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den anderen Sozialwissenschaften zu überlassen, wird diese zweite Konstellation bei ihm selbst nicht weiter thematisch. Das ist beim gegenwärtigen Stand der innerwissenschaftlichen Differenzierung und angesichts der Forschungsinteressen heutiger Soziologen keine sinnvolle Option. Stattdessen müsste das Vokabular der Sozialformenlehre auch dort eingebracht werden, wo es um eine soziologische Behandlung einzelner Funktionssysteme (und ganz analog auch: eine Behandlung einzelner Systemtypen) geht. Im Verhältnis zu Simmel bedeutet dies eine Umkehr der Fragetechnik. Simmel setzt stets eine Sozialform konstant und sucht dann nach Belegen aus wechselnden Systemkontexten ihres Gebrauchs, um so die Robustheit der Form gegenüber dem Kontextwechsel zu demonstrieren. Fragt man demgegenüber nach der Differenzierung der Formen, müsste man umgekehrt die Systemreferenz festhalten und fragen, wie verschiedene Formen in einem System getrennt werden können.24 Auch hier kommt es gegen Simmel darauf an, die Möglichkeit solcher Trennungen nicht einfach als Sachkorrelat analytischer Differenzierungen einzuführen und dadurch für unproblematisch zu erklären, sondern sich klarzumachen, dass die Erwartung auch hier auf Unwahrscheinliches geht. Nicht nur die Dethematisierung der Konstellation ein System/mehrere Formen wäre demnach zu revidieren. Auch müsste man lernen, in der These von der formalen Neutralität der Inhalte das keineswegs triviale Gelingen eines Differenzierungsprozesses zu sehen. Eben dafür ist die Festlegung auf eine Systemreferenz nötig. Nur für Sozialsysteme kann Formentrennung zum Problem werden, und das gilt nicht nur für Kleinsysteme, sondern für alle Systeme dieses Typs und ohne jede Ausnahme. Nicht einmal auf der Ebene des umfassenden Gesellschaftssystems wird man ja ohne weiteres davon ausgehen können, dass alle Formen vorkommen und ohne wechselseitige Behinderung praktiziert werden können. Die gesamtgesellschaftliche Relevanz einer Einzelform mag andere Formen in ihren Bann ziehen, so der Tausch den Konflikt, der dann selber nur als Vergeltung möglich ist, und so auch die gesellschaftseinheitliche Hierarchie den Tausch, der dann nicht unabhängig vom sozialen Status der Partner auf Gerechtigkeit kontrolliert werden kann. Sollte eine solche Generalisierung über die beiden vormodernen Differenzierungsformen gelingen, dann wäre dies ein weiterer Indikator dafür, dass es spezifisch moderne Erfahrungen sind, die Simmel verallgemeinert, wenn er Formentrennungen für normal hält und nicht etwa für unwahrscheinlich. Dass Simmel die Frage nach der Differenzierung der Formen zusammen mit der nach den Inhalten in allen systematischen Passagen seines Werkes den anderen Wissenschaften zu überlassen empfiehlt, heißt nicht, dass es nicht unsystematische 24 Simmel selbst hat dies nur einmal, nämlich nur aus Anlass seiner Behandlung geselliger Interaktionen getan.
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Anregungen von ihm gäbe, denen man in dieser Suchrichtung nachgehen könnte. Dazu gehört zum Beispiel jene Einsicht aus seiner Soziologie der Konkurrenz,25 wonach diese Sozialform umso ‚reiner‘ praktiziert, und also auch gegen andere Formen umso stärker differenziert werden kann, je weniger es zu Kommunikation unter den Konkurrenten selbst kommt (GSG 11: 324).26 Das besagt aber im Umkehrschluss, dass Konkurrenz in Kleinsystemen des unmittelbaren Kontaktes, in denen sich Kommunikation unter den Beteiligten gar nicht verhindern und auch nicht durch Partnerwechsel differenzieren lässt, nicht rein und unvermischt praktiziert werden kann, weil die gleichzeitig erforderliche Kooperation an der Fortsetzung des Kontaktes selbst dies verhindert. Vor allem Interaktionen, aber auch interaktionsnah gebaute Sozialsysteme wie Familien wären demnach wenig geeignet, eine Differenzierung von Konkurrenz und Kooperation durchzuführen. Das mag dann gerade den Interaktionen eine Sonderfunktion bei der Dämpfung von Konkurrenz wie übrigens auch bei der Schlichtung von Konflikten geben (bei der man sich ja viel davon verspricht, die Gegner endlich einmal ‚an einen Tisch‘ zu holen), disqualifiziert sie aber als Träger für die volle Verselbständigung der entsprechenden Formen. Bessere Bedingungen für Formentrennung würde man in größeren Systemen oder in solchen Systemen erwarten, die den Formengebrauch an Systemgrenzen differenzieren können, also etwa Mitglieder und Nichtmitglieder nach Maßgabe unterschiedlicher Formen behandeln können. Auch dafür gibt es bei Simmel einen Hinweis, und auch er wird einfach nur unsystematisch und ohne Würdigung des Prinzips präsentiert, und zwar in der allbekannten These seiner Konfliktsoziologie, wonach der Konflikt mit Nichtmitgliedern des Systems es erleichtere, in der Kommunikation unter Mitgliedern verstärkt auf Kooperation zu bestehen. Trennung der Partnerkreise wäre demnach ein Mechanismus der Formendifferenzierung. Einen weiteren Mechanismus dieser Art hat Niklas Luhmann in seiner Organisationssoziologie aufgedeckt. Er hat den Vorzug, auch ohne Trennung der Partnerkreise zu funktionieren. Stattdessen wird eine Differenzierung zwischen Mitgliedschaftsrolle und der Person ihres Trägers eingeführt. Beziehungen der Organisation zu diesen Personen, die im Rahmen ihrer gesellschaftlichen Möglichkeiten auch Nichtmitglied sein könnten, also zur Mitgliedschaft erst noch gesondert motiviert werden müssen, können dann als Umweltbeziehungen des Sozialsystems rationalisiert werden, während das Handeln in der Mitgliedschaftsrolle selbst als systemeigenes Handeln rationalisiert werden kann. Die Formentrennung liegt hier darin, 25 Dazu auch der Beitrag von Tobias Werron in diesem Band. 26 Dass auch Konkurrenten gemeinsame Interessen haben und Organisationen gründen können, die sie politisch vertreten, wird auch von Simmel gesehen, ändert aber nichts an der oben im Text referierten These, sondern setzt sie in der Spezifikation der zu vertretenden Interessen, die eine Bedingung ihrer Organisierbarkeit ist, gerade voraus.
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dass die Organisation die Motivation zur Mitgliedschaft tauschförmig aufbaut, in der Regel durch pauschale Entlohnung für pauschale Folgebereitschaft, das rollenspezifische Verhältnis der Mitglieder untereinander dagegen durch Vorgabe von Zwecken und mithin als Kooperation zu strukturieren versucht.27 Ganz ähnlich können Organisationen übrigens auch zur Differenzierung von Inhalten beitragen, und zwar in dem Sinne, dass sie die privaten Konflikte ihrer Mitglieder von ihren dienstlichen Konflikten abtrennen, an denen sie gerade als Mitglieder beteiligt werden. So ist es dem Beamten nicht gestattet, sich im Dienst an privaten Gegnern zu rächen und einen Antrag nur deshalb abzulehnen, weil er von einem Lehrer gestellt wird, der seinen Sohn in der Prüfung durchfallen ließ. Auch darin mag man einen Beitrag zur Entsäulung sozialer Konflikte sehen. Will man solche punktuell mehr oder minder einleuchtenden Beobachtungen zu einer Theorie verdichten, dann kann man zunächst auf eine Theorietechnik zurückgreifen, die sich auch für andere Typen von Differenzierung bewährt hat, die ihrerseits nicht den Charakter von Systemdifferenzierungen haben. Diese Theorietechnik, für die es Anwendungen etwa auf Rollendifferenzierungen gibt, besteht darin, in Systemdifferenzierung die Grundlage jener anderen Differenzierung zu sehen oder jedenfalls Kovariation zu vermuten. Dass Formendifferenzierung nicht mit Systemdifferenzierung gleichgesetzt werden kann, sondern quer dazu steht, darin ist Simmel beizupflichten. Aber das besagt ja gerade nicht, dass man nicht Theorien der Systemdifferenzierung nutzen kann, um eine als Variable begriffene Formendifferenzierung in ihrem jeweiligen Wert zu erklären. Lässt man sich darauf ein, lägen zwei theoretische Verallgemeinerungen nahe. Die Differenzierung sozialer Formen dürfte großen und komplexen Systemen leichter fallen als kleinen und wenig differenzierten Gebilden. An engen und dichten Kommunikationszusammenhängen hat man jedenfalls immer wieder beobachtet, dass das Gesetz des Wiedersehens die Trennung der Formen behindert, weil man angesichts der Identität der Beteiligten die eine Form nicht ohne Rücksicht auf die andere praktizieren kann. Dieses wechselseitige Sich-Restringieren der Formen kann zugleich als Schutz vor einer Möglichkeit interpretiert werden, die gleichfalls nur für Kleinsysteme besteht: dass nämlich eine Form, wenn ohne alle Restriktion praktiziert, zugleich das Gesamtsystem in ihren Bann zieht. Um dies an einem Beispiel zu illustrieren, für das auch Simmel sich interessierte: Eine Ehe, eine Familie kann ein einziger Konflikt sein, nämlich durch diesen Konflikt in einem solchen Maße absorbiert werden, dass für streitferne Formen der Kommunikation wenig Raum bleibt.28 Ein anderes Beispiel stammt von Luhmann: Die Interaktion könne den Konflikt nur vermeiden oder ein Konflikt sein. 27 Diese Theorie wird entwickelt in Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964. 28 Dazu nochmals Tyrell, a.a.O.
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Eine zweite Hypothese könnte lauten: Da sich die drei Systemtypen der Interaktion, der Organisation und der Gesellschaft in ihren Möglichkeiten der Systemdifferenzierung und darum auch in der erreichbaren Systemkomplexität unterscheiden, liegt die Schlussfolgerung nahe, dass Gesellschaft und Organisation bessere Bedingungen bieten, Formen gegeneinander zu differenzieren, als man sie auf der Ebene bloßer Interaktion würde voraussetzen können. Das soll nicht ausschließen, dass auch Interaktionen an der dadurch realisierten Formendifferenzierung teilnehmen können, aber das wäre dann ihrer Stellung in Gesellschaft bzw. Organisation verdankt und nicht ihnen selbst, nicht ihrem Charakter als einfaches Sozialsystem. Auch funktionale Differenzierung ist ja zunächst nur ein Prinzip der Gesellschaft, nicht der Interaktion, und doch können auch Interaktionen daran partizipieren, einfach indem sie sich einem Funktionssystem zuordnen. Gesellschaft und Organisation können die für sie mögliche Komplexität freilich nur erreichen, wenn sie sich sowohl voneinander als auch von der Ebene einfacher Interaktionen abheben. Das aber gelingt seinerseits erst, schon weil Organisationen nicht immer zur Verfügung standen, im Laufe der Gesellschaftsgeschichte, und mit Höchstwerten für Ebenendifferenzierung gelingt es erst in der Moderne. Folglich müsste sich die Berechtigung der beiden ersten Hypothesen vor allem an der modernen Gesellschaft und im Medium ihres historischen Vergleichs mit älteren Formationen prüfen lassen. Es versteht sich, dass das damit angedeutete Forschungsprogramm den Rahmen eines Aufsatzes überschreitet. Es bezieht sich auf alle Systemtypen, die Luhmann kennt, und auf alle Formen, die bei Simmel auftauchen, und es sieht in beiden Fällen, für Formen und für Typen, keine festen Einteilungen nach dem Muster von Arten und Gattungen vor, sondern nur Variablen, also nur kontingente Fixierungen, die so oder anders ausfallen können. Aber möglicherweise reichen diese wenigen Andeutungen ja aus, um erkennbar zu machen, wie das breite und nicht-reduktive Interesse an Formen und an ihrer Differenzierung verfolgt werden könnte, wenn man den Kontext dafür von der Sozialformenlehre auf die Differenzierungstheorie erweitert.
VIII. Die bisher vorgetragenen Überlegungen hatten systemtheoretisch argumentiert und sich damit an Prämissen gebunden, über die kein facheinheitlicher Konsens besteht. Andere Soziologen könnten darum schon ihren Ansatz für verfehlt halten: Warum soll ausgerechnet Simmel nun auf einmal systemtheoretisch gelesen werden? Heißt das nicht, völlig unvergleichbare Theorien miteinander zu verbinden? Da der Text als Beitrag zur soziologischen Theoriebildung gedacht ist, möchte ich auf solche
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Bedenken abschließend kurz eingehen, und zwar in der Form eines Direktvergleichs zwischen Formbegriff und Systembegriff. Den Leitfaden dafür bildet abermals die Frage nach Außenabgrenzung und Aufgabenstellung der Soziologie. Angesichts der Tatsache, dass die Soziologie es mit den Gegenständen aller anderen Sozialwissenschaften zu tun bekommt und ihnen nicht ausweichen kann, also mit Wirtschaft und Recht, Erziehung und Kunst, Wissenschaft und Religion, muss sie in der Lage sein, entweder die Einheit oder die Gleichheit all dieser Gegenstände zu bestimmen, denn andernfalls bliebe unklar, inwiefern eine einzige Wissenschaft all dies in einer zusammenhängenden Weise sollte behandeln können. Die Frage nach der Einheit läuft auf den Gesellschaftsbegriff zu, die Frage der Gleichheit könnte mit dem Begriff des sozialen Systems oder semantischen Äquivalenten (soziales Feld, soziale Ordnung etc.) beantwortet werden. „Gleich“ wären sachthematisch inhomogene Komplexe wie Wissenschaft und Religion dann in keinem inhaltlichen Sinne, wohl aber ganz formal darin, dass es sich hier wie dort um soziale Systeme, um soziale Felder, um soziale Ordnungen handelt. Auch damit ist ein Schema formuliert, dass sich für Theorievergleich eignet. Durkheim bevorzugt die über Einheit laufende Antwort und gelangt von dort aus zu einer Theorie der Gesellschaft, ihrer Entwicklung und derjenigen ihrer moralischen Integrationsformen. Weber, der den makrosoziologischen Gesellschaftsbegriff ablehnt, hält sich statt dessen an die Gleichheit der verschiedenen Lebensordnungen oder Wertsphären, ohne die Frage nach ihrer Einheit zu stellen.29 Beides zugleich, nämlich Einheit und Gleichheit wiederum könnte bestimmt werden, indem man auch die Gesellschaft selbst als Sozialsystem auffasst, denn dann könnte man in der Gleichheit jener anderen sozialen Systeme, die dann zugleich Teilsysteme dieser Gesellschaft wären, einen Hinweis auf die Einheit ihres eigenen Gesamtsystems sehen; man wird bemerken, dass dies die Option von Luhmann ist. Alle drei Optionen haben freilich zur Folge, dass die Soziologie auch die Themen der anderen Sozialwissenschaften behandeln muss. Auch Simmel muss dieses Problem lösen, aber da er nicht nur den makrosoziologischen Gesellschaftsbegriff, sondern auch diesen Übergriff in andere Disziplinen vermeiden will, muss er dafür eine eigene Lösung finden. Aus seiner Vermeidung des Gesellschaftsbegriffs folgt, dass es nicht um Einheit, sondern nur um Gleichheit gehen kann, und aus seiner Vermeidung des soziologischen Imperialismus‘ folgt, dass der Systembegriff und seine semantischen Äquivalente ausscheiden, wenn es um die Bestimmung derjenigen Gleichheit geht, die man trotz inhaltlicher Inhomogenität an Wirtschaft und Recht, Wissenschaft und Religion soll beobachten können. Es kann also nicht um die Gleichheit gehen, die im Systemcharakter dieser 29 Das ist dann nicht nur „Differenzierung ohne Gesellschaft“, wie Thomas Schwinn sagt, sondern auch Differenzierung ohne einen Begriff für die Einheit des Differenzierten selbst.
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Gebilde liegt, denn dann wären die Inhalte ja mitzubehandeln. Über die Lösung, die Simmel für dieses Problem findet: die Soziologie als Aspektwissenschaft, die sich für Gleichheiten des Formengebrauch auch bei ungleichen Inhalten interessiert, müssen wir am Ende dieses Textes nicht noch einmal reden. Der Sinn dieses Theorievergleichs ist ein anderer: Er soll zeigen, dass es zwischen Systembegriff und Formbegriff eine tiefliegende Affinität gibt, mindestens angesichts der modernen Gesellschaft und der inhaltlichen Inhomogenität ihrer Teilsysteme. Denn nicht nur Formen, auch Systeme erfüllen ja das Merkmal der inhaltlichen Neutralität. Man kann den Systembegriff ablehnen, etwa aus Sorge um den Menschen, aber wer ihn überhaupt verwendet, der kann nicht gut sagen (und nicht einmal Habermas30 würde dies tun): nur die Wirtschaft bildet Systeme. Die moderne Gesellschaft lehrt, wenn irgendetwas, dann das Gegenteil davon. Überhaupt soll der Systembegriff ja Vergleiche trotz inhaltlicher Inhomogenität anleiten: Wirtschaft und Wissenschaft sind funktionale Subsysteme der modernen Gesellschaft; soziale Systeme und lebende Systeme können Grenzstellen einrichten oder Kontrollhierarchien ausbilden. Begriffe wie Subsystem oder Funktion, Grenzstelle oder Hierarchie sind im Bereich von Systembildung schlechthin relativ frei verfügbar, sie sind jedenfalls nicht invariant an bestimmte Inhalte oder Realitätsebenen gekoppelt – so wenig wie Codierung oder Programmierung, Tausch oder Konkurrenz, Kooperation oder Konflikt im engeren Bereich der sozialen Systeme. So gesehen, ist die Systemtheorie ihrerseits ein Beispiel für „formale Soziologie“ und ihre Abtrennung von der Sozialformenlehre ein nur historisch zu erklärender Missgriff, dessen Revision an der Zeit ist. Umgekehrt ist auch Simmel der inhaltlich neutrale Charakter des Systembegriffs durchaus nicht entgangen. Zwei Kapitel seines Buches bringen systemtheoretische und in diesem Sinne (also nicht auf Sozialformen, sondern auf Subsysteme bezogen) dann auch differenzierungstheoretische Argumente. Das Kapitel über die Selbsterhaltung der sozialen Gruppe (ebd.: 556ff.) argumentiert so systemfunktionalistisch, wie man das vor einhundert Jahren nur eben tun konnte. Es behandelt die evolutionäre Vorteilhaftigkeit einer Differenzierung in Teilsysteme, unter denen dann wiederum ausdifferenzierte Leitungsgremien mit generalisierter Vertretungsvollmacht und einem sachbezogen statt askriptiv rekrutierten Beamtenapparat im Vordergrund stehen. In der Auswahl seiner primären Belege ganz offensichtlich an Kirchen orientiert, genügt Simmel dann aber den Geboten seiner Sozialformenlehre, indem er Hinweise auf ähnliche Organisationsleistungen hinzufügt, die in anderen Funktionsbereichen erbracht wurden. Während Differenzierung hier in der Tat nur als eine Form neben anderen erscheint, geht das Schlusskapitel des Buches (ebd.: 791ff.), das aus dem älteren Differenzierungsbuch übernommen wurde, auch darüber noch einmal hinaus. Hier 30 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt/M. 1981.
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wird die Evolution dessen, womit die Sozialformenlehre sich befasst, selber noch einmal systemtheoretisch begriffen. Das Argument lautet wie folgt: Bei interner Differenzierung zweier inhaltlich inhomogener und darum auch konkret unvergleichlicher Gruppen entstünden oft Teilsysteme, die sich ihrer Form nach ähnlich seien, etwa wenn es sich in beiden Fällen um die Spitzen einer Hierarchie handele.31 Simmel führt solche strukturellen Homologien darauf zurück, dass es weniger Möglichkeiten, Teilsysteme zu bilden, als Inhalte gibt. Die Limitiertheit des Bestandes an ‚Formen der Differenzierung‘ soll erklären, wie es zu formaler Gleichheit auch bei inhaltlicher Inhomogenität des Verglichenen überhaupt kommt. Simmel selbst verwendet den Systembegriff also bereits an sehr exponierter Stelle. Ihm die Aufgabe zu stellen, nun auch die Differenzierung jener Gleichheiten, also die Differenzierung der Formen selbst aufzuklären, scheint mir auch darum nicht unmotiviert.
31 Simmel sieht darin eine Möglichkeit, die überlokale Einheit des Adels zu erklären. Die Gleichheit der Form ist hier also nicht nur Erkenntniserleichterung für den wissenschaftlichen Beobachter, sondern auch als Kommunikationserleichterung unter den formal Gleichen. Ein ähnliches Argument, nun allerdings nicht auf Stratifikation, sondern auf funktionale Differenzierung bezogen, verwendet Rudolf Stichweh, Globalisierung der Wissenschaft und die Region Europa, in: Ders., Die Weltgesellschaft. Soziologische Analysen, Frankfurt/M. 2000, 103-130, um die Transnationalisierung der Kooperationen und Publikationen wissenschaftlicher Disziplinen und Fachgebiete zu erklären.
Die Zahl als soziologische Kategorie und die Quantität sozialer Verhältnisse A NDREAS Z IEMANN
I. E INLEITUNG Die (höheren) Formen der Mathematik mitsamt ihren verschiedenen Rechenoperationen basieren, so die pragmatistische Argumentation John Deweys,1 auf den in der Arbeit und im Spiel gleichermaßen fundamental angelegten Handlungen des Zählens, Messens und Listen- bzw. Buchführens. Genauerhin sind es drei praktische Notwendigkeiten, welche Zahlzeichen, Listen und Diagramme hervorgebracht haben: (a) die Zuweisung und Verteilung von Objekten und Materialien; (b) das Sammeln von Vorräten; (c) der Austausch von Dingen im Überfluss gegen andere des Mangels bzw. Begehrens. Wenn jene materiellen Operationen durch symbolische befreit und transzendiert werden – und nur „Symbole bieten [...] die einzige Art Flucht aus der überwältigenden Wirklichkeit“2 –, dann erst steht der Weg für die hoch spezialisierte, abstrakte mathematische Welt frei. Dieser ‚freie Symbolismus der Mathematik‘ kehrt nicht selten in die Praktiken der Alltagswelt und die Ordnung des sozialen Lebens zurück – und zwar keineswegs nur in Bereiche der Ökonomie. Auch der (moderne) Sport lebt von Punkteverhältnissen und anderen numerischen Abstands- und Vergleichsmessungen, die populäre Evaluationsmaschinerie an Universitäten, im Wissenschaftsbetrieb und anderswo beherrscht uns mit Quantifizierungen, Additions-, Multiplikations- oder Dividierungsoperationen, die Kulturtechnik und administrative Praxis des Registrierens basiert ebenso auf Zahlen und Zählen. So erscheint die Zahl mal als Inhalt und mal als Form der Vergesellschaftung. Dies und entsprechende Unterschiede festzustellen, ist für Simmel eine der originä1
John Dewey, Die Suche nach Gewißheit. Eine Untersuchung des Verhältnisses von Erkenntnis und Handeln, Frankfurt/M. 1998.
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ren Aufgaben der Soziologie. Denn die gesellschaftliche Wirklichkeit sei und zeige grundsätzlich eine Einheit aus Form und Inhalt (GSG 5: 276f.; GSG 11: 19). Das soziologische Denken aber könne ohne Weiteres vom Inhalt abstrahieren und rein die Formen der Vergesellschaftung untersuchen – entweder konstitutiv auf ihr Wesen und das Typische hin oder historisch auf ihr Gewordensein wie auch auf ihre Veränderung hin. Im Ergebnis führt die Form(en)analyse dann auf soziologische Allgemeinbegriffe respektive soziologische Kategorien.3 Die Quantität der Elemente in einer Wechselwirkung, die Zahl derer, die an einer Vergesellschaftung beteiligt sind, oder generell die numerische Bestimmtheit von Vergesellschaftungen nach einer Ober- und Untergrenze hin – das scheint eine solche soziologische Kategorie. Schnell fällt dann in quantifizierbaren und numerisch strukturierten Vergesellschaftungen auf, dass die Zahl mit der Dimension und Kategorie des Raumes zusammenfällt, die soziale Raumordnung auch quantitativer Natur ist und umgekehrt. Werkimmanent stehen deshalb in Simmels Soziologie das zweite Kapitel über die quantitative Bestimmtheit der Vergesellschaftung im Allgemeinen und der Gruppe im Besonderen und das neunte Kapitel über den „Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft“ in einem wechselwirkenden Begründungsverhältnis. So liest man beispielsweise im Raumkapitel (!): „[D]ie wirkliche Struktur einer Vergesellschaftung wird keineswegs durch ihr soziologisches Hauptmotiv allein bestimmt, sondern durch eine große Anzahl von Verbindungsfäden und Verknotungen innerhalb ihrer, von Verfestigungen und Flüchtigkeiten, die alle in Bezug auf das soziologisch Entscheidende: die Bildung einer Einheit aus einer Vielheit – nur graduelle Unterschiede der Wirksamkeit aufweisen“ (GSG 11: 779f.).
Es handelt sich um drei quantitative Bestimmungen, die hier explizit auftauchen: Anzahl, Einheit, Vielheit, die faktisch (wirkliche Struktur) wie analytisch (soziologische Erkenntnis) der Zahl-Kategorie ihren eigenen Stellenwert zuweisen. Selbstverständlich ist diese Betonung oder gar Zentralstellung des Numerischen und der Zahl in der soziologischen Theorie keineswegs, und ich betone sie deshalb umso mehr, weil man sieht, dass sie einerseits relativ wenig Berücksichtigung in der Soziologie nach Simmel fand und ihr andererseits der Status des Kategorialen bei Simmel selbst abgesprochen wurde. Interessanterweise geschah dies gerade durch einen derjenigen, die so verdienstvoll an Simmels Analyse der Zahl respektive seine Figur des Dritten erinnerten: Julien Freund. Simmel wäre, so schreibt Freund, im
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Diese Ergebnisperspektive markiert einen gewichtigen Unterschied gegenüber ‚Kategorien‘ als (transzendentaler) Voraussetzung der Erkenntnis und mithin auch Bedingung einer soziologischen Formenanalyse.
D IE Z AHL
ALS SOZIOLOGISCHE
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Gegensatz etwa zu Max Weber keiner, „der in Kategorien denkt“.4 Eine unerwartete bis provokante Feststellung gegenüber Simmels Selbstbeschreibung als Kantwissenschaftler,5 die einer genaueren Klärung bedarf und zur neuerlichen Auseinandersetzung motiviert, denn die gegenteilige Auffassung findet sich bei Gothein, wonach Simmel, explizit beispielsweise bei Größe und Zahl, eine Kategorienlehre der Gesellschaft vorgelegt habe.6 Auffällig ist, wenn man direkt in die (Re-)Lektüre des zweiten Kapitels der Soziologie einsteigt, dass Simmel vom Phänomen her ausgeht und argumentiert, dass er an der Gruppe, genauer: kleinen und großen Kreisen, ein induktives Gespür für die Zahl zeigt und entwickelt. Aber nicht zuletzt deswegen bleibt die Erörterung zur Größe, zur Ober- und Unterzahl von Vergesellschaftung auch eigentümlich unsystematisch. Den Gegenpol bildet die erkenntniskritische Kategorientafel Kants mit seiner harmonisch-symmetrischen Klassifizierung von vier Kategorienklassen (Quantität, Qualität, Relation, Modalität) zu je drei Unterkategorien. Kategorien, schreibt und definiert Kant, das seien „reine Verstandesbegriffe [...], die a priori auf Objekte gehen“7 – entweder auf sie als Gegenstände der Anschauung oder auf sie in der Art ihrer Existenz. Für sich genommen, sind die Kategorien leer, denn sie dienen nur der Möglichkeit empirischer Erkenntnis. Sinn und Bedeutung kommt ihnen erst mittels sinnlich-empirischer Anschauung zu. Man kann Simmel, geschulter Neukantianer, der er auch ist, von hier aus zuschreiben, die Kategorie der Zahl (neben anderen) von der empirischen Verstandeserkenntnis eines transzendentalen Subjekts überführt zu haben in den Bereich sozialer Erfahrung und soziologischer Beobachtung. In diesem Sinne verhilft überhaupt erst die Kategorie der Zahl, soziale Strukturen des Quantitativen zu erkennen und sie dann in gut phänomenologischer Einstellung, die Simmel ebenfalls beherrscht, einer tiefenscharfen Erhellung zuzuführen. Ein von Kant gewonnenes Erkenntnisprinzip wird so zum soziologischen Forschungsanlass, wird empirisch operationalisiert und, so ließe sich anspielungsreich formulieren, vom Kopf auf die Füße gestellt.
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Julien Freund, Der Dritte in Simmels Soziologie, in: Hannes Boehringer, Karlfried Gründer (Hg.), Ästhetik und Soziologie um die Jahrhundertwende: Georg Simmel, Frankfurt/M. 1976, 90-104, hier 99.
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Zu Simmels Kant-Lektüren auch der kritische Beitrag von Kurt Röttgers in diesem Band. Eberhard Gothein, Gesellschaft und Gesellschaftswissenschaft, in: Johannes Conrad u.a. (Hg.), Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Jena 1909, Bd. 4, 680-706, hier 683. Dazu auch Hartmann Tyrell, Georg Simmels „große“ Soziologie (1908). Einige Überlegungen anläßlich des bevorstehenden 100. Geburtstages, in: Simmel Studies 17 (2007), 5-39.
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Kant, Kritik der reinen Vernunft. Erster Teil, in: Ders., Werke in zehn Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1983, Bd. 3, 118.
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Ich will noch kurz beim Kontrast zwischen Kant und Simmel, zwischen Systematik des einen und induktiv assoziativem Vorgehen des anderen verweilen. Denn daraus erhebt sich die (bei Simmel ungeklärte) Frage, in welcher vordringlichen Beziehung denn Quantität bzw. Zahl zu anderen Kategorien stehen. Bei Kant findet man sehr deutlich die Nahbeziehung von Zahl und Zeit ausformuliert – das Nacheinander des Zählens, die sukzessive Reihung von Zahlen in der Apprehension der Anschauung ist dort entscheidend. „Das reine Schema der Größe aber (quantitatis), als eines Begriffs des Verstandes, ist die Zahl, welche eine Vorstellung ist, die die sukzessive Addition von Einem zu Einem (Gleichartigen) zusammenbefaßt.“8 Bei Bergson wiederum finden wir im Essai sur les données immédiates de la conscience (1889) die Nahbeziehung von Zahl und Raum.9 Das punktuelle Nebeneinander von Zahlen, die räumliche Synthesis von Einheiten, das Sehen einer jeden klaren Zahlvorstellung als ein Sehen im Raum sind dort entscheidend. Es wäre einer eigenen soziologischen Untersuchung wert, wie Zahlenverhältnisse im Rahmen des Sozialen entweder auf Zeit oder auf Raum verweisen bzw. sich damit verbinden.10 8
A.a.O., 191. Und weiter heißt es zur Verbindung von Zeit und Zahl, ebd.: „Nun hat jede Empfindung einen Grad oder Größe, wodurch sie dieselbe Zeit, d.i. den innren Sinn in Ansehung derselben Vorstellung eines Gegenstandes, mehr oder weniger erfüllen kann, bis sie in Nichts (= 0 = negatio) aufhört. Daher ist ein Verhältnis und Zusammenhang, oder vielmehr ein Übergang von Realität zur Negation, welcher jede Realität als ein Quantum vorstellig macht, und das Schema einer Realität, als der Quantität von etwas, sofern es die Zeit erfüllt, ist eben diese kontinuierliche und gleichförmige Erzeugung derselben in der Zeit, indem man von der Empfindung, die einen gewissen Grad hat, in der Zeit bis zum Verschwinden derselben hinabgeht, oder von der Negation zu der Größe derselben allmählich aufsteigt.“
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Henri Bergson, Zeit und Freiheit, Hamburg 1994, 60ff. – ein Text, von dem Simmel im Übrigen zur Zeit der Fertigstellung seiner Soziologie noch keine Kenntnis hatte. Die Bekanntschaft zwischen Simmel und Bergson beginnt erst um 1909/10 (mit herzlichem Dank an Otthein Rammstedt für diesen Hinweis).
10 Ohne Zweifel liegt in Simmels Soziologie der Schwerpunkt auf Raum, Zahl und sozialen Typen für die Untersuchung verschiedener Vergesellschaftungsformen. Die Dimension bzw. Kategorie der Zeit dagegen bleibt dem untergeordnet und wird nur randständig im Rahmen verschiedener Formanalysen erwähnt. Bezeichnend ist in diesem Kontext folgende Fußnote (und zwar dreifach bezeichnend: einerseits für die vorläufige Marginalisierung der Zeit, andererseits für den Stellenwert des Verhältnisbegriffs und schließlich für die Kontextualisierung der Zeit im „Raum“-Kapitel): Dies „gehört in den großen, einer künftigen Behandlung vorbehaltenen Aufgabenkreis: welche Rolle die rein zeitlichen Bestimmungen für die Konstituierung und das Leben der gesellschaftlichen Formen spielen [...]; wie ein Verhältnis [!] von vornherein dadurch eine Form und Färbung bekommt, daß es auf eine begrenzte Zeit oder daß es auf Lebenslänglichkeit angelegt ist;
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Wenn Simmel etwa von absolutistischen Herrschaftsverhältnissen spricht, die zahlenmäßig überschaubar bleiben müssen, dann ist dies auch eine räumliche Tatsache. Mir scheint, das ganze Feld der Architektur wäre beispielsweise eines der Synthese von Zahl und Raum, das Feld des Sports dagegen eines der logischen Verbindung von Zahl und Zeit. Keine explizite Systematik einer Kategorientafel, die uns Simmel vorgibt, und scheinbar auch keine interne Ordnung dieses zweiten Kapitels der Soziologie. Scheinbar! Denn die Ordnung ist selbst eine der quantitativen Form und Größe, die maßgeblich an der Bedeutung des zahlenförmigen Unterschieds von Sozialgebilden interessiert ist, der einen Unterschied macht. Simmel fokussiert zuerst Phänomene numerischer Unbestimmtheit und bringt dabei die Unterscheidung von klein/groß zum Einsatz. Anschließend geht es um Phänomene numerischer Bestimmtheit, und dort wirken zwei entscheidende Größenunterschiede: einerseits jener Unterschied zwischen zwei und drei und andererseits jener zwischen drei und vielen. Dies korreliert deutlich mit zwei Grundfragen dieses Soziologie-Kapitels: (1) Was bedeutet die Zahl für Vergesellschaftung und soziale Verhältnisse? (2) Worin besteht der qualitative Unterschied zwischen verschiedenen quantitativen Größenverhältnissen? Hinter der letzten Frage verbirgt sich jene von Simmel ins Metaphysische gewendete Frage, „wie viel Weizenkörner einen Haufen geben?“ (ebd.: 93). Ein Grund der Schwierigkeit bei der Beantwortung liegt in der logischen Unmöglichkeit, mittels stetig additiver Steigerung den Umschlagspunkt anzugeben, denn „das Kontinuierliche kann eben seinem Begriffe nach nicht rein aus sich heraus einen plötzlichen Absatz und Umschlag rechtfertigen“ (ebd.). Weil der Haufen selbst numerisch unbestimmt ist, kann man ihm nicht mit einer klaren numerischen Grenze begegnen. Es handelt sich letztlich um eine sachlich falsch gestellte Frage (ebd.: 94). Was man aber daraus lernen kann, ist, zwischen verschiedenen quantitativen Abstufungen unterscheiden zu lernen, die untereinander einen Unterschied der Form nach machen oder für sich mit ihrem Anwachsen einen Unterschied machen, ohne dass die neue, modern gesprochen: die emergente, Dimension der sozialen Qualität bereits im Voraus angelegt und erkennbar wäre. Aus der Beobachtung, dass Simmels Hauptinteresse den beiden Größenunterschieden zwischen zwei und drei und zwischen drei und vielen gilt, resultiert nun ein Ordnungsprinzip, dem meine weitere Re-Lektüre und der nachfolgende Aufbau dieses Texts folgen. Ich nehme die Logik der Zahlengröße selbst zum Strukturmaßstab: vom Einfachen zum Komplexen, von der soziologischen Basiszahl zu höheren wie die Wirkung der Begrenzung selbst sich danach gänzlich modifiziert, ob das Ende der Beziehung, der Institution, der Anstellung etc. von vornherein auf einen Zeitpunkt festgelegt oder ob dieser unbestimmt ist, von ‚Kündigung‘, Erlahmen der vereinigenden Impulse, Änderung äußerer Umstände abhängt – alles dies müßte im Einzelnen untersucht werden. Einige Bemerkungen darüber im Kapitel über den Raum“, GSG 11: 639.
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Zahlen in Vielheit wie Einheit. Ganz wie der Volksmund sagt: eins, zwei, drei, viele.11 Vorausgestellt sei dem noch eine Anmerkung zum Titel meines Bezugskapitels „Die quantitative Bestimmtheit der Gruppe“. Er ist augenscheinlich beschränkender als sein Inhalt; geht es doch um weit mehr als um die Zahlenverhältnisse und Binnenordnung der Gruppe. Ja, man muss geradezu kontraintuitiv feststellen: Für die Beschreibung und Erklärung von Kohäsion, Selbsterhaltung und Veränderung der Gruppe leistet die ‚Zahl‘ sehr wenig. Und gerade wo es nicht um die Gruppe geht, da erklärt die Zahl sehr viel und macht den kategorialen Unterschied aus.
II. D IE E INZAHL In etlichen Textpassagen findet sich bei Simmel in Abstimmung mit dem Grundbegriff der Wechselwirkung die Zwei, die dyadische Konstellation als soziologisches Basisprinzip, durch das sich Vergesellschaftung konstituiert und von dem aus alle weitere Vergesellschaftung ihren Fortgang nimmt. Einerlei ob zwei Individuen miteinander, füreinander oder gegeneinander ihre Absichten, Interessen und Ziele durchsetzen, mit und in dieser Einheit einer Zweiheit hat die Soziologie ihr nicht reduzierbares Faktum. Wenn deshalb „ein Individuum in keinerlei Wechselwirkung mit andren Individuen steht“, dann ist das „keine soziologische“ Tatsache (ebd.: 96). Auf den ersten Blick plausibel; auf den zweiten Blick aber eine unzureichende Feststellung. Es gibt nämlich zwei bedeutsame – und im Übrigen keineswegs defizitäre – Ausnahmen, in denen bereits der isolierte Einzelmensch und mithin die Einzahl unter die soziologische Kategorie der Vergesellschaftung fällt: Einsamkeit und Freiheit (ebd.). 1. Hinsichtlich der Einsamkeit ist Simmels Grundgedanke folgender: Gesellschaft lässt Einsamkeit zu (oder: ohne Gesellschaft auch keine Einsamkeit), und Einsamkeit appräsentiert Vergesellschaftung. Er schreibt selbst: „Ihren unzweideutig positiven Sinn erhält die Einsamkeit als Fernwirkung der Gesellschaft – sei es als Nachhallen vergangener oder Antizipation künftiger Beziehungen, sei es als Sehnsucht oder als gewollte Abwendung. Der einsame Mensch ist nicht so charakterisiert, wie wenn er von jeher der einzige Erdbewohner wäre; sondern auch seinen Zustand bestimmt die Vergesellschaftung, wenn auch die mit negativem Vorzeichen versehene“ (ebd.). Solange Menschen von Menschen gezeugt und Kinder von Müttern geboren werden, solange ist einziges Dasein unmöglich, genetisch wie lo-
11 Der Volksmund kennt noch zahlreiche andere Wendungen, die den qualitativen Unterschied des Quantitativen betonen: zwei sind einer zuviel, der Dritte im Bunde, vier Augen sehen mehr als zwei, das fünfte Rad am Wagen, sieben Gäste: gute Zahl – Neune halten böses Mahl, wie viele Knechte, so viele Feinde etc.
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gisch absurd.12 Gleichwohl aber gibt es soziale Konstellationen, die Einsamkeit ermöglichen, teils sogar forcieren. Man denke etwa an den religiös motivierten Eremiten wie auch an den allen Lärm und Kontakt fliehenden Schreibtisch-Gelehrten. In einer anderen Weise „wird die Einsamkeit soziologisch bedeutsam“, wenn sie „als Pause oder periodische Differenzierung innerhalb eines und desselben Verhältnisses auftritt“ (ebd.: 97). Möglich ist das in einer monogamen Beziehung bzw. Ehe, die harmonisch und stabil genug ist, dass sie jedem zwischenzeitlich reines Für-sich-sein lässt; als positiver Effekt bedeutet oder bewirkt das eine Garantie der wechselseitigen Treue (GSG 8: 398-404) und Beziehungssicherheit wie auch einen neuerlichen Reiz der wechselseitigen Hingabe. 2. Es gibt nicht wenige Ansätze, die Freiheit formal entweder als „bloße Verneinung gesellschaftlicher Verbindung“ (GSG 11: 98) oder als Verneinung und Abwesenheit von Zwang definieren. Doch damit wird man nach Simmel ihrer soziologischen Bedeutung nicht gerecht. Freiheit zeigt und gewinnt ja gerade erst ihre Bedeutung im sozialen Verkehr, indem man sich (freiwillig) von Anderen binden lässt oder indem man sich von einer Bindung zu Anderen löst (weil man frei in dieser Entscheidung ist) und gegenüber Anderen nun selbst ein Machtverhältnis durchsetzt. Die Formulierung, „daß man sich ‚eine Freiheit gegen jemanden herausnimmt‘“ (ebd.: 99f.), verweist darauf, dass konstitutiv auf eine soziale Beziehung abgezielt wird und gerade nicht auf die Ablehnung zwischenmenschlichen Kontakts. Je nach Standpunkt der involvierten Subjekte setzt der Eine seine Interessen und Ziele ‚frei‘ durch, während der Andere in seiner Freiheit beschränkt wird. Dies bleibt jedoch niemals eine statische Angelegenheit, sondern ist ein fortwährender Aushandlungs- und damit je neuerlicher Bindungs- bzw. Lösungsprozess. Deshalb ist Freiheit auch, wie Simmel schreibt, „kein solipsistisches Sein, sondern ein soziologisches Tun“ (ebd.: 99). Und als Existenzphilosoph avant la lettre vertritt Simmel die Auffassung, dass die Freiheit in jeder Situation ‚anwesend‘ ist (und gewählt werden kann) – sei es, um als Ich unabhängig zu bleiben, oder sei es, um selbst in höchster Fremdabhängigkeit Souverän des eigenen freien Willens zu bleiben, oder seien es auch die freiwillige Fügung und Anerkennung der Macht und Überordnung des Anderen, die dann sogar das Abtreten des Rechts auf Freiheit beinhalten (können). Einsamkeit und Freiheit sind also grundlegend soziologischer Natur, weil sie nicht nur eine psychische Einstellung zu Vergesellschaftung zeigen, sondern aus Vergesellschaftung hervorgehen, Vergesellschaftung beeinflussen und jeweils das Verhältnis zu Anderen färben. Der Verhältnisbegriff leitet zur Zweizahl über.
12 Dazu auch Simmels Aufsatz Die Gesellschaft zu zweien, in dem es heißt: Die Soziologie hat ihren Ausgangspunkt in „den Folgen der Tatsache [...], daß der einzelne Mensch nicht allein auf der Welt ist“, GSG 8: 348.
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III. D IE Z WEIZAHL Das Verhältnis, liest man bei Simmel an entlegener Stelle (ebd.: 710), sei „das am reinsten soziologische Wort, das es gibt“. Man stutzt und dachte doch, dies wäre die Wechselwirkung: jener Begriff, den Simmel so prominent und konkurrenzlos in die Soziologie eingebracht und zum Fundament seiner Formensoziologie gemacht hat.13 Und doch erschließt sich nach einigem Nachdenken das Spezifikum des ‚Verhältnisses‘ gegenüber der ‚Wechselwirkung‘ – und zwar im Rahmen von Zahl und Quantität. Die Wechselwirkung kann stattfinden zwischen zweien, dreien oder mehreren, zwischen Gruppen oder zwischen Staaten, zwischen Individuum und Gesellschaft oder auch zwischen heterogenen Vergesellschaftungsbereichen bzw. Kultursystemen. Dem Verhältnis ist diese ‚zahlreiche‘ Relationierung und breite Quantifizierungsanwendung nicht zu eigen. Weder Staaten oder Unternehmen noch Gruppen oder mehrere Individuen können unter- bzw. miteinander ‚ein Verhältnis haben‘. Das Verhältnis ist vielmehr jenes Sozialgebilde, das genuin und ganz und gar auf die Zweizahl, genauer: auf die zwischenmenschliche dyadische Struktur, beschränkt ist.14 Es besteht in vollkommener Unvermitteltheit aus Zweien; jeder Dazukommende wie jeder Abspringende zerstört es und unterbindet nicht zuletzt auch jene eigene Färbung und Affektlogik der Intimität und Erotik (dazu ebd.: 104ff.; GSG 8: 351f.).15 Simmel hat diese exklusive Bindung zwischen Zweien in ihrer Direktheit in dem „Exkurs über die Soziologie der Sinne“ (GSG 11: 723f.) weiter behandelt und dort paradigmatisch in die Verbindung von Auge-zu-Auge verlegt. Dies wäre wohl die reinste Wechselwirkung, weil jeder in kürzester Linie zum Anderen stünde und sich beide im unmittelbaren Blick ihrer Seele entschleierten.16 Intim ist nun je-
13 Dazu Petra Christian, Einheit und Zwiespalt. Zum hegelianisierenden Denken in der Philosophie und Soziologie Georg Simmels, Berlin 1978; Andreas Ziemann, Die Brücke zur Gesellschaft. Erkenntniskritische und topographische Implikationen der Soziologie Georg Simmels, Konstanz 2000. 14 Beispielhaft aus dem Bezugskapitel der Soziologie: „Die besondre Charakterisierung eines Verhältnisses [!] durch die Zweizahl der Teilnehmer zeigen ganz alltägliche Erfahrungen: wie ganz anders ein gemeinsames Los, ein Unternehmen, ein Einverständnis, ein geteiltes Geheimnis zweier jeden der Teilnehmer bindet, als wenn auch nur drei daran teilhaben“, GSG 11: 101. Einen Grenzfall bildet vielleicht die Ménage à trois. 15 Dazu ergänzend: Hartmann Tyrell, Romantische Liebe – Überlegungen zu ihrer „quantitativen Bestimmtheit“, in: Dirk Baecker, Jürgen Markowitz, Hartmann Tyrell (Hg.), Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag, Frankfurt/M. 1987, 570-599. 16 Vergleichbar wäre diese einzigartige Kontaktnähe, in der zwei direkt zur Einheit verschmelzen, noch mit dem Kuss, dessen suggestives Einheitserleben der eine Kuss selbst
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nes und nur jenes Verhältnis, in dem Ego und Alter ihre Interessen, Wünsche und Gefühle ausschließlich miteinander teilen und ihre Erfüllung nur innerhalb dieser Einheit zulassen. Ihr „Höchstrelevanzanspruch“ ist deshalb, wie es Hartmann Tyrell einmal formuliert hat, „von monopolistischem Zuschnitt“.17 Die Gefahr der Intimität besteht schließlich darin, den Neigungen und Gefühlen des Anderen nicht mehr ausreichend Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Erstens negiert ihn das in seiner Besonderheit und Höchstrelevanz, zweitens verlagert das seine Inhalte nach außen, wo sie aber nicht hingehören und ja gerade keine Erfüllung finden sollten.18 Dass nichts aus der intimen Zweierbeziehung nach außen dringen soll und man sich in höchstem Maße vertraut, das macht auch seine positive Funktion für das Geheimnis aus. Das Geheimnis isoliert das je persönliche wechselseitige Wissen, schützt es vor Anderen und bietet „die Möglichkeit einer zweiten Welt neben der offenbaren“ (ebd.: 406; GSG 8: 317-323).19 Die Zweizahl kommt aber nicht nur in Intimbeziehungen zu ihrer Bedeutung, sondern darüber hinaus in allen dualistischen Formen. Eingehen will ich deshalb noch auf jenen Aspekt, der mit der Frage des Für oder Wider zu tun hat und zur Zerlegung und Trennung einer Gruppe in zwei gegnerische Parteien führt. Wenn und wo eine Teilgruppe mit ihrer Existenz zufrieden ist, nicht auf Zugehörigkeit zu einer anderen Gruppe oder Einschluss einer anderen strebt und trotzdem einige, wenngleich nicht alle Interessen durchsetzen kann, da tendiert nach Simmel im besten Falle alles auf eine spezifische ‚Einfachheit der Ideen‘, die von den Gruppen vertreten, gelenkt und legitimiert werden und auf Seiten des Publikums ein entschiedenes Ja oder Nein ermöglichen, ja sogar forcieren. Dies ist funktional, insofern dynamische und komplexe Verhältnisse einer klaren Sonderung der Positionen und ebenso klarer Entscheidungen bedürfen. Und dies hat auch eine besondere affektive Dimension z.B. auf Seiten der Wähler, insofern ihre Zustimmung und Selbsteinschreibung in eine der antagonistischen Positionen – neben Interessenvertretung – Identifikation bedeutet.20 Wenn man dies generalisiert, lässt es sich als
ist und nicht etwa Kuss/Gegenkuss oder: Er küsst sie und sie küsst ihn. Dazu Tyrell, a.a.O., 587. 17 A.a.O., 571. 18 Konstitutiv sind weder Intimität noch Liebe teilbar. Wenn sie den Beteiligten ‚alles‘ sein soll und will, „dann ist sie gegen die Angelegenheiten Dritter, auch gegen bestehende Bindungen an diese rücksichtslos“, a.a.O., 575. 19 Weitere Ausführungen dazu im Beitrag von Alois Hahn in diesem Band. 20 Ich greife hier auf eine Ausführung Chantal Mouffes zurück, in der sie die These vertritt: „Um politisch zu handeln, müssen Menschen sich mit einer kollektiven Identität identifizieren können, die ihnen eine aufwertende Vorstellung ihrer selbst anbietet. Der politische Diskurs muß außer Programmen auch Identitäten anbieten, die der Erfahrung der
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(verdeckte) Argumentation im Rahmen der politischen Theorie entschlüsseln. In einer Fußnote merkt Simmel an: „Durch die ganze Geschichte hindurch gehen die demokratischen Tendenzen, insoweit sie die großen Massenbewegungen leiten, auf einfache Maßregeln, Gesetze, Prinzipien; der Demokratie sind alle komplizierten, mit vielseitigen Erwägungen durchsetzten, die verschiedenartigen Standpunkte berücksichtigenden Praktiken antipathisch“ (GSG 11: 123).
Man kann diese Beobachtung unschwer im Rahmen aktueller Diskussionen zum Politischen und über die Zukunft der Demokratie wiederfinden. Auch beispielsweise Niklas Luhmann hat die ‚Spaltung der Spitze‘ in Regierung und Opposition betont und in ihrer Funktion der damit deutlich unterscheidbaren wie eben auch entscheidbaren Ideologien und Programme beschrieben.21 Chantal Mouffe hat genau daran angeschlossen und einem grenzenlosen politischen Pluralismus die Absage erteilt. Demokratie könne und solle nicht alle Forderungen und Meinungspositionen, so sie nur möglich wären, zulassen, sondern im Gegenteil sich auf die Wiederbelebung und Stärkung der Links/Rechts-Unterscheidung besinnen. „Wenn die gesellschaftliche Spaltung nicht auf der Grundlage der Links-Rechts-Unterscheidung zum Ausdruck gebracht werden kann, dann können auch die Leidenschaften nicht für demokratische Ziele mobilisiert werden, und die Antagonismen nehmen für demokratische Institutionen gefährliche Formen an.“
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Ziel solle ein „konfliktualer Konsens“ sein: Konsens über moralische und politische Werte, Dissens über die Auslegung und Umsetzung der Werte. Das entspricht dann einer wünschenswerten politischen Praxis, deren Kern nicht Meinungsvielfalt, freie Diskussionen und moralische Beobachtungen wäre, sondern klare Entscheidungen auf der Basis von Konflikt, Gegnerschaft und Antagonismen, besser: Agonismen.23 Menschen einen Sinn verleihen und die ihnen Hoffnung für die Zukunft geben“, Mouffe, Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt/M. 2007, 36. 21 Niklas Luhmann, Die Zukunft der Demokratie, in: Ders., Soziologische Aufklärung 4, Opladen 1987, 126-132; ders., Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt/M. 2000, 98ff. 22 Mouffe, a.a.O., 157. 23 Im Gegensatz zum antagonistischen Freund/Feind-Schema ohne gemeinsamen Werteund Anerkennungshorizont meint Mouffe, a.a.O., 30, mit Agonismus „eine Wir-SieBeziehung, bei der die konfligierenden Parteien die Legitimität ihrer Opponenten anerkennen, auch wenn sie einsehen, daß es für den Konflikt keine rationale Lösung gibt. Sie sind ‚Gegner‘, keine Feinde. Obwohl sie sich also im Konflikt befinden, erkennen sie sich als derselben politischen Gemeinschaft zugehörig; sie teilen einen gemeinsamen symbolischen Raum, in dem der Konflikt stattfindet.“
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Wie stark im Übrigen gerade Konflikt integriert und eine soziologische Positivität entfaltet, wusste bekanntlich kaum einer besser als Simmel (ebd.: 284ff.).24
IV. D IE D REIZAHL Was das ‚Verhältnis‘ gegenüber dem Wechselwirkungsbegriff negativ auszeichnet, ist, dass aus ihm weder beharrende, selbsterhaltende Strukturen (wegen der labilen Abhängigkeit von zweien) noch überpersönliche, eigenmächtige Kollektivgebilde hervorgehen können. Dazu bedarf es anderer sozialer Quantitäten und anderer Formeigenschaften. Und allemal ist klar: Ohne diese stabilen, makrologischen Vergesellschaftungsgebilde – wie stark auch immer einst ihre Konstitution dyadisch begründet sein oder ihren Anfang genommen haben mag – könnte sich gesellschaftliche Ordnung weder reproduzieren noch wandeln, sondern „würde die Gesellschaft als ganze in jedem Augenblick zusammenbrechen oder in unausdenkbarer Weise verändert werden“ (GSG 8: 398f.). Die Qualität und Dauer (als weitere soziologische ‚Kategorien‘) sozialer wie kultureller Gebilde hängen also in teils direkter, teils indirekter Weise von ihrer Zahlenstärke, von der konkreten oder unbestimmbaren Anzahl der Beteiligten ab und erzeugen einen geradezu „strukturelle[n] Unterschied“ (GSG 11: 74). Allen voran gilt dies für die Dreizahl, die – einem Gedanken Julien Freunds folgend25 – aus der sklavenhaften Abhängigkeit zu Zweit löst und gesellschaftliche Institutionen wie übergreifende Strukturen erst ermöglicht. Der Dritte ist es, der die Einheit und Grenzen der Zweierbeziehung überhaupt erst herstellt oder sie späterhin niederreißt, auf alle Fälle aber hochgradig dynamisiert. Das fängt nicht erst mit dem Kindesnachwuchs an (ebd.: 106f.), sondern berührt schon die Vorgeschichte einer Ehe oder ähnlich institutionalisierten Zweierbeziehung. Die Rolle dritter Personen markiert hier einen überindividuellen Charakter, der den Zusammenschluss stiftet; und sie begünstigt darüber hinaus – ganz im Gegensatz etwa zur Freundschaft – „das Gefühl einer objektiven Gestaltung und überpersönlichen Einheit“ (ebd.: 109): ein Dritter, der die Zwei miteinander bekannt macht, verschiedene Dritte, die über die Mitgift und Festveranstaltung verhandeln, und selbstredend der Priester oder Standesbeamte, der kirchlich oder juristisch den Bund der Ehe besiegelt.26 Dynamik und Wandel der Konstellation von Dreien im Unterschied zu Zweien analysiert Simmel auch anhand von Befehls- bzw. Dienstleistungsverhältnissen; 24 In diesem Sinne auch Luhmann: „Da man nur über Dasselbe streiten kann, liegt auch im Konflikt eine Integrationsleistung vor“, Luhmann, Politik, a.a.O., 132. 25 „Die Zweizahl ist die Sklavenzahl, und die Dreizahl ist die Gesellschafts- und Freiheitszahl“, Freund, a.a.O., 101. 26 Ähnliches findet sich bei jeder Geschäftsgründung – so Simmel, GSG 11: 111f.
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wenn beispielsweise statt eines Dienstboten oder Hausangestellten derer zwei beschäftigt werden. „Der einzelne wird aus dem natürlichen Anlehnungsbedürfnis heraus sich der personalen Sphäre und dem Interessenkreise der Herrschaft anzunähern und einzugliedern streben; ebendasselbe aber wird ihn bewegen, mit einem eventuellen zweiten Partei gegen die Herrschaft zu bilden, denn nun hat jeder von beiden einen Rückhalt am andern; [...] statt der Solidarität liegt nun vielmehr die Parteibildung nahe, statt der Betonung dessen, was den Dienenden mit dem Herrschenden verbindet, vielmehr die des Trennenden, weil die Gemeinsamkeiten nun auf der Seite des Kameraden gesucht und natürlich gerade in dem gefunden werden, was den Gegensatz beider gegen den gemeinsamen Übergeordneten ausmacht“ (ebd.: 120). Etwas Umgekehrtes zeigt sich aus der Perspektive des Dienstherrn gegenüber seinen beiden Angestellten: „[M]an hat es mehr in der Hand, zwei als einen Untergebenen in der wünschenswerten Distanz zu halten, und besitzt an ihrer Eifersucht und Konkurrenz ein Werkzeug, den einzelnen niederzuhalten und fügsam zu machen, für das es einem gegenüber gar kein Äquivalent gibt. Im formal gleichen Sinne sagt ein altes Sprichwort: ‚Wer ein Kind hat, ist sein Sklave, wer mehr hat, ist ihr Herr‘“ (ebd.: 121). Die Dichte, Einzigartigkeit und volle gegenseitige Anerkennung der Einheit zu Zweien sind – selbst in Dienstleistungsverhältnissen – ‚erkauft‘ mit der vollkommenen Angewiesenheit auf den jeweils anderen. Wenn einer die Beziehung beendet, fortgeht oder stirbt, dann löst sich alles auf. Dies zu kompensieren, Gegensätze der Dyade zu transzendieren und schließlich andere Strukturbildungen – allen voran jene des Öffentlichen – möglich zu machen, das ist die unvergleichliche Rolle des Dritten. Dreierlei idealtypische Formungen und Rollen weist der Dritte auf. 1. Er ist erstens der Unparteiische und Vermittler. In deutlicher Distanz zu zwei Streitparteien sucht er den Ausgleich des Gegensatzes und die Abschwächung der gegenüberstehenden Leidenschaften. Voraussetzung ist, dass der Dritte „jenseits der kontrastierenden Interessen und Meinungen steht [...] oder [...] an beiden gleichermaßen teilhat“ (ebd.: 129). Besonders wirkmächtig ist nach Simmel derjenige Typus, der beides in sich vereint und deswegen bestens agieren kann. Ein Vermittler zwischen Arbeitern und Unternehmern darf beispielsweise selbst weder Arbeiter noch Unternehmer sein und muss leidenschaftslos jenseits des Sachgehaltes und Interessenkampfes stehen. Gleichwohl kann und soll er aber an den Personengruppen subjektiv interessiert sein; „[...] die personale Distanz von der objektiven Bedeutung des Streites und das gleichzeitige Interesse für seine subjektive charakterisieren erst in ihrer Zusammenwirkung die Stellung des Unparteiischen und machen ihn um so geeigneter, je schärfer jedes für sich ausgebildet ist und je einheitlicher zugleich beides gerade in dieser Differenziertheit zusammenwirkt“ (ebd.: 130). Die umgekehrte Konstellation des subjektiven Vermittlerinteresses ist ebenfalls möglich (von Simmel allerdings nicht berücksichtigt): leidenschaftslos für die involvierten Personengruppen, aber hohes subjektives Interesse am Sachgehalt. Zu denken wäre
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hier sowohl an das Richteramt als auch an den Schiedsrichter im Sport. Wichtiger ist aber ein anderer Unterschied zwischen Vermittler und Schiedsrichtertum. Beim Vermittler liegt das Konfliktende noch selbst in den Händen der Parteien (im Frühsommer 2008 nachhaltig erfahrbar beim Lokführerstreik). Beim (Schieds-)Richter dagegen wird das Konfliktende auf diesen übertragen; und es zeigt sich dabei von Anfang an ein subjektives Vertrauen der Streitenden in die objektive Entscheidungsform wie auch der unbedingte Glaube an die „Legitimation durch Verfahren“.27 2. Während im bisherigen Fall die Unparteilichkeit des Dritten im Dienst der Gruppeneinheit oder der sozialen Integration stand, kann die relativ überlegene Stellung aber auch zum Selbstzweck und auf ein egoistisches Interesse hin ausgenutzt werden. Das ist das Gebiet des Tertius gaudens. Wenn man die eher passive Begünstigung außen vor lässt – etwa eine Spende oder Förderung eines Dritten durch eine Partei, nur um eigene Zwecke zu bedienen und die Gegenpartei zu kränken (ebd.: 135) –, dann zeigen sich zwei dominante Ausprägungen. In der ersten sind „zwei Parteien [...] untereinander feindlich und konkurrieren deshalb um die Gunst des Dritten“ (ebd.: 136); es geht hier grundsätzlich und in verschiedenen Varianten um Publikumsbezug, konkret etwa um den Konsumenten als lachenden Dritten, der aufgrund der umkämpften Marktanteile und Bilanzziele von niedrigen Preisen oder besserem Service profitiert. Oder umgekehrt, „zwei Personen konkurrieren um die Gunst des Dritten und sind deshalb untereinander feindlich“ (ebd.); idealtypisch ist dies eine mit Gaben und Liebesbeweisen Umworbene, bisweilen aber auch der neue Liebespartner jenseits des Kreises der beiden buhlenden Männer – also der lachende Dritte gegenüber zwei Männern, genau genommen aber der 27 Prägnant hat die gemeinsame Bindung der Streitparteien an die Institution des Gerichts und an die Legitimationskraft juristischer Verfahren (unter Mitwirkung aller) Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), Frankfurt/M. 1983, 114ff., herausgearbeitet: „Durch ihre Teilnahme am Verfahren werden alle Beteiligten veranlaßt, den dekorativen Rahmen und die Ernsthaftigkeit des Geschehens, die Verteilung der Rollen und Entscheidungskompetenzen, die Prämissen der gesuchten Entscheidung, ja das ganze Recht, soweit es nicht im Streit ist, mit darzustellen und so zu bestätigen. Es genügt nicht, daß die Vertreter der Macht ihre Entscheidungsgrundsätze und Entscheidungen in einseitiger Feierlichkeit verkünden. Gerade die Mitwirkung derer, die möglicherweise den kürzeren ziehen, hat für eine Bestätigung der Normen, für ihre Fixierung als verbindliche, persönlich-engagierende Verhaltensprämisse besonderen Wert. [...] Funktion des Verfahrens ist mithin die Spezifizierung der Unzufriedenheit und die Zersplitterung und Absorption von Protesten. Motor des Verfahrens aber ist die Ungewißheit über den Ausgang. Diese Ungewißheit ist die treibende Kraft des Verfahrens, der eigentlich legitimierende Faktor. Sie muß daher während des Verfahrens mit aller Sorgfalt und mit Mitteln des Zeremoniells gepflegt und erhalten werden.“
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Vierte im Bunde. In allen Fällen solcher Konkurrenz liegt der Vorteil dieses Tertius darin, „daß er seine Bedingungen für seine Entscheidung stellen“ (ebd.: 136) und deshalb größten Nutzen aus der Situation ziehen kann. 3. Der dritte Typus des Dritten bezieht sich im weiten Sinne auf die politische Praxis und sucht zwei Parteien gegeneinander auszuspielen, um dann über beide zu herrschen: Es handelt sich um die Kombination aus divide et impera. Dies geschieht einerseits eher passiv, indem man die Einheit, die man unterwerfen und beherrschen will, selbst kämpfen und sich auflösen lässt und dabei anscheinend neutrale Distanz ausübt, während man doch den Streit und Kampf bis zum bitteren Ende unterstützt und dirigiert (ebd.: 148ff.). Nicht selten scheint das eine zwischenzeitlich erfolgreiche Strategie der Opposition gegenüber dominanten Volksparteien innerhalb einer ‚großen Koalition‘ zu sein – in Deutschland nicht anders als in Österreich und anderen Regionen Europas. Man kann hier aber auch auf den Einsatz von Kollaborateuren und Spitzeln verweisen, die sich untereinander bewachen, denunzieren und so die bestehende Machtordnung (als teils offizielle, teil geheime Hierarchie) bewahren.28 Wenn und wo es für das Herrschaftsinteresse nicht möglich ist, die Opfer sich selbst schwächen und eliminieren zu lassen, dann und dort kann andererseits eigenmächtig in das Gruppengeschehen eingegriffen werden. Die Strategie lautet, den einen solange zu unterstützen, bis man gemeinsam den anderen besiegt hat, um dann jenen einem selbst zu unterwerfen. Diese Technik des Herrscherwillens, schreibt Simmel, „ist bei der Gründung von Weltreichen nicht weniger beliebt, wie bei den Prügeleien von Straßenjungen, in der Handhabung politischer Parteien durch eine Regierung nichts anders als in Konkurrenzkämpfen“ (ebd.: 150). Der Dritte kann nach alledem sowohl Einheit und Frieden als auch Streit und Konkurrenz initiieren wie fördern. Unvergleichlich ist er für die Dynamik des Sozialen und ebenso unvergleichlich ist er als numerischer Typus, dem der Vierte, Fünfte oder Sechste nichts Neues hinzufügen würden. Dies haben auch so gut wie alle Arbeiten über Simmels Figuren des Dritten herausgestellt.29 Moniert wurde aber 28 Zum selbst reproduzierenden triadischen Kontrollapparat von Polizei, Gefängnis und Delinquenz und eben jener Technik des kontrollierten Delinquenten-/Spitzelmilieus im Sinne politischer Ordnung prominent: Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1976, 361ff. Zur Diskretion bzw. Indiskretion im sozialen Verkehr, zu Verrat und Spionage aber auch schon Simmel selbst, GSG 11: 398f. 29 „‚Der Dritte‘ als Kategorie umschließt ein Spektrum verschiedenster nicht aufeinander rückführbarer Figuren und Funktionen, wie sozialtheoretisch sonst nur die Kategorie des Anderen. Vergleichbare materiale Differenzierungen lassen sich für eine vierte oder fünfte Position nicht aufweisen. Die aufgeführten Figurationen lassen sich nicht auf dyadische Konstellationen zurückbringen, immer aber minimal als eine Dreieckskonstellation aufklären. Insofern bildet das Argument der nicht auf den Anderen rückführbaren typologischen Fülle ein Argument, den Dritten – so wie den Anderen – systematisch in der So-
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die Engführung auf drei Typen und also versucht, dem weitere zur Seite zu stellen und triadische Beziehungskonstellationen additiv zu erweitern: der Bote, der Übersetzer und Dolmetscher, der Verräter, der Parasit, das Publikum, die Klatsch-Triade etc. Das Neue ist dort nicht die Quantität der sozialen Verhältnisse, sondern eine jeweils andere Funktion dieser Figur. Um ein Vielfaches interessanter scheinen mir allerdings Überführungen und Veränderungen von Simmels „Dritten“ in akteur-, institutionen- und gesellschaftstheoretischer Hinsicht. Dazu gehört erstens die akteurtheoretische Berücksichtigung des Dritten, die zu gesellschaftlichen Strukturdynamiken führt und verschiedenartige Beeinflussungs- wie auch Verhandlungskonstellationen erkennen lässt. Ein wesentliches Motiv ist dabei die Ergänzung der soziologischen Differenzierungstheorie um intentionale wie transintentionale Interessen- und Einflusskonstellationen gesellschaftlicher Akteure, die gleichermaßen handlungsprägend und handlungsfähig sind.30 Und zweitens gehören hierzu institutionen- und gesellschaftstheoretische Fort- und Umschreibungen des Dritten, die vor allem den Umschlag von dem Dritten auf das Dritte behandeln.31 „Eine Sozialtheorie, die systematisch den Dritten mitreflektiert, ermöglicht eine Rekonstruktion der Gesellschaft als im Ansatz komplexe Institutionalisierung bzw. Systembildung, wie sie von keiner dyadisch operierenden Sozialtheorie erschlossen werden kann. Eine triadische Sozialtheorie kann zweierlei beobachten: (a) Institutionalisierung durch den Dritten und (b) Institutionalisierung der verschiedenen Drittenfunktionen.“
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zialtheorie zu berücksichtigen“, so Joachim Fischer, Das Medium ist der Bote. Zur Soziologie der Massenmedien aus der Perspektive einer Sozialtheorie des Dritten, in: Andreas Ziemann (Hg.), Medien der Gesellschaft – Gesellschaft der Medien, Konstanz 2006, 2141, hier 29; ders., Der Dritte. Zur Anthropologie der Intersubjektivität, in: Wolfgang Eßbach (Hg.), wir/ihr/sie. Identität und Alterität in Theorie und Methode, Würzburg 2000, 103-136; oder Thomas Bedorf, Dimensionen des Dritten. Sozialphilosophische Modelle zwischen Ethischem und Politischem, München 2003. 30 Uwe Schimank, Differenzierung und Integration der modernen Gesellschaft. Beiträge zur akteurzentrierten Differenzierungstheorie 1, Wiesbaden 2005; ders., Handeln und Strukturen. Einführung in die akteurtheoretische Soziologie, Weinheim 32007, bes. 267-273. 31 Einschlägig hierzu bereits Jean-Paul Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft. Theorie der gesellschaftlichen Praxis, Reinbek 1967, bes. 270ff., 390ff. In jüngerer Zeit wichtig das Konstanzer Graduiertenkolleg „Die Figur des Dritten“ um Albrecht Koschorke; zu deren Programmatik: www.uni-konstanz.de/figur3/. 32 Fischer, Medium, a.a.O., 30; Gesa Lindemann, Die Emergenzfunktion und die konstitutive Funktion des Dritten. Perspektiven einer kritisch-systematischen Theorieentwicklung, in: Zeitschrift für Soziologie 35 (2006), 82-101.
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Zumeist wird der Aspekt von Integrationsleistung und erfolgreicher Institutionalisierung durch den/das Dritte(n) in den Vordergrund gerückt; noch viel zu kurz kommen Fragen der Irritation, Dysfunktionalität und Destabilisierung durch persönliche oder versachlichte Dritte.33 Aus Konkurrenz zwischen Zweien um den Dritten und der Figur des begünstigten Dritten geht beispielsweise der Markt respektive die marktförmige Ökonomie hervor; aus Vermittler und Richter geht die Institution des Gerichtswesens hervor; und Massenmedien institutionalisieren sich in der Übernahme und Transformation der Vermittlungsleistung von Boten und Übersetzern.34 Allen drei exemplarischen Fällen ist zu eigen, dass das jeweilige (originär dyadische) Regelwerk durch den Dritten nicht nur komplexer relationiert, sondern überhaupt erst objektiviert wird und deshalb dann als allgemeine Regel gelten kann. Ohne den Dritten käme es demnach weder zu überpersönlichen, emergenten Strukturen noch zu sozialer Kontrolle. Die institutionalisierte Legitimierung kultureller Praxen lautet: ‚Das macht man so‘.35 Gewohnheitsbildung liefert, wie Gehlen ausgeführt hat36 – der bei vielen institutionentheoretischen Studien zum Dritten als heimliche Referenz mitläuft –, den Antrieb, dass aus dem Selbstverständlichen das Verselbstständigte, das überpersönlich Autonome wird. Mit der Etablierung von Institutionen und Systemen sind allgemeine Verhaltensmuster und Erwartungsstrukturen verfügbar, die aus triadischen Figurationen erwachsen sind, die neue Figurationen, vor allem weitere Rollendifferenzierungen und -spezialisierungen ausbilden und die als spezielle versachlichte Koordinierungs- und Ordnungsmechanismen soziale Ordnung garantieren (sollen). Solcher Art wirken sie auf konkrete Individuen und ihr In-Situation-Sein zurück; und zwar mehr oder minder irreversibel (zumindest bis auf Weiteres) als disziplinierende Hintergrundstruktur. An dieser Stelle kommt es dann zu einer Theoriekombination von Simmel, Gehlen und Luhmann: Das Dritte, die Institutionen, die Gesellschaft als umfassendes Sozialsystem müssen in jedem Tun oder Lassen, in jedem Handeln oder Erleben vorausgesetzt werden, um Anschlüsse und Erwartungserfüllung zu motivieren wie auch zu limitieren, kurz: um die Ordnung der Situation zu regeln. Die Institutionalisierung des
33 Albrecht Koschorke, Vermittlung und Unterbrechung. Das Dritte als Institution, in: KarlSiegbert Rehberg (Hg.), Soziale Ungleichheit, Kulturelle Unterschiede. Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München 2004, Frankfurt/M. 2006, 3736-3746. 34 Fischer, a.a.O., 38. 35 Ausgehend vom Dritten zur Objektivation und Legitimierung der Institutionen auch: Peter L. Berger, Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie (1966), Frankfurt/M. 1977, bes. 62-71. 36 Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen (1956), Frankfurt/M. 2004.
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Dritten leitet schließlich über zur numerischen Größe und gesellschaftlichen Integration der Vielheit.
V. D IE V IELHEIT Mit der Vielheit betritt Simmel vor allem den Boden überpersönlicher Gebilde jenseits subjektiver Interessen und Motive; idealtypisch die Zweckgemeinschaft oder ein Wirtschaftsunternehmen.37 Relevant sind mit Blick auf die Kategorie der Zahl nicht deren jeweilige arbeitsteilige und zweckrationale Binnenstruktur oder ihr hierarchischer bis egalitärer Organisationsgrad. Interessant ist vielmehr erstens deren abstrakte Identifizierung durch eine numerische Größenangabe: etwa die Hundertschaft, der Rat der 500, die Achte der mittelalterlichen Bäckerszunft etc. Die Zahl bewirkt solcher Art eine Einheit aus Einheiten; „in dem rein numerischen Begriff liegt die reine Objektivität der Formung, die gegen alles Persönliche des einzelnen Mitglieds gleichgültig ist“ (ebd.: 84). Bezeichnend ist darüber hinaus, dass nach ihrer funktionalen Etablierung diese Zahleinheit sich von ihrem arithmetischen Inhalt lösen kann und trotzdem die Idee der objektiven Formung trägt, auch wenn die empirischen Verhältnisse etwa bei der Hundertschaft etwas weniger oder mehr zeigen – „das Bleibende ist nur die Zusammengefaßtheit eines aliquoten Teils der Gesamtheit zu einer Einheit [...]; die dauernde Zahlbenennung zeigt, daß das numerische Verhältnis überhaupt als das Wesentliche empfunden“ wird und so auch wirkt (ebd.: 85).38 Zweitens interessant ist bei der Bestimmung der Vielheit die Verbindung mit der Raumkategorie – ich hatte ja einleitend auf die formale Synthese von Zahl und Raum verwiesen. Als Äquivalent der Bezeichnung der Einheit einer Vielheit bietet sich statt ihrer numerischen Bestimmtheit die Angabe ihres ‚Hauses‘ an. Die Vielen kommen in ihrem Gebäude, ihrer lokalen Filiale, ihrem Hauptsitz etc. zusammen und haben dort und darin den räumlich fixierten Ausdruck ihrer vielfachen sozialen Kräfte, Bewegungen und Beziehungen (ebd.: 779f.).39 In weiterer Hinsicht führt die Vielheit auch zu einer anderweitigen numerischen Ordnung im Raum: zur Kulturtechnik der Hausnummerierung (ebd.: 711ff.) und damit eindeutigen Identifizierung 37 Gesondert wäre noch die Form der Geselligkeit zu untersuchen, die zwischen Vielen stattfindet und immer wieder auch die Frage nach ihrer optimalen Zahlengröße provoziert hat – etwa im Grenzbereich zwischen fünf und neun. 38 Für den Argumentationskontext sozialer Differenzierung hält Simmel, GSG 11: 86, schließlich fest: „Die Zahlbestimmtheit als Organisationsform nimmt innerhalb der gesellschaftlichen Entwicklung eine typische Stelle ein. Es tritt nämlich die numerische Einteilung historisch als Ersatz des Sippschaftsprinzips auf.“ 39 Ergänzend Ziemann, Brücke, a.a.O., 294ff.
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des Aufenthalts und Wohn- oder Arbeitsorts. Als Adresse wird jeder zu einer quantifizierbaren und räumlich fixierten Größe erhoben und in eine zahlenmäßige Reihe gestellt, weil allein die Namensbezeichnung den Einzelnen inmitten der Masse nicht mehr hinreichend bestimmt, geschweige denn ausfindig machen und einordnen lässt. Gestützt und gerahmt wird das Prinzip der Adressierbarkeit durch die Kulturtechnik des Registrierens. Die Erfindung des Einwohnerregisters ermöglicht nicht nur die Adresse, sondern erfindet überhaupt auch erst den sesshaften Menschen; es schafft legitimierte weltliche Existenzen aus der Sphäre des SymbolischNumerischen. Ohne Registereintrag gibt es keine Adresse, keine politische Verfügung, keine moderne soziale Ordnung. Ab dem 16. Jahrhundert ersetzt deshalb das Einwohnerregister wirkmächtig in der Neuen Welt, danach zunehmend auch im alten Europa, das genealogische Ordnungsprinzip und forciert damit eine frühmoderne Staatsidee nach ‚inquisitio‘ und vollständiger Kontrolle über sein Volk.40 Über diesen engen Anwendungsbezug der Bezeichnungs- und Identitätsvarianten hinaus steht die Vielheit in doppelter Verbindung mit dem Theorem sozialer und kultureller Differenzierung. Mit Blick auf die Gesellschaft bedeutet Vielheit ein Anwachsen sozialer Strukturen und von Komplexität. Klassisch geworden ist hier Simmels quantitatives Entwicklungsgesetz (z.B. GSG 6: 469), wonach die Evolution der Gesellschaft mit kleinen gleichartigen Gruppen, die ihre Mitglieder in strenger Bindung halten, beginnt und dann zu größeren Kreisen fortschreitet, die Freiheit und gegenseitige Differenzierung ermöglichen. Es ist dies der Weg von der Personengemeinschaft zur Funktionsgemeinschaft – und schließlich von Gemeinschaft zu Gesellschaft überhaupt. Die quantitative Vergrößerung bewirkt also qualitativ unterschiedliche Entwicklungsniveaus von Gesellschaften: strukturell gesehen, vor allem Arbeitsteilung, Rollendifferenzierung und -spezialisierung sowie funktionale Zweckgemeinschaften41 und autonome Vergesellschaftungsbereiche bzw. Kultursysteme. Aus der Perspektive des Individuums wiederum wird die Vielzahl der Zugehörigkeit zu sozialen Kreisen zu einem „Gradmesser der Kultur“ (GSG 11: 464) und bestimmt es mehr oder minder unzweideutig in seiner quantitativen Individualität, wo die qualitative auszubilden bekanntlich nur noch wenigen möglich ist.
40 Dazu, mit Blick auf Spanien, insbesondere Sevilla: Bernhard Siegert, Passagiere und Papiere. Schreibakte auf der Schwelle zwischen Spanien und Amerika, München 2006. Besonders eindrücklich für die Zeit um 1570 der Entwurf eines Regierungssystems für das Nueva España von Seiten des Franziskanerpaters Gerónimo de Mendieta, a.a.O., 136f. 41 Wichtig und interessant werden hier dann in Abhängigkeit von der Gruppen- bzw. Organisationsgröße und vom basal festgelegten Selbsterhaltungsprinzip je spezifische Eintritts- und Austrittsbedingungen, andeutungsweise etwa GSG 11: 595f.
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VI. AUSBLICK Wie ist es um eine Gesamteinschätzung zu Simmels Abhandlung der Zahl und zur Zahl im Kontext gegenwärtiger soziologischer Theorien bestellt? Ich halte Simmels Analysen zur Quantität sozialer Verhältnisse erstens wegen ihrer phänomenologischen Durchschlagskraft weiterhin für hoch relevant und zweitens für zentral im Rahmen allgemeiner Konstitutions- und Strukturtheorien des Sozialen – nicht zuletzt wegen ihrer konstitutiven Verbindung zur Raum-, Zeit- und Sachdimension, woran unbedingt anzuschließen ist und wozu vertiefende Theorie- und Empiriestudien angestellt werden sollten. Das konkrete Fortwirken Simmels dürfte besonders deutlich geworden sein gerade beim Einbau des Dritten in institutionen- und gesellschaftstheoretische Studien, aber auch mit Blick auf moderne Verhältnisse des Politischen. Bezeichnend ist jedoch, dass dies alles jüngere Studien sind und lange Zeit das Quantitative in Sozial- und Gesellschaftstheorien so gut wie überhaupt keine Rolle gespielt hat – sieht man einmal von der Herleitung des Sozialen über den basal dyadischen Kontakt zwischen Ego und Alter ab. Um nur drei prominente soziologische Theorien anzuführen, so finden sich weder bei Bourdieu noch bei Giddens, noch bei Luhmann eigenständige Analysen zu gesellschaftlichen Strukturunterschieden aufgrund der Anzahl der Beteiligten, von einem eigenständigen Ausweisen der Zahlkategorie oder Sinndimension der Quantität ganz zu schweigen. Das hat meines Erachtens viel zu tun mit der Übercodierung dyadischer, triadischer und anderer Größenverhältnisse durch Masse, Volk, Gemeinschaft, Kultur, Netzwerk(gesellschaft) und andere Kollektivsingulare. Wo und weil die Soziologie dominant den Gegenstandsbereich und das Forschungsgebiet sozialer Strukturdynamiken und damit überpersönlicher Einheiten fokussiert und sich auf Gruppen, Institutionen und „Gesellschaft überhaupt“ (Koselleck) konzentriert, da verliert sie den Sinn für die Zahl als soziologische Kategorie und für den Unterschied des Numerischen im Sozialen. Gerade die Faszination für die Masse und anonyme Bewegkräfte des Sozialen einerseits und für gesellschaftliche wie kulturelle Auswirkungen technologischer Industrialisierung und elektronischer Massenmedien andererseits haben den Abgesang auf die feinen Unterschiede des Numerischen bestärkt – so meine These. Simmel selbst konnte die Zahl nur deshalb als analytische Kategorie gewinnen, weil und nachdem er sich von seiner frühen Festlegung der Soziologie selbstkritisch distanziert hatte (ebd.: 32). In Über sociale Differenzierung von 1890 und im „Problem der Sociologie“ (1894) ist der Gegenstandsbereich noch exklusiv für objektivierte Sozialgebilde, (ideelle) Vergesell-schaftungssysteme und substanziierte, beharrende Strukturen reserviert (GSG 2: 133f.; GSG 5: 54, 57). Erst um 1900 erfolgt der Einbau der Mikroskopie bzw. Mikrosoziologie in Simmels Forschungs- und Theorieprojekt, sodass er in der Soziologie die genetische wie historische Einheit der Gesellschaft von den oft übersehenen, aber doch so konkreten und
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materialreichen Wechselwirkungen von Person zu Person herleiten kann (GSG 11: 33ff.). Gerade die kleinen Quantitäten, die Konstellationen der Dyade, Triade und anderer ‚minimaler‘ zwischenmenschlicher Beziehungen bilden in und aufgrund kontinuierlicher Wiederholung die Großformen der Gesellschaft mit ihrer eigenen Geschichte aus. Für Simmel bedeutete das einen quantitativen Reichtum der Vergesellschaftungs- und Gesellschaftsanalyse par excellence (in statu nascendi). Dass sich aber die Soziologie insgesamt eher selten mit Zahlenstärken und quantitativen Verhältnissen beschäftigt, die allesamt einen qualitativen Unterschied bedeuten, muss keineswegs heißen, dass eine Re-Lektüre Simmels in dieser Hinsicht ausschließlich historischen Charakter hat. Numeri passati? Ich glaube nicht.
Zur sozialen Konstruktion moderner Konkurrenzen. Das Publikum in der ‚Soziologie der Konkurrenz‘ T OBIAS W ERRON
E INLEITUNG Eine „Soziologie der Konkurrenz“ im strengen Sinne gibt es nicht: nicht als Grenzen des Gegenstandes nachvollziehende Bindestrichsoziologie nach Art von Wirtschaftssoziologie, Religionssoziologie, Familiensoziologie, Organisationssoziologie etc., aber auch nicht als eigenständige Theorietradition, als die etwa Differenzierungstheorie, Konflikttheorie oder Austauschtheorie gelten mögen.1 Warum das so ist, ist eine interessante soziologiehistorische Frage, die dieser Beitrag nicht wird beantworten können. Er wird vielmehr einen analytischen Rahmen zu bestimmen versuchen, in dem Form und Voraussetzungen moderner Konkurrenzen Konturen gewinnen, und zu diesem Zweck genügt es, Konkurrenz als Sozialmodell eigener Art ernst zu nehmen, das neben anderen wie etwa Kooperation und Tausch eigenständige Beachtung und Analyse verdient. Die folgenden Überlegungen sind inspiriert von Passagen aus dem „Streit“-Kapitel von Simmels Soziologie, die nahezu wortgleich 1903 als Auf1
Ein Grund für das Fehlen einer Theorietradition dieses Namens mag darin liegen, dass Begriffe von Konflikt und Konkurrenz sich auf makrosoziologischer Ebene meist ununterscheidbar vermischen, so dass Konkurrenz in ‚Konflikttheorien‘ vernachlässigt oder ohne nähere Differenzierung mit abgehandelt wird. Dafür spricht auch, dass es sich in der politikwissenschaftlichen Demokratielehre genau umgekehrt zu verhalten scheint: Dort wird von ‚Konkurrenztheorien‘ – im Gegensatz zu ‚Identitätstheorien‘ – gesprochen, die sich primär für den Kampf von Gruppeninteressen interessieren und im soziologischen Theorieumfeld am ehesten den ‚Konflikttheorien‘ zuzuordnen wären. Zur Entwicklung soziologischer Konflikttheorien Heinz Messmer, Der soziale Konflikt. Kommunikative Emergenz und systemische Reproduktion, Stuttgart 2003, 21ff.
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satz erschienen waren – dem bis heute einzigen bedeutenden soziologischen Text, der mit „Soziologie der Konkurrenz“ betitelt ist (GSG 7: 221-246).2 Mein Interesse an diesen Passagen ist weder exegetischer noch kritischer, sondern heuristischer Art. Ich frage also nicht primär nach der Stellung der Konkurrenzabschnitte in der Soziologie oder nach Schwächen von Simmels Modell, obschon ich auch solche Fragen gelegentlich berühre, sondern versuche, die bis heute nicht ausgeschöpften Stärken von Simmels Modell so zu rekonstruieren, dass sie sich in einen soziologischen Thesenund Fragenkatalog zu den Eigentümlichkeiten moderner Konkurrenzen übersetzen lassen. Meine These wird sein, dass Simmels Konkurrenzmodell mit kommunikationstheoretischen Mitteln noch sensibler auf die Analyse moderner Konkurrenzen eingestellt werden kann, und mein Vorschlag ist, Simmels Anregungen über einen operativen Begriff des Publikums zu erschließen. Öffentliche Kommunikationsprozesse ‚im Horizont des Publikums‘, so die These, werden zu Konstrukteuren und Taktgebern der Konkurrenz, die den Rhythmus, das Gedächtnis, die Komplexität und die Universalisierungs- und Globalisierungsdynamik moderner Konkurrenzen bestimmen. Der Aufsatz entfaltet diese These in vier Schritten: I. Der erste Abschnitt rekonstruiert zunächst im Kontrast zum Alltags- wie auch zum wissenschaftlichen Mainstreamverständnis Georg Simmels formalsoziologisches Modell der Konkurrenz. II. Ein Zwischenabschnitt markiert Anknüpfungspunkte für den Versuch einer kommunikationstheoretischen Verfeinerung von Simmels Modell. III. Der dritte Abschnitt stellt einen operativen Begriff von Publika sowie ein darauf basierendes Modell öffentlicher Konkurrenzen vor, das auf eine Erklärung der Eigentümlichkeiten und Dynamik moderner Konkurrenzen abzielt. Die Überlegungen münden IV. in einen Problemkatalog, der die Fruchtbarkeit dieses Rezeptionsversuchs illustrieren soll, indem er Problemanregungen aus anderen Kapiteln der Simmelʼschen Soziologie aufgreift und in Thesen und Fragen übersetzt.
I. S IMMELS M ODELL DER ‚ REINEN ‘ K ONKURRENZ Konkurrenten, sagt schon der Alltagssprachgebrauch, konkurrieren miteinander um etwas Drittes: Mindestens zwei Parteien ringen um einen Vorteil, Preis oder Gewinn; der Vorteil ist knapp und für alle Konkurrenten gleich, insofern er nur um den Preis
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Die einzigen Änderungen: Ein zusätzlicher Abschnitt zur Korrelation von Kampf und sozialen Kreisen ist eingefügt; die Schlussabschnitte des Aufsatzes zu Konkurrenz und Moderne werden in der Soziologie zur Fußnote.
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des Misserfolgs des Konkurrenten errungen werden kann.3 Aus diesem Alltagsverständnis lässt sich bereits ein erstes, formales Modell der Konkurrenz gewinnen: Abbildung 1: Grundform der Konkurrenz Kampf Konkurrent 1
Konkurrent 2
knapper Vorteil Das wissenschaftliche Verständnis der Konkurrenz, von der ökonomischen Theorie über die Biologie, Politikwissenschaft, Soziologie bis zur Wissenschaftstheorie, hat sich in der Regel nur wenig von diesem Alltagsbegriff entfernt: Gesetzt sind mindestens zwei Konkurrenten, die um „etwas“ kämpfen, wobei vorausgesetzt ist, dass die Konkurrenten den Gewinn erstreben, also positiv bewerten, und dass der Gewinn knapp ist, also nicht dem einen Konkurrenten zufallen kann, wenn er dem anderen zufällt.4 Die Traditionen trennen sich erst mit den je unterschiedlichen Akzenten, die sie entweder auf Gleichheit oder Ungleichheit der Konkurrenten, Überfluss oder Knappheit des Etwas sowie Freiheit oder Zwang zur Beteiligung am Konkurrenz3
‚Wettbewerb‘ und ‚Konkurrenz‘ werden meist synonym verwendet; für mögliche Bedeutungsnuancen aber z.B. die Unterscheidung des Ökonomen Burkhardt Röper, Die Konkurrenz und ihre Fehlentwicklungen. Untersuchungen über Störungen der Marktwirtschaft, Berlin 1952, 21, wonach Konkurrenz ein „allgemeines Prinzip der belebten Natur“ sei, daher „ethisch neutral“, während Wettbewerb zusätzlich eine „ethische Einstellung“ erfordere, die sich „nur innerhalb einer menschlichen Gemeinschaft“ bilden könne. Ähnlich Ferdinand Tönnies’ Anmerkungen, Diskussion über ‚Die Konkurrenz’, in: Verhandlungen des Sechsten Deutschen Soziologentages vom 17. bis 19. September 1928 in Zürich, Tübingen 1929, 84-88, hier 85: Im Wettbewerbsbegriff sei ein Moment von Ordnung und Regelhaftigkeit enthalten; er sei „etwas weniger Natürliches, man kann sagen Wildes, als die Konkurrenz. Das Wort schließt eine gewisse Rücksicht auf das Gesetzliche in sich ein und eine gewisse Rücksicht auf den Richter.“ Wettbewerb, hieße das, ist die sozial regulierte Form der Konkurrenz.
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Der Knappheitsbegriff ist hier und im Folgenden ohne die mit ihm meist assoziierten ökonomischen Sinnbezüge zu verstehen; vielmehr soll gerade gefragt werden, wie Konkurrenz auch außerhalb der Wirtschaft zu einem „Knappheitsgenerator par excellence“ werden kann. So die Formulierung von Alois Hahn, Soziologische Aspekte der Knappheit, in: Klaus Heinemann (Hg.), Soziologie wirtschaftlichen Handelns, Opladen 1987, 119-132, hier 124.
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kampf setzen. Im ersteren Modell, das in der ökonomischen Theorie vorherrscht, erscheint der ungleiche Erfolg der Konkurrenten primär als eine Folge ihrer Wahl (Präferenz, Einsatzbereitschaft, Anstrengung, Leistung etc.),5 im anderen, in den übrigen Sozialwissenschaften dominierenden Modell ist Ungleichheit dagegen primär eine natürliche oder gesellschaftliche Prämisse und die Konkurrenz ein Bezugsrahmen des Handelns, in den die Konkurrenten hineingezwungen sind.6 Es ist hier nicht der Ort für eine umfassende Würdigung dieser Denktraditionen, die mit dieser groben Gegenüberstellung sicher nur sehr holzschnittartig wiedergegeben sind.7 Ich will gleichwohl eine grobe Bewertung vornehmen, die sich auf eine übergreifende Schwäche dieser Traditionen konzentriert: Während im ersten Modell die Konkurrenz wie eine Bühne erscheint, die man je nach Präferenz betreten und verlassen kann, erinnert sie im zweiten eher an eine natürliche oder gesellschaftliche Ordnung, in die man zwangsweise hineingestellt ist. Wo die eine Tradition primär Handlungsoptionen und Wahlmöglichkeiten sieht, sieht die andere primär Handlungsbeschränkungen und Selektionszwänge. Die zu betretende Bühne, die zu bewältigende Ordnung sind dabei gesetzte Bedingungen der Konkurrenz. Beiden, und dies ist der für die folgenden Überlegungen entscheidende Einwand, mangelt es an daher tieferem 5
Als neuerer Vertreter der ersten, tendenziell optimistischen Tradition kann auch Friedrich von Hayeks Auffassung von Konkurrenz als „discovery procedure“ gelten, ders., Competition as a Discovery Procedure, in: Ders., New Studies in Philosophy, Politics, Economics and the History of Ideas, Chicago 1978, 179-190. Diesem Optimismus ist wohl zu verdanken, dass sich auf von Hayek über die Ökonomie hinaus neuerdings auch die Herolde der Wissens- und Informationsgesellschaft in ihrem „Vertrauen in den Wettbewerb der Informationsquellen“ berufen, so explizit Norbert Bolz, Das ABC der Medien, München 2007, 148.
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Otthein Rammstedt, Art. Konkurrenz, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Basel 1971ff., Bd. 4, Sp. 970-974, hier 973, fasst das letztere Verständnis wie folgt zusammen: „Ungleiche ringen im Konkurrenzkampf miteinander um die Chance, Anspruch auf etwas zu erhalten, das für alle gleich nützlich ist“.
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Näher Rammstedt, a.a.O. Festgehalten sei aber, dass diese Gegenüberstellung nicht deckungsgleich ist mit der Unterscheidung von ‚individualistischen‘ Befürwortern und ‚kollektivistischen‘ Kritikern der Konkurrenz, die bereits Leopold von Wiese, Die Konkurrenz, vorwiegend in soziologisch-systematischer Betrachtung, in: Verhandlungen des Sechsten Deutschen Soziologentages, a.a.O., 15-35, hier 18, als „vorwissenschaftlich“ zurückweist, obschon ein näherer Vergleich der politisch-ideologischen und der wissenschaftlichen Lagerbildung sicher von Interesse wäre. Seit Simmel, von Wiese und Mannheim dominiert zumindest in der Soziologie eine normativ differenzierende Sichtweise, die immer auch auf die Gefahren der Konkurrenz aufmerksam macht und sich z.B. an der abwägenden Gegenüberstellung von positiven und negativen Werten in Mannheims Konkurrenzvortrag ablesen lässt.
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Interesse für die Entstehungsvoraussetzungen jenes „etwas“, dessen Umkämpftheit in beiden Modellen vorausgesetzt ist. Dass im einen Fall die prinzipielle Gleichheit und Wahlfreiheit, im anderen die prinzipielle Ungleichheit und Gebundenheit der Konkurrenten gesetzt sind (obschon gewiss jederzeit zugestanden würde, dass ohne Gleichheit in bestimmten Hinsichten und Ungleichheit in anderen keine Konkurrenz möglich ist), verdeckt dabei nur den grundlegenderen Sachverhalt, dass in beiden Fällen mit Setzungen operiert wird, wo Soziologen geneigt sein könnten, erst noch weitere Fragen zu stellen. Man könnte vereinfachend von der ersten Tradition als dem „ökonomisch-liberalen Modell“ und von der zweiten als dem „sozialwissenschaftlich-darwinistischen Modell“ sprechen und fragen, ob sich ihnen ein genuin soziologisches Modell der Konkurrenz zur Seite stellen lässt,8 das sich nach dieser Diagnose vor allem dadurch auszeichnen müsste, dass es die Bedingungen der sozialen Konstruktion der Konkurrenz in die Modellierung der Konkurrenz mit einbezieht. Eben dies werden die folgenden Überlegungen versuchen, aus diesem Grund zunächst auf Simmel zurückgreifen und aus demselben Grund dann auch über Simmel hinausgehen. Was fügt Georg Simmel den gängigen Konkurrenzverständnissen hinzu? Der Titel des Originalaufsatzes, „Soziologie der Konkurrenz“, deutet die Wende schon an: Simmel ‚soziologisiert‘ die Form der Konkurrenz, indem er die triadische Konstellation aus Konkurrenten und Vorteil in eine soziale Konstellation umdeutet und an der Stelle des Vorteiles einen Dritten einsetzt, dessen Gunst über die Vergabe des Preises, Gewinns oder Vorteiles entscheidet. Auf diese Weise kann er die Konkurrenz als „indirekten Kampf“ schärfer als üblich von direkteren Rivalitäten, Konflikten und 8
Ich konzentriere mich hier auf die soziologische Form der Konkurrenz und spare damit insbesondere die Frage nach gesellschaftlichen Funktionen von Konkurrenz weitgehend aus. Auf letztere Frage hat Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1984, 521ff., eine interessante, bislang noch kaum diskutierte Antwort gegeben: Konkurrenz erweitere die „Alarmierfunktion“ des Immunsystems der Gesellschaft in der Sozialdimension und sei daher ein Mechanismus, einem Komplexitätszuwachs, dem in Sach- und Zeitdimension u.a. mit Logik, Recht, Kostenrechnung, Nutzenkalkülen und Wahrscheinlichkeitsrechnung begegnet werde, auch in der Sozialdimension gerecht zu werden. Die Funktion der Konkurrenz, die auch ihre seit dem 17. Jahrhundert wachsende Bedeutung in der Moderne erkläre, ergibt sich demnach aus Beiträgen zur Steigerung der Widerspruchs- und Störungsempfindlichkeit der Gesellschaft. Damit rückt die Konkurrenz auf überraschende Weise in die Nachbarschaft von Logik und Recht, den anderen „Großsemantiken der systeminternen Widerstandsorganisation“, wie es an anderer Stelle heißt. Luhmann, Die Soziologie des Wissens: Probleme ihrer theoretischen Konstruktion, in: Ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft 4, Frankfurt/M. 1995, 151-180, hier 169. Zu Luhmann auch die Bemerkungen in Fn. 9, 13, 31)
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Kampfformen unterscheiden und die Form der „reinen Konkurrenz“ an die Voraussetzung knüpfen, dass „jeder der Bewerber für sich auf das Ziel zustrebt, ohne eine Kraft auf den Gegner zu verwenden“. Zwar bleiben auch der „Wettläufer, der nur durch seine Schnelligkeit, der Kaufmann, der nur durch den Preis seiner Ware, der Proselytenmacher, der nur durch die innere Überzeugungskraft seiner Lehre wirken will“, in „wechselwirkendem Bewußtsein“ (alle GSG 11: 324) mit ihren Konkurrenten verbunden, sie mobilisieren ihre Kräfte aber nicht primär, um diese zu besiegen, sondern um die Gunst des Dritten zu erwerben. Wenn die Konkurrenten daneben auch direkt gegeneinander kämpfen, bringt dies die Konkurrenz nicht zum Verschwinden, aber es definiert sie nicht mehr.9 9
In der Sensibilität für die Rolle des Dritten und die „Triadität“ der Konkurrenz scheint der entscheidende Unterschied des Simmelʼschen Modells zu Konkurrenzbegriffen aller anderen soziologischen Klassiker zu liegen, bei denen die Konkurrenz ebenfalls an prominenter Stelle vorkommt, namentlich bei Max Weber, Karl Mannheim und Leopold von Wiese. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 5
1972, 20, etwa definiert Konkurrenz als Kampfform, die sich von anderen Kampfformen
lediglich durch Abwesenheit physischer Gewalt unterscheide: „Der ‚friedliche’ Kampf soll ‚Konkurrenz’ heißen, wenn er als formal friedliche Bewerbung um eigne Verfügungsgewalt über Chancen geführt wird, die auch andre begehren.“ Von Wiese, a.a.O., 17, kritisiert Webers Ansicht wegen ihrer unzureichenden Unterscheidung von Kampf und Konkurrenz, ebnet dann aber seinerseits den Unterschied zwischen natürlichen und sozialen Konkurrenzsituationen weitgehend ein, wenn er sagt, „daß auf einem Felde Klee und Distel miteinander konkurrieren. […] Wir können sehen, daß wir in unserem Wirtschaftsleben und auch sonst im sozialen Leben unter dasselbe Gesetz gestellt sind. Es ist nichts anderes, und ich wüßte nicht, wo der Unterschied liegen könnte.“ Mannheim schließlich sieht zwar das Problem der gemeinsamen Zielsetzung der Gegner in seinem Bereich des „seinsverbundenen Denkens“, reduziert es aber auf das Ringen sozialer Schichten um die „öffentliche Auslegung des Seins“, die „zumeist Korrelat der Machtkämpfe einzelner Gruppen“ sei mit den möglichen Konstellationen des Konsenses, der Monopolisierung, der Atomisierung und Konzentration. Karl Mannheim, Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiet des Geistigen, in: Volker Meja, Nico Stehr (Hg.), Der Streit um die Wissenssoziologie, 2 Bde., Frankfurt/M. 1982, Bd. 1: Die Entwicklung der deutschen Wissenssoziologie, 325-370, hier 335. Indem er die öffentliche Auslegung selbst als Produkt von Machtkämpfen beschreibt, versperrt sich Mannheim aber die umgekehrte Frage, wie jene Schichten/Gruppen durch „öffentliche Auslegung“ zu Konkurrenten gemacht, als Konkurrenten konstruiert werden – und dieser Einwand hängt nicht an Mannheims Primärinteresse an sozialen Schichten und philosophischer Höhenkammsemantik, sondern träfe ebenso die von ihm als alternative Wettbewerbstypen erwogenen Individuen, Institutionen, konkreten Gruppen und Generationen. Und noch Niklas Luhmann, trotz kommunikationstheoretischem Ausgangspunkt und trotz aller Betonung der Differenz von Konflikt und Konkurrenz, definiert
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Abbildung 2: ‚Reine‘ Konkurrenz (Simmel) I
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knappe Gunst eines Dritten Was sind die Konsequenzen dieser Indirektheit, der, so Simmel, „eigentümlich vermittelten Wechselwirkungsform“ der Konkurrenz? Simmel selbst hebt zwei Konsequenzen hervor, deren erste er „inhaltliche Förderung“ oder „Wertsteigerung“ und deren zweite er „soziologische Förderung“ oder „synthetische Kraft“ nennt (ebd.: 328), und es ist vor allem diese zweite Dimension, die seine ‚reine‘ Konkurrenz für die Arbeit an einem genuin soziologischen Modell der Konkurrenz interessant macht. Zunächst jedoch zur ersten, der „inhaltlichen Förderung“. Dass bei reiner Konkurrenz jeder Bewerber „für sich auf das Ziel zustrebt, ohne eine Kraft auf den Gegner zu verwenden“ (ebd.: 324), entspricht dem, was Simmel die „unabgelenkte Richtung auf die Sache“ nennt. An ihr liege es, dass die Konkurrenz „wertsteigernd“ wirke, indem sie subjektive Motive in den Dienst der Erzeugung objektiver Werte stelle. Den Institutionalisierungsgrad dieses Wertes illustriert Simmel anschaulich an dem Ausmaß an Schädigungen und Rücksichtslosigkeiten, die als Resultate der Konkurrenz in Kauf genommen würden. Die Bestrafung eines Teilnehmers an einer Rauferei wegen Körperverletzung sei „durchaus nicht logisch konsequenter, als die eines Kaufmannes wäre, der mit loyalen Mitteln seinen Konkurrenten zugrunde gerichtet hat.“ Dass beide gleichwohl unterschiedlich behandelt würden, habe viele Gründe, vor allem aber den, dass im Fall der Konkurrenz die „Schädigung auf dem Umwege über eine objektive Leistung geschieht, die für eine unbestimmbare Zahl von Individuen wertvoll ist“ (ebd.: 344).10 Mit anderen Worten: Die indirekten Folgen der Konkurrenz ziehen Recht und Moral auf die Seite der Konkurrenz, obschon diese ohne expliziten Bezug auf die Indirektheit der Konkurrenz: „Von Konkurrenz kann man sprechen, wenn die Ziele eines Systems nur auf Kosten der Ziele anderer Systeme erreicht werden können. […] Der Begriff artikuliert die Sozialdimension des Zielsinnes“, Soziale Systeme, a.a.O., 521. 10 Simmel, GSG 11: 344f., untermauert diesen gesellschaftlich institutionalisierten Glauben an Wertsteigerung durch Konkurrenz später mit der Beobachtung, dass wettbewerbsrechtliche Einschränkungen, die sich zu seiner Zeit zu etablieren beginnen – das deutsche „Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb“ tritt 1909 erstmals in Kraft –, nur oberflächlich der Einschränkung, auf den zweiten Blick aber gerade der Durchsetzung des Ideals der reinen Leistungskonkurrenz dienten.
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sich den direkten Folgen nach gegen sie stellen müssten. Mit der Betonung der „inhaltlichen Förderung“ durch Konkurrenz befindet sich Simmel freilich noch ganz im Einklang mit einer seit Adam Smith und dem 18. Jahrhundert prominenten liberalen Tradition der Beschreibung von Märkten als unsichtbare Hand, also mit der, wie Simmel selbst später in den Grundfragen der Soziologie formuliert, „Metaphysik, mit der der Naturoptimismus des 18. Jahrhunderts die freie Konkurrenz sozial rechtfertigt“ (GSG 16: 148), deren Sedimente uns schon in dem dominierenden Konkurrenzmodell der ökonomischen Theorie begegnet waren. Wenn es allein auf diese sachlich-inhaltlichen Implikationen der Konkurrenz ankäme, wäre Simmels Modell daher kaum einer vertiefenden soziologischen Auseinandersetzung wert. Umso interessanter ist die zweite, die „soziologische Förderung“. Denn so bedeutend der Wert der „inhaltlichen Förderung“ durch Konkurrenz und so offensichtlich die bis in Philosophie, Recht und Moral verfolgbare Präferenz für sie, 11 hält Simmel die „soziologische Förderung“ doch für die noch wichtigere. Erneut legt er größten Wert auf die Indirektheit der Konkurrenz: darauf, mit „soziologischer Förderung“ Vergesellschaftung nicht der Konkurrenten untereinander, sondern der Konkurrenten mit dem Dritten zu meinen: „Man pflegt“, so Simmel, „von der Konkurrenz ihre vergiftenden, zersprengenden, zerstörenden Wirkungen hervorzuheben und im übrigen nur jene inhaltlichen Werte als ihre Produkte zuzugeben. Daneben aber steht doch diese ungeheure vergesellschaftende Wirkung: sie zwingt den Bewerber, der einen 11 Eine Präferenz, die sich heute weiter abgeschwächt haben mag; z.B. skeptisch zur Konkurrenz in der Naturwissenschaft Daniel Sullivan, Competition in Bio-Medical Science: Extent, Structure, and Consequences, in: Sociology of Education 48 (1975), 223-241, der betont, dass die verstärkte Wahrnehmung von Konkurrenz, insbesondere unter dem zeitlichen Gesichtspunkt des „being anticipated“, zur Geheimniskrämerei verleite, die sich ihrerseits schädlich auf wissenschaftliche Produktivität und individuelle Karrieren auswirken könne. Für eine generellere, sozialpsychologisch begründete Kritik der Konkurrenz Alfie Kohn, Mit vereinten Kräften. Warum Kooperation der Konkurrenz überlegen ist, Weinheim 1989. Für einen neueren Überblick über sozialphilosophische Positionen Frank Nullmeier, Politische Theorie des Sozialstaats, Frankfurt/M. 2000; sowie ders., Tanja Pritzlaff, Gemeinsinn durch Konkurrenz – Argumentationsfiguren normativer Integration, in: Herfried Münkler (Hg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn. Zwischen Normativität und Faktizität, Berlin 2002, 187-216. Deutlich pessimistischer als die Ökonomen hören sich seit je die Diagnosen vieler Soziologen an, besonders ätzend bei Leopold von Wiese, a.a.O., 31: „Konkurrenzerscheinungen sind es, wenn die Kliquen klettenhaft zusammenhalten, nicht um sich durch gemeinsame Leistung zu einer höheren Qualitätsstufe zu erheben, sondern um in einem biedermännisch dreinschauenden Hand- in Handarbeiten die einsame Arbeit eines strebenden und sachlichen Menschen herabzuziehen.“ Zur Formulierung dieses Einwandes würde man wohl heute eher von „Netzwerkerscheinungen“ sprechen, freilich ohne auszuschließen, dass diese durch Konkurrenz/Wettbewerb angeregt sein können.
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Mitbewerber neben sich hat und häufig erst hierdurch ein eigentlicher Bewerber wird, dem Umworbenen entgegen- und nahezukommen, sich ihm zu verbinden, seine Schwächen und Stärken zu erkunden und sich ihnen anzupassen, alle Brücken aufzusuchen oder zu schlagen, die sein Sein und seine Leistungen mit jenem verbinden könnten“ (ebd.: 327). Wie viele Kritiker der „Vermassung“ seiner Zeit schränkt zwar auch Simmel ein, dass diese Umwerbung Dritter sachlich von Nachteil sein könne, da der „Gehorsam gegen die Instinkte oder Launen der Massen oft um den Preis der persönlichen Würde und des sachlichen Wertes der Leistung“ geschehe. Mögliche Konflikte mit der „inhaltlichen“ Seite der Konkurrenz verminderten aber „nicht die formale Bedeutung der Konkurrenz für die Synthesis der Gesellschaft. Ihr gelingt unzählige Male, was sonst nur der Liebe gelingt: das Ausspähen der innersten Wünsche eines anderen, bevor sie ihm noch selbst bewußt geworden sind“ (ebd.: 328). In diesem Zusammenhang bringt Simmel dann auch ausdrücklich das Publikum ins Spiel: „Die antagonistische Spannung gegen den Konkurrenten schärft bei dem Kaufmann die Feinfühligkeit für die Neigungen des Publikums bis zu einem fast hellseherischen Instinkt für die bevorstehenden Wandlungen seines Geschmacks, seiner Moden, seiner Interessen; und doch nicht nur bei dem Kaufmann, sondern auch bei dem Zeitungsschreiber, dem Künstler, dem Buchhändler, dem Parlamentarier. Die moderne Konkurrenz, die man als den Kampf aller gegen alle kennzeichnet, ist doch zugleich der Kampf aller um alle“ (ebd., Hervorh. T.W.). Diese Beobachtung, mit Akzent auf dem „um“ formuliert, wird Simmel zum Anlass, den „seelischen Konnex“ zwischen Rivalen und Dritten als bestimmendes Kriterium der Konkurrenz festzuhalten, einen Konnex, der „nur durch die soziologischen Mittel der Überredung oder Überzeugung, der Über- oder Unterbietung, der Suggestion oder Drohung“ (ebd.: 330) hergestellt werden könne. Abbildung 3: ‚Reine‘ Konkurrenz (Simmel) II ‚wechselwirkendes Bewusstsein‘ Konkurrent 1
Konkurrent 2
„seelischer Konnex“
„seelischer Konnex“
durch Darbieten, Verlocken, Überreden, Überzeugen …
durch Darbieten, Verlocken, Überreden, Überzeugen … Dritter „Gunst“
Zur Vervollständigung von Simmels Konkurrenzverständnis und mit Blick auf mögliche weiterreichende Erklärungsansprüche seines Modells ist schließlich eine Be-
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merkung zum Zusammenhang von Konkurrenz und Moderne am Ende der Konkurrenzabschnitte von Interesse,12 wo er den Dritten als „unpersönliche Macht“ bezeichnet, die die Harmonie der Konkurrenz mit den „tiefsten Tendenzen des modernen Lebens“ erweise: Das „scharf differenzierte Sach- und Selbstbewußtsein des modernen Menschen läßt die Kampfform der Konkurrenz wie für ihn geschaffen erscheinen. Hier ist die reine Objektivität des Verfahrens […] unter völliger Gleichgültigkeit gegen die dahinter stehende Persönlichkeit. Und doch ist hier auch die volle Selbstverantwortlichkeit der Person, die Abhängigkeit des Erfolges von der individuellen Kraft, und zwar gerade weil hier persönliches Können gegen persönliches Können von ganz unpersönlichen Mächten abgewogen wird. Die tiefsten Tendenzen des modernen Lebens, die sachliche und die personale, haben in der Konkurrenz einen ihrer Treffpunkte gefunden, in denen sie unmittelbar praktisch zusammengehören und so ihre Entgegengesetztheiten als einander ergänzende Glieder einer geistesgeschichtlichen Einheit erweisen“ (ebd.: 349, Hervorh. T.W.). Es ergeben sich also drei allgemeine Bilanzen der Simmelʼschen Konkurrenz, die alle auf das Urteil des Dritten als systematischen Fluchtpunkt der Konkurrenz hinführen: Es ist die Gunst des Dritten, welche die Konkurrenz als „indirekten Kampf“ von direkteren Rivalitäten und Konflikten unterscheidet;13 es ist die Orientierung an der Gunst des Dritten, auf der die „inhaltliche Förderlichkeit“ der Konkurrenz beruht, und es ist die Gunst des Dritten, in der die spezifisch moderne vergesellschaftende Kraft der Konkurrenz wurzelt und die so allgemein gehalten ist, dass sie in allen Gesellschaftsbereichen zum Zuge kommen kann.14 12 Die den Schluss des Originalaufsatz bildete, in der Soziologie aber in eine Fußnote umgewandelt worden ist – wohl weil sie dem Erklärungsanspruch nach nur bedingt zum formalsoziologischen Programm des Buches passte. 13 Die Mittelbarkeit der Konkurrenz mag erklären, weshalb Luhmann, Soziale Systeme, a.a.O., 521, obschon auch er die Figur des Dritten nicht explizit in seinen Begriff von Konkurrenz aufnimmt, gleichwohl Wert auf die Feststellung legt, dass Konkurrenz selbst kein System sein könne, sondern (nur) ein „Sondertypus sozialer Erfahrung“. Die ‚Nichtsystemhaftigkeit‘ der Konkurrenz begründet er schlicht damit, dass die Konkurrenz „keine Kommunikation zwischen den Konkurrenten“ erfordere, a.a.O., 524, daher nur systembildend wirken könne, wenn sie in Konflikt übergehe. An dieser Stelle wäre freilich zu fragen, wie Konkurrenz als Modus sozialer Erfahrung kommunikativ verwirklicht werden kann, obwohl es gerade keine Kommunikation zwischen den Konkurrenten geben muss. Luhmann selbst begnügt sich mit einem Hinweis auf eine „Semantik der Einheit“ (der Konkurrenz), die nicht mit der „wirklichen Einheit“ des Systems – seiner autopoietischen Reproduktion – verwechselt werden dürfe, fragt aber nicht nach den operativen Voraussetzungen jener Semantik. 14 Nicht nur in der Wirtschaft, wie es die bisherige Forschung über Semantiken des Wettbewerbs und der Konkurrenz nahe legt, auch wenn die für wirtschaftliches Handeln immer
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II. „G RÖBERE , SOZUSAGEN
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F ÄLLE “
So rekonstruiert, drängt es sich auf, genauer nach den Kriterien und Konsequenzen jener Gunst des Dritten zu fragen, und tatsächlich scheint mir hier der weder bei Simmel selbst noch später ausgeschöpfte soziologische Mehrwert von Simmels Modell zu liegen. Das Modell impliziert die Vorstellung gleichzeitig existierender Konkurrenten – Individuen, Gruppen, andere Kollektive –, die ihr Bewusstsein von Konkurrenten und Gunst des Dritten aus Sinnressourcen beziehen, deren Herstellung inner- oder außerhalb der Konkurrenztriade im Modell selbst nicht erklärt, sondern vorausgesetzt wird. Es erklärt nicht, sondern setzt voraus, dass ‚sachliche‘ und „soziologische Förderung“ zusammenfallen, und es erklärt nicht, sondern setzt voraus, dass modernes Leben und Vergesellschaftung durch Konkurrenz harmonieren. Das ist natürlich nicht primär als Kritik an Simmels Modell zu verstehen, das ja gezielt die Eigenschaften aller Konkurrenzverhältnisse aufzudecken und ein Universalmodell der Vergesellschaftung durch Konkurrenz zu entwerfen versucht, ist aber ein erster Hinweis, dass die heuristischen Potentiale des Modells mit Simmels Rekonstruktion allein noch nicht ausgeschöpft sind. Ein paar einfache Fragen mögen dies illustrieren: Woher wissen die Konkurrenten, dass sie, mit wem sie und um wen sie konkurrieren? Wie können alle gleichzeitig gegen alle um alle konkurrieren, wenn doch kaum für alle Formen von Konkurrenz angenommen werden kann, dass alle allen hinreichend regelmäßig begegnen, um sich über ihre Erwartungen als Konkurrenten oder Dritte aufzuklären? Wie erfahren die Konkurrenten von den Leistungen der anderen, wie von Kriterien, Urteil, Gunst und Missgunst der Dritten? All diese Fragen eint das Prinzip, nach konkreten Voraussetzungen der sozialen Konstruktion der Konkurrenz zu fragen. Wenn sich ein Vorbehalt gegenüber Simmels Modell aufdrängt, dann also der, dass ihn sein universal-formalsoziologisches Interesse Fragen nach historischen Bedingungen der Konstruktion von Konkurrenzen
als relevant vorausgesetzte Knappheit – die soziologisch freilich ihrerseits erklärungsbedürftig ist – Konkurrenzsituationen dort besonders zentral erscheinen lassen mag. So namentlich Albert O. Hirschman, Rival Interpretations of Market Society: Civilizing, Destructive, or Feeble?, in: Journal of Economic Literature 20 (1982), 1463-1484; für einen neueren Überblick Marion Fourcade u. Kieran Healy, Moral Views of Market Society, in: Annual Review of Sociology 33 (2007), 285-311. Gegen die Beschränkung auf wirtschaftliche Konkurrenz äußern sich bereits 1928 deutlich von Wiese und Mannheim, und dass die Geschichte der Wettbewerbssemantiken außerhalb der Wirtschaft erst noch geschrieben werden müsse, meinen auch Nullmeier u. Pritzlaff, a.a.O., 187. Aus kunsthistorischer Sicht zuletzt Renate Prochno, Konkurrenz und ihre Gesichter in der Kunst. Wettbewerb, Kreativität und ihre Wirkungen, Berlin 2006, die sich allerdings ebenfalls kaum für die diskursivsemantische Konstruktion des Wettbewerbs/der Konkurrenz interessiert.
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und damit auch die Frage aussparen lässt, welcher Erklärungsfaden seine drei Teildiagnosen „inhaltliche Förderung“, „soziologische Förderung“ und „Harmonie von Konkurrenz und Moderne“ zusammenhält. Diese Enthaltsamkeit findet Ausdruck in einer Formulierung, mit der ich die Rekonstruktion von Simmels Überlegungen beschließen und die ich zugleich als Ausgangspunkt für meinen eigenen Rezeptionsversuch nutzen will. Nachdem er die Konkurrenz als Kampf aller um alle charakterisiert und mit der quantitativen Erweiterung der Kreise in Verbindung gebracht hat, stellt Simmel fest, dass sich die „sozialisierende Kraft der Konkurrenz keineswegs nur in diesen gröberen, sozusagen öffentlichen Fällen“ zeige, sondern auch in „unzähligen Kombinationen des Familienlebens wie der Erotik, der gesellschaftlichen Plauderei wie der auf Überzeugung gerichteten Disputation, der Freundschaft wie der Eitelkeitsbefriedigungen“ (ebd.: 329). Diese Gleichstellung der „gröberen, sozusagen öffentlichen Fälle“ und der, könnte man spiegelbildlich sagen, feineren, privaten Fälle als mögliche Spielfelder von Konkurrenz fällt umso mehr auf, wenn man ein paar Seiten weiterblättert und Simmel Ausführungen zu gesellschaftlichen Einschränkungen der Konkurrenz liest. Die Familie etwa, oben noch als feineres Umfeld für Konkurrenzen erwähnt, wird nun als Prinzip „organischen Lebens“ beschrieben, das „als solches nicht über sich hinaus auf ein ihm äußeres Ziel“ weise, „um dessen Gewinn seine Elemente zu konkurrieren hätten.“ Die Familie sei daher prinzipiell kein geeignetes Umfeld von Konkurrenz (ebd.: 333). Man muss in dieser Einschränkung nicht zwingend eine Inkonsistenz erkennen. Es kann ja einen Spielraum für Konkurrenzen auch in privaten, quantitativ beschränkten Kreisen geben, auch wenn er dort prinzipiell gewissen Beschränkungen unterliegt. Simmels Betonung prinzipieller Einschränkungen, die in der Struktur des sozialen Kreises angelegt sein können, legt aber nahe, in der Unterscheidung zwischen den gröberen, öffentlichen und den feineren, privaten Fällen nicht nur eine Typenunterscheidung, sondern auch einen Hinweis auf ein konkurrenzfreundliches Differenzierungsprinzip zu entdecken, das in den öffentlichen, nicht aber in den privaten Erscheinungsformen zum Zuge kommt. Mit anderen Worten: Die Unterscheidung legt nahe, private Kämpfe von wenigen um wenige von öffentlichen Kämpfen von vielen um viele zu unterscheiden und an den Makrovarianten näher zu untersuchen, worauf die Affinität von Konkurrenz und Moderne beruht.15
15 Dafür spricht übrigens auch, dass im Kapitel über die „quantitative Bestimmtheit der Gruppe“, GSG 11: 137, das „kaufende Publikum in einer Wirtschaft mit freier Konkurrenz“ als ideales Beispiel der Figur des „lachenden Dritten“ (Tertius gaudens) vorkommt – auf diese Bemerkung komme ich zurück.
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III. K ONKURRENZ ‚ IM H ORIZONT
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P UBLIKUMS ‘
Was genau also ist unter öffentlichen Fällen der Konkurrenz zu verstehen? In einem basalen Sinne ist sicherlich jede Konkurrenz auf Öffentlichkeit angewiesen, da das ‚reine‘ Konkurrenzmodell ja voraussetzt, dass Informationen über die Gunst des Dritten, die Identität des Preises und die Leistungen der Konkurrenten im Prinzip für alle Mitglieder der Triade zugänglich sein müssen. Die wesentlichen Informationen über Leistungen und Leistungskriterien müssen gleichsam konkurrenzöffentlich sein, und obschon Simmel diese Voraussetzung nicht ausdrücklich nennt, darf man unterstellen, dass er sie als Grundbedingung seines Modells selbstverständlich mitgedacht hat. In den ‚feineren‘, privaten, mikrosoziologischen Fällen mag man sich diese Informationsöffentlichkeit der Konkurrenz als Nebenprodukt alltäglicher Begegnungen vorstellen: Die ‚Nebenbuhler‘ sehen einander mit der Geliebten sprechen, nehmen ihre bewundernden oder abfälligen Bemerkungen über den anderen zur Kenntnis, antworten ihrerseits mit auf- oder abwertenden Bemerkungen. Der Informationsstand der Beteiligten wird stets differieren, infolge Begegnungen dieser Art dann aber soweit konvergieren, dass sich die Nebenbuhler als Konkurrenten und die Umworbenen als Dritte wahrnehmen und sich die Bedingungen der Vergesellschaftung durch Konkurrenz erfüllen können. Anderes gilt offensichtlich in den „gröberen, sozusagen öffentlichen Fällen“. Hier werden die Konkurrenten einander oder dem Dritten, z.B. dem, so Simmel wörtlich im Großstadt-Aufsatz, „nie in den Gesichtskreis des eigentlichen Produzenten tretenden Abnehmer“ (GSG 7: 118), in der Regel gar nicht persönlich begegnen. Wie kann es gleichwohl gelingen, das erforderliche Bewusstsein von Leistungen und Gunst der anderen auch in den gröberen, öffentlichen Fällen der Konkurrenz herzustellen? Wie formiert sich die ‚Gunst‘ des Dritten als eine ‚unpersönlich abwägende Macht‘? Und wie wirken sich diese veränderten Beobachtungsbedingungen auf die Dynamik der Konkurrenzverhältnisse aus? Pointiert und im Vorgriff auf mediensoziologische Implikationen gefragt: Welche Konsequenzen hat es für die Soziologie der Konkurrenz, wenn sich Konkurrenten und Dritte nur aus der Presse kennen können? Ich schlage vor, das Publikum als Dritten einzusetzen, um die spezifische Dynamik der Konkurrenzverhältnisse in den ‚öffentlichen Fällen‘ zu erklären.16 Im Hinblick auf einen verbreiteten abweichenden Sprachgebrauch sei festgehalten, dass das Publikum dabei nicht als Rolle, sondern als mitlaufende Fiktion öffentlicher Kommunikationsprozesse verstanden wird, die durch Modi öffentlichen Beobachtens, Vergleichens, Kritisierens, Lobens, Werbens, Bewertens etc. den „seelischen Konnex“ zwischen Konkurrenten und Publikum als auch das ‚wechselseitige Bewusstsein‘
16 Das übrigens in den Konkurrenzabschnitten der Soziologie insgesamt acht Mal erwähnt wird.
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zwischen den Konkurrenten erst hervorbringen.17 Die Konkurrenzkonstellation erscheint dann als Artefakt öffentlicher Kommunikation, das sich dem Rhythmus, der Komplexität und Gedächtniskraft öffentlicher Kommunikationsprozesse verdankt. Abbildung 4: Konkurrenz im Horizont des Publikums
‚wechselwirkendes Bewusstsein‘ K1
K2 „seelischer Konnex“
Publikum Unter den Merkmalen dieses ‚operativ‘ verstandenen Publikumsbegriffes, der sich an systemtheoretische Vorarbeiten zu Begriffen von Märkten und der öffentlichen Meinung anlehnt,18 will ich hier nur eines hervorheben, das nach meinem Eindruck in der historischen und soziologischen Literatur über Öffentlichkeit und Publikum unterbelichtet geblieben ist: die Form ‚öffentliche Kommunikation‘ selbst. Öffentlich ist zu-
17 Neben der Unterstellbarkeit von Informiertheit, Akzeptanz, Konsens etc. geht es also auch um die Herstellung von Unterstellbarkeit ‚im Horizont des Publikums‘. Die Unterscheidung ist von Interesse auch mit Blick auf Luhmanns in die Rechtssoziologie eingeführten Begriff des Dritten als Institution, ders., Rechtssoziologie, Wiesbaden 31987, 64ff. Der Dritte erscheint dort als abstrakte Erwartungsfigur – im Unterschied zum faktisch anwesenden ‚Zuschauer‘ –, die der Institutionalisierung bedarf bzw. als Resultat erfolgreicher Institutionalisierung zu verstehen ist. Luhmann thematisiert aber weder dort noch sonst in seinem Werk, was geschieht, wenn die Institutionalisierung jener unterstellten Erwartungen Dritter der Dynamik öffentlicher Kommunikation überantwortet wird: Welche Konsequenzen, wäre zu fragen, hat es für die Unterstellbarkeit gewisser Erwartungen und die Nichtunterstellbarkeit anderer, wenn Institutionalisierungsprozesse von Formen öffentlicher Selbstbeobachtung abhängig sind? 18 Zu diesem Begriff als differenzierungs- und globalisierungstheoretische Vergleichsfigur näher Tobias Werron, Publika. Zur Globalisierungsdynamik von Funktionssystemen, Soziale Systeme 13 (2007), 379-392; für eine empirische und historische Anwendung dieses Konzeptes auf die Entstehung des modernen Sports Tobias Werron, Der Weltsport und sein Publikum. Zur Autonomie und Entstehung des modernen Sports, Velbrück 2010; am Beispiel der Form des ‚Weltereignisses‘ auch ders.‚ ‚World Series‘. Zur Entstehung eines Weltereignisses, in: Stefan Nacke, René Unkelbach, Tobias Werron (Hg.), Weltereignisse. Theoretische und empirische Perspektiven, Wiesbaden 2008, 101-140.
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nächst, seiner deutschen Wortwurzel nach, ein Wahrnehmungs- und Beobachtungsbegriff, der ‚offen‘ im Sinn von ‚allgemein zugänglich‘ oder ‚unbeschränkt beobachtbar’ meint.19 Öffentliche Kommunikation lässt sich daher im ersten Zugriff als allgemein zugängliche, in ihren Anschlüssen unbeschränkte Kommunikation bestimmen, die sich an ein im Einzelnen unbestimmtes (anonymes) Publikum richtet und dieses Publikum als notwendige Fiktion eigenen Operierens voraussetzt.20 Wer sich allein an soziologische, auch systemtheoretische Literatur hält, kann den Eindruck gewinnen, dass sich solche Formen öffentlicher Kommunikation quasi von selbst einstellen, wenn Verbreitungstechnologien wie Schrift und Buchdruck zur Verfügung stehen, durch die sich Kommunikationsprozesse an anonyme Abwesende richten, Fiktivität und Historizität ausbilden sowie von räumlicher Integration zunehmend unabhängig machen können.21 Der Verweis auf Kommunikationstechnologien ist natürlich ernst zu nehmen (ich komme darauf zurück), neigt aber dazu zu vernachlässigen, dass öffentliche Kommunikation auch als historisch voraussetzungsvolle und folgenreiche Form der Kommunikation begriffen werden muss. Die sozialen bzw. kulturellen Eigentümlichkeiten dieser Form haben in der soziologischen, aber auch in der medienhistorischen Literatur nach Innis, Ong, Eisenstein u.a. entsprechend wenig Aufmerksamkeit gefunden,22 sind aber von dem Literarhistoriker Michael Warner in den letzten Jahren herausgearbeitet worden, zunächst historisch an der Entstehungszeit der amerikanischen Republik im 18. Jahrhundert, dann auch systematisch im Vergleich mit Alternativformen wie Gerüchten, religiösen Sermonen und Lyrik:23 Auch Lyrik nimmt Schrift, Druck und andere Medien in Anspruch, um ein abwesendes Publikum zu adressieren, muss sich aber, wenn sie als Lyrik verstanden werden 19 Näher Lucian Hölscher, Art. Öffentlichkeit, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. v. Otto Brunner, Werner Konze, Reinhart Koselleck, Stuttgart 1972ff., Bd. 4, 413-467. 20 Am Beispiel öffentlicher Meinung: sie sei „immer dann impliziert, wenn vorausgesetzt wird, daß Resultate von Kommunikation (Wissen, Präferenzen, Selbst- und Fremdeinschätzung etc.) die Einstellungen eines (im Einzelnen unbestimmt bleibenden) Publikums bestimmen und so weiterer Kommunikation zugrunde gelegt werden“, Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, hg. v. André Kieserling, Frankfurt/M. 2000, 286. 21 Etwa Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde., Frankfurt/M. 1997, 312ff. 22 Peter Fuchs, Moderne Kommunikation. Zur Theorie des operativen Displacements, Frankfurt/M. 1993, 104ff., behandelt mit der „Form aufgeklärter Kommunikation“ eine verwandte, aber engere Form, die stärker an das Ideal gelingender Interaktion unter Anwesenden gekoppelt ist und für die Publizität zu einem Problem wird, das sie z.B. mit „LeseRestriktionen“ moralisch zu korrigieren sucht. 23 Michael Warner, The Letters of the Republic. Publication and Public Sphere in EighteenthCentury America, Cambridge Mass. 1990; ders., Publics and Counterpublics, New York 2002.
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will, an die individuelle Empfindsamkeit ihrer Leser richten. Die lyrisch gerahmte Form negiert gleichsam die Anonymität ihres Publikums, während gerade in dieser Unbestimmtheit und der von dieser Unbestimmtheit abhängigen Unterstellbarkeit von Aufmerksamkeit, Informiertheit und Diskussionsbereitschaft des Publikums der eigentümliche Sinn öffentlicher Kommunikation liegt: „Public speech“, formuliert Warner, „differs from both lyric and sermonic eloquence by construing its addressee as its circulation, not its private apprehension.“24 Obschon andere, etwa ‚postmoderne‘ Interpretationsrahmen von Lyrik natürlich möglich bleiben, zeigt das Beispiel, dass Kommunikation in der Öffentlichkeit stattfinden kann, ohne allein dadurch schon zu einer Form öffentlicher Kommunikation zu werden. Das unterscheidet die Lyrik von der Kritik der Lyrik ebenso wie es politische Entscheidungen von ihrer Evaluation durch die öffentliche Meinung oder Zahlungsvorgänge von ihrer Bewertung auf Märkten unterscheidet. Abbildung 5: Konkurrenz im Horizont des Publikums II K1
K2 öffentliche Kommunikation
Publikumsfiktion Als historisches Vorbild dieser Konstellationen aus handelnden und beobachtenden, primären und sekundären Beobachtungsebenen kann das moderne politische System gelten, dessen Entstehung an die Herausbildung zweier noch heute üblicher Verständnisse des Öffentlichen, der staatlichen ‚öffentlichen Gewalt‘ und der nichtstaatlichen ‚öffentlichen Meinung‘ gebunden war. Beide Begriffe gehen auf zwei unterschiedliche Wurzeln des Begriffes zurück, eine lateinische mit Gesellschaftsbezug (‚res publica‘; ‚die Angelegenheiten aller betreffend‘) und die oben angedeutete deutsche Wurzel mit Beobachtungs- bzw. Wahrnehmungsbezug (‚offen‘, ‚allgemein zugänglich‘).25 Die politische ‚öffentliche Meinung‘ lässt sich als das historische Produkt einer Vereinigung beider Gegenbegriffe des Öffentlichen im 18. Jahrhundert begreifen, die es erlaubte, die öffentliche Meinung sowohl als politisch-gesellschaftlich (primärer Gegenbegriff: privat) als auch als öffentlich geäußerte Meinung aufzufassen (primärer Gegenbegriff: geheim) und den Instanzen staatlicher öffentlicher Ge-
24 A.a.O., 84. 25 Hölscher, a.a.O., 414ff.
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walt als Beobachtungsinstanz gegenüberzustellen.26 Diese Umstellung verband sich mit einer Tendenz zur Beschränkung des Begriffs öffentlicher Meinung auf den politischen Bereich, die sich noch in vielen heutigen Begriffsvorschlägen zur ‚Öffentlichkeit‘ niederschlägt,27 über die man jedoch hinausgelangen kann, wenn man den Akzent weniger auf ‚politisch‘ denn auf ‚gesellschaftlich‘ legt und Öffentlichkeiten abstrakter als interne Reflexionsebenen fasst, die soziale Systeme mit der Fähigkeit ausstatten, sich selbst wie von außen zu beobachten.28 Unter Beschränkung auf diese beiden Gesichtspunkte lassen sich Öffentlichkeiten bzw. Publika bestimmen als 1. öffentliche Kommunikationsprozesse, die auf die Unterstellung eines im einzelnen unbestimmten Publikums angewiesen sind und 2. die sich von anderen Kommunikationsprozessen unterscheiden, die sie als Handlungen bzw. Leistungen beobachten, kommentieren, vergleichen und evaluieren. Zusammenfassend kann man sie dann auch als öffentliche Gedächtnisse fassen, die nicht nur der Politik, sondern allen gesellschaftlichen Teilsystemen – sowie, in Gestalt ‚der Öffentlichkeit‘, auch der Gesellschaft insgesamt – neue, komplexere Möglichkeiten der Selbstbeobachtung erschließen.29 26 A.a.O., 448ff.; näher Keith Baker, Public opinion as political invention, in: Ders., Inventing the French Revolution, Cambridge 1990, 167-199, Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (1962). Mit einem Vorwort zur Neuauflage, Frankfurt/M. 1990. 27 Prominent bei Habermas, a.a.O., sowie Jürgen Gerhards, Friedhelm Neidhardt, Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit: Fragestellungen und Ansätze, in: Stefan MüllerDoohm, Klaus Neumann-Braun (Hg.), Öffentlichkeit, Kultur, Massenkommunikation. Oldenburg 1991, 31-89. Die anspruchsvollste Ausarbeitung eines normativen Konzepts politischer Öffentlichkeit wohl bei Bernhard Peters, Der Sinn von Öffentlichkeit, in: Friedhelm Neidhardt (Hg.): Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen, Opladen 1994, 42-76. 28 Dirk Baecker, Oszillierende Öffentlichkeit, in: Rudolf Maresch (Hg.), Medien und Öffentlichkeit. Positionierungen, Symptome, Simulationsbrüche, München 1996, 89-107; Luhmann, Die Realität der Massenmedien, 2. Aufl. Opladen, 1996, 185f. 29 Als weitere erläuternde Begriffe für die hier sog. internen Vergleichshorizonte kommt neben Theoriebegriffen wie „interne Umwelt“, „Reflexionsmedium“, „Beobachtung zweiter Ordnung“ auch eine – seit dem 18. Jahrhundert gebräuchliche – metaphorische Semantik des „Spiegels“ und der „unsichtbaren Hand“ in Betracht. Die Spiegelmetapher gebrauchen auch Harrison C. White, Where Do Markets Come From?, American Journal of Sociology 87 (1981), 517-547; Luhmann, Der Markt als innere Umwelt des Wirtschaftssystems, in: Ders., Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M., 1988, 91-113; Rudolf Stichweh, Die Entstehung einer Weltöffentlichkeit, in: Hartmut Kaelble, Martin Kirsch, Alexander Schmidt-Gernig (Hg.), Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2002, 57-66.
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Was ändert sich am Modell der Konkurrenz, wenn man diesen Publikumsbegriff an der Stelle des Dritten einsetzt? Die Triade bleibt erhalten, aber Simmels Einsicht in die Mittelbarkeit der Konkurrenz lässt sich um eine wichtige Nuance ergänzen: Da das Publikum nur als Fiktion vorkommt, bieten sich die Konkurrenten einer mehr oder weniger unsichtbaren Instanz dar, die hinter dem Kommunikationsprozess verschwindet, der die Konkurrenztriade hervorbringt.30 Diese zusätzliche Indirektheit erstreckt sich auch auf die Konkurrenten selbst, die nicht unmittelbar als Personen, sondern in Gestalt ihrer öffentlich ausgestellten Leistungen in den Vergleich eintreten, zugleich aber auch selbst in den öffentlichen Diskurs über ihre Leistungen eingreifen können. Indem sie z. B. öffentlich werben, Themen lancieren, Meinungen einspeisen etc., beteiligen sie sich selbst an der Formierung der Gunst, die über die Evaluation der Leistungen der Konkurrenten entscheidet, aber sie tun dies nicht einfach als Konkurrenten, sondern als Diskursteilnehmer, die sich den Gesetzen öffentlicher Kommunikation unterwerfen müssen. Diese Gesetze verlangen, dass auch die offensichtlichste Wahrnehmung eigener Interessen immer ein Moment des Appells an die Einsicht des Publikums enthält, nicht zwingend im starken Sinne eines Anspruchs auf vernünftigen Meinungsaustausch, aber im Sinne des Versuchs, der Selbstdarstellung ein Argument, eine Information, vielleicht auch nur ein Bild oder eine Melodie hinzuzufügen, die um Aufmerksamkeit und Zustimmung des unbekannten Publikums wirbt. Während der Dritte im allgemeinen Modell als Gunst erweisender oder vorenthaltender passiver Beobachter begegnet, behauptet sich die öffentliche Kommunikation im Horizont des Publikums als aktiver Dritter, der definiert, wer zu den Konkurrenten zählt, der definiert, was als Leistung gelten kann, der definiert, worin Preis und Qualität der Leistungen bestehen, und definiert, worauf Kriterien und Knappheit der Gunst des Publikums beruhen. Die Beobachtungsleistung des Publikums ist dabei eine doppelte: Es beteiligt sich an der Institutionalisierung der Eigenschaften, die die Konkurrenten gemeinsam haben, etwa von Politikern, die sich um Ämter, oder von Unternehmen, die sich um Marktanteile bewerben; und es sorgt für die Begründung und Verbreitung der Vergleichskriterien, die die Konkurrenten unterscheiden, etwa der rhetorischen Fähigkeiten von Politikern oder der Qualitäten und Preise der Produkte. Es ist diese öffentliche Beobachtungsleistung, welche die Zahl der Konkurrenten und Dritten ins potentiell Unbegrenzte steigert und zugleich die Einheitlichkeit der Vergleichskriterien gewährleistet, mit Simmel gesprochen: die Größe der sozialen Kreise unter Bewahrung der Form der Konkurrenz erweitert.
30 Ähnlich, seinen Institutionalisierungsbegriff erläuternd, Luhmann, Rechtssoziologie, a.a.O., 124: „Es sind […] die unbekannten, anonymen Dritten, deren vermutete Meinung die Institution trägt. Die unmittelbaren Zuschauer fungieren nur als Organ des Herrn, der sich nie zeigt.“
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Deutlicher als in Simmels Grundmodell, das sich Konkurrenten und Dritte bei aller Betonung der eigenständigen Dynamik gesellschaftlicher Wechselwirkungen als konkrete Individuen oder Gruppen vorstellt, treten Konkurrenten und Dritte in den Hintergrund des temporalisierten Sinngeschehens der Konkurrenz zurück,31 und deutlicher als im Grundmodell erweist sich der Dritte in der Triade nun als eigentliches Zentrum der Konkurrenz, das mit seinen Beobachtungen den ‚seelischen Konnex‘ zwischen Konkurrenten und Publikum als auch das ‚wechselseitige Bewusstsein‘ zwischen den Konkurrenten erst hervorbringt. In den öffentlichen Formen der Konkurrenz erscheint der Dritte daher nicht länger als ein nur Leistungen empfangender, von den Konkurrenten umworbener Teil der Dreiecksbeziehung, sondern als ein Informations- und Evaluationszentrum, ohne das die Konkurrenten buchstäblich nicht wissen könnten, dass und worum sie konkurrieren. Das Modell sieht nun schon etwas komplizierter, aber auch interessanter aus:
31 In diesem Zusammenhang noch eine Bemerkung zum bereits zitierten Konkurrenzverständnis Luhmanns, Soziale Systeme, a.a.O., 521, für den Konkurrenz (schon) dann vorliegt, „wenn die Ziele eines Systems nur auf Kosten der Ziele anderer Systeme erreicht werden können“. Konkurrenz übertrage damit Widerspruchssensibilität der modernen Gesellschaft auf „die Sozialdimension des Zielsinnes“. Über die Nichtberücksichtigung des ‚Dritten‘ hinaus liegt ein verstecktes Problem dieser Begriffsfassung aber darin, dass sie immer schon von ‚Systemen‘ ausgeht und außer Betracht lässt, dass solche Systemkonkurrenzen schon nach Luhmanns eigenen Theorievorgaben nur durch Aggregation und Attribution von Leistungshandlungen auf Systemadressen zustande kommen können. Das von Simmel inspirierte Modell lenkt die Aufmerksamkeit deutlicher auf die Herstellungsvoraussetzungen der Konkurrenz, v.a. erstens darauf, dass Konkurrenz die „Sozialdimension des Zielsinnes“ nur artikulieren kann, wenn sie sich auf sachliche Kriterien des Leistungsvergleichs stützen kann, und zweitens darauf, dass die entsprechenden Modi des Vergleichs auch die Temporalität der Konkurrenz entscheidend mitbestimmen. Es eröffnet es damit zusätzliche Möglichkeiten, soziale, sachliche und zeitliche Aspekte der Konkurrenz miteinander zu verknüpfen und auf wechselseitige Abhängigkeiten zu befragen – wie die heuristischen Erträge in den folgenden Abschnitten illustrieren sollen.
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Abbildung 6: Konkurrenz im Horizont des Publikums III
Leistungen
L1
Operationen
Publikumsfiktion
L2
L3
öff. K.
L4 etc.
öff. K.
Publikum
öff. K. etc.
Publikum etc.
IV. H EURISTISCHE E RTRÄGE Ich muss hier offenlassen, ob sich die Dynamik öffentlicher Kommunikation, die die Konkurrenz ‚im Horizont des Publikums‘ kennzeichnet, auch in Simmelʼschen Begriffen der Wechselwirkung rekonstruieren ließe,32 und auch Querbezüge zu neueren philosophischen und sozialtheoretischen Interessen an Figuren des Dritten, die sich in den letzten Jahren auffällig verstärkt haben, an dieser Stelle aussparen.33 Statt theo32 Etwa indem man Wechselwirkungsverhältnisse zunächst nicht zwischen Konkurrenten und Dritten, sondern zwischen öffentlichen Beobachtern wie Journalisten oder Börsenanalysten analysiert und an diesen die „erleidenden“ Orientierungen hervorhebt, die weitere Wechselwirkungen zwischen den Konkurrenten und zwischen Konkurrenten und Dritten erst hervorbringen. Der so gefasste Wechselwirkungsbegriff sähe dem Kommunikationsbegriff der Systemtheorie dann aber wohl zum Verwechseln ähnlich. 33 Neben Michel Serres’ „Parasit“ werden Figuren des Engels, Stabilisators, Störers, Sündenbocks, Trittbrettfahrers und, mit Simmel, des Unparteiischen/Vermittlers, lachenden Dritten und Anstifters diskutiert, Figuren, die sich teils auch auf prominente historische Vorläufer wie Adam Smith’s „impartial spectator“ berufen können; für einen Überblick Kurt Röttgers, Kategorien der Sozialphilosophie, Magdeburg 2002, 245ff. Zu einer neueren, speziell mit Blick auf Publikumsbegriffe interessanten Variante, dem „Lurker“ in Internetforen: Christian Stegbauer, Alexander Rausch, Die schweigende Mehrheit – ‚Lurker’ in internetbasierten Diskussionsforen, in: Dies., Strukturalistische Netzwerkforschung, Wiesbaden 2006, 119-147. Aus der sozialtheoretischen Diskussion, die teils konstitutionstheoretisch, teils institutionstheoretisch argumentiert, z.B. Joachim Fischer, Das Medium ist der Bote. Zur Soziologie der Massenmedien aus der Perspektive einer Sozialtheorie des Dritten, in: Andreas Ziemann (Hg.), Medien der Gesellschaft – Gesellschaft der Medien, Konstanz 2006, 21-41. Als weiterer Diskussionsstrang zum ‚Dritten‘ kommen Debatten über dreiwertige Logik, Dialektik und Semiotik in Betracht, deren erkenntnistheoretische Problembezüge sich freilich von den sozialtheoretischen Diskussionssträngen markant unterscheiden; z.B. Niels Werber, Der eingeschlossene ausgeschlossene Dritte der Systemtheo-
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rieimmanenter oder theorievergleichender Fragen liegt mir in den folgenden Abschnitten an dem Nachweis, dass sich die Vorstellung eines Dritten, der aus öffentlichen Kommunikationsprozessen mit mitlaufender Publikumsfiktion besteht und so zum eigentlichen Konstrukteur von Konkurrenzen wird, in fruchtbare soziologische Thesen und Forschungsfragen übersetzen lässt. Dabei werde ich hier bevorzugt solche Thesen und Probleme herausgreifen, von denen sich auch Bezüge zu Simmels Soziologie herstellen lassen.34
Indirektheit der Konkurrenz Ein erster Ertrag des Modells besteht darin, dass es zur Präzisierung von Simmels Einsicht in die Mittelbarkeit der Konkurrenz beiträgt. Denn mit der Einsicht, dass das Publikum eine Fiktion und grundsätzlich unbekannt ist, rückt Simmels Bemerkung zum „hellseherischen Instinkt“, in dem er die vergesellschaftende Kraft der Konkurrenz ausgedrückt sieht, in neues Licht. Dieser Instinkt erweist sich nun weniger als besondere Hellsicht denn als aus der Not geborene Unsicherheitsabsorption, die auf die Unbekanntheit des Publikums mit – häufig vergeblichem – Feinsinn für die wenigen Informationen reagiert, die über das Publikum zu haben sind. Der gigantische Umfang heutiger Konsumenten- und Wählerforschung, die ja bei allem Aufwand das Problem der Unberechenbarkeit und Instabilität der Publikumsmotive nicht zu lösen vermag, ist der beste Beleg dieser Logik. Der noch folgenreichere Effekt der Unbekanntheit des Publikums ist aber wohl, dass der Blick der Konkurrenten infolge der mangelnden Informationen über das Publikum dazu tendiert, vom Publikum zu den Konkurrenten zu wandern. Die genauen Motive des Publikums bleiben ungewiss, aber dass sie diese Unsicherheit teilen, verweist die Konkurrenten auf die Möglichkeit, die Beobachtung des Publikums durch Beobachtung, Imitation und Abgrenzung von den Konkurrenten zu ersetzen. Diesen Aspekt der Konkurrenz haben auch Harrison White und Niklas Luhmann, wenn auch ohne nähere Auseinandersetzung mit den Gründen, in ihren marktsoziologischen Arbeiten hervorgehoben.35 Der Markt, rie. Vortrag zur „Figur des Dritten“, Ms. Konstanz v. 20. November 2001 (http:// homepage.ruhr-uni-bochum.de/niels.werber/Konstanz-Dritter.htm,
Stand:
15.
August
2008). 34 Die Figur des Dritten taucht in Diskussionen über die Effekte von ‚public measures‘, insbesondere von ‚rankings‘ ebenfalls auf, interessant bei Michael Sauder, Third Parties and Status Systems: How the Structures of Status Systems Matter, in: Theory & Society 35 (2006), 299-321. Über wechselseitige Anregungen zwischen dieser Forschung und dem hier präsentierten Publikumsmodell wäre gesondert zu diskutieren. 35 Der sich auch in verwandten, evolutionären Konzepten wie Friedrich von Hayeks Auffassung von Konkurrenz als ‚Entdeckungsverfahren‘ bzw. ‚discovery procedure‘ ausdrückt;
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formuliert White, dient den Konkurrenten als Spiegel, den sie nutzen, um gerade nicht die Konsumenten, sondern einander zu beobachten. Diese intensivierte wechselseitige Beobachtung im Spiegel öffentlicher Gegenbeobachtung geht mit erhöhter Sensibilisierung für feinere Unterschiede einher und schweißt die Konkurrenten zu einer Konkurrenzpopulation in einem einheitlichen Vergleichsumfeld zusammen.36 Wie das hier vorgestellte abstrakte Modell der Konkurrenz demonstriert, reicht diese Einsicht freilich über Wirtschaft und Märkte weit hinaus: Sie ist eine Einsicht in die Beobachtungslogik öffentlicher Konkurrenzen überhaupt, die sich immer dann durchsetzt, wenn öffentliche Leistungsvergleiche auf eine dauerhafte Basis gestellt und mit einer verfeinerten Semantik der Knappheit der Gunst des Publikums angereichert werden. Solche Einsichten in die zusätzliche Indirektheit öffentlicher Konkurrenz beleuchten auch den von Simmel konstatierten Zusammenhang von Konkurrenz und Moderne. Die Pointe lässt sich an einer Stelle im Kapitel über die quantitative Bestimmtheit der Gruppe illustrieren, wo Simmel feststellt, dass die Figur des Tertius Gaudens im modernen Warenverkehr ihren Höhepunkt finde, da dort „der Vorteil des Wählenden so weit geht, dass die Parteien ihm sogar die Steigerung der Bedingungen auf ihr Maximum abnehmen“ (GSG 11: 137). Die Wahlfreiheit des Publikums, so kann man diese Bemerkung reformulieren, erscheint den Konkurrenten als Ungewissheit über die Präferenzen des Publikums, auf die sie mit der Maximierung ihrer Anstrengungen reagieren. Dieser Zusammenhang aber zeigt sich umso unausweichlicher im Bereich öffentlicher Konkurrenzen, wenn die mitlaufende Unterstellung eines unabgeschlossenen Publikums die Konkurrenten nicht nur zwingt, anstelle des Publikums verstärkt einander zu beobachten, sondern auch dazu, sich auf die Fiktivität des Publikums einzustellen, also so vorzugehen, als ob jede ihrer Leistungen und Meinungen von allen kritisch beobachtet würde. Diese Unterstellung diszipliniert alle Beteiligten, wenn nicht zu ‚Aufrichtigkeit‘,37 ‚Rationalität‘ und ‚Objektivihier liegt der Akzent aber auf Lernen und Fortschritt unter Bedingungen von Unsicherheit, nicht auf der Analyse der operativen Bedingungen jener Unsicherheit und auf aus diesen resultierenden verstärkten wechselseitigen Beobachtung der Konkurrenten. 36 White, a.a.O., 518; Luhmann, Markt als innere Umwelt, a.a.O. Auch zu diesem Motiv finden sich bereits Andeutungen bei Simmel, so in Über sociale Differenzierung; selbst bei Identität der Ware gelte: „In der Formung oder wenigstens im Arrangement der Ware, in der Anpreisung oder wenigstens in der Miene, mit der man die Leistung anpreist, muß jeder sich von jedem zu unterscheiden suchen“, GSG 2: 229. 37 Wie offenbar Simmel selbst annahm, wenn man Formulierungen im Kapitel Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft, GSG 11: 390, zum Maßstab nimmt, wo er einen direkten Zusammenhang zwischen Größe des Publikums und Wahrhaftigkeit des Handels vermutet: „Der Kleinhandel glaubt noch heute, gewisser lügenhafter Anpreisungen der Waren nicht entbehren zu können und übt sie deshalb mit gutem Gewissen. Der Großhandel und das
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tät‘, so doch in der Regel zum Simulieren all dessen im Bemühen um Aufmerksamkeit und Gewogenheit unbekannter Anderer.38 Dass die Konkurrenten sich auch selbst als Werbende oder Urteilende an diesen Prozessen beteiligen können, ändert nichts daran, dass die im Horizont des Publikums entstehende Dynamik ihrer Willkür weitgehend entzogen ist.39 Denn nicht nur finden sich neben den Beiträgen der Konkurrenten selbst immer auch andere, welche die Leistungen oder Meinungen der Konkurrenten mit dem Anspruch mehr oder weniger ausgeprägter ‚Objektivität‘ evaluieren können. Noch grundsätzlicher müssen auch die Beiträge der Konkurrenten mit einem unbekannten Publikum rechnen, dessen Erwartungshaltung sie kalkulieren müssen, ohne sie restlos kalkulieren zu können. In diesem öffentlichen Zwang zur Simulation von Sachlichkeit und Leistungsbereitschaft liegt die wohl beste Erklärung für den von Simmel diagnostizierten Zusammenhang von Konkurrenz einerseits, sachlicher Differenzierung und persönlicher Individualisierung andererseits. Das Publikum seinerseits profitiert davon, dass es systematisch überschätzt wird, da in der öffentlichen Kommunikation den vielleicht nur wenigen Aufmerksamen stets unbeschränkt viele weitere hinzufingiert werden. Wie klein die tatsächliche Zahl der Leser, Hörer und Zuschauer also auch sein mag, die Publikumsfiktion zielt stets aufs Unbeschränkte und Unbestimmte. Es ist das Publikum als versteckter Dritter, der in diesem Sinne am meisten zu lachen hat. SimDetailgeschäft wirklich großen Stiles hat dies Stadium überwunden und kann in der Darbietung seiner Waren mit vollkommener Aufrichtigkeit verfahren. […] Der auf Wahrhaftigkeit gebaute Verkehr wird innerhalb einer Gruppe im allgemeinen um so angemessener sein, je mehr das Wohl der Vielen statt der Wenigen ihre Norm bildet. Denn die Belogenen – also die durch die Lüge Geschädigten – werden immer gegenüber dem Lügner, der durch die Lüge seinen Vorteil findet, in der Mehrzahl sein. Deshalb ist die ‚Aufklärung‘, die auf die Beseitigung der im sozialen Leben wirksamen Unwahrheiten zielt, durchaus demokratischen Charakters.“ 38 Geheimhaltung und Heuchelei bleiben ja, wie Luhmann, Massenmedien, a.a.O., 185, polemisch anmerkt, funktionale Äquivalente des aufrichtigen öffentlichen Meinungsaustauschs. 39 Daher geht es bei aller strategischen Selbstdarstellung der Konkurrenten um mehr als nur „Suggestionskonkurrenz“ – einer von Werner Sombart, Das Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus, Berlin 1902, hier 559f., 560, neben „Leistungskonkurrenz“ und „Gewaltkonkurrenz“ angesichts früher Erfahrungen mit Werbung/Reklame eingeführten dritten Spielart der (wirtschaftlichen) Konkurrenz, von ihm als Ausschaltung der Urteilskraft des Publikums und Ausnutzung des „Schwachsinns der großen Masse“ gedeutet. In unserem Modell werden dagegen Manipulationsmotive der Konkurrenten tendenziell von der Unbekanntheit und Unberechenbarkeit des Publikums konterkariert – was verständlich macht, warum die Manipulation des Publikums zu einem eigenständigen, unsicheren Gewerbe werden konnte (‚Marketing’, ‚Public Relations‘).
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mels Beobachtung, dass sich die Figur des lachenden Dritten in der Konkurrenz um die Konsumenten idealtypisch ausprägt, folgt demnach nicht allein aus den diesem gegebenen Wahlmöglichkeiten, sondern auch aus der Unbekanntheit des Publikums.40 Der Eindruck, dass das Publikum keine Forderungen stellen müsse, um in den Genuss dieser Vorteile zu kommen, kann sich Simmel dabei freilich nur aufdrängen, weil er die Ebene öffentlicher Kommunikation, auf der jene Forderungen erhoben werden, aus seiner Analyse ausspart.
Konkurrenzkonstituierende Semantiken Dieser Einwand führt zum nächsten Ertrag des Modells: auf die auch in der kommunikationstheoretisch inspirierten Soziologie vernachlässigte Frage nach den operativen Voraussetzungen moderner Konkurrenzen. In Gestalt welcher Leistungsbewertungen und welcher Semantiken der Knappheit von Gunstbezeugungen begegnen sich die Konkurrenten im Horizont des Publikums? Welche Vergleichsschemata mussten gefunden werden, um die Horizonte des Leistungsvergleichs auszuweiten und die einheitliche Evaluation quantitativ erweiterter Konkurrenzen mit zunehmendem Feinsinn für Leistungsunterschiede zu kombinieren? Interessante, gesellschaftstheoretisch noch kaum erschlossene Beobachtungsschemata dieser Art bietet vor allem die schließende Statistik, die in ihrer Kombination der Verrechnung großer Datenmengen mit der Berechnung von Zukunftsverläufen vom 19. Jahrhundert an in sämtliche Gesellschaftsbereiche einzuwandern und das Denken in Leistungsvergleichen zu bestimmen beginnt, von Finanzmarktstatistiken über Zitationsindizes und Universitätsrankings bis zu den Rekorden des Sports.41 Als typische statistische Dar-
40 Diese Unsichtbarkeit bzw. Unbekanntheit des Publikums – die nicht mit seiner Bedeutungslosigkeit zu verwechseln ist – hat die neo-institutionalistische sowie die an Harrison White und die Actor-Network-Theorie (Michel Callon u.a.) anschließende Markforschung offenbar verleitet, die Publikumserwartungen aus ihren Analysen auszublenden; für eine interessante neuere Studie, die dieses Problem erkennt und durch die Untersuchung von ‚critics‘ und anderen ‚intermediaries‘ (hier Börsenanalysten) zwischen Anbieter- und Publikumsseite zu beheben versucht, Ezra W. Zuckerman, The Categorial Imperative: Securities Analysts and the Illegitimacy Discount, in: American Journal of Sociology 104 (1999), 1398-1438. 41 Einer ähnlichen Problemintuition folgt eine neuere Forschungsrichtung der amerikanischen Soziologie, die sich mit der sozialen Herstellung von Vergleichbarkeit (‚commensuration‘) befasst und daraus u.a. einen neuen Blick auf Quantifizierungsprozesse gewinnt, etwa Wendy Espeland, Mitchell L. Stevens, Commensuration as a Social Process, in: Annual Review of Sociology 24 (1998), 313-343; Wendy Espeland, Michael Sauder, Rankings and
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stellungsform, die das Denken in Leistungsvergleichen mit der für die Herstellung von Konkurrenzen erforderlichen Knappheit der Wertschätzung verknüpft, kann die Rangliste gelten, in der jeder Platz nur einmal besetzbar ist (Knappheit) und der Wert der Leistungen systematisch in Verhältnis gesetzt wird (Leistungsvergleich). Die Form der Rangliste hat zudem den Vorzug größtmöglicher Abstraktheit, die sie in allen Funktionsbereichen nach Belieben einsetzbar werden lässt. Der Siegeszug quantitativer Evaluation wird begleitet von einer außerhalb des ökonomischen Bereichs ebenfalls noch kaum untersuchten Wettbewerbsideologie, die ihren Höhepunkt wohl unter den Zeitgenossen Simmels erlebte und sich u.a. vorstellte, Kriege durch Konkurrenzen ersetzen zu können, die sich, so etwa Alfred Hermann Fried in seinem erstmals 1905 erschienenen Handbuch der Friedensbewegung, „lediglich durch die psychische Waffe der Zahl“ vollziehen sollten.42 Die Institutionalisierung des Konkurrenzprinzips im ‚Wettbewerbsrecht‘ kommt seit Anfang des 20. Jahrhunderts hinzu. Statistik, Wettbewerbsideologie und Wettbewerbsrecht verbünden sich mit narrativen, mit Verfügbarkeit neuer Verbreitungstechnologien wie Telegraphie, Radio, Fernsehen und Internet dann zunehmend auch mit audiovisuellen Semantiken, und es wäre reizvoll zu untersuchen, wie sich solche Allianzen in unterschiedlichen Funktionsbereichen etabliert und unterschiedliche Formen der Konkurrenz hervorgebracht haben, so z. B. die primär an Themen, Werten und Interessen orientierte politische öffentlichen Meinung, die mit Preisen, Produktstandards, Börsenanalysten, Marken und Werbung beobachtenden wirtschaftlichen Märkte oder die über Zitationen und Reputationszuschreibungen laufende Selbstbeobachtung der Wissenschaft. Die gegenwärtig florierende Statistikgeschichte, die Welt- und Globalgeschichte, aber auch die Historiographie öffentlicher Skandale von Korruptions- über Bilanzfälschungs- und Doping- bis zu Menschenrechtsskandalen bieten reiche Materialquellen für solche soziologisch-historischen Studien, die Funktionssysteme unter dem Gesichtspunkt vergleichen könnten, in welchem Maße sie den Leistungsvergleich von eher narrativen, eher statistischen oder eher audio-visuellen Weisen der Selbstbeobachtung abhängig machen und wie das Verhältnis solcher Gedächtniselemente im historischen Ablauf variiert. Eine Ausgangshypothese könnte lauten: Je ‚leistungsreduktiver‘ ein Publikumsdiskurs ausgerichtet ist, d.h. je mehr Daten er verarbeitet und je stärker er sich auf Leistungsvergleich konzentriert, desto mehr Raum bietet er für statistische und desto skeptischer verhält er sich gegenüber bloß narrativen oder audiovisuellen Elementen, da mit zunehmender Zahl der Vergleichsereignisse die Evaluation des Ereigniszusammenhangs gegenüber dem Einzelereignis an Gewicht gewinnen und die Vorzüge statistischer Semantiken – des Rechnens mit großen Zahlen
Reactivity: How Public Measures Recreate Social Worlds, American Journal of Sociology 113 (2007), 1-40. 42 Alfred Hermann Fried, Handbuch der Friedensbewegung, Berlin 1911, 13.
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– zur Geltung bringen kann.43 Als besonders interessanter Vergleichsgesichtspunkt könnte sich dabei die Frage erweisen, inwieweit neben der (Haupt-)Orien-tierung an Leistungsvergleich und Knappheit der Wertschätzung von Dritten, ohne die keine Konkurrenz möglich ist, Spielraum für Alternativzurechnungen geschaffen wird, insbesondere für ‚Zufall‘, ‚Glück‘ und andere mehr oder weniger eindeutige Negationen von Leistungsattribution. Auch die Relativierung von Leistungsrelevanzen und das Sichtbarmachen von Kontingenzen wollen ja produziert, z.B. in statistisches Wissen, narrative oder audiovisuelle Plausibilitäten übersetzt sein. Der differenzierte Vergleich all dieser Formen wird freilich erst möglich und fruchtbar, wenn die semantische Produktion öffentlicher Konkurrenzen nicht immer schon vorausgesetzt, sondern als soziologisches Problem akzeptiert wird.
Mediensoziologische Implikationen Öffentliche Beobachtung ‚im Horizont des Publikums‘ konstruiert und expandiert die Konkurrenz nicht nur, sie temporalisiert sie auch, indem sie die gleichzeitige Informiertheit eines im Einzelnen unbekannten Publikums zu unterstellen und die Konkurrenten sich an den Rhythmus öffentlicher Beobachtung anzupassen zwingt, insbesondere dazu, in wechselseitiger Beobachtung in einen Wettlauf um die Nutzung günstiger Gelegenheiten einzutreten. Im Licht dieser Beschreibung fällt an Simmel auf, dass ihm die temporalen Eigenarten moderner Konkurrenzen keine Erwähnung wert sind und er die Affinität zwischen Konkurrenz und moderner Gesellschaft allein auf die Verknüpfung von Versachlichung und Individualisierung stützt.44 Im Publikumsmodell fallen dagegen gerade die zeitlichen Aspekte der Konkurrenz ins Auge, und es sind diese zeitlichen Aspekte, die mehr als alle anderen auf einen technologischen Unterbau von Druck- und Echtzeitmedien als Bedingung moderner Konkurrenzen aufmerksam machen. Dieses Argument führt auf mediensoziologische Implikationen und damit zur vorletzten Problemanregung des Modells, die ich hier nennen will. Wenn die These zutrifft, dass (Makro-)Konkurrenzen im Medium der Öffentlichkeit hergestellt werden, drängen sich Öffentlichkeits- und Publikumsbegriffe als analytische Schaltstelle auf, um gesellschaftstheoretische und mediensoziologische Fragen füreinander 43 Zu dieser These exemplarisch Tobias Werron, „Quantifizierung“ in der Welt des Sports. Gesellschaftstheoretische Überlegungen, Soziale Systeme 11 (2005), 199-235. 44 Simmelkenner mögen beurteilen, ob sich dieser Einwand über die Konkurrenz hinaus auch auf Simmels Theorie der Moderne im Ganzen beziehen lässt – und ob ihn dies davon abgehalten hat, seinen zeitempfindlichen Begriff gesellschaftlicher Wechselwirkungen zu einer entsprechend zeitempfindlichen Theorie der Moderne auszubauen. Zumindest für seine „Soziologie der Konkurrenz“ scheint mir der Einwand gültig zu sein.
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fruchtbar zu machen. Eine von diesem Modell geleitete Annäherung an mediensoziologische Fragen setzt freilich voraus, das Problem nicht sogleich, wie in der soziologischen Systemtheorie üblich, in die Ausdifferenzierung eines eigenständigen Systems der Massenmedien, der Publizistik, des Journalismus oder gar eines Systems Öffentlichkeit auszulagern,45 sondern Publikumsbegriffe zu nutzen, um zu fragen, wie Verbreitungsmedien auf die Selbstbeobachtung anderer Funktionssysteme und deren wechselseitige Beobachtung ‚in der Öffentlichkeit‘ zurückwirken.46 Mit anderen Worten: Das hier entfaltete, konkurrenzsoziologische Interesse an Effekten öffentlicher Selbstbeobachtung legt nahe, schärfer als üblich zwischen Verbreitungstechnologien als Technologie und Massenmedien als Sinnsystem mit eigener Selektivität zu unterscheiden und sich zunächst primär für die Effekte von Verbreitungstechnologien zu interessieren. Eine Konsequenz der Medienbasiertheit von Publikumskommunikation liegt zunächst sicher darin, dass sie Kommunikation unter Abwesenden erlaubt und damit zugleich die Unterstellbarkeit von Informiertheit an die Stelle der Wahrnehmbarkeit von Informiertheit in Situationen von Anwesenheit setzt. Von dem entsprechenden Temporalisierungsdruck hatte ich bereits gesprochen. Publikationen, die auf andere Publikationen vor- und zurückverweisen, erzeugen erstens einen eigenen Rhythmus, der auf die Zeitlichkeit des ‚gespiegelten‘ Systems zurückwirkt, werden zudem als Formen, die sich von Abwesenden an Abwesende richten, zweitens selbst zur Bedingung für Tempo, indem sie die Konkurrenten auf die Fiktion einer unbegrenzten Zahl Abwesender einzustellen zwingen, und dies umso folgenreicher, wenn infolge von (Echtzeit-)Medien wie Telegraphie oder Internet auch die Gleichzeitigkeit der Informiertheit plausibel unterstellt werden kann.47
45 Als Einwand gegen diese enge systemtheoretische Reaktion auf neue (elektronische) Medien lassen sich auch Urs Stähelis Analysen des ‚Populären‘ und der ‚Medialität‘ von Verbreitungsmedien lesen; für eine entsprechende Vergleichskategorie des Populären Urs Stäheli, Das Populäre in der Systemtheorie, in: Günter Burkart, Gunter Runkel (Hg.), Luhmann und die Kulturtheorie, Frankfurt/M. 2004, 169-188; ausführlich am Beispiel von Wirtschaft und Finanzmärkten ders., Spektakuläre Spekulation. Das Populäre der Ökonomie, Frankfurt/M. 2007. 46 Was natürlich nicht ausschließt, sich dann auch für eine „Ausdifferenzierungsgeschichte“ der Massenmedien als Funktionssystem eigener Art (inkl. eigener Publikumsstrukturen) zu interessieren. 47 Zu solchen Temporalisierungseffekten am Beispiel von Währungsmärkten interessant Karin Knorr-Cetina, Urs Brügger, Global Microstructures: The Virtual Societies of Financial Markets, American Journal of Sociology 107 (2002), 905-950, sowie Andreas Langenohl, Finanzmarkt und Temporalität. Imaginäre Zeit und die kulturelle Repräsentation der Gesellschaft, Stuttgart 2007.
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Die Medienbasiertheit von Konkurrenzen, die sich auf öffentliche Leistungsaufzeichnungen stützen, hat aber noch eine weitere, subtilere Konsequenz, an der sich, bei allen Gemeinsamkeiten in der Problemorientierung, eine grundbegrifflich fundierte Differenz zwischen Simmels und dem hier skizzierten Modell der Konkurrenz zeigen lässt. Der öffentliche Vergleich abwesender Konkurrenten läuft ja nicht länger allein über die Wahrnehmung der Konkurrenten, wie es in den ‚feineren‘, privaten Fällen noch einleuchten mag, sondern über die Aufzeichnung ihrer Leistungen, die die restrospektive Überbrückung nicht nur räumlicher, sondern auch zeitlicher Differenzen erlaubt. Für Simmels Modell bleibt die Vorstellung von Gruppen oder Individuen wesentlich, die wechselseitig aufeinander wirken können. Diese Voraussetzung entfällt bei zeitlicher Trennung. Zwar können, wie er im Kapitel zur „Selbsterhaltung der sozialen Gruppe“ bemerkt, die früheren auf die späteren wirken, nicht aber die späteren auf die früheren, und eben das sei der Grund, warum „das Festhalten der sozialen Einheit bei dem Wechsel der Individuen ein besonderes Problem“ darstelle (ebd.: 559). Bindet man das Modell der Konkurrenz jedoch nicht an die Vorstellung koexistierender Individuen, sondern an vor- und zurückverweisende Leistungsaufzeichnungen, lässt sich die Kontinuität des sozialen Kreises bzw. Systems als Umfeld der Konkurrenz flexibler fassen. Leistungsaufzeichnungen erlauben es ja, den Leistungsvergleich beliebig in die Vergangenheit auszudehnen und auch längst verstorbene Konkurrenten in Form ihrer Leistungen in die Konkurrenzverhältnisse einzubeziehen. In diesem Sinne können gewissermaßen nicht nur die früheren auf die späteren, sondern auch die späteren auf die früheren wirken, indem sie deren Leistungen immer aufs Neue aktualisieren und interpretieren. Das Problem der Kontinuität des Kreises wie der Konkurrenz liegt dann nicht länger im Wechsel der Individuen als solchem, sondern in der Vergänglichkeit dieser aktualisierenden Operationen, die durch entsprechende Gedächtnisleistungen aufgefangen werden muss – und kann. Stehen solche Gedächtnisleistungen zur Verfügung, können sich gerade Verstorbene als die hartnäckigsten Konkurrenten erweisen und z.B. Philosophen dazu verurteilen, sich als bloße Fußnoten zu Platon zu verstehen, Sportler dazu, sich an Jahrzehnte alten Rekorden abzuarbeiten, oder Soziologen dazu, Tagungen zu hundert Jahre alten Büchern zu veranstalten. Das Konkurrenzmodell ‚im Horizont des Publikums‘ lenkt die Aufmerksamkeit wie von selbst auf die operativen Bedingungen dieses nicht nur sachlich, sozial und räumlich, sondern auch zeitlich universalisierten Leistungsvergleichs, der für die Dynamik vieler Konkurrenzen von entscheidender Bedeutung ist, auch wenn man Verstorbene nicht im engeren Sinne zu den Konkurrenten zählen mag. Aus der Summe dieser sachlichen, sozialen und zeitlichen Universalisierungsdynamiken ergibt sich dann auch eine räumliche Dynamik, die zu Simmels Zeit unter ‚Weltverkehr‘, heute unter ‚Globalisierung‘ verhandelt wird und ihren Höhepunkt in Formen der ‚globalen Konkurrenz unter Abwesenden‘ findet, seien es Nationalstaaten im Kampf um die besten Verfassungen und Bildungssysteme, Börsenunterneh-
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men im Kampf um die Gunst von Investoren, Investoren im Kampf um die Benotungen von ‚rating agencies‘, ‚rating agencies‘ im Kampf um die Gunst von Finanzexperten, Drehbuchschreiber, Geigenbauer, Schach- und Fußballspieler, Physiker und Soziologen, Schriftsteller und Musiker auf der Suche nach den jeweiligen ‚best practices‘ mit individueller Note, jenem Stil und Design, jener Taktik, Strategie oder Idee, die im indirekten Kampf den entscheidenden, aber immer nur vorübergehenden Vorsprung an Titeln, Aufmerksamkeit, Marktanteilen oder Reputation verspricht.
Öffentlichkeiten und Öffentlichkeit Über Analysen der historischen Genese und gegenwärtigen Dynamik bereichsspezifischer Konkurrenzen lassen sich zahlreiche weitere Probleme erschließen, von denen ich eines zum Abschluss erwähnen und aus der Soziologiegeschichte illustrieren will. In öffentlichen Konkurrenzen geht es ja immer auch um die knappe Gunst und Aufmerksamkeit Dritter. Es bedarf daher zur Konstruktion von Konkurrenzen neben einer Semantik des Leistungsvergleichs immer auch einer Knappheitssemantik, die darüber aufklärt, inwiefern die Beachtung und Anerkennung der Leistung eines Konkurrenten auf Kosten anderer Konkurrenten geht. Wie gesehen, versteckt sich die Bezeichnung solcher Knappheit meist in einer Semantik des Leistungsvergleichs, die einzelne Konkurrenten zum Nachteil anderer aufwertet, ohne diesen Verknappungseffekt eigens hervorzuheben. Diese Knappheitsbedingung der Konkurrenz fällt umso mehr auf, wenn man den engeren Bereich der Teilöffentlichkeiten verlässt, und sich ‚der Öffentlichkeit‘ als gesamtgesellschaftlicher Beobachtungsinstanz zuwendet. Dann nämlich fällt auf, worauf auch Simmel häufig, so etwa schon in Über sociale Differenzierung, aufmerksam macht: dass die Konkurrenten nicht nur gegeneinander, sondern auch miteinander um die knappe Aufmerksamkeit Dritter konkurrieren.48 Die Kaffeeproduzenten konkurrieren gegeneinander um die Kaffeekonsumenten, aber auch miteinander um die Teekonsumenten, Historiker gegeneinander um Zitate und Reputation und miteinander um Sendeplätze in Radio und Fernsehen. Konkurrenten kämpfen um die Gunst des (unbekannten) Publikums, aber auch gemeinsam um die Vergrößerung ihres Publikums im Sinne eines Kampfes um unspezifische Aufmerksamkeit Dritter. Kurz: Es gibt ein Innerhalb und ein Außerhalb der Konkurrenz, neben der internen eine externe Öffentlichkeit, in der weniger einzelne Konkurrenten als ganze Konkurrenzen miteinander konkurrieren. Die historischen Konjunkturen dieser Art Konkurrenz sind eine Forschungsfrage, die noch kaum als solche behan48 Z.B. schaffe das Eintreten des Kaufmanns in seinen Beruf „ihm im gleichen Moment Verbindung und Isolierung, Gleichstellung und Sonderstellung; er wahrt sein Interesse durch die erbittertste Konkurrenz mit denjenigen, mit denen er sich doch um des gleichen Interesses willen oft aufs engste zusammenschließen muß“, GSG 2: 242f.
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delt worden ist, Soziologen aber wohl beschäftigt, seit sie sich selbst in ihr befinden. Ein schöner Beleg dafür findet sich in den Protokollen des sechsten Soziologentages 1928, der selbst der Konkurrenz gewidmet war und bei dem Präsident Ferdinand Tönnies die Diskussion zum Eingangsreferat von Leopold von Wiese mit der Bemerkung abschloss: „Wir befinden uns hier auch in einem Konkurrenzkampf; denn im großen und ganzen ist die Öffentlichkeit noch nicht sehr geneigt, unseren Erörterungen viel Aufmerksamkeit zu schenken. […] Ich glaube, wir können bisher kaum konkurrieren mit den Kongressen der Boxer oder Fußballspieler, um in der Konkurrenz uns zu behaupten und fortzuschreiten.“49 Die Form der öffentlichen Konstruktion von Konkurrenzen, so abstrakt beschrieben, kommt quer durch die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft vor und könnte in einem differenzierungstheoretischen Analyserahmen zu einem Vergleich von Graden der Ausprägung von Konkurrenz in unterschiedlichen Funktionsbereichen ausgebaut werden. Der operative Publikumsbegriff, der die Rekonstruktion dieser dynamischen Formen von Konkurrenz erlaubt, ist zugleich eine Theoriefigur, die einer kommunikationstheoretisch angelegten Differenzierungstheorie die Aufnahme von Anregungen ‚kulturtheoretischer‘ Herkunft erlauben könnte, etwa zur Transformation des ‚Kapitalismus‘ durch seine öffentliche ‚Kritik‘, wie sie in den letzten Jahren von Luc Boltanski u.a. eindrücklich beschrieben worden ist.50 Wer den Gedanken ernst nimmt, dass sich auch hoch spezialisierte Konkurrenzen im Modus öffentlicher Kommunikation etablieren und damit immer auch in der weiteren Öffentlichkeit platzieren, wird sich für Übergänge und Bruchstellen zwischen unterschiedlichen Öffentlichkeiten und die dort fungierenden ‚kritischen‘ oder ‚populären‘ Sinnmuster interessieren, sich insbesondere nicht damit zufriedengeben, solche Phänomene in ein weiteres Funktionssystem (der ‚Massenmedien‘, des ‚Journalismus‘, der ‚Publizistik‘ etc.) abzuschieben oder auf Semantik zu reduzieren, die einer irgendwie härteren Struktur von Funktionssystemen gegenübergestellt werden kann.51 Solche Neujustierungen hätten auch Konsequenzen für die vergleichende Analyse des vorhandenen Grades von Konkurrenz in unterschiedlichen Funktionssystemen, denn der Raum, den Konkurrenz in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Religion, Kunst, Sport etc. gewinnen kann, hängt ja immer auch davon ab, welche Aufmerksamkeit den Leistungen der Konkurrenten nicht nur in der jeweiligen Teilöffentlichkeit, sondern auch in ‚der Öffentlichkeit‘ gewidmet und welche Leistungs- und Knappheitskriterien in beiden Öffentlichkeiten gepflegt werden. Jede Konkurrenz kommt gewissermaßen dop49 Tönnies, a.a.O., 124. 50 Luc Boltanski, Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003; Luc Boltanski, Laurent Thévenot, Über die Rechtfertigung, Hamburg 2007. 51 Kritisch bereits Urs Stäheli, Zum Verhältnis von Sozialstruktur und Semantik, in: Soziale Systeme 4 (1998), 315-340; auch ders., Exorcizing the ‚Popular‘ Seriously: Luhmann’s Concept of Semantics, in: International Review of Sociology 7 (1997), 127-145.
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pelt vor: als Produkt einer Spezialöffentlichkeit mit systemspezifischen Leistungsund Knappheitskriterien und als Objekt einer gesamtgesellschaftlichen Öffentlichkeit, in der sie um diffuses Wohlwollen unbekannter anderer streitet. Ob sich, wenn man die Analyse moderner Konkurrenzen so ansetzt, ein Trend eher zur Zunahme oder Abnahme von Konkurrenzsituationen beobachten lässt, ob sich dieser Trend von Funktionsbereich zu Funktionsbereich unterschiedlich ausprägt und wie er sich zu übergreifenden, inter-diskursiven Trends, etwa zum Vordringen „projektbasierter“ Selbstbeschreibungen,52 verhält, sind offene Forschungsfragen, die sich auf der Grundlage des hier vorgeschlagenen Konkurrenzmodells neu stellen und beantworten lassen könnten. Diese heuristischen Erträge demonstrieren zugleich, dass eine „Soziologie der Konkurrenz“ als eigenständige Teilsoziologie kaum sinnvoll betrieben werden kann, obschon sich durchaus eine soziologische Form der Konkurrenz definieren sowie spezifisch moderne Formen der Konkurrenz bestimmen lassen. Konkurrenz ist auf die kontinuierliche Reproduktion von Leistungsvergleichen und Knappheitskriterien angewiesen und damit auf Systeme und Strukturen, die zur Produktion von Kriterien fähig sind. Konkurrenzen sind nicht selbst Systeme, sondern Produkte anderer Systeme. Als besonders dynamische Produzenten von Konkurrenzen können sicher die Funktionssysteme, Felder oder Wertsphären der modernen Gesellschaft gelten, aber die Dynamik moderner Konkurrenzen wäre unzureichend verstanden, wenn man sie auf eine inhärente Funktionslogik dieser Systeme reduziert und versäumt, sie auf ihre spezifischen operativen Voraussetzungen zu befragen. Fragt man aber nach diesen Voraussetzungen, das sei als Ertrag dieser Überlegungen nochmals festgehalten, stößt man auf öffentliche Kommunikationsprozesse, deren Vergleichs- und Evaluationsvermögen erst jene ‚dritte‘ Perspektive hervorbringt, die die Dynamik moderner Konkurrenzen von weniger dynamischen Formen der Konkurrenz unterscheidet.
S CHLUSS Ich komme zum Schluss und einer kurzen Zusammenfassung: Öffentliche Kommunikationsprozesse beziehen Handelnde in temporalisierte Leistungsvergleichszusammenhänge ein, in denen sie sich als Gleiche und Ungleiche begegnen. Zu Konkurrenten werden sie, wenn zum Leistungsvergleich eine Semantik der Knappheit hinzukommt, die die günstigere Bewertung der einen Konkurrenten von der ungünstigeren Bewertung anderer abhängig macht. Das Publikum kommt dabei zunächst nur als Fiktion oder Projektion öffentlicher Kommunikationsprozesse vor, wird aber gerade als solche zur notwendigen Bedingung der realen Temporalisierungs-, Univer-
52 Dazu anregend Boltanski, Chiapello, a.a.O., 176ff.
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salisierungs- und Globalisierungsdynamik moderner Konkurrenzen. Konkurrenzkonstellationen erscheinen dann als Artefakte öffentlicher Kommunikation, die sich dem Rhythmus und der Gedächtniskraft öffentlicher Kommunikationsprozesse verdanken. Das Publikum übernimmt gleichsam die Rolle eines Taktgebers der Konkurrenz, der den Horizont des Vergleiches, die Identität und Knappheit des Gewinnes wie auch Vergleichbarkeit und Unterschiedlichkeit der Leistungen für eine große Zahl von Konkurrenten und Dritten gewährleistet und damit die Simmelʼsche Vorstellung eines Kampfes aller um alle erst plausibel werden lässt. Von Simmel hat dieses Modell gelernt, dass sich Konkurrenzen von anderen Formen des Streits oder Konflikts durch ihre „eigentümlich vermittelte“, triadische Form unterscheiden und dass sie keine exklusiv wirtschaftliche, sondern eine ubiquitäre gesellschaftliche Erscheinung sind, die ein reiches, noch lange nicht ausgeschöpftes Material für historisch-soziologische Studien bietet. Deutlicher aber als bei Simmel, der sich Konkurrenten und Dritte bei aller Betonung der Dynamik gesellschaftlicher Wechselwirkungen als konkrete Individuen oder Gruppen vorstellt, treten Konkurrenten und Dritte in den Hintergrund des kommunikativen Sinngeschehens der Konkurrenz zurück, und deutlicher als in Simmels Grundmodell erweist sich der Dritte als eigentliches Zentrum der Konkurrenz, das sich für die Universalisierungs- und Globalisierungsdynamik moderner Konkurrenzen verantwortlich macht. So rekonstruiert, fügt sich die Soziologie der Konkurrenz in eine Soziologie öffentlicher Leistungsvergleiche, deren spannendste Forschungsfragen sich im Rahmen globalisierungstheoretischer Studien zur Entstehung und Genese globaler Konkurrenzen unter Abwesenden vom 19. Jahrhundert bis zu den heutigen ‚global best practices‘ ergeben dürften. Angesichts solcher Forschungsperspektiven mag eine Soziologie der Konkurrenz als eigene Theorietradition entbehrlich sein, erscheint eine gesellschaftstheoretisch inspirierte Analyse moderner Konkurrenzen aber umso dringlicher.
Materialität der Sinne. Simmel und der ‚New Materialism‘ U RS S TÄHELI
„Nie werde ich den eigentümlichen Duft vergessen, der einen beim Eintritt in Simmels Haus empfing: ein Gemisch vom Geruch auserlesener Äpfel und sehr feiner Zigaretten“
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Könnte man sich eine Soziologie ohne Sinne vorstellen? Folgte man einem klassischen Verständnis der Soziologie als Vernunftwissenschaft, würde die Antwort nicht schwer fallen. Epistemologisch gesehen trüben die Sinne die soziologische Urteilskraft durch ihre Unmittelbarkeit. Auch als soziologischer Gegenstand scheinen sie nicht zu taugen, werden sie doch meist einem vor-soziologischen Gebiet zugeordnet, das Kommunikation zwar ermöglicht, selbst aber für die Soziologie nicht von Belang ist. Denn warum sollte es uns interessieren, wie eine Mahlzeit schmeckt, ob sich der Stoff eines Hemdes angenehm anfühlt, was wir von einem Berggipfel aus sehen können oder wann wir den Geruch der nahe gelegenen Brauerei riechen können? Es scheint sich hier um physiologische und psychologische Phänomene zu handeln, nicht aber um soziologische. Die Sinne scheinen einem großen Teil des soziologischen Denkens eigentümlich fremd – ja geradezu verzichtbar geblieben zu sein. Wenn wir im Wörterbuch der Soziologie nachschauen, finden wir unter „Sinn“ einen kurzen Verweis auf dessen physiologische Bedeutung, nur um darauf hingewiesen zu werden, dass gerade diese Bedeutung für die Soziologie keine Rolle spielt. Die Sinne verwandeln
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Margarete Susman, Erinnerungen an Georg Simmel, in: Marlis Gerhardt (Hg.), Essays von Frauen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M: 1988, 24-39, hier: 27.
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sich in Sinn, um dann als Grundlage einer verstehenden und hermeneutischen Soziologie dienen zu können.2 Worin also könnte die soziologische Bedeutung von Sinnen diesseits ihrer Reduktion auf Sinn liegen? Georg Simmel hat mit seinem „Exkurs über die Soziologie der Sinne“ (GSG 11: 722-742) einen auch heute noch viel beachteten Vorschlag unterbreitet – einen Vorschlag, welcher von der Sinnes-Skepsis der Soziologie abrückt und in den Sinnen einen ihrer ersten Gegenstände sieht. Wie ich zeigen möchte, ist dieses Programm gerade auch für die aktuelle kultursoziologische und sozialtheoretische Diskussion von großer Bedeutung, wenn auch nicht ohne Probleme. In den letzten Jahren hat eine regelrechte Wiederentdeckung der Sinne als soziologischer und kulturwissenschaftlicher Gegenstand stattgefunden. Zahlreiche kulturhistorische und -soziologische Studien widmen sich einzelnen Sinnen,3 große Ausstellungsprojekte beschäftigen sich nicht nur mit dem Sehen, sondern z.B. auch mit dem Geruch oder dem Tastsinn sowie dem Zusammenspiel der Sinne.4 Der Kulturanthropologe David Howes spricht sogar von einer „sensual revolution“ und der Entdeckung eines ganzen „empire of the senses“ – eines Imperiums, zum dem alle Sinne und ihre Verbindungen in Sensorien gehören.5 So wichtig viele dieser Arbeiten in der Aufarbeitung unterschiedlichster Sinneskulturen sind, so sehr aber begnügen sie sich häufig mit einer Kulturgeschichte einzelner Sinne oder von Sensorien. Simmels Soziologie der Sinne zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Sinne nicht nur zu einem empirischen Gegenstand macht, sondern sich für eine sinnestheoretische Fundierung der Soziologie interessiert. Dieses doppelte Interesse strukturiert auch meine Ausführungen. Zunächst widme ich mich den Sinnen als soziologischem Gegenstand – man denke hier etwa an 2
Karl-Heinz Hillmann, Art. Sinn, in: Ders. (Hg.), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 2007, 794ff.
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Als exemplarische Studien in der kaum zu überschauenden Literatur sind zu nennen: zum Sehen Jonathan Crary, Techniques of the Observer. On Vision and Modernity in the Nineteenth Century, Cambridge 1993; Martin Jay, Scopic Regimes of Modernity, in: Hal Foster (Hg.), Vision and Visuality, Seatttle 1988, 3-23; zum Hören Jacques Attali, Noise. The Political Economy of Music, Manchester 1985; Michael Bull, Les Back (Hg.), The Auditory Reader, Oxford 2003; zur Taktilität Steven Connor, The Book of Skin, Ithaca 2003; zum Riechen Alain Corbin, Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs, Berlin 1996; Jürgen Raab, Soziologie des Geruchs, Konstanz 2001; zum Geschmack Carolyn Korsmeyer (Hg.), The Taste Culture Reader, Oxford 2005. Weiterhin der repräsentative Reader zu Sinneskulturen von David Howes (Hg.), Empire of the Senses. The Sensual Culture Reader, Oxford 2005.
4
Robert Jütte, Geschichte der Sinne. Von der Antike bis zum Cyberspace, München 2000, 9-14.
5
Howes, Introduction: Empire of the Senses, in: Ders., a.a.O., 1-17, hier 4.
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Simmels Analysen des Blicks oder auch der Mahlzeit (1). Die Sinne fungieren bei Simmel aber nicht nur als Gegenstand für die Soziologie, sondern begründen ihrerseits seine Epistemologie. Diese fundierende Rolle der Sinne wird im zweiten Teil diskutiert (2). Dies führt mich schließlich zur Frage, welche Konsequenzen alternative sinnestheoretische Fundierungen für die soziologische Theorie haben könnten (3).
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ALS
G EGENSTAND DER S OZIOLOGIE
Simmels Exkurs über die Sinne – aber auch andere Aufsätze6 – haben diese zum legitimen soziologischen Gegenstand gemacht. Simmels Soziologie der Sinne ist fest in eine Subjekt-Objekt-Konstellation eingelassen. Sinne werden dadurch zu einem sozialen Gegenstand, dass wir mit ihrer Hilfe den Anderen wahrnehmen und erfahren. Unterschieden werden zwei Seiten der sinnlichen Wahrnehmung: Einerseits das subjektive Wahrnehmungsempfinden. Hier schaffen die Sinne einen „subjektiven Gefühlswert“ (ebd.: 723), eine innere Empfindung, welche durch die Sinneswahrnehmung ausgelöst wird (z.B. Ekel durch den Geruch eines Bettlers, FreuFreude beim Anblick eines schönen Menschen, Unsicherheit bei der Beobachtung eines undurchdringlichen Blicks). Andererseits sind die Sinne aber auch ein Mittel, um den Anderen zu erkennen – so führen sie also gleichsam aus dem Subjekt heraus und hinein in ein Objekt (ebd.: 722f.). Empirisch sind diese beiden Seiten – das subjektive Erleben und das Erkennen des Objekts – meist kaum zu unterscheiden. Theoretisch ist diese Unterscheidung für Simmel aber von zentraler Rolle. An ihr wird sich auch eine Hierarchie der Sinne festmachen: Die ‚hohen‘ Sinne – also das Sehen und das Hören – werden jene Sinne sein, welche die Unterscheidung von Subjekt und Objekt ermöglichen. Die „niederen Sinne“ (ebd.: 733) – das Riechen, Schmecken und das Tasten – sind jene, welche diese Unterscheidung nicht respektieren. Sinne sind dabei nicht bloße Vorbedingungen für soziale Prozesse. Vielmehr sind sie dadurch, dass durch sie eine Beziehung zum Anderen geschaffen wird, unmittelbar an der Herstellung von Sozialität beteiligt: Das wechselseitige SichAnblicken ist bereits ein soziales Phänomen und nicht erst dessen Übersetzung in eine Sprache der Augen.7 Noch lange bevor von einem ‚visual turn‘ die Rede war, identifiziert Simmel die Vorherrschaft des Sehens als einen der zentralen Charakterzüge der Moderne. Das Sehen verkörpert geradezu die Idee der Wechselwirkung, da hier eine auf Gegenseitigkeit beruhende Form der Wahrnehmung wirksam ist: 6
Hier ist insbesondere an die Soziologie der Mahlzeit, GSG 12: 140-147, zu denken.
7
Dazu auch Helmut Staubmann, The Affective Structure of the World, in: Ders. (Hg.), Action Theory. Methodological Studies, Berlin 2006, 207-226.
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Wenn ich den Anderen anblicke, kann dieser meinen eigenen Blick lesen. Der Blick von ‚Auge zu Auge‘ ist immer schon in eine Beziehung der Wechselwirkung eingelassen. Die Bedeutung des Sehens erschließt sich exemplarisch in der modernen Stadt, in der wir einer Vielzahl von visuellen Eindrücken ausgesetzt sind. Für Simmel wird das Sehen zu einem individualisierenden Sinn, was besonders im modernen Verkehr augenfällig wird: Ich muss im Zug den anderen unter Umständen stundenlang anblicken können, ohne mich mit ihm in ein Gespräch zu vertiefen. Den möglicherweise irritierenden und erläuterungsbedürftigen Eindrücken bleibe ich selbst überlassen, ohne mir durch ein Gespräch genauere und intimere Kenntnis des Anderen zu verschaffen. Die Moderne zeichnet sich denn auch gerade dadurch aus, dass das Sehen aus seiner Verbindung mit dem Gehörten gelöst wird – dass wir häufig nur sehen und gesehen werden, ohne unsere Blicke zu erläutern. In der Großstadt resultiert daraus die Haltung des Blasierten – ein distanziertes Umgehen mit der Überflutung durch einen nie versiegenden Strom von visuellen Sinnesreizen. Die Vorherrschaft des Sehens und die Perfektionierung von Distanzierung verweisen aufeinander: Nur die durch das Sehen verkörperte soziale Distanz macht das Überleben in der Großstadt möglich. Dem individualisierenden Sehen stellt Simmel das vergemeinschaftende Hören gegenüber. Der Hörsinn ist kollektiv angelegt. Das Hören folgt einer paradoxen Struktur: Das Ohr ist das „schlechthin egoistische Organ“ (ebd.: 730) – egoistisch, weil es sich der Reziprozität verweigert und eine einseitige soziale Beziehung schafft. Ich kann etwas hören, ohne dass der Andere mich hören hört. Der Hörende nimmt also etwas auf, ohne selbst etwas zu geben. Auf der Basis des Hörens alleine kann keine Wechselwirkung zustande kommen. Gleichzeitig aber ist das Hören ‚überindividualistisch‘ angelegt; „was in einem Raume vorgeht, müssen eben alle hören, die in ihm sind, und daß der Eine es aufnimmt, nimmt es dem Andern nicht fort“ (ebd.).8 Das Ohr ist ein seltsam unbewegliches Organ, ein Organ, das dem eigenen Willen nur mittelbar unterworfen ist: Ich kann wegblicken, indem ich die Augen schließe – die Ohren aber kann ich nur mit Hilfe meiner Hände oder mit Hilfsmitteln verschließen. Sehen und Hören befinden sich bei Simmel in einem komplementären Verhältnis: Während das Sehen zur individuellen Betrachtung führt, schafft das Hören durch seinen Kollektivitätsdruck Gemeinsamkeit. Gleichzeitig ist das durchs Ohr geschaffene Kollektiv ein höchst asymmetrisches: Viele hören, was der eine sagt, ohne dass diese selbst in ihrem Hören gehört werden. Das Sehen ist ein Medium der Gleichzeitigkeit, während das Hören linear organisiert ist: Wir können nicht mehrere Worte gleichzeitig hören, während wir in einem Bild viele Pinselstriche gleich8
Wobei diese Beobachtung teilweise auch auf das Sehen zutrifft – mit Ausnahme des durch den Sinnesreiz ausgeübten Zwangs: Ich bin dem, was in einem Raum geschieht, nicht zwangsläufig visuell ausgesetzt, sondern kann z.B. wegschauen.
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zeitig wahrnehmen und zu einem Gesamteindruck zusammensetzen können. Beiden Sinnen gemeinsam ist, dass für diese die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt konstitutiv ist: Ich sehe etwas anderes – und kann immer zwischen dem Sehenden und dem Gesehenen unterscheiden, die Rose, welche ich anblicke, befindet sich außerhalb meiner selbst.9 Ebenso verhält es sich mit dem Hören. Das Gehörte lässt sich vom Hörenden unterscheiden. Diesen beiden Sinnen stehen bei Simmel die niederen Sinne gegenüber. Handelt es sich beim Sehen und Hören um ‚Fernsinne‘, mit Hilfe derer ich weit entfernte Dinge und Menschen wahrnehmen kann, werden die niederen Sinne als ‚Nahsinne‘ aufgefasst – Sinne also, mit Hilfe derer ich in direkten Kontakt mit dem Wahrgenommen trete: Ich umarme jemanden und spüre ihn auf diese Weise; ich verspeise eine Schokolade und berühre diese mit meiner Zunge, mehr noch, ich einverleibe sie mir und führe sie meinem Verdauungssystem zu. Bei den niederen Sinnen beschäftigt sich Simmel nur am Rande mit der Taktilität (im Rahmen seiner Diskussion des „Geschlechtssinn[s]“ [ebd.: 737]), vor allem aber mit dem Geruchssinn, der eine Zwischenposition zwischen hohen und niederen Sinnen einnimmt. Die Geruchsquelle kann weit entfernt sein – und dennoch entsteht ein unmittelbarer Kontakt mit dem Gerochenen. Es mag gerade diese Zwischenstellung sein, die den Geruchssinn für Simmel zum anti-sozialen Sinn schlechthin macht. Die Unmittelbarkeit des Sinneseindrucks verbindet sich mit der Grenzziehung zwischen sozialen Gruppen. „Die soziale Frage“ – so Simmel in einer vielzitierten Passage – „ist nicht nur eine ethische, sondern auch eine Nasenfrage. […] [K]ein Anblick der Proletariermisere, noch weniger der realistischste Bericht über sie, wird uns […] so sinnlich und unmittelbar überwältigen, wie die Atmosphäre wenn wir in eine Kellerwohnung oder eine Kaschemme treten“ (ebd.: 734). Die Differenzierung verschiedener Klassen und Gruppen ist also nicht zuletzt eine Frage des Geruchs: Das Sich-nicht-Riechen-Können zementiert soziale Grenzen stärker als die heftigsten Vorurteile. Auch George Orwell hatte in seinem autobiographischen Essay The Road to Wigan Pier im „physical feeling“10 – und dabei besonders im Geruch – das Geheimnis der sozialen Differenzierung gesehen: „Here you come to the real secret of class distinctions in the West. It is summed up in four frightful words […]: The
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Als geradezu tragisch erlebt Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie des Abendlandes (1918ff.), München 1998, 690, die Distanz des Sehens: „Es hat für mich immer etwas Erschütterndes, wenn ich im Frühling sehe, wie all diese blühenden Gewächse, die sich nach Zeugung und Befruchtung sehnen, mit der ganzen Leuchtkraft ihrer Blüten einander nicht anziehen und nicht einmal bemerken können, sondern auf Tiere angewiesen sind, für die es allein Farben und Düfte gibt“.
10 George Orwell, The Road to Wigan Pier (1937), London 1998, 119.
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lower classes smell.“11 Gerade weil der Geruch die Distanznahme, welche für das Sehen charakteristisch ist, nicht mehr erlaubt, wirkt dieser so bedrohlich. Als Mittelsinn bringt der Geruch die Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatheit durcheinander: Im Gegensatz zum Tast- oder Geschmackssinn sind Gerüche trotz ihrer Intimität öffentlich wahrnehmbar. Die soziale Bedrohlichkeit des Geruchs erweist sich bei Simmel auch als eine theoretische Bedrohung: „Der Geruch bildet nicht von sich aus ein Objekt, wie Gesicht und Gehör es tun, sondern bleibt sozusagen im Subjekt befangen“ (ebd.: 735). Bedrohlich wird der Geruch also dadurch, dass das Gerochene – der Gestank, aber auch der verlockende Duft frischer Brötchen – in uns eindringt, dass wir uns noch weniger gegen den Geruch wehren können als gegen ungewollten Lärm: „Indem wir etwas riechen, ziehen wir diesen Eindruck oder dieses ausstrahlende Objekt so tief in uns ein, in unser Zentrum, assimilieren es sozusagen durch den vitalen Prozeß des Atmens so eng mit uns, wie es durch keinen anderen Sinn einem Objekt gegenüber möglich ist – es sei denn, daß wir es essen“ (ebd.). Mit dem Verweis auf das Essen deutet Simmel auch den Geschmackssinn an, ohne aber auf diesen in seinem Exkurs explizit einzugehen. Deutlich wird aber, dass es sich bei diesem um den ‚tiefsten‘ aller Sinne handeln muss, kollabiert durch die essende Einverleibung doch die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt vollständig: Nicht nur wird das Objekt Teil des Subjekts, sondern durch das Essen verändert sich auch das Objekt und wird schließlich sogar zerstört. Die Anordnung der Sinne – und damit auch deren Hierarchie – begründet so ebenfalls die Simmelʼsche Zeitdiagnose. Die moderne Stadt ist für Simmel ein Schauspiel visueller Reize, auch der Andere wird zu einem Bild, das ich stumm wahrnehme. Die Moderne ist durch visuelle Reize, durch die flüchtige Begegnung mit dem Fremden, den mein Blick kurz streift, also durch die visuelle Erfahrung des städtischen Lebens und Verkehrs bestimmt. Lassen sich aber die Stadt und die Moderne tatsächlich auf diese Vorherrschaft des Sehens reduzieren? Glaubt man gegenwärtigen Debatten zum ‚iconic turn‘, der visuellen Kultur, dann scheint sich heute Simmels Zeitdiagnose sogar verschärft zu haben. Die Rede von einer neuen Bilderflut, welche mit der Etablierung digitaler Medien einhergeht, sowie die Betonung der Macht der Bilder gehören zum festen Arsenal heutiger Zeitdiagnosen.
11 Ebd. Orwell interessiert sich für die Frage, warum Gerüche – exemplifiziert in der ‚stinkenden Arbeiterklasse‘ – so gut als Abgrenzungskriterien funktionieren und geht dieser Frage mit nahezu soziologischen Mitteln nach. Er stellt sich damit nicht hinter die Behauptung „the lower classes smell“, sondern analysiert die kulturellen Praktiken der Mittelklasse (wie z.B. häufiges Waschen, Vorurteilsbildung etc.), die zu dieser Annahme führen.
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Auffällig ist allerdings, dass sich gleichzeitig auch eine Veränderung der „sensory order“12 der Moderne anzukündigen scheint. David Howes spricht von einer ‚synästhetischen Gesellschaft‘, die gerade die ehemals niederen Sinne stärker einbezieht13. Marketing begnügt sich nicht mehr mit der Ausstellung einer unerschöpflichen Warenwelt – wie es noch für die prachtvoll arrangierten Konsumgüter in den Schaufenstern der Jahrhundertwende üblich war. Hinzu kommen Formen des multisensorischen Marketings: Waren werden z.B. mit olfaktorischen Umgebungen versehen.14 In Las Vegas werden z.B. Spielautomaten mit speziellen Gerüchen ausgestattet, um die Bindung des Spielers zu erhöhen; auch soll bereits die Produktivität von Arbeitnehmern durch Gerüche erhöht werden.15 Das gegenwärtige Konsumsubjekt wird als ‚ganzheitliches‘ ernst genommen, es findet eine allumfassende aisthetische Positionierung statt. Das (post)moderne Sensorium vermischt die unterschiedlichen Sinne und löst sich von der modernen Zentralstellung des Sehens und dem damit verbundenen Formalismus. Es ist sogar von einem „personal olfactory headspace design“ die Rede16 – wozu nicht nur künstlicher Mundgeschmack, Steuerung von Empfindungen durch Designerdrogen, sondern auch Mikrolautsprecher im Ohr zur Steuerung des Hörempfindens gehören. Nicht zuletzt der Einsatz von Gerüchen spielt eine zunehmend wichtige Rolle, da es sich hier um einen gewissermaßen ‚unmittelbaren‘ Sinn handelt – einen Sinn ohne Kognition und daher großer Steuerungseffizienz. Die Firma EnviroScent bewirbt ihre „scent systems“ folgendermaßen: „Scents can be used to enhance learning, reduce stress, reinforce feelings, increase productivity, as well as create buying motivation. A study in Paris showed that introducing the smell of coffee in a department store increased that storeʼs coffee sales by 18%. Casinos scent their 17
playing areas because players will play 45% more in a space that smells pleasant.“
100 unterschiedliche Geruchsvarianten sind zur Zeit erhältlich, die Spanne reicht von „Grandmaʼs Kitchen“ über „Fresh Linen“ bis zum „Christmas Morning“. Hatte lange der Geruch als bloße Störung gegolten, der man mit Mitteln der Deodori12 Howes, a.a.O., 5. 13 Howes, Hyperesthesia, or, The Sensual Logic of Late Capitalism, a.a.O., 281-303, hier 291f. 14 Martin Lindstrom, Brand Sense. Build Powerful Brands through Touch, Taste, Smell, Sight, and Sound, New York 2005. 15 Chandler Burr, The Emperor of Scent. A Story of Perfume, Obsession and the Last Mystery of the Senses, New York 2003. 16 Caroline A. Jones (Hg.), Sensorium: Embodied Experience, Technology, and Contemporary Art, Cambridge MA 2006, 5. 17 www.enviroscent.com.
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sierung entgegen treten muss, gerät nun der Geruch selbst als ideales Steuerungsmedium in den Vordergrund. Selbst der Tourismus, welcher lange Zeit als exemplarisch für das moderne sehende Subjekt galt, verändert sich: Sightseeing schien lange die touristische Erfahrung am besten zu erfassen.18 Gerade dadurch, dass digitale Medien auch die exotischsten Orte allgegenwärtig machen, entwerten sie die rein visuelle Erfahrung. So stellt Ann Game fest, dass der einzige Grund, eine Reise auch selbst zu unternehmen, in der Erfahrung von Gerüchen liegt – mögen diese auch unangenehm sein – und im Erleben fremder Geschmacksrichtungen.19 Hinzu kommt eine Wellnesskultur, welche zwar auch aufwändige visuelle Umgebungen schafft, diese aber gleichzeitig als Geruchs- (Aromabäder) und Tasterlebnis (Massage) inszeniert. Mit diesen Beobachtungen soll keine neue Epoche des Olfaktorischen oder Taktilen ausgerufen werden, doch aber der Eindruck korrigiert werden, welcher durch die Vorstellung einer Bildergesellschaft geschaffen wird. Gerade weil wir ständig mit visuellen Eindrücken überhäuft werden, gewinnen die niedrigen Sinne an Wert – und treten damit verbundene Kultur- und Körpertechniken immer stärker in den Vordergrund. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die niederen Sinne vor allem als Probleme wahrgenommen: Eine stinkende Gesellschaft bedurfte Hygieneformen, um sich zu deodorisieren;20 die Berührung musste streng reguliert werden, damit diese dem modernen Individuum nicht zum Problem wird. Was sich mit dem Parfüm und den ersten Traktaten über die Feinschmeckerei bereits im 19. Jahrhunderten ankündigte, wird zunehmend perfektioniert: Die Regulierung der niederen Sinne dient nicht mehr nur dem Schutz vor ungewolltem Gestank und unerwünschter Berührung, sondern der Steigerung und Kultivierung gerade dieser Sinnesformen – sowie deren Einsatz als ideales Steuermedium, das durch seine nahezu unmittelbare Wirkung höchste Effizienz verspricht.
2. D IE
SINNESTHEORETISCHE DER S OZIOLOGIE
F UNDIERUNG
Versucht man Simmels implizite Kriterien zur Unterscheidung und Hierarchisierung der Sinne zu formalisieren, dann lassen sich fünf zentrale Punkte benennen: Ein wichtiges Kriterium ist die Reziprozität der Sinneswahrnehmung, durch welche eine symmetrische Wechselwirkung geschaffen wird. Hinzu tritt nun die Frage nach der Intentionalität und Kontrollierbarkeit von Sinneseindrücken: Bin ich Sinnesein18 Kritsch dazu Tim Endesor, Sensing Tourist Spaces, in: Claudio Minca, Tim Oakes (Hg.), Paradoxes in Travel, Lanham 2006, 23-46. 19 Ann Game, Undoing the Social, London 1991, 180. 20 Corbin, a.a.O.
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drücken hilflos ausgesetzt, oder kann ich deren Wahrnehmung selbst beeinflussen? Schließlich wird die Zeitlichkeit des Sinneseindrucks bedeutsam, d.h. die Frage, ob sich Spuren der Vergangenheit in die Sinneserfahrung einschreiben und als Gedächtnismedium dienen können. Weiter werden Sinne an Hand ihrer Abstraktionsfähigkeit analysiert, wobei der für Simmel zentrale Begriff der Distanz wichtig wird: Nur durch Distanz können Sinneserfahrungen analytisch benannt werden. All diese Kriterien münden in die übergeordnete Frage, welchen Beitrag einzelne Sinne zur Etablierung einer Subjekt/Objekt-Grenze leisten. Mit Hilfe dieser Kriterien wird der Sehsinn auch theoretisch geadelt. Nicht nur kennzeichnet für Simmel das Sehen die urbane Erfahrung schlechthin, sondern es ist der Königssinn, welcher allen Kriterien Genüge leistet. In ihm verkörpert sich ein Verhältnis idealer Symmetrie und er gilt so als Wechselwirkung schlechthin. Das Subjekt ist dem Sehen nicht wehrlos unterworfen, sondern kann dieses, etwa durch Wegschauen oder Fokussierung, steuern. In temporaler Hinsicht ermöglicht das Sehen sowohl die Wahrnehmung gleichzeitiger Eindrücke als auch die Lesbarkeit von Vergangenheit – etwa im Gesicht. In seiner distanzierenden Funktion ist das Sehen unübertrefflich, es bietet sich der Abstraktion geradezu an, weil das Gesehene durch eine stabile Subjekt/Objekt-Grenze vom Sehenden getrennt ist. Sehen ist immer auch Erkenntnis generierende Distanzierung. Simmels Zeitdiagnose und sein Sinnesbegriff ergänzen sich damit auf ideale Weise. Die Moderne ist grundlegend eine visuelle Moderne – eine Moderne, die durch die Vorherrschaft des Sehens gekennzeichnet ist. Simmel macht dies an den bereits genannten sozialen Entwicklungen fest. Die Großstadt und der moderne Verkehr schaffen eine Gesellschaft des Sehens – eine Gesellschaft, in welcher die Vorherrschaft des Hörens, das die gemeinschaftlichen Dorfstrukturen auszeichnete, immer mehr in den Hintergrund tritt. Diese Zeitdiagnose wird gestützt durch den privilegierten epistemologischen Status des Sehens. Nur das Sehen verkörpert die Idealform der Wechselwirkung auf geradezu exemplarische Weise, das Auge ist „auf eine völlig einzigartige soziologische Leistung angelegt: auf die Verknüpfung und Wechselwirkung der Individuen, die in dem gegenseitigen Sich-Anblicken liegt. Vielleicht ist dies die unmittelbarste und reinste Wechselwirkung, die überhaupt besteht“ (ebd.: 723). Seine große soziologische Bedeutung schöpft das Sehen also daraus, dass es wie kein anderer Sinn den zentralen Begriff der Wechselwirkung denkbar macht. Mit dieser Positionierung des Sehens geht allerdings auch dessen Idealisierung einher.21
21 Dagegen aber Sartres Kritik am Sehen, der es keineswegs als Wechselwirkung versteht, sondern eine Verdinglichung des Gesehenen kritisiert. Dazu Deena u. Michael Weinstein, On the Visual Constitution of Society. The Contributions of Georg Simmel and Jean-Paul Sartre to a Sociology of the Senses, in: History of European Ideas 5 (1984), 349-362.
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Das Sehen ist also kein Sinn ‚wie jeder andere‘ – das Sehen wird zur privilegierten und fundierenden Kategorie der Simmelʼschen Soziologie. Die Analyse des Sehens wechselt damit auch die Seiten: Es ist nicht nur Gegenstand soziologischer Analyse (z.B. als Seh- und Beobachtungstechniken oder soziale Konstruktionen von Visualität), sondern ermöglicht allererst jede soziologische Sinnes-Analyse. Das Sehen fungiert als transzendentaler Sinn der Soziologie, die in diesem Sinn ihre wichtigsten Kategorien begründet findet. Dies hat nun zahlreiche Konsequenzen, die außerordentlich gute Passung von Zeitdiagnose und theoretische Begrifflichkeit ist keine zufällige. In der modernen Stadt scheint die Soziologie gleichsam zu ihren Begriffen zu kommen, sie erhält hier die Augen, mit denen sie die ihrerseits visuell verfasste Moderne anblickt. Damit schreibt sich in die Simmelʼsche Zeitdiagnose aber auch eine teleologische Struktur ein: Mit der historischen Vorherrschaft des Sehens löst sich die Idee der Soziologie auf schon fast zu ideale Weise ein; hier verwirklicht sich das soziologische Denken in einem sozialen Phänomen. Durch diese teleologische Struktur büßt die Vorherrschaft des Sehens aber auch ihre historische Kontingenz ein, es ist kein Zufall, dass diese durch das Sehen bestimmt wird, sondern sie realisiert das, was in den soziologischen Begriffen bereits angelegt war. In der gegenwärtigen Diskussion über Simmels Exkurs wird kritisiert, dass er die einzelnen Sinne voneinander isoliert und dadurch ihre Verschränkung übersieht.22 Diese Kritik ist gewiss zutreffend. Sie sollte aber nicht die theoriestrategische Rolle dieser Isolierung übersehen. Simmel muss klare Grenzen zwischen den Sinnen schaffen, um seine sinnestheoretische Soziologie formulieren zu können, denn nur so kann es ihm gelingen, den Sehsinn als eigenständigen Sinn zu fassen – nur als isolierter Sinn erlaubt dieser die Modellierung der Wechselwirkung anhand des gegenseitigen Sich-Anblickens. Sehen und Sichtbarkeit erweisen sich bei Simmel nicht als bloße, ‚unschuldige‘ Metaphern, mit Hilfe derer der Prozess der Vergesellschaftung gedacht wird, sondern als konstitutive Metaphern, welche seine Soziologie ermöglichen.
3. J ENSEITS
EINER OKULAROZENTRISCHEN
S OZIOLOGIE ?
Was aber geschähe, wenn wir die Vorherrschaft des Sehens historisch kontingent setzten? Was bedeutete es, auf die fundierende Rolle des Sehens für die Soziologie zu verzichten und eine soziologische Epistemologie zu entwickeln, die sich für die ‚niederen‘ Sinne öffnet? Zwei alternative Modelle, die sich epistemologisch vom Sehen abzuwenden versuchen, sollen kurz skizziert werden. Michel Serres entwirft in Die fünf Sinne 22 Etwa bei Jens Loenhoff, Die kommunikative Funktion der Sinne, Konstanz 2001, passim.
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eine grundlegende Kritik des Okularozentrismus der Moderne. Gerade die Soziologie verkörpere die visuelle Logik der Gesellschaft auf besondere Weise: „Ich habe Gesellschaften gesehen, die ausschließlich aus Soziologen bestanden. Sie besaßen ein unglaubliches Talent, wenn es ums Überwachen und Berichten ging.“23 Das Argus-Auge versucht alles zu erfassen – ihm entgeht nichts. Im Foucaultschen Panoptismus wird die theoretisch-methodische Haltung der Soziologie gar zur gesellschaftlichen Disziplinartechnik. Die häufig nur implizite Zentralstellung des Sehens führt für Serres zu einem höchst problematischen Wissenschaftsverständnis: „Daraus ergeben sich die Regeln der Methode – lügnerisch, lügnerisch hoch zwei; pervers; mehr als pervers, ‚plusquampervers‘ […], voyeuristisch, theoretisch.“24 Für Serres impliziert das Sehen keineswegs eine Idealform der Gegenseitigkeit, die für Simmel so wichtig gewesen ist, sondern eine asymmetrische Form: Sehen ist immer schon Beobachten und Überwachen, Sehen verkörpert geradezu die Machtformen der Moderne. „Die Sichtbarkeit ist eine Falle“ 25 hatte Foucault in Überwachen und Strafen formuliert. Dieser Falle versucht Michel Serres in seiner Konzeption der fünf Sinne zu entgehen – eine Konzeption, die das ganze ‚empire‘ der Sinne zu denken versucht. Ähnlich wie Simmel jedoch erblickt auch Serres eine enge Beziehung zwischen dem Sehen (Argus) und dem Hören (Hermes). Hierbei handelt es sich um zwei konkurrierende Sensorien der Moderne, die aber beide zutiefst in Machtzusammenhänge verflochten sind. Serres‘ Utopie freilich liegt bei den niederen Sinnen – jenen Sinnen, die Simmel nicht zuletzt wegen ihrer ‚theoretischen Unzulänglichkeiten‘ in den Hintergrund rückte. Leitmotive werden für ihn die Haut und das Gastmahl – damit auch die Berührung, der Geruch und der Geschmack. Ermöglichte der Sehsinn die Herausbildung einer stabilen Subjektposition, so verbindet sich mit der Haut ein ganz anderer Subjektbegriff. Das Subjekt ist nun weder System noch eine fertige Einheit, sondern gleicht eher einem aus unterschiedlichen Fetzen zusammengeflickten Harlekingewand. Die Haut ist eine Collage, sie faltet und ent-faltet sich. Im Medium der Haut bilden die einzelnen Sinne Knoten. Der Philosoph – und vielleicht auch der dem Primat des Sehens entkommene Soziologe – wird zum Couturier: Er „bessert aus, überarbeitet die Säume, zieht die Unschärfe dem Harten vor und die Falte der Verbindung.“26 Serres argumentiert hier für einen Empirismus der Topologie, der sich durch die Liebe für Ränder, Fäden und Faltungen interessiert: „Der Empirismus als Couturier von Haut unterhält dieselbe Beziehung zur
23 Michel Serres, Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, Frankfurt/M. 1993, 45. 24 A.a.O., 50. 25 Michel Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt/M. 1977, 257. 26 Serres, a.a.O., 305.
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Topologie wie das Wort zur Geometrie.“27 Der zentralperspektivische Raum des Sehens wird ersetzt durch eine Topologie der Übergänge und Verbindungen. Ähnlich verhält es sich mit dem Geschmackssinn, den Serres allerdings nur in Frankreich, und hier in erster Linie beim Weinkenner, gut entwickelt sieht. Auch hier geht es nicht um begrenzbare Formen, sondern um eine Wissenschaft der geschmacklichen Übergänge und Bouquets. Der Sinnestheoretiker ist hier nicht nur ein Couturier, sondern auch ein Gourmet, der sich für die Kunst der Gemische interessiert. Auch hier steht die Unentscheidbarkeit der Übergänge im Vordergrund: „Wo das Fleisch endet und das Ragout beginnt, vermag selbst der beste Geschmack kaum festzustellen.“28 Für Serres hat dieses Interesse an der Haut und am Kochen auch Konsequenzen für das Sehen. Die Haut wird zum Auge; sie schreibt in sich ein, was von den bis dahin dominierenden Sinnen – dem Sehen und dem Lärm der Information – übrig geblieben ist. Für Serres ist die Haut jenes basale Medium, innerhalb dessen sich die anderen Sinne als Knoten herausbilden. Mit der Haut versucht Serres zwar keinen einzelnen Sinn, doch aber ein Gemisch von Sinnen, das in den niederen Sinnen basiert ist, in den Vordergrund zu stellen. Die Haut dient denn auch als epistemologischer Ausgangspunkt von Serres‘ Unternehmen. Die theoretische Permutationsprobe hat zu einem eindeutigen Ergebnis geführt. Wechselt man den theoretischen Leitsinn aus – ersetzt man also das Auge durch die Haut, dann verändert sich die theoretische Perspektive entscheidend. Nun interessieren nicht primär die Beziehungen, sondern die Übergänge und Gemische. Es wäre überlegenswert, was dies für den Begriff der Wechselwirkung bedeutete – ob eine Wechselwirkung sich auf das Problem des Übergangs hin umschreiben ließe; eines Übergangs allerdings, welcher die klare Trennung von Subjekt und Objekt gefährdete. Ich möchte diese theoretische Permutationsprobe in aller Kürze mit einer weiteren Position vertiefen. Derrida hat eines seiner letzten Werke seinem Freud JeanLuc Nancy und dessen Theorie der Berührung gewidmet.29 Auch hier geht es darum zu erproben, was es hieße, sozialphilosophisches Denken nicht auf dem Sehen, sondern auf der Berührung zu basieren. Derrida beginnt das Buch mit einem Graffiti, das er auf Reisen gesehen hat: „When our eyes touch, is it day or night?“30 Der Sehsinn wird hier mit der Berührung kurzgeschlossen. Was passiert, wenn die Augen sich berühren? Die klassischen Konzeptionen hatten die Berührung als dunklen und obskuren, kurz: als anti-aufklärerischen Sinn gedacht. Was passiert also, wenn dieser dunkle Sinn sich unserer Augen bemächtigt? Mit Hilfe der Berührung ver27 Ebd. 28 A.a.O., 306. 29 Jacques Derrida, On touching. Jean-Luc Nancy, Stanford 2005. 30 A.a.O., 1.
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sucht Derrida, der für den visuellen Perspektivismus charakteristischen Selbstreferenz zu entgehen. Aufgebrochen werden soll das Spiegelmodell, das immer nur den eigenen Blick wiedererkennen kann. Durch die Berührung wird eine basale Form der Selbstreferenz konzipiert, die sich dem okularozentrischen Denken entzieht: In einer von Derrida verwendeten französischen Wendung wird dies besonders gut nachvollziehbar: „se toucher toi“.31 Nur mit Mühe lässt sich diese Wendung übersetzen. Einerseits handelt es sich um ein „mich berühren, indem ich Dich berühre“; andererseits aber auch um ein „Dich berühren, indem ich mich berühre“. Die Berührung fungiert als Gegenmodell zum wechselseitigen Anblicken, also der Idee des Anderen als Spiegel meiner selbst und meines Blicks. In den Berührungen findet keine Reziprozität statt, sondern eine Mediatisierung des Kontakts – ein Dazwischentreten, das selbst weder zum Subjekt noch zum Objekt gehört. Auf diese Weise wird für Derrida eine „auto-hetero-affection“32 möglich. Dies liefert denn auch eine der Antworten auf die anfängliche Frage: „When our eyes touch, is it day or night?“ Das Sehen bedarf selbst einer Unterbrechung – einer Intransparenz und Dunkelheit, die sich in die Transparenz des Sehens einnistet.
4. G ESCHMACKVOLLE S OZIOLOGIE Meine beiden theoretischen Permutationsproben sollten ertesten, was passiert, wenn wir Simmels Privilegierung des Sehens kontingent setzen – wenn wir uns also fragen, welche Effekte eine entsprechende Variation auf die theoretische Perspektive ausüben würde. Eine derartige Fragestellung nimmt Simmels Einsicht ernst und auf, dass unsere theoretische Perspektive selbst durch die Sinne konfiguriert wird – dass also die Sinne nicht nur Gegenstand einer aufgeklärten Kultursoziologie sein sollen, sondern dass das theoretische Denken selbst durch diese konfiguriert wird. Für Simmel kommt aber nur das Sehen in Frage, um mit dessen Hilfe einen soziologischen ‚Blick‘ zu schaffen. Die Permutationsprobe – also das Ersetzen des Sehens durch ein Gemisch der niederen Sinne – war auf zweierlei Weise motiviert. Einerseits scheint Simmels Zeitdiagnose, dass wir in einer zunehmend visuell organisierten Gesellschaft leben, nicht mehr ohne weiteres auf das gegenwärtige soziale Sensorium übertragbar zu sein. Phänomene der Hyperästhesie und der Synästhesie, die gerade auch die niederen Sinne mit einbeziehen, werden immer wichtiger: Duft-Branding, rhythmusbasierte Clubkulturen, körperzentrierte Wellnesskulturen (visuelles und Aromadesign, auch taktile Körperbehandlung) treten neben eine Gesellschaft der Bilder. Die Passung zwischen Zeitdiagnose und theoretischem Modell, die bei Simmel noch so 31 A.a.O., 108. 32 A.a.O., 180.
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perfekt funktionierte, scheint auseinandergebrochen zu sein – oder zumindest nicht mehr ganz selbstverständlich. Mehr noch: Die zu perfekte Passung einer auf dem Sehen beruhenden Theorie der Sinne mit der soziologischen Analyse von Sinneskulturen verpasst die Möglichkeit, die historische Spezifik von Sensorien zu erfassen.33 Ein visuell bestimmter Begriff der Soziologie (und der Wechselwirkung) könnte sich daher als Hindernis zur Modellierung der niederen Sinne erweisen. Mit dem Begriffsregister des Visuellen können haptische, olfaktorische und taktile Sinneserfahrungen immer nur als defizitäre erfasst werden, als Erfahrungen, die an das Ideal einer symmetrischen Wechselwirkung nie heranreichen werden – mehr noch, als Sinne, die unter Abstraktionsdefiziten leiden:34 Das Sehen musste bei Simmel nicht zuletzt deshalb eine privilegierte Position einnehmen, weil nur mit diesem Sinn die Selbstbeweglichkeit sozialer Formen, ihre Abstraktion von den Inhalten, gedacht werden konnten. Mit Unwillen bemerkt Simmel, dass es z.B. kaum Worte für Gerüche gäbe und dass man daran ihre mangelnde Abstraktionsfähigkeit festmachen könne. Mit Simmel lassen sich Serresʼ und Derridas Theorie der Sinne als neue Konfigurationen von Leben und Form fassen – als Konfigurationen, in denen die niederen Sinne gleichfalls als Bedrohung der Formbildung gelten. Auch diese Modelle entraten nicht vollständig den ebenso starken wie überragenden Ordnungsmodellen aus der Welt der Sicht- und Hörbarkeit,35 aber sie fordern die visuellen und auditiven Modelle der Ordnung heraus durch die Materialität ihres Gegenstandes; dadurch also, dass nicht nur die Interaktion der Mahlzeit sich als formvollendetes, ja geradezu schönes soziales Spiel zu präsentieren in der Lage ist, sondern dass die Mahlzeit fühlbar wird – und dass sie schmeckt.36 Mit einer auf dem Visuellen fußenden Epistemologie lassen sich diese Phänomene nur schwer erfassen, denn wie Simmel zu Recht festgestellt hat, operieren etwa Gerüche jenseits der Sub33 Walter J. Ong, The Shifting Sensorium, in: David Howes (Hg.), The Varieties of Sensory Experience, Toronto 1991, 47-60. 34 Ähnlich auch Martin Corbett, Scents of Identity. Organisation Studies & the Cultural Conundrum of the Nose, in: Culture and Organization 12 (2006), 221-232: Der visuell bestimmte Diskursbegriff ist eine schlechte Metapher für affektive, kinetische, sinnliche und taktile Tätigkeiten. 35 Serres, a.a.O., 26, spricht von „Visitationen“, um den veränderten Status von Visualität erfassen zu können. Die ‚Visite‘ bleibt an der Oberfläche und verweigert sich einem totalisierenden Blick. 36 Simmel interessiert sich in seiner Soziologie der Mahlzeit gerade für die Überwindung des gierigen und materialistischen Genusses. Durch ästhetische Normierung transformiert sich die „materialistisch individuelle Selbstsucht“ zur „Sozialform der Mahlzeit“, GSG 12: 143.
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jekt/Objekt-Unterscheidung. Der Geruch markiert die Möglichkeit und Gefahr, sich im Anderen zu verlieren; er verweist auf eine ‚Ausfransung‘ von Ich und Welt.37 Gerüche sind selbst keine Objekte, sondern entfalten erst im Körper ihre Wirkung. Eine derartige ‚digestive‘ Soziologie müsste riskieren, dass die Distanz zu den Dingen zusammenbrechen könnte, dass die Einverleibung und nicht der Distanz schaffende Ekel zum Modell sozialer Ordnung würde.38 Eine solche Soziologie fußte nicht so sehr auf dem Paradigma von Subjekt und Objekt, vom Eigenen und dem Anderen, sondern ginge von einer „konfuse[n] Zerstreuung des ‚Fremden‘“ aus.39 Im Geschmack (Verzehr) und in den Gerüchen wird die Distanz zu den Dingen aufgegeben – und gerade dadurch auch ein Eindruck der Unmittelbarkeit geschaffen.
37 Corbett, a.a.O. 38 Dazu auch Mădălina Diaconu, Tasten – Riechen – Schmecken. Eine Ästhetik der anästhesierten Sinne, Würzburg 2005, 318. 39 A.a.O., 319.
Simmel und die Religionssoziologie A USTIN H ARRINGTON
Im Vergleich zu den klassischen religionssoziologischen Arbeiten Max Webers, Ernst Troeltschs und Emile Durkheims sind Georg Simmels entsprechende Studien erstaunlich wenig rezipiert worden. In nicht-deutschsprachigen Ländern haben Simmels Ideen zur Religion bisher nur sehr begrenzte Resonanz gefunden, und auch in Deutschland stießen sie erst in den 1990er Jahren wieder auf Interesse.1 1998 aber erschien von Volkhard Krech eine ausführliche Monographie zu Simmels Religionstheorie, die diese Lücke gefüllt hat und die als die umfassendste und verlässlichste Einführung zum Thema Bestand haben wird.2 Im Folgenden wird die schwer zu überbietende Darstellung von Krech nur an einigen Punkten ergänzt, denn es bleiben noch einige interessante Elemente der Simmelʼschen Religionskonzeption aufzugreifen, die von Krech nicht angesprochen worden sind und die besonders mit dem Konnex von Religion und Ästhetik in Sim-
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In diesem Zusammenhang sind v.a. zu nennen Horst Jürgen Helle, Einleitung, in: Georg Simmel, Gesammelte Schriften zur Religionssoziologie, hg. u. m. e. Einl. v. dems. in Zusammenarbeit mit Andreas Hirseland u. Hans-Christoph Kürn, Berlin 1989, 7-35; Volkhard Krech, Hartmann Tyrell (Hg.), Religionssoziologie um 1900, Würzburg 1995; PeterOtto Ullrich, Immanente Transzendenz. Georg Simmels Entwurf einer nach-christlichen Religionsphilosophie, Frankfurt/M. 1980; Horst Müller, Lebensphilosophie und Religion bei Georg Simmel, Berlin 1960. Unter den englischsprachigen Besprechungen sind folgende Texte erwähnenswert: Lawrence Scaff, Rez. Georg Simmel, Essays on Religion, edited and translated by Horst Jürgen Helle in collaboration with Ludwig Nieder, New Haven 1997, in: American Journal of Sociology 104 (1998), 269–270; Rudi Laermans, The Ambivalence of Religion and Religiosity: a Reading of Georg Simmel, in: Social Compass 53 (2006), 479-489.
2
Volkhard Krech, Georg Simmels Religionstheorie, Tübingen 1998. Im Folgenden als „Krech“ plus Seitenzahl im laufenden Text zitiert.
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mels Denken zu tun haben. Im Allgemeinen ist es zu bedauern, dass seit dem Beginn des neuen Jahrtausends kaum weiterführende Beiträge zu Simmels äußerst anregenden religionssoziologischen Thesen zu verzeichnen sind, ob in Bezug auf andere Vorstellungen und Kulturtendenzen seiner Zeit oder in Bezug auf gegenwärtige Kontroversen zu Religion und Säkularisierung der Öffentlichkeit, endlich zu Religion und Modernitätstheorien in den empirischen Sozial- und Kulturwissenschaften. Zunächst seien hier die Kerngedanken von Simmels frühen Schriften zur Soziologie der Religion seit den 1890ern aufgegriffen, weitere Überlegungen folgen dann zu Simmels Monographie Die Religion aus dem Jahr 1906, sowie zu den religionsbezogenen Elementen seines späteren sog. ‚lebensphilosophischen‘ Werkes. Im dritten und längsten Teil dieses Beitrages wird dann auf das Verhältnis zwischen Religion und Kunst in Simmels Denken eingegangen und auf dessen heutige Relevanz hingewiesen.
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Wie Hartmann Tyrell vor kurzem hervorgehoben hat, ist es zunächst wichtig festzustellen, warum Religion in Simmels umfangreichstem soziologischen Opus von 1908, seiner Soziologie, nicht direkt thematisiert wird – zumindest nicht als Form der Vergesellschaftung, wie es im Untertitel des Werks heißt.3 Wie allgemein bekannt, hat Simmel in seiner Soziologie von 1908 unter ‚Inhalt‘ meistens kontingente, partikulare, historisch spezifische Akteure und deren Interessen gemeint, denen er konstant wiederkehrende soziologische Strukturen oder ‚Formen‘ gegenüberstellte, wie beispielsweise die „Über- und Unterordnung“, die „Konkurrenz“, den „Streit“, die „Kreuzung sozialer Kreise“ oder die „Selbsterhaltung der sozialen Gruppe“. In der Soziologie jedoch kommt Religion allenfalls als ‚Inhalt‘ vor, d.h. als inhaltliches Veranschaulichungsmaterial für allgemeinere soziale Prozesse und Phänomene, nicht aber als eine soziale ‚Form‘ an sich. Warum ist das so? Zahlreiche andere Essays von Simmel aus den 1890er Jahren sowie große Textteile aus Über sociale Differenzierung (1890) sind außerdem in das Hauptwerk von 1908 in leicht veränderten Fassungen übernommen worden. Warum ist Simmels erste Arbeit zum Thema, „Zur Soziologie der Religion“ von 1898, dann nicht auch in die große Soziologie von 1908 eingegangen? Wieso scheint Simmel in seinem
3
Hartmann Tyrell, Georg Simmels „große“ Soziologie (1908). Einige Überlegungen anläßlich des bevorstehenden 100. Geburtstags. Simmel Studies 17 (2007), 5-39.
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Hauptwerk die Religion nicht als „Form der Vergesellschaftung“ betrachtet zu haben? Wie hier zu erläutern sein wird, hat eine Antwort auf diese Frage höchstwahrscheinlich damit zu tun, dass Simmel nach 1900 sein Religionsverständnis grundsätzlich erweitert hat und dass ihm aufgrund erkenntnistheoretischer Überlegungen klar wurde, dass Religion bzw. ‚Religiosität‘ eine generellere Kategorie ist, in der der menschliche Geist sich auslegt, und keine reine ‚soziale Beziehungsform‘ bzw. „Form der Vergesellschaftung“ im engeren Sinn ist. Zunächst aber ist festzustellen, dass in dem Essay „Zur Soziologie der Religion“ ausdrücklich von „sozialen Beziehungsformen“ die Rede ist (GSG 5: 269). Prima vista scheint Simmels Gedanke hier dem Ansatz Emile Durkheims in seinen Elementaren Formen des religiösen Lebens von 1912 zu ähneln und ihn vorwegzunehmen. Explizit schreibt Simmel von „Wechselbeziehungen, die das Leben der Gesellschaft ausmachen“ (ebd.). Es scheint, so Simmel, „als ob unter diesen Formen [...] sich eine befände, die man nur als die religiöse bezeichnen kann“ (ebd.). Der Patriotismus sei ein Beispiel dafür, dass das Verhältnis des Einzelnen zur Gesamtgruppe zu bestimmten Zeiten „eine Weihe, Innigkeit und Hingebung“ annehmen könne, „die wir als religiös bezeichnen“ (ebd.: 270). In diesem und anderen Fällen trete der religiöse Glaube „zunächst als ein Verhältnis zwischen Menschen auf“ (ebd.: 274). Im Glauben an Göttliches habe „sozusagen der reine Prozess des Glaubens sich verkörpert, losgelöst von seiner Bindung an einen sozialen Gegenpart“ (ebd.: 275). Die religiöse Idee des Göttlichen drücke dabei ein sozial vermitteltes Bewusstsein der Einheit der Dinge aus. Das religiöse „Gefühl der Abhängigkeit“ (wie es Schleiermacher formulierte) sei subjektiver Ausdruck der Bindung des Einzelnen an seine Gattung; und die Vergötterung der Vorfahren erkläre sich damit als „Ausdruck für die Abhängigkeit des Individuums von dem zeitlich vorangegangen Leben der Gruppe“ (ebd.: 281f.; Krech 170ff.). Simmel schließt: „Formen der sozialen Beziehungen verdichten sich oder vergeistigen sich zu einer religiösen Vorstellungswelt [...], so daß man sagen kann, Religion bestehe, - außer allem, was sie sonst etwa ist – in sozialen Beziehungsformen, die in ihr, von ihren empirischen Inhalten gelöst, verselbständigt und auf eigene Substanzen projizirt werden“ (GSG 5: 274, 278f.). In seinem Essay von 1898 scheint also Simmels Religionsverständnis den Akzent entschieden auf die Seite von ‚Form‘ – und nicht bloß von ‚Inhalt‘ – zu legen. Wie in seinem Buch von 1908 schreibt Simmel hier zunächst einerseits von einem „gleichen Inhalt, der in vielerlei Formen“ und andererseits von einer „gleichen Form, die an vielerlei Inhalten sich auslebt“, gibt aber zu verstehen, dass Religion zu denjenigen allgemeinen Formen gehört, die alle Verbindungen mit bestimmten Inhalten überleben können (ebd.: 273). Als religiös zu betrachten seien soziale Verhältnisse „mit so mannigfachem Inhalt“ wie das des pietätvollen Kindes zu seinen Eltern, des Patrioten zum Vaterland, des Kosmopoliten zur Idee der Menschheit,
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des Arbeiters zu seiner sich emporringenden Klasse, des adelsstolzen Feudalen zu seinem Stand, des Unterworfenen zu seinem Beherrscher oder des Soldaten zu seiner Armee (ebd.: 269). Solche Verhältnisse seien die, die „auf die Form, ihre psychische Seite hin angesehen, einen gemeinsamen Ton haben [können], den man als religiös bezeichnen muß“ (ebd.). So stelle die Gesetzgebung eines Landes das Beispiel eines ‚Inhalts‘ dar, der von verschiedenen „Formen der Beziehung zwischen Menschen“ wie der Staatsgewalt, der Sitte oder der Konvention getragen werden könne, der aber insbesondere auch „die Form der religiösen Beziehung“ annehmen und von religiöser Sanktion garantiert werden könne (ebd.: 270). Neben Recht und Richterstand gehöre Religion also zu den Verhaltungsweisen, die zur „Selbsterhaltung der Gruppe“ erforderlich sind (ebd.: 271). Ein nächster Schritt in diesem Argumentationsgang betrifft dann den Gedanken der Genese religiöser ‚Substanzen‘ durch ‚Differenzierung‘. Bevor Religion überhaupt „als selbständiger Lebensinhalt, als ein Gebiet eigenster Begrenzung“ bestehen könne, müsse sie sich von den anderen Elementen und Interessen des Lebens „differenzieren“ (ebd.: 268). „[A]ls ein selbständiges, an die Vorstellung eigenartiger Substanzen und Interessen angebautes Gebiet“ sei Religion „erst etwas Abgeleitetes“ (ebd.: 271). Religion entstehe also zunächst in sozialen Beziehungsformen. Indem sie sich aber differenziere, löse sie sich von den Letzteren und werde dadurch zu etwas Substantiellem, Eigenständigem. Es möge sich mit der Religion so ähnlich verhalten, wie etwa einerseits mit der Technik als einem idealen System von Erkenntnissen und Regeln und andererseits mit dem Arbeiterstand als Teilen eines gesellschaftlich notwendigen Arbeitszusammenhangs, die sich allmählich „zu gesonderten und selbständigen Organen“ bilden (ebd.: 271f.). Götter können so „das gleichsam gesondert darstellen, was bis dahin als bloße Beziehungsform und in Verschmelzung mit realeren Lebensinhalten existiert hatte“ (ebd.). Indem also religiöse Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens sich „verfestigen“ und ‚verselbständigen“, verköpern sie immer „schon vorher vorhandene Verhältnisformen“ (ebd.: 272). Diesen Prozess der ‚Substanzialisierung‘ von Religion veranschaulicht Simmel mit Bezug auf Glaube und „Einheitsvorstellungen“ als drei primären Formen „interindividueller Wechselwirkungsverhältnisse“ (ebd.: 274). Der religiöse Glaube, so Simmel, entstehe aus einem besonderen Vertrauensverhältnis zwischen Menschen, das „eins der festesten Bänder, die die menschliche Gesellschaft zusammenhalten“, sei (ebd.: 275). Das Gehorsamsverhältnis, das sich im religiösen Glauben ausdrückt, gründe sich „auf jenem psychischen Zwischengebilde, das wir den Glauben an einen Menschen oder an eine Kollektivität von Menschen nennen“ (ebd.). Im religiösen Glauben zeige sich „eine rein inter-individuelle psychologische Beziehungsform [...] ganz rein und abstrakt [...]. Der Glaube, der als eine soziale Nothwendigkeit lebt, wird nun selbständige, typische Funktion des Menschen, die sich spontan, von innen heraus bewährt“ (ebd.: 275f.). Wie der Glaube sei auch das religiöse Ein-
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heitsgefühl im Grunde „eine Beziehungsform zusammenlebender Menschen, die sich zu jener Einheit der Dinge in personaler Form steigert, als die das Göttliche auftritt“ (ebd.: 283). Religiöse Einheitsvorstellungen vollziehen sich „[n]irgends [...] so unmittelbar und so fühlbar“, so „energisch“, wie „in der Gens, in der Familie, im Staate und in jedem Zweckverbande (ebd.: 277). So habe „bei semitischen Völkern, wie den Juden, Phöniziern, Kanaaniten [...] die Art ihrer sozialen Vereinheitlichung und deren Wandlungen sich deutlich in dem Charakter ihres göttlichen Prinzips gespiegelt“ ebd.: 278). In der Religionsgeschichte zeigen Kämpfe gegen Ketzerei, wie „der soziale Einheitstrieb [...] in der Religion reine, abstrakte und zugleich substantielle Gestalt“ annehme und daher überhaupt wie „die Religion die reinste und über alle konkrete Einzelheit erhobene Einheitsform der Gesellschaft“ sei (ebd.: 281). Von den beiden Glaubens- und Einheitsmomenten her gesehen könne man also sagen, so Simmel, „daß die Religion das in Substanz darstelle, ja gewissermaßen in der Substantialisierung dessen bestände, was als Form und Funktion das Gruppenleben reguliert“ (ebd.: 280). Schließlich noch nennt Simmel als dritte religiöse Primärform das Verhältnis des Einzelnen zur Gesamtgruppe (ebd.: 281ff.), als dessen sinnfälligsten Aspekt er etwa die Genese des Ahnenkults, also die historische Tiefendimension des Sozialverbands, nennt (ebd.: 282). Diese Passagen legen nahe, dass Simmel später keinen zwingenden Grund dafür gehabt hatte, die Religion nicht als „Form der Vergesellschaftung“ in seiner Soziologie von 1908 zu thematisieren. Doch erscheint die Religion im Hauptwerk größtenteils nicht als ‚Form‘ sondern eher als ‚Inhalt‘. An vielen Stellen in der Soziologie gerät die Religion demgemäß zum inhaltlichen Veranschaulichungsmaterial für allgemeine soziale Differenzierungsprozesse, Entzweiungs- und Abgrenzungsverhältnisse, die Verkörperung von Gruppen oder für die „Unterordnung unter eine individuelle Potenz“ (GSG 11: 169; Krech 66ff.). In dem Kapitel über „Die quantitative Bestimmtheit der Gruppe“ dienen religiöse Anstalten dazu, die zwei- und dreigliedrigen Beziehungsformen – die Zwei- und die Dreizahl – zu veranschaulichen (GSG 11: 118-125). Konfessionelle Streitigkeiten verdeutlichen die oft konflikthafte zweigliedrige Beziehungsform. Dagegen illustrieren religiöse Toleranz und Pluralismus die eher friedlichere dreigliedrige Beziehungsform. Gegenüber den Entzweiungspotenzen der Zweizahl bedeutet die Rolle des Dritten in dieser Perspektive Übergangs-, Vermittlungs- und Versöhnungsmöglichkeit. In Simmels Formenliste am Endes des Bandes von 1908 taucht Religon zwar einmal auf, allerdings nur mit der Einschränkung, „in ihrer spezifischen Bedeutung für die Kreuzung der Kreise“ (ebd.: 872). Religion, so heißt es an den entsprechenden Stellen, spreche sich immer in einer von zwei entgegengesetzten „soziologischen Formen“ aus: einerseits in restloser Verschmelzung mit dem Ganzen des gesellschaftlichen Gruppenlebens, andererseits in Differenzierung von Letzterem (ebd.: 480ff.). Religion könne sich als Stammes- oder Staatsangelegentheit aussprechen, indem sie den Gott mit den politischen Interessen der Gruppe verschmelze;
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oder sie könne „aus dem Halt [...], den sie aus dem Verwachsensein mit dem ganzen Komplex sozialer Verbindungen gewann“, sich lösen und dadurch eher individualistischen Charakters werden (ebd.: 481). Im letzteren Fall ermögliche dann „die Abweisung aller soziologischen Bindung [...] dem Individuum die Berührung seines religiösen Interessenkreises mit allem möglichen andern Kreisen, deren Mitglieder jene sonstigen Gemeinsamkeitsinhalte nicht mit ihm teilen“ (ebd.: 480f.). So etwa stellten die Hugenotten Frankreichs im 17. Jahrhundert sich dem französischen König zur Verfügung, wenn es gegen das katholische Spanien ging, schlossen sich aber direkt Spanien an, als sie durch den König bedrängt wurden (ebd.: 481). Ebenso verhalte es sich mit den Protestanten Irlands, die einerseits mit den irischen Katholiken gegen den englischen Unterdrücker ihres gemeinsamen Vaterlandes sich zu verbinden bereit waren, die sich jedoch andererseits mit den Protestanten Englands gegen den römischen religiösen Feind ohne Rücksicht auf die Landsmannschaft einig fühlten (ebd.). Wie in seiner Soziologie von 1908 taucht Religion auch in Simmels späten Grundfragen der Soziologie von 1917 wieder eher auf der Seite des ‚Inhalts‘ auf. Hier nennt Simmel noch einmal jene immer wiederkehrenden „formalen Verhaltensweisen“, die im Band von 1908 im Vordergrund standen, und behauptet, Aufgabe der Soziologie sei es, „aus den Erscheinungen das Moment der Vergesellschaftung“ zu ermitteln, „wie die Grammatik die reinen Formen der Sprache von den Inhalten sondert, an denen diese Formen lebendig sind“ (GSG 16: 82f.). Unter den genannten Formen jedoch kommt Religion nicht vor, explizit auf der Liste stehen nur: „Über- und Unterordnung, Konkurrenz, Nachahmung, Arbeitsteilung, Parteibildung, Vertretung, Gleichzeitigkeit des Zusammenschlusses nach innen und des Abschlusses nach außen und unzähliges Ähnliches“ (ebd: 83). Religion erscheint allenfalls als Beispiel für etwas, an dem die benannten Formen sich vollziehen, so an einer „Religionsgemeinde“ wie „an einer staatlichen Gesellschaft [...], an einer Verschwörerbande wie an einer Wirtschaftgenossenschaft, an einer Kunstschule wie an einer Familie“ (ebd.). Die Rede ist hier nur von „religiösen Lebensinhalten“, die vielfach „gesellschaftlich geformt“ werden und „einmal eine freiheitliche, ein andermal eine zentralistische Gemeinschaftsform“ fordern können (ebd.). Der Gang des Simmelʼschen soziologischen Religionsdenkens um die Jahrhundertwende scheint also widersprüchlich zu sein. Wie löst Simmel diesen Widerspruch auf? Eine Möglichkeit ist, dass er zwar nach wie vor den Formaspekt religiösen Lebens privilegiert, diesen Aspekt aber nicht als bloß gesellschaftlichen, sondern zunehmend als rein ‚kategorialen‘ Charakter, d.h. als eine Art AprioriStruktur menschlichen Bewusstseins überhaupt vorstellt. Die Spuren dieser Wendung zu einer aprioristischen und doch immer noch historisch-soziologisch fundierten Auffassung des religiösen Phänomens können schon in seiner Soziologie von 1908 wahrgenommen werden.
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Zunächst ist es, wie Volkhard Krech hervorhebt, wichtig zu berücksichtigen, dass Simmel in der Soziologie die Religion nicht immer nur als bloßes Material für allgemeinere gesellschaftliche Strukturen darstellt (Krech 81ff.). Im abschließenden Kapitel über „Die Erweiterung der Gruppe und die Ausbildung der Individualität“ beschreibt er die Rolle des christlichen Monotheismus für die Entstehung weltgeschichtlich signifikanter Prozesse moralischer Individualisierung (GSG 11: 836844). Hier erscheinen Kirche und Sekte nicht nur als Beispiele für soziale Ein- und Abgrenzungsphänomene. Vielmehr erscheinen Kirche und Sekten als komplementäre Träger universalisierender Ideen menschlicher Gemeinsamkeit. So schildert Simmel, wie die Loslösung der Religion von der stammesmäßigen, nationalen oder lokalen Bindung zum „Gedanken einer idealen Einheit der Menschenwelt“ führt (ebd.: 840). Höhe und Distanz Gottes ermöglichen die Gleichheit des Ungleichen und gleichzeitig auch die Ausbildung der Individualität von Menschen jenseits der partikularen Gruppe. Das Christentum weise „eine gleichmäßige Annäherung an das Ideal des Kollektivismus wie des Individualismus“ auf, die entscheidend für die Entstehung eines modernen öffentlichen Geistes werde (GSG 2: 244; Krech 83). Neben der Geldwirtschaft stelle die christliche Weltanschauung und ihre kirchliche Organisation den historisch größten, weltumspannenden Kreis dar, der das größtmögliche Maß an Individualisierung freisetze (GSG 6: 305ff.).4 Das Christentum biete insofern „das größte geschichtliche und zugleich metaphysische Beispiel“ für die Herausbildung von Formen „unbedingter Persönlichkeit“, für die „unbedingte Erweiterung des Kreises der ihr gleichen“, und für die Bildung der „freien Seele, im absoluten Für-sich-Sein nur den jenseitigen Mächten zugewandt“ (GSG 11: 843). Ähnlich wie Ernst Troeltsch in seiner Soziallehre der christlichen Kirchen scheint auch Simmel in der christlichen Religionsgeschichte Impulse für die Geburt moderner autonomer Individualitätsformen gesehen zu haben.5 Hier also gibt es einen ersten Hinweis darauf, dass Simmel die Religion nach 1900 zunehmend in eine normativ zentralere Perspektive rücken wollte: In der Entwicklung seines Denkens nach 1900 wird für Simmel deutlich, dass die Religion soziologisch nicht hinreichend als „soziale Beziehungsform“ zu charakterisieren ist; dass sie eher eine kategoriale Dimension des individuellen Bewusstseins und Erlebens bezeichnet; und dass im Laufe von Prozessen sozialer Differenzierung diese Dimension immer entscheidend für die Aufrechterhaltung von Formen bewusster Individualität ist.
4
Dazu auch Christoph Weber-Berg, Die Kulturbedeutung des Geldes als theologische Herausforderung. Eine theologische Auseinandersetzung mit Georg Simmels ‚Philosophie des Geldes‘, Zürich 2002.
5
Ernst Troeltsch, Die Soziallehre der christlichen Kirchen, Tübingen 1912, Bd. 2, 965f.
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Simmels Religionskonzeption ist als nicht-‚substantialistische‘ Theorie charakterisiert worden, die religiöses Verhalten nicht auf bestimmte historisch konkrete Kulturtraditionen und Dogmengeschichten zurückführt, sondern als vielmehr ‚funktionale‘ eher dem Ansatz Durkheims ähnelt. Tatsächlich spricht Simmel sowohl in seinen früheren als auch in seinen späteren Schriften von Religion als einer immer wiederkehrenden „Funktion des Lebens“, die sich häufig nicht nur in formalen Institutionen und Glaubensinhalten ausdrücke, sondern auch in dem, was Simmel gelegentlich als „religioide“ Aspekte des Lebens bzw. als „religiöse Halbprodukte“ bezeichnet.6 Religiöse und „religioide“ Dimensionen des Lebens, so Simmel wiederholt, bilden „ja kein fertiges Ding, keine feste Substanz, sondern ein[en] lebendige[n] Prozess“; und schon in „Zur Soziologie der Religion“ betont er, dass Religion „Ursprünge“ habe, die nicht nur historischen Charakters seien und die sich nicht nur in spezifisch historisch geformten Inhalten und kirchlichen Lehren niederschlügen (GSG 5: 284f.). Jedoch ist es wichtig, an dieser Stelle hervorzuheben, dass bedeutsame Differenzen zwischen den beiden Auffassungen der ‚Funktion‘ von Religion bestehen, die bei Simmel und Durkheim zu lesen sind (Krech 193ff.).7 Zwar schreibt Simmel über die Vereinigung der sozialen Gesamtheit in der Idee Gottes auf ähnliche Weise, in der Durkheim von Gott als „symbolischem Ausdruck der Kollektivität“ spricht. Jedoch geht es Simmel in seinen frühen Schriften nur um ‚Korrelation‘ und ‚Analogie‘ zwischen dem Sozialen und dem Göttlichen, nicht um deren Identität. Der Ursprung der Religion ist nach Simmel nicht ausschließlich in kollektiven Anschauungen, sondern primär in individuellen Gefühlen zu verorten, und diese „Gefühlsbedeutung der Religion“, betont er, sei „völlig unabhängig von allen Annahmen über die Art, wie diese Vorstellungen zustande gekommen seien“ (GSG 5: 286). Der ‚fait religieux‘, mit Durkheim gesprochen, geht Simmel zufolge in keinem ‚fait social‘ völlig auf. Diese bedeutsame Nuance in Simmels Denken zu Religion kann nun mit Bezug auf seine Monographie Die Religion erläutert werden, die einen Übergang zu seinem späteren lebensphilosophischen Werk darstellt und die den Versuch darstellt, Religion sowohl aus soziologischen bzw. psychologischen als auch von kulturphilosophischen Gesichtspunkten her zu betrachten und zu verstehen.
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Zu Simmels Neologismus „religioid“ GSG 10: 61. Dazu noch Horst Firsching, Emile Durkheims Religionssoziologie – made in Germany?, in: Krech, Tyrell, a.a.O., 351-363; Hartmann Tyrell, Von der ‚Soziologie statt Religion‘ zur Religionssoziologie, in: Krech, Tyrell, a.a.O., 79-127; ders., ‚Das Religiöse‘ in Max Webers Religionssoziologie, in: Saeculum 43 (1992), 172-230.
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Teilweise angeregt von seinem Schüler und Freund Martin Buber, in dessen Schriftenreihe Simmels Buch Die Religion im Herbst 1906 erstmals erschien, kann die Niederschrift dieses Textes zu diesem Zeitpunkt vielleicht als ein weiterer Grund dafür gesehen werden, dass Simmel auf religiöses Verhalten und religiöse Institutionen in seiner Soziologie von 1908 nicht so thematisch prominent einzugehen beschlossen hat. Bemerkenswert ist auch, dass Simmel erhebliche Teile aus seinem früheren Aufsatz „Zur Soziologie der Religion“ in den Text eingearbeitet hat. Es scheint also, dass dieses Buch – und nicht seine Soziologie – nach 1900 von Simmel als primäre Publikation seiner bisher entwickelten Gedanken zur Soziologie der Religion intendiert war (zur Entstehung und der Beziehung zu Buber Krech 159ff.). In vielen Passagen des Buchs sowie in etlichen verwandten Essays überlegt Simmel, wie unter modernen gesellschaftlichen Bedingungen Religion sich sowohl in objektiver institutioneller als auch in subjektiver Hinsicht als Dimension, Form und Funktion individueller „Lebensprozesse“ niederschlägt (Krech 109ff., 144ff.).8 Es gilt, so argumentiert er, zwischen „objektiver Religion“ und „subjektiver Religiosität“ zu unterscheiden, wobei im Laufe des Prozesses der Moderne zunehmend dem Subjektiven Vorschub geleistet werde. Religion sei aus dieser Perspektive nicht nur als etwas zu verstehen, das der Mensch ‚habe‘, sondern auch als etwas, was er ‚sei‘. Die ‚religiöse Form‘ bzw. die ‚religiöse Funktion‘ sei a priori im Fluss des Lebens als eine „Grundbeschaffenheit des Menschen“ gegeben, die sich in „einer rein funktionellen Gestimmtheit des inneren Lebensprozesses“ ausdrücke (GSG 14: 371; GSG 16: 202). Im Anschluss an Nietzsche und andere Philosophen legt Simmel nahe, dass sich die europäische Moderne zwar von der christlichen Kultur emanzipiert habe, jedoch noch in deren Schatten stehe. Es bleibt Simmel zufolge ein „Bedürfnis“ nach Religion, auch wenn dieses Bedürfnis heute, wie er schreibt, „seine Erfüllung überlebt“ habe (GSG 6: 491). Die Differenz von bleibendem Bedürfnis und obsoleter Erfüllung kann Simmel zufolge dadurch überwunden werden, „dass die Religion sich aus ihrer Substanzialität, aus ihrer Bindung an transzendente Inhalte zu einer Funktion, zu einer inneren Form des Lebens selbst und aller seiner Inhalte zurück oder emporbilde“ (GSG 14: 380). Aus lebensphilosophischer Perspektive kommt es also darauf an, Religiosität vor jeglicher Objektivierung als einen Modus zu begreifen, innerhalb dessen das Leben prozediert. Die
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In den Text eingegangen sind die Aufsätze Die Gegensätze des Lebens und der Religion (1905), Vom Heil der Seele (1903), Vom Pantheismus (1903) und Beiträge zu einer Erkenntnistheorie der Religion (1902). In die zweite Auflage von 1912 gingen auch die Essays Ein Problem der Religionsphilosophie (1905) und Die Persönlichkeit Gottes (1911) ein.
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„religiöse Funktion“ macht es in diesem Sinne möglich, dass verschiedene Kulturbereiche nicht zu verobjektivierten Formen erstarren, sondern in den Lebensprozess reintegriert werden können. Religion nach Simmel, so Krech, gleiche „den fundamentalen Gegensatz des Lebens aus, den Konflikt nämlich zwischen Prozeß und Form, insofern sie die Formen und die in ihnen kristallisierten Inhalte immer wieder zugunsten des reinen Prozedierens aufbricht und umgekehrt Formungen und ihre Inhalte als genuinen und notwendigen Bestandteil des Lebensprozesses zu begreifen ermöglicht“. Religion werde zu einem Kulturgebilde, das in der Lage sei, zwischen objektiver und subjektiver Kultur zu vermitteln, weil seine verobjektivierten Inhalte auf die individuelle Lebenspraxis zurückwirken können. Von besonderem Interesse in diesem Zusammenhang ist Simmels Deutung des Gottesverhältnisses des Gläubigen aus lebensphilosophischer Perspektive als Chiffre für ein Gefühl des Individuums, mit der Ganzheit des Daseins vereint zu sein und die Einheit des Weltganzen erfassen zu können (GSG 10: 54ff., 70ff.). So beschreibt Simmel wiederholt, etwa in „Die Gegensätze des Lebens und der Religion“ von 1904, wie unter Bedingungen fortgeschrittener gesellschaftlicher Differenzierung und Fragmentierung die Religion und insbesondere die Religiosität eine unerlässliche einheitsstiftende Funktion für das individuelle Erleben zu leisten habe (GSG 7: 295ff.). Religiosität vereinheitliche die widersprüchlichen Einzelerlebnisse des individuellen Bewusstseins und die Vorstellung Gottes fungiere so als der transzendente Bezugspunkt, der die Gegensätze des inneren Erlebens zu einer Ganzheit fassen könne. Im Fluss des individuellen Lebens, schreibt Simmel, zeigen sich bestimmte Sehnsüchte „nach der Ergänzung des fragmentarischen Daseins, nach der Versöhnung der Widersprüche im Menschen und zwischen Menschen [...] nach der Einheit in und über [der] verworrenen Mannigfaltigkeit“ (ebd.: 311; Krech 116). In einem Exkurs zur mystischen Theologie Meister Eckharts erkennt Simmel ein zentrales Spannungsverhältnis in der Struktur des religiösen Glaubens (GSG 10: 53f., 59ff.; Krech 211ff.). Der Gläubige wolle das Ganze der Welt und sich selbst eins mit dem Grund des Seins fühlen. Jedoch laufe die Gerichtetheit der gläubigen Seele an Gott als allgegenwärtige Präsenz in der Welt immer in Gefahr, dass deren menschliche Individualität ontologisch aufgelöst werde: Der Mensch, der in seinem Gott versinken will und nach Vereinigung mit dem All unter Befreiung von aller personalen Besonderheit strebt, behält seinen Gott, opfert aber sein individuelles Dasein. Die einzelne Seele wolle sich in Gott und Gott in sich haben, wisse sich aber schließlich von Gott getrennt. Zwischen diesen beiden Polen von Vereinigung und Getrenntsein pendele die gläubige Seele. Und ein analoges Spannungsverhältnis, fügt Simmel hinzu, wiederhole sich im Verhältnis zwischen Religion und empirischer sozialer Wirklichkeit: Einerseits stehe Religion als eine transzendente Macht im Leben und vereine so die „Gegensätze des Lebens“; andererseits aber stehe sie
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als eine autonome Welt der sozialen Wirklichkeit gegenüber und bleibe so nur „eine Partei innerhalb dieser Gegensätze“ (GSG 7: 302). Besonders in seinen letzten Schriften aus den Jahren des Ersten Weltkriegs weist Simmel dem Begriff des Lebens eine Vermittlungsrolle in den Konflikten und Polaritäten der modernen Kultur zu (etwa GSG 16: 197, 201). In der Verschränkung der Bereiche von Wissenschaft, Religion und Kunst als miteinander streitenden Sphären des Lebens argumentiert er, ergeben sich Möglichkeiten, die „Konflikte der modernen Kultur“ zumindest teilweise zu schlichten. In der Wechselwirkung zwischen Religion, Wissenschaft und Kunst sei es denkbar, erstarrte religiöse Glaubensvorstellungen wieder zu verflüssigen, ohne sie in rein säkular-humanistische Rationalitätsnormen aufgehen zu lassen. Der Begriff des Lebens impliziere also, dass alle modernen Menschen prinzipiell imstande seien, überlieferte religiöse Glaubensdogmen im Lichte spezifisch moderner Probleme erneut zu interpretieren, um sie dadurch aus ihrem eventuellen Zustand dogmatisch-metaphysischer Erstarrung zu lösen. Vor allem in seinem letzten philosophischen Buch, seiner Lebensanschauung aus dem Jahr 1918, deutet Simmel den Gedanken an, dass sich die Bereiche von Religion, Wissenschaft und Kunst im Laufe der Moderne zwar zunehmend voneinander entkoppeln (wie Max Weber bekanntlich auch zeigt), aber dennoch alle auf ein im Horizont des Lebens kategorial angelegtes Vermögen des praktisch wertenden Schlichtens und Vermittelns hinweisen (ebd.: 236ff.). Der Begriff des Lebens weise darauf hin, dass jedes handelnde Subjekt prinzipiell in der Lage sein sollte, zu verschiedenen Fragen der Existenz Stellung zu nehmen und sich zwischen verschiedenen ‚Welten‘ oder ‚Sphären von Werten‘ vermittelnd zu orientieren. So schreibt Simmel: „[U]nsere sämtlichen, aktiv oder passiv erlebten seelischen Inhalte [sind] Fragmente von Welten, deren jede eine besonders geformte Totalität von Weltinhalten überhaupt bedeutet“ (GSG 16: 243). Insofern „kursieren [wir] fortwährend durch sehr mannigfache Ebenen, deren jede prinzipiell die Welttotalität nach einer besonderen Formel darstellt, von deren jeder aber unser Leben nur jeweils ein Bruchstück mitnimmt“ (ebd.: 244). Jedoch, so fügt Simmel hinzu, verhält es sich so, dass „innerhalb der Dynamik des Lebensprozesses [diese Welten] verbunden [sind], wie die Wellen eines Stromes; [denn] es ist jeweils ein Leben, welches sie als seine, von ihm nun nicht abtrennbaren und deshalb auch untereinander nicht schlechthin trennbaren Pulsschläge erzeugt“ (ebd.: 244). Eine menschliche Fähigkeit zum hermeneutischen Sich-Auslegen und Sich-Orientieren im Fluss des Lebens, die Simmel die „Seele“ nennt, gründe sich, wie er bereits 1907 schreibt, auf eine Möglichkeit, „mit der Ergänzung der einen Welt aus der andern sich selbst als den Einheitspunkt beider zu fühlen, als die Kraft, die einen dieser Ströme aus dem andern speisen kann, weil jeder für sich aus ihr entspringt“ (GSG 8: 275). Dieser letzte Gedankengang kann nun mit Bezug auf Simmels Überlegungen zum Verhältnis zwischen Religion und Ästhetik aufgegriffen werden.
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In diversen Schriften zur Ästhetik und Kunstphilosophie überlegt Simmel, wie die beiden Kulturbereiche Religion und Kunst in verschiedenartigen Zweck-MittelVerhältnissen zueinander stehen und beide in der Lage sein könnten, auf konkurrierende Weise das Sein mit dem Sollen zu versöhnen. Für diese These sind besonders drei Texte von Simmel aufschlussreich. Einen ersten und relativ frühen Anknüpfungspunkt hierfür bildet der Aufsatz „Christentum und Kunst“ (1907), den Simmel drei Jahre später zu einem Essay über Malerei und Plastik Michelangelos erweitern wird. Als dritte und komplexeste Quelle gilt Simmels umfangreiche philosophische Rembrandt-Monographie aus dem Jahr 1916. In „Christentum und Kunst“ reflektiert Simmel darüber, wie Religion und Kunst sowohl Anziehungs- als auch Abstoßungseffekte aufeinander ausüben können. Beide Bereiche haben gemein, „daß das eine wie das andere seinen Gegenstand in eine Distanz, weit jenseits aller unmittelbaren Wirklichkeit hinausrückt – um ihn uns ganz nahe zu bringen, näher, als je eine unmittelbare Wirklichkeit ihn uns bringen kann“ (ebd.: 264). So wie eine Religion „den Gott ins ‚Jenseits‘ [...] drängt“, um ihn dem Gläubigen doch als „das Nächste und Vertrauteste“ erscheinen zu lassen, bringe ein Kunstwerk, obgleich fern vom alltäglichen Leben, die Inhalte des Lebens uns näher als sie uns in der Form der Wirklichkeit erscheinen könnten (ebd.: 264f.). Analog zum Verhältnis des Gläubigen zu seinem Gott spüre der Zuschauer eines Kunstwerks, der sich vom Werk ‚ergriffen‘ fühlt, „sein ganzes Ich wirksam [...] als den Träger einer überpersönlichen [...] Gesetzlichkeit und Seinsbedeutung“ (ebd.: 265). Sowohl Kunst als auch Religion erschließen in diesem Sinne „ein absolut für sich existierendes Sein“, das „zum innersten [...] Besitztum der Seele“ werde (ebd.: 266). Zwar können Kunst und Religion „nicht ineinander übergreifen, weil eine jede schon für sich, in ihrer besonderen Sprache, das ganze Sein ausdrückt“ (ebd.: 275), dennoch können beide sich wechselseitig vervollständigen. Diese Überlegungen veranschaulicht Simmel, indem er beschreibt, wie das Christentum, auch wenn es sich manchmal der Kunst gegenüber feindlich verhält, bestimmte künstlerische Ausdrücke menschlicher körperlicher Bewegungen erwecken und durchdringen kann. In partiellem Gegensatz zur Kunst nicht-okzidentaler Kulturen wie z.B. zur indischen und japanischen Plastik, meint Simmel, erregen Kunstgegenstände in christlichen Kulturen bestimmte Formen „seelischer Innerlichkeit“ (ebd.: 266).9 So weisen die beiden christlichen Bildformen der Madonnaund-Kind und der Kreuzigung bestimmte anschauliche Strukturen von innerlich-
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Zu Simmels Auffassung japanischer Kunst etwa sein Berliner Kunstbrief von 1896, GSG 17: 321-326.
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‚seelenhafter‘ Einheit in der Differenz auf. Im ersteren Falle überwinde die Kunst einen formalen bildlichen Gegensatz zwischen dem Für-sich-Sein und dem Füreinen-anderen-Sein der Mutter und Mütterlichkeit generell (ebd.: 268f.). Überhaupt bringe christliche Kunst, im Unterschied zur Kunst der klassischen Antike, einzelne menschliche Gestalten in inneren Verbindungsverhältnissen zueinander. Wo die Beziehungen der klassischen Götter und Heroen eher „anekdotischer Art“ seien, neigten einzelne Personen in christlichen Bildern und ikonischen Formen dazu, in wesentlichen Beziehungen zueinander zu stehen (ebd.: 269). Man sehe so in christlichen Bildern, wie Johannes und Maria um Jesus willen da seien, genauso wie Jesus für alle da sei oder wie die Heiligen um der Gläubigen oder Ungläubigen willen da seien: Man sehe im allgemeinen, wie „die Kirche [...] die gesamten Stufen des christlichen Lebens in einem Organismus wechselwirkender Glieder [umschlingt]“ (ebd.). Im Unterschied zur Antike, fügt Simmel hinzu, werde diese christliche Leistung auch besonders durch die Malerei vollzogen; denn die Malerei biete die angemessenste Darstellungsform für „Relationen mehrerer Persönlichkeiten“, während die Plastik, die in der griechischen Antike den Vorrang hatte, vor allem „die sich selbst genügende Einzelgestalt“ präsentiert (ebd.; GSG 15: 466ff.). Insbesondere schlägt Simmel vor, dass die ‚Kreuzigungsform‘ bildlich verständlich mache, wie ein Leichnam, dem der Geist fehle, und wie ein Stück Materie der bloßen Gravitation folge, dennoch ein „bewegendes Zentrum“ des Bildes sein und „lebhafte Erregungen“ um es herum erwecken könne (GSG 8: 270). Hier werde die „tiefe Paradoxie des Christentums“, dass „der Seele das eigentlich Unmögliche zugemutet wird, [...] daß die Seele hier vollbringt, was sie nicht kann“, auf bildliche Weise und „mit anschaulicher Überzeugungskraft“ ausgedrückt und gelöst (ebd.: 271). Im Schlussteil des Aufsatzes interessiert Simmel v.a. die Frage, wie sich die Darstellung des Leidens in christlicher Kultur und Kunst von der antiken Erfahrung der Trauer unterscheidet. Im Christentum gerate das Leiden zu einem solchen, das „nicht zur Trauer umgeformt“ werde (ebd.: 273). In der Kreuzigungsform und anderen christlichen Bildformen, in der Passion Christi und den Qualen der Märtyrer empfinde man kein reflexives „Leiden über das Leiden“ sondern eine „primäre Schmerzlichkeit des Schicksals selbst“ (ebd.). Im Christentum werde aus dem Leiden „etwas Wertvolles“, das keine bloße „Bürde auf dem Weg“ der Seele werde, die es abzuwerfen gelte; und für dieses Leiden werde also eine „ästhetische Möglichkeit und bildnerische Gestaltung gefunden“, die uns zu verstehen gebe, dass der Tod „nicht nur eine Befreiung von der Last des Lebens“ sei, sondern durch das Opfer Christi „der Gipfel des Lebens selbst [werde], als seine eigentliche Weihe und die gleichsam positiv ausgedehnte Stufe, die der Seele zwischen dem Diesseits und dem Jenseits bestimmt ist“ (ebd.: 274). Die Darstellung des Leidens verliere also in der christlichen Kunst den Depressionscharakter, den es in der griechischrömischen Antike aufweise. Hier erscheine das Leiden „nicht mehr als der feindliche Zerstörer des Lebens“, sondern werde „von einem Sinne durchgeistigt, der [...]
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es zu einem neuen Werte und Aufgabe macht“ (ebd.: 275). Das Christentum entdecke so „den ästhetischen Wert des Leidens“ und verleihe „seiner religiösen Bedeutung die Sprache der Anschaulichkeit“ (ebd.).10 In seinen zahlreichen Schriften zu Künstlern von Michelangelo und Rembrandt über Goethe bis hin zu George und Rodin bemerkt Simmel, wie im Ausgang des christlichen Mittelalters in Europa der Prozess der ästhetischen Versinnlichung und irdischen Veranschaulichung religiöser Werte immer weiter gesteigert und intensiviert wird. Ungefähr ab dem 16. Jahrhundert werden die Symbole der christlichen Mysterien, so Simmel, nicht mehr „in ihrer metakosmischen Erhabenheit“ dargestellt, wie in der byzantinischen Kunst (GSG 15: 452). Seit spätestens der Renaissance finde ein Prozess statt, bei dem transzendente christliche Glaubensvorstellungen immer mehr in der sinnlichen ‚Diesseitigkeit‘ ihrer irdischen Formen wiedergefunden würden. Simmel zufolge setzte diese Wende dramatisch mit der Malerei Michelangelos ein.11 In diesem komplexen Aufsatz über Michelangelo weist Simmel unter anderem darauf hin, dass der verzweifelte Ausdruck der menschlichen Gestalten, die an Michelangelos berühmten Bildern in der Sixtina-Kapelle zu sehen sind, im Sinne einer ernsthaften „religiösen Sehnsucht“ zu deuten ist, die fortan nur auf der „Ebene des Irdischen“ verlaufen könne (GSG 14: 319). Michelangelos Gestalten, meint Simmel, seien „zwar überempirisch, aber nicht überirdisch“; woraus folge, dass das, was sie „innerlich blicken“ eher „ein irdisch Mögliches, wenn auch nie Wirkliches“ sei (ebd.). Deren „ungeheures Bedürfnis nach Erlösung“ gelte „freilich einem Absoluten, Unendlichen, Unerreichbaren – aber unmittelbar und eigentlich keinem Transzendenten“ (ebd.). In diesem Sinne, so Simmel, beginne mit Michelangelo eine epochale „Achsendrehung“ des christlichen religiösen Geistes in Richtung des Irdischen, bei der religiöse Heilsideen zunehmend „enttranszendentalisiert“ werden. „Die religiöse Sehnsucht, wie das Christentum sie erweckt und die Gothik sie gestaltet hatte“, schreibt Simmel an einer Schlüsselstelle, „ist wie durch eine Achsendrehung in die Richtung des Irdischen, des seinem Sinne nach Erlebbaren, obgleich nie Erlebten gefallen; sie hat die ganze Leidenschaft, das ganze Ungenügen an allem wirklich Gegebenen, die ganze Absolutheit eines ‚Dahin, Dahin‘ mitgebracht –
10 Dass dieser Essay Anlass von Walter Benjamins Reflexion über ‚Trauer‘ in seinem Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928) gewesen sein könnte, ist unwahrscheinlich, wäre aber zu untersuchen. Zum Gedanken der Todespräsenz im abendländischen Religionsdenken und der Metaphysik kommt Simmel im dritten Kapitel seiner Lebensanschauung, GSG 16: 297-345, zurück. Dazu Michael Theunissen, Die Gegenwart des Todes im Leben, in: Ders., Negative Theologie der Zeit, Frankfurt/M. 1991, 197-218. 11 Michelangelo und die Metaphysik der Kultur, GSG 12: 111-136; neu abgedruckt als Michelangelo in GSG 14: 304-329. Der Text erschien in Logos im Herbst 1910.
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hat in die Welt mitgebracht, was aus und in der Beziehung auf die Überwelt entstanden war“ (ebd.: 320). In diesem Sinne sind Michelangelos malerische Figuren für Simmel solcher Art, dass sie in ihrer irdischen Unvollkommenheit nicht mehr nach überirdischer Erfüllung streben können und gerade deshalb sehen sie „hoffnungslos ins Leere“ (ebd.). Es habe sich in Michelangelos Schaffen „ein Widerspruch zwischen der Form des begehrenden und strebenden Lebens und seinem Inhalt aufgetan“; denn „der Inhalt, den jene jetzt aufnehmen soll, ist ihr nicht innerlich adäquat, da sie sich an einem ganz anderen gebildet hat“ (ebd.). Während bisher die Kunst „dem Menschen das ersehnte Unendliche in einer endlichen Weite“ zeigte, rücke in Michelangelos Bildern jetzt umgekehrt „ein ersehntes Endliches in unendliche Weite“ (ebd.). In diesem Sinne habe Michelangelos Lebensprinzip den Maler in einer tragischen „Spannung zwischen einer transzendenten Leidenschaft und ihrer körperhaften und notwendig inadäquaten Ausdrucksform“ verstrickt (ebd.: 321). In den Qualen dieser Spannung versinnfällige sich nur, dass der Maler „einem transzendenten, absoluten Ideal nach den Bedingungen seiner Zeit und Persönlichkeit nur mit den Mitteln und in der Linie eines erdhaften Daseins zustrebte und über die Brückenlosigkeit des Abgrunds zwischen beiden erschauerte“ (ebd.: 326). Simmels allgemeine kunst- und religionsgeschichtliche These kann man demnach so zusammenfassen, dass eine epochale Verlagerung der religiösen Achse in christlicher Kunst nach irdischer Diesseitigkeit mit Michelangelo und mit anderen Repräsentanten der italienischen Renaissance zwar beginnt, sich jedoch nicht wirklich mit ihnen vollendet. Bei manchen Malern der Trecento, bemerkt Simmel an anderer Stelle, „strömt in die abgeschlossene Feierlichkeit des Heiligenbildes ein Ton lyrischer Menschlichkeit“. Unter den Meistern der Quattrocento und Cinquecento sei – von Michelangeo abgesehen – dagegen noch eine „erstaunliche Objektivität“ des Religiösen vorhanden (GSG 15: 453). Bei Fra Angelico werde das Irdische nur „entirdischt, um am Göttlichen teilzunehmen“; und in Leonardos Abendmahl sei unter den Jüngern um Christus herum ein Hauch stolzer Individuierung zu spüren, die sich Simmel zufolge schwer mit einer eher irdisch verwurzelten Religiosität im Sinne einer Stimmung vertrage, die sich über die Gesamtheit des Bildes ergieße und die einzelnen Figuren zu ihrem Gefäß mache (ebd.: 459, 467). Typischerweise ragen Personen in Renaissancebildern mit einer solchen „monumental statuenhaften Aufgipfelung ihrer Individualität“ über das Bild hinaus, die laut Simmel etwas nur „neben dem spezifisch Religiösen“ darstellen könne (ebd.). Erst dem nordeuropäischen 17. Jahrhundert gelange mit Rembrandt die epochale Wende zur diesseitigen ‚Frömmigkeit‘ des Religiösen kunstgeschichtlich zu ihrem vollsten Erscheinen. Wo im Mittelalter und noch in der italienischen Renaissance „die Frömmigkeit wie eine Substanz ausgegossen [ist], die die einzelnen Menschen durchdringt“ und insofern „immer noch unmittelbar mit ihrem transzendenten Gegenstand verbunden“ ist, seien jetzt Rembrandts Bilder „vom Klosterprinzip so-
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weit wie möglich entfernt“ (ebd.: 456, 459). Mit Rembrandt werde Simmel zufolge alle „Formallgemeinheit der Kunst“, die in der Renaissance noch „der Inhaltsallgemeinheit des Katholizismus entsprach“, nun zum ersten Mal endgültig überwunden (ebd.: 468).12 Simmels zwischen 1913 und Dezember 1915 verfasste Monographie zu Rembrandt stellt nicht nur den Höhepunkt seiner weitreichenden Überlegungen zur Philosophie der Kunst dar, sondern bietet auch eine Menge kunstgeschichtlich elaborierter Verfeinerungen seiner allgemeinen Ideen zu religiös vermittelten Individualisierungs- und Subjektivierungsprozessen in der Moderne.13 Bei der Lektüre des Buches ist es jedoch zunächst wichtig, im Auge zu behalten, dass Rembrandt für Simmel keinen nordeuropäischen kulturnationalen Talisman darstellte, etwa nach der Art von Julius Langbehns einflussreichem populären Porträt von 1890.14 Obwohl Simmel den ‚germanischen‘ Kunststil schon hier in Rembrandts Malerei verkörpert sieht und in einem späten Aufsatz dem ‚klassisch-romanischen Stil‘ des Südens überordnet (GSG 13: 313-320), darf man in dieser Dichotomie keine einfache
12 Als eine weitere Kontrastfolie in dieser Beziehung nennt Simmel auch Rembrandts flämisch- katholischen Zeitgenossen Rubens, über dessen Ildefonso-Altar er schreibt: „Die absolute Erhabenheit des göttlichen Daseins ist hier zwar vermenschlicht, aber indem dies mit dem soziologischen Cachet der ‚Vornehmheit‘ geschieht, ist die Ablehnung jeder inner-seelischen Religiosität des Subjektes, die sich in den künstlerischen Gestaltungen darlebe, fast in die Form der Offensive übergegangen“, GSG 15: 454. Dies führt Simmel dann zur weiteren Bemerkung: „Daß die Darstellung des Göttlichen von einer menschlich-persönlichen Religiosität her bestimmt sein sollte, wäre hier ebenso unpassend erschienen, wie es nach der Anschauung der Zeit gewesen wäre, daß die Untertanen sich unmittelbar den Kaiser wählten“, ebd. 13 Zu den kunstgeschichtlichen Quellen des Buches Uta Kösser, Simmels ‚Rembrandt‘, in Simmel Studies 13/2 (2003), 439-483. Zu Simmels allgemeinen kunstphilosophischen Ideen Ingo Meyer, ‚Jenseits der Schönhheit‘. Simmels Ästhetik – originärer Eklektizismus?, in: Georg Simmel. Jenseits der Schönheit. Schriften zur Ästhetik und Kunstphilosophie, ausgew. u. m. e. Nachw. v. Ingo Meyer, Frankfurt/M. 2008, 399-434; sowie sein Beitrag in diesem Band; Ute Faath, Mehr-als-Kunst. Zur Kunstphilosophie Georg Simmels, Würzburg 1998. 14 Julius Langbehn, Rembrandt als Erzieher, Leipzig 1890. Hintergründe bei Fritz Stern, The Politics of Cultural Despair: A Study in the Rise of the Germanic Ideology, Berkeley 1961. Von Simmel wurde Langbehns Buch schon 1890 kurz nach seinem Erscheinen kritisch rezensiert, GSG 1, 232-242.
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kulturnationalistische Darstellung vor dem Hintergrund des Krieges sehen.15 Zudem ist hervorzuheben, dass Simmel die Wende zur individualisierten religiösen Innerlichkeit keineswegs dem Protestantismus reserviert; die neue Stimmung laufe über beide Konfessionen (GSG 15: 452). Vor allem im letzten Kapitel des Buches zum Begriff der ‚religiösen Kunst‘ greift Simmel seine früher entwickelten Gedanken zu Religion als „Charakter gewisser Binnenereignisse des Lebens“ wieder auf (ebd.: 462). In der religiösen Kunst der frühen Neuzeit sei eine besondere religiöse „Färbung“ menschlicher Beziehungen zu sehen, die sich in einer „Mischung von Hingebung und Eigenleben, von Demut und Erhebung, von sinnlich warmer Nähe und scheuer Distanzierung, von Vertrauen und Preisgegebenheit“ ausdrücke (ebd.; ferner GSG 5: 265; GSG 10: 57). Im Falle Rembrandts sei „eine im reinen Sinne religiöse Gestimmtheit als Lebensgrundlage [...] von vornherein vorhanden“ (GSG 15: 462). In Rembrandts Szenen erscheine das religiöse Moment des Lebens nicht nur „im Weiterwachsen und SichVereinigen von Gefühlen und Impulsen“, sondern sei „selber ein Primäres“, das die Singularitäten des Daseins „mit Richtung und Stimmung ausstattet“ (ebd.: 463). Wo manche Stilleben und Landschaften von anderen Malern eine „Ahnung universeller Zusammenhänge, eine überschwengliche Seligkeit am Dasein“ mitteilen, die als religiös zu bezeichnen sei, erschließt sich auf unmittelbarerer Weise an Rembrandts Gestalten eine religiöse „Atmosphäre“, die „kein ihnen selbst entsteigender Gewinn, sondern [...] die ihr apriorischer Wesensgrund“ sei (ebd.). Entscheidend für Simmels lebensphilosophische These zum niederländischen Maler ist, dass Rembrandts Bibelszenen weniger objektiv gegebene religiöse „Inhalte“ als „religiös durchgeistete“ Erfahrungen, Beziehungen und Situationen mitteilen. Rembrandts Menschen, so Simmel, „haben [...] nicht Religion als einen objektiven Lebensinhalt, sondern sie sind religiös“ (ebd.: 459). Das Religiöse an Rembrandts Gestalten sei „nicht die Ausstrahlung eines Inhaltes [...], sondern ein Lebensprozeß, eine Funktion, die sich nur innerhalb des Individuums vollziehen kann“ (ebd.: 469). In Rembrandts Bildern sei also keine „objektive Beziehung zwischen Mensch und Gott“ zu sehen, sondern wichtig für ihn sei vielmehr „dasjenige inner-eigene Sein des Menschen, an das sich oder aus dem sich überhaupt erst die Beziehung zu seinem Gott knüpft“ (ebd.: 461). Das Religiöse bei Rembrandt sei insofern „immer ein Tun oder ein Sosein der Menschenseele“ (ebd.: 455). So kommentiert Simmel etwa Rembrandts Radierung „Christus und die Samariterin am Brunnen“ aus dem Jahr 1659, im Vergleich zu der Frau scheine Rembrandts Christus „beinahe ein Schatten, substanzlos“ zu sein (ebd.: 469). Doch bei genauerer An-
15 In diesem Essay ist besonders der folgende Satz zu erwähnen: „Damit ist nicht die erste Entscheidung [für den klassisch-romanischen Stil, A.H.] deklassiert, als wäre sie etwas im Wertsinne ‚nur Äußerliches‘, als wäre die Form etwas nur Formelles“, GSG 13: 319.
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sicht sehe man, dass „dieses schwache, wie schwankende Wesen doch das einzig wirklich feste [ist]; alle die andern, starken und substanziellen Gestalten sind ihm gegenüber unsicher und wie entwurzelt“ (ebd.). Die Präsenz von Christus im Bild sei insofern „nicht durch einen Strahl vom Transzendenten her erreicht, nicht dadurch, daß irgendeine Andeutung den Heiland als einer andern Ordnung im objektiv-metaphysischen Sinne angehörig zeigte“ (ebd.). An einer anderen Stelle erörtert Simmel Rembrandts „Auferstehung Christi“ in dessen fünf Passionsszenen für den Fürsten Frederik Hendrik aus den Jahren 1635-39 (ebd.: 478). In ähnlicher Weise bemerkt er hier zum Kopf Jesu: „Keinerlei sinnlich-malerische oder mystischreligiöse Betonung liegt auf diesem Kopf, sondern das ganz Einfache: es ist die Seele, die als Seele nicht von dieser Welt ist – aber auch nicht von jener“. Diese „Seele“, hier in Simmels besonderem lebensphilosophischen Sinne gemeint, liege „jenseits des [...] Gegensatzes, in den hier Erde und Himmel gestellt sind“ (ebd.). Die hier gemeinte Seele, so könnte man mit Simmel sagen, stellt in malerischer Form die in der Immanenz des irdischen Lebens wiedergefundene Transzendenz dar, die Simmel mit dem großen in der Neuzeit seit der Renaissance stattfindenden Prozess einer „Achsendrehung“ des Geistes verbindet. Im Kern des Kapitels zu Rembrandts religiöser Kunst steht eine Unterscheidung, die Simmel zwischen dem Begriff der „Darstellung des Religiösen“ und der „religiösen Darstellung“ trifft. Im Falle Rembrandts, argumentiert Simmel, sei „das Darstellen selbst, die künstlerische Funktion des Bildes, sozusagen die manuelle Führung von Nadel, Feder, Pinsel [...] religiös durchgeistet; die Dynamik des Schaffens selbst hat den eigentümlichen Ton, den wir religiös nennen“ (ebd.: 480). Rembrandt nehme also nicht einfach religiöse Motive auf und überforme sie künstlerisch. Vielmehr wird „[b]ei Rembrandt [...] die Malerei selbst von dem allgemeinen Grundmotiv des dargestellten Vorganges, dem Religiös-Sein, getränkt“ (ebd.: 481). Seine religiöse Malerei sei insofern „ein Formungsgesetz des Schaffens selbst, das [...] in dem Geschaffenen anschaulich ist“ (ebd.: 482). Rembrandt behandle Luft und Licht in seinen Gemälden auf eine solche Weise, dass alle Personen in einer besonderen, bildlich vermittelten religiösen „Einheitsart“ miteinander verwoben werden (ebd.: 468). In einer Ausführung zum Gemälde Ruhe auf der Flucht nach Ägypten aus dem Jahr 1647 beschreibt Simmel, wie Joseph und Maria „vom Licht umgriffen“ seien, „um eine Totalität zu tragen, die den gleichen Charakter der rein inneren Verklärtheit offenbart, des Irdischen, das ein Überirdisches ist, ohne über sich selbst hinauszugreifen“ (ebd.: 484). Licht und Beleuchtung verhalten sich im Gemälde wie „die religiöse Weihe, das Zeichen des Von-Gott-Seins in der Atmosphäre, in der räumlichen Welt um uns herum“ (ebd.). Die Rembrandt-sche Praxis religiöser Darstellung taucht also direkt in die ‚Musik‘ des Religiösen ein, und nimmt insofern keine rein „unmusikalische“ Haltung zum Phänomen des Religiö-
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sen ein – um auf Max Webers berühmten Ausspruch anzuspielen.16 Oder mit Martin Heidegger gesprochen: das Religiöse an Rembrandts Gemälden wirkt wie ein „Wahrheitsgeschehen“, an dem das Sein der Welt ‚gelichtet‘ wird.17 In einer religionssoziologisch besonders aufschlussreichen Passage präzisiert Simmel weiter, wie sich Rembrandts Weltanschauung von zwei anderen verwandten Formen religiös vermittelter moderner Subjektivität unterscheidet (ebd.: 457ff., 468ff.). Einerseits ruhe die bei Rembrandt erscheinende religiöse Frömmigkeit auf keinem „Aufschwellen der Seele über sich selbst“ im Sinne mystischer Lehren einer Verschmelzung individueller Seelen mit Gott (ebd.: 457f.).18 Andererseits grenze sich Rembrandts Weltbild nicht nur von lutherischen sondern auch von calvinistischen Formen protestantischer kirchlicher Autorität ab. So ähnlich wie Max Weber die entscheidenden Träger des neuen Ethos ‚methodischer Lebensführung‘ in den asketisch lebenden, autonomen protestantischen Sekten sieht, betont Simmel Rembrandts Nähe zu niederländischen Kreisen im 17. Jahrhundert, die ein starkes Miss-
16 Max Weber, Brief an Ferdinand Tönnies v. Februar 1909, in: Ders., Gesamtausgabe, hg. v. Horst Baier u.a., Tübingen 1984ff., Bd. II/6: Briefe 1909-1910, hg. v. M. Rainer Lepsius u.a., 63-66, hier 65: „Ich bin zwar religiös absolut unmusikalisch und habe weder Bedürfnis noch Fähigkeit, irgendwelche seelischen Bauwerke religiösen Charakters in mir zu errichten. Aber ich bin nach genauer Selbstprüfung weder antireligiös noch irreligiös“. 17 Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks (1936), Einf. v. Hans-Georg Gadamer, Stuttgart 1986, 50f. Zu Simmel und Heidegger Michael Großheim, Von Georg Simmel zu Martin Heidegger, Bonn 1991. 18 Mystik nach Simmel heißt stricto sensu, „daß die innere Lebensbewegung als mit dem Göttlichen identisch empfunden wird. Setzt man ihr Wesen in das Geheimnisvolle, Dunkel-Tiefe, mit rationalen Begriffen nicht zu Erschöpfende, so begeht man die populäre Verwechselung des Mystischen mit dem Mysteriösen, das, als etwas rein Formales, allen möglichen Innerlichkeiten und Äußerlichkeiten zukommt. Daß das Erlebnis, aus dem eigensten Zentrum der Seele hervorbrechend, zugleich ein Ereignis des göttlichen Lebens ist (gewissermaßen nur auseinandergezogen in der Eckhartschen Lehre, daß Gott des Menschen so bedarf, wie der Mensch Gottes); daß der Mystiker die Gottheit nicht, als ein Objekt, erlebt, sondern daß er sie unmittelbar lebt und sich dazu keineswegs zu entselbsten braucht, sondern nur zu entindividualisieren (weil das Unterschiedliche der Individualität etwas Fremdes und Zufälliges um den Kern des Selbst herum ist); daß das Ich, ohne sich selbst zu verlassen, doch unendlich viel mehr ist, als ein bloßes Ich (wie es Plotin von der Ekstase sagt, mit ihr käme nicht der Gott in den Menschen, sondern zeigte gerade, daß er nicht zu kommen braucht, weil er immer in ihm wäre) – das ist das logisch freilich nicht zu bewältigende Wesen der Mystik. Aber dieses Aufschwellen der Seele über sich selbst liegt Rembrandt ganz fern“, GSG 15: 457f.
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trauen gegenüber den calvinistischen Kirchen hegten (ebd.: 468). Zwar könne die calvinistische Prädestinationslehre an Rembrandts Menschenbild mitgewirkt haben, dennoch habe das Religiöse an seiner Vision nichts mit einer von den calvinistischen Kirchen gepredigten „göttlich vorordneten, von einem bestimmten objektiven Glaube geleiteten Lebensordnung“ gemeinsam (ebd.: 459; 473). Zwar stimme es, führt Simmel fort, dass der calvinistische Gott die Bewegungsgesetze der Welt setze, um in einem gewissen Sinne dann von der Welt zurückzutreten, so dass die Normen der Welt „in ihre irdische Heimat eingewurzelt und aus deren eigenen Tatsachen und Relationen herleitbar“ zu scheinen (ebd.: 475). Jedoch bleibe bei der calvinistischen Weltanschauung der Gedanke einer objektiven Ordnung erhalten, für die das Reich Gottes „der Zweck schlechthin“ sei und in der das irdische Reich nur „behandelt [wird], als ob es Zweck wäre“ (ebd.). Das menschliche Individuum im Calvinismus, so Simmel, bilde dann „nur die Brücke, über die hin, oder der unentbehrliche Stoff, an dem sich gleichsam der Verkehr jener beiden [Reiche] vollzieht“ (ebd.). Das Individuum habe dann „innerhalb der Ebene der Relativität, die ihm zugewiesen ist, nicht die absolute Bedeutung“, weil eine absolute Bedeutung letzten Endes allein „dem Sachwert, der überpersönlichen Struktur des Individuellen und vor allem des Gemeinschaftslebens“ zukomme (ebd.). Rembrandts Weltbild dagegen lehne die Vorstellung einer objektiv gesetzten Lebens- und Werteordnung entschieden ab.19
19 Hier ist es schwer zu bestimmen, ob Simmel sich mit dem Werk Webers oder Ernst Troeltschs in seinem Denken zu Protestantismus und Calvinismus auseinandergesetzt hat. Bemerkenswert sind allerdings seine kurzen Ausführungen zu Protestantismus und Wirtschaft in Die Religion, die äußerst selten in der riesigen Literatur über Webers These zur Protestantischen Ethik zitiert werden. An einer Stelle schreibt Simmel fast analog zu Weber: „Das Leben der Puritaner zeichnete sich durch eine bis ins Krankhafte gesteigerte Bewußtheit jedes Lebensmomentes aus, durch die bewußteste Rechenschaft über jegliches Tun und Denken – und zwar, weil die religiöse Norm alle Einzelheiten des Lebens sich vorbehaltlos untertan gemacht hatte und keiner anderen Sanktionierung ein wirkliches Recht zuerkannte“, GSG 10: 57f. An einer anderen Stelle kommt Simmel sogar auf „Entzauberung“ zu sprechen, GSG 10: 99. Jedoch sollte betont werden, dass Simmels Darstellung des Themas ‚subjektiver Religiosität‘ in bestimmten Hinsichten von Webers Begriff der „innerweltlichen Askese“ abweicht. Rembrandt stellt für Simmel kein Beispiel für eine berechende, rationale und methodische Lebensführung im Sinne von Max Webers ‚Berufsmensch‘ dar. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, hg. v. Marianne Weber, Tübingen 1920, 185f., verweist zwar in der protestantischen Ethik auf Rembrandt und zitiert den führenden Rembrandtforscher der Jahrhundertwende, Carl Neumann, dessen Rembrandt-Studie von 1902 Weber sehr beeindruckte: „Wer vor Rembrandts ‚Saul und David‘ [...] steht“, heißt es bei Weber, „glaubt die mächtige Wirkung
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Zusammenfassend kann man sagen, dass Simmel in Rembrandt eine exemplarische, modern-kreative Persönlichkeit gesehen hat, deren Kunstwerke auf eine einzigartig nicht-diskursive Weise einen Fundus lebensorientierender Einsichten bietet, an Hand derer die wichtigsten metaphysischen Probleme des modernen Lebens erhellt werden können. So hätte Simmel ebenso über Goethe oder Nietzsche sagen können, was er auf der letzten Seite seines Michelangelo-Aufsatzes schreibt: „Die Idee, zu deren Märtyrer Michelangelo wurde, scheint zu den unendlichen Problemen der Menschheit zu gehören: die erlösende Vollendung des Lebens im Leben selbst zu finden, das Absolute in die Form des Endlichen zu gestalten“ (GSG 14: 328).
puritanischen Empfindens direkt zu spüren. Die geistvolle Analyse der holländischen Kultureinflüsse in Carl Neumanns ‚Rembrandt‘ dürfte wohl das Maß dessen bezeichnen, was man zur Zeit darüber wissen kann, inwieweit dem asketischen Protestantismus positive, die Kunst befruchtende, Wirkungen zuzuschreiben sind“. Wie Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild (1926), München 1989, 283; berichtet, hatte Weber eine Reproduktion von Rembrandts „Saul und David“ in Den Haag 1903 gekauft und drückte in einem Brief seine Begeisterung für die Rembrandtsche Art aus, einen Naturalismus des Alltags religiös zu durchgeistigen. Dazu auch Joachim Radkau, Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München 2005, 368. Auch in seinen Antikritiken zur Protestantischen Ethik bezieht sich Weber noch einmal auf Rembrandt als Gegenstück zum katholischen Lebensgefühl des flämischen Malers Rubens und erinnert Baudelaires Konstrastierung der beiden Maler im Gedicht Les Phares aus den Fleurs du Mal; Weber, Antikritisches zum ‚Geist‘ des Kapitalismus (1910), in: Die protestantische Ethik II: Kritiken und Antikritiken, hg. v. Johannes Winckelmann, Gütersloh 1978, 180; dazu ferner David Chalcraft, Austin Harrington (Hg.), The Protestant Ethic Debate: Max Weber‘s Replies to his Critics, 1907-1910, Liverpool 2001, 80. Später kommentiert Marianne Weber Rembrandts Sauldarstellung als den „unheilvolle[n] Jammer dessen, der als Werkzeug erwählt war, sich nicht bewährte und von Gott verworfen ist“, dies., Erfülltes Leben, Heidelberg 1946, 223f. Höchstwahrscheinlich hat auch Simmel Carl Neumanns Buch gelesen, das den ‚beseelten‘ Naturalismus der Rembrandtschen nordischen Malerei mit der Idealisierung weiblicher und männlicher Nacktheit in der Malerei und Plastik Italiens kontrastiert hatte. Jedoch lässt sich feststellen, dass der eher expressive und metaphysisch introspektive Aspekt der Rembrandtschen Lebensanschauung, der Simmel so interessiert, Webers Individualismusparadigma fern steht. In der vierten Auflage seines Buches lehnte Neumann Simmels lebensphilosophische Thesen zu Rembrandt scharf ab, Neumann, Rembrandt, München 41924, Bd. I, 30ff.; Bd. II, 461. Ob Weber dem Tenor dieser späteren Kritik Neumanns an Simmel hätte zustimmen können, ist schwer zu sagen; allerdings hat Weber Simmels Rembrandt-Buch wahrscheinlich nicht gelesen.
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Unbestreitbar ist es, dass Simmels religionstheoretische Überlegungen sich fast ausschließlich auf europäisch-christliche Kulturerscheinungen beziehen. Zu Recht erinnert Volkhard Krech daran, dass Simmels Religionssoziologie überwiegend auf Vorgaben der christlichen Vorstellungswelt ruht und entsprechend nur für diejenigen Vergesellschaftungsprozesse gilt, die auf der christlich-abendländischen Geistesgeschichte basieren. In vielerlei Hinsicht stellt Simmel tatsächlich ein sehr charakteristisches Beispiel für den Typus des bürgerlichen deutsch-jüdischen Gelehrten dar, der sich im späteren 19. Jahrhundert, teilweise aus Assimilationszwängen, stark mit einem aus der Goethezeit stammenden deutschen humanistischen und generell europäisch-christlichen Bildungsideal identifizierte (Krech 254). Dennoch ist nicht prinzipiell ausgeschlossen, dass Simmels allgemeine ‚christozentrische‘ Auslegungen eine breitere religionssoziologische Gültigkeit nahelegen. Ob sein philosophisches Religionsdenken in kulturvergleichender Hinsicht begrenzter ist als andere, ebenso von historistischen, lebensphilosophischen und phänomenologischen Quellen geprägte Konzeptionen seiner Zeit, etwa von Scheler, Heidegger und Rudolf Otto, ist m.E. zu bezweifeln. Simmels Religionstheorie bleibt aus mehreren Gründen für heutige Debatten über Religion(ssoziologie) relevant. Hier werden nur zwei allgemeine Anknüpfungspunkte betont. Der erste bezieht sich auf Fragen zum Verhältnis von Religion und Säkularisierung in diachroner Perspektive und im Hinblick auf Transzendenzerfahrungen als konstantem Merkmal der Entfaltung historischer Kulturen. Der zweite betrifft soziologische Forschungsprogramme zu religiös vermittelten Individualisierungs- bzw. Subjektivierungsprozessen in gegenwärtigen Gesellschaften. Heute lässt sich sagen, dass Simmel uns einen lehrreichen Versuch liefert, sowohl religiöse Glaubensinhalte als auch wissenschaftlich-humanistische Rationalitätsansprüche normativ anzuerkennen und sie beide miteinander in Einklang zu bringen, ohne sie absolut vereinigen zu wollen. Simmels Überlegungen zeigen uns, wie sich die Soziologie und die Kulturwissenschaften zur Normativität religiöser Glaubensvorstellungen so zu verhalten haben, dass sie einerseits diese Vorstellungen in konkreten sozial-historischen Verhältnissen situieren, um ihnen aus ihrem eventuell erstarrten Zustand zu verhelfen, dass sie sich aber andererseits immer der Grenzen ihrer Kompetenzen bewusst bleiben sollen. Aus dieser Perspektive kann eine kulturgeschichtliche bzw. kulturwissenschaftliche ‚Verflüssigung‘ religiöser Glaubensinhalte nicht ausschließen, dass die Religion sich auch kritisch gegen ästhetische und wissenschaftliche Geltungsnormen behaupten könne und dürfe. Die Eigenart religiöser Bewusstseinsformen geht im Laufe der Moderne nicht endgültig in rein säkular-humanistischen Werthorizonten auf. Zwar behaupten ästhetische und wissenschaftliche Wertsphären ihre Geltungsansprüche gegenüber der Religion;
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genauso aber verhält sich die Religion auch ihrerseits der Ästhetik und der Wissenschaft gegenüber. In einem solchen „Konflikt der modernen Kultur“, wie Simmel es ausdrückt, verweisen alle Wertsphären einerseits auf eine Praxis des Lebens, die prinzipiell dazu fähig ist, diese streitenden Sphären mindestens teilweise zu schlichten. Aber andererseits bleiben die Sphären nichtsdestoweniger unterschieden, unabdingbar und nicht völlig in einander auflösbar. Mit Simmel gesprochen, wird die Religion von der Philosophie und den Kulturwissenschaften beerbt, ohne in ihnen aufzugehen (GSG 14: 16ff.). Denn Religion, wie er schreibt, bildet „einen Teil des Daseins“ und auch „zugleich das Dasein selbst auf einer höheren, verinnerlichten Stufe“ (GSG 7: 302; Krech 115). Diese Einsicht könnte hier vor dem Hintergrund einer Reihe von Kritiken profiliert werden, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten mit den dominanten Modernisierungs- und Säkularisierungskonzepten der klassischen europäischen und nordamerikanischen Sozialwissenschaften auseinandergesetzt haben. Nach ihnen sind religiöse Geltungsansprüche als integrale Bestandteile eines global angelegten Projektes der Moderne anzuerkennen und nicht vollständig in Kategorien der Rationalität und Modernität aufzulösen. Aus dieser Perspektive sind die klassischen soziologischen Theorien, die das Phänomen Säkularisierung im Sinne graduell abnehmender Bedeutung von Religion mit Moderne bzw. mit Modernisierung prinzipiell gleichsetzten, nicht mehr überzeugend. Vor dem wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund könnte Simmels ‚funktionale‘, aber nicht funktionalistische Religionstheorie heute wieder an Interesse gewinnen.20 In dieser Hinsicht ist weiterhin zu bemerken, dass das Thema der immanenten Transzendenz bei Simmel in Bezug zu verwandten Gedankengängen bei anderen Philosophen und Theologen des 20. Jahrhunderts gesetzt werden kann.21 Sowohl für Simmel als auch etwa für Karl Jaspers bedeutet das Moment des ‚Transzendenten‘ an der Religion keinen jenseitigen Bereich, keinen metaphysisch hypostasierten Raum, der in die innergesellschaftliche Welt hineinwirkt.22 Nach Simmel ist das Moment des Transzendenten in zwischenmenschlichen Beziehungen zu verorten, auch wenn es mit diesen Beziehungen nicht zusammenfällt. Insofern die Simmelʼsche Religionstheorie darauf angelegt ist, metaphysisch erstarrte Denkweisen
20 José Casanova, Public Religions in the Modern World, Chicago 1994; Shmuel N. Eisenstadt, Multiple Modernities, in: Daedalus 129/1 (2000), 1-29; Robert N. Bellah, What is Axial about the Axial Age?, in: Archives européenes de sociologie / European Journal of Sociology 46 (2005), 69-89; Pippa Norris, Ronald Inglehart, Sacred and Secular: Religion and Politics Worldwide, Cambridge 2004; Wolfgang Knöbl, Die Kontingenz der Moderne. Wege in Europa, Asien und Amerika, Frankfurt/M. 2007. 21 Ullrich, a.a.O.; Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt/M. 1997, 11-132. 22 Karl Jaspers, Philosophie, 3 Bde., Berlin 1932.
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zu überwinden, steht sie parallel zur Kritik an der Metaphysik in der abendländischen Philosophie seit Heidegger und Wittgenstein, oder zur ‚entmythologisierenden‘ Kritik christlicher Dogmengeschichte bei Rudolf Bultmann oder parallel zur Thematisierung des Begriffs der Erfahrung in der Entwicklung der amerikanischen pragmatistischen Philosophie seit William James und John Dewey. Zugleich aber erkennt die Simmelʼsche Theorie gänzlich die Legitimität metaphysischer Fragestellungen als Dimensionen moderner Existenz an. In seiner Auseinandersetzung mit der mystischen Weltanschauung Meister Eckharts sowie in seinem Austausch mit Martin Buber deutet Simmel in seinen Schriften immer wieder auf Probleme der Existenz hin, die nicht auf rein rationalistische Weise zu erhellen sind. Simmel behauptet also nicht – wie heute etwa Jürgen Habermas oder Niklas Luhmann –, dass alle metaphysischen Fragestellungen als solche paradigmatisch obsolet seien.23 So wenig Simmel das Verschwinden von Religion als Voraussetzung von Modernisierungsprozessen begreift, so wenig postuliert er das Ende der Metaphysik als Ausdruck eines Bedürfnisses menschlicher Existenz nach reflektierender Selbsterhellung. Ein zweiter Aspekt der Relevanz des Simmelʼschen Werkes für die gegenwärtige Religionssoziologie bezieht sich auf den Begriff der ‚subjektiven Religiosität‘ als Stichwort für Prozesse religiös vermittelter Individualisierung in der Moderne. Volkhard Krech zufolge bietet sich in diesem Zusammenhang mit Simmels Konzept an, den Religionsbegriff für denjenigen sozialen Sachverhalt zu reservieren, in dem es um die Thematisierung der „Differenzerfahrung von Individuum und Gesellschaft“ geht (Krech 253ff.). Nach Krech liegt das aktuellste Moment der Simmelʼschen Religionstheorie in deren Beitrag zur Diskussion über religiös vermittelte Subjektivierungsprozesse in der Moderne. „Was Simmel [...] mit subjektiver Religiosität in der Moderne auch und vor allem meint“, so Krech, „ist die Frage, wie sich das Individuum angesichts des gesellschaftlichen und kulturellen Differenzierungsprozesses behaupten kann. Insofern ist Subjektivität ein konstitutives, aber angesichts moderner Entwicklungen fraglich gewordenes Element des Humanum, und Religiosität thematisiert sie“ (Krech 254). Aus dieser Perspektive ist zu verstehen, wie der zunehmend voluntarisierte Charakter der Religion in der Moderne mit gesellschaftlichen Differenzierungsprozessen derart zusammenhängt, dass die Bindung des Individuums an Religion sogar steigen kann. Will der Einzelne seine Lebensführung an dem modernen Konzept von Individualität ausrichten, so Krech, „meldet sich das religiöse Bedürfnis, und er ist an Religion – in welcher Gestalt auch immer – verwiesen“ (Krech 259).
23 Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/M. 1988; Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung 1, Opladen 1970.
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So zu verstehen wären dann Simmels häufige Verweise auf die „Beziehung eines Gliedes zum Ganzen, während das Glied doch selbst ein Ganzes zu sein verlangt“ (GSG 10: 60). Und etwas Vergleichbares gilt für Simmels bekannten Begriff des „individuellen Gesetzes“, wonach das Individuum sich anzustrengen habe, das gerechte Leben mit anderen zu führen und zu teilen und zugleich unbedingt ‚es selbst‘ zu werden (GSG 16: 346-425). In dieser Hinsicht drückt der Begriff des „individuellen Gesetzes“ den Gedanken aus, dass normative Ansprüche, ob von religiösen Organisationen oder von Staaten oder von Moralgesetzen stammend, immer erst als eigene Verpflichtung und Leistung rekonstruiert werden müssen (Krech 269). Der religiöse Aspekt der Lebensführung liegt insofern darin, dass diese Ansprüche als individuelle, nicht willkürlich und kontingent gesetzte erscheinen, sondern einen ‚immanenten‘ Unbedingtheitscharakter erhalten müssen. So wäre Simmels Gedanke etwa mit dem Begriff der bewussten Lebensführung bei Max Weber, mit den Motiven von ‚Selbstverwirklichung‘ oder weltanschaulicher Askese oder der exercises spirituels bei Autoren wie Charles Taylor, Michel Foucault und Pierre Hadot zu vergleichen.24
24 Charles Taylor, Die Quellen des Selbst, Frankfurt/M. 1996; Michel Foucault, Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit, Bd. 3, Frankfurt/M. 1986; Pierre Hadot, Exercises spirituels et philosophie antique, Paris 1987.
Hausputz. Über Georg Simmels Marginalisierung der Ästhetik in der ‚großen‘ Soziologie I NGO M EYER
Simmels ‚große‘ Soziologie hat Lücken, trotz gut 870 Seiten Text der aktuellen Ausgabe. Niemandem war das klarer als dem Autor selbst, der Brief an Georg Jellinek vom 23. Dezember 1907 betont diesen Umstand ausdrücklich (GSG 22: 598). Dem mit Simmels Schriften auch nur einigermaßen Vertrauten aber fällt sofort auf, was hier besonders ‚fehlt‘, oder, vorsichtiger: marginalisiert wurde – seine soziologischen Reflexionen über Kunst und Religion. Dies muss verwundern; nicht nur, weil er beinahe universal interessiert war, sondern seine Schriften bekanntlich auch davon leben, dass die Beispielsreihen, einschließlich denjenigen berüchtigten, bei denen es sehr darauf ankomme, dass sie „möglich, aber weniger darauf, dass sie wirklich sind“ (GSG 11: 65), quasi-marodierend aus sämtlichen Wissensbereichen bezogen werden. Zudem hat Simmel in den programmatischen Aufsätzen „Soziologische Aesthetik“ von 1896 und dem zwei Jahre später erschienenen Essay zur „Soziologie der Religion“ (GSG 5: 197-214, 266-286) der noch jungen Disziplin genau diese Gegenstandsbereiche als Pensum aufgegeben – umso verwunderlicher also, möchte man unbefangen denken, dass sie in einem Buch, das das bündelt, was der Gesellschaftswissenschaftler Simmel in die Waagschale zu legen hat, so gut wie gar nicht vorkommen. Simmel ist zwar nicht der Erfinder, wohl aber Mitbegründer eines Nachdenkens über den Zusammenhang von Kunst und Gesellschaft, das als Grundeinsicht den sozialintegrativen Charakter ästhetischer Erfahrung festhält. Schon der darwinistisch orientierte Ethnologe Ernst Grosse, Liebhaber ostasiatischer Kunst wie Simmel, der trotz manch noch romantischer Verklärung 1894 zu dem für moderne Ohren erstaunlichen Satz findet: „Eine individuelle Kunst – im strengsten Sinne des
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Wortes – ist, selbst wenn sie denkbar wäre, nirgends nachweisbar“,1 betont, dass die Kunst, selbst ein sozial Bedingtes, über ihre wichtigste Funktion in die Gesellschaft einbinde und zugleich das Subjekt individualisiere.2 Simmels in seinem Buch von 1908 geübte Enthaltsamkeit aber ist erstaunlich auch insofern, als für zwei Autoren, die vor ihm Soziologie[n] entwarfen, Thomas Achelis und Rudolf Eisler, dieser Programmpunkt ganz selbstverständlich zum Theoriesetting zählt. Eisler, geschult an Taines Milieu-Theorie, fasst Soziologie der Kunst als „spezielle Soziologie“ und hebt hervor, dass noch die radikalste Opposition des Künstlers von nichts anderem denn seiner Verhaftung im Sozialen künde, exponiert ihre rituellen Wurzeln und plädiert für einen soziologisch relativistischen Schönheitsbegriff.3 Für Achelis hingegen ist in völkerpsychologischer Tradition die Kunst ganz so wie Recht, Sitte Moral etc. legitimes Material der Soziologie generell: Vom „Tätowieren“ bis zum Schillerschen Drama als „moralische[r] Erziehungsanstalt“ habe Kunstproduktion „eine streng sociale Funktion“, und er lässt es sich 1899 nicht nehmen, für eine neue klassenlose Volkspoesie als „gesunde[r] nationale[r] Erstarkung der Kunst“ zu plädieren.4 Da es unwahrscheinlich ist, dass Simmel im ca. ein Jahrzehnt beanspruchenden, höchst verwickelten Entstehungsprozess der Soziologie5 die Kunst einfach ‚vergessen‘ hat, darf vermutet werden, dass die Marginalisierung des Ästhetischen in diesem Buch handfeste werkgenetische und programmatisch-disziplinäre Gründe hat. Nach einer Sichtung dessen, was in der Soziologie an – im weitesten Sinne – ästhetischer Reflexion vorliegt, versuche ich zu verdeutlichen, inwiefern die Publikation eine Grenzscheide markiert, denn in der Tat: „Nicht mehr geht es um die soziale Vermittlung, sondern die ‚Freiheit des Geistes, die formende Produktivität‘ ist Simmel nun die ‚universelle Tendenz, der sich die Besonderheit‘ seiner Untersuchungen einordnet“.6 Damit aber fällt in die heiße Phase der Arbeit an der Soziologie nicht nur die Textproduktion zu Simmels Versuchen einer „erkenntnistheoretischen Wende“,7 auch profiliert sich just in dieser Zeit seine Abkehr von der
1
Ernst Grosse, Die Anfänge der Kunst, Freiburg 1894, 47f. Grosse ging es dabei wesentlich um die Aufwertung der ‚primitiven‘ Kunst.
2
A.a.O., 46f., 299 – was für Grosse freilich noch „ein tiefer Gegensatz“ war, a.a.O., 301, kein Korrelations- oder Supplementierungsverhältnis à la Simmel.
3
Rudolf Eisler, Soziologie. Die Lehre von der Entstehung und Entwicklung der menschli-
4
Thomas Achelis, Sociologie, Leipzig 1899, 139, 141.
5
Dazu der Editorische Bericht von Otthein Rammstedt, GSG 11: 877-905, bes. 893ff.
6
A.a.O., 902.
7
Ebd.
chen Gesellschaft, Leipzig 1903, 127ff.
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soziologischen Ästhetik hin zu einer dezidierten „Philosophie der Kunst“, von der ein Kollegheft aus dem Jahre 1913/14 erhalten ist (GSG 21: 141-224).8 Warum aber spielt das Ästhetische eine nur so geringe Rolle im Werk von 1908? Man könnte es sich nun einfach machen und sagen, das Ästhetische kommt hier trivialerweise zu kurz, weil das Buch eben Soziologie und nicht ‚Ästhetik‘ bzw. ‚Philosophie der Kunst‘ heißt. Simmel kündigte recht früh, im Brief an Rickert vom 8. Mai 1905, an, seine Gedanken zur Ästhetik niederlegen zu wollen, reiche nur die Lebenszeit (GSG 22: 512), doch noch der Rembrandt von 1916 ist trotz zahlreicher grundsätzlicher Erörterungen keine Summe geworden, sondern durchweg eng am konkreten Material entwickelt. Man muss die intrikate Problemlage sortieren. In der Soziologie begegnen: 1. Kurze Einlassungen zu Motiven und Handlungslinien von Texten und Artefakten als Beispiele für soziale Phänomene, auch bemüht Simmel an Hand mancher Künstlerbiographie eine Art ‚Name-Dropping‘ zum gleichen Zweck. Hier fällt die Kunst eindeutig auf die Inhaltsseite der Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung; 2. Dienen Simmel ‚aisthetische‘ Beobachtungen zur Erläuterung einer inkommensurabel-atmosphärischen ‚Färbung‘ von Sozialkontakten; 3. Folgen die eigentlichen Passagen zu Fällen, in denen Ästhetisches eine besondere Rolle bei den sozialen Wechselwirkungen zukommt. Ad 1. Zunächst fallen auch in der Soziologie einige Dichter- und Künstlernamen, etwa im Hinweis auf den Non-Empirismus von Dantes schlechterdings harmonischer (und damit soziologisch unwahrscheinlicher) „Gesellschaft der Heiligen“, während die Kirchenväter von Raffaels Disputa wenn keinen Streit, so doch „eine erhebliche Verschiedenheit von Stimmungen und Denkrichtungen“ zeige (GSG 11: 285f.), sich das Sujet demnach schleichend säkularisiere, nämlich: individualisiere. Ähnlich gelagert ist der Hinweis auf die Freundschaft zwischen Robert von Anjou und Petrarca als Indiz für Verwerfungen innerhalb der spätmittelalterlich-stratifikatorischen Gesellschaft, Simmel erkennt hier „eine neue Rangierung, sozusagen eine neue Analyse und Synthese der Kreise“ (ebd.: 463). Anderenorts wird die Antigone genannt, um den Interessenkonflikt zwischen „Anspruch der Familiengruppe“ und dem „staatlichen Gesetz“ zu illustrieren, so noch deutlich He-
8
Zur Kontur von Simmels ästhetischem Denken allgemein Ingo Meyer, „‚Jenseits der Schönheit‘. Simmels Ästhetik – originärer Eklektizismus?“, in: Simmel, Jenseits der Schönheit. Schriften zur Ästhetik und Kunstphilosophie, ausgew. u. m. e. Nachw. v. Ingo Meyer, Frankfurt/M. 2008, 399-434.
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gels kanonischer Deutung des Sophokleischen Dramas als „Kollision“ folgend (ebd.: 209),9 die er 1918 hinter sich lassen wird (GSG 16: 323). Allein, und schon das sollte aufhorchen lassen, Goethe, Simmels Leib- und Magenautor, fehlt – als empirische Person. Zumindest hätte sich ja angeboten, das Dioskurenpaar Schiller und Goethe als exzeptionelles Beispiel einer über ästhetische Fragen initiierten Freundschaft zu verhandeln, Kunst bzw. Literatur also auch hier zumindest der ‚Inhaltsseite‘ dann tatsächlich sozialer Formen zuzuschlagen. Doch nur das Gretchen aus dem Faust und die Philine der Lehrjahre kommen vor, Erstere in einer Reihe mit Alexandre Dumas‘ Kameliendame, Stella und Messalina als Exempel mangelnder „geschlechtsmäßige[r] Solidarität“ unter Frauen (GSG 11: 357), also, modern gesprochen, rigider Exklusion qua Sitte und Moral; Letztere, mit ihrer unerwiderten Liebe zu Wilhelm, als Kontrastbeispiel eines ‚solipsistischen‘ Affekts – „‚und wenn ich dich lieb habe, was geht’s dich an?‘“10 – gegenüber dem genuin soziologischen Tatbestand der Treue (ebd.: 658). Ad 2. Sodann finden sich einige Anlässe für eine immerhin denkbare Engführung von Ästhetik und Soziologie. Ist nicht der Fremde, wenngleich auf andere Weise denn der Arme (ebd.: 530), zumeist auch sinnlich auffällig ebenso, wie dem Geheimnis ein ästhetischer ‚Kitzel‘ innewohnen kann?11 Dass schiere Quantitäten auch ästhetisch wirken, hat Simmel in seinem Aufsatz von 1903 selbst vorgeführt (GSG 7: 190-200), ins Kapitel über die „quantitative Bestimmtheit der sozialen Gruppe“ aber nicht aufgenommen; hier bleibt es bei der gleichwohl treffenden Beobachtung zum Störfaktor des ‚Dritten‘, der nicht nur in Intimbeziehungen, sondern auch bei Museumsbesuchen oder Landschaftserfahrungen die harmonische Stimmung vereitele, „die sich unter zweien relativ leicht herstellt“ (GSG 11: 115). Die Herrschaftssoziologie begnügt sich mit einem knappen Hinweis auf die „große sinnliche Anschaulichkeit“ von gegliederten Hierarchien (ebd.: 190); die Notiz von 1896, dass auch dem Sozialismus ein ästhetisches Moment inhäriere, da er auf nichts weniger denn eine durchformte ‚schöne neue Welt‘ ziele (GSG 5: 204f.), jedoch fehlt. Das Konfliktkapitel bemerkt die Wirksamkeit von Kleiderordnungen für die Integration und Distinktion verschiedener Bevölkerungsgruppen – besonders, wenn diese Ordnungen oktroyiert werden (GSG 11: 366). Der „Exkurs über den 9
Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, in: Ders., Werke, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1986, Bd. 13, 267f., 287; ders., Vorlesungen über die Ästhetik III, a.a.O., Bd. 15, 485ff.
10 Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: Ders., Werke (Hamburger Ausgabe), hg. v. Erich Trunz, München 1988, Bd. 7, 235. 11 Dazu Ingo Meyer, Simmels ‚Geheimnis‘ als Entdeckung des sozialkonstitutiven Nichtwissens, in: Cécile Rol, Christian Papilloud (Hg.), Soziologie als Möglichkeit. 100 Jahre Georg Simmels Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Wiesbaden 2009, 115-134, hier 115ff.
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Adel“ weiß ob der kastenartigen Geschlossenheit dieser Gesellschaftsformation um den Anteil der „ästhetischen Attraktion“, die sie seit jeher auszuüben wusste, und vergleicht sie deshalb per Analogieschluss mit dem Kunstwerk (ebd.: 826f.). Anlässlich der adligen Aversion gegen ‚Arbeit‘ als letztlich unwürdiger Entäußerung subjektiver Energien ans Objekt notiert Simmel noch die ‚strukturelle‘ Affinität adliger Betätigungsfelder zur künstlerischen Produktivität, die weniger schändet (ebd.: 828). Die Raumsoziologie hingegen, die nicht zufällig am ehesten Anknüpfungspunkte für ästhetische Soziologie gibt, bemerkt, dass Vergesellschaftung hier „in eine sinnliche Gestaltung projiziert wird“ (ebd.: 699) und hebt den besonderen „sinnliche[n] Eindruck“, das Auratische etwa des politischen Delegierten hervor, der vom Zentrum der Macht anreist – „und wieder zu ihm zurückkehren“ wird (ebd.: 758). Der Ansatz zur ästhetischen Exegese des (auch gruppenhaften) Verhaltens im dunklen Raum – „die Phantasie erweitert das Dunkel zu übertriebenen Möglichkeiten“ (ebd.: 705) – bleibt auf halber Strecke stehen. Selbst hier also begnügt sich Simmel mit Schlaglichtern oder Analogiebildungen, wenn es heißt: „Der Rahmen, die in sich zurücklaufende Grenze eines Gebildes, hat für die soziale Gruppe sehr ähnliche Bedeutung wie für ein Kunstwerk“ (ebd.: 694), da es ihm auf den folgenden Seiten nun gerade nicht um aisthesis zu tun ist, sondern um ‚Psychologisierung der Grenze‘. Ad 3. Schließlich ist zu vermerken, dass Simmel auch seine raren Beispiele soziologischer Ästhetik wie dasjenige um die „künstlerischen Konkurrenzen“ nicht vertieft hat. Während in der strikt zielorientierten Forschung von Anbeginn intendiert sei, dass der Ertrag der wissenschaftlichen Konkurrenz „auch für den Unterlegenen Gewinn und Förderung“ sei, so sei dies unter Künstlern ob des „individualistischen Wesens der Kunst“ nicht der Fall.12 Der ästhetische Mehrwert werde hier rein egoistisch, quasi über Bande erzeugt – und komme doch noch einer Allgemeinheit als lachendem Dritten zugute (ebd.: 325). Man denkt spontan an den Paragone zwischen Raffael und Michelangelo, an die berühmte Episode am Genfer See 1816, als die Shelleys, Byron und Polidori verabredeten, dass jeder der vier eine Gespenstergeschichte zu schreiben habe – und aus der dann der Frankenstein hervorging, ebenso nahe liegt der Bericht von Miles Davis, demnach es bei den allabendlichen New Yorker Club-Auftritten in den vierziger und fünfziger Jahren
12 Simmel konnte sich zwei Dinge offenbar nicht vorstellen: Die Unterdrückung oder Geheimhaltung von Forschungsergebnissen aus Konkurrenzgründen (Stichworte Kalter Krieg, Industriespionage, aber auch absichtsvoll verstellte Bücher in der Universitätsbibliothek) und die eigentümliche Verschlossenheit vieler Maler, Musiker und Autoren, ihr apotropäischer Charakter – der bis zur glatten Fehlinformation, dass man schon seit Jahren ‚nicht mehr arbeite‘, mit der Kunst ‚fertig‘ sei usw. reichen kann, während doch im Geheimen verzweifelt am Spätwerk gebosselt wird.
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nicht zuletzt auch darum gegangen sei, den Kumpel, also Gegner, ‚wegzublasen‘.13 Das Publikum wird es zu danken gewusst haben. Bei Licht besehen, bleiben als Durchgeführte nur die Kabinettstückchen wahrhaft ästhetischer Soziologie: die Exkurse zum „Schmuck“ und zur „Soziologie der Sinne“ mit ihrem bekannt phänomenalen Reichtum an frappanten – und doch so naheliegenden – Einsichten. Obwohl die schönste Passage des Orginalbeitrags zum Diamanten, der eben deshalb der begehrteste Edelstein sei, weil er ‚selbstlos‘, rein durch seine Strahlen, nicht durch eine interessante Substanz, das durch ihn geschmückte Individuum aufwerte (GSG 8: 387f.), in der Soziologie gestrichen wurde, weist der Text über den Schmuck dennoch denkbar schlüssig nach, dass Soziales nicht ohne Stilisierung und Formalisierung auskommt. „Man schmückt sich für sich und kann das nur, indem man sich für Andere schmückt“ (GSG 11: 415) – das ist beinahe reine soziale Wechselwirkung. Schmuck, der in der Alltagsbedeutung stets auch die Konnotation des ‚Überflüssigen‘ mit sich führt, ist durch und durch funktional, sein Wert immer nur relativ auf Schicht, Klasse oder Gruppe (ebd.: 419), weshalb Simmel bei dieser Gelegenheit den Analogieschluss zwischen ästhetisch-sozialem Phänomen und Kunstwerk, wie er von seinen Kritikern traditionell moniert, von den ihm wohlgesonnenen Exegeten akklamiert wird, abweist: „Es ist der allergrößte Irrtum, zu meinen, daß der Schmuck ein individuelles Kunstwerk sein müsse, da er doch immer ein Individuum schmücken solle. Ganz im Gegenteil: weil er dem Individuum dienen soll, darf er selbst nicht individuellen Wesens sein“ (ebd.: 418), da sonst, so wäre der Gedanke angesichts der gesichtslosen Models unserer Tage zu verlängern, die fatale Situation entstünde, dass der Träger zum Acces-soire des Schmucks geriete und nicht umgekehrt. Von der Tätowierung der „Naturvölker“ (ebd.: 417) bis zum „Talmischmuck“ (ebd.: 419) wird gezeigt, wie Soziales als Reziprozität im spezifischen Gegenstand gleichsam kondensiert: „Für die großen, mit- und gegeneinander spielenden Strebungen der Seele und der Gesellschaft: die Erhöhung des Ich dadurch, daß man für die Andern da ist, und des Daseins für die Andern dadurch, daß man sich selbst akzentuiert und erweitert – hat der Schmuck eine ihm allein eigene Synthese in der Form des Ästhetischen geschaffen“ (ebd.: 421).
In der berühmten „Soziologie der Sinne“ hingegen liefert Simmel sozialtheoretisch beinahe universale Grundeinsichten über unseren aisthetischen Weltzugang, weshalb Alois Hahn zu Recht von Simmels Anthropologie der Sinne spricht,14 obwohl auch die Zeitdiagnostik nicht zu kurz kommt, wenn Simmel bemerkt, dass das Großstadtleben dem modernen Menschen eine ganz neue Akkommodation seiner kognitiven Apparatur abverlange (ebd.: 727). Die Wahrnehmung grundiert proto13 Miles Davis, Quincy Troupe, Die Autobiographie, Hamburg 1990, 73, 260. 14 Dazu sein Beitrag in diesem Band.
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semantisch unser Erleben und Handeln, dies ist die vielleicht wichtigste Einsicht oberhalb der bekannten Einlassung zur sozialen auch als „Nasenfrage“ (ebd.: 734) oder der Beobachtung, dass wir auf unangenehme Gerüche so empfindlich reagieren, weil sie ganz faktisch in uns eindringen (ebd.: 734f.). Und gewiss, „das Gesicht bewirkt, daß der Mensch schon aus seinem Anblick, nicht erst aus seinem Handeln verstanden wird“; schließlich ist es immer wieder „erstaunlich, wieviel wir von einem Menschen bei dem ersten Blick auf ihn wissen. Nichts mit Begriffen Ausdrückbares“ (ebd.: 725f.). Bemerkenswert ist auch Simmels ‚subtraktiver‘ Vergleich des Blinden mit dem Tauben anlässlich der unbestreitbaren Tatsache einer „gleichmäßig freundlichen Stimmung“ vieler Blinder (ebd.: 727); sie entbehren des Sehens als modernem Leitsinn – so grausam ihr Schicksal, so sehr aber sind sie auch dem Terror der modernen Bilderflut enthoben. Ästhetisches also graduiert die Intensität von Sozialkontakten, besonders über Nähe und Distanz, einerseits ganz buchstäblich, andererseits wiederum protosemantisch. Letzteres insofern, als Simmel betont, eine wieviel intimere Stimmung ein „Konzertpublikum“ gegenüber einem „Museumspublikum“ empfinde (ebd.: 731); argumentativ eigentlich nicht recht herzuleiten, scheint dies an der im Vergleich zum Seheindruck imperativerischen Macht des Höreindrucks zu liegen, der – romantisch – eben unmittelbarer zur ‚Seele‘ spricht. Ersteres wird illustriert durch die Leistungskontrastierung der ‚Fernsinne‘ von Auge und Ohr gegenüber dem ‚Nahsinn‘ des Geruchs, jedoch auch untereinander. Der gegenseitige Blickkontakt gebe die „unmittelbarste und reinste Wechselwirkung, die überhaupt besteht“ (ebd.: 723), sehr im Gegensatz zum Hören, das durch den „Mangel jener Reziprozität“ (ebd.: 729) gekennzeichnet sei, weshalb der Hörsinn, ich erinnere an den höfischen „Ohrenbläser“ des barocken Trauerspiels,15 das Medium des Geheimnisverrats sei (ebd.: 730f.).16 Die Sinne ordnen die soziale Welt wie keine andere kognitive Kompetenz, und zwar, trivialerweise, umfassend, nämlich: mit allen Sinnen.17 Deshalb, lässt sich nun im Anschluss sagen, nimmt es nicht Wunder, dass gerade die aisthetischprotosemantische, doch nicht-negierbare Dimension des Sozialen zu ihrer entschiedensten semantischen Überwölbung führt, der Genese von Religion:
15 Etwa bei Daniel Casper v. Lohenstein, Ibrahim Bassa (1653), in: Ders., Türkische Trauerspiele, hg. v. Klaus Günther Just, Stuttgart 1953, 1-87, hier 14 („Ohrenbläserisch Anstiften“); Johann Christian Hallmann, Die goettliche Rache / Oder der verfuehrte Theodoricus Veronensis (1666), in: Ders., Sämtliche Werke, hg. v. Gerhard Spellerberg, Berlin 1975ff., Bd. I, 1-191, hier 7 („falsche Ohrenbläser“). 16 Auch dazu Alois Hahns Aufsatz im vorliegenden Band. 17 Zum Umstand, dass die ‚niederen‘ Tast- und Geschmackssinne nicht reflektiert werden, der Beitrag von Urs Stäheli in diesem Band.
308 | I NGO M EYER „Daß alle Menschen gleichzeitig den Himmel sehen können und die Sonne, das ist, wie ich glaube, ein wesentliches Moment des Zusammenschlusses, den jede Religion bedeutet. Denn jede wendet sich irgendwie, ihrem Ursprung oder ihrer Ausgestaltung nach, an den Himmel oder die Sonne, hat irgendeine Art von Beziehung zu diesem Allumschließenden und Weltbeherrschenden. Daß ein Sinn, der in der Praxis des Lebens so exklusiv ist, wie das Auge, der selbst das gleichzeitig Erblickte durch Verschiedenheit des Augenpunktes für jeden irgendwie modifiziert, nun doch einen Inhalt hat, der absolut nicht exklusiv ist, der sich jedem gleichmäßig darbietet [...] – das muß auf der einen Seite jenes Transzendieren aus der Enge und Besonderheit des Subjekts nahelegen, das jede Religion enthält, und trägt oder begünstigt auf der andern das Moment des Zusammenschlusses der Gläubigen, das gleichfalls jeder Religion 18
eignet“ (ebd.: 731).
Insgesamt aber sind diese Einlassungen für den Autor der „soziologischen Aesthetik“ doch recht wenig. Hartmann Tyrell vermerkt, dass die Soziologie zum anderen, ebenfalls eminent soziologischen Großwerk, der Philosophie des Geldes, durchweg Abstand halte,19 und damit nähert man sich dem zentralen kompilationstechnischen Problem der Soziologie in aestheticis: Was Simmel im Essay von 1896 zur Engführung von Ästhetischem und Sozialem abrissartig andeutete, fand im finalen und berühmtesten Kapitel der Philosophie des Geldes, „Der Stil des Lebens“, bereits seine fulminate Ausdeutung! Tatsächlich unterzieht Simmel beinahe jedes Thema des frühen Essays in den gut 120 Seiten von 1900 einer Vertiefung in Richtung seiner kulturkritischen Diagnose, die Moderne sei Distanznahme qua kultureller Sublimierung. Von der Symmetrie als einfachster ‚Formgebung‘ (GSG 5: 201; GSG 6: 681ff.) zur Kompensationsthese des Ästhetischen als Antidot eines lebensweltlich Mangelhaften (GSG 5: 202) führt die Emphase der Kunst als qualitativ neuem Sinnlich- und Sichtbarmachen (GSG 6: 618), gerade weil die exakten Wissenschaften unsere Lebenswelt immer weiter atomisieren (ebd.: 615), wenngleich für den reifen Simmel die „Entzauberung“ nicht mehr gänzlich auszugleichen ist (ebd.: 662), was ihm aber Anlass zur kühnen Spekulation gibt, dass das Kunstwerk als „geschlossenste Einheit“ modern auch eine Negation der Arbeitsteilung repräsentiere (ebd.: 629; 636).20 18 Diese so nahe liegende – und wiederum frappante – Einsicht notiert auch Jürgen Kaube, Je tiefer das Dekolleté, desto größer die Party, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr.10 v. 9. März 2008, 33. 19 Hartmann Tyrell, Georg Simmels „große“ Soziologie (1908). Einige Überlegungen anläßlich des bevorstehenden 100. Geburtstags, in: Simmel Studies 17 (2007), 5-39, hier 11, 38. 20 Ästhetische Produktion als Teamwork konnte sich Simmel offenbar ebenfalls nicht vorstellen. Ist das Jahr 1900 für die ersten historischen Avantgarden noch zu früh, hätte als Beispiel aber der mittelalterliche Kathedralenbau nahe gelegen. Hinweise zu Letzterem
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Die Antizipation der Schockästhetik (GSG 5: 212), die als „Nervosität“ (GSG 6: 579), „heimliche Unruhe, [...] rastlose[s] Drängen unter der Schwelle des Bewußtseins“ modern quasi auf Dauer gestellt werde (ebd.: 675) ebenso wie die Wahrnehmung des Interesses am historisch Fernstliegenden als auch ästhetisch gespeist (GSG 5: 212; GSG 6: 641, 660), das alles sind Theorieansätze, die noch heute Konjunktur haben.21 Auch die Deutung des Naturalismus nicht als sozialkritische sondern als Kunst einer neuen Sehnsucht nach Unmittelbarkeit (GSG 5: 211f.; GSG 6: 659), die Beobachtung eines Extremismus des Genießens immer gröberer, doch auch subtilerer Reize (GSG 5: 214; GSG 6: 661) – „vom Zolaismus zum Symbolismus“ (GSG 5: 212), „von Hegel zu Schopenhauer und wieder zurück“ (GSG 6: 675) – sind Themen, die in den „Stil des Lebens“ eingingen. Die These zur zeitgenössischen Präferenz ästhetisch bloß andeutend-‚unvollständiger‘ Gattungs- und Bildformen wie Fragment, Symbol und Aphorismus (GSG 5: 211f.; GSG 6: 660) findet 1900 ihre metaphysische Generalisierung: „Unsere praktische Existenz“, so Simmel, kann nur noch als „Teilverwirklichung einer Ganzheit“ (ebd.: 624) gelten. Simmels wohl von Nietzsches „Pathos der Distanz“, das dem starken Individuum gezieme, angeregte22 und gehaltvollste Einsicht zur soziologischen Ästhetik aber, ihre moderne Distanzierungs- und Vereindringlichungsfunktion, Welterschließung und -objektivierung (GSG 5: 209), findet sich in der Philosophie des Geldes als das m.E. schönste (und erzromantische) Zitat Simmels zur Kunst überhaupt: „Alle Kunst verändert die Blickweite, in die wir uns ursprünglich und natürlich zu der Wirklichkeit stellen. Sie bringt sie uns einerseits näher, zu ihrem eigentlichen und innersten Sinn setzt sie uns in ein unmittelbares Verhältnis, hinter der kühlen Fremdheit der Außenwelt verrät sie uns die Beseeltheit des Seins, durch die es uns verwandt und verständlich ist. Daneben bei Martin Warnke, Bau und Überbau. Soziologie der mittelalterlichen Architektur nach den Schriftquellen, Frankfurt/M. 1976. 21 Die Schockästhetik etwa im Rahmen der Avantgardismus- und Walter BenjaminExegese; das Kompensationstheorem prominent bei Odo Marquard, Aesthetica und Anaesthetica. Philosophische Überlegungen, Paderborn 1989; zur Nervosität Joachim Radkaus anregende, aber zu luftig gestrickte Studie Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 1998; zur ästhetischen Faszination des Vergangenen noch ideologiekritisch Hannelore u. Heinz Schlaffer, Studien zum ästhetischen Historismus, Frankfurt/M. 1975. 22 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: Ders., Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgi Colli u. Mazzino Montinari, München 1980, Bd. 5, 11-243, hier: 205. Zum NietzscheKomplex unverzichtbar: Klaus Lichtblau, Das ‚Pathos der Distanz‘. Präliminarien zur Nietzsche-Rezeption bei Georg Simmel, in: Heinz-Jürgen Dahme, Otthein Rammstedt (Hg.), Georg Simmel und die Moderne. Neue Interpretationen und Materialien, Frankfurt/M. 1984, 231-281.
310 | I NGO M EYER aber stiftet jede Kunst eine Entfernung von der Unmittelbarkeit der Dinge, sie läßt die Konkretheit der Reize zurücktreten und spannt einen Schleier zwischen uns und sie, gleich dem feinen Duft, der sich um ferne Berge legt“ (GSG 6: 658f.).
Es ist bemerkenswert, dass in der Philosophie des Geldes eine massive kunstsoziologische Homologie implementiert ist: Künstlerische Entwicklung der Moderne und Vergesellschaftungsprozess korrespondieren hier für Simmel so deutlich, dass sie im Distanzierungs- und Vereindringlichungstheorem enggeführt, gar mit identischen Begriffen erörtert werden können.23 Kurzum, hätte Simmel in der – dezidiert ahistorisch argumentierenden – Soziologie erneut den kulturdiagnostischen Befund von 1900 vorgetragen, so hätte er eine Art Plagiat an sich selbst begangen. Schwerer noch wiegt der Umstand, dass ‚Distanz‘ zwar ein (recht vager) Verhältnis-, nicht aber eigentlicher Formbegriff ist. Gerade hinsichtlich der Soziologie und ihren Bemühungen, diesen zu explizieren, bleibt aber die Frage, ob auch Ästhetisches als Form bei Simmel sozialkonstitutiv ist oder nicht – allein schon, weil z.B. Stil gerade bei Simmel ein Allgemeines (eben Formbildung) ist24 und er in der Soziologie interaktionistisch oder besser noch: konkretistisch ansetzt, von Anwesenheit, Sichtbarkeit, Gruppenbildung etc. ausgeht, die aisthetische Dimension des Sozialen also im Grunde permanent angelegentlich sein könnte. Der Simmel von 1908 meint mit seiner „Soziologie der Sinne“ diesem Umstand hinreichend Rechnung getragen zu haben. Ästhetisches dagegen ist ihm, soweit ich sehe, nicht sozial formbildend. Wohl können soziale Wechselwirkungen in Zentralsymbolen wie dem Schmuck oder Tanz eine griffige Repräsentation finden, sozial generativ aber sind sie deshalb nicht. Der Essay „Soziologie der Geselligkeit“ (GSG 12: 177-193), in die Grundfragen der Soziologie eingegangen, scheint dem nicht zu folgen und wird daher immer wieder für den ‚durchgängig ästhetischen‘ Soziologen Simmel in Anspruch genommen. Tatsächlich spricht Simmel hier von Geselligkeit als einer „symbolisch spielende[n] Fülle des Lebens“ (GSG 16: 107), alludiert allerdings nur eine Nähe zur Kunst, so „ganz vom Leben getrennt“ (ebd.: 105) wie das „soziale Kunstgebilde der Geselligkeit“ (ebd.: 109). Wer, höchst different zu Simmel, unter Ästhetik vornehmlich die Kantianisch-Schillerʼsche Traditionslinie der Kunst als ‚zweckfreies Spiel‘, die bis zu 23 Dass die Kunst in der Moderne bei Simmel semantisch exakt das repräsentiert, was das Geld sozial ganz faktisch leistet: nicht nur eine universale Fungibilität der Dinge, sondern zugleich Distanz zu ihnen zu ermöglichen, GSG 6: 652, wurde m.W. bisher noch nicht untersucht. 24 Simmel kennt verblüffenderweise keinen Individualstil (auch nicht des Artefakts). Stil war ihm stets etwas Allgemeines, Zwang zur Form, GSG 8: 375f., zuletzt noch Epochenstil, GSG 16: 49, oder gar kulturphysiognomischer, ‚klassisch-romanischer‘ vs. ‚germanischer‘, GSG 13: 313-320; GSG 15: 397, 510.
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Gadamer reicht,25 versteht, muss auf diesen Text natürlich anspringen.26 Dennoch: Das „Grundgesetz der Geselligkeit“ ist nicht ein ästhetisches, sondern die „freie Wechselwirkung und Äquivalenz der Elemente“ (ebd.: 114). Die geselligen Formationen mögen eine auffällige ästhetische Konfiguration zeigen, ästhetische Form aber bringt keine Geselligkeit zustande: Hier ist sie durchweg Bedingtes, nicht aber Bedingendes. Simmels Überlegungen zur soziologischen Form, wie er sie 1908 gebündelt vorlegt, haben mit seinem ästhetischen Formbegriff, den er ungefähr zeitgleich zu entwickeln beginnt, nichts mehr zu tun. Zudem trifft man bei Simmel auf wenigstens vier Varianten der ‚Form‘: die sozialen Formen der gleichsam kondensierten Wechselwirkungen, die Kantianisierenden Formen der soziologischen Aprioris27 und das Kunstwerk als ästhetische Form – das zugleich eine Spielart der Leben/Form-Dichotomie des späten Simmel überhaupt abgibt. Simmels soziale Formen erscheinen als „Formalobjekte“,28 Konstruktionen einer „Wissenschaft sozusagen zweiter Potenz“, wie es der junge Simmel unübertroffen pointiert (GSG 2: 116); ihnen eignet, wie oben bereits erwähnt, kein robuster Realismus, und daher trifft man in der sozialen Realität auch niemals auf ‚den‘ Streit oder ‚die‘ Über- und Unterordnung. So ist der Passus: „Es gibt niemals schlechthin Gesellschaft, [...] denn es gibt keine Wechselwirkung schlechthin“ (GSG 11: 24) gegenüber dem Programm-Aufsatz von 1894 allerdings eine nicht unerhebliche Modifikation, die es mit sich bringt, dass man von den ‚Inhalten‘ der Sozialbeziehungen niemals zur Gänze wird absehen können – was Simmel nicht entging (ebd.: 35). Alles hängt daran, in soziologischer Analyse die Form der Sozialbeziehung isolieren zu können: „Daß dieses beides, in der Wirklichkeit untrennbar Vereinte, [...] getrennt werde [...] – dies scheint mir die einzige und die ganze Möglichkeit einer speziellen Wissenschaft von der Gesellschaft als solcher zu begründen“ (ebd.: 20). Des späten Simmel Kunstphilosophie jedoch sträubt sich erheblich dagegen, das einzelne Werk mit generalisierenden Begriffen, etwa seiner
25 Hans-Georg Gadamer, Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest, Stuttgart 1977, bes. 23ff. 26 Zuletzt wieder Eduardo de la Fuente, The Art of Social Forms and the Social Forms of Art: The Sociology-Aesthetics Nexus in Georg Simmel’s Thought, in: Sociological Theory 26 (2008), 344-362. 27 Die von den eigentlich sozialen strikt zu unterscheiden sind, so Maria Steinhoff, Die Form als soziologische Grundkategorie bei Georg Simmel, in: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie 4 (1924/25), 215-259, hier 236f. Mit welchem Recht Simmel Kants ‚reine‘ Formen und dessen Apriori-Begriff in Anspruch nimmt, ist noch immer umstritten. Ausführlich dazu der Beitrag von Uta Gerhardt in diesem Band. 28 A.a.O., 228.
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Historizität oder Gattungsspezifik, zu fassen; hier ist nichts mehr aus der Kunst ‚herauszulösen‘. Ästhetische Formen sind bei Simmel fast immer29 schlicht ‚Kunstwerke‘ und auf einem völlig anderen ontologischen Niveau denn die sozialen situiert. Kunstwerke firmieren als konfigurierte Bedeutungsverstärker, um brennglasartig ein semantisches Surplus zu erwirtschaften; er kombiniert damit überraschend die Theorietraditionen von Werk- und Wirkungsästhetik.30 Zwar resultieren auch Kunstwerke aus einer Art Abstraktion, eben der Formwerdung, danach aber sind sie Simmel ‚unantastbar‘. Wie aus bloß Seiendem diese Kunstwerke möglich werden, ging ihm erstmals an Rodin auf (GSG 7: 97) und ist das eigentlich ästhetische Faszinosum seiner Kunstphilosophie. Treffend wurde bemerkt, dass Simmel selbst das Naturschöne als wie durch einen Rahmen, als Landschaftsgemälde betrachtete,31 und es ist nur zu bekannt, dass er auch Städte und Ruinen als Kunstwerke behandeln konnte.32 Dies ist umso bemerkenswerter, als er nicht bereit war, auf eine womöglich psychologistische Produktionsästhetik zurückzugreifen, die den individuellen Künstler notwendig ins Spiel brächte; auch von ihm ist das Werk als singuläres völlig abzulösen – man geht wohl nicht fehl, wenn man diese Distanznahme als Spitze gegen Diltheys Erlebnisästhetik liest, wie sie um 1910 noch in voller Blüte stand.33 Insofern erhellt bereits, dass Simmel um 1908 ‚das‘ Ästhetische keine genuine, isolierbare Form der Vergesellschaftung sein konnte, schon deshalb nicht, weil er das Werk nur mehr als reine Konkretion gelten lassen mochte, wofür die Musik, traditionell die referenzlose, nicht-semantische Kunstform (eine Ansicht, der er nur bedingt folgen konnte, GSG 10: 290ff.), das Paradebeispiel war. Sie habe etwas „Inselhaftes, Unfruchtbares, weder objektiv noch subjektiv führt ein Weg von ihr in die Welt und das Leben; man ist ganz in ihr oder ganz außer ihr“, heißt es in einer
29 Äußerst selten, etwa in Die Alpen, GSG 14: 296-303, hier 296, bezieht sich Simmels „ästhetische Form“ auf analytische Ebenen wie dem „bloße[n] Verhältnis von Linien, Flächen, Farben“. 30 Dazu Meyer, ‚Jenseits‘, a.a.O., 414ff. 31 Manfred Smuda, Landschaft als ästhetischer Gegenstand und als Gegenstand der Ästhetik. Zur Konstitution von Landschaft, in: Ders., Landschaft, hg. v. dems., Frankfurt/M. 1986, 44-69, hier 67. 32 Z.B. Paola Giacomoni, Georg Simmel und Italien, in: Simmel Studies 19 (2008), 149165, hier 149. 33 Wilhelm Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing. Goethe. Novalis. Hölderlin (1905), hg. v. Rainer Rosenberg, Leipzig 21991. Besonders die Aufsätze zu Goethe und Hölderlin explizieren Diltheys Annahme einer Trias von Erleben, Ausdruck und Verstehen.
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nachgelassenen Tagebuchnotiz (GSG 20: 266).34 Soziologie aber abstrahiert wesentlich, ermöglicht, ja erzwingt Vergleichen, also Inbezugsetzen: „Über- und Unterordnung, Konkurrenz, Nachahmung, Arbeitsteilung, Parteibildung, Vertretung, Gleichzeitigkeit des Zusammenschlusses nach innen und des Abschlusses nach außen und unzähliges Anderes findet sich an einer staatlichen Gesellschaft wie an einer Religionsgemeinde, an einer Verschwörerbande wie an einer Wirtschaftsgenossenschaft, an einer Kunstschule wie an einer Familie“ (GSG 11: 21).
Gewiss: Ästhetisches mag hier Anlass, ‚Inhalt‘ oder Zweck, Medium, Verstärker, vielleicht auch Katalysator von Wechselwirkungen (Stichwort Konzert-, Theaterund Ausstellungsbesuch), etwa als Mäzenatentum in Herrschaftsbeziehungen oder raumgebundenen Sozialkontakten, Gruppen- und Massenphänomenen etc. sein, und, wie oben gezeigt, genau Beispiele dieser Art bringt Simmel, sofern er Kunst und Literatur soziologisch nicht nur als reines Illustrationsmaterial benutzt.35 Niemals aber gibt es im Artefakt, das dem späten Simmel „vom Himmel gefallen“ ist (GSG 20: 233), diesen sozialen Formen vergleichbare ästhetische Binnenstrukturen oder -prozesse. Soziale Formen bilden kann Ästhetisches nicht – das Gründungsdokument des europäischen Ästhetizismus, dem man nachsagt, er intendiere erstmals die Identität von Kunst und Leben, Joris-Karl Huysmans A rebours (1884), ließe sich geradezu als Dementi einer sozial formbildenden Potenz der Kunst lesen: Des Esseintes ist vielleicht der ‚asozialste‘ Held der neueren Literarhistorie. Simmel verwahrte sich als Autonomieästhetiker und Vertreter eines semantischen Surplus in der Kunst bald gegen jegliches mimetische Ansinnen, interessierte sich nicht mehr für historische, soziale oder gattungsmäßige Zusammenhänge im ‚System der Künste‘, was eine kunstsoziologische Analyse natürlich ohnehin erschwert. Fraglos hat er minutiös der internen Konstruktivität von Bildern oder Gedichten nachgespürt, wo er durchaus auf Phänomene der Über- und Unterordnung, Vertretung, Arbeitsteilung u.ä. hätte stoßen können, niemals aber darüber publi34 Solche Formulierungen sind übrigens die Vorform von Theodor W. Adornos auf den ersten Blick seltsamen Gedanken, dass die Kunstwerke sich untereinander zu vernichten trachteten, ders., Ästhetische Theorie (1970), hg. v. Gretel Adorno u. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1973, 313f. 35 Eine benachbarte Erscheinung ist der Sozialtypus des ‚Künstler-Priesters‘, wie er bis in die historischen Avantgarden und Künstlern wie Joseph Beuys immer wieder zu beobachten war. Über den Fall Stefan George hat Simmel aus Pietätsgründen geschwiegen. Es dürfte aber einleuchten, dass dieser Sozialtypus eben an religiöse, nicht eigentlich ästhetische Interessen appelliert; mit der Kontur und Qualität seiner Werke hat seine soziale Inszenierung nichts zu tun – es sei denn, sie ist das Werk, also, schlicht gesagt, lediglich Performance.
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ziert.36 Schon ein früher Aufsatz zur Lyrik Stefan Georges feiert eben nicht ‚formalistisch‘ Wohlklang, Vokalkorrespondenzen und artistische Versifikation, sondern den Umstand der Formwerdung einer „Gefühlsgrundlage“ (GSG 5: 291). Zwar teilt Simmels später ästhetischer Formbegriff mit seinem soziologischen die basale Funktion der Bändigung und Bewahrung, eben Formalisierung eines sonst Flüchtig-Ephemeren: „Form ist Grenze, Abhebung gegen das Benachbarte, Zusammengehaltenheit eines Umfangs durch ein reales oder ideelles Zentrum“ (GSG 16: 225), aber der ästhetischen Form soll nun per definitionem fehlen, was die soziale definiert: das „Gegenseitigkeitsverhältnis der Subjekte“ (GSG 11: 631). Nicht Wechselwirkungen, die Simmel im Ästhetischen überhaupt nicht kennt, kondensieren hier in Formen, sondern dem schlechthin amorphen ‚Leben‘ wird die Form Kunstwerk abgerungen – und jenes durch dieses ‚gebändigt‘, als „Totalwahrnehmung“ (GSG 15: 329) in erzromantischer Tradition37 damit freilich auch allererst veranschaulicht, zugänglich gehalten, interpretativ aufgeschlossen. Diese dezidiert metaphysische Position ohne Rekurs auf das Subjekt zu denken, beschäftigt ganz maßgeblich den späten Simmel und machte nicht zufällig Karriere vom frühen Lukács, dessen erste Publikationen den Simmelʼschen Formbegriff schon im Titel tragen,38 über Cassirers „symbolische Formen“39 bis zu Heideggers Kunstphilosophie,40 Mi-
36 Es ist insofern nicht ohne Ironie, dass sich die formalistisch-immanente Ästhetik und Kunsttheorie, von Heinrich Wölfflin über die Russischen Formalisten bis zu den Immanenten wie Wolfgang Kayser und Emil Staiger, allesamt strikt anti-metaphysisch ausgerichtet, nirgends auf Simmel berufen kann. 37 Als „Totalanschauung“ bzw. „-Eindruck“ zentral etwa bei Philipp Otto Runge, Schriften, Fragmente/Briefe, hg. v. Ernst Forsthoff, Berlin 1938, 227 (an Clemens Brentano v. 5. Dezember 1809); 125 (an Unbekannt, 1807/1808). 38 Georg Lukács, Die Seele und die Formen. Essays, Berlin 1911; ders., Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik (1916), München 1994. 39 Cassirers konziseste Einlassungen zum Symbolbegriff erscheinen – bis zur ‚Fließ‘-Metapher – verblüffend nah zu Simmels Dichotomie von Leben und Form, Ernst Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften (1921), in: Ders., Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 41969, 169-200, hier 177; ders., Der Gegenstand der Kulturwissenschaft (1942), in: Ders., Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien, Darmstadt 31961, 1-33, hier 25. 40 Etwa in Heideggers Feier des Hölderlinschen „Sagens“ und „Nennens“ als „Öffnung“ eines „Unverborgenen“, Heidegger, Gesamtausgabe, Frankfurt/M. 1975ff., Bd. 52: Hölderlins Hymne „Andenken“ (1941/42), hg. v. Curd Ochwardt, 7; Bd. 53: Hölderlins Hymne „Der Ister“ (1942), hg. v. Walter Biemel, 25, 113, oder in seiner Ansicht, van Goghs Bild eines Holzschuhpaars zeuge vom „Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit des
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chael Theunissen erkennt im lebensphilosophischen Simmel noch einen Ahnherrn des Existenzialismus41 mit seinem alllerdings wieder subjektzentrierten Pathos der ‚Wahl‘, ‚Situation‘ und des ‚Sprungs‘ – wenn man möchte, alles Formentscheidungen. Das Ästhetische ist demnach im Buch von 1908 aus dominant werkgeschichtlichen und -strukturellen Gründen maximal unterdrückt, Simmel befindet sich zwischen ca. 1905-1908 tatsächlich in einer Art ‚Hausputz‘. Otthein Rammstedt bemerkt zu Recht, dass nach Abschluss der Soziologie „nur noch zwei im strengen Sinne soziologische Aufsätze“ entstanden, und zwar als „Gelegenheitsarbeiten“:42 Die wohl aus einer Kränkung entstandene, eher phänomenologisch-deskriptive „Soziologie der Mahlzeit“ (GSG 12: 140-147) und die „Soziologie der Geselligkeit“, beides Arbeiten, die ‚ästhetikverdächtig‘ sind. Entscheidend für die Ästhetik im Kontext der Soziologie aber erscheint der Umstand, dass die Wende zur metaphysisch-existenzialen Ästhetik bereits vollzogen ist, als im Laufe des Jahres 1907 das Großwerk seine endgültige Gestalt gewinnt.43 Mehr noch, bei seinem Erscheinen im Juni 1908 ist es bereits werkbiographische Vergangenheit.44 Die Dinge also liegen kompliziert: Ungefähr zeitgleich mit der „kantianischen Wende“45 ereignet sich auch ein kunstphilosophischer Kurswechsel, der freilich mit Kantianismus nichts zu tun hat, jedoch dezidierte Eckdaten dessen setzt, was Simmel selbst unter Philosophie der Kunst verstehen möchte. Eine Sollbruchstelle vom soziologischen hin zum existenzialen Ästhetiker ist die ausführliche Exegese der Schopenhauerschen Kunstmetaphysik im Vorlesungszyklus Schopenhauer und Nietzsche, die das neue intrinsische Programm ausgíbt: Kunst suche „den Sinn der Erscheinung“ sowie den „Sinn der Erscheinung“ (GSG 10: 304f.), wie es in Wiederaufnahme einer Passage des Essays von 1906 heißt (GSG 8: 105). Der Metaphysik aber, zu der Simmel die Kunst bereitwillig zählt (GSG 20: 212), sie in der Lebensanschauung zu deren zentralen Organon ernennt (GSG 16: 241f., 272ff.), gibt er eine eigenwillige Form. Das heute anschlussfähige Seienden“, ders., Der Ursprung des Kunstwerks (1936). Mit einer Einführung von HansGeorg Gadamer, Stuttgart 2003, 30. 41 Michael Theunissen, Die Gegenwart des Todes im Leben, in: Ders., Können wir in der Zeit glücklich sein?, Frankfurt/M. 1991, 197-217, hier 213f. 42 Otthein Rammstedt, Georg Simmel und die Soziologie, in: Simmel, Individualismus der modernen Zeit und andere soziologische Abhandlungen, ausgew. u. m. e. Nachw. v. Otthein Rammstedt, Frankfurt/M. 2008, 361-392, hier 374f. 43 Editorischer Bericht, GSG 11: 901. 44 So auch Cécile Rol, Die Soziologie, faute de mieux. Zwanzig Jahre Streit mit René Worms um die Fachinstitutionalisierung (1893-1913), in: Rol, Papilloud, a.a.O., 367-400, hier 367. 45 Editorischer Bericht, GSG 11: 901.
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Konzept einer „Metaphysik von unten“ als Erkenntnistheorie mit (proto-)semantischem Einschlag, die fragt, wie Bedeuten, Verweisen überhaupt möglich ist46 und in der Soziologie als Problem durchaus noch präsent war (GSG 11: 39f.),47 interessiert den späten Simmel ebenso wenig mehr wie hermeneutische Diffizilitäten, die den Autor der Probleme der Geschichtsphilosophie von 1892 umtrieben.48 Metaphysik ist Simmel – durchaus originell, weil ohne jedes Interesse an Begriff und System gearbeitet – „die Reaktion einer individuell charakterisierten Intellektualität auf die Totalität des Lebens“ (GSG 10: 289), insofern also per se nah zur Kunst als höherer Syntheseleistung, nicht aber zur analytischen Soziologie, die in der ‚großen‘ auch noch als „exakte“ (GSG 11: 39) gefasst werden soll. Kunst ist die gehaltvollste, jedoch ebenso erratischste Variante von Metaphysik (GSG 14: 445). Diese löse, wie Kultur überhaupt, keine ‚Probleme‘ (ebd.: 141f.; GSG 16: 206), sondern gebe dem Amorphen schlechthin, ‚Leben‘, allererst Form, umso wichtiger, als für Simmel bereits um 1910 vom Denken kein Weg mehr zum Sein führt (GSG 14: 57), die traditionelle adaequatio-Wahrheit zugunsten einer expressiven kassiert (ebd.: 29, 434) und das Konzept multipler (systemspezifischer) Wahrheiten angedacht wird (GSG 16: 259ff.). Vielleicht das „tiefste Glück, das die Kunst bereitet, liegt in diesem überraschenden und sozusagen unverdienten Zusammenklang von Werten, die in der sonstigen Gestaltung und Auffassung der Welt beziehungslos auseinanderliegen; gegenüber der Zufälligkeit, mit der das unmittelbare Dasein die Wertreihen bald harmonisch, bald dissonierend verlaufen lässt, gewährt die Kunst die Ahnung und das Pfand dafür, dass eine Notwendigkeit, freilich nur von diesem Blickpunkt aus sichtbar, sie dennoch in ihrer letzten Tiefe zusammenbindet“,
die sich, so Simmel, wesentlich als „Gefühlsbedeutung der Kunst“ artikuliere (GSG 10: 285). Schon 1907 geht es also nicht mehr um soziale Formen oder Analogieschlüsse mittels ästhetischer Phänomene, sondern einzig und allein um, man wird es
46 Vertreten v.a. von Wolfram Hogrebe, Prädikation und Genesis. Metaphysik als Fundamentalheuristik im Ausgang von Schellings ‚Die Weltalter‘, Frankfurt/M. 1989, 10, 12, 69, 128.; ders., Metaphysik und Mantik. Zur Deutungsnatur des Menschen, Frankfurt/M. 1992, 18ff., bes. 22f.; zuletzt ders., Beuysianismus. Expressive Strukturen der Moderne, München 2011, 18, 124. 47 Näheres bei Heinz-Jürgen Dahme, Das ‚Abgrenzungsproblem‘ von Philosophie und Wisenschaft bei Georg Simmel. Zur Genese und Systematik einer Problemstellung, in: Dahme, Rammstedt, a.a.O., 202-230, bes. 223ff. 48 Dazu Meyer, ‚Jenseits‘, a.a.O., 425ff.
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wohl sagen dürfen, Synthese als Seinsöffnung,49 die fortan Simmels kunstphilosophisches Denken beschäftigen wird. Dementsprechend zwingt besonders der Autonomie-Gedanke den späten Simmel, von den frühen Ansätzen zur soziologischen Ästhetik abzurücken: „Formung ist ein Selbstzweck der Kunst; der Inhalt, das eigentlich Gegenständliche, ist jetzt nicht ein Leben-Bestimmendes, das um eben dieser Verknüpfung willen in diese Form gefaßt werden muß, sondern er wird als ein relativ zufälliger gewählt, damit diese künstlerische Form sich an ihm darstelle, damit sie sei“ (GSG 16: 267).
Das autonome Kunstwerk kann und darf nicht mehr einer soziologischen (historischen, psychologischen usw.) Analyse ausgeliefert werden, ohne Gefahr zu laufen, es unterkomplex zu verrechnen. So unbestritten und trivial es ist, dass sich noch im sublimiertesten Kunstwerk ein lebensweltliches Substrat findet, die „Reinheit des Kunstbegriffs“ ist dem Autonomie-Ästhetiker „ein schwer errungener Besitz und er darf unter keinen Umständen wieder preisgegeben werden“ (GSG 20: 25). Die strikte Abweisung aller externen, selbst individuell-produktionsästhetischen Herleitungen von Kunst (ebd.: 233) wird erstaunlich konsequent gehandhabt: Man findet im Goethe keineswegs, mit einem geläufigen germanistischen Begriff, des Dichters Werkstrukturen und Epochenbezüge, auch keine Textexegesen, obwohl es von Zitaten nur so wimmelt, also im Grunde gar keine Ästhetik,50 während der Rembrandt kein Wort über die historische Persönlichkeit verliert sondern ganz wesentlich Probleme der Werk-Kategorie umkreist. Keine der beiden Monographien bietet Einsichten, die sich ohne Gewalt unter soziologischen oder historischen Fragestellungen rubrizieren ließen. Mehr noch, Simmel scheut auch die heikle Problematik einer Ontologie der Kunst nicht, die damals in der Luft lag51 und die Tradition der frühromantischen Autonomieästhetik zu überbieten trachtete. Nicht nur duldet „die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich“;52 sehr bald nach der Jahrhundertwende besitzen Kunst49 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge philosophischer Hermeneutik, Tübingen 31972, 229, betont Heideggers Wertschätzung des späten Simmel. 50 Anders Wilhelm Voßkamp, ‚Diese Rastlosigkeit von Selbstentwicklung und Produktivität.‘ Georg Simmels Goethe-Buch, in: Simmel Studies 19 (2009), 5-13. 51 Z.B. bei Jonas Cohn, Allgemeine Ästhetik, Leipzig 1901, 286: „Alles Ästhetische ist notwendig etwas Einzelnes, Isoliertes. Es erlangt seine Sicherheit durch Abscheidung, damit aber verzichtet es auf alle Wirksamkeit; es vermag weder an den Bedingungen des Daseins etwas zu ändern, noch eine Realität zu beweisen.“ 52 Friedrich Schlegel, Athenäums-Fragment Nr. 116, in: Ders., Kritische Schriften und Fragmente. Studienausgabe, hg. v. Ernst Behler u. Hans Eichner, Paderborn 1988, Bd. 2, 114f., hier 115.
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werke für Simmel ein bereits erwähntes „Inselhaftes“, zwar aus dem Material der Wirklichkeit geformt und verdichtet (GSG 20: 248), sie liegen für den KunstMetaphysiker Simmel nun aber jenseits des Realen, sind „das Andere des Lebens“ (GSG 16: 284), ‚nicht mehr von dieser Welt‘ (GSG 20: 233), jenseits gar des Wirklichkeitskontinuums, das für den (sehr) späten Simmel „auch nur eine Kategorie“ (GSG 15: 500) ist. Die schwierige These der Außerweltlichkeit von Kunst bei gleichzeitiger Wirkungsintensität53 wird in den kunstphilosophischen Texten beständig variiert und steht im engen Zusammenhang mit Simmels eigenwilliger Idee eines semi-platonischen „‚dritten Reiches‘“ (GSG 14: 94, angedeutet schon in GSG 11: 626f.) der Ideen und kulturellen Objektivationen, die zwar „vergessen [...], aber nicht vernichtet“ werden können (GSG 13: 390).54 Historisch jedoch markieren Simmels ästhetische Überlegungen den Umschlag von der überkommenen, klassizistisch-idealistischen Tradition einer Verabsolutierung des Werks im 19. Jahrhundert hin zu einer moderneren Richtung, die sich vornehmlich für die Wirkung der Kunst interessiert (und ihrerseits ihren Vorläufer in der altehrwürdigen Rhetorik hat). Simmel will durchaus beides, daher seine gelegentlich aporetischen Konstruktionen. Dem lebensphilosophischen Simmel zumal geht es in der Kunsttheorie nicht nur um Seinssteigerung, sondern gar um dessen Gründung qua ästhetischer Erfahrung.55 Deshalb die weit reichende, aber nicht restlose funktionale Äquivalenz zur Religion, wiederum eine romantische Idee: „Anschauen will sie [die Religion, I.M.] das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen [...]; sie will im Menschen nicht weniger als in allen anderen Einzelnen und Endlichen das Unendliche sehen“,56 zumal die „Anschauungen des Universums“ höchst phantasieabhängig sei-
53 Wie Kunst, die in ihrem ‚Wesen‘ nicht mehr von dieser Welt ist, „das Ästhetische als Mitteilung“, wie etwa Cohn, a.a.O., 231, formuliert, anders denn im auch alltagsweltlich anzutreffenden Medium des Semantischen vollziehen soll, hat sich diese Theorietradition niemals gefragt. 54 Zwar sind auch Simmels Ideen ‚ewig‘, doch in Differenz zu Plato Resultate von „Kulturarbeit“, GSG 14: 419. Das Theorem wird später, freilich gegenläufig, nämlich ‚gründend‘, von Husserls „Urstiftungssinn“ wieder aufgenommen, ders., Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die Phänomenologie (1938), in: Husserliana VI, hg. v. Walter Biemel, Den Haag 21963, 1-276, hier 57, ähnlich wie in Gehlens Reflexionen über das Auf-Dauer-Stellen und Tradieren von z.B. Werkzeugen und technischen Erfindungen, ders., Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen (1956), Frankfurt/M. 62004, 25, 46ff. 55 Dazu Meyer, a.a.O., 427, 433. 56 Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), Nachw. v. Carl Heinz Ratschow, Stuttgart 1969, 35.
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en.57 Klar ist, dass solche Intentionen sich nur schwerlich mit soziologischer Ästhetik zusammenführen ließen, denn ganz ähnlich der Religion gibt Kunst nun, dies ihre Kernfunktion, als Form des „geschlossensten Menschenwerk[s]“ (GSG 14: 445) Weltdeutung jenseits von Begrifflichkeit, „Bedeutungsintensität“ (GSG 8: 406; gleichlautend zur Religion GSG 5: 286), und genau das bedingt ihre metaphysische Dignität. Von Religion unterscheidet sich die Kunst durch ihren größeren ‚Reinheitsgrad‘. Auch jene leiste in „ihrem letzten Sinne“ die Verschmelzung von Individuum und Totalität, besitze dafür aber eine „ungünstigere Form“, da sie nicht individuell, sondern „aus dem schlechthin Über-Einzelnen“, der Gottesidee als, durkheimisch gesprochen, fait social, generiert sei, insofern ihre Veranschaulichung des „Absolute[n]“ durch ‚Zwecke‘, überhaupt lebensweltlich, getrübt werde (alle GSG 15: 513). Kunst dagegen vollzieht diese Seinssteigerung aus einem Punkt, dem wirkenden Werk heraus: „Das ist die logisch gar nicht faßbare und dennoch unleugbare Möglichkeit der Kunst: daß sie aus dem tiefsten, ja singulärsten Einzigkeitspunkt der Persönlichkeit quillt, als dessen Ausdruck, und dennoch diese Sonderheit als Gefäß des schlechthin Allgemeinen und AllEinheitlichen empfinden läßt“ (ebd.).
Das heißt hier nicht mehr und nicht weniger, als für Simmel die Kunst nun ‚reiner‘, damit aber auch unzugänglicher und ferner von Soziologie ist denn die noch immer dem sozialen Kontext verbundene, insofern stärker kontaminierte Religion. Wenn Kunst nunmehr keinesfalls die „Schleppenträgerin der Wirklichkeit“ (GSG 10: 281) sei und noch der Realismus nicht als ‚Nachahmung‘ oder ‚Widerspiegelung‘ zu fassen sei, sondern emotiv-semantisches Surplus, gar gesteigertes Sein gebe, dann ist in der Tat ohne Gewalt kein Konnex zu analytischen, möglichst metaphysikfreien „Wirklichkeitswissenschaft[en]“ (GSG 2: 348) wie der Soziologie in der Fassung von 1908 mehr herzustellen. Um die kunstphilosophische Wende Simmels auf den kleinsten Nenner zu bringen: Bedeutsame Kunst zeichnet sich durch cupierte Wechselwirkung aus, sie soll nicht mehr soziologisch ‚profaniert‘ werden; es gibt keine als ‚Flaneur‘ gewonnenen Einsichten über Mode, Kunstausstellungen, Nervositäten, keine „Soziologie der Sinne“ mehr, sondern sie gerät Simmel zum Organon der Metaphysik, die eine begriffs- und systemorientierte Philosophie für Simmel modern gerade nicht mehr bedienen kann.58 Zugespitzt lässt sich sagen: Stellt Soziologie „ein Gesamtgebiet von Gegenständen unter einen besonderen Gesichtspunkt“ (GSG 11: 23), so zeigt Kunst besondere Gegenstände unter einem Gesamtgesichtspunkt. 57 A.a.O., 86. 58 Und dies ist, bei Licht besehen, natürlich immer noch eine handfeste ‚Funktion‘ der Kunst.
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Noch immer finden sich instruktive Einzelbeobachtungen, die unserer aktuellen ästhetischen Theoriebildung Impulse zu verschaffen mögen, etwa wenn die großen Unterschiede betont werden, die sich je nachdem daraus ergeben, von welchen „Wertreihen“ (Recht, Pädagogik, Ethik usw.) aus Kunst perspektiviert wird (GSG 8: 368f.) und damit die polykontexturale Literaturwissenschaft antizipiert wird,59 oder die Rembrandt-Zwischenerörterung „Was sehen wir am Kunstwerk?“ (GSG 15: 492-501), die die damalige Einfühlungsästhetik weit hinter sich lässt und auf den semantisch-ikonischen Mehrwert des Bildes zusteuert. Quasi nebenbei werden ‚genetische‘ Herleitungen von Expressionismus und Futurismus gebracht (GSG 16: 41f.), gehaltvolle Reflexionen zum Naturalismus (ebd.: 220-248) oder zum Schauspieler (GSG 20: 192-219), die Einiges von Goffman vorwegnehmen, fanden sich im Nachlass. Breite Passagen zur Kunst in der „Weiblichen Kultur“ (GSG 14: 437ff.) sind trotz aller feministischen Reserve überaus lesenswert, ganz so wie Simmels letztes Wort zur Kunst generell, die zwanzig Seiten aus der Lebensanschauung (GSG 16: 267-286), die sie verbindlich als kreativistische Weltdeutungsund Schöpfungsinstanz sui generis verhandeln und den schönen Passus bergen, „daß das Kunstwerk weit weniger täuscht, als manches Wirklichkeitsbild“ (ebd.: 272). Rückblickend mag man Simmels Entscheidung, dezidiert Philosophie der Kunst, nicht Ästhetik betreiben zu wollen (GSG 21: 143), bedauern, zumal, wenn man die Auffassung teilt, dass erstere letztlich kunstferne Fragen stelle60 – werkgeschichtlich ist sie natürlich zu respektieren. Der Irrationalismus-Vorwurf an den Lebensphilosophen, prominent von Lukács und Habermas vorgetragen,61 blieb nicht aus, die frühen Arbeiten zur soziologischen Ästhetik scheinen heute insgesamt wieder zeitgemäßer.62 Und dennoch: Simmel wäre nicht Simmel, ließen die Grundfragen der Soziologie von 1917 nicht erneut eine Inspiration der soziologischen Theoriebildung qua Ästhetik zu (GSG 16: 74f.), redeten sie nicht überhaupt einer ‚wechselseitigen Erhellung der Disziplinen‘ das Wort, übrigens im selben Jahr, in
59 Gerhard Plumpe, Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf, Opladen 1995, 58; ders., Niels Werber (Hg.), Beobachtungen der Literatur. Aspekte einer polykontexturalen Literaturwissenschaft, Opladen 1995. 60 So Karl Heinz Bohrer, Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit, Frankfurt/M. 1994, 7; auch Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1995, 398. 61 Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft. Der Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler (1954), Luchterhand 1962, 400; Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985, 170, 298. 62 In diese Richtung bewegt sich die Auswahl: Georg Simmel, Soziologische Ästhetik, hg. u. eingel. v. Klaus Lichtblau, Wiesbaden 2008.
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dem Oskar Walzel ganz Ähnliches für die Literaturwissenschaft anregte.63 Auch stünde nichts dem Ansinnen entgegen, als „philosophische Soziologie“ nicht nur „Individuum und Gesellschaft in Lebensanschauungen des 18. und 19. Jahrhunderts“ (ebd.: 122) zu rekonstruieren, sondern auch die Geschichte etwa der Ästhetik von Baumgarten bis Hegel soziologisch zu explorieren. Gleichwie, bemüht sich die ‚große‘ Soziologie um möglichst reine Lehre, so hat in Simmels werkinterner Ausdifferenzierung Ästhetik die Soziologie hinter sich gelassen. Ein persönliches Moment mochte bei ihm dazu gekommen sein: Mit Formalismus, Wechselwirkung und Relativismus lässt es sich wunderbar arbeiten, aber nicht sterben – dazu braucht es wohl doch wenn kein spekulatives System, so zumindest eine Lebensanschauung.
63 Oskar Walzel, Wechselseitige Erhellung der Künste. Ein Beitrag zur Würdigung kunstgeschichtlicher Begriffe, Berlin 1917. Walzels im Ertrag leider zu dünnes formalistisches Plädoyer war bereits gegen die Weltanschauungsgermanistik gerichtet. Äußerst fraglich erscheint zudem, ob eine gattungstheoretische Analogie von Malerei, Plastik und Baukunst zu Lyrik, Epos und Drama, a.a.O., 65, mehr als ein kühner Einfall ist.
Geheim A LOIS H AHN
V ORBEMERKUNG Die anschließenden Überlegungen zur Soziologie des Geheimnisses verstehen sich ausdrücklich nicht als Beiträge zu einer vertieften Interpretation Georg Simmels, obwohl Simmel in gewisser Weise den klassischen Text zum Thema geschrieben hat. Im Vordergrund stehen Überlegungen zum Geheimnis selbst, die aber immer wieder auf Simmel und seine bahnbrechenden Einsichten rekurrieren.
1. U NIVERSALITÄT
VON
G EHEIMNISSEN
Bei anonymen Umfragen kommt heraus, dass nahezu kein einziger der Befragten nicht irgendeinmal gegen die Gesetze verstoßen hat. Wir1 alle haben gestohlen, betrogen, Steuer hinterzogen, die Ehe gebrochen, beim Examen gemogelt oder sind mit erhöhtem Alkoholpegel Auto gefahren. Selbst für Verbrechen mittlerer und schwerster Art liegt die Dunkelziffer ziemlich hoch. Wir alle also begehen Taten, von denen wir hoffen, dass niemand von ihnen erfährt. Unser Wohlbefinden, unsere bürgerliche Integrität und in gewisser Weise auch unsere soziale Identität hängt davon ab, dass geheim bleibt, was wir getan haben. Wir könnten nicht mehr sein, wer wir sind, wenn alle wüssten, was wir waren. Das trifft für unser Handeln zu. In erheblich verstärktem Maße trifft das auf unsere Gedanken zu, auf unsere Motive, unsere Pläne, unsere Wünsche, auf unsere Gefühle, Begierden und Abneigungen. Man stelle sich für einen Moment vor, wir lebten in einer Welt, in der jeder die Gedanken des anderen lesen könnte. Man kann sich das zwar ausmalen, aber in einer 1
Selbstredend geht der Autor davon aus, dass dieses ‚Wir‘ ihn selbst und seine Leser nicht einschließt. Meine Leser und ich sind die zahlenmäßig geringe Ausnahme, für die das Folgende nicht gilt.
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solchen Welt könnten wir nicht leben. Die reale Situation für uns alle ist eben dadurch charakterisiert, dass wir im Normalfall nicht alles sagen, was wir denken. Wir verheimlichen, dass wir A. am liebsten ermorden würden, uns gegenüber B. vielleicht Freiheiten herausnähmen, die ihn empören würden, wenn er es wüsste. C. verschweigen wir, dass wir ihn für einen Idioten, D., dass wir ihn für einen Verbrecher halten, E., dass er uns langweilt, und F., dass wir sie attraktiver finden als erlaubt. Hass und Neid, Verachtung und Begehren sind so, wie wir es empfinden, nur in den seltensten Fällen ohne allergrößte Komplikationen mitteilbar. Ja, man darf vielfach unsere Empfindungen nicht einmal erraten, wenn wir nicht uns und die anderen in teuflische Verlegenheit bringen wollen.2 Zum Glück ist es aber so, dass unsere Gedanken eben deshalb frei sind, weil niemand sie lesen kann. Bisweilen allerdings glauben andere, sie könnten es doch. Auch wenn wir nichts sagen, geschweige denn tun, wird unser Körper als Enthüllungsgenerator interpretiert, der wider unseren eigenen Willen ausplaudert, was wir niemandem gestehen möchten.3 Immerhin können wir uns gegen jede solche Interpretation wehren. Wir können bestreiten, dass das, was andere für Entlarvung unserer Geheimnisse halten, auf uns zutrifft. Zumindest ist deutlich, dass es einen großen Unterschied macht, ob wir uns unterstellte Gedanken leugnen müssen oder ob wir eventuell von anderen wahrgenommene Taten oder Dritten mitgeteilte Äußerungen bestreiten müssen. Es scheint mir deshalb sinnvoll, zwischen verschiedenen Formen dessen, was man geheim halten möchte, zu unterscheiden. Ich gehe dabei der Einfachheit halber von den Möglichkeiten aus, die alter ego hat, sich in den Besitz unserer Geheimnisse zu versetzen. Er kann entweder versuchen, uns zum Sprechen zu bringen oder er kann uns so genau und umfassend beobachten, dass er, auch ohne dass wir etwas mitteilen, unsere Geheimnisse durchschaut. Beide Verfahren der Enthüllung von Geheimnissen spielen in allen Gesellschaften eine bedeutende Rolle. Simmel zählt hier außer der Enthüllung eines Geheimnisses durch Mitteilung auch noch das Spionieren, die unbeabsichtigte automatische Beobachtung und das Schließen auf etwas (GSG 11: 399).4 2
Simmel geht sogar so weit zu sagen, dass auf dieser Art von wechselseitigem Nichtwissen alles soziale Leben basiert ist: „[...] und es ist überhaupt kein anderer Verkehr und keine andere Gesellschaft denkbar, als die auf diesem teleologisch bestimmten Nichtwissen des einen um den anderen beruht“, GSG 11: 388.
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Hierzu Alois Hahn, Kann der Körper ehrlich sein?, in: Hans Ulrich Gumbrecht, Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt/M. 1988, 666-679. Wiederabdruck in Alois Hahn, Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Aufsätze zur Kultursoziologie, Frankfurt/M. 2000, 353-366.
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Ohnehin steht bei Geheimnisverrat typischerweise die Mitteilung im Zentrum der Aufmerksamkeit. Der Entdecker von Geheimnissen ist deshalb zumeist der ‚Lauscher‘. Man könnte sagen, das Ohr sei die zentrale sinnliche Instanz, über die sich Geheimnisentde-
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Wir wollen uns zunächst der ersten Form zuwenden. Welche Gründe könnten mich bewegen, etwas zu erzählen, was eigentlich geheim bleiben soll?
2. E NTHÜLLUNGSGENERATOREN 2.1 Anonymität Eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Mitteilung von Geheimnissen scheint die glaubwürdige Zusicherung von Vertraulichkeit zu sein. Selbst die anfangs zitierten anonymen Umfragen hätten nicht das referierte Ergebnis erbracht, wenn die Befragten den Wissenschaftlern nicht geglaubt hätten, dass die Antworten anonym bleiben. Hier war es also der Glaube an die Verschwiegenheit der Forscher, der zu Bekenntnissen geführt hat. Dabei handelte es sich im strengen Sinne freilich nur um ‚halbe‘ Geständnisse. Denn die Befrager konnten schließlich die Aussagen ihren Urhebern nicht zuordnen. Daran hatten sie allerdings auch kein Interesse. Sie wollten lediglich statistische Werte erfassen. Dass man ein entsprechendes Interesse gar nicht vermuten konnte, hat hier zur Preisgabe des Geheimnisses geführt. Aber bisweilen geben Menschen auch persönliche Geheimnisse preis, obwohl das Bekenntnis dem Autor eindeutig zuzuordnen ist. Das trivialste Beispiel dafür wäre etwa die Situation, in der man einem Fremden im Zug Dinge mitteilt, die man sonst niemandem sagen würde. Hier geht man davon aus, dass der Fremde auch ein Fremder bleibt, dass also das, was er erfahren hat, niemals zurückgekoppelt werden wird an die Situation, aus der die Enthüllungen stammen. Auch hier ist die Voraussetzung zur Enthüllung des Geheimnisses eine eigentümliche Form von Anonymität, die der oben geschilderten weitgehend analog ist. Man sagt jemandem etwas, ckung abspielt. Wie Hartmann Tyrell in der Debatte sehr eindrucksvoll festgestellt hat, wird dabei das Auge vergessen. Gerade für Simmel (und er ist sicher einer der ersten Soziologen, die darauf ihr Augenmerk gelegt haben) ist aber die Differenz der Sinne eine zentrale Basis für Ausdifferenzierung von Kommunikation, dazu sein Exkurs über die Soziologie der Sinne, GSG 11: 722-742. Näher betrachtet erweist sich allerdings, dass Simmels ‚Soziologie‘ der Sinne eher eine ‚Anthropologie‘ ist; ganz im Gegensatz zu den immer noch viel zu wenig beachteten Überlegungen des jungen Karl Marx. Bei ihm handelt es sich wirklich um eine ‚Soziologie‘ der Sinne. Die Differenz von Auge und Ohr erscheint hier als wesentlich durchformt erst durch die geschichtliche Gewordenheit und die soziale Bestimmung der jeweiligen sinnlichen Vermögen. Dies kann hier nicht weiter ausgeführt werden, dazu aber Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), in ders., Friedrich Engels, Werke, hg. v. Institut f. Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1957ff., Bd. 40, 465-588, hier 540ff. Simmel konnte allerdings auf diesen fundamentalen Text nicht Bezug nehmen, da er erst nach seinem Tode publiziert wurde.
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weil man davon ausgeht, ihn nie wieder zu sehen. Es ist aber sofort klar, dass man ihm niemals alles nur Denkbare mitteilen würde. Verbrechen etwa würde man ihm gegenüber verschweigen.5 Gestünde man einen Mord, würde er vermutlich die Polizei verständigen. Die hier kommunizierten Geheimnisse entspringen deshalb auch typischerweise der Sphäre der privaten Beziehungen, die zwar von allgemeinem Interesse sein können, insofern man sich gleichsam romanhaft für fremde Schicksale interessieren mag. Aber man muss nicht unterstellen, dass der anonyme Gesprächspartner versucht, den Ehepartner aufzuspüren, den betrogen zu haben man mitteilt.
2.2 Institutionalisierte Geheimhaltung von enthüllten Geheimnissen Von sehr viel größerer sozialer Bedeutung sind institutionalisierte Formen der Enthüllung von Geheimnissen, wie sie etwa die Beichte, die medizinische Anamnese, Gespräche mit dem Anwalt oder die Psychoanalyse darstellen. Hier herrscht keinesfalls Anonymität. Der Beichtvater, der Anwalt oder der Analytiker kennt die Person sehr genau, die ihm unter Umständen Geheimnisse mitteilt, deren öffentliche Enthüllung den Ruin des Klienten bedeuten könnten. Der Klient weiß das in der Regel auch. Warum gibt er sein Geheimnis trotzdem preis? Zunächst einmal sind es natürlich mächtige Interessen, die hier die Zunge lösen. Für den Gläubigen ist ohne Bekenntnis kein Heil, für den Kranken ohne Offenheit keine Heilung zu erlangen. Der Angeklagte kann hoffen, dass das Geständnis gegenüber dem Anwalt die Entlarvung vor Gericht und deshalb eine schwere Strafe verhindert. Dies alles würde aber möglicherweise nicht ausreichen, wenn nicht zusätzlich die Garantie gegeben würde, dass der Konfident das ihm offenbarte Geheimnis als Geheimnis behandelte, das er seinerseits keinesfalls verraten darf. Ich habe in meinen Arbeiten zur Beichte6 5
Ingo Meyer weist mich zu Recht darauf hin, dass es auch Leute gibt, welche sich als Verbrecher erfinden, um sich interessant zu machen, außerdem auf Patricia Highsmiths Der Fremde im Zug, wo ja in der Tat eine Art Ausnahme beschrieben wird. Aber gerade im letzteren Fall ist dieser Ausnahmecharakter eben die Pointe eines Kriminalromans.
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Alois Hahn, Zur Soziologie der Beichte und anderer Formen institutionalisierter Bekenntnisse: Selbstthematisierung und Zivilisationsprozeß, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 34 (1982), 407-434. Wiederabdruck in ders., a.a.O., 197236. Zur gleichen Problematik aus mediävistischer Perspektive Peter von Moos: ‚Herzensgeheimnisse‘ (occulta cordis). Selbstbewahrung und Selbstentblößung im Mittelalter, in: Aleida u. Jan Assmann, Alois Hahn, Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.), Schleier und Schwelle. Archäologie der literarischen Kommunikation, München 1997, Bd. 5.1: Geheimnis und Öffentlichkeit, 89-110.
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und zur Psychoanalyse zur Charakterisierung des hier wirkenden Mechanismus die Metapher des paradoxen Generators benützt: Kommunikationsverbote erlauben sonst nicht mögliche oder doch unwahrscheinliche Kommunikation. Das Briefgeheimnis7 ließe sich in den gleichen funktionalen Zusammenhang einordnen: Auch hier wird – allerdings im Bereich des schriftlichen Verkehrs – durch die Unterstellbarkeit von Geheimhaltung Kommunikation möglich, die sonst unterbliebe. Dass auch das Bankgeheimnis in diese Rubrik fällt, mag auf den ersten Blick nicht einleuchten. Doch wer sich erst dazu durchgerungen hat, auch Zahlungen für Kommunikationen zu halten8, dem wird es nicht schwerfallen einzusehen, dass nur Vertrauen in Geheimhaltung bestimmte finanzielle Transaktionen ermöglicht, die sonst ausblieben. Es zeigt sich jedenfalls, dass heutzutage die Konten dorthin wandern, wo Dritte sich nicht über deren Inhalt informieren können. Auch Simmel hat auf die gesteigerten Möglichkeiten der Heimlichkeit beim Geldverkehr hingewiesen, die sich aus der Abstraktheit und Qualitätslosigkeit, vor allem aber aus der ‚Fernwirkung‘ ergeben. Insbesondere betont er die Offenlegungspflichten gegenüber dem Staat als Schutzmechanismus: „Seit der ökonomische Wertverkehr sich durchgehends mittels Geldes vollzieht, ist ihm eine sonst unerreichbare Heimlichkeit möglich geworden. Drei Eigenschaften der Geldform der Werte werden hierfür wichtig: Seine Komprimierbarkeit, die es gestattet, jemanden mit einem Scheck, den man unbemerkt in seine Hand gleiten läßt, zum reichen Manne zu machen; seine Abstraktheit und Qualitätslosigkeit, vermöge deren Transaktionen, Erwerb und Besitzwechsel in einer Weise versteckt und unkenntlich gemacht werden können, wie sie unmöglich ist, solange Werte nur als extensive, unzweideutig greifbare Objekte besessen werden können; endlich seine Fernwirkung, mittels deren man es in den entferntesten und in fortwährend wechselnden Werten investieren und es dadurch dem Auge der nächsten Umgebung ganz entziehen kann. Diese Dissimulierungsmöglichkeiten, die sich in dem Maß der Vergrößerung geldwirtschaftlicher Verhältnisse ergeben und ihre Gefahren besonders bei dem Wirtschaften
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Hierzu Cornelia Bohn, Ins Feuer damit. Zur Soziologie des Briefgeheimnisses, in: Schleier und Schwelle, a.a.O., 41-51. Simmel behandelt im entsprechenden Exkurs über den schriftlichen Verkehr, GSG 11: 429-433, erstaunlicherweise nicht die institutionellen Voraussetzungen, auf denen das Briefgeheimnis basiert. Er bezieht sich vielmehr ausschließlich auf die Spannung zwischen der prinzipiellen Öffentlichkeit des Schriftmediums und der geheimnissichernden Selektivität von beobachtungsentzogenen Mitteilungen.
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Dazu Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M., 1988, 17ff., 52ff. u. passim. Die Identifikation von Geld und Kommunikation stammt natürlich von Talcott Parsons, On the Concept of Political Power, in: Ders., Sociological Theory and Modern Society, New York 1967, 297-354.
328 | A LOIS H AHN mit fremden Gelde entfalten müssen, haben als Schutzmaßregel die Öffentlichkeit für die Finanzgebarungen der Aktiengesellschaften und der Staaten hervorgerufen“ (ebd.: 411).9
Die älteren Formen der Geheimhaltungsgarantien zur Überwindung von Heimlichkeit beziehen sich allerdings auf die Frage, wie man die konträren Interessen von Selbstkontrolle (also Verschwiegenheit, Verbergen des eigenen Inneren) und Vertrauensgewinnung (also Mitteilung und Selbstoffenbarung) miteinander versöhnen kann. Bei näherem Hinsehen wird man bald gewahr, dass die beiden einander scheinbar widersprechenden Techniken des Aufbaus von Selbstkontrolle und Affektdisziplin: Verhüllung und Enthüllung, auf intime Weise miteinander verbunden sind. Auch derjenige, der seine Gefühle zu taktischen Zwecken verbergen will, tut ja gut daran, sich zuvor über sich selbst genauestens klar zu werden. Die Selbstkontrolle setzt insofern Selbsterkenntnis voraus. Der reflexive Blick auf das eigene Ich muß umso schonungsloser ausfallen, je sicherer die Selbstverhüllung vor anderen sein soll. Im religiösen Kontext gibt es nun eine Technik, die Selbstenthüllung und Geheimnis systematisch – eine stabilisierte Spannung – miteinander verbindet: die Beichte. Dort fallen die für den modernen Zivilisationsprozess entscheidenden Selbstdomestikationstechniken zusammen: Verhüllung und Enthüllung. Das wird insbesondere da deutlich, wo die Beichte nicht mehr nur Bericht über einzelne Taten, sondern auch sorgfältige Auslotung der eigenen Motive und Neigungen wird, und wo vor allem nicht punktuelle Wiedergabe disparater Sünden, sondern – wie in der Generalbeichte – systematische Nachzeichnung der Gesamtbiographie erstrebt wird. Sich selbst als zeitliches Ganzes gewinnt man im Bekenntnis. Aber das Bekenntnis bleibt geheim: außer für den Beichtvater oder den geistlichen Direktor. Die 9
Gerade die aktuellen Finanzkrisen ließen sich im Übrigen auch als ‚Geheimniskrisen‘ interpretieren. Die Doppeldeutigkeit des Geheimnisses für Vertrauenssicherung einerseits und Vertrauensmissbrauch andererseits zeigt sich hier deutlich. Generell zur Problematik des Vertrauens in diesem Kontext Niklas Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 21973. Dabei ist die normalerweise Luhmann zugeschriebene Differenz von Person- und Systemvertrauen – fast bis auf den Ausdruck hin – eine Simmelʼsche Trouvaille: „Bei reicherem und weiterem Kulturleben dagegen steht das Leben auf tausend Voraussetzungen, die der Einzelne überhaupt nicht bis zu ihrem Grunde verfolgen und verifizieren kann, sondern die er auf Treu und Glauben hinnehmen muß. In viel weiterem Umfange, als man sich klar zu machen pflegt, ruht unsere moderne Existenz – von der Wirtschaft, die immer mehr Kreditwirtschaft wird, bis zum Wissenschaftsbetrieb, in dem die Mehrheit der Forscher unzählige, ihnen gar nicht nachprüfbare Resultate anderer verwenden muß – auf dem Glauben an die Ehrlichkeit des anderen. Wir bauen unsere wichtigsten Entschlüsse auf ein kompliziertes System von Vorstellungen, deren Mehrzahl das Vertrauen, das wir nicht betrogen sind, voraussetzt“, GSG 11: 389.
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Empfehlungen an das Beichtkind gehen schon seit dem 16. Jahrhundert dahin, dass die Vorbereitung auf das Geständnis zweckmäßig durch schriftliche Aufzeichnung geschieht: das Tagebuch als Beichtinstrument. Wer die Literatur der Puritaner untersucht, wird nun ebenfalls sofort die große Bedeutung des Tagebuchs bemerken, und zwar sowohl als reales, aber privates, geheimzuhaltendes Dokument der Selbsterforschung, als auch als fiktives Tagebuch, das dann wieder den realen Tagebüchern als Vorlage dient. Das Tagebuch wird somit zur Beichte ohne Beichtvater.10 Dass die moderne Psychoanalyse in dieser Hinsicht ähnlich arbeitet, liegt auf der Hand. Auch hier wird eine Form von Selbstkontrolle durch Selbstenthüllung angestrebt. Dabei ist auch hier der Analytiker-Beichtvater erforderlich, um das Geheimnis des Selbst zu lüften und aus dem Unbewußten zu heben. Zugleich aber ist die Sitzung selbst nach außen hin natürlich geheim. Geheimnis und Verhüllung, Selbstkontrolle und Selbsterkenntnis, Verbergen und Offenbaren, Bekennen und Simulieren bzw. Dissimulieren erweisen sich also gleichsam als zwei Seiten eines Prozesses oder im Sinne Simmels: einer „Form“, die von religiösen, therapeutischen und politischen Zielsetzungen ergriffen und gefördert werden kann. Die Resultate sind jene eigentümlichen Selbstdomestikationen, welche die Moderne auszeichnen. Immer da, wo Freiwilligkeit der Selbstoffenbarung angestrebt wird, finden sich Kombinationen von Bekenntnis und Geheimnis. Die Beichte, aber auch die Psychoanalyse und auf andere Weise die zahlreichen Formen von Anamnese vor dem Arzt oder dem Anwalt sind als verhüllte Enthüllungen die Synthesis zwischen Selbstentblößung und Selbstverdeckung. Man könnte in diesem Zusammenhang eine begriffliche Unterscheidung treffen. Es ließe sich von Heimlichkeit sprechen, wenn jemand etwas nur ihm Bekanntes auf keine Weise preisgibt; von Geheimnis hingegen, wenn innerhalb einer sozialen Beziehung davon ausgegangen werden kann, dass eine Information, die für die Mitglieder keinesfalls geheim ist, Dritten gegenüber geheimgehalten wird.11 Dass dies geschieht, setzt typischerweise strenge Normen voraus. Der Beichtvater riskiert sein Seelenheil, der Arzt oder der Anwalt seine Stellung. Zudem sind solche berufsethischen Deontologien auch durch verinnerlichte Werte und Gewissensbindungen abgesichert. Simmel verweist neben äußerer Strafandrohung auf notwendige Lern-
10 Ingo Meyer weist mich in diesem Zusammenhang freundlicherweise darauf hin, dass Moritzʼ Anton Reiser aus einem pietistischen Tagebuch hervorging, dazu Robert Minder, Glaube, Skepsis und Rationalismus. Dargestellt aufgrund der autobiographischen Schriften von Karl Philipp Moritz (1936), Frankfurt/M. 1974. 11 Ausführlicheres zu dieser Unterscheidung bei Alois Hahn, Soziologische Aspekte von Geheimnissen und ihren Äquivalenten, in: Schleier und Schwelle, a.a.O., 23-40.
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und Habitualisierungsprozesse hin, in denen das Schweigen gleichsam eingeübt werden kann.12 Der Enthüllungsgenerator (also das, was jemanden zur Preisgabe ansonsten verheimlichter Informationen veranlasst) bestünde demnach in institutionalisierten Verknüpfungen von Mitteilungsinteressen und Geheimhaltungspflichten. Bezogen auf unseren terminologischen Vorschlag, zwischen Heimlichkeit bzw. Verheimlichung einerseits und Geheimnis bzw. Geheimhaltung andererseits zu unterscheiden, ließe sich jetzt formulieren, dass Geheimhaltungsvertrauen Verheimlichungsinteressen überwinden kann. Dabei bleibt dieses Vertrauen ebenso prekär wie die es stützenden Garantien. Das zeigt sich etwa daran, dass man in bestimmten Situationen beobachten kann, dass Geheimnisse verraten werden, weil dem Verräter Geheimhaltung des Geheimnisverrats in Aussicht gestellt wurde. Umgekehrt begründet gerade das unterstellte Vertrauen in Geheimhaltung die Zuversicht, der Beichtende oder der Briefschreiber werde ehrlich sein. Verräter und Siegelbrecher verletzen ein ihnen gewährtes Vertrauen. Wenn aber Beichtende oder Briefschreiber von vornherein nicht mit Geheimhaltung rechnen, werden sie ihrerseits nur das sagen oder zu Papier bringen, was ihnen bei Verrat nicht schaden kann. Der Verräter wird dann zum betrogenen Betrüger. Ich reklamiere hier also den Ausdruck Heimlichkeit für die Differenz zwischen Bewusstsein und Kommunikation, den des Geheimnisses für Zugangssperren zwischen Systemen der Kommunikation.
3. G EMEINSAME G EHEIMNISSE KOLLEKTIVER I DENTITÄT
ALS
B ASIS
VON
Die Existenz von Geheimnissen stellt also soziologisch ein doppeltes Problem dar. Es muss nämlich einerseits verständlich werden, welche Gründe dazu motivieren, Heimlichkeiten in Geheimnisse zu verwandeln. Dann aber stellt sich die Frage, was Personen, die im Besitz eines solchen sind, daran hindert, es zu verraten. Einige Gründe haben wir eben bereits erwähnt: Heilsinteressen, Berufsethik und Angst vor diesseitigen und jenseitigen Sanktionen. Zusätzlich aber kommt ins Spiel, dass alle Gruppenbildungen auf internen Solidaritäten basieren, die eine Grenze gegenüber
12 „Der Eid und die Strafandrohung stehen hier obenan und bedürfen keiner Erörterung. Interessanter ist die öfters begegnenden Technik, den Novizen überhaupt erst einmal systematisch schweigen zu lehren. Angesichts der [...] Schwierigkeiten, die Zunge wirklich absolut zu hüten, [...] bedarf es zunächst einmal des Schweigen-Lernens überhaupt, ehe das Verschweigen einzelner bestimmter Vorstellungen erwartet werden kann“, GSG 11: 426.
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Dritten darstellen. Diese Grenze wird immer auch durch faktische oder vermeintliche Wissensdifferenzen charakterisiert. Es geht aber eben nicht nur um rein faktische Verteilung, sondern um normative Dramatisierung solcher Verschiedenheiten. Diese lässt sich aber am ehesten durch Solidarität begründende Geheimhaltung herstellen. Diese unterstreicht und beschwört insofern die Abgrenzung von anderen. Sie stiftet eben dadurch Identität. Ein Geheimnis in diesem Sinne charakterisiert die Personen, die es teilen, als eine Gruppe. Die Außengrenze zur Gruppe fällt dann mit der Differenz zwischen Geheimnisträgern und Nichteingeweihten zusammen. Viele Gesellschaften verwenden diese Tatsache geradezu als Prinzip innerer Gruppenbildung.13 Dort, wo Arbeitsteilung herrscht, können die Grenzen zwischen den Gruppen ohnehin leicht durch Differenzen der Wissensverteilung gebildet werden. Geheimhaltung brächte hier nur noch eine zusätzliche Absicherung. In Gesellschaften mit geringem Grad kultureller oder struktureller Differenzierung kann aber als Leitfaden für Binnendifferenzierung in der Regel hauptsächlich an den Verschiedenheiten des Alters und des Geschlechts angeknüpft werden. Die ‚natürlichen‘ Differenzen ‚tragen‘ indessen nur zum Teil die auf ihnen aufgebauten symbolischen Konstrukte. Oder anders ausgedrückt: Die Natur stellt nicht genügend Differenz zur Verfügung, um die strukturbildendenden Distinktionen sinnfällig zu machen. Geheimhaltung ermöglicht die symbolische Kreation von Differenzen, die bei frei zugänglicher wechselseitiger Kenntnis zusammenbräche. Geheimhaltung fungiert insofern direkt als Mechanismus zur Erzeugung von Differenz und indirekt als Gruppengenerator. So bemerken z.B. Wilbert E. Moore und Melvin M. Tumin in einem klassischen Artikel über soziale Funktionen von Ignoranz, dass in nicht-literaten Gesellschaften die Aufrechterhaltung der strukturfundierenden Wissensverteilungen anhand der Geschlechts- und Altersgrenzen auf Geheimnisbildungen und sozialer Sicherung von 13 Man könnte auch sagen, Geheimnisse fungieren als „Interdependenzunterbrecher“, etwa zwischen Subsystemen: Man kann in einem System reden und handeln, ohne dass das Folgen für das andere hätte. Diesen Ausdruck hat Luhmann in Auseinandersetzung vor allem mit der Kybernetik entwickelt. Speziell in Bezug auf die Problematik der Eigendynamik von Systemen gegenüber ihrer Umwelt bemerkt Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde., Frankfurt/M. 1997, 768: „Auf sich selbst angewiesen, erzeugen die Funktionssysteme in sich selbst Eigenzeiten und Ungleichheiten, die gesellschaftlich nicht mehr koordiniert werden können.“ Er verweist in diesem Zusammenhang unter anderem auf W. Ross Ashby, Einführung in die Kybernetik, Frankfurt/M. 1974; dazu auch Luhmann, Einführung in die Systemtheorie, hg. v. Dirk Baecker, Heidelberg 22004, 52. Luhmann selbst hat das Konzept auch in anderen Texten immer wieder verwendet, z.B. schon in ders., Funktion der Religion, Frankfurt/M. 1977, 28ff., sowie in zahlreichen anderen Werken, etwa ders., Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1984, 55 u. passim.
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Zugänglichkeitsgrenzen gegenüber dem Wissen der reziproken Gruppen organisiert sei: „The universal diffusion of age-respect as an organizing principle of social relations in primitive societies is functionally dependent upon and compatible with differential distribution of skills and knowledge along age lines. Since most primitive societies surround these differentials with traditional sanctions, and since knowledge of alternatives is highly limited, the situation is essentially stable. The contrasting case in Western civilization serves further to document these contentions. In Western society there is an observable attrition in parental control over children and an equalization of power as between the sexes, in part because of the accessibility of extra-familial sources of knowledge and skill. Where the young can learn skills independently of the instruction of their parents, and where females have an increasing access to economic independence, there tends to be a marked attenuation of the power based on the 14
former parental and male monopolies of knowledge and skills.”
Der Zusammenhang von Geheimbundbildung und Sicherung von sozialer Struktur lässt sich jedenfalls an einer Reihe von Arbeiten über Geheimgesellschaften in nicht-literaten Gesellschaften belegen. Geheimbünde können allerdings auch genau umgekehrte Funktionen übernehmen: Im Schoße ihrer Intransparenz gegenüber den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft lassen sich alternative Ordnungen durchsetzen oder erproben. Das ist ganz deutlich für den Fall krimineller Vereinigungen, deren Existenz an ihrer Organisationsform als Geheimbund hängt. Doch wäre hier natürlich auch an politische Formen des Geheimbundes zu denken, wie er zur Vorbereitung der bürgerlichen Revolution in Frankreich und generell als Instrument der Aufklärung in Europa eine große Rolle gespielt hat (Freimaurerei, die Berliner Mittwochsgesellschaft und zahllose andere mehr). Geheimbünde definieren sich dann als ‚Übergangszustand‘, der irgendwann einmal der Öffentlichkeit weichen kann (ebd.: 423). Ein wichtiger Unterschied in diesem Zusammenhang ergibt sich daraus, ob das Bestehen eines Geheimnisses selbst bekannt oder ebenfalls ein Geheimnis ist (ebd.: 422f.). Im zweiten Fall könnte man von ‚reflexiven‘ Geheimnissen sprechen. Für manche sozialen Funktionen des Geheimnisses ist es notwendig, dass die Tatsache ihres Bestehens bekannt ist: So werden oft Rangdifferenzen durch Hierarchisierung von Wissen abgebildet, also etwa durch die Differenz von esoterischen und exoterischen Mitgliedern, eine Art ‚Doppelschließung‘ im Sinne der Systemtheorie (ebd.: 445). Wer aber selbst nicht eingeweiht ist, muss doch wissen oder glauben, dass andere am Geheimnis teilhaben. Im Extremfall kann das Geheimnis, das zur Bildung 14 Wilbert E. Moore, Melvin M. Tumin, Some Social Functions of Ignorance, in: American Sociological Review 14 (1949), 787-795, hier 790.
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einer Gruppe führt, darin bestehen, dass es gar kein Geheimnis gibt.15 Es muss verborgen werden, dass es nichts zu verbergen gibt. Umgekehrt gibt es zahllose andere Fälle, in denen das Geheimnis nur von sozialer Bedeutung sein kann, wenn niemand weiß, dass ein Geheimnis vorliegt. Dass liegt z.B. bei bestimmten Oppositionsgruppen auf der Hand. Bisweilen ist zwar die Existenz solcher Gruppen bekannt, nicht aber die Mitgliedschaft. Schließlich kann sich das Geheimnis manchmal lediglich auf die Tätigkeiten oder Wissensinhalte der im Übrigen völlig bekannten Gruppe beziehen. Wie man an diesen Beispielen sieht, lassen sich Typen von Geheimnissen unterscheiden, die für höchst verschiedene Formen des Gruppenlebens funktional sind.
4. I NFORMATIONELLE S ELBSTBESTIMMUNG UND G EHEIMHALTUNGSRECHTE Geheimnisse oder Geheimhaltung können erlaubt, verboten oder geboten sein. Natürlich ist die Geheimhaltung eines Geheimnisses für die Mitglieder eines Geheimbundes immer verpflichtend. Aber es macht einen Unterschied, ob diese Pflicht auch durch die umgebende Gesellschaft sanktioniert wird oder nicht. Betriebsgeheimnisse etwa genießen in unserer Gesellschaft rechtlichen Schutz. Das gleiche gilt etwa für Beichtgeheimnisse oder ärztliche Schweigepflichten. Man könnte also von institutionalisierten Geheimhaltungsrechten oder -Pflichten sprechen. Eine historisch bedeutsame Entwicklungslinie ist sicher die Verschiebung von Legitimationslinien in Bezug auf Geheimhaltungsmonopole: So ist etwa für den absolutistischen Staat charakteristisch, dass er sich aller privaten Geheimhaltung widersetzt, ein Eingriffsrecht des Staates verlangt, während die arcana regni, die Staatsgeheimnisse, sakrosankt sind.16 In demokratischen Gesellschaften hingegen besteht eine umgekehrte Tendenz: Privatheit steht unter Geheimhaltungsschutz, die Sphäre des Politischen duldet kein Geheimnis mehr, oder jedenfalls gelten tatsächlich dort doch vorhandene Geheimnisse als illegitim oder suspekt.
15 Eines der vielen Beispiele dafür wäre sicher auch der George-Kreis, dazu Theodor W. Adorno, George und Hofmannsthal. Zum Briefwechsel 1891-1906 (1939/40), in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u.a., Frankfurt/M. 1970ff., Bd.10.1, 195237, hier 199: Es gibt gar kein ‚Geheimnis‘ (ich verdanke diesen Hinweis einmal mehr Ingo Meyer). 16 Dazu Lucian Höscher, Öffentlichkeit und Geheimnis. Ein begriffsgeschichtliche Untersuchung zu Entstehung der Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1979, 135ff. u. passim.
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In vielen Gesellschaften (auch in unserer) ist es nun aber nicht nur verboten, ein Geheimnis auszuplaudern. Vielmehr kann das Tabu sich bereits auf die Frage danach beziehen. Nicht der Verräter bricht dann ein Tabu, sondern der Lauscher. Das Verbot bezieht sich auf die Frage, nicht auf die Antwort. Dem Befragten stehen dann Schweigerechte zu, denen Schweigepflichten der Handlungspartner korrespondieren. Das kann ein besonderes berufliches Privileg sein: Der Arzt, der Pfarrer, der Journalist dürfen schweigen und müssen es. Es kann sich auch um ein jedem Bürger zustehendes Recht auf Privatheit handeln, der seine informationelle Selbstbestimmung rechtlich geltend macht. Die Entscheidungen des Verfassungsgerichts im Zusammenhang mit dem Volkszählungsurteil zeigt an, was hier gemeint ist: Es gibt Frageverbote für den Staat, die nicht nur den nächtlichen Lauschangriff, sondern auch die offene Befragung einschränken. Ein besonders interessanter Fall für diese Einschränkung ist das Prinzip „nemo tenetur seipsum prodere“ bzw. „nemo tenetur seipsum accusare”. Damit ist der strafprozessrechtliche Grundsatz gemeint, dass niemand verpflichtet ist, sich durch belastende Auskünfte zum Beweismittel gegen sich selbst zu machen.17 Er entstammt dem angelsächsischen Rechtskreis. In England bürgert er sich – unter problematischer Berufung auf die Magna Charta – seit dem 16. Jahrhundert als Prinzip des Common Law mehr und mehr ein und setzt sich um die Mitte des 17. Jahrhunderts schließlich in der Gerichtspraxis durch. Im 18. Jahrhundert wird er im amerikanischen Recht wirksam, seine Verankerung in der Verfassung bringt das V. Amendment. In Deutschland ist der Grundsatz in der Reichsstrafprozessordnung von 1877 kodifiziert. Der gegenwärtig geltende Wortlaut stammt aus der sog. Kleinen Strafprozessreform von 1964. Während für das kontinentale Recht bis ins 19. Jahrhundert gilt, dass der Angeklagte auskunftspflichtig ist, für Lügen bestraft werden kann, setzt der Nemo tenetur-Grundsatz das gegenteilige Recht fest. Für Kontinentaleuropa wurde der Selbstbezichtigungszwang historisch wesentlich mitbegründet durch den im IV. Laterankonzil festgelegten Offizialeid „De veritate dicenda“, den der Angeklagte vor Beginn des Verhörs leisten mußte. Auch unabhängig von Folterungen, die ihn zur Preisgabe von Geheimnissen zwingen konnten, setzte er sich damit der Gefahr aus, im Falle des Verschweigens von belastenden Tatsachen meineidig zu werden und damit ewige Jenseitsstrafen auf sich zu ziehen. In Preußen gilt auch nach der Aufhebung der Folter 1740 durch Friedrich den Großen die Ungehorsams- oder Lügenstrafe. Und noch in der Preußischen Criminal17 Dazu Martin Nothelfer, Die Freiheit vom Selbstbezichtigungszwang, Heidelberg 1989. Dort auch eine Fülle weiterer Literatur. Den Hinweis auf die Problematik des Nemo tenetur-Konzepts, die einschlägige juristische Literatur und zahlreiche brillante rechtshistorische und rechtssoziologische Gedanken zum Thema verdanke ich Knut Amelung, Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozeß. Dogmatische Grundlagen individualrechtlicher Beweisverbote, Berlin 1990.
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ordnung vom 11. Dezember 1805 wird das richterliche Kollegium befugt, den Beschuldigten, der nicht gestehen will, der Prügelstrafe zu unterziehen, damit „der halsstarrige und verschlagene Verbrecher durch freche Lügen und Erdichtungen oder durch verstocktes Leugnen oder gänzliches Schweigen sich nicht der verdienten Strafe entziehen möge“ (§ 292). Die gegenwärtige Rechtssituation sieht, wie gesagt, anders aus. Nicht nur der verdächtige Beschuldigte, sondern erst recht der ‚normale‘ Bürger darf Geheimnisse vor dem Staat haben. Er darf dem Staat sagen: „Nie sollst Du mich befragen“. Was Elsa nicht durfte, darf der Staat erst recht nicht. Freilich war Lohengrin ein besonderer Fall. Er bewertete als Verstoß, was eigentlich als legitim gilt. Er richtete ein Tabu auf, wo Freiheit herrschen sollte. In einem tieferen Sinne allerdings erweist sich die Fabel als wahr: Wer kein Geheimnis mehr voreinander hat, kann gleich den Schwan bestellen. Im Falle Wagners scheint überdies das Fragetabu die besondere Pointe zu haben, dass man dem rettenden Künstler keine Auskunft abverlangen soll. Der Zauber wirkt nur bei fragloser Gläubigkeit. Damit nähert sich die künstlerische Autorität der göttlichen und der aus ihr oft abgeleiteten herrschaftlichen: Sie verträgt nicht nur keine Kritik, schon die Frage nach der Identität kann die Aura zerstören. Die Frage entblößt und zeigt den Kaiser nackter als ihm guttut.
5. E NTHÜLLUNG VON G EHEIMNISSEN DURCH B EOBACHTUNG : F OLTER , K ÖRPER , S PUREN Wie oben bereits erwähnt, ist die Enthüllung des Verborgenen durch mehr oder minder frei erteilte Auskünfte nur ein Weg, Heimlichkeit zu überwinden oder Geheimnisse zu entdecken. Man kann auch versuchen, sich von Bekenntnissen und Geständnissen unabhängig zu machen. Wer alles sieht, braucht sich nichts berichten zu lassen. Klassischerweise ist die Position des Allwissenden, vor dem es kein Geheimnis gibt, Gott vorbehalten. Den Beichtvater kann man betrügen und belügen, Gott nicht. Die Unterstellung, dass eh schon alles bekannt ist, kann dann umgekehrt dazu veranlassen, alles zu bekennen. Das Bekenntnis wäre aber in diesem Falle keine Enthüllung mehr: Es gäbe ja kein Geheimnis. Aber die Gesellschaft ist nicht Gott und weiß das auch. Deshalb hat man stets versucht, die problematische Wahrheit von Bekenntnissen durch Beobachtungen abzusichern. Als ein besonders probates Mittel, an Geheimnisse zu gelangen, ist dabei in allen Gesellschaften stets die Beobachtung des Körpers angesehen worden. Vor allem dem Schmerz wurde und wird oft die Funktion eines Schlüssels zugeschrieben, wenn es darum geht, einem Schweigsamen oder einem Lügner ein Geheimnis zu entreißen.
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Daher rührt die Bedeutung der Folter als de facto nie verschwundene Methode, den Leib als Geisel gegen das Bewusstsein einzusetzen. Sie wäre nicht möglich, wenn nicht unterstellt würde, dass der Körper die via regia zur Aufdeckung von Geheimnissen ist. Das Bewusstsein mag sich entziehen wollen, aber die stärkste Waffe, über die die Gruppe verfügt, die physische Marter, holt das Individuum aus seiner Verborgenheit zurück, zwingt es, sich zu offenbaren. Auch hier ist den Folterern nicht in jedem Fall Erfolg beschieden. Einerseits gibt es erstaunliche Kompetenzen im Ertragen von Schmerz. Und Gesellschaften, die sich selbst gegen den Geheimnisverrat ihrer Geheimnisträger schützen müssen, können zumindest Spezialisten zu Fakiren der Schmerzbewältigung ausbilden. Die Macht des Schmerzes ist zumindest in Grenzen sozial erzeugt und sozial limitierbar. Andererseits erzählt der Gequälte, um nur vom Schmerz befreit zu werden, oft nicht das, was er weiß, sondern das, von dem er hofft, dass es die Peiniger hören wollen. Subtilere Folterregelungen, wie etwa die in der Carolina enthaltene, haben diesem Tatbestand auch Rechnung getragen, indem sie nur solche Fragen zuließen, die Evidenzen produzierten, die unabhängig von der Tortur durch Beobachtung überprüfbar waren, z.B. die Frage nach dem Versteck der Mordwaffe. Der Inquirierte sollte außerdem nur „solch warzeychen vnnd vmbstende [...] gefragt werden, die keyn vnschuldiger wissen oder sagen kan“.18 Diese Kautelen reichten aber nicht aus, um bei Hexenprozessen gegen Erfindungen gefeit zu sein. Das bemerkt zu haben, ist eine der großen Leistungen Friedrich Spees gewesen. Beim Hexenprozess ließ sich das Geständnis eben nicht nachprüfen, außer durch die Übereinstimmung mit anderen Geständnissen. Spee konnte deshalb zeigen, dass beim Deliktstyp Hexerei die Folter dazu führt, dass das inkriminierte Phänomen nicht entdeckt, sondern erzeugt wird. Er ist nicht grundsätzlich gegen das Verfahren der Folter, da es, wenn es nur bei vorgängigen drückenden Beweisen und hartnäckigem Leugnen des Angeklagten, der ohne ein Geständnis nicht verurteilt werden kann, angewandt werde, ein unverzichtbares Instrument der Wahrheit, ja ein Schutz des Verdächtigen sein könne.19 Bei den Hexenprozessen führe die Folter aber ausnahmslos zu tödlichen Ergebnissen: „Denn unter dem Drucke der Folter beschuldigt eine Schuldlose die andere, von der sie doch nichts weiß, und zieht sie so mit sich. Man will nicht die Wahrheit hören, sondern daß einfach alle sich schuldig bekennen.“20 18 Die Peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 (Carolina), hg. v. Gustav Radbruch u. Arthur Kaufmann, Stuttgart 1975, 56 (§ 53). Dazu auch John H. Langbein, Torture and the Law of Proof. Europe and England in the Ancien Régime, Chicago 1976. 19 Alois Hahn, Die Cautio Criminalis, in: Gunther Franz (Hg.), Friedrich Spee. Dichter, Seelsorger, Bekämpfer des Hexenwahns zum 350. Todestag. Katalog einer Ausstellung der Stadtbibliothek Trier, Trier 1985, 57-61. 20 Friedrich von Spee, Cautio Criminalis oder Rechtliches Bedenken wegen der Hexenprozesse (1632), München 1982, 255.
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Der Leib erweist sich also selbst diesem extremen Mittel gegenüber nicht ausnahmslos als ‚ehrlich‘, sondern lediglich als ‚gehorsam‘. Der Glaube jedenfalls, der Leib sei eine absolute Garantie gegen individuellen Trug und gesellschaftliche Manipulation, ein letztes Bollwerk, gehört, wie gerade die Logik der Folter zeigt, zu den nicht einmal unschuldigen Träumereien. Der Körper ist nie völlig gefügig, weder dem Bewusstsein noch der Gesellschaft. Aber daraus erwächst ihm kein Privileg größerer ‚Aufrichtigkeit‘. Von der kann man ohnehin nur in Bezug auf Texte sprechen. Der Körper ist nie nur Text. Wie ehrlich er sein kann, das hängt davon ab, welche ‚Lektüren‘ zur Verfügung stehen. Das Geheimnis erschließt sich also nicht schon aus der Mitteilung als solcher. Nur in Kombination mit Beobachtung kann man sich (halbwegs) auf sie verlassen. Da, wo für die Wahrhaftigkeit einer Mitteilung über ein Geheimnis keine direkte empirische Überprüfung möglich war, ergab sich daher stets – und heute ist es nicht anders – ein besonderes Problem. Was soll man etwa unternehmen, wenn das Geheimnis selbst eine ‚innere‘ Tatsache ist, wenn es sich also z.B. um die Behauptung wahrer Liebe im religiösen oder erotischen Bereich handelt? Ist dabei unterstellt, dass die behauptete innere Realität für den Fall der sozialen Anerkennung ‚Nutzen‘ abwirft (etwa Pfründen oder das Gewähren der ‚dernières faveurs‘)? Die Antwort auf beide Fragen ist zumindest seit dem Beginn der europäischen Neuzeit ähnlich ausgefallen: Entscheidend sind die Taten und die langfristige Beobachtung. So lässt Bussy-Rabutin eine seiner Heldinnen sagen, dass zwar auch die aufrichtigen Geliebten ihren Amants unentwegt zärtliche Worte sagen oder schreiben: „Mais, comme cela seulement ne leur prouve pas leur amour, parce que les coquettes en disent autant ou plus tous les jours, leurs actions et leurs procédés justifient assez le fond de leur cœur, parce qu’il n’y a que cela d’infaillible. On peut toujours dire qu’on aime, quoiqu’on n’aime pas; on ne peut avoir longtemps un procédé tendre pour quelqu’un sans l’aimer.“21
Für die europäische Geschichte der Neuzeit ist es nun höchst folgenreich gewesen, dass neben neue Formen der Motivation zum Bekennen und Gestehen (Foucault spricht vom modernen Menschen als einem „Geständnistier“) auch neue Formen der Überwachung getreten sind. Man könnte geradezu sagen, dass die bislang Gott zugedachte Stelle des universalen Beobachters aus der Transzendenz in die Immanenz zurückgeholt wird. Der neuzeitliche „Wille zum Wissen“ versucht, Geheimnisse gar nicht erst entstehen zu lassen. Gibt es sie aber, so macht er ihre Bewahrung unwahrscheinlich. Dem genauen Beobachter, dem Wissenschaftler, bleibt nichts geheim. Dazu ist es allerdings einerseits erforderlich, die Gesellschaft selbst wie ein Labor zu organisieren, also permanenter Einsichtnahme zugänglich zu ma21 Roger Comte de Bussy-Rabutin, Histoire amoureuse des Gaules (1662), Paris 1967, 76.
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chen, und andererseits eine Technik der Spurenlektüre zu institutionalisieren, die es gestattet, sich von jeder Selbstäußerung weitgehend unabhängig zu machen. Es reicht ein Blick auf die Spuren, die Indizien, die Veränderungen des Körpers, um jedes Geheimnis zu entschleiern. Im Bereich der populären Literatur korrespondiert dieser aufklärerischen Weltsicht die Gestalt des Detektivs, der jede noch so raffiniert angelegte Täuschung durchschaut. Sherlock Holmes oder Hercule Poirot brauchen keine Geständnisse, um zur Wahrheit zu finden. Sie beobachten und schließen. Geständnisse sind dann nur noch die Ratifikation der bereits vorher erreichten Aufklärung. Der Hintergrund all dieser Utopien ist aber die soziale Überwindung von Heimlichkeit und der Wunsch nach Entschlüsselbarkeit aller Geheimnisse. Als theoretische Rekonstruktion dieser Entwicklung kann man das von Foucault entwickelte Modell des Panoptismus auffassen.22 Es konstruiert die Logik der Macht seit dem 18. Jahrhundert als Vorstellung universaler Überwachbarkeit. Die Voraussetzung für die Entstehung der modernen Humanwissenschaften als Überwinder aller Heimlichkeiten liegt in den Institutionen, die das Individuum dem Expertenblick verfügbar machen, mag es sich ihm gezwungen oder freiwillig stellen. Am Anfang der Humanwissenschaften stehen machtgestützte Zugriffsmöglichkeiten. Die Entwicklung verschärft sie, insofern das im Kontext der Kontrolle gewachsene Wissen auf die Methoden der Kontrolle zurückschlägt, sie verfeinert, intensiviert und über den Rahmen geschlossener Anstalten hinaus verallgemeinert, in dem sie ursprünglich entwickelt und erprobt wurden. In dem Maße, wie nahezu alle Lebensäußerungen von der Sexualität bis zum beruflichen Erfolg, von der Verdauungsstörung bis zum Seelenheil unter die therapeutische Kompetenz geraten, wird die Kontrolle durch den Expertenblick zur Normalform der Selbstüberwachung. Dabei wird ein eigentümlicher Mechanismus wirksam, der zur Übernahme der Kontrollen ins Innere der Patienten oder Delinquenten führt. Foucault analysiert ihn am Beispiel der Benthamschen Überwachungsutopie des Panoptikons. Hier sollen in einem Mauerkreis Einzelzellen erbaut werden, die von einem im Hof errichteten Turm aus ständig einsehbar sind, ohne dass die Zelleninsassen sehen können, ob dieser besetzt ist oder nicht. Da sie nicht wissen können, ob sie beobachtet werden, müssen sie sich stets so verhalten, als ob sie es würden, selbst wenn der Aussichtsposten tatsächlich leer ist. An die Stelle der äußeren spektakulären Strafrituale tritt so die permanente Überwachung, die schließlich auch wegfallen kann, weil die Fiktion der Überwachtheit ausreicht, um die Insassen gefügig zu machen. Der Überwachte übernimmt die Perspektive des Überwachenden. Selbst wenn er etwas geheim halten möchte, es würde ihm nicht gelingen. Das Panoptikon wäre als Realität die Verwirklichung einer Welt ohne Geheimnis. Das Wissen, überwacht zu werden, 22 Michel Foucault, Surveiller et punir. Naissance de la Prison, Paris 1975, als Kommentar dazu mit weiteren Literaturangaben Cornelia Bohn, Alois Hahn, Michel Foucault, in: Dirk Kaesler, Ludgera Vogt (Hg.), Hauptwerke der Soziologie, Stuttgart 2000, 123-127.
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wirkt auf den Anstaltsinsassen, wie ihn Foucault beschreibt, analog wie auf den von Norbert Elias dargestellten Höfling die Permanenz der kommunikativen Situation oder auf den Weberschen Puritaner der zur Erlangung subjektiver Heilsgewissheit ständig wirksame Kontrolldruck. Die Subjekte werden Resultate der punitiven oder therapeutischen Prozeduren und Diskurse, die sich auf sie richten. Ihre Geheimnislosigkeit ist die Basis ihrer Domestikation. Auch hier fehlt es nicht an fiktionalen Texten, die der Überwachungsutopie Anschauungsmaterial liefern. Man denke nur an die Orwellschen Visionen. Die Differenz zu den Kriminalromanen herkömmlicher Prägung liegt lediglich darin, dass Sherlock Holmes oder Poirot als Privatleute agieren, während die Idee des Panoptikons mit der Möglichkeit der Zentralisierung des alle Geheimnisse überwindenden Blicks rechnet. Der Große Bruder braucht keine Detektive mehr. Wie man leicht sieht, stellen diese Überwachungsmodelle zunächst eigentümliche Omnipotenzphantasien dar. Zur Zeit ihrer Entstehung hätte es zu ihrer Verwirklichung ein Vielfaches von dem bürokratischen Aufwand bedurft, der tatsächlich zur Verfügung stand. Noch unter den Bedingungen des Stasi-Staates der DDR reichte das gesamte Heer der Informellen Mitarbeiter nicht aus, um ein empirisches Panoptikon zu schaffen. Selbst wenn die Stasi wirklich alle Geheimnisse hätte speichern können, es hätte ihr an einem System des raschen Zugriffs auf die Daten gefehlt, der die Kenntnis des Geheimen hätte operativ werden lassen. Für Computerfreunde: Es fehlte eine wirksame retrieval function. Wie vor allem die Untersuchungen Goffmans gezeigt haben,23 bilden sich selbst in totalen Institutionen wie Gefängnissen oder psychiatrischen Anstalten Zonen des geheimen Lebens heraus, die von den Insassen vor den Wächtern geheim gehalten werden können. Dieses ‚underlife‘ scheint jedenfalls bislang nicht einmal durch die totalsten Kontrollen völlig domestizierbar zu sein. Allerdings ergeben sich mit den neuen elektronischen Medien auch ganz neue Formen des unbeabsichtigten Hinterlassens und der gezielten Entzifferung von Spuren, die jedes Rumpelstilzchen als hoffnungslos naiv erscheinen lassen. Die Lesbarkeit jeder Äußerung macht die Idee der Geheimhaltung auch nur eines Moments der empirischen Existenz eines Menschen zur Fiktion: Jede Kommunikation im Internet wird zum virtuellen Pfad zur Entschlüsselung der Person, die sich unbeobachtet glaubt. „Doch es ist nicht nur das Internet, das dazu beiträgt, Daten schnell aufzufinden und zu verknüpfen. Mobiltelefone zeigen den Funkbetreibern bis auf wenige Meter genau die Position eines eingeschalteten Gerätes an [...]. Die Daten aller Aufenthaltsorte werden als sogenanntes Bewegungsprofil vom Netzbetreiber längere Zeit gespeichert. Das hilft den Ermittlungsbehörden schon lange bei der Verbrechensbekämpfung und könnte theoretisch 23 Erving Goffman, Asylums. Essays on the Social Situation of Mental Patients and Other Inmates, New York 1961. Für eine umfassende Interpretation von Goffmans Werk Herbert Willems, Rahmen und Habitus, Frankfurt/M. 1997.
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selbst von Verkehrsgerichten genutzt werden, etwa wenn jemand behauptet, zum Zeitpunkt eines Verkehrsverstoßes nicht am Ort des Geschehens gewesen zu sein. Wie mit Mobiltelefonen lassen sich auch mit Kreditkarten Bewegungs- und Nutzungsprofile erstellen [...]. Eine andere Art von Daten wird mit Hilfe sogenannter Überwachungskameras gesammelt. Nach britischem Vorbild entwickelt, helfen sie künftig nicht nur öffentliche Plätze zu sichern, sondern sind dank modernster Software in der Lage, vollautomatisch Gesichter aus einer Personenmenge herauszulesen. Damit können dann Kriminelle identifiziert werden.“24 Wo wir gehen und stehen, hinterlassen wir also Spuren, als Benutzer von Banken, Telefonen, als Patienten, Käufer, Verkehrsteilnehmer, Examenskandidaten, Mieter usw. „Werden Informationen aus verschiedenen Quellen zusammengeführt, lassen sich durch das sogenannte ‚Überschneidungswissen‘ Einzelpersonen umso leichter wieder identifizieren, je differenzierter die einzelnen Merkmale oder Merkmalskombinationen sind. Zum Überschneidungswissen aller Datenbanken zählen etwa Beruf, Familienstand, Zahl der Kinder, Wohnort und Alter. Ein 51 Jahre alter verheirateter Universitätsprofessor mit drei Kindern, der etwa in Aschaffenburg wohnt, läßt sich so mit geringem Aufwand von einem Fachmann auch in anonymen Datenbanken wiederfinden.“25
Auch hier freilich steht zu vermuten, dass sich das ‚underlife‘ zu dieser Überwachung in dem Maße herausbildet, wie die Methoden bekannt werden, auf die sie sich stützt. Immerhin ist die Neuartigkeit der Situation doch nicht zu übersehen: Seit der Erfindung des modernen Postwesens konnten die meisten Teilnehmer an dieser Kommunikationsform davon ausgehen, dass Briefgeheimnisse im Normalfall nir24 Udo Ulfkotte, Nie war der Mensch so gläsern wie heute. Kreditkarten, Mobiltelefone und Internet-Surfen hinterlassen lange Datenspuren, in: FAZ Nr. 237 v. 12. Oktober 2000, 8. Verglichen mit diesen neuen Techniken der Datenerhebung und ihres Wiederfindens sind die älteren Verfahren zur Lüftung des Geheimnisses der Identität von Personen, die sich auf die Lektüre der Fingerabdrücke oder der Handschrift oder die Identifikation von Passbildern stützen, lediglich als (freilich nach wie vor benutzte) Vorreiter anzusehen. Hierzu Martin Stingelin, En face et en profil. Der identifizierende Blick von Polizei und Psychiatrie, in: Bernd Busch, Udo Liebelt, Werner Oder (Hg.), Fotovision. Projekt Fotografie nach 150 Jahren, Hannover 1988, 181-187; Alois Hahn, Handschrift und Tätowierung, in: Hans Ulrich Gumbrecht, Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.), Schrift, München 1993, 201-217, Wiederabdruck in: Ders., Konstruktionen, a.a.O., 367-386. Dazu auch ders., Wohl dem, der eine Narbe hat: Identifikationen und ihre soziale Konstruktion, in Peter von Moos (Hg.), Unverwechselbarkeit, Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, Köln 2004, 43-62. 25 Ulfkotte, a.a.O., 8.
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gends so sicher bewahrt waren wie auf der Post. Hier nämlich gilt die übliche Annahme gerade nicht, dass den Heimlichkeiten und den Geheimnissen entsprechende Absichten zur Enthüllung entsprechen und dass die einen gern verschweigen möchten, was die andern gern erführen. Hier gibt es im Normalfall gar kein Interesse an fremden Geheimnissen. Die anderen können mir so gleichgültig sein, dass mir nicht nur das, was sie mir gerne mitteilen möchten, sondern auch ihre Geheimnisse gestohlen bleiben können. Vermutlich liegt in dieser Tatsache der beste Schutz von Geheimnissen überhaupt. Der Briefbote mag auch durch ethische Postulate und Sanktionsfurcht an der Schnüffelei gehindert werden. Wirksamer dürfte sein, dass ihn der Inhalt der meisten Briefe die er überbringt, absolut nicht interessiert. Die neuen Formen der Kontrolle elektronischer Mitteilungen basieren darauf, dass sie im anonymen Raum des Gleichgültigen Spuren entdecken können. Die Indifferenz des Mediums stiftet zunächst einmal ein Vertrauen auf Unzugänglichkeit des Zugangs für Dritte. Aber die vorher unbekannte Form kategorialen Zugriffs auf riesige Datenbestände und die Möglichkeit, diese persönlich zuzuordnen, erlaubt es eben, aus der unendlichen Fülle des Uninteressanten den einzigen Brief herauszufischen, der mich über mich betreffendes Privatestes aufklärt. Schon immer hat man sich das allmächtige Wissen als einen unermesslichen Speicher von Informationen vorgestellt. Aber wie Edgar Allan Poes Text über den verlorenen Brief zeigt, geht es gar nicht allein darum. Die unendliche Bibliothek, in der alle Geheimnisse verzeichnet wären, wäre lediglich das Geheimnis der Geheimnisse, weil man ein Buch bloß verstellen müsste, um es schlechthin unauffindbar zu machen.26 Der Computer aber macht jedes Wort, wo immer es steht, in Sekundenschnelle präzise lozierbar. Wissen ist eben nicht primär gleich Speichern, sondern vor allem sofortiges Wiederfinden, nicht Gedächtnis, sondern Erinnerung.27 Das Geheimnis verschwindet nicht dadurch, dass es geschrieben wird. Seine Entdeckung ist die Lektüre.
6. U NAUSSPRECHLICHKEIT
VON
G EHEIMNISSEN
Bislang haben wir so argumentiert, als liege das Hauptinteresse eines ‚Geheimnisträgers‘ darin, sein Geheimnis zu verbergen und es gegen unerwünschte Lauscher oder Voyeure zu schützen, durch Schweigsamkeit, durch Vorsicht, Diskretion oder auch durch Raffinesse und Täuschung. Umgekehrt erschien die Entdeckung fremder Geheimnisse eher wie ein Akt der Kriegsführung: Man entreißt dem anderen 26 Jorge Luis Borges, Die Bibliothek von Babel, in: Ders., Die Bibliothek von Babel. Erzählungen, Stuttgart 1974, 47-57. 27 Hierzu Alois Hahn, Das Gedächtnis der Wissenschaft, in: Ders., Konstruktionen, a.a.O., 294-314; ders., Erinnerung und Prognose. Zur Vergegenwärtigung von Vergangenheit und Zukunft, Opladen 2003.
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etwas gegen dessen Widerstand. Das ist aber nur eine Facette des Problems. Freilich scheint diese Art der Betrachtung bis ins 19. Jahrhundert hinein die dominante gewesen zu sein. Dass man den anderen nicht durchschaut, liegt daran, dass er sich geschickt verbirgt oder uns elegant hinters Licht zu führen weiß. Die Undurchschaubarkeit des anderen ist Folge seiner strategischen Kunst, zu simulieren und zu dissimulieren. Er tut dies, weil er ein Interesse, ein politisches, militärisches, ökonomisches oder erotisches, daran hat, es zu erzeugen. Der andere erscheint nicht als grundsätzlich rätselhaft oder geheimnisvoll. Gerade dass er undurchschaubar sein möchte, ist keinesfalls geheimnisvoll, sondern höchst verständlich. Das Problem ist nicht, dass man sich nicht verständlich machen könnte, sondern dass man nicht durchschaut werden möchte. Dem korrespondieren dann entsprechende Strategien. Der Dissimulator heuchelt Ehrlichkeit, die die Moral als zentrale Tugend empfiehlt. Der Adressat von Ehrlichkeitsbeteuerungen bleibt skeptisch, weil echte Ehrlichkeit von bloß gut dargestellter nicht zu unterscheiden ist. Die daraus entspringende Paradoxie wird dann selbst bemerkt und kommentiert, so etwa, wenn La Rochefoucauld formuliert: „La sincérité est une ouverture de cœur. On la trouve en fort peu de gens; et celle que lʼon voit dʼordinaire nʼest quʼune fine dissimulation pour attirer la confiance des autres.“28 Oder in der daran anschließenden Gedankenführung des Fräuleins von Scudéry: „Ceux qui sont les plus dissimulez se revestent du moins de sincérité: car sans cela leur dissimulation seroit inutile“29. Wenn es in diesem Kontext zu einer Differenz zwischen Empfindung und Ausdruck kommt, so liegt das nicht an der grundsätzlichen Schwierigkeit, dass alle Äußerungen gegenüber dem, was sie ausdrücken wollen, ohnmächtig und inadäquat sind, sondern an der zwischen beide tretenden absichtlichen Unehrlichkeit der gelungenen Selbstinszenierung. Nun fehlen solche gleichsam alteuropäischen Formen des Verbergens existenzieller Geheimnisse weder in der Wirklichkeit des modernen Lebens noch in der Literatur. Überleben oder doch die Rettung einer geheimen Identität vor Beschädigung und Diffamierung ist auch in der Gegenwart immer wieder nur aufgrund von Täuschungen, Simulationen und Dissimulationen zu bewerkstelligen. Besonders eindrucksvolle Beispiele dafür finden sich etwa im Werk Prousts. Schon die Tatsache, dass ein großer Teil des Personals durch die sozial stigmatisierte Homosexuali28 La Rochefoucauld, Maximes (éd. Truchet), Paris 1967, 20 (Maxime 62 der Ausgabe von 1678). 29 Madeleine de Scudéry, Mathilde (d‘Aguilar), Genf 1979, 156 (Nachdruck der Ausgabe von 1667). Zur gesamten Problematik Margot Kruse, Justification et critique du concept de la dissimulation dans l'œuvre des moralistes du XVIIe siècle, in: Manfred Tietz, Volker Kapp (Hg.), La Pensée religieuse dans la littérature et la civilisation du XVIIe siècle en France. Actes du Colloque de Bamberg 1983. Papers on French Seventeeth Century Literature, Paris 1984, 147-170.
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tät gezwungen ist, eine falsche sexuelle Identität zu affichieren, führt laufend zu bewussten Dissimulationen. Diese werden dadurch besonders erschwert, dass man ja gleichzeitig den ‚Normalen‘ gegenüber die Fiktion der Normalität aufrecht erhalten muss, während man sich zum Zwecke der Kontaktsuche, also zur Aufrechterhaltung der wahren Identität, gerade demaskieren muss. So missverstehen die ‚Normalen‘ den der homosexuellen ‚drague‘ dienenden Langzeitaufenthalt des Barons Charlus im Rambuteau-Häuschen als Beleg für ein Blasenleiden, und dieser tarnt sich als ‚homme à femmes‘, um nicht für das gehalten zu werden, was er ist: „Constamment le maître d’hôtel disait: Certainement M. le baron de Charlus a pris une maladie pour rester si longtemps dans une pistière. Voilà ce que c'est que d'être un vieux coureur de femmes. Il en a les pantalons. Ce matin, Madame m’a envoyé faire une course à Neuilly. A la pistière de la rue de Bourgogne, j’ai vu entrer M. le baron de Charlus. En revenant de Neuilly, bien une heure après, j’ai vu ses pantalons jaunes dans la même pistière, à la même place, au milieu, où il se met toujours pour qu’on ne le voie pas.“30
Solche Stellen ließen sich beliebig vermehren. Aber sie könnten – wie gesagt – durchaus mit inszenierten Dissimulationen verglichen werden, wie wir sie aus der Literatur des 17. Jahrhunderts kennen. Ich denke etwa an die berühmte Stelle in den Memoiren des Cardinal de Retz, wo er beschließt, weil er schon nicht fromm leben kann, doch so zu scheinen, um der Lächerlichkeit zu entgehen: „Je pris, après six jours de réflexion, le parti de faire le mal par dessein, ce qui est sans comparaison le plus criminel devant Dieu, mais ce qui est sans doute le plus sage devant le monde: et parce qu’en le faisant ainsi l’on y met toujours les préalables, qui en couvrent une partie; et parce que l’on évite, par ce moyen, le plus dangereux ridicule qui se
30 Marcel Proust, La Prisonnière, in: Ders., A la recherche du temps perdu, hg. v. Pierre Clarac u. André Ferré, Paris 1959 (éd. Pléiade), Bd. 3, 190; ders., Die Gefangene 1, in: Ders., Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Frankfurt/M. 1967, Bd. 9, 251: „Unaufhörlich wiederholte der Diener: ‚Sicher hat der Herr Baron sich eine Krankheit zugezogen, dass er so lange in einer ‚Retorte‘ bleiben muß. Das kommt davon, wenn man ein alter Schürzenjäger ist, er hat auch ganz die Hosen danach. Diesen Morgen hat Madame mich auf einen Gang nach Neuilly geschickt. Ich habe gerade gesehen, wie der Herr Baron die ‚Retorte‘ an der Rue de Bourgogne betrat. Als ich eine gute Stunde später von Neuilly zurückkam, habe ich seine gelben Hosen immer noch in der gleichen ‚Retorte‘ und an derselben Stelle in der Mitte bemerkt, wo er sich immer hinstellt, damit ihn keiner sieht’“. Eva Rechel-Mertens’ Übersetzung von „pistière“ mit „Retorte“ scheint mir nicht besonders glücklich. Besser wäre vielleicht „Bedarfsanstalt“.
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puisse rencontrer dans notre profession, qui est celui de mêler à contretemps le péché dans la confession.“31 Das Geheimnis der Identität ist in diesen und ähnlichen Fällen sozusagen kein essenzielles, sondern ein existenzielles. Das, was eigentlich erst seit dem 19. Jahrhundert als viel schlimmeres Dilemma empfunden wird, ist nicht das durch Täuschung absichtlich herbeigeführte Missverstehen, sondern die für Menschen konstitutive wechselseitige Unverständlichkeit, die den Handelnden zunächst nicht sichtbar wird, sondern sich nur dem beobachtenden Blick des Romanciers und seiner Leser zeigt. Sie verstehen dann, dass die Figuren des Romans sich nicht verstehen können, und zwar nicht, weil sie einander täuschen wollen, sondern weil die wechselseitige Fremdheit Verstehen überhaupt nahezu unmöglich macht. Das Geheimnis muss nicht verborgen werden. Es entzieht sich vielmehr tragischerweise durch Unkommunizierbarkeit jeder intersubjektiven Enthüllung. In diesem Augenblick wird nicht mehr Simulation oder Dissimulation zur Quelle von Missverständnissen, sondern es wird - umgekehrt - die unterstellte Unmöglichkeit, verstanden zu werden, zum Motiv für Dissimulationen. Man sagt dann bestimmte Dinge gar nicht erst, weil mit Verstehen ohnehin nicht mehr zu rechnen ist. Eine berühmte Romanpassage, in der diese Inversion sichtbar wird, findet sich in der Éducation sentimentale von Flaubert: „On découvre chez l’autre ou dans soimême des précipices ou des fanges qui empêchent de poursuivre; on sent, d’ailleurs, que l’on ne serait pas compris; il est difficile d’exprimer exactement quoi que ce soit, aussi les unions complètes sont rares.“32 Die Pointe schon dieser Stelle bei Flaubert liegt – ähnlich wie später bei Proust – darin, dass die Undurchdringlichkeit des Geheimnisses nicht zwischen einander Fremden herrscht, sondern gerade Menschen in Situationen trifft, wo sie einander ganz nah zu sein scheinen. Nicht, weil man kein Verständnis füreinander hat, bleibt einem der andere ein Rätsel. Gerade wenn das Optimum an Verstehbarkeit erreicht ist, wird die Verborgenheit seines Inneren offenkundig.33 Bei Proust wird diese Erfahrung indessen ungleich intensiver als bei Flaubert dargestellt. Sie wird auch unmittelbar in Verbindung gebracht mit der Jemeinigkeit der Konstitution von Welt. „L’univers est vrai pour nous tous et dissemblable pour chacun“.34 Und diese Unähnlichkeit der verschiedenen Weltsichten ist so groß, dass 31 Cardinal de Retz, Œuvres (éd. Pléiade), hg. v. Marie-Thérèse Hipp u. Michel Pernot, Paris 1984, 173. 32 Gustave Flaubert, L’éducation sentimentale (éd. Vernière), Paris 1957, 355. 33 Zahlreiche Beispiele, insbesondere für den Bereich der Romantik, finden sich auch bei Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/M. 1982. 34 Proust, La Prisonniére, a.a.O., 191; ders., Die Gefangene, a.a.O., 252: „Die Welt ist wahr für uns alle, doch verschieden für jeden einzelnen“.
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man fast sagen kann, jedes Individuum konstruiere sich seine Welt je für sich: „Ce nʼest pas un univers, cʼest des millions, presque autant quʼils existent de prunelles et dʼintelligences humaines“35. In der vormodernen Welt Europas war nur Gott ein schlechterdings unverständliches Mysterium. Zumindest für die Theologia Negativa stand fest, dass wir von Gott allenfalls sagen können, was er nicht ist, aber kein positives Wissen von ihm erlangen können. Seit dem 19. Jahrhundert beginnt der Mensch, sich auch in dieser Hinsicht an die Stelle Gottes zu setzen. Zuerst sind es wohl die Dichter, die derartige Erfahrungen zum Ausdruck bringen. Aber gleichzeitig mit Proust formuliert auch Husserl die These von der Transzendenz alter egos. Und die Heideggersche Dramatisierung der Jemeinigkeit des Daseins unterstreicht zwar eher den Charakter der existenziellen Unvertretbarkeit als den der kognitiven Intransparenz. Die beiden Positionen hängen aber eng miteinander zusammen. Schließlich lässt sich auch empirisch zeigen, dass selbst bei länger zusammen lebendenden Ehepaaren ledigliche fiktive Transparenzen eine wechselseitige Opakheit oft nur oberflächlich kaschieren.36 Die Befunde scheinen also widersprüchlich: Der Hoffnung auf oder der Angst vor einer Gesellschaft der absoluten Transparenz des gläsernen Menschen und der virtuellen Geheimnislosigkeit steht die Empfindung der totalen Rätselhaftigkeit des eigenen Ich und a fortiori die der anderen gegenüber. Oder zeigen sich in dem, was zunächst als Widerspruch erscheint, lediglich zwei Seiten der gleichen Medaille?
35 Proust, La Prisonnière, a.a.O., 191; ders., Die Gefangene, a.a.O., 252: „[...] denn nicht eine Welt, sondern tausend Welten, fast ebenso viele wie es Augenpaare und denkende Hirne gibt“. 36 Dazu Alois Hahn, Konsensfiktionen in Kleingruppen. Dargestellt am Beispiel von jungen Ehen, in: Friedhelm Neidhardt (Hg.), Gruppensoziologie. Perspektiven und Materialien, Opladen 1983, 210-232.
Der Weg zu Simmels ‚kleiner‘ Soziologie O TTHEIN R AMMSTEDT
Neun Jahre nach seiner Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung von 1908 mit einem Umfang von 782 Seiten in Oktav veröffentlichte Georg Simmel seine Grundfragen der Soziologie (Individuum und Gesellschaft) mit 103 Seiten in Sedez, die mit Blick auf den Obertitel sowie den Umfang – und weil es die einzigen Monographien Simmels blieben, in deren Obertitel das Wort ‚Soziologie‘ auftaucht – schnell als ‚große‘ und ‚kleine‘ Soziologie apostrophiert wurden. Die Grundfragen standen jedoch noch in anderer Verbindung zum Titel ‚Soziologie‘, denn sie erschienen 1917 als Neufassung des Bandes 101 der Sammlung Göschen.1 Erstmals wurde 1899 ein Göschen-Band 101 veröffentlicht, und zwar eine Sociologie von Thomas Achelis. Für die Soziologie-Interessierten war das kurz vor der Jahrhundertwende ein Ereignis, war dieser Band doch eine der ersten deutschsprachigen Veröffentlichungen, die schon im Titel ‚Soziologie‘ führte2 – während
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Dazu Angela u. Otthein Rammstedt, Sammlung Göschen 101 – auch eine Publikationsgeschichte von Simmels kleiner Soziologie, in: Simmel Newsletter 8 (1998), 161-183.
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Zu nennen sind hier die Veröffentlichungen von Fedor Schmidt-Warneck, Die Sociologie Fichte‘s, Berlin 1884; ders., Die Sociologie im Umrisse ihrer Grundprincipien. I. Theil, Braunschweig 1889 (mehr nicht erschienen), von Ludwig Gumplowicz, Grundriss der Sociologie, Wien 1885; ders., Soziologie und Politik, Leipzig 1892, von Paul Barth, Die Philosophie der Geschichte als Soziologie, Bd. 1, Leipzig 1897 (mehr nicht erschienen) und von Ludwig Stein, Wesen und Aufgabe der Sociologie, Berlin 1898, sowie die Übersetzungen der einschlägigen Arbeiten von Herbert Spencer, Einleitung in das Studium der Sociologie, 2 Bde., Leipzig 1875; ders., Die Principien der Sociologie, 3 Bde., Stuttgart 1877.
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die breite Öffentlichkeit mit dem Titel nichts anfangen konnte.3 So war für die Sammlung Göschen, die sich dem Ziel verschrieben hatte, dem „gebildeten Laien eine klare, leichtverständliche Einführung in Gebiete zu verschaffen, die seinen besonderen Studien, seinem eigentlichen Berufe ferner liegen“, die Herausgabe des Bandes 101 ein Wagnis, selbst wenn der Autor, der Bremer Pädagoge Achelis (1850-1909) einschlägig als Autor populär gehaltener Publikationen eine gewisse Bekanntheit genoss.4 Und fast folgerichtig fand die Sociologie von Achelis, die von Evolutionismus, Sozialismus und Völkerpsychologie geprägt war, kaum Beachtung. Hatte der Verlag angenommen, den Band in fünf Jahren abzusetzen, so fand er erst ab 1903 entsprechend der sprunghaft anwachsenden Beachtung der Disziplin in der Öffentlichkeit zunehmend Käufer; 1908 kam es zu einer zweiten, überarbeiteten Auflage, die sich der Nationalökonomie (Bücher, Oncken, Roscher, Schmoller, Sombart, Julius Wolf) verpflichtete – und damit dem Selbstverständnis der aktuellen Soziologie im deutschen Sprachraum widersprach, wie es sich mit der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und im Werturteilsstreit offenbarte.5 Trotzdem war diese zweite Auflage so schnell vergriffen, dass sich der Verlag bemüßigt sah, 1912 einen Nachdruck dieser Auflage zu präsentieren – eine Notlösung, denn einerseits wollte man der steigenden Nachfrage gerecht werden, andererseits konnte man wegen des Todes von Achelis im Jahr den Band nicht auf den
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Selbst für die Interessierten war die Bezeichnung ‚Soziologie‘ nur in Verbindung mit Auguste Comtes positivistischer Philosophie geläufig; als Zeitzeugen: Ernst Viktor Zenker, Soziologie, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Zweiter Supplementband, Jena 1897, 757-769; Osian Thon, The Present Status of Sociology in Germany, in: American Journal of Sociology 2 (1896/97), 567-588, 718-736, 792-800. – Dazu auch Otthein Rammstedt, Zweifel am Forschritt und Hoffen aufs Individuum, in: Soziale Welt 36 (1985), 483-503.
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Genannt seien hier nur seine Arbeiten: Entwicklung der modernen Ethnologie (1888); Entwicklung der Ehe (1893); Vergleichende Religionswissenschaft (1893); Friedrich Nietzsche (1895); Über Mythologie und Kultus von Hawaii (1895); Vergleichende Rechtswissenschaft (1896); H. Steinthal (1898); Ethik (1898) und später, nach der Sociologie noch: Grundzüge der Lyrik Goethes (1899); M. Lazarus (1900); Wandlungen der Pädagogik (1901); Über die kulturelle Bedeutung der Ekstase (1902); Grundriß der vergleichenden Religionswissenschaft (1903); Was sagt uns Goethe? – Ein Goethe-Brevier (1905).
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Otthein Rammstedt, Die Frage der Wertfreiheit und die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, in: Lars Clausen, Carsten Schlüter (Hg.), Hundert Jahre „Gemeinschaft und Gesellschaft“. Ferdinand Tönnies in der internationalen Diskussion, Opladen 1991, 549-561.
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aktuellen Stand bringen. Dieser Nachdruck galt dann auch bereits vor dem Ersten Weltkrieg als überholt.6 Wie es in der G. J. Göschenschen Verlagsbuchhandlung GmbH zu dem Entschluß kam, Simmel als Autor eines Nachfolgebandes für Sammlung Göschen 101 zu gewinnen und ob die Reise Walter de Gruyters, einer der Geschäftsführer des Verlages, nach Straßburg Ende 1916 oder Anfang 1917 damit in Zusammenhang steht, ist nicht mehr zu klären. Aber es muss wohl Vorgespräche gegeben haben, so dass Simmel einen nicht überlieferten Brief de Gruyters vom 18. April 1917 mit dem schriftlichen Angebot, den Göschen-Band 101 Soziologie zu schreiben, untypisch sofort am 20. April 1917 beantwortete: „Die Erwägungen über die von Ihnen angeregte soziologische Arbeit haben gleich zu einem positiven Ergebniß geführt“, und somit stehe einem „alsbaldige[n] Vertragsabschluß“ nichts im Wege (GSG 23: 765). Simmel schien so angetan von der Idee, dass er sich vor Vertragsabschluss schon an die „Ausarbeitung des Soziologie-Bändchens“ machte, wie er am 2. Mai 1917 de Gruyter schrieb: „Ich gehe nun an die Arbeit, die ich angesichts des bereits vorliegenden Materials in verhältnismäßig kurzer Zeit abzuschließen hoffe“, merkte aber an: „Von irgend einem Anschluß an das Buch von Achelis sehe ich ab, schon weil ich von ihm einen keineswegs erfreulichen Eindruck habe“ (ebd.: 777). Auf Vorgespräche verweist dann auch wieder der Verlagsvertrag, der Simmel am 16. Mai 1917 zuging, denn der Titel des angesprochenen Göschen-Bandes 101 hieß zwar „Soziologie“, aber mit dem Zusatz: „[D]er genaue Titel wird bei der Ablieferung des Manuskripts noch vereinbart“. Als Simmel vor Vollzug des Vertrages diese Passage änderte in: „Grundfragen der Soziologie (Individuum und Gesellschaft) [als Untertitel]“ (in GSG 24), reagierte der Verlag am 23. Mai 1917 mit: „Die von Ihnen vorgenommenen kleinen Aenderungen acceptieren wir gern“ (GSG 23: 792). Bereits Ende Juni oder Anfang Juli schickte Simmel das Manuskript an den Verlag, der ihn am 7. Juli 1917 darüber informiert, dass es an die Buchdruckerei weitergeleitet worden sei, „die uns den Satz zu Ihren ‚Grundfragen der Soziologie‘ in etwa drei Wochen liefern wird“ (ebd.: 809). Aber es wurde dann doch November, bis das Buch ausgeliefert werden konnte: Georg Simmel, Grundfragen der Soziologie (Individuum und Gesellschaft), Berlin und Leipzig: G. J. Göschensche Verlagshandlung 1917, 103 S. [= Sammlung Göschen, Band 101].7
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In keiner soziologischen Veröffentlichung der Jahre 1912 bis 1914 wird der Band von
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Weitere Dokumente über die Fertigstellung des Buches sind nicht überliefert. Zum Er-
Achelis erwähnt. scheinen des Buchs: Frankfurter Zeitung, Nr. 340 vom 9. Dezember 1917, 1. Morgenblatt; Literarisches Centralblatt, Nr. 51/52 vom 22. Dezember 1917, Sp. 1231.
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Aus der unvollständigen Verlagskorrespondenz zur Entstehungsgeschichte der Grundfragen schälen sich drei Behauptungen heraus, denen zentrale Bedeutung für den Zugang zu diesem Buche zukommt. 1. Simmel hat keine Soziologie schreiben wollen, die dem Programm der Sammlung Göschen entsprach, denn sah dieses vor, in den aktuellen Wissensstand über akademische Bereiche „in kurzen, klaren, allgemeinverständlichen Einzeldarstellungen“ einzuführen, wie es Thomas Achelis in seinem Vorläuferband Sociologie getan hatte, Soziologie nämlich als allgemein anerkannte akademische Disziplin und geschlossenes System hinzustellen, so hatte Simmel immer wieder konstatiert, dass Soziologie als Wissenschaft vom gesellschaftlichen Geschehen keinen Anspruch auf akademische Anerkennung haben könne, solange sie nicht ein neues Objekt habe, mittels dessen sie sich als neue Wissenschaft von anderen grenzscharf abzusetzen vermöchte.8 War es Simmels Anliegen, der Soziologie als „exakte[r] Wissenschaft“ (GSG 11: 39f.; GSG 16: 84ff., 89) den Weg zu bereiten, so war dies das Anliegen der ‚großen‘ Soziologie; mit ihr habe er die Formen der Vergesellschaftung als „neues Problem für die soziologische Untersuchung auf[ge]stellt“, und er verfolge mit diesem Buch den Zweck, „andre Forscher zu Arbeiten in der gleichen Richtung anzuregen“, wie er dem dänischen Soziologen Gustaf F. Steffen am 25. Oktober 1908 schrieb (GSG 22: 663). Diese Hoffnung trog, ja mit der Durchsetzung des modischen Soziologiebegriffs in der Öffentlichkeit verlor sich weitgehend das Bemühen um eine Verwissenschaftlichung der Soziologie, bzw. es wurde zerredet: Über den „Inhalt [der Soziologie] und ihre Ziele“ habe sich ein „Chaos von Meinungen“ ausgebreitet, „deren Widersprüche und Unklarheiten den Zweifel“ an der Wissenschaftlichkeit der Soziologe „immer von neuem nähren“, so fasste Simmel einleitend zu den Grundfragen seine Erfahrungen seit 1908 zusammen (GSG 16: 62), die er wohl vornehmlich in der Gründungsphase der Deutschen Gesellschaft für Soziologie gewonnen hatte. Dass der Verlag die Titeländerung Simmels so einfach hinnahm, obwohl die plakative Nennung der Disziplin gleichsam programmatisch für die Sammlung Göschen stand, wird nur verständlich, wenn man Simmels Hauptprobleme der Philosophie von 1910 berücksichtigt, der als Jubiläumsband 500 der Sammlung Göschen dem Verlag glänzende Ergebnisse eingefahren hatte, musste doch parallel zu Simmels Grundfragen bereits die vierte Auf-
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Dazu Das Problem der Sociologie (1894), GSG 5: 52-61, insbes. 52ff.; Zur Soziologie der Familie (1895), GSG 5: 75-90, bes. 75f.; Vorlesung „Soziologie“ (WS 1898/99) Mitschrift von Robert E. Park (GSG 21: 281-344); Il problema della sociologia (1899), GSG 19: 107-116, bes. 107ff.; Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1908), GSG 11, bes. 13ff.; [Beitrag zu:] Die Zukunft der Soziologie (1908), GSG 17: 70-72.
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lage der Hauptprobleme in Auftrag gegeben werden, womit von ihr 31000 Exemplare gedruckt waren.9 Auch hier ging es dem Verlag um ein Gebiet, um Geschichte der Philosophie des 19. Jahrhunderts,10 ebenfalls ein Titel, mit dem sich Simmel nicht anfreunden konnte, obwohl sechs Bände Philosophiegeschichte vorgesehen und vom Verlag z.T. schon vergeben waren, weshalb er dann im Brief vom 11. Mai 1909 Hauptprobleme der Philosophie vorschlug (GSG 22: 696), was Simmel in der Einleitung zu diesem Bändchen indirekt mit seinem „Verständnis der Philosophie von dem inneren Prozeß her“ begründete (GSG 14: 11). Mag die Formulierung des Titels Grundfragen der Soziologie ähnlich konzipiert sein wie Hauptprobleme der Philosophie, so ist die vorgegebene Beliebigkeit der Auswahl der ‚Probleme‘ bzw. ‚Fragen‘ qua verantwortlichen Autor jeweils stark eingeschränkt durch die straffe Bindung an das Ganze der jeweiligen Wissenschaft, was in Bezug auf Soziologie ja gerade zur Aufgabe wird – dieses Ganze dieser Wissenschaft fassbar werden zu lassen. 2. Das Simmel „bereits vorliegende Material“ für den Soziologie-Band erschien ihm so umfangreich, dass er im Brief vom 2. Mai 1917 meinte, die Druckvorlage „in verhältnismäßig kurzer Zeit“ fertigstellen zu können (GSG 23: 777), es wurden dann ca. sieben Wochen. An welches Material, an welche Texte dachte Simmel? Es lässt sich feststellen,11 dass das erste Kapitel der Grundfragen, „Das Gebiet der Soziologie“ (GSG 16: 62-87) sich auf das erste Kapitel der Soziologie von 1908, „Das Problem der Soziologie“ (GSG 11: 13-62), bezieht – worauf Simmel zweimal hinweist –, ca. vier Seiten werden mittelbar oder unmittelbar übernommen. Das zweite Kapitel, „Das soziale und das individuelle Niveau“ (GSG 16: 88102) nimmt Bezug auf das vierte Kapitel von Über sociale Differenzierung (1890), „Das sociale Niveau“ (GSG 2: 199-225) – ca. viereinhalb Seiten werden übernommen. Ebenfalls rekurriert wird auf seinen programmatischen Beitrag „Die Selbsterhaltung der Gesellschaft“ für das Eröffnungsheft von L‘Année sociologique,12 der dann 1896/97 unter dem Titel „Comment les formes sociales se maintiennent“ er-
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Rüdiger Kramme, „…einen wirklichen philosophischen Klassiker…“ Zur Publikationsgeschichte von Simmels ‚Hauptprobleme der Philosophie‘, in: Simmel Newsletter 5 (1995), 155-173; ders., Otthein Rammstedt, Editorischer Bericht, GSG 14: 462-478, insbes. 468ff.
10 Brief der G. J. Göschenschen Verlagshandlung an Simmel vom 23. April 1907, GSG 22: 572f., sowie sein Antwortschreiben vom 26. April 1907, GSG 22: 575. 11 Die von Simmel übernommenen Passagen sind ausgewiesen in den Varianten zu Grundfragen der Soziologie, GSG 16: 452-460. 12 Dieser von Simmel vorgesehen gewesene Titel wurde von Emile Durkheim abgewandelt in „Comment les formes sociales se maintiennent“ und dann von Simmel wieder verändert in „Die Selbsterhaltung der socialen Gruppe“.
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schien (GSG 19: 66-106), bzw. auf die 1898 erschienene deutschsprachige Fassung „Die Selbsterhaltung der socialen Gruppe“ (GSG 5: 311-372), von der sich ca. eine halbe Seite wiederfindet. Das dritte Kapitel, „Die Geselligkeit“ (GSG 16: 102-122) greift auf seinen Eröffnungsvortrag des Ersten Deutschen Soziologentages 1910, „Soziologie der Geselligkeit“, zurück (GSG 12: 177-189), ca. neun Seiten weisen Entsprechungen auf. Das vierte Kapitel, „Individuum und Gesellschaft in Lebensanschauungen des 18. und 19. Jahrhunderts“ (GSG 16: 122-149) orientiert sich an einem zuvor nicht veröffentlichten Vortrag von 1910, „Der Individualismus der modernen Zeit“ (GSG 20: 249-258), von dem ca. acht Seiten übernommen sind. Ein Viertel des Buchumfangs basiert also auf diesen angezeigten Rückgriffen auf ältere Simmel-Texte; rechnet man noch die kurzen Selbstzitationen und das Aufgreifen von Beispielen hinzu, so kommt man auf knapp 30 Prozent bereits vorhandenen Materials. Diese Anleihen Simmels bei älteren Texten waren offenkundig und hatten schon früh dazu verführt, Simmels Grundfragen als Remake abzutun, sei es als Kurzfassung der Soziologie von 190813 oder als Produkt eines alten Mannes, der nach 1910 keine Soziologie mehr betrieben habe und in Ermanglung neuer Ideen nur Altbekanntes anzubieten vermochte.14 So gehen viele davon aus, dass die Grundfragen nichts Neues zur Soziologie zu sagen hätten. Solche Einstellung übersieht vollkommen, dass mindestens 70 Prozent neuer, bisher nicht veröffentlichter Text war und dass der jeweilige theoretische Rahmen für die langen, wieder aufgegriffenen Passagen ein anderer ist. Die übernommenen Stellen sind zudem und zunächst einmal nur eine Auswahl von seinen soziologischen Texten, und so ist zu fragen, was diese Auswahl steuerte. Die Texte der Kapitel zwei bis vier stehen als Beispiele von Problemgruppen, die insgesamt das soziologische Gebiet abstecken und in ihrer jeweiligen Behandlung die möglichen Zugangsweisen soziologischer Analyse widerspiegeln. Die Komplexität dieser Gliederung lässt es als wahrscheinlich annehmen, dass Simmel umgekehrt vorgegangen ist, d.h. erst das Konzept hatte und dabei wusste, dass er die mit
13 So Alfred Vierkandt, Literaturbericht zur Kultur- und Gesellschaftslehre für die Jahre 1907 und 1908. in: Archiv für die gesamte Psychologie 17 (1910), 52-122, bes. 66ff. 14 So Leopold von Wiese in einem Brief vom 9. Oktober 1925 an den de Gruyter Verlag (Staatsbibliothek Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Verlagsarchiv de Gruyter); ders., Soziologie – Geschichte und Hauptprobleme, Berlin 1931, 128; ders., System der Allgemeinen Soziologie (1924/1928), Berlin 31955, 35: „Simmel war bereits während des Krieges in seinen letzten Lebensjahren in einer ihm vorher ganz fremden Bodenlosigkeit versunken und gescheitert.“
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den soziologischen Gebieten anzuführenden Beispiele aus der Menge seiner vorliegenden soziologischen Texte nehmen könne. Nach einem solchem Konzept zu suchen, lässt sich angesichts des präsentierten Neuen auf die Jahre seit 1908 beschränken, also auf die Phase nach Veröffentlichung der ‚großen‘ Soziologie. Jedoch Konzepte solcher Art aus Simmels Feder sind nicht überliefert, was nicht verwundern muss, denn sie sollten nie veröffentlicht werden: Alle Manuskripte und Aufzeichnungen ließ Simmel kurz vor seinem Tode durch seine Frau vernichten.15 Aber ein Hinweis lässt sich mit Blick auf sein Veranstaltungsverzeichnis finden: Simmel lehrte fast sein Leben lang Soziologie.16 Soziologie, Sozialwissenschaften und soziale Psychologie bot er von 1887 bis zum Sommer 1908 an, wobei er im SS 1905 und im WS 1906/07 Soziologie spezifizierte zu „Soziologie als Lehre von den Formen der Gesellschaft“. Ab WS 1908/09 aber differenziert sich sein soziologisches Angebot: Neben „Soziologie“ (WS 1909/10, WS 1914/15, WS 1917/18) findet sich „Allgemeine Soziologie“ (WS 1911/12), „Moralwissenschaft“ (SS 1909), „Ethik und sozialphilosophische Probleme“ (WS 1908/09)17, „Einleitung in die Philosophie, mit besonderer Rücksicht auf Sozialphilosophie“ (SS 1911) und „Probleme der modernen Kultur (Individuum und Gesellschaft, die Frauenfrage, die Stilentwicklung in der Kunst)“ vom WS 1909/10. An Hand einiger Veranstaltungsmitschriften lässt sich vermuten, dass Simmel in seinen Soziologie-Vorlesungen die Geschichte der Soziologie im 19. Jahrhundert skizzierte, dann das ‚Problem der Soziologie‘ ansprach, um schließlich seine formale Soziologie mittels einiger Beispiele auszuführen.18 Die Vorlesung „Allgemeine Soziologie“ vom WS 1911/12 hörte der Dichter Georg Heym, der von drei oder vier Stunden Aufzeichnungen hinterließ, bevor er am 16. Januar 1912 im Eis auf der Havel einbrach und ertrank. In seiner Mitschrift führt er als Teile der Vorlesung „Kollektivverantwortung“, „Geselligkeit“ und „soziales Niveau“ an, wobei daran erinnert werden muss, dass Heym wohl nur zwei Drittel der Vorlesung hörte, man also davon ausgehen kann, dass Simmel in der verbleibenden Zeit des Semesters zwischen Mitte Januar und März mindestens noch einen Teil seines Programms behandelte. Von den Veranstaltungen, in denen von Simmel ‚Sozialphilosophie‘ an-
15 Dazu Otthein Rammstedt, Editorischer Bericht zu GSG 20: 481-553, hier 490. 16 Kurt Gassens Auflistung der Vorlesungen und Übungen; in: Michael Landmann, Kurt Gassen (Hg.), Buch des Dankes an Georg Simmel. Erinnerungen, Briefe, Bibliographie. Zu seinem 100. Geburtstag am 1. März 1958, Berlin 1958, 345-349. 17 Anzumerken ist hier, dass er im WS 1900/01 und WS 1901/02 bereits „Ethik und Sozialphilosophie“ gelesen hatte. 18 Die Mitschriften werden in GSG 21 wiedergegeben, darunter „Soziologie, mit besonderer Berücksichtigung der Staatsformen“ vom WS 1899/1900; „Soziologie, mit Berücksichtigung sozialer Probleme der Gegenwart“, vom SS 1902.
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gesprochen wurde, sind keine Mitschriften auf uns überkommen. Es ist aber anzunehmen, dass Simmel in ihnen seine in den „Parerga zur Socialphilosophie“ von 1894 (GSG 4: 391-402) und den in „Zur Methodik der Socialwissenschaft“ von 1896 (GSG 1: 363-377)19 ausgeführten Überlegungen zu einer Sozialphilosophie, die damit als eigenständiger Zweig der Philosophie initiiert wurde,20 beibehielt. So werden nach seinen Ausführungen per se ‚Ethik‘ und ‚Moralwissenschaft‘ in Kontext zur Sozialphilosophie gebracht,21 was sich in den entsprechenden Vorlesungen niedergeschlagen hat – und wenn Simmel in seinen philosophischen Veranstaltungen auf Gesellschaft in erkenntnistheoretischen oder metaphysischen Zusammenhängen zu sprechen kam, so war ihm das ‚Sozialphilosophie‘, da das Aufnehmen der Gesellschaft als philosophischen Gegenstand ja nur „die Erstreckung einer ihrer Struktur nach bereits gegebenen Erkenntnisart auf ein weiteres Gebiet“ (GSG 11: 41) bedeute. Ist also kein Konzept der hier angesprochenen Art auf uns überkommen, so lassen seine Vorlesungen es vermuten, dass er seit 1909 dieses sein Verständnis von Soziologie in jenen Vorlesungen entwickelte. Und da er, wie hinlänglich bekannt, seine Vorlesungen vorbereitete und diese Aufzeichnungen in Kollegheften aufbewahrte, ist es wahrscheinlich, dass er bei Abfassung der Grundfragen der Soziologie nicht nur als „vorliegendes Material“ auf bereits Publiziertes und auf Vortragsmanuskripte, sondern wohl vor allem auf die Kolleghefte zu „Soziologie“, „Allgemeine Soziologie“ und „Sozialphilosophie“ der Jahre seit 1909 zurückgreifen konnte. 3. Schließlich ist der Korrespondenz Simmels mit dem Verlag sein großes Interesse am Buchprojekt der Grundfragen und sein Drängen, es möglichst schnell verwirklicht zu sehen, zu entnehmen. Das ist umso erstaunlicher, als er gleichzeitig Briefpartnern mitteilt, an einer „Metaphysik“ zu arbeiten, außerdem plane, die Probleme der Geschichtsphilosophie grundsätzlich umzuschreiben und weiter den sehnlichen Wunsch verfolge, seine Philosophie der Kunst ausformulieren zu können.22 Ein Soziologie-Bändchen stand nicht auf seiner Agenda; aber als ihm die Idee nahe gebracht wurde, akzeptierte er sie sofort, was nur heißen kann, dass jen-
19 Die Arbeit entstand anlässlich einer Rezension von Rudolf Stammler, Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung, Leipzig 1896. 20 Kurt Röttgers, Kant, Simmel und die Entstehung der Sozialphilosophie, in: Simmel Newsletter 5 (1995), 1-12; ders., Art. Sozialphilosophie, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Karlfried Gründer u. Joachim Ritter, Basel 1971ff., Bd. 9, Sp. 12171227. 21 Expressis verbis in den Parerga zur Socialphilosophie, GSG 4: 391f. und in der Soziologie von 1908, GSG 11: 294ff. 22 Das lässt sich Briefstellen dieser Jahre entnehmen; etwa GSG 23: 694f., 719.
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seits seiner ‚großen‘ Soziologie doch noch Wesentliches zum Thema Soziologie zu sagen war23 – was ihm erst mit der Anfrage des Verlages bewusst wurde. Genau unter diesem Gesichtspunkt wird auch verständlich, weshalb er die Druckvorlage so schnell fertigstellen konnte, denn er hatte ein wohl weitgehend ausgeführtes Konzept, das sich mit dem von ihm gegen den Verlag durchgesetzten Titel Grundfragen der Soziologie (Individuum und Gesellschaft) in der Ausrichtung abzeichnete. Das opus magnum Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung von 1908 war an die Scientific Community gerichtet. Signalisierte der Titel eine in der Diskussion stehende, noch fragwürdige Disziplin, so informierte der Untertitel über den Inhalt des Buches, der „der Soziologie einen eindeutigen, von einem methodisch sicheren Problemgedanken beherrschten Inhalt“ (ebd.: 9) geben sollte, und über Untersuchungen zu den „Formen der menschlichen Wechselwirkungen“, die, so im bereits erwähnten Brief an Gustaf F. Steffen, als Beispiele der Vergesellschaftung die Soziologen animieren wollten, in Hinblick auf gleiche Fragestellungen zu forschen (GSG 22: 664f.). Bei dem Soziologie-Bändchen von 1917 ist der Titel Grundfragen der Soziologie letztlich doch der Sammlung Göschen geschuldet, der Untertitel Individuum und Gesellschaft artikuliert den Blickpunkt, aber zugleich auch den kulturphilosophischen Standpunkt, von dem aus geblickt wird, weitet sich Gesellschaft doch hier zur Kultur, letztlich gar Menschheit. Entsprechend wendet sich das Göschen-Bändchen an ein interessiertes gebildetes Publikum, dem das breite Feld der Soziologie vorgeführt wird, in dem die (mögliche) akademische Soziologie, die auf Erfahrungen fußende, exakte Wissenschaft – also für Simmel die formale Soziologie – nur ein Terrain neben anderen ist. Individuum und Gesellschaft ist aber nicht nur eine Blickrichtung, sondern, wie schon die theoretischen Einlassungen im einleitenden Kapitel zeigen, fundamental für seine soziologische Sicht, zudem – mit Emphase des Individuums – ein Simmel ständig bewegendes Problem, das er wohl nicht zu lösen vermochte. Hatte sich die Beschäftigung mit dem Individuum bei Simmel im Laufe seines Lebens gespalten, indem dem anfänglich soziologischen Zugang der Differenzierungs-Schrift von 1890 (GSG 2: 126ff.) ein konkurrierender sozialphilosophischer Ansatz, skizziert in „Die beiden Formen des Individualismus“ von 1901 (GSG 7: 49-56), zur Seite gestellt wurde, so ist auffällig, dass diese beiden Argumentationsstränge getrennt ge-
23 Simmel war schon Ende 1912 „fest entschlossen, überhaupt nicht mehr auf ein Buch los zu arbeiten. Von der Sorte habe ich genug gemacht. Die wesentlichsten Probleme liegen freilich noch vor mir, aber sie sollen nicht um eines Buches willen bedacht werden. Giebt es dann eines Tages eines, gut. Aber es soll nicht meine Sorge sein, ob es dazu kommt“, schrieb Simmel an Margarete von Bendemann am 16. Oktober 1912, GSG 23: 122.
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halten wurden.24 Nur in der ‚großen‘ Soziologie werden der soziologische und der sozialpsychologische Ansatz im Schlusskapitel gekreuzt, indem die ‚beiden Formen des Individualismus‘ als quantitatives (mehr Freiheit) vs. qualitatives (anders sein als alter ego) Kriterium der Individualität mit der Ausweitung der Gruppe in Verbindung gesetzt wird (GSG 11: 858ff.). Aber dieser sozialwissenschaftliche Versuch verblasste dann angesichts seiner Orientierung auf Lebensphilosophie und unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs,25 lässt das Problem, das Simmel umtrieb, wenn man der überraschend großen Menge an Veröffentlichungen zu diesem Thema glauben darf, aber bestehen.26 In ihnen geht es um das Eigenständige, das Individuelle im So-Sein des Individuums, um jenes ‚Außerdem noch etwas sein‘, wie Simmel es im zweiten Apriori der Bedingungen von Vergesellschaftung nannte, da „jedes Element einer Gruppe nicht nur Gesellschaftsteil“ sei (ebd.: 51). So findet sich der soziologische Aspekt in all diesen Schriften zum Individualismus weitgehend ausgeblendet. Als Simmel gleichsam freudig das Angebot de Gruyters akzeptierte, ein Soziologie-Bändchen zu schreiben, motivierte ihn das, jenes Defizit nachzureichen; aber wohl noch mehr reizte es ihn, die Resultate seiner neuerlichen Überlegungen zum Individualismus in einen soziologischen Rahmen einzufügen. Das hieß ihm aber zugleich, diesen gemäß des Standes seiner Philosophie zu über-
24 Johannes Schwertfeger, Auf der Suche nach dem Individualismuskonzept Georg Simmels, in: Gottfried Boehm, Enno Rudolph (Hg.), Individuum. Probleme der Individualität in Kunst, Philosophie und Wissenschaft, Stuttgart 1994, 122-150, bes. 133f. 25 Am deutlichsten in seinen sogenannten „Kriegsaufsätzen“ zu finden, die er unter dem Titel Der Krieg und die geistigen Entscheidungen 1917 veröffentlichte. Aufschlussreich etwa die Passage aus einer Rede von 1916: „Wenn sich an diesem Krieg die allgemeine Hoffnung knüpft, dass er den Einzelnen überhaupt dem Ganzen enger verbindet, den Dualismus zwischen dem Individuum als Selbstzweck und dem Individuum als Glied des Ganzen irgendwie mildern werde, so ist das hier angeführte Problem doch eine Szene dieses Dualismus. Indem aber der Soldat [...] erfährt, wie die verschwindende Größe seines Einzeltuns seinen stärksten Willen und seine äußerste Kraft in sich aufnehmen kann, wird sich ihm mindestens die Form jener Versöhnung [...] eingeprägt haben“, GSG 16: 41. 26 Die Wahrheit und das Individuum. Aus einem Goethebuch (1912), GSG 12: 334-350; Goethes Individualismus (1912), ebd.: 388-416; Das individuelle Gesetz (1913), ebd.: 417-470; Goethe (1913), GSG 15: 7-270, darin Kapitel V: Individualismus, 151-178; Bruchstücke aus einer Philosophie der Kunst (1916), GSG 13: 174-183; Gestalter und Schöpfer (1916), ebd.: 184-189; Rembrandt (1916), GSG 15: 305-515, darin Kapitel II: Die Individualisierung und das Allgemeine, 388-450; Der Fragmentcharakter des Lebens. Aus den Vorstudien zu einer Metaphysik (1916/17), GSG 13: 202-216; Individualismus (1917), ebd.: 299-306.
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arbeiten; hieß, die Soziologie cum grano salis lebensphilosophisch auszurichten. Das kam ihm fraglos entgegen, war doch die Soziologie sein Leben lang immer gewichtiger Teil seines wissenschaftlichen Bemühens gewesen; oder anders formuliert: Angesichts seines Theoriestandes von 1917 schien ihm die soziologische Theorie in seinem Buch von 1908 unvollkommen geblieben und nun die Chance zur Anpassung gegeben. Simmel wendet sich mit seinen Grundfragen der Soziologie an eine breitere Öffentlichkeit und geht, ihr in Assoziation von Soziologie und Gesellschaftslehre entgegenkommend, von ‚Gesellschaft‘ als ‚Grundbegriff‘ (GSG 16: 63; GSG 17: 444) aus. Wissenschaftstheoretisch hält Simmel dann jedoch fest, dass Denkgebilde kein Gegenbild im unmittelbar Wirklichen finden und betont, dass das Erkennen tatsächlich „nach einem ganz andern Strukturprinzip begriffen werden“ müsse, und zwar nach einem, „das dem gleichen äußeren Erscheinungskomplex eine ganze Anzahl verschiedenartiger, aber gleichmäßig als definitiv und einheitlich anzuerkennender Objekte des Erkennens entnimmt“ (GSG 16: 66). Das lasse sich mit dem „Symbol der verschiedenen Distanz“ bezeichnen, die sich mit jeder Erkenntnisabsicht ändere, was ermögliche, sowohl ‚Gesellschaft‘ wie ‚Individuum‘ als Objekt wahrzunehmen – gemäß der verschiedenen Distanzen des Analytikers zu ihnen27. Ja Simmel löst das soziologische Erkennen von der Annahme, dass das Wahrgenommene auch außerhalb der Wahrnehmung als ein selbstständig Seiendes bestehe. Ihm ist Wirklichkeit demgegenüber zunächst immer nur „ein Komplex von Bildern“, der durch eine Erkenntnisabsicht eine „nachträgliche geistige Formung“ (ebd.: 67)28 erfährt, durch die er erst Objekt von Wissenschaft werden könnte. Wirklichkeit ist subjektiv, „aber auch, da sie ein gültiges Erkennungsbild ergibt, genau so objektiv,
27 Den Begriff Distanz hat Simmel wohl aus der Kunstwissenschaft übernommen, in diesem Sinne erstmals in seinem Böcklin-Aufsatz erwähnt, GSG 5: 100, und in seiner ‚soziologischen Ästhetik‘ ausgeführt, GSG 5: 210ff. Zum anderen greift er die Formulierung der „natürlichen Distanz“ bei Nietzsche schon 1896 auf, GSG 5: 124, und führt ihn als Kategorie in seine Soziologie ein, GSG 11: 397, 719, 742. Dazu Klaus Lichtblau, Das ‚Pathos der Distanz‘. Präliminarien zur Nietzsche-Rezeption bei Georg Simmel, in: Heinz-Jürgen Dahme, Otthein Rammstedt (Hg.), Georg Simmel und die Moderne. Neue Interpretationen und Materialien, Frankfurt/M. 1984, 231-281; ferner Heinz Otto Luthe, Distanz. Untersuchung zu einer vernachlässigten Kategorie, München 1985. 28 Diese Simmelʼsche Überlegung wird erst nach dem Zweiten Weltkrieg in der Soziologie aufgegriffen – wie schon im Titel von Peter Berger, Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/M. 1969; ferner allgemein Tobias Trappe, Art. Wirklichkeit, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, a.a.O., Bd. 12, Sp. 829-846.
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wie die Zusammenfassung des Gegebenen unter der Kategorie Gesellschaft“ (ebd.: 68).29 Gesellschaft heißt auch in der soziologischen Schrift von 1917 das, was schon in den früheren soziologischen Texten Simmels stand: dass sie dort sei, wo Individuen sich in Wechselwirkung befinden. Der Akzent lag jedoch bei dieser Formulierung auf der Art und Weise der Verwirklichung der Wechselwirkung, die die Vergesellschaftung bedinge, die als soziale Form Objekt der Soziologie sei. Aber der Formbegriff, früher in Opposition zum Inhalt als der individuellen Motivation, trat mit der Orientierung auf Lebensphilosophie nun als Gegenbegriff zum Leben auf,30 als Verdichtung, Erstarrung (ebd.; ähnliche Formulierungen schon in GSG 5: 54; GSG 11: 17). Als solche entwickeln die Formen „Eigenbestand und Eigengesetzlichkeit“, der determinierend auf das Leben und die Individuen rückwirke (GSG 16: 70). Folglich versteht Simmel unter Gesellschaft die „seelische Wechselwirkung zwischen Individuen“ (ebd.: 68), die für ihn dann keine Substanz hat, sondern als Geschehen gefasst wird, als sich realisierendes Leben, was bedeute, „dass die Einzelnen vermöge gegenseitig ausgeübter Beeinflussung und Bestimmung verknüpft sind", dass Gesellschaft also etwas Prozedurales und Funktionelles sei, etwas, „was die Individuen tun und leiden“ (ebd.: 70). Das Geschehen zwischen den Interaktionspartnern, „die Dynamik des Wirkens und Leidens, mit der diese Individuen sich gegenseitig modifizieren“, sei als etwas „‚Wirkliches‘ und Erforschbares“ einzustufen. Daher sei Gesellschaft ihrem Grundcharakter nach nur als Vergesellschaftung zu verstehen, was die Soziologie fragen lasse: „Was geschieht mit den Menschen, nach welchen Regeln bewegen sie sich, nicht insofern sie die Ganzheit ihrer erfaßbaren Einzelexistenzen entfalten, sondern sofern sie vermöge ihrer Wechselwirkung Gruppen bilden und durch diese Gruppenexistenz bestimmt werden?“ (ebd.: 71). Entsprechend sind auch die Individuen nicht als letzte Elemente der Welt anzusehen; sie seien sowieso „überhaupt kein Gegenstand des Erkennens, sondern nur des Erlebens“ (ebd.: 65).31 Damit werde das Individuum „Faktor meines kontinuier-
29 Wirklichkeit als solche könne also überhaupt nicht Gegenstand von Wissenschaft sein, die Soziologie, wie keine andere Sozial- oder Geisteswissenschaft, daher auch nie Wirklichkeitswissenschaft – was Simmel der Geschichtswissenschaft zuerkannt hatte, GSG 2: 348; GSG 9: 343. 30 Form vs. Leben findet sich bereits 1911/12 angesprochen in Der Begriff und Tragödie der Kultur, GSG 12: 194, dann ausgeführt in Der Konflikt der modernen Kultur von 1918, GSG 16: 185, 193, 205. 31 „Das Erleben könnte eine Indifferenz zwischen Subjekt und Objekt sein, das also die Erkenntnis (dasjenige was sich nach der Trennung beider ergibt) doch potentiell in sich enthält“, heißt es erläuternd in einem Fragment aus dem Nachlaß, GSG 20: 297.
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lichen Lebens“, und zwar nicht nur, indem es subjektiv empfunden werde, sondern weil diese Empfindung „ein objektives Element in der objektiven Tatsache meines Lebens“ sei (GSG 20: 298f.). Das schließt an frühe Überlegungen Simmels in seinem Kant von 1904 an, die sich um Erfahrung und Erkenntnis drehen – „was Erkenntnis sein soll, muss von uns dazu gestaltet werden, was ein Gegenstand der Erfahrung sein soll, ist von den Formen der Erfahrung abhängig, mit denen unser Geist als mit seinem ursprünglichen Besitztum an die Wirklichkeit herantritt“ (GSG 9: 45) – und darauf hinauslaufen, „psychologische und historische“ Apriori der „Entwicklung“ zu unterwerfen, sie also zu historisieren (ebd.: 43ff.).32 Vor diesem theoretischen Hintergrund zieht Simmel drei „prinzipielle Problemkreise der Soziologie“ (GSG 16: 76), deren je spezielle Behandlung von einer je eigenen Soziologie sprechen lasse und die hier in Bezug auf die Frage nach den Verhältnissen von Individuum und Gesellschaft anzusprechen seien. Der erste Problemkreis sei „erfüllt von dem ganzen geschichtlichen Leben, soweit es gesellschaftlich geformt sei“ (ebd.: 82), aber hier die Gesellschaftlichkeit stets als Ganzes fassend; problematisch sei, dass die sozialen Wechselwirkungen, die konstitutiv für die Gesellschaft sind, nicht nur bestimmt werden durch die Motive und Zwecksetzungen der Interaktionspartner, sondern auch durch die verfestigte Form der je eigenen Wechselwirkung, die eigenen Gesetzen folgt, wie durch jeden „Sachgehalt, technischer oder dogmatischer, intellektueller oder physiologischer Art, der die Entwicklung der sozialen Kräfte trägt und der durch seinen eigenen Charakter, seine Gesetze und seine Logik“ (ebd.: 76f.) der Wandel in bestimmte Richtungen gedrängt und beschränkt wird. Simmel reiht in diese Kategorie drei Fragen ein, nämlich zuerst die nach den Gemeinsamkeiten des Vollzugs, die zu unterstellen seien, wenn „alle möglichen Tatsächlichkeiten des Lebens“ (ebd.: 79) daraufhin untersucht werden, dass sie sich innerhalb der Gesellschaft und durch sie vollziehen; sodann stelle sich die Frage nach den „Bedingungen der Macht von Gruppen“ (ebd.: 81) und schließlich die nach der Art, wie das kollektive Verhalten das individuelle werte und vice versa. Aus dem Bereich der letzten Frage werden hier dann als Beispiel Überlegungen zu „Das soziale und das individuelle Niveau“ für „diesen soziologischen Typ – man könnte ihn den der ‚allgemeinen Soziologie‘ nennen“ (ebd.: 82)33 – als zweites Kapitel des Buches angeführt. Der zweite Problemkreis spricht die sozialen Formen an, „die aus der bloßen Summe lebender Menschen Gesellschaft und Gesellschaften machen“ (ebd.), indem die Individuen vergesellschaftet werden, bzw. sich vergesellschaften. Die sozialen Formen sind die Art und Weise, in der es zu sozialen Wechselwirkungen kommt, sei es, dass sie sich aus den Wechselwirkungen ergeben, sei es, dass sie diese vor-
32 Für den Hinweis ist Torge Karlsruhen zu danken. 33 Ausführungen zur ‚allgemeinen Soziologie‘ finden sich in GSG 16: 76ff., 88ff.
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geben. Diese sind jedoch nicht allein von den Motiven und Zwecksetzungen der an den Interaktionen beteiligten Individuen abhängig – also den in den älteren Schriften Simmels den Formen zugeordneten Inhalten (z.B. GSG 5: 54ff.; GSG 11: 17ff.) –, sondern sie werden auch von Sachgehalten geprägt. Zudem können die Formen unterschiedlichen Inhalten und die Inhalte unterschiedlichen Formen zugeordnet werden. Könnte man sagen, „Gesellschaft sei Wechselwirkung unter Individuen“, so wäre die Analyse solcher komplexen Formen „Aufgabe der Gesellschaftswissenschaften im engsten und eigentlichsten Sinne der ‚Gesellschaft‘“ (GSG 16: 82). Die Erforschung der Formen – und damit der Vergesellschaftung – bezeichnet Simmel als „formale oder reine Soziologie“ und gibt als Beispiel im dritten Kapitel eine Analyse der ‚Geselligkeit‘, die zugleich ein Symbol des „Gesamtbildes dieser Art von Untersuchungen bietet“ (ebd.: 84). Der dritte Problemkreis rückt die Grenzen der exakten Wissenschaft Soziologie, die oberhalb wie unterhalb an die Philosophie stößt, in den Blickpunkt.34 Unterhalb ihrer werden die Bedingungen, Grundbegriffe und Voraussetzungen erforscht, die die „exakte Forschung“ erst „möglich machen“ und deshalb in ihr selbst keinen Ort finden; es handele sich um die Erkenntnistheorie der Soziologie, die sich zur „Erkenntnistheorie der sozialen Sonderwissenschaften“ weitet, „als die Analyse und Systematik der Grundlagen, die in diesen formend und normierend wirken“ (ebd.: 85); oberhalb werden die immer rudimentären Inhalte des positiven Wissens „zu begrifflicher Vollendung“ ergänzt und die in der empirischen Wirklichkeit immer verworrenen und abgerissenen Fäden über diese hinaus verfolgt, bis sie sich zu einem „geschlossenen Denkbild des Seins zusammenweben“ (GSG 9: 393). Simmel spricht hier von Metaphysik. Für diesen dritten Problemkreis, der in der oberen Grenze sich mit der Sozialphilosophie überschneidet, wählt Simmel als Beispiel für den soziologischen Typ philosophischer Soziologie „Individuum und Gesellschaft in Lebensanschauungen des 18. und 19. Jahrhunderts“, wobei er ausdrücklich hervor hebt, dass solche Art der Deutung von „Weltanschauungen, von individuellen und parteimäßigen Wertschätzungen, von letzten, unbegründeten Überzeugungen mehr abhängig“ sei als die vorausgegangenen Beispiele. Die damit skizzierten drei Soziologien stehen für Simmel gleichberechtigt nebeneinander, da sie Unterschiedliches an der ‚Tatsache Gesellschaft‘ problematisieren und damit in unterschiedlicher Distanz zum gleichen Objekt stehen. Geht es in der allgemeinen Soziologie um das Problem der Sozialität, so in der reinen oder formalen Soziologie um das der Objektivität und in der philosophischen Soziologie
34 Diese Vorstellung wird von Simmel häufig angesprochen, etwa in GSG 6: 9; GSG 9: 327ff., 356, 393; GSG 11: 39 (als Vorlage); GSG 20: 49.
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um das der Individualität, wobei dem parallel die Trias Gesellschaft, Kultur und Leben unter dem Formaspekt in einem Kreislauf angesprochen werden.35 Solche Dreiteilung der Soziologie verweist auf eine Einheit, die arbeitsteilig angegangen wird, nicht auf konkurrierende Unternehmungen. Insoweit schließen sie sich nicht gegenseitig aus, ja es lässt sich vermuten, dass Simmel mit diesen drei Soziologie-Begriffen ex post seine eigenen Einlassungen zu gesellschaftlichen Fragen über all die Jahre als geordnet und eingeordnet verstanden wissen wollte.36 Dabei können Verbesserungen, Änderungen und stehengebliebene Widersprüche als divergierende Standpunkte genommen werden, „die ein Einzelgeist nacheinander erlebt, in rein sachlicher Hinsicht koordiniert“, wie es Simmel 1904, beim Neudruck seiner Einleitung in die Moralwissenschaft, einst postulierte (GSG 3: 9). Es sind die erfahrungswissenschaftlichen Bemühungen vor der Jahrhundertwende, die der allgemeinen Soziologie zugerechnet werden könnten, es sind die theorieorientierten Vorveröffentlichungen und Vorabdrucke der Soziologie von 1908, die für seine formale oder reine Soziologie stehen, und es sind in den folgenden Jahren bis zu seinem Tode die kultursoziologischen, -philosophischen und -politischen Einlassungen, die kulturphilosophisch ausgerichtet sind und der philosophischen Soziologie zugeschlagen werden sollen. Und somit runden die Grundfragen der Soziologie den ‚soziologischen Simmel‘ ab. ‚Abrunden‘ entspricht einem plötzlichen Bedürfnis Simmels jener Jahre. Nach dem Schock anlässlich des Kriegsausbruchs 1914 – „1. August, Krieg! Die grösste Erschütterung meines Lebens“37 – fand er sich im zur ‚Festung‘ erklärten Straß-
35 Shu-Er Wei, Erkennen, Konstruieren und kulturelle Identität. Zum Formbegriff bei Georg Simmel, Diss. Bielefeld 1999. 36 Eine Auflistung dieser Arbeiten findet sich bei Otthein Rammstedt, Georg Simmel und die Soziologie, in: Simmel, Individualismus der modernen Zeit und andere soziologische Abhandlungen, ausgew. u. m. e. Nachw. v. Otthein Rammstedt, Frankfurt/M. 2008, 361392, hier: 362ff. 37 So notierte Simmel in seinem Tagebuch, und er fuhr fort: „Es ist unfassbar, dass ein paar machtgierige russ. Grossfürsten und serbische Lausbuben dies unermessliche Unglück herbeiführen konnten. [...] Vielleicht war ein europäischer Krieg unvermeidlich, aber eine bessere (deutsche) Politik hätte es dahin bringen können, dass Deutschland nicht im Mittelpunkt des Krieges stehen würde.“ Und weiter heißt es dann: „Nun, da es so gekommen ist, giebt es nur eines: Deutschland muss um seine Existenz kämpfen bis aufs letzte. [...] [D]er furor teutonicus ist losgelassen und rast auch in mir.“ Hans Simmel, der diese Passage überlieferte, merkte an: „Dabei war er persönlich tief unglücklich“, Hans Simmel, [Lebenserinnerungen] 1941/43, in: Simmel Studies 18 (2008), 9-136, hier: 111f.
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burg38 in einer Phase wieder, in der er zur Tatenlosigkeit verdammt war,39 in der ihm der Alltag mit seiner Routine bedeutungslos wurde40 und die Kriegsereignisse die Zeitabfolge bestimmten,41 ja, die Zeit erst erzeugten. Ging das Morgen dem Heute verloren, dehnte sich die Gegenwart dergestalt, dass Vergangenheit und Zukunft nicht mehr getrennt einbezogen, sondern gleichwertig abgesetzt wurden42. Erst als Simmel 1915 aus diesem Zustand ‚erwachte‘ und das „Fieber der Gegenwart“, so im Brief an Anna Jastrow vom 6. Mai 1915 (GSG 23: 521f.), abklang, als
38 „Die Existenz in der Grenzfestung ist doch noch ganz anders, als sie jetzt in Berlin sein kann. Es dringen sehr wenig Nachrichten zu uns, geschlossene Briefe werden nicht herein u. nicht heraus gelassen, auf den Straßen giebt es buchstäblich seit 8 Tagen keinen Wagen, der nicht militärischen Zwecken diente, für die notwendigen Lebensmittel sind Preistaxen festgesetzt“, berichtete Simmel der Freundin Margarete von Bendemann am 9. August 1914, GSG 23: 367. 39 „Für mich, bei meiner Tatenlosigkeit (trotz allerhand Geschäftigkeit u. Arbeiten) ist die Gegenwart schlechthin erdrückend“, schrieb Simmel an die Freundin Anna Jastrow am 6. Mai 1915, GSG 23: 521f. 40 Margarete von Bendemann gestand Simmel im Brief vom 2. Mai 1915, „das Leben geht in diesem abgeschlossenen, von außen eigentlich unzugänglichen Bezirk, in größter äußerer Regelmäßigkeit u. Stille vor sich u. es ist schwer, damit zusammenzubekommen, dass kontinuirlich wie die Zeit selbst das ungeheure Schicksal darüber schwebt“, GSG 23: 520. 41 „Durch den unerhörten Rhythmus der Ereignisse seit dem Krieg ist einem auch das Zeitgefühl ganz aus seiner Bahn u. Verläßlichkeit gekommen. Manchmal ist mir, als hätten wir uns vorgestern gesehn u. dann wieder, als lägen Jahre dazwischen. Die Zeitformel bedeutet einem jetzt garnichts mehr, ihr Schema verschwindet ganz vor den Erlebnissen, mit denen es vollgestopft ist u. deshalb kann man es garnicht mehr sicher taxiren“, schreibt Simmel an Anna Jastrow am 16. April 1916 GSG 23: 641. Dazu auch Simmel an Agathe und Hugo Liepmann am 23. März 1915, ebd.: 506-508, hier 506. 42 In einer früheren Arbeit habe ich das als „okkasionales Zeitbewußtsein“ umschrieben, Otthein Rammstedt, Alltagsbewußtsein von Zeit, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 27 (1975), 47-63, hier: 50f. – Dies ist den Briefen Simmels ab August 1914 zu entnehmen; es findet sich auch in seinen frühen sogenannten „Kriegsaufsätzen“ und ließ ihn die wenig glückliche Formulierung „absolute Situation“ prägen – erstmals in einem Brief vom 8. August 1914 an Hugo Liepmann: „Ich meine, jeder muss empfinden, dass eine absolute Situation da ist, wie man sie sonst im Leben kaum kennt, in der es Relativitäten u. Bedingungen überhaupt nicht mehr giebt“, GSG 23: 365, spätere Verwendungen in GSG 16: 22; GSG 17: 120, dazu auch Margarete Susman, Kriegsbriefe deutscher Studenten, in: Dies., Das Nah- und Fernsein des Fremden. Essays und Briefe, hg. von Ingeborg Nordmann, Frankfurt/M. 1992, 107-116, hier 111.
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er auch wieder glaubte, arbeiten zu können,43 versuchte er sein eigenes Leben zu ‚sortieren‘, Bilanz zu ziehen. Zwei solcher Versuche, die sich als Fragmente in einer Familienchronik wiederfanden, legen dafür Zeugnis ab. Dort heißt es bezüglich der Soziologie: „1916. Wenn ich Bilanz ziehe, so habe ich vielleicht folgende originale Grundmotive zu der Geistesentwicklung beigesteuert: [...] der begründende Gedanke der Soziologie“, und er sagt damit, dass er an der im „Problem der Sociologie“ von 1894 erstmals ausgesprochenen Idee festhält, mit der Trennung von Form und Inhalt einen analytischen Zugang zur Erfassung der Vergesellschaftung ermöglicht zu haben, die als wissenschaftliches Objekt Voraussetzung für eine Konstitution der Soziologie als akademisch anerkannte Wissenschaft sei (GSG 5: 52-61). Simmel kommt in der Bilanz dann auf die Philosophie des Geldes zu sprechen, mit der er versucht habe, „an der Entwicklung eines einzelnen Kulturelementes die ganze äussere und innere Kulturentwicklung abzurollen, die einzelne Linie als Symbol des Gesamtbildes zu begreifen“, verweist dann auf den „Typus von Arbeiten wie über den Henkel, die Ruine, den Bildrahmen, Brücke und Thuer u.a., in denen gezeigt wird, das unter jeder kleinen Oberflächlichkeit ein Kanal liegt, durch den sie mit den letzten metaphysischen Tiefen verbunden ist“, und er nennt schließlich seine kunstphilosophischen Monographien, u.a. seinen Goethe und Rembrandt, „Studien, in denen eine historische Erscheinung als Realisirung je einer der grossen Menschheitsideen, Menschheitsmöglichkeiten behandelt wird“. Und er meint, diese Bilanzierung seines Schaffens sei dadurch abgerundet, dass er in den „drei methodischen Motiven“ eigentlich nur ein Motiv sehe, nämlich „eine metaphysische Sehnsucht, die sich in dem gesuchten Verhältniss zwischen Theil und Ganzem, Oberfläche und Tiefe, Realität und Idee gleichmässig ausdrückt.“44 Als Simmel 1916 Bilanz zog, wollte er die ungewollte Zäsur in seinem Schaffensprozess beheben und einen Neuanfang beginnen, indem er nahtlos an die Zeit
43 Schlimm seien die „beschäftigungslosen“ Tage, schreibt Simmel am 16. August 1914 an Ignaz und Anna Jastrow, „denn Arbeit ist innerlich unmöglich, u. nur äußerlich setze ich mich täglich ein Stündchen daran, aus einem Gefühl, dass man in unserm Alter die Gewohnheit nicht ganz abbrechen dürfe; man fände sie vielleicht nicht wieder“, GSG 23: 370f., hier 371. Erst am 7. Januar 1916 berichtet er Anna Jastrow, dass „meine Frau u. ich [...] uns wieder einigermaßen in die geistige Arbeit zurückgefunden“ haben. Zugleich betont er aber: „Der Druck des Weltschicksals, der in jedem Augenblick fühlbar ist, hat eben die ganze, leidlich geformte Existenz zermahlen u. die Stücke suchen sich neue Synthesen u. ehe sie die gefunden haben – vorausgesetzt, dass sie sie noch finden u. dass wir nicht als ein Chaos von Fragmenten zu Ende gehen – wirbeln sie in den wunderlichsten Mischungen u. Entmischungen herum“, ebd.: 596. 44 Diese beiden Bilanzen finden sich unter den Nachträgen aus dem Nachlaß in GSG 24 (in Vorbereitung).
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vor Ausbruch des Weltkriegs anknüpfte. Doch plötzlich war ihm nicht einmal mehr klar, ob sein Schreiben irgendetwas Sinnvolles bewirken könnte: „Das ist das persönlich Schwere dieser Zeit“, heißt es an Anna und Ignaz Jastrow vom 13. Juli 1915: „Dass mein Tun u. Denken sich in eine Zukunft hineinstreckte, die nicht Gegenwart werden wird, dass ich den Samen wo hingestreut habe, wo kein Ackerboden ist“ (GSG 23: 535). Die Bilanzierung konnte also nur Durchsicht des Œuvres in Hinsicht auf das sein, was noch wertvoll sein könnte; da selbst das bezweifelbar schien, sah Simmel als Wertmaßstab seine „originalen Grundmotive zu der Geistesentwicklung“, und ihm blieb als Vorsatz erst einmal nur, die Arbeiten wieder aufzugreifen und abzuschließen, die diesem Wert nahe kamen. Er vollendete dann 1918 noch die Lebensanschauung,45 die sein philosophisches Werk abschloss – „das meines bischen [sic!] Weisheit letzten Schluss enthält“, wie er im Abschiedsbrief an Agathe und Hugo Liepmann am 5. September 1918 schreibt (ebd.: 1007) –, und das nicht zufällig mit dem Kapitel zum ‚individuellen Gesetz‘ endet, das dem programmatischen Aufsatz „Das individuelle Gesetz. Ein Versuch über das Prinzip der Ethik“ (GSG 12: 417-470) von 1913 entsprach und die Möglichkeit der Verbindung von „Individualität und Gesetzlichkeit“, so der Schlusssatz der Lebensanschauung, vollziehbar werden lassen will (GSG 16: 425). Vorher, 1917, hatte er einen Teil seiner sogenannten „Kriegsaufsätze“ als Monographie erscheinen lassen, deren Vorwort den Bilanzgedanken aufgreift46. Auch die Grundfragen von 1917 sind als Abrundung eines Hauptmotivs „zu der Geistesentwicklung“ zu deuten, gleichsam als seiner soziologischen Weisheit letzter Schluss, d.h. einerseits das Zusammenfügen seiner bisherigen Arbeiten bezüglich der ‚Tatsache Gesellschaft‘ wie andererseits das Einbetten seines soziologischen Werkes in sein wissenschaftliches Œuvre – und dies unter der Ausrichtung auf sein metaphysisches Grundkonzept vom Widerstreit zwischen dem Leben und den aus ihm sich herauskristallisierenden Formen, die das Leben wohl zeitweilig fördern und zu gestalten vermögen, es dann aber zunehmend behindern. Schließlich lassen sich die Grundfragen der Soziologie auch so lesen, dass sie auf dieses Dilemma – Simmel spricht bekanntlich von einer
45 Ganz im Sinne der Bilanzierung das vorausgestellte Motto Dantes an seine Leser: „Ich tische auf; nimm selbst dir dein Gericht: / Denn meine ganze Sorge gilt allein / Den Dingen, die zu künden meine Pflicht“, GSG 16: 210. 46 Dort heißt es: „Es kann anmaßend erscheinen, diese Deutungen der Innenseite des Weltschicksals, die auf das Kommende hinsehen, literarische Dauerform zu geben. Allein Ausblicke auf die Zukunft haben ja ihren Sinn als Dokumente der Gegenwart, mag jene sie bestätigen oder widerlegen; hier um so entschiedener, als es nur, aus dem Vergangenen und Augenblicklichen heraus, die für jetzt entscheidenden Linien nachzuzeichnen gilt. Insofern dies aber gelänge, würden dadurch wenigstens mitentscheidende Linien in die Zukunft hervortreten“, GSG 16: 9.
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„Tragödie“ – hin angelegt sind, denn es muss generell in Erinnerung gerufen werden, dass nach Simmel jede Vergesellschaftung Zwang ist, da die Gesellschaft nur eine Option für die Menschheit war. Comtes für die spätere Soziologie zum Credo gewordenen „Hang zur Gemeinschaft“ lehnte er ebenso ab wie Aristoteles‘ „zóon politikón“, er setzte statt dessen auf den Menschen „als einsames Tier“, das es sonst „in der ganzen Natur nicht giebt“ (GSG 22: 910).47 Das einsame Individuum befindet sich nicht außerhalb jeder menschlichen Gesellschaft, es ist kein Wolfskind; vielmehr bedarf es gerade der Gesellschaft, von der es irgendeine Vorstellung hat und dann, erst dann ihr Dasein verneint (GSG 11: 97). Ihren Sinn bekommt die Einsamkeit so durch die Fernwirkung der Gesellschaft, sei es als Sehnsucht oder Abwendung, womit noch der Einsame in seinem Zustand bestimmt ist durch die Vergesellschaftung, wenn auch einer „mit negativen Vorzeichen versehene“ (ebd.: 280), aber, wie immer, Einsamkeit und Freiheit bleiben verbunden – und diese Freiheit wird so dem Individuum gegenüber der Gesellschaft zuerkannt. Simmel spricht hier vom „abstrakten Bedürfnis nach individueller Freiheit“, das sich als sublimierte Reaktion auf die zunehmenden gesellschaftlichen Zwänge in der „neueren Zeit“ verstehen lasse (GSG 16: 128).48 Und damit wird als zentrale Konfliktlinie zwischen Individuum und Gesellschaft der prinzipiell nicht zu lösenden Widerstreit gesehen, dass die Gesellschaft als Ganzes von ihren „Elementen die Einseitigkeiten der Teilfunktion fordert“, wohingegen das Individuum sich nur als Teil vergesellschaftet weiß und „selbst ein Ganzes sein will“ (ebd.: 123). Seit der Renaissance sehe der Mensch „Wesen und Sinn seiner Existenz darin [...], dass er Individuum ist“ (GSG 15: 350; ähnlich GSG 2: 128; GSG 7: 56; GSG 9: 226; GSG 11: 811ff.; GSG 13: 299ff.), suche nach sich selber, als ob er sich noch nicht hätte, und sei doch „sicher, an seinem Ich den einzig festen Punkt zu haben“ (GSG 16: 143). Der daraus resultierende Individualismus prägt nach Simmel die Moderne, und er bindet sich geistesgeschichtlich sowohl an Konkurrenz wie an Arbeitsteilung; sei es die Freiheit der unbeschränkten Konkurrenz, die metaphysisch das (ökonomische) Heil mit dem blanken Egoismus koppelt, sei es die Differenzierung, die letztlich die radikale Vereinseitigung als Ziel des Anders-Seins glo-
47 Zu Gesellschaft als Option GSG 11: 858; GSG 16: 125f. – Entsprechend tut Simmel auch Aristoteles‘ „zóon politikón“ (Politik, 1153a) ab mit: „Nur ein solcher Schulmeister wie Aristoteles konnte es für das Entscheidende des Menschen halten, dass es das Gemeinschaftstier ist“, Brief an Margarete von Bendenmann vom 1. Januar 1911, GSG 22: 910. 48 Die Betonung der Freiheit und der damit verbundenen Selbstverantwortlichkeit nennt Simmel die „quantitative“ Bedeutung der Individualität und unterscheidet sie von der „qualitativen“, die darauf abziele, dass der Mensch anders sein wolle als das alter ego, was einen „positiven Sinn und Wert für sein Leben“ besitze, GSG 11: 811, hierzu auch GSG 16: 145ff.
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rifiziert und als Metaphysik der Arbeitsteilung fungiert. Beide Entwicklungen schienen Simmel verfehlt, er endet seine Grundfragen in der Hoffnung, dass die Entwicklung des Individualismus so fortschreite, dass „die Arbeit der Menschheit immer mehr, immer mannigfaltigere Formen aufbringen wird, mit denen die Persönlichkeit sich bejahen und den Wert ihres Daseins beweisen wird“ (ebd.: 149). Simmels Grundfragen der Soziologie (Individuum und Gesellschaft) sind – wohl gewollt – widersprüchlich, indem einerseits auf der reinen oder formalen Soziologie als exakte Soziologie beharrt wird, der zufolge im Zentrum die Erforschung der Formen zu stehen habe, die zwischen den Wechselwirkungspartnern bestehen und die diese Partner marginal, ja, austauschbar werden lassen – die formale Soziologie braucht die Individuen nicht in den Blick zu nehmen –, und indem andererseits mit der philosophischen Soziologie auf den Individualismus gesetzt wird, die mit dem „individuellen Gesetz“, sozusagen als der Weisheit letzter Schluss, hätte enden können.49 Aber Simmel belässt es bei der oben erwähnten „metaphysischen Sehnsucht“ in Hinblick auf die Persönlichkeit als Teil der Menschheit, was ihm erlaubt, das Individuum der Gesellschaft gegenüber als inkommensurables Paradox wie vice versa die Gesellschaft den Individuen als ihren Teilen gegenüber als paradox einstufen zu müssen,50 aber trotzdem den Glauben an eine Versöhnung dieses Widerspruchs als nicht unmöglich hinzustellen. Erst einmal bleibt aber das ‚und‘ in Individuum und Gesellschaft das zentrale Problem jeder Soziologie – von dem dann die Vergesellschaftung nur ein Teilchen ist – und so ist von der ‚kleinen‘ Soziologie aus die ‚große‘ Soziologie, als Untersuchungen der Formen der Vergesellschaftung präzisiert, einzustufen.
49 GSG 16: 136f. hat Simmel schon den Weg geebnet, um wie in GSG 13: 303f. sein „individuelles Gesetz“ einzufügen, das „sich ausschließlich aus dem So-Sein“ des Individuums entwickele. 50 Hierzu auch Margarete Susman, Die geistige Gestalt Georg Simmels, Tübingen 1959, 13ff.
Biographische Aspekte der amerikanischen Simmelrezeption G UENTHER R OTH
P ERSÖNLICHE V ORBEMERKUNG In der Literatur wird oft in einem diffusen Sinne und metaphorisch vom ‚Einfluss‘ eines Autors oder seines Werks gesprochen, auch wenn es richtiger wäre, von Beachtung und Rezeptionsinteresse zu reden. Schon der Einfachheit halber ist in Überschriften das Wort ‚Einfluss‘ verwendet worden. Unter dem Titel „Simmelʼs Influence on American Sociology” bot 1976 Donald Levine u.a. einen ausführlichen Überblick über die Simmelrezeption in den USA. Levine selbst ist von seiner 1957er Dissertation über Simmel und Parsons bis zu seiner großen Synthese Visions of the Sociological Tradition von 1995 einer der besten Simmelkenner geblieben.1 Umstandslos betitelt als „Max Webers Einfluß auf die amerikanische Soziologie” erschien auch mein erster Artikel in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, den ich vor fünfzig Jahren mit Reinhard Bendix (1916-1991) verfasste.2 Völlig vergessen hatte ich, wie ich beim zögerlichen Wiederlesen entdeckte, dass er mit drei Seiten über die amerikanische Simmelrezeption beginnt, diese stammten natürlich hauptsächlich vom ‚Chicagoprodukt‘ Bendix. Allerdings sollte man bei dieser Selbstcharakterisierung berücksichtigen, dass zu Anfang der vierziger Jahre, als die kurz zuvor angekommenen Emigranten Bendix und Herbert Gans 1
Donald N. Levine u.a., Simmel’s Influence on American Sociology, in: American Journal of Sociology (fortan als AJS) 81 (1976), 813-845, 1113-1132; der englische Text wiederabgedruckt in: Hannes Boehringer, Karlfried Gründer (Hg.), Ästhetik und Soziologie um die Jahrhundertwende: Georg Simmel, Frankfurt/M. 1976, 175-228; Levine, Simmel and Parsons. Two Approaches to the Study of Sociology (1957), New York 1980 (Nachdruck mit einer neuen Einleitung); ders., Visions of the Sociological Tradition, Chicago 1995.
2
Guenther Roth, Reinhard Bendix, Max Webers Einfluß auf die amerikanische Soziologie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 11 (1959), 38-53.
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(geb. 1927) in Chicago studierten, die dortige Soziologie schon gespalten war in eine ältere stadtsoziologisch und an Simmel angelehnte Tradition und eine neuere, quantitativ orientierte, welche die ältere Methode der life histories als unwissenschaftlich ablehnte.3 Jedenfalls wies der Essay am Ende darauf hin, dass die neuesten Entwicklungen auf dem sich schnell ausdehnenden Gebiet der vergleichenden Studien „natürlich nicht als ein direktes Resultat des Weberʼschen Werkes zu verstehen sind. Es entspricht der wirklichen Lage eher zu sagen, daß sich dieses neu erwachte Interesse und der wachsende Einfluß Webers zusammen entwickelt haben, vermutlich weil die weltgeschichtlichen Probleme Amerikas seit dem Zweiten Weltkrieg zu einer geistigen Neuorientierung angeregt haben.”4
Der erste Anstoß zu einer intellektuellen Entdeckung, der zu einer langfristigen Beschäftigung mit einem Autor führen kann, ist oft zufällig. Talcott Parsons hat erzählt, wie ihn der Zufall 1925 auf Max Weber in Heidelberg stoßen ließ.5 Der junge Donald Levine kam 1952/53 als erster Chicagoer Austauschstudent nach Frankfurt und entdeckte dort in einer von einem Emigranten zurückgelassenen Bücherkiste Simmeltitel, die ihm unbekannt waren und die sein Interesse beflügelten.6 Ich las Simmel erstmals, als ich bei meinem Studien- und Forschungsbeginn am Frankfurter Institut für Sozialforschung 1951/52 Max Horkheimer fragte, mit welcher Lektüre ich beginnen solle und die Antwort bekam: die Philosophie des Geldes. Donald Levine und ich lernten uns damals kennen. Wir nahmen beide im Sommersemester 1953 im Institut an einem Seminar zur Berufssoziologie teil, das der Simmelkenner Everett C. Hughes (1897-1983), führender Vertreter der älteren Chicago School, anbot; auch Wolf Heydebrand gehörte dazu, der später jahrzehntelang Simmel in 3
Reinhard Bendix, How I became an American Sociologist; Herbert Gans, Relativism, Equality, and Popular Culture, beide in: Bennett Berger (Hg.), Authors of Their Own Lives. Intellectual Autobiographies by Twenty American Sociologists, Berkeley 1990, 432476. Die deutsche Version von Bendix, Wie ich zu einem amerikanischen Soziologen wurde, in: M. Rainer Lepsius (Hg.), Soziologie in Deutschland und Österreich 19181945, Opladen 1981, 347-368.
4 5
Roth, Bendix, a.a.O., 49f. Talcott Parsons, Revisiting the Classics Throughout a Long Career, in: Buford Rhea (Hg.), The Future of the Sociological Classics, London 1981, 183-194, hier 183.
6
Dazu die autobiographische Einleitung in Donald N. Levine, Soziologie und Lebensanschauung. Zwei Wege der ‚Kant-Goethe-Synthese’ bei Georg Simmel, in: Simmel Studies 17 (2007), 239-263; ders., Simmel Reappraised: Old Images, New Scholarship, in: Charles Camic (Hg.), Reclaiming the Sociological Classics. The State of Scholarship, Malden MA 1997, 173-207, hier 173f.
B IOGRAPHISCHE A SPEKTE DER
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Chicago, St. Louis und New York in seinen Theoriekursen behandelte. Heydebrand und ich belegten auch ein Seminar über „Die Ehe im Recht und in der Wirklichkeit”, das Hughes zusammen mit dem emigrierten vergleichenden Rechtsexperten Max Rheinstein, dem Herausgeber und Übersetzer von Webers Rechtssoziologie, sowie dem Simmel-Übersetzer Kurt H. Wolff veranstaltete.7 Das Institut für Sozialforschung war damals ein Amerikanisierungsunternehmen und verbarg die Kritische Theorie in der berühmten Kiste im Keller. Neben anderen Studien- und Forschungsinteressen war uns also Simmel sozusagen als Rückexport durch Emigranten und amerikanische Besucher früh bekannt. Wolff folgte ich im Herbst 1953 mit einem akademischen Forschungsvisum an die Ohio State University in Columbus, um eine am Frankfurter Institut unternommene Studie zur Entnazifizierung fertigzustellen.8 Wolf Heydebrand ging ein Jahr nach mir als Austauschstudent nach Chicago, studierte unter anderen bei Hughes weiter und unterrichtete später zusammen mit Donald Levine auf dem neuen Gebiet der comparative institutions. Die amerikanische Simmelrezeption, wie jede Rezeption fremdsprachlicher Texte, hing zunächst von den Deutschkenntnissen der Übersetzer und Interpreten ab. Mir geht es im Weiteren um die Biographien einiger der Hauptpersonen, ihre Herkunft, Motivationen und Interessen. Einwanderer und Emigranten spielten eine besondere Rolle, von einer kleinen Zahl einheimischer Deutschkundiger abgesehen. Ich will mich mit ihnen konkret historisch befassen und nicht soziologischtheorisierend versuchen, sie etwa mithilfe von Simmels so oft zitiertem Essay über den Fremden zu interpretieren. Im 20. Jahrhundert blieben die USA trotz starker Einschränkungen im mittleren Drittel ein Einwanderungsland, was sich besonders auch auf die Universitäten auswirkte (die heute wieder unter dem erneuerten Nativismus leiden). Aber erst die enorme Ausdehnung der Colleges und Universities nach 1945, das sprunghafte Wachstum der Soziologie auf beiden Ebenen (graduate und undergraduate) und, besonders wichtig, die paperback revolution im Lehrbetrieb machten Simmels Namen und einige Aspekte seiner Soziologie weithin bekannt. Doch handelte es sich im Lehrbetrieb mehr um passive als aktive Rezeption. In vielen Readern und Textbüchern wurde dabei das soziologische und weniger das philosophische Werk dargestellt. Aus dem persönlichen und sozialen Kontext herausgenommen entwickel7
Wolf Heydebrand und Donald Levine bestätigten mir ihre Teilnahme, aber Letzterer kann sich nicht an das Hughes/Rheinstein-Seminar erinnern (persönliche Mitteilung Heydebrand v. 22. November u. 28. Dezember 2007; Levine v. 25. Januar 2008).
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Dazu mein autobiographischer Essay, Partisanship and Scholarship, in: Berger, a.a.O., 383-409; erweitert: Politische Generationserfahrung und intellektuelles Interesse. Versuch über eine deutsch-amerikanische Laufbahn, in: Roth, Politische Herrschaft und persönliche Freiheit, Frankfurt/M. 1987, 246-282.
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ten die Übersetzungen, ob adäquat oder fehlerhaft, sozusagen ein Eigenleben, das sie für die verschiedensten Interessen verfügbar machte ˗ im besseren Fall handelte es sich um „creative misinterpretations“, wie ich es einmal genannt habe.9 Mit dem Niedergang der Soziologie von den achtziger Jahren an und mit ihrer zunehmenden theoretischen (und multiethnischen) Zersplitterung nahm die Kenntnis der eurozentrischen ‚Klassiker‘ wieder ab. Im Graduate-Studium sind Kurse über ‚klassische Theorie‘ an die Peripherie gerückt, auch wenn sie formell noch vorgeschrieben sind. Doch hat sich inmitten der Fragmentierung eine interdisziplinäre Nische für Klassikerexpertise, Simmel einschließend, behauptet. Vielleicht können die zahlreichen Publikationen und gelegentlichen Tagungen eine ‚kritische Masse‘ erhalten, auch wenn sie im Vergleich zur riesigen akademischen Publikationsflut und zur Themeninflation der Jahrestagungen sehr klein erscheinen. Im Laufe des 20. Jahrhunderts übertraf zwar die Weberrezeption die von Simmel, doch blieb dieser gerade durch häufige theoretische und persönliche Vergleiche in der Weberliteratur präsent.10 Aber bekanntlich ging die Simmelrezeption der von Weber um viele Jahre voraus. Seit den 1890er Jahren machte Albion W. Small (1854-1926) Georg Simmel, bei dem er in Berlin gehört hatte, durch frühe Übersetzungen für die Soziologie relevant, also seit der Gründung der University of Chicago, der des ersten Department of Sociology sowie der American Sociological Society und des American Journal of Sociology, an dem Simmel als advising editor beteiligt war, wie dem Brief an Célestin Bouglé vom 22. Juni 1895 zu entnehmen ist (GSG 22: 149f.). Wenige Monate vor seinem Tod im März 1926 warf Small je-
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Guenther Roth, ‚Value Neutrality‘ in Germany and the United States, in: Bendix, Roth, Scholarship and Partisanship. Essays on Max Weber, Berkeley 1971, 34-54, hier 35.
10 Dazu Lawrence A. Scaff, Fleeing the Iron Cage. Culture, Politics, and Modernity in the Thought of Max Weber, Berkeley 1989, bes. 121-151. Ferner ders., Georg Simmelʼs Theory of Culture, in: Michael Kaern u.a. (Hg.), Georg Simmel and Contemporary Sociology, Dordrecht 1990, 283-296. Der Politologe Scaff erinnerte sich mir gegenüber: „I became aware of Simmelʼs writings at Berkeley, probably in 1964/65, and the source was most likely the Bendix/Lowenthal class on sociological theory, and the only text I remember from the time was ‚Conflict and the Web of Group-Affiliations‘ […]. Simmel was treated as a conflict theorist, as I remember, and he was only mentioned in sociology classes, never (as I recall) in the political science, history or philosophy classes I took. That wasn’t true of Max Weber, of course, whose work came up across the board in all those subjects […]. Simmel never had that reach. I don’t think I paid close attention to Simmel’s writings until the 1980s, coming at them through Weber, of course. And I am reasonably certain I didn’t start teaching Simmel until that decade“ (persönliche Mitteilung v. 8. Januar 2008). Über Simmel auch Harry Liebersohn, Fate and Utopia in German Sociology, 1870-1923, Cambridge 1988, 126-158.
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doch einen skeptischen Blick zurück und bezweifelte den Erfolg seiner Bemühungen: „Nearly thirty years ago the editors of this Journal […] wanted to stimulate social scientists in the English-speaking world to begin with beginnings by devoting themselves to fundamental problems of methodology. They believed that no better center of attention could be selected than that proposed by Simmel […]. We fondly hoped that not only sociologists but social scientists in general in all the English-speaking countries would respond, if not to the extent of adopting Simmelʼs theories, at least to the extent of general admission that science without a recognized methodology is unthinkable. Up to the present time the Americans who have given indubitable evidence of having considered Simmel thoroughly might be counted on the fingers of one hand.”11
Immer wieder wurde von Small und anderen Simmels Bedeutung als Methodologe hervorgehoben. Smalls Interessen waren aber keinesweg auf Simmel zentriert; er kannte und zitierte fast die ganze damalige europäische und amerikanische Literatur.12
11 Albion Small, Rez. v. Nicholas J. Spykman, The Social Theory of Georg Simmel, Chicago 1925 (Nachdruck New York 1964), in: AJS 31 (1925), 84-87, hier 84. Smalls Besprechung wurde behandelt in David Frisby, Simmel and Since. Essays on Georg Simmelʼs Social Theory, London 1992, 159f. Frisby weist darauf hin, dass „the outbreak of the First World War saw a significant setback in the reception of German sociology. Simmel’s initial open support for the German war was sharply criticized by Small in an extended letter to Simmel published in the British Sociological Review in 1914.“ Brief abgedruckt in GSG 23: 444ff. 12 Albion Small, General Sociology. An Exposition of the Main Developments in Sociological Theory from Spencer to Ratzenhofer, Chicago 1905. Auffällig ist, dass trotz eines Hinweises auf Simmel als „one of the keenest thinkers in Europe“, a.a.O., 498, dieser nur dreimal zitiert wird, während Spencer, Schäffle und Ratzenhofer ganze Kapitel erhalten. Lange übersehen wurde die frühe Simmelrezeption von Arthur F. Bentley, der ca. 1893/94 bei Simmel studiert hatte; er veröffentlichte 1908 The Process of Government, Nachdruck Cambridge 1967, ein Werk, das heute als Klassiker gilt. Seine „interest group theory“ lehnte sich explizit an Simmels Über sociale Differenzierung an, aber das Buch wurde über zwanzig Jahre lang ignoriert und damit auch Bentleys positive und negative Bewertung Simmels. Im Jahre 1926 stellte Bentley noch einmal im AJS Simmel als einen der drei großen Namen in der modernen Soziologie neben Durkheim und Ratzenhofer vor, aber im Rahmen eines verwirrenden Versuchs, Simmels euklidische Formen Einsteins Relativitätstheorie anzupassen. Arthur Bentley, Simmel, Durkheim, and Ratzenhofer, in: AJS 32 (1926), 250-256.
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Bei Smalls methodologischem Interesse an Simmel und der deutschen überwiegend kulturprotestantischen Sozialwissenschaft darf nicht übersehen werden, dass seine Soziologie substantiell auf einheimischer christlicher Ethik beruhte. Die von dem tief religiösen John Rockefeller gegründete University of Chicago war lange eine baptistische Bastion; Small war ordinierter baptistischer Pastor und zunächst Präsident des baptistischen Colby College in Maine gewesen.13 Erst im Todesjahre von Small 1926 wurde der erste jüdische Einwanderer, Louis Wirth (1897-1952), Mitglied des Departments.14 Jedenfalls beschränkte sich die lehrmäßige Kenntnisnahme Simmels bis zum Zweiten Weltkrieg mit einigen Ausnahmen auf den Umkreis der verhältnismäßig kleinen Departments of Sociology and Anthropology (meist vereint, so auch in Chicago bis 1929). Das berühmte tausendseitige Textbuch von 1921, Introduction to the Science of Sociology, von Robert E. Park, der ebenfalls bei Simmel studiert hatte, und Ernest W. Burgess ediert, bezog Simmel stärker ein als die über hundert anderen Autoren – zehn Auszüge unter mehr als 170 – und behandelte ihn mehrmals in den Kommentaren.15 Die begriffliche Strukturierung stammte von Park und lehnte sich an Simmel an. Für die Stadtsoziologie der Chicago School wurde Simmels Essay von 1903, „Die Großstädte und das Geistesleben“, zu einer über ihrer Empirie schwebenden ‚vorbildlichen‘ Interpretation: „Simmel has made the one outstanding contribution to a sociology or, perhaps, a social philosophy of the city in his paper ‚The Great City and Cultural Life‘“. Während Park auf die philosophische Konstruktion hinwies, nannte Louis Wirth den Essay lapidar „the most important single article on the city from the sociological standpoint“.16 Dahinter stand seine eigene Lebens13 „Smallʼs sociology required both Christian ethics and rigorous empiricism […]. The Christian spirit of uplift seemed to be the principal prerequisite for appointment to Chicagoʼs sociology department.“ Arthur Vidich, Stanford Lyman, American Sociology. Worldly Rejections of Religion and Their Directions, New Haven 1985, 179. 14 Es ist mir unklar, wie Small den protestantisch getauften Simmel wahrnahm, vornehmlich als Kulturprotestanten oder auch als jüdischen Intellektuellen. 15 Robert E. Park, Ernest W. Burgess, Introduction to the Science of Sociology, Chicago 1921, erw. 1924; ferner dies. u. Roderick McKenzie, The City, Chicago 1925. Park und Burgess konzedierten im Vorwort der zweiten Aufl., a.a.O., ix: „There has been some criticism of this volume, on the ground that it is too difficult for students beginning the study of sociology, and for that reason was not a good introduction.“ In der Tat war das Textbuch mehr die ambitionierte Selbstdarstellung einer Disziplin als eine für Studienanfänger im Lande pädagogisch geeignete Einführung. In Chicago wurde es jedoch nicht nur in einem Graduatekurs, sondern auch in einem Kurs für Sophomores (zweites Collegejahr) als Hauptlektüre verwendet 16 Park, Introduction, a.a.O., 331; Wirth, Bibliographie zu The City, a.a.O., 219.
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erfahrung, die mit Simmels Entwicklungsschema parallel ging: von dem kleinen Dorf Gemünden im Hunsrück, in dem seine jüdische Viehhändlerfamilie seit langem ansässig war, zu den riesigen Schlachthöfen im provinziellen Ohama in Nebraska, in dem er seine Jugendjahre verbrachte, bis hin zum persönlich befreienden Erlebnis der weltoffenen Metropole Chicago, dessen soziale Probleme er aktiv zu mildern suchte.17 Simmels Essay wurde erst 1936 von dem jungen Edward Shils (1910-1995) übersetzt und im internen Lehrbetrieb in Chicago verwendet, aber nicht ohne dass u.a. der letzte Satz völlig sinnentstellt wurde.18 Einmal etabliert, tendieren Fehlübersetzungen dazu, sich in der Literatur durchzuschleppen, und dies hat in der Tat, wie auch bei Weber-Übersetzungen von Shils oder Gerth und Mills, manchmal zu gravierenden theoretischen Missverständnissen geführt. Jedenfalls wurden adäquate Übersetzungen umso wichtiger, je mehr die studentischen Kenntnisse des Deutschen abnahmen, das seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr populär war. Wie sich Everett Hughes (1897-1983) später gegenüber Robert Faris erinnerte, war die Zahl kompetent deutsch und französisch lesender Doktoranden klein; er nannte neben dem mit vierzehn Jahren eingewanderten Louis Wirth den aus einer deutschstäm17 Die Literatur über die Chicago School enthält praktisch nichts über Louis Wirths jüdische Familiengeschichte und sein Verhältnis zum Judentum. Die beste Information stammt aus der Hand seiner Tochter Elisabeth Wirth Marvick, Louis Wirth: A Biographical Memorandum, in: Albert Reiss, Jr. (Hg.), Louis Wirth. On Cities and Social Life, Chicago 1964, 333-340. Wirths Ehefrau Mary Bolton, die er 1923 heiratete, entstammte einer kleinstädtischen, strenggläubigen baptistischen Familie; sie durfte aber an der baptistischen University of Chicago studieren. Die Tochter bemerkte über ihre Eltern: „In marrying her, Wirth was the first member of his family to marry a non-Jew. Wirthʼs assimilationist inclinations and principles, like those of his wife, partly derived from their common reaction against dogmatism and provincial ethnocentrism. The two daughters were to be encouraged in agnosticism with audible atheistic overtones, at the same time that they were to acquire a ‚generalized minority‘ ethnic identification“, a.a.O., 337. 18 The Metropolis and Mental Life, Second-Year Course in the Study of Contemporary Society, Syllabus and Selected Readings, Chicago Bookstore 51936, 221-238, Wiederabdruck in: Donald Levine (Hg.), Georg Simmel: On Individuality and Social Forms, Chicago 1971, 324-339. Kurt Wolff übernahm für The Sociology of Georg Simmel eine anscheinend unveröffentlichte Übersetzung des Emigranten Hans Gerth, der den Schlusssatz richtig wiedergab. Als Paperback ist Levines Band noch im Druck, aber nicht Wolffs. Auf der Grundlage der Übersetzung von Shils verglich Birgitta Nedelmann den deutschen und englischen Text detailliert und monierte: „It becomes obvious that there are severe deviations from the original German text which might be the source for many misunderstandings und misinterpretations of Simmelʼs sociology.“ Dies., On the Concept of ‚Erleben‘ in Georg Simmel’s Sociology, in: Kaern, a.a.O., 225-242, hier 238.
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migen Familie in St. Louis stammenden Herbert Blumer und Robert Redfield, dessen vermögende anglo-dänische Familie ihn privat unterrichten ließ. Hinzu kam, dass die ungefähr fünfzig Chicago-Dissertationen der zwanziger Jahre fast alle empirisch und nicht theoretisch orientiert waren.19 Waren es zuerst hauptsächlich Gelehrte, die an deutschen Universitäten in der Hochzeit ihres Ansehens studiert hatten, welche Simmel und die deutschen Sozialwissenschaften importierten, so spielten vom Ersten Weltkrieg an Immigranten und Emigrés eine bedeutende Rolle. Pitirim Sorokin (1889-1968), im zaristischen und bolschwewistischen Russland verfolgt, ist der bekannteste Name. Allerdings war er Simmel gegenüber sehr kritisch eingestellt. Die große wissenschaftliche Wirkung der europäischen und besonders der deutschsprachigen Emigranten der Nazizeit ist gründlich untersucht worden, aber weniger die Rolle ihrer Vorgänger.20 Die beiden ersten größeren Simmelstudien wurden nicht in Chicago geschrieben, sondern von zwei nichtdeutschen, aber deutschkundigen Immigranten an der University of California in Berkeley und an der Columbia University in New York City. Politische und theoretische Interessen flossen schon in der ersten Simmelmonographie zusammen, die von dem holländischen Einwanderer Nicholas Spykman (1893-1943) zu Beginn der zwanziger Jahre verfasst wurde. Nach einem Studium in Delft war Spykman von 1913 bis 1920 Journalist und zeitweilig diplomatischer Angestellter in Ägypten und in Niederländisch-Indien (Dutch East Indies), bevor er 1921 in Berkeley seinen BA erwarb.21 Unter seinem holländisch buchsta19 Die Liste der Dissertationen von 1893 bis 1935 in: Robert Faris, Chicago Sociology 1920-1932, San Francisco 1967, 135ff. Die Reminiszenz von Hughes a.a.O., 34f. Louis Wirth, der 1926 über das Thema The Ghetto: A Study in Isolation, Chicago 1928, promovierte, verfolgte die deutsche Literatur aufmerksam; dazu sein Überblick Modern German Conceptions of Sociology, in: AJS 32 (1926), 461-470. Angesichts von Simmels Gründerrolle und seiner Etablierung in Chicago konnte Wirth immerhin feststellen: „The best-kown and certainly the most quoted sociologist in Germany is Max Weber“, a.a.O., 464. Auf die religionssoziologische Bedeutung von Max Weber und Ernst Troeltsch wurde schon 1924 hingewiesen von Heinrich Maurer, The Sociology of Protestantism, in: AJS 30 (1924), 257-286. 20 Z.B. Lewis Coser, Refugee Scholars in America. Their Impact and Their Experiences. New Haven 1984. 21 Donald Levine, Simmelʼs Influence, a.a.O., 815 (deutscher Nachdruck, a.a.O., 179), erwähnt, Spykman sei unter denen gewesen, „who actually attended Simmelʼs lectures in Berlin“. Es ist denkbar, dass Spykman einmal einer Vorlesung Simmels zuhörte, aber sein Nachruf erwähnt nur sein Studium in Delft und in Kairo (New York Times v. 27. Juni 1943). Eine Passage aus Spykmans Dissertation erschien unter der Rubrik „Erinnerungen an Simmel“ in Kurt Gassen, Michael Landmann (Hg.), Buch des Dankes an Georg Simmel. Erinnerungen, Briefe, Bibliographie. Zu seinem 100. Geburtstag am 1.
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bierten Namen Nikolaas Johannes Spykman promovierte er 1923 in Berkeley über „The Social Theory of Georg Simmel“. Small veranlasste noch die Veröffentlichung der Dissertation, aber nun unter dem anglisierten Namen Nicholas J. (John) Spykmann, durch die University of Chicago Press in der Hoffnung „that Dr. Spykman will prove to have done for Simmel and for social science what this Journal was unable to do thirty years ago“.22 Doch sollte sich Smalls Hoffnung auch diesmal ungeachtet der vielversprechenden Reklame der University of Chicago Press nicht erfüllen.23 Im Vorwort dankte Spykman dem aus Irland stammenden komparativen ‚Welthistoriker‘ Frederick Teggart (1870-1946) – „the world as a whole be the unit of study“ –, dem die University of California gerade das Department of Social Institutions eingerichtet hatte, das bis nach dem Zweiten Weltkrieg die Errichtung eines Soziologiedepartments verhinderte und die Chicagoschule fernhielt, bis Reinhard Bendix nach 1949 und Herbert Blumer nach 1952 das neue Department of Sociology aufbauten.24 Die zweite Danksagung galt dem idealistischen Philosophen George Plimpton Adams (1882-1961), der in Harvard bei James, Royce, Münsterberg und Santayana studiert und 1911 mit einer „Defense of Idealism“ promoviert hatte. DieMärz 1958, Berlin 1958, 185-188, aber sie ist nicht eindeutig und belegt keine persönliche Kenntnis. 22 Small, Besprechung, a.a.O., 84. Small fügte eine Reminiszenz hinzu: „The desideratum is to start with the spirit of Simmelʼs desire for methodology, not necessarily with his specific conclusions. For instance, the present writer’s last conversations with Simmel were in 1903. At that time he reiterated one of his most familiar doctrines, viz., that sociology should be ‚the geometry, the morphology, the crystallography of groups.‘ Probably the writer would have had the support of most American sociologists in declining to accept such delimitations for sociology. A little further consideration, however, might have brought us into agreement with Simmel, and Simmel with us, that social science needs a technique of social forms, whatever it be called“, a.a.O., 87. 23 „This is the first exposition in English of the ideas of the great modern methodologist, Georg Simmel, and is one of the most significant books which has been contributed to social science in America […]. This book may be used as a text in advanced senior courses in problems of method, and as a reference for courses on social methodology, social philosophy, and theoretical sociology.“ in: AJS 31 (1925), Anhang „The Press Imprint“. 24 Teggart war in so viele Auseinandersetzungen mit den mehr konventionellen Historikern verwickelt, dass Präsident Benjamin Wheeler ihm 1920 das Ein-Mann-Department einrichtete, um ihn sowohl zu isolieren wie festzuhalten. Spykman wurde 1923 das zweite Mitglied und unterrichtete „Introduction to sociology“ und „Social theory“, bis Margaret Hodgen (1890-1977) ihn 1925 ablöste; sie leitete das kleine Department von 1937 bis 1946. Dazu Stephen Murray, Resistance to Sociology at Berkeley, in: The Journal of the History of Sociology 2 (1980), 61-84.
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se illustren Harvardprofessoren waren in unterschiedlichem Maß mit Simmels Werken vertraut, oder sie hatten ihn, wie Santayana, sogar in Berlin gehört. Adams kannte sich in der deutschen Literatur über die epistemologischen und methodologischen Probleme in den Geschichts- und Sozialwissenschaften gut aus und zitierte Dilthey, Windelband, Rickert, Troeltsch, Tönnies, Sombart und Simmel, besonders dessen Probleme der Geschichtsphilosophie. Er erwähnte sogar Webers seinerzeit noch fast unbekannte „Protestantische Ethik”, aber nicht die ‚große‘ Simmmelsche Soziologie von 1908. Diese, die nur in Einzelteilen übersetzt vorlag, behandelte nun Spykman ausführlich in seiner Dissertation.25 Spykman nahm eine „formidable Konfusion” in der zeitgenössischen amerikanischen Soziologie wahr, die aus den gegensätzlichen Ansprüchen von Sozialphilosophie und social engineering resultierten. Er erhoffte Abhilfe durch eine Besinnung auf die theoretischen Grundprobleme der Sozialwissenschaften, und hier versprach er sich viel von Simmel. Angesichts des fragmentarischen Charakters von dessen Œuvre bemühte er sich um eine Systematisierung. Spykman und Adams waren jedoch nicht nur an epistemologischen und methodologischen Grundfragen interessiert, sondern wollten auch zur Diagnose und Lösung der moralischen und politischen Krise der Gegenwart beitragen, die sich durch den Weltkrieg noch vertieft hatte. Adams war schon 1914 über Kräfte in Politik und Wirtschaft besorgt, die vom ‚Willen zur Macht‘ besessen waren. Im Jahre 1919 befürchtete er eine Rückkehr zum status quo ante. Um dies abzuwenden, hoffte er auf eine philosophische Verständigung selbst mit Kritikern des Idealismus wie George Dewey, „a common understanding of all who see the imperative needed for building up a future world order wherein genuine democracy shall be more than a name“. In einer Phase, in der Woodrow Wilsons Kampf um die Schaffung und den Beitritt zum Völkerbund noch nicht verloren schien, hoffte Adams auf eine idealistische Erneuerung „which may fairly be called religious“.26 Spykman teilte Adamsʼ Befürchtungen. Sein Vorwort beginnt mit der dramatischen Erklärung: „Western civilization has reached a crisis. It cannot survive in its present form. But if it is to survive at all, man must find a solution. If the social forces which at present are spending themselves in ruthless conflict remain unchecked, there is nothing ahead 25 George Plimpton Adams, Idealism and the Modern Age, New Haven 1919. Adams zitierte auch aus der Philosophie des Geldes, dem Kant-Buch und der Einleitung in die Moralwissenschaft. Daneben war er auch mit Durkheim und Veblen vertraut. Teggart zitierte die deutsche historiographische Literatur, einschließlich Windelband und Rickert in den Prolegomena to History, Berkeley 1916f., aber Simmel, Dilthey und Troeltsch erst in ders., Theory of History, New Haven 1925. Adamsʼ Rolle bleibt unerwähnt in Gary D. Jaworski, Georg Simmel and the American Prospect, Albany 1997, 126. Jaworski betonte stattdessen Teggarts Bedeutung für Spykmans spätere Wendung zur Geopolitik. 26 Adams, a.a.O., 10.
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but utter destruction.“ Aber die Dissertation schwankte unsicher zwischen weiter Perspektive und enger Exposition. Am Ende kam Spykman etwas unvermittelt auf sein politisches Anliegen zurück, seine Hoffnung „that this study may contribute in some way to the finding of the common method which the social sciences will have to adopt if they are ever to advance to a point where they can effectively help man in his liberation from the despotic leviathan“.27 Mit Anklang an Simmels Wahrnehmung einer “Tragödie der Kultur” identifizierte Spykman die Gesellschaft als den “despotischen Leviathan”. Die Soziologen forderte er zur internationalen Öffnung auf. Aber er selbst wurde kein akademischer Soziologe; stattdessen wurde er bekannt als Experte für International Relations an der Yale University. Seine Erfahrungen in Asien kamen ihm dabei zugute. Schon 1926 veröffentlichte er im AJS „The Social Background of Asiatic Nationalism“, worin er Teggarts „comparativehistorical method“ befürwortete und die langsamere Entwicklung Europas mit der schnelleren Asiens unter dem Druck des westlichen Einflusses verglich.28 Als Anhänger des englischen Geopolitikers Halford Mackinder, auf den ihn Teggart zuerst hingewiesen hatte, und als Kritiker von Karl Haushofer trat er in den dreißiger Jahren als entschiedener Gegner des Isolationismus und der America Firsters hervor. Für die Nachkriegszeit forderte er 1942 ein internationales Engagement der USA. Heute gilt er als ‚godfather‘ von George F. Kennans Containment-Politik am Anfang des Kalten Krieges.29 Die politischen Befürchtungen, die nach dem Ersten Weltkrieg sein Interesse an Simmel und an sozialwissenschaftlicher Methodik motiviert hatten, trieben ihn beim Herannahen des Zweiten Weltkriegs weit darüber hinaus zu den großen Fragen der Welt- und Machtpolitik. Nach Spykman befasste sich der in Polen aufgewachsene Theodore Abel (18961988) mit Simmel in seiner Columbia-Dissertation von 1929 über „Systematic Sociology in Germany. A Critical Analysis of Some Attempts to Establish Sociology
27 Spykman, The Social Theory of Georg Simmel, Chicago 1925 (Nachdruck New York 1964), 273. 28 Nicholas J. Spykman, The Social Background of Asiatic Nationalism, in: AJS 32 (1926), 396-411. Jaworski, a.a.O., 127, gibt irrtümlich an, ein Vortrag Spykmans, A Social Philosophy of City Life, gehalten auf der Jahrestagung der American Sociology Society im Dezember 1925, sei im Jahr danach im AJS veröffentlicht worden, eine offensichtliche Verwechslung. Der Vortrag wird im Tagungsbericht erwähnt, AJS 31 (1926), 669. 29 Spykman ging 1925 als Professor of International Relations an die Yale University, wo er von 1935 bis 1940 das Department leitete und das Institute of International Studies gründete. Viel beachtet wurde ders., Americaʼs Strategy in World Politics. The United States and the Balance of Power, New York 1942 (Nachdruck 1970); posthum erschien ders., The Geography of the Peace, New Haven 1944. Kurz vor seinem frühen Tod 1943 bereitete er Offiziere der US Army auf ihre Aufgaben in Military Government in Europa vor.
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as an Independent Science“.30 Ähnlich wie Spykman war Abel an methodologischen Grundfragen der Sozialwissenschaft interessiert, und wie dieser befasste er sich mit den zeitgenössischen politischen Herausforderungen. Während Spykman bald Simmel hinter sich ließ, arbeitete sich Abel jahrzehntelang mit Zweifeln an ihm und an sich selbst ab. Wie sein Lehrer Florian Znaniecki (1882-1958) in Poznan war Abel in der deutschen Sozialwissenschaft und Philosophie belesen, verfolgte aber die deutsche Politik nach 1918, besonders die gegenüber Polen, mit wachsender Besorgnis. Früh war er ein Gegner des deutschen Revanchismus und Nationalsozialismus und deshalb auch des amerikanischen Isolationismus. In den Jahren 1919/20 hatte er als Freiwilliger in der neuen polnischen Armee gegen die Bolschewiken gekämpft. Abel wurde amerikanischer Soziologe, blieb aber zeitlebens polnischer Patriot. Während des Zweiten Weltkriegs und im Kalten Krieg unterhielt er enge Beziehungen zur exilierten polnischen politischen und akademischen Elite.31 In seiner Dissertation behandelte Abel die formale Soziologie Simmels, die phänomenologische Alfred Vierkandts, die behavioristische von Leopold von Wiese sowie die verstehende Max Webers. Er erklärte die Einbeziehung Simmels: „We have included the works of Simmel despite the extensive exposition of his theory by Spykman, largely because Spykman has failed to give the necessary critical analysis of Simmelʼs theory. The effort to establish sociology as an independent science is, of course, not 30 Erschienen in der Columbia Serie Studies in History, Economics and Public Law als Nr. 310; Nachdruck New York 1965. Als formeller Leiter der Dissertation wird der 1928 emeritierte Franklin H. Giddings angegeben, dem das Thema vermutlich fernlag. Abel dankte nur Alvin Alonzo Tenney, der von 1905 bis 1936 an der Columbia University lehrte. Dies ist meines Wissens die zweite Dissertation über Simmel. 31 Abel entstammte einer reichen Textilfabrikantenfamilie aus Lodz, die im 18. oder 19. Jahrhundert zusammen mit anderen verfolgten anabaptistischen Hutterern aus Westfalen ausgewandert war. Nachdem er eine Zeit lang die American Young Menʼs Christian Association in Polen geleitet hatte, kam er wie Spykman als europäischer Immigrant anfangs der zwanziger Jahre in die USA, bevor die Einwanderung 1924 mit einem Quotensystem radikal gedrosselt wurde. Autobiographisch notierte Abel am 23. November 1951: „I remember that on moving from Warsaw to Poznan in 1921 and resuming my work at the university I decided to become a philosopher. It was while taking the courses in philosophy there that I encountered Znaniecki, who influenced my subsequent decision to go to the US and study sociology.“ Abel blieb Znaniecki in dessen polnischen (1920-1939) und auch seinen amerikanischen (1939-1958) Jahren eng verbunden; er holte ihn 1931-33 und 1939 als Gastprofessor an die Columbia. Schon kurz nach seiner Ankunft in den USA schrieb Abel eine deskriptive Magisterarbeit über The Poles in New York. A Study of the Polish Communities in Greater New York, Columbia University 1924.
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limited to German sociologists alone. Among others, it is evident in the writings of the Chicago school and finds an ardent defender in the Polish sociologist Florjan Znaniecki.“32
Im Gegensatz zu Spykman lehnte Abel Simmels Unterscheidung von Form und Inhalt ab. In seinen Memoiren beschrieb Charles H. Page (1909-1992), der 1939 mit einer Dissertation über Class and American Society promovierte,33 Abel und seine Kurse an der Columbia University; er lehrte hier von 1929 bis in die Anfänge der fünfziger Jahre: „Abelʼs courses were eye openers, especially for a newcomer to sociology. They dealt with subjects that at the time were rarely pursued in graduate programs: theoretical perspectives of the German ‚systematic‘ sociologists; social change and social movements, long before these topics became standard academic fare; society and personality, a course in which we faced the unusual challenge of trying to write autobiographies of sociological relevance. When only a bit of Simmelʼs work was available in English, Abel introduced us to the ‚formalism‘ and essayistic brilliance of this unconventional scholar. He exposed us to German phenomenology, years before the influence of Edmund Husserl and Alfred Schutz was spread among American sociologists. In the wake of his friend and fellow Pole Florian Znaniecki, he demonstrated in the classroom and in his research how the study of individual life histories can be major contributions to sociological scholarship.“34
Page bezieht sich hier auf Abels Anwendung der von Znaniecki und W. I. Thomas entwickelten life history-Methode.35 Im Jahre 1938 veröffentlichte Abel sein viel beachtetes Buch Why Hitler Came Into Power, das auf autobiographischen Texten von Hunderten von Mitgliedern der NSDAP beruhte.36
32 Abel, a.a.O., 6. 33 Voller Titel: Class and American Sociology: from Ward to Ross, New York 1940, Nachdruck ebd. 1964; 1969. 34 Charles H. Page, Fifty Years in the Sociological Enterprise. A Lucky Journey, Amherst 1982, 48f. Der Titel ist vermutlich eine Anspielung auf Albion Small, Fifty Years of Sociology in the United States, in: AJS 21 (1916), 721-864. 35 Znaniecki verbrachte schon die Jahre des Ersten Weltkriegs in Chicago und verfasste dort mit William I. Thomas das berühmte Werk The Polish Peasant in Europe and America, Boston, 5 Bde., 1918-1920. 36 Theodore Abel, Why Hitler Came Into Power, New York 1938; Nachdruck Cambridge 1986. Das Buch fand nach 1975 erneute Aufmerksamkeit, nachdem Peter Merkl die Biographien mit seither entwickelten statistischen Methoden bearbeitet hatte, ders., Political Violence Under the Swastika: 581 Early Nazis, Princeton 1975.
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Abel selbst füllte zwischen 1930 und 1984 ein Tausende von Seiten umfassendes Journal, sein eigener Beitrag zur life history für die Nachwelt.37 Das Journal hält im Detail fest, wie sehr er zwischen Tagespolitik, politischer Reflexion, soziologischer Theorie und Forschung, philosophischer Spekulation und intensiver Religiosität hin- und hergerissen wurde. Er fühlte sich besonders gespalten zwischen wissenschaftlicher Rationalität und religiösem Glauben und legte einen langen Weg zurück vom jugendlichen „evangelischen Radikalismus“ (wie er ihn nannte) bis zu seiner Konversion zum Katholizismus 1954 (seine letzte Publikation, ein Privatdruck von 1986, trug den Titel The Reflections of an Unorthodox Christian). Das Journal, eine seltene Quelle, enthüllt die verwickelten Denkprozesse und ambivalenten Gefühlselemente, die in einem geglättenen Text später nicht mehr erkennbar wären. Abel schildert darin seine jahrzehntelangen Versuche, mit Simmel und mit sich selbst zurechtzukommen. Selbstkritisch trug er am 2. August 1953 ein: „I regret that I have not during my active years specialized in some field in which I could have achieved high competence. In the field of social theory I have unfortunately not been able to make any significant contribution.“ Aber auch gegenüber Simmel blieb er kritisch: „It would be, for example, useful to explain Simmel if it could be shown at the same time that he has given a fruitful task for analysis. He had indeed opened up new fields of observation by his device of looking for forms, but his views do not represent a solid theory which permits us to find out what we could not before.“
Trotzdem würdigte Abel auf der Jahrestagung der American Sociological Association in Seattle, August 1958, vor sechshundert Zuhörern Simmel in einer äußerst positiven Darstellung. Der Anlass war Simmels hundertster und der fünfzigste Geburtstag seiner ‚großen‘ Soziologie. Abels Selbstzweifel und Ambivalenzen blieben im Vortrag verborgen.38 37 Das 23-bändige Typoskript liegt in der Rare Books and Manuscript Collection, Butler Library, Columbia University; eine Auswahl wurde ediert von Elzbieta Halas, The Columbia Circle of Scholars. Selections from the Journal (1930-1957), Frankfurt/M. 2001. 38 Theodore Abel, The Contribution of Georg Simmel. A Reappraisal, in: American Sociological Review (fortan als ASR) 24 (1959), 473-79. Dazu das Journal vom 1. Februar 1958: „I am planning to write an interpretation of Simmelʼs theoretical ideas on the occasion of the 100th anniversary of his birth and the 50th of his ‚Soziologie‘. Incidentally, it is thirty years ago that I first wrote my critique of Simmel. If I had then taken the position I am taking now, I would have had a life-task in furthering the systematic development of his ideas. As it is, I never developed a core of interests in which I am proficient. This reinterpretation will at the same time be a re-evaluation of Simmel’s position in the history of sociological theory.“
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Nach seiner Emeritierung 1967 unternahm Abel einen letzten umfassenden theoretischen Versuch.39 Sein Journal zeigt offen, wie viele Schwierigkeiten es ihm machte, einen Beitrag zur theoretischen Entwicklung zu leisten, der als Textbuch auch an Studenten gerichtet sein sollte. Abel widmete Simmel, Weber und Durkheim noch einmal ganze Kapitel, und behandelte Comte, Spencer, Tönnies, Giddings und Cooley zusammen in einem Kapitel, bevor er sich im zweiten Teil dem derzeitigen Stand der soziologischen Theorie zuwandte.40 Aber die theoretische Diskussion hatte ihn überholt. Es traf ihn hart, auf der Jahrestagung der American Sociological Association 1973 im Gespräch mit Talcott Parsons und Paul Lazarsfeld zu erfahren, dass sie beide nichts von der Existenz seines Buches wussten.41 In den dreißiger und vierziger Jahren war Abel mit dem Schotten – nach Herkunft und Studium – Robert McIver in dem grundsätzlichen Konflikt mit Robert Lynd verbündet gewesen, der Praxis gegen Theorie verfocht. Nach McIvers Emeritierung 1950 fand sich Abel zunehmend isoliert. Seinem Journal vertraute er am 17. Februar 1950 an: „At Columbia the push toward methodology, because of ambitiousness and love of promotion on the part of Paul [Lazarsfeld] and [Robert] Merton, has had unfavorable effects.“ Abel ging kurz danach bis zu seiner Emeritierung 1967 ans Hunter College, damals das hochangesehene Frauen-College der New York City University. Der Konflikt zwischen McIver und Lynd endete in den fünfziger Jahren mit der Hegemonie von Robert Merton und Paul Lazarsfeld, was jedoch nicht zur Ignorierung von Simmel und Weber führte.42 Meines Wissens verfertigten Spykman und Abel, mit Ausnahme von Zitaten und Paraphrasen, keine Übersetzungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Simmelrezeption durch neue Übersetzungen und Interpretationen wiederbelebt. Dabei spielten deutsche Emigranten wie Kurt H. Wolff (1912-2003) und Lewis Coser (1913-2003) eine wichtige Rolle. Die enorme Expansion der Universitäten und der 39 Theodore Abel, The Foundations of Sociological Theory, New York 1970. 40 Abel bemühte sich jetzt, Simmels Unterscheidung von Form und Inhalt zustimmend zu erklären: „In reality, form and content are separable only in abstraction […]. The only valid criticism [...] [concerns Simmelʼs] unfortunate suggestion that the difference between sociology and the other social sciences is that only sociology studies the forms-ofsociation, whereas the social sciences divided up the content for study“, a.a.O., 90. 41 Journal, Eintrag v. 1. September 1973. 42 Zu McIvers Sicht: As a Tale is Told: The Autobiography of Robert M. McIver, Chicago 1968, 137ff. Mit zwei ehemaligen Studenten von McIver, Morroe Berger und Charles Page, veröffentlichte Abel 1954 eine Festschrift für McIver, dies., Freedom and Control in Modern Society, New York (Nachdruck 1978). Darin erschien Simmel nur, aber auffällig in dem Beitrag von Lazarsfeld und Merton, Friendship as Social Process, a.a.O., 18-66, hier 36, 63. Zu Robert Lynds Position ders., Knowledge for what? The place of social science in American culture, Princeton 1939.
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schnell wachsende Markt für akademische Paperbacks förderten die Entstehung eines Klassikerkanons, der in ‚readers‘ und ‚textbooks‘ verbreitet wurde.43 Der sozialwissenschaftliche Markt wurde für Verleger besonders attraktiv. Der junge Jerry Kaplan gründete die Free Press, die sich als sehr erfolgreich erwies. Schon 1947 schlug ihm Everett C. Hughes einen Band mit Simmelübersetzungen vor und als Übersetzer Kurt Wolff, den er anfangs der vierziger Jahre in Chicago als Fellow kennengelernt hatte.44 Hughes, der 1928 in Chicago promoviert hatte und mit der Chicago School prominent identifiziert blieb, veröffentlichte 1949 selbst seine einzige Übersetzung, Simmels Rede „Soziologie der Geselligkeit“ auf dem ersten deutschen Soziologentag 1910.45 43 Schon vor der Wiederaufnahme der Übersetzungen erschien 1945 der von Georges Gurvitch, dem russisch-französischen Refugié, und dem jungen Wilbert Moore herausgegebene Überblick Twentieth Century Sociology, in dem Albert Salomon (1891-1966) die deutsche Soziologie behandelte und Simmel fünf Seiten widmete. Der 1935 an die New School for Social Research emigrierte Albert Salomon propagierte jedoch Max Weber stärker als Simmel, was auch für andere New School Emigranten galt, ders., German Sociology, in: Twentieth Century Sociology, New York 1945, 604-609. Wenig später erschien die von dem revisionistischen Historiker und Soziologen Harry Elmer Barnes (1889-1968) herausgegebene, fast tausendseitige Introduction to the History of Sociology, Chicago 1948, mit fünfundvierzig Einzeldarstellungen. Der 1938 in die Emigration getriebene Rudolf Heberle (1896-1991) veröffentlichte darin einen bereits 1937 in der ASR publizierten Artikel über seinen Schwiegervater Ferdinand Tönnies, a.a.O., 227248, und einen Originalartikel über Simmels „methodological principles“, aber nicht über dessen „influence on American sociology“, a.a.O., 249-273. Zu Heberles Emigration Rainer Wassner, Rudolf Heberle. Soziologie in Deutschland zwischen den Weltkriegen, Hamburg 1995. Über ein Jahrzehnt lang arbeitete Donald Martindale (1915-1985) an seinem viele Autoren behandelnden Band The Nature and Types of Sociological Theory, Boston 1960. Simmel wird dort unter der Rubrik: The Neo-Kantian Branch of Sociological Formalism, a.a.O., 236-247, behandelt. 44 Kurt Wolff, Wie ich zur Soziologie kam und wo ich bin. Ein Gespräch mit Kurt H. Wolff, aufgezeichnet von Nico Stehr, in: Lepsius, a.a.O., 324-346, hier 333. Ferner Jaworksi, a.a.O., 22, 128. 45 Everett C. Hughes, The Sociology of Sociability, in: AJS 55 (1949), 254-61. Hughes konnte gut Deutsch und untersuchte 1930/31 als Fellow des Social Science Research Council die Unterschiede zwischen Katholiken und Protestanten in der rheinischen Wirtschaft. Reminiscences of Everett Cherrington Hughes, Oral History Collection, Columbia University, 1967, 5f.: „I wanted to compare the Protestant-Catholic situation in the Rhineland where Protestants ran the industry and the Catholics were the workmen, with French Canada, where the same thing was true […]. Louis Wirth, Samuel Stouffer, John Dollard, Herbert Blumer, all recent Chicago Ph.D.s, were over there [in Germany, G.R.]“.
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Wolff hatte noch als ganz junger Student bei Karl Mannheim in Frankfurt die Wissenssoziologie kennengelernt, war aber damals primär literarisch und philosophisch interessiert – und blieb es eigentlich immer. Mit einer Arbeit über die deutsche Wissenssoziologie hatte er 1935 einen italienischen Doktorgrad in Florenz erwerben können, der aber an den amerikanischen Eliteuniversitäten so wenig als vollgültig anerkannt wurde wie später Doktorate von der New School of Social Research. Nachdem er mit seiner ersten beruflichen Chance, einer anthropologischen Studie über eine hispanische Gemeinde in New Mexiko („Loma“ = San Cristobal) nicht zurande gekommen war – aber dies trieb ihn schließlich zu seiner Theorie von „Hingebung und Begriff“ (surrender and catch)46 –, musste er eine Nische in der amerikanischen Soziologie finden. Statt einer Forschungsmonographie bot eine Simmel-Übersetzung eine wenigstens indirekte Möglichkeit zum Einstieg. The Sociology of Georg Simmel erschien schon 1950 bei der Free Press, als Paperback allerdings erst 1964 und wurde erst damit für Studenten leichter zugänglich.47 Wolff begann den Band mit einer Übersetzung der kompletten ‚kleinen‘ Soziologie (Grundfragen der Soziologie, 1917) und übersetzte nur einen Teil der ‚großen`. Ausgelassen wurden das erste und das achte Kapitel über „Das Problem der Soziologie“ sowie „Die Selbsterhaltung der sozialen Gruppe“, die Small 1898 und 1909 übersetzt und im AJS publiziert hatte, die aber für Studenten nicht mehr leicht zugänglich waren. Hughes bedauerte die Teilübersetzung, weil er zu Recht befürchtete, dies würde eine vollständige Übersetzung verhindern. Zur Nachbesserung (sozusagen) übersetzte Wolff bald danach auch das Kapitel über den Streit und veröffentlichte es 1955 zusammen mit Bendixʼ Übersetzung der „Kreuzung sozialer Kreise“. Die beiden seinerzeit von Wolff beiseite gelassenen Kapitel wurden viel gelesen und zitiert.48 46 Kurt H. Wolff, Hingebung und Begriff, Neuwied 1968. Wolff formulierte es später etwas resigniert: „Mein Beitrag zur Soziologie in den Vereinigten Staaten ist bisher weniger der Begriff von ‚surrender-and-catch‘, denn noch glauben viele Menschen, daß es nicht schlimm genug stehe, um ihn einleuchtend zu machen, auch nicht was ich zur Wissenssoziologie geschrieben habe, denn das ist zu weit entfernt von Anwendung auf empirische Forschung; als vielmehr Editionen und Übersetzungen von Forschern mit einer umfassenden, vor allem einer normativen Idee der Soziologie – Simmel, Durkheim, Mannheim. Man tut eben, was man kann oder doch wenigstens muß.“ Ders., Die persönliche Geschichte eines Emigranten, in: Ilja Srubar (Hg.), Exil, Wissenschaft, Identität. Die Emigration deutscher Sozialwissenschaftler 1933-1945, Frankfurt/M. 1988, 13-22, hier 21. 47 Kurt H. Wolff, The Sociology of Georg Simmel, New York 1950, IV (Nachdruck 1969). Wolff widmete die Übersetzung seinem im Konzentrationslager ermordeten Bruder und den im Exil verstorbenen Freunden Hans Schiebelhuth und Karl Wolfskehl. 48 Georg Simmel, Conflict and The Web of Group-Affiliations, Vorw. v. Everett C. Hughes, New York 1955. Bendix hielt den Zeitaufwand für zu groß und stellte nie wieder eine
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Bei der Ohio State University Press, welche die neuen Marktmöglichkeiten ausnutzen wollte, edierte Wolff 1959 aus Anlass des Simmel-Centenariums von 1958 einen Band, der über die Interessen der Fachsoziologie hinausging.49 Howard Becker (1899-1960), Sohn des deutsch-amerikanischen New Yorker Polizeichefs (Police Commissioner) Charles Becker, der 1915 sensationell wegen Mordes hingerichtet wurde – ein lebenslanger Schatten über dem Sohn –, hatte noch die deutschsprachige Kompetenz, die es erlaubte, einen Beitrag zur Philosophie des Geldes beizusteuern. Dieses Simmelʼsche Werk selbst erschien erst 1978 nach vielen Verzögerungen in einer Übersetzung von Tom Bottomore und David Frisby, beides englische Gelehrte, aber auf der Grundlage einer unveröffentlichten Übersetzung der sozialdemokratischen, 1933 entlassenen, nichtjüdischen Ökonomin Käthe Mengelberg (1894-1968), der es erst 1939 gelang, mit ihren zwei Söhnen in die USA zu emigrieren.50
Übersetzung her. Er versuchte, den schwer übersetzbaren Titel näher an die amerikanische Diskussionslage heranzubringen – „The Web of Group Affiliations“. 49 Wolff, Essays on Sociology, Philosophy and Aesthetics, Columbus 1959, Paperback New York 1965, in einer von Benjamin Nelson herausgegebenen Reihe. 50 The Philosophy of Money, London 1978, Paperback 1982; rev. Ausgabe 2004. In seinem Dankwort schrieb David Frisby über Mengelberg: „Without the assistance of this earlier work, it is doubtful whether the present translation could have been completed. The translation is therefore dedicated to her memory.“ Mengelberg hatte als Mutter mit zwei Kindern keine Anstellung mehr gefunden, in der sie ihre ökonomischen Interessengebiete (Agrar- und Steuerpolitik) hätte verfolgen können; sie war in den zwanziger Jahren mit drei Beiträgen im Archiv für Sozialwissenschaft hervorgetreten. Sie fand ein Auskommen als Professorin der Soziologie an dem kleinen schwedisch-lutherischen, später eingegangenen Upsala College in New Jersey. Die Datierung in Lepsius, Verzeichnis emigrierter Sozialwissenschaftler, in: Ders., a.a.O., 486-500, hier 492, ist unvollständig. Dazu Mengelbergs Zuschrift an die New York Times v. 18. März 1945, ihren Nachruf ebd. v. 24. April 1968 sowie den Eintrag in Robert W. Dimand u.a. (Hg.), A Biographical Dictionary of Women Economists, Cheltenham 2000, 25ff. Die erste englischsprachige Monographie zur Philosophie des Geldes stammt meines Wissens von Gianfranco Poggi, Money and the Modern Mind. Georg Simmelʼs Philosophy of Money, Berkeley 1993. Der aus Karlsruhe stammende Nachkriegseinwanderer Peter Etzkorn (1932-2002), der 1953 bei Wolff in Columbus assistierte, übersetzte u.a. Der Konflikt der modernen Kultur, Der Begriff und die Tragödie der Kultur, Soziologische Aesthetik, alle in: Georg Simmel. The Conflict in Modern Culture and Other Essays, New York 1969. Noch später erschienen die von Horst Jürgen Helle (Universität München) edierten und übersetzten Essays on Religion, New Haven 1997.
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Während sich Wolff später seinen wissenssoziologischen und phänomenologischen Interessen zuwandte, die lange ein soziologisches Randgebiet blieben, widmete sich Lewis Coser, sein zeitweiliger Kollege an der Brandeis University, der theoretischen Verwertung Simmels und seiner Textbuchverbreitung. Er verband seine politischen Emigrantenerfahrungen mit einem disziplinären Beitrag zur mainline der Theoriekonstruktion. Coser, in Berlin als Ludwig Cohn geboren, war in seinen marxistischen Pariser Exiljahren vor dem Zweiten Weltkrieg von Simmel nicht besonders beeindruckt gewesen, aber dies änderte sich radikal zu Anfang der fünfziger Jahre, als er in seiner Columbia-Dissertation von 1954 die Konfliktdimension in den herrschenden Strukturfunktionalismus einbrachte. Er war zwar schon 41 Jahre alt, konnte aber im Gegensatz zu Kurt Wolff an einem Zentrum der „coastal sociology“ promovieren, also der Ost- und Westküstensoziologie, welche in der Nachkriegszeit die einstige Dominanz der „midwestern sociology“ ablöste. Als linker Refugié und Mitgründer der im selben Jahr etablierten sozialistischen Zeitschrift Dissent konnte er von innen her die Parsonianische Harmonielehre kritisch beleuchten, aber auch die ebenfalls harmonisierende und Management-orientierte Human Relations School (von Elton Mayo bis zu Fritz Roethlisberger und Lloyd Warner).51 The Functions of Social Conflict wurde in den sechziger und siebziger Jahren zu einem Bestseller, als Parsons und seine Systemlehre schärfste politische Ablehnung erlitten. Aber beinahe wäre die Dissertation an Robert Mertons anfänglichem Widerstand gescheitert.52 51 Lewis Coser, The Functions of Social Conflict, Glencoe 1956. Der Essayband Continuities in the Study of Social Conflict, New York 1967, hat nur wenige Bezüge zu Simmel. 52 In einem autobiographischen Essay erinerte sich Coser 1993: „I was willing to pledge allegiance to the functional-structural school […] soon I found myself again a heretic within the edifice of a mother church […]. But I was also deeply influenced by the sociological approach of Georg Simmel. I had read a few of Simmel’s writings in Paris, but at the time I had not been much impressed. But while preparing for the dissertation at Columbia, I reread Simmel und found him one of the most fascinating sociologists I had ever encountered. I was so impressed, in fact, that I proposed to Merton to make the work of Simmel the subject of my dissertation, but Merton was not encouraging […]. I went home after my lengthy talk with Merton and was prepared to move to some completely different subject when I looked again into Simmelʼs ‚Soziologie‘, most of which had not as yet been translated into English. I reread his chapter on conflict, Der Streit – and suddenly resolved that I would devote the major part of the dissertation to a discussion of the conflictual rather than the harmonious aspects of social phenomena […]. Together, of course, with Merton’s preponderant influence, the dissertation was written under the aegis of Georg Simmel.“ Coser, A Sociologist’s Atypical Life, Annual Review of Sociology 19 (1993), 1-15, hier 6f. Zur Entstehung der Dissertation auch Bernard Rosenberg, An Interview with Lewis Coser, in: Walter W. Powell, Richard Robbins (Hg.), Conflict and
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Coser entschloss sich dann, den Begriff des sozialen Konflikts für die empirische Forschung nutzbar zu machen und das Buch um sechzehn von Simmel abgeleitete Thesen zu organisieren. Seinerzeit bestimmte die theoretische Richtung des von Merton und Lazarsfeld geleiteten Bureau of Applied Social Research die meisten Dissertationsthemen. Auffällig ist heute, dass Coser außer dem Kapitel „Der Streit“ und einigen wenigen anderen Passagen Simmels Schriften ganz beiseiteließ. Erst später wandte er sich dessen Œuvre umfassend zu. Merton selbst begann erst Mitte der fünfziger Jahre, sich intensiv mit Simmel zu befassen. Obwohl er erklärte, dass er neben seinen Lehrern am meisten von Simmel und Durkheim gelernt habe, meinte Coser, „Simmelʼs shadow does not loom very large in Mertonʼs work“ vor 1957, als der Essay „Continuities in the Theory of Reference Groups and Social Structure“ erschien.53 Schon 1957 edierte Coser mit Bernard Rosenberg den langlebigen Reader Sociological Theory, in dem Simmel mit vier Auszügen aus Wolffs Übersetzung, nämlich „Conflict as Sociation“, „Dyad and the Triad“, „Forms of Domination“ und „The Stranger“ vertreten war. Ihm folgte 1965 der Reader Georg Simmel mit älteren Beiträgen von Durkheim, Tönnies, von Wiese, Bouglé und Alfred Mamelet und neueren von Friedrich Tenbruck, Donald Levine, Rudolf Heberle, Albert Salomon, Raymond Aron, Pitirim Sorokin sowie einem Schlussteil „Simmelʼs Current Influence on American Sociology“, Autoren waren hier Theodore Mills und Coser selbst. Dieser Reader wurde 1971 noch übertroffen von Cosers sehr erfolgreichem Textbuch Masters of Sociological Thought, in dem Simmel 39 Seiten gewidmet waren.54
Consensus. A Festschrift in Honor of Lewis A. Coser, New York 1984, 27-52, hier 44. Die Verkaufszahl von Cosers Functions of Social Conflict stieg bis in die frühen achtziger Jahre auf über 100000 Exemplare. 53 Coser, Merton’s Use of the European Tradition, in: Ders. (Hg.), The Idea of Social Structure. Papers in Honor of Robert K. Merton, New York 1975, 85-100, hier 96; Mertons Essay findet sich in: Ders., Social Theory and Social Structure, New York 21957, 281386. 54 Coser, Rosenberg (Hg.), Sociological Theory, fünfte rev. Aufl. New York 1982; Coser (Hg.), Georg Simmel, Englewood Cliffs 1965; ders., Masters of Sociological Thought. Ideas in Historical and Social Context, New York 1971, erw. 1977. Die Reihe der ‚Masters‘ reichte von Comte, Marx, Spencer und Durkheim zu Weber und Mannheim, bevor sie mit Veblen, Cooley, Park, Pareto, Sorokin und Thomas und Znaniecki endete. Ein zusätzliches Kapitel befasste sich mit der Hegemonie des Strukturfunktionalismus und der Wiederkehr von mikrosoziologischen und Konflikttheorien.
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Fünf Jahre vor Cosers Masters erschien Robert Nisbets ebenfalls viel gelesenes Textbuch The Sociological Tradition.55 Nisbet (1913-1996) hatte 1939 in Berkeley bei Frederick Teggart, dem Verächter der akademischen Soziologie, promoviert und sich einen Namen als Entdecker der konservativen Tradition in der Soziologie gemacht, bevor er selbst in späteren Jahren ein prominenter Neokonservativer wurde. In seinem Buch behandelte er die „unit-ideas of sociology: community, authority, status, the sacred, alienation“ anhand von Tocqueville, Durkheim, Marx, Tönnies, Simmel und Weber. Talcott Parsons reagierte kritisch von der Warte der Theorieentwicklung aus. Weil Nisbet nicht zwischen Geistesgeschichte und Theoriegeschichte unterschied, befürchtete Parsons einen möglicherweise „misleading and perhaps deleterious influence“ des Buches zu einer Zeit, in der seine eigene systemtheoretische Position an Prestige und Einfluss verlor: „The two approaches are often confused in the present climate of American social science. My own career interests have been much more concerned with the development of theory than with intellectual history.“56 Simmel und Tönnies erschienen Parsons zwar geistesgeschichtlich, aber nicht theoriegeschichtlich bedeutend, im Gegensatz zu Durkheim und Weber.57 Fünfundzwanzig Jahre später verteidigte sich Nisbet in der 55 Robert Nisbet, The Sociological Tradition, New York 1966; Nachdruck New Brunswick 1993/94, mit einer neuen Einleitung. Nisbet edierte mit Tom Bottomore den Essayband: A History of Sociological Analysis, New York 1978. Simmel erschien, wenn auch meist wenig detailliert, in Nisbet, Conservatism, a.a.O., 80-117; Julien Freund, German Sociology in the Time of Max Weber, a.a.O., 149-186; Coser, American Trends, a.a.O., 287320; Harry Bredemeier, Exchange Theory, a.a.O., 418-456; Kurt Wolff, Phenomenology and Sociology, a.a.O., 499-556; Bottomore und Nisbet, Structuralism, a.a.O., 557-598; Steven Luke, Power and Authority, a.a.O., 633-676. Nisbet zitierte Simmel auch ausführlich in: Ders., Sociology as an Art Form, New York 1976. 56 Ungefähr gleichzeitig mit Nisbets Rückblick, aber ohne Bezug auf ihn, wies Donald Levine in Simmel and Parsons Reconsidered, in: Roland Robertson, Bryan Turner (Hg.), Talcott Parsons. Theorist of Modernity, London 1991, 187-204; auch in AJS 96 (1991), 1097-1116, Parsons‘ Unterscheidung zugunsten einer expliziten theoretischen Gleichstellung zurück. 57 Parsons, Rez. Nisbet, in: ASR 32 (1967), 640-643. Meine Rez., in: AJS 73 (1967/68), 518f., kritisierte Nisbets Neigung, einen intellektuellen Einfluss schon anzunehmen, wenn gewisse Formulierungen und Passagen an einen früheren Text anklangen. Parsons seinerseits verweigerte Simmel natürlich nicht den Status eines Klassikers. In dem monströsen Reader (1500 Seiten!) von Parsons u.a. (Hg.), Theories of Society. Foundations of Modern Sociological Theory, New York 1961/1965, finden sich vier Auszüge von Simmel gegenüber siebzehn von Max Weber und elf von Durkheim. Parsons lehnte jedoch den Vorschlag des Mitherausgebers, des jung verstorbenen Emigranten Kaspar Nägele (1923-1965), ab, den Essay: Der Begriff und die Tragödie der Kultur aufzunehmen. Ja-
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autobiographischen Einleitung zum Nachdruck seines Buches: „To this moment I continue to believe that I had chapter and verse behind me in fitting Simmel into the same mentalité to which the others so clearly belonged.“ Von 1966/67 an konkurrierte Raymond Aron (1905-1983) mit Coser und Nisbet, aber seine Main Currents in Sociological Thought, eine Übersetzung der Pariser Vorlesungen Grandes doctrines de sociologie historique, befassten sich im Gegensatz zu früheren Arbeiten nicht mehr mit Simmel.58 Wie Nisbet schrieb Aron als Ideengeschichtler und Zeitdiagnostiker und war im Gegensatz zu Coser nicht im engeren Sinn an binnensoziologischer Nutzung interessiert. Sein Interesse an der deutschen Sozialwissenschaft, besonders an Max Weber, war in den dreißiger Jahren von der Erwartung einer europäischen Katastrophe motiviert, zu einer Zeit, in der seine Mentoren und Prüfer noch die Augen vor der Entwicklung verschlossen. In seinen Memoiren erinnerte er sich: „National Socialism had taught me the power of irrational forces. Max Weber had taught me the responsibility of each individual, not so much with respect to intention as to the consequences of his choices […]. Thanks to him, my future course, glimpsed on the banks of the Rhine, took shape.“59 Im Jahre 1936 veröffentlichte Aron seine Studie La Sociologie Allemande Contemporaine, in der er Weber ein ganzes Kapitel widmete und Simmel einige Seiten wegen seiner Bedeutung für die Soziologie, obwohl dieser streng genommen nicht in den Zeitraum passte. Über die Soziologie von 1908 urteilte er: „[It] is by no means systematic; it is a collection of brilliant essays, the connection between which cannot always be seen, and which themselves lack unity and organization. The reader becomes lost in an interminable succession, not so much of historical examples, as of theoretical cases and possible combinations. These dazzling exercises often seem like an elaborate game. The book has thus brought its author many admirers but few disciples.“60
worski, a.a.O., 64, bemerkte: „This attempt to introduce tragic metaphysical premises into Parsonian functionalism was ultimately, perhaps inevitably, unsuccessful. Both Parsonian theory and Parsons himself were not open to Simmelʼs thought on that level“. 58 Raymond Aron, Main Currents in Sociological Thought, Bd. I: Montesquieu, Comte, Marx, Tocqueville, the Sociologists and the Revolution of 1848, New York 1965; Bd. II: Durkheim, Pareto, Weber, ebd. 1967. 59 Raymond Aron, Memoirs. Fifty Years of Political Reflection, New York 1990, 53, 46. 60 Raymond Aron, German Sociology, Glencoe 1957, 6, nach der zweiten französischen Auflage von 1950. Auf dieser beruht auch die deutsche Ausgabe Die deutsche Soziologie der Gegenwart, Stuttgart 1953; mit einem in die englische Übersetzung übernommenem Nachwort.
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Zwei Jahre später, 1938, behandelte Aron noch einmal Simmel und Weber in Introduction à la philosophie de lʼhistoire. Von den Zeitereignissen angetrieben, untersuchte er auf abstraktem Niveau die Grenzen der historischen Objektivität (Untertitel).61 Es ist unwahrscheinlich, dass diese älteren Arbeiten viel auf Englisch gelesen wurden, im Gegensatz zu den Main Currents. In der Literatur zu Simmel allgemein, aber auch in der Fülle der Reader und Textbücher, fehlte viele Jahre lang seine Geschlechtertheorie. Dies änderte sich erst mit der Ausbreitung des Feminismus und der Entwicklung der Gender Studies. Auch hier fällt die internationale Dimension auf, ersichtlich an den Beiträgen eingewanderter, englisch schreibender und übersetzter deutscher Verfasserinnen. Es dauerte selbst bei Coser bis 1977, bevor er auf „Georg Simmelʼs Neglected Contributions to the Sociology of Women“ in der neuen Zeitschrift Signs aufmerksam machte. Jetzt erst erkannte er: „Jedoch erwähnte keiner der amerikanischen Simmelforscher diese richtungsweisenden Aufsätze […]. Es ist eine Tatsache, dass alle amerikanischen Simmelforscher dem männlichen Geschlecht angehören, und praktisch waren auch alle deutschen Simmelforscher, von einigen Ausnahmen abgesehen, Männer. Einer Frau jedoch, nämlich der deutsch-dänischen Psychoanalytikerin Karen Horney, kommt das Verdienst zu, als erste die Bedeutung von Simmels Ausführungen über das weibliche Geschlecht erkannt zu haben […]. Erst in den letzten Jahren hat Horneys Aufsatz die ihm gebührende Anerkennung gefunden.“62
Erst 1984 erschien aber Guy Oakesʼ Übersetzungsband Georg Simmel: On Women, Sexuality, and Love, der weithin besprochen wurde; er enthielt „Weibliche Kultur“, „Das Relative und das Absolute im Geschlechter-Problem“, „Psychologie der Koketterie“ und „Fragmente über die Liebe“.63 Ironischerweise war jedoch der Philosoph Guy Oakes nicht primär an diesen Themen interessiert, obwohl er eine über 61 Aron, Introduction to the Philosophy of History. An Essay on the Limits of Historical Objectivity, London 1948, Boston 1961, nach der revidierten Fassung von 1948. 62 Zitiert nach der deutschen Fassung: Coser, Georg Simmels vernachlässigter Beitrag zur Soziologie der Frau, in: Heinz-Jürgen Dahme, Otthein Rammstedt (Hg.), Georg Simmel und die Moderne. Neue Interpretationen und Materialien, Frankfurt/M. 1984, 80-90, hier 81f. Coser bezog sich auf Karen Horneys frühen Essay, The Flight from Womanhood: The Masculinity Complex in Women as Viewed by Men and Women, in: International Journal of Psychoanalysis 7 (1926), 324-39. 63 New Haven 1984, Paperback 1986. Ungefähr gleichzeitig erschienen diese Essays auch in Heinz-Jürgen Dahme, Klaus Christian Köhnke (Hg.), Georg Simmel. Schriften zur Philosophie und Soziologie der Geschlechter, Frankfurt/M. 1985. Dahme besprach Oakes‘ Band ausführlich, ders., On Georg Simmel’s Sociology of the Sexes, in: Politics, Culture and Society1 (1988), 412-430.
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sechzig Seiten lange Einleitung schrieb, „The Problem of Women in Simmelʼs Theory of Culture“. 64 In den folgenden Jahren wurden Simmel und seine Geschlechtertheorie in mehreren Beiträgen zu feministischen Theoriekonstruktionen analysiert. Während die Politologin Susan Hekman 1990 in Gender and Knowledge. Elements of a Postmodern Feminism Simmel nicht zu den Vorläufern des Postmodernismus rechnete, erfanden Deena und Michael Weinstein (Medienforscherin und Politologe) 1993 einen „Postmodern(ized) Simmel“.65 Die Soziologin Terry Kandal veröffentlichte 1988 das erste Textbook über die Frauenfrage in der klassischen Theorie, in dem sie Simmel und die Webers ausführlich darstellte. Sie endete mit einer ausgewogenen Beurteilung: „Although the sensitively dualistic perspective with which he described the relations of the sexes is marred by the sexist cultural categories he used, there are ways in which Simmelʼs analysis of women and Durkheimʼs in ‚Suicide‘ are the best analyses of the conflictful and
64 Im Rückblick nach fünfundzwanzig Jahren erklärte Oakes mir: „When I began to translate the pieces on women, love, and sexuality in 1981-82, my interests weren’t chiefly motivated by the topics. In the early seventies, when I was working on [Weber’s] Roscher and Knies [NewYork 1975], I also began to translate the second (1905) and third (1907) editions of Simmelʼs Die Probleme der Geschichtsphilosophie [Problems of the Philosophy of History, New York 1977]. This book was important for the theory of interpretation in the Knies essay... Simmel pushed these ideas further in essays he wrote during the War, which he intended to publish as a book before he discovered that he had liver cancer. They are translated in Essays on Interpretation in Social Science [Totowa 1980]. My edition of Die Probleme was reviewed fairly widely. Essays was hardly reviewed at all. Sociologists, for whom I was mainly writing at the time, apparently ignored it altogether. In the early eighties, I thought about showing how Simmel used these ideas in writings that would be more accessible and appealing to sociological readers. So I chose topics that were - both literally and metaphorically – more sexy and better calculated to attract readers“ (persönliche Mitteilung). 65 Susan Hekman, Gender and Knowledge. Elements of a Postmodern Feminism, Boston 1990, bes. 100ff.; Deena Weinstein und Michael Weinstein: Postmodern(ized) Simmel, London 1993. Jaworski, a.a.O., 111-121, kritisierte die postmodernistische Interpretation der Weinsteins ausführlich, ließ aber Simmels Geschlechtertheorie außer Acht. Roslyn Wallach Bologh behandelte Simmels Theorie der Geselligkeit, aber nicht seine Geschlechtertheorie in ihrem Kapitel Erotic Love as Sociability: an Alternative Reality, in: Dies., Love or Greatness. Max Weber and Masculine Thinking. A Feminist Inquiry, London 1990, 215f.
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double-bound position of women in patriarchal society and culture that the male-dominated sociological tradition has to offer.”66
Auch die aus Australien eingewanderte Rita Felski, Professor of Feminism, Modernity and Postmodernity an der University of Virginia, behandelte Simmel eingehend unter der Rubrik „Femininity as Nondifferentiation“ und „The Nostalgia Paradigm of Modern Thought“.67 Im Laufe der Zeit verschärfte sich der Ton der Kritik an Simmel, etwa in einem Essay der 2006 verstorbenen englischen Soziologin Anne Witz von der University of Leicester. Sie wandte sich dagegen, dass die Literatur, auch die feministische, dahin tendiert, positive und negative Aspekte zu unterscheiden: „A more astute reading is proposed here: one which recuperates the bad parts as symptomatic of the workings of Simmelʼs philosophical imagination where he crafts a deep ontology of gender, in the form of an a priori, absolute duality of incommensurate models of male and female being. This deep ontology of gender fatefully consigns women to the wastelands of his philosophical imagination.“68
Auch Marianne Webers Kritik an Simmels Geschlechtertheorie wurde in der Literatur lange nicht behandelt, obwohl sie einigen Simmel- und Weberexperten nicht unbekannt war. Die aus Belgien stammende Suzanne Vromen war wohl die erste, die 1987 einen Essay darüber veröffentlichte; sie hatte eine frühe Version sogar schon 1976 auf der Jahrestagung der American Sociological Association vorgetra-
66 Terry R. Kandal, The Woman Question in Classical Sociological Theory, Miami 1988, 176. (Kandal hat seitdem eine Einleitung zum Nachdruck [New Brunswick 2001] von Robert Michels’ Sexual Ethics [1914] geschrieben). Vor einigen Jahren veröffentlichten Bert N. Adams und Rosalind Ann Sydie Classical Sociological Theory, Thousand Oaks 2002, ein sich stark auf die Sekundärliteratur stützendes Textbuch, das sich um eine Art Wiedergutmachung bemüht und neben Max Weber und Simmel auch Marianne Webers Simmelkritik skizziert, dies., Preface, a.a.O., xvii-xxi, hier xvii: „By 1950, male scholarship had either ignored or marginalized women theorists. [...] Throughout the book, the views of women theorists and others are represented in far more than token fashion. Thus, rediscovery means hearing the voice of important theorists such as W. E. B. Du Bois, Marianne Weber, Charlotte P. Gilman, and Rosa Luxemburg“. 67 Rita Felski, The Gender of Modernity, Cambridge 1995, 41-58. Felski studierte in Australien (MA und Ph.D. Monash University) und lehrte sieben Jahre an der westaustralischen Murdoch University, bevor sie in die USA ging. 68 Anne Witz, Georg Simmel and the Masculinity of Modernity, in: Journal of Classical Sociology 1 (2001), 353-370.
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gen.69 Ihr folgte die holländische Soziologin Lieteke van Vucht Tijssen.70 Die erste Übersetzung von einigen Exzerpten aus Marianne Webers Schriften, einschließlich ihrer Kritik an Simmel, erschien 1998 in Patricia Madoo Lengermanns und Jill Niebrugge-Brantleys The Women Founders.71 Sie stellten Marianne als Kritikerin von Maxʼ männlicher Herrschaftssoziologie heraus. Im Laufe der Jahre erschienen deutsche Beiträge auf Englisch. Klaus Lichtblaus Essay „Zur Geschlechterproblematik in der deutschen Soziologie der Jahrhundertwende“ wurde schon vor der Originalfassung in Telos 1989/90 veröffentlicht.72 Cornelia Klinger und Ursula Menzer trugen im Jahre 2000 zu einem feministischen Übersetzungsband bei.73 Klinger war 1988 mit einem Essay über Simmels „Weibliche Kultur“ hervorgetreten, der eine gute Kenntnis der anglophonen Literatur bewies. Der übersetzte Essay behandelte Simmel nur im Hinblick auf seine „Philosophie der Landschaft“ und seine „Bruchstücke aus einer Psychologie der Frauen“.74 69 Suzanne Vromen, Georg Simmel and the Cultural Dilemma of Women, in: History of European Ideas 8 (1987), 563-579. Levine, Simmel Reappraised, a.a.O., 188, wies nur in zwei Sätzen auf Simmels „radical critique of male cultural hegemony“ hin, erwähnte aber nicht Marianne Webers Kritik seiner Geschlechtertheorie und die späterer Kritiker(innen). Dagegen behandelte Scaff, Iron Cage, a.a.O., 144-149, kurz Simmels Geschlechtertheorie und Marianne Webers Kritik. Ich wies zuerst in meiner Einleitung zur Wiederauflage von Harry Zohns Übersetzung von Marianne Webers Lebensbild darauf hin: Marianne Weber and Her Circle, in: Dies., Max Weber. A Biography, New Brunswick 1988, xxiiif., erweitert als Marianne Weber und ihr Kreis, in: Dies., Max Weber. Ein Lebensbild, München 1989, ixxff. In den späten achtziger und in der ersten Hälfte der neunziger Jahre behandelte ich Simmels Geschlechtertheorie in meinen Theoriekursen an der University of Washington und der Columbia University. 70 Lieteke van Vucht Tijssen, Women and Objective Culture: Georg Simmel and Marianne Weber, in: Theory, Culture and Society 8 (1991), 203-218 (Special Issue on Georg Simmel). 71 Patricia Madoo Lengermann, Jill Niebrugge-Brantley, The Women Founders. Sociology and Social Theory 1830-1930. A Text/Reader, Boston 1998. Außer dem übersetzten Lebensbild verlassen sich die Autorinnen hauptsächlich auf Übersetzungen von Elisabeth Kirchen und eine Magisterarbeit von Anne Camden Britton, The Life and Thought of Marianne Weber (San Francisco State University, 1979). 72 Klaus Lichtblau, Eros and Culture: Gender Theory in Simmel, Tönnies and Weber, in: Telos 82 (1989/90), 89-110. Die deutsche Originalfassung in: Ders., Ilona Ostner (Hg.), Feministische Vernunftkritik, Frankfurt/M. 1992, 189-219. 73 Herta Nagl-Docekal, Cornelia Klinger (Hg.), Continental Philosophy in Feminist Perspective. Re-reading the Canon in German, University Park, PA 2000. 74 Klinger, Woman - Landscape - Artwork: Alternative Realms or Patriarchal Reserves?, a.a.O., 147-173; ferner dies., Georg Simmels ‚Weibliche Kultur‘ wiedergelesen – aus An-
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Menzers Text enthielt Teile der radikalen Simmelkritik aus ihrer Dissertation von 1986, die 1992 erschien.75 Schließlich steuerte auch Theresa Wobbe 2003 einen ihrer vielen Beiträge über Geschlechterprobleme zu einem anderen feministischen Band bei. Sie kam zu der Folgerung: „Simmel elaborated on a masculine-marked concept of the social that was centered around the growth of male personality that depended on the Other […]. Weber managed far more successfully to translate her feminist politics into a sociological analysis where she worked with a concept of culture that allowed for both menʼs and womenʼs individuation.“76
Es gibt also neben der älteren Simmel-Internationale eine jüngere feministische, an Simmel und besonders auch Marianne Weber interessierte. Beide halten ein Interesse an Simmel wach, obwohl im Laufe des 20. Jahrhunderts die unerwartet große Weberrezeption die Simmelʼsche überschattete. Bis in die zwanziger Jahre hatte Simmel durch die Chicago School einen Vorsprung. Aber schon in Robert McIvers langlebigem, viel benutzten Textbuch Society erschien Simmel 1931 nur zweimal im Vergleich zu 26 Erwähnungen Webers, die bis 1949 beibehalten wurden, während Simmel immerhin auf neun Erwähnungen anstieg, ein Anzeichen wiederbelebten Interesses.77 In der Hochzeit der Soziologie von den fünfziger bis in die achtziger Jahre gab es genügend intellektuellen Raum für die breite Pflege der Klassiker. Aber seitdem ist die eurozentrische Tradition im Niedergang: „Das Licht der grossen Kulturprobleme ist weiter gezogen.“ Der Niedergang hängt auch damit zusammen, dass Simmel und Weber hohe Ansprüche an heutige Studenten stellen, auf die sie immer weniger vorbereitet sind. Die Lesbarkeit ihrer Werke ist pädagogisch problematisch geworden. Auch die Beschäftigung mit Simmel wird zunehmend eine exklusive Angelegenheit von hochqualifizierten Experten. Die Simmel-Gelehrsamkeit nimmt zu, die Simmel-Lehre ab. laß des Nachdenkens über feministische Wissenschaftskritik, in: Studia Philosophica 47 (1988), 141-166. 75 Menzer, Georg Simmel: Modernism and the Philosophy of the Sexes, in: Continental Philosophy, a.a.O., 201-230; Menzer, Subjektive und objektive Kultur. Georg Simmels Philosophie der Geschlechter vor dem Hintergrund seines Kultur-Begriffs, Pfaffenweiler 1992. Menzers Buch berücksichtigt nicht die englische Literatur. 76 Theresa Wobbe, Georg Simmel and Marianne Weber: Elective Affinities between Sociological Classics and Feminist Politics, in: Barbara Marshall, Anne Witz (Hg.), Engendering the Social: Feminist Encounters with Sociological Theory, New York 2003, 4-68, hier 66. Der Band enthält neben der Kanadierin Marshall nur englische und deutsche (schweizerische) Autorinnen. 77 Robert McIver, Society, New York 1931, 21937; mit Charles Page, ebd. 1949.
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N ACHWORT Es gab bis vor Kurzem78 nie eine englische Gesamtausgabe der ‚großen‘ Soziologie von 1908, doch fanden die Teilübersetzungen besonders in den fünfziger und sechziger Jahren weitere Verbreitung. Spykmans Systematisierungsversuch geriet seit den dreißiger Jahren in Vergessenheit und wurde auch durch den Nachdruck von 1964 nicht mehr belebt. Vergriffen sind der 1965er Nachdruck von Abels Dissertation, Wolffs The Sociology of Georg Simmel von 1950 und Oakesʼ Georg Simmel. On Women, Sexuality, and Love von 1984 sowie seine anderen Simmelübersetzungen. Nach über fünfzig Jahren sind noch im Textbuchhandel relativ preiswert erhältlich Conflict and The Web of Group-Affiliations und nach über 35 Jahren Levines Auswahlband Georg Simmel on Individuality and Social Forms. Für Graduatekurse verfügbar ist die im Jahre 2004 von Frisby revidierte, aber teure Philosophy of Money. Dies sind noch immer die drei Hauptquellen für eine Simmellektüre im angloamerikanischen Lehrbetrieb. Langlebiger als seine Konkurrenten, ist Cosers Textbuch Masters of Sociological Thought von 1971 auch noch im Druck.
78 Jüngst erschien, von Horst Jürgen Helle eingeleitet: Georg Simmel, Sociology. Inquiries into the Construction of Social Forms, 2 Bde., hg. u. übers. v. Anthony J. Blasi, Anton K. Jacobs, Matthew Kanjirathinkal, Leiden 2009.
Das Materienverzeichnis der ‚großen‘ Soziologie (GSG 11), nach Seitenzahlen geordnet
Das Materienverzeichnis wurde nach Seitenzahlen sortiert und um die Einträge des Inhaltsverzeichnisses ergänzt. Einträge, die auf mehrere Stellen im Buch verweisen, wurden auch dementsprechend häufig übernommen, z.B. „Renegat 316, 657“ erhielt zwei Einträge mit jeweils einer Seitenzahl. Bei verschiedenen Einträgen unter demselben Hauptwort wurde dieses für jeden Eintrag wiederholt, z.B. „Eifersucht 318, als Mittel des divide et impera 146“ wurde zu „Eifersucht 318“ und „Eifersucht als Mittel des divide et impera 146“.
I.
D AS P ROBLEM
DER
S OZIOLOGIE , 13-62
Soziologie als methodisches Hilfsmittel andrer Wissenschaften | 15 Soziologie als Sonderwissenschaft und ihr Objekt | 16 Form und Inhalt des sozialen Lebens | 17 Gesellschaft, ihr historischer und ihr soziologischer Begriff | 23 Fließende und molekulare Vergesellschaftungen | 33 Psychologie und Soziologie | 35 Sozialphilosophie | 39 Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich? | 42-61 Apriorische Voraussetzungen der Gesellschaft | 42 Einheit der Gesellschaft im erkenntnistheoretischen Sinne | 43 Verschiebung in der Vorstellung der Menschen von einander, als Voraussetzung der Vergesellschaftung | 47 Typisierung der Individualität als Apriori der Vergesellschaftung | 48 Reserve der Personalität als Bedingung der Gesellschaft | 51 Innenstellung und Außenstellung des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft, als Seiten der einheitlichen sozialen Bestimmtheit | 56
396 | G EORG SIMMELS GROSSE „S OZIOLOGIE “
‚Prästabilierte Harmonie‘ zwischen der individuellen Sonderart und ihrer sozialen Bedeutung | 57 Beruf | 60
II. D IE QUANTITATIVE B ESTIMMTHEIT 63-159
DER
G RUPPE ,
Sozialistische Ordnung, ihre Beziehung zum Umfang der Gruppe | 63 Numerische Beschränkung der Gruppenmitglieder durch die Struktur des Kreises | 65 Aristokratie in ihrer Bedeutung für das Quantum der Gruppe | 66 Radikalismus sozialer Ideen | 69 Veränderung der Relationen sozialer Elemente durch die numerische Änderung der Gruppe | 74 Normierungsarten des Verhaltens in ihrer Abhängigkeit von der Größe des Kreises | 75 Numerische Einteilung der Gruppe | 82 Zahl als Charakterisierung des Komplexes führender Persönlichkeiten | 84 ‚Gesellschaft‘ im Sinn der Geselligkeit, die Abhängigkeit ihres Charakters von der Zahl der Teilnehmer | 88 Mischung soziologischer Formen | 95 Einsamkeit | 96 Freiheit als soziologische Relation des Einzelnen | 98 Zweier-Gruppen | 101 Tod der Gruppe | 102 Intimität | 104 Ehe als Vergesellschaftung zu Zweien | 106 Sexualvorgang als Synthese des Persönlichen und des Generellen | 110 Abwälzung individueller Pflichten auf eine Gemeinschaft | 112 Zweigliedrige und mehrgliedrige Kombinationen in den Unterschieden ihrer feineren Struktur | 114 Zweizahl übergeordneter und untergeordneter Elemente | 118 „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich“ | 121 Dreizahl der gesellschaftsbildenden Elemente | 124 Vermittler | 125 Unparteiisch | 125 Unparteilichkeit durch gleichmäßiges Anteilhaben und gleichmäßiges Nichtanteilhaben | 129 Schiedsrichter | 131
M ATERIENVERZEICHNIS | 397
Tertius gaudens | 134 Tertius gaudens, Ausnutzung seiner Situation davon abhängig, daß er Bedingungen stellen kann | 136 Objektivierung des Streitinhaltes als Ursache der Streitmilderung | 141 Intellektualität in ihrer Beziehung zur Unparteilichkeit | 143 Divide et impera | 143 Vereinigung Untergeordneter, als bloße Form perhorresziert | 144 Eifersucht als Mittel des divide et impera | 146 Gleiches durch Gleiches bekämpft | 149 Numerische Einteilung der Gruppe | 151 Zehn- und Hundertschaft | 152 Mindestzahl und Höchstzahl der Mitglieder als Bedingungen der Rechte von Vereinigungen | 155
III. Ü BER -
UND
U NTERORDNUNG , 160-283
Über- und Unterordnung als Wechselwirkung | 160 Autorität | 162 Prestige | 163 Unterordnung unter einen Einzelnen als Vereinheitlichungsmoment der Gruppe | 168 Gemeinsamkeit der Bedrückung als Dissoziationsgrund | 172 Höhere Instanz | 174 Nivellement und Despotismus | 175 Teilung und Ganzheit der Persönlichkeit bei dem Herrschaftsverhältnis zwischen Vielen und Einem | 180 Abgestufte Herrschaftsverhältnisse | 184 Gleichzeitiges Über- und Untergeordnetsein des Individuums | 188 Hierarchische Gliederung in ihrer Kohäsionswirkung | 189 Einherrschaft als Primärform der Herrschaft überhaupt | 191 Gegenseitige Unterstützung der gleichen Formen an verschiedenen Gruppen | 193 Unterordnung unter den Fremden und unter den Gruppengenossen | 194 Koordination der Untergeordneten, in ihrer Beziehung zu der Höhe der Übergeordneten | 200 Unterordnung unter eine Mehrheit und die Unterschiede ihrer Folgen für den Unterworfenen | 202 Objektivität des kollektiven Verfahrens | 203 Antagonismus der Übergeordneten | 208 Konflikt der Pflichten | 208
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Befreiung durch Mehrfachheit der Unterordnung | 210 Hierarchische Ordnung unter den Übergeordneten | 213 Verbindung zwischen dem höchsten und dem tiefsten Glied einer sozialen Skala | 216 Exkurs über die Überstimmung | 218-228 Überstimmung und Einstimmigkeit | 218 Einheitswille einer Gesamtheit | 222 Eigenleben des Individuums und Gesamtheitswille | 227 Unpersönlichkeit der herrschenden Potenz | 229 Gesetz und Person als Herrschaftsprinzipien | 229 Vermittlung der Herrschaft durch konkrete Objekte | 231 Verdichtung realer zu idealen Herrschaftsmächten | 232 Soziale Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt | 235 Unterstellung des Übergeordneten unter objektiv-ideale Normen | 240 Befreiung durch Objektivierung des Verhältnisses | 243 Übergeordnetheit als Charakter der Gesamtgruppe und als absolute Qualität | 246 Pairtum | 248 Übertragung von Überordnungsverhältnissen von großen in kleinere Kreise | 249 Freiheit als Ausgangspunkt der Überordnung und als deren Synonymum | 252 Gleichheit | 253 Jurisdiktion der Teilgruppe | 256 Aufsteigen einer Schicht in seinem Erfolge für deren höhere und niedere Elemente | 258 Befreiung durch Objektivierung des Verhältnisses | 262 Gleichheit als Wechselseitigkeit von Über- und Unterordnung | 264 Herrschaft als objektive Organisationsform und als Ausdruck der personalen Unterschiedenheit | 270 Aristokratie bzw. demokratische Ordnungen als ‚geringere Übel‘ | 275 Zwangsordnungen in ihrer formalen Unentbehrlichkeit | 277 Übergeordnetheit als personale Qualifikation in ihrem notwendigen Mißverhältnis zu ihrem sozialen Ausdruck | 280
IV. D ER S TREIT , 284-382 Kampf als positiv-soziologische Form | 284 Antagonismus als organische Funktion innerhalb der soziologischen Formung | 288 Opposition als Selbsterhaltung | 290 Mischverhältnisse | 291 Ethik und Soziologie | 295
M ATERIENVERZEICHNIS | 399
Feindseligkeit als natürlicher formaler Trieb | 298 Kampf in abstrakter Reinheit: Kampfspiel und Rechtsstreit | 304 Streitführung unter Differenzierung des Persönlichen vom Sachlichen | 307 Kampf auf der Basis von Gemeinsamkeit | 310 Konflikte mit den Nächststehenden | 312 Renegat | 316 Sozialer Haß | 317 Eifersucht | 318 Neid | 318 Konkurrenz | 323 Konkurrenz in ihrer sozialisierenden Wirkung | 327 Feindseligkeitsquantum in einer Gruppe und sein Verhältnis zu ihrer Struktur | 330 Konkurrenzbeschränkungen auf Grund des Interessengehaltes | 333 Konkurrenzbeschränkungen auf Grund der sozialen Form | 337 Konkurrenzbeschränkungen durch das Interesse der Konkurrenz selbst | 341 Konkurrenzbeschränkungen durch Recht und Moral | 342 »Redlicher« Wettbewerb als sozial nützlicher | 346 Konkurrenz und moderne Differenzierung | 349 Zentralisierende Bedeutung des Kampfes | 349 Streit in seiner Bedeutung für die innere Struktur der Partei | 349 Entscheidung der inneren Gruppenverhältnisse gelegentlich von Kämpfen der Gruppe als ganzer | 353 Toleranz und Kampfsituation | 355 Vereinigung zu Kampfzwecken | 360 Bedrohung mit dem Kampf als zusammenschließendes Moment | 365 Distanz des vereinigenden Momentes | 366 Wahllosigkeit | 367 Streitbeendigung durch Friedensbedürfnis | 370 Streitbeendigung durch Wegfall des Streitobjektes | 372 Streitbeendigung durch Resignation | 373 Streitbeendigung durch Kompromiß | 374 Streitbeendigung durch Versöhnung | 374 Kompromiß | 374 Verzeihen | 377 Wiederherstellung gebrochener Verhältnisse, als Herabsetzung und als Steigerung ihrer Intensität | 378 Unversöhnlichkeit | 380
400 | G EORG SIMMELS GROSSE „S OZIOLOGIE “
V. D AS G EHEIMNIS 383-455
UND DIE GEHEIME
G ESELLSCHAFT ,
Wissen und Nichtwissen um einander als Bedingung der Vergesellschaftung | 383 Lüge | 388 Psychologisches Kennen und Nichtkennen, bestimmt durch die soziale Struktur | 392 Vertrauen | 393 Diskretion | 395 Geheimhaltung, ihr Recht und dessen Begrenzung | 397 Freundschaft und Liebe in Hinsicht auf Diskretion | 401 Differenzierte Freundschaften | 401 Reservelosigkeit und ihre Gefahr für intime Verhältnisse | 404 Verrat | 409 Geheimnis und Publizität in ihrer Beziehung zu der Ausdehnung der Gruppe | 410 Exkurs über den Schmuck | 414-421 Schmuck | 414 Geheime Gesellschaften | 421 Geheimnis als Schutzmaßregel | 422 Vertrauen | 424 Schweigen | 426 Exkurs über den schriftlichen Verkehr | 429-433 Schriftlicher Verkehr | 429 Individualisation und Geheimnis | 433 Rationalistik der geheimen Gesellschaft | 434 Ritual der geheimen Gesellschaft | 436 Freiheit und Bindung in der geheimen Gesellschaft | 438 Geheime Gesellschaft, ihrer Form nach als quantitative Modifikation der Vergesellschaftung überhaupt | 440 Geheime Gesellschaft, ihre soziologische Bewußtheit | 441 Geheime Gesellschaft, ihr Abscheidungscharakter | 441 Heimlichkeit | 443 Geheime Gesellschaft, ihre despotische Zentralisierung | 448 Allgemeinbegriffe in ihrer praktischen Prärogative vor ihren individuellen Erfüllungen | 451 Geheime Gesellschaft, die Entpersönlichung in ihr | 451 Geheime Gesellschaft als Gefährdung der Zentralmacht | 453
M ATERIENVERZEICHNIS | 401
VI. D IE K REUZUNG SOZIALER K REISE , 456-511 Assoziation der Gleichen aus heterogenen Kreisen | 456 Lokale Vereinigungsgründe durch sachliche ersetzt | 457 Kreuzung abstrakterer und konkreterer Kreise | 460 Anzahl der Kreiszugehörigkeit des Individuums in ihrer kulturellen Bedeutung und als Individualisierungsmoment | 464 Priesterschaft als Phänomen der Kreuzung von Kreisen | 469 Nebeneinanderliegende und konzentrische Kreise in ihrer Bedeutung für die personale Situation | 472 Auseinanderliegende Kreise und ihre Berührung in einem Individuum | 475 Mehrfachheit der Assoziationen und individuelle Freiheit und Markiertheit | 475 Konkurrenz bei gleichzeitiger Solidarität | 478 Religion in ihrer spezifischen Bedeutung für die Kreuzung der Kreise | 480 Ehre | 485 Kombination der Kreise, an denen der Einzelne teilhat | 485 Quantitative und qualitative, lokale und sachliche Differenzierung | 489 Abstrakte soziale Begriffe als Ergebnis und als Veranlassung von Differenzierungen und Synthesen | 493 ‚Frauenfrage‘ in ihrer soziologischen Struktur | 499 Lösung und Neuverschmelzung assoziativer Elemente in ihrer Bedeutung für die Individualisierung | 504 Rationalisierende Formenentwicklung einer Gruppe | 506 Mechanische Struktur, der organischen überlegen | 508
VII. D ER ARME , 512-555 Rechte, in ihrem gesellschaftsbildenden Primat vor den Pflichten | 512 Armenunterstützung als Recht des Bedürftigen | 513 Armenunterstützung als Interesse des gebenden Individuums | 516 Armenpflege in ihrer soziologischen Konstellation | 517 Armenunterstützung als Interesse des gesellschaftlichen Ganzen | 519 Armenpflege in ihrer organisatorischen Bedeutung | 523 Induktion des sozialen Verhaltens | 527 Lokalistisches und zentralistisches Prinzip in der Armenpflege | 530 Exkurs über die Negativität kollektiver Verhaltungsweisen | 533-538 Negativität kollektiver Verhaltungsweisen | 533 Vereinigung auf Grund prohibitiver Momente | 535 Allgemeinheit und Objektivität | 539
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Private und öffentliche Armenpflege in ihren soziologischen Gegensätzen | 543 Individuum als Durchgangspunkt gesellschaftlicher Entwicklung, Gesellschaft als Zwischeninstanz individueller Entwicklung | 544 Gegenüberstehen und Eingeschlossensein als gleichzeitige Relationen des Individuums zu seiner Gruppe | 546 Armutsschwelle | 548 Geschenk | 549 Armut als individueller Zustand und als Kategorie | 551
VIII. D IE S ELBSTERHALTUNG DER 556-686
SOZIALEN
G RUPPE ,
Menschheit, Gesellschaft und Individuum in ihren gegenseitigen Verhältnissen und als methodische Gesichtspunkte für die Erfassung der historischen Wirklichkeit | 558 Individuelle und soziale Selbsterhaltung | 558 Erhaltung der identischen Gruppe bei Wechsel der Mitglieder | 559 Grund und Boden als Substrat der Kontinuität der Gruppe | 559 Physiologische Verkettung und Kontinuität des Gruppenlebens | 563 Geistige Kontinuität des Gruppenlebens | 566 Unsterblichkeit der Gruppe | 568 Erhaltung der Gruppe in ihrer Bindung an eine Einzelperson | 570 Exkurs über das Erbamt | 579-588 Erbamt | 579 Vererbung als Synthese des persönlichen und des überpersönlichen Lebensprinzips | 579 Berufsvererbung, aufgelöst in die Wahlfreiheit einerseits des Individuums, andererseits der öffentlichen Meinung | 586 Adel | 587 Erhaltung der Gruppe in ihrer Bindung an ein sachliches Symbol und Besitztum | 588 Tote Hand in ihrem Wert für die Erhaltung der Teilgruppe und ihrer Gefahr für die Gesamtgruppe | 591 Eintritt und Austritt in ihrer Erleichterung oder Erschwerung, als Charakteristikum von Gruppen | 595 Erhaltung der Gruppe in ihrer Bindung an eine Idee | 598 Ehre als Selbsterhaltung der Gruppe | 599 Ehre als Projizierung des Sozialinteresses in den individuellen Egoismus | 601 Erhaltung der Gruppe in ihrer Bindung an ein kollektives Organ | 603
M ATERIENVERZEICHNIS | 403
Teilgruppen als arbeitsteilige Organe anstelle unmittelbarer Kollektivaktionen | 603 Vertreter und Beamter | 607 Teilgruppe, ihr überwiegender Nutzen durch schnellere Beweglichkeit | 609 Unspezifische Organe | 610 Teilgruppen, leichtere Stiftung von Synthesen | 611 Parteiung in formaler Fortsetzung über ihre materiale Veranlassung | 613 Teilgruppen, vermeiden unsachlicher Parteiung | 614 Teilgruppen, intellektuelle Höhe über dem sozialen Niveau | 617 Objektivität des Beamten | 617 Soziales Niveau | 617 Verdichtung der Vertreterschaften zu engeren Gebilden | 623 Exkurs über Sozialpsychologie | 625-632 Sozialpsychologie, ihre prinzipielle methodische Bedeutung | 625 Inhalt und Prozeß an sozialpsychischen Tatsachen | 626 Teilgruppen, Fähigkeit, individuellen Mächten gegenüberzutreten | 632 Selbständigkeit der Organe und ihre notwendige Einschränkung | 634 Bureaukratie als Organ und als Selbstzweck, nebst formal ähnlichen Gebilden | 635 Zeitliche Bestimmungen | 639 Organe und ihre Rückbeziehung auf die unmittelbare Gesamtheit | 642 Festigkeit und Variabilität als formale Mittel der Selbsterhaltung | 645 Disparatheit der Elemente | 646 Mittlere Schichten und ihre Bedeutung für Evolutionen der Gruppe | 647 Überlebte Gebilde | 649 Exkurs über Treue und Dankbarkeit | 652-670 Treue | 652 Beharrungsvermögen der Form | 654 Gewöhnung des Zusammenseins und Kooptierung der begründenden Gefühle | 655 Renegat | 657 Fluktuation des Lebens und Stabilität seiner Form | 659 Dankbarkeit | 661 Tausch | 662 Gabe und Gegengabe | 663 Gabe und Gegengabe, Wertvorrang jener vor dieser | 667 Untreue | 669 Elastizität der sozialen Formen an Minoritätsgruppen | 670 Starrheit und Elastizität der sozialen Form in ihrer Beziehung zu der Bestimmtheit der Gruppe durch die höheren oder durch die tieferen Schichten | 672 Aristokratie und Konservatismus | 672 Ackerbau und konservative Lebensform | 675 Mittelstand | 676 Differenziertheit und Labilität der Sozialform | 677
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Wechselnde Verhältnisse unter den Elementen als innere Bedingung für die Erhaltung einer sozialen Form | 681
IX. D ER R AUM UND DIE RÄUMLICHEN O RDNUNGEN G ESELLSCHAFT , 687-790
DER
Raumbestimmtheiten und psychische Synthesen | 687 Wechselwirkung als Raumerfüllung | 689 Ausschließlichkeit des Raumes und ihre Bedeutung für soziale Formtypen | 690 Expansion einer Gruppe über ihre unmittelbaren Grenzen | 691 Räumliche Einheit | 694 Heimat | 695 Begrenzung als soziologische Funktion | 696 Exkurs über die soziale Begrenzung | 698-702 Partielle Zugehörigkeit zu der Gruppe | 699 Enge und Weite des sozialen Rahmens | 702 Fixierung im Raum | 705 Örtlicher Drehpunkt von Beziehungen | 706 Rendez-vous | 710 Individualisierung des Ortes | 711 Rationalistische Sozialform und ihr räumlicher Ausdruck | 712 Räumliche Nähe und Distanz | 716 Abstraktionsfähigkeit als Bedingung der räumlichen Ausdehnung einer Gesellschaft | 717 Dezidiertheit des Verhältnisses bei räumlicher Nähe | 720 Exkurs über die Soziologie der Sinne | 722-742 Sinnesfunktionen in ihrer Bedeutung für die Vergesellschaftung | 722 Gegenseitigkeit des Anblickens | 724 Kennen und Erkennen des Menschen | 725 Auge und Ohr in ihrem soziologischen Bedeutungsunterschied | 726 Geheimnis | 730 Geruch in seiner Bedeutung für die Vergesellschaftung | 733 Geruch als der dissoziierende Sinn | 734 Parfüm | 735 Geschlechtssinn und die soziologischen Folgen seiner Bindung an räumliche Nähe (Verwandtenehe) | 737 Räumliche Nähe und Distanz | 742 Minoritäten und ihre räumliche Verteilung | 744
M ATERIENVERZEICHNIS | 405
Lokale Konfiguration in ihrer Bedeutung für prinzipielle Lebensformen der Gruppe | 746 Wanderungen | 748 Nivellierung durch Wanderungen | 750 Reisebekanntschaft | 752 Wanderungen als Mittel der Organisation und ihr Ersatz | 755 Vagabunden | 760 Wanderschaft und sozialer Antagonismus | 761 Exkurs über den Fremden | 764-771 Fremde | 764 Distanz und Nähe in der Position des Fremden | 766 Einzigkeit und Generalisiertheit von Verhältnissen | 768 Einteilung der Gruppe nach räumlichen Gesichtspunkten | 771 Räumliche Ausdrücke und Erfolge soziologischer Gestaltungen | 771 Herrschaft über Personen und über ihr Raumgebiet | 776 Soziologisches Zentrum in räumlicher Festlegung | 777 Behauste Vereinigungen | 779 Fixiertheit des Individuums an dem Ort seiner Gruppe | 781 Leerer Raum als Schutzgrenze | 784 Leerer Raum als Eigentum des zuerst Zugreifenden | 785 Leerer Raum als neutrales Gebiet | 787
X. D IE E RWEITERUNG DER G RUPPE DER I NDIVIDUALITÄT , 791-863
UND DIE
AUSBILDUNG
Differenzierung des Individuums als Folge der Vergrößerung des Kreises und als Ursache von dessen Annäherung an andre Kreise | 792 Synthese innerhalb der eigenen Gruppe in Korrelation mit der Antithese gegen die fremde | 796 Individualistische und sozialisierende Tendenz in der Gleichheit ihrer Quanten und dem Wechsel ihrer formalen Verteilung | 797 Besonderung des Individuums als solchen und als Mitglied eines Kreises | 799 Familie, in ihrer individualisierenden und ihrer entindividualisierenden (kollektivistischen) Bedeutung | 802, 804 Relativität in der Stellung eines Kreises: als individuelles Gebilde gegenüber dem größeren, als überindividuelles gegenüber dem kleineren oder den Individuen | 805 Unterschiedsbedürfnis und Individualismus | 806
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Zusammenhang zwischen den relativ weitesten und den relativ engsten sozialen Gebilden unter Überspringung der mittleren | 807 Individualität als Freiheit und als qualitative Besonderung | 811 Exkurs über den Adel | 816-831 Adel | 816 Begrenzung des Standes nach oben und nach unten | 816 Benachteiligungen des Adels als Korrelation seiner Vorrechte | 818 Gleichheit der soziologischen Voraussetzungen beim Adel | 821 Anteil des adligen Individuums an den Werten seiner Gruppe | 823 Ebenbürtigkeit | 826 Synthese der Persönlichkeitsform und der Standeselemente beim Adel | 830 Geldwirtschaft in ihrer Bedeutung für das Zusammen von persönlicher Unabhängigkeit und Erweiterung des Wirtschaftskreises | 831 Entwicklungsalternative der Werte kleiner Kreise: entweder zu reiner Personalität oder zur Aufnahme in einen größten Kreis, bzw. dessen monarchisches Zentrum | 832 Engere Gruppe als mittlere Proportionale zwischen der weiteren und der engsten, bzw. der Individualität | 838 Kosmopolitismus und seine Beziehung zum Individualismus | 840 Gleichheitsideal | 843 Personalität und Überpersonalität in den Zuspitzungen ihrer sachlichen, ethischen, gefühlsmäßigen Bedeutungen gemäß denen ihres soziologischen Sinnes | 844 Exkurs über die Analogie der individualpsychologischen und der soziologischen Verhältnisse | 850-855 Individualpsychologische und soziologische Verhältnisse in ihrer Analogie | 850 Kampf innerhalb der Elemente des Individuums und unter den Individuen | 851 Gleichzeitige Steigerung des Allgemeinheitsprinzips und des Individualprinzips in theoretischer, psychologischer, metaphysischer Hinsicht | 855 (erstellt von Frederic Schuft)
Ausgewählte Rezensionen bis 1912
„Nicht eine Seite ist in dem Werke zu finden, die uns nicht Belehrung und Genuß böte. Aber freilich muß man sich, um diese zu gewinnen, auch bemühen. Simmel bietet uns nicht reife Früchte auf dem Präsentierteller; er fordert vom Leser intensive Denkarbeit, und das ist ihm vielleicht noch mehr zu danken als das Endprodukt der Arbeit“ (Geller, in: Österreichisches Zentralblatt für die juristische Praxis 26 [1908], 1013). „Ths is one of the books with which every professional student of sociology must make himself familiar. [...] It is not extraordinary to predict that it will mark a distinct stage in the evolution of sociology. Its type of analysis must be adopted into our procedure“ (Albion W. Small, in: American Journal of Sociology 14 [1908/09], 544f.). „Simmels Soziologie ist ein bedeutendes Buch, aus dem viele Soziologen noch lange schöpfen werden. [...] Fraglich ist es, ob Simmel mit der vollständigen Loslösung des Inhalts der Vergesellschaftung [...] allgemeinen Anklang finden wird“ (Friedrich Prinzing, in: Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 6 [1909], 738). „Ein schweres Buch. In wenigen (10) Kapiteln wird ein weites Gebiet abgehandelt, aber der Leser muß sich seinen Stoff selbst gliedern; die Kapitelüberschriften heben den Inhalt nicht genügend hervor, denn sie enthalten viel mehr, als sie anzeigen, und die Kapitel zerfallen nicht in Unterabteilungen (§§). [...] Zwar ist am Schlusse ein Materialverzeichnis, aber das ist unvollständig. [...] Und ich will darum gleich sagen, daß mir der reiche Inhalt des umfangreichen Buches ungegliedert, begrifflich nicht durchgeklärt erscheint; wir haben einzelne sehr gute und wertvolle Untersuchungen, aber die Soziologie als Ganzes und System haben wir in dem Buche nicht. [...] [D]ie Anlehnung an Kant – ‚reine Formen‘ der Vergesellschaftung! Auf dem Titelblatt haben wir nur die ‚Formen‘, aber in dem Buche werden die reinen For-
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men hervorgehoben. [....] Und darum sage ich weiter, daß seine Formen (auch ‚reine Tatsache‘) einfach nicht existieren [...]; will man die Parteibildung, die Konkurrenz, die Arbeitsteilung usw. Formen nennen, so habe ich nichts dagegen; nur darf man dann die Reinheit dieser ‚Formen‘ nicht kantisch fassen“ (Tomáš Garrigue Masaryk, in: Zeitschrift für Sozialwissenschaft 12 [1909], 600f., 603). „So besteht das fast 800 Seiten starke Werk Simmels eigentlich aus einer Reihe von uferlosen Feuilletons, von denen manches mehr als 100 große Seiten umfaßt. Das ist schade; denn wenn diese Aufsätze in jeder Hinsicht auf ein bescheidenes Maß reduziert würden, kämen die wirklichen Einfälle des Autors, die, wie gesagt, manchmal wirklich wertvoll sind, ganz anders zur Geltung“ (Gustav Eckstein, in: Die Neue Zeit 27/2 [1909], 422). „Tout l’ouvrage de Simmel peut être regardé comme une tentative de démontrer, par voie d‘examples, la possibilité que les contenus identiques correspondent à des formes absolument différentes, et réciproquement. Il doit pour cela appliquer à la sociologique le principe des actions infiniment nombreuses et infiniment petites, qui, dans d’autres, la biologie par ex., s‘est révélé d‘une admirable fécondité. Jusqu’à present on n’a étudié que les formations sociologiques pour ainsi dire officielles, où les forces qui opèrent réciproquement sont déjà en unités idéales (États, armées, clergés, classes etc.); ce critérium macroscopique doit maintenant être remplacé par un critérium microscopique, il faut rechercher les milles rapports, momentanés ou durables, conscients ou inconscients, insignifiants ou importants, qui s‘entrelacent continuellement de personne à personne: l’étude des viscères doit faire place à celle des tissus“ (Ludovico Limentani, in: Scientia. Revue internationale de synthèse scientifique / Rivista internazionale di sintesi scientifica 6 [1909], 407). „Überall steht nämlich bei ihm das Individuum im Vordergrund, das er sich in wechselseitige Tätigkeit versetzt denkt. Diese individuell-peripherische Betrachtungsweise ist aber geeignet, gerade den Kernpunkt zu verschleiern. Nehmen wir dagegen einen zentralen Standpunkt ein, stellen wir die Gesellschaft als Ganzes, als einheitliches Tätigkeitssystem in den Vordergrund, so klärt sich sofort das Bild. Denn die Geselllschaft, einmal als ein in Evolution begriffenes System erfaßt, läßt sogleich erkennen, daß soziale Wechselwirkung nichts anderes sein kann als eine einfache Formel für den sozialen Entwicklungsprozeß, die von diesem letzteren erst mit lebendigem Inhalt ausgestattet wird. [...] Da den eigentlichen Gegenstand der Soziologie nicht das Individuum, sondern das strukturell-funktionale Gesamtsystem bilden muß, so hat eine natürliche Auffassung ihren Ausgang überhaupt vom Ganzen, nicht aber von den Teilen und deren Wechselbeziehungen zu nehmen“ (Ana-
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stasio Nordenholz, in: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie einschließlich Rassen- und Gesellschafts-Hygiene 6 [1909], 419f.). „Ich glaube, daß Simmel den Begriff der Soziologie viel zu eng faßt. [...] Sie hat nicht nur die Formen, sondern auch die Inhalte der Vergesellschaftung ihrer Untersuchung zu unterziehen [...]. Denn bei genauerer Betachtung ist diese gesamte Soziologie, wie Simmel sie betreibt, fast ohne Rest, ich glaube, man darf sagen, ganz ohne Rest, nach Stoff und Methode einer längst bestehenden wissenschaftlichen Disziplin einzureihen, nämlich der Psychologie: sie ist gänzlich angewandte Psychologie“ (Franz Oppenheimer, in: Die Hilfe 15 [1909], 80f.). „Angebrachtermaßen aber muß gesagt werden, daß das Buch nur einen anderen Titel haben müßte, um ein vortreffliches Buch zu sein. Es enttäuscht nur den, der nach dem Titel das System der neuen Wissenschaft erwartet: aber es ist ein Entzücken für den, der es unbekümmert um Titel und Erwartung zu sich sprechen läßt“ (Franz Oppenheimer, in: Die neue Rundschau 21 [1910], Heft 2 v. Feb. 1910, 280). „Ich stelle auch direkt in Abrede, daß die Punkte, die ich bereits als das Apriori des Gesellschaftsseins bei Simmel hervorgehoben habe, das sine qua non der Sozialität angeben: das sine qua non der empirisch gegebenen Sozialität (und nur um diese kann es sich handeln) ist die Ungleichheit der Idividuen, die Ungleichheit der Glückseligkeitsinhalte; daß die Menschen sich gegenseitig nicht vollkommen kennen usw. – was Simmel eben als das Apriori des Gesellschaftsseins bezeichnet – ist, insofern es sich eben auf das Gesellschaftssein überhaupt bezieht, nichtig: wir kennen nur die empirisch gegebene Gesellschaft (Sozialität), aber nicht ein Gesellschaftssein überhaupt“ (Alexander Eleutheropulos, in: Monatsschrift für Soziologie 1 [1909], 452). „Eine neue Wissenschaft ist dann entstanden, wenn ihre Probleme und ihre Methoden bestimmt sind. Für die Soziologie hat die erste dieser beiden Leistungen durch das vorliegende Buch Simmel vollbracht. [...] Man könnte das Buch daher auch als eine Einführung in die soziologische Denkweise bezeichnen, denn es leitet den Leser an, die Erscheinungen des täglichen Lebens mit den Augen des Soziologen zu betrachten“ (Alfred Vierkandt, in: Zeitschrift für Politik 2 [1909], 308). „Es handelt sich also um kein Lehrbuch, keinen Grundriß, keine Gesamtdarstellung der Soziologie, sondern gleichsam um eine Reihe von Variationen über das Thema: ‚Welches ist die Aufgabe der Soziologie?‘“ (Alfred Vierkandt, in: Achiv für die gesamte Psychologie 17 [1910], 61).
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„Mit dem Denker Simmel geht etwas ganz Besonderes vor. Wo er über Theorien reflektiert, geht er mehr oder weniger kantianisch, kritisch vor, beginnt er aber selber Theorien zu machen, so gerät er in die Arme des Empirismus. Die Empiristen aber urteilen [...] nicht nach Grundsätzen, sondern nach Beispielen“ (David Koigen, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 31 [1910], 919f.). „Zur allgemeinen Charakteristik muss nämlich bemerkt werden, dass Simmels Soziologie keineswegs eine ätiologische, sondern eine streng phänomenologische Darstellung des sozialen Forschungsgebietes enthält. Nicht nach den letzten bewegenden Antrieben und Ursachen des gesellschaftlichen Lebens, sondern nach seiner inneren Struktur und Figuration, nach der Fülle seiner charakterisischen Beziehungen wird gefragt“ (Oscar Ewald, in: Kantstudien 14 [1909], 376). „[N]ous pensons que la sociologie, pour devenir une discipline scientifique, doit faire aux confrontations objectives plus de place que leur en font les essais, si suggestifs d’ailleurs, du brillant ‚moraliste‘ qui a écrit la Soziologie“ (Charles [d.i. Célestin] Bouglé, in: L’Année sociologique 11 [1910], 20). „Er wollte und konnte kein abgeschlossenes System geben; das Buch soll nur seinen Grundgedanken, die Problemstellung für die Soziologie an einer Reihe von Anwendungen verdeutlichen. [...] Das ist ein recht wesentlicher Fortschritt gegenüber den älteren Soziologen, die an der Systemwut gescheitert sind [...]. Das Gedankengeflecht gleicht bisweilen einem Spinnengewebe mit glitzernden Tautropfen; aber ein kräftiger Windhauch kann es vernichten. Die Gefahr der Zerfaserung soziologischen Denkens würde durch feste Grundgedanken als Träger des Systems überwunden werden. [...] Ich hege Zweifel, ob seine analysierende Art je zur Synthese gelangen kann. [...] In gewisser Hinsicht möchte ich seine Soziologie geradezu als Aestheten-Soziologie, als Soziologie für den literarischen Salon bezeichnen“ (Leopold v. Wiese, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 31 [1910], 897, 899f.). „L’étude des formes les plus élémentaires de la socialisation: tel serait donc l’objet propre de la sociologie. Mais, ainsi définie, cette science ne risque-t-elle pas de devenir un simple chapitre de la psychologie, de la psychologie sociale tout au moins? M. Simmel a réussi à présenter un schéma assez séduisant d’une théorie de la connaisance sociologique. Mais ce n’est pas qu’un schéma, car, ainsi que l’auteur l’avoue lui-même, des recherches innombrables sont encore nécessaires pour donner à ce schéma des contours nets et définitifs, la solidité et l’ampleur d’une théorie véritable“ (Samuel Jankelevitch, in: Revue philosophique 72 [1911], 430, 433).
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„Die Fülle des Materials, die Neuheit des Stoffes, die Eigenart der Gesichtspunkte nötigt aber die höchste Anerkennung ab und läßt das Studium des Buches namentlich dem Historiker dringend empfehlen“ (Sange, in: Literarisches Zentralblatt für Deutschland 61 [1910], Sp. 478). „Aber es fehlt durchgängig die bewußte geschichtliche Herleitung dieser Erscheinungen. [...] Man kann nicht jedes Wellengekräusel der menschlichen Beziehungen zum Gegenstande der Wissenschaft machen, sondern nur die dauernden großen Strömungen, die man durch Jahrhunderte hindurch zu verfolgen vermag. [...] [A]ls eine Soziologie, die ihrer Aufgabe gerecht wird, kann ich es nicht anerkennen. Es fehlt die dritte, geschichtliche Dimension“ (Paul Barth in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie 36 [N.F. 11] [1912], 518f.). (zusammengestellt von Ingo Meyer)
Siglen zur Georg Simmel-Gesamtausgabe (24 Bde., hg. v. Otthein Rammstedt, Frankfurt/M. 1989ff.)
GSG 1: Das Wesen der Materie nach Kant’s Physischer Monadologie. Abhandlungen 1882-1884. Rezensionen 1883-1901, hg. v. Klaus Christian Köhnke, Frankfurt/M. 2000 GSG 2: Aufsätze 1887 bis 1890. Über sociale Differenzierung. Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1892), hg. v. Heinz-Jürgen Dahme, Frankfurt/M. 1989 GSG 3: Einleitung in die Moralwissenschaft. Erster Band, hg. v. Klaus Christian Köhnke, Frankfurt/M. 1989 GSG 4: Einleitung in die Moralwissenschaft. Zweiter Band, hg. v. Klaus Christian Köhnke, Frankfurt/M. 1991 GSG 5: Aufsätze und Abhandlungen 1894 bis 1900. hg. v. Heinz-Jürgen Dahme u. David P. Frisby, Frankfurt/M. 1992 GSG 6: Philosophie des Geldes, hg. v. David P. Frisby u. Klaus Christian Köhnke, Frankfurt/M. 1989 GSG 7: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908. Band I, hg. v. Rüdiger Kramme, Angela u. Otthein Rammstedt, Frankfurt/M. 1995 GSG 8: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908. Band II, hg. v. Alessandro Cavalli u. Volkhard Krech, Frankfurt/M. 1993 GSG 9: Kant. Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1905/1907), hg. v. Guy Oakes u. Kurt Röttgers, Frankfurt/M. 1997 GSG 10: Philosophie der Mode. Die Religion. Kant und Goethe. Schopenhauer und Nietzsche, hg. v. Michael Behr, Volkhard Krech u. Gert Schmidt, Frankfurt/M. 1995 GSG 11: Soziologie, hg. v. Otthein Rammstedt, Frankfurt/M. 1992 GSG 12: Aufsätze und Abhandlungen 1909-1918, Band I, hg. v. Rüdiger Kramme u. Angela Rammstedt, Frankfurt/M. 2001
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GSG 13: Aufsätze und Abhandlungen 1909-1918, Band II, hg. v. Klaus Latzel, Frankfurt/M. 2000 GSG 14: Hauptprobleme der Philosophie. Philosophische Kultur, hg. v. Rüdiger Kramme u. Otthein Rammstedt, Frankfurt/M. 1996 GSG 15: Goethe. Deutschlands innere Wandlung. Das Problem der historischen Zeit. Rembrandt, hg. v. Uta Kösser, Hans-Martin Kruckis u. Otthein Rammstedt, Frankfurt/M. 2003 GSG 16: Der Krieg und die geistigen Entscheidungen. Grundfragen der Soziologie. Der Konflikt der modernen Kultur. Vom Wesen des historischen Verstehens. Lebensanschauung, hg. v. Gregor Fitzi u. Otthein Rammstedt, Frankfurt/M. 1999 GSG 17: Miszellen, Glossen, Stellungnahmen, Umfrageantworten, Leserbriefe, Diskussionsbeiträge 1889-1917. Anonyme und Pseudonyme Veröffentlichungen 1888-1917. Beiträge aus der Jugend 1897-1916, hg. v. Klaus Christian Köhnke, Cornelia Jaenichen u. Ernst Schullerus, Frankfurt/M. 2004 GSG 18: Englischsprachige Veröffentlichungen 1893-1910, hg. v. David Frisby, Frankfurt/M. 2008 GSG 19: Französisch- und italienischsprachige Veröffentlichungen 1894-1903. Mélanges de Philosophie Relativiste: Contribution à la Culture Philosophique, hg. v. Christian Papilloud, Angela Rammstedt und Patrik Watier, Frankfurt/M. 2002 GSG 20: Postume Veröfffentlichungen. Ungedrucktes. Schulpädagogik, hg. v. Torge Karlsruhen und Otthein Rammstedt, Frankfurt/M. 2004 GSG 21: Kolleghefte und Mitschriften, hg. v. A. Rammstedt u. C. Rol, Frankfurt/M. 2010 GSG 22: Briefe 1880-1911, hg. v. Klaus Christian Köhnke, Fankfurt/M. 2005 GSG 23: Briefe 1912-1918. Jugendbriefe, hg. v. Otthein u. Angela Rammstedt, Frankfurt/M. 2008 GSG 24: Dokumente, Gesamtbibliographie und -Register, hg. v. Otthein Rammstedt (im Erscheinen)
Sozialtheorie Ullrich Bauer, Uwe H. Bittlingmayer, Carsten Keller, Franz Schultheis (Hg.) Bourdieu und die Frankfurter Schule Kritische Gesellschaftstheorie im Zeitalter des Neoliberalismus März 2012, ca. 350 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1717-7
Wolfgang Bonss, Ludwig Nieder, Helga Pelizäus-Hoffmeister Handlungstheorie Eine Einführung Dezember 2011, ca. 250 Seiten, kart., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1708-5
Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.) Human-Animal Studies Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen Oktober 2011, 424 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1824-2
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Sozialtheorie Bernd Dollinger, Fabian Kessl, Sascha Neumann, Philipp Sandermann (Hg.) Gesellschaftsbilder Sozialer Arbeit Eine Bestandsaufnahme Januar 2012, ca. 230 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1693-4
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Mathias Lindenau, Marcel Meier Kressig (Hg.) Zwischen Sicherheitserwartung und Risikoerfahrung Vom Umgang mit einem gesellschaftlichen Paradoxon in der Sozialen Arbeit
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Fran Osrecki Die Diagnosegesellschaft Zeitdiagnostik zwischen Soziologie und medialer Popularität
Februar 2011, 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1506-7
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