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German Pages 442 [444] Year 1987
Gregor Büchel Geometrie und Philosophie
w DE
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Kantstudien Ergänzungshefte im Auftrage der Kant-Gesellschaft in Verbindung mit Ingeborg Heidemann herausgegeben von Gerhard Funke und Rudolf Malter
121
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1987
Gregor Büchel
Geometrie und Philosophie Zum Verhältnis beider Vernunftwissenschaften im Fortgang von der Kritik der reinen Vernunft zum Opus postumum
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1987
CIP- Kur^titeíaujnahme
der Deutschen
Bibliothek
Büchel, Gregor: Geometrie und Philosophie : zum Verhältnis beider Vernunftwiss. im Fortgang von d. Kritik d. reinen Vernunft zum Opus postumum / Gregor Büchel. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1987. (Kantstudien : Ergänzungshefte ; 121) ISBN 3-11-011284-1 NE: Kantstudien / Ergänzungshefte
© Copyright 1987 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 — Printed in Germany — Alle Rechte der Übersetzung, des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der Anfertigung von Mikrofilmen — auch auszugsweise — vorbehalten. Druck: Werner Hildebrand, Berlin 65 Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin 61
Diese Arbeit ist gewidmet meinem Vater, dem Chemiefacharbeiter Wilhelm Büchel, der Zeit seines Lebens lieber ,vordachte' als ,nachdachte'.
VQHMORT
Die Wissenscnaftsentwicklung der letzten 200 Jahre, die seit dem Erscheinen der zweiten Auflage von Kants "Kritik der reinen Vernunft" vergangen sind, hat zu einer Herauslösung der mathematisch-naturwissenschaftliehen Fächer aus der philosophischen Fakultät geführt. In der Betrachtung des Bezugs von Mathematik und Philosophie dominiert der Aspekt der Trennung. Kant führte den Aufweis, daß die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Mathematik in engem Zusammenhang mit der Frage "Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich?" (B 20) steht. Die Arbeit will diesen Zusanmenhang nachgehen. Frau Professor Heidemann ermutigte mich, die Arbeit am interdisziplinären Thema des Verhältnisses von Mathematik und Philosophie aufzunehmen. Sie half mir, viele Hürden, die im Wege standen, zu überwinden. Für die Einführung in die Kantische Philosophie und die Mühe der Betreuung meiner Arbeit möchte ich ihr an dieser Stelle vielen Dank sagen. Für die vielen anregenden Diskussionen des "Kleinen Kreises" (Kreis der Doktoranden von Frau Professor Heidemann), für die Unterstützung der Schreibarbeiten und der orthographischen Korrektur durch Andrea Hein, Dagmar Matejko, Uschi Peukert, Nina Keinkemeyer und Gisela Waschek, für die Diskussion des mathematischen Anteils meiner Arbeit mit Jörg Hahn bedanke ich mich. Barbara Jakobs, der Bibliothekarin des Mathematischen Instituts, danke ich für ihre freundliche Hilfe. Den Institut für Korrmunikationsforschung und Phonetik, vertreten durch Herrn Professor Lenders, bin ich für die Bereitstellung von Arbeitsmitteln, insbesondere für die Mittel der elektronischen Datenverarbeitung zu Dank verpflichtet. Bonn, im April 1987
Gregor Büchel
INHALTSVERZEICHNIS
VDKWQHT HINWEISE ZUR EINRICHTUNG DER ARBEIT EINLEITUNG 1.
KÜNSTWJKTKJN UND INSTRUMENT. ZUM UNTERSCHIED DER ME1H3DE VOSI MATHEMATIK UND TKANSZENttÄNEALPHIIX> SQPHIE
VII XIII 1
37
1.1
Konstruktion und mathematische Grundsätze
37
1.1.1 1.1.2
Zum Begriff der Konstruktion Zum Problem philosophischer Prinzipien der Mathematik
37
1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.2.5
2.
2.1 2.1.1
48
Der Instrument al Charakter der Mathematik 65 Die Mathematik als Werkzeug zu beliebigen Zwecken...65 Geometrische Konstruktion und objektive Zweckmäßigkeit 95 Zum Begriff des Instrumentalcharakters der Mathematik 101 Die instrumentale Verwendung der Mathematik für den regulativen Gebrauch der reinen Vernunft 105 Die Bedeutung des InstrumentalCharakters der Mathematik im l.Konvolut des Op.p 117 QUALITÄT UND QUANTITÄT. ZUM UNTERSCHIED UER BEHANDLUNG ECS CECENSmiÜES DURCH MATHEMATIK UND PHILOSOPHIE Qualität und intensive Größe Qualität und Kontinuität
132 132 ..132
χ
Inhal t sverze i crini s
2.1.2
Dimension und Ausdehnung
2.2
Der transzendentale Begriff der Unendlichkeit und der mathematische Begriff des Unendlichen Der Brief Kants vcm 2.8.1790 an Johann Schultz Der zweite Teil der "Prüfung" der Kr.d.r.V. durch Johann Schultz Die Theorie des Unendlichen in der Antinanienlehre der Kr.d.r.V Der "neue Stoff" der lYieorie des Unendlichen
2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5 2.3.6 2.3.7 2.3.8
3.
3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3
3.2
159
185 185 191 200 211
Intensive und infinitesimale Größe 221 Das Moment als Grad einer intensiven Größe 221 Kontinuierliche und fließende Größen 226 Fließende Größen als Gegenstände der Infinitesimalrechnung 235 Zur mathematischen Darstellung des Momentbegriff es. 249 Zur philosophischen Bedeutung des lvlomentbegriffes..260 Die reine Größenlehre der Bewegung in den M.A.d.NW.264 Das Moment der Acceleration in den M.A.d.NW 284 Bemerkung zum Funkt ions begriff 290
BEZUG UND 1HENNUNG. ZUM VERHÄLTNIS VON MATHEMATIK UND PHILOSOPHIE IM "ÜBERGANG VON DEN METAPHYSISCHEN ANFANGSGföjNDEN LEK NATURWISSENSCHAFT ZUR PHYSIK"
300
Der wissenschaftssystematische Bezug von Mathematik und Philosophie zur Physik Kanon und Organon Orientierung und Propädeutik Zum Problem mathematischer Anfangsgründe Exkurs: Der Krümmungsbegriff im Opus postimum
300 300 316 337 350
Die mathematische Methode bei der Unterscheidung der Verhältnisse der bewegenden Kräfte der Materie.358
I nna 11 sverze i clin i s 3.2.1 3.2.2 3.2.3
XI
Vorentwürfe zu einer Tafel der Formen der Vernaltnisse bewegender Kräfte der Materie 358 Die Tafel der Formen der Verhältnisse der bewegenden Kräfte der Materie 366 Matfiematiscne Bestimmungen in der Einteilung der bewegenden Kräfte der Materie nacn dem Systan der Kategorien 393
L1TEKAIURVEKZE1ŒNIS
408
REGISTER
418
HINWEISE ZUR EINRICHTUNG DER ARBEIT
Die Schriften liants werden mit Ausnahme der "Kritik der reinen Vernunft" nach der Akademieausgabe (=: AA) zitiert: "Kant's gesammelte Schriften", Berlin, 1900ff.: 'Werke·: Bd. I - Bd. IX, 'Briefwechsel': Bd. X - Bd. XIII ('Werke' und 'Briefwechsel' hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften), 'Handschriftlicher Nachlaß' : Bd. XIV - Bd. XXIII (Bd. XIV - Bd. XVI hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. XVII - Bd. XXII hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. XXIII hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin). Von den 'Vorlesungen' (hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ab 1974 von der Akademie der Wissenschaften der EDR) wird ausschließlich verwandt: Bd. XXIX, 1. Hälfte, 1. Teil: "Kleine Vorlesungen und Ergänzungen I - Enzyklopädie Mathematik Physik". Die "Kritik der reinen Vernunft" (=: Kr.d.r.V.) wird nach der von I. Heidemann herausgegebenen Ausgabe zitiert: I. Kant: "Kritik der reinen Vernunft", Stuttgart, 1966 (Verlag Philipp Reclam jun., Stuttgart). Zitiert wird der Text nach der 2. Auflage (=B). In Ausnahmen wird bei abweichenden Formulierungen die 1. Auflage (=A) mi therangezogen. Ein Zitat aus der Akademieausgabe wird mit der Abkürzung, der Bandnunmer in römischen Ziffern und der Seitenzahl belegt. In gewissen Fällen erfolgt auch eine Zeilenangabe, dann steht hinter der römischen Bandziffer ein fünfstelliger Kode arabischer Ziffern, von denen die ersten drei die Seitennunmer und die folgenden zwei die Zeilennunmer angeben. Die Zeilennunmer ist auf die erste Zeile bezogen, in der das Zitat beginnt. Z.B. "Adrastea. Die despotische Verfassung"
XIV
Hinweise zur Einrichtung der Arbeit
(AA XXI 06209) heißt: Dieses Zitat steht auf Seite 62, beginnt in Zeile 9 von Band 21. Die Zitierung erfolgt unter Anpassung an die moderne Orthographie und Interpunktion. Hervorhebungen des Autors durch Sperrung werden entsprechend, kursiver Druck wird gesperrt wiedergegeben. Hervorhebungen durch Sperrungen von mir im Zitat werden als solche ausgewiesen. Auf andere Literatur wird durch Angabe des Verfassernamens, bei mehreren Titeln desselben Verfassers durch zusätzliche Angabe des Erscheinungsjahres verwiesen. Für die Bearbeitung des Themas in Hinsicht auf den "Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik" stand mir der von I. Heidanann redigierte Kantische Text, der auf den Bogen "Übergang 1" "Übergang 14" und auf den Bogen des "Opus postunum" gefunden werden kann, die Vorredeteile zur Übergangsproblematik enthalten, als noch nicht letztkorrigierte maschinenschriftliche Fassung zur Verfügung. In der Akademieausgabe ist der Text dieser Bogen auf den folgenden Seiten wiedergegeben: AA XXI 174-181, 206-247, 284-289, 512-520, 524-528, 535-612. Bei Zitaten aus diesen Text wird die Seiten-Zeilen-Angabe der AA angegeben. Bei Angleichungen in Flexion, Orthographie und Interpunktion an die moderne Sprache wird der Redaktion von I. Heidemann gefolgt. Für die ständige Wiederkehr der Referenz auf Schriften wurden folgende Abkürzungen eingeführt: Erstschrift
Kantische
= Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte und Beurteilung der Beweise, deren sich Herr von Leibniz und andere Mechaniker in dieser Streitsache bedient haben, nebst einigen vorhergehenden Betrachtungen, welche die Kraft der Körper überhaupt betreffen.
Hinweise zur Einrichtung der Arbeit Prolegomena
Gr.z.M.d.S. M.A.d.NW. Kr.d.r.V. Kr.d.p.V. Kr.d.U. M.d.S. E.E. Streitscnrift
Op.p.
XV
= Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können = Grundlegung zur Metaphysik der Sitten = Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft Kritik der reinen Vernunft Kritik der praktischen Vernunft Kritik der Urteilskraft Metaphysik der Sitten (sogenannte) "Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft" = "Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll" = Opus postumun = = = = =
Am Institut für Kannunikationsforschung und Phonetik liegen die Bände AA I-IX, X1V-XVI1I, XX-XXII1 in imschinenlesbarer Fassung vor. Folgende Zugriffsmoglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung wurden für diese Arbeit genutzt: (a) Stellenindizes zu obigen Bänden: Zu jeder Wortform sind sämtliche Belegstellen in einem Band durch Seiten-Zeilen-Angabe ausgedruckt. (b) Computerprogranm zur Begriffsrecherche: Zu einem zu untersuchenden Begriff, der mittels Stichwörter eingegrenzt wird, wird eine Liste sämtlicher Belegstellen im maschinenlesbaren liant-Korpus mit Kontextangabe (drei Textzeilen oder ein Hauptsatz) ausgegeben. (Für weitere Formen der Informationserschlie&ung im maschinenlesbaren Kant-Korpus vgl. W. Lenders: "Der allgemeine Kant index - Vom Stellenindex zum Informationssystem", Kantstudien 73, 1982, S.440-451). Für terminologische Untersuchungen wurden beide oben beschriebenen Zugriffsarten verwandt. Der Vorteil dieser Methoden besteht darin, daß sich die Interpretation auf das
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Hinweise zur Einrichtung der Arbeit
vollständige Belegstellermaterial zu einem Kantischen Terminus in einem Teil text oder in einer vorab festgelegten Teiltextsequenz im Korpus stützen kann.
EINLEITUNG
In der Vorrede zur 2. Auflage der Kr.d.r.V. wird die Mathematik als Vorbild einer reinen Wissenschaft dargestellt, die im Unterschied zum "bloßen Herumtappen11 der herkönml ichen Metaphysik^ den "sichern Weg"^ zum Erreichen ihrer Erkenntnis schon seit der Zeit der Griechen gefunden hat. Aus der Geometrie wird das Beispiel der Konstruktion eines gleichschenkligen Dreiecks entnonmen, um aufzuzeigen, daß der Geometer nicht aus "bloßen Begriffen", sondern "durch Konstruktion" der Begriffe seine Erkenntnisse erwirbt (Β XI Β XII). Bereits vor dem Erscheinen der 2. Auflage der Kr.d.r.V. untersucht Kant die Bedeutung mathematischer Erkenntnisfortschritte für die Philosophie. Stellvertretend dafür sind unter den sogenannten vorkritischen Schriften der "Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen" (AA II S.165-204) und die Untersuchung "Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Haume" (AA II S.375-383) zu nennen. Eine Zusammenstellung der vorkritischen Schriften, in denen Kant das Verhältnis von Mathematik und Philosophie behandelt, findet man in dem Aufsatz von A. Menzel: "Die Stellung der Mathematik in Kants vorkritischer Philosophie"^. Hierin werden Kants Aussagen über die Mathematik und über mathematische Gegenstände längs der sogenannten vorkritischen Schriften untersucht, und es wird entwickelt, welche Kolle die Mathematik bei der Herausbildung der sogenannten kritischen Philosophie Kants spielt.
1 Β XV. "Das Schlimmste" des Herumtappens war, daß es "unter bloßen Begriffen" stattgefunden hat. 2 Β X. 3 Α. Menzel: 'Die Stellung der Mathematik in Kants vorkritiseher Philosophie", in: Kantstudien 16, 1911, S. 139 - 213.
2
Einlei tung
Im Vernai tnis zur herkömmlichen Metaphysik wird die Geometrie schon in der Dissertation von 1770 als Beleg dafür Herangezogen, daß es deutlicne auf die Sinnlichkeit bezogene Erkenntnis gibt, während intellektuelle Erkenntnis, die auf Begriffen allein beruht, durchaus verworren sein kann: "Possunt autem sensitiva admodum esse distincta et intellectualia maxime confusa. Prius animadvertimus in sensitivae cognitionis prototypo, g e o m e t r i a , posterius in intellectualium omnium organo, m e t a p h y s i c a . . . " (AA II S.394Í'.)4. Das Argiment, daß es deutliche auf die Sinnlichkeit bezogene Erkenntnis gibt, dient zum Nachweis, daß Deutlichkeit und Verworrenheit keine Kriterien der Unterscheidung von sinnlichen und intellektuellen Erkenntnissen sind. Dadurch wird der Standpunkt der Kr.d.r.V., "daß es z w e i Stämme der menschlichen Erkenntnis gebe,. ·., näinl ich S i n n l i c h k e i t und V e r s t a n d " (B 29, Hervorhebung G.B.), vorbereitet. Nach der Veröffentlichung der 1. Auflage der Kr.d.r.V. wird in den Prolegomena das Verhältnis von Mathematik und Philosophie thematisiert: Entgegen der herkömnlichen Metaphysik verfolgt die Transzendentalphilosophie das Ziel einer "künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können" (AA IV S.253). Auf dem Weg zum Erreichen dieses Zieles wird sowohl die Frage "Wie ist reine Mathematik möglich?" als auch die Frage 4
Die Übersetzung folgt K. Reich: "Immanuel Kant: De mundi sensibilis ...", übersetzt und eingeleitet von K. Reich, Hamburg 1958, 2. Aufl. 1960, und W. Weischede 1 : "Immanuel liant: Werkausgabe", Band V, Frankfurt, 1977: "Es können nämlich sinnenhafte Erkenntnisse sehr deutlich und intellektuelle äußerst verworren sein. Ersteres bemerken wir in dem Muster der sinnenhaften Erkenntnis, der Geometrie, letzteres in der Methodenlehre aller intellektuellen Erkenntnisse, der M e t a p h y s i k " (Reich S.27). "Es kann aber das Sinnliche völlig deutlich sein und das Intellektuelle äußerst verworren. Das erstere bemerken wir am Vorbild der sinnlichen Erkenntnis, der
Einleitung
3
"Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich?" gestellt (AA IV S.280). Die Transzendentalphilosophie muß beide Fragen beantworten. Sowohl die Prolegomena als auch die "Kritik der reinen Vernunft" behandeln die Frage nach der Möglichkeit der Mathematik. Für die reine Mathematik wird durch die Prolegomena eine erkenntnistheoretische Begründung gegeben: "Nun sind Kaum und Zeit diejenigen Anschauungen, welche die reine Mathematik allen ihren Erkenntnissen und Urteilen, die zugleich als apodiktisch und notwendig auftreten, zum Grunde legt" (AA IV S. 283). Die sichere iq»uelle mathematischer Erkenntnis, die "alle Täuschung und Irrtum ausschließt" (B 865), ist die reine Anschauung. Mathematik und Philosophie sind in bezug auf Definitionen, Axiome, Demonstrationen und Analogien geschieden^. Wesentliches Merkmal aller dieser Unterscheidungen ist, daß die Synthesis a priori einer mathematischen Erkenntnis schließlich vollständig in reiner Anschauung konstruiert werden kann . Während die Begriffe a priori der Philosophie als g e g e b e n e Begriffe eines Diskurses fähig sind, werden die Begriffe a priori der Mathematik konstruiert, d.h. sie sind ursprünglich g e m a c h t e Begriffe^. A n Beispiel der Darstellung eines Dreiecks wird das Verfahren der geometrischen Konstruktion beschrieben, das in der reinen Anschauung das Mannigfaltige, das zum Schema des geometrischen Begriffs gehört, hinzusetzt?. In den
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G e o m e t r i e , das letztere an dem Werkzeug zu allen Verstandeserkenntnissen, der M e t a p h y s i k " (Weischedel S.37). Vgl. Β 754-763, Β 222. Vgl. Β 758. Vgl. Β 746. Von den 20 Belegstellen zum Begriff "Geometrie" der 2. Auflage der Kr.d.r.V. (in Β lb, Β 40, Β 41 (2), Β 64 (2), Β 65, Β 120, Β 155 Aran. (2), Β 162, Β 204, Β 205, Β 206, Β 207, Β 621, Β 745 (2), Β 764, Β 803 (in Klammern ist das mehrfache Auftreten von Belegstellen spezifiziert)) sind 7 Belegstellen, d.h. ein Drittel gegenüber der 1. Auflage neu hinzugekommen. Dieses sind die Belegstellen in Β 16, Β 40, Β 41, Β 155 Anm., Β 162.
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Einleitung
Ausführungen zu den "Axiomen der Anschauung" in der "Kritik der reinen Vernunft" ist das Prinzip der Möglichkeit der Anwendung von Mathematik auf Erscheinungen als "transzendentaler Grundsatz" begründet (B 202 - 206). Erst die strikte Trennung der transzendentalen Methodenlehre der Kr.d.r.V., die mathematische Vernunfterkenntnis durch das Merkmal der Konstruktion in reiner Anschauung vor der philosophischen Vernunfterkenntnis auszeichnet**( schafft eine wissenschaftstheoretisch klare Unterscheidung von Mathematik und Philosophie. In der Streitschrift gegen Eberhard wird der Begriff der Konstruktion anhand von Gegenständen der analytischen Geometrie (Kegelschnitten) erörtert. Und Kant widerlegt im Anschlug an die Schrift des Archimedes zur Kreismessung9 die Position Eberhards, der die Notwendigkeit negiert, daß "wir zu der objektiven Heal i tat des Begriffs immer einer Anschauung bedürfen" (AA VIII S. 211). Die Streitschrift gegen Eberhard und die "Ausgleichung eines auf Mi livers t and beruhenden mathematischen Streits" CAA VIII S.407-410) sind Belege dafür, daß Kant in den Schriften, die nach der 2. Auflage der Kr.d.r.V. erschienen sind, zur Erläuterung der Position der Transzendentalphilosophie besondere Aspekte des Verhältnisses von Mathematik und Philosophie auf der 8 9
Vgl. Β 741. "Wenn nun A r c h i m e d e s ein S e c h s - u n d - N e u n z i g e c k im den Zirkel und auch ein dergleiches in demselben beschrieb, um, daß und wie viel der Zirkel kleiner als das erste und größer als das zweite, zu beweisen; legte er da seinem Begriffe von dem genannten regulären Vieleck eine Anschauung unter, oder nicht?" (AAVIII S.212). Archimedes konstruierte in der Schrift "Kreismessung" ein regelmäßiges 96-Eck, um die Behauptung zu beweisen: "Der Umfang eines jeden Kreises ist dreimal so groß als der Durchmesser und noch um etwas größer, nämlich um weniger als ein Siebentel, aber un mehr als zehn Einundsiebenzigstel des Durchmessers" (Archimedes S.371). Archimedes: "Kreismessung", übersetzt von F. Kudio im Anhang von: Archimedes: "Werke", übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Arthur Czwalina, Darmstadt, 1983.
Einleitung
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Grundlage der transzendentalen Ästhetik und der transzendentalen Methodenlehre untersucht. Die Mathematik hat Bedeutung für den Argumentât ions gang der Kritik der reinen Vernunft: Der Nachweis der Aussage "Ι η allen theoretischen Wissenschaften der Vernunft sind synthetische Urteile a priori als P r i n z i p i e n e n t h a l t e n " , beginnt mit der Mathematik: "Mathematische Urteile sind insgesamt synthetisch" (B 14). Die reine Mathematik ist "ein glänzendes Beispiel" einer Wissenschaft, die "unabhängig von der Erfahrung" (B 8) die Menge ihrer Erkenntnisse a priori fortschreitend erweitert. In der Auseinandersetzung der Transzendentalphilosophie mit dem Standpunkt des Bipirismus, der insbesondere durch Locke und Hume repräsentiert wird, gehört die reine Mathematik zum "Faktum", mittels dessen die Möglichkeit einer empirischen Deduktion der Begriffe a priori, wie sie van Bnpirismus vertreten wird, widerlegt wird: "Die e m p i r i s c h e Ableitung aber, worauf beide verfielen, läßt sich mit der Wirklichkeit der wissenschaftlichen Erkenntnisse a priori, die wir haben, nämlich der r e i n e n Mathemat i k und a l l g e m e i n e n N a t u r w i s s e n s c h a f t , nicht vereinigen, und wird also durch das Faktun widerlegt" (B 127 - 128). Als ein "Faktum", das als "Vernunfterkenntnis" von der Philosophie klar getrennt ist, hat die reine Mathematik Bedeutung für den Argumentationsgang der Kritik der reinen Vernunft. Vom Standpunkt der Kr.d.r.V. aus betrachtet, ninmt innerhalb der reinen Mathematik die Geometrie eine besondere Stellung ein: Für die Geometrie wird als reine mathematische Teildisziplin durch eine "transzendentale Erörterung" der Nachweis der Möglichkeit "als einer synthetischen Erkenntnis a priori" geführt. Kants Dissertation von 1770 nennt drei reine mathematische Teildisziplinen (Geometrie, reine Mechanik, Arithmetik), von diesen tritt in der transzendentalen Ästhetik der 2. Auflage der Kr.d.r.V. nur die Geometrie auf. Zwar wird in der "transzendentalen
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Einleitung
Erörterung des Begriffs der Zeit" eine "allgemeine Bewegungslehre" als Beleg für "die Möglichkeit so vieler synthetischer Erkenntnis a priori" genannt (B 49). Die "allgemeine Bewegungslehre" kann aber nicht mit der Phoronomie gleichgesetzt werden, die eine "reine Größenlehre der Bewegung" ist (AA IV S.495). Die Argumentation der transzendentalen Ästhetik läßt die wissenschaftssystematische Frage offen, ob die "allgemeine Bewegungslehre" der reinen ivlathematik oder der Naturwissenschaft zuzurechnen ist. Die herausgehobene Kolle, die die Geometrie unter den mathematischen Teildisziplinen für den Argumentationsgang der Kr.d.r.V. spielt, wird in der "transzendentalen Ästhetik" bestätigt: Für die synthetischen Erkenntnisse a priori, die aus den Quellen der reinen Sinnlichkeit "geschöpft werden können", sind "vornehmlich" die Erkenntnisse genannt, die die reine Mathematik "vom Räume und dessen Verhältnissen" gewinnt (B 55). Entsprechendes wird auch in den "Allgemeinen Anmerkungen zur Transzendentalen Ästhetik" in Ansehung der mathematischen Erkenntnisse van Kaum ausgeführt, welcher wegen der zahlreichen "apodiktischen und synthetischen Sätze" der Geometrie "vorzüglich hier zum Beispiel" genommen wird (B 64). Obgleich die Geometrie seitens der Philosophie keinen "Beglaubigungsschein" braucht, um reine synthetische Erkenntnisse a priori vom Kaum und seinen Verhältnissen zu gewinnen, formuliert die "transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe" zunächst die Frage, ob es Erscheinungen gibt, auf die geometrische Sätze ihrer Form nach angewandt werden können: Für die durch mathematische Sätze bestinmte Form der Sinnlichkeit wird problematisiert, "ob es Dinge geben könne, die in dieser Form angeschaut werden müssen, bleibt doch dabei noch unausganacht" (B 147). Aus dieser Problemstellung kann für die mathematischen Begriffe eine Aussage gefolgert werden, inwieweit sie Erkenntnisse von wirklichen Gegenständen sind: "Folglich sind alle mathematischen Begriffe für sich nicht Erkenntnisse; außer, so fern man voraussetzt, daß es Dinge gibt, die sich
Einleitung
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nur der Form jener reinen sinnlichen Anschauung gemäß uns darstellen lassen" (B 147). Die synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes und insbesondere unter ihnen die von Kant so genannten mathematischen Grundsätze regeln, wie es in ihrer "systematischen Vorstellung" ausgeführt ist, die Anwendung mathematischer Sätze (z.B. Sätze der Geometrie) auf Erscheinungen. Bei der Erörterung der "Axiomen der Anschauung" nennt Kant ihr Prinzip einen "transzendentalen Grundsatz der Mathematik der Erscheinungen". Zwar ist mit diesem Grundsatz die Anwendbarkeit der Mathematik auf Gegenstände der Erfahrung prinzipiell gesichert, aber es besteht die Frage, ob damit die Anwendungsmöglichkeiten der Mathematik hinsichtlich der Gegenstände der Wahrnehmung zureichend beschrieben sind. Bei der Frage der Anwendung von Mathematik auf Erscheinungen gelangt man über die unproblematische Anwendung der Mathematik auf extensive Größen zu der Frage, wie intensive Größen "nach Regeln einer mathematischen Synthesis erzeugt werden können" (B 221)10. Obgleich deutlich in der transzendentalen Methodenlehre der Kr.d.r.V. ausgeführt wird, daß diejenigen, die den Unterschied von Quantität und Qualität zum Unt ersehe idungsgrund von Mathematik und Philosophie machen, "die Wirkung für die Ursache genommen" haben (B 742), gibt es auch in der neueren Literatur der Kant-Forschung Ansätze, die Matnematik ausschließlich unter dem Blickwinkel der Kategorien der Quantität zu betrachten. So charakterisiert EnskatH die Kategorien als 10 In der Arbeit von Gernot Böhme: "über Kants Unt ersehe i dung von extensiven und intensiven Größen" (Kantstudien 65 (1974)) wird den Ansätzen zur mathematisch angebbaren Unterscheidung beider Größenarten in der Kr.d.r.V. nachgegangen (S.249ff.). Dabei wird aber hinsichtlich des mathematischen Gehaltes nicht darüber hinausgegangen, daß intensive Größen positive lineare Transformationen zulassen (S.253). 11 Vgl. Kainer Enskat: "Kants Theorie des geometrischen Gegenstandes - Untersuchungen über die Voraussetzungen der
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Einleitung
kontextinvariante Handlungsorientierungen und weist dann die Kategorien der Quantität als notwendig und Hinreichend für die Besenreibung geometrischer Gegenstände aus: "Diejenigen unter diesen Handlungsorientierungen, die sich auf diese Weise als geometrische Gegenstände auffassen lassen, gehören ausnahmslos in die Kategorien der Quantität. Ungekehrt lassen sich mit Hilfe der von Kant ermittelten Quantitätskategorien die Gegenstände der euklidischen Geometrie erschöpfend beschreiben" (Enskat S. 302). Entgegen diesem Ansatz soll gefragt werden, ob der Satz, daß "nur der Begriff von Größen sich konstruieren läßt" (B 742), nur auf extensive Größen bezogen ist oder auch intensive Größen einschließt. Diese Fragestellung kann auch anders formuliert werden: ob mit dem Faktum, daß die Form der mathematischen Erkenntnis "lediglich auf Quanta gehen kann", die Beschreibung des Inhalts mathematischer Erkenntnis hinreichend bestimmt ist. Eine Begründung für diese Fragestellung liegt darin, daß in der bisherigen Kantforschung zwar der Begriff der intensiven Größen im Zusammenhang mit den Qualitätskategorien untersucht wird (vgl. A. Maier: "Kants Qualitätskategorien"12)( ^ ^ a b e r Mathematisierbarkeit intensiver Größen xonter dem Gesichtspunkt der Kontinuität, wie dieser in der "systematischen Vorstellung" der synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes ausgeführt ist, nicht eigenständig thematisiert ist, obwohl Kant selber die Mathematisierbarkeit intensiver Größen die "zweite Anwendung der Mathematik" Entdeckbarkeit geometrischer Gegenstände bei Kant" (Berlin, New York 1978), S.301f.. Zur Enskat entgegenstehenden Position vgl. Ernst Cassirer: "Kant und die moderne Mathematik" (Kantstudien 12 (1907) S.l-49): "Die modernen Mannigfaltigkeitsuntersuchungen, sowie die Gruppentheorie lassen klar erkennen, daß es dem wahren Charakter der Mathematik widerstreitet, wenn man sie auf das Gebiet der Q u a n t i t ä t einzuschränken sucht" (S.8). 12 Anneliese Maier: "Kants Qualitätskategorien", KantstudienErgänzungshefte Nr.65, Berlin 1931). Die Autorin geht auf den Begriff der intensiven Größe ausführlich ein (Z.B.: 4. Kapitel: "Der Begriff der intensiven Größe bei Wolff und Baumgarten und in Kants vorkritischen Schriften" S.34 -
Einleitung
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nennt: "Weswegen der Verstand sogar Empfindungen, we lene die eigentliche Qualität der empirischen Vorstellungen (Erscheinungen) ausmachen, antizipieren kann vermittelst des Grundsatzes, daß sie alle insgesamt, mithin das Reale aller Erscheiniang Grade habe, welches die zweite Anwendung der Mathematik (mathesis intensorum) auf Naturwissenschaft ist" (AA IV S.3U7). Die "Axiomen der Anschauung" und die "Antizipationen der Wahrnehmung" formulieren die Bedingungen der Möglichkeit, "die Mathematik auf Erscheinungen anzuwenden" (B 221). Mit den M.A.d.NW. tritt ein neuer Aspekt hinzu: Es geht nicht mehr nur darum, die Anwendungsmöglichkeit der Mathematik für Erscheinungen, die in einer beliebigen Anschauung gegeben sind, zu untersuchen, sondern auch darum, die Bestiinnungsfaktoren aufzustellen, die zur Möglichkeit der Anwendung von Mathematik auf Erscheinungen, die in einer äußeren Anschauung gegeben sind, gehören. Wenn im folgenden der Terminus "Naturwissenschaft" verwandt wird, dann wird gemäß der "Vorrede" der M.A.d.NW. dieser Begriff in engerer Bedeutung als die Wissenschaft von der "ausgedehnten Natur" verstanden (AA IV S.467f.): Die Erscheinungen, die von der Naturwissenschaft bestimmt werden, sind der Form der Anschauung nach im Raum gegeben. Kant nennt die besondere Naturlehre, die den Erscheinungen des äußeren Sinnes zugewandt ist, "Körperlehre" (AA IV S.468). Da die Naturwissenschaft aber auch zur Bestimmung der Ausbreitung von Licht- oder Wärmestrahlungen beiträgt, die keine Körpergestalt haben, aber ausgedehnt sind, ist möglicherweise der Titel "Körperlehre" mißverständlich, weil er die Betrachtung auf Erscheinungen lenkt, die bereits in körperlicher Gestalt gegeben sind. Die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft beziehen sich auf Erscheinungen, die in einer äußeren 38). Aber sie bezieht den Mathematisierbarkei tsaspekt intensiver Größen nicht ein, obgleich schon bei Baumgarten von "prima matheseos intensorum principia" die Rede ist (AA XVII S.61).
lü
Einleitung
Anschauung vorliegen und "von denen ein empirischer Begriff", der "empirische Begriff einer Materie" gegeben ist (AA IV S.470). Die Anwendung der Mathematik im Feld der Naturwissenschaft besteht in der Konstruktion von naturwissenschaftlichen Begriffen als Darstellung "in einer Anschauung a priori" (AA IV S.469). Die Philosophie bereitet diese Anwendung der Mathematik vor, indem sie "eine vollständige Zergliederung des Begriffs von einer Materie überhaupt" (AA IV S.472) voranstellt und dadurch die konstruierbaren Bestandteile des Materiebegriffes von den Bestandteilen unterscheidet, die nur das Dasein der Materie betreffen und nicht konstruierbar sind. Die "reine Philosophie" (AA IV S.472), die in den M.A.d.NW. als Metaphysik der Erscheinungen des äußeren Sinnes den Materiebegriff vollständig zergliedert, geht der Anwendung der Mathematik im Feld der Naturwissenschaft voran. Die Philosophie benutzt in den M.A.d.NW geometrische Konstrukte als Instrumente (z.B. Darstellungen räumlicher Verhältnisse wie Richtungen, Orientierungen, Bewegungslinien), um das, "was sie im abgesonderten (obzwar an sich aipirischen) Begriffe selbst antrifft, in Beziehung auf die reinen Anschauungen im Räume und der Zeit" zu setzen (AA IV S.472). A m Ende der "Vorrede" der M.A.d.NW. begründet Kant die instrumentale Verwendung der Mathematik und insbesondere der Geometrie in den M.A.d.NW. damit, "da& ein solches System deren wohl fähig sei und diese Vollkommenheit auch mit der Zeit von geschickterer Hand wohl erlangen könne" (AA IV S.478). Die Aufgliederung des Verhältnisses von Geometrie und Philosophie als Grundlegung, die der Anwendung von Geometrie im Felde der Naturwissenschaft vorangeht, und als Instrument, als das die Geometrie für die metaphysische Zergliederung des Materiebegriffes verwandt wird, macht Einzeluntersuchungen zur philosophischen Bestimmung des Instrumentalcharakters der Mathematik und zum Problem der Konstruierbarke it von Begriffen a priori der Naturforschung nötig. Da nach 1787 von Kant kein Werk zur philosophischen Grundlegung der Naturforschung und keine Arbeit zum Instrumentalcharakter der
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Mathematik veröffentlicht wurde, ist man veranlagt, zur weiteren Untersuchung des Verhältnisses von Geometrie und Philosophie Ausarbeitungen Kants aus dem "Handschriftlichen Nach1aß" heranzuziehen. Stofflicher Schwerpunkt der Untersuchung ist das Op.p.. Das 1. Konvolut des Op.p. enthält Ausarbeitungen zur Frage, wie die Transzendentalphilosophie die Mathematik als Instrument gebrauchen kann. Von 150 Belegstellen zu dem Terminus Mathematik im ersten Band des Op.p. treten 100 im 1. Konvolut auf. Der Terminus wird dort in Reflexionen zum Verhältnis der Prinzipien der Philosophie zu Prinzipien der Mathematik und in Reflexionen zum Instrumentalcharakter der Mathematik verwandt. Weitere 45 Belegstellen zur Mathematik treten auf den Bogen des 2. und 5. Konvoluts auf, die im Zusanmenhang von Erörterungen zur philosophischen Grundlegung der Naturwissenschaft stehen. Von 90 Belegstellen zum Terminus Mathematik entfallen im zweiten Band des Op.p. 31 Belegstellen auf das 7. Konvolut, in dem ähnlich wie im 1. Konvolut der Instrumentalcharakter der Mathematik thematisiert wird. Ein weiterer größerer Komplex von 42 Belegstellen tritt auf den Bogen des 11. Konvoluts, insbesondere auf den Bogen "U" - "Z", auf, in denen zur Beantwortung der Fragen "Was ist Physik?", "Wie geschieht der Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik?" (AA XXII 48726, 49216) die Verwendung der Mathematik zur Aufstellung von Bewegungsgesetzen von der Grundlegung der Naturwissenschaft durch die Philosophie unterschieden wird^S. £>je F r a g e der Anwendung der Mathematik im Felde der Naturwissenschaft wird
13 Zur Übersicht wird die Verteilung der Belegstellenhäufigkeit zum Terminus Mathematik längs der Konvolute S 4 5 dag, e s klar sei, "daß das philosophische Prinzip dem mathematischen bei der Naturwissenschaftsbegründung zugrunde gelegt werden muß" (Gloy (1976) S.179). Hieraus leitet sie im Bereich der Naturwissenschaft für die Konstruktionen, die ausschließlich als Resultate der Mathematik angesehen werden, das folgende ab: "Erst auf die philosophische Grundlegung folgt die mathematische Ausarbeitung der Wissenschaft, in der die bereitgestellten Daseinskonstituentien in der reinen Anschauung konstruiert werden, wobei jetzt allerdings die Konstruktion realitätsbezogen verläuft" (Gloy (1976) S. 179). Faßt man Daseinskonstituentien als Bestimnungen auf, die erläutern, was am Dasein einer äußeren Naturerscheinung konstitutiv ist, befindet man sich im Bestimnungsbereich der konstitutiven Grundsätze des reinen Verstandes^. Die dazu gehörenden "Axiome der Anschauung" und "Antizipationen der Wahrnehmung" bestimmen ihrerseits Bedingungen der Möglichkeit der Anwendung der Mathematik auf extensive und intensive Größen. Diese Überlegung sollte dazu motivieren, weiterzufragen, nicht dabei stehenzubleiben, daß einer mathematischen Ausarbeitung einer Naturwissenschaft die philosophische Grundlegung (dieser Naturwissenschaft) vorangehen muß. Es gilt, danach zu fragen, ob die Philosophie, wenn sie "die Beziehung auf die reinen Anschauungen im Räume und der Zeit" (AA IV S. 472), die Formen der Verhältnisse des Beweglichen im Räume und die Formen der Verhältnisse bewegender Kräfte der Materie untersucht, sich geometrischer Konstruktionen als Instrument bedient, die diesen Verhältnissen als Bestimmungen anhängen. Durch die Untersuchung der Formen der Verhältnisse der bewegenden Kräfte der Materie, wie sie im "Übergang zur
29 Der Paragraph von Gloy, in dem auf das Op.p. referiert wird, trägt die Überschrift "Abgrenzung der eigentlichen Naturwissenschaft von der uneigentlichen und der Naturlehre" (Gloy (1976) S.175ff.). 30 Zum Begriff der konstitutiven bzw. regulativen Grundsätze des reinen Verstandes vgl. Β 221 - 223.
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Physik" beschrieben sind, soll die Frage ihrer Konstruierbarkeit beantwortet werden. Insbesondere auch zur Vorbereitung dieser Untersuchung geht meine Arbeit folgenden allgemeinen Fragestellungen zum Verhältnis von Geometrie und Philosophie nach: Welche Bestimmungen treten zu denen der Kr.d.r.V. hinzu und haben erläuternden bzw. bestätigenden Charakter? Hierbei ist insbesondere zu beachten, daß neben dem Aspekt der Trennung im Verhältnis von Geometrie und Philosophie, der Aspekt des Gebrauches der Geometrie als Instrument der Philosophie besteht. Welche neuen Bestimnungen in den jeweiligen Bezügen von Geometrie und Philosophie zum System der reinen Naturlehre kaimen über die Kr.d.r.V. und die M.A.d.NW. hinzu und gestatten weitergehende Aussagen zur Frage der Anwendung der Mathematik im Felde der Naturforschung? Methodisch werden Best imnungen gleicher Thematik des Üp.p. entsprechenden Bestimnungen der 2. Auflage der Kr.d.r.V. und gegebenenfalls solchen der M.A.d.NW. entgegengestellt, wobei der Vergleich auf der Grundlage der terminologischen Systematik der Kr.d.r.V. vollzogen wird. Belegstellen aus den sogenannten gedruckten Schriften nach 1787 und den "Handschriftlichen Nach1aß" Kants werden dann herangezogen, wenn terminologische Probleme anhand des beschriebenen Vergleiches allein nicht aufzulösen waren und wenn in den Belegstellen Aussagen auffindbar waren, die gleichsam als "vermittelnde Vorstellungen" dienten, welche als Markierungen eines Entwicklungsweges bestimmter Aussagen der Kr.d.r.V. zum Op.p. gedeutet werden konnten.
Die Untersuchung des 1. Kapitels geht van Konstruktionsbegriff der transzendentalen Methodenlehre aus. Hinsichtlich des Disziplin-Hauptstücks decken sich die Aussagen der Kr.d.r.V. und die des 1. Konvolutes des Op.p.. Diese Kongruenz ist deshalb bemerkenswert, weil dieses Konvolut für gewöhnlich als das Reservoir von "Seni lia" behandelt wird und erst dann als Sanmlung von Reflexionen zum
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Begriff der Transzendentalphilosopnie betracntet wird^l. Die Transzendentalphi losophie wird als eine synthetische Erkenntnis aus Begriffen und somit als hinreichend von der Mathematik unterschieden angesehen. Der Konstruktionsbegriff ist das Unterscheidungskriterium^2. Anders als Adickes, der die Untersuchung der Kantischen Bemerkungen zu Newtons Titel, deren Auftreten er verstärkt im Zusammenhang mit Ausarbeitungen zur "Topik der bewegenden Kräfte" und mit Überlegungen zum Begriff der Transzendentalphilosophie feststellte, zu Datierungszwecken vorschlugt verfolgt die vorliegende Arbeit bei der Untersuchung der Belegstellen zu Newtons Titel in Hinblick auf den Begriff der Transzendentalphilosophie eine syst aliati sehe Absicht: In der Untersuchung des Problems, das nach Kant im Titel "philosophische Anfangsgründe für die Mathematik" (AA XXI 13917) enthalten ist und an die Bemerkungen zu Newtons Titel im 1. Konvolut anknüpft, wird eine transzendentalphilosophische Problementwicklung dargelegt, die die Trennung, die die Vorrede der M.A.d.NW. 31 Zur Darlegung, daß das 1. Konvolut nach Ansicht von Adickes "Senilia" enthält, vgl. E. Adickes: "Kants Opus postumum", Kantstudien - Ergänzungshefte Nr.50, Berlin, 1920, S.719. Das Problem einer Auflistung sogenannter "Senilia" ist, daß sie von der philosophischen Diskussion des Inhalts des l.Konvoluts ablenkt und den Blick auf Informationen des Textes verstellt (vgl. auch Lehmann in AA XXII S.755, S.787). 32 Vgl. AA XXI 07518. 33 "Erst lange nach meinem Hamburger Aufenthalt wurde mir wahrscheinlich, daß auch die Art, wie Kant sich auf Newton und sein Werk: Philosophiae naturalis principia mathematica bezieht bzw. gegen diesen Titel polemisiert, als Kriterium für die Datierung benutzt werden kann. Da ich aber den unveröffentlichten Teil des Manuskripts nicht noch einmal daraufhin durchsehn konnte, miß ich es bei dieser Andeutung bewenden lassen und verweise nur noch auf die Paragraphen 73, 259, 314" (Adickes (1920) S.104, Fußnote 1)). Der Paragraph 73 gehört zur Erörterung der "Topik der bewegenden Kräfte" von Adickes. Die Paragraphen 259, 314 handeln van VII. und I. Konvolut.
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hinsichtlich Mathematik und Philosophie macht^4 ) nicht auf sich beruhen lassen will, sondern zum Ausgangspunkt der Fragestellung macht. Es wird die Frage diskutiert, auf welcher Ebene die systematische Einheit der Bedingungen der Möglichkeit von Mathematik und Philosophie zustande gebracht werden kann. Im Unterschied zum Begriff der Konstruktion, der die mathematische von der philosophischen Erkenntnis trennt, ist der Begriff des Instruments im Zusammenhang mit der Mathematik auf die Verwendung mathematischer Erkenntnis zu bestiamten Zwecken bezogen. Während der ähnliche Terminus "Werkzeug" durchgängig in allen Phasen der gedruckten Schriften Kants aufgefunden werden kann, tritt der Terminus "Instrument", abgesehen von der Schrift "Von der Unrechtmäliigkeit des Büchernachdrucks" (1784), in der dieser Terminus noch für empirisch gegebene Gegenstände gebraucht wird, erst in den gedruckten Schriften nach dem Erscheinen der 2. Auflage der Kr.d.r.V. auf^S. Die Ausführung zum Instrumentalcharakter der Mathematik, der in den Schriften Kants nach 1787 stärker betont wird und implizit schon in der Beschreibung des "regulativen Gebrauches der Ideen der reinen Vernunft" in der Kr.d.r.V. angesprochen wird^ß, wird im 1. Konvolut des Op.p. weiter fortgesetzt. Dabei wird im Unterschied zu den gedruckten Schriften allgemein auch skizziert, wie die Transzendentalphilosophie die Mathematik als Instrument nutzt37 und die Mathematik " I n s t r u m e n t für die Naturphilosophie zum System" ist (AA XXI 13207). Durch die Reflexionen des 1. Konvoluts werden nicht nur allgemeine 34 Vgl. AA IV 47236-47314. 35 Diese Aussagen über das Auftreten der Termini "Instrument" und "Werkzeug" ergeben sich auf Grund von Computersuchläufen zu diesen Termini. 36 Zum Beispiel wird die Geometrie mit ihrer Lehre der stetigen Deformation von Kreisen in Ellipsen instrumental zur Erläuterung der Prinzipien Mannigfaltigkeit, Verwandtschaft und Einheit in bezug auf die Menge der Planetenbannen unseres Sonnensystems benutzt (vgl. Β 690 Β 692). 37 Vgl. z.B. AA XXI 073001.
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Bestürmungen zum Zusanmenliang von Mat fiema t ik und Transzendentalphilosophie vorgetragen, sondern auch verallgemeinerte Vorstellungen dargelegt, die aus dem Zusammenwirken von Philosophie und Mathematik entspringen, das auf den Zweck der empirischen Naturforschung in einem Syst en ausgerichtet ist. Das Zusammenwirken zu diesem Zweck verläßt die Sphäre des von aller Naturwissenschaft abstrahierten Verhältnisses von Mathematik und Transzendentalphilosophie und weist auf das Verhältnis von Mathematik und Philosophie im Felde der Naturforschung hin. Für die Untersuchung dieses Verhältnisses ist eine genauere Betrachtung von Quantität und Qualität in Hinblick auf den Gegenstandsbereich von Mathematik und Philosophie erforderlich, welche im folgenden Kapitel erarbeitet wird. Das 2. Kapitel behandelt Probleme der Konstruierbarkeit intensiver Größen. Dabei geht es darum, die erkenntnistheoretischen Bedingungen für die Anwendung der Mathematik, die aus der Darlegung zum Prinzip der Antizipationen der Wahrnehmung folgen, aufzuzeigen und die mathematische Relevanz der von Kant als matnematisch bezeichneten synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes hervorzuheben. Hierbei wird herausgearbeitet, daß das Konzept der kontinuierlichen Größen, das in der "Analytik der Grundsätze" der Kr.d.r.V. vorgetragen wird, die Mathematisierbarkeit intensiver Größen durch stetige Funktionen ermöglicht. Im Zusanmenhang mit der mathematischen Behandlung von Käumen verschiedener Qualität weist Kant auch auf gemeinsame Fragestellungen von Philosophie und Mathematik hin: "Übrigens handelt die Philosophie eben sowohl von Größen, als die Mathematik, z.B. von der Totalität, der Unendlichkeit usw." (B 743). Ein Beispiel für die philosophische Behandlung des Unendlichkeitsbegriffes, die Schnittstellen zur mathematischen Behandlung desselben hat, ist die Unterscheidung zwischen dem Progressus in indéfini tum und den Progressus in infini tun, die vor der Auflösung der mathematisch transzendentalen Ideen der Antinanienlehre der
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Kr.d.r.V. gegeben wird^S. i n der späteren Phase der Auseinandersetzung mit den Autoren des "Philosophisehen Magazins", nach dem Erscheinen der Streitschrift gegen Eberhard, die wichtige Hinweise für den Konstruktionsbegriff und den Instrumentalcharakter der Mathematik enthielt, übermittelte Kant mehrmals Katschläge an Johann Schultz, der mehrere mathematische Arbeiten verfaßte. Eine dieser Arbeiten ist mit dem Titöl "Versuch einer genauen Theorie des Unendlichen" überschrieben und unterninmt den Versuch der Bestimmung des geometrischen Begriffs des Unendlichen. Als Material für den zu diesem Zeitpunkt in Arbeit befindlichen zweiten Teil der "Prüfung der Kantischen Kritik der reinen Vernunft"39 übersendet Kant am 2.8.1790 "einigen neuen Stoff", um Schultz' geometrische Theorie des Unendlichen" mit dem, "was die Kritik in dem Stücke von der Antinomie in Ansehung des Unendlichen im Räume sagt, in Übereinstimmung zu bringen" (AA XI S. 184). Dieser Stoff zum transzendentalen Begriff der Unendlichkeit wird approximativ durch Schultz' "Prüfung ..." und den Text "Über Kastners Abhandlungen"^ erfaßt. Mit dieser Ausarbeitung aus dem Jahre 1790 erfährt der transzendentale Begriff der Unendlichkeit Ergänzungen, die die Zusaiimenstimnung dieses Begriffes der Antinomienlehre mit der Vorstellung des Kaumes "als eine unendliche g e g e b e n e Größe" (B 39) verdeutlichen. Die Überlegung, Zusanmenhänge zwischen Kants Konzept der intensiven Größe und der Infinitesimalrechnung aufzuzeigen, steht im Gegensatz zu Auffassungen über Kants Verständnis der mathematischen Analysis, die beispielsweise in einer neueren "Geschichte der mechanischen Prinzipien"41 v o n Szabo
38 Vgl. Β 538. 39 Johann Schultz: "Prüfung der Kantischen Kritik der reinen Vernunft". 2 Teile, Königsberg 1789 und 1792. 40 AA XX S.410-423. 41 Istvan Szabo: "Geschichte der mechanischen Prinzipien und ihrer wichtigsten Anwendungen", zweite neubearbeitete und erweiterte Auflage, Basel, Boston, Stuttgart 1979.
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folgendermaßen formuliert wird: "Denn die Schwelle der Analysis hat er nie überschritten, das heißt die Beherrschung des einfachsten infinitesimalen Kalküls blieb ihm versagt" (Szabo S. 75). Szabo referiert auf Fink 4 2, aber diese Referenz ist kein Beleg, sondern weist Szabos Aussage als Überspitzung aus, Fink schreibt nämlich viel vorsichtiger: "Wenn wir endlich nach diesem allgemeinen Unriß über die einzelnen mathematischen Dinge, die Kant besprochen hat, der Frage näher treten, wie Weit Kant es eigentlich in der Mathematik gebracht hatte, so müssen wir freilich gestehen, daß er in das Gebiet der höheren Mathematik nicht allzuweit eingedrungen zu sein scheint. Es findet sich beispielsweise nirgends bei ihm eine Erwähnung des Integrals und selbst das Differential wird kaum genannt" (Fink S. 45). Solange man sich in der Methode auf die Recherche nach dem Wort "Differential" und nach dem Integralzeichen einschränkt und die Untersuchung auf die "gedruckten" Werke Kants beschränkt, kann man möglicherweise Finks Vermutung zustinmen. Geht man aber über diese Methode hinaus und untersucht Kantische Schriften auf Hinweise, die einen sachlichen Zusairmenhang zur Infinitesimalrechnung dokumentierten, ohne möglicherweise Vokabeln wie "Integral" oder wohldefinierte moderne mathematische Zeichen wie "dx" zu benutzen, kann man Verweise auf die zeitgenössische Lehre der Infinitesimalrechnung finden 43 . Die Dokumentation solcher Zusanmenhänge könnte im Kontext einer mathematisch-historischen Arbeit zur Lehre der Infinitesimalrechung im 18. Jahrhundert, die nicht Intention meiner Untersuchung ist, Grund sein, Finks Schein von "Kants Kenntnissen in der Mathematik" 44 a i s Irrlicht zu betrachten, ohne die systematischen Teile seiner Arbeit zum Verhältnis
42 Elias Fink: "Kant als Mathematiker", Dissertation, Frankfurt a.M., 1889. 43 Als Beispiele könnten Universitätslehrbücher der Mathematik aus dem 18. Jahrhundert, wie die von Euler, Kästner und Vfolff dienen, die sich unter Kants Büchern befanden (vgl. Warda S.38f.). 44 Vgl. Fink S.3.
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von Mathematik und Philosophie bei Kant grundsätzlich in Frage stellen zu wollen. Fink gliedert seine Arbeit in drei "Hauptabschnitte": zum Unterschied von mathematischer und philosophischer Erkenntnisart, zur Evidenz mathematischer Erkenntnis und zu den von Kant verwandten "allgemeinen mathematischen Begriffen", "deren genaue Fassung oft Schwierigkeiten bietet" (Fink, S.3). Danach folgt ein "Überblick" über "Kants Kenntnisse in der Mathematik" (Fink, S.3), auf den Szabo Bezug ninmt. Wäre Szabo in dem ganzen Abschnitt, den er Kants Erstschrift widmet^ der Darstellung der mathematischen Argumente, die Kant dort selber gibt, statt der Meinung von Fink und Adickes^ß über Kant als Mathematiker gefolgt, hätte er bemerken können, daß Kant die Methode der Indivisibeln verwendet, die auf Cavalieri (1598-1647) zurückgeht und die ein wichtiger Schritt zur Herausbildung der Integralrechnving war, in dem sie eine geometrische Vorstellung "fließender Größen" gab^. Wie es in den Prolegomena vorgetragen wird, schließen Überlegungen zur Beantwortung der Frage "Wie ist reine Mathematik möglich?" nicht nur Aspekte zur Grundlegung von Geometrie und Arithmetik, sondern auch zur Grundlegung der mathematischen Analysis ein^ö. Innerhalb der Menge der kontinuierlichen Größen a priori werden in den Ausführungen zum Prinzip der Antizipationen der
45 Vgl. Szabo: "Irimanuel Kants Streitschrift 'Von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte'" (Szabo S.75-79). 46 Szabo ninmt Bezug auf Erich Adickes: "Kant als Naturforscher", Berlin 1924. Adickes diskutiert dort in der Einleitung Beispiele zur Mathematik aus Kants "Handschriftlichen Nachlaß" (AA XIV S.3-61). 47 Vgl. AA I S.119. Zur Holle der Indivisibelnmethode bei der Herausbildung der Integralrechnung vgl. Wussing (1979) S. 168-171. In der AA ist verwiesen auf Cavai ieris: "Geometria indivisibilibus continuorum quadam rat ione promota", Bononiae 1635. (AA I S.527). 48 Vgl. AA IV S.276 Arm..
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Wahrnehmung die fließenden Größen besonders gekennzeichnet^. In dieser Arbeit wird das Vernaitnis, das zwischen dem Kantischen Konzept der fließenden Größe und dem Newtonschen Konzept der Fluxionen besteht, behandelt. Da Newtons Begriff ein mathematischer ist, wird der Frage nachgegangen, wie kontinuierliche bzw. fließende Größen a priori geeignet mathematisch beschrieben werden können. In moderner mathematischer Terminologie bietet sich das Konzept der Differenzierbarkeit an: Innerhalb der Menge der stetigen Funktionen sind die differenzierbaren Funktionen dadurch gekennzeichnet, daß sie in jedem Punkt ihres Graphen einen eindeutig bestürmten Tangentialraum haben (im Spezialfall der differenzierbaren Funktionen von R nach R ist dieser die Tangente). Mit dem Aufweis von stetigen bzw. differenzierbaren Funktionen als entsprechende50 mathematische Konstruktionen für kontinuierliche bzw. fließende Größen besteht die Frage nach dem Verhältnis des mathematischen Funktionsbegriffes, an dessen Entwicklung Euler wesentlichen Anteil hatte, zum philosophischen Funktionsbegriff, wie er in der transzendentalen Analytik der Kr.d.r.V. entwickelt wurde. Dieser Frage wird in einer gesonderten Bemerkung nachgegangen. Mit dem Begriff der infinitesimalen Größe wird die intensive Quantität 5 * bezeichnet, die als Kontinuität auch fließende Größe ist 5 2 .
49 "Dergleichen Größen kann man auch f l i e ß e n d e nennen, weil die Synthesis (der produktiven Einbildungskraft) in ihrer Erzeugung ein Fortgang in der Zeit ist, deren Kontinuität man besonders durch den Ausdruck des Fließens (Verfließens) zu bezeichnen pflegt" (B 211-212). 50 Die Darstellung der Ergebnisse der Infinitesimalrechnung wurde auf die sogenannte mathematische Standard-Analysis bezogen, da mit dieser die mathematische Modellbildung in den theoretischen Naturwissenschaften betrieben wird. Für die Darstellung der Nicht-Standard-Analysis vgl. Abraham Robinson: "Non-Standard Analysis", Amsterdam, London 1970. 51 Zum Begriff der intensiven Quantität vgl. Β 218. 52 Mit dem Betonen der Besonderheit der fließenden intensiven Größen innerhalb der Menge der kontinuierlichen intensiven Größen ist der Ansatz dieser Untersuchung von dem Cohens,
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Bedeutving hat das Konzept der intensiven Größen für die Naturwissenschaft. In den metaphysischen Anfangsgründen der Phoroncmie wird die Geschwindigkeit als reine intensive Größe gekennzeichnet, die in jedem Augenblick durch die Tangente der Bahnkurve eines beweglichen Körpers bestürmt ist (Mcmentangeschwindigkeit). Wird die Bahnkurve als eine mehrfach differenzierbare Funktion vorausgesetzt, so kann die Veränderung der Mcmentangeschwindigkeit d.h. die Beschleunigung mit den Mitteln der Differentialrechnung als erste Ableitung der Geschwindigkeitsfunktion bestimmt werden. Ein Keales kann die Ursache der Veränderung eines anderen Realen sein. Tritt diese Situation ein, "so nennt man den Grad der Realität als Ursache ein Moment" (B 210, Hervorhebung G.B.). Das in diesem Zusammenhang genannte Beispiel des Moments der Schwere ist die konstante Funktion der Erdbeschleunigung die mathematische Konstruktion des Grades der Erdanziehung. Die Betrachtung des Momentbegriffs lenkt die Untersuchung auf die Frage, in wie weit die Form der Veränderung von Zuständen eines Realen konstruierbar ist53. i m Zusammenhang mit dem Momentbegriff für intensive Größen tritt eine systematische Schwierigkeit auf: Während in der Kr.d.r.V. das Moment als Grad einer verursachenden Realität auf die Seite der Ursache gestellt ist, wird in der allgemeinen Anmerkung zur Mechanik der M.A.d.NW. der Begriff
der die Position der Identität von intensiven und sogenannten unendlichkleinen Größen vertritt, in Nuance verschieden (vgl. Hermann Cohen: "Das Prinzip der Infinitesimalmethode und seine Geschichte", erneute Auflage mit Einleitung von W. Flach, Frankfurt a.M. 1968, S.57f.: In Entgegnung auf den Einwand der vermißten erkenntnistheoretischen Begründung der Differentialrechnung bei Kant wird gesagt: Dieser "störende Einwand wird am bestinmtesten von vornherein durch die späterhin zu erweisende Erinnerung beseitigt: d a ß die Identität der intensiven und der unendlichkleinen Größe zu Kants Zeiten eine allgemeine Annahme war"). 53 Vgl. Β 252ff..
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eines "Moments der Acceleration" bestürmt und auf der Seite der Wirkung liegend betrachtet^. Außer in dieser "allgemeinen Anmerkung zur Mechanik" ist der Begriff des Moments der Acceleration in den gedruckten Werken Kants nach dem Erscheinen der M.A.d.NW. nicht mehr diskutiert worden. Nach den Ausführungen zum Prinzip der Antizipationen der Wahrnehmung und zur zweiten Analogie der Erfahrung kann deutlich zwischen dem Moment als Grad eines eine Veränderung verursachenden Realen und der Geschwindigkeit als intensiver Größe der bewirkten Bewegung unterschieden werden. Für diese Unterscheidung spricht, daß Momentangeschwindigkeit und Mcmentanbeschleunigung durch gesonderte mathematische Funktionen, die durch Differentiation bzw. Integration auseinander hervorgehen, dargestellt werden können. Hinzuzunehmen ist, daß zum Momentbegriff für intensive Größen eine Vielzahl von Stellen im "Handschrift liehen Nachlaß" Kants, insbesondere in den "Losen Blättern" des IV. Konvoluts des Op.p. belegt sind. Aufschluß für die fortgesetzte Reflexion über den Momentbegriffe in jenen "Losen Blättern" bietet eine von Kant für Kiesewetter vermutlich irgendwann im Zeitraum von 1788-91 verfaßte Ausarbeitung " Ü b e r das Moment der G e s c h w i n d i g k e i t im Anfangsaug e n b l i c k d e s F a l l s " (AA XIV S.495f. ). Die Behandlung des Aspekts der Konstruierbarkeit von Größen a priori innerhalb der M.A.d.NW. umfaßt auch die Untersuchung der Richtung als reiner Bewegungsgröße. Der Aufweis inkongruenter G e g e n s t ü c k e u n d der Ausarbeitung zwischen der Lage eines Beweglichen, die durch die Richtung bekannt ist, und der Gegend, d.h. der Orientierung des umgebenden Raumes, weist auf den engen Zusaiimenhang zur Arbeit "Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Räume" (1768) hin^ß. Auf den Zusammenhang zu dieser
54 Vgl. AA IV S.551f.. 55 Vgl. AA IV S.483f.. 56 Vgl. AA II S.377-383.
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Schrift geht in einer neueren Arbeit GloyS? ein, in der sie sich auch mit den Positionen des Mathematikers Keidemeister58f der geometrische Unterschiede inkongruenter Gegenstücke bestrei tet59, auseinandersetzt. Durch den Aufweis inkongruenter Gegenstücke in der Arbeit von 1768, die nur durch ungeradzahlig viele Spiegelungen des umgebenden Raumes in einander überführt werden können, wurde deutlich, daß die Behandlung dieser Inkongruenz durch die Logik zu keinen Resultaten führen konnte, daß der Erkenntnisfortschritt hinsichtlich inkongruenter Gegenstücke vielmehr durch Konstruktion in reiner Anschauung, d.h. als Aufgabe der Mathematik zu erreichen ist. Der Fortgang der Mathematik im 19. Jahrhundert belegte seit der Entdeckung des Beispiels einer nicht orientierbaren Fläche durch Möbius im Jahre 1858, daß die Behandlung der Orientierungsproblematik zu einem relevanten Untersuchungsgegenstand der mathematischen Topologie geworden ist. Das dritte Kapitel vintersucht das Verhältnis von Mathematik und Philosophie hinsichtlich des "Überganges von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur
57 Karen Gloy: "Die Kantische Differenz von Begriff und Anschauung und ihre Begründung", Kantstudien 75, 1984, S.l-37. Vgl. insbesondere die Abschnitte "6. Raum und Zeit als Anschauungen" und "7. Raum und Zeit als Anschauungsformen", in der der Bezug der M.A.d.NW. zur Schrift von 1768 aufgeführt ist. 58 Kurt Reidemeister: "Raum und Zahl", Berlin, Göttingen, Heidelberg 1957. Vgl. darin den Abschnitt: "IV. Über den Unterschied der Gegenden im Raum" (S.53-69), in dem gegen Kants Schrift von 1768 Stellung genonmen wird. 59 "Inkongruente Gegenstücke G ! ,G'' stimmen in allen geometrischen Eigenschaften überein" (Reidemeister a.a.O. S.66). Gloy untersucht Reidemeisters geometrische Axicmatik und stellt fest, daß "Richtungsunterschiede bereits im Grundaxiom angelegt sind", woraus gefolgert wird, daß "eine darauf basierende Axiomatik nur noch den Wert einer Explikation von Vorhandenem, nicht aber den einer Deduktion von Neuem haben" kann und dadurch sich "als Scheindeduktion decouvriert" (Gloy (1984) S.25f.).
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Physik". Die gewonnenen Bestiranungen zum Verhältnis von Mathematik und Philosophie und die dabei herausgearbeiteten von Kant intendierten exakten geometrischen Darstelllangen sollen im Zusammenhang der sachlichen Bezüge der Ausarbeitungen zur Übergangsproblematik diskutiert werden, die im Qp.p. und dort in konzentriertester Form im Text des "Überganges zur Physik" vorliegen. Die erfolgte Darlegung der mathematischen Grundsätze des reinen Verstandes umgrenzt das Feld der konstitutiven Anwendung der Mathematik auf extensive und intensive Größen äußerer Erscheinungen. Mit der Ungrenzung des Feldes der Anwendung der Mathematik auf äußere Erscheinung ist direkt auch der Anteil eigentlicher Naturwissenschaft bestinmt, der auf äußere Erscheinung gerichtet ist6°. Die Konstruierbarkeit von gegebenen extensiven und intensiven Größen zeichnet als notwendiges Kriterium den Rahmen von Erkenntnis a priori der reinen Naturlehre äußerer Erscheinungen vor. Wie in der Vorrede der M.A.d.NW. entwickelt wurde, hat die Naturwissenschaft einen philosophischen Anteil, der die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft vmfaßt. Für letztere ist sogar gefordert, daß sie alles, was zur Vorstellung des Begriffs einer Materie a priori gehört, was in der darauf bezogenen mathematischen Konstruktion dargestellt werden kann und was davon "in der Erfahrung als bestürmter Gegenstand" gegeben werden kann, enthalten niissenöl. Nicht nur in der reinen Naturwissenschaft, insbesondere auch in der empirischen Naturlehre wird Mathematik angewandt: Die Akustik macht ein Beispiel der Verbindung von "physischem Experiment" und "mathematischer
60 "Aber eine reine Naturlehre über b e s t i m m t e Naturdinge (Körperlehre und Seelenlehre) ist nur vermittelst der Mathematik möglich, und da in jeder Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen wird, als sich darin Erkenntnis a priori befindet, so wird Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft enthalten, als Mathematik in ihr angewandt werden kann" (AA IV S.470). 61 AA IV 475f..
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Einleitlang
Naturkenntnis" in einer empirischen Naturlehre aus, wie Kant dieses in den Berichten über die Arbeiten von Ernst Florens Friedrich Chladni (1756-1827) hervorhebt 62 . Ohne die Anwendung der Mathematik in der Naturlehre, d.h. insbesondere auch in der empirischen Naturlehre, würde es die Philosophie, die durch ihre Erkenntnisse a priori die Bedingungen der Möglichkeit der Anwendung von Mathematik auf äußere Erscheinungen formuliert, nicht zur Evidenz ihrer Erkenntnisse a priori bringen 63 , denn die Evidenz, d.h. die "anschauende Gewißheit" (B 762) erfordert die Darstellung in einer Anschauung a priori, zu der allein die Mathematik als Erkenntnis aus der Konstruktion der Begriffe fähig ist. Die Philosophie bedarf also im Felde der Naturforschung der Mathematik als Organon, daher gehört in Hinblick auf die Physik die methodologische Reflexion über das Verhältnis des Gebrauches von Philosophie und Mathematik als Kanon und Organon in einer empirischen Naturlehre zur Ausarbeitung der Thematik des Überganges von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik. Die nächste transzendentalen
Überlegung, die vom Gesichtspunkt Methodenlehre aus besteht, ist
der die
62 Vgl. Kant im Brief an Christian W. Schwenckner vom 18.2.1794 AA XI S.489. (Vgl. auch Adickes in AA XIV S.520). Chladni gilt als einer der Begründer der modernen physikalischen Akustik. 1802 und 1817 veröffentlichte er die Werke "Die Akustik" und "Neue Beiträge zur Akustik". 1787 war in Leipzig Chladnis Werk "Entdeckungen über die Theorie des Klanges" veröffentlicht worden, von dem der Mathematiker Jacob (II) Bernoulli (1759-1789) schrieb, "daß es wohl keinen Mathematiker gibt, der nach der Lektüre Chladnis Abhandlung über den Schall nicht den stärksten Wunsch hätte, a priori, also durch eine mathematische Theorie die schönen experimentellen Entdeckungen zu bestätigen. Die so gewonnenen Ergebnisse könnten dann mit denen von Chladni verglichen werden" (zitiert nach: Szabo S.404, S.407f.). Kant beschreibt Chladnis Versuche und weist auf die mathematisch bestinmbaren Figuren hin, die die Schallausbreitung auf Platten hinterläßt (AA XXI 45313, AA XXII 60105). 63 Vgl. AA XXI 20907-13.
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Behandlung des Bezuges von Mathematik und Philosophie zu dem "Übergang zur Physik" unter dem Gesichtspunkt der Architektonik der reinen Vernunft. Die heuristische Leistung von Mathematik und Philosophie im Felde der Naturforschung ist unterschiedlich gestaltet: Während die Mathematik vom Einzelnen in der Konstruktion eines Erkenntnisses anhebt, geht die Philosophie vom Allgemeinen des Erkenntnisses aus. Während beispielsweise die Philosophie durch eine Kritik den Plan zum Ganzen einer Wissenschaft entwirft, leistet die Mathematik durch ihre Konstruktionen in reiner Anschauung einen Beitrag zum Orientieren im Denken. Hierbei ist für die Entwicklung der Kantischen Philosophie bemerkenswert, daß die Arbeit "Was heißt: Sich im Denken orientieren?" im gleichen Jahr 1786 erschien, in dem die M.A.d.NW. publiziert wurden. Der Nachweis, daß Plan und Orientierung zusanmenkamien müssen, um den sicheren Gang einer empirischen Naturlehre zu beschreiten, ist Intention des Abschnitts "Orientierung und Propädeutik". Durch die vorangegangene Überlegung, daß die Mathematik als Organon der Philosophie im Felde der Naturforschung gebraucht wird, ist die Verwendung der quantitativen Verhältnisse der Mathematik im Dienst der qualitativen Verhältnisse der Philosophie für den heuristischen Zweck vorbereitet, das unbestimmte Glied eines qualitativen philosophischen Verhältnisses in der Erfahrung zu suchen^. Die "Lehre der propädeutischen Naturwissenschaft" ordnet die philosophischen Prinzipien der Verbindung der metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft mit enpirischen Prinzipien der Physik zum Ziel eines durchgängig bestiirmten Lehrsystems der Naturwissenschaft einer "allgemeinen Kräftenlehre der Materie" zu (AA XXI 28616), die als "Brücke" zwischen beiden Wissenschaften den "Übergang zur Physik" enthält. Der "Übergang zur Physik" weist über seine propädeutische Funktion hinaus konstitutive Merkmale auf: "Es ist ein nicht bloß regulatives, sondern auch konstitutives
64 Vgl. Β 222f.
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formales a priori bestehendes Prinzip der Naturwissenschaft zu einem System" (AA XXII 24025). Die philosophische Leistung des Überganges besteht hinsichtlich der Naturforschung darin, das unbestimmte Glied eines qualitativen Verhältnisses nicht nur gemäß einer Kegel in der Erfahrung zu suchen und gemäß eines Merkmals dort zu finden, sondern hinsichtlich des Formalen seines Verhältnisses, in dem es sich auf eine Anschauung überhaupt bezieht, als konstruierbar zu bes t innmen. Im Unterschied zur empirischen Naturlehre und zur reinen Mathematik, deren Mengen von Erkenntnissen "ins Unendliche erweitert werden können", kann ein metaphysisches System, da es in sich absolut vollständig sein soll, nur von einer "bestinmten Zahl von Erkenntnissen" erzeugt werden (AA IV S. 473). Dieser Unterschied ist Anlaß zu Ausführungen, in denen Kant sich mit Positionen von d'Alembert und Kästner über das Verhältnis der Erkenntnisfortschritte in Mathematik, Astronomie und Philosophie auseinandersetzt^. £)je Ausführungen gehören zu einleitenden methodologischen Bemerkungen, die zur Ausarbeitung der Übergangsproblernatik gehören. Kant intendiert, in diesen Aussagen durch einen höheren Begriff von einer Scientia naturalis die philosophische Naturwissenschaft und die auf Gegenstände der Naturforschung angewandte Matnematik vereinigt zum Ausdruck zu bringen. Während im ersten Kapitel meiner Arbeit das Problem philosophischer Prinzipien der Mathematik lediglich abstrakt, d.h. ausschließlich auf der Ebene des wechselseitigen Bezuges von Philosophie und Mathematik diskutiert wurde, könnt in diesem Abschnitt durch Bezüge beider Wissenschaften auf die Naturforschung ein neuer Aspekt hinzu, der wiederum in Auseinandersetzung mit dem Titel von Newtons Werk "Philosophiae naturalis principia mathematica" entwickelt wird. Die Betrachtung der Tafel der Formen der Verhältnisse der bewegenden Kräfte der Materie^ zeigt die Konstruierbarkeit 65 Vgl. AA XXI 2391Ü 24303 55519. 66 Vgl. AA XXI 28726.
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der Begriffe ihrer Titel auf. Damit erweist sich diese Tafel als offen für Bestinmungen der reinen Sinnlichkeit. Im Gegensatz zur Betrachtung von Adickes unter der Überschrift "Topik der bewegenden Kräfte und allgemeinste Eigenschaften der Materie", der die Kantischen Ausarbeitungen, die das Formale des Verhältnisses bewegender Kräfte betreffen, nicht von den Ausarbeitungen, die das Materiale bewegender Kräfte unter Aspekten der Kategorientafel behandeln, trennt®?, werden hier die Bestimmungen der bewegenden Kräfte hinsichtlich ihrer wesentlichen Quellen nach reiner Sinnlichkeit und reinem Verstand geschieden. Adickes geht in der Untersuchung der Tafeln zur "Topik der bewegenden Kräfte" den nach Kantischen Signaturen zusammengehörigen Bogengruppen nach. Diese Bogengruppen wurden von Adickes gemäß den von ihm erarbeiteten, aber mittlerweile angezweifelten Datierungskriterien®8 angeordnet. In meiner Untersuchung wird nicht historisch®^, sondern systematisch verfahren. Der Vergleich der Tafeln der Formen der Verhältnisse der bewegenden Kräfte ist auf das Kriterium der Gleichartigkeit der Begriffe, die die Titel der Tafel ausmachen, gestützt. Die Tafel wird herausgehoben, deren Titel Begriffe enthalten, die in einer Anschauung a priori darstellbar sind. Durch diese Bedingung ist die Tafel der Formen der Verhältnisse der
67 Vgl. Adickes: "Kants Opus postumum", S.163ff. 68 Vgl. dazu Lehmann: A A X X I I S. 777. 69 Zu einem neueren historischen Interpretationsversuch vgl. Burkhard Tuschling: "Metaphysische und transzendentale Dynamik in Kants Opus postumum", Berlin, New York 1971. Obgleich Tuschling sich gegen die systematische Interpretation von Themen, die in der Textmenge des Op.p. belegt sind, ausspricht (vgl. Tuschling S.llf.), geht er von der historischen Interpretation längs der Datierung nach Adickes bemerkenswerterweise in bezug auf die Begrifflichkeit der Phoronomie ab (vgl. Tuschling S.90). Tuschlings Arbeit ist gleichsam ein negativer Beleg, der für eine systematische themenorientierte Interpretation von Texten des Op.p. spricht.
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bewegenden Kräfte der Materie insbesondere auch von der Einteilung der bewegenden Kräfte der Materie nach dem System der Kategorien unterschieden. Mit der Bearbeitung des Verhältnisses von Mathematik und Philosophie soll durch Auffindung der Begriffe a priori im System der bewegenden Kräfte der Materie, die eine geometrische Darstellung besitzen, ein Beitrag zum Nachweis erbracht werden, daß eine Philosophie naturalis, die eine Grundlegung der empirischen Naturlehre geben will, neben metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft in notwendiger Weise den Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik als einen weiteren Teil enthalten muß. Mit der Untersuchung des Verhältnisses von Geometrie und Philosophie im Bereich der Naturforschung wird auch intendiert, anhand Kantischer Äußerungen zum Konstruktionsbegriff der Naturwissenschaften darzulegen, daß im Bereich der Naturforschung Begriffe a priori konstruiert werden können, wenn die Philosophie der Anwendung der ¡Mathematik das Feld bereitet.
1.
KONSTRUKTION UND INSTRUMENT. ZUM UNTERSCHIED DER METHODE VON MATHEMATIK UND TRANSΖENDENTALPHILOSOPHIE
1.1
Konstruktion und matnema t i s e h e Grundsätze
1 . 1 . 1 Zum Begriff der Konstruktion Der Begriff der Konstruktion trennt d i e mathematische von der philosophischen Vernunfterkenntnis : "Die p h i l o s o p h i s c h e Erkenntnis i s t d i e V e r n u n f t e r k e n n t n i s aus B e g r i f f e n , die mathematische aus der K o n s t r u k t i o n der B e g r i f f e " (B 741). Mathematik und Philosophie unterscheiden sich in ihren D e f i n i t i o n e n , Axiomen und Beweisen. Kant hebt hervor, "daß. keines d i e s e r Stücke in dan Sinne, d a r i n s i e der Mathematiker ninmt, von der Philosophie könne g e l e i s t e t , noch nachgeahmet werden" (B 754 - Β 755). Da nur d i e Mathematik B e g r i f f e umfaßt, deren Synthesis a p r i o r i v o l l s t ä n d i g in r e i n e r Anschauung zu konstruieren i s t , d . h . ohne d i e Erklärung aus anderer Quelle a b l e i t e n zu müssen, i s t s i e in der Lage, D e f i n i t i o n e n zu haben (B 756 - Β 758). Hieraus e r g i b t s i c h , "daß philosophische D e f i n i t i o n e n nur a l s Expositionen gegebener, mathematische aber a l s Konstruktionen ursprünglich gemachter B e g r i f f e " aufzufassen sind (B 758). Für d i e Philosophie f o l g t , daß ihre D e f i n i t i o n e n a l s "abgemessene D e u t l i c h k e i t " eher am Ende e i n e r Erörterung stehen, während s i e in der Mathematik v o r a n g e s t e l l t sind (B 758 - Β 759): "Mathematische D e f i n i t i o n e n können niemals i r r e n . " Axiome "sind synthetische Grundsätze a p r i o r i , so f e r n s i e unmittelbar gewiß sind" (B 760). Als solche kann die Philosophie keine Axiome b e s i t z e n , auch das P r i n z i p der Axiome der Anschauung i s t kein solches, obwohl es d i e
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Konstruktion und Instrument
Bedingung der Möglichkeit von Axiomen überhaupt angibt (B 761). Kant differenziert zwischen Demonstrationen und akroamatisehen Beweisen. Erstere müssen apodiktisch und intuitiv sein. Da Begriffe a priori der diskursiven Erkenntnis nicht anschaulich evident sind, können sie nicht demonstriert werden (B 762). Sie sind aber eines akroamatisehen Beweisganges fähig (B 763). "Nur die Mathematik enthält also Demonstrationen..." (B 762). Hat man diese klaren Unterscheidungen zwischen Definitionen, Axiomen und Beweisen, wie sie der Mathematik und wie sie der Philosophie zukcnmen, zur Kenntnis genommen und wendet man sich thematisch ähnlich gelagerten Reflexionen des 1. Konvoluts des Op.p. zu, dann ist der erste Eindruck, daß die klaren Bestimnungen der Kr.d.r.V. verwischt werden: "Man kann auch einen rein mathematischen Satz (nämlich den 47sten Satz im ersten Buch des Euklides) auch philosophisch beweisen; aber dieser ist auch der einzige, weil er eine i sie sich entweder auf einen Begriff a priori bezieht, der in reiner Anschauung konstruiert werden kann, oder daß sie auf nichts anderes "als die Synthesis möglicher Anschauungen, die a priori nicht gegeben sind", hinzielt (B 747). In dem Disziplin-Hauptstück der transzendentalen Methodenlehre der Kr.d.r.V. wies Kant auf ein Defizit vorangegangener Philosophen hin: "Denn da sie kaum jemals über ihre Mathematik philosophiert haben, (ein schweres Geschäfte!) so kommt ihnen der spezifische Unterschied des einen Vernunftgebrauchs von dem andern gar nicht in Sinn und Gedanken" (B 753). Mit jenen wissenschaftssystematischen Abgrenzungen können im Op.p. Ansatzpunkte gefunden werden, in denen die Mathematik Untersuchungsgegenstand der Philosophie ist. Erst durch die Unterscheidung der Kr.d.r.V. von Sinnlichkeit, die allein die Anschauungen liefert, und Verstand, der (Quelle der Begriffe ist, wird diese Unterscheidung in Differenz zu früheren Lehrbegriffen der Philosophie nach Trennung der Erkenntnisquellen inögli cul».
18 19
Vgl. Β 33, Β 79. Zum Begriff des Lehrbegriffes vgl. Β 326, Β 331, Β 427, Β 519.
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Konstruktion und Instrument
1.1.2 Zum Probien philosophischer Prinzipien der Mathematik A n einer der vielen Stellen^ der Rezeption von Newtons Hauptwerk^! im Op.p. schreibt Kant: "Wenn nun aber Newtons ionsterbi iches Werk von ihm selbst so betitelt wird: J. Newtoni Philosophiae naturalis principia mathematica, so tritt hierbei ein Skrupel ein, daß hierbei ein Widerspruch des Autors mit sich selbst begangen werde: "Denn so wenig als es mathematische Prinzipien der Philosophie - eben so wenig kann es philosophische Prinzipien der Mathematik geben". - " (AA XXI 07223). An mehreren Stellen des l.Konvoluts wird dieser "Skrupel" thematisiert^. Dabei treten Nuancen auf. Wurde hier argument ieri, da& es so wenig philosophische Prinzipien der Mathematik wie es mathematische der Philosophie gibt, so wird an anderer Stelle die Begründungsreihe der Argumentation vertauscht und der Terminus "Prinzipien" durch den Terminus "Anfangsgründe" substituiert: "So wenig wie es philosophische Anfangsgründe der Mathematik gibt, eben so wenig kann es mathematische der Philosophie geben, obgleich Newton diese 2 Felder vereinigt" (AA XXI 08723). 20
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22
Im 1. Konvolut treten 35 Belegstellen zu "Newton" auf. Das ist etwa die Hälfte aller Belegstellen zu "Newton" in AA XXI. Die Stellen sind:01901 03504 04722 05129 05502 05513 06001 06413 06610 06618 06714 06815 06824 07029 07223 07225 08203 08725 09013 09508 09824 10021 10314 10523 11120 12421 12910 13102 13211 13223 13525 13814 13913 14118 15101. Dieses Stelleninventar ist umfangreicher als das, das Lehmann im "Personen- und Namenverzeichnis" (AA XXII, S.630) angibt. In Lehmanns Verzeichnis fehlen die Stellen 09508 13211 13223. Isaac Newton: "Philosophiae naturalis principia mathematica", London, 1687. Kant besaß die 3. Aufl. von 1726 (vgl. A. Warda: "Inmanuel Kants Bücher", S.35). Wenn im folgenden von "Newtons Werk" die Rede ist, dann ist diese Hauptschrift gemeint. AA XXI : 06716 06722 07229 08202 08723 09508 09809 09823 10316 11204 13225 13525 13814 13917 14118.
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Der Terminus "Anfangsgründe" steht in sachlichem Zusanmenhang mit dem Terminus "metaphysische Anfangsgründe", welcher in den M.A.d.NW. auftritt. Kants Reflexionen zu Newtons Titel im 1. Konvolut betreffen nicht nur das Verhältnis von Mathematik und Philosophie, sondern machen auch Aussagen über die Bezüge beider genannter Wissenschaften zur Naturwissenschaft. Unter anderem wird deshalb im dritten Kapitel meiner Arbeit eine gesonderte Untersuchung des Terminus "Anfangsgründe" im Zusammenhang mit der Betrachtung der Bezüge von Mathematik und Philosophie zur Naturwissenschaft ausgeführt. Nicht nur terminologisch, sondern auch sprachlich treten Nuancen auf. War an den genannten Stellen von den mathematischen Prinzipien der Philosophie bzw. den philosophischen der Mathematik die Rede, so treten im Fortlauf des 1. Konvoluts auch die Formulierungen "mathematische Prinzipien für die Philosophie" bzw. "philosophische Prinzipien für die Mathematik" auf (AA XXI 11203, 13917) 23 . Wenn man die Nuancen in der Formulierung der Problemstellung mit Newtons Titel als fortlaufende Überarbeitung einer transzendentalphilosophischen Problementwicklung deutet, dann stellt sich die Frage nach ihrer Zielrichtung und nach ihrem Ausgangspunkt. Im Nachsatz zur oben angeführten Stelle beschreibt Kant die Beziehung der mathematischen bzw. philosophischen Prinzipien zu ihren gegenteiligen Wissenschaften: "Eines kann dem anderen nicht zum Prinzip dienen (es sind disparata) aber beide können unter den Titel der Transzendentalphilosophie gebracht werden" (AA XXI 07230, entsprechend in AA XXI 11205). Man kann als Ausgangspunkt der Problementwicklung die methodische Aufgabenstellung der "Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft" ansehen: "Es ist aber von der größten
23
In einem Kandtext tritt auch die Formulierung: "mathematische Prinzipien in der Philosophie" auf. Solche gibt es genauso wenig, wie "es philosophische der Mathematik gibt" (AA XXI 08202).
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Konstruktion und Instrument
Wichtigkeit zum Vorteil der Wissenschaft ungleichartige Prinzipien von einander zu scheiden, jede in ein besonderes System zu bringen, damit sie eine Wissenschaft ihrer eigenen Art ausmachen, um dadurch die Ungewißheit zu verhüten, die aus der Vermengung entspringt, da man nicht wohl unterscheiden kann, welcher von beiden teils die Schranken, teils auch die Verirrungen, die sich im Gebrauche derselben zutragen möchten, beizumessen sein dürften" (AA IV 47236). Die Betonung der nötigen^ Absonderung ungleichartiger Prinzipien tritt auch an den angesprochenen Op.p.- Stellen25 auf. Eigentlich ist das Verfahren dieser Absonderung philosophischer und mathematischer Prinzipien schon in der "transzendentalen Methodenlehre" angegeben: "Ich werde mich damit begnügen, zu zeigen: daß keines dieser Stücke (Definitionen, Axiome, Demonstrationen, G.B.) in dan Sinne, darin sie der Mathematiker nimmt, von der Philosophie könne geleistet, noch nachgeahmet werden" (B 754-755). Es kann also, was den Ausgangspunkt der Problementwicklung des 1. Konvoluts zu Newtons Titel betrifft, ein Bogen von der "transzendentalen Methodenlehre" der Kr.d.r.V. über die M.A.d.NW., deren Vorrede dieses methodische Problau der Transzendentalphilosophie für das besondere System einer Metaphysik der körperlichen Natur26 behandelt, bis zum 1. Konvolut des Op.p. gespannt werden, in dan von den mathematischen bzw. philosophischen Prinzipien als disparata und nicht als opposite die Rede is Als Zielstellung der Problementwicklung, die in der Kette der Reflexionen zum Titel von Newtons Hauptwerk auftritt,
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Kant charakterisiert die Trennung ungleichartiger Prinzipien als "nötig": "Um deswillen habe ich für nötig gehalten, von dem reinen Teile der Naturwissenschaft (physica generalis), wo metaphysische und mathematische Konstruktionen durch einander zu laufen pflegen, die erstere ... in einem System darzustellen." (AA IV S.473). Vgl. AA XXI 06716. Vgl. AA IV S.472. Vgl. AA XXI : 07230 11206 13918.
Probien philosophischer Prinzipien der Mathematik
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kann gelten, was Kant für die Gruppe der mathematischen bzw. der philosophischen Prinzipien formuliert: "... aber beide können unter den Titel der Transzendentalphilosophie gebracht werden" (AA XXI 07231). Für die Transzendent al phi losoph i e wird an anderen Stellen diese Zielsetzung als assertorische Bestimmung angegeben: "Transzendentalphilosophie ist diejenige Wissenschaft, in welcher Philosophie und Mathematik in Einen synthetischen Erkenntnis a priori systematisch vereinigt ... ein Ganzes ausmacht" (AA XXI 13519, gemäß Kants Hervorhebung durch Großschreibung). "Transzendentalphilosophie ist die Doktrin a priori, in welcher Mathematik und Philosophie a priori unter einem Erkenntnisprinzip vollständig abhängig sind" (AA XXI 13313). 1st diese Zielstellung so formuliert, gerät der Betrachter der Kantischen Ausführungen zunächst in ein Dilenma: Auf der einen Seite ist ausführlich dargelegt^, daß genausowenig, wie es mathematische Prinzipien der Philosophie gibt, philosophische Prinzipien der Mathematik bestehen. Auf der anderen Seite wurde entwickelt, daß die Transzendentalphilosophie die synthetische Erkenntnis a priori vollständig enthält29 und daher die entsprechenden Erkenntnisse der Mathematik und Philosophie in einem synthetischen Erkenntnis a priori vereinigt^. Dieses synthetische Erkenntnis wäre aber dann eines, das der Mathematik zugrunde liegen würde. Man hätte also ein transzendentalphilosophisches Prinzip für die Mathematik. Das zunächst einmal bestehende Problem, das Kant mit dem Eintreten eines Skrupels^l anspricht, zwischen dem
28 Vgl. Anm.20. Insbesondere sind dieses die Stellen, die in der Umgebung VOTI Belegstellen zu "Newton" stehen: 06714 08202 08723 09808 10316 11204 13225 13917. 29 Vgl. Β 25. 30 Vgl. AA XXI 13519. 31 Vgl. AA XXI 07226 und 11202: scrupulum, i = (lat.) kleiner, spitzer Stein, Bedenken, Skrupel. An anderer Stelle wird in gleichem Zusanmenhang der "Scrupel" als
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Konstruktion und Instrument
Ausgangspunkt, der duren Überlegungen der transzendentalen Methodenlehre bestürmt ist, und der Zielstellung, die sien aus der Aufgabe der Entwicklung der Transzendentalphilosophie als einem System ergibt, ist, unter systematischen Aspekten betrachtet, einer der Gründe der mehrfachen Thematisierung von Newtons Titel im 1. Konvolut^2. jjie Kr.d.r.V. unterscheidet zwei Arten von Grundsätzen der Mathematik: Die mathematischen Grundsätze, die ihre Begriffe durch Konstruktion in reiner Anschauung gewinnen und daher auch keinen Teil der Grundsätze des reinen Verstandes a u s m a c h e n ^ und die synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes, die die Möglichkeit und objektive Gültigkeit der Grundsätze der ersten Art ausmachen^. Stellvertretend für die synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes seien hier die Axiome der Anschauung genannt^. Sie sind nicht eigentliche Axiome der Mathematik, sondern sind Bedingungen der Möglichkeit der mathematischen Axiome (z.B. der Axiome der euklidischen Geometrie)^. Das Prinzip der Axiome der Anschauung lautet: "Alle Anschauungen sind extensive Größen"·*?. Dieser Satz, den
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"Stein des Anstoßes" (AA XXI 13915) beschrieben. Auch diese Charakterisierung hat ein ähnliches Gegenbild an anderer Stelle: "Der Titel des unsterblichen Geistesprodukts: Isaaci Newtoni Philosophiae naturalis principia mathematica scheint (!,G.B.) an der Schwelle zu verstoßen" (AA XXI 13223). In dem von Lehmann erstellten Sachindex zum Op.p. (siehe AA XXII S.703) finden sich unter dem Eintrag "philosophiae naturalis principia mathematica" für das 1. Konvolut bis auf 13225 und 14118 alle Belegstellen von Arm. 22. Vgl. Β 188-189. Β 198-199. Β 200. Auf diese Synthesis, die durch die Axiome der Anschauung geleistet wird, "gründet sich die Mathematik der Ausdehnung (Geometrie) mit ihren Axiomen, welche die Bedingungen der sinnlichen Anschauung a priori ausdrücken, unter denen allein das Schema eines reinen Begriffs der äußeren Erscheinung zu Stande kommen kann" (B 204). Β 202.
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Kant als den "transzendentalen Grundsatz der Mathematik der Erscheinungen" a u f f ü h r t ^ ("Denn er ist es allein, welcner die Mathematik in ihrer ganzen Präzision auf Gegenstände der Erfahrung anwendbar macht."(B 206)), ist somit als synthetischer Grundsatz des reinen Verstandes ein philosophisches Prinzip für die Mathematik^. Genauer müßte es lauten: Dieser synthetische Grundsatz des reinen Verstandes ist ein Prinzip, wie die Mathematik und die Anwendung der Mathematik auf Gegenstände der Erfahrung möglich ist. Daß die Mathematik möglich ist, "wird durch ihre Wirklichkeit bewiesen" (B 49). Zur Abgrenzung der mathematischen Grundsätze von den synthetischen Grundsätzen des reinen Verstandes für die Mathematik kann man darauf hinweisen, daß die erste Art von Sätzen wirkliche Grundsätze der Mathematik sind und daß die zweite Art von Sätzen Grundsätze der Möglichkeit der Mathematik sind. Hat man es mit Grundsätzen der Mathematik im Sinne mathematischer Grundsätze zu tun (z.B. Axiome der euklidischen Geometrie), so werden diese durch Konstruktion in reiner Anschauung gewonnen. Sie sind daher keine Vernunfterkenntnisse aus Begriffen und können infolgedessen auch nicht aus philosophischen Prinzipien hergeleitet werden. Es kann keine philosophischen Prinzipien der Mathematik geben, die mathematische Grundsätze sind, wenn man unter dem
38 Β 206. 39 Kant bezeichnet diesen transzendentalen Grundsatz als "Principium": "Daher werde ich unter meine Grundsätze die der Mathematik nicht mitzählen, wähl aber diejenigen, worauf sich dieser ihre Möglichkeit und objektive Gültigkeit a priori gründet, und die mithin als Principium dieser Grundsätze anzusehen sind" (B 199). In diesem Zusammenhang gibt er auch ein wichtiges Kriterium der Unterscheidung der mathematischen Grundsätze von den synthetischen Grundsätzen des reinen Verstandes, die als Prinzipien für die Mathematik fungieren können: Während die ersten von der Anschauung zu Begriffen gehen, gelangen die zweiten von Begriffen zur Anschauung (vgl. Β 199).
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Titel "philosophische Prinzipien" Vernunfterkenntnisse aus Begriffen versteht, die philosophische Prinzipien "schlechthin" (B 358) sind. Der Auflösung des oben benannten "Skrupels", der im Zusanmenhang mit dem Titel von Newtons Werk genannt ist, steht auch folgende Schwierigkeit im Wege: Für das Wort "Prinzip" gibt es zwei Verwendungsebenen 40 : Zum einen bezeichnet das Wort einen allgemeinen Satz, der in einem Vernunftscnluß als Obersatz dient ("komparative Prinzipien" (B 358)), oder es bezeichnet "synthetische Erkenntnisse aus Begriffen", die Kant Prinzipien "schlechthin" nennt (B 358). Auch mathematische Axiome können als komparative Prinzipien aufgefaßt werden: "Die mathematischen Axiomen ... sind sogar allgemeine Erkenntnisse a priori und werden daher mit Hecht relativisch auf die Fälle, die unter ihnen subsumiert werden können, Prinzipien genannt" (B 356). Mathematische Axiome sind "synthetische Grundsätze a priori, so fern sie unmittelbar gewiß sind" (B 760). Ihre unmittelbare Gewißheit ist gegeben, "weil sie vermittelst der Konstruktion der Begriffe in der Anschauung des Gegenstandes die Prädikate desselben a priori und unmittelbar verknüpfen kann" (B 760-761). Als Erkenntnisse durch Konstruktion in reiner Anschauung sind mathematische Axiome keine Erkenntnisse aus Prinzipien (vgl. Β 357). Mathematische Erkenntnisse, die "das Allgemeine im Besonderen, ja gar im Einzelnen" betrachten (B 742), sind der Vernunfterkenntnis aus Begriffen, die "das Besondre im Allgemeinen durch Begriffe" erkennt (B 357), entgegengesetzt. Mathematische Sätze sind also keine Prinzipien "schlechthin" (B 358). Hat man es mit synthetischen Grundsätzen zu tun, die Bedingungen der Möglichkeit der Mathematik darlegen, d.h. mit synthetischen Grundsätzen des reinen Verstandes (z.B. dem Prinzip der Axiome der Anschauung), von denen jeder als "Principium"(B 199) mathematischer Axiome anzusehen ist, so
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"Der Ausdruck eines Prinzips ist zweideutig" (B 356).
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sind diese transzendentale Sätze 4 1 . Sie sind die Grundsätze, die die Möglichkeit der Mathematik beschreiben und die objektive Gültigkeit der Mathematik ausmachen 4 ^. zur besseren Unterscheidung von den mathematischen Grundsätzen sollte man diese synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes, die transzendentale Sätze sind, transzendentale Prinzipien für die Mathematik nennen. Diese Bezeichnung der Sätze wäre genau dann zutreffend, wenn man sie als Bestandteile der Transzendentalphilosophie, die nämlich das Systan der transzendentalen Erkenntnis ist4^, auffaßte. Mit der Unterscheidung zwischen mathematischen Grundsätzen, die durch Konstruktionen in reiner Anschauung gegeben sind, und den transzendentalen Prinzipien für die Mathematik, die die Möglichkeit und die objektive Gültigkeit der Mathematik beschreiben, kann das angegebene Problem gelöst werden: Für die Prinzipien einer jeden der beiden Wissenschaften (Mathematik und Philosophie) trifft es zu, daß Prinzipien der einen Wissenschaft nicht zu solchen der anderen Wissenschaft werden. Mathematische Axiome können nicht philosophische Grundsätze werden, und diese können nicht die Kolle von mathematischen Grundsätzen einnehmen. Für das System der transzendentalen Erkenntnis 44 gilt jedoch, daß die Idee ihrer Einheit Prinzipien für die Möglichkeit beider Wissenschaften und für die Gestaltung ihrer Beziehungen
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Es sind Sätze, die eine transzendentale Erkenntnis formulieren. Für diesen Begriff ist in der Einleitung zur 2. Aufl. der Kr.d.r.V. eine Exposition gegeben: "Ich nenne alle Erkenntnis t r a n s z e n d e n t a l , die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt" (B 25). Insbesondere wird für die Axiome der Anschauung in der Einleitung zur transzendentalen Logik der Kr.d.r.V. ausgeführt, daß sie transzendentale Erkenntnisse sind und daß mathematische Grundsätze (z.B. Euklids Axiome) keine solchen ausmachen (vgl. Β 8U-81). Vgl. Β 80-81. Vgl. Β 25. Vgl. Β 25-26.
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untereinander umfaßt. Mit den mathematiseñen Grundsätzen des reinen Verstandes gibt es transzendentale Prinzipien für die Mathematik. Mit dieser Ausführung ist nun auf der Ebene der Grundlegung der Mathematik deutlich zwischen den Ax i oneri der Matnematik und der philosophischen Begründung der Mathematik unterschieden worden. Kant beschreibt die Beziehungen von Mathematik und Philosophie als "Gegenverhältnisse". Ein Aspekt dieser Beziehungen ist das Instrumentalverhältnis, in dem sich die Mathematik zur Philosophie befindet, worüber im weiteren noch berichtet wird: "Transzendentalphilosophie ist diejenige Wissenschaft, in welcher Philosophie und Mathematik in Einem synthetischen Erkenntnis a priori systematisch vereinigt wechelseitig als Grund und Folge im Gegenverhältnisse stehend ein Ganzes ausmacht. Mathematik ist nur ein Instrument für die Philosophie: Es sei zur Physik (nach Newton's Philosophiae naturalis principia mathematica)" (AA. 13519). Im folgenden soll dargelegt werden, daß Kant nicht nur das Probien der philosophischen Prinzipien der Matnematik aufgezeigt hat45) sondern daß er Hinweise zur Auflösung des Problems im Fortlauf der Stellen zum Titel von Newtons Werk gegeben und dabei ein Beispiel für eine transzendentalphilosophische Problementwicklung aufgewiesen hat. In einer der Stellen des 1. Konvoluts, in denen Kant darauf hinweist, den genannten Skrupel nicht als eine Wortklauberei anzusehen, schreibt er: "Die Transzendentalphilosophie geht auch vor der reinen Mathematik in Ansehung der Anschauung im Raum und Zeit vorher" (AA XXI 11209) 40 . Damit ist der Gehalt der transzendentalen Prinzipien der Mathematik angesprochen. Wäre die Idee, die den transzendentalen Erkenntnissen Einheit gäbe, formuliert
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Schon in der Kr.d.r.V. führte Kant aus, daß das Philosophieren über die Mathematik, das die Kritik des Begriffs der philosophischen Prinzipien der Mathematik einschließt, "ein schweres Geschäfte" (B 753) sei. Eine fast gleichlautende Stelle kann im 6. Bogen für die Transzendentalphilosophie gefunden werden: "Sie ist als
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und damit die Transzendentalphilosophie als ein System begründet, machten die transzendentalen Prinzipien der Mathematik Bestandteile davon aus. Für diese ist nämlich dargelegt: "Diejenige Philosophie aber, welche selbst die synthetischen Sätze a priori der Mathematik in dem Lhifange ihrer Prinzipien zu befassen berechtigt wäre, würde zu einer Benennung der T r a n s z e n d e n t a l p h i l o s o p h i e geeignet sein" (AA XXI 07213). Hieraus folgend kann der Anspruch als erfüllt angesehen werden, daß die Erklärung des Gebrauchs der Mathematik für Anschauungen a priori zur Transzendentalphilosophie gehört: "Selbst der Gebrauch der Mathematik in Ansehung der Anschauungen a priori in Raum und Zeit gehört zur Transzendentalphilosophie" (AA XXI 06712). Nicht nur der Gebrauch der Mathematik für Anschauungen wird durch die transzendentalen Prinzipien für die Mathematik garantiert, sondern auch die Möglichkeit der Mathematik wird durch diese zum Bestandteil der Transzendentalphilosophie: "Transzendentalphilosophie ist diejenige, welche in Einem Akt zugleich die Möglichkeit der Mathematik in sich vereinigt und auch für das höchste physische W o h l der vernünftigen Wesen ... mit den Prinzipien der Vollständigkeit der W i s s e n s c h a f t darstellt" (AA XXI 13126). Die Transzendentalphilosophie ist ein System transzendentaler Sätze, die Prinzipien für die Möglichkeit von mathematischen wie auch von philosophischen Erkenntnissen enthalt e n ^ . Aber gerade im Unterschied zu Newtons Titel sollen mit diesen Grundsätzen weder solche verstanden werden, die als mathematische Sätze, die durch Konstruktion in reiner Anschauung gelten, Prinzipien der Philosophie wären ("mathematische Prinzipien der Philosophie"), noch solche, die als philosophische Sätze, deren Synthesis aus Begriffen erfolgt, mathematische Grundsätze wären ("philosophische
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Philosophie vor der Mathematik vorhergehend" (AA XXI 07303). Eine entsprechende Aussage Kants im 1. Konvolut liegt in AA XXI 06716 vor.
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Konstruktion und Instrument
Prinzipien der Mathematik")48. d ^ e s Grundsätze gibt, die als transzendentale Erkenntnisse zur Transzendentalphilosoptiie gehören können, sofern diese als System konstituiert ist, und die philosophische Sätze sind, wurde mit den Grundsätzen des reinen Verstandes dargelegt. In der Keine der Newton-Stellen des 1. Konvoluts werden Charakteristika für die JVlenge der transzendentalen Sätze genannt, die Prinzipien der Möglichkeit von Mathematik und Philosophie sind: A. Die Sätze der Transzendentalphilosophie sind "disparata" und nicht "opposite" (AA XXI 11205, 13918). B. Als Bestandteile der Transzendentalphilosophie sind diese Sätze synthetische Erkenntnisse aus Begriffen a priori (AA XXI Ü811Ü, 08124). C. Sie machen zusanmen ein System aus und stellen kein Aggregat dar (AA XXI 13814). Der Aspekt, da& die Transzendentalphilosophie ein System von Erkenntnissen a priori ausmachen soll, das Prinzipien verschiedener Arten von Vernunfterkenntnissen vereinigt (Mathematik, Philosophie), wird zunächst in Zusanmenhang mit dem schon oesehriebenen Dilenma bezüglich Newtons Titel angesproenen: "Transzendentalphilosophie ist das System der Ideen des denkenden Subjekts, welches (System) das Formale der Erkenntnis a priori aus B e g r i f f e n (also abgesondert von allem Empirischen) zu Einem Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung vereinigt. So wenig wie es philosophische Anfangsgründe der Mathematik gibt, eben so wenig kann es mathematische der Philosophie geben, obgleich Newton diese 2 Felder vereinigt" (AA XXI 08720). Hier ist die Charakteristik der Transzendentalphilosopnie als einigendes Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung vorangestellt. Die Thematisierung des Dileimas mit Newtons Titel hat eine hinweisende Funktion: Es geht nicht um die Wissenschaften selber, sondern um die Bedingungen ihrer Möglichkeit. In Newtons theoretischer Mechanik findet eine Vereinigung von philosophischen und mathematischen Erkenntnissen statt, die im Beweis der Gravi tationskraft4^ schon den Beleg des sicheren Gangs einer 48 49
Vgl. AA XXI Ü7228. Vgl. Β XX1I-XXIII.
Probien philosophischer Prinzipien der Mathematik
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Wissenschaft erbracht hat, die hier als Beispiel einer Vereinigung von Gegenstandsbereichen verschiedenartiger Wissenschaften, die als Felder bezeichnet werden, dargelegt wird 50^ Qj e Funktion des Beispiels besteht hierbei darin, bei der Entwicklung der Transzendentalphilosophie als einem System auf zuweisen, daß nicht die Frage besteht, ob es möglich ist, das Formale der Erkenntnis zu einen Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung zu vereinen, sondern die Frage, wie dieses möglich wird. Noch deutlicher wird im folgenden darauf hingewiesen, daß die Transzendentalphi losophie als eine neue Art ("neue Species") von Wissenschaft ("üeistesprodukt") die Auflösung des Dilemmas^l mit Newtons Titel darstellt: "Der Titel des unsterblichen Geistesprodukts: Isaaci Newtoni Philosophiae naturalis principia mathematica scheint an der Schwelle zu verstoßen: Denn so wenig es p h i l o s o p h i s c h e Prinzipien der Mathematik geben kann, eben so wenig (sollte man denken) wird die Mathematik dazu geeignet sein, eine Philosophie zu begründen, wenn nicht etwa ein Geistesprodukt unter dem Namen T r a n s z e n d e n t a l p h i l o s o p h i e eine solche Geburt an die Welt zu bringen und eine neue Spezies (animal hybridum) zvi gebären, die Überschwängerung zu erdulden das Schicksal hätte" (AA XXI 13223). Und weiter heißt es:
50 51
Vgl. AA XXI 08725. Mit verschiedenden miteinander in Beziehung stehenden Ausdrücken beschreibt Kant das Di lemma bezüglich Newtons Titel: "Scrupel" (07223, 11202), "Stein des Anstoßes" (13915). In Klamnern steht hinter diesem Ausdruck "in limine impingere" (limen = (lat.) Schwelle, impingo = (lat.) einschlagen). Diese Klamner ist von der AA als späterer Zusatz vermerkt (AA XXI 13915). Der Ausdruck "Schwelle" taucht schließlich in der folgenden Bemerkung auf: "Der Titel des unsterblichen Geistesprodukts ... scheint an der Schwelle zu verstoßen" (AA XXI 13223). Somit lassen sich "Scrupel", "Stein des Anstoßes" und "Schwelle des Verstoßens" als Bezeichnungen eines fortwährenden Themas (des Problems mit Newtons Titel) lesen.
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Konstruktion und Instrument
"Transzendentalphilosophie ist das Erkenntnisprinzip, nacn welchem M a t h e m a t i k und Philosophie in einen synthetischen Erkenntnis a priori in einem Prinzip vereinigt den Gegenstand möglicher Erkenntnis ausmacht" (AA XXI 13318). Ebenso wie oben das Newtonsche Werk als Beispiel für die Vereinigung verschiedenartiger Grundsätze in einem System gedient hat, wird es hier als "Geistesprodukt" zum Vorbild für aas jenige genommen, das unter dem Namen Transzendentalphilosophie zu erstellen ist. Die in diesem System realisierte Einheit des Formalen der Erkenntnis ist einigendes Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung. Nun wird weiter noch ausgeführt, daß dieses einigende Prinzip ein synthetisches Erkenntnis a priori ist, wonach Mathematik und Philosophie vereinigt behandelt werden. Diese Vereinigung kann nicht die Vermengung52 beider Wissenschaften zu einer philosophischen Mathematik oder mathematischen Philosophie sein, sondern sie vollzieht sich als transzendentale Erkenntnis auf der Ebene der Bedingung der Möglichkeit von Mathematik und Philosophie. Die transzendentale Erkenntnis, die dieses in Hinsicht auf die Gegenstände möglicher Erfahrung leistet 53 , läfet sich als Antwort auf die Frage verstehen: "Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" (B 19). Es ist neben den reinen Anschauungen a priori 5 4 der oberste Grundsatz aller synthetischen Urteile, der diese Frage beantwortet : "... die Bedingungen der M ö g l i c h k e i t der E r f a h r u n g überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfah-
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53
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A n zwei Stellen des 1. Konvoluts betont Kant, daß die Transzendentalphilosophie keine mit der Mathematik oder empirischen Wissenschaften vermengte Philosophie ist: A A XXI 07722, 09929. Die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Mathematik ("Wie ist reine Mathematik möglich?" (B 20)) und nach der der Philosophie (vgl. Β 869) ("Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich?" (B 22)) wird durch die Frage: "Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" beantwortet (vgl. Β 19-24). Β 73.
Problem philosophischer Prinzipien der Mathematik
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r u n g , void haben darum objektive Gültigkeit in einem synthischen Urteile a priori" (B 197). In der nun folgenden Erörterung wird die Auflösung des Dilenmas mit Newtons Titel, die darin besteht, daß man mit der Transzendentalphilosophie ein System transzendentaler Erkenntnisse erlangt, das sowohl die Bedingungen der Möglichkeit der Mathematik als auch die der Philosophie für Gegenstände möglicher Erfahrung umfaßt, auf den obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile bezogen. Im Zusanmenhang mit dem ersten Auftreten der Thematisierung von Newtons Titel im 1. Konvolut gibt Kant die folgende Bestürmung zur Transzendentalphilosophie: "Transzendentalphilosophie ist das Prinzip eines Systems der Ideen der synthetischen Erkenntnis a priori aus Begriffen, wodurch das Subjekt sich selbst zum Objekte konstituiert ... und das Formale der Wahrnehmungen zum Behuf möglicher Erfahrung antizipiert" (AA XXI 06724). Urmittelbar daran schließen die folgenden vier Titel an: "Axiomata der Anschauung. Antizipationen der Wahrnehmung. Analogien der Erfahrung und Schemata des empirischen Denkens überhaupt" (AA XXI 06728). Wahrend sich in der vorangegangenen Ausführung ein Bezug zwischen der Thematisierung von Newtons Titel und dem obersten Grundsatz offenlegen ließ, stellt sich hier ein Zusairmenhang zwischen der besagten Thematisierung und der systematischen Vorstellung der synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes ein^S. Es kann festgehalten werden, daß die Auflösung des Dilenmas mit Newtons Titel auf das System der Grundsätze des reinen Verstandes verweist. Nachdem dargelegt ist, daß der oberste Grundsatz aller synthetischen Urteile das Erkenntnisprinzip ist, das sowohl
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Vgl. Β 197-200. Die Titel des Op.p. weisen allerdings Abweichungen von denen der Tafel der Grundsätze der Kr.d.r.V. auf: Die Titel des Op.p. tragen keine Numerierung. Statt "Axiomen" heißt es "Axicmata der Anschauung". Der vierte Titel weist eine inhaltliche Differenz auf: Statt "Postulate" heißt es "Schemata des arpirisehen Denkens überhaupt".
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Konstruktion und Instrument
die Bedingung der Möglichkeit der Mathematik als auch die der Philosophie systematisch vereint, könnte dieser als das eine synthetische Erkenntnis der Transzendentalphilophie aufgefaßt werden, von dem es heißt: "Transzendentalphilosophie ist diejenige Wissenschaft, in welcher Philosophie und Mathematik in Einem synthetischen Erkenntnis a priori systematisch vereinigt ... ein Ganzes ausmacht " (AA XXI 13519)56. Damit ist man nun durch die Keihe der Ausführungen zu Newtons Titel bei der eingangs formulierten Zielstellung der transzendentalphilosophischen Problementwicklung angelangt. Durch den obersten Grundsatz wird begreiflich, wieso die Bedingungen der Möglichkeit von Mathematik und Philosophie in einem System vereinigt sind. Kant formuliert in Anlehnung an Newton den Titel: "Philosophiae transzendental is principia vel mathematica vel philosophica" (AA XXI 06716). Nachdem der Hinweis auf das System der Grundsätze des reinen Verstandes gegeben wurde, stellt sich die Frage, in welchen besonderen Bezügen die "philosophiae transcendental is principia mathematica", bzw. die "philosophiae transcendental is principia philosophica" zu den Grundsätzen des reinen Verstandes stehen. Im folgenden sei eine bloß skizzenhafte^ Antwort gegeben. Hierbei wird auf Bestürmungen der Kr.d.r.V. zurückgegangen. Sowohl die philosophischen als auch die mathematischen Grundsätze sind Erkenntnisse a priori und enthalten, als Urteile formuliert, Begriffe a priori. Hierzu ist bemerkt: "Alle unsere Erkenntnis bezieht sich doch zuletzt auf mögliche Anschauungen, denn durch diese allein wird ein Gegenstand gegeben. Nun enthält ein Begriff a priori (ein nicht empirischer Begriff) entweder schon eine reine Anschauung in sich, und alsdenn kann er konstruiert werden, 56 57
Vgl. auch AA XXI 06901. Die Antwort bleibt hier skizzenhaft, weil sie nicht in die tieferen Zusamnenhänge der Grundsatzlehre des reinen Verstandes eindringt. Die Ausarbeitung geht nur soweit, wie es zur Klärung des Verhältnisses von Mathematik und Philosophie anhand der Op.p.-Stellen notwendig ist.
Problem philosophischer Prinzipien der Mathematik
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oder nichts als die Synthesis möglicher Anschaungen, die a priori nicht gegeben sind, und alsdenn kann man wohl durch ihn synthetisch und a priori urteilen, aber nur diskursiv, nach Begriffen, und niemals intuitiv, durch die Konstruktion des Begriffes" (B 747f.). Für Begriffe a priori, die konstruierbar sind, folgt damit imner, daß sie in Form einer "Compositio"5ö zusanmengesetzt werden können. Ihre Synthesis des Gleichartigen in einer gegebenen Anschauung realisiert sien so, daß für inre zugehörigen reinen Anschauungen, die in den Formen der Anschauung (Kaum und Zeit) gegeben sind, das Verhältnis, in dem sie in Kaum und Zeit zueinander stehen, bestinmt wird. Die Grundsätze des reinen Verstandes, die auf dieser Art von Synthesis fußen, werden mathematische Grundsätze genannt. Es sind die Grundsätze des reinen Verstandes, die unter die Titel "Axiomen der Anschauung" und "Antizipationen der Wahrnehmung" fallen^, im weiteren ist dort ausgeführt: "Alle Verbindung (conjunctio) ist entweder Zusammensetzung (compositio) oder V e r k n ü p f u n g (nexus). Die erstere ist die Synthesis des Mannigfaltigen, was n i c h t notwendig zu einander gehört, wi e z.B. zwei Triangel ..., und dergleichen ist die Synthesis des G l e i c h a r t i g e n in al lem, was m a t h e m a t i s c h erwogen werden kann, (welche Synthesis wiederum in die der A g g r e g a t i o n und K o a l i t i o n eingeteilt werden kann, davon die erstere auf e x t e n s i v e , die andere auf intensive Größen gerichtet ist)" (B 201 Anm.). Dies bedeutet nämlich, daß die Synthesis, die zu einem der mathematischen Grundsätze des reinen Verstandes gehört, auf alles, was mathematisch erwägbar ist, angewandt werden kann. Damit sind alle Verhältnisse von Vorstel lungen, deren Verbindung eine "compositio" ist, mathematisierbar. So können "Antzipationen
58 59
die der
Vgl. Β 202. Vgl. Β 199-202.
"Axiomen der Wahrnehmung",
Anschauung" sofern es
und um
die die
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Konstruktion und Instrument
Demonstration von Größenverhältnissen geht, als die transzendentalen Prinzipien für die Mathematik aufgefaxt werden. Und unter den transzendentalen Prinzipien für die Philosophie würden die dynamischen Grundsätze des reinen Verstandes betrachtet werden, deren zugrundeliegende Synthesis "die Verbindung des D a s e i n s des Mannigfaltigen betrifft" (Fußnote zu Β 201). Im speziellen wird hieraus deutlich, warum in einem Kontext zu Newtons Titel, in dem auf die unterschiedlichen Arten der Anfangsgründe der Transzendentalphilosophie hingewiesen wird (AA XXI 06716), aucn Verweise auf die Tafel der Grundsätze des reinen Verstandes gegeben werden ( M XXI 06728). Zur Vervollständigung der Antwort auf die Frage nach der Art der philosophischen Prinzipien der Transzendentalphilosophie ist zu erwähnen, daß zum System der Grundsätze des reinen Verstandes auch der oberste Grundsatz aller analytischen Urteile gehörtßO, der unter dem Titel des Satzes vom Widerspruch oder vom ausgeschlossenen Dritten bekannt ist. Da die Transzendentalphilosophie nicht nur synthetische Erkenntnisse a priori, sondern auch analytische Erkenntnis enthalten solici, gehört auch der Satz vom Widerspruch dazu. Weil der Satz vom Widerspruch sich nicht auf die Konstruktion der Begriffe in reiner Anschauung g r ü n d e t 6 2 ) noch zu den Bedingungen der Möglichkeit der Konstruktion in reiner Anschauung gerechnet werden kann, wäre er als ein philosophisches Prinzip der Transzendentalphilosophie aufzufassen: "Daß es eine P h i l o s o p h i e gibt, deren Sätze hier analytisch vorgetragen werden, ihre P r i n z i p i e n aber
60 61 62
Vgl. Β 189-193. Vgl. Β 25-26. In Kants Arbeit "Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen" werden im ersten Abschnitt (AA II S.171-178) zwei Arten der Entgegensetzung unterschieden: "Diese Entgegensetzung ist zwiefach: entweder l o g i s c h durch den Widerspruch, oder r e a l , d.i. ohne Widerspruch" (AA II S.171). Der Satz van Widerspruch würde der logischen Entgegensetzung
Mathematik a l s Werkzeug zu beliebigen Zwecken
65
m a t h e m a t i s c h , d . i . synthetisch sind, macht s i e zur Transzendentalphilosophie" (AA XXI 13304). Der analytische Vortrag philosophischer Sätze setzt den Satz vom Widerspruch a l s Prinzip voraus. Hier findet sich darüberhinaus ein weitergehender Gebrauch des B e g r i f f e s des Mathematischen, wie ich ihn begreife. Er wird an dieser S t e l l e nicht nur auf die mathematischen, sondern auf sämtliche synthetischen Sätze der Transzendentalphilosophie bezogen**«*.
1.2
Der Instrumentalcharakter der Mathematik
1.2.1 Die Mathematik als Werkzeug zu beliebigen Zwecken Ein besonderer Gesichtspunkt von Bestimmungen zur Mathematik im 1. Konvolut des Op.p. ist die Beschreibung derselben als
63
zuzurechnen s e i n . Die e r s t e Entgegensetzung korrespondiert nur zu den im U r t e i l auftretenden Begriffen und operiert mit der logischen Negation auf der Menge der zugehörigen Merkmale. Die zweite Opposition i s t in der Lage, die den Begriffen zugehörigen Momente a l s entgegengesetzte in einer gegebenen Anschauung zu konstruieren. Für B e i s p i e l e aus der Mechanik und aus der Arithmetik legt Kant die Konstruierbarke i t des B e g r i f f e s der negativen Größen dar, obgleich das theoretische Konzept für die Konstruktion einer negativen Größe in einer gegebenen Anschauung erst in der transzendentalen Ästhet i k der K r . d . r . V . entwickelt wird. Ein Beispiel für einen ähnlichen weitergehenden Gebrauch des B e g r i f f s des Mathematischen kann in einer Anmerkung zur Kategorientafel in der K r . d . r . V . gefunden werden: "Denn daß diese Tafel im theoretischen T e i l e der Philosophie ungemein d i e n l i c h , j a unentbehrlich s e i , den Plan zum G a n z e n einer W i s s e n s c h a f t , so fern s i e auf Begriffen a priori beruht, vollständig zu entwerfen und s i e mathematisch n a c h bestimmten Prinzipien abzuteilen; erhel l e t schon von s e l b s t daraus, daß gedachte Tafel a l l e Elementarbegriffe des Verstandes vollständig . . . e n t h ä l t " (B 109 - Β 110).
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Konstruktion und Instrument
Instrument der Transzendentalphilosophie: 'Die Transzendentalphilosophie enthält ein in seinen Grenzen eingeschlossenes System, aber nur dem Formalen ihres Objekts nach (die Mathematik obgleich synthetisches Erkenntnis a priori ist nur Instrument der Transzendentalphilosophie)" (AA XXI 09224). In den Werken Kants tritt der Begriff des Instruments in unterschiedlicher Verwendung auf: Als Exemplar eines Buches, als Musikinstrument oder als physikalisches Meüinstrument^. Daneben gibt es auch Stellen für das Vorkommen in übertragener Bedeutung: Als Organ der Verfassung, als Beamtung oder als Mittel der Staatsgewalt®^. Der Begriff 'Instrument" wird im Fall der Verwendung für die Mathematik als ein spezieller Begriff von "Werkzeug" eingeführt (= "Werkzeug zu beliebigen Zwecken'^: "Und begründet so eine Philosophie, deren Lehre nicht etwa (wie Mathematik) ein gutes Instrument (Werkzeug zu beliebigen Zwecken), mithin bloßes Mittel ... ist" (AA Vili S.417). Diese Bestimmung enthält für die Mathematik zwei Komponenten. Zum einen ist es die, die Kant für jede Doktrin einer Wissenschaft nennt und am Beispiel der Philœophie ausführt: "Philosophie als
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Zum Buch in s e i n e r Bedeutung " a l s das Sturme Instrument der Überbringung der Rede an . . . das Publikum, d . i . a l s Exemplar" v g l . d i e S c h r i f t "Von der Unrechtmäßigkeit des Büchernachdruckes" (AA V i l i S . 8 6 ) . Diese S c h r i f t , d i e im Jahre 1785 v e r ö f f e n t l i c h t wurde, e n t h ä l t den f r ü h e s t e n Beleg f ü r das A u f t r e t e n des Worts "Instrument" in den gedruckten Werken. Zum Begriff "Musikinstrument" v g l . AA V S.212, 224, 225, 330. In der von Kink herausgegebenen "Physischen Geographie" wird das Barometer a l s Instrument der Luftdruckmessung zum Zweck der Höhenbestimnung von Bergen erwähnt (AA IX S.246). 65 Zur Bedeutung des Begriffs "Instrument" als Ver f a s sungsorgan v g l . AA VII S.339, AA VIII S.297, 301. Im " S t r e i t der Fakultäten" werden G e i s t l i c h e , Ärzte und Rechtsgelehrte a l s Instrument der Regierung bezeichnet, wenn s i e durch d i e s e "mit einem Amte b e k l e i d e t " werden (AA VII S.18). In der "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" wird a u s g e f ü h r t : "Und s t a t u a r i s c h e Religion wird ein Instrument der Staatsgewalt ( P o l i t i k ) unter Glaubensdespoten" (AA V i l i S.333).
Mathematik a l s Werkzeug zu b e l i e b i g e n Zwecken
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Lehre einer Wissenschaft kann so wie jede andere Doktrin zu allerlei beliebigen Zwecken als Werkzeug dienen" (AA Vili S.441). Und zum anderen ist es die Komponente, die darin besteht, daß die Mathematik ein Werkzeug zu beliebigen Zwecken ist. Diese werden nämlich in der '^Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" (=: Gr.z.M.d.S.) anhand der Kindererziehung beschrieben: "Weil man in der frühen Jugend nicht weiß., welche Zwecke uns im Leben aufstoßen dürften, so suchen Eltern vornehmlich ihre Kinder recht vielerlei lernen zu lassen und sorgen f ü r die G e schicklichkeit im Gebrauch der Mittel zu a l l e r l e i beliebigen Zwecken, von deren keinem s i e bestimmen können, ob er etwa wirklich k ü n f t i g eine Absicht ihres Zöglings werden könne, wovon es indessen doch m ö g l i c h i s t , daß er s i e einmal haben möchte" (AA IV S.415). Die Beschreibungen des beliebigen Zweckes a l s mögliche Absicht hat zur Folge, dai. Handlungen, d i e nur darauf a u s g e r i c h t e t sind, a u s s c h l i e ß l i c h hypothetischen Imperativen (Imperaiiven der Geschicklichkeit) u n t e r l i e g e n ^ . L e t z t e r e Imperative werden auch " t e c h n i s c h (zur Kunst gehörig)" genannt (AA IV S.416f.). Im Fortlauf der Gr.z.M.d.S. wird d i e Frage nach dem P r i n z i p der hypothetischen Imperative g e s t e l l t : "Wie sind a l l e d i e s e Imperative möglich?" (AA IV S.417). Der Unterschied zwischen der Tatsache, daß jenes P r i n z i p ("Wer den Zweck w i l l , w i l l (so f e r n die Vernunft auf seine Handlungen entscheidenden Einfluß h a t ) auch das dazu unentbehrlich notwendige M i t t e l , das in s e i n e r Gewalt i s t " (AA IV S.417)) in Hinsicht auf das Wollen ein a n a l y t i s c h e r Satz i s t , und der Tatsache, daß der Vollzug der Handlung auf e i n Wissen r e k u r r i e r t , das mit jenem P r i n z i p noch nicht gegeben i s t , wird anhand besonderer möglicher Absichten, d i e in der Lösung elementargeometrischer Aufgaben bestehen, b e l e u c h t e t . Hier wird am Beispiel des Zwecks der Teilung einer gegebenen Linie in zwei gleiche T e i l e d a r g e l e g t , daß das Wissen, das das Erreichen des Zwecks g a r a n t i e r t , in synthetischen Sätzen a p r i o r i b e s t e h t , während 66 Vgl. AA IV S.414-415.
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Konstruktion und Instrument
das obige Prinzip des nypotuetisehen Imperatives, der die Handlung der Teilung der Strecke gebietet, analytisch ist: "Daß, um eine Linie nach einem sichern Prinzip in zwei gleiche Teile zu teilen, ich aus den Enden derselben zwei KreuzbogenG? machen müsse, das lehrt die Mathematik freilich nur durch synthetische Sätze; aber daß, wenn ich weiß, durch solche Handlung allein könne die gedachte Wirkung geschehen, ich, wenn ich die Wirkung vollständig will, auch die Handlung wolle, die dazu erforderlich ist, ist ein analytischer Satz; denn etwas als eine auf gewisse Art durch mich mögliche Wirkung und mich in Ansehung ihrer auf dieselbe Art handelnd vorstellen, ist ganz einerlei" (AA. IV S.417). Resümiert man die bisher gewonnenen Bestimmungen zum Verhältnis von Mathematik und beliebigen Zwecken, so gilt: A. Mathematik ist ein Werkzeug zu beliebigen Zwecken. B. Beliebige Zwecke sind mögliche Absichten von Handlungen, die den Imperativen der Geschicklichkeit unterliegen. C. Auflösungen von Konstruktionsaufgaben der Mathematik sind Handlungen, die auf beliebige Zwecke ausgerichtet sind. In der Kr.d.p.V. wird eine Konstruktionsvorschrift zur Auflösung einer geometrischen Aufgabe als eine " m ö g l i c h e praktische Vorschrift" beschrieben: Der Titel des "praktisch=objektiv Möglichen und Unmöglichen" in der "Tafel der Kategorien der praktischen Vernunft" soll "dasjenige bedeuten, was mit einer bloß möglichen 67
Hier ist auf die Konstruktion der Mittelsenkrechten verwiesen: Die Mit tel senkrechte ist per defini tionem die Ortslinie aller Punkte, die zu zwei gegebenen Punkten gleichweit entfernt liegt. Hieraus ergibt sich, daß für eine Strecke der Schnittpunkt mit ihrer Mittelsenkrechten der Teilungspunkt in zwei gleiche Hälften ist. Die Kcnstruktionsvorschrift besagt: Schlage um die beiden Endpunkte Α, Β der Strecke AB Kreise mit gleichem hinreichend großem Radius. Die Kreise schneiden sich in den Punkten Pi, P2. Dieses sind die von Kant genannten "Kreuzbögen". Die Verbindungsgerade P1P2 ist die gesuchte Mittelsenkrechte. Die hier angegebene Kantische Konstruktionsvorschrift weicht von der Euklidischen ab. Euklid vollzieht die Konstruktion durch Halbierung eines über AB errichteten gleichseitigen Dreiecks.
Mathematik als Werkzeug zu beliebigen Zwecken
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praktischen Vorscnrift in Einstiinnung oder Widerstreit ist (wie etwa die Auflösung aller Probleme der Geometrie und Mechanik" ( M V S.ll, Anm.). Die Imperative der Geschicklichkeit werden in der Gr.z.M.d.S. auch t e c h n i s c h e Imperative genannt^. gj e werden von den pragmatischen und moralischen Imperativen unterschieden. Hierauf könnt Kant in der zuerst abgefaßten, aber nicht veröffentlichten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft (="Erste Einleitung"=: E.E.) zurück 69 : "Hier ist der Ort, einen Fehler zu verbessern, den ich in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten beging. Denn, nachdem ich von den Imperativen der Geschicklichkeit gesagt hatte, daß sie nur bedingterweise und zwar unter der Bedingung bloß möglicher, d.i. p r o b l e m a t i s c h e r , Zwecke geböten, so nannte ich dergleichen praktische Vorschriften problematische Imperativen, in welchem Ausdruck freilich ein Widerspruch liegt. Ich nätte sie t e c h n i s c h , d.i. Imperativen der Kunst nennen sollen" (AA XX S.20Ü). Während die p r a g m a t i s c h e n Imperative "auch unter den technischen"?0 stehen, kotrnit ihnen der Zweck zu (der Zweck der Glückseligkeit), daß die aus jenen gebotene Handlung nicht nur auf bloß beliebige Zwecke abzielt. Damit steht den pragmatischen Imperativen eine besondere Kol le innerhalb der technischen Imperative zu: Man ist "berechtigt zu einer besondern Benennung dieser technischen Imperativen, weil die Aufgabe nicht bloß, wie bei technischen, die Art der Ausführung eines Zwecks, sondern auch die Bestimnung dessen, was diesen Zweck selbst (die Glückseligkeit) ausmacht, fordert, welches bei allgemeinen technischen Imperativen als bekannt vorausgesetzt werden muß" (AA XX S.200). An dieser Stelle möchte ich auf die hierauf bezogene Anmerkung des Herausgebers des Textes der E.E. in der
68 69 70
Vgl. AA IV S.416f. AA XX S.193-251. Zur Entstehungsgeschichte der Einleitung" vgl. AA XX S.475-479. AA XX S.200.
"Ersten
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Konstruktion und Instrument
Akademieausgabe eingehen. Dort heißt es: "Kant bezieht sich hier auf den 2. Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten IV 414ff. Aber der Fehler, den er verbessern zu müssen glaubt, findet sich hier nicht. Denn hier heißt es von den Imperativen der Geschicklichkeit (AA IV 41513), man könne sie "auch t e c h n i s c h (zur Kunst gehörig) ... nennen". Das stiimit genau überein mit der venneint 1 ichen Selbstkorrektur (AA 2Ü016-17) : "Ich hätte sie technisch, d.i. Imperativen der Kunst nennen sollen""(AA XX S.497). Die Gr.z.M.d.S. trennt bei dem hypothetischen Imperativ denjenigen, der sagt, daß eine Handlung zu einer möglichen Absicht gut ist, von demjenigen, der sagt, daß eine Handlung zu einer wirklichen Absicht gut ist 7 1 . Im ersten Fall nennt Kant dort ein problematisch;;, im zweiten ein assertorisch=praktisches Prinzip. Im Fort lauf der Argumentation der Gr.z.M.d.S. folgt dann für die pragmatischen Imperative: "Also ist der Imperativ, der sich auf die Wahl der Mittel zur eigenen Glückseligkeit bezieht, d.i. die Vorschrift der Klugheit, noch iiimer h y p o t h e t i s c - h ; die Handlung wird nicht schlechthin, sondern nur als Mittel zu einer andern Absicht geboten" (AA IV S.416). Resümiert man nun die Bestimmungen der nicht kategorischen Imperative aus den angegebenen Passagen der Gr.z.M.d.S. und der E.E., so ergibt sich folgende Tabelle 72 :
71 72
Vgl. AA IV S.414. Die Bestinmungen der Imperative der Gr.z.M.d.S. wurden aus AA IV S.414-419, die der E.E. aus AA XX S.200 entnommen.
Mathematik a l s Werkzeug zu beliebiegen Zwecken
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E.E.
Gr.z.M.d.S. technische Imperative= problematischpraktisches Prinzip Absicht : möglicher Zweck hypothetische Imperai ive pragmatische Imperative= assertorischpraktisches Prinzip Absicht : wirklicher Zweck
technische Imperative
Absicht : möglicher, d . i . technische problemat ischer Imperai ive Zweck pragmatische Iuperative
Absicht : wirklicher, d . i . subjektivnotwendiger Zweck
In der Betrachtung der Imperative können zwei Gesichtspunkte unterschieden werden: Zum einen ist es der Aspekt der Art der Zwecke, auf die sich die Handlung bezieht, und zum anderen ist es der Aspekt der Art des Gebietens des Imperatives. Die hypothetischen Imperative gebieten, indem sie 'Vlie praktische Notwendigkeit einer möglichen Handlung als Mittel zu etwas anderem, was man will (oder doch möglich ist, da Ii man es wolle), zu gelangen", vorstellen (AA IV S.414). Während die Arten des Gebietens der Imperative der Geschicklichkeit oder der der Glückseligkeit in der Gr.z.M.d.S. durch Begriffe der Urteilstafel^ 73
Unter dem Begriff der U r t e i l s t a f e l sind h i e r die verschiedenen Repräsentationen d i e s e r T a f e l , d i e durch die Tafel der logischen Funkionen des Verstandes in U r t e i l e n (B 95, A 70) und durch d i e "Logische Tafel der
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Konstruktion und Instrument
beschrieben werden ("problematisch = praktisches Prinzip", "assertorisch = praktisches Prinzip" (AA IV S.415)), beschreibt die E.E. die Art des Gebietens der Imperative der Geschicklichkeit als solche der Imperative der Kunst und die Art des Gebietens der Imperative der Glückseligkeit als solche der Regeln der Klugheit. Diese Leistung der E.E. gegenüber der Gr.z.M.d.S. sieht zunächst tautologisch aus. Aber bei näherem Hinsehen wird die Beschreibung des Gebietens präziser: Die Handlung als Mittel zur Erreichung der Glückseligkeit ist "so gar subjektiv = notwendig" geboten 7 4 . In der Gr.zJVl .d.S. war das Gebieten 'fcu fällig1(7 5 : " Die R a t g e b u n g e n t h ä l t zwar Notwendigkeit, d i e aber bloß unter s u b j e k t i v e r z u f ä l l i g e r Bedingung, ob d i e s e r oder jener Mensch d i e s e s oder jenes zu seiner Glückseligkeit zähle, g e l t e n kann" (AA IV S.416). Jeder wirkliche i s t insbesondere auch e i n möglicher Zweck: "Denn was i s t Klugheit anders, a l s Geschicklichkeit, f r e i e Menschen und u n t e r diesen so gar der Naturanlagen und Neigungen in sich s e l b s t , zu seinen Absichten brauchen zu können" (AA XX S.200). Während in der Gr.z.M.d.S. die Beschreibung der Art des Gebietens der Imperative mit den Mementen der U r t e i l s t a f e l a l s E i n t e i l u n g s p r i n z i p der hypothe-
U r t e i l e " (Prolegomena, AA IV S . 3 0 2 f . ) gegeben sind, zusamnenfaßt. 74 "Die p r a g m a t i s c h e , oder Regeln der Klugheit, welche unter der Bedingung eines w i r k l i c h e n und sogar subjektiv=notwendigen Zweckes gebieten, stehen nun zwar auch u n t e r den technischen" (AA XX S.200). 75 Gegenüber der Gr.z.M.d.S. e r s c h e i n t mir d i e Beschreibung des Gebietens des pragmatischen Imperatives in der E.E. auch darum p r ä z i s e r , weil d i e Charakterisierung des Gebietens a l s "subjektiv=notwendig" eine Ähnlichkeit zur Notwendigkeit a u f w e i s t , d i e das Geschmacksurteil bei sich führt : " D i e Notwendigkeit der allgemeinen Beistimmung, die in einem Geschmack s u r t e i 1 gedacht wird, ist eine subjektive Notwendigkeit, die unter der Voraussetzung eines Gemeinsinns als objektiv vorgestellt wird" (AA V, S.239).
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tischen Urteile hervorragt?^, s ind hier die Momente der Urteilstafel als Einteilungsprinzip verschwunden. Ausschließlich die Art des Zweckes gestattet, die pragmatischen Imperative innerhalb der technischen Imperative auszuzeichnen: "Allein daß der Zweck, den wir uns und andern unterlegen, nämlich eigene Glückseligkeit, nicht unter die bloß beliebigen Zwecke gehöret, berechtigt zu einer besondern Benennung dieser technischen Imperativen" (AA XX S.200). Daraus folgt, daß die Handlungen, die ausschließlich den Inoperativen der Geschicklichkeit unterliegen, nur zu beliebigen Zwecken erfolgen. Kant kritisiert den Terminus "problematischer Inperativ", den er als in der Gr.z.M.d.S. auftretend beschreibt??, als einen, der einen Widerspruch enthält? 8 . Bezieht man nämlich das Wort "problematisch" auf die Art des Gebietens des Imperatives, dann ist es tatsächlich ein Widerspruch, denn alle Imperative gebieten notwendig?*·. Ohne das Verdienst des Herausgebers der E.E. in der AA schmälern zu wollen, da er durch seine Anmerkung zu Kants Fußnote zum Begriff der Technik den Blick auf das Problem hinsichtlich der Gr.z.M.d.S. geschärft hat, muß bemerkt werden, daß es sich nicht um eine "vermeintliche 76
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In der Gr.z.M.d.S. wird bei den hypothetischen Inpera ti ven zwischen dan "problematisch=praktischen Prinzip" und dem "assertorisch=praktisehen Prinzip" unterschieden. Im Stellenindex zu AA IV sind folgende Wortformen zum Begriff "Problematisch" belegt: PHOBLEM, PROBLEME, PROBLEMATISCH, PH0BLEM4T ISCHE. Von diesen Wort formen tritt nur die Form PROBLEMATISCH in der Gr.z.M.d.S. und zwar nur an der genannten Stelle (AA IV S.414f.) auf. Sie ist darum als der Anknüpfungspunkt anzusehen, auf den sich Kant in AA XX S.200 bezieht. Siehe AA XX S.200. Denn entweder beinhalten Imperative eine "praktische Notwendigkeit einer möglichen Handlung zu etwas anderem" (hypothetische Imperative) oder sie stellen "eine Handlung für sich selbst ohne Beziehung auf einen anderen Zweck, als Objektiv=notwendig vor" (AA IV S.414).
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Selbstkorrektur" Kants nandelt, sondern um eine Korrektur, die deutlich macht, daß> die Einteilung der Imperative nicht die logischen Urteilsformen, sondern die Klassifikation der Zwecke als Grundlage hat. Als besondere beliebige Zwecke waren oben die Konstruktionsaufgaben der Mathematik genannt. Diese lassen sich als Bestandteile einer besonderen Gattung praktischer Sätze ansehen, die als Absicht einer Handlung nur die Möglichkeit eines vorgestellten Objekts beschreiben: "Praktische Sätze also, die dem Inhalte nach bloß die Möglichkeit eines vorgestellten Objekts (durch willkürliche Handlung) betreffen, sind nur Anwendungen einer vollständigen theoretischen Erkenntnis und können keinen besondern Teil einer Wissenschaft ausmachen" (AA XX S.198). Hieraus folgt, daß diese Gattung praktischer Sätze nur als Anwendung theoretischer Erkenntnisse zu verstehen ist. Insbesondere gilt für die praktischen Sätze, die Konstruktionsaufgaben der Geometrie sind, daß sie keine "abgesonderte Wissenschaft" unter dem Namen einer praktischen Geometrie ausmachen können. Für die Geometrie ist nämlich im speziellen ausgeführt: "Eine praktische Geometrie, als abgesonderte Wissenschaft, ist ein Unding: Obgleich noch so viel praktische Sätze in dieser reinen Wissenschaft enthalten sind, deren die meisten als Probleme einer besonderen Anweisung zur Auflösung bedürfen" (AA XX S.198). A n dieser Stelle ist nun auf ein Problem hinzuweisen, das für das Op.p.von unmittelbarer Bedeutung ist^O; Für die hier genannten praktischen Sätze wird gefordert, daß sie Anwendungen einer vollständigen theoretischen Erkenntnis sind. Es stellt sich zunächst die Frage, wann eine Wissenschaft (hier unter "theoretischem Erkenntnis"
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Auf das Problem der Vollständigkeit der mathematischen Erkenntnis wird in der Auseinandersetzung mit d'Alemberts Encyklopädie hingewiesen ("wenn dann noch die mathematische Analysis auch ihre Fülle erreicht haben wird, wozu es jetzt schon gekaimen zu sein scheint" (AA XXI S.555)).
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verstanden) als vollständig anzusehen ist: Wenn die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Erkenntnis vollständig beschrieben sind oder wenn das System ihrer Grundsätze vollständig errichtet ist? Diese Frage entspricht der Überlegung, ob die Wissenschaft selber bereits hinsichtlich der Menge ihrer Erkenntnisse vollständig sein muß, oder ob die jeweilige einzelne Erkenntnis, die angewandt werden soll, vollständig gegeben sein muß. Für die Konstruktionsaufgaben der Mathematik muß nur das einzelne Verfahren des zu konstruierenden Begriffes bekannt sein. Im weiteren stellt sich die Frage, ob die Forderung einer vollständigen theoretischen Erkenntnis sich temporär, d.h. zum Zeitpunkt der Anwendung des praktischen Satzes, oder teleologisch, d.h. im Gang der Menschengeschichte möglicherweise, erfüllen muß. Im folgenden wäre dann zu untersuchen, ob die Forderung einer vollständigen theoretischen Erkenntnis eine Bedeutung für die Einteilung der praktischen Sätze hätte, d.h. ob es im Falle nicht vollständiger Wissenschaften eine besondere Klasse von praktischen Sätzen gäbe, die weder praktische Prinzipien haben, noch bloße Anwendung einer schon gegebenen Erkenntnis wären. Ein mathematischer Satz, der unter Nennung seiner Voraussetzungen die in ihm enthaltene Erkenntnis als adäquate Formel ausdrückt, hat den Vorteil, daß für alle Fälle, auf die er anwendbar ist, die Auflösung des praktischen Problems, die in seiner Anwendung besteht, durch die Formel schon vorgezeichnet ist. Die Formel stellt gleichsam eine algorithmische Vorschrift dar, die möglicherweise verkürzt ausgedrückt ist, die der Anwender Schritt für Schritt abarbeitet, womit er zu einem praktischen Ergebnis, d.h. der Auflösung der Aufgabe gelangt. In der Vorrede zur "Kritik der praktischen Vernunft" wird der mathematische Erkenntnisfortscnritt, der sich im Aufstellen einer adäquaten Formel findet, beschrieben. Eine adäquate Formel ist eine solche, die das, was zur Auflösung einer mathematischen Aufgabe erledigt werden nuß, "ganz genau bestimmt". Un den Fortschritt der Erkenntnis, der in der Aufstellung einer
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neuen Formel für den Bereich der Moralität liegt, deutlich werden zu lassen, weist Kant auf das Beispiel der Mathematik hin: "Wer aber weiß, was dem Mathematiker eine F o r m e l bedeutet, die das, was zu tun sei, um eine Aufgabe zu befolgen, ganz genau bestinmt und nicht verfehlen läßt, wird eine Formel, welche dieses in Ansehung aller Pflicht überhaupt tut, nicht für etwas Unbedeutendes und Entbehrliches halten" (AA V S.8, Arm.). In der Kr.d.p.V. macht Kant auch den Vorschlag, die innermathematische Bezeichnung von "praktischen Sätzen der Mathematik" zugunsten der Bezeichnung "technische Sätze der Mathematik" fallen zu lassen: "Sätze, welche in der Mathematik oder Naturlehre praktisch genannt werden, sollten eigentlich t e c h n i s c h heißen. Denn um die Willensbestimnung ist es diesen Lehren gar nicht zu tun" (AA V S.26). In Zusanmenhang mit dem von Kant in der E.E. angesprochenen Problem der Konstruierbarkeit mit Zirkel und Lineal, das unten noch ausführlicher behandelt wird, sei an dieser Stelle auf die Frage der "besonderen Anweisung zur Auflösung" (AA XX S.198) eingegangen. Es stellt sich in diesem Kontext die Frage, ob diese "besondere Anweisung" aus dem Gebiet der Wissenschaft genommen werden muß, die angewandt werden soll, oder ob die Anweisung auch Bestandteile anderer Disziplinen entnalten kann. In der antiken griechischen Geometrie wurden folgende Probleme der Konstruktion mit Zirkel und Lineal aufgestellt. Keine dieser Aufgaben konnte in der Antike aufgelöst werden: 1. Die Trisektion des Winkels; dieses bedeutet, einen gegebenen Winkel in drei gleiche Teile zu teilen. 2. Die Verdoppelung des Würfels; dieses bedeutet, die Seite eines solchen Würfels zu finden, dessen Volumen zweimal so groß ist, wie das eines gegebenen Würfels (das sogenannte Delische Problem)®^. 81
Warda nennt unter den Büchern des verstorbenen Professors Gensichen, die zusammen mit Kants Bibliothek versteigert wurden, das in octavo vorliegende Exemplar Nr.477: "Wlochatius: Auflösung des Delischen Problems". Es kann
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Die Quadratur des Kreises; dieses bedeutet, ein Quadrat mit einem F lachen innalt zu finden, der dem Innalt einer gegebenen Kreisfläche gleichkommt 82. Die Konstruktion der regulären Polygone mit gegebenen Uniereis^.
Die ersten beiden Probleme führen auf algebraische Gleichungen, aus denen mittels der von Evariste Galois (1811 - 1832) entwickelten Iheorie der Auflösbarkeit algebraischer Gleichungen geschlossen werden kann, daß diese Probleme nicht durch Konstruktion mit Zirkel und Lineal zu lösen sind. Das dritte Problem führt auf die Zahl η . Ferdinand Lindemann zeigte 1882 (Mathematische Annalen 20, 1882, S.213-25), daß π transzendental ist, d.h. keine Nullstelle eines Polynoms mit Koeffizienten in einem algebraischen Erweiterungskörper Q ist. Das vierte Problem wurde von den Pythagoräern84 fü r den Fall des regulären Fünfecks behandelt. Carl Friedrich Gauß, der das letztgenannte Problem am Morgen des 29. März 1796 für das reguläre 17-Eck löste 85 , schreibt am l.Juni 1796 im "Intelligenzblatt der allgemeinen Literaturzeitung" zu Göttingen: "Neue Entdeckungen Es ist jeden Anfänger der Geometrie bekannt, daß verschiedene ordentliche Vielecke, namentlich das Dreieck, Fünfeck, Fünfzenneck und die, welche durch wiederholte Verdoppelung der Seitenzahl eines derselben entstehen, sich geometrisch konstruieren lassen. So weit war man schon zu
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also nicht ausgeschlossen werden, daß Kant diese Literatur über die alten Probleme der euklidischen Geometrie gekannt hat. Vgl. Struik S. 36. Siehe van der Waerden S.200f. "Für das regelmäßige 5-Eck hatten schon die Pythagoräer im 5. Jahrhundert v.u.Z. eine Konstruktion mit Zirkel und Lineal angeben können" Wussing: "... Gauß", S. 19 . Vgl. Wussing: "... Gauß", S.18.
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Euklids Zeit, und es scheint, man habe sich seitdem überredet, daß das Gebiet der Elementargeometrie sich nicht weiter erstrecke: wenigstens kenne ich keinen geglückten Versuch, ihre Grenzen auf dieser Seite zu erweitern. Desto mehr, dünkt mich, verdient die Entdeckung Aufmerksamkeit, daß außer jenen ordentlichen Vielecken noch eine Menge anderer, z.B. das Siebzehneck, einer Konstruktion fähig ist. Diese Entdeckung ist eigentlich nur ein Corollarium einer noch nicht ganz vollendeten Theorie von grösserm Unfange, und sie soll, sobald diese ihre Vollendung erhalten hat, dem Publikum vorgelegt werden. C.F.Gauss, a. Braunschweig. Stud, der Mathematik zu G ö t t i n g e n " 8 6 . In der Dissertation mit dem Thema "Disquisì tiones arithmeticae", die im Jahre 1801 erschien, wird von Gauß die genannte "Theorie von grösserm Unfange" entwickelt. Die Dissertation enthält drei Hauptteile: Die Theorie der Kongruenzen, die der quadratischen Formen und die der Kreisteilung87. Aus der letzteren folgt die Antwort auf die Frage, welche der regulären Polygone mit Zirkel und Lineal zu konstruieren sind: Satz (Gauß) : Sei Ρ ein reguläres Polygon mit η Ecken (ne Ν) und gegebenan Utakreis, dann gilt: Ρ ist mit Zirkel und Lineal konstruierbar genau dann, wenn η = 2 M * ρ ^ 1 * ... * p ^ , wobei M e Νυ|θ) und für alle i=l k gilt m^e |0,l| und pj = + 1 (für ein ν aus N). Für k=l, M=0, v=2 ergibt sich gerade n=17, womit das reguläre 17-Eck mit Zirkel und Lineal konstruierbar ist. Insbesondere folgt aus der Gaußschen Dissertation, daß es Probleme der Elementargeometrie gibt, die einer "besonderen Anweisung" bedürfen, die zwar aus der Mathematik kcnmt, die aber nicht der Geometrie, sondern der höheren Arithmetik (algebraische Zahlentheorie) angehört. An di eser Stelle sei eine Anmerkung zum Begriff der Elementargeometrie gemacht, der sowohl von Kant als von Gauß 86 Vgl. Wussing: "... Gauß", S.20f. 87 Vgl. Wussing: "... Gauß", S.32.
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benutzt wird. In Differenz zum heutigen Sprachgebrauch, der die "Elementargeometrie" im Unterschied zur höheren Geometrie sieht (z.B. Trigonometrie, Differentialgeometrie, algebraische Geometrie), tritt bei beiden Autoren der Bezug zur Geometrie Euklids explizit hervor8**. Der Begriff der Elementargeometrie ist der Begriff der Geometrie, der in den Büchern Euklids, den dreizehn "Elementen", niedergelegt ist. Der Konstruktionsbegriff der darin entwickelten Geometrie ist an die Konstruierbarkeit von Kreisen und Geraden geknüpft. Die Konstruier barkeit ist aber nichts anderes als die Beschreibung des Bereichs der geometrischen Gegenstände, die zureichend mit der Menge der euklidischen Postulate erzeugt werden können, d.h. auf Konstruktionen beruhen, in die nichts anderes als die Postulate und die mit den Postulaten hinreichend bewiesenen Sätze eingehen. Im ersten Buch der "13 Elemente" sind die fünf Postulate, die sogenannten Euklidischen Axiome a n g e g e b e n * ^ : 1. 2. 3. 4. 5.
Es ist möglich, eine gerade Linie von einem Punkt zu einem anderen Punkt zu ziehen. Es ist möglich, eine endliche gerade Linie stetig in eine gerade Linie fortzusetzen. Es ist möglich, einen Kreis mit beliebigem Mittelpunkt und Radius zu beschreiben. Alle rechten Winkel sind einander gleich. Wenn eine gerade Linie ein Paar gerader Linien schneidet und die inneren Winkel auf einer Seite kleiner als zwei rechte Winkel sind, so schneiden sich die beiden geraden Linien auf der Seite, auf der die Winkel kleiner als zwei rechte Winkel sind.
Hier sollen nur die drei ersten Postulate betrachtet werden: Sie fordern die Existenz der Strecke, die Existenz 88 Vgl. AA XX S.198. Bei Gau& findet sich der Begriff "Elementargeometrie" in der angegebenen "Neuen Entdeckung". 89 Zum Wortlaut der Euklidischen Postulate vgl. Euklid l.Teil, S. 2f.
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der stetigen Fortsetzung der Strecke zu einer Geraden und die Existenz des Kreises. Daraus wird deutlich, daß der Konstruktionsbegriff der Elementargeometrie, der die Erzeugung geometrischer Figuren aus Kreisen und Geraden fordert, nicht nur die Ausführung der Konstruktion mittels Zirkel und Lineal meint, sondern unmittelbar mit den Euklidischen Postulaten verbunden ist. Die in der Rezeption der Euklidischen "Elemente" betonte Ausführung der Konstruktion mit Zirkel und Lineal findet sich im Werk Euklids gar nicht betont: "Auffällig ist, daß die benötigten Konstruktionsmittel, Zirkel und Lineal, bei Euklid gar nicht genannt werden" 9 0 . Das unterstreicht noch einmal, daß der Konstruktionsbegriff der Elementargeometrie unmittelbar an die Euklidischen Postulate und bloß mittelbar an die Ausführung mit Zirkel und Lineal geknüpft ist. Die Vorstellungen der Euklidischen Postulate sind Abstraktionen der durch Zirkel und Lineal ausgeführten Konstruktionen von Kreis und Geraden. E>as Wort "Abstraktion" meint das Verfahren der Absonderung, das in der "transzendentalen Ästhetik" beschrieben ist: "So, wenn ich von der Vorstellung eines Körpers das, was der Verstand davon denkt, als Substanz, Kraft, Teilbarkeit etc., imgleichen, was davon zur Eknpfindung gehört, als Undurchdringlichkeit, Härte, Farbe etc., absondere, so bleibt mir aus dieser empirischen Anschauung noch etwas übrig, nämlich Ausdehnung und Gestalt" (B 35). A n dieser Stelle ist auf eine Unterseheidung zum Begriff des "Postulats" einzugehen, womit dieser innerhalb der praktischen Philosophie eine andere Bedeutung bekannt als in der reinen Mathematik (insbesondere in der Euklidischen Geometrie) : "Aber der Ausdruck eines P o s t u l a t s der reinen praktischen Vernunft konnte nach am meisten Mißdeutung veranlassen, wenn man damit die Bedeutung vermengte, welche die Postulate der reinen Mathematik haben, und welche
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Niebel S.12.
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apodiktische Gewißheit bei sich führen" (AA V S . 11). Die urmittelbare Gewißheit (vgl. Β 760) der Euklidischen Postulate als synthetische Urteile a priori ist also eine apodiktische Gewißneit. Kant charakterisiert am Beispiel der Konstruktion des (•Quadrates, daß> Konstruktionsaufgaben der euklidischen Geometrie als reine Folgerungen aus dieser Theorie praktische Sätze sind^l; "Die Aufgabe: mit einer gegebenen Linie und einem gegebenen rechten Winkel ein Quadrat zu konstruieren, ist ein praktischer Satz, aber reine Folgerung aus der Theorie" (AA XX S.198). Diese Anwendung der Theorie ist deswegen reine Folgerung, weil sie keine anderen Stücke als die, die in der Theorie gegeben sind, benützt^^. Eine weitere Klasse von beliebigen Zwecken, für die die Mathematik als Werkzeug eingesetzt wird, besteht in dem "Gebrauch dieser Wissenschaft zu Geschäften" (AA XX S.198)93.
91 Das Problem der Vollständigkeit ist auch inner-mathematisch thematisiert worden. Gödel untersuchte 1931 mit der Arbeit "über formal unentscheidbare Sätze der 'Principia mathematica' und verwandter Systeme I", (Monatshefte für Mathematik und Physik, 38, 1931, S.173 198, vgl. Kline S.1207) die Vollständigkeit der Prädikatenlogik, die ein Teil der mathematischen Logik ist. 92 Diese Konstruktionsaufgabe entspricht der 46. Proposition des 1. Buches Euklids (vgl. Euklid, l.Teil, S. 31):Proposition 46: Beschreibe ein Quadrat zu einer gegebenen geraden Linie. An der Ausführung der Konstruktion des Quadrats wird deutlich, warum diese nur eine reine Folgerung aus den Postulaten und den mit innen bewiesenen Propositionen ist. 93 Einen Eindruck, wie umfassend der "Gebrauch der Mathematik zu Geschäften" in Kants Mathematikvorlesungen geschildert wurde, gibt Herders Vorlesungsmitschrift (AA XXIX, 1. Halbband S.49-66). Die zwei Klassen praktischer Sätze, die einerseits in den Konstruktionsaufgaben der Geometrie und die andererseits in den Anwendungen der Geometrie für die Feldmeßkunst bestehen, die Kant in der E.E. nacheinander erörtert (AA XX S.198), können das
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Als Beispiel hierfür wird der Einsatz der Geometrie in der "Feldme&kunst (agrimensoria)", die etwa der Heutigen Geodäsie vergleichbar ist^ angeführt^. Solche Anwendungen der Geometrie können keinen besonderen Teil dieser Wissenschaft ausmachen, sondern gehören zum Lehrbegriff der Geometrie, was Kant in seinen Mathematikvorlesungen auch dokumentierte^®: "Auch kann sich die Feldmeßkunst (agrimensoria) den Namen einer praktischen G e o m e t r i e keineswegs anmal&en und ein besonderer Teil der Geometrie überhaupt heißen, sondern gehört in Scholien der letzteren, nämlich den Gebrauch dieser Wissenschaft zu Geschäften" (AA XX S.198). Mit der E.E. und der etwa parallel zur Abfassung der "Kritik der Urteilskraft" 97 ausgearbeiteten Schrift "über eine Entdeckung nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll" (=: Streitschrift)9^ gibt Kant eine Darlegung des Konstruktionsbegriffs der Geometrie, die ausführlicher als die transzendentale Methodenlehre der Kr.d.r.V. den Begriff der reinen von der empirischen Konstruktion unterscheidet und die eine Verallgemeinerung des Konstruktionsbegriffs der Elementargeometrie ist, d.h. die deren Vorstellung der Erzeugung geometrischer Konfigurationen durch Kreise und Geraden beinhaltet. Die E.E. enthält zur Geometrie die folgende Anmerkung: "Diese reine und eben darum erhabene Wissenschaft scheint
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Einteilungsprinzip der "Mathesis specialis impura sive applicata" nach "directe" und "indirecte" abgegeben haben (vgl. AA XXIX, 1. Halbband S.49). Vgl. Wussing: "... Gauß", S.71f. Vgl. AA XX S.198. Vgl. AA XXIX S.50,64ff. A n 1. Dezember 1789 schrieb Kant an Carl Leonhard Keinhold:: "Ich habe etwas über E b e r h a r d unter der Feder. Dieses und die K r i t i k der U r t e i l s k r a f t werden hoffentlich Ihnen im Ostern zu Händen kaimen" (AA XI S.lll). "Uber eine Entdeckung nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll" (AAVIII, S.185-251).
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sien etwas von ihrer Würde zu vergeben, wenn sie gesteht, daß sie, als Elementargeometrie, obzwar nur zwei, W e r k z e u g e zur Konstruktion ihrer Begriffe brauche, nämlich den Zirkel und das Lineal, welche Konstruktion sie allein geometrisch, die der höheren Geometrie dagegen mechanisch nennt, weil zu der Konstruktion der Begriffe der letzteren zusammengesetzte Maschinen erfordert werden. Allein man versteht auch unter den ersteren nicht die wirklichen Werkzeuge (circinius et regula), welche niemals mit mathematischer Präzision jene Gestalten geben könnten, sondern sie sollen nur die einfachste Darstellungsarten der Einbildungskraft a priori bedeuten, der kein Instrument es gleich tun kann" (AA XX S.198). In dieser Anmerkung betont Kant, daß> die Werkzeuge der Konstruktion von den wirklichen Werkzeugen abzuheben sind: Bei der Konstruktion in der reinen Anschauung korrespondiert dem geometrischen Gegenstand ein Schema^. Das Schema ist a priori die bloße Repräsentation des Musters eines geometrischen Gegenstandes*^. es ist nur ein Produkt 101 und gleichsam ein "Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori" (B 181). Daher können die genannten "Darstellungsarten der Einbildungskraft a priori" als die Schemata der korrespondierenden Gegenstände aufgefaßt werden. Im Fall geometrischer Gegenstände werden die Schemata schon durch die ersteren eindeutig gegeben: Ist der geometrische Gegenstand (z.B. eine Linie im Kaum) gegeben, so ist gleichzeitig auch die allgemeine Bedingung seiner 99 Vgl. Β 742. 100 Kant führt dieses am Beispiel der Konstruktion eines Dreiecks aus: "So konstruiere ich einen Triangel, indem ich den diesem Begriffe entsprechenden Gegenstand, entweder durch bloße Einbildung, in der reinen, oder nach derselben auch auf dem Papier, in der empi ri sehen Anschauung, beidemal (in A: "beide male", G.B.) aber völlig a priori, ohne das Muster dazu aus irgend einer Erfahrung geborgt zu haben, darstelle" (B 741-742, A 713-714). 101 "Das Schöna ist an sich selbst jederzeit nur ein Produkt der Einbildungskraft" (B 179).
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Konstruktion bestimmt 1 0 2 (z.B. eine Linie ist genau dadurch im Kaum gegeben, daß sie im Raum gezogen wirdlO 3 ). Die Vorstellung der allgemeinen Bedingung der Konstruktion eines geometrischen Gegenstandes, d.h. die Darstellung seines Musters, ist das Schema. Daher gilt: Wenn der geometrische Gegenstand gegeben ist, ist gleichzeitig das Scnema mitgegeben. Ist nun umgekehrt das Schema eines geometrischen Begriffes gegeben (z.B. das Schema der geradlinigen Verbindung zweier Punkte in einem Räume), so ist damit die Regel der Ausführung einer Konstruktion in reiner Anschauung gegeben. Durch die Ausführung der so bestimmten Konstruktion in reiner Anschauung wird der Gegenstand erzeugt: Das Schana eines Begriffs ist die Vorstellung "von einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen" (B 179-180). Als Produkt der Einbildungskraft ist das reine Bild eine GrößelO'*. Die Regel der zu der Erzeugung dieses Quantums erforderlichen gleichförmigen Synthesis wird durch
102 Vgl. Β 742. 103 "Um aber irgend etwas im Räume zu erkennen, z.B. eine Linie, muß ich sie z i e h e n , und also eine bestürmte Verbindung des gegebenen Mannigfaltigen synthetisch zu Stande bringen, so daß die Einheit dieser Handlung zugleich die Einheit des Bewußtseins (im Begriffe einer Linie) ist, und dadurch allererst ein Objekt (ein bestimmter Raum) erkannt wird" (B 137-138). 104 Das Bild kann entweder Produkt des empirischen Vermögens der produktiven Einbildungskraft sein, dann kann das Bild nur vermittelst des Schemas mit dem Begriff verknüpft vorgestellt werden, in diesen Falle kongruiert das Bild mit seinem Begriff nicht vollständig (vgl. Β 181), oder man hat es mit einem reinen Bild zu tun (dem reinen Bild eines geometrischen Begriffes), dann ist dieses das einer Größe und Teil des Raumes und somit ein geometrischer Gegenstand: "Das reine Bild aller Größen (quantorum) vor dem äußern Sinne, ist der Raum" (B 182). Das Schema eines reinen sinnlichen Begriffes, das im allgemeinen Produkt und Monogranm der reinen Einbildungskraft ist, kongruiert hier mit dem von ihm erzeugten reinen Bild.
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das Schema dargestellt. Über die gleichförmige Synthesis, die den geometrischen Gegenstand als Quantum erzeugt, heißt es: "In Ansehung der e r s t e m (Baum und Zeit, G.B.) können wir unsere Begriffe in der Anschauung a priori bestimmen, indem wir uns im Räume und der Zeit die Gegenstände selbst durch gleichförmige Synthesis schaffen, indem wir sie bloß als Quanta betrachten" (B 751). Daher gilt: Ist ein Schema geometrischer Gegenstände gegeben, so ist es möglich, einen geometrischen Gegenstand zu konstruieren, der genau der im Schema vorgestellten allgemeinen Kegel genügt. Man kann also im Fall geometrischer Gegenstände formulieren, daß die Korrespondenz zwischen Schema und zugehörigem Gegenstand eineindeutig ist. In dieser Weise läßt sich auch der folgende Satz der transzendentalen Methodenlehre verstehen: "Die mathematische (Erkenntnis betrachtet G.B.) das Allgemeine im Besonderen, ja gar im Einzelnen" (B 742). Anhand des einzelnen geometrischen Gegenstandes ist dargestellt, welche allgemeinen Hegeln der zugehörige Begriff vorstelltl05. Oben wurde bereits dargelegt, daß die Darstellungsarten der Einbildungskraft a priori den Schemata korrespondierender geometrischer Gegenstände entsprechen. Kant kennzeichnet nun in der obigen Stelle der E.E. die Elementargeometrie dadurch, daß ihre Darstellungsart die "einfachste" der Einbildungskraft a priori ist. Wegen der aufgewiesenen Eindeutigkeit der Korrespondenz zwischen Schema, d.h. Darstellungsart der Einbildungskraft a priori, und geometrischem Gegenstand ist es äquivalent, wenn die Kennzeichnung einer besonderen Geometrie (hier ist es die Elementargeometrie) nach ihrer Darstellungsart oder gemäß den dieser Darstellungsart korrespondierenden Gegenständen, die Kant Werkzeuge zur Konstruktion nennt, erfolgt. So ist die Elementargeometrie durch Gerade und Kreis, die ihre Werkzeuge zur Konstruktion sind 1 0 6 , gekennze i chne t. 105 Vgl. Β 742. 106 In den fünf Postulaten Euklids treten im wesentlichen nur Kreis und Gerade als geometrische Gegenstände auf. Die
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Zusarrmengesetzte Darstellungsarten sind Resultate der produktiven Einbildungskraft. Als zusammengesetzte Schemata entstehen sie durch figürliche Synthesis aus den Schemata der einfachen Darstellungsartenl°7. Für die Kegelschnitte, die korrespondierende geometrische Gegenstände zusammengesetzter Darstellungsarten sind, führt Kant in der Eberhard - Schrift aus, wie diese durch Konstruktion in reiner Anschauung aus einfachen Darstellungsarten entstehen. Er zeichnet hierzu die Konstruktion der Kegelschnitte als Schnitte des gegebenen Kegels (conus rectus) mit geeignet gewählten Ebenen nach, wie sie in den Büchern des Apollonius von Perga überliefert sind!08. in Analogie zur Geraden, die einer ebenen
Postulate beschreiben die Existenz dieser Gegenstände und die Verhältnisse, in denen sie zueinander stehen: Existenz einer Geraden endlicher Länge (1.Postulat), Eindeutigkeit der Fortsetzung einer geraden Linie endlicher Länge (2. Postulat), Existenz des Kreises (3. Postulat), Verhältnis des rechtwinkeligen Schneidens zweier Geraden (4. Postulat), Verhältnis der Parallelität zweier Geraden (5. Postulat). 107 Zum Begriff der "figürlichen Synthesis" und der "produktiven Einbildungskraft" vgl. Β 150-152. 108 Apollonius von Perga (262 - 190 v.u.Z.) studierte bei den Nachfolgern Euklids in Alexandria. Neben astronomischen Arbeiten bilden seine Untersuchungen über die Kegelschnitte sein Hauptwerk. Das Schneiden von Zylindern und Kegeln mit Ebenen und Aussagen über deren Volumina finden sich bereits im 12. Buche Euklids (XII 10-15). Die "Conica" des Apollonius umfassten acht Bücher und enthielten 487 Lehrsätze. Die ersten vier Bücher liegen als Handschriften des 11. und 13. Jahrhunderts n.u.Z., die folgenden drei Bücher in arabischer Übersetzung von 1290 vor. Das achte Buch ist verlorengegangen· Der Astronom, Naturforscher und Mathematiker Edmund II. Hal ley (1656 - 1742), auf dessen Gewässeruntersuchungen und Luftdruckmessungen (vgl. AA IX S.202, 248, 274) sich die "Physische Geographie" Kants bezieht und der in der "Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Hinmels" im Zusammenhang mit der Beschreibung von Sternfiguren genannt wird (vgl. AA I S.232f.), gab im Jahre 1710 die acht Bücher der "Conica" heraus. Er rekonstruierte das
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einfachsten Darstellungsart korrespondiert, betrachte ich hier Ebenen und Kegeloberfächenlals korrespondierende achte Buch aufgrund von Angaben, die sich in den Schriften des Pappus von Alexandria (etwa 320 n.u.Z.) finden (vgl. Kline S.62, Niebel S.163). J. A. Borelli (1608 - 1679), auf den sich Kant und Eberhard beziehen, gab die Bücher V-V1I von Apollonius' "Conica" heraus. Anhand der Tatsache, daß Borelli die "Conica" nicht vollständig edierte und daß die Herleitung der Bedingung γ2 = a * Χ für die Parabel sich bereits im 1. Buch der "Conica" findet, d.h. in einem der Bücher, die nicht von Borelli ediert wurden, wird deutlich, warum es sinnvoll ist, daß Kant zwischen dem "Verfahren der alten Geometer" (Apollonius) und Boreliis Reflexionen differenziert: 'Das Unglück aber kam daher, daß er (Eberhard, G.B.) den Apollonius selbst nicht kannte und den B o r e i 1 i , der über das Verfahren der alten Geometer reflektiert, nicht verstand" (AAVI1I S.191). 109 Das 11. Buch Euklids enthält die für die Kegelschnitte wichtigen Definitionen der Stereometrie (Definitionen 1, 2, 18, 19, 20). Während bei Euklid der Kegel durch Rotation eines rechtwinkeligen Dreiecks um die ζ - Achse entsteht und so ein Körper ist, werde ich in der folgenden Darstellung nur die Oberfläche betrachten, die durch Rotation einer geeignet gewählten Gerade um die ζ (B) Achse entsteht:(A)
Erzeugung des Kegels Erzeugung der Kegeldurch Rotation des Oberfläche durch Rotades Dreiecks QEF um tion der Geraden g um die z-Achse (Euklid). die z-Achse. Die Oberfläche von (A) ist ein einschaliger Kegel, die von (B) ist ein Doppelkegel. Apollonius entdeckte im Unterschied zu seinen Vorgängern Euklid und Archimedes beide Zweige der Hyperbel. Dies war
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geometrische Gegenstände einfacher Darstellungsarten von Flächen110. "Apollonius konstruiert zuerst den Begriff eines Kegels, d.i. er stellt ihn a priori in der Anschauung dar (das ist nun die erste Handlung wodurch der Geometer die objektive Realität seines Begriffs zum voraus dartut)" (AA VI II S.191). Das Schema jener besonderen Ebene, die aus der Kegeloberfläche eine Parabel111 ausschneiden soll, stellt eine bestimnte Kegel des Schneidens des Kegels vor: "Er
nur möglich aufgrund einer vollständigen Präsentation des Kegels, die beide Schalen umfaßt (wie in (B)) (vgl. Kline S.90-93). 110 Im Unterschied zu den sogenannten planimetrischen Büchern Euklids (1., 3., 4., 6. Buch) enthalten die sogenannten stereometrischen Bücher (11., 12., 13. Buch) zwar vorangestellte Definitionen, aber keine Postulate. Solche sind aber für gewisse Lehrsätze der euklidischen Stereometrie erforderlich, z.B. für den Beweis der Proposition 3 des 11. Buches: "Wenn zwei Ebenen einander schneiden, ist ihr Schnittgebilde eine gerade Linie". Entweder man macht ein Postulat über die Kodimension des Schnittgebildes oder man schließt sich der Ausarbeitung des Pappus an, der die Proposition 3 zum Postulat erhob. Im Fall der ebenen euklidischen Geometrie konnte man eine Korrespondenz zwischen einfachsten Darstellungsarten und den in den Postulaten beschriebenen Objekten (Gerade, Kreis) aufweisen. Da die stereemetrischen Bücher keine Postulate enthalten und daraus also keine Existenzaussagen über einfachste Darstellungsarten abzuleiten sind, werden hier die Schemata von Ebenen und Kegel einfache Darstellungsarten genannt. 111 Eine Kurve P, die auf einer Ebene E mit Koordinaten (x,y) liegt, heißt Parabel, wenn sie bis auf affinen Koordinatenwechsel der Ebene E mit den Koordinaten aller Kurvenpunkte folgender Normal form genügt: y2 = a * χ , für a e R und a Φ 0 Diese Beschreibung der Parabel in moderner Terminologie entspricht der Charakterisierung der Parabel, die Apollonius im 11. Lehrsatz des 1. Buches der "Conica" gibt und die Descartes in der Sprache der analytischen Geometrie rezipiert (vgl. Kline S.91f., Descartes S.31ff., 118).
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schneidet inn nach einer bestimmten Hegel, z.B. parallel mit einer Seite des Triangels, der die Basis des Kegels (conus rectus) duren die Spitze desselben rectitwinkelig schneidet" (AA Vili S.191). Zur Verdeutlichung, wie eine Ebene nach dieser hier gegebenen Besenreibung ausgewählt werden kann, gebe ich hier eine Skizze der Konstruktion von Kegelschnitten^·2 in moderner Terminologie an: Im 3-dimensionalen Raum r3 mit den Standardkoordinaten (x,y,z) kann man die Oberfläche eines Kegels Κ durch die Rotation einer Geraden g um die z-Achse erzeugen. Die Gerade muß durch den Ursprung (0,0,0) gehen, und sie schließt mit der z-Achse einen Winkel w mit 0 < w < 90° ein. Wählt man eine Ebene D, die von zwei Geraden erzeugt wird, wovon die eine Gerade xj eine Parallele zur y-Achse in der (x,y)-Ebene durch den Punkt po=(x(),0,0) (xo=*0) ist und die andere Gerade X2 durch den Punkt po und einen weiteren Punkt qo=(0,0,z^) (zj < 0) (diese Einschränkung wurde gemacht, um die Fälle entarteter Ellipsen auszuschließen) geht, so schneidet die Ebene D den Kegel K. Das Schnittgebilde D π κ von D und Κ heißt Kegelschnitt. Die Gerade X2 schließt einen Winkel mit der z-Achse ein. Je nach dem Verhältnis des Winkels zum Spitzenwinkel w des Kegels ist der Kegelschnitt eine Ellipse, Parabel oder Hyperbel. Un die Schnittkonfiguration zu veranschaulichen, wird für diese 3 Fälle eine 2-dimensionale Zeichnung des Schnittverhaltens von Κ und D in der (x,z)-Ebene v;iedergegeben (dtv-Atlas zur Mathematik, Bd. 1, S.196) :
112 Zur affinen und projektiven Beschreibung von Kegelschnitten vgl. G. Fischer: "Analytische Geometrie", Reinbek bei Hamburg, 1978.
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Konstruktion und Instrument
Kant betrachtet den "conus rectus", d.h. den Kegel, dessen Spitze einen Winkel 90° hat. Für die Gerade g heißt das, daß sie einen Winkel von w=45° mit der z-Achse einschließt. Die Schnittebene D soll so gewählt sein, daß sie "parallel mit einer Seite des Triangels, der die Basis des Kegels (conus rectus) durch die Spitze desselben rechtwinklig schneidet" (AA Vili S.191). Solche Dreiecke, deren eine Ecke in der Spitze des Triangels liegt und die sich auf einer Ebene befinden, die die Rotationsachse des Kegels (z-Achse) enthält, wurden in den obigen Darstellungen des SchnittVerhaltens angegeben. Die Bedingung, daß die Schriittebene D "parallel" zu den Dreiecken liegen soll, besagt, daß die Gerade x 2 parallel zu einer Dreiecksseite dieser Dreiecke sein muß. Dies gilt genau im Fall ot =w, dem Fall der Parabel. Diese Linie soll auch als Schnittkonfiguration herauskönnen, denn Kant schreibt: Apollonius beweist "an der Anschauung a priori die Eigenschaften der krummen Linie, welche durch jenen Schnitt auf der Oberfläche dieses Kegels erzeugt wird, und bringt so einen Begriff des Verhältnisses, in welchem die Ordinaten derselben zum Parameter stehen, heraus, welcher Begriff, nämlich (in diesem Falle) der Parabel, dadurch in der Anschauung a priori gegeben, mithin seine objektive Realität, d.i. die Möglichkeit, daß es ein Ding von den genannten Eigenschaften geben könne, auf keine andere Weise, als daß man ihm die
Mathematik als Werkzeug zu beliebigen Zwecken
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korrespondierende Anschauung unterlegt, bewiesen wird" (AAVIII S. 191). Am Beispiel der Konstruktion der Parabel gent Kant auf einen Unterschied in der Mathematikauffassung zwischen den Geometern des Altertums und den analytischen Geometern seit Descartes ein. Er hält den letzteren vor, "daß sie sich eine solche Linie (z.B. die Parabel durch die Formel ax = y^ ) willkürlich denken und nicht nach dem Beispiele der alten Geometer sie zuvor als im Schnitte des Kegels gegeben herausbringen, welches der Eleganz der Geometrie gemäßer sein würde" (AAVIII S.192). Kant geht es hierbei nicht darum, den Mathematikern zu empfehlen, von den Methoden der analytischen Geometrie Abstand zu n e h m e n H 3 ( sondern darum, beide Arten von Methoden geeignet zu verbinden. Das bedeutet, die algebraischen Ausdrücke in die geometrischen Objekte und Verhältnisse, die sie beschreiben, zu transformieren. Die Transformation selber ist durch die eindeutige Korrespondenz des algebraisch beschriebenen geometrischen Gegenstands mit seinem Schema möglich. Die Herleitung der Formel a * χ = y^ der Parabel ist das angeführte Beispiel für die Verbindlang der analytischen Geometrie mit synthetischen Methoden. Von dieser Verbindung heißt es, daß sie "der Eleganz der Geometrie gemäßer sein würde, um deren willen man mehrmals angeraten hat, über der so erfindungsreichen analytischen Methode die synthetische der Alten nicht so ganz zu verabsäumen" (AA Vili S.192). Kant hält die analytischen Geometer vom Vorwurf frei, daß sie Eigenschaften der Parabel aus ihrer Definition ableiteten, ohne "die Möglichkeit ihres Objekts gesichert" zu haben (AAVIII S.192), weil jene Geometer mit der Definition dieser Linie sich schon ihrer Konstruktion in reiner Anschauung bewußt sindll4. Es ist darüberhinaus auch nicht
113 Er bezeichnet sogar die Methode der analytischen Geometrie als "erfindungsreich" (AAVIII S.192). 114 Vgl. AA VIII S.192. Daß aus der Definition eines geometrischen Objekts die Konstruktion, d.h. die Darstellung in reiner Anschauung entspringt, wird in der
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Konstruktion und Instrument
die besondere Aufgabe der Mathematiker, die Möglichkeit der mathematischen Gegenstände nachzuweisen, sondern ihre Aufgabe ist es, die objektive Realität, d.h. die Wirklichkeit der mathematischen Begriffe d a r z u l e g e n l l S . Dieses geschieht durch die Konstruktion der Begriffe in reiner Anschauung. Im Zusammenhang mit der Diskussion der Kegelschnitte des Apollonius wider Eberhard wird explizit im Anschluß an die Kr.d.r.V. der Konstruktionsbegriff erörtert: "Um den Ausdruck der K o n s t r u k t i o n der Begriffe, von der die Kritik der reinen Vernunft vielfältig redet und dadurch das Verfanren der Vernunft in der Mathematik von dein in der Philosophie zuerst genau unterschieden hat, wider Mißbrauch zu sichern, mag folgendes dienen. In allgemeiner Bedeutung kann alle Darstellung eines Begriffs durch die (selbstätige) Hervorbringung einer ihm korrespondierenden Anschauung Konstruktion heißen" (AA VIII S. 191-192, Aran.). Ausführlicher als in der transzendentalen Methodenlehre der Kr.d.r.V. wird h i e r i n der Begriff der reinen von der empirischen Konstruktion unterschieden: Erfolgt die Darstellung durch das Erzeugen einer empirischen Anschauung, dann heißt die Konstruktion e m p i r i s c h , "geschieht sie durch die bloße Einbildungskraft einem Begriffe a priori gemäß, so heißt sie die r e i n e " ! 1 7 Konstruktion. Die
transzendentalen Methodenlehre der Kr.d.r.V. ausgeführt. Siehe Β 757-758. 115 Die unterschiedliche Betrachtungsweise, ob ein Gegenstand einer Wissenschaft, bzw. die Wissenschaft selber möglich oder wirklich ist, wird in der Einleitung der Kr.d.r.V. (vgl. Β 19-20) behandelt. Der Beweis, wie die Mathematik möglich ist, ist ein anderer, als der Aufweis, daß sie möglich ist. Letzterer folgt aus der Wirklichkeit der Mathematik. Der erste Beweis folgt aus der Beantwortung der allgemeinen Frage der reinen Vernunft: "Wie sind synthetische Urteile a priori möglicn?" (B 19). Diese Frage zu beantworten fällt in das Ressort des Philosophen. 116 Vgl. AA VI 11 S.192 Fußnote. 117 AA VI 11 S.192 Fußnote.
Matnematik als Werkzeug zu beliebigen Zwecken
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letztere wird in Bezugnahme auf die eindeutige Korrespondenz zwischen geometrischen Gegenstand und zugehörigem Scharia auch die schematische Konstruktion genanntH8# empirische Konstruktion kann auch als technische Konstruktion!^ bezeichnet werden, da sie eine Anwendung der Mathematik auf Gegenstände der Erfahrung ist, daher als Konstruktionsaufgabe unter besonderen beliebigen Zwecken stehtl^ü und s o als Handlung hypothetischen, d.h. technischen Imperativen unterliegt. In der Beschreibung der Arten der empirischen Konstruktionici und der zugehörigen Arten von Werkzeugen zu ihrer Ausführung sind die Darlegungen der etwa gleichzeitig entstandenenl22 E.E. und der Eberhard-Schrift äquivalent. Im folgenden wird nun ein Resümee der bisher zum Topos der Konstruktion geleisteten Erörterung angegeben. Hierzu werden die behandelten Begriffe entsprechend den offengelegten Beziehungen zueinander dargelegt werden. Die Anordnung geschieht in Form einer Tabelle:
118 "Die erste (die reine Konstruktion, G.B.) kann auch die schematische ... genannt werden" (AA Vili S.192 Fußnote). 119 "Die zweite (die empirische Konstruktion kann, G.B.) die technische genannt werden" (AA Vili S. 192 Fußnote). 120 Insbesondere erfolgt die empirische Konstruktion zu dem Zweck der möglichst genauen empirischen Darstellung eines in der reinen Mathematik gegebenen geometrischen Gegenstandes. 121 Hierunter fällt die geometrische bzw. die mechanische Konstruktion (vgl. AA VIII S.192 Fußnote, AA XX S.198 Fußnote). 122 AA XI S.lll.
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Konstruktion und Instrument
Geometrie
Konstruktion reine Anschauung empirische Anschauung DarstelWerkzeuge Maschi- wirkliche lungsart der der nenart Werkzeuge EinbilKonstruktion dungskraft
Elemen- einfach targeometrie
Gerade
höhere Geometrie
- Ellipse - Parabel - Hyperbel höhere Kurven
zusammengesetzt
einfach
Lineal (regula) Zirkel (circinius)
zusammengesetzt
Werkzeuge zum Zeichnen von Kegelschnitten
Kreis
Zur Eberhard-Schrift ist noeti eine Anmerkung zu machen: In Briefen an Reinholdl23 entwickelt Kant Grundlinien seiner Argumentation gegen Eberhard, die in der Eberhard-Schrift vollendet wird. Dort findet sich schon die Kennzeichnung der Geometrie, daß ihre Definitionen zugleich Konstruktionen ihrer Begriffe sind und daß damit die objektive Realität dieser Begriffe durch die in reiner Anschauung erzeugte zugehörige Darstellung erwiesen ist: "Hätte er aber nur den mindesten Begriff von der Sache, von der BoreiIi spricht, so würde er finden: daß die Definition, die Apollonius z.B. von der Parabel gibt, schon selbst die Darstellung eines Begriffs in der Anschauving, nämlich in den unter gewissen Bedingungen geschehenden Schnitte des Kegels, war, und daß die objektive Realität des Begriffs, so hier, wie allerwärts in der
123 Brief an Carl Leonhard Reinhold van 12. Mai 1789 und van 19. Mai 1789 (vgl. AA XI S.33-48).
Konstruktion und objektive Zweckmäßigkeit
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Geometrie, die Definition zugleich Konstruktion des Begriffes sei" (AA XI S.42f.)· Durch diesen Bezug zur Anschauung, mit der die Mathematik ihren Begriffen objektive Realität gibt, ist diese Wissenschaft "das große M u s t e r " 1 2 4 fyr alle theoretische Erkenntnis, die synthetische Erkenntnis beinhaltet: "Eben darin ist die Mathematik das große Master für allen synthetischen Vernunft gebrauch, daß sie es an Anschauungen nie fehlen läßt, an welchen sie ihren Begriffen objektive Realität gibt, welcher Forderung wir im phi losophischen und zwar t h e o r e t i s c h e n Erkenntnis nicht inmer Genüge tun können, aber alsdenn uns auch bescheiden iriissen, daß unsere Begriffe auf den Rang von Erkenntnissen (der Objekte) keinen Anspruch machen können, sondern, als Ideen, bloß regulative Prinzipien des Gebrauchs der Vernunft in Ansehung der Gegenstände, die in der Anschauung gegeben, aber nie, ihren Bedingungen nach, vollständig erkannt werden können, enthalten werden" (AA XI S.43). 1.2.2 Geometrische Konstruktion und objektive Zweckmäßigkeit Geometrische Figuren (z.B. Kegelschnitte), die Darstellungen von Begriffen a priori sind, liefern den Beleg objektiv zweckmäßiger Gegenstände125, die zur Auflösung praktischer Aufgaben (möglicher Zwecke) tauglich sind. Die
124 Vgl. AA. XI S.43. 125 Die durch Konstruktion in reiner Anschauung gewonnenen geometrischen Gegenstände (Figuren) werden unter dem Gesichtspunkt betrachtet, daß sie selber wieder als Werkzeuge zur Konstruktion der Auflösung weiterer geometrischer Aufgaben dienen (z.B. der geometrische Gegenstand des Kreises, der als Werkzeug zur Halbierung einer Strecke eingesetzt wird). Wegen der Konstruktion tragen die geometrischen Begriffe objektive Realität bei sich. Die Tauglichkeit der korrespondierenden geometrischen Gegenstände zum Erreichen beliebiger, d.h. möglicher Zwecke, wurde zu Beginn des Kapitels beschrieben.
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Konstruktion und Instrument
Analytik der teleologischen Urteilskraft der "Kritik der Urteilskraft"l2tí beschreibt die objektive Zweckmäßigkeit eines geometrischen Gegenstandes, die von der subjektiven Zweckmäßigkeit der ästhetischen Urteilskraft unterschieden ist, als die Vorstellung von der "Einheit vieler sich aus der Konstruktion jenes Begriffs ergebender Regeln, die in mancherlei möglicher Absicht zweckmäßig sind" (AA V S . 3 6 4 ) . Notwendig für die Vorstel lung der objektiven Zweckmäßigkeit ist, daß sie keinen " Z w e c k oder irgend einen andern Grund" unterlegen muß!27. Als Zweckmäßigkeit ohne Zweck wird die objektive auch eine formale Zweckmäßigkeit genannt und dadurch als verschieden von der realen Zweckmäßigkeit betrachtet, die für ihre Beurteilung eines Gegenstandes als zweckmäßig einen Zweck als vorhanden voraussetzen m u ß l 2 8 . D j Beurteilung der objektiven Zweckmäßigkeit setzt daher keine Teleologie vorausl29, und sie kann keinen Beweis der Möglichkeit des Begriffs des beurteilten Gegenstandes e r b r i n g e n ^ . Geometrische Objekte sind Belege für objektive Zweckmäßigkeit, wenn sie nach einer angebbaren Konstruktionsvorschrift gezeichnet werden können: "Alle e
126 AA V S.165-485. 127 AA V S.364. Häufig gibt es den Wortgebrauch, bestimmte Eigenschaften geometrischer Objekte "schön" zu nennen. Die objektive Zweckmäßigkeit ist im Unterschied zur subjektiven, die in der ästhetischen Beurteilung vorliegt, keine, die ohne Begriffe urteilt. Daher folgt der Vorschlag für die Beurteilungsbezeichnung geometrischer Objekte: "Man müßte sie (die Beurteilung der Zweckmäßigkeit, G.B.) eher eine relative Vollkommenheit als eine Schönheit der mathematischen Figur nennen" (AA V S.366). 128 Vgl. AA V S.364. 129 Vgl. AA V S.364. 130 Die Möglichkeit geometrischer Begriffe folgt nicht aus der Analytik der teleologischen Urteilskraft, sondern aus den Bedingungen der reinen Sinnlichkeit und den Grundsätzen des reinen Verstandes. Siehe A A V S.362.
Konstruktion und objektive Zweckmäßigkeit
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geometrischen Figuren, die nach einem Prinzip gezeichnet werden, zeigen eine mannigfaltige, oft bewunderte objektive Zweckmäßigkeit, nämlich der Tauglichkeit zur Auflösung vieler Probleme nach einem einzigen Prinzip und auch wähl eines jeden derselben auf unendlich verschiedene Art an sich" (AA V S.362). Das Vorhandensein der Konstruktionsvorschrift besagt, daß die objektive Zweckmäßigkeit als Vorstellung der Einheit von mannigfaltigen Kegeln, die "insgesamt synthetisch" sind (AA V S.364), auf einen Gegenstand bezogen werden kann, der in der Anschauung gegeben istl^l und der diese Einheit darstellt. Die Zweckmäßigkeit selber wird durch den Actus der Konstruktion in die geometrische Figur als Erzeugnis der Konstruktion hineingelegt: "... und ich also in die Figur, die ich e i n e m B e g r i f f a n g e m e s s e n zeichne, d.i. in meine eigene Vorstellungsart von dem, was mir äußerlich ... gegeben wird, die Z w e c k m ä ß i g k e i t hineinbringe" (AA V S.365). Die Darstellung der Einheit mannigfaltiger Regeln, die zur Auflösung vieler Probleme angewandt werden können, durch einen geometrischen Gegenstand hängt maßgeblich von dem Vorhandensein einer angebbaren Konstruktionsvorschrift desselben ab. Die Konstruktion kann, wie bereits schon dargelegt wurde, an einer Materie oder in reiner Anschauung ausgeführt werden. Im Fall der reinen Konstruktion kann beim Vorliegen einer beliebigen geometrischen Figur durch die Konstruktionsvorschrift entschieden werden, ob es sich tatsächlich um den geometrischen Gegenstand handelt, über dessen Begriff die Zweckmäßigkeitsaussage getroffen werden soll. Im Fall einer empirischen Konstruktion kann mit der Konstruktionsvorschrift überprüft werden, inwieweit der vorliegende empirische Gegenstand (z.B. der Kupferstich eines Kreises K) von dem
131 Vgl. AA V S.364. Auf folgenden terminologischen Unterschied soll hier hingewiesen werden: Der Begriff "geometrischer Gegenstand" bezeichnet das Resultat der Konstruktion in reiner Anschauung. Der Begriff "geometrische Figur" bezeichnet die Form eines Gegenstandes, der in empirischer oder reiner Anschauung gegeben sein kann.
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Konstruktion und Instrument
geometrischen Gegenstand (der Kreis Κ), der duren eine Konstrukt ionsvorschri ft Κ = I (χ,y) e R2 I x 2 + y 2 = r 2 , r > 0 I gegeben ist, abweicht. In beiden Fallen handelt es sich um eine Beurteilung, ob der bezüglich der entsprechenden Vorstellungsart erzeugte Gegenstand seinen Begriff angemessen darstellt. Der Grad der Angemessenheit ist durch die Größe der Abweichung von der Konstruktionsvorschrift gegeben. Als Beispiele geometrischer Objekte, die als objektiv zweckmäßig vorgestellt werden, werden das regelmäßige Sechseck, der Kreis und die Kegelschnitte genannt. Im Zusammenhang mit dem Sechseckig w ird erwähnt, daß es sich bei objektiv zweckmäßigen geometrischen Figuren im Unterschied zu Naturzwecken um Produkte der Kunst handelt*^. Dg r Begriff eines objektiv zweckmäßigen geometrischen Gegenstandes würde damit einen Zweck repräsentieren, der durch eine Handlung, die unter den Imperativen der Kunst, d.h. technischen Imperativen stehen würde, erlangt werden könnte. Bereits im Zusamnenhang mit der Gr.z.M.d.S. wurde auf jene Zwecke (beliebige Zwecke), die unter technischen Imperativen stehen, hingewiesen und Konstruktionsaufgaben der Mathematik als besondere beliebige Zwecke ausgewiesen. Objektiv zweckmäßige geometrische Gegenstände können sowohl beliebige Zwecke repräsentieren, als auch, da sie wiederum zur Konstruktion anderer geometrischer Objekte eingesetzt werden können, Werkzeuge zu beliebigen Zwecken sein. Als Werkzeuge, die unter technischen Imperativen benutzt werden können, sind sie Werkzeuge der Kunst. Zur Absicht der Unterscheidung von teleologischer Naturbetrachtung und Physik sei in diesem Zusammenhange folgendes erwähnt: Naturzwecke sind von beliebigen Zwecken (Werkzeugen der Kunst) dadurch geschieden, daß sie als Teile
132 Vgl. AA V S.370. 133 Vgl. AA V S.366. Dort ist ausgeführt, daß Gegenstände der reinen Mathematik nicht als Naturzwecke betrachtet werden können.
Konstruktion und objektive Zweckmäßigkeit
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eines Ganzen gedacht werden, die nicht nur durch alle übrigen, "um der andern und des Ganzen willen existierend" ( M V S.373), "sondern" daß sie "als ein die andern Teile ... hervorbringendes Organ" gedacht werden 134 (AA V S. 374). Entsprechend gilt für Naturbeschaffenheiten, die sich a priori beweisen lassen, daß sie zur Physik gehören, weil sie schlechthin notwendig sind, auch wenn sie eine technische Zweckmäßigkeit bei sich führen!35. Insbesondere folgt daraus für geometrische und arithmetische Analogien und allgemeine mechanische Gesetze, daß sie "deswegen keinen Anspruch darauf enthalten, teleologische Erklärungsgründe in der Physik zu sein" (AA V S.382). Es wurde bereits bemerkt, daß die Geometrie ausgezeichnete Belege für die Beurteilung der objektiven Zweckmäßigkeit bereitstellt. Daher gilt für diese Gegenstände und die durch sie beschriebenen geometrischen Analogien, daß sie "in der allgemeinen Theorie der Zweckmäßigkeit der Dinge der Natur überhaupt mit in Betrachtung gezogen zu werden verdienen" (AA V S.382). Dieses würde dann zur Metaphysik gehörenl36, Kant vermerkt, daß die Geometer der Antike die Eigenschaften von Kurven erforschten, "ohne sich durch die Frage eingeschränkter Köpfe irre machen zu lassen, wozu denn diese Kenntnis nützen sollte" (AA V S.363). Erst die Physik der Neuzeit (Galilei, Kepler, Newton) benutzte die von Apollonius bestürmten Kegelschnitte als Werkzeug der Beschreibung der Fallinie schwerer Körper (Parabel) bzw. der der Bahnkurve schwerer Himnelskörper, d.h. von Planeten im Gravitationsfeld der Sonne (Ellipse)137. Im Schlußparagraphen der "Analytik der teleologischen Urteilskraft" finden sich Aussagen zur Architektonik der Wissenschaften, die für die Mathematik von Relevanz sind: An
134 135 136 137
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
AA AA AA AA
V V V V
S.373f. S.382. S.382. S.383.
100
Konstruktion und Instrument
jenem Ort werden unter Verwendung der Keflexionsbegriffe des Inneren und des Ä u ß e r e n l 3 8 die einheimischen Prinzipien einer Wissenschaft "(principia domestica)" von den " a u s w ä r t i g e n Prinzipien" dieser Wissenschaft (principia peregrina), die als Lehnsätze von einer anderen Wissenschaft ausgeliehen werdenl39, unterschieden. In der Behandlung der Grundsätze der Möglichkeit der Mathematik wurde dargelegt, daß sie Sätze sind, die der Transzendentalphilosophie entstanmen. Da sie auch die Prinzipien der Möglichkeit der Anwendung der Mathematik auf Gegenstände der Erfahrung beinhalten (Axiomen der Anschauungen), folgt für sie aus einem Argument der E.E., daß die Mathematik als ein theoretisches System sie mit vmfassen muß. Denn, wenn man die Anwendungen der Mathematik als praktische Sätze betrachtet, sind sie reine Folgerungen aus der Theorie, und als solche bedürfen sie keiner besonderen Wissenschaft^O e Die Mathematik als theoretisches System enthält daher die Bedingungen der Möglichkeit der Anwendung ihrer Erkenntnisse als principia peregrina. Als principia domestica wären jene Erkenntnisse zu sehen, deren Gewißheit unmittelbar durch Data, die in der reinen Anschauung gegeben sind, belegt werden (z.B. die Euklidischen Postulate). Das heißt, die anfangs angeführten Axiome der Mathematik würden unter die einheimischen Prinzipien der Mathematik fallen. Für das Verhältnis von Mathematik und Philosophie bzw. von beiden Wissenschaften und ihrer beider Anwendung in der Naturwissenschaft ist folgende architektonische Bemerkung bedeutsam: "Eine jede Wissenschaft ist für sich ein System; ... man muß mit ihr, als einem für sich bestehenden Gebäude, auch architektonisch zu Werke gehen und sie nicht wie einen Anbau und als einen Teil eines andern Gebäudes, sondern als ein Ganzes für sich behandeln, ob man gleich nachher einen Übergang aus diesem in jenes oder wechselseitig errichten
138 Vgl. Β 321-322. 139 Vgl. A A V S.381. 140 Vgl. AA XX S.198.
Begriff des Instrumentalcharakters
101
kann" CAA V S.381). Ein Ziel in der Betrachtung der Stellen des Op.p. soll darin bestehen, Hinweise für das architektonische Verhältnis von Mathematik und Philosophie in bezug auf die Naturwissenschaft aufzufinden. 1.2.3. Zum Begriff des Instrumentalcharakters der Mathematik Während in den Werken Kants der Begriff des Instruments in verschiedenen Zusanmenhängen auftritt^l., wird dieser Begriff im 1. Konvolut des Op.p. nur im Zusammenhang mit der Mathematik thematisiert* 42 . Die Thematisierung dieses Begriffes unterscheidet sich deutlich von derjenigen der Werke: Von den 25 dort zu findenden Belegstellen!^, die seit dem frühesten Auftreten des Begriffes in der Schrift "Von der Unrechtmä&igkeit des Büchernachdrucks" von 1785 zu verzeichnen sind, hängen nur zwei mit der Mathematik zusammen: Es sind die bezüglich des Konstruktionsbegriffs in
141 Vgl. Anm. 60. 142 Grundlage dieser Untersuchung sind 26 im 1. Konvolut aufgefundene Belegstellen zum Begriff "Instrument" AA XXI:00519 00905 06914 06924 07019 07305 09227 09517 10204 10505 10621 10925 11207 11231 11508 11514 12010 12317 13207 13307 13524 14722 14811 15228 15614 15620. Im unmittelbaren Kontext einer jeden dieser Stellen treten Aussagen über die Mathematik auf. 143 Übersicht über die Belegstellen zum Begriff "Instrument" in der chronologischen Folge des Auftretens in der Sequenz der gedruckten Schriften Kants: 1784 AA VI 11 08631 1790 AA VIII 19235 AA V 21218 21218 22420 22530 23036 33009 1793 AA VIII 29712 30134 AA VI 11218 1796 AA VI 11 41425 1797 AA VI 33929 47828 A A VI I 01810 AA VI I 27302 33316 1802 AA IX 24613 1803 AA IX 44803 46203 46207 46208 46632 46822.
102
Konstruktion und Instrument
der Eberhard-Schrift genannte P a s s a g e l 4 4 stelle aus der "Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie"! 4 ^. In der ersten Schrift wird ausgeführt, daß die empirische Konstruktion durch Instrumente verrichtet wird und daß sie nicht mehr zur Mathematik, sondern zur Kunst gehört. Als Beispiele solcher Instrumente werden Zirkel und Lineal genanntl 4 ^. Diese Geräte der empirischen Konstruktion können auch als "wirkliohe Werkzeuge" bezeichnet werden, wie sie in der E.E. von den "Werkzeugen zur Konstruktion" der reinen Anschauung vinterschieden sind. Da an jener Stelle der Eberhard-Schrift auch explizit von Werkzeugen gesprochen wird!47 ( würde sich hier der Ausdruck "Instrument" durch den Ausdruck "wirkliches Werkzeug" ersetzen lassen. Anders verhält es sich bei der zweiten Schrift: "... und begründet so eine Philosophie, deren Lehre nicht etwa (wie Mathematik) ein gutes Instrument (Werkzeug zu beliebigen Zwecken), mithin bloßes Mittel ... ist" (AAVI1I S.417). Hier wird die Aussage für eine ganze Wissenschaft ("wie Mathematik") gemacht, die als solche "ein gutes Instrument" ist, was durch den Terminus "Werkzeug zu beliebigen Zwecken" 144 "Die letztere und wirklich nur uneigentlich so genannte Konstruktion (weil sie nicht zur Wissenschaft, sondern zur Kunst gehört und durch Instrumente verrichtet wird) ist nun entweder die g e o m e t r i s c h e durch Zirkel und Lineal, oder die m e c h a n i s c h e , wozu andere Werkzeuge nötig sind, wie zum Beispiel die Zeichnung der übrigen Kegelschnitte außer dem Zirkel" (AA Vili S.192). 145 Vgl. AA VI 11 S.411-422. Siehe dort: S.417. 146 Daß Zirkel und Lineal hier als Beispiele für Instrumente aufgefaßt werden können, ergibt sich aus einer Parallele in der Formulierung: "(die empirische Konstruktion, G.B.) ... ist nun entweder die geometrische durch Zirkel und Lineal...", "...weil sie (die empirische Konstruktion, G.B.) zur Kunst gehört und durch Instrumente verrichtet wird". (AA VIII S.192). 147 "...wozu andere Werkzeuge nötig sind, wie zum Beispiel die Zeichnung der übrigen Kegelschnitte außer dem Zirkel" (AA VIII, S.192).
Begriff des Instrumentalcharakters
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erläutert wird. Es werden nier in erster Linie nicht Konstruktionsmittel der Mathematik betrachtet, sondern die Mathematik als Wissenschaft wird insgesamt als Instrument angesehen. Diese Deutung der Mathematik wirft die doppelte Frage auf, von welcher Wissenschaft die Mathematik als Instrument zu welchen Zwecken eingesetzt wird. Der Standpunkt der Schrift von 1796, der diese Charakterisierung der Mathematik als Instrument liefert, wurde in früheren Werken Kants nicht erwähnt. Diese Charakterisierung der Mathematik bekannt für das 1. Konvolut des Op.p. große R e l e v a n z l 4 8 keine andere Wissenschaft und kein anderes Mittel außer der Mathematik werden als Instrument bezeichnet. Dort gehören alle Stellen zum Begriff "Instrument" zum Bereich der Charakterisierung der Mathematik, d.h. zur Beschreibung des Instrumentalcharakters der Mathematik. Bei der Untersuchung der Aussagen des 1. Konvoluts geht es auch darum, die Fragestellung nach beiden Gesichtspunkten des Instrumentalcharakters der Mathematik zu beantworten. :
Betrachtet man die Sequenz der Bogen des 1. Konvoluts ohne den U n s c h l a g ^ s o findet man in den ersten 4 Bogen keine 1 4
148 Ein weiterer Aspekt, der diese Heraushebung des Instrumentalcharakters der Mathematik rechtfertigt, findet sich in der folgenden quantitativen Betrachtung: Wenn man das Verhältnis zwischen der Auftretenshäufigkeit der Einträge zum Begriff "Werkzeug" und denen zum Begriff "Instrument" im Stellenindex längs der Werke ab 1785 (d.h. ab der Schrift "Von der Unrechtmäßigkeit des Büchernachdrucks") mit dem Verhältnis vergleicht, daß zwischen den beiden Belegstellengruppen im 1. Konvolut des Op.p. besteht, so findet ein signifikanter Wechsel statt: Frequenz (INSTRUMENT): Frequenz (WERKZEUG) 25 43 Werke ab 1785 27 2 1. Konvolut Die Belegstellen zu "Werkzeug" im 1. Konvolut sind: AA XXI 06812 12010. Dort wird dieser Begriff nur im Zusammenhang mit dan Begriff der Mathematik gebraucht. 149 Auf dem Unschlag des 1. Konvoluts finden sich zwei Stellen zum Instrumentalcharakter der Mathematik, wobei
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Konstruktion und Instrument
Belegstellen für den Begriff des Instrvments. Erst auf der 4. Seite des 5. Bogens im Zusammenhang mit Bestimmungen zum Begriff der Transzendentalphilosophie und mit Ausführungen zur Beschreibung der Zentralkräfte nach Newton wird die Mathematik als Instrument beschrieben: 'TranszendentalphilosophielSO e j n s j c n selbst zu oberst begründendes System synthetischer Erkenntnisse aus Begriffen, welches auch Mathematik als Instrument der Anwendung bei sich führt und alleinig ist (AA XXI 06912). Bevor der Aspekt behandelt wird, da β die Mathematik zur Anwendung der Transzendentalphilosophie gehört, soll auf die Frage eingegangen werden, wie es überhaupt möglich ist, daß die Transzendentalphilosophie die Mathematik als Instrument bei sich führen kann. Hierzu ist eine Transkription^l einer
bei der zweiten Belegstelle klarer ersichtlich ist, daß dort der Begriff "Instrument" im Zusammenhang mit dem Begriff "Transzendentalphilosophie" steht: Vgl. AA XXI 00517 und 00902. 150 AA XXI 06912: "Transie. Philos.", lies: "Transzendente1philosopnie". 151 Ausgang der Transkription ist der in der AA gegebene folgende Text, der mit Fußnoten über Zusätze und über Veränderungen versehen ist: "Transzendentalphilosophie ist *1* die Lehre *2* synthetischer Erkenntnis a priori *3* das subjektive Prinzip nicht blos aus Begriffen" (AA XXI 06804). Hierbei repräsentieren die Zeichen *N* (N = 1, 2, 3) Phrasen, die als Zusätze bzw. Verbesserung früherer Phrasen in der AA angegeben sind. Aus dieser Darstellung ist ersichtlich, daß der angegebene Teiltext eine syntaktisch sinnvolle Segmentierung in Hauptsätze möglich macht. Der erste Hauptsatz ist vollständig. Durch Einführung des syntaktischen Prädikats "ist" erhält man den zweiten Hauptsatz: "Das subjektive Prinzip (ist) nicht blos aus Begriffen". Für *3* sind folgende Substituenten möglich: "aus Begriffen" (1. Fassung), "aus Prinzipien" (2. Fassung). Für *2* sind es die folgenden Substituenten: "eines Syst ans" (1. Fassung), "von der Abfassung" (2. Fassung), "der Begründung" (3. Fassung). Gemäß der AA wurde die jeweils letzte Fassung ausgewählt. Besondere Schwierigkeit macht der von der AA als Zusatz notierte Einschub *1*: "ist objektiv weder Philosophie
Instrumentale Verwendung der Mathematik
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Bestürmung der Transzendentalphilosophie hilfreich, die sich auf der gleichen Seite desselben Bogens findet: 'Transzendentalphilosophie ist objektiv weder Philosophie noch Mathematik. Sondern (Transzendentalphilosophie ist das,) was subjektiv sie beide vereint vorstellt, sowohl philosophisches als mathematisches Erkenntnis. (Transzendentalphilosophie ist) die Lehre der Begründung synthetischer Erkenntnis a priori aus Prinzipien. Das subjektive Prinzip (ist) nicht bloß aus Begriffen. Also enthält sie auch Mathematik. Die Möglichkeit solcher Prinzipien ist eine Idee, von deren Gültigkeit keine Beweisführung stattfindet: Eben so wenig wie von Axiomen der Mathematik. Transzendentalphilosophie ist eine Philosophie insofern sie sich der Mathematik zum Werkzeuge bedient, im sie in Einen System darzustellen" 1 5 2 . 1.2.4. Die instrumentale Verwendung der Mathematik regulativen Gebrauch der reinen Vernunft
für den
Die Transzendentalphilosophie soll als Wissenschaft das vollständige System der ganzen menschlichen Erkenntnis a p r i o r i ^ umfassen. Sie beinhaltet die Kritik der reinen 1 5
noch Mathematik sondern was s u b j e k t i v sie beide vereint vorstellt sowohl philosophisches als mathematisches E r k e n n t n i s " . Dieser Einschub enthält, neben der im Satzrahmen schon angegebenen dritten, zwei Phrasen, die weitere Bestürmungen des Satzsubjektes ("Transzendentalphilosophie") sind. U n deutlich werden zu lassen, daß es sich bei diesem Satzgefüge um eine Reihe prädikativer Bestürmungen handelt, und um zu verhindern, daß> Mehrdeutigkeiten durch verschiedene Bezüge des Pronomens "sie" entstehen, wurde das Satzgefüge in drei selbständige Hauptsätze bei Wiederholung des Subjekts "Transzendentalphilosophie" und des Prädikats "ist" aufgelöst, wobei die konjunktionalen Markierungen der Phrasen ("weder ... noch...", "sondern ... ") berücksichtigt wurden. Hieraus ergab sich die Transkription. 152 AA XXI 06804. Zur Transskription vgl. Anm. 151. 153 Siehe Β 27(A 13).
106
Konstruktion und Instrument
Vernunft 154. Daher deckt sich die obige Bestimnung, daß die Transzendentalphilosophie eine "Lehre der Begründung synthetischer Erkenntnis a priori aus Prinzipien" ist, mit der Bestinmung aus der "Einleitung" der zweiten Auflage der Kr.d.r.V. (B 27). Daß hier die "Begründung synthetischer Erkenntnis" und nicht die "Begründung aller menschlichen Erkenntnis" im Vordergrund steht, kann sich daraus erklären, daß das erste die schwierigere Arbeit ist, weil, wenn sie geleistet ist, für das zweite nur ein weiteres Prinzip, nämlich das des "Satzes van ausgeschlossenen Dritten", herangezogen werden muß.155^ ^ ¿je geforderte Arbeit zu erledigen. U n nun das System aller menschlichen Erkenntnis a priori aufzustellen, ist es wichtig, auf die zwei Stänme menschlicher Erkenntnis hinzuweisen, "nämlich Sinnlichkeit und Verstand" (B 29), die jeweils Vorstellungen a priori enthalten. Während in der Einleitung der Kr.d.r.V. die Konfiguration dieser Stänme nocn vorsichtig beschrieben wird, ("die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen"^5®), wird in der "Architektonik der reinen Vernunft" eine ähnliche Konfiguration des Erkenntnisvermögens genannt, wobei allerdings hier "das Rationale dem Ehpirischen" (B 863) entgegengesetzt wird. Dagegen wird der Gabelungspunkt nicht mehr mit dem Prädikat "vielleicht" belegt, sondern als Anfangspunkt des architektonischen Entwurfs konstatiert: "... und fangen nur von dem Punkte an, wo sich die allgemeine Wurzel unserer Erkenntniskraft teilt und zwei Stänme auswirft, deren einer V e r n u n f t ist" (B 863). Dieser Anfangspunkt und mit ihm die "allgemeine Wurzel", soll nun betrachtet werden. Im Zusanmenhang mit den Grundsätzen der Mathematik wurde darauf hingewiesen, daß die Transzendental-
154 "Sie (die Kritik der reinen Vernunft, G.B.) ist das Systan aller Prinzipien der reinen Vernunft" (B 27, nicht in A). 155 Vgl. Β 191. 156 Β 29.
Instrumentale Verwendung der Mathematik
107
philosophie mit dem System der synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes transzendentale Sätze umfaßt, die als Prinzipen a priori der Grundlegung von Mathematik und Metaphysik aufgefaßt werden könnenl^?. Aber damit ist die Vorstellung einer "allgemeinen Wurzel unserer Erkenntniskraft", die auf der Seite der subjektiven Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis a priori die Idee der Vereinigung von mathematischer und philosophischer Vernunfterkenntnis beinhaltet, noch nicht zureichend umrissen. In dieser Hinsicht hilft es weiter, den regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft zu betrachten, von denen Kant schreibt: "Die transzendentalen Ideen sind niemals von konstitutivem Gebrauche, so, daß dadurch Begriffe gewisser Gegenstände gegeben würden .... Dagegen aber haben sie einen vortrefflichen und unentbehrlich-notwendigen regulativen Gebrauch, nämlich den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten ..." (B 672). Zur Beschreibung des regulativen Gebrauchs transzendentaler Ideen wird ein geometrisches Spiegelungsbeispiel herangezogen. Die transzendentale Idee wird als ein "focus imaginarius" aufgefaßt, der als virtueller Bündelungspunkt O' von Strahlen, die von einem Gegenstand O ausgehen, der "im Kücken" des Beobachters Β liegt 1 5 8 und an einem Spiegel S reflektiert werden, dargestellt werden kann:
157 Vgl. den Abschnitt "Zum Prinzipien der Mathematik". 158 Vgl. Β 672-673.
Problem
philosophischer
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Konstruktion und Instrument
Die Grenze der möglichen Erfahrung soll hier durch die Spiegelfäche repräsentiert werden, die diesen Bereich von dem der virtuellen Gegenstände abgrenzt. Der Focus imaginarius O' gestattet, jene Richtungslinien, die von Β ausgehen, auszuzeichnen, die die Strahlen von O auf S treffen. Deshalb ist O' ein geometrisches Modell eines Topos der reinen Vernunft, "aus welchem die Verstandesbegriffe wirklich nicht ausgehen, indem er ganz außerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen" (B 672)159. ^ls regulativer Gebrauch transzendentaler Ideen, von dem mit der Spiegelfläche ein geometrisches Modell gegeben wurde, bereitet die Vernunft "dem Verstände also sein Feld" (B 685), indem sie den letzteren in der Bestürmung der Erscheinungen leitet, neben der "größten Einheit" die "größte Ausbreitung" des Mannigfaltigen zu leisten. Die hierbei angedeutete Rolle der Vernunft für den Verstand erklärt sich aus der Tatsache, daß mit dem Vorliegen der Elementarbegriffe des reinen Verstandes noch nicht gesichert ist, daß durch sie und durch Operationen mit ihnen (z.B. Zusammensetzung) "das ganze Feld des reinen Verstandes gänzlich" ausgefüllt ist. Die Aufgabe kann nur vermittelst der Vernunft, die die dafür benötigte " I d e e d e s G a n z e n der Verstandeserkenntnise a priori" bereitstellt, die für die Verstandeserkenntnisse den "Zusammenhang i n e i n e m S y s t e m möglich" macht (B
159 Diese Aussage Kants kann am Beispiel der Spiegelfläche verdeutlicht werden, denn Kant gibt den Bezug auf den Spiegel an dieser Stelle explizit an. Die transzendentale Idee als focus imaginarius O' verbindet als virtueller Bündelungspunkt die von der Spiegelfläche reflektierten, vom Beobachter Β ausgehenden Richtungslinien, die Repräsentanten des Modells für die reinen Verstandesbegriffe sind, zu einer Einheit. Die Ausbreitung jener Richtungslinien hängt insbesondere von der Gestalt der Spiegelfläche ab. In diesem Sinn kann Kants Aussage verstanden werden, daß die transzendentale Idee als focus imaginarius den reinen Verstandesbegriffen "größte Einheit" bei deren "größten Ausbreitung" liefert.
Instrumentale Verwendung der Mathematik
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89), einer Lösung angenähert werden. Der regulative Gebrauch der Vernunft bestinmt dieses Verfahren der Annäherung als einen hypothetischen Vernunftgebrauch, der versucht, "die systematische Einheit der Verstandeserkenntnisse" (B 675) anzustreben. Der regulative Gebrauch der Vernunft wird durch drei Prinzipien gesteuert, die transzendentale Prinzipien sind: "1. durch ein Prinzip der G l e i c h a r t i g k e i t des Mannigfaltigen unter höheren Gattungen; 2. durch einen Grundsatz der V a r i e t ä t des Gleichartigen unter niederen Arten; und im die systematische Einheit zu vollenden, fügt sie (die Vernunft, G.B.) 3. noch ein Gesetz der Affinität aller Begriffe hinzu, welches einen kontinuierlichen Übergang von einer jeden Art zu jeder anderen durch stufenartiges Wachstum der Verschiedenheit gebietet. Wir können sie die Prinzipien der H o m o g e n i t ä t , der S p e z i f i k a t i o n und der K o n t i n u i t ä t der Formen nennen" (B 685-686). Entsprechende Gesetze der allgemeinen Logik setzen diese Prinzipien als transzendentale Gesetze voraus, ohne die die Anwendung der logischen Gesetze auf uns gegebene Gegenstände nicht gesichert ist: Das logische Prinzip der Zusammenfassung von Gleichartigen setzt "ein transzendentales (Prinzip, G.B.) voraus, wenn es auf Natur (darunter ich hier nur Gegenstände, die uns gegeben werden, verstehe) angewandt werden soll" (B 682); das logische Gesetz der Spezifikation bleibt" ohne Sinn und Anwendung", wenn "nicht ein transzendentales G e s e t z der S p e z i f i k a t i o n zu Grunde" gelegt worden wäre (B 684); das "logische Gesetz des continui specierum (formarum logicarum) setzt aber ein transzendentales voraus (lex continui in natura), ohne welches der Gebrauch des Verstandes durch jene Vorschrift nur irre geleitet werden würde, indem sie vielleicht einen der Natur gerade entgegengesetzten Weg nehmen würde" (B 688). Das Gesetz der Kontinuität der Formen "vereinigt" die Gesetze der Homogenität und der Spezifikation in einem Verfahren (B 688). Entsprechend den Grundsätzen des reinen Verstandes stellt sich für die transzendentalen Ideen in ihrem regulativen
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Konstruktion und Instrument
Gebrauch die Frage nach ihrer objektiven Gültigkeit. Im Unterschied zu den mathematischen Grundsätzen des reinen Verstandes, die konstitutiv für die Anschauung sind, und im Unterschied zu den dynamischen Grundsätzen des reinen Verstandes, die regulativ für die Erfahrung sind, indem sie für die Erfahrung notwendige Begriffe a priori möglich machen, können die regulativen Prinzipien der reinen Vernunft "nicht einmal in Ansehung der empirischen Begriffe konstitutiv sein" (B 692). Anzumerken ist auch, daß, obwohl konstitutive und regulative Grundsätze des reinen Verstandes a priori gewiß sind, sie "doch in der Art der Evidenz, d.i. dem Intiutiven derselben, (mithin auch der Demons trat ion) unterschieden" sind (B 223). Der Verstand ist zur Bestinmung der Gegenstände in concreto 1 ^ a u f ¿ θ η Schematismus angewiesen, denn es gilt: "Die Verstandeshandlungen aber, ohne Schemate der Sinnlichkeit, sind u n b e s t i m m t " (B 692). Wie die Sinnlichkeit Gegenstand für den Verstand ist, macht im regulativen Gebrauch der Vernunft die systematische Einheit aller Verstandesbegriffe den Gegenstand der Vernunft aus. Die systematische Einheit aller Verstandesbegriffe ist aber nicht Bestandteil der Sinnlichkeit, also kann für sie "kein Schema in der A n s c h a u u n g ausfindig gemacht werden" (B 693). Da der regulative Gebrauch der reinen Vernunft transzendentale Voraussetzung des logischen Vernunftgebrauches ist und die Anwendung auf die systematische Einheit nicht unbestimmt bleiben soll 1 6 1 , "so kann und muB. doch ein A n a l o g o n eines solchen Schema gegeben werden" (B 693). Dieses Analogon eines Schemas für den Gegenstand der systematischen Einheit aller Verstandesbegriffe ist "die Idee des M a x i m u m s der Abteilung und der Vereinigung der Verstandeserkenntnis in einem Prinzip" (B 693). In diesem
160 Vgl. Β 692. 161 Vgl. Β 692-693.
Instrumentale Verwendung der Mathematik
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Zusammenhang ist auf Kants E r l ä u t e r u n g e n l ^ 2 zum Analogiebegriff einzugehen: Er unterscheidet dabei die philosophische von der mathematischen Bedeutung der Analogie. Eine Analogie der Mathematik wird zum Beispiel durch eine Proportion repräsentiert: Seien a, b, c r e e l l e Zahlen (a, b, c e R)1®"*, b * 0, c Φ 0 und x e R eine unbestinmte Größe, so g i l t folgende Äquivalenz zwischen der Proportion und der Auflösung nach der Unbestinmten:
£ =* b
c
Χ =
A
*
C
b
Aus der Gleichheit zweier Großenverhältnisse und der Bedingung, daß drei Größen gegeben sind, kann die unbestimmte Größe berechnet, d.h. konstruiert werden. Die mathematischen Analogien sind somit konstitutiv, d.h. das "vierte Glied" ist durch sie bestimmt. Während in der Mathematik die Analogie durch die Gleichheit zweier quantitativer Verhältnisse ausgemacht wird, drückt sie in der Philosophie die Gleichheit qualitativer Verhältnisse aus. Dabei ist es nur möglich, aus drei gegebenen Gliedern des qualitativen Verhältnisses auf das Verhältnis zum vierten Glied, also nicht auf das vierte Glied selbst zu schließen. Für das vierte Glied bietet die philosophische Analogie jedoch das notwendige Kriterium an, daß sie eine Kegel vorgibt, nach dem es in der Erfahrung gesucht werden kann, und ein Merkmal beinhaltet, nach dem es dort aufgefunden werden kannl64. Das qualitative Verhältnis, in dem sich ein Schema zu einem Begriff befindet, besteht in einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft, diesem Begriff "sein Bild zu verschaffen" (B 179-180). Das Schema selber ist eine reine, intellektuelle und sinnliche Vorstellung (B 177). Daß zu den Prinzipien des regulativen Gebrauches der reinen Vernunft das Analogon eines Schemas gebildet wird, besagt, daß zwischen jenen und dem Analogon das gleiche qualitative Verhältnis besteht wie zwischen dem reinen Ver162 Vgl. Β 221-223. 163 Man kann dieses auch für andere algebraische formulieren ( v g l . van der Waerden S.39). 164 V g l . Β 222.
Körper
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Konstruktion und Instrument
standesbegriff und seinem zugehörigen Schema. Wie oben dargelegt wurde, besteht das qualitative Verhältnis darin, durch ein allgemeines Verfahren, einem Prinzip des regulativen Gebrauches der reinen Vernunft, das insbesondere ein Begriff istl®^, ein Bild zu verschaffen. Schon für das Schema eines reinen Verstandesbegriffes galt im Unterschied zu dem Schema eines sinnlichen Begriffes, da6. es als solches bildlich nicht darstellbar istl66. Dies ist eine Charakteristik, die aufgrund des qualitativen Verhältnisses von Schema und reinem Verstandesbegriff besteht und die sich deshalb auch auf das Analogon des Schemas überträgt. Obwohl das Schema eines reinen Verstandes begriffes selber bildlich nicht darstellbar ist, ist seine Leistlang, ein allgemeines Verfahren der Einbildungskraft zu sein, nicht vermindert. Auch dies überträgt sich als Eigenschaft des qualitativen Verhältnisses auf das Analogon des Schemas. Das Schema eines reinen Verstandesbegriffes ist eine vermittelnde Vorstellung, die es gestattet, Verstandesbegriffe auf Erscheinlangen anzuwenden^?. Diese wiederum enthalten der Form nach Anschauungen in Raum und Z e i t i g . Nach dem Prinzip der Axiome der Anschauung sind dies extensive Größen, deren Darstellungen wegen des Schematismus der Quantität bestimmte Bilder im Kaum ausmachen!*·^ die als solche geometrische Gegenstände sind. Für diese wurde bereits ausgeführt, daß mit ihnen ein korrespondierendes Schema eines reinen sinnlichen Begriffes (d.h. hier: eines geometrischen Begriffes) gegeben ist. Das reine Bild des korrespondierenden Schemas eines geometrischen Begriffes und das reine Bild der Erscheinung, wenn sie als extensive Größe
165 Ein P r i n z i p des r e g u l a t i v e n Gebrauches der reinen Vernunft i s t eine Idee. Als solche i s t es e i n Begriff aus Notionen (vgl. Β 377). 166 Siehe Β 181. 167 Vgl. Β 177. 168 Vgl. Β 202. Der Text des Beweises des P r i n z i p s der Axiome der Anschauung b e f i n d e t s i c h n i c h t in der e r s t e n Auflage der K r . d . r . V . 169 "Das r e i n e Bild a l l e r Größen (quantorum) vor dem äußern Sinne i s t der Raum" (B 182).
Instrumentale Verwendung der Mathematik
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betrachtet wird, sind identisch. Was die Geometrie über jenes aussagt, gilt auch für dieses!70_ Hierdurch wird am Beispiel der Geometrie deutlich, daß die Anwendung der Mathematik für Gegenstände der Erscheinung konstitutiv ist. Im allgemeinen ist dies eine Folge der mathematischen Grundsätze des reinen Verstandes. Für den Schematismus des reinen Verstandes bedeutet das: Die Konstitutivität der Anwendung der Mathematik beruht darauf, daß für die reinen Bilder der Schemata der reinen Verstandesbegriffe identische reine Bilder korrespondierender Schemata sinnlicher Begriffe gegeben werden können. Die Eigenschaft, daß die Anwendung der Mathematik für Gegenstände der Erscheinung konstitutiv ist, hängt also damit zusammen, wie sich reine Verstandesbegriffe wegen ihres Schematismus auf Erscheinungen beziehen und hängt nicht mit dem qualitativen Verhältnis zusammen, in dem ein Schema zu einem Begriff überhaupt steht. Dieses Faktum hat für das Analogon des Schemas eines reinen Verstandesbegriffes Konsequenzen: Das Analogon dient der Anwendung regulativer Prinzipien der reinen Vernunft auf den Gegenstand der systematischen Einheit aller Verstandesbegriffe 1 ? 1. Da eine philosophische Analogie nur auf das qualitative Verhältnis zum vierten Glied und nicht auf das vierte Glied selbst schließen läßt, ist die Konstitutivitätseigenschaft der Anwendung der Mathematik auf den Gegenstand der systematischen Einheit der reinen Verstandesbegriffe nicht ü b e r t r a g b a r l 7 2 . Das qualitative Verhältnis, in dem das Analogon des Schemas eines reinen Verstandesbegriffes zu einem Prinzip des regulativen Gebrauches der reinen Vernunft steht, beinhaltet, daß die Einbildungskraft diesen Prinzipien zugehörige Bilder verschafft.
170 " . . . was also die Geometrie von dieser (der reinen Anschauung, G.B.) sagt, g i l t auch ohne Widerrede von jener (der empirischen Anschauung, G.B.)" (B 206). 171 Vgl. Β 692-693. 172 In gleicher Tendenz g i l t für die Anwendung regulativer Prinzipien der reinen Vernunft auf empirische Begriffe: Sie können nicht "konstitutiv sein, weil ihnen kein korrespondierendes Schema der Sinnlichkeit gegeben werden kann" (B 692).
114
Konstruktion und Instrument
Diese Bilder können Produkte des empirischen Vermögens der produktiven Einbildungskraft oder Produkte der reinen Einbildungskraft a priori seinl?3. Je nach Art des Vermögens der produktiven Einbildungskraft sind die Bilder empirische oder reine Anschauungen. Unabhängig von der Art der Anschauung kann auf diese Bilder die Mathematik nach den Axiomen der Anschauung angewandt werden!74. Wenn man nun diese Anwendung der Mathematik im Zusammenhang mit dem Analogon des Schemas eines reinen Verstandesbegriffes in Absicht auf den regulativen Gebrauch der reinen Vernunft hin betrachtet, so kann man nur von einer regulativen Anwendung der Mathematik sprechen, da hier in Hinsicht auf den Gegenstand der systematischen Einheit der reinen Verstandesbegriffe nach dem oben Ausgeführten eine konstitutive Anwendung der Mathematik nicht möglich ist. Angesichts der Betrachtung der Bahnen von Himmelskörpern wird der Gebrauch regulativer Prinzipien der reinen Vernunft vorgeführt. Das Verfahren, das hier stattfindet, wird von Kant folgendermaßen beschrieben: 'Die Vernunft setzt die Verstandeserkenntnisse voraus, die zunächst auf Erfahrung angewandt werden, und sucht ihre Einheit nach Ideen, die viel weiter geht, als Erfahrung reichen kann" (B 690). Bei diesem Gebrauch transzendentaler Ideen kann auch die Mathematik regulativ angewandt werden: Als Beispiel des regulativen Vernunftgebrauches gemäß dem Prinzip der Kontinuität der Formen werden Verwandtschaftsverhältnisse von Kegelschnitten betrachtet: Kreise können stetig in Ellipsenbahnen deformiert werden. Hier liegt eine Abänderung "nach einem beständigen Gesetze durch alle unendliche Zwischengrade, zu einem dieser abweichenden Umläufe" (B 690) vor. Die Kurve FQ (ein Kreis mit Kadius b) wird mittels einer Schar von Kurven FT (t e [ 0,1 ] ) in die Kurve FI (eine Ellipse mit den Halbachsen b und a (b < a)) deformiert 175 . 173 Siehe Β 181. 174 Vgl. Β 202-204. 175 Ein Beispiel für eine Schar deformierter Kurven, die die Deformation vom Kreis zur Ellipse d a r s t e l l t , i s t die Menge der Ellipsen Ft ( t e ] 0 , l ] ) , wobei Ft = I ( x , y ) € R2; χ2 * bt"2 + y2 * b-2 = 1)
Instrumentale Verwendung der Mathematik
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Solche duren Deformation erzeugte Ellipsen beschreiben die Bahnkurven von Planetenbe we gungen17 6 : "Daher, wenn uns z.B. durch eine (noch nicht völlig berichtigte) Erfahrung der Lauf der Planeten als kreisförmig gegeben ist, und wir finden Verschiedenheiten: so vermuten wir sie in demjenigen, was den Ziikel nach einem beständigen Gesetze durch alle unendlichen Zwischengrade, zu einem dieser abweichenden Umläufe abändern kann, d.i. die Bewegungen der Planeten, die nicht Ziikel sind, werden etwa dessen Eigenschaften mehr oder weniger nahe kommen, und fallen auf die Ellipse" 03 690). Die regulative Leistung der Kegelschnitte besteht darin, daß sie im Fall der Ellipse eine Regel angeben, unter welchen unbestimmten Erscheinungen von Himmelskörpern, von denen die Bahnkurve bekannt ist, nach Planeten zu suchen ist. In diesem Zusammenhang ist auf die zeitgenössischen Entdeckungen des Uranus im Jahre 1781 durch Herschel 177 , der Ceres 1801 durch Piazzi und der Pallas durch Olbers im Jahre 1802 hinzuweisen. Auf die letztere bezieht sich Kant im Op.p.l 7 ^. Die regulative Leistung der Mathematik besteht darin, daß sie hier ein Gesetz der Deformation gibt, nach welchem ein kontinuierlicher Übergang von einem geometrischen Objekt zum anderen in der reinen Anschauung durch stufenartiges Wachstum der Verschiedenheit stattfindet, was hier für die beiden Kegelschnitte Kreis und Ellipse ausgeführt wurde. Dadurch führt die Mathematik den Nachweis, daß die geometrischen Begriffe von Kreis und Ellipse der regulativen Idee der Affinität der Formen unterliegen. Darüber hinaus werden aus der Verwandtschaft von Parabel und Ellipse als Kegelschnitte Hypothesen für den Verlauf von Kometenbahnen abgeleitet, die sich auf den damals aktuellen Ft beschreibt eine deformierte Kurve. Es g i l t bt = t * a + (1 - t ) * b. Daraus f o l g t für t = 0: bt i s t g l e i c h b und d i e Gleichlang i s t : x2 + y2 = b2. Dieses i s t der Kreis mit Radius b. Für t = 1 i s t bt = a und d i e Gleichung lautet: χ2 * a~2 + y2 * b~2 = 1. Also i s t dieses eine E l l i p s e mit den Halbachsen b und a. 176 V g l . Β 690-691. 177 V g l . Ley S.448f. 178 V g l . AA XXI 00308.
116
Konstruktion land Instrument
Horizont V on beobachtbaren Daten über Kometenbewegungen beziehen und ihn überschreitende). Dj e idee der Affinität der Begriffe leitet die Vernunft weiter, "als Erfahrung jemals bestätigen kann" (B 691). Als Beispiel weist Kant auf die Vermutung hyperbolischer Kometenbahnen hin, zu der die Vernunft mittels der durch die Kegelschnitte gegebenen Verwandtschaftsverhältnisse gelangt. Die eigentliche Leistung der regulativen Prinzipien der reinen Vernunft besteht darin, daß sie als heuristische Grundsätze für Wissenschaften mit empirischem Anteil gebraucht werden können^ 1. Der regulative Gebrauch der Mathematik ist hierzu möglich. Mathematische Modelle, wie die hier anhand der Kegelschnitte demonstrierten Verwandtschaften, geben durch Darstellung der Homogenität, Spezifikation und Kontinuität der Formen zu einer bereits vorliegenden regulativ zu behandelnden Menge von Erfahrungen Hilfen für die Aufstellung heuristischer Sätze. Somit kommt dem regulativen Gebrauch der Mathematik heuristische Funktion zu. Neben den mathematischen Grundsätzen des reinen Verstandes, die sowohl für die Mathematik als auch für die Philosophie als Prinzipien a priori betrachtet werden können, ist mit den regulativen Grundsätzen der reinen Vernunft und dem dabei stattfindenden
179 Zum Begriff des Horizonts v g l . Β 686-687. Kant g i b t dort ein Modell f ü r d i e systematische Einheit der d r e i P r i n z i p i e n Homogenität, S p e z i f i k a t i o n und K o n t i n u i t ä t . 180 Für d i e Beschreibung der Kanetenbahnen siehe Β 690-691. 181 Vgl. Β 691-692. Kant vermerkt, daß ein Beweis der Prinzipien des regulativen Gebrauches der reinen Vernunft, die a l s h e u r i s t i s c h e Grundsätze dienen, im Sinne e i n e r transzendentalen Deduktion nicht möglich i s t (siehe Β 692). Im Abschnitt "Die D i s z i p l i n der reinen Vernunft in Ansehung i h r e r Beweise" der transzendentalen Methodenlehre konmt Kant auf d i e s e s Problem zurück. Dort vermerkt e r , daß transzendentale Beweise s i c h , bevor s i e s t a t t f i n d e n , vergewissern müssen, auf welchen Grundsätzen s i e basieren s o l l e n . Sind d i e Grundsätze P r i n z i p i e n der reinen Vernunft, so können d i e s e Beweise nicht gelingen (vgl. Β 814).
Instrumentalcharakter der Mathematik im 1. Konvolut
117
regulativen Gebrauch der Mathematik aufgezeigt worden, daß auf der Seite der subjektiven Bedingungen, und seien es auch nur regulative Bedingungen, der Möglichkeit von Erkenntnis a priori Vereinigungen von mathematischen und philosophischen Vernunfterkenntnissen stattfinden, die die Vorstellung einer "allgemeinen Wurzel unserer E i k e n n t n i s k r a f t " 1 8 2 erhärten. Diese Wurzel w irft'fewei Stämme" aus,'deren einer V e r n u n f t i s t . Ich verstehe hier aber unter Vernunft das ganze obere Erkenntnisvermögen und setze also das Kationale dem Bnpirischen entgegen" (B 863). 1 . 2 . 5 . Die Bedeutung des Instrumentalcharakters Mathematik im 1. Konvolut des Opus postumum
der
Im Zusammenhang mit der erwähnten S t e l d e s V- Bogens des 1. Konvolutes wurde die Frage aufgeworfen, wie es überhaupt möglich i s t , daß> die Transzendentalphilosophie die Mathematik als Instrument verwenden kann. Durch die Betrachtung der Anwendung der Mathematik beim regulativen Gebrauch transzendentaler Ideen in Hinsicht auf den Gegenstand der systematischen Einheit aller Verstandesbegriffe i s t deutlicher geworden, daß die Transzendentalphilosophie die Mathematik a l s Instrument bei sich führt. Der Grund, wie es möglich i s t , daß die Mathematik so angewandt werden kann, i s t in dem Analogon des Schemas des reinen Verstandesbegriffes zu suchen, jener "Idee des Maximums der Abteilung und der Vereinigung der Verstandeserkenntnis in einem Prinzip" (B 693), das die vermittelnde Vorstellung zwischen dem regulativen Prinzip der reinen Vernunft und dem Gegenstand der systematischen Einheit a l l e r Verstandesbegriffe i s t . Deutlich wird dies angesichts der Verwendung der regulativen Prinzipien für eine Menge gegebener Erfahrungen: Hier dient die Mathematik in bezug auf
182 Β 863. 183 AA XXI 06912.
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Konstruktion und Instrument
die dabei gegebenen Data formaler Anschauung zur Gruppierung derselben nach Aspekten der Homogenität, Spezifikation und Kontinuität der darin vorliegenden Formen, wie dieses am Beispiel der Menge der Beobachtungen über Bewegungen von Hinmeiskörpern durch das mathematische Modell der Kegelschnitte realisiert wurde. Insgesamt ist darauf hinzuweisen, daß die in der Bestiimrung des Analogons auftretenden Operationen des Maximierens, des Zerlegens und des Vereinigens mengentheoretisch beschreibbar sind. Im V. Bogen des 1. Konvolutes ist auch ausgeführt 1^4; ¿aß, die Transzendentalphilosophie "die Lehre der Begründung synthetischer Erkenntnis a priori aus Prinzipien" ist. Darüberl85 jrn z w e i t e n darauffolgenden Satz ausgesagt, daß ihre Möglichkeit eine Idee ist, "von deren Gültigkeit keine Beweisführung stattfindet: Eben so wenig wie von den Axiomen der Mathematik" (AA XXI 06809). In der vorausgegangenen Erörterung wurde zwischen zwei Arten von Prinzipien der synthetischen Erkenntnis unterschieden, den Grundsätzen des reinen Verstandes und den Prinzipien des regulativen Gebrauches der reinen Vernunft. Für die erste Art gibt die 2. Auflage der Kr.d.r.V. Beweisest) an und für die zweite Art legt sie dar, daß> eine transzendentale Deduktion dieser Prinzipienl87 unmöglich ist. Hieraus ergäbe sich ein sinnvoller Bezug der in der Op.p.-Stelle genannten Prinzipien auf die regulativen Grundsätze der reinen Vernunft.
184 AA. XXI 06804. 185 Im nächsten Satz (vgl. die obige Transskript ion dieser Stelle AA XXI 06804) ist nur von "dem subjektiven Prinzip" (Singular!) die Rede, im übernächsten Satz von "solchen Prinzipien" (Plural!). Also findet sich der adäquate Numerus erst in diesen zweiten Satz. 186 Vgl. Β 202-203, 207-208, 218-219, 224-225, 232-234, 256-258, 275-276. Die "Postulate des empirischen Denkens überhaupt" werden zwar nicht bewiesen, aber die zweite Auflage der Kr.d.r.V. gibt dort den Beweis eines damit zusammenhängenden Lehrsatzes, der für die Widerlegung des Idealismus benötigt wird. 187 Vgl. Β 691-692.
Instrumentalcharakter der Mathematik im 1. Konvolut
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Bemerkenswert ist die an dieser Stelle auftretende analogieassoz i erende Formulierung: "eben so weniges w ie von den Axiomen der Mathematik". Axiome der Mathematik "sind synthetische Grundsätze a priori, so fern sie unmittelbar gewiß sind" (B 760). Deshalb gibt die Mathematik für diese keinen Beweis. Inre unmittelbare Gewißheit entspringt aus der Ausführung der Konstruktion in reiner A n s c h a u u n g ! 8 9 . Eine über die Mathematik hinausgehende Leistung der Transzendentalphilosophie besteht darin, daß sie mittels des 1. G r u n d s a t z e s 1 9 0 re inen Verstandes die Bedingung der Möglichkeit von mathematischen Axiomen überhaupt angibt: "Denn sogar die Möglichkeit der Mathematik muß in der Transzendentalphilosopnie gezeigt werden" (B 761). Hieraus folgt, daß die Transzendentalphilosophie hinsichtlich ihrer regulativen Grundsätze im Vergleich mit der Mathematik bezüglich ihrer Axiome in der "Begründungsdimension" um eine Stufe höher steht als die Mathematik: Während die Transzendentalphilosophie die Bedingungen der Möglichkeit von mathematischen Axiomen noch deduzieren kannl^l, ist eine transzendentale Deduktion der regulativen Prinzipien der reinen Vernunft nicht möglich. Für das Verhältnis von Mathematik und Transzendentalphilosophie ist auf eine Differenzierung hinzuweisen!92: Objektiv, d.h. als Wissenschaft betrachtet, 188 189 190 191
Zum Begriff des Axioms vgl. Β 760 ff. Vgl. Β 760-761. Vgl. Β 202-203. Zu den Bedingungen der Mjglichkeit von mathematischen Axiomen gehören Haum und Zeit, über deren transzendentale Erörterung, die deren Deduktion ausmacht, es heißt: "Wir haben oben die Begriffe des Baumes und der Zeit, vermittelst einer transzendentalen Deduktion zu ihren Quellen verfolgt, und ihre objektive Gültigkeit a priori erklärt und bestiirmt" (B 119-120). Für die Möglichkeit der Geometrie und damit auch ihrer Axiomatik ist in der "transzendentalen Erörterung des Raumes" ausgeführt: "Also macht alleine unsere Erklärung die Möglichkeit der Geometrie als einer synthetischen Erkenntnis a priori begreiflich" (B 41). 192 Vgl. AA XXI 06804.
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Konstruktion und Instrument
sind Transzendentalphilosophie und Mathematik verschiedene Systeme ('Transzendentalphilosophie ist objektiv weder Philosophie noch Mathematik"). Subjektiv betrachtet, d.h. insbesondere als Lehre von den Bedingungen der Möglichkeit synthetischer Erkenntnisse ("Lehre von der Begründung synthetischer Erkenntnis aus Begriffen"), zeigt die Transzendentalphilosophie die "Möglichkeit der Mathematik" auf193, gibt sie den Grundsatz für den konstitutiven Gebrauch der Mathematik anl94 und benutzt mathematische Konstrukte für den Gebrauch der reinen Vernunft. Daher erklärt sich die folgende Charakteristik der Transzendentalphilosophie: "Also enthält sie auch Mathematik" (AA XXI 06808). Im unmittelbar folgenden Text des Op.p. wird der regulative Gebrauch der Mathematik angesprochen: Die Transzendentalphilosophie ist als eine Philosophie gekennzeichnet, die die Mathematik als Werkzeug benutzt, vm "ihre Begriffe und Prinzipien zu leiten" und "um sie in Einem Systen darzustellen"195# m e nier beschriebene Verwendung der Mathematik als Werkzeug im regulativen Gebrauch ist der Einsatz der Mathematik als Mittel der Transzendentalphilosopnie zu einem möglichen Zweck 196 , der durch die Vernunft idee des "Maximums der Abteilung und Vereinigung der Verstandeserkenntnisse in einem Prinzip" bestinnit wird. Ersetzt man im
193 Vgl. Β 761. 194 Vgl. Β 206. 195 "Transzendentalphilosophie ist eine Philosophie, in so fern sie sich der Mathematik zum Werkzeuge bedient, ihre Begriffe und Prinzipien zu leiten, um sie in Einem System darzustellen" (AA XXI 06811). Daß Kant den unbestimmten Artikel "Einen" grocschreibt, kann als Betonving des Aspekts der Einheit in einem System gelesen werden, der 11 sich als e i gen Uraliche Verfügung" der Vernunft beschreibt: Siehe Β 673. 196 Daß der Vorgang des regulativen Gebrauches der Vernunft als Handlung betrachtet werden kann, legt Kant durch die Beschreibung dieses Vorgangs als solchen, den die Vernunft "zu Stande bringen sucht" (B 673, vgl. Arm. 195)), nahe.
Instrumentalcharakter der Mathematik im 1. Konvolut
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Sinne der Schrift von 1796197 d e n Begriff des Instrumentes durch den Begriff des Werkzeuges zu beliebigen Zwecken, dann findet man eine ähnliche Beschreibung zur gerade gegebenen der Transzendentalphilosophie: 'Das Prinzip des Gebrauchs der reinen Mathematik zur Metaphysik gehört auch zur Transzendentalphilosophie. Eine Philosophie, für welche selbst die Mathematik als ein Instrument des synthetischen Erkenntnisses aus Begriffen gilt, ist die Transzendentalphilosophie" (AA XXI 07Ü17). Die obige Bestiimiung, daß die Transzendentalphilosophie die Mathematik als Werkzeug benützt, um ihre Begriffe zu leiten und sie in einem System darzustellen, findet sich abstrakter in der folgenden Aussage, "für welche selbst die Mathematik als ein I n s t r u m e n t des synthetischen Erkenntnisses aus Begriffen gilt", wieder. Ohne auf das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie tiefer einzugehen, sei darauf hingewiesen, daß die letztere als Teil der Metaphysik im engeren Verstände angesehen werden kannl98. stellt man sich auf den Standpunkt, daß das Prinzip des regulativen Gebrauches der Mathematik zur Transzendentalphilosophie gehört, so fällt es daher auch unter die Metaphysik. Das Gebrauch der Mathematik als Werkzeug, "um sie (die Begriffe und Prinzipien der Philosophie, G.B.) in einem System darzustellen", macht es darüber hinaus sinnvoll, an dieser Stelle die architektonische Bestiimiung der Metaphysik zu nennen: "Alle reine Erkenntnis a priori macht also, vermöge des besonderen Erkenntnisvermögens, darin es allein seinen Sitz haben kann, eine besondere Einheit aus und Metaphysik ist diejenige Philosophie, welche jene Erkenntnis in dieser systanatisehen Einheit darstellen soll" (B 873). Für die Absicht der Darstellung in systematischer Einheit findet der instrumentale Gebrauch der Mathematik durch die Transzendentalphilosophie stattl". Während im Architektonik-Hauptstück der
197 Vgl. AA VIII S.417ff. 198 Vgl. Β 873. 199 Diese Absicht der Darstellung in systematischer Einheit
122
Konstruktion und Instrument
transzendentalen Metnodenleure die Isolation von Mat fiemat ik und Metaphysik ausgeführt ist^OO^ obwohl auch dort schon auf "eine gewisse Gleichartigkeit" und Verwandtschaft^Ol Hingewiesen wird, zeigt erst das Op.p. durch die Erwähnung des instrumentalen Gebrauches der Mathematik, daß die Mathematik für die Transzendentalphilosophie im regulativen Gebrauch der reinen Vernunft nutzbar wird. Entsprechende Beschreibungen des instrumentalen Gebrauches der Mathematik durch die Transzendentalphilosophie finden sich an mehreren Stellen des 1 . K o n v o l u t s 2 0 2 oder verkürzt formuliert im Folgenden: "Selbst die reine Mathematik gehört als Instrument zur Philosophie. Es gehört Philosophie dazu sie zu brauchen" (AA XXI 06924)203. Bisher wurde nur erörtert, daß die Mathematik als Instrument der Transzendentalphilosophie gebraucht werden
200 201 202
203
findet sich auch im 9. Bogen des 1. Konvoluts: Siehe AA XXI 13908. Vgl. Β 869-873. Vgl. Β 872. Vgl. die bereits schon zitierten Belegstellen: AA XXI 06912, 09224. Darüber hinaus finden sich zahlreiche Stellen, die im Zusammenhang mit der Diskussion um den Titel von Newtons Werk oder mit Bestimmungen zur Transzendentalphilosophie den Gebrauch der Mathematik als Instrument beschreiben: AA XXI 11207, 11428, 10204. Die Möglichkeit der Verwendung der Mathematik als Instrument wird auch mit dem Aspekt begründet, daß die Mathematik synthetische Urteile a priori enthält, was auch für die Transzendentalphilosophie gilt, deren Prinzipien synthetisch sind: Siehe AA XXI 13304. Weitere Belegstellen zur Mathematik als Instrument der Philosophie siehe : AA XXI 15228, 15612. Vgl. auch: "Die Philosophie hat aber noch einen größeren Unfang der Wissenschaft a priori, denn man kann auch über die Mathematik philosophieren, wenn sie bloß als Mittel (Instrument) zu einer anderen Absicht nämlich zur Philosophie gebraucht wird und ihr in sofern untergeordnet wird und ist Handwerk, indem sie auf Kaumes-und Zeitanschauung beschränkt ist, wodurch der Philosoph nicht beschränkt wird" (AA XXI 12315).
InstrumentalCharakter der Mathematik im 1. Konvolut
123
kann. Im weiteren soll nun untersucht werden, wie dieser Gebrauch stattfinden kann: 'Transzendentalphilosophie aber ist das Prinzip der qualitativen Verhältnisse der Begriffe zu Ideen der reinen Vernunft in so fern sie in Einem System des Ganzen vereinigt gedacht werden. Sie ist als Philosophie vor der Mathematik vorhergehend und unterwirft sich die quantitativen Verhältnisse der letzteren als ihr 204 Instrument" . Neben der Bemerkung zur instrumentalen Verwendung wird eine zum "Vorhergehen" der Transzendentalphilosophie vor der Mathematik gemacht. Dieses wurde bereits beschrieben: Die Transzendentalphilosophie enthält nicht nur die Bedingungen der Möglichkeit der Mathematik, sondern sie ist auch Propädeutik der Mathematik: "Philosophie ein Erkenntnis a priori aus Begriffen vor aller Konstruktion derselben (Mathematik), doch als Propädeutik zu ihr" (AA XXI 07001). Als eine Antwort auf die Frage, wie die Mathematik als Instrument benutzt werden kann, wird die Aussage gemacht, daß die Transzendentalphilosophie sich die quantitativen Verhältnisse der Mathematik zu eigen macht. Offen bleibt allerdings dabei, wie der instrumentale Gebrauch der quantitativen Verhältnisse der Mathematik mit der philosophischen Beschreibung der qualitativen Verhältnisse einer gegebenen Menge von Begriffen zu bestinmten Ideen zusamnenhängt, wenn diese Begriffe und Ideen ein System ausmachen können. Daß ein solcher Zusammenhang möglich ist, wird für Gegenstände, die einer gemeinschaftlichen Behandlung durch den philosophischen als auch mathematischen Vernunftgebraucn fähig sind, belegt205 # Insbesondere für Gegenstände der äußeren Erfahrung (z.B. physikalische Körper) gilt, daß sie sowohl einer
204 AA XXI 07301. Hier ist der unbestimmte Artikel von "System" großgeschrieben, was auch hier zur Betonung des Aspekts der Einheit in einem System dient (vgl. Anm. 195)). 205 Vgl. Β 742-743.
1 2 4
Konstruktion und Instrument
quantitativen Betrachtung (hinsichtlich ihrer Größe), die als Konstruktion in reiner Anschauung ausgeführt werden kann, als auch einer qualitativen Betrachtung (hinsichtlich ihrer Realität), deren korrespondierende Anschauung nicht konstruiert werden, sondern nur in der Erfahrung gegeben sein kann, genügen. Kant hat ein Beispiel dafür gegeben, daß der Zusammenhang von quantitativen und qualitativen Verhältnissen nicht nur zwischen Begriffen von gewissen in der Erfahrung gegebenen Gegenständen besteht, sondern auch darin besteht, daß die quantitativen Verhältnisse ein Instrument für die Aufstellung eines Systems von Erfanrungsbegriffen sind: In der Vorrede zur "Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels" legt Kant den Arbeiten von Durham, Hal ley, Huygens und Maupertius folgend die Überlegungen dar, die dem ersten Teil "Abriß einer systematischen Verfassung unter den Fixsternen" v o r a n s t e h e n 2 0 6 . Quantitative Verhältnisse, wie die der "abgemessenen Rundung", der "elliptischen Figuren" und die der Lageverhältnisse auf einer F l ä c h e 2 0 7 bestimmen notwendige Merkmale des Systems der "neblichten Sterne" (AA I S. 232, Anm.), von dem die Idee in qualitativen Verhältnissen zu den Begriffen der beobachteten Erscheinungen genannter Sterne steht. )
Auch im 1. Konvolut des Op.p. werden Beispiele der Kennzeichnung qualitativer Verhältnisse durch den instrumentalen Gebrauch q u a n t i t a t i v e r 2 0 8 Verhältnisse, die mathematisch dargestellt werden können, angedeutet: "Transzendentalphilosophie ist diejenige, welche auch die Mathematik zum Instrument für die Philosophie gesetzlich zu brauchen lehrt, z.B. den Hebel als gerade unbiegsame Linie
206 AA I S.230-234. 207 AA I S.233. 208 Beispiele für Quanta werden im 8. Bogen gegeben: Linie, Fläche, Zylinder, Korper. Der Punkt ist als atcmistisch, d.h. ohne Ausdehnung, davon abgegrenzt (vgl. AA XXI 10824).
Instrumentalcharakter der Mathematik im 1. Konvolut
125
vectis etc." 2 0 y . Als eine weitere Bestimmung zum instrumentalen Gebrauch der Mathematik tritt hinzu, daß der instrumentale Gebrauch hinsichtlich der quantitativen Verhältnisse (hier die der Geradenstücke) gesetzlich ausgeführt wird210. Die quantitativen Verhältnisse werden auch in Beziehung auf die ursprünglichen 2 !! Quanta Raum und Zeit hin, d.h. als Verhältnisse in Kaum und Zeit betrachtet: "Transzendentalphilosophie ist das System der Vernunfterkenntnis aus Begriffen so wohl als Anschauungen ... in Ansehung der Verhältnisse in Raum und Zeit" (AA XXI 11913) 2 1 2 . Die Kennzeichnung der Mathematik als Instrument der Transzendentalphilosophie wird auch als "indirekte Zugehörigkeit" der Mathematik zur Philosophie beschrieben: "Es ist aber auch ein Erkenntnis durch Konstruktion der Begriffe (Mathematik), welche der Philosophie zum Instrument dient und insofern indirekt zur Philosophie gehört" (AA XXI 14721) 2 ! 3 . Das 1. Konvolut führt nicht nur aus, wie der instrumentale Gebrauch der Mathematik stattfinden kann, sondern beschreibt auch, daE> er in Hinsicht auf Naturphilosophie auch ausgeführt werden sol 1 : "Die N a t u r p h i l o s o p h i e in ihrem m a t h e m a t i s c h e n und p h y s i s c h m e c h a n i s c h e n Verhältnisse vereinigt (systematisch) gedacht, ist die T r a n s 209 AA XXI 09516. Vectis (lat.) = Hebel, Hebebaum, Brechstange. 210 Der gesetzliche Gebrauch der Mathematik als Instrument ist als philosophische Gesetzmäßigkeit begründet: Siehe AA XXI 14810. 211 Vgl. Β 753. 212 Einen weiteren Bezug auf Raum und Zeit in Zusanmenhang mit der instrumentalen Verwendung der Mathematik findet sich an folgender Stelle: AA XXI 11229. Auf dem gleichen Bogen ist in bezug auf Kaum und Zeit eine weitere Bestinnrung zum Instrumentalcharakter der Mathematik gegeben, die im Kontext eine Bestimmung als "generatio hybrida" ((lat.) = von bastardisierter Abstammung) für die Transzendent al philosoph i e enthält (vgl. AA XXI 11515). 213 Eine ähnliche Beschreibung kann auch in der indirekten Anerkennung der reinen Mathematik durch den Philosophen gefunden werden: Vgl. AA XXI 11507.
126
Konstruktion und Instrument
z e n d e n t a l p h i l o s o p t i i e . Die Mathematik ist nur als I n s t r u m e n t für die Naturphi losoptiie zum System" gedacht (AA XXI 13204). Neben dem schon erwähnten Hebel wird für andere physikalische 214 Beispiele der instrumentale Gebrauch der Mathematik angesprochen: "Es gibt nur S c h a l l und Lichtstrahlen als Erkenntnismittel, beide in g e r a d e r L i n i e " (AA XXI 11010). Hier ist die Gerade ein mathematisches Modell der beobachteten Schall- und Lichtausbreitung. Zur Betrachtung des Instrumentalcharakters der Mathematik gehören auch die Bestimmungen zur Anwendung der Mathematik, die sich aus dem Verhältnis der Mathematik zu beliebigen Zwecken ergeben. Entsprechend einer Stelle der E.E. werden auch im 1. Konvolut des Op.p. die beliebigen Zwecke als bedingte Zwecke angesehen 2 ^; "Der philosophie wird aber auch die Mathematik entgegengesetzt. Die letztere enthält nicht absolute sondern bloß bedingte Zwecke, nämlich der Geschicklichkeit zur Erreichung gewisser Verrichtungen" CAA XXI 10501). Semit beziehen sich Mathematik und Philosophie in unterschiedlicher Weise auf Handlungen. Während die erstere den Bezug ausschließlich durch die Imperative der Geschicklichkeit erlangt und dabei "nicht schlechthin" 2 ^, sondern nur als Mittel zur Erreichung bestimmter Konstrukte gebietet, enthält die Philosophie Gebote der Sittlichkeit, die eine Handlung schlechthin gebieten. Nachdem diese handlungsbezogene Differenz zwischen Mathematik und Philosophie ausgeführt ist, folgt eine Charakterisierung des 214 Im 10. Bogen wird der instrumentale Gebrauch der Mathematik für die Philosophie gefordert: "Mathematik ist nur ein Instrument für die Philosophie: Es sei zur Physik (nach Newton's Philosophiae naturalis principia mathematica) ..." (AA XXI 13524). 215 Vgl. AA XX S.200. Hier wird für die problematischen, d.h. beliebigen Zwecke ausgeführt, daß sie nur bedingterweise gebieten. Vgl. AA IV S.415f.: Die beliebigen Zwecke unterliegen den Imperativen der Geschicklichkeit. 216 Vgl. AA IV 41605.
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Lehrbegriffes 2 * 7 der Mathematik: 'Die Lehre der Mittel zu Zwecken, dergleichen die Mathematik das größte Instrument der reinen Vernunft" ist (AA XXI 10504). Die Differenz von Mathematik und Philosophie in Hinsicht auf die Zwecke wird im gleichen Bogen erneut betont: "Das phi l o s o p h i s c h e und m a t h e m a t i s c h e Erkenntnis nehmen zusammen vereint die zwei Felder aller Erkenntnisarten a priori ein. Aber die Mathematik stellt für sich kein System als ein absolutes Ganzes dar, sondern ist ein bloßes Kunstprodukt des Hechnens und indirekt und nur mittelbar (bedingt) auf Zwecke gerichtet, dagegen Philosophie auf a b s o l u t e Zwecke gerichtet ist" (AA XXI 10716). Neben der schon ausgeführten Unterscheidung von Mathematik und Philosophie hinsichtlich der Zwecke wird für die Mathematik gesagt, daß sie für sich kein geschlossenes System ausmacht und daß sie ein "bloßes Kunstprodukt des Rechnens" ist. Weil nicht die Mathematik die Begründung ihrer Möglichkeit als Wissenschaft liefert, sondern dies von der Transzendentalphilosophie geleistet wird, ist die Aussage der Nichtgeschlossenheit der Mathematik als System plausibel. Den Begriff der Nichtgeschlossenheit eines Systems von Erkenntnissen, das eine Wissenschaft ausmacht, ist der Begriff der "absoluten Vollständigkeit" einer Wissenschaft entgegengesetzt. Diese Vollständigkeit ist ein positives Merkmal, das in der Metaphysik vorliegt und das durch keine andere Erkenntnisart (z.B. die Mathematik) zu erlangen ist. Es gilt, "daß in Allem, was Metaphysik heißt, die absolute Vollständigkeit der Wissenschaften gehofft werden kann, dergleichen man sich in keiner anderen Art von Erkennntnissen versprechen darf" (AA IV S. 473). Für die beliebigen Zwecke ist in der E.E. dargelegt, daß sie den
217 Daneben gibt es noch eine weitere Charakterisierung des Lehrbegriffs der Mathematik in bezug auf ihren Instrumentalcharakter, nämlich als "Instrumentalwissenschaft" (AA XXI 12010) oder als "Instrumentallehre" (AA XXI 15620).
128
Konstruktion und Instrument
Imperativen der Kunst unterliegen218( also als Ziele von Handlungen Kunstprodukte sind. Die Charakterisierung der Mathematik als Werkzeug zu beliebigen Zwecken läßt damit die Generalisierung zu, "bloßes Kunstprodukt des Rechnens"219 oder "Kunst im Gebrauch der Mittel zu Kenntnissen als Zwecken" zu sein220. Zum Abschluß der Behandlung des Instrumentalcharakters der Mathematik anhand des 1. Konvoluts ist an eine Bestimmung der Kr.d.r.V. zu erinnern: "Der Mathematiker, der Naturkündiger, der Logiker sind, so vortrefflich die ersteren auch überhaupt im Vernunfterkenntnisse, die zweiten besonders im philosophischen Erkenntnisse Fortgang haben mögen, doch nur Vernunftkünstler. Es gibt noch einen Lehrer im Ideal, der alle diese ansetzt, sie als Werkzeuge nutzt, um die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft zu befördern. Diesen allein miißten wir den Philosophen nennen" (B 867). Hier findet sich mit der Bezeichnung des Mathematikers als "Vernunftkünstler" nicht nur ein Bezug zur Mathematik als "Kunstprodukt", sondern für die Mathematik wird auch im gleichen Maße wie für die Logik eingeräumt, daß sie als Werkzeug gebraucht werden kann. Im Anhang zur transzendentalen Dialektik221 wird aber (von den Beispielen, in denen die Mathematik zum regulativen Gebrauch der reinen Vernunft gebraucht wird, abgesehen) für den Fortgang der Argumentation wesentlich nur von dem Werkzeug der Logik Gebrauch gemacht222.
218 Vgl. AA XX S.200. 219 Die an dieser Stelle auch beschriebene "indirekte" Gerichtetheit der Mathematik auf Zwecke (im Unterschied zur Philosophie) läßt Bezüge auf jene Stellen zu, in denen von der "indirekten" Zugehörigkeit der Mathematik zur Philosophie die Rede war (vgl. Arm. 209). 220 Siehe AA XXI 10922. 221 Hier wird nur auf den Abschnitt "Von dem regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft" Bezug genommen. 222 Dieses kann insbesondere in der Darlegung der Prinzipien des logischen Vernunftgebrauches festgestellt werden, für den der regulative Gebrauch der reinen Vernunft
Instrumentalcharakter der Mathematik im 1. Konvolut
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Im 1. Konvolut ist nun die Mathematik als "größtes" Instrument der Philosophie erwähnt223. Alle Stellen, in denen es um den Begriff der Anwendung der Transzendentalphilosophie geht, verweisen auf die Mathematik224. Di e Behandlung des Instrumentalcharakters ist also nicht unerheblich für das 1. Konvolut. Außer in der Schrift von 1796 22 ^ und im Op.p. können nur in Kants Handexemplar von G. Fr. Meiers "Auszug aus der Vernunft lehre" Stellen gefunden werden, in denen der Begriff "Instrument" im Zusanmenhang mit der Mathematik oder mit Werkzeugen der Mathematik zur empirischen Konstruktion behandelt ist. In der Heflexion 2075 heißt es: "Was der Autor gelehrte Erkenntnis nennt, soll die scient i fische sein, der Gemeinen entgegengesetzt, dignitas und foecunditas Mathematik kultiviert an sich, aber ist doch auch ein Gut Instrument" (AA XVI S.222). Hier besteht der Sache nach ein Bezug zu §68 von Meiers "Vernunftlehre": Dort ist erläutert, wann ein Gegenstand einer gelehrten Erkenntnis "in Absicht auf seine Folgen groß" zu nennen ist226. pQ r di e Mathematik gilt, daß sie große (res digna) und viele Folgen (res foecunda) hat: "Aber die Mathematik ist beides" (Reflexion 2066, AA XVI S.220). Das Bemerkenswerte ist, daß dies nicht nur für die Mathematik an sich gilt, sondern auch für den instrumentalen Gebrauch der Mathematik. Der
erste
Paragraph
der
"Vernunft lehre"
lautet:
'Die
Voraussetzung ist. Möglicherweise kann man Bezüge zum Verhältnis von logischen und regulativem Gebrauch der reinen Vernunft in AA XXI 10618 erkennen. 223 Vgl. AA XXI 10504. 224 Es sind dies die Stellen AA XXI 06914, 10026, 14621. Die Bemerkung gilt im wesentlichen auch für den Begriff "Gebrauch". Hier beziehen sich 12 von 16 Stellen des 1. Konvoluts auf die Mathematik: 06712 07017 09817 10205 10619 10922 12011 12318 13928 14621 14719 14812. 225 Vgl. AA Vili S.417 (vgl. Arm. 143). 226 Vgl. AA XVI S.220-221 Fußnote.
130
Konstruktion und Instrument
Vernunftlenre oder die Vernunftkunst (logica, philosophia Instrumentalis, philosophia rationalis) ist eine Wissenschaft, welche die Regeln der gelehrten Erkenntnis und des gelehrten Vortrages abhandelt" (AA XVI S.5 Fußnote). Hier findet sich die folgende Reflexion: " D e n o m e n a t i o 2 2 7 , Logica, Philosophia rationalis, Vernunftlehre sind identisch in ihrer Wortbedeutung. Philosophia Instrumentalis heißt sie darum, weil sie gleichsam ein Instrument ist, andere Wissenschaften zu traktieren; so wie ein Lineal ein Instrument ist, gerade Linien zu ziehen, ein Transporteur ein Instrument, Winkel von behöriger Größe zu machen: So ist der Vorrat und Inbegriff dieser Regeln das Instrument, Begriffe lind Schlüsse richtig zu formieren und zu prüfen" (AA XVI S.7). Während die Begriffe der Logik, der Philosophia rationalis und der Vernunft lehre als identisch gesehen werden, wird der Begriff "philosophia instrumental is" nuanciert: Dieser Begriff bezeichnet die Anwendung der Vernunft lehre oder Logik auf andere Wissenschaften. Die Art der Anwendung wird mit der Wirkung der Werkzeuge der empirischen Konstruktion der Mathematik verglichen. In dem 1. Konvolut des Op.p. wird die Anwendung der Mathematik als Instrument b e s c h r i e b e n 2 2 8 . £>je Betrachtung der ¡Mathematik als Instrument der Transzendentalphilosophie gestattet es, über die Mathematik zu "philosophieren"229 und sie impliziert die Vorstellung der Anwendung der Mathematik auf andere Wissenschaften (z.B. der Physik). Insoweit sind die Voraussetzungen für Mathematik entsprechend denen der Logik in der obigen "Denominatio" erfüllt. Die dargestellten Ausführungen des 1. Konvoluts zur Mathematik als Instrument können daher als Leistungen einer neuen "philosophia Instrumentalis" verstanden werden, die die Kritik der reinen
227 Denomenatio = (lat.) Benennving. 228 Vgl. AA XXI 06914. 229 Vgl. AA XXI 12315.
Instrumentalcharakter der Mathematik im 1. Konvolut
131
Vernunft voraussetzt und sien so von der alten Metaphysik unterscheidet, die den "sichern Gang einer Wissenschaft" noch nicht eingeschlagen hat230.
230 Β XIV.
2.
QUALITÄT UND QUANTITÄT. ZUM UNTERSCHIED DER BEHANDLUNG DES GEGENSTANDES DURCH MATHEMATIK UND PHILOSOPHIE
2.1
Qualität
und i n t e n s i v e
2.1.1
Qualität
und
Größe
Kontinuität
In der von Jäsche herausgegebenen Logik-Vorlesung Kants i s t s t ä r k e r noch a l s in der "transzendentalen Methodenlehre"! der Kr.d.r.V. formuliert, daß das Kriterium der Unterseheidung von Mathematik und Philosophie n i c h t durch d i e Verschiedenheit von Quantität und Q u a l i t ä t h i n s i c h t l i c h der Objekte d i e s e r Wissenschaften gegeben i s t : "Man p f l e g t zu behaupten, daß Mathematik und Philosophie dem O b j e k t e nach von einander unterschieden wären, indem die erstere von der Q u a n t i t ä t , die l e t z t e r e von der Q u a l i t ä t handele. A l l e s d i e s e s i s t f a l s c h " (AA IX, S . 2 3 ) . Wenn d i e s e Aussage z u t r i f f t , dann muß d i e Möglichkeit bestehen, daß d i e Mathematik Gegenstände der Erkenntnis auch h i n s i c h t l i c h i h r e r Q u a l i t ä t u n t e r s u c h t . Daß d i e s e s geschieht, b e s t ä t i g t d i e "transzendentale Methodenlehre" der Kr.d.r.V.: "Die Mathematik b e s c h ä f t i g e t s i c h auch mit dem Unterschiede der Linien und Flächen, a l s Räumen, von verschiedener Q u a l i t ä t , mit der Kontinuität der Ausdehnung, a l s einer Q u a l i t ä t derselben" (B 743). Die Betrachtving s o l l sich nicht nur auf d i e Gegenstände (der Mathematik) r i c h t e n , d i e in r e i n e r Anschauung gegeben sind, sondern s o l l sich auch mit der Anwendung der Mathematik auf Gegenstände der Erfahrung befassen. Daß es möglich ist, die Mathematik auf Erscheinungen anzuwenden, f o l g t aus dem e r s t e n Grundsatz des reinen Verstandes: "Denn er i s t es a l l e i n , welcher d i e reine
1
Vgl. Β 742 - 743.
Qualität und Kontinuität
133
Mathematik in ihrer ganzen Präzision auf Gegenstände der Erfahrung anwendbar macht, welches ohne diesen Grundsatz nicht so von selbst erhellen möchte, ja auch manchen Widerspruch veranlasset hat"(B 206). Das Prinzip der "Axiomen der Anschauungen" behandelt Erscheinungen unter dem Gesichtspunkt ihrer Quantität (extensive Größe)^, deshalb wird aus ihm in erster Linie die Bedingung der Möglichkeit der Anwendung der Mathematik zur extensiven Größenbestimnung einer Erscheinung abgelesen, obwohl die Möglichkeit der Anwendung der Mathematik auf Erscheinungen dort generell beschrieben is Die Anwendung der Mathematik zur extensiven Größenbestimmung geschieht auf zwei Wegen: Zum einen wird die Mathematik auf "Größen (quanta) als solche" (B 204) bezogen, dann werden reine Anschauungen bezüglich ihrer Ausdehnung bestimmt: "Auf diese sukzessive Synthesis der produktiven Einbildungskraft, in der Erzeugung der Gestalten, gründet sich die Mathematik der Ausdehnung (Geometrie) mit ihren Axiomen" (B 204). Zum anderen wird die Mathematik zur Bestürmung der Größe (quantitas) von Erscheinungen angewandt, d.h. es geht um "die Antwort auf die Frage: wie groß etwas sei?" (B 204). Daß die Mathematik nicht nur zur Bestinmung der Quantitäten von Erscheinungen herangezogen wird, sondern auch bei der Betrachtung der Qualität empirischer Vorstellungen genutzt wird, was Kant auch als "die zweite Anwendung der Mathematik auf die Naturwissenschaft" bezeichnet, ist in Erläuterungen der Prolegomena zu den Antizipationen der W a h r n e h m u n g e n ^
2 3 4
Vgl. den Beweis des Prinzips der "Axiomen der Anschauung": Β 202 - 203. Vgl. Β 206. Die Terminologie der Kr.d.r.V. ist maßgeblich: Sie leitet die Tafel der Grundsätze mit dem Satz ein : "Alle Grundsätze des reinen Verstandes sind demnach. 1. Axiomen der A n s c h a u u n g . 2. Antizipationen der W a h r η e h m u η g . 3. Analogien der E r f a h r u n g . 4. Postulate des e m p i r i s c h e n D e n k e n s überhaupt." (B 2 0 0 ) .
134
Qualität und Quantität
enthalten: "Weswegen der Verstand sogar Ehipf indungen, welche die eigentliche Qualität der empirischen Vorstellungen (Erscheinungen) ausmachen, antizipieren kann vermittelst des Grundsatzes, daß sie alle insgesamt, mithin das Reale aller Erscheinung Grade habe, welches die zweite Anwendung der Mathematik (mathesis intensorum) auf Naturwissenschaft ist" (AA IV S. 307). Nachdem nun beschrieben wurde, daß die Mathematik auch Gegenstände der reinen Anschauung hinsichtlich ihrer Qualität untersucht, und dargelegt wurde, daß die Mathematik als eine "mathesis intensorum" zur Bestimnung des Realen einer Erscheinung angewandt wird, stellt sich die Frage, wie dieser qualitative Gebrauch der Mathematik möglich ist. Insbesondere wird diese Frage für den letztgenannten Aspekt des qualitativen Gebrauches der Mathematik folgendermaßen präzisiert: Inwieweit ist die Mathematik auf qualitative Bestürmungen von Erscheinungen anwendbar? Bevor man zum Kern der Antwort vordringen kann, der anhand der Kantischen Ausführungen zum Prinzip der Antizipationen der Wahrnehmungen gegeben wird, sind Mittel zur Beantwortung der Frage bereitzustellen. Da es um das Verhältnis von Mathematik und Qualität geht, ist es hilfreich, Belegstellen zum Begriff der Qualität in der Kr.d.r.V. zu betrachten. Den ersten Beleg für den Begriff der Qualität in der "transzendentalen Logik" findet man in der Tafel "der logischen Funktion des Verstandes in U r t e i l e n " ^ ( B
5
Die Prolegomena befassen die Tafel der Grundsätze unter der Uberschrift: "Reine physiologische Tafel allgemeiner Grundsätze der Naturwissenschaft" (AA IV S.303). Während diese in den Prolegomena auch "physiologische Grundsätze" genannt werden (vgl. AA IV S.306), heißen sie in der Kr.d.r.V. "Grundsätze des reinen Verstandes". Grundlage der Untersuchung waren folgende Belegstellen zum Begriff der Qualität in der Kr.d.r.V. (AA III): 01025 03803 07114 08701 08928 09302 09809 09814 09819 09825 10812 13820 14803 15703 15725 15730 15809 15809 16035 17726 21631 21702 22710 26420 27021 47001 47005 47019 47020 47307 50916.
Qualität und Kontinuität
135
95): Der zweite Titel der "Funktion des Denkens" ist die Qualität, sie enthält Vinter sich drei Momente (B 95). Seien S und Ρ Bezeichnungen für Subjekts- bzw. Prädikatsbegrifl'e, "est" die Bezeichnung für eine logische Kopula und π das Zeichen für eine Negationsstelle, wobei zwei Arten von Negationsstellen zu unterscheiden wären: die Negation der Kopula, die der aussagenlogischen Verneinung entspricht und die Negation von P, die in einem aussagenlogisch bejahenden Urteil mit anderem Inhalt, der durch das verneinte Prädikat ( P) bestimmt wird, enthalten ist, dann können die drei Manente der Qualität durch folgende Typen von Urteilen repräsentiert werden: Bejahende Urteile : S est Ρ Verneinende Urteile : S π est Ρ Unendliche Urteile : S est Π Ρ Zur Repräsentation ist anzumerken, daß sie keine Einteilung im streng aussagenlogischen Sinn darstellt: "Diese nämlich abstrahieret von allem Inhalt des Prädikats (ob es gleich verneinend ist) und sieht nur darauf, ob dasselbe dem Subjekt beigelegt, oder ihm entgegengesetzt werde"(B 97). Bedeutung kaimt dem dritten Moment, das aussagenlogisch unter das erste subsumiert wurde, dadurch zu, daß es "beschränkend in Ansehung des Inhalts der Erkenntnis überhaupt" ist (B 98). Diese limitative Funktion findet ihre Entsprechung im 3. Moment der Kategorie der Qualität. "Dieselbe Funktion, welche den verschiedenen Vorstellungen i n einem Urteile Einheit gibt, die gibt auch der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung Einheit, welche, allgemein ausgedrückt, der reine Verstandesbegriff heißt" (B 104 - 105). Daher gibt es eine Entsprechung zwischen den drei Momenten der Qualität in der Tafel der Urteilsformen und den drei Momenten der Qualität in der Kategorientafel (B 106):
136
Qualität lind Quantität "Tafel der Kategorien 2.
Der Qualität Realität Negat ion Limitation." Kategorien können zur Erkenntnis dienen, wenn sie auf Gegenstände,"die uns in der Anschauung gegeben werden können" (B 151), angewandt werden**. Den Erscheinungen korrespondieren empirische Begriffe. Die Anwendung der Kategorien auf Erseheinungen bedeutet die Subsumtion der zugehörigen empirischen Begriffe unter die reinen Verstandesbegriffe?, ün diese Subsumtion durchführen zu können, bedarf es eines Dritten, das "einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muß, und die Anwendung der ersteren auf die letzte möglich macht" (B 177). Dieses Dritte ist Bedingung der Möglichkeit der Anwendlang von Kategorien auf Gegenstände der Erfahrung. Diese Vorstellung restringiert den reinen "Verstandesbegriff in seinem Gebrauch" und stellt eine "formale und reine Bedingung der Sinnlichkeit" vor (B 179). Eine solche "dritte", vermittelnde Vorstellung nennt Kant das Schema eines reinen Verstandesbegri ffes. Eine Erkenntnis bezieht sich unmittelbar auf einen Gegenstand durch Anschauung**. Die Anschauung ist entweder rein, wenn sie bloß die Form eines Gegenstandes enthält, oder sie ist empirisch, wenn sie sich durch Bnpfindung auf den Gegenstand bezieht 9 . Während für die Anwendung der Kategorien der Quantität auf Erscheinungen nur Daten aus der Form der
6
7 8 9
Vgl. ren ge, der Vgl. Vgl. Β 34
Β 146: " D i e K a t e g o r i e hat k e i n e n andeGebrauch zum Erkenntnisse der Dinals ihre A n w e n d u n g auf Gegenstände Erfahrung". Β 176 - 177. Β 33. - 35.
Qualität und Kontinuität
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Anschauung erforderlich sindl^ bezieht sich die Anwendung der Kategorien der Qualität auf die Daten einer empirischen Anschauung!!. Der reine Verstandesbegriff der Realität korrespondiert einem Etwas in der Zeit, von dem man eine Empfindung hat. Die Negation zeigt ein Nichtsein in der Zeit an, d.h., sie weist auf eine von der Rnpfindung nicht erfüllte Zeit hin: "Negation, dessen Begriff ein Nichtsein (in der Zeit) vorstellt" (B 182). In der Anwendving von Realität und Negation auf das gleiche Zeitquantum besteht der Unterschied, daß einmal das Zeitquantum mit dem Grad eines Realen als erfüllt betrachtet wird und daß das andere Mal das Zeitquantum als leer angesehen wird: "Die Entgegensetzung beider geschieht also in dem Unterschiede derselben Zeit, als einer erfülleten, oder leeren Zeit" (B 182). Für eine Qnpfindung kann der Grad der Erfüllung eines festen Zeitquantuns durch Vergleich mit der Nichterfülltheit gemessen werden, wobei der Vergleich anhand eines gegebenen Gegenstandes der empirischen Anschauung ausgeführt wird: "Nun hat jede Qnpfindung einen Grad oder Größe, wodurch sie dieselbe Zeit, d.i. den innren Sinn in Ansehung derselben Vorstellung eines Gegenstandes, mehr oder weniger erfüllen kann, bis sie in Nichts (= 0 = negatio) aufhört" (B 182). Der Grund für die Meßbarkei t des Realen einer Erscheinung durch einen Grad der Erfüllung ergibt sich aus der Möglichkeit einer stufenartigen Veränderung, die von einem empirischen Bewußtsein zu einem formalen Bewußtsein a priori führt: "Nun ist vom empirischen Bewußtsein zum reinen eine stufenartige Veränderung möglich, da das Reale desselben ganz verschwindet, und ein bloß formales Bewußtsein (a priori) des
10 Man vergleiche hierzu den Beweisanfang zu dem Prinzip der Axiomen der Anschauung (B 202 - 203). Der Beweisanfang lautet: "Alle Erscheinungen enthalten, der Form nach, eine Anschauung im Raum und Zeit, welche ihnen insgesamt a priori zum Grunde liegt". 11 Vgl. auch: "Realität ist ... das, was einer Ehipfindung überhaupt korrespondiert" (B 182).
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Qualität und Quantität
Mannigfaltigen in Kaum und Zeit übrig bleibt: also auch eine Synthesis der Größenerzeugung einer Ehipfindung, von ihrem Anfange, der reinen Anschauung = 0, an, bis zu einer beliebigen Größe derselben" (B 208). Der Vorgang der stufenartigen Veränderung des empirischen Bewußtseins zum reinen findet seine Entsprechung im Verfahren der Isolation der transzendentalen Ästhetik, mittels dessen von einer empirischen Anschauung alles das, "was zur Efrip findung gehört", getrennt wird 1 2 . Kant demonstriert dieses Verfahren am Beispiel der Vorstellung eines physischen Körpers: "So, wenn ich von der Vorstellung eines Körpers das, ... was davon zur Eknpfindung gehört, als Undurchdringlichkeit, Härte, Farbe etc., absondere, so bleibt mir aus dieser empirischen Anschauung noch etwas übrig, nämlich Ausdehnung und Gestalt. Diese gehören zur reinen Anschauung" (B 35). In den Ausführungen der Kr.d.r.V. sind als Beispiele für den Grad des Kealen einer Erscheinung der Grad der Erleuchtung einer Fläche (Lichtstärke), der Grad der Erwärmung eines Körpers (Temperatur) und die spezifische Schwere genannt. Diese Grade treten als Größen physikalischer Messung auf. Das Schema der Realität als einer "kontinuierlichen und gleichförmigen Erzeugung" (B 183) einer "Quantität von Etwas" (der Grad g eines Kealen) "in der Zeit" kann als allgemeine Regel des Verfahrens der Feststellung einer physikalischen Meßgröße gelesen werden. Un dieses deutlich zu machen, gebe ich dafür eine einfache mathematische Darstellung an:[a,b] ist das Zeitinterval1, das vom Zeitpunkt a des Anfangs des Meßverfahrens bis zum Zeitpunkt b der Verzeichnung der Meßgröße g vergeht. Die reelle Zahl g (g > 0) beschreibt ideal i ter den Wert der Meßgröße zum Zeitpunkt b, g ist also eine Darstellving des Grades des Realen einer durch die Messung bestimmten Erscheinung. Betrachtet man nun das Abtragen von Werten mit Startwert 0 beim Zeitpunkt a, das bis zum Zeitpunkt b des
12 Vgl. Β 36.
Qualität und Kontinuität
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Erreichens von g fortgeht, so kann das Verfahren der Feststellung der Meßgröße als mathematische Funktion dargestellt werden: F: [ a, b] — » R , t l — > F(t), mit F(a) = 0 und F(b) = g. Die Funktion F wird als stetig a n g e n o m m e n * ^ u,,, ^ s Verfahren der "kontinuierlichen und gleichförmigen" Grölienerzeugung möglichst äquiform nachzubilden. Durch die "kontinuierliche und gleichförmige Erzeugung" (B 183) der Größe eines Etwas in der Zeit wird die durch diesen Vorgang bestinmte Zeit als "erfüllte" Zeit angesehen. Dem Schema der Realität ist das Schema der Negation entgegengestellt, "indem man von der Empfindung, die einen gewissen Grad hat, in der Zeit bis zum Verschwinden derselben hinabgeht, oder von der Negation zu der Größe derselben allmählich aufsteigt" (B 183). Bezogen auf ein Zeitintervall a,b , das die Form einer bestimmten Zeitvorstellung bezeichnet, ist die Entgegensetzung von Realität und Negation dadurch beschrieben, daß die Vorstellung des Zeitintervalls einmal durch die Messung des Grades eines Realen belegt ist, ("erfüllte Zeit") und daß die Vorstellung des Zeitintervalls das andere Mal durch die Abwesenheit jedes Realen gekennzeichnet ist ("leere Zeit"): "Die Entgegensetzung beider geschieht also in dem Unterschiede derselben Zeit, als einer erfülleten, oder leeren Zeit" (B 182). Der oben gegebenen einfachen mathematischen Darstellung zum Schema der Realität entspricht eine Darstellung zum Schema der Negation als allgemeine Regel des Verfahrens, das in einem Zeitinterval1 nur die konstante Meßgröße 0 verzeichnet : F: [a,b]—»R, t •—» F(t)= 0. Daß eine Darstellung des Schemas der Negation mit einer ideal i ter bestimmten Nullwertigkeit verbunden werden kann,
13 Eine Funktion F: [a,b]—»· R heißt in einem Punkt t(je [a,b] stetig, wenn für alle e > 0 ein d > 0 existiert, daß für alle t e]a,b [ mit |t - t0| < d gilt: |F(t) - F(tfl) I < e.
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Qualität und Quantität
wird von Kant im "Schematismus der reinen Verstandesbegriffe" ausdrücklich betont: "Nun hat jede Empfindung einen Grad oder Größe, wodurch sie dieselbe Zeit, d.i. den innren Sinn in Ansehung derselben Vorstellung eines Gegenstandes, mehr oder weniger erfüllen kann, bis sie in Nichts (= 0 = negatio) aufhört" (B 182). Setzt man an Stelle eines beliebigen positiven Werts g mit einem normierten Wert g = 1 die Beschreibung des Grades durch obige mathematische Darstellung zum Schema der Realität an, dann erhält man die Beschreibung zur Schätzung des Grades eines Realen, die in den Prolegomena gegeben wird: "Grade sind also größer, aber nicht in der Anschauung, sondern der bloßen Ehipfindung nach oder auch der Größe des Grundes einer Anschauung und können nur durch das Verhältnis von 1 zu 0, d.i. dadurch daß eine jede derselben durch unendliche Zwischengrade bis zum Verschwinden, oder von der Null durch unendliche Manente des Zuwachses bis zu einer bestimmten Ehipfindung in einer gewissen Zeit erwachsen kann, als Größen geschätzt werden (quantitas qualitatis est gradus)" (AA IV S. 309 Fußnote). Die damit beschriebene Synthesis der Vorstellung einer bestinmten Zeit mit einer empirischen Anschauung, die durch Ehipfindung auf eine gegebene Erscheinung bezogen ist, ist Kennzeichen für das Schema der Qualität, das allgemein "die Synthesis der Ehipfindung (Wahrnehmung) mit der Vorstellung der Zeit, oder die Erfüllung der Zeit" (B 184) ist. Die Kategorien der Qualität machen zusammen mit denen der Quantität die Klasse der m a t h e m a t i s c h e n , die der Relation zusairmen mit denen der Modalität^ dj e Klasse der d y n a m i s c h e n Kategorien auslS. j n Betrachtungen zur Kategorientafel war als Unterscheidungsaspekt genannt, daß die dynamischen Kategorien jeweils Korrelate beinhalten. Dieser Aspekt wird dort nicht weiter untersucht: "Dieser Unterschied muß doch einen Grund in der Natur des Verstandes 14
Zum Schema der Relation und dem der Modalität vgl. Β 183 - 184. 15 Vgl. Β 110.
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Haben" (B 110). Diesen Grund zu finden, bleibt eine Aufgabe der Transzendentalphilosophie. Im Schematismus haben die dynamischen Kategorien das Merkmal, daß> ihnen jeweils ein besonderes Schema zugeordnét ist. Bei den Kategorien der Qualität ist explizit nur für die Realität ein Schöna angegeben. Für die Limitation ist kein Schema explizit genannt, und für die Negation ist nur skizziert, daß ein zugehöriges Verfahren, das entsprechend demjenigen der Realität gebildet ist, in umgekehrter Richtung als stufenartige Veränderung von einem formalen Bewu&tsein a priori zu einem empirischen Bewu8>tsein verlaufen müßtel®. über das Verhältnis von Realität, Negation und Limitation ist noch anzuführen, daß Kant hierzu in den Prolegomena eine Ausführung macht, die sich in der 2. Auflage der Kr.d.r.V. nicht findet: "Über eine vorgelegte Tafel der Kategorien lassen sich allerlei artige Anmerkungen machen, als 1) daß die dritte aus der ersten und zweiten in einen Begriff verbunden entspringe, 2) daß in denen von der Größe und Qualität blos ein Fortschritt von der Einheit zur Allheit, oder von dem Etwas zum Nichts (zu diesem Behuf müssen die Kategorien der Qualität so stehen: Realität, Einschränkung, völlige Negation) fortgehen, ohne correlata und opposi ta, dagegen die der Relation und Modalität diese letztere bei sich führen, ..." (AA IV S. 325, Fußnote). Ein Teil dieser Überlegungen geht in die 2. Auflage der Kr.d.r.V. ein: Die Unterscheidung, daß die dynamischen Kategorien Korrelate haben, und das Verhältnis, daß die dritte Kategorie einer Kategoriengruppe sich aus der Verbindving der ersten beiden herleitet, werden in einem selbständigen Paragraphen im Anschluß an die Kategorientafel behandelt!?. Die Beschreibung des Fortgangs von der Realität über die Einschränkung zur Negation wird allerdings in der Kr.d.r.V. nicht aufgegriffen, 16 Vgl. Β 182 - 183. Dort ist für den Zusaranenhang von Realität und Negation formuliert, daß dieser als eine kontinuierliche Erzeugung in der Zeit anzusehen ist, die "von der Negation zu der Größe derselben (der Erfindung, G.B.) allmählich aufsteigt" (B 183). 17 Vgl. Β 109 - 113: Paragraph 11.
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Qualität und Quantität
obwohl eigentlich mehrere Hinweise dort vorhanden sind, die eine Beschreibungsmöglichkeit dieses Fortgangs bieten: Die logische Funktion des Verstandes in Urteilen, die der Limitation korrespondiert, war das unendliche Urteil: S est P. Die Art der Synthesis eines in einer Anschauung gegebenen Mannigfaltigen, die durch die Kategorien der Qualität vorgestellt wird, bezieht sich auf die in der empirischen Anschauung gegebenen Daten. Für diese Daten gilt gerade, daß sie nicht a priori nach best iranien Arten des Realen unterschieden werden können, eine Einteilung des Realen kann daher erst a posteriori durch Vergleich mit bereits gegebenen Empfindungen gegeben werden. Gleichartige intensive Größen können hinsichtlich ihres Grades gemessen werden: "Mithin, obzwar Empfindung als die Qualität der empirischen Anschauung in Ansehung dessen, worin sie sich spezifisch von andern Empfindungen unterscheidet, niemals a priori erkannt werden kann, sie dennoch in einer möglichen Erfahrving überhaupt als Größe der Wahrnehmung intensiv von jeder andern gleichartigen unterschieden werden könne; vroraus denn die Anwendung der Mathematik auf Natur in Ansehung der sinnlichen Anschauung, durch welche sie uns gegeben wird, zuerst möglich gemacht und bestiiimt wird" (AA IV S.309). Bisher wurden Kantische Bestimnungen zur Kategorienklasse der Qualität und ihrem Schematismus betrachtet. Die Abhandlungen zum Schematismus bezeichnete Kant als "ganz unentbehrliche, obzwar äußerst trockene Untersuchungen" CAA IV S. 316). Nun werden die Antizipationen der Wahrnehmung betrachtet, um daran anschließend die Frage zu beantworten: Inwieweit ist die Mathematik für qualitative Bestimmungen von Erscheinungen anwendbar? "Antizipationen Das Prinzip derselben ist: gen hat das Reale, der Empfindung ist, einen Grad" (B 207).
der Wahrnehmung In a l l e n Erscheinunwas ein Gegenstand intensive G r ö ß e , d.i.
Qualität land Kontinuität
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Der Beweis^ des Prinzips der Antizipationen der Wahrnehmung geht davon aus, daß durch eine Erscheinung als Gegenstand der Wahrnehmung neben einer reinen Anschauung auch noch "Materien zu irgend einem Objekte überhaupt" gegeben sind (B 207). Durch die letzteren wird "etwas Existierendes im Räume oder der Zeit vorgestellt" (B 207). Das Existierende macht "das Reale der Empfindung" aus (B 207). Es ist eine bloß subjektive Vorstellung, die nur das Bewußtwerden ausdrückt, "daß das Subjekt affiziert sei" (B 207). Die Empfindung ist somit keine objektive Vorstellung und aufgrund der disjunkten Zerlegung einer Erscheinung in "Materie" und reine Anschauung kann die Brpfindung, da sie der "Materie" korrespondiert^ und selber auch als "Materie der Wahrnehmung" bezeichnet wird (B 209), weder reine Raumesnoch Zeitvorstellungen beinhalten; sie hat daher keine extensive Größe^O. Wegen der stufenartigen Veränderung von einem empirischen zu einem formalen Bewußtsein kormit aber der Empfindung, wie schon erwähnt wurde, doch eine Größe zu, die im Unterschied zur extensiven Größe i n t e n s i v e Größe genannt wird und als "Grad des Einflusses auf den Sinn" charakterisiert ist (B 208). Neben dem Aufweis der Bedingung der Möglichkeit der Messung einer intensiven Größe in Graden enthält der oben beschriebene Beweis auch die Bedingung der Möglichkeit der Erzeugung von Gegenständen, die einen gegebenen Grad von Empfindung bewirken sollen: "In dem innern Sinn nämlich kann das empirische Bewußtsein von 0 bis zu jedem größern Grade erhöhet werden, so daß eben dieselbe extensive Größe der Anschauung (ζ. B. erleuchtete Fläche) so große Empfindung erregt, als ein Aggregat von vielem andern (minder erleuchteten) zusammen" (B 217). Das Reale der Ehipfindung 18 Der erste auf die Formulierung des Prinzips der Antizipationen der Wahrnehmung folgende Abschnitt konmt in der zweiten Auflage der Kr.d.r.V. neu hinzu, er wird dort unter die Überschrift "Beweis" gesetzt (Vgl. Β 207, A 166). 19 Vgl. auch Β 34. 20 Vgl. Β 208.
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Qualität und Quantität
repräsentiert nichts anderes als die Synthesis aus Empfindungen in einem empirischen Bewußtsein. Die Synthesis ist bestimmt durch zwei Typen verschiedener Data: Die Empfindung, die empirisch gegeben ist, und die intensive Größe, die als Grad a priori darstellbar ist und regelt, bis zu welchem Niveau gleichartige Empfindungen in die Synthesis des Realen eingehen können: "Alle Empfindungen werden daher, als solche, zwar nur a posteriori gegeben, aber die Eigenschaft derselben, daß sie einen Grad haben, kann a priori erkannt werden" (B 218). Die Synthesis eines Realen aus einem Aggregat vieler gleichartiger Empfindungen zu einem gegebenen Grad ist von dem Vorgang zu unterscheiden, der in der Apprehension einer Erscheinung als extensive Größe besteht: Während die Apprehension einer extensiven Größe sukzessive vonstatten gehen kann, d.h. in einem Zeitinterval 1 von den Teilen zum Ganzen laufen kann, ist die Apprehension in bezug auf eine intensive Größe nur als eine augenblickliche möglich21 : "Die Apprehension, bloß vermittelst der Empfindung, erfüllet nur einen Augenblick" (B 209). Als eine Eigenschaft aller Größen, der extensiven als auch der intensiven, wird die Kontinuität bestinmt: "Die Eigenschaft der Größen, nach welcher an ihnen kein Teil der kleinstmögliche (kein Teil einfach) ist, heißt die Kontinuität derselben" (B 211). Hat man es aber dagegen mit Größen zu tun, die einfache Teile enthalten, so sind diese Vorstellungen nichtkontinuierliche Größen. Nichtkontinuierliche Größen sind aber nicht unmittelbar diskrete Größen. Als Eigenschaft eines quantum discretum ist erforderlich, daß die Teilmenge der gegebenen Größe, die alle einfachen Teile derselben enthält, bestimmt ist. Ist nämlich die Menge der einfachen Teile, die als Einheiten aufgefaßt werden, bestimmt, dann gilt für jeden anderen Teil der Größe und auch für die Größe selbst, daß ihr Verhältnis in Hinblick auf die
21 Vgl. Β 209 - 210.
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Einheiten, d.n. ihre Vielfachheit relativ zur Einheit bestinmt werden kann. Diskrete Größen sind für Kant abzählbar: "So bald aber etwas als quantum discretum angenommen wird: so ist die Menge der Einheiten darin bestinmt; daher auch jederzeit einer Zahl gleich" (B 555). Kaum und Zeit sind kontinuierliche Größen. Kaum und Zeit haben keine einfachen Teile. Mögliche Kandidaten für einfache Teile wie Kaum- und Zeitpunkte ("Augenblicke") sind Stellen: "Stellen aber setzen jederzeit jene Anschauungen, die sie beschränken oder bestimmen sollen, voraus, und aus bloßen Stellen, als aus Bestandteilen, die noch vor dem Räume oder der Zeit gegeben werden könnten, kann weder Kaum noch Zeit zusammengesetzt werden" (B 211). Stellen als Bestandteile des Raumes und der Zeit können nicht vor dem Raum und vor der Zeit gegeben werden, sondern setzen Anschauungen voraus, die sie beschränken, und diese Anschauungen selber sind in Raum und Zeit. Hat man es nur mit reinen Anschauungen zu tun, so sind für die Kaum- und Zeitpunkte genau die reinen Anschauungen gegeben, die sie begrenzen. Mathematisch bedeutet das: Stellen im Raum und in der Zeit sind konstruierbar. Als Beispiel der geometrischen Konstruktion eines Punktes wird in der Gr.z.M.d.S. die euklidische Konstruktion des Streckenmittelpunktes, der eine gerade Linie "in zwei gleiche Teile" (AA IV S.417) teilt, genannt. Abzählbare Punktmengen stellen ein "quantum discretum" dar (B 689). Für alle Erscheinungen gilt, daß sie sowohl als extensive als auch als intensive Größe die Eigenschaft der Kontinuität haben: "Alle Erscheinungen überhaupt sind demnach kontinuierliche Größen, sowohl ihrer Anschauung nach, als extensive, oder der bloßen Wahrnehmung (Empfindung und mithin Realität) nach, als intensive Größen" (B 212). Die Kontinuität einer Größe in Raum und Zeit ist als Abbildungseigenschaft durch den mathematischen Begriff der stetigen Funktion präzisierbar. Die Axiome der Anschauung erklären die Möglichkeit der Anwendung der reinen Mathematik auf kontinuierliche extensive Größen. Für die intensiven
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Qualität und Quantität
Größen gilt, daß iure Realität mit der Negation in einem kontinuierlichen Zusammenhang steht 2 2 . Setzt man den Grad der Negation = 0 als Maß des vollständigen Defizits alles Realen in einer gegebenen Anschauung, so besteht zwischen ü und dem Grad g (g > 0) der vorliegenden intensiven Größe ein korrspondierender kontinuierlicher Zusanmenhang. Dieser Zusammenhang ist ein "Fortgang in der Zeit" (B 211), der vom Anfangs Zeitpunkt a des Vorliegens der Negation bis zum Zeitpunkt b des Erreichens des Grades g voranschreitet23. Als kontinuierlicher Fortgang in der Zeit ist jener Zusammenhang eine stetige Funktion Q der Zeit 2 4 , wobei Q(a) = 0 und Q(b) = g ist. Q : [a,b] t
» I—>
[0,g] Q(t)
Der kontinuierliche Zusammenhang der Grade als Fortgang in der Zeit ist als Abbildung einer zeitlichen Größe mathematisierbar. Resümierend ließe sich also für die intensiven Größen wie für die extensiven Größen feststellen, daß ihre Eigenschaft der Kontinuität mathematisierbar ist, wobei die Mathematisierbarkeit des Realen einer Erscheinung dadurch möglich ist, daß dem Realen nach dem Prinzip der Antizipationen der Wahrnehmung als intensive Größe ein Grad zukommt. Der Grundsatz der Antizipationen der Wahrnehmung ist damit zugleich Bedingung der Möglichkeit der Anwendung der Mathematik auf Erscheinungen 25 . Kant macht diese Anwendung
22 Vgl. Β 211. 23 Dieses ist die "stufenartige Veränderung", die sich in der "Synthesis der Größenerzeugung einer Empfindung, von ihrem Anfange, der reinen Anschauung = 0, an, bis zu einer beliebigen Größe derselben" findet (B 208). 24 Die Verbindung eines Realen mit der Vorstellung einer Zeit zur erfüllten Zeit findet sich bereits im Schematismus (Vgl. Β 182f.) : "Das Schema einer Realität, als der Quantität von Etwas, so fern es die Zeit erfüllt, ist eben diese kontinuierliche und gleichförmige Erzeugung derselben in der Zeit". 25 Vgl. Β 221.
Qualität und Kontinuität
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als Konstruktion des Grades einer Empfindung selber am Beispiel des Helligkeitsgrades des Sonnenlichts deutlich: "So werde ich z.B. den Grad der Empfindungen des Sonnenlichts aus etwa 200000 Erleuchtungen durch den Mond zusammensetzen und a priori bestinmt geben, d.i. konstruieren können" (B 221). Nachdem nun die Mathematisierbarkeit der Kontinuität an den extensiven und intensiven Größen aufgewiesen ist, kann abgehandelt werden, inwieweit Mathematik überhaupt auf die Qualität von Erscheinungen angewandt werden kann: "Es ist merkwürdig, daß wir an Größen überhaupt a priori nur eine einzige Q u a l i t ä t , nämlich die Kontinuität, an aller Qualität aber (dem Realen der Erscheinungen) nichts weiter a priori, als die intensive Q u a n t i t ä t derselben, nämlich daß sie einen Grad haben, erkennen können, alles übrige bleibt der Erfahrung überlassen" (B 218). Daß an der Qualität von Erscheinungen, d.h. an dem Realen, die Mathematik auf den Grad anwendbar ist, wurde oben dargelegt. Hinzu kommt nun, daß der Grad auch das Einzige "an aller Qualität" der Erscheinungen ist, das a priori erkannt werden kann. Die mathematische Erkenntnis besteht in der Konstruktion der Begriffe. Zur Konstruktion wird ein Datum von der Qualität der Erscheinung gefordert, das in einer nicht e m p i r i s c h e n Anschauung gegeben ist26. NIU· der Grad "als die intensive Quantität" der Erscheinung ist in einer niehtempirisehen Anschauung darstellbar, alles übrige, das zur Qualität der Erscheinung gehört (Bmpfindung), liegt also als Gegebenes in einer empirischen Anschauung: "Alles übrige bleibt der Erfahrung überlassen" (B 218). Damit kann die Frage beantwortet werden, inwieweit Mathematik auf die Qualität von Erscheinungen angewandt werden kann: Dann, wenn es sich bei der Qualität der Erscheinung um eine intensive Größe handelt, ist die Mathematik anwendbar. Handelt es sich bei der Qualität um das Reale der Erscheinung, dann ist die Mathematik nicht anwendbar. Mit dem Realen ist die Grenze des Mathematisierbaren angesprochen: Alles das, was an einer 26 Vgl. Β 741.
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Erscheinung zur Empfindung gehört, ist nicht mehr mathematisierbar 2 ?. Zum Aufweis dessen, daß die Empfindung des Realen nicht ma thematisierbar ist, kann das folgende dienen: Alle Sätze der Mathematik sind reine Urteile a priori (B 4). Für die Qualität der Empfindung dagegen gilt: "Die Q u a l i t ä t der Empfindung ist jederzeit bloß, empirisch, und kann a priori gar nicht vorgestellet werden, (z.B. Farben, Geschmack etc.)" (B 217). Die "empirische Qualität"28 einer Erscheinung ist somit keiner Vorstellung a priori fähig, d.h. ein Begriff davon kann in keinem reinem Urteil a priori, also in keinem mathematischen Satz auftreten. Mathematisch kann das Dasein einer Erscheinung nicht bestirrmt werden. Mit dem Bereich der intensiven und der extensiven Größen ist das Feld des mathematischen Gebrauches der Synthesis der reinen Verstandesbegriffe vollständig erschlossen: "In der Anwendung der reinen Verstandesbegriffe auf mögliche Erfahrung ist der Gebrauch ihrer Synthesis entweder m a t h e m a t i s c h , oder d y n a m i s c h : denn sie geht teils bloß auf die A n s c h a u u n g , teils auf das Dasein einer Erscheinung überhaupt" (B 199). Die Bestimmung der extensiven und intensiven Größe einer Erscheinung ist nach den genannten Grundsätzen des reinen Verstandes mathematisierbar. Die Begriffe jener Größen sind in reiner Anschauung darstellbar. Die Demonstration dieser Begriffe a priori hat also Evidenz wie die der Begriffe der Geometrie 29 . Daher erfüllt sich das, was Kant der systematischen Vorstellung der ersten beiden synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes vorangestellt hat: "Es wird sich aber bald zeigen: daß, was sowohl die Evidenz, als die Bestimmung der Erscheinungen a priori, nach den Kategorien der G r ö ß e und der Q u a l i t ä t (wenn man lediglich auf die Form der letzteren Acht hat) betrifft, die Grundsätze derselben sich darin von den zwei übrigen (den dynamischen 27 "Wahrnehmung ist das empirische Bewußtsein, ... in welchem zugleich Empfindung ist" (B 207). 28 Β 217. 29 Zur Evidenz geometrischer Erkenntnis vgl. Β 120.
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Grundsätzen, G.B.) namhaft unterscheiden" (B 2 0 1 ) . Nach der Vorstellung der Grundsätze der Axiomen der Anschauung und der Antizipationen der Wahrnehmung faßt Kant zusammen: Diese Grundsätze heißen mathematisch, weil sie gestatten, die Mathematik auf Erscheinungen anzuwenden, und weil sie ermöglichen, die extensive Gestalt und den Grad des Realen einer mathematischen Synthesis gemäß zu e r z e u g e n ^ . j n dieser Konsti tut ivität liegt der Unterschied der mathematischen zu den dynamischen Grundsätzen, den Kant auch "namhaft" nennt: "Daher können wir die ersteren Grundsätze konstitutive nennen" (B 221). Resümierend kann folgende Aussage gemacht werden: Die Antizipationen der Wahrnehmung legen für das Reale, das zum Dasein der Erscheinung gehört, fest, was an dem Realen mathematisierbar ist (der Grad), und sie bestürmen, was an der Erscheinung unter den Gesichtspunkt der Qualität fällt und nicht mathematisierbar ist (die Empfindung). Während bisher erörtert wurde, welcher Aspekt der Qualität mathematisierbar ist, soll nun von der Mathematik ausgegangen und betrachtet werden, welche Qualitäten in der Mathematik behandelt werden. Daß die Mathematik sich mit Qualitäten beschäftigt, wurde bereits in der transzendentalen Methodenlehre festgehalten31. Es wurde oben bereits ausgeführt, daß an allen Größen a priori nur eine Qualität, nämlich die der Kontinuität erkannt werden kann32. oi e Kontinuität als Eigenschaft der zusairmenhängenden Ausdehnung von geometrischen Objekten bleibt jedoch nicht der einzige qualitative Untersuchungsaspekt der Mathematik, auch wenn die Kontinuität die einzige Qualität von Größen a priori ist. Kant spricht im Zusammenhang der Darlegung, daß die Mathematik verschiedene Arten von Ausdehnungsgebilden im Räume untersucht (Kurven, Flächen, körperliche Räume...), von "verschiedener Qualität": "Die Mathematik beschäftiget sich
30 V g l . Β 221. 31 V g l . Β 743. 32 V g l . Β 218.
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aucn mit dem Unterschiede der Linien und Flächen, als Räumen, von verschiedener Qualität, mit der Kontinuität der Ausdehnung, als einer Qualität derselben" (B 743). Die moderne mathematische Definition der topologischen Mannigfaltigkeit33 beschreibt verschiedenartige Ausdehnungsgebilde, die als gemeinsames Merkmal die Eigenschaft tragen, lokal auf offene Teilmengen eines RH in eineindeutiger Weise stetig abbildbar zu sein. Die "verschiedene Qualität", die am Beispiel des Unterschiedes von Kurven und Flächen bestimmt wurde, drückt sich in der unterschiedlichen Art der Dimension aus, die die vorliegende topologische Mannigfaltigkeit hat. Die Anordnung der Ausdehnungsgebilde Linie, Fläche, körperlicher Kaum, ... nach ihren Dimensionen 1, 2, 3, ... gibt ein Kriterium der Präzision der "verschiedenen Qualität" ihrer Ausdehnungsart. Neben der Kontinuität von Größen ist somit die Dimensional i tät von Linien, Flächen, Räumen eine weitere Qualität, die die Mathematik in ihren Untersuchungen behandelt. Die Kr.d.r.V. bestimmt eine andere Qualität von Objekten, die in einer reinen Anschauung gegeben und daher einer mathematischen Untersuchung fähig sind: "Daß die gerade Linie zwischen zwei Punkten die kürzeste sei, ist ein synthetischer Satz. Denn mein Begriff vcm G e r a d e n enthält nichts von Größe, sondern nur eine Qualität" (B 16). Die Eigenschaft des Geraden, die der Eigenschaft des Gekrümmten entgegengesetzt ist, ist eine Qualität. Gerade Linien und Kegelschnitte sind bereits genannte Beispiele für gerade bzw. gekrümmte Kurven. Für jeden Kurvenpunkt ρ kann aus der Gleichung der Kurve mit Methoden der Differentialgeometrie eine reelle Zahl K(p) berechnet werden, die das Maß der Krürmiung der Kurve im 33 Eine Teilmenge M des R n heißt k - dimensionale topologische Mannigfaltigkeit, wenn für jeden Punkt χ aus M eine Umgebung U, die offen in R n ist, eine offene Teilmenge V in RK existiert und eine umkehrbar eindeutige stetige Abbildung h: U — e x i s t i e r t , daß h(UnM) = V n R k ist. k ist dann die Dimension von M.
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Punkte ρ ist. Ist K(p) = 0 für alle Punkte ρ eines Kurvenstücks, dann ist dieses Kurvenstück eine Gerade. Eine Methode der Berechnung eines lokalen Krünmungsma&es, des Krümmungsradius r(p) ist in Newtons Werk: "Methodus fluxionum" (1736) veröffentlicht. Die Ma&e r(p) und K(p) verhalten sich reziprok zueinander: K(p) = (r(p))~l (r(p) Φ 0). Zu Kants Zeiten waren Methoden zur Berechnung von r(p) durch das Buch "Introductio in analysin infinitorum" (1748) von Leonhard Euler angegeben: Das 14. Kapitel des zweiten Bandes dieses Buches handelt von der Krürrmung der Kurven^. In der Schrift "Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes" (1763) führt Kant an, daß die Berechnung der Krünmung einer Epizykloiden, die eine ebene Kurve mit, relativ zu Kegelschnitten betrachtet, komplizierteren Eigenschaften ist, für die Erstellung von mechanischen Zahngetrieben mit günstigen Reibungseigenschaften angewandt wird: "Die Epizykloide, eine algebraische Krünmung, ist von dieser Natur: daß Zähne und Getriebe, nach ihr abgerundet, die mindest mögliche Reibung an einander erleiden" (AA II S.130). Kant betrachtet die Epizykloide als "eine Figur, die eine ziemlich verwickelte Konstruktion zum Grunde hat" (AA II S.130).
34 Leonhard Euler: "Introductio in analysin infinitorum" (1748), in: Leonhard Euler: Opera Qimia, Series prima, vol. 8+9, Basel 1922+1945. Eine weit verbreitete deutsche Übersetzung aus dem Lateinischen lag zu Zeiten Kants vor: J.A. Chr. Michelsen: "Leonhard Eulers Einleitung in die Analysis des Unendlichen" (Bd.l-Bd.3), Berlin, 1788-1791. Band 1 und 2 entsprechen den beiden Banden Eulers, Band 3 enthält Michelsens mathematischen Konmentare zum Werk Eulers. Euler gibt im 14, Kapitel des zweiten Bandes folgende Erläuterung des Krünmungsradius : "Da aber die Krünmung keiner Kurve so deutlich und leicht erkannt werden kann als die des Kreises ..., so ist es bequemer, die Krünmung der Kurven durch einen Kreis zu bestimmen, der die gleiche Krümnung hat, und daher Krürrmungskreis (circulus osculator) genannt zu werden pflegt" (zitiert nach Michelsen Bd.2, S.246).
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Die sorgfältige Unterscheidung Kants zwischen der qualitativen Eigenschaft des "Geraden" und der quantitativen Eigenschaft des "Kürzesten" öffnet den Blick für Geometrien, in denen die Eigenschaft, daß eine Linie die kürzeste Verbindungslinie zwischen zwei Punkten ist, nicht mehr notwendig an die Bedingung geknüpft ist, daß diese Verbindungslinie eine Gerade ist. Für eine solche Geometrie lag mit Lamberts Konzeption der sphärischen Geometrie^ ein Beispiel vor, worin die kürzesten Verbindungslinien von Punkten auf der Kugeloberfläche Gr o&kre i s bögen und keine Geraden waren. Das Auffinden eines Zusanmenhangs zwischen qualitativer und quantitativer Bestimmung eines geometrischen Gegenstandes kann nicht in abstracto (anhand von Begriffen).sondern nur in concreto, d.h. anhand der gegebenen Anschauung gelingen: "Der Begriff des Kürzesten kommt also gänzlich hinzu, und kann durch keine Zergliederung aus dem Begriffe der geraden Linie gezogen werden. Anschauung muß also hier zu Hilfe genomnen werden, vermittelst deren allein die Synthesis möglich ist" (B 16). Die Behandlung der Unterscheidung geometrischer Gegenstände in qualitativer und quantitativer Hinsicht geschieht in einem Textteil der Kr.d.r.V., der aus den Prolegomena übernommen ist^ß. In den Prolegomena geht Kant auch auf eine weitere nicht-quantitative Eigenschaft geometrischer Gegenstände ein, die in reiner Anschauung gegeben sind. Diese
35 Johann Heinrich Lambert: 'Theorie der Parai leilinien", in: P. Stäckel: "Die Theorie der Parai leilinien von Euklid bis auf Gauß ...", S.152 - 207, Leipzig, 1895. Dort argumentierte Lambert, daß für sphärische Dreiecke gilt, daß ihre Winkelsunme größer als zwei rechte Winkel ist. Weiterhin stellte er fest, daß der Uberschuß der Winkelsunme proportional zum Flächeninhalt des sphärischen Dreiecks ist. Lairbert hat seine "Theorie der Parallellinien" selbst nicht veröffentlicht. Sie wurde erst 1786 aus seinem Nachlaß von Johann Bernoulli herausgegeben (vgl. Stäckel S.141). 36 Vgl. AA IV S.269.
Qualität und Kontinuität
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nicht-quantitative Eigenschaft bezieht sich nicht auf qualitative Merkmale, die am Gegenstand unmittelbar abgelesen werden können, wie Kontiniutät oder Krümnung, sondern auf das äußere Verhältnis, in dem der geometrische Gegenstand zum umgebenden Kaum steht: "Verschiedene sphärische (Figuren G.B.) zeigen unerachtet jener völligen innern Übereinstimmung doch eine solche Verschiedenheit im äußeren Verhältnis, daß sich eine an die Stelle der andern gar nicht setzen läßt; z.B. zwei sphärische Triangel von beiden Hemisphären, die einen Bogen des Äquators zur gemeinschaftlichen Basis haben, können völlig gleich sein in Ansehung der Seiten sowohl als der Winkel, so daß an keinem, wenn er allein und zugleich vollständig beschrieben wird, nichts angetroffen wird, was nicht zugleich in der Beschreibung des andern läge, und dennoch kann einer nicht an die Stelle des andern (nämlich auf dem entgegengesetzten Hemisphär) gesetzt werden" (AA IV 285f.). Die beiden sphärischen Dreiecke sind Beispiele inkongruenter Gegenstücke, die "in allen zur Größe und Quantität gehörigen Bes t imnnungen" (AA IV S.285) übereinstinmen. Das äußere Verhältnis weist einen Unterschied aus, der an der Quantität und Qualität des Gegenstandes selber nicht abgelesen werden kann, sondern in dem qualitativen Verhältnis des gegebenen Gegenstandes "zu den ganzen Kauin"^^ besteht. Dieses Verhältnis, das auch als "das Verhältnis zur rechten und linken Hand"38 auftritt und das mathematisch auf das Vorhandensein von zwei Orientierungsklassen des dreidimensionalen Raumes hinweist, untersuchte Kant bereits in seiner Schrift von 1768 "Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Räume". Der "Unterschied der Gegenden im Räume", der ein nicht-quantitatives Verhältnis beschreibt, das mathematisch durch den Orientierungsbegriff abhandelbar ist, wird in der Kr.d.r.V. nicht explizit angesprochen. Dagegen wird im
37 Vgl. AA IV S.286. 38 Vgl. AA IV S.286.
154
Qualität und Quantität
Paragraphen 13 der Prolegomena und in "Anmerkung 3" der "Metaphysischen Anfangsgründe der Phoronomie" die Argumentation der inkongruenten Gegenstücke rezipiert. Sowohl in den Prolegomena als auch in den M.A.d.NW. hat es besondere Gründe, daß auf das Verhältnis ähnlicher und volumengleicher Gegenstände zum sie umgebenden Kaum eingegangen wird. In den M.A.d.NW. liegt einer dieser Gründe darin, daß die genannte Anmerkung zu einer Bestimmung des Bewegungsbegriffs gehört, in die das Konzept des äußeren Verhältnisses eingeht: "Bewegung eines Dinges ist die V e r ä n d e r u n g der äußeren Verhältnisse desselben zu einem gegebenen Kaum" (AA IV S.482). In der Darlegung von Beispielen inkongruenter Gegenstücke (rechtsbzw. linksgewundene Schnecken, gegensinnig rankende Gewächse,...) wird für diesen "wahrhaften mathematischen Unterschied" unter möglichem Bezug auf die Schrift von 176839 gefolgert, daß "dieser Unterschied ... einen guten bestätigenden Beweisgrund zu dem Satze abgebe: daß der Kaum überhaupt nicht zu den Eigenschaften oder Verhältnissen d e r Dinge an sich selbst..., sondern bloß zu der subjektiven Form unserer sinnlichen Anschauung von Dingen ... gehöre" (AA IV S.484). Der Paragraph 13 der Prolegomena wird mit folgender Bemerkung eingeleitet: "Diejenigen, welche noch nicht von dem Begriffe loskommen können, als ob Raum und Zeit wirkliche Beschaffenheiten wären, die den Dingen an sich selbst anhingen, können ihre Scharfsinnigkeit an folgendem Paradoxon üben und, wenn sie dessen Auflösung vergebens versucht haben, wenigstens auf einige Augenblicke von Vorurteilen frei, vermuten, daß doch vielleicht die Abwürdigung des Raumes und der Zeit zu bloßen Formen unserer sinnlichen Anschauung Grund haben möge" (AA IV S.285). Das Paradoxon besteht darin, daß zwei inkongruente Gegenstücke, die "in allen zur Größe und
39 "Ich habe anderwärts gezeigt..." (AA IV S.484). Es ist nicht auszuschließen, daß Kant sich nicht direkt, sondern mittels des Paragraphen 13 der Prolegomena auf die Arbeit von 1768 bezieht.
Qualität und Kontinuität
155
Qualität gehörigen Bestimmungen völlig einerlei sind", gegeben sind, daß aber das Setzen des einen Gegenstückes an die Stelle des anderen nicut zu einer kongruenten Überdeckung führt40. Für die Leser besteht das didaktische Ziel der Angabe des Paradoxons darin, zu erkennen, da È das räumliche Verhältnis, in dem die inkongruenten Gegenstücke stehen, nicht diesen Dingen an sich selbst beiwohnt. Die Einsicht, daß Kaum und Zeit Formen der Anschauung sind, setzt voraus, daß verstanden wurde, daß Kaum und Zeit nicht zu den Verhältnissen von Dingen an sich gehören^. Im Vorwort der Prolegomena geht Kant auf den Vorwurf' einer "gewissen Dunkelheit" ein, der gegen die Kr.d.r.V. erhoben wurde: "Allein was eine gewisse Dunkelheit betrifft, die zum Teil von der Weitläufigkeit des Plans herrührt, bei welcher man die Hauptpunkte, auf die es bei der Untersuchung ankommt, nicht wohl übersehen kann: So ist die Beschwerde deshalb gerecht, und dieser werde ich durch gegenwärtige Prolegomena abhelfen" (AA IV S.261). Zu den Hauptpunkten gehört sicherlich jener "Schluß" der Kr.d.r.V.: "Der Raum stellet gar keine Eigenschaft irgend einiger Dinge an sich, oder sie in ihrem Verhältnis auf einander vor" (B 42, A 26). Das Ziel der Prolegomena ist, Hauptpunkte wie diesen herauszuheben. In diesem Sinne beziehen "sich die Prolegomena nur als Vorübungen" (AA IV S.261) auf die Kritik der reinen Vernunft. In jenem Paragraphen 13 geht es un Vorübung: Die "Scharfsinnigkeit" des Lesers soll sich an dem "Paradoxon" der inkongruenten Gegenstücke "üben", um Hauptpunkte der Kr.d.r.V., wie jener, daß der Raum keine Verhältnisse von Dingen an sich vorstellt, einzusehen42. In abgeschwächter Form ist der Unterschied der Gegenden im Raum auch das Argument dafür, daß selbst im Fall, wo zwei kongruente Gegenstände (nicht inkongruente Gegenstücke)
40 Sind G, G' zwei inkongruente Gegenstücke, dann gibt es keine affine Bewegung f des R n , so daß gilt: G' = f(G). 41 Vgl. AA IV S.286. 42 Vgl. AA IV S.285.
156
Qualität und Quantität
gegeben sind, die Identifikation beider nacn den "inneren Bestinmungen" (Quantität und Qualität) zu grob ist und daß daner "die Verschiedenheit der örter dieser Erscheinung zu gleicher Zeit ein genügsamer Grund der n u m e r i s c h e n V e r s c h i e d e n h e i t des Gegenstandes (der Sinne) selbst" ist (B 319)4·*. Kant belegt diese Argumentation auch dadurch, daß er am Beispiel von zwei Wassertropfen, die in ihrer Quantität und Qualität übereinst immen, die aber "in verschiedenen Örtern zugleich angeschaut werden" (B 319), aufweist, daß sie numerisch zu unterscheiden si n d 4 4 . Die numerische Verschiedenheit zweier quantitativ und qualitativ gleicher Gegenstände ist der hinreichende Grund, um Leibniz1 Satz des Nichtzuunterscheidenden ("principium identitas indiscernibilium") (B 320) zu bestreiten. In diesem Zusammenhang erläutert Kant für Paare solcher übereinstimnender Gegenstände, daß jeder Teil des Paares als verschieden van anderen anzusehen ist, weil sie sich an verschiedenen Stellen eines sie beide umfassenden "größeren Raumes" b e f i n d e n 4 5 . Beide Teile sind außer einander, sie stehen hinsichtlich des "größeren Raumes" in einem äußeren Verhältnis. Damit gilt, daß sowohl Paare inkongruenter Gegenstücke, als auch Paare kongruenter Gegenstücke in einem äußeren Verhältnis in bezug auf den sie umgebenden Raum stehen. 43 Vgl. auch Β 337. 44 Daß Gegenstände, die in einer Anschauung gegeben sind und hinsichtlich ihrer Qualität und Quantität übereinstirnnen, aber an verschiedenen Örtern im Raum zugleich vorhanden sind, als numerisch verschieden anzusehen sind, wird in der Folge der Argumentation des Amphibolie-Abschnitts noch mehrfach hervorgehoben : Β 328, Β 337 f.. In der letzten Belegstelle wird als weiteres Beispiel das zweier Kubikfüße Rauminhalt, die sich an verschiedenen Örtern im Raum befinden, genannt. Das äußere Verhältnis, in dem beide Kubikfüße zu dem sie umgebenden Raum stehen, wird an dieser Stelle zu den "notwendigen Bedingungen einer Anschauung" gezählt (B 337) und zur "ganzen Sinnlichkeit" zugehörig betrachtet (B 338). 45 Vgl. Β 320.
Qualität und Kontinuität
157
Dieses äußere Verhältnis ist in der Schrift von 1768 als "Gegend" bestimmt. Während die K.d.r.V. hier von einem "größeren" Kaum spricht, der nur als Bedingung hat, beide ähnlichen und gleichen Teile zu umfassen, wählt die Schrift von 1768 in der Bestimmung des Begriffs der Gegend einen weitaus größeren Raum aus, den "absoluten Weltraum": "Denn die Lagen der Teile des Raums in Beziehung auf einander setzen die Gegend voraus, nach welcher sie in solchen Verhältnis geordnet sind, und im abgezogensten Verstände besteht die Gegend nicht in der Beziehung eines Dinges im Räume auf das andere, welches eigentlich der Begriff der Lage ist, sondern in dem Verhältnisse des Systems dieser Lagen zu dam absoluten Welträume" (AA II S.377). Die Kr.d.r.V. betrachtet als Bezugsraum, worauf das genannte äußere Verhältnis beider Gegenstände gerichtet ist, einen beliebigen "größeren" Raum, der beide umfaßt. Die Kr.d.r.V. ist daher in diesem Aspekt in ihrer Betrachtung allgemeiner als die Schrift ναι 1768. Als Ergänzving zur Bestimmung der Gegend als äußeres Verhältnis eines Raumteils zu einem ihn umgebenden Raum ist anzufügen, daß dieses äußere Verhältnis sich nicht auf die Punkte ("Örter") des umgebenden Raumes bezieht, sondern sich auf den ganzen Raum als Bezugseinheit erstreckt: "Bei allem Ausgedehnten ist die Lage seiner Teile gegen einander aus ihm selbst hinreichend zu erkennen, die Gegend aber, wohin diese Ordnung der Teile gerichtet ist, bezieht sich auf den Raum außer demselben und zwar nicht auf dessen Örter, weil dieses nichts anders sein würde, als die Lage eben derselben Teile in einem äußeren Verhältnis, sondern auf den allgemeinen Raum als eine Einheit, wovon jede Ausdehnung wie ein Teil angesehen werden muß" (AA II S.377f.). Mit dem Begriff der Gegend ist ein Verhältnis als mathematisierbar beschrieben, das nicht die Quantität oder die Qualität einer formalen A n s c h a u u n g 4 6 betrifft, sondern
46 Zum Begriff der formalen Anschauung vgl. Β 161, Fußnote.
158
Qualität und Quantität
ein äußeres Verhältnis, in dem die gegebene formale Anschauung zu einem größeren, sie umgebenden Raum steht. Abschließend soll nun die Frage behandelt werden, wie die Kr.d.r.V. die Konstruierbarkeit der qualitativen Merkmale eines geometrischen Gegenstandes beschreibt. Nachdem einerseits geklärt ist, welcher Aspekt der Qualität von Erscheinung mathematisierbar ist (die intensive Größe) und andererseits aufgezeigt ist, welche Qualität von Größen a priori die Mathematik behandelt, wird deutlich, warum der wesentliche Unterschied von Mathematik und Philosophie nicht an den zu behandelnden Gegenständen festgemacht werden kann: "Diejenigen, welche Philosophie von Mathematik dadurch zu unterscheiden vermeineten, daß sie von jener sagten, sie habe bloß die Q u a l i t ä t , diese aber nur die Q u a n t i t ä t zum Objekt, haben die Wirkung für die Ursache genommen" (B 742). Die Ursache soll darin liegen, daß "nur der Begriff von Größen" sich a priori in einer Anschauung darstellen läßt und "Qualitäten" (Plural !) ausschließlich in empirischer Anschauung gegeben sind 4 7 . In dieser Beschreibung liegt auf den ersten Blick ein Problem. Kants Bemerkung, daß an allen Größen a priori eine Qualität, die Kontinuität, vorhanden ist, klingt an. Das Problem kann aber aufgelöst werden, weil die Kontinuität die "einzige Qualität" (Singular !) ist, die allen Größen a priori zukommt, und "Qualitäten" (Plural !) solche sind, die wie Farben, Härte, Geschmack, ... der Ehipfindung entstaranen. Für die andere Seite des Problems, daß "nur" der Begriff von Größen sich konstruieren läßt, während man beobachten konnte, daß z.B. auch die Qualität der Krünmung in reiner Anschauung darstellbar ist, gilt, daß die transzendentale Methodenlehre zwei Arten der Konstruktion von Größen kennt: Die Mathematik konstruiert "Größen (quanta), wie in der Geometrie" und sie konstruiert "auch die bloße Größe (quantitatem), wie in der Buchstabenrechnung". Im ersteren Falle wird die
47 Vgl. Β 742 - 743.
Dimension und Ausdehnung
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Bes cria ff enne it des in der reinen Anschauung gegebenen Gegenstandes noch berücksichtigt 4 ^ j)ie Qualität der Kontinuität, die an der extensiven Größe einer geometrischen Figur haftet, wird durch die Konstruktion der Figur auch erzeugt: Durch das Ziehen einer Linie wird diese in ihrer Qualität der Kontinuität erzeugt, sie wird als gerade oder gekrünmte Linie gezogen. Die Art der Konstruktion von Größen der Geometrie (quanta) löst das obige Problem auf: Die Qualität, die an den Größen a priori ist, wird bei dieser Art Konstruktion, die die Beschaffenheit des Gegenstandes berücksichtigt, mit erzeugt. Die "Gestalt" ist eine Qualität, die sich konstruieren läßt: "Nun ist von aller Anschauung keine a priori gegeben, als die bloße Form der Erscheinungen, Kaum und Zeit; und ein Begriff von diesen als quantis läßt sich entweder zugleich mit der Qualität derselben (ihre Gestalt), oder auch bloß ihrer Quantität (die bloße Synthesis des gleichartig Mannigfaltigen) durch Zahl a priori in der Anschauung darstellen, d.i. konstruieren" (B 748). Mit Größe, Ausdehnung und Gestalt sind als quantitative und qualitative Bestimnungen geometrische Bestandteile einer Figur genannt, die konstruierbar sind. Diese quantitativen und qualitativen Bestiimiungen bleiben übrig, wenn man "von der Vorstellung eines Körpers das, was der Verstand davon denkt" und auch das, "was davon zur Bnpfindung gehört, als Undurchdringlichkeit, Härte, Farbe usw." absondert (B 35-36). 2.1.2 Dimension und Ausdehnung Die Kontinuität der Ausdehnung ist die Qualität, die an Größen a priori abgelesen werden kann. Die Mathematik untersucht die Kontinuität der Ausdehnung weiter, sie unterscheidet Linien, Flächen, Körper "als Räume von verschiedener Qualität" (B 743). Die allgemeine Qualität der
48 Vgl. Β 745.
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Qualität und Quantität
Kontinuität der Ausdehnung wird also weiter spezifiziert, so daß darunter verschiedene Arten der Ausdehnung von Räumen gefaßt sind. Die genannten Arten von Räumen (Linien, Flächen, Körper, ...) sind gekennzeichnet durch ihre jeweilige Dimension. Die Dimensions zahl (1, 2, 3, ...) ist gemeinsames Merkmal von Räumen gleicher Ausdehnungsart. Diese Überlegungen sind nichts Neues, sie gehören zur Überlieferung der euklidischen Geometrie und liegen den Schriften Kants zugrunde. Neu sind dagegen zwei andere Überlegungen. Die erste ist eine mathematische Überlegung: Von Grassmann werden 1844 mit der "linealen Ausdehnungslenre" Gedanken zur Konstruktion höherdimensionaler Vektorräume veröffentlicht^: Für η - dimensionale lineare Räume (n ist eine beliebige natürliche Zahl, η kann auch größer als 3 sein) sind nicht nur zugehörige algebraische Operationen (z.B. Addition, skalare Multiplikation von Vektoren) erklärt, sondern auch geometrische Objekte (höherdimensionale Ebenen, Hyperflächen, ...) und ihre geometrischen Transformationen (Drehungen, Spiegelungen, Translationen, ...) mit Evidenz bestinmt. Das andere ist eine philosophische Überlegung Kants: "In jenem Versuche, das bisherige Verfahren der Metaphysik
49 H. Graßmann: "Die lineale Ausdehnungslehre, ein neuer Zweig der Mathematik, dargestellt und durch Anwendungen auf die übrigen Zweige der Mathematik, wie auch der Statik, Mechanik, die Lehre vom Magnetismus und die Kristallonomie erläutert", Leipzig, 1844. In methodischen Reflexionen Graßmanns zum Verhältnis von Mathematik und Philosophie treten Bestimmungen auf, die entsprechend zu Aussagen der transzendentalen Methodenlehre (vgl. Β 742) den Unterschied von Mathematik und Philosophie am Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen im Erkenntnisgefüge der jeweiligen Wissenschaft darlegen: Graßmann führt für die Mathematik aus, daß sie "von den einfacheren Begriffen zu den zusammengesetzten fortschreitet, und ... so durch Verknüpfving des Besonderen neue und allgemeine Begriffe (gewinnt)", während jene "in Gegensätzen fortschreitet, und so vom Allgemeinen zum Besonderen gelangt" (Graßmann S.XXXI). Der Bezug zu Kant
Dimension und Ausdehnung
161
umzuändern, und dadurch, daß wir nach dem Beispiele der Geometer und Naturforscher eine gänzliche Revolution mit derselben vornehmen, besteht nun das Geschäfte dieser Kritik der reinen spekulativen Vernunft" (Β XXII). Die revolutionäre Absicht in der Philosophie, die sich an der Geometrie ein Beispiel ninrnt, bezieht sich nicht nur auf das an Mathematik und Naturwissenschaft, "was sie jetzt sind", sondern auch auf ihren "sichern Gang" (Β VII) in seiner Gesamtheit, seitdem er "durch eine auf einmal zu Stande gebrachte Revolution" begonnen wurde (Β XV - XVI). Die Beantwortung der Frage "Wie ist reine Mathematik möglich?" (B 20) soll nicht nur für die Epoche der Mathematikentwicklung bis 1787 gelten, sondern auch für die konmende Zeit. Sie riiAßte insbesondere auch die Frage beantworten: Wie ist Geometrie für η - dimensionale Raune möglich? Daß sie möglich ist, wird später durch die Entwicklung der Geometrie seit Graßmanns "Ausdehnungslehre" von 1844 bewiesen. Aber ein Bestandteil des folgenden Satzes der "transzendentalen Erörterung des Begriffs vom Räume" erzeugt entgegen der obigen Intention einen Mißverstand: "Denn die geometrischen Sätze sind insgesamt apodiktisch, d.i. mit dem Bewußtsein ihrer Notwendigkeit verbunden, z.B. der Raum hat nur drei Abmessungen; ..." (B 41). Allgemein geht es Kant an dieser Stelle darum, darzulegen, daß geometrische Sätze weder empirische Urteile sind, noch aus Erfahrungsurteilen erschlossen werden können. Das Problematische am Satz "der Raum hat nur drei Abmessungen" ist das Wort "nur": Es bedeutet "der Raum" hat mindestens drei Abmessungen und er hat höchstens drei Abmessungen. In diesem zweiten Teil der durch das Wort "nur" angezeigten Aussage liegt das Di leim»: Zum einen soll die Aussage, daß der Raum höchstens drei
läßt sich nur dahingehend aufweisen, daß das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderen angesprochen ist, die Gestaltung dieses Verhältnisses in Hinsicht auf Mathematik und Philosophie weist mehr hegelsche als kantische Züge auf.
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Qualität xind Quantität
Abmessungen aufweist, apodiktisch, d.h. notwendig für alle besonderen Unterräume, die er umfaßt, gelten, und zum anderen sind durch die Mathematik, wie Graßmann es herausarbeitet, Räume höherer Dimension als 3 gegeben: Grassmann benennt als den Vorteil der von ihm entwickelten Ausdehnungslehre, "daß die Beschränkung auf drei Dimensionen wegfiel" (Gralkran (1844)). Ohne daß eine Konzeption von n-dimensionalen Vektorräumen formuliert ist, treten bereits in Lagranges "Theorie der analytischen Funktionen" (1797), die Anwendungen auf die theoretische Mechanik enthält, höherdimensionale Räume auf. Bei Lagranges sind Hyperflächen in einem sechsdimensionalen Raum ( r 6 ) angegeben, die durch mechanische Zustandsgieichungen zweier Massenkörper bestimmt s i n d ^ O . Das Problem der Dreidimensional i tat, das eines des Verständnisses der Systematik der "transzendentalen Erörterung des Begriffs vom Räume" ist, soll schrittweise einer Lösung zugeführt werden. Schon in seiner Erstschrift "Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte..." beschäftigt sich Kant mit dem Problem der Bestimriung der Dimension^ des Raumes. Entgegen anders lautenden Vermutungen 50 Vgl.: J.L. Lagrange: "Theorie des fonctions analytique" (1797), deutsche Übersetzung von A. Creile, Berlin 1837, S. 646f.. Dieser Hinweis geht auf die Arbeit von E. Scholz: "Die Entstehung des Begriffs der Riemannschen Mannigfaltigheit", 1974, S.35f. zurück. 51 Kant gebraucht die Wörter "Dimension" (Di.) und "Abmessung" (Ab.) in Äquivokation. Es folgt eine statistische Übersicht der Verteilung beider Wörter über 1
2
3
4
5
6
7
8
9
14
15
16
17
Ab.
16
3
4
3
0
0
0
2
0
0
1
0
1
Di.
12
4
2
3
0
0
0
0
0
3
4
2
7
AA
18
20
21
22
23
Ab.
1
7
9
20
0
Di.
6
2
10
13
1
AA
Dimension und Ausdehnung
163
legt er offen: "Der Grund von der dreifachen Dimension des Raumes ist noch unbekannt" (AA I S.23). Er knüpft an die Argumentation an, die Leibniz in der "Theodicee" ausführte, und versucht dessen geometrisches Argument des "winkelrechten" Verhältnisses zweier sich transversal schneidenden Linien, das in einen Zirkelschluß gerät, durch ein arithmetisches Argument zu ersetzen: "Weil ich in dem Beweise, den Herr von Leibniz irgendwo in der Theodicee von der Anzahl der Linien herninmt, die von einem Punkte winkelrecht gegen einander gezogen werden, einen Zirkelschluß wahrnehme, so habe ich darauf gedacht, die dreifache Dimension der Ausdehnung aus demjenigen zu erweisen, was man bei den Potenzen der Zahlen wahrnimnt" (AA I S.23). Kant bemerkt, daß dieses arithmetische Argument, das eine Andeutiang der Primfaktorenzerlegung beinhaltet, nicht auf die geometrische Fragestellung übertragbar ist und daß daher die Dreidimensional ität "auf einer gewissen andern Notwendigkeit" beruhe, "die ich noch nicht zu erklären im Stande bin" (AA I 5.23). Nach dieser mathematisch orientierten Betrachtung versucht Kant im folgenden Paragraphen, das Probien des fehlenden Nachweises der Dreidimensional ität mit physikalischen Argumenten anzugehen: "Es ist wahrscheinlich, daß die dreifache Abmessung des Raumes von dem Gesetze herrühre, nach welchen die Kräfte der Substanzen in einander wirken" (AA I 5.24). Kant konstatiert, daß diese probabi1 istische Argumentation eine gewisse Willkür enthält, daß andere Raumesarten unter einem anderen Verlauf der Schöpfungsgeschichte auch denkmöglich sind. Daher kann resümiert werden: "Eine Wissenschaft von allen diesen möglichen Raumesarten wäre unfehlbar die höchste Geometrie, die ein endlicher Verstand unternehmen könnte" (AA I S.24). Mit den Aussagen der Erstschrift sind die Gegensätze hinsichtlich der Dimensional ität der Raumesvorstellung benannt, zum einen sind höherdimensionale Raumesarten für endliche Wesen denkbar, zum anderen wird die Ansicht vertreten, daß aufgrund einer gewissen substantiellen
164
Qualität und Quantität
Eigenschaft der Seele 52 für den Menschen die Unmöglichkeit bestellt, "einen Kaum von mehr als drei Abmessungen uns vorzustellen" (AA I S.24). Im Zusaranenhang mit der Aussage, daß Räume miteinander verbunden werden können, die gleichdimensional sind ("Räume von einerlei Art"), formuliert Kant ein Vorhaben für eine mögliche künftige Untersuchung der Raumesvorstellung: "Diese Gedanken können der Entwurf zu einer Betrachtung sein, die ich mir vorbehalte. Ich kann aber nicht leugnen, daß ich sie so mitteile, wie sie mir bei fallen, ohne ihnen durch eine längere Untersuchung ihre Gewißheit zu verschaffen. Ich bin daher bereit, sie wieder zu verwerfen, so bald ein reiferes Urteil mir die Schwäche derselben aufdecken wird" (AA I S.25). In Schriften der folgenden Jahre entwickelt sich dieses Untersuchungsvorhaben. Aussagen über die Raumesvorstellung treten in enger Verbindung mit Aussagen über die Beweisproblematik der Dreidimensionalität auf. In der Schrift vom "Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes"53 wird der Raum als Grund für gewisse "äußere Beziehungen"^ genannt: "Ich zweifle, daß einer jemals richtig erklärt habe, was der Raum sei. Allein ohne mich damit einzulassen, bin ich gewiß, daß, wo er ist, äußere Beziehungen sein müssen, daß er nicht mehr als drei Abmessungen haben könne, u.s.w." (AA II S.71). Diese Aussage drückt Kants wachsende Gewißheit für die Dreidimensionalität der menschlichen Raumvors tel lung aus: Während in der
52 "Weil unsere Seele ebenfalls nach dem Gesetze des ungekehrten doppelten Verhältnisses der Weiten die Eindrücke von draußen empfängt, und weil ihre Natur selber dazu gemacht ist, nicht allein so zu leiden, sondern auch auf diese Weise außer sich zu wirken" (AA I S.24f.). 53 "Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes" (1763) AA II S.63 - 164. 54 Hier klingt bereits die Relation des Außerund Nebeneinander der Örter im Raum an, die in der Kr.d.r.V. genannt ist. (Vgl. Β 38, A 23).
Dimension und Ausdehnung
165
Erstscnrift das Argument van größten Notwendigkeitsgrad sich auf die Eigenschaften der menschlichen Seele bezog, ist es hier unmittelbar an den Raum geknüpft: "Wo er (der Kaum, G.B·) ist", sind äußere Relationen und nicht mehr als drei Dimensionen. Darüber hinaus bestätigt Kant noch eirmal den Mangel, "daß einer jemals richtig erklärt habe, was der Raum sei" (AA II S.71). Diese Lücke der wissenschaftlichen Erkenntnis, die in mathematischer und philosophischer Hinsicht sechzehn Jahre nach dem Erscheinen von Kants Erstschrift besteht, beschäftigt Kant weiter. Innerhalb der ersten Betrachtung der "Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral" resümiert Kant zu den Lücken wissenschaftlicher Erkenntnis in Mathematik und Philosophie: "Ι η d e r M a t h e m a t i k sind nur wenig unauflösliche Begriffe und unerweisliche Sätze, in der Philosophie aber unzählige" (AA II S.279). Als Beispiele unauflöslicher Begriffe der Mathematik werden die Größe, die Einheit, die Menge und der Raum genannt. Während als "unerweisliche Sätze" der Mathematik solche wie "das Ganze ist allen Teilen zusammen genommen gleich; zwischen zwei Punkten kann nur eine gerade Linie s e i n " (AA II S.281) genannt werden und damit auf die überlieferte Axiomatik der euklidischen G e o m e t r i e ^ eingegangen wird, tritt die Aussage über die
55 Beide Sätze sind eine Verschärfung ähnlicher Sätze aus der euklidischen Axiomatik: 8. Axiom: "Das Ganze ist größer als sein Teil" (Euklid I, S.3). In der Einleitung der Kr.d.r.V. wird dieses Axiom zitiert und mittels einer Formel dargestellt: "(a + b) > a, d.i. das Ganze ist größer als sein Teil" (B 17). Die formelhafte Darstellung bezieht sich auf ein besonderes algebraisches Ganzes, das sich als Suiime zweier positiver Zahlen darstellen läßt. Im oben angegebenen Satz wird verlangt, daß das Ganze der Sumrie seiner Teile gleich sei. Dieses ist aber eine viel stärkere Forderung hinsichtlich der quantitativen Relation
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Qualität und Quantität
Dreidimensional i tät des Raumes im Absatz über die unerweisliehen Sätze der Philosophie auf. Für die Behandlung der Problematik von Lücken einer wissenschaftlichen Erkenntnis, die dem Forscher zunächst als unauflösliche Begriffe und unerweisliche Sätze gegeben sind, wird ein Verfahrensvorschlag unterbreitet: Das Problem der unauflöslichen Begriffe und das der unerweislichen Sätze wird getrennt nach den Wissenschaften Mathematik und Philosophie behandelt. Dieses findet seinen Grund in der unterschiedlichen Methode beider Wissenschaften. "Denn die Mathematik erklärt niemals durch Zergliederung einen gegebenen Begriff, sondern durch willkürliche Verbindung im Objekt, dessen Gedanke eben dadurch zuerst möglich wird" (AA II S. 28U). Die mathematische Erklärung eines Begriffes durch "willkürliche Verbindung" in einem Objekt läßt sich als Vorform der Bestiirmung mathematischer Erkenntnis durch Konstruktion in reiner Anschauung, wie sie in der transzendentalen Methodenlehre gegeben ist, lesen und die "Zergliederung eines gegebenen Begriffes" gehört offensichtlich zum metaphysischen Methodenrepertoire. Daher kcnmt es nicht von ungefähr, daß nach dieser Reflexion zur Methode in der "Ersten Betrachtung" die "Zweite Betrachtung" die Akzentuierung der Metnodenproblematik der Metaphysik schon im Titel enthält: "Die einzige Methode, zur höchstmöglichen Gewißheit in der Metaphysik zu gelangen" (AA II S.283). Die Behandlung der Dreidimensional i tät des Raumes innerhalb der unerweislichen Sätze der Philosophie lenkt die Argumentation zur Aufhebung der Unerweislichkeit auf die Anschauung: "Ehe ich noch mich anschicke zu erklären, was der Raum sei, so sehe ich deutlich ein, daß, da mir dieser Begriff gegeben ist, ich zuvörderst durch Zergliederung des Ganzen und seiner Teile. 1. Postulat: "Gefordert soll sein, daß man von jedem Punkt nach jedem Punkt die Strecke ziehen kann" (Euklid I, S.2). Dieses Postulat fordert die Existenz einer Verbindungsgeraden. Der oben von Kant zitierte Satz verlangt aber auch noch die Eindeutigkeitseigenschaft für diese Gerade.
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diejenige Merkmale, welche zuerst und unmittelbar hierin gedacht werden, aufsuchen müsse. Ich bemerke demnach, daß darin vieles außerhalb einander sei, daß dieses Viele nicht Substanzen seien, denn ich will nicht die Dinge im Räume, sondern den Raum selber erkennen, daß der Kaum nur drei Abmessungen haben könne u.s.w." (AA II S.281). Man kann den letzten Nebensatz zur Dreidimensional i tat auf zweierlei Arten lesen, entweder gleichgeordnet zur Vielheit der Relationen des Außereinander und der Nichtsubstanzgegründetheit dieser Vielheit oder als konditionale Bestiimiung des Ziels, "den Kaum selber zu erkennen". Im ersten Fall ist es eine Bestätigung der Aussage der Arbeit von 1763, im zweiten Fall ist es darüber hinausgehend ein Argument dagegen, den Kaum als Eigenschaft von Substanzen zu nehmen. Die Betrachtung der Dreidimensional i tat schließt mit einer Bemerkung zur Beweisbarkeit solcher unerweislichen philosophischen Sätze: "Dergleichen Sätze lassen sich wohl erläutern, indem man sie in concreto betrachtet, um sie anschauend zu erkennen; allein sie lassen sich niemals beweisen" (AA II S.281). Damit ist die Absicht geändert, die in der Erstschrift von 1747 einen Beweis der Dreidimensional ität anstrebte, und sie besteht nun darin, für eine philosophische Erörterung unerweislicher Sätze hinsichtlich des Raumes zur Erkenntnis mittels Anschauung zu gelangen. Das Programm für den ersten Abschnitt der transzendentalen Ästhetik ist damit formuliert. Resümierend ist für die sich herausbildende Methodik der transzendentalphilosophischen Behandlung der Vorstellung vom Kaume im Zusammenhang mit dem Dimensionsproblem zu sehen, daß - das Dimensionsproblem hinter der allgemeinen Behandlung der Vorstellung vom Kaume zurücktritt, - die mathematische Behandlung von der philosophischen klarer abgegrenzt und die philosophische Fragestellung stärker hervorgehoben wird, - die Absicht des mathematischen Beweises zugunsten der philosophischen Erörterung, die sich auf Anschauung bezieht, aufgegeben wird.
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Qualität und Quantität
In dieser Herausbildung tritt Kants Argument der äussern iefelichen Dreidimensional ität stechender Hervor. Bis zum Erscheinen der zweiten Auflage der Kr.d.r.V. ist kein Werk eines Mathematikers veröffentlicht worden,das zur Dimensionsproblematik in ähnlicher Weise die Diskussion der mathematischen Fachwelt und damit verbundener Philosophen angeregt hätte, wie etwa Eulers "Reflexions sur 1' espace et le temps" (Hist, de l'Acad Berlin, 1748, p.324 - 333) zu Kants Bewegungsbegriff beigetragen hat^ß. Kant orientiert sich an der Axicmatik und dem Material der tradierten euklidischen Geometrie. In Hinblick auf den Begriff vom Räume, wie er in der euklidischen Stereometrie bestimmt ist, ist der geometrische Satz, "der Raum hat nur drei Abmessungen" (B 41) zutreffend. Die Bestürmung einer mathematischen Erkenntnis, die den Begriff eines n-dimensionalen Raumes (sowohl für η 3 als auch für η 3) beinhaltet, verlangt nach der "transzendentalen Methoden lehre" der Kr.d.r.V. die Ausführung einer Konstruktion für diese Begriffe. Die Konstruktion ordnet einem mathematischen Begriff eine "korrespondierende Anschauung a priori" (B 741) zu. Um für den mathematischen Dimensionsbegriff die Beziehung der Korrespondenz, die durch die Konstruktion erstellt wird, zu verdeutlichen, wird zwischen mathematischen Raumesbegriffen einerseits (z.B. der Begriff des n-dimensionalen Vektorraumes) und dem Raum als Form der Anschauung andererseits unterschieden. Die Darstellung eines mathematischen Raumesbegriff kann unmittelbar vonstatten gehen, wie in der euklidischen Stereometrie, dann ist die Konstruktion "ostensiv" (B 745). Oder die Darstellung verwendet, wie in der analytischen Geometrie, algebraische Hilfsmittel, dann ist die Konstruktion "symbolisch" (B 745). In beiden Fällen erhält man für den mathematischen Begriff jeweils eine korrespondierende reine Anschauung. Das Verfahren der symbolischen Konstruktion der Algebra ("Buchstabenrechnung" (B 745)) verlangt im Unterschied zur 56 Vgl. AA II S.168, S.378.
Dimension und Ausdehnung
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geometriscnen Konstruktion eine Handlung des Denkens, durch die vor Ausführung der Konstruktion alle Arten von algebraischen Größenverhältnissen mit Bezeichnungen belegt werden. Entsprechend diesen Bezeichnungen werden die algebraischen Größenoperationen dann in der Anschauung dargelegt: "Sie (die Mathematik, G.B.) wählt sich alsdenn eine gewisse Bezeichnung aller Konstruktionen von Größen überhaupt (Zahlen), als der Addition, Subtraktion usw., Ausziehung der Wurzel, und, nachdem sie den allgemeinen Begriff der Größen nach den verschiedenen Verhältnissen derselben auch bezeichnet hat, so stellet sie alle Behandlung, die durch die Größe erzeugt und verändert wird, nach gewissen allgemeinen Regeln in der Anschauung dar" (B 746). Die transzendentale Ä s t h e t i k ^ 7 d e r Kr.d.r.V. gibt transzendentalphilosophische Bestimmungen des Begriffs "vom R a u m e " ^ di e transzendentale Ästhetik ist metaphysische und transzendentale Erörterung des Begriffs vom Räume. Metaphysisch ist die Erörterung, die "dasjenige enthält, was den Begriff, als a priori gegeben, darstellt"59. Einerseits befreit die metaphysische Erörterung den Begriff vom Räume von Bestimmingen anderer Philosophen: "Der Raum ist kein empirischer Begriff" (B 38), der Raum ist keine von den Erscheinungen "abhängende Bestimmung" (B 39), "der Raum ist kein diskursiver, oder wie man sagt, allgemeiner Begriff von Verhältnissen der Dinge überhaupt" (B 39). Andererseits legt die metaphysische Erörterung positive Merkmale des Begriffs vom Räume dar: "Der Raum ist eine notwendige Vorstellung, a priori, die allen äußeren Anschauungen zum Grunde liegt" (B 39), der Raum ist "eine reine Anschauung" (B 39), "der Raum wird als eine unendliche gegebene Größe vorgestellt" (B 39 - 40). Die letzte
57 In dieser Ausarbeitung wird von der zweiten Auflage der Kr.d.r.V. ausgegangen. 58 Vgl. Β 37, B 4U. 59 Β 38, nicht in A.
170
Qualität und Quantität
Bestimmung, die Vorstellung des Raumes als unendlich gegebene Größe macht deutlich, daß jede äußere Vorstellung ihrer Ausdehnungsgröße nach im Räume enthalten ist. Dieses gibt eine äußere Darstellung des Raumes, wie er gegeben ist, ohne eine besondere Ausdehnungsart zwingend vorzuschreiben. Die metapysische Erörterung der zweiten Auflage der Kr.d.r.V. ist frei von der Bestimmung der Dreidimensional i tat. Wird die Vollständigkeit der metaphysischen Erörterung vom Räume vorausgesetzt, so kann man folgern, daß die Dreidimensional ität nicht zu demjenigen gehört, "was den Begriff als a priori g e g e b e n darstellt" (B 38). Zu bemerken ist, daß Kant in der ersten Auflage der Kr.d.r.V. im ersten Abschnitt der transzendentalen Ästhetik die Dreidimensionalität des Raumes im Zusammenhang der Charakterisierung der geometrischen Grundsätze als Urteile von strenger und nicht als Urteile von nur komparativer Allgemeinheit anspricht: "Was von der Erfahrung entlehnt ist, hat auch nur komparative Allgemeinheit, nämlich durch Induktion. Man würde also nur sagen können, so viel zur Zeit noch bemerkt worden, ist kein Raum gefunden worden, der mehr als drei Abmessungen hätte" (A 24 - 25). Die transzendentale Erörterung nennt als Beipiel einer geometrischen Erkenntnis den Satz: "Z.B. der Raum hat nur drei Abmessungen" 60 . Das Beispiel dient zur Unterstützung eines relevanten Arguments der transzendentalen Erörterung: "Denn die geometrischen Sätze sind insgesamt apodiktisch" (B 41). Kant benutzt hier das einfache mathematische Beispiel der euklidischen Stereometrie und nicht ein kompliziertes Beipiel, wie den Begriff eines denkbaren höherdimensionalen Raumes. In dem Brief an J. S. Beck vom 1.7.1794 betont Kant, daß es für die philosophische Argumentation nicht sinnvoll ist, über "leichte Beispiele" hinauszugehen: "Einen Mathematiker, wie Sie werter Freund, darf ich wohl nicht erinnern, über die Grenze der Klarheit, so wohl im gewöhnlichsten Ausdrucke, als auch in der Belegung durch 60 Β 41.
Dimension und Ausdehnung
171
leichte faßliche Beispiele, nicht hinauszugehen" (AA XI S.515f.)· Unabhängig davon, ob der mathematische Begriff eines dreidimensionalen oder höherdimensionalen Raumes vorliegt, ist die mathematische Dimensionsbestimmung kein empirisches Urteil. Bevor die Untersuchung fortgesetzt wird, ob die Dreidimensional i tat ein notwendiger Bestandteil der transzendentalen Erörterung des Begriffs vom Räume ist, soll linter Rückgriff auf die Prolegomena das Beispiel des dreidimensionalen Raumes betrachtet werden. Nachdem die Frage "Wie ist reine Mathematik möglich?" dadurch beantwortet is daß der synthetischen Erkenntnis a priori der Mathematik reine Anschauung a priori zugrunde gelegt ist, wird zur Verdeutlichung dieser transzendentalen Überlegung, die im Text der Prolegomena auch "transzendentale Deduktion der Begriffe im Raum und Zeit" genannt wird (AA IV S.285), dort auf drei Themen der euklidischen Geometrie (Kongruenz, Dimensional i tat des Raumes, Fortsetzung einer Linie ins Unendliche) und ihr Verfahren zur Herleitung ihrer Erkenntnis eingegangen: "Um etwas zur Erläuterung und Bestätigung beizufügen, darf man nur das gewöhnliche und unumgänglich notwendige Verfahren der Geometern ansehen" (AA IV S.284). Im Anklang an die Absicht der Erstschrift, eine Begründung der Dreidimensional i tät des Raumes geben zu wollen, und im Bewußtsein, daß eine solche Begründung kein mathematischer Beweis, aber eine Betrachtung in concreto ist, die anschauend e r k e n n t ^ versucht Kant die Dreidimensional i tät auf das Vorhandensein von höchstens drei orthogonalen^ Geraden in concreto zu gründen: 'üaß der vollständige Raum (der selbst keine Grenze eines anderen Raumes mehr ist) drei Abmessungen habe, und Raum überhaupt auch nicht mehr derselben haben 61 Zu Beginn des Paragraphen 11 der Prolegomena schreibt Kant nämlich: "Die Aufgabe des gegenwärtigen Abschnitts ist also aufgelöset" (AA IV S.283). 62 Vgl. AA II S.281. 63 Die Begriffe "senkrecht", "winkelrecht" und "orthogonal" werden synonym verwandt.
172
Qualität lind Quantität
könne, wird auf den Satz gebaut, daß sien in einem Punkte nient mehr als drei Linien rechtwinklicht schneiden können; dieser Satz kann gar nicht aus Begriffen dargetan werden, sondern beruht unmittelbar auf Anschauung und zwar reiner a priori, weil er apodiktisch gewiß ist" (AA IV S.284f.). Von einem solchen Verfahren einer transzendentalphilosophischen Betrachtung in concreto ist das Beweisverfähren der Mathematik in der transzendentalen Methodenlehre der Kr.d.r.V. abgesetzt. Bei mathematischen Beweisen wird zwischen ostensiven Konstruktionen der Geometrie und charakteristischen Beweisen der Algebra unterschieden. Der Philosophie karmt das Verfahren der akroama ti sehen Beweise zu^4. Will man dem Verfahren einer wie oben dargestellten philosophischen Betrachtung in concreto einen Ort in der transzendentalen Methodenlehre zubilligen, so hätte es den Rang eines akroamatischen Beweises. Dagegen ist über das Beweisverfahren der Algebra folgendes gesagt: "Selbst das Verfahren der Algeber mit ihren Gleichungen, aus denen sie durch Reduktion die Wahrheit zusamt dem Beweise hervorbringt, ist zwar keine geometrische, aber doch charakteristische Konstruktion, in welcher man an den Zeichen die Begriffe, vornehmlich von dem Verhältnis der Größen, in der Anschauung darlegt, und, ohne einmal auf das Heuristische zu sehen, alle Schlüsse vor Fehlern dadurch sichert, daß jeder derselben vor Augen gestellt wird" (B 762). U n deutlich zu machen, daß die Schnittkonfiguration von η Geraden, die in einem Punkt eines n-dimensionalen Vektorraumes sich jeweils paarweise im rechten Winkel schneiden, möglich ist, seien einige Aspekte zur Konstruktion des η - dimensionalen Vektorraumes genannt. Kant spricht von höchstens drei Geraden, die in einem Punkte senkrecht aufeinanderstehen, er bezieht sich auf den Satz, "daß sich in einem Punkte nicht mehr als drei Linien rechtwinklicht schneiden können" (AA IV S.284). Alle Geraden, die durch
64 Vgl. "3. Von den Demonstrationen", Β 762 - 763.
173
Dimension und Ausdehnung einen
festen Punkt gehen (Nullpunkt), können duren Vektoren
erzeugt werden. Betrachtet man den η - dimensionalen reellen Rn
Vektorraum
als die Menge
aller
solcher Vektoren,
dann
läßt sich die Eigenschaft, daß sich Vektoren "rechtwinklicht schneiden" mit
dem Mittel
der Abstandsmessung
präzisieren.
Wird durch das Skalarprodukt Rn
Rn
χ
» R
(x,y)
I
^
=
Σ Xi* Yi /= I
auf dem R n eine Abstandsmessung eingeführt, so schneiden sich per definitionem genau dann je zwei beliebige Vektoren x,y im Nullpunkt im rechten Winkel, wenn R
n
die
(l,ü
Standardbas i svektoren 0),
e2
=
e^,
= 0 ist. Hat man im
e2,
(0,1,0, ...,0),
···
...,
,
en=
en
(e^
(0,0
= 1))
gegeben, so ist = 0 für alle Daher gilt:
Im Nullpunkt
1 < i ψ j < η.
des R n
stehen genau η Vektoren
paarweise aufeinander senkrecht. Diese η - vielen Standardbasisvektoren
entsprechen
Richtung durch e^,
genau
η
Geraden,
die
in
ihrer
..., e n festgelegt sind und im Nullpunkt
aufeinander senkrecht stehen. Der von Kant als Beispiel erwähnte Satz ("der Kaum hat nur drei Abmessungen" (B 41)) ist richtig für den Rauntoegriff der Stereometrie:
Der
Raum
der
Stereometrie
hat
genau
drei
Dimensionen. Dem Begriff vom Räume der Stereometrie, d.h. dem Begriff
des
reinen
körperlichen
Raumes
entspricht
unendliche gegebene Größe des körperlichen Raumes Anschauung.
Um
eine
Vorstellung
vom
Raum
als
eine
in reiner formale
Anschauung zu gewinnen, die selber mathematisierbar ist, kann es
hilfreich
sein,
die
Raumesvorstel lung
der
euklidischen
Stereometrie als Modell der räumlichen formalen Anschauung zu nehmen. Wie im folgenden dargelegt wird, könnte als Beispiel eines apodiktischen Satzes der G e o m e t r i e ^
65 Bei
der
Konstruktion
zum
Beweis
formuliert werden, daß
dieses
Satzes
geht
es
174
Qualität und Quantität
in jedem reellen η - dimensionalen Vektorraum η Vektoren gefunden werden können, die paarweise aufeinander senkrecht stehen: Im allgemeinen betrachtet die analytische Geometrie einen η - dimensionalen Vektorraum V, wobei η eine beliebige natürliche Zahl ist (n = 1,2,3, ...,k,...; η e Ν). Die Erzeugung eines η - dimensionalen Vektorraumes ist durch Konstruktion in reiner Anschauung möglich, was im weiteren dargelegt wird: Die Dimensions zahl η ist die Anzahl der Vektoren einer Basis. Die Basis eines Vektorraumes ist als eine Menge linear unabhängiger Vektoren erklärt, die alle Vektoren des Vektorraums linear erzeugen. Die Begriffe der linearen Unabhängigkeit und der linearen Erzeugung durch Linearkombinationen lassen sich durch algebraische Operationen der Addition von Vektoren und der skalaren Multiplikation definieren (das Überprüfen der folgenden Bedingungen wird im weiteren auch charakteristische Konstruktion genannt, da es den Kantischen Angaben über die Konstruktionsweise der Algebra entspricht): (1) Eine Menge von Vektoren (w 1 ; ..., w n ) aus V heißt genau dann linear unabhängig, wenn für alle a^, ..., a n aus R mit ..+a n w n =0 gilt: a^ = ... = a n = 0. (2) Ein Vektor ν aus V heißt durch die Menge (wj_, ..., w n ) genau dann linear erzeugt, wenn es a^, &2> · · · % ® gibt» daß für ν gilt: v=ajw^+...+a n w n . Die Konstruktion der Basis eines endlich-dimensionalen Vektorraumes V (z.B. des R n ) geschieht auf dem Weg der vollständigen Induktion und unter Ausnutzung des Basisergänzungssatzes der linearen Algebra 66.
darum, geometrische Objekte zu finden, die mit ihren Eigenschaften algebraische Gleichungen erfüllen. Kant spricht bei einer solchen Problemstellung auch von "der Konstruktion der Gleichungen" (vgl. etwa AA VI S. 208). 66 Zu diesem Verfahren, in das der Basisergänzungssatz eingeht, vgl. dtv-Atlas zur Mathematik, S.87.
Dimension und Ausdehnung
175
(a) Entweder V ist der Nullvektorraum, dann ist die Basis die leere Menge und die Dimension n=0, oder es ist möglich einen Vektor v*0 aus V zu finden. (b) Hat man bereits ein Erzeugendensystem (v^, linear unabhängiger Vektoren gefunden (die Eigenschaft der linearen Unabhängigkeit ist durch eine charakteristische Konstruktion nachprüfbar), dann besteht folgende Alternative: Entweder für alle Vektoren w aus V gilt: w ist durch das genannte Erzeugendensystem linear erzeugt (das kann mittels charakteristischer Konstruktion nachgewiesen werden), dann ist v^, v^-i eine Basis von V und für die Dimension η gilt: n=k-l. Oder es gilt: Es gibt einen Vektor w, der von den Vektoren des gegebenen Erzeugendensystem linear unabhängig ist, dann setzt man v^ = w und durchläuft die Alternative erneut. Das durch (a) und (b) beschriebene Verfahren der charakteristischen Konstruktion bricht für ein gewisses η aus Ν ab, da V als ein endlich dimensionaler Vektorraum vorausgesetzt ist. Diese llerleitung einer endlichen Basis für einen endlich erzeugten Vektorraum mag auf elementarem Niveau sein, aber es ging darum, deutlich zu machen, daß sich schrittweise die Bedingungen erfüllen, die Kant an eine charakteristische Konstruktion knüpft: Die Begriffe der linearen Unabhängigkeit und Erzeugtheit, die das Konzept der Dimensional i tät von Vektorräumen ausmachen und die sich auf Grölienverhältnisse beziehen, können "in der Anschauung dargelegt" werden (B 762). Die Orthogonal i tätsbedingung, die Kant in den Beispielen auf den dreidimensionalen Raum bezieht, ist sogar für Vektorräume mit beliebiger endlicher Dimension η anhand einer geometrischen Konstruktion, die auf den Mathematiker Erhard Schmidt (1876-1959) zurückgeht, einzusehen: Hat man bereits k Basisvektoren (k< n) e^, ..., e^ gefunden, die sämtlich auf die Länge 1 normiert sind und paarweise aufeinander senkrecht stehen und ist w ein weiterer linear unabhängiger Vektor,
176
Qualität und Quantität
so kann man einen Vektor^? e^+i in don von e^, ..·, ej^.w aufgespannten Vektorraum E finden, der dann auf allen Vektoren e^, ..., e^ senkrecht steht. Die geometrische Konstruktion unterscheidet sich von der bloß charakteristischen dadurch, daß die "Verhältnisse der Größen" (B 762) an geometrischen Objekten (wie hier das Verhältnis der Orthogonal i tät an dem Raum Ε), die bereits konstruiert sind, im Kaum dargestellt werden. Die heuristische und die fehlerausschließende Funktion ist daher bei der geometrischen Konstruktion mindestens genauso gesichert, wie bei der charakteristischen. Insgesamt ist daher hergeleitet, daß der η - dimensionale reelle Vektorraum durch eine Konstruktion in reiner Anschauung, die transzendentalphilosophischen Bedingungen Genüge leistet, dargestellt werden kann. Neben dieser Ausführung, die der Intention diente, nachzuweisen, daß die Transzendentalphilosophie dem mathematischen Fortschritt in Räumen höherer Dimension nicht im Wege zu stehen braucht, wird im folgenden der in der bereits genannten Prolegomena - Stelle erwähnte Begriff van vollständigen Raum untersucht. Der Begriff des "vollständigen" Raumes wird topologisch erklärt: Der "vollständige" Raum ist derjenige, "der selbst keine Grenze eines anderen Raumes mehr ist" (ΑA IV S.284). Grenzen sind als Stellen der Einschränkung von Räumen bestürmt, Stellen wiederum setzen "jene Anschauungen, die sie beschränken oder bestimmen sollen, voraus" (B 211). Eine Erläuterung des Begriffs des "vollständigen" Raumes wird bereits in der Dissertation von 1770 gegeben: "Spatium, quod non est terminus alterius, est c o m p l e t u m (solidum).
67 Zum Schmidtschen Orthonormalisierungsverfahren Fischer: "Lineare Algebra", S.193.
vgl.
Dimension und Ausdehnung
177
Terminus solidi est s u p e r f i c i e s , superficiel l i n e a , lineae p u n c t u m . Ergo tria sunt terminorum genera in spatio, quemadmodum tres dimensiones. Horum terminorum duo (superficies et linea) ipsi sunt spatia. Conceptus t e r m i η i non ingreditur aliud quantim nisi spatium aut tempus" (AA II S.403, Arm.) 6 8 . Die Bestimmung des vollständigen Kaumes, daß er keine Grenze eines anderen Raumes ist, liegt also schon in der Dissertation "De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principi is" von 1770 vor. Hierbei tritt auch die anschauliche topologische Verbindung von Körper, Oberfläche, Linie, Punkt hervor, wobei das folgende Gebilde jeweils als der topologische Rand (Grenze) des vorhergehenden auftreten kann. Die Ausführung zu den Arten der Grenzen im Kaum hat die Absicht, darzulegen, daß der Begriff der Grenze, seiner Größe nach betrachtet, nur durch Kaum oder Zeit bestimmt ist, jeweils danach, ob es sich um eine räumliche Grenze, wie dargestellt, oder un eine zeitliche Grenze (Augenblick) handelt. Die Reihe der Kandbildungen endet im Punkt, da der Punkt im Unterschied zur Oberfläche und zur Linie nicht mehr ausgedehnt ist und durch den Schnitt mit anderen ausgedehnten Objekten gleicher Art nicht mehr in ausgedehnte Teile gleicher Art zerlegt werden kann. Während die Dissertation von 1770 hinsichtlich der Grenzen eine Existenzaussage macht, d.h., daß sie aussagt, daß 68 Vgl. dazu folgende Übersetzung: "Der Kaum, der nicht die Grenze eines anderen ist, ist ein v o l l s t ä n d i g e r Raum. Die Grenze eines vollständigen Raumes ist eine F l ä c h e , die Grenze einer Fläche eine L i n i e , die Grenze einer Linie ein P u n k t . Also gibt es drei Arten von Grenzen im Raum, so wie drei Dimensionen. Zwei von diesen Grenzen (Fläche und Linie) sind selbst Räume. Der Begriff der G r e n z e geht auf kein anderes Quantum als Raum oder Zeit" (Klaus Reich: "Inmanuel Kant. De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis", übersetzt und eingeleitet von K. Reich, Hamburg 1958, S.53). Vgl. auch den Text der Übersetzung der Dissertation von 1770 in der VVe ischedel-Ausgabe, Band V, S.61.
178
Qualität und Quantität
Oberfläche, Linie und Punkt als Grenzen erzeugt sind, verschärfen die Prolegomena diese Aussage zu einer Existenzund Eindeutigkeitsaussage: Mit den Prolegomena soll dargelegt werden, weshalb "der vollständige Kaum ... drei Abmessungen habe, und Kaum überhaupt auch nicht mehr derselben haben könne" (AA IV S.284). Das Hinzufügen der Eindeutigkeitsaussage durch die Prolegomena wirft für die anschauliche Gewißheit des Begriffs vom vollständigen Raum einen Aspekt der Unklarheit auf: Genauso wie eine Ebene Grenze eines reinen körperlichen Kaumteils K^ sein kann, kann ein dreidimensionaler Kaum auch Grenze eines geeigneten vierdimensionalen Kaumteils K 4 sein u.s.w. 69. Der Prozeß der fortgesetzten Bildung von Grenzen entspricht in noderner mathematischer Terminologie der topologischen Operation der Kandbildung der algebraischen Topologie?0. Diese Operation ist relativ zum topologischen Kaum definiert. Hat man insbesondere eine m - dimensionale kompakte Teilmenge K n des Vektorraums R n als topologischen Raum zum Definitionsbereich des Kandoperators gemacht, so ist KP1-!, der Rand von KP1, eine rn-1 -dimensionale Manngifaltigkeit^l. Für jedes 1 < m < η erhält man eine besondere Klasse topologisch äquivalenter Randbildungen: (KP-1, Ii11). Man hat also für η > 3 mehr als nur 3 verschiedene Arten von Grenzen. Kants Eindeutigkeitsaussage bleibt dann richtig,
69 Im Falle des R3 kann man als K3 den unteren Halbraum wählen: Κ3 = |(x,y,z)eR3; ζ < θ ) , die Ebene E = ((x,y,z)eR3; ζ = 0) ist dessen Rand. Im Falle des R4 kann man als K4 den folgenden Halbraum wählen: Κ4 = I (x,y,z,w) E Η?; W < Θ| , der folgende dreidimensionale Unterraum U ist dessen Rand: U =((x,y,z,w) R 4 ; w = 0) . 70 Zum topologischen Begriff des Randes vgl. Seifert Threlfall S.59. 71 Zum topologischen Begriff der Dimension vgl. Seifert Threlfall S.125 f. Unter Linien, Flächen, körperlichen Räumen usw. werden hier topologische Mannigfaltigkeiten der Dimension 1, 2, 3, ... verstanden.
Dimension und Ausdehnung
179
wenn implizit im Begriff des vollständigen Raumes der Prolegomena das Merkmal der Dreidimensional i tat mitgedacht wird. Nach dieser ausführlichen Behandlung der in den Prolegomena 7 ^ dargelegten Argumentation zur Dreidimensional i tat des Raumes, soll die Untersuchung, ob die Dreidimensional i tat ein notwendiger Bestandteil der transzendentalen Erörterung des Begriffs vom Raurrme ist, fortgesetzt werden. Die transzendentale Erörterung des Begriffs van Raíame und die des Begriffs der Zeit sind erst in der zweiten Auflage der Kr.d.r.V. als eigenständige Paragraphen, die denen der jeweiligen metaphysischen Erörterung gliederungsmäßig gleichgestellt sind, neu hinzugekommen. Argumente, die erweisen sollen, daß die apodiktische Gewißheit geometrischer Sätze wirklich aus dem Raum als notwendige Vorstellung a priori herkaimt, sind in der 1. Auflage zwischen denen angeordnet, die das enthalten sollen, was den Raum "als a priori g e g e b e n " ausmacht 73 . Die zweite Auflage trennt mit Klarheit die metaphysische von
72 Ein ähnliches Argument, wie das der Prolegomena, findet man in der Streitschrift gegen Eberhard: A n Eberhard wird die Frage gestellt, wie er mit seinen Begriffen von Monaden und deren Verbindungen beweisen will, daß der Raum "als vollständiger Raum drei Abmessungen habe, imgleichen von seinen dreierlei Grenzen, davon zwei selbst noch Räume, der dritte, nämlich der Punkt, die Grenze aller Grenzen ist" (AA Vili S.220). Im Unterschied zu den Prolegomena wird hier nur die Existenzaussage bezüglich der Dreidimensional ität gemacht. Es treten, verglichen mit den Prolegomena, keine neuen Argumente hinzu. 73 In der ersten Auflage befanden sich diese Argumente im sogenannten dritten Raumargument, das in der zweiten Auflage als geschlossener Text nicht übernarmen wurde (vgl. A 24, Β 39). In diesem Text der ersten Auflage berücksichtigt Kant auch den aktuellen Stand der Mathematikentwicklung hinsichtlich der Bestürmung der Dimension von Räumen: "Man würde also nur sagen können, so viel zur Zeit noch bemerkt worden, ist kein Raum gefunden worden, der mehr als drei Abmessungen hätte" (A 24).
180
Qualität und Quantität
der transzendentalen Erörterung74. oi e Absicht der transzendentalen Erörterung ist die Einsicht der Möglichkeit, wie anderen Wissenschaften synthetische Erkenntnisse a priori zukaimen: "Ich verstehe unter einer t r a n s z e n d e n t a l e n Erörterung die Erklärung eines Begriffs als eines Prinzips, woraus die Möglichkeit anderer synthetischer Erkenntnisse a priori eingesehen werden kann" (B 40). In der transzendentalen Erörterving des Begriffs vom Räume erfolgt die Zuwendung hinsichtlich "anderer synthetischer Erkenntnisse a priori" in Richtung der Geometrie. Es geht darum nachzuweisen, wie die Sätze der Geometrie möglich sind, nicht darum, daß sie möglich sind, weil das die Aufgabe der Geometrie ist. Für die Geometrie wird an dieser Stelle die Argumentation fortgesetzt, die allgemein für die Mathematik und weitere Wissenschaften in der Einleitung der Kr.d.r.V. begonnen wurde: "Von diesen Wissenschaften, da sie wirklich gegeben sind, läßt sich nun wohl geziemend fragen, wie sie möglich sind; denn d a ß sie möglich sein müssen, wird durch ihre Wirklichkeit bewiesen" (B 20). Was ist nun erforderlich, um die Einsicht zu wecken,daß der Raum das Prinzip ist, aus dem die Möglichkeit synthetischer Erkenntnisse a priori der Geometrie hergeleitet werden kann? "Zu dieser Erkenntnis wird erfordert, daß> 1) wirklich dergleichen Erkenntnisse aus dem gegebenen Begriffe herfließen, 2) daß diese Erkenntnisse nur unter der Voraussetzung einer gegebenen Erklärungsart dieses Begriffs möglich sind" (B 40). Die transzendentale Erörterung hat ihr Ziel erreicht, wenn der Begriff van Raums beide genannten Aufgaben erfüllt. Während die zweite Aufgabe durch Rückbezug auf die metaphysische Erörterung des Begriffs vom Räume verhältnismäßig einfach aufzulösen ist, weil die Erklärungsart derselben bereits "dasjenige enthält, was den Begriff als a priori g e g e b e n darstellt" (B 38), muß die
74 Die Begriffsbestimmungen der metaphysischen und transzendentalen Erörterung sind in der ersten Auflage nicht enthalten (vgl. A 23, Β 38).
Dimension und Ausdehnung
181
erste Aufgabe einen Bezug zur Geometrie enthalten, indem sie nachweist, daß für die geometrischen Erkenntnisse gilt, daß sie wirklich aus dem gegebenen Begriffe vcm Räume, wie ihn die metaphysische Erörterung bereitgestellt hat, "herfließen". Damit dieses wirkliche Herfließen möglich wird, ist es nötig, zwei Bedingungen zu erweisen: 1. daß die geometrische Beweisführung in ihrer konstruktiven Komponente zuletzt auf Anschauung angewiesen ist, 2. daß die Art der Anschauung der Modalität geometrischer Urteile angemessen ist. Im folgenden soll nachgewiesen werden, daß Kants diesbezügliche Argumentation stringent ist, daß die Rekursion auf eventuelle Besonderheiten geometrischer Sätze nicht notwendig ist und daß beide genannten Bedingungen aus den Eigenschaften des Raumes, die in der metaphysischen Erörterung dargelegt wurden, und der Bestimmung der Geometrie als Wissenschaft hergeleitet werden können: "Geometrie ist eine Wissenschaft, welche die Eigenschaften des Raums synthetisch und doch a priori bestimmt" (B 40). Die geometrische Beweisführung ist darin angelegt, die Evidenz, d.h. die "anschauende Gewißheit" (B 762) der Synthesis eines geometrischen Urteils nachzuweisen. Subjektsund Prädikatsbegriff, die jeweils eine Eigenschaft des Raumes formulieren, sollen als zu einem Erkenntnis vereinigt ein synthetisches Urteil ausmachen: "Was muß die Vorstellung des Raumes denn sein, damit eine solche Erkenntnis von ihm möglich sei?" (B 40). Die Antwort folgt in Verbindung mit dem dritten Argument der metaphysischen Erörterung des Begriffes vom Räume der zweiten Auflage der Kr.d.r.V., das belegt, daß der Raum "kein diskursiver Begriff ..., sondern eine reine Anschauung" ist (B 39). Der Raum "maß ursprünglich Anschauung sein, denn aus einem bloßen Begriffe lassen sich keine Sätze, die über einen Begriff hinausgehen, ziehen, welches doch in der Geometrie geschieht" (Einleitung V)(B 40). Kant verweist hier auf den ersten Teil von Einleitung V: "Mathematische Urteile sind insgesamt s y n t h e t i s c h . Dieser Satz scheint den Bemerkungen der
182
Qualität und Quantität
Zergliederer der menschlichen Vernunft bisher entgangen, ja allen ihren Vermutungen gerade entgegengesetzt zu sein, ob er gleich unwidersprechlich gewiß und in der Folge sehr wichtig ist" (B 14)75. Mit der Raumesvorstellung als ursprünglicher Anschauung ist der Garant dafür gegeben, daß im geometrischen Urteil die Synthesis möglich wird, worauf die konstruktive Komponente geometrischer Beweise gebaut ist. Hieraus folgt, daß der Raum als ursprüngliche Anschauung die erste obige Bedingung erfüllt. Die zweite Bedingung verlangt, daß die Vorstellung vom Raum so ist, daß die geometrischen Sätze "mit dem Bewußtsein ihrer Notwendigkeit" verbunden" (B 41) sind. Wegen des zweiten Arguments der metapysischen Erörterung gilt, daß der Raum "eine notwendige Vorstellung, a priori (ist, G.B.), die allen äußeren Anschauungen zum Grunde liegt" (B 39). Daher wird der Raum als Anschauung a priori, "d.i. vor aller Wahrnehmung eines Gegenstandes, in uns angetroffen" (B 41). Die Vorstellung vom Raum als reine Anschauung ermöglicht apodiktische Urteile: Geometrische Sätze "können nicht empirische oder Erfahrungsurteile sein, noch aus ihnen geschlossen werden (Einleitung II)" (B 41). Mit der Vorstellung vom Raum als reine Anschauung ist die zweite obige Bedingung nachgewiesen. Insgesamt sind daher beide oben genannten Aufgaben aufgelöst, die der Begriff vom Räume erfüllen sollte. Die transzendentale Erörterung verlangt also von der Vorstellung des Raumes, daß er ursprüngliche Anschauung, reine Anschauung und "Form des äußeren S i n n e s überhaupt" (B 41) ist. Die Dreidimensional ität tritt als Eigenschaft des Raumes in einem Satz auf, der als Beispiel eines
75 Während dieser Satz Bestandteil eines Textes ist, der komplett aus den Prolegomena in die zweite Auflage der Kr.d.r.V. übernommen wurde, wurde nur der Satz der Dreidimensional ität zitiert und nicht das ganze zugehörige Beweisargument des Paragraphen 12 der Prolegomena.
Dimension und Ausdehnung
183
geometrischen Satzes zitiert wird. Das Beispiel hat die Funktion, die Aussage, daß die geometrischen Sätze apodiktisch sind, zu verstärken. Ein anderer geometrischer Satz, wie der Satz des Pythagoras der euklidischen Geometrie, hätte diese Funktion entsprechend wahrnehmen können, es sei denn, daß Kant darüberhinaus darlegen wollte, daß die Raumesvorstellung der euklidischen Stereometrie ein geeignetes Modell für den Raum als formale Anschauung wäre. Die transzendentalphilosophische Erklärung der "Möglichkeit der Geometrie als einer synthetischen Erkenntnis a priori" bleibt auch dann "begreiflich" (B 41), wenn die Fortentwicklung der Geometrie Räume mit mehr als drei Abmessungen als Beispiele kennt. Resümierend läßt sich bezüglich des Dimensionsproblem folgendes festhalten: In Absicht auf die Begründungsfrage des Dimensionsbegriffs und des topologischen Randbegriffs geht die transzendentalphilosophische Fragestellung, wie Mathematik auch hinsichtlich solcher Untersuchungskonzepte des Raumes (d.h. im moderneren Sinne der Untersuchungskonzepte der linearen Algebra und Topologie) möglich ist, entdeckungsgeschichtlich76 der Entwicklung diesbezüglicher exakter Begrifflichkeit voran. Die Kantische Philosophie stellt die Begründungsfrage gemessen an dieser mathematischen Entwicklung vorzeitig, sie ist seitens der Mathematik noch nicht mit den Beispielen und mit mathematischen Begründungszusammenhängen der Theorie höherdimensionaler Vektorräume konfrontiert. Un mit transzendentalphilosophischen Erörterungen?? Antworten auf 76 Graßmanns "Ausdehnungslehre" von 1844 läßt sich als das erste Konzept einer mathematischen Definition des n-dimensionalen Vektorraumes verstehen (vgl. Scholz 1974 S.53 - 71, Scholz 1979 S.36 f., S.238 f.). 77 Hier wird der Plural verwandt, weil die Möglichkeit der Mathematik im Unterschied zur Geometrie, deren Möglichkeit in der transzendentalen Erörterung nur mittels des Raumes erwiesen wird, sich auf Raum und Zeit gründet: "Zeit und Raum sind demnach zwei Erkenntnisquellen, aus denen a priori verschiedene synthetische Erkenntnisse geschöpft
184
Qualität und Quantität
Fragen der reinen Vernunft geben zu können (wie etwa auf die Frage: "Wie ist reine Matnematik möglich?"), ist es gegebenenfalls nötig, Begründungszusaiimenhänge zu Untersuchungskonzepten zu geben, die mathematisch noch nicht exakt umrissen sind, wenn die Philosophie die diesbezügliche Erörterung als die Erklärving eines Prinzips versteht, "woraus die Möglichkeit anderer synthetischer Erkenntnis a priori eingesehen werden kann" (B 4ü). Diese Überlegung hat für die Transzendentalphilosophie in Hinblick auf ein Untersuchungskonzept einer anderen Wissenschaft, die synthetische Erkenntnis a priori beinhaltet, die Konsequenz, daß sie für den dem Untersuchungskonzept korrespondierenden räumlich - zeitlichen Sachverhalt versucht, einen Beweis in Gestalt einer Begründung in concreto zu geben, die in ihrer Evidenz (d.h. in ihrer anschauenden Gewißheit) einem mathematischen Beweis ähnlich ist. Die anschauende Gewißheit hat aber eine Voraussetzung, nämlich die, daß alle Merkmale des zu erweisenden Sachverhalts voraussetzungslos in reiner Anschauung darstellbar sind. Enthält insbesondere ein Merkmal eine implizite mathematische Voraussetzung, die für den, der die Begründung in concreto versucht, nicht explizit hervortritt, so kann die Darstellung vage und das Ziel einer anschauenden Gewißheit noch nicht erreicht werden. Genau dieses Problem legt Kant bezüglich der Behandlung unerweislicher Sätze in der Mathematik und Philosophie hinsichtlich ihrer Begründungsfrage 1764 offen: "Also werde ich erste Grundurteile vor aller philosophischen Erklärung der Sachen haben müssen und es kann hierbei nur der Fehler vorgehen, daß ich dasjenige für ein uranfängliches Merkmal ansehe, was noch ein abgeleitetes ist" (AA II S.282). Das Problem der Dreidimensional i tät ist kein systematisches der Transzendentalphilosophie, aber ein solches in Hinsicht auf ihre Darstellungen in concreto.
werden können, wie vornehmlich die reine Mathematik in Ansehung der Erkenntnisse vom Räume und dessen Verhältnissen ein glänzendes Beispiel gibt" (B 55 - 56).
185
Kants Brief vom 2.8.1790 an Schultz
2.2
Der transzendentale Begriff der Unendlichkeit mathematische Begriff des Unendlichen
und
der
2.2.1 Der Brief Kants v o m 2.8.1790 an Johann Schultz Mit dem Brief vcm 2. August 1790 sandte Kant "2 Blätter" an Johann Schultz in der Absicht, "daß es gut wäre, wenn sie ohne Abkürzung in die Rez(ension) könnten eingerückt werden" (AA XI S. 184). Schultz verarbeitete dann auch diese Information, sie ging ein in die zweite Hälfte der Rezension über Eberhards Magazin, die 1790 in der Jenaer Literaturzeitung e r s c h i e n ^ . Erfreulicherweise sind die Kantischen Originalhandschriften erhalten geblieben, sie wurden im Rostocker Kantnachlaß a u f g e f u n d e n 7 9 . "In einem Manuscriptenbande, welcher eine Handschrift der Kantschen Anthropologie enthält, fand Herr Professor Schirrmacher ein Anschreiben Kants an die theologische Fakultät zu Königsberg nebst zwei Vorreden zu der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, dann 6 Folioseiten von Kants Hand mit der Aufschrift: Ü b e r ^ O Kästners Abhandlungen" (Dilthey S. 79). Dilthey gibt im gleichen Aufsatz, nach eigenen Prinzipien transskribiert, den
78
79 80
Vgl. AA XX S.484. Die Akademieausgabe druckt den Schultzschen Text synoptisch zur Kantischen Vorlage ab (AA XX S.379 - 423). Unter "zweiter Hälfte der Rezension" wird der Schultzsche Text verstanden, der mit dem Satz beginnt : "Stücke von eines Kästners oder Klügeis Hand können jeder Sammlung einen Wert geben ..." und bis zum Ende der Rezension reicht (vgl. AA XX S.410 - 423). Wilhelm Dilthey: "Aus den Rostocker Kanthandschriften" in: Archiv für Geschichte der Philosophie, Band III, 1890, S.79 - 90. Bei Dilthey steht "Uber", in der Kantischen Handschrift: "Über"!
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Qualität und Quantität
Kantischen Text Heraus. Er läßt dabei aber zwei längere durchgestrichene Passagen aus, die sien auf den Folioseiten 2 f. und 4 f indenni, in der Ausgabe Kant isener Schriften von Bucnenau, Cassirer und Kellermann wird Kants Originalhandschrift "Über Kästners Abhandlungen" als Faksimile zur Verfügung gestellt, gleichzeitig wird in dieser Ausgabe der Wortlaut der in der Jenaer Literaturzeitung erschienenen Schultz-Rezension abgedruckt und in einem Apparat werden die Lesarten des Kantischen im Unterschied zum Schultzsehen Text verzeichnet*^. Damit lag der Akademieausgabe ein Material vor, um eine kritische Textausgabe der Kantischen Originalhandschrift herauszugeben, die aber leider auch nicht frei von Mängeln ist8·*. j n dem Brief an Schultz van 2. August 1790 führt Kant weiter aus: 81
"Dann gebe ich den ersten Druck dieser Abhandlung selber. Sie zeigt mannichfache Korrekturen und zwei umfangreiche Streichungen. Da diese Streichungen sich aber nur als sehr zweckmäßige Verkürzungen erweisen und die Korrekturen sorgsam ein druckfertiges Ganze herstellen, so folgt hier dies Ganze ohne weitere kritische Rechenschaft über Korrekturen und Streichungen" (Dilthey, S.80). Dilthey notiert, daß die aufgefundene Handschrift Kants "6 Folioseiten" imfaßt (Dilthey, S. 79+80). 82 Α. Buchenau, E. Cassirer, Β. Kellermann: "Schriften von 1790 - 1796 von Inmanuel Kant", Band VI, Berlin 1923. Der Apparat findet sich auf S.526f. 83 Der Leser erhält mangelhafte Informationen darüber, wie die Seiten der Originalhandschrift zusammenhängen. Die AA redet irreführend von "betreffenden Bogen" (AA XX S.484), die Kant am 2. August 1790 Schultz zuschickt, während Kant selber von "2 Blättern" spricht (AA XX S.184). Im weiteren gibt die AA den Seitenunbruch nur sporadisch an: "Zweite Seite des Bogens", "dritte Seite des Bogens", "fünfte Seite der Handschrift" (= AA XX : Fußnoten zu 41220, 41504 , 41911). Zur Verbesserung sind hier die Seitenumbrüche der Originalhandschrift in bezug auf die Seiten - Zeilen - Nummerierung von AA XX angegeben. Die Angabe der Seitenumbrüche erfolgt aufgrund eines Vergleiches mit dem Faksimile der Ausgabe von Cassirer (vgl. Arm. 82), zu weiteren herausgebertechnischen Informationen vgl. Cassirer a.a.O. S. 525f.. Das Faksimile besteht aus einem Bogen und einem halben Bogen.
Kants Brief von 2.8.1790 an Schultz
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"Zugleich nehme mir die Freiheit, unmaßgeblich anzuraten, auf die Stellen, da Kastner auf Ihre Theorie des 84 Unendlichen anzuspielen scheint, in dieser Rezension nicht Rücksicht zu nehmen, um den Verfasser derselben dadurch nicht zu entdecken. Sie könnten in dem von Ihnen jetzt bearbeiteten Stücke Ihrer Prüfung etc.® 5 sich darüber ausführlich erklären
84
85
Auf dem Bogen befinden sich die ersten vier Folioseiten, auf dem halben Bogen die fünfte und sechste Folioseite. Der Seitenumbruch gemäß Seiten-Zeilen-Angabe der AA verläuft folgendermaßen: 41215: ab: "ohne ihm im mindesten" : zweite Folioseite, 41504: ab: "Die Forderung an den" : dritte Folioseite, 41805: ab: "Wenn zum Behuf der" : vierte Folioseite, 41901: ab: "Die Metaphysik muß" : fünfte Folioseite, 42202: ab: "wie die Schwierigkeit" : sechste Folioseite. Johann Schultz: "Versuch einer genauen Theorie des Unendlichen", Königsberg und Leipzig, 1788. Kästner veröffentlichte insgesamt drei Aufsätze im vierten Stück des zweiten Bandes des "Philosophischen Magazins" (Hrsg. J. A. Eberhard), Halle, 1790: 1. "Was heißt in Euklids Geometrie möglich?" (S.391 402). 2. "über den mathematischen Begriff des Raums" (S.403 419). 3. "Über die geometrischen Axiome" (S.420 - 430). Im zweiten Aufsatz Kästners (S.408) wird auf Schultzens Theorie des Unendlichen angespielt, die in gewisser Weise eine Fortsetzung anderer Untersuchungen der analytischen Geometrie ist, die über die Bestinmungen der euklidischen "Elemente" zum Begriff des Unendlichen hinausgehen: "Die alten Geometer brauchen nie das Wort unendlich in der anstößigen Bedeutung, in welcher es Neuere oft gebraucht haben, sie machen keine solchen Schlüsse, wie neuerlich mit dem Gebrauche dieses Wortes gemacht worden sind. Eben ihre Weitläufigkeit wollte man durch den Gebrauch des Unendlichen abkürzen, und Mathematiker, die an die alte Sprache gewöhnt waren, widersprachen deswegen diesem Gebrauche" (S. 408). Schultz hielt sich an Kants Vorschlag, in seiner Rezension des Eberhardschen Magazins nicht auf Kästners Anspielung einzugehen (vgl. A A X I I I S.277). Johann Schultz: "Prüfung der Kantischen Kritik der reinen Vernunft". 2 Teile, Königsberg, 1789 und 1792. Zu dem
188
Qualität und Quantität
und rechtfertigen; zu welchem BeHuf ich glaube, daß beiliegendes Blatt b, wie ich mir schmeichle, einigen neuen Stoff darbieten möchte, im Ihre Iheorie mit dem, was die Kritik in dem Stücke von der Antinomie in Ansehung des Unendlichen im Räume sagt, in übereinstimnung zu bringen" (AA XI, S. 184). Schultz hielt sich an Kants Hinweis: "Was S. 407. 408 86 vorgetragen wird, betrifft bloß den mathematischen Streit über den Gebrauch des Begriffs vom Unendlichen in der Geometrie, und liegt daher außer dem Felde dieser Recension" (AA XX 41728). Er läßt also den Diskurs über den Begriff des Unendlichen in bezug auf die Geometrie in dieser Rezension aus. Der Rat, "auf die Stellen, da Kästner auf Ihre Theorie des Unendlichen anzuspielen scheint, in dieser Rezension nicht Rücksicht zu nehmen" (AA XI, S. 184), wird befolgt. In der 1788 gedruckten "Theorie des Unendlichen" konzentrierte sich Schultz auf die Untersuchung des Unendlichgroßen, der Untertitel des Buches lautet: "1. Teil: Vom Unendlichgroßen und der Meßkunst derselben". Für den zweiten Teil war die Behandlung der "Theorie des Unendlichkleinen und der Lage" vorgesehen8?, die allerdings als eigenständiges Werk nie erschienen ist. Daß aber Schultz für diesen zweiten Teil Material gesammelt hat, geht aus der 1803 erschienenen Abhandlung hervor: J. Schultz: "Sehr leichte und kurze Entwicklung einiger der wichtigsten mathematischen Theorien"88, die mit Ausnahme der
Zeitpunkt, als Kant den Brief vom 2.8.1790 verfaßte, war der erste Teil bereits erschienen und Schultz befand sich bei der Ausarbeitung des zweiten Teiles der "Prüfung II
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Die Aussage bezieht sich auf den Aufsatz "Über den mathematischen Begriff des Raums" von A. G. Kästner (vgl. Ann. 84). 87 Vgl. Schultz: "... Theorie des Unendlichen", Vorrede, S.XXXII. 88 Johann Schultz: "Sehr leichte und kurze Entwicklung
Kants Brief van 2.8.1790 an Schultz
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algebraischen Abhandlung über Polynome und den binomischen Lehrsatz, nur solche Ausarbeitungen umfaßt, die zur Infinitesimalrechnung gehören: Logarithmen, allgemeine Theorie der Kettenbrüche, Beweis der Irrationalität von mittels einer Kettenbruchentwicklung der Tangens-Funktion, über das Fundament der Differentialrechnung. Gerade die letzte Ausarbeitung führte in das Gebiet der Grundlegungsproblematik der Infinitesimalrechnung, zu der der zweite Teil der "Theorie des Unendlichen" Lösungen enthalten sollte. Kant konnte im Jahre 1790 davon ausgehen, daß seine Ausarbeitungen zum Unendlichkeitsbegriff dann, wenn sie Anknüpfungspunkte für die mathematische Grundlegungsproblematik der unendlichkleinen Größen der Infinitesimalrechnung enthielten, von Schultz®® rezipiert werden würden. Schultz knüpfte bereits in der "Theorie des Unendlichen" von 1788 an den Kantischen Kaum-Begriff, wie er in der zweiten Auflage der Kr.d.r.V. dargelegt wurde, a n ^ : Das unterscheidende Merkmal für endliche bzw. unendliche Größen ist das der Begrenzung: Endliche Größen sind begrenzt, unendliche unbegrenzt: "Eine Größe heißt an sich oder im absoluten Verstände endlich, wenn sie völlig begrenzt ist". "Eine Größe heißt an sich oder im absoluten Sinne unendlich, wenn sie nicht endlich ist, und zwar unendlich groß, wenn sie größer, unendlich klein aber, wenn sie kleiner ist, als jede endliche Größe" (Schultz: "...Theorie des Unendlichen", S. 1 und S. 8).
89 90
einiger der wichtigsten mathematischen Theorien". Königsberg (Nicolovius), 1803. Beim Übergang vom Fraktur- zum Antiqua-Satz wandelte sich die Namensschreibung von Schultz: Aus 'Schultz' wurde in dem Buch von 1803 'Schulz'. "Wir kennen, wie flr. Kant richtig erinnert, nur einen körperlichen Kaum". Der körperliche Raum ist eine "Vorstellung von etwas völlig Unbegrenztem, d.i. von etwas Unendlichem" (Schultz: "... Theorie des Unendlichen", S.llff.). Der körperliche Raum ist somit für Schultz ein Beispiel einer unendlichen Größe. Die Nähe von Schultz zur Kantischen Bestinmung des vierten metaphysischen Raum-Arguments ist deutlich erkennbar: "Der Raum wird als eine unendliche g e g e b e n e Größe vorgestellt" (B 39 - 40).
190
Qualität und Quantität
Kant hält es für notwendig, daß Schultz auf Kästners mutmaßliche Anspielving in Eberhards Magazin bezüglich der obigen Definition unendlicher Größen erwidert, allerdings nicht im Rahmen der von Schultz ausgeführten Rezension, die in diesem Themenzusanmenhang hauptsächlich auf den Unterschied der Behandlung des Raumes in der Metaphysik und in der Geometrie eingeht, sondern im Rahmen der von Schultz beabsichtigten Veröffentlichung des zweiten Teils der "Prüfiang der Kantischen Kritik der reinen Vernunft". Die Thailens tel lung sollte dabei auf den Gebrauch des Begriffs vcm Unendlichen in der Geometrie (AA XX 41710) abzielen, denn Kant will mit dem Brief vom 2.8.1790 "neuen Stoff" liefern, um die mathematische Theorie des Unendlichen, deren Entwicklung in den Händen von Schultz lag ("Ihre Theorie"91), "mit dem, was die Kritik in dem Stücke von der Antinomie in Ansehung des Unendlichen im Räume sagt, in Übereinstimmung zu bringen" (AA XI S. 184). Diese Ubereinstiiimung, wäre sie ausgeführt, könnte sich als Beitrag zur Grundlegungsproblematik der Infinitesimalrechnung auf der Grundlage der Kr.d.r.V. angesehen werden. Im folgenden soll rekapituliert werden, inwieweit Ausarbeitungen von Kant dazu überliefert sind. In dem Brief an Schultz notiert Kant, daß der erwähnte "neue Stoff" auf einem "beiliegenden Blatt b" dargeboten ist. Es stellt sich die Frage: Wie ist dieses "Blatt b" überliefert worden? Sechs Folioseiten, die den " 2 Blättern" entsprechen, von denen Kant am Anfang des Briefes vom 2.8.1790 spricht, sind in der Ausgabe von Buchenau, Cassirer, Kellermann originalgetreu abgedruckt. Die ersten vier Folioseiten entsprechen einem Foliobogen mit vier Seiten Kantischer Handschrift, die letzten zwei Folioseiten einem Halbbogen mit zwei Seiten Kantischer Handschrift. Die Referenz Kants (" 2 Blätter") im Brief vom 2.8.1790 auf diesen Foliobogen und diesen Halbbogen zu beziehen, ist auch 91
Vgl. Brief 18419).
von Kant
an
Schultz
vom
2.8.1790
(AA XI
"Prüfung" der Kr.d.r.V. duren Schultz
191
inhaltlich gerechtfertigt 92 . Keiner der beiden Blätter trägt eine Kantische Kennzeichnung "b". Weiterhin gilt, daß der Text der sechs Folioseiten, mit Ausnahme der zwei darin durchstrichenen längeren Passagen 9 ^, relativ vollständig, was den Wortlaut betrifft, in die Schultzsche Rezension aufgenommen wurde. Resümierend läßt sich festhalten, daß das "Blatt b" keinen Teil der Menge der sechs Folioseiten des "Rostocker Kantnachlaß" ausmacht. Dieses ist zunächst ein negatives Ergebnis. Es stellt sich die Frage: Worin ist der Text von "Blatt b" dann zu suchen bzw. wo sind Hinweise auf diesen Text zu finden? 2.2.2 Der Zweite Teil Johann Schultz
der
"Prüfung"
der
Kr.d.r.V.
durch
Der erste Teil der "Prüfung der Kantischen Kritik der reinen Vernunft" wurde von Schultz 1789 veröffentlicht. Dieser Teil fand bei Anhängern und Kontrahenten der Transzendentalphilosophie große Beachtung, was Schultz auch in der Vorrede zum zweiten Teil vermerkt: "Die günstige Aufnahme, welche der erste Teil meiner Prüfung so wohl bei den Gegnern als Frevinden der Kantisehen Kritik gefunden, ist mir ein angenehmer Beweis, daß mein Unternehmen nicht überflüssig ist ..." (Prüfung 2 S. III) 94 . Auf diesen zweiten Teil, der sich im Jahre 1790 noch im Stadium der Ausarbeitung befand, zielte Kant ab, als er im Brief vom 2.8.1790 mit dem beiliegenden "Blatt b" Schultz "neuen Stoff" anbot: "Sie könnten in dem von Ihnen jetzt bearbeiteten Stücke Ihrer Prüfung etc. sich darüber 9 ^ ausführlich erklären und 92 93 94 95
Vgl. AA XX S.484. Die sechs Folioseiten wurden transkribiert und auf S.410 - 423 von AA XX abgedruckt. Vgl. AA XX S.414 (bzw. S.418) Fußnote zu Zeile 6 (bzw. Zeile 2). Johann Schultz: "Prüfving der Kantischen Kritik der reinen Vernunft", zweiter Teil, Königsberg, 1792 (=: Prüfung 2). Ganeint ist Schultzens "Theorie des Unendlichen", vgl. AA XI S.184.
192
Qualität und Quantität
rechtfertigen; zu welchem Behuf ich glaube, daß beiliegendes Blatt b, wie ich mir schmeichle, einigen neuen Stoff darbieten möchte..." (AA XI, S. 184). Den Brief erhielt Schultz, während er sich in der Phase der Abfassung der Rezension über Eberhards Magazin befand. In der Vorrede zum zweiten Teil der "Prüfung ..." erwähnt er, daß die Auseinandersetzung mit den Positionen jenes Magazins die Veröffentlichung verzögert hat: "Unvorhergesehene Hindernisse von mancherlei Art haben die frühere Erscheinung dieses zweiten Teils unmöglich gemacht, und die nötige Beantwortung so vieler mittlerweile, besonders im Eberhardschen Magazin, sowohl wider die Kritik 9 6 , als wider meine Prüfung selbst, gemachter Einwürfe hat es mir nicht verstattet, so weit fortzurücken, als ich es mir vorgenonmen hatte" (Prüfung 2, S. IV). Ursprünglich wollte Schultz dieses Werk in aller Kürze abfassen, aber als ihm "fast jeder Fußtritt streitig gemacht war" 9 ?, was sich auch aus Kants Briefbemerkung über Kästners Anspielung ablesen läßt, sah er sich gezwungen, "die Sache von Grund aus ins Licht zu setzen" (Prüfung 2,S. IV). Die Funktion des zweiten Teils seiner "Prüfung ..." bestand nicht nur in der defensiven Zurückweisung der im "Philosophischen Magazin" artikulierten Einwände gegen die kritische Philosophie, sondern hatte auch weitergehende Absichten: Eberhard hatte mit Kästner und Klügel für jenes Magazin für die damaligen Verhältnisse der Mathematik in Deutschland herausragende Mathematiker gewonnen. (Das Prädikat "herausragend" gilt nur in Relation zu damaligen Mathematikern in Deutschland, es könnte nicht aufrechterhalten werden, wenn man die genannten Mathematiker z.B. mit dem 1783 verstorbenen Euler vergliche). Eberhards Positionen wurden durch die Artikel der Mathematiker im "Philosophischen Magazin" gestärkt. Desto wichtiger war für die Positionen der kritischen Philosophie, daß sich mit Johann
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Schultz meint hier Kants "Kritik der reinen Vernunft". Prüfm g 2, S.IV.
"Prüfung" der Kr.d.r.V. durch Schultz
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Schultz ein M a t h e m a t i k e r 9 8 fand, der aufbauend auf die Kritik der reinen Vernunft Erläuterungen zur Grundlegung der Mathematik geben wollte: "Besonders aber sähe ich deutlich, wie der größte Teil der Zweifel und Mißverständnisse bloß von Verkennung der wahren Natur der Mathematik herrührt, und daß ich also,wofern jene völlig gehoben werden sollen, die im ersten Teile angefangenen Untersuchungen über die Natur der Mathematik erst notwendig außer allen Zweifel stellen nußte, u m so mehr, da dieses Feld gerade dasjenige ist, das von den Verteidigern der Kritik bisher noch ganz unbearbeitet gelassen ist" (Prüfung 2, S. IV-V). Schultz erkannte also die Problematik für die kritische Philosophie: Daß diese die Mathematik nicht nur als Beispiel eines Erkenntnis, das synthetische Sätze a priori umfasst und daher unter anderem "den sicheren Weg einer Wissenschaft"99 geht, angeben kann, sondern auf der Grundlage der Kr.d.r.V. eine wissenschaftstheoretische Erörterung leisten nuß. Bei dieser Untersuchung der "wanren Natur der Mathematik" liefert Schultz eben Beiträge zur Philosophie der Mathematik. Er vollzieht damit "ein schweres Geschäft", wie Kant dazu in der transzendentalen Methodenlehre bemerkt100, wenn die "Prüfung ..." Aussagen zur Philosophie der Mathematik machen will: "Vielleicht darf ich mir also schmeicheln, daß auch diese neuen Bruchstücke zur Philosophie der Mathematik meinen Lesern nicht unwillkommen sein werden, da die im ersten
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Schultz folgt 1786 auf Bucks Lehrstuhl für Mathematik und bekommt am 15.2.1787 offiziell das Ordinariat verliehen. In der Zwischenzeit disputiert er über das Thema "De geometria accustica nec non de ratinone 0:0 seu basi calculi differential is". Vgl. "Allgemeine Deutsche Biographie", Band 32, Leipzig 1891. 99 Vgl. Β X - XI. 100 Uber die "Meister" der "Kunst" im Ungang "mit diskursiven Begriffen" der "reinen Philosophie" ist ausgeführt: "Denn da sie kaum jemals über ihre Mathematik philosophiert haben, (ein schweres Geschäfte!) so kaimt ihnen der spezifische Unterschied des einen Vernunftgebrauche von dem andern gar nicht in Sinn und Gedanken" (B 753).
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Qualität und Quantität
TeilelOl gelieferten mit so vielem Beifall aufgenonmèn werden" (Prüfung 2 S. V). Der zweite Teil der "Prüfung der Kantischen Kritik der reinen Vernunft" imfaßt drei Abschnitte, wobei nur die ersten beiden Abschnitte Ausführungen zum Begriff der Unendlichkeit umfassen: Erster Abschnitt: Bestätigung, daß die Vorstellungen von Kaum und Zeit nicht allgemeine Begriffe, sondern Anschauungen sind. (Paragraphen 1 - 19). Zweiter Abschnitt: Bestätigung, daß die Vorstellungen von Raum und Zeit Anschauungen a priori sind. (Paragraphen 20 90). Dritter Abschnitt: Hauptresultate der bisherigen Prüfung für die Theorie der Sinnlichkeit. (Paragraphen 9 - 103). In hauptsächlich zwei Textteilen wird auf den Begriff der Unendlichkeit eingegangen. Der erste Teil behandelt die Stetigkeit und die unendliche Teilbarkeit des Raumes, die in den Paragraphen 9 - 1 2 des ersten Abschnitts ausgeführt sind lind auf die Schultz seinen vierten Beweis, daß die Vorstellung vom Raum Anschauung a priori sei, gründet!02. Der zweite Teil betrifft die Einzelnheit und Unendlichkeit des Raumes, die das Argument des dritten Schultzschen Beweises ist, daß die Vorstellung des Raumes a priori seil03. Bei dem Problem der Teilung eines gegebenen Ganzen sind Bemerkungen zu beachten, die Kant im Zusammenhang mit den Ausführungen zur "Auflösung der kosmologisehen Idee von der Totalität der Teilung eines gegebenen Ganzen in der Anschauung"104 macht: "Wenn ich ein Ganzes, das in der Anschauung gegeben ist, teile, so gehe ich von einem Bedingten zu den Bedingungen seiner Möglichkeit" (B 551). Die Teile eines Ganzen sind daher solche, die dann auch als
101 Schultz meint hier den ersten Teil seiner "Prüfung der Kantischen Kritik der reinen Vernunft", 1789. 102 Vgl. Prüfung 2, S.224. 103 Vgl. Prüfung 2, Paragraph 71ff. 104 Vgl. Β 551 - 557.
"Prüfung" der Kr.d.r.V. durch Schultz
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Gegenstände in einer Anschauung enthalten sind, und sie sind gleichzeitig Bedingungen der Möglichkeit des Ganzen, d.h. sie gehören zur Menge der Gründe des Ganzen. Im zweiten Bande des "Philosophischen Magazins" versucht sich Eberhard diesem Sachverhalt zu entziehen, indem er Teile eines Ganzen als Dinge, d.h. als Gegenstände, die in einer Anschauung enthalten sind und davon absieht, daß sie gleichzeitig zu den Gründen des Ganzen gehören. Dieses gestattet ihm, die folgende merkwürdige Montage vorzunehmen, daß er einerseits einsieht: "Es ist richtig, ein Kontinuum kann nicht aus einfachen Teilen bestehen" und daß er andererseits im gleichen Absatz behauptet: "Ich sage: ein stetiges Ding muß einfache Gründe haben, deren allgemeine Bestimmungen der Verstand erkennt" (Phil. Mag.2105> g. 5 2 ) . Der begrenzte Raum ist ins Unendliche teilbar ("Ein jeder in seinen Grenzen angeschauter Raum ist ein solches Ganzes, dessen Teile bei aller Dekcmpos i t ion inmer wiederum Räume sind, und ist daher ins Unendliche teilbar" (B 552)), für alle seine Teile, die die Bedingungen seiner Möglichkeit, seine "Gründe" also sind, gilt, daß sie wiederum teilbar sind. Sie können daher nicht einfach sein. Schultz ist auf die Merkwürdigkeit der Eberhardschen Montage eingegangen und charakterisiert im Kantischen Sinne zutreffend die Annahme eines kontinuierlichen Kompositum aus einfachen Dingen als einen Widerspruch:"Noch weniger läßt sich aus dem reinen Begriffe eines Zusanmengesetzen aus einfachen Dingen, Stetigkeit und Teilbarkeit ins Unendliche herleiten. Denn wenn ein Ding aus lauter einfachen Dingen zusanmengesetzt ist, so sind diese einfachen Dinge die Teile derselben. Allein da in einem Dinge, das ins Unendliche teilbar ist, vermöge der Definition desselben, jeder Teil wieder teilbar, mithin zusammengesetzt sein maß, so kann dasselbe keine einfachen Teile enthalten. Also ist ein Zusammengesetztes aus einfachen Dingen, das ins Unendliche
105 "Philosophisches Magazin" (Hrsg. J. A. Eberhard), Zweiter Band, Halle, 1790 (=: Phil.Mag.2).
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Qualität und Quantität
teilbar wäre, ein gerader Widerspruch; mithin ist ersteres bloß, als ein Aggregat, oder als eine Zahl von Dingen denkbar. Da nun eine Zahl von Dingen eine unstetige Größe ist, so ist auch ein Zusanmengesetztes aus einfachen Dingen, das stetig wäre, ein Widerspruch, wie Hr. Eberhard selbst g e s t e h t ! ^ da er wider die Behauptung, ein Kontinuum könne aus einfachen Teilen bestehen, feierlich protestiert" (Prüfung 2 S. 20-21). Diese Ausführung von Schultz zur Stetigkeit und unendlichen Teilbarkeit des Raumes richtet sich direkt gegen den Eberhardschen Begriff vom Räume: "Wir haben die Begriffe des Raumes und der Zeit nur inmer noch an und für sich selbst betrachtet; wir haben uns zu zeigen bemühet, daß sie, wie alle wahren Begriffe, sofern sie wahr sind, müssen objektive Gründe haben, daß, die Bilder oder sinnliche Vorstellungen von etwas Zusamnengesetztem, ihre letzten Gründe einfach Dinge sein müssen" (Phil.Mag. 2, S. 53). Eberhards Begriff vom Räume, der den Raum als Bild eines Zusammengesetzten betrachtet, das als letzte Gründe einfache Dinge hat, steht, wenn man der Schultzschen Argumentation folgt, in direktem Widerspruch zu der von Eberhard selbst konstatierten Eigenschaft der Stetigkeit des Raumes. Man würde "Prüfling ..." Absicht hätte, 179U 1 0 7 von
aber die Intention des zweiten Teils der von Schultz zu eng sehen, wenn sie nur die die Positionen, die trotz der Kant-Schrift von Eberhard im 2.Bande des "Philosophischen
106 Schultz bezieht sich auf folgende Passage von Eberhard, die der oben dargelegten Montage vorangestellt ist: "Wie kann ein Kontinuum aus einfachen Teilen bestehen? - Es ist das einzige in diesem Einwürfe, was einem Grunde ähnlich sieht. Es ist richtig, ein Kontinuum kann nicht aus einfachen Teilen bestehen" (Phil.Mag.2, S.52). 107 "über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll" (AA Vili S.185 - 252). Kant kritisiert darin die Eberhardschen Ausführungen aus dem ersten Bande des "Philosophischen Magazins", die Eberhard auch im zweiten Bande, insbesondere auch für den Begriff vom Räume aufrecht erhält (vgl. Phi 1.Mag.1, S.169 172, Phil.Mag.2, S.53).
"Prüfung" der Kr.d.r.V. duren Schultz
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Magazins" weiterhin behauptet werden, einer öffentlichen Kritik zu unterziehen. Schultz selber geht es darum, auf der Grundlage seiner mathematischen Kenntnis zu den Begriffen der philosophischen Grundlegung der Mathematik als Anhänger der Kr.d.r.V. Bestürmungen vorzutragen, die insbesondere gegen die in den Eberhard-Artikeln sich findende "Verkennung der wahren Natur der Mathematik" 108 gerichtet sind. Deshalb wendet sich Schultz auch den Begriffen der Stetigkeit und Unendlichkeit zu und erarbeitet Bestimmungen, die mit denen aus der "Theorie des Unendlichen" übereinstimmen. Bezogen auf Gegenstände, die in einer Anschauung gegeben sind, wird der Begriff der stetigen Verknüpfung von Teilen erläutert: "Eine stetige Verknüpfung aber ist in einem Dinge nur dann, wenn zwischen jeden zwei willkürlich in ihm gedachten Grenzen inmer ein Teil von ihm gedacht werden muß" (Prüfung 2, S. 22). Die Eigenschaft der stetigen Verknüpfung von Teilen in einem Gegenstand, der in einer Anschauung gegeben ist, fußt auf nichts anderem als dem Konzept der quanta continua, das Merkmal für Raum und Zeit ist: "Kaum und Zeit sind quanta continua, weil kein Teil derselben gegeben werden kann, ohne ihn zwischen Grenzen (Punkten und Augenblicken) einzuschließen, mithin nur so, daß dieser Teil selbst wiederum ein Raum, oder eine Zeit ist" (B 211). Das, was für Raum- und Zeitteile gilt, nämlich, daß sie selber wieder Räume und Zeiten sind, wird hier für Teile von Gegenständen, die in einer Anschauung gegeben sind, formuliert. Die Kantische Bestimmung der kontinuierlichen Größe 1 0 9 findet sich in der Schul tzschen Definition des Begriffs der Stetigkeit 110 einer Linie wieder: "So heißt eine Linie
108 Vgl. Prüfung 2, S.IV - V. 109 "Die Eigenschaft der Größen, nach welcher an ihnen kein Teil der kleinstmögliche (kein Teil einfach) ist, heißt die Kontinuität derselben" (B 211). 110 Hier soll die mathematische Problematik dieser Definition von Schultz nicht weiter vertieft werden. Anzumerken ist
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stetig, wenn es zwischen jeden zwei Punkten noch ininer eine Linie gibt, und mithin keine zwei nächsten Punkte in ihr möglich sind" (Prüfung 2, S. 25). Entsprechende Definitionen werden für die Stetigkeit von Flächen und Körpern gegeben. Diese Stetigkeitseigenschaft ist nach der Ansicht von Schultz nicht beweisbar, sie kommt a priori dem Raum als Axiom zu: "Diese Qualität ist eine Sache, von der wir gar nichts wissen könnten, wenn sie uns nicht unmittelbar in der anschaulichen Vorstellung, die wir vom Kaum haben, a priori als Axiom gegeben wäre" (Prüfung 2, S. 25-26). Daraus, daß die Stetigkeit dem Kaum als Axiom zukaimt, schließt Schultz, daß der Raum eine Anschauung a priori i s t l H . Die Stetigkeit wird, wie aus obiger Stelle
nur, daß das angesprochene Merkmal der durchgezogenen Linie hinreichend ist. Mit Beispielen von reellwertigen Funktionen, die auf einem Intervall stetig aber nirgends differenzierbar sind, sind durch deren Graphen "stetige Linien" gegeben, für deren Graphenpunkte nicht ohne weiteres erkennbar ist, ob sie mittels einer durchgezogenen Linie verbindbar sind. Das ausgeführte Merkmal der Schultzschen Definition entspricht mehr den modernen topologischen Begriffen zusanmenhängender Mengen (M heißt zusanrnenhängend es gibt keine Teilmengen A,Bs M mit Α η Β = 0 , so daß M = A U Β ist). Ill Dieses ist der vierte von fünf Beweisen, die Schultz für den Raum als Anschauung a priori gibt: "Den vierten Beweis, daß die Vorstellung van Raum Anschauung a priori sei, gründete ich ... auf die Stetigkeit und unendliche Teilbarkeit desselben" (Prüfung 2, S.224). Schultz bezieht sich hier auf eine Argumentation, die er bereits im ersten Teil der "Prüfung ..." entwickelt hatte. Er gibt im vorliegenden zweiten Teil eine Zusammenfassung davon: "Die Schwierigkeit, welche die Stetigkeit des Raumes nicht nur dem Verstände, sondern selbst der Einbildungskraft macht, liegen vielmehr im Begriff der Stetigkeit selbst, und sind die, die ich im ersten Teil meiner Prüfung (S.lll - 112) angemerkt habe, z.B. daß, wegen der aus der Stetigkeit folgende Teilbarkeit ins Unendliche, der Raum ein Zusanmengesetztes ist, das keine einfachen Teile hat, und daher in einer endlichen Linie eine unendliche Menge von Teilen möglich ist, ohne daß
"Prüfung" der Kr.d.r.V. durch Schultz
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hervorgeht, als eine Qualität angesehen. Diese Betrachtving befindet sich in Übereinst imnung mit der Kr.d.r.V., die die Kontinuität als die einzige Qualität, die a priori an allen Größen abgelesen werden kann, k e n n z e i c h n e t e ! ^ . Im Zusanmenhang mit der Stetigkeit wird die unendliche Teilbarkeit des Raumes thematisiert. Zum Begriff einer unendlichen Menge ist ausgeführt: "Eine Menge heißt unendlich, wenn sie niemals als vollendet gedacht werden kann, folglich kann ein Ganzes, das aus einer unendlichen Menge von Teilen besteht, niemals vollendet, d.i. nicht ein endliches Ding sein" (Prüfung 2, S.27). Nun gelangt Schultz zur Kernstelle der Argumentation der unendlichen Teilbarkeit des Raumes, indem er über die Bestimmung, daß der Raum ins Unendliche teilbar sei, aber nicht aus unendlich vielen Teilen besteht, hinausgeht und zwischen der wirklichen Teiliang, die der Geometer faktisch vollzieht, und der möglichen Teilbarkeit ins Unendliche, die dem Geometer zur Verfügung steht, differenziert. Die Kernstelle wird ausführlich genannt, weil sie in einem inneren Zusanmenhang zu "Blatt b" steht, was im weiteren noch aufgewiesen wird: "Wenn daher der philosophische G e o m e t e r U S n i C h t einen offenbaren Widerspruch behaupten will, so muß er entweder die Stetigkeit und unendliche Teilbarkeit des Raumes geradezu leugnen, oder gestehen, daß der Raum kein Verstandesbegriff, noch etwas, das den Dingen auch außerhalb unserer sinnlichen Vorstellving an sich zukäme, sondern eine mittelbare Vorstellung in uns, d.i. eine
sie gleichwohl ein Aggregat von unendlich vielen Teilen sein kann, weil dieses ein Widerspruch wäre u.s.w. Hieraus Schloß ich eben, daß unsere Vorstellung vom Raum, da er ohne die Qualität der Stetigkeit schlechterdings nicht denkbar ist, weder ein Geschöpf der Phantasie, noch ein Produkt des Verstandes sein könne, folglich eine unmittelbare Vorstellung, d.i. eine Anschauung a priori sein müsse" (Prüfung 2, S.26 - 27). 112 Vgl. Β 218. 113 Hervorhebung G.B.
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Anschauung ist". Würde man das erste, insbesondere die Stetigkeit ableugnen, so niißte man, folgert Schultz, auch ablehnen, daß zwischen zwei Punkten eine gerade Linie möglich ist, dieses hieße dann, "die ganze Geometrie wegphilosophieren". Daher ist der Raum als eine Anschauung anzusehen. Weil der Kaum kein allgemeiner Begriff von Dingen ist, wird er nicht als aus Teilen zusanmengesetztes, "sondern als ein einzelnes, individuelles Ding vorgestellt. An sich besteht er also gar nicht aus Teilen, sondern Teile entstehen in ihm nur, so fern wir ihn in Gedanken begrenzen, d.i. so fern wir Teile in ihm machen, mithin besteht er nur aus so viel Teilen, als wir durch wirkliche Begrenzung oder Teilung in ihm erzeugen. Nun ist der Kaum ins Unendliche teilbar, das heißt, wir können die Teilung in ihm so weit fortsetzen, und daher so viel Teile in ihm machen, als wir wollen. Da aber die Menge der Teile, die wir wirklich in ihm machen, jederzeit endlich ist, so betrachten wir ihn beständig nur als ein aus einer endlichen Menge von Teilen zusanmengesetztes Ding". Daher gilt: Aus der unendlichen Teilbarkeit des Raumes kann man nicht folgern, "daß er aus unendlich vielen Teilen bestehe, ... sondern, da seine Teile erst von uns gemacht werden müssen, ... daß er aus so viel Teilen bestehen könne, als wir in ihm machen wollen" (Prüfung 2, S.28 - 29). 2.2.3 Die Theorie des Unendlichen in der Antinomienlehre der Kr.d.r.V. In der Anmerkung zum Beweis der Thesis des ersten Widerstreits gibt Kant eine Exposition zum transzendentalen Begriff der Unendlichkeit: "Der wahre (transzendentale) Begriff der Unendlichkeit ist: Daß die sukzessive Synthesis der Einheit in Durchmessung eines Quantums niemals vollendet sein kann" (B 460). Eine Größe würde daher im transzendentalen Sinne unendlich sein, wenn sie nicht durch fortgesetzte Hinzufügung einer Einheit vollständig zusammengesetzt werden kann. Beispiel einer unendlichen Größe
Tneorie des Unendlichen in der Antinomienlehre
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ist der Raum als Form der A n s c h a u u n g ! d e r nicht durch Einheiten (räumliche Objekte endlichen Volumens) sukzessiv überdeckt werden kann. Ist insbesondere die Einheit eines Quantums und das Quantun selber in einer reinen Anschauung gegeben, so läßt sich die sukzessive Synthesis der Überdeckung schrittweise konstruieren und die Zahl der dabei zugefügten Einheiten angeben. Ein Quantum mit einer in einer Anschauung gegebenen Einheit, das sich nicht als endliche Vereinigung von Exemplaren der gegebenen Einheit konstruieren läßt, würde unter den mathematischen Begriff des Unendlichen fallen. Über ein solches Quantum ist ausgeführt: "Dieses enthält dadurch eine Menge (von gegebener Einheit), die größer ist als alle Zahl, welches der mathematische Begriff des Unendlichen ist" (B 460, Arm.). Für Quanta mit gegebenen Einheiten ist also der mathematische Begriff des Unendlichen zutreffend, wenn der transzendentale Unendlichkeitsbegriff zutrifft. Ungekehrt gilt für alle Quanta, die mathematisch unendlich sind, daß für sie das Verfahren der Darstellung durch sukzessive Vereinigung von Einheiten nicht abbricht, d.h. nicht vollendet wird. Daraus folgt, daß für Quanta mit einer in einer Anschauung gegebenen Einheit gilt, daß der mathematische und der transzendentale Begriff des Unendlichen übere ins t immen. In der Kantischen Vorlage der Rezension von Eberhards Magazin durch Schultz ist im Zusammenhang der Darlegung des Unterschiedes der Raumesvorstel lung von Geometrie und Metaphysik der Begriff des mathematisch Unendlichen folgendermaßen definiert: "Nun kann man eine Größe, in Vergleichung mit der jede anzugebende gleichartige nur einem Teile derselben gleich ist, nicht anders als u n e n d l i c h benennen" (AA XX 41911). U n einen Vergleich zwischen einem Quantum und einem Teile desselben auszuführen, bedarf es der Konstruktion in reiner Anschauung, um relativ zur gegebenen Einheit abzuschätzen, wie groß der Unterschied zwischen dem
114 Vgl. Β 39 - 40.
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Qualität und Quantität
Quantum und seinem Teil ist. Im obigen bedeutet "anzugebende Größe", daß die Vielheit, mit der die Einheit diese Größe ausmißt, als Zahl bestirmibar ist. Diese Definition des mathematisch Unendlichen macht für das Quantum lind die gegebene Einheit die Gleichartigkeit zur Bedingung, welche in dem Wortlaut der Definition aus dem ersten Widerstreit der Antinomienlehre nicht explizit gefordert wurde. Erst in der "Schlußanmerkung zur Auflösung der mathematisch-transzendentalen ... Ideen" unterzieht Kant das Problem der Gleichartigkeit hinsichtlich der Reihen von Bedingten und Bedingungen einer differenzierenden Betrachtung: Während in der Darlegung der Antinomie "alle dialektischen Vorstellungen der Totalität, in der Reihe der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten, durch und durch von gleicher A r t " warenH^ konstatiert Kant für das Folgende: "Wir haben aber hierbei einen wesentlichen Unterschied übersehen, der unter den Objekten, d.i. den Verstandesbegriffen herrscht, welche die Vernunft zu Ideen zu erheben trachtet, da nämlich, nach unserer obigen Tafel der Kategorien zwei derselben m a t h e m a t i s c h e , die zwei übrigen aber eine d y n a m i s c h e Synthesis der Erscheinungen bedeuten" (B 557). Obwohl die Reihen der Bedingungen hinsichtlich ihrer Ausdehnung gleichartig sind, sind sie in bezug auf die ihren Ideen zugrunde liegenden Verstandesbegriffe verschieden: Die mathematischen Kategorien umfassen eine Synthesis des Gleichartigen, während die dynamischen Kategorien auch die Synthesis des Ungleichartigen bestinmen können. Im Unterschied zur nachträglichen Hervorhebung des Problems des Gleichartigen in der Antinomienlehre wird in der Rezensionsvorlage für die Definition des mathematisch Unendlichen das Kriterium der Gleichartigkeit des unendlichen Quant uns und der zugehörigen Einheit verlangt. Diese Hervorhebung kann ihre Ursache darin haben, daß Kant im Fortgang der Argumentation innerhalb der Rezensionsvorlage 115 Β 556.
Theorie des Unendlichen in der Antincmienlehre
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den Unterschied zwischen der Verlängerung einer Linie ins Unendliche und der nicht abbrechenden Addition von Einheiten zu einer festen Zahl herausarbeiten will: "So bedeutet das nicht (die Verlängerung einer Linie ins Unendliche, G.B.), was in der Arithmetik von der Zahl gesagt wird, daß man sie durch Hinzusetzung anderer Einheiten oder Zahlen immer und ohne Ende vergrößern könne (denn die hinzugesetzten Zahlen und Größen, die dadurch ausgedrückt werden, sind für sich möglich, ohne daß sie mit dem vorigen als Teile zu einer Größe gehören dürfen), sondern eine Linie kann ins Unendliche fortgezogen werden, heißt soviel als: Der Kaum, in welchem ich die Linie beschreibe, ist größer als jede Linie, die ich in ihm beschreiben mag" (AA XX 42002). Die sukzessive Synthesis, die einmal als der Fortgang einer Linie ins Unendliche und das andere Mal als nicht aufhörende Addition von Einheiten beschrieben wird, kann sich auf verschiedene Arten von Größen beziehen: Im Fall des Fortgangs der Linie geht es un ein quant im continuum, im Fall der Addition von Einheiten um quanta discreta!!®. Die Zusammensetzung dieser Größen ist dann auch jeweils eine verschiedene: Während die diskreten Größen unabhängig für sich bestehen können, sind die Ausgangslinie und die Stücke ihrer Verlängerung nur Teile der Punktmenge, die die Lösungsgesamtheit des Bildungsgesetzes der Linie darstellt. Das heißt: Diese Teile haben für sich keinen voneinander unabhängigen Bestand, sondern lassen sich nur als Beschränkung der durch das Bildungsgesetz gegebenen Linie ansehen. Entgegen der bloß euklidischen Raumvorstellung Kästners, die nicht nach den Bedingungen der Möglichkeit von Geometrie überhaupt fragt, folgert Kant aus dem Verhältnis, daß die Fortsetzung einer Linie einen Kaum erfordert, der größer ist "als eine jede Linie, die ich in ihm beschreiben mag" (AA XX 42009), daß der Raum als Form der Anschauung zur Bedingung der Möglichkeit von Geometrie gehört: "Und so gründet der
116 Zur Ungleichartigkeit von quanta continua discreta vgl. Β 211 - 212, Β 554 - 556.
und
quanta
204
Qualität und Quantität
Geometer die Möglichkeit seiner Aufgabe, einen Kaum (deren es viel gibt) ins Unendliche zu vergrößern, auf der ursprünglichen Vorstellung eines einigen unendlichen, subjektiv g e g e b e n e n Raumes" (AA XX 42010). Diese Unterscheidung zwischen dem Kaum als Form der Anschauung und den vielen Räumen, deren Fortgang ins Unendliche die Geometer untersuchen, ist die Veranlassung, den von Kästner nach Raphsonll? zitierten Unterschied zwischen der potentiellen und der a k t u e l l e n U S Unendlichkeit zu kommentieren: Während der Mathematiker es nur mit dem potentiell Unendlichen zu tun hat, gehört die "metaphysisch gegebene" aktuelle Unendlichkeit zur Bedingung der Möglichkeit geometrischer Konstruktionen und ist auf der Seite des erkennenden Subjekts anzusiedeln!^, in diesem Sinne stimmt der von Raphson gemachte Unterschied vom infinito potential i zu dem actu infinitum mit der Position der Kr.d.r.V. überein. Auch Schultz geht im zweiten Teil seiner "Prüfung der Kritik der reinen Vernunft" auf die Frage der Fortsetzung einer Linie ins Unendliche ein. Dieses geschieht innerhalb des Abschnitts der Behandlung der Einzelnheit und
117 Joseph Raphson: "Analysis aequationum universalis", zweite Ausgabe, London, 1696. Kästner (a.a.O. S.418 (vgl. Arm. 84) zitiert Raphson. 118 Beim Zitieren betont Kästner den von Raphson herausgestellten Unterschied zwischen dem "infinito potentiali", wie es nach Kästner in der Mathematik bei Reihen, Asymptoten etc. vorkamt, und dem "actu infini tum", der nach Kästners Meinung ein unvollständiger Begriff ist. Über diesen Begriff der Unendlichkeit führt Raphson aus: "Hujus modi infinitum non da tur a parte rei, sed tantvm a parte cogitandis ..." (zit. n. Kästner, a.a.O. S.418). An diese Bestirmnung von Raphson knüpft Kant im Text der Rezens i onsvor läge an. Er hebt heraus: "Und actu infinitum (das Metaphysisch - Gegebene) non datur a parte rei, sed a parte cogitandis, welche letztere Vorstellungsart ... denen ins Unendliche fortgehenden Konstruktionen der geometrischen Begriffe zum Grunde liegt" (AA XX 42107). 119 Vgl. AA XX 42104-11.
Theorie des Unendlichen in der Antinomienlehre
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Unendlichkeit des Raumes. Seiner Auffassung nach "ist es ein ganz unrichtiger Begriff, wenn man sich unter dem unendlichen Räume bloß einen Kaum von unbestimmter Größe denkt" (Prüfung 2, S. 191). Diese Betrachtung des Unendlichen liegt bei Kaphson vor, wenn er das potentielle Unendliche mit dan Attribut "infinitum interminabile" versieht. Hierin sieht Schultz die Vorstellung des Unendlichen als Endliches von unbestimmter Größe enthalten, wie sie die Mathematiker der Antike hattenl20# Nachdem Schultz, genauso wie Kant in der ltezensionsvorlage, die Synthesis der Fortsetzung einer Linie von der der Addition von Zahlen geschieden hat, spezialisiert er seine weiteren Darlegungen auf die Frage der Fortsetzung einer geraden Linie. Er bezieht sich auf das zweite Postulat Euklids: "Daß man eine begrenzte gerade Linie zusarrmenhängend gerade verlängern kann" (Euklid, Erstes Buch, S.2). Da die Möglichkeit begrenzter Räume schon die Unendlichkeit eines sie befassenden Raumes voraussetzt121, ist jede endliche Gerade "nur als ein Teil einer auf beiden Seiten von ihr liegenden unendlich großen geraden Linie denkbar" (Prüfung 2 5.194). Die Voraussetzung der Unendlichkeit des Raumes ist daher unabdingbar für das zweite euklidische Postulat: "Und so ist offenbar, daß ohne die Voraussetzung der völligen Grenzenlosigkeit und Unendlichkeit des Raums das Postulat, jede gegebene gerade Linie zu jeder beliebigen endlichen Länge zu vergrößern, sich selbst widerspricht" (Prüfung 2 S.194f.). Schultz meinte, daß die Geometer des Altertums das potentielle Unendliche nicht einsehen konnten, "weil sie mit der Natur des Unendlichen zu wenig bekannt waren, und sich daher in Widersprüche zu verwickeln glaubten" (Prüfung 2 5.195). Die Fortsetzung einer Linie ins Unendliche ist ein wichtiges Beispiel der Antincmienlehre, um Fortgänge einer
120 Vgl. Prüfung 2, S.191. 121 Vgl. Β 39: Drittes Argument der metaphysischen Erörterung des Begriffes vom Räume. Siehe auch: Prüfung 2, S.189.
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Qualität und Quantität
Reine, wie sie an einer Keine von Bedingungen auftreten, darstellen zu können. Bevor die Aspekte dieser Darstellung betrachtet werden, sei noch auf eine terminologische Differenz hingewiesen: Die Kr.d.r.V. unterscheidet namentlich nur die kosmologischen Ideen als mathematisch beziehungsweise dynamisch hinsichtlich der ihnen zugrunde liegenden reinen Verstandesbegriffe. Die Prolegomena sprechen unmittelbar von der Klasse der mathematischen bzw. dynamischen Antinomien und machen diese Einteilung direkt an den verschiedenen Arten des Widerstreits festl22. Die Ant inameni ehre untersucht die Ideen, die sich auf Kategorien beziehen, deren Synthesis eine Reihe a u s m a c h t l 2 3 . Hinsichtlich der Verlaufsrichtung einer Reihe von Bedingungen in bezug auf eine gegebene Erscheinung wird bei einem Verlauf in antecedentia von regressiver und bei einem Verlauf in consequentia von progressiver Synthesis g e s p r o c h e n l 2 4 Fur die Auflösung des Widerspruchs der reinen Vernunft ist es relevant, die Regeln anzugeben, " w i e d e r empirische Regressus anzustellen sei, um zu dem vollständigen Begriffe des Objekts zu gelangen" (B 538). Zu dieser Absicht ist es nötig, "die Synthesis einer Reihe, sofern sie niemals vollständig ist, genau zu bestimmen" (B 538). An Hand des Beispiels der Verlängerung einer Geraden ins Unendliche werden die Termini "in indefinitum" und "in infinitum" gegeneinander abgegrenzt: Lautet die Aufgabe: Ziehet die Linie fort, "so weit ihr wollet", so stellt die Ausführung einen progressus indefinitum dar, während die Aufforderung, "ihr sollt niemals aufhören, sie zu verlängern", einen progressus in infini tun angibt, der im Fall der Verlängerung einer Linie nicht intendiert istl25. #
In den Prolegomena wird an genau einer Stelle die Verlängerung einer Linie in indefinitum angesprochen: "Daß>
122 123 124 125
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
AA IV S.341+343. Β 436. Β 438. Β 539 - 540.
Theorie des Unendlichen in der Antinomienlehre
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man verlangen kann, eine Linie solle ins Unendliche gezogen (in indéfini tun), oder einer Reihe Veränderungen (z.B. durch Bewegung zurückgelegter Räume) solle ins Unendliche fortgesetzt werden, setzt doch eine Vorstellung des Ravîmes und der Zeit voraus, die bloß an der Anschauung hängen kann, nämlich sofern sie an sich durch nichts begrenzt ist; denn aus Begriffen könnte sie nie geschlossen werden" (AA IV S.285). Mit der Fortsetzung einer Reihe ins Unendliche ist der progressus in indéfini tum angesprochen, der, wie im Folgenden noch gezeigt wird, zum Stoff der Antinomienlehre gehört. Interessant ist hier der Bezug zur Bewegungslehre, der in der Antinailienlehre der Kr.d.r.V. an der betreffenden Stelle nicht hergestellt wird. In den Prolegomena wird der Unterschied eines Fortgangs in indéfini tum und in infinitum nicht aufgeworfen. Kant weist darauf hin, daß in Anbetracht des Verlaufs einer geraden Linie es eine "leere Subtilität" ist 12 ®, zwischen einem progressus in indéfini tum und einem in infinitum zu unterscheiden. Weiterhin gilt für den Verlauf einer Geraden, daß eigentlich von der Linie her nicht unterschieden werden kann, ob es sich um einen Progressus oder einen Regressus handelt, denn die Gerade ist Teil des Raumes und für den Raum als Ganzes gilt: "Was aber den Raum betrifft, so ist in ihm an sich selbst kein Unterschied des Progressus vom Regressus, weil er ein A g g r e g r a t , aber keine Reihe ausmacht, indem seine Teile insgesamt zugleich sind" (B 439). Erst dann kann die Gerade als Modell eines Regressus oder Progressus angesehen werden, wenn sie mit einer Durchlaufrichtung versehen wird. Ist die Durchlaufrichtung relativ zur Zeitrichtung gleichsinnig orientiert, dann würde die Gerade einen Progressus, im Falle der gegensinnigen Orientierung einen Regressus repräsent ieren:
126 Vgl. Β 539.
Qualität lind Quantität
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Progressus Gerade :
>
Zeit:
>
Regressus < >
Bei einem Progressus in der Reihe der Erscheinungen handelt es sich um einen Fortgang von der Bedingung zum Bedingten: "Dieser mögliche Fortgang geht in der Reihe der Erscheinungen ins Unendliche" (B 539). Dieser Fortgang stellt die Ausführung eines progressus in indéfini tum dar, weil sich darin der Möglichkeitsaspekt findet: Verlängert die Reihe der Erscheinungen so weit ihr wollt! Die Vernunft fordert hier nicht die absolute Totalität der Reihe, das Bedingte wird nur als möglich vorhanden (dabile) verlangt!^. Verschieden davon ist die Sache eines Regressus in der Reihe der Erscheinungen, die vom Bedingten zu den Bedingungen aufsteigt. Je nachdem, was von der Reihe der Erscheinungen in einer empirischen Anschauung gegeben ist, d.h. wirklich ist, entscheidet sich, nach welcher Regel der Regressus fortgesetzt wi rdl28 : a) Ist ein Ganzes der Erscheinung in einer empirischen Anschauung gegeben, dann handelt es sich bei dem Regressus in der Reihe der inneren Bedingung des Gegebenen um einen Rückgang ins Unendliche (regressus in infinitum). Hierbei ist es möglich, ins Unendliche der Reihe der empirischen Bedingungen zurückzugehen. Ein Beispiel für einen solchen regressus in infinitum ist durch die Teilung eines beschränkten, physischen Körpers ins Unendliche gegeben. b) Ist nur ein Glied der Reihe gegeben, dann findet der Regressus nur als Rückgang in unbestiirmte Weite statt (regressus in indéfini tum). Hierbei ist es nur ins Unendliche möglich, noch zu höheren Bedingungen der Reihe fortzugehen.
127 Vgl. Β 540. 128 Vgl. Β 540 - 543.
Theorie des Unendlichen in der Antinomienlehre
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Ein Beispiel für einen regressus in indefinitum ist das Zurückgehen von einer Erscheinung zu ihren Bedingungen in aller vorangegangenen Zeit. Beide Typen des Regressus finden Anwendung in der Auflösung der mathematischen Antinomien. Die kosmologische Frage nach der Weltgröße hat zunächst eine negative Antwort: "Die Welt hat keinen ersten Anfang in der Zeit und keine äußerste Grenze dem Räume nach" (B 548). Die Herleitung dieser Antwort ergab sich aus der Betrachtung des zugehörigen R e g r e s s u s l 2 9 . y o n dem Weltganzen hat man nur einen Begriff, das Weltganze kann nicht in der Anschauung gegeben werden. Es sind nur Glieder der Reihe der Ersehe inungen in der empi ri sehen Anschauung vorhanden. Man hat es also mit einem regressus in indefini tun zu tun. In diesem Zusanmenhang macht Kant deutlich, daß der regressus in infini timi aufgrund stärkerer Voraussetzungen über die Reihe der Erscheinungen auch zu stärkeren Schlüssen über das in der empirischen Anschauung Gegebene als der regressus in indefinitum gelangt: Der regressus in indéfini tun bestinmt keine Größe im gegebenen Objekt der AnschauunglSO. Die positive Antwort auf die kosmologische Frage nach der Weltgröße kann darin gefunden werden, daß der Regressus ein Fortgang in indéfini tun istl^l. Der Vorteil dieser Antwort besteht darin, daß sie angesichts der Reihe der Bedingungen gebietet, von Erscheinung zu Erscheinung fortzugehen, auch wenn zum Zeitpunkt des Fortgangs an der betreffenden Stelle der Reihe eine wirkliche Wahrnehmung noch nicht vorhanden ist. Selbst die negative Antwort bietet eine vorteilhafte Konsequenz : Dadurch, daß es keine äußerste Grenze dem Räume nach gibt, ist alle Grenze des Ausgedehnten im R a u m e * ^ κ sowohl eine Bestätigung dafür ist, daß alle Begrenzung schon
129 130 131 132
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Β Β Β Β
547 - 548. 548. 550. 550.
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Qualität und Quantität
Anschauung, d.h. hier den Raum voraussetzt133> a j s a u C h ¿en Grund bietet, daß das Verhältnis der gegenseitigen Begrenzung von Ausgedehnten als Raumesgrößen geometrisierbar ist. Die kosmologische Frage nach der Totalität der Teilung eines gegebenen Ganzen in der Anschauung findet ihre positive Antwort darin, daß die fortgesetzte Teilung der Teile des Ganzen einen regressus in infinitum ausmacht. Da aber nicht die ganze Teilung in der Anschauung des Ganzen enthalten ist, kann man nicht sagen, das Ganze "bestehe aus unendlich viel Teilen" (B 552). Für beschränkte, physische Körper gilt daher, daß sie ins Unendliche teilbar sind, aber nicht aus unendlich vielen Teilkörpern b e s t e h e n ! 3 4 , p Q r Haum wird gefolgert: "Ein jeder in seinen Grenzen angeschaute Raum ist ein solches Ganzes, dessen Teile bei aller Dekomposition inmer wiederum Räume sind, und ist daher ins Unendliche teilbar" (B 552). Im Unterschied zu dan beschränkten, physischen Körper wird für den begrenzten Raum in der Antinomienlehre nicht darauf hingewiesen, daß der Raum nicht aus unendlich vielen Räumen besteht. Abschließend sind noch einige Bemerkungen zur Teilung eines gegebenen Ganzen ins Unendliche zu machen: Der Fortgang der Teilung wird als kontinuierlicher Prozeß verstanden: Er betrifft die Erscheinungen nur als quanta continua. Auf Erscheinungen als diskrete Größen kann der Regressus nicht angewandt w e r d e n ^ . die Teilung eines in einer w e jt empirischen Anschauung gegebenen Ganzen reicht, wird nicht aus Erfahrung entschieden, sondern ist ein Prinzip der Vernunft, das besagt, den Regressus der Teilung "niemals für schlechthin vollendet zu halten" (B 555).
133 Vgl. Β 211. 134 Vgl. Β 553. 135 Vgl. Β 551, 554 - 555.
Der "neue Stoff" der Hieorie des Unendlichen
211
2.2.4. Der 'heue Stoff' der Theorie des Unendlichen Der "neue Stoff", den Kant mit dem "beiliegenden Blatt b" am 2.8.1790 an Schultz sandte, hatte die Intention, die mathematische Theorie des Unendlichen "mit dam, was die Kritik in dem Stücke von der Antinomie in Ansehung des Unendlichen im Räume sagt, in Ubereinstinniung zu bringen" (AA XI S.184). Kant bezieht sich weiter vorne im gleichen Brief auf die Veröffentlichung zur Theorie des Unendlichen aus den Jahre 1788, um Schultz den Tip zu geben: "Zugleich nehme mir die Freiheit unmaßgeblich anzuraten, auf die Stellen, da Kaestner auf Ihre Theorie des Unendlichen anzuspielen scheint, in dieser Rezension nicht Rücksicht zu nehmen, im den Verfasser dadurch nicht zu entdecken" (AA XI S.184). Von der Sache her ging es Kant darum, "neuen Stoff" zu liefern, um die transzendentalphilosophische Iheorie des Unendlichen mit der mathematischen Theorie des Unendlichen, die Schultz f'/88 veröffentlicht hatte, in Ubereinstiimiung zu bringen. Diese Übereinstimmung wäre ein Beitrag zur transzendentalphilosophischen Grundlegung der Mathematik. Der "neue Stoff" sollte in den zweiten Teil der "Prüfung der Kritik der reinen Vernunft" von Schultz eingehen. Wie der Vergleich der sechs Folioseiten der Kant - Originalhandschrift und der Schultzrezension, die die Akademieausgabe synoptisch abdruckt, z e i g t * ^ nielt sich Schultz eng in der wörtlichen Wiedergabe an die Kantische Vorlage. Kant lobt Schultz auch für diese Bearbeitungsleistung in seinem Brief vom 15.8.1790: "Für Ihre gütige Bemühung, was meine kleine mitgeteilte Anmerkungen betrifft, und deren geschickte Benützung, sage den ergebensten Dank..." (AA XI S.200). Im gleichen Brief drückt Kant seine Erwartungshaltung hinsichtlich einer weiteren "beschwerlichen" Arbeit von Schultz aus, von der Kant hofft, daß sie nach einem Jahr erscheinen wird: "... Gratuliere ... zur glücklichen und meisterhaften Vollendung einer höchst beschwerlichen 136 Vgl. AA XX S.410 - 423.
212 Arbeit^ 7 ,
Qualität und Quantität ¿βΓ
es
n o ch
ein Trost ist, daß e i n e
ihr
ä h n l i c h e nur allenfalls über ein Janr wiederum veranlaßt werden dürfte" ( M XI S.200)138. Kant konnte nun nach der durch Schultz erstellten Eberhard - Rezension darauf rechnen, daß in dem zweiten Teil der "Prüfung" die Beilage, die den "neuen Stoff" beinhaltete, mit gleichem Geschick eingearbeitet werden würde. "Blatt b" ist, meiner bisherigen Recherche zur Folge, inmer noch verschollen. Interessanterweise ist in der von mir verfolgten Literatur der Kant - Forschung auch kein Hinweis vorhanden, daß nach diesem Blatt gesucht worden ist. Die Akademieausgabe schweigt sich, wie alle anderen Herausgeber der sechs Folioseiten des Rostocker Nachlasses, darüber aus. Woraus lassen sich über den Brief Kants vom 2.8.1790 hinaus Hinweise auf den Inhalt von "Blatt b" ablesen? Die Akademieausgabe hat den Text der vierten Folioseite des Rostocker Nachlasses, die durchgestrichen ist, als einen längeren Fußnotentext abgedruckt (AA XX 41805-31), ohne zu kennzeichnen, daß es sich dabei um den kompletten Text der vierten Folioseite handelt. In der Akademieausgabe steht, daß ein längerer durchstrichener Absatz folgt (AA XX 41804). Dieser durchstrichene Absatz ist aber der vollständige Text der vierten Folioseite, die von Kant ganz durchstrichen ist. Etwa ein Drittel der vierten Folioseite ist unbeschrieben. Der Text lautet: "Wenn zum Behuf der Metaphysik gesagt wird, der ursprünglich in unserer Vorstellungskraft gegebene Raum ist unendlich, so bedeutet das nicht mehr als: Alle Räume, die gegeben werden ..., können nur als zu einem einigen Räume gehörige Teile gegeben werden; ein Teil aber, von dem ein jeder anzugebender, d.i. seiner Größe nach bestimmter Raum nur ein Teil sein kann, ist größer als jedes quantum spatii
137 Vgl. AA XIII S.282. Kant bezieht sich hier auf die Schultz - Rezension des Eberhardschen Magazins (vgl. auch AA XI11 S.276, AA XX S.483). 138 Hervorhebung GB.
Der "neue Stoff" der Theorie des Unendlichen
213
spatium debile, d.i. als ein jeder, den ich beschreiben kann, und das heißt: E r i s t unendlich. Diese Unendlichkeit, welche man als bloß metaphysisch (d.i. subjektiv in der Form unserer Sinnlichkeit aber nicht objektiv außer derselben und in dem Inbegriffe der Dinge an sich selbst) gegeben benennen kann, ist in Ansehung aller Objekte unserer äußeren Sinnenanschauung ganz reell. Sie gehört zum Besitze und ist nicht, wie die Juristen sagen, res merae facultatisl^ö. Denn, daß man eine Linie ins Unendliche fortziehen oder Ebenen, so weit man will, auseinander rücken kann, diese potentiale Unendlichkeit, welche der Mathematiker allein seinen Raumesbestinmungen zum Grund zu legen nötig hat, setzt jene aktuelle (aber nur metaphysisch wirkliche) Unendlichkeit voraus und ist nur unter dieser Voraussetzung möglich. Denn was heißt das: Man kann eine gerade Linie, so weit sie auch fortgezogen sein mag, inmer noch weiter ziehen? Es heißt, der Raum, in welchem ich einen Linie beschreibe, ist größer als aller Raum, den ich in demselben inmer nur beschreiben mag. Wenn sich nun die Vernunft an die Idee von einem wirklichen gegebenen Unendlichen stößt, so hat die Kritikl40 und eine darauf gegründete Metaphysik nichts dawieder, indem sie eben darauf ihre Lehre gründet, daß die Raumesvorstellung nicht zur Vorstellung der Objekte nach dem, was jenen an sich, sondern nur in Beziehung auf die besondere Form unserer sinnlichen Anschauung zukommt, gehöre. Diese Bemerkung aber so wie die w i r k l i c h e Unendlichkeit des Raumes geht den Mathematiker nichts an, der es auch bloß mit möglichen Gegenständen äußerer Sinne zu tun hat, bei diesen aber auch nicht mit der Untersuchung, wie es möglich sei, eine Vorstellung des Raumes überhaupt mit den wesentlichen Eigenschaften desselben z u h a b e n , sondern ..." (AA XX S.418). Der Inhalt dieses Textes ist mit Ausnahme der letzten beiden Sätze in den Text der folgenden beiden Folioseiten
139 Sache des gelegentlichen Erwerbs. 140 Gemeint ist die Kr.d.r.V..
214
Qualität und Quantität
eingegangen, die Schultz als Grundlage seiner Rezension genommen nat. Der vorletzte Satz bezieht sich auf die transzendentale Idealität des Raumes. Auf diese referiert Kant, wenn er im Text der Vorlage für Schultz über den subjektiven Grund der Möglichkeit des Raumes schreibt, mit welchen und mit dem Streit über diese Lehre der Geometer schlechterdings nichts zu tun hat, er müßte sich denn in den Zwist mit dem Metaphysiker, wie die Schwierigkeit auszugleichen sei: daß der Raum und alles, was ihn erfüllt, ins Unendliche teilbar sei und doch nicht aus unendlich viel Teilen bestehe, einlassen wollen" (AA XX S.421-422). Dieser Zwist und die Rolle eines philosophischen Geometers dabei brauchte in der Rezension über Eberhards Magazin nicht ausgebreitet zu sein. Hier ging es nur darum, direkt Aufsätze des Magazins selber zu rezensieren. Ausführungen, die an dieser Aufgabenstellung vorbeigingen, hätten der Kantischen Partei in dem Streit mit Eberhard an dieser Stelle nichts genutzt. Kant rezensierte Kästners Artikel: "Über den mathematischen Begriff des Raumes", der sich auf S.403 - 419 1 4 1 des zweiten Bandes von Eberhards Magazin befand. Der Gebrauch des Begriffs van Unendlichen in der Geometrie gehörte nicht zur Betrachtung Kants: "Da das, was von S.407 an bis 419 vorgetragen wird, bloß den Gebrauch des Begriffs vom Unendlichen i n d e r G e o m e t r i e betrifft, so liegt es aus dem Felde dieser Rezension"(AA XX S.417). Dieses Feld, das Feld der mathematischen Theorie des Unendlichen, zu bestellen, ist Aufgabe der Mathematiker. Schultz hatte dazu mit seiner "Theorie des Unendlichen" einen Beitrag geleistet. Weder die Frage nach der Übereinstimmung der transzendentalphilosophischen und mathematischen Theorie des Unendlichen, noch der Zusammenhang ' dieser Frage mit dem "Zwist", der in obiger Passage als Bestandteil des zweiten Widerstreits der Antinomie der reinen Vernunft ausgeführt ist, ist Thema der Kantischen Rezension. Diese
141 Vgl. Anm. 84.
Der "neue Stoff" der Theorie des Unendlichen
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Themenstellungen werden Schultz mit dem Brief vom 2.8.1790 übertragen. Kant sieht die Aufgabe dieses Teils der Rezension nur darin, den Unterschied, der im Gebrauch des Begriffs des Unendlichen in der Mathematik und in der Philosophie besteht, deutlich zu machen: "Weil aber H(er)rn E(berhard) und anderen scheinen möchte, dieses* 42 habe zugleich eine Wiederlegung der Unendlichkeit des Raumes, von der die Kritikl 4 ^ sagt, daß sie dieser Vorstellung unzertrennlich anhänge, sein sollen: so gehört es für die Rezension eines Magazins, welches sich die Rezension der Metaphysik zum Hauptgegenstande gemacht hat, den Unterschied des Gebrauchs des Begriffs vom Unendlichen in beiden Wissenschaften kenntlich zu machen" (AA XX S.417f.). Die metaphysische Erörterung in der transzendentalen Ästhetik kennzeichnet den Raum "als eine unendliche g e g e b e n e Größe"! 4 4 . Diese Kennzeichnung des Raumes führt auf die Charakterisierung desselben als Anschauung a priori : In der metaphysischen Erörterung wird die Art der Vorstellung besenrieben, die den Raum im menschlichen Vorstellungsvermögen kennzeichnet. Die transzendentale Ästhetik hat damit schon die Aufgabe der Metaphysik hinsichtlich des Raumes gelöst, die die Metaphysik in der Betrachtung des Raumes von der Geometrie unterscheidet: "Die Metaphysik maß zeigen, wie man die Vorstellung des Raumes haben, die Geometrie aber lehrt, wie man einen b e s c h r e i b e n , d.i. in der Vorstellung a priori (nicht durch Zeichnung) darstellen könne" (AA XX S.419). Trotz des unterschiedlichen Herangehens an die Untersuchung des Raumes, daß für den Metaphysiker der Raum einig und ursprünglich ist und für den Geometer viele Räume und abgeleitete Begriffe davon von Bedeutung sind, gilt, daß beiden die gleiche Raumesvorstellung zugrunde liegt: "Also stellt sich der
142 Hier bezieht sich Kant auf den Kästner - Artikel: "Über den mathematischen Begriff des Raumes" (vgl. Arm. 84). 143 Gemeint ist die Kr.d.r.V.. 144 Β 39 - 40.
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Qualität und Quantität
Geometer, so gut wie der Metaphysiker, den ursprünglichen Raum als unendlich vor und zwar als unendlich - gegeben vor" (AA XX S.419). Die Betrachtung des Unterschiedes des Gebrauchs des Begriffs vom Unendlichen in der Geometrie und in der Metaphysik wird so weit geführt, wie der Mathematiker (hier in der Person von Kästner) im Zusamnenhang seiner Konstruktionen es mit den Begriffen der potentiellen und der aktuellen Unendlichkeit zu tun hat. Dort, wo es im die Behandlung der Frage nach der transzendentalen Idealität des Raumes und nach dem Problem der Teilbarkeit ins Unendliche geht, endet die Betrachtung. Denn hier wird das Feld der geometrischen Konstruktion verlassen (wie etwa die der geometrischen Aufgabe der Verlängerving einer Linie), und der Mathematiker begibt sich in den Problembereich des zweiten Widerstreits der Antinomie der reinen Vernunft. Er befindet sich dann da, wo der "Zwist mit dem Metaphysiker" stattfindet145. Inhaltlich endet an dieser Stelle der Kantischen Kezensionsvorlage die Ausarbeitung der Argumentationslinie von Folioseite 4, die auf den Folioseiten 5 und 6 aus formuliert ist. Die Markierung, die Kant selber durch die Nennung des "Zwists mit dem Metaphysiker" angibt, ist die Schnittstelle, wo eine weitere Auseinandersetzung mit Positionen des Eberhardschen Magazins eine Ausarbeitung benötigt, die von der Antinomienlehre ausgeht und Aussagen jener Geometer berücksichtigt, die schon in den Problembereich der Antinomie eingedrungen sind. Die letzten zwei Sätze der Folioseite 4, die sich auf die transzendentale Idealität und die wirkliche Unendlichkeit des Raumes beziehen, die den Mathematiker nichts angehen, verweisen auf genau eine solche Ausarbeitung. Mit der Ankündigung der Übersendung des "Blatt b" an Schultz vom 2.8.1790 indiziert Kant das Vorhandensein einer solchen Ausarbeitung, denn "Blatt b" sollte gerade "neuen Stoff" für die Verbindung der
145 Vgl. AA XX 42202-05.
Der "neue Stoff" der Tneorie des Unendlichen
217
Schultzschen mathematischen Theorie des Unendlichen mit dem Begriff des Unendlichen der Antinomienlehre darbieten. Zur Eingrenzung des bisher noch nicht überlieferten "neuen Stoffes" aus Kants Brief vom 2.8.1790 kann folgende Arbeitshypothese über die Anfertigung der Rezensionsvorlage tind des "Blatt b" zugrunde gelegt werden: Kant fertigt die Vorlage für Schultz über die Kästnerschen Aufsätze, die er im Brief vom 29.6.1790 angekündigt hat, an. Während er die Ausführung zur Unterscheidung des metaphysischen und geometrischen Gebrauchs des Begriffs vom Unendlichen entwickelt, stellt er fest, daß Teile des Dargelegten für den Zweck der Rezension zu weitläufig sind. Er durchstreicht das auf Folioseite 4 Abgefaßte und schreibt die im Sinne der Rezension überarbeitete Fassung auf die Folioseiten 5 und 6. Die sechs Folioseiten machen als Anlagen die "2 Blätter" aus, von denen Kant am Anfang des Briefes vom 2.8.1790 spricht. Er arbeitet getrennt in Absicht auf Schultz' "Theorie des Unendlichen" die Gedanken zum Begriff des Unendlichen aus, die über den Rahmen der Rezension hinausgehen und im Zusammenhang mit der Antinomienlehre stehen. Kant weiß, daß Schultz den zweiten Teil der "Prüfung der Kritik der reinen Vernunft" abfaßt. Als Material dafür sendet Kant seine Ausarbeitung in Form von "Blatt b" (möglicherweise ist dies die andere Hälfte des Foliobogens, dessen eine Hälfte mit dem Text der Folioseiten 5 und 6 beschrieben ist) an Schultz. Geht man die Stellen durch, an denen Schultz im zweiten Teil der "Prüfung..." den Begriff des Unendlichen behandelt, so kcximt man sofort im ersten Abschnitt zu den Passagen, in denen er das Verhältnis von Stetigkeit und unendlicher Teilbarkeit des Raumes behandelt. Diese Stellen wurden oben bereits genannt (vgl. 2.2.2 Der zweite Teil der Prüfung der Kr.d.r.V. durch J. Schultz). Dort ist für den Raum ausgeführt, daß er zwar ins Unendliche teilbar ist, aber daß er nicht "aus unendlich vielen Teilen bestehe" (Prüfung 2, S.29). Damit spezialisiert Schultz für den Raum eine Aussage, die einen der Kernbestandteile der "Auflösung der kosmo logischen Idee von der Totalität der Teilung eines
218
Qualität und Quantität
gegebenen Ganzen in der Anschauung" a u s m a c h t 1 4 6 . In der Frage der Teilbarkeit eines dreidimensionalen beschränkten Raumes 147 trifft der mathematische Gebrauch des Begriffs vom Unendlichen mit der kosmologischen Idee von der absoluten Vollständigkeit der Teilung eines gegebenen Ganzen in der Erscheinung zusammen. Die Schultzsche Abhandlung hierzu ist ein Beitrag der Verbindung der Resultate der Antinomienlehre der Kr.d.r.V. mit der mathematischen Theorie des Unendlichen, um zu vermeiden, daß der Mathematiker in die Antithetik der sich widerstreitenden Vernunft gerät. Interessanterweise beginnt jene Passage, die in Analogie zur kantischen Auflösung des zweiten Widerstreits die Frage nach der unendlichen Teilbarkeit des Raumes behandelt, mit der ideal typischen Figur, die sich auf den "Zwist mit dem Metaphysiker" eingelassen hat. "Wenn daher der philosophische Geometer nicht einen offenbaren Widerspruch behaupten will, so miß er ... gestehen, daß der Raum ... eine unmittelbare Vorstellung in uns, d.i. eine Anschauungs ist" (Prüfung 2, S. 28). Die Passage beginnt dort, wo die kantische Rezension die Schnittstelle ihres Aufhörens setzte. In dieser Passage ist für das Verfahren der Teilung formuliert, daß die wirklich gemachten Teile von endlicher Anzahl sind: "Da aber die Menge aller Teile, die wir wirklich in ihm machen, jederzeit endlich ist, so betrachten wir ihn beständig nur als ein aus der endlichen Menge von Teilen zusammengesetztes Ding" (Prüfung 2, S. 28-29). Der Aspekt der Wirklichkeit an der Teilung des Raumes wurde genau auch auf der Folioseite 4 angesprochen: "Diese Bemerkung aber so wie die w i r k l i c h e Unendlichkeit des Raumes geht den Mathematiker nichts an, der es auch bloß mit möglichen" Gegenständen äußerer Sinne zu tun hat" (AA XX S. 418). Die Wirklickeit von unendlich vielen
146 Vgl. Β 552. 147 Die Argumente von Schultz, Kästner und anderen gelten für jeden beschränkten und abgeschlossenen Raum endlicher Dimension. Von den genannten Verfassern wird aber nur bis zur dritten Dimension argumentiert.
Der "neue Stoff" der Theorie des Unendlichen
219
Teilen einer Teilung würde voraussetzen, daß die ganze Reihe der Teilung mit den unendlich vielen Gliedern effektiv in dem gegebenen Ganzen enthalten sein iriißte, das aber unmöglich ist £)a ¿ e r Mathematiker nur an den möglichen Teilen der Teilung eines Ravîmes ins Unendliche interessiert ist, geht ihn die wirkliche Unendlichkeit nichts an. Kant setzt mit diesem Gedanken in dem nicht in die Rezension übernommenen Teil der Vorarbeit die Argumentation der Antinomielehre fort und Schultz gibt den Inhalt dieses Fragments ausführlich formuliert in Fortsetzung der Auflösung des zweiten Widerstreits wieder. Shultz spricht hierbei im Wortlaut die Auflösung des Zwists zwischen dem philosophisierenden Geometer und dem Metaphysiker, "daß der Raum, und alles was ihn erfüllt, ins Unendliche teilbar sei und doch nicht aus unendlich viel Teilen bestehe" (AA XX S. 422), an, daß die Vorstellung der unendlichen Teilbarkeit dann zutreffénd ist, wenn der Raum keine Eigenschaft ist, die Dingen an sich zukormit, weil sonst er wirklich aus unendlich vielen Teilen bestehen würde, sondern Anschauung a priori ist 14 ^. Dann erst ist von philosophischer Seite erklärt, wie es möglich ist, daß Galilei, auf den Kastner in seinem Artikel Bezug ninmt, auf die Frage, ob eine Linie nur eine endliche Menge von Teilen enthalte, entgegnen kann: "Sie enthält jede gegebene Zahl von Teilen" (Prüfung 2, S.30). Resümiernd kann also über die Behandlung des Unendlichkeitsbegriffes durch Schultz im zweiten Teil der "Prüfung ..." folgendes festhalten werden: 1. Schultz löst das ein, was Kant durch den Brief vom 2.8.179U als Aufgabe an ihn gestellt hat, nämlich Beiträge zum Zusanmens t inroen der mathematischen Theorie des Unendlichen mit dem Begriff der Unendlichkeit in der Antinomienlehre zu verfassen. 2. Die Textpassagen, die Kant auf Folioseite 4 durchstrichen hat, werden nicht in die Rezensionsvorlage übernommen. Dazu
148 Vgl. Β 552. 149 Vgl. Prüfung 2, S.30.
220
Qualität lind Quantität
inhaltlich ähnliche Textabschnitte können ausgearbeitet im zweiten Teil der "Prüfung ..." wiedergefunden werden. 3. Die Ausführungen zum Problem der Teilung ins Unendliche in der "Prüfung ..." können als Schultzsche Wiedergabe des am 2.8.1790 von Kant verschickten "Blatt b" gedeutet werden. Die Methode der Deutung ist ein Versuch, den Inhalt von "Blatt b" durch Approximation der Inhalte von Folioseite 4 und der "Prüfung ..." zu e r f a s s e n l ^ O . Kritisch bleibt anzumerken, daß nicht ausgeschlossen werden kann, daß der Text von "Blatt b" nicht vollständig übernonmen worden ist. Die Methode muß solange approximativ bleiben, solange "Blatt b" nicht aufgefunden ist. Zum Inhalt der Kantischen Ausarbeitungen im Zusammenhang mit der Abfassung der Rezensionsvorlage für Schultz ist zu sagen, daß inhaltliche Bes t inmungen zur Möglichkeit und Wirklichkeit der Teilung ins Unendliche und zum Begriff der unendlichen Teilbarkeit des Raumes hinzutreten, die über den Textgehalt der Ant inomienlehre der Kr.d.r.V. hinausgehen. Zur Antinomienlehre ist anzumerken, daß Kant sie im Unterschied zum Paralogismus-Hauptstück der Kr.d.r.V. von der ersten zur zweiten Auflage nicht neu überarbeitet hat. Gerade durch die Frage der Abgrenzung der Felder der Metaphysik und der Geometrie hinsichtlich des Gebrauchs des Begriffs des Unendlichen und der damit zusammenhängenden Frage der Teilbarkeit des Raumes ins Unendliche wurden weitere kritische Untersuchungen auf der Grundlage der Kr.d.r.V. notwendig. Abschließend ist noch auf folgende spätere Autorisierung der Schultzschen "Prüfung ..." hinzuweisen: Zur Abwehr der Angriffe von Johann August Schlettwein aus Greifswald verfaßte Kant am 29.7.1797 eine Erklärung: "So frägt er (Schlettwein, G.B.) mit weiser Vorsicht an: ' Welcher unter den Streitern wohl meine Schriften, w e n i g s t e n s die Hauptpunkte d e r s e l b e n , wirklich versteht, wie ich
150 Vgl. Abschnitt 2.2.2. Diese approximative Methode ließe sich als eine Art "black - box" - Methode verstehen.
Moment als Grad einer intensiven Größe
221
solche verstanden wissen will' - Ich antworte darauf tinbedenklich: es ist der würdige Hofprediger und ordentliche Professor der Mathematik allhier, Hr. S c h u l t z ; dessen Schriften über das kritische System, unter dem Titel: Prüfung etc. Hr. Schlettwein hierüber nur nachzusehen hat. Nur bedinge ich mir hierbei aus, anzunehmen: daß ich seine (des Hn. Hofpredigers) Worte n a c h dem Buchstaben, nicht nach einem vorgeblich darin liegenden Geist (da man in dasselbe hineintragen kann was einem gefällt), brauche" (AA XII S.367 - 368). Die buchstäbliche Bestätigung der Schultzschen "Prüfung ..." bedeutet insbesondere für ihren zweiten Teil, daß Kant mit der Schul tzschen Verbindung von Antinomienlehre und mathematischer Theorie des Unendlichen, die vermutlich die Rezeption von "Blatt b" durch Schultz beinhaltet, im Wortlaut einverstanden ist.
2.3
Intensive und infinitesimale Größe
2.3.1 Das Moment als Grad einer intensiven Größe Unter dem Gesichtspunkt der Qualität betrachtet, konnit den Erseheinungen, die ein Reales umfassen, eine intensive Größe zu. Durch die intensive Größe ist der Verstand in die Lage versetzt, hinsichtlich der empirischen Qualität von Erscheinungen Aussagen zu machen, die den Charakter synthetischer Urteile a priori h a b e n d i . D a S prinzip der Antizipationen der Wahrnehmung, das solche Urteile, die im Felde der Naturforschung von Relevanz sind, ermöglicht, enthält in seiner Erörterung Bestinmungen, die schon über den Gesichtspunkt der Qualität hinausweisen: Ein Reales, das durch die ihm zukommende intensive Größe als Grad quantitativ
151 Vgl. Β 217.
222
Qualität lind Quantität
schätzbar ist, kann als Ursache des Realen einer anderen Erscheinung angesehen werden: "Wenn man diese Realität als Ursache (es sei der Ehpfindung oder anderer Realität in der Erscheinung, z.B. einer Veränderung) betrachtet; so nennt man den Grad der Realität als Ursache, ein Moment, z.B. das Mcment der Schwere" (B 210). Der Begriff des Moments, der eine intensive Grote als Ursache eines anderen Realen in der Erscheinung bestürmt, wobei dieses andere Reale nach dem Grundsatz der Antizipationen der Wahrnehmung wiederum eine intensive Größe hat, beschreibt für Realitäten eine Relation von intensiven Größen. Diese Relation ist genauer spezifiziert: Das als Moment bezeichnete Reale ist die Ursache eines anderen Realen. Implizit ist damit in der Erörterung zum Prinzip der Antizipationen der Wahrnehmung, das in bezug auf die Kategoriengruppe der Qualität steht, für Gegenstände, die in einer empirischen Anschauung gegeben sind, der Fortgang zu den Analogien der Erfahrung angesprochen, die in bezug auf die Kategoriengruppe der Relation stehen. Dadurch, daß die Mathematik auf den Grad eines jeden Realen anwendbar ist, hat man für den Grad des Realen, das als Mcment betrachtet wird, zwei mögliche Stellen der Anwendung von Mathematik: Einmal kann zur Beschreibung des Grades des als Moment bezeichneten Realen Mathematik angewandt werden und zum anderen ist der Grad des durch das Moment als Ursache erwirkten Realen das Objekt der Anwendung der Mathematik. Im folgenden sollen nun die Aussagen der Kr.d.r.V. zum Mathematisierbarkeitsaspekt des Moments als intensives Quantun aufgesucht werden. Faßt man die genannten beiden möglichen Stellen der Mathematisierung einmal als die quantitative Schätzung der Ursache und das andere Mal als die quantitative Schätzung der Wirkung auf, dann ergeben sich die Fragen: Wie sind beide Arten von Schätzung wechselseitig bedingt? Und ließe sich eine solche Bedingung gegebenenfalls selber auch mathematisieren? Bevor das Moment der Schwere eingehender untersucht wird, soll kurz auf die Mehrdeutigkeit des lateinischen Worts
Moment als Grad einer intensiven Größe
223
mcmentim eingegangen w e r d e n 1 ^ . Unter anderem trägt dieses Wort, dessen ins Deutsche übertragene Fassung "Mcment" lautet, zwei Bedeutungen, die eines Beweggrundes und die eines Augenblicks. Während die erste Bedeutung auf die Betrachtung eines Kausalaspekts einer Veränderung abzielt, bezieht sich die zweite Betrachtung auf den bloßen Zeitaspekt einer solchen. Kant löst die Mehrdeutigkeit des lateinischen Worts momentum in der Dissertation "De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principi is" durch die Festlegung des Zeitaspekts jenes Worts im Paragraphen 14 "De tempore" auf: "Pars i taque temporis quaelibet est tempus, et, quae sunt in tempore, Simplicia, nempe momenta, non sunt partes illius, sed termini, quos interiacet tempus " (AA II S.399)! 53 . Mit dieser Bestürmung des Begriffs des Augenblicks als zeitlicher Grenze, die in Äquivalenz zum Punkt als räumliche Grenze stehtl54 und die s i C h a u s der Argumentation zur Kontinuität der Zeit ergibt ('Tempus est quantum continuum et legum continui in mutat ionibus universi principium" (AA II S.399))155> igt Bedeutimg des Zeitaspekts aus der Mehrdeutigkeit des Worts "momentum" herausgehoben. Kant markiert diese Heraushebung auch dadurch, daß er für den Begriff Augenblick in der Dissertation die lateinische Wortform "momenta" (Plural!) benutztl56.
152 momentum, i = (lat.) bewegende Kraft, Gewicht; Stoß, Anlaß, Beweggrund; Einfluß, Bedeutung, Wirkung; Bewegung (Ausschlag an der Waage), Entscheidlang, Veränderung, Wechsel; Augenblick, schneller Verlauf; (Langenscheidt S.337). 153 "Jeder beliebige Teil der Zeit ist dennach eine Zeit, und das Einfache, das in der Zeit ist, nämlich die Augenblicke, sind nicht deren Teile, sondern Grenzen, zwischen denen eine Zeit liegt" (Weischedel-Ausgabe, Band V, S. 49). 154 Vgl. AA II S.399 und S.402. 155 Dieses ist einer der sieben Leitsätze zum Begriff der Zeit in der Dissertation (Vgl. AA II S.398ff.). 156 Dieses gilt bis auf eine Ausnahme (AA II 38922): Dort wird "ncmenta" für die Begriffsmomente des Begriffs von
224
Qualität und Quantität
Neben der oben aufgeführten Bestirmiung des Worts Moment als Bezeichnung eines Realen, das als Ursache eines anderen Realen angesehen wird, wird das Wort Moment in der Kr.d.r.V. mehrdeutig verwandt: Es tritt in den Ausdrücken "Manente des Denkens"! 5 ?, "Manente einer ... spekulativen Wissenschaft oder Momente "der Vernunft hand l u n g e n " 1 5 9 a uf. In solchen Ausdrücken bezeichnet das Wort Moment ausgezeichnete Merkmale eines zu untersuchenden Begriffs. Für die weitere Ausführung ist jedoch hauptsächlich die oben festgelegte Bedeutung des Monents als Ursache eines anderen Realen von Relevanz. Interessanterweise begründet Kant die Benennung eines verursachenden Realen mit dem Titel "Moment" durch die Art der - Apprehension, die einem Realen im Unterschied zu einer extensiven Größe zukamt. Während die letztere sukzessive abläuft, findet die Apprehension einer intensiven Größe in einem Augenblick statt. Zeitliche quanta continua oder zeitliche quanta discreta sind demnach reine Darstellungen in der Zeit, die Merkmale für die Unterscheidung von Apprehensionen extensiver Quanta von Apprehensionen intensiver Größen geben. Die Benennung des Grades einer Realität als Moment gilt "darum, weil der Grad nur die Größe bezeichnet, deren Apprehension nicht sukzessiv, sondern augenblicklich ist. Dieses berühre ich aber hier nur beiläufig, denn mit der Kausalität habe ich für jetzt noch nicht zu tun" (B 210). Mit dieser Bemerkung ist der Zusammenhang zwischen Kausalaspekt und Zeitaspekt in Hinsicht auf den Begriff des Moments als Ursache eines Realen beschrieben. Die Spezialisierung der Bedeutung des Mcmentbegriffes, die in der Dissertation als Bezug auf den bloßen Zeitaspekt gegeben wurde, ist damit aufgehoben. Das
der Materie verwandt. Für "momenta" und die anderen Ρ Iura 1 wor t formen vgl. in AA II: 39929 39930 39936 39937 40014 41030 41031 41032 41502. Sonst tritt dort noch die Wortform "momentum" auf: 39931 39932 40011 40520. 157 Vgl. etwa Β 96, Β 98, Β 101. 158 Vgl. etwa Β 110. 159 Vgl. etwa Β 170.
Moment als Grad einer intensiven Größe
225
Merkmal der Augenblicklichkeit am Momentbegriff ist in der Kr.d.r.V. auf die Form der zugehörigen Art der Apprehension bezogen. Die Apprehension geschieht als augenblickliche. Urmittelbar in Anschluß an diese Bemerkung wird die Kontinuität als Eigenschaft von beliebigen Größen bestimmt. Insbesondere konmt dem Kaum und der Zeit als quanta continua die Eigenschaft der Kontinuität zul60. i m Unterschied zur Dissertation von 1770, in der die Kontinuitätseigenschaft unmittelbar als Attribut der ZeitIGl oder mittelbar zur Bestinmung des Begriffs der räumlichen G r e n z e 162j j n beiden Fällen aber zusanmen mit den Bestürmungen zu Kaum und Zeit vorkonmt, die in überarbeiteter Form in die transzendentale Ästhetik eingehen, wird in der Kr.d.r.V. die Kontinuitätseigenschaft erst in der Vorstellung des Prinzips der Antizipationen der Wahrnehmung eingeführt. Ein Grund für den Positionswechsel der Erörterung der Kontinuitätseigenschaft von Kaum und Zeit kann darin liegen, daß die synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes auf die Bestinmung von Erscheinungen ausgerichtet sind und daher die Ausführung zu den Antizipationen der Wahrnehmung ihr Hauptaugenmerk darauf richtet, daß Erscheinungen, sowohl als extensive als auch als intensive Größe betrachtet, kontinuierliche Größen sindl63. Für die Herleitung, daß Erscheinungen als extensive Größen kontinuierlich sind, ist wegen des Prinzips der Axiomen der Anschauung erforderlich, daß der Kaum und die Zeit als Form der Anschauungen, die Erscheinungen enthalten, kontinuierlich sind. Dieses macht daher spätestens an der oben genannten Stelle erforderlich, die Kontinuitätseigenschaft von Kaum und Zeit einzuführen.
160 161 162 163
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Β 211. AA II S.399. AA II 40330+32. Β 212.
226
Qualität und Quantität
2.3.2 Kontinuierliche und fließende Größen Die Tatsache, daß die Kontinuität einer Größe in Raum und Zeit durch den Begriff der Stetigkeit ma thematisierbar ist und daß die mit der Kontinuität zusammenhängenden Begriffe der räumlichen und zeitlichen Grenze im mathematischen Sinn als topologische Berandungen aufgefaßt werden können, wurde bereits dargelegt. Zum Begriff der kontinuierlichen Größe tritt nun noch eine weitere Vorstellung hinzu: "Dergleichen Größen kann man auch f l i e ß e n d e nennen, weil die Synthesis (der produktiven Einbildungskraft) in ihrer Erzeugung ein Fortgang in der Zeit ist, deren Kontinuität man besonders durch den Ausdruck des Fließens (Verfließens) zu bezeichnen pflegt" (B 211 - Β 212). Die Vorstellung der fließenden Größe, die mit einer besonderen Bezeichnung unter den kontinuierlichen Größen ausgezeichnet ist, beinhaltet wegen ihrer Zeitabhängigkeit ein Datvm einer reinen Anschauung, das sie auch faktisch als besondere unter beliebigen kontinuierlichen Größen unterscheidet. Mit dem Begriff der fließenden Größe, der sich auf zeitabhängige Größen a priori bezieht, ist auf Newtons Konzept der Fluxionen Bezug genommen, das Newton in der zweiten Auflage der "Principia mathematica philosophiae naturalis" dem wissenschaftlichen Publikum vorstellte. Newtons Arbeit umreißt nicht nur den Begriff der Fluxion, sondern sie gibt auch eine frühe mathematische Bestürmung des Funktionsbegriffes und legt eine Exposition des Momentbegriffes dar: "10. Lehnsatz: Das Moment einer G e n i t a 1 ^ erhält man, indem man das Moment jeder einzelnen erzeugenden Größe in
164 J. Ph. Wolfers übersetzt Newtons lateinisches Wort "genita" mit dem Wort "Funktion". Das Wort "Funktion" für die Bezeichnung von Abhängigkeiten mathematischer Größen wurde aber von Leibniz eingeführt: "In Abhandlungen, die
Kontinuierliene und fließende Größen
227
ihren Exponenten und Koeffizienten multipliziert und die entstandenen Produkte addiert. Funktion (Genita) nenne icn jede Größe, welche aus gewissen Gliedern, in der Arithmetik durch Multiplikation, Division und Würze laus ziehung, in der Geometrie durch Aufsuchung des Inhalts und der Seiten, oder der äußern und m i t t l e m Proportionalen, ohne Addition und Subtraktion erzeugt wird. Größen dieser Art sind: Produkte, Quotienten, Wurzeln, Rechtecke, Quadrate, Kuben, Quadratseiten, Wiirfelseiten und ähnliche. Diese Größen betrachte ich hier als unbestimmt und veränderlich, und gleichsam durch eine beständige Bewegung oder Fluß fortwährend wachsend oder abnehmend. Ihr augenblickliches Inkrement oder Dekrement begreife ich unter der Benennung M o m e n t , so daß die Inkremente als a d d i t i v e oder p o s i t i v e , die Dekremente
Leibniz 1692 und 1694 publizierte, verwendete er "Funktionen" (lat. funetiones, franz. fonctions) bereits in einem erweiterten Sinne, und zwar für beliebige Arten von geraden Strecken (Abzissen, Ordinaten, Sehnen, Abschnitte von Tangenten, Normalen, Subtangenten, Subnormalen), die von einem festen Punkt oder von Punkten einer gegebenen Kurve abhängen" (Wussing S.191). Daher ist die Zuspräche des Worts "Funktion" an Newton gewissermaßen ein Vorgriff auf die Herausbildung des mathematischen Funktionsbegriffs, an der Newton einen Anteil hatte. Meines Erachtens würde das Wort "Genita" enger längs der lateinischen Wortbedeutung, d.h. mit dem Wort "Erzeugnis" zu übersetzen sein. Für Newton sind die Fluenten (d.h. die Größen, deren Fluxionen zu berechnen sind) Erzeugnisse arithmetischer bzw. geometrischer Operationen. Als solche sind sie Veränderliche der in jene Operationen eingehenden Komponenten. Daß diese Komponenten schließlich als zeitabhängige Größen angesehen werden können, wird im ersten Lenma des ersten Buches der "Principia" ausgeführt:"1. Lehnsatz: Größen, wie auch Verhältnisse von Größen, welche in einer gegebenen Zeit sich beständig der Gleichheit nähern, und einander vor dem Ende jener Zeit näher kaimen können, als jede gegebene Größe, werden endlich einander gleich" (Newton S.46).
228
Qualität und Quantität
als s u b t r a k t i v e oder n e g a t i v e M o m e n t e angesehen werden. Die Momente hören auf, Momente zu sein, sobald sie eine endliche Größe erhalten. Man hat unter ihnen die eben entstehenden Anfänge endlicher Größen zu verstehen, und betrachtet in diesem Lehnsatze nicht Größe der Momente, sondern ihr Verhältnis, wenn sie eben entstehen. Es konmt auf dasselbe hinaus, ob man statt der Momente entweder die Geschwindigkeiten der Zu- und Abnahme (welche man auch Bewegungen, Veränderungen und Fluxionen der Größen nennen kann), oder beliebige endliche Größen versteht, welche jenen Geschwindigkeiten proportional sind" (Newton S. 243). Hiermit sind Grundbestandteile der Differentialrechnung und ihrer Anwendung eingesprochen. Hat man eine Bewegungslinie c, die die Bewegung eines Beweglichen Β (ein physikalischer Körper) durch die Veränderung der räumlichen Lage seines Massenpunktes in der Zeit verzeichnet, so hat man für jeden Zeitpunkt t eines beliebigen Zeitintervalle I den räumlichen Ort c(t) des aktuellen Aufenthalts von B. In moderner Notation liefert das die allgemeine Beschreibung von c als Kurve in einem R n (n e N) : c:I — > R n t-»c(t) = ( ^ ( Ο , . , . , Ο η α ) ) Definition: Eine Kurve c heißt differenzierbar in einem Punkt íq e I, wenn es für alle e > 0 ein S > 0 und ein Vektor c'ito) gibt» so daß für alle t e ] t 0 - S ,to + M e i gilt· |i(t)-ict0)-i'(t0)(t
- to)I, so daß für alle t i < t 2 aus U(ÍQ) gilt: c(ti) < c(t2> (c(t^) > c(t2)), d.h. c ist streng monoton steigend (fallend)* 65 . Hieraus wird deutlich, daß das Moment als erste Ableitung einer Bewegungsl inie zu dem Zeitpunkt tg ein "augenblickliches" Charakteristikum der Zu- oder Abnahme der Größe c(t) ist. Die erste Ableitung einer Bewegungsl inie c'(tQ), die Newton Fluxion nennt, läßt sich geometrisch als die Steigung der Tangente von c im Kurvenpunkt c(tg) darstellen. Der Vektor c'Ctg), der daher als Tangentialvektor bezeichnet wird, legt die Tangente fest. Seit Newton wird der Tangent ialvektor c'(t) = (οχ'ίΟ, c 2 '(t), ... , c n '(t)) als die Größe angesehen, von der die Geschwindigkeit der Bewegung c(t) zum Zeitpunkt t abgelesen werden kann. Als
165 Vgl. Christian Blatter: "Analysis I", Berlin, Heidelberg, New York, 1974 S.173.
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Qualität und Quantität
Beispiel sei die Kurve einer Bewegung mit konstanter Geschwindigkeit a betrachtet: s : [θ, t] — m i t 11—*s(t) = a * t, dann gilt für die erste Ableitung: s'(t) = a. Die erste Ableitung gibt den Wert der Geschwindigkeit an. Newton macht einen Unterschied zwischen dem, was durch das Moment bezeichnet ist, und der Auswertung der ersten Ableitung an einer festen Stelle. Letzteres tritt für Newton dann ein, wenn das Moment zur endlichen Größe wird: 'Die Manente hören auf, Manente zu sein, sobald sie eine endliche Größe erhalten" (Newton S.243). Dieses legt natürlich die Lesehaltung nahe, daß das Moment eine nicht endliche Größe sei, daß es, weil es für ein beliebig kleines Zeitintervall zu bestimnen wäre, eine unendlich kleine Größe wäre. In der Konsequenz der exakten Grundlegung der Differentialrechnung ab dem 19. Jahrhundert ist diese Lesehaltung, die eigentlich durch die vor Newton entwickelte Indivisibeln-Methode geprägt ist, durch die Überlegung ersetzt worden, daß Newtons Bemerkung den Unterschied zwischen der ersten Ableitung an einer festen Stelle l'(t) und dem Differential dl = l'(t)dt als Linearform bezeichnet. Letztere Überlegung kann dadurch gestützt werden, daß Newton die Auswertung der ersten Ableitung an einer festen Stelle als endliche Größe "proportional" zum Differential, das in der genannten Überlegung als Manent betrachtet wird, ansieht: "Es komnt auf dasselbe hinaus, ob man statt der Momente entweder die Geschwindigkeiten der Zu- und Abnahme ... oder beliebige endliche Größen versteht, welche jenen Geschwindigkeiten proportional sind" (Newton S. 243). U n Mehrdeutigkeiten gegenüber dem mathematischen Begriff des Manents bei Newton vorzubeugen, sei für das folgende l(t) mit der Bezeichnung "Fluente", l'(t) mit der Bezeichnung "Fluxion" und l'(t)dt mit der Bezeichnung "Moment" b e l e g t l 6 6 . ^ anderer Stelle ist 166 Diese Bezeichnungsweise soll sich mit dem von Wussing gegebenen Resümee der von Newton eingeführten Begrifflichkeit der Differentialrechnung decken (vgl. Wussing S.179f.).
Kontinuierliche und fließende Größen
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bei Newton vermerkt, daß Fluxionen weiter differenziert werden können und man so zu höheren (hier: zweiten) Ableitungen gelangt: "Die unbestimmten Größen betrachte ich im Folgenden als in stetiger Bewegung wachsend oder abnehmend, d.h. als fließend oder abfließend. Und ich bezeichne sie mit den Buchstaben z, y, x, v, und ihre Fluxionen oder Wachstumsgeschwindigkeiten drücke ich durch dieselben Buchstaben mit Punkten versehen aus, also durch z', y', χ', v'. Von diesen Fluxionen gibt es wieder Fluxionen oder mehr oder weniger rasche Änderungen. Man kann sie die zweiten Fluxionen von z, y, χ, ν nennen und so bezeichnen z'', y'', χ'', ν'' " (Newton: " Abhandlung über die Quadratur der Kurven" Hrsg. v. G. Kcwalewski, Leipzig 1908 S. 7, zitiert nach Wussing S. 180). Funktionen, die Fluxionen besitzen, haben eine besondere mathematische Qualität, nämlich die Differenzierbarkeitseigenschaft, die sie innerhalb der Menge der stetigen Funktionen auszeichnet. Mathematische Funktionen sind solche Größen, die sich nicht nur als extensive Quanta darstellen lassen (z.B. die Darstellung einer Funktion durch ihren Graphen), sondern die auch eine Regel der eindeutigen Zuordnung der durch sie abgebildeten variablen Größen beinhalten. Mathematische Funktionen sind damit besondere Quanta, stetige Funktionen können somit auch als kontinuierliche Größen angesehen werden. Daher ist Kants Beschreibung der fließenden Größen nicht nur eine korrekte Nominaldefinition, sondern auch ein Hinweis auf eine besondere mathematische Qualität dieser Größen. Da sowohl extensive als auch intensive Größen kontinuierlich sein können und fließende Größen besondere kontinuierliche Größen sind, gilt, daß Größen, die die Differenzierbarkeitseigenschaft erfüllen, als fließende Größen angesehen werden können, unabhängig davon, ob sie extensive oder intensive Größen sind. Es gibt also extensive und intensive fließende Größen. Kants philosophische Überlegung der Auszeichnung fließender Größen innerhalb der Menge kontinuierlicher Größen geht entdeckungsgeschichtlich der mathematischen Präzision
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Qualität und Quantität
voran: Ausgelöst durch Fouriers Arbeiten zur "Wärmelehre" (1822), in der auch nicht zusanroenhängende Kurven (z.B. Sägezahnkurven mit senkrechten Flanken) in trigonometrische Reihen entwickelt wurden, begann die Entwicklung der Verallgemeinerung des mathematischen Funktionsbegriffs über die differenzierbaren Funktionen hinauslG?. Hierbei spielte in der Folgezeit die Suche nach überall stetigen aber nirgends differenzierbaren Funktionen eine wichtige Rolle. Zum Abschluß des Exkurses zum Newtonschen Konzept der Fluxionen sei auf eine Anmerkung hingewiesen, in der der Differentialrechnungskalkül, der in Zusammenhang mit den "Principia mathematica philosophiae naturalis" entwickelt wurde, von Newton als "allgemeine Methode" charakterisiert wird. Dieser Vorgang ist einer der Entstehungsaspekte der Infinitesimalrechnung als besondere mathematische Disziplin: "Dies ist ein besonderer Fall oder vielmehr ein Zusatz zur allgemeinen Methode, welche sich auf jeden mühevollen Kalkül erstreckt, nicht nur auf die Konstruktion von Tangenten an allen geometrischen oder mechanischen Kurven,... sondern auch auf die Lösung anderer schwieriger Arten von Aufgaben über die Krümnung, Quadratur, Rectifikation, die Schwerpunkte der Kurven etc., und sie beschränkt sich nicht ... bloß auf die Gleichungen, welche frei von unbekannten Größen sind" (Newton S. 246). Obwohl die Entwicklung der Infinitesimalrechnung eng mit der der theoretischen Mechanik verknüpft ist, darf jene nicht als angewandte Mathematik, die der theoretischen Mechanik gleichgeordnet ist, oder gar als Teil der letzteren angesehen werden. Es handelt sich bei der Infinitesimalrechnung um einen besonderen Teil der reinen Mathematik, die keinen Teil der theoretischen Mechanik ausmacht, aber in ihr zur präzisen Formulierung von Bewegungsgesetzen angewandt wird. Als Beispiel einer fließenden Größe, die gleichförmig in der Zeit erzeugt wird, ist die Linie gegeben: "Nun stellen 167 Vgl. Wussing S.227 - 230.
Kontinuierliche und fließende Größen
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wir uns eine Linie als durch Fluxion, mithin in der Zeit erzeugt vor, in der wir nichts Einfaches vorstellen, und können 1/10, 1/100 etc.etc. von der gegebenen Einheit denken" (AA XIV S. 53)168. Hierin findet man die Bestürmungen der sukzessiven Erzeugung einer Linie in der Zeit, die auch für jeden noch so kleinen Teil der Linie gilt, wie es in den Ausführungen zu den Axiomen der Anschauung ausgeführt ist: "Ich kann mir keine Linie, so klein sie auch sei, vorstellen, ohne sie in Gedanken zu ziehen, d.i. von einem Punkte alle Teile nach und nach zu erzeugen, und dadurch allererst diese Anschauung zu verzeichnen. Eben so ist es auch mit jeder, auch der kleinsten Zeit bewandt. Ich denke mir darin nur den sukzessiven Fortgang von einem Augenblick zum andern, wo durch alle Zeitteile und deren Hinzutun endlich eine bestiimite Zeitgröße erzeugt wird" (B 203). Die Aussage, daß die Art der Erzeugung durch die Fluxion gegeben ist, bedeutet weiterhin, daß mit der Fluxion die Fortsetzungsrichtung und die Tangente, längs der fortgesetzt werden soll, gegeben ist, da die Fluxion die Tangente bestimmt. Bemerkenswert ist das Faktum, daß Kant das Fluxionskonzept im Zusammenhang mit der Diskussion der Größe als mathematisch Gegebenes erwähnt. ist eine Irrationalzahl. Newton schilderte in den ersten beiden Auflagen der "Principia mathematica philosophiae naturalis", daß das Konzept der Fluxionen auch Gültigkeit für irrationale Größen besitzt: "In Briefen, welche ich vor etwa 10 Jahren mit dem sehr gelehrten Mathematiker G . W. L e i b n i z wechselte, zeigte ich demselben an, daß ich mich im Besitz einer Methode befände, nach welcher man Maxima und Minima bestimmen, Tangenten ziehen und ähnliche Aufgaben lösen könne, und zwar lasse sich dieselbe eben so gut auf irrationale, als auf rationale Größen anwenden" (Newton S. 598). Die Differentialrechnung, die von Newton für beliebige
168 Adickes kennzeichnet das "Lose Blatt Al.", auf dem sich diese Passage befindet, als Bestandteil von Vorarbeiten Kants zur Beantwortung der Anfrage von A. W. Rehberg im Jahre 1790 (vgl. AA XIV S.53).
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Qualität und Quantität
reelle Funktionen, d.h. auch insbesondere für solche mit irrationalen Werten entwickelt worden war 169, stellte ein so umfassendes Instrumentarium bereit, daß Kant in Hinsicht auf einen allgemeinen Begriff der Algebra, der die Infinitesimalrechnung mitumfassen soliteli, den Konstruktionsbegriff so bestimmt, daß er die Erzeugung räumlicher Größen, die zeitabhängig parametrisiert sind, als Konstruktion in reiner Anschauung mitumfaßt: "In Raumes Vorstellung ist zwar nichts von Zeit gedacht, aber in der Konstruktion des Begriffs von einetn gewissen Raum, e.g. einer Linie. Alle Größe ist Erzeugung in der Zeit durch wiederholte Position eben desselben" (AA XIV S. 54). Der Begriff der Konstruktion in reiner Anschauung ist daher tragfähig, der Grundlegung der Algebra zu dienenl^l, unter deren Titel die Infinitesimalrechnung mitbefaßt ist. Fließende Größen, die in der Zeit erzeugt sind, werden für das Folgende auch infinitesimale Größen genannt, da sie möglicher Gegenstand der Infini tesimalrechnung sind. 169 Auch Leibniz sah in der Infinitesimalrechnung eine Methode, den engen Bereich der rationalen Zahlen zu verlassen und diese auf dem erweiterten Bereich der Rational- und Irrationalzahlen zu betreiben. Eine Arbeit von ihm aus dem Jahre 1684, die in den "Acta Erudi torum" erschien, trug den diesbezüglichen Titel: "Nova methodus pro tmximis et minimis, itemque tangentibus, quae nec fractas nec irrationales quant i tas movatur, et singulare pro i Iii calculi genus" (= "Eine neue Metnode für Maxima und Minima sowie für Tangenten, die durch gebrochene und irrationale Werte nicht beeinträchtigt wird, und eine merkwürdige Art des Kalküls dafür") (vgl. Struik S.126). 170 In Herders Nachschrift einer Mathematikvorlesung Kants findet man unter dem Titel "Ma t h e s i s universalis" eine Einordnung der Infinitesimalrechnung in die Algebra: "Daher entstand die A l g e b r a von G l e i c h u n g e n . Man hat sie für krumme Linien, Exempel für Kegelschnitte angewandt und darauf die Rechnung des U n e n d l i c h e n gebauet .Dies ist a) Differential-, b) Integralrechnung" (AA XXIX, 1. Halbband S.49). Infinitesimalrechnung ist der Oberbegriff von Differential- und Integralrechnung. 171 Vgl. AA XIV S.54ff.
Fließende Größen in der Infinitesimalrechnung
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2.3.3 Fließende Größen als Gegenstände der Infinitesimalrechnung Leibniz führte "unvergleichlich kleine Größen", Differential großen wie dx und dy als Gegenstände der Infinitesimalrechnung einl?2 : "Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, daß die unvergleichlich kleinen Größen, selbst in ihrem populären Sinn genommen, keineswegs konstant und bestinmt sind, daß sie vielmehr, da man sie so klein annehmen kann, als man nur will, in geometrischen Erwägungen dieselbe Rolle wie die Unendlichkleinen im strengen Sinne spielen. Will nämlich ein Gegner unseren Sätzen die Richtigkeit absprechen, so zeigt unser Kalkül, daß der Irrtum geringer ist, als irgendeine angegebene Größe, da es in unserer Macht steht, das Unvergleichbarkleine - das man ja immer so klein, als man nur will, annehmen kann - zu diesem Zwecke hinlänglich zu verringern ... und zweifellos liegt darin der strenge Beweis unserer Infinitesimalrechnung" (zit.n. Wussing S. 183). Die Infinitesimalrechnung wurde seit ihrer Begründung durch Newton und Leibniz zur mathematischen Theorie des Unendlichkleinen, das erste Lehrbuch der Infinitesimalrechnung trug daher auch treffenderweise den Titel "Analysis des Unendlichkleinen" (Marquis de l'Hospital: "Analyse des infiniment petits" Die Entwicklung Unendlichkleinen hat
der auf
mathematischen der Seite der
Theorie des philosophischen
172 In den "Mathematischen Schriften" von Leibniz findet man im Jahre 1680 eine Eintragung bezüglich der Größen dx als unendlich kleine Differenz der Abzissen- und dy als solche der Qrdinatenwerte: "... nun werden diese dx und dy als unendlich klein genommen oder zwei Punkte auf einer Kurve sind bezüglich eines Abstandes als entfernt angesehen, der kleiner ist als jede gegebene Länge" (zitiert nach Kline S.376). 173 Dieses Buch enthält auch die sogenannten "1'Hospitalsehen Regeln", die in jedem Grundkurs der Differentialrechnung auftreten (vgl. Struik S.127).
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Qualität land Quantität
Behandlung des Unendlichkleinen Wirkungen hervorgebracht. Ohne auf die Entwicklungsgeschichte des wechselseitigen Einflusses von mathematischer und philosophischer Argumentation zum Unendlichkleinen einzugehen, die sich bis in den Beginn des 19. Jahrhunderts hineinzieht (einen Niederschlag davon findet man z.B. in Hegels "Wissenschaft der Logik"), sei ein Kernproblem im Verständnis der infinitesimalen Größen angesprochen: Die Differentialgroße dy/dx notiert seit den Arbeiten von Leibniz den Differentialquotienten, d.h. den Wert der l.Ableitung einer Größe y = y(x), die von einer Variablen χ abhängt, an einer Stelle x. In moderner Notation interpretiert man den Differentialquotienten wie folgt: Ist f : [a,b]—>-R eine auf dem Intervall I = [a,b] differenzierbare Funktion, dann ist die l.Ableitung von f an jeder Stelle des Intervalls bestinmt und es gilt: f'(x) = lim (f(x+h) - f(x))/ h h^O Die hier angegebene erste Ableitung von f stinmt als eindimensionaler Spezialfall (d.h. für η = 1) mit der oben angegebenen Definition für die erste Ableitung von Kurven c : I — > R n überein. Die Folge { q ^ qn = (f(x+h n )-f(h n ))/h n , n e N | wobei |hn| eine Folge mit Grenzwert 0 ist, ist eine Menge von abzählbar unendlich vielen Differenzenquotienten. Da die Funktion f differenzierbar ist, existiert der Grenzwert dieser Folge. Daher kann die Differenzenquotientenfolge als Menge abzählbar unendlich vieler Elemente, die selber alle endliche Werte (reelle Zahlen) sind, durch eine endliche Größe f'(x) repräsentiert werden. Die l.Ableitung an der Stelle χ ist daher als Grenzwert einer Differentialquotientenfolge von endlichen Größen bestimmt. Solange man aber noch keinen exakten Grenzwertbegriff hatte* 74 , stellte der Übergang von
174 Durch Cauchys Buch "Analyse Algebrique" wird 1821 ein wesentlicher Beitrag zur Präzision des Grenzwertbegriffes geleistet. Die arithmetische Formulierung des Axioms von
Fließende Größen in der Infinitesimalrechnung
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der Reine der Folgenglieder zum Grenzwert ein Probien dar. Der Grenzwert selber ist als Tangentensteigung eine wofilbestirrmte Zani - aber wie konmt die "endliche Größe" aus einem Verhältnis "unendlicher Größen", beschrieben durch dy/dx, zustande? Konmt der infinitesimalen Größe dy/dx ein besonderer mathematischer Gegenstand neben der endlichen Größe f'(x) zu, der sich von dieser im weniger als jede gegebene Größe unterscheidet? Dieses ist eine unvollkaimene und historisch zu korrigierende Übertragung der Problematik, der sich diejenigen ausgesetzt sahen, die sich mit infinitesimalen Größen beschäftigten!?5. In genau die
Eudoxos-Archimedes gestattete es, den Grenzwertbegriff exakt zu formulieren. In moderner "e-S - Sprache" lauten das Archimedes-Axiom und die Grenzwertdefinition folgendermaßen: 1
€ < η · v e>0 3 ne Ν 2. Eine Folge a n R heißt genau dann mit Grenzwert a e R konvergent, wenn V e > 0 V η > n 0 I a n ~ al < e . 3 n0 e Ν
Cauchys Beiträge zur exakten Grenzwertdefinition initiierten eine Entwicklung, die auf die moderne " e -S - Sprache" der Infinitesimalrechnung führte (Vgl. Wussing S.226f.). Beispielsweise ist die oben gegebene Definition einer differenzierbaren Kurve in dieser Terminologie geschrieben. 175 Vom modernen Standpunkt der Differentialrechnung aus gibt es die Möglichkeit, qualitativ verschiedene Vorstellungen, die sich bei Newton in den Begriffen "Moment" oder "Fluxion" ausdrücken, die an den Größen "Differential dy/dx" oder "Tangente" abzulesen wären, die eine "unendliche" oder "endliche Größe" ausmachen würden, auf qualitativ verschiedene mathematische Gegenstände zu beziehen. Eine Deutung könnte darin bestehen, daß das Augenmerk dárauf gerichtet wird, daß man bei der Ableitungsoperation der Differentialrechnung zwei Arten von Informationen über die zu differenzierende Funktion f erhält : (a) den Wert der Ableitung an der Stelle: f'(x), der geometrisch den zugehörigen Tangential räum (i.E.
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Qualität und Quantität
Periode, in der die Grundlagenproblematik der 76 Ini finitesimalrechnung ins Bewußtsein gerückt isti , a ber in der die Mathematik die präzise Fassung des Grenzwertbegriffes noch nicht erarbeitet Hat, fällt das Erscheinen der Kr.d.r.V., die sich als Aufgabe gestellt hat, aus philosophischer Sicht zur "Gründung und Ausführung aller Wissenschaften, die eine theoretische Erkenntnis a priori von Gegenständen enthalten" (B 20), beizutragen. Insbesondere wird aus dieser Absicht heraus für die Mathematik die Frage gestellt: "Wie ist reine Mathematik möglich?" Diese Frage betrifft im speziellen die "Gründung" jeder besonderen Disziplin der Mathematik, also neben der Geometrie und Arithmetik auch die Grundlagenproblematik der
Tangente) oder linear-algebraisch die zugehörige lineare Abbildung an der Stelle χ bestinmt, (b) die Differential form dy = f'(x)dx , die dann Gegenstand der Unkehroperation der Differentation, der Integration ist. Diese Unterscheidung gestattet nun, die Newtonschen Ausdrücke "Fluxion", "Tangente", "endliche Größe", die als Charakteristika der Ableitung verwandt werden, dem Informât ionskomplex (a) und die Newtonschen Ausdrücke "Manent", "Differential", "unendliche Größe", die sich in jenem Zusaimienhang auch finden, dem Informat i onskonp lex (b) zuzuordnen. 176 Die Göttinger Universität im Jahre 1782 und die Berliner Akademie im Jahre 1784 stellten Preisfragen zur Auflösung der Grundlegungsproblematik der Infinitesimalrechnung. Insbesondere geht es in der Berliner Preisfrage um die Präzision des Begriffs der "unendlichen Größe". Diese Aufgabe geht auf Lagrange zurück, der zu dieser Zeit Vorsitzender der Berliner Akaademie war. Das Ziel sollte sein, "eine lichtvolle und strenge Theorie dessen, was man U n e n d l i c h in der Mathematik nennt", zu geben. "Die höhere Geometrie benutzt häufig unendlichgroße und unendlichkleine Größen; jedoch haben die alten Gelehrten das Unendliche sorgfältig vermieden, und einige berühmte Analysten unserer Zeit bekennen, daß die Wörter unendliche Größe widerspruchsvoll sind. Die Akademie verlangt also, daß man erkläre, wie aus einer
Fließende Größen in der Infinitesimalrechnung
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Infinitesimalrechnung. Die transzendentale Erörterung des Begriffs van Räume leistet die Erklärung der "Möglichkeit der Geometrie als einer synthetischen Erkenntnis a priori" (B 41). Es kann daher die Frage gestellt werden, ob mit der Erörterung des Begriffs van Räume in der transzendentalen Ästhetik Argumente gegeben sind, die auf eine für die Infinitesimalrechnung spezifische Art der Konstruktion in reiner Anschauung hinweisen. Die Infinitesimalrechnung bestimmt insbesondere reine räumliche Größen wie Raumkurven, die zeitabhängig parametrisiert sind. In der ersten Auflage der Kr.d.r.V. von 1781 wird eine Bestimnung vom Räume gegeben, die den Raum so bestimmen will, daß Verhältnisse unendlich gegebener Größen nicht unmöglich sind: "Der Raum wird als eine unendliche Größe gegeben vorgestellt. Ein allgemeiner Begriff van Raum ... kann in Ansehung der Größe nichts bes tinmen. Wäre es nicht die Grenzenlosigkeit im Fortgange der Anschauung, so würde kein Begriff von Verhältnissen ein Principium der Unendlichkeit derselben bei sich führen" (A 25). Hierbei ist nicht weiter spezifiziert, ob es sich um die Unendlichkeit des "unendlich Großen" oder um die der infinitesimalen Größen handelt; denkbar ist aber, daß sich diese Ausführung auf beide Arten von Verhältnissen bezieht. In der zweiten Auflage von 1787 tritt diese Aussage über ein Principium der Unendlichkeit von Verhältnissen nicht mehr auf. Statt dessen ist wesentlich verallgemeinert von einer "unendlichen Menge von Vorstellungen" die Rede, die in der ursprünglichen Vorstellung vcm Räume enthalten sindl??. ¡ n dieser verallgemeinerten Formulierung ist die Aussage der 1.
widersprechenden Annahme so viele richtige Sätze entstanden sind, und daß man einen sicheren und klaren Grundbegriff angebe, welcher das Unendliche ersetzen dürfe, ohne die Rechnungen zu schwierig oder zu lang zu machen" (Cantor Bd.IV, S.645, vgl. auch Wussing, S.223ff.). 177 Vgl. Β 39 - 40.
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Qualität und Quantität
Auflage zu Vernaitnissen unendlich gegebener Größen mitenthalten: Die Begriffe von Verhältnissen, die ein "Principimi der Unendlichkeit" bei sich führen, beziehen sich auf unendliche gegebene Anschauungen, diese werden als im Kaum befindlich vorgestellt, wobei der Raum als unendliche gegebene Größe vorausgesetzt ist. Der Begriff vom Räume als ursprüngliche Vorstellung, wie er in der zweiten Auflage dargelegt ist, ist die weitergehende Aussage und imfaßt Aussagen über Verhältnisse, die ein Principium der Unendlichkeit bei sich führen. Zur Erörterung der Grundlegungsproblematik der Infinitesimalrechnung gehört in der Kr.d.r.V. die Vorstellung des Konzepts der "fließenden Größen", die oben dargelegt wurde und eine vermittelte indirekte Beschreibung der Art der Konstruktion in reiner Anschauung der Infinitesimalrechnung enthält: Als Rechnung des Unendlichen ist sie auf die "Algebra von Gleichungen" gebaut (AA XXIX S. 49), wie es in einer Vorlesungsmitschrift heißt und wie es im übrigen auch der Eulerschen Tendenz der Verallgemeinerung algebraischer in analytische Ausdrücke, die in der "Introductio in analysin infinitorum"178 behandelt wird, entspricht. Deshalb ist die Art der Konstruktion der Infinitesimalrechnung als eine anzusehen, die notwendig durch diejenige bedingt istl?9, die "die bloße Größe (Quantitatem), wie in der Buchstabenrechnung" konstruiert, wobei diese Art der Konstruktion "von der Beschaffenheit des Gegenstandes, der nach einen solchen Größenbegriff gedacht werden soll, gänzlich abstrahiert" (B 745). Obwohl also indirekt mehrere
178 Die Art der Konstruktion der Infinitesimalrechnung ist durch die der Algebra nicht hinreichend bedingt, da die Infinitesimalrechnung Methoden aufweist, die keine algebraischen sind, z.B. Konvergenzuntersuchungen, Abschätzungen. Die Infinitesimalrechnung setzt die Vollständigkeit des der Untersuchung zugrunde liegenden Zahlkörpers voraus. 179 Siehe die "Bemerkung zum Funktionsbegriff" am Ende dieses Kapitels.
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Bestürmungen zur Grundlagenproblematik der Infinitesimalrechnung aus der Kr.d.r.V. abzulesen sind, ist im Ganzen festzuhalten, daß> eine transzendentalphilosophische Grundlegung, wie sie die "transzendentale Erörterung des Begriffs vom Räume" für die Geometrie gibt, für die Algebra und die Infinitesimalrechnung in dieser geschlossenen Darlegungsweise in der Kr.d.r.V. nicht enthalten ist. Trotzdem maßte sich weiter die Frage nach dem transzendentalen Ort der Begriffe in Kaum und Zeit stellen lassen, die als das Prinzip der Erklärung der Möglichkeit der Infinitesimalrechnung eingesehen werden könnenl^O, Einen Hinweis darauf, daß dafür die Betrachtung reiner Verhältnisse von Größen im Raum, die von Zeitgrößen abhängig sind, von Relevanz ist, kann man in einer Reflexion zu A.G. Baumgartens "Metaphysica" finden: "Der Satz der Kontinuität will nur sagen: Alle diversa sind remota, d.i. sie sind nicht anders in Verknüpfung als per intermedia, wozwischen der Unterschied noch kleiner ist. D.i. kein Unterschied ist der kleinste, weil kein Ubergang elementar ist und der kleinste ist, also inmer eine Größe hat. Es gehört zum Ubergang eine Zeit, mithin eine Annäherung zu einem neuen Zustande. Der kleineste Unterschied würde ein Differentiale heißen; weil aber kein kleinester ist, so heißt er Fluxion" (AA XVIII S. 167). Die Erwähnung des Satzes der Kontinuität steht im Zusanmenhang mit Baumgartens Unterscheidung von absoluten und relativen Sprüngen, die zur Erörterung des "negativen Weltbegriffes"181 gehört. Der Satz der Kontinuität besagt speziell für Größen
18Ü Vgl. Β 40. 181 Sectio II: "Notio mundi negativa". Die Reflexion Kants bezieht sich nach M auf den dazu gehörigen Paragraphen 386: "Eventus sine ulla ratione sufficiente próxima esset sal tus absolutus*). Eventus sine sufficiente próxima ordinaria est saltus respectivus**). *) das völlig durch einen Sprung geschähe. **) wobei gewissermaßen ein Sprung statt hat" (A. G. Baumgarten: "Metaphysica", IV. Aufl., Magdeburg, 1757, zit. nach AA XVIII S.108).
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Qualität und Quantität
im Raum, daß sie "remota", d.h. entfernte Größen, sind und daß sie also duren stetige Bewegungen in der Zeit einander angenähert werden können. Da es aber keine kleinste Annäherung gibt, weil zu jeder Annäherung unter der Prämisse der Kontinuität noch eine weitere Annäherung möglich ist, wird auf Newtons Vorstellung der stetigen Bewegung veränderlicher G r ö ß e n l 8 2 ( deren Fluxionen die Geschwindigkeiten des Abnehmens oder Wachsens messen, hingewiesen. Mit dem Newtonschen Konzept der Fluxion als Geschwindigkeit des Fallens oder Steigens ist wegen der Geschwindigkeitsvorstellung eine Zeitvorstellung nahegelegt, wie es für das Erzeugen einer Linie durch Fluxion dargelegt worden ist183, Dadurch ist das Newtonsche Konzept der Grundlegung der Differentialrechnung für die mathematische Beschreibung "fließender" Bewegungsabläufe in der Zeit geeigneter als Leibniz' Konzept der "unvergleichbarkleinen Größe", der Differentialgröße, die von Leibniz selber schon in die Nähe der unendlich kleinen Größen gerückt wurdel84. Hierin liegt kein Problem des mathematischen Konzepts von Leibniz, das herausragend und für die Mathematik epochebestinmend war. Aber es besteht ein Problem hinsichtlich der Klarheit der Abgrenzung zwischen dem Bereich des mathematisch Möglichen
182 Vgl. "Newtons Abhandlung über die Quadratur der Kurven" Hrsg. v. G. Kowalewski, Leipzig 1908, S.7. 183 Vgl. AA XIV S.53. 184 "Um daher diese subtilen Streitfragen zu vermeiden, begnügte ich mich, da ich meine Erwägungen allgemein verständlich machen wollte, das Unendliche durch das Unvergleichbare zu erklären ... Auf diese Weise nämlich erhält man beliebig viele Grade unvergleichbarer Größen, sofern ein unvergleichlich viel kleineres Element, wenn es sich um die Feststellung eines unvergleichlich viel größeren handelt, bei der Rechnung außer acht bleiben kann. So ist etwa ein Teilchen der magnetischen Materie, die das Glas durchdringt, einem Sandkorn, dieses wiederum der Erdkugel, die Erdkugel schließlich dem Firmament nicht vergleichbar..." (Leibniz, zit. nach Wussing S.183).
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und dem physikalisch Wirklienen. So wird schon bei Leibniz das Konzept der unvergleichbar kleinen Größen in unmittelbare Verbindung mit Elementen der Materie, wie etwa "Teilchen der magnetischen Materie" gebracht, deren Existenz postuliert wird. Aus dieser Unscharfe wird durch den Standpunkt der Monadenlehre ein stärkeres Problem: Die mathematische Erkenntnis, daß ein Raum ins Unendliche teilbar sei, wird mit der physikalischen Behauptung, daß "die Materie aus physischen Punkten bestände" (AA IV 50413), in eins gesetzt. Letzteres läuft auf die Hypothese der Realität kleinster Teilchen der Materie hinaus, also auf den Standpunkt der Atomistik. Unter der Voraussetzung der Atomistik gilt der Satz der Kontinuität nicht: Diversa könnten dann nämlich quanta discreta sein, die nicht mehr unbedingt durch einen stetigen Bewegungsablauf ineinander überführbar wären. Sie hätten einen kleinsten, nicht mehr überbrückbaren Abstand. A n dieser Stelle, in der das Konzept der "unvergleichbar kleinen Größe" sich mit der Atomistik verbindet, wird dem Newtonschen Fluxionskonzept gegenüber dem Leibnizschen Konzept der Differentialgröße eine Präferenz gegeben. Dieses bedeutet nicht, daß Kant nicht die Leistungen von Leibniz zur Herausbildung des Differentialkalküls a n e r k e n n t l 8 5 denn es konmt ihm >
185 So benutzt Kant in der "Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels" (1766) die Differentialgröße als Mittel eines kosmologischen Modells, wie auch Leibniz in einen Vergleich der Größen einer Reihe, die von einem magnetischen Teilchen zum Firmament reichte, kosmologische Betrachtungen anstellte (vgl. Arm. 184), um die Frage zu beantworten: "Warum sollte derselbe (Gott, G.B.) nicht den Begriff einer andern Unendlichkeit in einem dem Räume nach verbundenen Zusammenhange darstellen und dadurch den Unfang der Welt ohne Grenzen machen können?" Kant führt die Beantwortung dieser Frage auf die "noch ... einer Erörterung bedürftigen Frage" zurück, "ob dasjenige, was eine durch die höchste Weisheit begleitete Macht hervorgebracht hat, sich zu offenbaren, zu denjenigen, was sie hat h e r v o r b r i n g e n können, sich wie eine Differentialgröße verhalte" (AA I S.310, Hervorhebung G.B.). Kant will den Fragenkomplex "mit
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Qualität und Quantität
wesentlich auf die klare Abgrenzung gegen die Atomistik an. Die Möglichkeit der mathematischen Beschreibving des Verhältnisses infinitesimaler Größen durch Differentialgrößen wird gerade auch in der Auseinandersetzung mit dem Atomismus bestätigt, die in Bogen mit der Signatur "A Element. Syst." oder "Elem. Syst." des Op.p. auf tretende : "Alle Materie ist ins Unendliche teilbar also gibts keine Atomistik sondern Fluxion" (AA XXII 26909). 'Diese Beschaffenheit (der Flüssigkeit einer Materie nach dem Gesetz der Stetigkeit, G.B. 187) setzt ein fluxionistisches, nicht ein atomistisches Prinzip der Teilbarkeit voraus, d.i. daß die einander in der Stoßbewegung folgenden Teile nicht wie kleine feste Körperchen, sondern bis zur Differentialgroße ins Unendliche geteilt als Quantum continuum also gedacht werden, diesem Prinzip gemäß die bewegenden Kräfte sind" (AAXXII 27006). In den erläuternden Reflexionen zum Thema "Prima matheseos intensorum p r i n c i p i a " ! ^ , das Baumgartens Metaphysik vorgibt, wird eine Beschreibung der Übereinstimnung einer Realität (z.B. der Geschwindigkeit eines Beweglichen), die als intensive Größe durch ein Moment als Ursache erzeugt worden ist, und einer extensiven Größe (z.B. einer Bewegungslinie)
einer aus der Natur der Zahlen gezogenen Erklärung" beantworten, die auch als Benennung des Forschungsprogramms gelesen werden könnte, das sieben Jahre später in der Schrift von den negativen Größen in den Satz von der Sunmierung der Realgrößen mündet (vgl. AA II S.197), welche als Bildung einer unendlichen Sunne an der Theorie der konvergenten Reihen der Differentialrechnung der Vorstellung halber Anteil ninmt. 186 Vgl. auch AA XXI 20104-06, A A X X I I 19301, 19406. 187 "Die Ncminal=Definition der Flüssigkeit einer Materie überhaupt ... ist die Beschaffenheit derselben, nach welcher alle ihre Teile als ein Kontinuum im Stoße gegen eine unbewegliche Fläche nur s u k z e s s i v , nicht in Masse, sondern i m F l u s s e ... nach dem Gesetz der Stetigkeit ... ä u ß e r l i c h bewegend sind" (AAXXII 26924-27006). 188 (lat.) = "Von den Prinzipien der Mathematik der intensiven Größen". Vgl. AA XVII S. 61, AA XVIII S. 239.
Fließende Größen in der Infinitesimalrechnung
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gegeben, die mathematisch durch eine Differentialgroße erzeugt wird: "Die Erzeugung der Realität hat ein Moment, des quanti extensivi ein Element=Differentiale. (Jenes ist wie eine Linie anzusehen, die in einer Zeit eine Fläche beschreibt)" (M. XVIII S. 239). Ist f(t)dt eine Differential form, wabei f als stetige Funktion auf dem Zeitintervall I = [TQ.TIJ vorausgesetzt ist, so erzeugt sie, wenn sie längs dem Intervall [TQ, TJ] ausgewertet wird, eine Funkt ionici) F: [T0, Τχ] R, für die gilt: ÍT1
F (Τ) =
f(t) dt
(Τ E [TQ , ΤΙ]).
Τ0 189 Zur Definition der Integral funktion F vgl. Grauert, Lieb: "Differentialund Integralrechnung I", Berlin, Heidelberg, New York, 1973, S.173. Der Zusanmenhang zwischen der Differentation und Integration reeller Funktionen wird vermittelt durch den sogenannten Fundamentalsatζ der Differential- und Integralrechnung, vgl. a.a.O. S.176. Die Feststellung, daß die Integration, die einen Flächeninhalt bestimmt, als Unkehrung der Differentation anzusehen ist, trifft Leibniz in einer Notiz vom 29. Oktober 1675, die "eine Sternstunde in der Geschichte der Mathematik dokumentiert" (Wussing S.182). Aufbauend auf den Vorarbeiten zur Entdeckung der Integralrechnung durch Cavalieri wird notiert: "Es wird nützlich sein, statt der Gesamtheiten des Cavalieri: also statt 'Sunme aller y* von nun an j y dy zu schreiben. Hier zeigt sich endlich eine neue Gattung des Kalküls, die der Addition und Multiplikation entspricht. Ist dagegen j y dy = (y^)/2 gegeben, so bildet sich sogleich das zweite auflösende Kalkül, das aus d((y2)/2) wieder y nacht. Wie nämlich das ZeichenJ die Dimension vermehrt, so vermindert sie das d. Das Zeichen j aber bedeutet eine Sunme, d eine Differenz" (zitiert nach Wussing S.182, vgl. auch Cantor Bd.III S.166f., Kline S.373-375). Kant selber bezieht sich schon in seiner Erstschrift auf Methoden der Integralrechnung, um Flächeninhalte von Dreiecken zu bestimmen, welche wie die Arbeiten von
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Qualität und Quantität
Der Funktionswert F(T) mißt den Flächeninhalt der Fläche unter der Kurve f(t) auf dem Intervall [T 0 ,Ti] . Faßt ran LTo.T]] als ein Zeitintervall auf, wäre in diesen Sinne die durch den Graphen von F(T) gegebene Linie eine solche, "die in einer Zeit eine Fläche beschreibt" (AA XVIII S. 239). Noch Leibniz oder Muschenbroeks "Grundlehren der Naturwissenschaft" sich auf die Indivisibelnmethode von Cavalieri beziehen: "Wenn man sich diese Linien DE, PG etc. unendlich nahe gedenkt, so werden sie nach der Methode des unendlich Kleinen, die Cavaiierius in die Meßkunst eingeführt hat, den ganzen Inhalt des Triangels ABC ausmachen" CAA I S.119). Bei dieser Bemerkung wird auf folgende Figur Bezug genommen: A II F Β Κ L R X
Dieses ist im wesentlichen die gleiche Figur, die in dem zur Explikation des Momentbegriffes wichtigen "Losen Blatt" des IV. Konvoluts des Op.p. auftritt (vgl. AA XXI S.437). Außerdem besteht eine Ähnlichkeit mit der rechten Hälfte der Figur, die zum Beweis des dritten Falles des Lehrsatzes der Phoronomie gehört (vgl. AA IV S.492). Implizit sind Kenntnisse über die von Cavalieri entwickelten Methoden der Integralrechnung auch in einer späteren Kantischen Schrift belegt: In Vorarbeiten zu der Abhandlung "Ausgleichung eines auf Mißverstand beruhenden mathematischen Streits" (1796) (AA VIII S.407-410) wird wegen 3 2 + 4 2 = 5 2 auf das pythagoräische Zahlentripel 3:4:5 verwiesen. Hierbei geht es Kant darum, gegenüber der Schrift 'Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie" (1796) (AA Vili S.387 - 406) zu präzisieren, daß er seine Frage: "Was macht, daß das r a t i o n a l e Verhältnis der drei Seiten eines rechtwinkeligen Dreiecks nur das der Zahlen 3, 4, 5 sein kann?" (AA Vili S.393) ausschließlich in bezug auf aufeinanderfolgende natürliche Zahlen verstanden wissen will: "Das rationale Verhältnis etc. in der natürlichen Ordnung der Zahlen kann nur ein einziges sein nämlich 3, 4, 5. - So ist im Archimedischen Theorem das Verhältnis des Kegels, der Kugel und des Zylinders, obgleich zwischen den sie durch Uirirehung um eine
Fließende Größen in der Infini tesimalrechnung
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schärfer wird die mathematische Beschreibung einer beschleunigten Bewegung, deren Geschwindigkeit durch ein "Mcment der Sollicitation" erzeugt wird, mittels des Differentialbegriffes in einem sogenannten "Losen Blatt" des Op.p. gegeben, in dem die mathematische Größe der Beschleunigung durch die erste Ableitung (Differential) der
gemeinschaftliche Achse erzeugenden Figuren nicht rational ist" (AA XX III S.200). Während der Ausgang der Problemstellung noch das pythagoräische Zahlentripel 3, 4, 5 war, ist in dieser Reflexion ein neuer Akzent hinzugetreten, es geht von den Unterschied von rationalen und irrationalen Größenverhältnissen, der sich an dem Verhältnis der Volumina eines Kegels 0%), einer Halbkugel (Vjj) und eines Zylinders (Vz) mit gleicher Grundfläche (Kreis mit Radius r um (0,0,0) in der (x,y)-Ebene) und gleicher Höhe r, die rotationssynmetrisch zur z-Achse sich befinden, festmacht. Als Zahlenverhältnis läßt sich das Theorem von Archimedes*^ so ausdrücken: V K : V H : V Z = 1 : 2 : 3. Um diese Volumina jedoch effektiv zu berechnen und damit dieses Verhältnis zu beweisen, bedarf es der Methoden der Integralrechnung. Die Querschnittsflächen sämtlicher drei Körper sind Kreise, deren Radien als Funktionen von ζ 0,r anzusehen sind. Für diese Funktionen gilt: r^2(z) = (r - z)2 rjj2(z) = r 2 - z 2 r z 2 (z) = r 2 Die Volumina bestürmen sich dann als Integrale der Querschnittsflächen, die bezüglich ζ gebildet werden: V K = J Γ Κ ( Ζ ) * Π dz = (r3)/3 * Π R
V
H =
Vz =
0ί
Γ
2
ΙΉ 2 (ζ)*
n
dz
= (2r 3 )/3
j r r z 2 (z)* τ dz = r 3 *
π
Hieraus ergibt sich das Theorem von Archimedes, und man sieht, daß die Volumina für rationale Radien irrationale Werte haben. Die Methode, diese Volumina als Integrale ihrer Querschnittsflächen zu berechnen, geht auf ein Prinzip von Cavalieri zurück: "Ebene Figuren oder auch
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Qualität und Quantität
Geschwindigkeitsfunkt ion an jeder Zeitstelle gegeben ist: "Wenn eben so, wie eine gegebene Geschwindigkeit durch ein Moment der Solicitation entspringt, ein bestimmter Raum durch das (Element) Differential des Raimes erzeugt wird" (AA XXI 44909). Reine extensive Größen, wie der Graph der Geschwindigkeitsfunktion ("ein bestürmter Raum"), und infinitesimale Größen wie die Steigung der Tangente in jedem Punkt jenes Graphen ("(Element) Differential") geben, eine mathematische Beschreibung und damit eine Bedingung der Berechenbarkeit des physikalischen Verhältnisses intensiver Größen, wie die Geschwindigkeit und das Moment der Sollicitation (Beschleunigung). Zusanmenfassend Ausführungen Kants
läßt zur
sich feststellen, Infinitesimalrechnung
daß die im engen
Körper stehen in demselben Verhältnisse wie die Gesamtheiten ihrer Geraden bzw. Ebenen, welche nach irgend einer Regel genaimen werden" (B. Cavalieri: "Geometria indivisibilibus continuorum nova quadam ratione promota", Bologna 1653). Die Ebenen, die hier nach einer "regula" genotimen werden, sind hier die Querschnittsflächen. Erst mittels des Prinzips von Cavalieri kann man gegenüber dem Archimedischen Theoren einsehen, weshalb die EinzeIvolumina der Körper jeweils irrational sind. *) In der Schrift "Kugel und Zylinder" (in: Archimedes: "Werke", übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Arthur Czwalina, Darmstadt, 1983, S.73 - 150) bestimmt Archimedes neben anderem auch das Verhältnis der Volumi na von Kegel und Kugel, von Kugel und Zylinder. Für das erste Verhältnis heißt es: "Der Inhalt der Kugel ist viermal so groß wie der eines Kegels, dessen Grundfläche gleich der Fläche des größten Kugelkreises und dessen Höhe gleich dem Radius der Kugel ist" (a.a.O., S.115). Hieraus folgt für das Verhältnis der Volumina der Halbkugel zum eingeschriebenen Kegel V h : V k = 2 : 1 . Im weiteren ist ausgeführt, "daß jeder Zylinder, dessen Grundkreisradius gleich dem Radius der Kugel, und dessen Höhe gleich dem Durchmesser der Kugel ist, 1 1/2 mal so groß wie die Kugel" ist (a.a.O. S.117). Damit gilt: Vz : V H = 3 : 2.
Mathematische Darstellung des Momentbegriffes
249
Zusanmenhang mit dem Momentbegriff als intensivem Quantum und unter der Voraussetzung allgemeiner Bestimmungen zur Anwendbarkeit der Mathematik auf physikalische Verhältnisse stehen. Im weiteren soll nun in der Untersuchung des Momentbegriffes herausgearbeitet werden, wie darin als intensives Quantum und als ein solches, das Bewegungen bestimmter Geschwindigkeit verursacht, die Bedingung der Möglichkeit der Anwendung der Mathematik veranlagt ist. 2.3.4 Zur mathematischen Darstellung des Momentbegriffes Das Moment bezeichnet den Grad des Realen, das als Ursache die Veränderung eines anderen Realen bewirkt. Eine jede Veränderung von Erscheinungen steht unter dem Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetz der Kausalität: "Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und Wirkung" (B 232). Die zweite Analogie der Erfahrung gibt also Auskunft, daß alle Veränderungen von Erscheinungen unter dem Gesetz der Kausalität stehen. Damit ist zunächst allerdings keine Beschreibung vorgegeben, wie190 Veränderungen von Gegenständen äußerer Sinne ablaufen. Die traditionelle Metaphysik 1 9 1 bietet dafür den Satz an, daß "alle Veränderung kontinuierlich sei" (B 213). Das Bedenkenswerte an diesem Satz ist, daß er aus zwei verschiedenen Gesichtspunkten heraus betrachtet werden kann: Zum einen kann er als eine Aussage über Veränderliches, das in einer Erscheinung gegeben ist, angesehen werden, dann liegen diesem Satz empirische
190 Vgl. zum "wie" der Veränderung: "Wie nun überhaupt etwas verändert werden könne; wie es möglich sei, daß auf einen Zustand in einem Zeitpunkte ein entgegengesetzter im andern folgen könne: davon haben wir a priori nicht den mindesten Begriff. Hierzu wird die Kenntnis wirklicher Kräfte erfordert, welche nur empirisch gegeben werden kann, z.B. der bewegenden Kräfte, oder, welches einerlei ist, gewisser sukzessiven Erscheinungen, (als Bewegungen) welche solche Kräfte anzeigen" (B 252). 191 Zum Begriff des "metaphysischen Gesetzes der Stetigkeit" vgl. AA IV, S.553.
250
Qualität und Quantität
Prinzipien zugrunde: "So würde der Satz, daß auch alle Veränderung (Übergang eines Dinges aus einem Zustande in den andern) kontinuierlich sei, leicht und mit mathematischer Evidenz hier bewiesen werden können, wenn nicht die Kausalität einer Veränderung überhaupt ganz außerhalb den Grenzen einer Transzendental-Philosophie läge und empirische Prinzipien voraussetzte" (B 213). Zum anderen kann aber der Satz der Stetigkeit von Veränderungen als Aussage über die Form einer jeden Veränderung gelesen werden, und als eine solche kann man diese dann auch herleiten: "Aber die Form einer jeden Veränderung, die Bedingung, unter welcher sie als ein Entstehen eines andern Zustandes, allein vorgehen kann (der Inhalt derselben, d.i. der Zustand, der verändert wird, mag sein, welcher er wjlle), mithin die Sukzession der Zustände selbst (das Geschehene) kann doch nach dem Gesetze der Kausalität und den Bedingungen der Zeit a priori erwogen werden" (B 252). Die Herleitung der Aussage, daß eine jede Veränderung ihrer Form nach eines kontinuierlichen Handlungsablaufes bedarf, benutzt die Messung intensiver Größen durch Gradel 0 2 : Ist der Zustand eines Gegenstandes der Wahrnehmung zum Zeitpunkt tg durch einen Grad a und der zum Zeitpunkt t^ durch einen Grad b gegeben (b > a) und es gelte, daß> die intensive Größe mit dem Grad a die Ursache derjenigen mit dem Grad b ist, dann bringt die Veränderung den Zustand zur Größe b nicht augenblicklich, sondern im Verlauf einds Zeitintervalls (I = [tg.tj]) hervor. Der Ubergang zwischen beiden Zuständen ist durch eine Zustandsaenderung belegt, deren intensive Größe den Unterschied zwischen den beiden Zuständen der Veränderung ausmacht. Diese intensive Größe wird so hervorgebracht, "daß, wie die Zeit vom Anfangsaugenblicke a bis zu ihrer Vollendung in b wächst, auch die Größe der Realität (b-a) durch alle kleinere Grade, die zwischen dem ersten und letzten enthalten sind, erzeugt wird" (B 254). Die Erzeugung dieser intensiven Größe vom Grad (b-a) ist nach den Ausführungen zum Prinzip der
192 Für beide folgenden Sätze vgl. Β 253 - 254.
Mathematische Darstellung des Momentbegriffes
251
Antizipationen der Wahrnehmung, das die Bedingung der Möglichkeit der Anwendung der Mathematik auf das Reale der Erscheinung enthält (der mathesis intensorum), einer mathematischen Darstellung fähig. Innerhalb des Zeitintervalls [tq»11] wird die kontinuierliche Größe vom Grad (b-a) durch eine stetige Funktion erzeugt: P: [to.ti]— t ι > p(t) wobei die Funktion ρ die folgenden Randwerte hat: p(tg) = 0, p(tj^) = b-a. Es gilt gerade, daß die Funktion ρ "vom Anfangsaugenblicke" tg van Wert p(tg) = 0 unter Durchlauf aller Zwischenwerte des Intervalls [0,b-a] , d.h. "aller kleineren Grade, die zwischen dem ersten (=0, G.B.) und dem letzten (= b-a, G.B.) sind", den Wert des Grades p(t^) = b-a in "ihrer Vollendung", d.h. zum Zeitpunkt t^ erreicht. Die Erzeugung der intensiven Größe mit Grad (b-a) in einer Zeit, die im Anfangszeitpunkt mit dem Grad 0 anhebt und im Endzeitpunkt den Grad (b-a) erreicht hat, stellt den Übergang zwischen den Zuständen, die im Anfangs Zeitpunkt durch die Größe a und im Endzeitpunkt durch die Größe b markiert werden, dar. Der Übergang zwischen zwei Zuständen eines Realen ist daher eine Bestinmung der Zeit, die vonnöten ist, die Wahrnehmung des Unterschiedes beider Zustandsgrößen a und b zu erzeugen: "Um deswillen ist ein jeder Übergang in der Wahrnehmung zu etwas, was in der Zeit folgt, eine Bestinmung der Zeit durch die Erzeugung dieser Wahrnehmung, und da jene, imner und in allen Teilen, eine Größe ist, die Erzeugung einer Wahrnehmung als einer Größe durch alle Grade, deren keiner der kleinste ist, von dem Zero an bis zu ihrem bestürmten Grad" (B 255). Der bestimmte Grad im oben genannten Fall ist (b-a). Die mathematische Darstellung der Erzeugung durch die stetige Funktion: P : [tü» 11 ] ^ie i n i h r Minimum p(tg) = 0 und in tj ihr Maximum p(tj) = b-a annimmt, macht deutlich, daß ohne Sprünge und Lücken sämtliche Werte zwischen 0 und b-a angenommen werden ( Z w i s c h e n w e r t s a t z ) 1 9 3 . Wegen der Vollstän193 Vgl. Blatter S.126f.
252
Qualität xind Quantität
digkeit von R g i l t 1 ^ für jedes Paar von Zeitpunkten aus [tQ.tj] und für jedes Paar von Werten aus [0,b-a] , daß zwischen beiden Paarwerten jeweils beliebig viele weitere Werte liegen und es somit kein Paar gibt, dessen Paarwerte den kleinsten Unterschied hätten: "Das ist nun das Gesetz der Kontinuität aller Veränderung, dessen Grund dieser ist: Daß weder die Zeit, noch auch die Erscheinung in der Zeit, aus Teilen besteht, die die kleinsten sind, und daß doch der Zustand des Dinges bei seiner Veränderung durch alle diese Teile, als Elemente, zu seinem zweiten Zustande übergehe. Es ist k e i n U n t e r s c h i e d des Realen in der Erscheinung, so wie kein Unterschied in der Größe der Zeiten der k l e i n e s t e " ist (B 254). Aus der Darstellung der kontinuierlichen Größenerzeugung der Größe (b-a) durch die stetige Funktion ρ ist abzulesen, daß alle Werte zwischen 0 und b-a angenommen werden. Da a und b als nicht identische Größen anzusehen sind, folgt aus 0 Φ b-a, daß die Funktion ρ unendlich viele Werte zwischen diesen Größen annircmt: "...und so erwächst der neue Zustand der Realität von dem ersten an, darin diese nicht war, durch alle unendliche Grade derselben, deren Unterschiede von einander insgesamt kleiner sind, als der zwischen 0 und a" (B 254). Bevor weiter argumentiert wird, ist eine Anmerkung zur Bezeichnung zu machen, damit die Lesehaltung nicht unscharf wird: Die Form des Übergangs von einer intensiven Größe vom Grad a zu einer solchen vom Grad b (b > a) ist die gleiche wie von einer reinen Anschauung vom Grad 0 zu einer intensiven Größe von einem Grad c (c >0)195.
194 Vgl. Blatter S.24f. 195 Daß die Form des Überganges die gleiche ist, beruht darauf, daß jede intensive Größe durch stufenartige Veränderung des empirischen Bewußtseins auf 0 gebracht werden kann: "Nun ist vcm empirischen Bewußtsein zum reinen eine stufenartige Veränderung möglich, da das Reale desselben ganz verschwindet, und ein bloß formales Bewußtsein (a priori) des Mannigfaltigen im Raum und Zeit übrig bleibt: Also auch eine Synthesis der Größenerzeugung einer Empfindung von ihrem Anfange, der
Mathematische Darstellung des Momentbegriffes
253
Sind nun g t , g s Grade beliebiger Zwischenstufen des Übergangs von 0 zum Grad c einer gegebenen intensiven Größe, dann gilt für die Zwischenstufen iimier | g t - g s | < c. Diese Eigenschaft wird von der stetigen Gradabbildung erfüllt: g: [0,1] — > [0,c] t I—» g(t) =: g t . Die Überlegungen zu der Frage, welche Bestimmungen zum Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetze der Kausalität einen Beitrag zur Bestimmung der Form der Veränderung intensiver Größen überhaupt hergeben, münden in dem Gesetz der Kontinuität aller Veränderung: "Alle Veränderung ist also nur durch eine kontinuierliche Handlung der Kausalität möglich, welche, sofern sie gleichförmig ist, ein Moment heißt. Aus diesen Momenten besteht nicht die Veränderung, sondern wird dadurch erzeugt als ihre Wirkung" (B 254). Zu der bisherigen Bestürmung des Mcmentbegriffs : (a) Das Moment ist ein Reales, das Ursache eines anderen Realen ist (Beispiel: Moment der Schwere), tritt hier eine weitere Bestimmung des Momentbegriffes hinzu: (b) Das Moment ist die gleichförmige Ursache einer kontinuierlichen Handlung der Kausalität. Hinreichend für die Bestimnung des Momentbegriffes ist das Merkmal der Gleichförmigkeit, mit dem das Moment als Ursache einer kontinuierlichen Handlung der Kausalität wirkt. Die bisherige Bestimnung des Moments als ein Reales, das Ursache eines anderen Realen ist, ist notwendiges Kriterium. Daher machen beide Bestimmungen ((a) und (b)) zusammengenommen das notwendige und hinreichende Kriterium für den Begriff des Moments als Ursache von Realem aus. reinen Anschauung = 0, an, bis zu einer beliebigen Größe derselben" (B 208). Diese stufenartige Veränderung vollzieht sich für jede intensive Größe unabhängig davon, wie groß ihr Grad ist (z.B. Grad = a, b, a-b,...). Daß jedoch eine intensive Größe, die bestürmt ist, einen Grad hat, wird durch das Prinzip der Antizipationen der Wahrnehmung garantiert, c bezeichnet hier den festen Grad einer bestürmten intensiven Größe.
254
Qualität tond Quantität
Die matnematisehe Beschreibung der kontinuierlichen Veränderung einer intensiven Größe mit Grad a zum Zeitpunkt tg zu einer mit Grad b zu einem folgenden Zeitpunkt t^ als stetige Funktion ρ Ρ: [to.til — > [θ, b-a] t I — > p(t) mit p ( t Q > = 0, p(ti> = b-a, die das Entstehen der intensiven Größe mit Grad b-a kennzeichnet, gibt Hinweise darauf, wo eine mathematische Beschreibung des Momentbegriffes zu suchen ist. Hauptsächlich vollzieht sich die mathematische Beschreibung einer Veränderung als kontinuierliche Handlung der Kausalität durch eine stetige Funktion, deren Randwerte festgelegt sind. Es stellt sich die Frage, welche mathematische Beschreibung man aus der Bestimnung a priori der Form der Veränderung von Zuständen intensiver Größen, die durch Momente verursacht sind, erlangen kann. Insbesondere hat man es mit der Frage zu tun, welche mathematische Qualität zur Beschreibung einer gleichförmig verursachten Veränderung von intensiven Größen geeignet ist. Ein Ansatz ist dazu, die Heraushebung der Menge der fließende Größen innerhalb der Menge der kontinuierlichen Größen zu betrachten. Wie das mathematische Konzept der stetigen Funktionen geeignet ist, die Veränderung kontinuierlicher Größen zu beschreiben, ist die Beschreibung der Veränderung fließender Größen durch das mathematische Konzept der differenzierbaren Funktionen der Heraushebung der fließenden Größen innerhalb der kontinuierlichen Größen angepaßt. Wenn dann innerhalb der Menge der kontinuierlichen Veränderungen diejenigen ausgezeichnet werden, die gleichförmig verursacht sind, dann entspricht diesem Vorgang die Auszeichnung der fließenden Größen, die innerhalb der Menge der kontinuierlichen Größen die Größen sind, deren Erzeugung gleichförmig verursachte Veränderungen vermitteln (z.B. obige Erzeugung der Größe b-a). Diese Auszeichnung kann dadurch geschehen, daß man die obige mathematische Beschreibung heranzieht: Die Funktion p: [to.tl] — H O . b - a ]
, t —>p(t)
mit p(t 0 ) = 0 und pit!)
Mathematische Darstellung des Momentbegriffes
255
= b-a beschreibt dann die Erzeugung einer fließenden Größe, die gleichförmig verursacht ist, wenn ρ differenzierbar istl96. jedes t aus [t o » t J ist p(t) die mathematische Beschreibung des Moments zum Zeitpunkt t. Uber diese Momente in den Zeitpunkten des Intervalles, die gleichförmig die Erzeugung einer kontinuierlichen Größe veranlaßten, ist ausgeführt: "Aus diesen Momenten besteht nicht die Veränderung, sondern wird dadurch erzeugt als ihre Wirkung" (B 254). Daß die gegebene mathematische Beschreibung des Moments brauchbar ist, kann dadurch abgelesen werden, daß p* durch Integration die Funktion ρ erzeugt. Die Größen p(t) "bestehen nicht" aus den Größen p'(t), sondern sind als Integrale deren Erzeugnisse: tof
T
p*(t)dt = p(T) 1 9 7
für jedes T e [to.tj]
Die philosophische Bestimmung des Moments als gleichförmig wirkende Ursache bei der Erzeugung kontinuierlicher Größen und die mathematische Beschreibung des Moments als erste Ableitung einer zeitabhängigen Größe bzw. als erste Ableitung der Erzeugungsfunkt ion einer kontinuierlichen Größe entspricht in der Verschiedenheit dieser Beschreibungen dem unterschiedlichen Herangehen an den Momentbegriff durch beide Wissenschaften, das im 4. Konvolut des Op.p. detaillierter als in der Kr.d.r.V. angegeben ist. Der Grund der detaillierten Ausarbeitung liegt darin, daß sowohl die 196 Der Terminus "gleichförmig" bezeichnet die durch ein Reales verursachte Veränderung, wobei dieses Reale als intensive Größe eine fließende Größe hat. Gleichmäßig beschleunigte Bewegung der Mechanik sind Beispiele "gleichförmiger" Veränderungen. 197 Dieses gilt wegen folgender Rechnung, die sich für alle Τ aus to,ti erfüllt: f T p'(t)dt = p(T) - p(t 0 ) = (b-a)q(T) = p(T) , da to p(t 0 )=0.
256
Qualität und Quantität
philosophische als auch die mathematische Betrachtung dort auf die gleichförmig beschleunigte B e w e g u n g l 9 8 eines Körpers gerichtet ist: "Wenn ein Körper motu uniformiter accelerato fällt, so wächst seine Geschwindigkeit wie die Zeit, aber das Moment der Acceleration wächst selber nicht, sondern ist immer dasselbe wie im Anfangsaugenblicke" (AA XXI 43617). Beschreibt nun das Intervall [0,t^] die Fallzeit jenes Körpers und ν die Geschwindigkeit der Bewegung des Körpers zu jedem Zeitpunkt dieses Intervalles (ν ist ein Beispiel zu jener Funktion p, die allgemein die Erzeugung einer fließenden Größe, die gleichförmig verursacht ist, beschreibt), so drückt sich die Bedingung, daß die Mementangeschwindigkeit des Körpers proportional zur Zeit wächst ("so wächst seine Geschwindigkeit wie die Zeit"), in folgender Funktionsvorschrift aus: v:
[O.tj]—>R t ι > g*t Die konstante Zahl g bezeichnet hier den Proportionalitätsfaktor, im Beispiel des durch die Erdbeschleunigung verursachten freien Falles ist etwa je nach geographischer B r e i t e ^ 9,78049 < g < 9,83221(m*sec -2 ). Für die mathematische Beschreibimg des Moments dieser Bewegung gilt: v'(t) = g für alle te [O.tJ Damit ist das erfüllt, was für die mathematische Beschreibung des Moments gefordert ist: "Der Mathematiker muß das Moment der Acceleration als eine wirkliche Bewegung mit einer bestimmten, aber unendlich=kleinen Geschwindigkeit in diesem gleichförmig=beschleunigten Falle in Rechnung bringen" (AA XXI 43621). Für die wirkliche Bewegung, die gleichförmig beschleunigt ist, ist durch die obige Beschreibung das Moment 198 Der mechanische Begriff der gleichförmig beschleunigten Bewegung wird von Kant bereits in seiner Erstschrift benutzt: "Motu uniformiter accelerato" (Vgl. AA I 17531, 17601+06). Er nennt diese Bewegung dort auch "einförmig bescheunigte Bewegung" (AA I 17531). 199 Vgl. Dorn: "Physik", S.30.
Matnematisene Darstellung des Momentbegriffes
257
mit einer konstanten Funktion in Rechnung gestellt vrorden. Diese Konstante ist unabhängig von der Zeitvariablen, daher gilt: "Aber das Moment der Acceleration wächst selber nicht, sondern ist imrier dasselbe wie im Anfangsaugenblicke" (AA XXI 43618). Durch g = ν'(t) als mathematische Beschreibung des Moments ist das Moment mit einem "bestimmten" Wert (=g) und mit einer "unendlich=kleinen Geschwindigkeit" (dv = v'(t)dt) in Verbindung gebracht worden. Diese zeitgenössische Charakteristik als "unend1 i ch=k1e i ne" Größe entspricht der ersten Ableitung der Geschwindigkeitsfunktion, die als Grenzwert einer Folge von Differenzenquotienten beschrieben werden kann: v'(t)= lim (v(t+h) - v(t)) / h h—0 Für den Begriff "unendlich=kleine" Größe wäre, neben dem anfangs schon Gesagten, darauf zu verweisen, daß mit der zeitgenössischen Vorstellung des Limes der Differenzenquotienten das Verhältnis 0/0 assoziert war, welches dann den Sprachgebrauch "unendlich kleine Größe" förderte. Die Geschwind! gke its funkt i on ν kann ihrerseits durch die Integration der Momentfunktion ν' erzeugt werden: oj
T
v'(t)dt = o j T gdt = g * Τ = v(T)
Da das Integral einer Funktion als Grenzwert einer Folge von Sunmen (Riemannschen Sunmen) aufgefaßt wird und Leibniz in Analogie zur Bildung der Differenz und der Sunme für endliche Größen die Operation der Differentiation und Integration für "unendlich kleine" Größen eingeführt hat2°0, läßt sich die folgende Aussage von den "sunmierten Momenten"
200 Leibniz wählte die Bezeichnungsweise für die neuartigen mathematischen Operationen bewußt in dieser Hinsicht: "Das Zeichen J aber bedeutet eine Sturme, d eine Differenz" (Leibniz zit. n. Wussing, S.182). Vgl. auch Anm. 189.
258
Qualität und Quantität
als Integration der Moment funkt i on lesen: "Denn die ganze Geschwindigkeit, die duren den Fall eine gewisse Zeit hindurch erworben wird, besteht aus diesen in allen Augenblicken der Zeit des Falles hindurch gleichen und sunmierten Momenten" (AA XXI 43624). Die Bewegung des "motu uni formi ter accelerato", deren "ganze" Geschwindigkeit durch die Funktion ν beschrieben wird, erfährt in jedem Augenblick der Bewegung eine konstante Beschleunigung v'(t) = g, welches eine mathematische Beschreibung des "in allen Augenblicken der Zeit des Falles gleichen" Moments ist. Durch Integration der Moment funkt ion ν' erhält man, wie bereits beschrieben, die Geschwindigkeitsfunktion. In diesem Sinne kann ausgesagt werden, daß "die ganze Geschwindigkeit" der Bewegung des freien Falles "aus diesen ... sunmierten Momenten" besteht, wobei hier als "Sunmation" die Operation der Integration für infinitesimale Größen verstanden werden kann. Die Mcment funkt ion ist eine besondere Größe, die von der Geschwindigkeitsfunktion in ihrem nach der Zeit parametrisierten Verlauf verschieden ist, was sich auch an folgender Argumentation ablesen läßt: "Das Moment der Acceleration kann ins Unendliche größer oder kleiner, niemals aber einer endlichen Geschwindigkeit gleich sein, weil sonst dadurch in einer gegebenen Zeit eine unendliche Geschwindigkeit erzeugt werden würde" (AA XXI 43626). Dieses Argument, warum Geschwindigkeit und Moment in ihrer Größe nicht übereinstinmen können, das darin besteht, daß in einem festen Zeit interval 1 kein Bewegungsverlauf möglich ist, dessen Geschwindigkeit über alle Schranken wächst, ist physikalischer und nicht mathematischer Art. Man kann aber auch aus diesem physikalischem Argument einen zutreffenden mathematischen Sachverhalt herauslesen: Würde die Moment- und die Geschwindigkeitsfunktion auf einem Intervall 0,t^ übere ins tinmen, so wäre folgende Differentialgleichving mit Anfangswertbedingung erfül1t: v' = ν v(0) = g
Mathematische Darstellung des Mcmentbegriffes
259
Diese Anfangswertaufgabe ist duren die Exponentialfunktion eindeutig lösbar: exp:
[o.tj—
t — > g * exp(t) Dehnt man den Definitionsbereich "ins Unendliche" aus, d.h. auf [o,+oo[, so wächst die Exponentialfunktion über alle Schranken. Für jedes Zeitinterval 1 [O.tj] gilt dagegen, «flaß diese Funktion wegen ihrer Stetigkeit beschränkt ist und keine "unendliche" Geschwindigkeit erreichen würde. Mit dem oben genannten physikalischen Argument, das im weiteren auch mit mathematischen Skizzen und Formeln für die doppelte Geschwindigkeit vorgetragen wird201 ( wird die Folgerung bekräftigt, daß es nicht sinnvoll ist zu denken, Moment und Geschwindigkeit zu identifizieren, "so ist es unmöglich beides zu vereinigen" (AA XXI 43723). Auch wenn Kants Argumentation an dieser Stelle physikalisch und nicht mathematisch ist, so trägt auch die Differentialrechnung dazu bei, einzusehen, daß eine differenzierbare Funktion und ihre erste Ableitung im allgemeinen nicht identifiziert werden können, weil es sich bei ihnen um verschiedene mathematische Qualitäten handelt, auch wenn sie in anderer Hinsicht durch ihre Quantitäten als Funktionswerte miteinander in Rechnung gestellt werden können. Die Nichtidentifikation von Geschwindigkeit und Moment liefert einen relevanten Grund, das Moment als bewegende Kraft und damit philosophisch als eine Ursache von Bewegung anzusehen: "Also muß das Moment der Geschwindigkeit nichts anderes (sein)202 a i s bewegende Kraft in einem Augenblicke, so fern sie durch die gleichförmige Acceleration eine endliche Geschwindigkeit hervorbringt" (AA XXI 43724). Die Bestimmung des Moments als Ursache einer gleichförmig beschleunigten Bewegung macht den Inhalt der philosophischen Betrachtung des Moments der Accélérât ion203 aus, die von der oben angegebenen 201 Vgl. AA XXI 43702 - 24. 202 Vgl. AA XXI S.437 Anm. zu Zeile 25. Das Wort "sein" wurde von mir gemäß dieser Anm. ergänzt. 203 accelero = (lat.) beschleunigen (Langenscheidt S.13).
260
Qualität und Quantität
mathematischen Betrachtung abgegrenzt ist: "Der Philosoph dagegen sagt: Das Moment der Acceleration sei gar keine Bewegung, mithin auch keine Geschwindigkeit, sondern bloß eine bewegende Kraft, in einer gewissen Zeit eine gewisse Geschwindigkeit hervorzubringen" (AA XXI 43631 - 43702). 2.3.5 Zur philosophischen Bedeutung des Momentbegriffs Das Moment der Acceleration ist explizit als Ursache möglicher Bewegung bestinmt; auf einem weiteren "Losen Blatt" des Op.p.204 heißt: es nämlich: "Daß das Moment gar keine Bewegung sei mit irgend einer auch nur unendlich kleinen Geschwindigkeit, sondern als bewegende Kraft, d.i. als Ursache der möglichen Bewegung, angesehen werden könne, die aber als solche bloß eine Idee ist und in Erklärung der Begebenheiten doch als wirkliche Bewegung muß betrachtet werden - welches dann lauter wahre Folgerungen gibt" (AA XXI 43116). Die philosophische Betrachtung des Mcmentbegriffes, die in den obigen Beschreibungen das Mcmen t als Ursache von Bewegungen betrachtet, ist von der mathematischen Betrachtung, die das Moment "mit einer bestürmten, aber unendlich=kleinen Geschwindigkeit ... in Rechnung"21^ bringt, geschieden. Die Bewegung als Wirkung, die durch ein Moment verursacht ist, wird insbesondere durch die Größe der Geschwindigkeit gemessen. Die Geschwindigkeit ist also Maß der Bewegung als Wirkung. Da der philosophischen Betrachtung
204 Die sogenannten "Losen Blätter" werden von der AA als Bestandteil des IV. Konvoluts des Op.p. herausgegeben. Sie alle enthalten Bestimmungen zu Begriffen der Physik oder der transzendentalphilosophischen Grundlegung der Naturwissenschaft. Die Mehrheit der "Losen Blätter" hat Überschriften, die auf dafür relevante Begriffe hinweisen: Z.B. "Moment", "Wahre und scheinbare Bewegung", "Von dem Maße der Quantität der Materie in demselben Volumen". "Lose Blätter" mit solchen Überschriften sind: 26-32, 43-47, 42, 32, 37, 38, 41, 35, 28, 30, 23, 39-40, 36, 22. 205 AA XXI 43621.
Philosophische Bedeutung des Mcmentbegriffes
261
des Mcmentbegri ff es bereits das Gesetz der Verknüpfung der Ursache und Wirkung zugrunde liegt, wird das Reale der Erscheinving auf seiten der Bewegung als Wirkung in Beziehung zum Realen der Erscheinung auf seiten des Moments als Ursache als vingleichartig angesehen. Daher kann die Größe des Realen eines Moments nicht mit der Geschwindigkeit der Bewegung als Wirkung gemessen werden. Die intensive Größe des Moments und die Geschwindigkeit der Bewegung verlangen verschiedene Messungen ihrer Grade. Die philosophische Behandlung, die qualitativ die intensiven Größen des Moments und der bewirkten Bewegung als verschieden ansieht, liegt daher der Anwendung der Mathematik auf die Beziehving des Grades des Moments und der Geschwindigkeit zugrunde: Die unterschiedliche mathematische Beschreibung des Grades des Moments und der Geschwindigkeit bedeutet nämlich nicht, daß es sinnlos wäre, beide Funktionen miteinander in Rechnung zu stellen: Erst die Vermittlung des Unterschiedes beider Funktionen durch das Verfahren der Ableitving der Differentialrechnving gestattet, eine deutliche mathematische Beschreibving des Vorgangs beschleunigter Bewegung zu geben. Die philosophische Behandlung des Momentbegriffes, die das Moment als Ursache möglicher Bewegung ansieht, geschieht in letztgenannter Belegstelle als Spezialfall eines allgemeinen Vorgehens der Transzendentalphilosophie im Bereich der Grundlegung der Naturforschung, das als Konsequenz dann auch Bedingungen für die Anwendung der Mathematik auf Gegenstände der Naturforschung hat. Dieses Vorgehen besteht in seiner Methode darin, metaphysische Voraussetzungen, die die theoretischen Naturforscher machen, als solche kenntlich zu machen und sie einer Kritik der Bedingung der Möglichkeit ihrer Erkenntnis zu unterziehen. Nachdem diese Kritik die Naturforschung von "überflüssigen" Hypothesen befreit hat, kann sie die so entstandenen Leerstellen im systematischen Aufbau der Naturforschung durch solche Voraussetzungen belegen, die wenigstens die gleiche Menge wahrer Folgerungen wie die kritisierten metaphysischen Voraussetzungen zulassen und die den Vorteil haben, mit den synthetischen Grundsätzen
262
Qualität und Quantität
des reinen Verstandes in Verbindung zu stehen. Am Beispiel der philosophischen Behandlung des Begriffs des Moments der Schwere wird in der Kr.d.r.V. das Verfahren der Transzendentalphilosophie in Kontrast zu überkommenen metaphysischen Voraussetzungen der Naturforschung beschriebenem : "Wer hätte aber von diesen größtenteils mathematischen und mechanischen Naturforschern sich wohl jemals einfallen lassen, daß sie diesen ihren Schluß lediglich auf eine metaphysische Voraussetzung, welche sie doch so sehr zu vermeiden vorgeben, gründeten? indem sie annehmen, daß das R e a l e im Räume (ich mag es hier nicht Undurchdringlichkeit oder Gewicht nennen, weil dieses empirische Begriffe sind) a l l e r w ä r t s e i n e r l e i sei und sich nur der extensiven Größe, d.i. der Menge, nach unterscheiden könne" (B 215). Auf den Nachweis, daß die mathematischen und mechanischen Naturforscher bei ihrer Voraussetzung der Gleichartigkeit des Realen leere Räume annehmen, und auf den "transzendentalen Beweis"2U7( der dieser Annahme entgegengesetzt ist, wird hier nicht weiter eingegangen, da nur der allgemeine methodische Aspekt der philosophischen Behandlung des Momentbegriffes betrachtet werden soll. Der Vorteil des Verfahrens der Transzendentalphilosophie liegt darin, "den Verstand wenigstens in Freiheit zu versetzen, sich diese Verschiedenheit (der Erfülllang der Räume, G.B.) auch auf andere Art zu denken, wenn die Naturerklärung hierzu irgend eine Hypothese notwendig machen sollte" (B 215 - 216). Ein Nachteil der Darstellung des beschriebenen Verfahrens der 206 Vgl. Β 215. 207 Β 215. Möglicherweise ist mit dem Ausdruck "transzendentaler Beweis" dem Inhalte nach auf den Beweis des Lehrsatzes 4 der metaphysischen Anfangsgründe der Dynamik verwiesen. Aus der Aussage des Satzes, daß "jeder" Teil "wiederum Materie ist" (AA IV S.503), folgt für eine Materie, die einen Raum erfüllt, daß alle ihre Teile Materie sind und ihre zugehörigen Räume erfüllen. Das heißt, es gibt keinen Teil dieser Materie, der leer ist. Zu der Problematik der leeren Teilräume vgl. auch die dem Beweis folgenden Anmerkungen (AA IV S.504 - 508).
Philosophische Bedeutung des Momentbegriffes
263
Transzendentalphilosophie in dieser Passage der Kr.d.r.V. besteht darin, daß für den unbefangenen an Naturforschung interessierten Leser nur eine überkonroene Hypothese durch eine neue Hypothese ersetzt wird. Auf diese Problematik der Darstellung wird jeder explizit hingewiesen, und möglicherweise ist ein Weg angedeutet, auf dem diese Problematik aufzuheben wäre: "Meine Absicht ist hier keinesweges, zu behaupten: daß dieses wirklich mit der Verschiedenheit der Materien, ihrer spezifischen Schwere nach, so bewandt sei, sondern nur aus einem Grundsatze des reinen Verstandes darzutun: daß die Natur unserer Wahrnehmungen eine solche Erklärungsart möglich mache" (B 216). Wenn man nicht den alten metaphysischen Fehler machen will, eine wirkliche spezifische Verschiedenheit der Materie durch einen Grundsatz a priori deduzieren zu wollen, so ist es nötig, zwischen den Data der empirischen Naturforschung, die eine spezifische Verschiedenheit der Materie darbieten2Ü85 und der "Natur unserer Wahrnehmungen", die durch die synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes bestinmt ist, Verbindungen zu schaffen, die Übergänge von diesen Grundsätzen zu wirklichen spezifischen Verschiedenheiten der Materie und umgekehrt zulassen. Möglicherweise liefern besondere Formen der Verhältnisse der Veränderung von Realen im Raíame Einteilungsgründe a priori, die eine spezifische Verschiedenheit notwendig, aber unter Umständen nicht hinreichend erklären könnten, weil letzteres dann inmer noch eine Aufgabe der empirischen Naturforschung wäre, die dann aufgrund der Einteilungsgründe a priori Anleitung zu einem systematischen Aufbau hätte, was einen Fortschritt gegenüber dan Aggregatcharakter bestürmter empirischer Naturforschungen darstellen würde. Der allgemeine philosophische Momentbegriff, der in den Ausführungen der Kr.d.r.V. zum Grundsatz der zweiten Analogie 208 Vgl. etwa die Anmerkungen zur Dichtigkeit der Materien in den metaphysischen Anfangsgründen der Dynamik (AA IV 52526 - 52611): Z.B. die spezifische Verschiedenheit von Wasser und Quecksilber.
264
Qualität und Quantität
der Erfahrung als gleichförmige Ursache einer Veränderung, die kontinuierliche Handlung der Kausalität ist, beschrieben ist, wurde dort nicht unter dem besonderen Aspekt der Naturforschung in Hinblick auf Bewegungen als besondere Veränderungen bestinmt: "Welchen Nutzen dieser Satz in der Naturforschung haben möge, das geht uns hier nichts an" (B 254). Obwohl die Herausbildung des Manentbegri f f es und des Konzepts der kontinuierlichen Veränderung intensiver Größen als "Dokumente" (B 255) einer möglichen Deduktion des Grundsatzes der Zeitfolge nach dem Gesetz der Kausalität als Bestandteil der transzendentalphilosophischen Grundlegung reiner Naturwissenschaft sehr eng mit der Differential- und Integralrechnung und deren Anwendung auf die Naturwissenschaft verbunden ist, darf es nicht verwundern, wenn Kant in der Kr.d.r.V. diesem Bezug zur Infinitesimalrechnung nicht größeren Platz eingeräumt hat. Denn es entspricht genau dem Sinn oben genannter Stellen des IV. Konvoluts des Op.p., in der das philosophische vom mathematischen Herangehen an den Mamentbegriff geschieden wird: Die Kr.d.r.V. behandelt die philosophische Seite dieses Herangehens und deshalb ist es die erstrangige Aufgabe, in den Ausführungen zum Grundsatz der zweiten Analogie der Erfahrung den philosophischen Momentbegriff als gleichförmige Ursache kontinuierlicher Veränderung intensiver Größen deutlich zu machen, die auf die Art der Erzeugung der Größen, die die Veränderung der Zustände vermittelt, eingeht. Für die besonderen Bestürmungen des Momentbegriffes in Hinblick auf die Naturforschung werden nun die Belegstellen der M.A.d.NW. herangezogen. 2.3.6 Die reine Größenlehre der Bewegung in den M.A.d.NW. Vorweg ist zu den M.A.d.NW. zu bemerken, daß sie in der Bezeichnung ihrer ersten drei Titel, den metaphysischen Anfangsgründen der Phoronomie, der Dynamik und der Mechanik, vorangegangenen Lehrwerken der theoretischen Physik entsprechen. Es sind die folgenden:
Reine Größenlehre der Bewegung
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Jacob Hermann (1678 - 1733): "Phoronomia sive de viribus et motibus corporum solidorum et fluidorum", 1716. Jean le Rond d'Alembert (1717 - 1783): "Traite de Dynamique", 1743. Leonhard Euler (1707 - 1783): "Mechanica sive motus scientia analytice expósita", 1736. Hiervon befanden sich nachweislich Hermanns "Phoronomia ..." und Eulers "Mechanica ..." in Kants Besitz (Warda S.34). Zu beginnen ist mit der Phoronomie. Die metaphysischen Anfangsgründe der Phoronomie beschreiben die Bewegung als Veränderung eines Beweglichen. Die Beschreibung der Bewegung eines bestimmten Raumes ist als die Veränderung seines äußeren Verhältnisses zu einem gegebenen ihn umgebenden Raum bestimmt: "Bewegung eines Dinges ist die V e r ä n d e r u n g der äußeren Verhältnisse desselben zu einem gegebenen Raum" (AA IV S.482). Die Bewegung eines Dinges ist die Bewegung eines relativen Raumes. Letzterer ist folgendermaßen erklärt: "Der Raum, der selbst beweglich ist, heißt der materielle, oder auch der r e l a t i v e Raum" (AA IV S.480). Der Raum, in dem die Bewegung eines gegebenen relativen Raumes beschrieben wird, "heißt der reine, oder auch a b s o l u t e Raum" (AA IV S.480). Isoliert man von der Vorstellung des relativen Raumes alles das, "was davon zur Empfindung gehört" (B 35), so erhält man eine dem relativen Raum korrespondierende formale Anschauung. Uber die formale Anschauung ist in der 2. Aufl. der Kr.d.r.V. ausgeführt: "Der Raum, als G e g e n s t a n d vorgestellt, (wie man es wirklich in der Geometrie bedarf,) enthält mehr, als bloße Form der Anschauung, nämlich Z u s a m m e n f a s s u n g des Mannigfaltigen, nach der Form der Sinnlichkeit gegebenen, in eine a n s c h a u l i c h e Vorstellung, so daß die F o r m d e r Anschauung bloß Mannigfaltiges, die f o r m a l e Ans c h a u u n g aber Einheit der Vorstellung gibt" (B 160 Arm.). Wie hier der Vorgang der Isolation, der für den gegebenen relativen Raum auf eine reine Anschauung , die als Gegenstand betrachtet wird, führte, beschrieben wurde, wird ein entsprechendes Verfahren für den absoluten Raum angegeben, um zu
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Qualität land Quantität
einer reinen Anschauung von diesen zu gelangen. Ausgegangen wird dabei von einem relativen Raum, der den ersteren relativen Raum umfassen muß. Duren Abstraktion, die dem genannten Isolationsverfallren entspricht, gelangt man zu einer reinen Anschauung: "Weil ich den erweiterten, obgleich inmer noch materiellen, Raum nur in Gedanken fiabe und mir von der Materie, die ihn bezeichnet, nichts bekannt ist, so abstrahiere ich von dieser, und er wird daher wie ein reiner, nicht empirischer und absoluter Raum vorgestellt" (AA IV S.481f.). Mit dem Vorgang der Isolation hat man eine Beschreibungsmöglichkeit gewonnen, die Bewegung eines relativen Raumes als eine Veränderung der äußeren Verhältnisse einer formalen Anschauung in einem ungebenden Raum als reine Anschauung darzustellen. Dieses gibt eine mathematische Beschreibung der Bewegung als reines räumlich-zeitliches Verhältnis, das eine Bedingung der Darstellung a priori des Begriffes der zusammengesetzten Bewegung ausmacht. Daß eine solche Bedingung gefordert wird, geht aus der Anmerkung zur Konstruktion des Begriffes einer zusammengesetzten Bewegung hervor: "Zur Konstruktion der Begriffe wird erfordert, daß die Bedingung ihrer Darstellung nicht von der Erfahrung entlehnt sei, also auch nicht gewisse Kräfte vorausetze..." (AA IV S.486f.). Die hergeleitete mathematische Beschreibung der Bewegung als reines räumlich-zeitliches Verhältnis erfüllt gerade dieses Erfordernis, sie ist nämlich weder "von der Erfahrung entlehnt" noch ein Begriff, "der gar nicht a priori in der Anschauung gegeben werden kann" (AA IV S.487). Die mathematische Beschreibung der Bewegung enthält die formale Anschauung zum AnfangsZeitpunkt tg, dieselbe zum Endzeitpunkt t^ und die der Zwischenräume, die die Stadien der Bewegung zu jedem Zeitpunkt t (t £ ] íq, tj [ ) des Bewegungsablaufes markieren. Zur Illustration sei hier die mathematische Beschreibung einer Bewegung, die Kant dort selber als Beispiel nennt, gegeben: "Nun kann sich ein Körper bewegen, ohne seinen Ort zu verändern, wie die Erde, indem sie sich um ihre Achse dreht" (AA IV S.482). Man betrachte
Reine Größenlehre der Bewegung
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das Zeitintervall [0,T] = [Utl,24hII , d.U. die Zeitlänge einer Erdumdrehung, G bezeichne das Geoid, d.h. die geometrische Gestalt der Erde, in deren Mittelpunkt ein Koordinatensystem des dreidimensionalen Raumes R 3 gelegt wird, wobei die Koordinatenachsen auf den Fixsternhiiimel ausgerichtet sind und eine Koordinatenachse als Drehachse von G betrachtet wird; dann ist die Erddrehung durch folgende Abbildung beschrieben: X[0,TD—>R3 (p,t) - » Gt Hierbei ist für alle te[0,T] G t e |Gt(p) | ρ e G) ç R 3 die um den Winkel t * 2 η /τ gedrehte Gestalt der Erde. Die G t beschreiben für t e J 0,T [ die formalen Anschauungen der genannten Zwischenräume, R 3 wäre die Beschreibung des zugehörigen absoluten Raumes, der alle die bei diesem Bewegungsvorgang auftretenden relativen Räume umfaßt. Jeder dieser G t markiert einen augenblicklichen Zustand der Veränderung des äußeren Verhältnisses zum umgebenden Raum. Die mathematische Beschreibung der Bewegung gehört, da sie die reinen Verhältnisse der formalen Anschauungen der bei der Bewegung stattfindenden relativen Räume in bezug auf die reine Anschauung eines die relativen Räume umfassenden absoluten Raumes konstruiert, zur Bedingung der weiteren Anwendung von Mathematik auf Bewegung. Denn was die Mathematik für das Verhältnis der korrespondierenden formalen Anschauungen zur reinen Anschauung des umfassenden absoluten Raumes vorschreibt, das "gilt auch ohne Widerrede" für das Verhältnis der entsprechenden relativen Räume zu einend D:
G
209 Daß hier von "einem" umfassenden absoluten Raum und nicht etwa von dem absoluten Raum überhaupt gesprochen wird, liegt daran, daß erstere Formulierung das Mitdenken der Entwicklung der Modellvorstellung eines Bezugsraumes, der die Behandlung a priori der Bewegung eines relativen Raumes ermöglicht, enthält. Diese Entwicklung, welche Kant in der Anmerkung 2 zur Erklärung 1 der metaphysischen Anfangsgründe der Phoronomie gibt, hebt an mit folgender Feststellung: "Also ist alle Bewegung, die ein Gegenstand der Erfahrung ist, bloß relativ; der Raum,
268
Qualität und Quantität
umfassenden absoluten Kaum. Diese objektive Gültigkeit der Mathematik wird duren das Prinzip der Axicroe der Anschauung garantiert, das den Grundsatz der Bedingung der Möglichkeit der Anwendung der Mathematik auf Gegenstände der Erfahrung ausmacht: "Denn er ist es allein, welcher die reine Mathematik in ihrer ganzen Präzision auf Gegenstände der Erfahrung anwendbar macht, welches ohne diesen Grundsatz nicht so von selbst erhellen möchte, ja auch manchen Widerspruch veranlasset hat" (B 206). Die mathematische Beschreibung der Bewegung gestattet die Konstruktion der Veränderung der formalen Anschauungen relativer Räume zu einem gegebenen Raum und damit die Konstruktion der Bewegung als Größe. Denn die Konstruktion der mathematischen Beschreibung der Bewegung als Konstruktion reiner räumlich-zeitlicher Verhältnisse gehört zu dem, welches ein Anteil der Mathematik in der Phoronomie ist und daher "vorzüglich" vor der Konstruktion der Zusammensetzung der Bewegung zu bemerken ist. Dieser Anteil der Mathematik
in dem sie wahrgenommen wird, ist ein relativer Raum, der selbst wiederum und vielleicht in entgegengesetzter Richtung in einem erweiterten Räume bewegt" genannt werden kann (AA IV S.481). Die Betrachtung des Begriffs des absoluten Raumes zerfällt dann in zwei Aspekte: Zum einen, für sich genommen, ist ein absoluter Raum als ein solcher erweiterter Raum anzusehen, der als reine Anschauung und nicht als Gegenstand der Erfahrung angenommen wird (vgl. AA IV 48128-31). Zum anderen trägt an sich der absolute Raum nur die Bedeutung eines relativen Raumes, der "über jeden gegebenen ins Unendliche" hinausgerückt ist. Während Kant van relativen Raum ausgeht, ging Newton vom absoluten Raum aus und bestürmte den relativen als Teil desselben: "Der a b s o l u t e R a u m bleibt vermöge seiner Natur und ohne Beziehung auf einen äußern Gegenstand stets gleich und unbeweglich. ...Der relative Raum ist ein Maß oder ein beweglicher Teil des erstem, welcher von unsern Sinnen, durch seine Lage gegen andere Körper bezeichnet und gewöhnlich für den unbeweglichen Raum genommen wird. Z.B. ein Teil des Raumes innerhalb der Erdoberfläche" (Newton S.25f.).
Reine Größenlehre der Bewegung
269
ist als angewandte Mathematik zur Beschreibung von Bewegung Instrument der Phoronomie. Daß die Mathematik als ein solches durch ihre Anwendung auf Bewegung verwandt werden kann, garantiert das schon erwähnte Prinzip der Axiomen der Anschauimg. Zum Bezug von Phoronomie und angewandter Mathematik ist angemerkt: "Hier ist nun vorzüglich zu bemerken: daß Phoronomie durchaus zuerst Konstruktion der Bewegungen überhaupt als G r ö ß e n und ... diese Bewegungen allein als Größen sowohl ihrer Geschwindigkeit als Richtung nach und zwar ihrer Zusanmensetzung nach a priori zu bestimnen habe. Denn soviel muß gänzlich a priori und zwar anschauend zum Behuf der angewandten Mathematik ausgemacht werden" (AA IV S. 487). Geschwindigkeit und Richtung werden hier als Hauptindikatoren der mathematischen Beschreibung von Bewegung aufgefaßt. Alle übrigen Größen a priori, die aus der mathematischen Beschreibung von Bewegung abgelesen werden können, die etwa die Gestalt des Bewegungsverlaufs betreffen (gerade, gekrürrmte, nicht geschlossene oder geschlossene, darunter zirkulierende oder oszillierende B e w e g u n g s l i n i e n ) 2 1 0 > finden in der Phoronomie dann Beachtung, wenn sie die Haupt indikatoren in ihrer Größenbestimmtheit modifizieren: "Ich tue dieser verschiedenen Arten der Bewegung bloß darum in einer Phoronomie Erwähnung, weil man bei allen, die nicht fortschreitend sind, sich des Worts Geschwindigkeit gemeiniglich in anderer Bedeutung bedient als bei den fortschreitenden" (AA IV S. 483). Auf die Hauptindikatoren Geschwindigkeit und Richtung wird im einzelnen in einem späteren Abschnitt (vgl. den Abschnitt 3.2.2: "Die Tafel der Formen der Verhältnisse der bewegenden Kräfte der Materie") noch eingegangen werden. Die angewandte Mathematik als mathematische Beschreibung der Bewegung ist Bestandteil der Phoronomie, die "die Bewegung nur als B e s c h r e i b u n g e i n e s R a u m e s betrachtet", wobei die phoronomische Beschreibung nicht nur rein räumliche Größen 210 Vgl. Anmerkung 2, AA IV S.483.
270
Qualität und Quantität
betrachtet wie die Geometrie, sondern auch diese in reinen Verhältnissen zur Zeit untersucht2H. Der Eingang der Mathematik in die Phoronomie wird daher in folgender Bestinmung zum Ausdruck gebracht: "Phoronomie ist also die reine Größenlehre (Mathesis) der Bewegungen" (AA IV S. 489). Mit der Bestiimrung des Bewegungsbegriffes als Veränderung des äußeren Verhältnisses und der Beschreibung des Raumes durch eine reine Größenlehre erfüllen die metaphysischen Anfangsgründe der Phoronomie das, was die Kr.d.r.V. von der transzendentalphilosophischen Behandlung des Bewegungsbegri f6fes fordert : "Aber Bewegung, als Beschreibung eines Raumes ist ein reiner Actus der sukzessiven Synthesis des Mannigfaltigen in der äußeren Anschauung überhaupt durch produktive Einbildungskraft, und gehört nicht allein zur Geometrie, sondern sogar zur Transzendentalphilosophie" (Β 155 Anm.)· Zur transzendentalphilosophischen Untersuchung des Bewegungsbegriffes gehört auch, daß dieser Begriff als die Möglichkeit "einer Verbindung kontradiktorisch entgegengesetzter Prädikate" durch das Zeitverhältnis des Nacheinanders "nur durch und in der Zeit vors tel lung möglich ist" (B 48). Zusammen mit der transzendentalen Erörterung des Raumes wird durch die der Zeit die Bedingung der Möglichkeit einer allgemeinen Bewegungslehre als eine Wissenschaft a priori erbracht: "Also erklärt unser Zeitbegriff die Möglichkeit so vieler synthetischer Erkenntnis a priori, als die allgemeine Bewegungslehre, die nicht wenig fruchtbar ist, darlegt" (B 49). Mit ihren synthetischen Erkenntnissen a priori machen die metaphysischen Anfangsgründe der P h o r o n o m i e 2 1 2 einen Bestandteil der allgemeinen Bewegungslehre aus, zu der auch die auf Beschreibung von Bewegung angewandte Mathematik gehört. Hierbei ist noch hinzuzufügen, daß in den Prolegomena mit einem zur transzendentalen Ästhetik ähnlichen Argument die
211 Vgl. AA IV 48906 - 11. 212 Vgl. den "Grundsatz" S.487+489).
oder
den
"Lehrsatz"
(AA
IV
Reine Größenlehre der Bewegung
271
Zeit als Bedingung der Möglichkeit der reinen Mechanik, die auch Bestandteil der allgemeinen Bewegungslehre ist, aufgeführt wird: "Vornehmlich aber reine Mechanik kann ihre Begriffe von Bewegung nur vermittelst der Vorstellung der Zeit zu Stande bringen" (AA IV S. 283). Ita als reine Größenlehre der Bewegung, die sich ausschließlich mit der Untersuchung von beweglichen Räumen unter dem Kategorialaspekt der Quantität befaßt, zu synthetischen Erkenntnissen a priori zu gelangen, muß die Phoronomie davon ausgehen, wie überhaupt Synthesis von Größen möglich ist: Größen können dann zusammengesetzt werden, wenn sie gleichartig sind. "Da nun der Bewegung nichts gleichartig ist, als wiederum Bewegung, so ist die Phoronomie eine Lehre der Zusammensetzung der Bewegungen eben desselben Punkts nach ihrer Richtung und Geschwindigkeit" (AA IV S. 489). Wird die Bewegung eines relativen Raumes in ihren Verlauf durch eine Bahnkurve213, die der Massenschwerpunkt des relativen Raumes im Fortgang der Bewegung durchläuft, beschrieben, dann sind Richtung und Geschwindigkeit für jeden Zeitpunkt der Bewegung durch den entsprechenden Tangentialvektor an die Bahnkurve bestimmt. Neben der Leistlang der mathematischen Beschreiblang einer Bewegung als reinem räumlich-zeitlichen Verhältnis trägt die Mathematik durch die Bestürmung der Geschwindigkeit und Richtung in jedem Punkt eines Bewegungsverlaufes wesent1 i ch214 zur Konstruktion der Zusanmensetzung von 213 Zur objektiven Gültigkeit der geometrischen Beschreibung physikalischer Bewegungsabläufe ist in den Prolegomena für die Mathematiker, "die zugleich Philosophen waren" und die an der Anwendung "aller geometrischen Bestimmungen desselben (des Raumes G.B.) auf Natur zu zweifeln anfingen", folgendes gesagt: "Da sie (jene Mathematiker als Philosophen, G.B.) besorgten, eine Linie in der Natur möchte doch wohl aus physischen Punkten ... bestehen, obgleich der Raum, den der Geometer in Gedanken hat, daraus keineswegs bestehen kann. Sie erkannten nicht: daß dieser Raum in Gedanken den physischen, d.i. die Ausdehnung der Materie selbst, möglich mache" (AA IV S.287f., Hervorhebung G.B.). 214 Insbesondere ist die Einteilung des Beweises des "Lehrsatzes" mathematisch: Zwei sich schneidende Geraden
272
Qualität und Quantität
Bewegung bei. Hieraus wird auch die Zielstellung der metaphysischen Anfangsgründe der Phoronomie verständlich, die gerade die Konstruktion der Zusanmensetzung von Bewegungen betont: "Den Begriff einer z u s a m m e n g e s e t z t e n Bewegung konstruieren heißt eine Bewegung, so fern sie aus zwei oder mehreren gegebenen in einem Beweglichen vereinigt entspringt, a priori in der Anschauung darstellen" (AA IV S. 486). Der Bewegungsbegriff der metaphysischen Anfangsgründe der Phoronomie ist allgemeiner gefaßt als jene, sogenannte punktmechanische Bewegungsdefinition, die den Begriff der Bewegung als "Veränderung des Ortes" bestimmt (AA IV 48222). Der Ort eines jeden Beweglichen ist ein Punkt im Haume: "Denn der Ort eines jeden Körpers ist ein Punkt" (AA IV 48224). Entgegen dieser Bestimming des Orts als Punkt, der bloß als Raumesgrenze und als Lage eines Beweglichen, aber nicht als Gegend, d.h. als Verhältnis dieses Beweglichen zu einem umgebenen R a u m e s vorgestellt wird, sind Bewegungen feststellbar, die nicht als Ortsveränderung aufzufassen sind, aber dennoch als Veränderungen äußerer Verhältnisse Bewegungen sind: "Nun kann sich ein Körper bewegen, ohne seinen Ort zu verändern, wie die Erde, indem sie sich um ihre Achse dreht. Aber ihr Verhältnis zum äußeren Räume verändert sich hiebei doch" (AA IV S. 482, Hervorhebung G.B.). Die reinen Größen der Bewegung, von denen die Phoronomie hauptsächlich handelt, sind Richtung und Geschwindigkeit: "In jeder Bewegung sind Richtung und Geschwindigkeit die beiden Momente der Erwägung derselben, wenn man von allen anderen Eigenschaften des Beweglichen abstrahiert" (AA IV S. 483). Hieraus kann nicht herausgelesen werden, daß Richtung und Geschwindigkeit die einzigen reinen Größen sind, die am Fortgang einer Bewegung abzulesen sind, denn daß andere reine Größen zur Beschreibung von Bewegungsverläufen herangezogen werden können, belegt in der Ebene stimmen in der Richtung überein, sie zeigen in genau entgegengesetzte Richtungen, oder sie schließen einen Winkel des Maßes ,α< π /2 ein. Vgl. AA IV S.490 495. 215 Zum Begriff der Gegend vgl. AA II S.377.
Reine Größenlehre der Bewegung
273
eine angegebene Einteilving der Gestalt von Bewegungskurven216. Obwohl Kant die gängige Definition von Geschwindigkeit und Richtung physikalischer Lehrwerke voraussetzt ("Ich setze hier die gewöhnliche Definition beider voraus" (AA IV S. 483)), gibt er dennoch eine ausführliche Anmerkung zur Bestürmung beider Begriffe. Ein Zweck dieser Ausführung kann darin liegen, diese räumlich-zeitliehen Größen in das System der extensiven und intensiven Größen der mathematischen Grundsätze des reinen Verstandes einzuordnen. Neben Modifikationen des Geschwindigkeitbegriffes für Bewegungen längs geschlossener Bahnkurven, der bei Rotationen durch den Begriff der Winkelgeschwindigkeit präzisiert wi rd217, wird ausgeführt, daß die Geschwindigkeit das Verhältnis von durchlaufener Bewegungslinie zur bei der Bewegung abgelaufenen Zeit mißt: "In der Phoroncmie brauchen wir das Wort Geschwindigkeit bloß in räumlicher Bedeutung c = s/t" (AA IV S. 484). In Lehrbüchern der Physik wird zwischen Durchschnitts- und Mcmentangeschwindigkeit unterschiede^^ . Wchschnitt
= V
(
J
b
momentan
le'Ctfct ) · =
(b-.)-l
's'(t)l
Hierbei ist s: [a,b]—»HP mit ti—»-s(t) die nach der Zeit parametrisierte Bewegungslinie eines Beweglichen. Da in der Phoroncmie alle Bewegungslinien für das Beweisziel der Zusanmensetzung von Bewegung, die eine lokale Konstruktion ist, als Geraden angenaxmen werden ("Ich n e h m e hier aber alle Bewegungen als geradlinicht a n " , (AA IV S.488)), wird hier folgendes Beispiel einer Bewegungslinie gegeben: s(t) = A * t + Β (Α, Β e R n sind Konstanten). 216 Vgl. Anmerkung 2, AA IV S.483. 217 Als Beispiele solcher Bahnkurven "zirkulierenden oder oszillierenden (vgl. AA IV S.48423 - 26). 218 Vgl. Dorn S.461ff.
werden die der Bewegung" genannt
274
Qualität und Quantität
Für dieses Beispiel gilt, daß die Durchschnitts- und die Mcmentangeschwindigkeit übereinst inmen und daß damit die Kantische Geschwindigkeitsangabe ν = (s(t) - s(t0)):(t - t 0 ) für die Beweisabsicht der Phoronomie hinreichend ist. Wenn Kant diese Definition der Geschwindigkeit einer geradlinigen Bewegung als ihre Bestimnung in "räumlicher Bedeutung" kennzeichnet, so geschieht das im Kontrast zur Winkelgeschwindigkeit, in der der Winkel ein ausschließliches Zeitmaß ist. Jener Kontrast darf den Blick nicht davor verstellen, daß die Geschwindigkeit, auch wenn sie in "räumlicher Bedeutung" genoranen wird, als Verhältnis von durchlaufenen Raum zur abgelaufenen Zeit eine zeitabhängige Größe ist. Als intensive G r ö ß e 2 1 ^ vollzieht sich die Apprehension der Geschwindigkeit als augenblickliche, daher ist die mathematische Beschreibung dieses Verhältnisses durch den Begriff der Momentangeschwindigkeit, die jeder Zeitstelle einen Grad zuordnet, zutreffend. Im Unterschied zur Geschwindigkeit als intensive Größe mißt die Richtung im Fort lauf der Bewegung die Veränderung der Lage des Beweglichen zum umgebenden Raum als extensive G r ö ß e 2 2 0 . Betrachtet man den Bewegungsverlauf als ein Ausgedehntes, d.h. die Bewegungslinie, dann bestiimit die Richtung zu einem Zeitpunkt der Bewegung das Verhältnis der aktuellen Lage des Beweglichen zum umgebenden Raum, wobei der umgebende Raum als unbeweglich gedacht ist. Da die Anmerkungen zum Richtungsbegriff der M.A.d.NW. in sehr enger Beziehung zur Abhandlung "Von dan ersten Grunde des Unterschieds der Gegenden im Räume" stehen, seien diese zur Erläuterung mitherangezogen: "Bei al lem Ausgedehnten ist die Lage seiner Teile gegen einander aus ihm selbst hinreichend zu erkennen, die Gegend aber, wohin diese Ordnung der Teile gerichtet ist,
219 Dazu, daß die Geschwindigkeit eine intensive Größe ist, vgl. AA IV S.493. 220 Dieses findet seinen Ausdruck auch in der mathematischen Beschreibung der Richtung, die an jeder Stelle der Bewegungslinie durch den Tangentialvektor gegeben ist.
Reine Größenlehre der Bewegung
275
bezieht sich auf den Baum außer demselben und zwar nicht auf dessen Örter, weil dieses nichts anderes sein würde, als die Lage eben derselben Teile in einem äußeren Verhältnis, sondern auf den allgemeinen Raum als eine Einheit, wovon jede Ausdehnung wie ein Teil angesehen werden maß" (AA II S.377 f.). Hieraus wird deutlich, daß man einen Unterschied zwischen einer Richtung und der Gegend, die Bedingung der Gerichtetheit ist, machen maß. Die Gegend, die die Einheit der Beziehungen der Lagen eines Beweglichen vorstellt, ist durch die Orientierung des umgebenden unbeweglichen Raumes gegeben. Zum Aufweis dessen, daß es zwei grundsätzlich verschiedene Orientierungsklassen auf dem R n gibt, seien folgende mathematische Armerkungen gemacht: Ist V ein reeller n-dimensionaler Vektorraum und sind (vi,... v n ) und (wi,...,wn) Basen von V, und ist A die Matrix ihres Basiswechsels, dann haben beide Basen genau die gleiche Orientierung, wenn für die Determinante von A gilt: det (A) > 0. Eine Orientierung eines Vektorraumes ist eine Äquivalenzklasse von Basen, wobei zwei Basen äquivalent heißen, wenn der Basiswechsel positive Determinante hat. Ist (ej, e2·..·, e n l =: ö1" die Standardbasis und | (-1) ej_, β2·..,β η ) =: O" eine weitere Basis des R n , dann liegt ein Fall gegensätzlicher Orientierung vor, da für die Matrix A ihres Basiswechsels gilt: det (A) = -1. Die Standardbasis und jene entgegengesetzte Basis sind Repräsentanten der verschiedenen n Orientierungsklassen des R . Die durch die Standardbasis gegebene Orientierving heißt Standardorientierung.. Für R^ kann dieses so221 veranschaulicht werden: A e3 + O O
221 Im Fall des R3 stimmt die Standardorientierung mit der "3
276
Qualität und Quantität
Ein
relativer
Raum
wird
nun
in
einem
n-dimensionalen
Raum, der mit einer ausgezeichneten Orientierung versehen ist und dadurch zur Gegend des Beweglichen wird, als eingebettet betrachtet. Bezüglich einer absolutem Raum,
solchen
festgelegten Gegend
Ist R 2
betrachtet werden.
mit
Standardorientierung
der
und
+
Parametrisierung
mit
der
s (t) =
Parametr is ierung
(cost,
sint)
s~(t)
=
gegeben,
(0,0) e R 2
dann kann ein Kreis vcm Radius 1 mit Mittelpunkt mit
als
kann der Durchlaufsinn einer Bewegungslinie
gleichsinnig
(cost,
-sint)
gegensinnig durchlaufen werden (te [θ,2ττ]). Der Durchlaufsinn der Bewegungslinie beantwortet die Frage nach der nach der die Bewegung gerichtet
"Seite,
ist" (AA. IV S.483). Die Aus-
zeichnung einer Seite, die durch den Unterschied von
linker
und rechter Hand markiert ist 2 2 2 , ist Ergebnis der Festlegung einer Gegend, d.h. eines umgebenden Raumes mit
festgelegter
Orientierung als einheitlichen räumlichen Bezugssystem. Nach dem bisher ausgeführten wird die Richtung zu einem Augenblick einer Bewegung durch den Tangentialvektor an die Bewegungskurve gungsstelle
mit
Fufepunkt
gegeben.
orientierten Kreises
Im
ist
an
der
augenblicklichen
Beispiel
des
für jeden Augenblick
Bewe-
gleichsinnig te [θ,2π]
die
Richtung durch den folgenden Tangentialvektor gegeben: s+l(t) =
(-sint, cost)
Man kann daraus ablesen, daß wenn t sämtliche Werte von [0,27t] durchläuft, Radius
als Richtungen
alle Werte des Kreises vcm
1 durchlaufen werden. Es gilt
bewegter Körper verändert
daher:
seine Richtung
"Ein im Kreise
kontinuierlich,
so
daß er bis zu seiner Rückkehr zum Punkte, von dan er ausging, alle
in einer Fläche nur möglichen Richtungen
eingeschlagen
ist" (AA IV S.483). Der
oben
bemerkte
Unterschied
zwischen
Richtung
und
Gerichtetheit, oder anders ausgedrückt, zwischen Richtung und Finger Regel der linken Hand" überein. Die entgegengesetzte Orientierung wird durch die "3 Finger Regel der rechten Hand" gegeben. 222 Zur Konstruierbarkeit des Begriffs der Seite vgl. A A II 37832 - 37921.
Heine Größenlehre der Bewegung
277
Gegend wird duren verschiedene mathematische Objekte gekennzeichnet: Die lokale Beschreibung durch den Tangentialvektor, der die Richtung gibt, und die globale Beschreibung der Bewegungslinie durch den Durchlaufsinn in bezug auf das Standardkoordinatensystem des umgebenden Baumes. Durch diesen bemerkten Unterschied zwischen Richtung und Orientierung ist der vermeintliche Widerspruch zwischen der Tatsache, daß die Kreisbewegung sämtliche Richtungen durchläuft, und der Aussage: "Er (der im Kreise bewegte Körper, G.B.) bewege sich inmer in derselben Richtung, z.B. der Planet von Abend gegen Morgen" (AA IV S.483), als unscharfer Wortgebrauch des Wortes "Richtung" erwiesen, das in der letzten Aussage den Durchlaufsinn einer Kreisbahn bezeichnete. Genau gegen diesen unscharfen Wortgebrauch ist die genannte Anmerkung 3 der Phoroncmie gerichtet. Im Sinne der Heraushebung des Unterschiedes von Richtung und Gegend werden die Überlegungen dazu mit folgender Bemerkung eingeleitet: "Allein die (Definition, G.B.) der Richtung bedarf noch verschiedener Einschränkungen" (AA IV S.483). Während die mathematische Beschreibung von Richtungen durch Tangentialvektoren seit Newtons Fluxionskalkül und damit der Abfassung der M.A.d.NW. vorlag, weswegen Kant sich auch auf die "gewöhnliche Definition" der Richtung beziehen konnte (AA IV 48328), war der mathematische Orientierungsbegriff noch nicht präzisiert. Im Jahre 1858 entdeckte der Astronom und Mathematiker A. F. Möbius (1790 - 1868) das erste Beispiel einer nicht orientierbaren Fläche, das später nach ihm benannte Möbiusband. Diese Entdeckung ergab sich aus Forschungen zur Verbesserung der geometrischen Theorie der Polyeder, die die Pariser Akademie der Wissenschaften im Jahre 1858 als Preisaufgabe stellte. Die Arbeiten zur Polyedertheorie führten zur Herausbildung einer neuen mathematischen Disziplin, der Flächentopologie223. Skizze des Möbiusbandes (aus Spivak: "Calculus on manifolds" S. 118): 223 Zur Geschichte der Entdeckung des Möbiusbandes und zur Herausbildung der Flächentopologie vgl. E. Scholz, 1979, S. 142 - 158.
278
Qualität und Quantität
Unter der Voraussetzung, daß für jeden Punkt ρ einer im R n eingebetteten Untermannigfaltigkeit M die Orientierung des Tangent ialraums TpM gegeben ist, heißt eine im Rn eingebettete Untermannigfaltigkeit M orientierbar, wenn für jedes Paar von Punkten (p,q) von M gilt, daß für jede Verbindungslinie von ρ nach q zutrifft, daß die Orientierungen der Tangentialräume an M in allen Punkten dieser Verbindungsräume übereinstinmen. Kreise als Untermannigfaltigkeiten des r2 sind orientierbar: Entweder werden sie gleichsinnig oder gegensinnig zur Orientierung der Standardbasis des r2 durchlaufen. Bemerkenswert ist, daß Kant in der Arbeit "Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Räume" und in den M.A.d.NW. die Konstruierbarke it des mathematischen Orientierbarkeitsbegriffes darlegt, während in der zeitgenössischen Mathematik dieser Begriff durch allgemeine Merkmale noch nicht präzisiert war. Er bemerkt zu diesem Begriff: "Ein Begriff, der sich zwar konstruieren, aber als Begriff für sich durch allgemeine Merkmale und in der diskursiven Erkenntnisart gar nicht deutlich machen läßt" (AA IV S.484). Hierdurch wird gleichzeitig die Grenze der philosophischen Erkenntnis in Hinsicht auf den mathematischen Orientierungsbegriff verdeutlicht: Dessen allgemeinen Merkmale können nicht diskursiv erschlossen, sondern nur durch Konstruktion in reiner Anschauung gewonnen werden. In dieser methodischen Hinsicht gilt für den Orientierungsbegriff, daß er "dari, non intelligi" ist (AA IV
Reine Größenlehre der Bewegung
279
S.484). Wegen des noch nient erreichten Standes der mathematischen Präzisierung des Orientierungsbegriffes konnte für den Unterschied der beiden Orientierungsklassen im Raum nur bemerkt werden, daß "sich dieser Unterschied zwar in der Ansehauting geben, aber gar nicht auf deutliche Begriffe bringen, mithin nicht verständlich erklären ... läßt" (AA IV S.484). In der genannten Anmerkung der Phoronomie wird der Orientierungsbegriff an einer Reihe von Beispielen 224 inkongruenter Gegenstücke diskutiert (linksoder rechtsgedrehte Schneckengehäuse, gegensinnig gewundene Hopfen- bzw. Bohnenpflanzen). Inkongruente Gegenstücke können nicht durch eigentliche Kongruenzen des umgebenden Raumes (Drehungen, Verschiebungen) ineinander überführt werden. Nur durch die Verknüpfung dieser Kongruenzoperationen mit Spiegelungen können inkongruente Gegenstücke zur Deckung gebracht werden. In der Arbeit von 1768 ist die Konstruktion der Spiegelung als Vorgang der Abbildung inkongruenter Gegens tücke aufeinander angegeben: "Die Abbildung eines Objekts im Spiegel beruht auf eben denselben Gründen" (AA II S.382). Die Spiegelung eines Kreises mit Durchlaufsinn s + bildet diesen auf einen .mit Durchlaufsinn s~ ab. Der Unterschied der Gegenden im Räume, der sich an inkongruentem Gegenstücken verkörpert, kann also auch am gegensätzlichen Durchlaufsinn des Kreises zum Durchlaufsinn des gespiegelten Kreises festgestellt werden. Während die Richtung ein äußeres Verhältnis eines Beweglichen zu einem unbeweglichen umgebenden Raum markiert, wird durch ein inkongruentes Gegenstück ein mathematisches Objekt repräsentiert, das einer anderen Orientierungsklasse des gleichen umgebenden Raumes innewohnt, weshalb der Unterschied der Gegenden im Raíame auch als "innerer Unterschied" bezeichnet wird. Resümierend gilt, daß dieser "demnach ein wahrhafter mathematischer und zwar 224 "Ich nenne einen Körper, der einem andern völlig gleich und ähnlich ist, ob er gleich nicht in eben denselben Grenzen kann beschlossen werden, sein i n k o n g r u e n t e s G e g e n s t ü c k " (AA II S.382).
280
Qualität und Quantität
innerer Unterschied ist, womit der von dem Unterschiede zweier sonst in allen Stücken gleichen, der Richtung nach aber verschiedenen Kreisbewegungen, obgleich nicht völlig einerlei, dennoch aber zusanmenhängend ist" (AA IV S.484). Daß hier von "gleichen" Stücken des Kreises gesprochen wird, verweist darauf, daß ihre Deckungsgleichheit untersucht wird. In der ersten Armerkung zum Lehrsatz der metaphysischen Anfangsgründe der Phoronomie wird die Deckungsgleichheit, d.h. die Kongruenz, als Bedingung der geometrischen Konstruktion "der völligen Identität" g e n a n n t 2 2 5 _ Dadurch, daß zwei gegensinnig orientierte Kreisbewegungen "nicht völlig einerlei" sind, kann nicht für sie als orientierte Kreise die Kongruenz konstruiert werden. Dieses ginge nur, wenn man von der Orientierungseigenschaft abstrahieren würde. Kant gibt an dieser Stelle der M.A.d.NW. eine Bestimmung zum Begriff der geometrischen Konstruktion, die in der transzendentalen Methodenlehre der Kr.d.r.V. nicht explizit gegeben wurde: "Die geometrische Konstruktion erfordert, daß eine Größe mit der andern, oder zwei Größen in der Zusammensetzung mit einer dritten e i n e r l e i seien" (AA IV S.493). Diese Voraussetzung der geometrischen Konstruktion verlangt von den Größen, die in eine solche Konstruktion eingehen, daß sie hinsichtlich eines reineii extensiven Merkmals gleichartig sind. Die genannten Kreisbögen, die gleichen Radius und Mittelpunkt aber verschiedenen Durchlaufsinn haben, sind hinsichtlich ihrer Gestalt, aber nicht hinsichtlich ihrer Orientierungseigenschaft gleichartig. Zwei Bewegungslinien, wobei die eine Linie eine verursachende Bewegung und die andere eine erwirkte Bewegung darstellt, sind nicht gleichartig. Ihre Verknüpfung in reiner
225 "Alle geometrische Konstruktion der völligen beruht auf Kongruenz" (AA IV S.493).
Identität
Reine Größenlehre der Bewegung
281
Anschauung würde im Unterscheid zur geometrischen Konstruktion "mechanische Konstruktion" heißen (AA IV S.493). Bezüglich des Kongruenzbegriffes in den M.A.d.NW. könnte in der Lesehaitung eine gewisse Unscharfe zu Tage treten. Folgende Erläuterung wird dort gegeben: "Die völlige Ähnlichkeit und Gleichheit, sofern sie nur in der Anschauung erkannt werden kann, ist die K o n g r u e n z " (AA IV S.493). Würde man den Nebensatz, "sofern sie nur in der Anschauung erkannt werden kann", weglassen, wäre dieses die Definition der Kongruenz nach G.W. Leibniz, die u.a. in seiner Abhandlung "Characteristica Geometrica" von 1679 ausgeführt ist: " a ~ b
et
a Π b, ergo
a V b" 2 2 6
Hierbei steht ~ für Ähnlichkeit, Π für Gleichheit und y für Kongruenz. Daß> aber der obige Nebensatz eine Bedeutung hat, erhellt sich daraus, daß in der Definition der inkongruenten Gegenstücke von 1768 jene nämlich auch zwar als völlig gleich und ähnlich, aber nicht als deckungsgleich beschrieben sind22?. Eigentliche Kongruenz als Deckungsgleichheit verlangt mehr als die Definition von Leibniz: Die Gegenstände müssen sich ausschließlich durch Drehungen und Verschiebungen in einander überführen lassen, sie dürfen nicht die Eigenschaft haben, durch eine ungerade Zahl von Spiegelungen ineinander überführbar, d.h. inkongruent zu sein. Diese Eigenschaft der Deckungsgleichheit, die zur eigentlichen Kongruenz zu fordern ist, ist diejenige, die nach oben genannter Anmerkung zum Richtungsbegriff "nur in der Anschauung erkannt werden kann". Wenn man diesen Nebensatz überliest, weil er allgemein für
226 Siehe G. W. Leibniz: "Mathematische Schriften", hrsg. von C. I. Gerhardt, 2. Abteilung, Band 1, Berlin 1858, S.154. Das Manusskript "Characteristica Geometrica" trägt das Datum 10.8.1679. 227 Der Mangel an Deckungsgleichheit macht sich am inkongruenten Gegenstück daran fest, daß es "nicht in eben denselben Grenzen kann beschlossen werden" (AA II S.382).
282
Qualität vind Quantität
die Anschauung formuliert ist und im Unterschied zur Arbeit von 1768 die Deckungsgleichheit als notwendige Bedingung der Kongruenz nicht explizit erwähnt, so ninmt man nur das nicht zureichende Kongruenz-Kriterium von Leibniz zur Kenntnis. Das überlesen würde also eine gewisse Unschärfe ausmachen. Eng mit dem Begriff der Bewegung hängt der Begriff der Ruhe zusammen: "Ruhe ist die beharrliche Gegenwart (praesentia perdurabilis) an demselben Orte" (AA IV S.485). Hier ist nicht das fortgesetzte Beharren an einem Orte gemeint, sondern das Versetzen des Beweglichen in den "Zustand einer d a u r e n d e n Gegenwart an demselben Orte" (AA IV S.486)228. Anhand des Beispiels einer Bewegung, die zunächst gleichförmig verzögert wird, bis der Grad der Geschwindigkeit kleiner ist als jede anzugebende positive Schranke, und die dann vcm Zeitpunkt des Eintretens dieser größten Verzögerung ab gleichförmig beschleunigt wird, wird dargelegt, daß in jenem Zeitpunkt die Bewegung den Zustand einer dauernden Gegenwart an der dem Zeitpunkt entsprechenden Bewegungsstelle erreicht hat. Daß dieser Zustand dann Ruhe ist, kann auch an dem Argument eingesehen werden, daß auf jenen Zustand ein fortgesetztes Beharren folgen würde, wenn zu jenem Zeitpunkt keine gleichförmige Beschleunigung einsetzen würde229. "Also kann die Ruhe nicht durch den 228
"In einem b e h a r r l i c h e n Zustande sein und d a r i n b e h a r r e n (wenn nichts anderes ihn verrückt) sind zwei verschiedene Begriffe, deren einer dem anderen keinen Abbruch tut" (AA IV S.486). 229 Eine mathematische Beschreibung kann dafür z.B. durch folgende Beschleunigungsfunktion gegeben werden: b: [0,1] — > K mit t I—» b(t)= 2t - 1 . Es gilt b(tQ) = 0 für genau tg = 1/2. Dieser Zeitpunkt wäre dann genau der Zustand der Ruhe. Die zugehörige Geschwindigkeitsfunktion ist gerade: v: [0,1] — > R mit t I—* v(t)= (t -1/2)2 . Obgleich hier in der mathematischen Beschreibung die Geschwindigkei t im Zeitpunkt der Ruhe ( î q — 1/2) gleich v(tg) = 0 ist, markiert sie immer noch ein bewegliches Etwas, das phoronomisch nicht als Negation sondern als
Reine Großenlehre der Bewegung
283
Mangel der Bewegung, der sien als = 0 nicht konstruieren läßt230f sondern muß durch die beharrliche Gegenwart an demselben Orte erklärt werden" (AA IV S.486). In dem Beispiel zur Erläuterung des Begriffs der Ruhe als beharrlichen Zustand ging bei der Bestimmung des Grades der Geschwindigkeit, der kleiner ist als jede positive Schranke, die Behandlung der Ruhe als infinitesimale Größe ein. Dadurch ist die Form der Veränderung des Zustandes, in dem der Gegenstand noch mit wahrnehmbarer Geschwindigkeit bewegt ist, in den Zustand der Ruhe mathematisch darstellbar, wie es allgemein in vorangegangener Argumentation für die kontinuierliche Veränderung intensiver Größen im Zusammenhang mit der zweiten Analogie der Erfahrung schon ausgeführt worden ist. Die kontinuierliche Veränderung, die in den Zustand führt, ist durch ein Mcment verursacht, das die gleichförmige Verzögerung der Bewegung bewirkt: Der bewegliche Raum legt "mit einem bloßen Moment der Geschwindigkeit ... in jeder noch so großen anzugebenden Zeit gleichförmig doch nur einen Raum, der kleiner ist als jeder anzugebende Raum", zurück (AA IV S.486). Die im Zusammenhang mit dem Begriff des Moments stattfindende Benutzung des Konzepts der infinitesimalen Größe, die auf die Möglichkeit der mathematischen Darstellung der Veränderung zum Zustand der Ruhe führt, kann schließlich so zusammengefaßt werden: "Da denn dieser Begriff (der Ruhe, G.B.) auch durch die Vorstellving einer Bewegung mit unendlich kleiner Geschwindigkeit eine endliche Zeit hindurch konstruiert, mithin zu nachheriger Anwendung der Mathematik Realität angesehen ist, die durch die Limitation, daß seine Geschwindigkeit "kleiner ist als jede nur anzugebende Geschwindigkeit", deren mathematische Beschreibung durch die Gleichung v(tg) = 0 gegeben ist, bestinmt ist. 230 Der Mangel an Bewegung wäre Negation, dem keine intensive Größe zukäme. Er hätte daher keinen Grad. Daher ist daran nichts, was a priori erkannt werden könnte, und da ein Mangel an Bewegung auch keine extensive Größe ausmacht, ist dieser überhaupt als Größe a priori in keiner reinen Anschauung darstellbar und damit nicht konstruierbar.
284
Qualität und Quantität
auf Naturwissenschaft genutzt werden kann" (AA IV S.486). Sanit ist ein gewisser Zusammenhang zwischen den metaphysischen Anfangsgründen der Phoronomie und denen der Mechanik angedeutet. Mit der Untersuchung des Momentbegriffes in jenem Hauptstück zur Mechanik soll dieser Bezug weiter aufgehellt werden. 2.3.7 Das Moment der Acceleration in den M.A.d.NW. Der Begriff des Moments als Bezeichnung einer gleichförmigen Ursache einer kontinuierlichen Handlung der Kausalität tritt in den metaphysischen Anfangsgründen der Mechanik erst in der "Allgemeinen Anmerkung zur Mechanik" auf231. Die kontinuierliche Handlung der Kausalität ist hier die gleichförmig beschleunigte B e w e g u n g 2 3 2 . Moment als fortwährende Ursache dieser Bewegung, die in jedem Augenblick der Bewegung einen proportionalen Geschwindigkeitszuwachs zuführt, heißt hier das Moment der Acceleration oder das Moment der Beschleunigung: "Die Wirkung einer bewegenden Kraft auf einen Körper in einem Augenblicke ist die S o l l i c i t a t i o n desselben, die gewirkte Geschwindigkeit des letzteren durch die Sollicitation, so fern sie im gleichen Verhältnis mit der Zeit wachsen kann, ist das Moment der Acceleration" (AA IV S.551). Wie bereits entwickelt wurde, läßt sich der Vorgang der gleichmäßigen Beschleunigung durch die Infinitesimalrechnung beschreiben. Zu jedem Zeitpunkt t der Bewegung wird das Bewegliche mit einem konstanten Wert g beschleunigt; dieses drückt die folgende Funktion b aus: b: [0,T1 — > R t ι — ^ b(t):=g Die Momentangeschwindigkeit v(t) zu jedem Zeitpunkt t der Bewegung steht mit b(t), da v(0) = 0 gesetzt wird, in folgendem Verhältnis (für alle t e [Ο,Τ] ): 231 Es sind die Belegstellen AA IV 55123 55127 55201 55203 55217. 232 Zum Begriff der gleichförmig beschleunigten Bewegung vgl. AA I S.175f.
Marient der Acceleration
v(t) =
285
g dt = g * t
Dieses Integral drückt aus, da Β. die Mcmentangeschwindigkeit v(t) "in gleichem Verhältnis mit der Zeit wachsen kann". Es gilt nämlich v(t) = g * t, d.h. v(t) ist proportional zum Zeitwert t. Die Bestimnung des Moments der Acceleration in der "Allgemeinen Anmerkung zur Mechanik" weist ein Problem auf: Im Gegensatz zu den Ausführungen der "Antizipationen der Wahrnehmung" in der Kr.d.r.V., die das Moment als ein intensives Quantum auf die Seite der Ursache s t e l l e n 2 3 3 ) wird hier das Moment der Acceleration auf die Seite der Wirkung gestellt, und dieses geschieht in aller Deutlichkeit: Das Mcment der Acceleration ist die gewirkte Geschwindigkeit durch die Sollicitation, die ihrerseits Wirkung einer bewegenden Kraft ist. Die M.A.d.NW. sind die ersten von Kant veröffentlichten Abhandlungen, in denen der Begriff "Mcment der Acceleration" auftritt, und es handelt sich dabei auch um die einzige Belegstelle, die zu diesem Begriff in seinen zu Lebzeiten gedruckten Schriften zu finden ist234. Eine Vielzahl der Belegstellen im Nachlaß, in denen sich Kant mit dem Begriff des Moments der Acceleration befaßt, macht deutlich, daß das Problem, unter welchem Titel der systematischen Topik dieser Begriff einzuordnen sei, bearbeitet w u r d e 2 3 5 . D e r Nachweis, 233 "So nennt man den Grad der Heal i tat als Ursache ein Mcment, z.B. das Moment der Schwere" (B 210). 234 Zwar treten die Wortformen "accelerato" (AA I 17531 17601+06), "acceleriert" (A\ VI 01913), "accelerierend" (AA VII 23313) auf, aber sie dienen nur zum Wortausdruck für die Bewegung des freien Falls, nicht, um das Moment einer gleichmäßig beschleunigten Bewegung zu beschreiben. Dagegen findet man nie tir Ö.1S 60 Belegstellen im N&chläß (AA XIV, XXI, XXII). 235 Hauptquellen der Belegstellen sind die sogenannten Physik-Reflexionen Nr.40 und 41 in AA XIV und die "Losen Blätter" des IV. Konvolutes des Op.p. (AA XXI S.413 492). Zum Begriff der Topik ist anzumerken, daß in der Kr.d.r.V. zwischen dem Begriff der systematischen Topik
286
Qualität land Quantität
daß das Moment der Acceleration nient unter den Titel der Wirkung fällt, wird in der weitgehend ausgearbeiteten Fassung zum Probien des Begriffes des Moments der Acceleration im IV. Konvolut des Op.p. mit dem Argument geführt, "daß das Moment gar keine Bewegung sei mit irgend einer auch nur unendlich kleinen Geschwindigkeit sondern als bewegende Kraft, d.i. als Ursache der möglichen Bewegung angesehen werden könne" (AA XXI 4 3 1 1 6 ) . Die Zuordnung des Moments der Acceleration als Ursache möglicher Bewegungen deckt sich mit der Bestinmung zur zweiten Analogie der Erfahrung, daß eine kontinuierliche Handlung der Kausalität, die in bezug auf eine Bewegung als bewegende Kraft zu bestürmen ist, ein Moment heißt, "so fern sie gleichförmig i s t " 2 3 6 . ^ d a s Moment der Acceleration sich auf eine gleichmäßig beschleunigte Bewegung bezieht, ist für dieses die Bedingung einer gleichförmig wirkenden Ursache auch erfüllt. Also folgt aüs der Argumentation des "Losen Blatt" Nr. 38 des IV. Konvoluts des Op.p., daß die Einordnung des Moments der Acceleration auf die Seite der Ursachen von Bewegung mit der durch die Kr.d.r.V. vorgezeichneten transzendentalen Topik des Bewegungsbegriffes in Deckung gebracht wird. Daß dem Begriff der Bewegung eine Eingruppierung gemäß der transzendentalen Topik zukaimt, ergibt sich daraus, daß "Bewegung, als B e s c h r e i b u n g (B 108), der die Kategorientafel bezeichnet und dem Begriff der transzendentalen Topik (B 324f.), der durch die Titel der Verhältnisse der Reflexionsbegriffe bestürmt ist, unterschieden wird: "Die transzendentale Topik enthält dagegen nicht mehr, als die angeführten vier Titel aller Vergleichung und Unterscheidung, die sich dadurch von Kategorien unterscheiden, daß durch jene nicht der Gegenstand, nach demjenigen, was seinen Begriff ausmacht, (Größe, Realität,) sondern nur die Vergleichung der Vorstellrangen, welche vor dan Begriffe von Dingen vorhergeht, in aller ihrer Mannigfaltigkeit dargestellt wird" (B 3255). Die systematische Topik ermöglicht die Bestinmung des Orts des Begriffs des Mcments der Acceleration in bezug auf die Titel der Kategorientafel, insbesondere in Hinblick auf das Verhältnis von Ursache und Wirkung. 236 Vgl. Β 254.
Moment der Acceleration
287
eines Raumes ... sogar zur Transzendentelpfiilosophie" gehört (B 155 Anm.). Durch die Argumentation des "Losen Blatt" Nr. 38 des IV. Konvoluts des Op.p. ist das Problem der Einordnung des Begriffs des Moments einer Bewegung in eine systematische Topik, welches zwischen den Bestürmungen der Kr.d.r.V. und denen der M.A.d.NW. bestand, zugunsten der ersteren aufgehoben. Das Moment der Acceleration bezieht sich auf gleichförmig beschleunigte Bewegungen, unabhängig davon, welche besonderen weiteren Eigenschaften diese Bewegung hat, z.B. ob es sich um eine durch die Erdanziehung verursachte Fallbewegung handelt. In Hinblick auf diese besonderen Bewegungen, die gleichmäßig beschleunigt sind, gilt das, was allgemein für die topische Zuordnung des Moments der Acceleration ausgeführt ist. Für eine durch Erdanziehung hervorgerufene Bewegung eines Beweglichen im Gravitationsfeld gilt, daß> das zugehörige Moment der Schwere als Ursache beschrieben wird237> Für die Fallbewegungen von Korpern in Richtung auf den Mittelpunkt eines Gravitationszentrums, die sich dabei auf die Oberfläche des Gravitationszentrums zu bewegen ("Oberfläche der Sonne", bzw. "Oberfläche der Erde"238), j s t hinsichtlich der Momente 237 Vgl. Β 210. 238 Der Text der Abhandlung "Über das Moment der Geschwindigkeit im Anfangsaugenblick" wird nach dem von Adickes herausgegebenen Band der AA zitiert (AA XIV S.495f.). Adickes gibt einen getreuen Abdruck der Schubertschen Ausgabe des durch Kiesewetter überlieferten Kantischen Textes. Jene Abhandlung war einer von sieben kleinen Aufsätzen, die bei F. W. Schubert zum Abdruck gelangten. Ich zitiere hier aus dem Schubertschen Herausgebertext: "Diese kleinen Aufsätze teilte K a n t dem Professor Kiesewetter während seines zweimaligen Aufenthaltes (zuerst im Jahre 1788 - 89 und dann 1791) in Königsberg mit. ... Zu solchen Aufsätzen gehören die hier z u e r s t durch den Druck mitgeteilten, von denen einige ... in späteren Druckwerken mehr ausgeführt sind, aber dennoch im ersten Entwurf durch die lebhafte Frische der Gedanken ihr besonderes Interesse für die öffentliche Meinung besitzen. Ich lasse sie hier in der von K i e s e w e t t e r bereits 1808 handschriftlich
288
Qualität und Quantität
ausgeführt: "Man kann aber diese Momente nicht selbst schon Geschwindigkeit nennen" (AA XIV 49514 - 49601). Diese Bestinmung steht der Zuordnung des Moments der Acceleration der M.A.d.NW. als "gewirkte Geschwindigkeit" entgegen. Wenn es auch nicht in der terminologisch expliziten. Weise wie im IV. Konvolut des Op.p. deutlich gemacht wird, so ist doch damit der Grund der gegenüber den M.A.d.NW. veränderten topischen Bestürmung des Moments auf der Seite der Ursachen der Bewegung angegeben, und die Veränderung der topischen Bestimnung wird auch vollzogen: Nicht mehr die Geschwindigkeit ist Maß des Moments eines Bewegten, sondern "eine" in Hinsicht auf das Gravitationszentrum "verschiedene Tendenz zur Bewegung" muß dem Beweglichen als Marient beigelegt werden (AA XIV 49509). Der Charakter des Moments als Ursache von Bewegung wird im folgenden noch deutlicher: gemachten Reihenfolge abdrucken" (F. W. Schubert in I. Kants sämtlichen Werken, herausgegeben v. K. Rosenkranz u. F. W. Schubert. Th.XI., Abt.I, S.206f. Zit. nach Cassirer, Bd. IV, S.518). Im Unterschied zum dritten Aufsatz ("Widerlegung des problematischen Idealismus") zweifelt Adickes die Echtheit der durch Kiesewetter überlieferten anderen Aufsätze von Kant, zu denen insbesondere die oben genannte Abhandlung gehört, nicht an: "Das Konzept, muß man etwa annehmen, verwahrte Kiesewetter zusammen mit den von Kant für ihn ausgearbeiteten Aufsätzen auf" (AAXVIII S.608). Was Adickes für das Idealismus-Prob lem ausführt, gilt in gewisser Hinsicht auch für das Problem des Momentbegriffes: "Daß Kant so viel Zeit und Mihe darauf verwandte, Kiesewetter volle Klarheit über seine Stellung zum Idealismus-Problem zu verschaffen, erlaubt einen Schluß darauf, wie sehr dies Problem ihm selbst am Herzen lag" (AA XVIII 61023 - 25). Doch im Unterschied zur Vermutung von Adickes, daß dieses auf Selbstzweifel Kants an den Formulierungen der Kr.d.r.V. in ihrer 2. Auflage schließen läßt, denke ich, daß es sich hinsichtlich des Mcmentbegriffes um eine Bestätigung der Aussagen der Kr.d.r.V. handelt und daß Kant bemüht war, bei der Formulierung des Mcmentbegriffes eine zustande zu bringende übereinst imnung der M.A.d.NW. mit der mathematischen Bewegungslehre anzustreben.
Moment der Acceleration
289
"Man muß daher das Moment der Geschwindigkeit nicht schon selbst als Geschwindigkeit betrachten, sondern bloß als das Bestreben, einem Körper eine gewisse Geschwindigkeit mitzuteilen" (AA XIV 49608 - 11). Die das Problem der M.A.d.NW. zum Moment der Acceleration aufhebenden Bestimmungen, die in den nachgelassenen Schriften Kants veröffentlicht sind, lassen sich als Beiträge zu dem lesen, was Kant selber als Aufgabe der Bearbeitung des metaphysischen Systems zur Grundlegung der Naturwissenschaft nach Abfassung der M.A.d.NW. formuliert hat: "Mehr ist hier nicht zu tun, zu entdecken oder hinzuzusetzen, sondern allenfalls, wo in der Deutlichkeit oder Gründlichkeit gefehlt seih möchte, es besser zu machen" (M. IV S.476). Ein Maßstab der erhöhten Deutlichkeit und Gründlichkeit kann darin liegen, wie wenig der metaphysische Teil der allgemeinen Physik der Erweiterung der Naturerkenntnis durch "Beobachtung, Experiment und Anwendung der Mathematik auf äußere Erseheinungen" (AA IV S.477) im Wege steht und wie übereinstinmend dieser metaphysische Teil es gestattet, "mit der mathematischen Bewegungslehre in Vereinigung" gebracht zu werden (AA IV S.478). A n Beispiel der Behandlung des Begriffes des Moments der Acceleration kann dieses deutlich gemacht werden: Solange das Moment einer gleichförmig beschleunigten Bewegung nicht von der Wirkung, die ihren Maßstab in der Geschwindigkeit des beschleunigt Beweglichen findet, getrennt ist, ist eine sinnvolle Anwendung der Infini tesimalrechnung, die zwischen der Geschwindigkeitsfunktion und der Beschleunigung als ihrer 1. Ableitung unterscheidet, nicht möglich. Daß Kant diesen Maßstab der erhöhten Deutlichkeit im Blick hatte, kann daran gesehen werden, daß gerade in den Reflexionen des IV. Konvoluts die unterschiedliche Herangehensweise von Mathematikern und Philosophen an den Begriff des Moments ins Zentrum der Betrachtung gebracht wird: "Der Philosoph dagegen sagt: Das Moment der Acceleration sei gar keine Bewegung, mithin auch keine Geschwindigkeit, sondern bloß eine bewegende Kraft, in
290
Qualität und Quantität
einer gewissen Zeit eine gewisse Geschwindigkeit hervorzubringen" (AA XXI 43631 - 43702)239. Mit dieser Korrektur an der Bestinraung des Mcmentbegriffes der "Allgemeinen Anmerkung zur Mechanik" der M.A.d.NW. und der aus dieser folgenden besseren Übereinst inniung mit der mathematischen Bewegungslehre schließt die Abhandlung von dem Verhältnis von intensiven und infinitesimalen Größen ohne auf die Frage des Verhältnisses von phoronomi scher und mechanischer Größenschätzung von Bewegung eingegangen zu sein, welches in einem folgenden Abschnitt (vgl. den Abschnitt 3.2.3 "Mathematische Bestiimrungen in der Einteilung der bewegenden Kräfte der Materie nach dem System der Kategorien") noch untersucht werden soll. 2.3.8 Bemerkung zum Funkt ionsbegriff Im Jahre 1748 veröffentlicht Leonhard Euler die "Introducilo in analysin infinitorum". Man kann dieses Werk als Propädeutik für die beiden späteren großen Lehrwerke der Differential- und der Integralrechnung ansehen: 239 Diese Position des Philosophen, die in Beziehung zur Berechnung der Geschwindigkeit als bestimmtes Integral der Beschleunigungsfunktion steht, die hier bei der gleichförmigen Bewegung konstant ist, wird mittels rechnerischer Argumente erhärtet, die die Widersprüchlichkeit der Annahme, daß das Moment eine bewirkte Geschwindigkeit sei, aufhellen. Zu diesem Zweck wird ähnlich, wie in der Arbeit "Über das Moment der Geschwindigkeit im Anfangsaugenblick des Falls" (AA XIV S.495f.) von unterschiedlichen Momenten, von denen das eine doppelt so groß ist, wie das andere, ausgegangen. Möglicherweise ist die Wahl in Rücksicht auf spezifisch verschiedene Gravitationszentren getroffen worden. Die Argumentation zum Aufweis der Position des Philosophen schließt mit der Feststellung: "Also muß das Moment der Geschwindigkeit nichts anders als die bewegende Kraft in einem Augenblicke (sein, G.B.), so fern sie durch die gleichförmige Acceleration eine endliche Geschwindigkeit hervorbringt" (AA XXI 43724).
Bemerkung zum Funktionsbegriff
291
"Inst i tut iones calculi differentialis", vol.1+2, Petropolis, 1755, "Institutiones calculi integralis", vol.1-3, Petropolis, 1768-70. Die propädeutische Absicht der "Introducilo" dokumentiert Euler in der Vorrede des Werkes: "Denn icn habe darin nicht nur die Gegenstände, welche die Analysis des Unendlichen voraussetzt, vollständiger und deutlicher abgehandelt als es gewöhnlich geschiehet, sondern es enthält dasselbe auch sehr viele Untersuchungen, wodurch der Leser allmählich und gleichsam unvermerkt mit dem Begriffe des Unendlichen vertraut werden"240. Hauptgegenstände der Untersuchung der 240 Der Text ist zitiert nach der deutschen Übersetzung von Eulers: "Introducilo in analysin infinitorum": J. A. Chr. Michelsen: "Leonhard Eulers Einleitung in die Analysis des Unendlichen, Band 1, Berlin, 1788, S.XII. Im Zusammenhang mit obiger Bemerkung zum Funktionsbegriff ist auf eine neuere Arbeit von Schulthess: "Funktion und Relation" aufmerksam zu machen. Schulthess beabsichtigt, mittels des "Frege-Russellsehen" Funktionskonzepts, welches einen Funktionsbegriff auf der Grundlage der mathematischen Mengenlehre darlegt, "die Genesis von Kants Funktionsbegriff aus dem mathematischen zu zeigen" (Schulthess S.283, Arm.41)), um dadurch u.a. einen Fortschritt gegenüber der Arbeit von Enskat zu dokumentieren. "Wir wollen nun untersuchen, wie weit sich auch Kants Funktionsbegriff in der KrV mit dem in der Mathematik seiner Zeit geläufigen deckt. Die wesentliche Vorarbeit ist geleistet: der Gedanke der Funktion und die Terminologie stinmen bei Kant und Euler überein. Was noch zu zeigen bleibt, ist die Ubereinstimnung im Ansatz einer Ippologie der Funktionsarten" (a.a.O. S.283f.). Die Ubereinstimnung des "Gedankens" der Funktion bei Kant und Euler wird durch die hier dargestellte Bemerkung zum Funktionsbegriff untermauert, allerdings geht es mir dabei auch um den Hinweis auf die konkrete Rezeption der Eulerschen Arbeiten bei Kant, wie sie z.B. durch Michelsen vermittelt wird. Der Nachweis des Ansatzes der "Ubereinstimnung einer Typologie der Funktionsarten" wird bei Schulthess ausschließlich auf arithmetische Funkt ionstypen bezogen. Die Überlegungen von Schulthess stützen sich auf die Reflexionen 5651 und 5652 (vgl. AA
292
Qualität und Quantität
"Introduci io" sind Funktionen. Die Herausbildung des matnematisehen Funktionsbegriffes duren Euler und Bernoulli stellt einen Fortschritt in der Entwicklung der Infinitesimalrechnung dar: Auf Descartes geht der Begriff "variable Größe" zurück, mit Newtons Fluenten ist reichhaltiges Material variabler, nach der Zeit parametrisierter Größen gegeben. Leibniz prägt das Wort "Funktion" für Geraden, die von Kurvenpunkten abhängen, Johann Bernoulli gibt eine erste explizite Definition des Begriffs "Funktion": "Definition: Man nennt Funktion einer veränderlichen Größe eine Größe, die auf irgendeine Weise aus eben dieser veränderlichen Größe und Konstanten zusammengesetzt ist" (zit. n. Wussing S.191). Euler grenzt in der "Introducilo" direkt im ersten Kapitel ("De funetionibus in genere"24!) den Begriff der variablen klar gegen den der konstanten Größe ab: "§1 Quantitas constane et quantitas determinata perpetuo eundam valoren servans";"§2 Quantitas variabilis et quantitas indeterminata seu universalis, quae cmnes omnio determinatos in se complectitur"242. ^uf Grundlage dieser Unterscheidung kann Euler präziser als Bernoulli explizieren, wie sich eine Funktion auf Größen bezieht, und kann im XVIII S. 302 ff.), in denen Kant das "Nahe kotimen" der Quantität der Addition, der Qualität der Subtraktion, der Relation der Multiplikation und der Modalität der Division betont. Das Problem des Nachweises bei Schulthess ist, daß geometrische Funkt ionstypen, wie Drehungen und Spiegelungen, und Funkt ionstypen der Differential- und Integralrechnung nicht berücksichtigt werden. Die Bemerkung zum Funktionsbegriff versucht die in meiner Arbeit gemachten Ausführungen zu diesen bisher unberücksichtigten Funkt ionstypen in Hinblick auf den Kantischen Funktionsbegriff zusammenzufassen. 241 (lat.) = "über die Funktionen im allgemeinen". 242 Leonhard Euler: "Introducilo in analysin infinitorum", Opera Qniia, Serie I, Bd.VIII, S.17: "§1. Eine konstante Größe ist eine bestimmte Größe, die fortdauernd ihren Wert behält"; "§2. Eine variable Größe ist eine unbestimmte oder universelle Größe, welche alle bestürmten Größen ohne Ausnahme umschließt".
293
Bemerkung zum Funktionsbegriff Unterschied
zu
Bernoulli
darlegen,
daß
der
Begriff
der
Funktion sich nicht mehr auf den Begriff der Größe reduziert, sondern ein Verhältnis von Grö&en darstellt, das durch einen "analytischen
Ausdruck"
quantitas
variabilis
composita
ex
illa
quantitatibus a+3z,
expressio
quant i ta te
constantibus"243 >
az-4z2,
gegeben.
beschrieben
est
az+b
,
Hierunter
transzendente
a^
sind
-
variabili Als z^,
sowohl
Funktionen
cz
wie
ist:
"§4
analytica et
numeri s
Beispiele cz
als
Functio
quomodocumque werden
dann
Funktionen
algebraische gefaßt244.
in
als
Der
seu ζ
auch
Begriff
"analytischer Ausdruck" ist daher eine Verallgemeinerung der Zusanmensetzung algebraische beschreibt
von
variablen
Operationen. dann
das
Größen
Im
vierte
und
Fortgang Kapitel
Konstanten der
die
durch
"Introductio"
Entwicklung
von
Funktionen in unendliche Reihen, so daß man festhalten kann, daß
Eulers
Definition
des
Begriffes
der
Funktion
als
"analytischer Ausdruck" die Klasse von Funktionen bezeichnet, die auch im modernen Sinn analytische Funktionen heißen, d.h. Funktionen,
die
konvergenten auch,
beliebig
Potenzreihe
daß
der
oft
differenzierbar
entwickelbar
Begriff
philosophischen Begriff des
sind.
"analytischer
und
in
einer
Anzumerken
ist
Ausdruck"
vom
"analytischen Urteils"
(B 9 - Β
13) zu unterscheiden ist. Kant bekam die deutsche Ubersetzung von Eulers Lehre der Differentialrechnung unmittelbar durch den Ubersetzer Chr. Michelsen Physik hatte
am
- 1797), Professor der Mathematik
Berlinischen
seine
Akademie
(1749
der
J. A .
Ubersetzung
Gyimasium, dem
Wissenschaften
zugeschickt.
Offizier
und
Tempelhof,
Mitglied dem
und
Letzterer der
Göttinger
243 Euler, a.a.O. S.18: "§4. Eine Funktion einer veränderlichen Größe ist ein in irgenteiner Weise aus dieser veränderlichen Größe und Zahlen oder konstanten Größen zusammengesetzter analytischer Ausdruck". 244 "§7. Functiones dividuntur in algebraicas et transcendentes; illae sunt, quae componuntur per operationes algebraicas solas; hae vero, in quibus operationes transcendentes insunt" (Euler a.a.O. S.19).
294
Qualität und Quantität
Mathematiker A.G. Kästner und Kant gewidmet245. Michelsen erläutert in seinem Brief van 5.4. 1790 an Kant, der dem übersendeten Buen beigelegt war, warum für ihn auf dem Felde der Mathematik die Kr.d.r.V. von Bedeutung war246. Neben einer Reihe von Referenzen auf andere Schriften Eulers, die sich in den Werken Kants finden, gibt es daher also auch eine Referenz auf Eulers Differentialrechnung. Anzumerken ist, daß es nicht nur auf der mathematischen Seite mit den Arbeiten von Bernoulli und Euler, sondern auch auf der philosophischen Seite durch die Kr.d.r.V. zur Erörterung des Funktionsbegriffes konmt. Ausgehend von der Uhterseheidung der Erkenntnis durch Anschauungen oder durch Begriffe wird ausgeführt: "Alle Anschauungen, als sinnlich, beruhen auf Affektionen, die Begriffe also auf Funktionen.
245 Michelsen übersetzte nicht nur Eulers: "Introducilo in analysin infinitorum", sondern auch dessen "Inst i tut iones calculi differential is": Johann Andreas Christian Michelsen: "Leonhard Eulers Vollständige Anleitung zur Differenzial=Rechnung", 1790. Michelsen widmete Kant die Ubersetzung von Eulers Lehre der Differentialrechnung: "Sr.Wohlgebornen dem Herrn Inmanuel Kant oeffentiichen ordentlichen Lehrer der Weltweisheit auf der Universität Königsberg in Preußen, und Mitgliede der Königl. Akad. der Wissenschaften zu Berlin" (S. VII). 246 Vgl. AA XI S.150f. Kant bestätigt den Erhalt des Buches in seinem Brief an Johann G. C. Chr. Kiesewetter vom 20.4.1790 (vgl. AA XI S.153f.). Michelsen ist in Kants Briefwechsel mehrfach erwähnt (AA XI S.109, 147, 153, 154, 163, 179). Kant läßt Michelsen sowohl ein Exemplar seiner Streitschrift gegen Eberhard (S. 163) als auch eines der Kr.d.U. zukaimen (S. 179). Michelsen war in der Liste der Freiexemplare der Kr.d.U. van 25.3.1790 noch nicht aufgenaimen. Daß Kant Michelsen dieses Exemplar zukamen läßt, kann mehrere Gründe haben: Es kann Dankbarkeit sein, daß Michelsen die Druckbogen der Kr.d.U "bis T" von Lagarde an Kant gesandt hatte, es kann auch Anerkennung der Übersetzving von Eulers Differentialrechnung und der Vorrede von Michelsen dazu gewesen sein. Das Exemplar von Michelsens Euler Übersetzung ist in der nachgelassenen Bibliothek Kants belegt (siehe Warda S.39).
Bemerkung zum Funktionsbegriff
295
Ich verstehe aber unter Funktion die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen" (B 93). Nun stellt sich direkt die Frage nach dem Verhältnis des mathematischen zum philosophischen Funktionsbegriff. Eine Teilfrage läßt sich vielleicht sofort beantworten, nämlich ob der mathematische Funktionsbegriff im philosophischen enthalten ist. Im Unterschied zu Anschauungen beruhen Begriffe auf Funktionen und sind daher auch in ihrem Gegenstandsbezug von den Anschauungen verschieden. Wahrend diese sich unmittelbar auf den Gegenstand beziehen, ist der Bezug der Begriffe mittelbar: "Da keine Vorstellung unmittelbar auf den Gegenstand geht, als bloß die Anschauung, so wird ein Begriff niemals auf einen Gegenstand unmittelbar, sondern auf irgend eine andre Vorstellung von demselben (sie sei Anschauung oder selbst schon Begriff) bezogen" (B 93). Der Gegenstandsbezug mathematischer Erkenntnis ist dadurch gegeben, daß die Konstruktion eines mathematischen Begriffes ein " e i n z e l n e s Objekt" in reiner Anschauung erzeugt247. Dieses Objekt, das als der Gegenstand einer mathematischen Erkenntnis betrachtet wird, bringt alle die Anschauungen in Allgemeinheit zum Ausdruck, die unter dem vorgegebenen mathematischen Begriff als Vorstellung möglich sind. Die Konstruktion, die den einem mathematischen Begriff korrespondierenden Gegenstand in reiner Anschauung hervorbringt, ist Handlung, wie z.B. das Ziehen einer L i n i e 2 4 8 : "Um aber irgend etwas im Räume zu erkennen, z.B. eine Linie, maß ich sie z i e h e n und also eine bestimmte Verbindung des gegebenen Mannigfaltigen synthetisch zu Stande bringen, so, daß die Einheit dieser Handlung zugleich die 247 Vgl. Β 741. 248 "Die einzelne hingezeichnete Figur ist empirisch, und dient gleichwohl den Begriff, unbeschadet seiner Allgemeinheit, auszudrücken, weil bei dieser empirischen Anschauung irrmer nur auf die Handlung der Konstruktion des Begriffs , welchem viele Bestürmungen, ζ. E. der Größe, der Seiten und der Winkel, ganz gleichgültig sind, gesehen, und also von diesen Verschiedenheiten, die den Begriff des Triangels nicht verändern, abstrahiert wird" (B 741 - 742, Hervorhebung G.B.).
296
Qualität und Quantität
Einheit des Bewußtseins (im Begriffe einer Linie) ist, und dadurch allererst ein Objekt (ein bestimmter Raum) erkannt wird" (B 137 - 138, nicht in A) . Der hier durch Konstruktion hervorgebrachte geometrische Gegenstand ("ein bestimmter Baum") ist Ausdruck der Einheit der Konstruktion als Handlung, in dan eine synthetische Verbindung gegebener Größen zustande gebracht ist· So läßt sich, mathematisch gesehen, die Einheit der Konstruktion einerseits geometrisch durch den konstruierten Gegenstand in reiner Anschauung, der einen bestimmten Raum einninmt, und andererseits durch ein auf andere mathematische Weise erzeugtes Gesetz der bestinmten allgemeinen Verbindung der als Voraussetzung der Konstruktion gegebenen Größen repräsentieren: Ist D eine Menge von Größen, die als Bestandteile von D mit Punkten in D identifiziert werden, und wird jedem Punkt von D genau ein Punkt in einer bestinmten Menge W zugeordnet, so wird die Einheit dieser Konstruktion durch die mengentheoretische Verbindung f f: D — » V V mit χ I — > y:= f(x) repräsentiert, f heißt mengentheoretische Funktion von D nach W, wenn für jede Größe x e D genau eine Größe y e W existiert, daß f(x) = y ist. Die Menge f(D) aller Bildpunkte von D in VV heißt Bild von D: f(D) = ( y e W, y = f(x) für ein χ aus D | . Beschreibt f(D) einen geometrischen Gegenstand, so ist wegen der geometrischen Erzeugung vcai f(D) die Verbindung f bestinmt, aufgrund der Tatsache, daß damit für jedes χ D ein y = f(x) f(D) gegeben ist, ist die Verbindung f allgemein. Damit ist durch den mengentheoretischen Funktionsbegriff die Beschreibung der Einheit einer geometrischen Konstruktion möglich. Wird beispielsweise im Zeitintervall [0,T] die Strecke [a,b] proportional zum Zeitablauf gezogen, so ist die folgende Funktion f die Darstellung der Einheit dieser Handlung: f: [0,T] — > [ a , b ] χ I—> y=f(x)=q * χ + a 1
q:= (b-a)* T" )
(mit
Bemerkung zum Funktionsbegriff
297
In diesali Fall ist die Darstellung der Einheit der Handlung durch die Funktionsvorschrift y=f(x) algebraisch, und der Gegenstand f(D) ist eine Gerade, also ein geometrischer Gegenstand. Beide Arten der Beschreibung eines geometrischen Objekts werden in der Streitschrift gegen Eberhard als ein Zusammenhang angesehen (dort wird an Hand der Parabel als Beispiel eines geometrischen Objekts argumentiert, daß es einerseits als Kegelschnitt und andererseits durch die algebraische Formel y = a * χ2 gegeben wird)249. Die Betrachtung einer Funktionsvorschrift als bloß algebraisch reicht dann nicht mehr aus, wenn z.B. geometrische Objekte dadurch entstehen, daß Größen in einer oszillierenden Abhängigkei t250 einer veränderlichen Größe stehen, die durch eine in mathematischer Bedeutung transzendente Funktion gegeben ist (z.B. y=sin(x)), so daß diese Abhängigkeit nicht mehr in algebraischen Termen ausgedrückt werden kann. Die Darstellung der Einheit einer Konstruktion durch eine Funktionsvorschrift y = f(x), wobei f ein analytischer Ausdruck in der variablen Größe χ ist, d.h. eine konvergente Potenzreihe in der Variabein χ ist, ist die durch Euler gegebene Beschreibung des mathematischen Funktionsbegriffes. Insbesondere sind mit diesen Funktionsbegriff oszillierende Abhängigkeiten zu beschreiben. Noch allgemeiner als der Eulersche ist der oben angegebene mengentheoretische Funktionsbegriff, der auch von der Differenzierbarkeitsbedingung absieht. Der mathematische Funktionsbegriff251) der die Einheit der Konstruktion eines mathematischen Gegenstandes 249 Vgl. AA Vili S.192. 250 Oszillierende Bewegungslinien werden als Beschreibung einer besonderen Bewegungsart in den M.A.d.NW. aufgeführt (AA IV S.483). 251 In der Schrift "Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte ..." wird auf Erklärungen des mathematischen Funktionsbegriffes hingewiesen, wie sie in den Arbeiten zur Mechanik von Bui finger und Muschenbroek verwandt werden (vgl. AA I S.83, S.173). Die mechanische
298
Qualität m d Quantität
bezeichnet, ist als Spezialfall,daß eine Handlung nur Konstruktion ist, im philosophischen Funktionsbegriff enthalten. Hier ist allerdings anzumerken, daß die Art der Unterordnung, die durch den mathematischen Funktionsbegriff beschrieben wird, von der des philosophischen Funktionsbegriffes durch ein besonderes Merkmal positiv ausgezeichnet ist: Die mathematische Funktion ordnet verschiedene Vorstellungen nicht nur einheitlich unter einen Begriff, sondern sie stellt auch die Einheit der Konstruktion eines mathematischen Gegenstandes vor, in den die verschiedenen Vorstellungen nach einer durch die Funktion beschriebenen Weise eingeordnet sind. Bisher war der philosophische Funktionsbegriff nicht weiter differenzierend betrachtet worden, man hätte ihn genauer als Funktionsbegriff der allgemeinen Logik bezeichnen können, da bisher nur die Einheit der Handlung betrachtet wurde, verschiedene Vorstellungen unter eine gemeinsame Vors tel lung zu ordnen: "Analytisch werden verschiedene Vorstellungen u n t e r einen Begriff gebracht, (ein Geschäfte, wovon die allgemeine Logik handelt)" (B 104). Gegenüber dem Funktionsbegriff der allgemeinen Logik wird der Funktionsbegriff der transzendentalen Logik abgegrenzt: Entgegen der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter ein gemeinsames Merkmal (i.E. Begriff) zu ordnen, steht die Handlung der transzendentalen Logik, "die r e i n e Synthesis der Vorstellungen a u f Begriffe zu bringen" (B 104). Das Ordnungsverfahren, das die Einheit der Handlung gewährleistet, weist im Gegensatz zu dem der allgemeinen Logik keine Ordnung unter eine gemeinsame Vorstellung aus, sondern eine Ordnung in eine gemeinsame Vorstellung, nämlich in eine Anschauung, welches dem Ordnungsverfahren des mathematischen Funktionsbegriffes ähnlich kommt : 'Dieselbe Bestürmung der Arbeit kann als Funktion Geschwindigkeit beschrieben werden: A(v) = (m/2) * (v2 - vo2) Hierbei ist m die Masse und vo Ausgangsgeschwindigkei t.
der die
Bemerkung zum Funktionsbegriff
299
Funktion, welche den verschiedenen Vorstellungen i n einem U r t e i l e Einheit gibt, die gibt auch der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen i n einer Anschauung Einheit, welche, allgemein ausgedrückt, der reine Verstandesbegriff heißt" (B 104 - 105). Die Unterscheidung des philosophischen Funktionsbegriffes nach allgemeiner und transzendentaler Logik führte so zu einer Präzision desselben, die sowohl die Ähnlichkeit zum mathematischen Funktionsbegriff aufzeigt, als auch auf die Verbindung zu den Kategorien weist. Eine andere Fragestellung, inwieweit der beschriebene transzendentalphilosophische Funktionsbegriff unter Berücksichtigung des Eulerschen Funktionsbegriffes entstanden ist, um Unscharfen des Leibnizschen Gebrauch des Begriffes Funktion, der sowohl mathematisch als auch philosophisch war, auszuschließen, ist vom Charakter her ausschließlich wissenschaftshistorisch und würde über den Rahmen dieser Arbeit hinausgehen.
3.
3.1
BEZUG UND TRENNUNG. ZUM VERHÄLTNIS VON MATHEMATIK UND PHILOSOPHIE IM "ÜBERGANG VON DEN METAPHYSISCHEN ANFANGSGRÜNDEN DER NATURWISSENSCHAFT ZUR PHYSIK"
Der wissenschaftssystematische Bezug von Mathematik und Philosophie zur Physik
3.1.1 Kanon und Organon Gegenüber den Erörterung des
1
M.A.d.NW. treten Überganges* von
im Zusarrmenhang der den metaphysischen
Mit der Herausgabe der M.A.d.NW. von 1786 sind zwar die "metaphysischen Anfangsgründe der Korperlehre" dargelegt, das Curriculum für "einen besonderen Grundteil" der Vorlesung der "allgemeinen Physik" mathematischer Naturforscher ausgeführt (AA IV S.477f.) und ein Beweis der Tragfähigkeit der Transzendentalphilosophie in der Beantwortung der Frage: "Wie ist reine Naturwissenschaft möglich?" erbracht. Aber die Frage: "Wie ist reine Naturwissenschaft als System möglich?" wurde nicht beantwortet. Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft und empirische Naturforschung sind nicht in vollständige Verbindung gebracht, und die Erklärung der "spezifischen Verschiedenheit" der Materie aus den Grundkräften der Attraktion und Repulsion ist durch die M.A.d.NW. nicht geleistet (AA IV S.525). Mit aller Schärfe macht Kant im Brief an Christian Garve vom 21.9.1798 auf dieses systematische Problem der Naturwissenschaft aufmerksam: "-Die Aufgabe, mit der ich mich jetzt beschäftige, betrifft den 'Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik'. Sie will aufgelöset sein; weil sonst im System der kritischen Philosophie eine Lücke sein würde" (AA XII S.257, Auflösung der Abkürzungen G.B.).
Kanon und Organon
301
Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik im Op.p. Bemerkungen zur Behandlung des theoretischen Gebrauches von Mathematik und Philosophie in der Naturwissenschaft unter dem Aspekt der Unterscheidung von Kanon und Organon 2 auf: "Indessen wenn Mathematik gleich kein Kanon für die Naturwissenschaft ist, so ist sie doch ein viel vermögendes Instrument (Organon), wenn es um Bewegung und die Gesetze derselben zu tun ist, den Erscheinungen als Anschauungen in
2
Erkenntnisse a priori und empirische Erkenntnisse sind ungleichartig. Die Zusammenfassung solcher ungleichartigen Erkenntnisse zu einem System der Naturwissenschaft bedarf einer Vermittlung, weil eine unvermittelte Zusaimienfassung kein System, sondern nur ein Aggregat ausmachen würde und ein unvermittelter Übergang von einer Erkenntnisart zur anderen bloß ein Sprung wäre. Dieses ist ein Anknüpfungspunkt der Vorrede des "Übergangs von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik", welcher eine Einsicht in die Stellung des "Übergangs" in der philosophischen Naturwissenschaft weckt und als Einführung in das Problem einer Systematik der Naturforschung verstanden werden kann: "Wenn in einem System (nicht den fragmentarischen Aggregat) dergleichen die philosophische N a t u r w i s s e n schaft (philosophia naturalis) überhaupt ist, eine Obereinteilung wie die in die metaphysischen und physischen Anfangsgründe derselben sich der Vernunft von selbst darbietet, gleichwohl aber diese Teile ungleichartig sind, mithin ihre Hinzukunft eigentlich nicht f o r t s c h r e i t e n d (progressus) ist, so wird die Vermehrung jener Wissenschaft mit dieser ein Ü b e r g a n g (transitus) von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik und weder das eine noch das andere für sich allein, sondern diese für jene überhaupt ergänzend sein. - Es ist kein Sprung von einen Territorium aufs andere, denn das würde keine n o t w e n d i g e Verbindlang zum Behuf des Ganzen einer Naturwissenschaft abgeben, sondern eine Stellung, welche die Vernimit annehmen muß, um beide Ufer mit einen Schritt zugleich zu berühren" (AA XXI 17422-17507). Der Aspekt der Unterscheidung von Kanon und Organon wird im ersten Abschnitt des "Kanon der reinen Vernunft" (B 323) ausgeführt.
302
Bezug und Trennung
Raum und Zeit idre Gegenstände a priori anzupassen, wo die Philosophie mit ihren qualitativen Bestimimngen ohne Beitritt der Mathematik mit ihren quantitativen es nicht zur wissenschaftlichen Evidenz bringen würde" (AA XXI 20907-13). Diese Betrachtung der Mathematik unter dem Aspekt der Unterscheidung von Kanon und Organon kann in die Behandlung des Begriffs der Naturwissenschaft als ein "scientifisches Prinzip" eingeordnet werden. Das "scient i fische Prinzip" bezieht sich auf die Naturwissenschaft als das Prinzip eines Lehrsystems. Damit werden Gedanken der Vorrede der M.A.d.NW., die dort zur Lehre des reinen Teils der Naturwissenschaft entwickelt wurden ("physica generalis" (AA IV S. 473) bzw. "allgemeine Physik" (AA IV S.478)), systematisch verallgemeinert. Die Gedanken wurden jedoch für die Naturwissenschaft als ein vollständiges Lehrsystem der Physik in den M.A.d.NW. nicht verallgemeinert, weil der Standpunkt der Betrachtung auf die besondere Abhandlung der metaphysischen Anfangsgründe der Naturwisenschaft und nicht auf die Abfassung einer Metaphysik der Natur als Bestandteil einer allgemeinen Metaphysik, welche zu den Voraussetzungen der Vollständigkeit eines Lehrsystems der Physik gehört, ausgerichtet war^. Für das "scientifische Prinzip" der Naturwissenschaft ist im Op.p. ausgeführt: "Das scientifische Prinzip der Naturwissenschaft (Scientiae naturalis) als eines Lehrsystems der bewegenden Kräfte der Materie überhaupt ist also rational, mithin entweder mathematisch oder philosophisch, und kann in zwei Fächer abgeteilt werden (Scientiae naturalis principia mathematica und Scientiae naturalis principia philosophica)" (AA XXI 20714). über die Abgrenzung des Inhalts dieser beiden Fächer ist dann
3
"So gewinnt man in Beförderung dieser Absicht, wenn man sie von einem zwar aus ihrer Wurzel sprossenden, aber doch ihrem regelmäßigen Wüchse nur hinderlichen Sprößlinge befreiet, diesen besonders pflanzt, ohne dennoch dessen Abstamnung aus jener zu verkennen und sein völliges Gewächs aus dan System der allgemeinen Metaphysik wegzulassen" (AA IV S.477).
Kanon und Organon
303
folgendes bemerkt: "Es wird also heißen müssen: 1.) Scientiae naturalis (nicht philosophiae) principia mathematica; 2.) Scientiae naturalis (nicht philosophiae) principia philosophica, zu welcher letzteren dann auch die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft gehören werden, als von denen der Fortschritt zur Physik zu machen ist" ( M XXI 20811). Versteht man unter "scientia naturalis" die Naturwissenschaft, die gemäß einem szientifischen Prinzip als Lehrsystem gedacht wird, dann gehören zu den philosophischen Prinzipien der "scientia naturalis" die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Da diese als solche beschrieben werden, "als von denen der Fortschritt zur Physik zu machen ist", ist bei der Bestürmung des "scient i fischen Prinzips" das Problem des Überganges von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik angesprochen. Folgt man der Formulierung, daß zu den Prinzipien der "scientia naturalis" "auch die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft gehören" (AA XXI 20811) imd daß dadurch die Menge der philosophischen Prinzipien der "scientia naturalis" nicht erschöpft ist, dann besteht die Frage, ob noch fehlende philosophische Prinzipien der "scientia naturalis" im "Übergang zur Physik" gefunden werden können. Die Warte der Betrachtung des szientifischen Prinzips der Naturwissenschaft ist ein Standpunkt von größerer Allgemeinheit als der, der ausschließlich auf die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft ausgerichtet ist. Obgleich die letztgenannten Anfangsgründe die Thematik der Schrift von 1786 bestürmen, sind dort in der Vorrede bereits Ansatzpunkte der Verallgemeinerung zu einem Lehrsystem der Scientia naturalis angesprochen. Insbesondere ist auch ein Hinweis zu den Scientiae naturalis principia mathematica angedeutet, obwohl die Tendenz der Aussage die Absonderung der metaphysischen Anfangsgründe und nicht die Verallgemeinerung zu einem Lehrsystem der Naturwissenschaft ist. Die folgende Aussage erwähnt nämlich, daß es rationale Prämissen des Gebrauches der Mathematik zumindest auf dem
304
Bezug und Trennung
Felde der metaphysischen Anfangsgründe der Körperlehre gibt: "Aber außer jener inneren Notwendigkeit, die metaphysischen Anfangsgründe der Körperlehre nicht allein von der Physik, welche empirische Prinzipien braucht, sondern selbst von den rationalen Prämissen derselben, die den Gebrauch der Mathematik in ihr betreffen, abzusondern, ist noch ein äußerer zwar nur zufälliger, aber gleich wohl wichtiger Grund da, ihre ausführliche Bearbeitung von dem allgemeinen System der Metaphysik abzutrennen und sie als ein besonderes Ganzes systematisch darzustellen" (AA IV S. 477). Bevor nun im einzelnen die Bestimmungen zum theoretischen Gebrauch der Mathematik, die in oben genannter Stelle zur Mathematik als Organon der Naturwissenschaft ausgeführt sind, herausgearbeitet werden, ist es von Relevanz, das methodische Inventar des zweiten Hauptstücks der transzendentalen Methodenlehre der Kr.d.r.V. darzulegen, die den theoretischen Gebrauch einer reinen Vernunftwissenschaft betrifft. Während der Begriff des Kanons explizit exponiert wird: "Ich verstehe linter einem Kanon den Inbegriff der Grundsätze a priori des richtigen Gebrauchs gewisser Erkenntnisvermögen überhaupt" (B 824), wird in diesem Hauptstück der Begriff des Organons in Hinsicht auf die Philosophie nur implizit und in bloß negativer Bestiimiung dargelegt: "Der größte und vielleicht einzige Nutzen aller Philosophie der reinen Vernunft ist also wohl nur negativ; da sie nämlich nicht, als Organon, zur Erweiterung, sondern, als Disziplin, zur Grenzbestimnung dient, und, anstatt Wahrheit zu entdecken, nur das stille Verdienst hat, Irrtümer zu verhüten" (B 823). Der Kanon der reinen Vernunft setzt die Disziplin der reinen Vernunft notwendig voraus. Denn der richtige Gebrauch gewisser Erkenntnisvermögen in einer Wissenschaft wird erst dann möglich, wenn in dieser Wissenschaft ungleichartige Prinzipien, die verschiedenen Erkenntnisvermögen korrespondieren, geschieden sind. Die Trennung ungleichartiger Prinzipien, die auf Vernunfterkenntnissen aus Begriffen oder aus der Konstruktion der Begriffe in einer korrespondierenden Anschauung beruhen, wird von der Disziplin
Kanon und Organon
305
der reinen Vernunft gesteuert. Gerade für die Naturwissenschaft ist die Trennung ungleichartiger Prinzipien von Relevanz: "Es ist aber von der größten Wichtigkeit zum Vorteil der Wissenschaften ungleichartige Prinzipien von einander zu scheiden, jede in ein besonderes System zu bringen, damit sie eine Wissenschaft ihrer eigenen Art ausmachen, um dadurch die Ungewißheit zu verhüten, die aus der Vermengung entspringt, da man nicht wohl unterscheiden kann, welcher von beiden teils die Schranken, teils auch die Verirrungen, die sich im Gebrauche derselben zutragen möchten, beizumessen sein dürften" CAA IV S. 472f.)· Diese negative Bestimmung der Philosophie, daß sie kein Organon zur Erkenntniserweiterung ist, verhält sich genau reziprok zum oben genannten Argument im Op.p., daß die Mathematik ein viel vermögendes Organon zur Beschreibung von Bewegungsgesetzen ist und damit zum Erkenntnisfortschritt in der Naturwissenschaft beiträgt"*. Außerdem geht diese Darlegung auch für die Philosophie weiter als die Ausführung der transzendentalen Methodenlehre: Ist dort die Philosophie von der Möglichkeit ihres Gebrauches als Organon abgegrenzt, gilt für die Naturwissenschaft, daß der Gebrauch der "Philosophie mit ihren qualitativen Bestürmungen"5 durch den Gebrauch zusammen mit der Mathematik als Organon zur Evidenz fünren kann. Der Begriff des Organons einer Wissenschaft, wie oben die Mathematik als Organon der Naturwissenschaft bezeichnet wurde, ist als die Logik eines besonderen Verstandesgebrauches erklärt**: "Die Logik eines besondern Verstandesgebrauchs enthält die Regeln, über eine gewisse Art von Gegenständen richtig zu denken" (B 76). Der Gebrauch einer Wissenschaft als Organon einer anderen Wissenschaft (hier: der Naturwissenschaft) setzt somit voraus, daß die 4 5 6
Vgl. AA XXI 20911. Vgl. AA XXI 20907-13. "Jene kann man die Elementarlogik nennen, diese (die Logik des besondern Verstandesgebrauchs, G.B.) aber das Organon dieser oder jener Wissenschaft" (B 76).
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Bezug und Trennung
Klasse von Gegenständen, auf die die letztgenannte Wissensehaft gerichtet ist, hinreichend klar gekennzeichnet ist. Diese klare Kennzeichnung des Gegenstandsbereiches, d.h. die Auszeichnung "einer gewissen Art von Gegenständen", erfordert daher das Vorangehen einer qualitativen Bestimmung. Im genannten Falle der Naturwissenschaft ermöglicht also die Philosophie "mit ihren qualitativen Bestimnungen" eine ausreichend klare Kennzeichnung des Gegenstandsbereiches, so daß ein Gebrauch der Mathematik als Organon stattfinden kann. Der Begriff des Organons hängt sehr eng mit dem der Propädeutik zusammen: Das Organon einer Wissenschaft als Logik des besonderen Verstandesgebrauchs wird in der Lehre der entsprechenden Wissenschaft häufig als Propädeutik "vorangeschickt, ob sie zwar, nach dem Gange der menschlichen Vernunft, das Späteste ist, wozu sie allererst gelangt, wenn die Wissenschaft schon lange fertig ist, und nur die letzte Hand zu ihrer Berichtigung und Vollkommenheit bedarf. Denn man muli, die Gegenstände schon in ziemlich hohem Grade kennen, wenn man die Kegeln angeben will, wie sich eine Wissenschaft von ihnen zustande bringen lasse" (B 76 - 77). Der Begriff des Organons einer Wissenschaft stellt an die zu gebrauchende Wissenschaft weitergehende Anforderungen als der Begriff des Kanons. Diese Anforderungen sind im Falle der transzendentalen Kritik als Wissenschaft angedeutet, von der eine "künftige Metaphysik", "die als Wissenschaft wird auftreten können" (AA IV S. 253), Gebrauch machen wird: "Eine solche Kritik ist demnach eine Vorbereitung, wo möglich, zu einen Organon, und wenn dieses nicht gelingen sollte, wenigstens zu einem Kanon derselben, nach welchem allenfalls dereinst das vollständige System der Philosophie der reinen Vernunft, es mag nun in Erweiterung oder bloßer Begrenzung ihrer Erkenntnis bestehen, so wohl analytisch als synthetisch dargestellt werden könnte" (B 26). Die Betrachtung der Mathematik als Organon der Naturwissenschaft gehört zur philosophischen Grundlegung des Gebrauches der Mathematik in der Naturwissenschaft, der als
Kanon und Organon
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theoretischer Gebrauch bezeichnet werden kann?. im zweiten Hauptstück der transzendentalen Methodenlehre der Kr.d.r.V. wird auf das Problem des adäquaten bzw. des nicht adäquaten theoretischen Gebrauches der reinen Vernunft eingegangen. Die Philosophie der reinen Vernunft enthält insbesondere als Kritik der reinen Vernunft die transzendentale Ästhetik, die transzendentale Analytik und die transzendentale Dialektik als Kritik des spekulativen Gebrauches der reinen Vernunft. Während die transzendentale Ästhetik sogar ein Organon des theoretischen Gebrauches der reinen Sinnlichkeit ist ("Die zweite wichtige Angelegenheit unserer transzendentalen Ästhetik ist, daß sie nicht bloß als scheinbare Hypothese einige Gunst erwerbe, sondern so gewiß und ungezweifelt sei, als jemals von einer Theorie gefordert werden kann, die zum Organon dienen soll" (B 63)), macht die transzendentale Analytik wenigstens einen Kanon des theoretischen Gebrauches des reinen Verstandes aus: "So war die transzendentale Analytik der Kanon des reinen V e r s t a n d e s ; denn der ist allein wahrer synthetischer Erkenntnisse a priori fähig" (B 824). Diese synthetischen Erkenntnisse a priori beruhen auf den synthetischen Grundsätzen des reinen Verstandes, welche, ihren Ursprung nach betrachtet, nicht ausschließlich als Erkenntnisse aus Begriffen angesehen werden können: "Denn sie würden auch nicht einmal a priori möglich sein, wenn wir nicht die reine Anschauung, (in der Mathematik,) oder Bedingungen einer möglichen Erfahrung überhaupt herbei zögen" (B 357). Dadurch sind die Grundsätze des reinen Verstandes, da sie immer nur hinsichtlich möglicher Erfahrung Bestand 7
Zum Begriff des theoretischen Gebrauches der Vernunft kann folgende Ausführung dienen: "Ich begnüge mich hier, die theoretische Erkenntnis durch eine solche zu erklären, wodurch ich erkenne, was d a i s t , die praktische aber, dadurch ich mir vorstelle, w a s da sein s o l l . Diesemnach ist der theoretische Gebrauch der Vernunft derjenige, durch den ich a priori (als notwendig) erkenne, daß etwas sei; der praktische aber, durch den a priori erkannt wird, was geschehen solle" (B 661).
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Bezug und Trennung
Haben, bezüglich ihres Gebrauches als "immanent" gekennzeichnet, "indem sie nur die Mjglichkeit der Erfahrung zu ihrem Thema haben" (B 365). Sie sind verschieden von den Grundsätzen, die aus dem obersten Prinzip der reinen Vernunft** entspringen und transzendent heißen: 'Die aus diesem obersten Prinzip der reinen Vernunft entspringende Grundsätze werden aber in Ansehung aller Erscheinungen transzendent sein, d.i. es wird kein ihm adäquater empirischer Gebrauch von demselben jemals gemacht werden können" (B 365). Der nicht adäquate Gebrauch der reinen Vernunft besteht im spekulativen Gebrauch, der in der transzendentalen Methodenlehre folgendermaßen beschrieben wird: "Die Vernunft wird durch einen Hang ihrer Natur getrieben, über den Erfahrungsgebrauch hinaus zu gehen, sich in einen reinen Gebrauche und vermittelst bloßer Ideen zu den äußersten Grenzen aller Erkenntnis hinaus zu wagen, und nur allererst in der Vollendung ihres Kreises, in einen für sich bestehenden systematischen Ganzen, Ruhe zu finden" (B 825). Für den spekulativen Gebrauch der reinen Vernunft "gibt es gar keinen Kanon" (B 824), denn es gilt: "Wo aber kein richtiger Gebrauch einer Erkenntniskraft möglich ist, da gibt es keinen Kanon. Nun ist alle synthetische Erkenntnis der reinen V e r n u n f t in ihrem spekulativen Gebrauche, nach allen bisher geführten Beweisen, gänzlich unmöglich" (B 824). Für die Philosophie der reinen Vernunft müßte daher hinsichtlich ihres Gebrauches in der Naturwissenschaft differenzierend bemerkt werden: In bezug auf die synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes ist ein theoretischer Gebrauch möglich, und die transzendentale Analytik würde den Kanon des Gebrauches der Philosophie in 8
Das oberste Prinzip der reinen Vernunft entwickelt sich aus einer Maxime des logischen Gebrauchs der reinen Vernunft: "Wenn das Bedingte gegeben ist, so sei auch die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt sind, gegeben (d.i. in dem Gegenstande und seiner Verknüpfung enthalten)" (B 364).
Kanon und Organon
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der Naturwissenschaft ausmachen. In bezug auf den spekulativen Gebrauch der reinen Vernunft gilt, daß dieser keinen Kanon hat und die Disziplin der reinen Vernunft für diesen Gebrauch auch im Hinblick auf die Naturwissenschaft "zur Grenzbestimnung dient" und "das stille Verdienst hat, Irrtümer zu verhüten" (B 823). Allein kann die Mathematik keinen Kanon der Naturwissenschaft ausmachen, da die Naturwissenschaft aipirische Erkenntnisse vmfaßt^, die als solche durch das Erkenntnisvermögen der reinen Sinnlichkeit nicht gewonnen werden können. Obgleich die Philosophie die Bedingungen der Möglichkeit des Gebrauches der Mathematik als Organon der Naturwissenschaft enthält, ist sie selbst, da sie nicht "zur Erweiterung" (B 823) der Naturerkenntnis dient, kein Organon. Aber zusamnen mit der Philosophie der reinen Vernunft ist die Mathematik "ein viel vermögendes Instrument (Organon)", da die Philosophie der reinen Vernunft durch die transzendentale Analytik, die einen Kanon des theoretischen Gebrauches synthetischer Erkenntnisse a priori des reinen Verstandes in der Naturwissenschaft ausmacht, mittels der mathematischen 9
"Die Naturwissenschaft (philosophie naturalis) besteht aus zwei ihren Prinzipien nach unterschiedenen Teilen: Deren ersterer das Bewegliche im Raum (die Materie) nach Begriffen a priori unter Bewegungsgesetzen vorstellt und das System unter der Betitelung M e t a p h y s i s c h e r Anfaηg sgründe der Naturwissenschaft abgefasset worden, der zweite Teil aber, der von empirischen Prinzipien ausgeht, wenn man ihn unternehmen wollte, Physik heißen würde" (AA XXI 52410-16). An anderer Stelle ist die Physik, die empirische Prinzipien beinhaltet und Bestandteil der Naturwissenschaft ist, unter den Titel "angewandte Naturlehre" subsumiert: "Die Naturwissenschaft (scientia naturalis), welche, wenn sie nach Vernunftprinzipien geordnet worden, eben dieser Form halber philosophie naturalis genannt wird, teilt sich in die r e i n e , aus Begriffen a priori hervorgehende, und die a n g e w a n d t e Naturlehre, deren einer den Titel Metaρhys isch e A n f a n g s g r ü n d e der Naturw i s s e n s c h a f t führt, der andere Physik heißt und mit jener auch empirische Prinzipien gleich als in einem
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Bezug und Trennung
Grundsätze des reinen Verstandes die Anwendung der Mathematik auf äußere Erscheinungen ermöglicht. Insbesondere geht es dabei um die mathematische Beschreibung von Bewegung überhaupt und die Demonstration von B e w e g u n g s g e s e t z e n l O . Daß die Mathematik dafür nach Maßgabe synthetischer Grundsätze des reinen Verstandes die Rolle eines Organons zur Bestürmung von Erscheinungen hat, wird bereits in den "allgemeinen Anmerkungen zur transzendentalen Ästhetik" angedeutet: Als mathematisierbar können die Verhältnisse betrachtet werden, die mittels formaler Anschauungen im Räume demonstrierbar sind, wie z.B. eine Bewegungslinie, die die Beschreibung
10
System verbindet" (AA XXI 28507-13). Zum dritten ist auf eine Stelle zu verweisen, die den Anteil der Naturwissenschaft, der sich ausschließlich auf Prinzipien a priori ("Lehrsätze") gründet, von dem Anteil, der nicht a priori ist, unterscheidet, diesen aber nicht durch den Titel "empirische Prinzipien", sondern durch den Titel "Erfahrungsprinzipien" kennzeichnet: "Naturwissenschaft (philosophie naturalis) ist die Wissenschaft von den bewegenden Kräften der Materie im Weltraum. - Sofern ein solches System bloß auf Begriffen und Lehrsätzen a priori beruht, heißt es Metaphysik der Natur, sofern es aber zugleich auf Erfahrungsprinzipien gegründet werden muß, Physik" (AA XXI 17609-13). Der Titel "Erfahrungsprinzipien" legt die Beschreibung der Rolle der Metaphysik beim Zustandekommen von Erfahrungsurteilen nahe, deren Beschreibung in der Vorrede der M.A.d.NW. gegeben wurde, die das Vorhandensein metaphysischer Prinzipien in der Naturwissenschaft begründet: Wahre Metaphysik "enthält die reinen Handlungen des Denkens, mithin Begriffe und Grundsätze a priori, welche das Mannigfaltige empirischer Vorstellungen allererst in die gesetzmäßige Verbindung bringt, dadurch es empirisches Erkenntnis, d.i. E r f a h r u n g , werden kann" (AA IV S.472). A n sämtlichen drei Stellen der "Vorrede" zum "Übergang zur Physik" ist die Naturwissenschaft als ein System gekennzeichnet, das einen Anteil aufaßt, der Physik genannt wird, der auf erpirischen Prinzipien aufgebaut ist. "So ist sie (die Mathematik, G.B.) doch ein viel vermögendes Instrument (Organon), wenn es um Bewegung und die Gesetze derselben zu tun ist" (AA XXI 20908f.).
Kanon und Organon
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einer "Veränderung der Örter" ist. A n jener Stelle der Kr.d.r.V. sind als demonstrierbare formale Anschauungen die Beschreibungen "der Veränderung der Örter (Bewegung), und Gesetze, nach denen diese Veränderung bestimmt wird (bewegende Kräfte)", genannt (B 66-67). Die Verwendung der Mathematik als Organon der Naturwissenschaft, durch die die qualitativen Bestiumnungen der Philosophie zur "wissenschaftlichen Evidenz" gelangen, geschieht auf die Weise, daß die Mathematik zu den naturwissenschaftlich zu bestürmenden Erscheinungen "Gegenstände a priori" konstruiert, die als formale Anschauungen "den Erscheinungen als Anschauungen in Kaum und Zeit ...anzupassen" sindll. Eine Erscheinung des äußeren Sinnes hat Ausdehnung und Gestalt. Als intensive Größe hat sie einen Grad. Mögl icherweise befindet sich diese Erscheinung in Bewegung, dann kann die Geschwindigkeit dieses Beweglichen gemessen werden. Zu diesen Daten der Erscheinung als extensive und intensive Größe kann die Mathematik eine formale Anschauung konstruieren, der diese Daten durch die Konstruktion beigelegt sind. Modern gesprochen, gibt die formale Anschauung ein mathematisches Modell der beobachteten Erscheinung. Nun ist zu prüfen, ob die konstruierte formale Anschauung mit der Anschauung der beobachteten Erscheinung weitgehend übereinst iirmt und ob insbesondere alle wesentlichen Daten der Erscheinung in die formale Anschauung Eingang gefunden haben, ob die beobachteten Daten quantitativ mit denen der formalen Anschauung Übereins tinmen. Die Beantwortung der Frage, ob alle wesentlichen Daten der Erscheinung in das mathematische Modell der Erscheinung Eingang gefunden haben, setzt die Reflexion voraus, ob die Beschreibung der qualitativen Merkmale der Erscheinung, die der Konstruktion der formalen Anschauung hinsichtlich der zu berücksichtigenden Daten zugrunde lag, zureichend war. Eine formale Anschauung, die alle wesentlichen Daten berücksichtigt und die quantitativ mit der beobachteten Erscheinung übereinstinmt, würde 11
AA XXI 20907ff.
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Bezug und Trennung
angepaßte Anschauung Heißen. Zum Begriff der Anpassung ist zu vermerken, daß dieser als Bedingung für Begriffe a priori von Verhältnissen bewegender Kräfte der Materie gefordert ist, sofern diese Begriffe ein aipirisches System der Erfahrung ermöglichen sollen. Diese Forderung wird in einer vorläufigen Ausarbeitung zur Ubergangsproblematik im Op.p. aufgestellt: "Zum Übergange wird erfordert, Begriffe a priori von bewegenden Kräften, den formalen Bedingungen zur Möglichkeit eines empirischen Systems nämlich der Erfahrung anzupassen" (AA XXI 16219 - 21)12. Während in der bisher behandelten Hauptstelle zum Gebrauch der Mathematik als Organon der Naturwissenschaft festgestellt wurde, daß die Mathematik "kein Kanon für die Naturwissenschaft ist" (AA XXI 20907ff.), wird auf einem Bogen des Op.p., der von Kant mit der Signatur "Einleitung"! 3 überschrieben ist, für die Mathematik ausgesagt, daß durch die Mathematik kein Kanon für die Philosophie gegeben ist: "Die Mathematik ist kein Kanon für die Philosophie, aber als Organon kann sie das Erkenntnis a priori befördern, daher auch der Mathematiker die Weisheit nicht befördert" (AA XXI 19405). D a die mathematische Erkenntnis aus der Konstruktion von Begriffen in einer korrespondierenden Anschauung besteht und die philosophische Erkenntnis eine Erkenntnis aus Begriffen ist, ist die Mathematik auf die Sinnlichkeit und die Philosophie auf die V e r n u n f t ^ a l s das ganze obere Erkenntnisvermögen bezogen. Damit ein System von Grundsätzen a priori ein Kanon ist (B 824), muß dieses den richtigen Gebrauch eines Erkenntnisvermögens gewährleisten. 12
13 14
Zum Begriff der Anpassung vgl. auch die folgende Bestimmung eines anderen Teiltextes des Op.p.: "Der Ubergang enthält bloß Begriffe von denkbaren bewegenden Kräften der Materie und Gesetzen derselben, deren objektive Realität noch unausgemacht gelassen wird, und ein System von Begriffen der Form nach gründet, welchem man die Erfahrung anpassen kann" (AA XXI 30917-20). Vgl. hierzu A A XXI 19020. "Ich verstehe hier aber unter Vernunft das ganze obere Erkenntnisvermögen" (B 863).
Kanon und Organon
313
Sinnlichkeit und Vernunft sind als Erkenntnisvermögen disjunkt. Entsprechend der Überlegung, "daß der Meßkünstler, nach seiner Methode, in der Philosophie nichts als Kartengebäude zu Stande bringe" (B 755), würde das Ergebnis des Gebrauches der Mathematik als Kanon der Philosophie ausfallen. Der Kanon der reinen Vernunft setzt die Disziplin der reinen Vernunft voraus. Daher ergibt sich, daß die Mathematik kein Kanon für die Philosophie sein kann, weil nämlich gilt, "daß es sich für die Natur der Philosophie gar nicht schicke, vornehmlich im Felde der reinen Vernunft, mit einem dogmatischen Gange zu strotzen und sich mit den Titeln und Bändern der Mathematik auszuschmücken, in deren Orden sie doch nicht gehöret" (B 763). Zur Thematik der Mathematik als Organon der Naturwissenschaft sei abschließend auf eine Argumentation des XI. Konvoluts des Op.p. hingewiesen^, in der Kant auf die Herausbildung von Newtons Gravitationsgesetz, welches "Hypothese" genannt wird und eine Verallgemeinerung der Keplergesetze darstellt, eingeht und die Rolle der Mathematik für die Herausbildung dieses Gravitationsprinzips im allgemeinen und die Wechselbeziehung zwischen der Fluxionsrechnung und der Untersuchung der "Phänomene der Schwere"!® im besonderen behandelt: "Wenn es nun also gleich keine mathematische Prinzipien der Philosophie im Fache der Naturwissenschaft geben kann, so kann es doch einen p h i l o s o p h i s c h e n Gebrauch von der Mathematik geben, in so fern diese zum bloßen Instrumente der Physik als Philosophie dient, mithin ein i n d i r e k t e s Prinzip der N.W. ist: Zwar nicht in objektiver sondern (in, G.B.) subjektiver Hinsicht, aber doch auf eine nicht empirische sondern apodiktische Gewißheit, die der in der Mathematik analog ist, Anspruch machen kann" (AA XXII 51503-10). Die
15 16
Diese Argumentation befindet sich im VII. Bogen des XI. Konvoluts, der von Kant mit der Kennung " Y " überschrieben ist, vgl. AA XXII 51109-52329. AA XXII 51916.
Bezug und Trennung
314
Herausbildung der Hypothese "einer allgemeinen Attraktion der war die allgemeine Antwort auf die Frage nach "der
Körper"!?
wirkenden durch
Ursache"!^
die
derjenigen
Beobachtungen
der
Erscheinungen,
deren
Planetenbewegung
als
Daten
Wirkungen
wahrnehmbar waren und in den drei Keplerschen Analogien, d.h. in mathematischen Bewegungsgesetzen Aufnahme gefunden hatten: "Keplers hatten
drei
die
vollständig,
aber
mathematisch Kräfte
herausragende gesuchte
doch
ihrem
Ursachen
omnes
Kreisbewegung
der
etc.)19 Planeten
nur
empirisch
abgezählt
ohne
doch
bewegenden
Gesetz
sein
Leistung
Ursache
(*) = Planetae
der
beschrieben,
samt
gehörenden
Analogien*)
Phänomene
zu
mochten"
Newtons
ein allgemein
die
ahnen, (AA
welche XXII
bestand
die
dazu
52114).
darin,
gültiges
und
als
Die diese
Gravitationsprinzip
für Paare von Massen aufzustellen, das gleichermaßen für das Verhältnis eines fallenden Steins zur Erde wie auch für das eines
umlaufenden
Planeten
zur
Sonne
gilt,
aus
insbesondere
die drei Keplerschen Gesetze abgeleitet
können,
hierfür
Brücke
"lim von
der
Bat
Mathematik
zu
schaffen,
zur
Physik
schlug nämlich
dem
werden
Newton dem
eine
Prinzip
einer Kraft der alle Körper durchdringenden Anziehung
durch
den leeren Raum nach dem Gesetz des umgekehrten Verhältnisses der Quadrate räumlich
17 18 19
der Entfernung"
disjunkte
CAA XXII
Massenkörper
51621-24). Sind
gegeben,
die
ideal i ter
zwei als
A A XXII 51628-51702. A A XXII 51620. Keplers drei Gesetze der Planetenbewegung werden in folgender Formulierung gegeben: "1. Jeder Planet bewegt sich auf einer Ellipsenbahn mit der Sonne in einem Brennpunkt. 2. Der Radiusvektor von der Sonne zum Planeten überstreicht in gleichen Zeiten gleiche Flächen. 3. Die Quadrate der Unlaufszeiten sind den dritten Potenzen der großen Halbachsen der Bahnellipsen proportional." (M. Spiegel: "Allgemeine Mechanik Theorie und Anwendung", Schaum's Outline, McGraw-Hill, 1979, Düsseldorf, New York, ....Toronto, S.120).
Kanon und Organon
315
punktförmige Massenverteilungen m^ und rrrç anzunehmen sind, und ist r ihr Abstand und r^ der Einheitsvektor der von einem Punkt zum anderen zeigt, dann ziehen sich die Körper mit der folgenden Kraft F an: ^ G * mi * V02 F Γ - " ñ 1 τύ Hierbei ist G die Gravitationskonstante (G = 6,673xl0-8(cm3/g)*sec" 2 ) 20 . Die Mathematik ist hierbei relevantes Werkzeug^l zur Abfassung des Gravitationsprinzips und zur Herlei tung der Keplerschen Gesetze aus ihm. Für den weiteren Gebrauch der Mathematik, insbesondere der Inf ini tesimalrechnung als Organon auf dan Felde der Mechanik, ist das Newtonsche Attraktionsprinzip grundlegend: "Alle mechanischen (durch m i t g e t e i l t e Bewegungen bewirkten) Kräfte der Körper, z.B. die durch eine in Schwung gesetzte Schleuder, (Galileis, Keplers und Huygens schöne mathematische Entdeckungen) und selbst die Phänomene der Schwere mit der großen mathematischen Erfindung des Fluxionskalküls in Verbindlang gebracht, bewirkten nichts für die Philosophie" (AA XXII 51913-18). Dieses änderte sich erst, nachdem "das Prinzip der Attraktion der.Weltkörper als einer unmittelbar auf das Innere derselben wirkenden Kraft angenommen war und zwar, wie der (reine, G.B.) Raum (dieses Prinzip, G.B.) mit sich führt, nach dem Verhältnis der Massen und dem umgekehrten der Quadrate"(AA XXII 51918-21). Das Newtonsche Attraktionsprinzip gestattet nun, die Infinitesimalrechnving zur Untersuchung von Bewegungsgesetzen anzuwenden und zu Erkenntnisfortschritten im Felde der Naturwissenschaften zu gelangen, die auf der Grundlage eines alle "Weltkörper" betreffenden Prinzips stattfinden, und die Naturwissenschaft aus einen Stadium herauszuführen, in dem sie nur auf die empirische Abzählung22 von Bewegungsphänomenen beschränkt bleibt. Deswegen schafft
20 21 22
Vgl. M. Spiegel S. 120, S. 342. Vgl. dazu auch AA XXII 51707. Vgl. AA XXII 52116.
316
Bezug und Trennung
Newtons "Gravitationsanziehung" ein "Organ", das die Mathematik in die Lage versetzt, z.B. durch die Anwendung und Entwicklung neuer Methoden der Infinitesimalrechnung, neue Gesetze der Bewegung im Bereich der Naturwissenschaft aufzustellen und sie dadurch "der Natur" "a priori vorzuschreiben": "Die drei berühmten Analogien K e p l e r ' s führten zu einem Machtstreich Newtons, Gravi tat ionsanziehung durch eine kühne aber unumgängliche Hypothese für die Physik auszurufen, wodurch die Mathematik zum Behuf der Naturwissenschaft mit einem Vermögen bewaffnet wurde, a priori der Natur Gesetze vorzuschreiben, die sie ohne jenes Organ schlechterdings nicht für die Philosophie hätte benutzen können" (AAXXII 51314-20). 3.1.2
Orientierung und Propädeutik
Zur Orientierung bedarf es eines subjektiven Prinzips und eines Datums der Sinnlichkeit. Das subjektive Prinzip ist jeweils ein anderes, wenn die Orientierung in einer Anschauung oder im Denken zu leisten ist. In der Schrift "Was heißt: Sich im Denken orientieren?" unterscheidet Kant das geographische, das mathematische und das logische Orientieren. Diese Arten der Orientierung korrespondieren jeweils dem Vermögen der empirischen Ausdehnung, dem der reinen Anschauung und dem der Begriffe. Diese Schrift ist genau wie die M.A.d.NW. im Jahr 1786 erschienen. Der Begriff der Orientierung wird zunächst als der Begriff der geographischen Orientierung eingeführt: "Sich o r i e n t i e r e n heißt in der eigentlichen Bedeutung des Worts: aus einer gegebenen Weltgegend (in deren vier wir den Horizont einteilen) die übrigen, namentlich den A u f g a n g zu finden"(AA VIII S. 134). In der Arbeit von 1768 war der Begriff der Gegend als das Verhältnis der Lage von Teilen eines Raumes zu einem umgebenden Raum bestimmt worden23. Der Einteilungsgrund, der die wechselseitigen Lagen der Teile
23
Vgl. AA II S.377f.
Orientierung und Propädeutik
317
klassifiziert, wurde als das Verhältnis des Systems dieser Lagen zu den Seiten des menschlichen Körpers bestimmt: "Eben so ist es mit der geographischen, ja mit unserer gemeinsten Kenntnis der Lage der Örter bewandt, die uns zu nichts hilft, wenn wir die so geordnete Dinge und das ganze Syst an der wechselseitigen Lagen nicht durch die Beziehung auf die Seiten unseres Körpers nach den Gegenden stellen können" (AA II S.379f.). Der Einteilungsgrund der Seiten des menschlichen Körpers gibt das subjektive Prinzip der Unterscheidung der Weltgegenden24( deren Auszeichnung das Verfahren der geographischen Orientierung ausmacht: "Also orientiere ich mich g e o g r a p h i s c h bei allen objektiven Datis am Himriel doch nur durch einen s u b j e k t i v e n Unterscheidungsgrund" (AA VIII S. 135). Sind die Gegenstände, deren System der Lagen in bezug auf den umgebenden Kaum zu bestimmen ist, nicht mehr in einer empirischen, sondern in einer reinen Anschauung gegeben, so ist das Verfahren der Bestimmung der Gegend durch die mathematische Orientierung beschrieben, die sich als Verallgemeinerung der geographischen Orientierung auffassen läßt, wenn man von allen Daten, die in einer empirischen Anschauung gegeben sind, abstrahiert: "Diesen geographischen Begriff des Verfahrens sich zu orientieren kann ich nun erweitern und darunter verstehen: sich in einem gegebenen Kaum überhaupt, mithin bloß m a t h e m a t i s c h orientieren" (AA VIII S.135). Auch das Verfahren der mathematischen Orientierung bedarf zweier Stücke: Zum einen ist es ein Gegenstand, der in einer reinen Anschauung gegeben ist und dessen Lage bekannt ist, und zum anderen ist es das subjektive Prinzip der Unterscheidung der beiden Orientierungsklassen im Räume: "So aber orientiere ich mich bald durch das bloße Gefühl eines Unterschiedes meiner zwei Seiten, der rechten und der linken" (AA VIII S.135). Kant illustriert das Verfahren der mathematischen Orientierung am 24
"Zu diesem Behuf bedarf ich aber durchaus das Gefühl eines Unterschiedes an meinen eigenen S u b j e k t , nämlich der rechten und linken Hand" (AA Vili S.134).
318
Bezug und Trennung
Beispiel der Orientierung in einem finsteren Raum. Die Finsternis ist gerade der Ausdruck der gänzlichen Abwesenheit einer empirischen optischen Anschauung- Wäre die Wahrnehmung auf den optischen Sinn reduziert, hätte das Beispiel keinen eupirisehen Charakter mehr. Der Stuhl wäre nicht ertastbar, sondern ein Konstrukt in reiner Anschauung. Wesentlich an dem Beispiel ist, daß diesem ein Datum reiner A n s c h a u u n g 2 5 korrespondiert: "Im Finstern orientiere ich mich in einem mir bekannten Zinmer, wenn ich nur einen einzigen Gegenstand, dessen Stelle ich im Gedächtnis habe, anfassen kann" (AA VIII S.135). Vielleicht verstellt das Wort "anfassen" den Blick darauf, daß es sich bei der mathematischen Orientierung um die Bestürmung der Gegend für reine Anschauungen handelt. "Anfassen" bedeutet aber nicht Ertasten, sondern die demonstrierbare Erstellung des Verhältnisses zwischen dem geometrischen Ort des Gegenstandes (Stelle des Stuhls) und der entsprechenden Seite, die dem Gegenstand zugewandt ist (linke oder rechte Hand, die den Stuhl "anfaßt"). Die höchste Stufe der Vera 11 geme i ne rung des Orientierungsbegriffes liber die mathematische Orientierung hinaus ist die Orientierung im Denken: "Endlich kann ich diesen Begriff noch mehr erweitern, da er denn in dem Vermögen bestände, sich nicht bloß im Räume, d.i. mathematisch, sondern überhaupt im Denken, d.i. logisch zu orientieren" (AA Vili S.136). Die Notwendigkeit, sich im Denken zu orientieren, tritt dann ein, wenn der Gebrauch der reinen Vernunft zwar von der Erfahrung ausgeht, sich aber "über alle Grenzen der Erfahrung erweitern will" (AA VIII S.136). Liegt nun ein solcher Begriff vor, "mit welchem wir uns über alle mögliche Erfahrung hinaus wagen wollen", so reicht es nicht aus, nur die Widerspruchsfreiheit des Begriffes zu prüfen. Das Verfahren der Orientierung besteht darüber hinausgehend darin, das Verhältnis dieses Begriffes "zu den Gegenständen der 25
Das Objekt ("Datun"), das in einer reinen Anschauung gegeben ist, ist genau die "Stelle", die "ich im Gedächtnis habe" (AAVIII S.135).
Orientierung und Propädeutik
319
Erfahrung unter reine Verstandesbegriffe zu bringen, wodurch wir ihn noch gar nicht versinnlichen, aber doch etwas Übersinnliches wenigstens tauglich zum Erfahrungsgebrauche unserer Vernunft denken" (AA VIII S.136f.). Die mathematische Orientierung ist Bestandteil der logischen Orientierving, sofern der gegebene Begriff, der über die Erfahrung hinausgeht, dann doch versinnlicht werden kann. Daß eine Ansatzmöglichkeit für die Versinnlichung solcher Begriffe besteht, wurde für den die Erfahrung überschreitenden Gebrauch der reinen Vernunft konstatiert, "wenn sie (die reine Vernunft, G.B.), von bekannten Gegenständen (der Erfahrung) ausgehend, sich über alle Grenzen der Erfahrung erweitern will und ganz und gar kein Objekt der Anschauung, sondern bloß Raum für diesselbe findet" (AA Vili S.136). Während für die geographische bzw. mathematische Orientierung ein Datun in einer empirischen bzw. reinen Anschauung und damit ein bestinmter Kaum vorhanden war, ist für jenen Gebrauch der reinen Vernunft, der einer logischen Orientierung bedarf, nur Raum überhaupt als Anschauungsbezug genannt, welcher die Ansatzmöglichkeit der Versinnlichung wäre. Die logische Orientierung besteht in der Bestimmung des Verhältnisses des über die Erfahrung hinausgehenden Begriffes zu den Gegenständen der Erfahrung mittels reiner Verstandesbegriffe, d.h. mittels Kategorien. Damit machen die reinen Verstandesbegiffe das subjektive Prinzip der logischen Orientierung aus: "Sich im Denken überhaupt orientieren, heißt also: sich bei der Unzulänglichkeit der objektiven Prinzipien der Vernunft im Fürwahrhalten nach einem subjektiven Prinzip derselben zu bestimmen" (AA VIII S.136 Aim.)· Also gilt auch für die logische Orientierung, daß sie zweier Stücke bedarf: Zum einen eines subjektiven Prinzips, das durch die Tafel der Kategorien gegeben ist, und zum anderen der Gegenstände der Erfahrung, im Verhältnis zu denen die Orientierung des über die Erfahrung hinausgehenden Begriffes bestürmt wird. Während die geographische bzw. die mathematische Orientierung auf einen bestimmten Gegenstand einer empirischen oder reinen Anschauung bezogen war, ist der
320
Bezug und Trennung
Gegenstandsbezug der logischen Orientierung duren das Verhältnis zu Gegenständen der Erfahrung überhaupt, die in einer räumlichen Anschauung vorliegen, ausgewiesen. Daher ist die logische Orientierung zwar nicht unmittelbar wie die mathematische bzw. geographische, aber mittelbar durch den Bezug auf Gegenstände der Erfahrung auf Data der Sinnlichkeit verwiesen. Die logische Orientierung trägt zu einen vorsichtigen Gebrauch der reinen Vernunft bei: "Denn ohne diese Vorsicht würden wir von einem solchen Begriffe gar keinen Gebrauch machen können, sondern schwärmen, anstatt zu denken" (AAVIII S.137). In der "Vorrede zur zweiten Auflage" der Kr.d.r.V. wird die Propädeutik einer Wissenschaft bildlich als "Vorhof" der betreffenden Wissenschaft beschrieben und die Vernunft, wenn sie den sicheren Weg einer Wissenschaft eingeschlagen hat, als Propädeutik einer jeder objektiv zu nennenden Wissenschaft ausgewiesen: "Daher jene (die Vernunft, G.B.) auch als Propädeutik gleichsam nur den Vorhof der Wissenschaften ausmacht, und wenn von Kenntnissen die Rede ist, man zwar eine Logik zu Beurteilung derselben voraussetzt, aber die Erwerbung derselben in eigentlich und objektiv so genannten Wissenschaften suchen miß>" (Β IX). Damit die Vernunft den Weg einer Wissenschaft gehen kann, maß, ihr Gebrauch zum Erwerb sicherer Erkenntnis klar abgegrenzt werden, weil nämlich genau umgekehrt gilt, daß das Verwischen der Grenzziehung zur "Verunstaltung der Wissenschaften" führt, welches am Beispiel der Logik, die seit "den ältesten Zeiten" den sicheren Weg einer Wissenschaft eingeschlagen hat, ausgeführt ist: "Es ist nicht Vermehrving, sondern Verunstaltung der Wissenschaften, wenn man ihre Grenzen in einander laufen läßt; die Grenze der Logik aber ist dadurch ganz genau bestimmt, daß sie eine Wissenschaft ist, welche nichts als die formalen Regeln alles Denkens...ausführlich darlegt und strenge beweiset" (Β VIII - IX). Der Propädeutik als "Vorhof" oder Einleitung einer Wissenschaft kommt die Funktion zu, die zu dieser Wissenschaft nötigen Vorkenntnisse und Prinzipien, die aus anderen Wissenschaften entliehen
Orientierung und Propädeutik
321
werden, von den der Wissenschaft eigenen Prinzipien präzise abzugrenzen. Dies, welches insbesondere für die Philosophie von Kelevanz ist, legt Kant in der sogenannten ersten Einleitung zur "Kritik der Urteilskraft" dar, die in der Frage der philosophischen Lehre einer Propädeutik in engem inhaltlichen Anschluß an die Vorrede der zweiten Auflage der Kr.d.r.V. steht: "Wenn man sie (die propädeutischen Einleitungen, G.B.) darauf richtet, um die, der neu auftretenden Lehre eigene Prinzipien (domestica), von denen, welche einer anderen angehören (peregrinis), sorgfältig zu unterscheiden, so dienen sie zur Grenzbestinmung der Wissenschaften, einer Vorsicht, die nie zu viel empfohlen werden kann, weil ohne sie keine Gründlichkeit, vornämlich im philosophischen Erkenntnisse, zu hoffen ist" ( M XX S. 241 f.). Die Kritik der reinen Vernunft erfüllt eine Doppelrolle: Sie ist einerseits eine b e s o n d e r e 2 6 "Wissenschaft der bloßen Beurteilung der reinen Vernunft, ihrer Quellen und Grenzen", deren "Nutzen in Ansehung der Spekulation wirklich nur negativ" ist (B 25). Sie ist daher eine selbständige Wissenschaft. Andererseits ist sie "die P r o p ä d e u t i k zum System der reinen Vernunft" (B 25)27. Di e propädeutische Funktion der Kritik für das System der reinen Vernunft wird unter dem speziellen Aspekt, der sich "unserer Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll" (B 25), zuwendet, bestätigt: Die transzendentale Kritik ist Propädeutik der Transzendentalphilosophie28. Resümierend 26 27
28
"Idee und Einteillang einer besonderen Wissenschaft, unter dem Namen einer Kritik der reinen Vernunft" (B 24, nicht in A). Zur Bestürmung der Kritik als Propädeutik eines künftigen Systems der reinen Vernunft vgl. auch folgende Stelle der "Vorrede zur zweiten Auflage": "Meinerseits kann ich mich auf Streitigkeiten von nun an nicht einlassen, ob ich zwar auf alle Winke, sei es von Freunden oder Gegnern, sorgfältig achten werde, um sie in der künftigen Ausführung des Systems dieser Propädeutik gemäß zu benutzen" (BXLII). Vgl. Β 25 - Β 26.
322
Bezug und Trennung
ließe sien feststellen: Die Kritik der reinen Vernunft ninmt im Gefüge der Wissenschaften eine ausgezeichnete Stellung ein: Sie ist Propädeutik einer umfassenden Wissenschaft, die das System der reinen Vernunft ausmacht, und sie ist als Propädeutik eine selbständige Wissenschaft, welches für die Propädeutik einer Wissenschaft im allgemeinen nicht gilt. Propädeutiken solcher Wissenschaften enthalten oftmals notwendige Bestandteile anderer Wissenschaften (prineipiis peregrinis). Die Untersuchung der propädeutischen Funktion einer Menge von Erkenntnissen für eine Wissenschaf 129 f di e eine syst anatisehe Einheit von Erkenntnissen ist, gehört zur Architektonik: "Die Philosophie der reinen Vernunft ist nun entweder P r o p ä d e u t i k (Vorübung), welche das Vermögen der Vernunft in Ansehung aller reinen Erkenntnis a priori untersucht, und heißt K r i t i k , oder zweitens das System der reinen Vernunft (Wissenschaft), die ganze (wahre sowohl als scheinbare) philosophische Erkenntnis aus reiner Vernunft im syst ana ti sehen Zusammenhange, und heißt M e t a p h y s i k " (B 869). Daher findet hier die obige Überlegung, daß die Kritik der reinen Vernunft Propädeutik des Systems der reinen Vernunft ist, das als Wissenschaft "die ganze ... philosophische Erkenntnis aus reiner Vernunft im systematischen Zusanmenhange" enthält (B 869), Erwähnung. Die Kritik der reinen Vernunft ist gleichermaßen auch Propädeutik der Metaphysik der Natur und der Metaphysik der Sitten^O. Kant führt in dem Archi tektonik-Hauptstück der transzendentalen Methodenlehre auch aus, daß durch die vermittelnde Tätigkeit der Philosophie als Vernunfterkenntnis aus Begriffen Wissenschaften wie die Mathematik oder die Naturwissenschaft erst "einen hohen Wert als Mittel ... zu 29
30
"Weil die systematische Einheit dasjenige ist, was ganeine Erkenntnis allererst zur Wissenschaft, d.i. aus einem bloßen Aggregat derselben ein System macht, so ist die Architektonik die Lehre des Szientifischen in unserer Erkenntnis überhaupt, und sie gehört also notwendig zur Methodenlehre" (B 860). Vgl. Β 878.
Orientienang und Propädeutik
323
notwendigen und wesentlichen Zwecken der Menschheit" erlangen (B 878). Das Architektonik-Hauptstück der Kr.d.r.V. läßt die Frage offen, die nicht zum Aufgabenkreis der Kritik der reinen Vernunft gehört, nämlich wie eine solche Vermittlung von Philosophie und Naturwissenschaft zum Beispiel aussehen könnte. Offen bleibt in Hinsicht auf die propädeutische Punktion der Kritik der reinen Vernunft auch, welchen Anteil letztere an einer transzendentalphilosophisch gegründeten Propädeutik der Naturwissenschaft haben könnte. Daß die Propädeutik der Naturwissenschaft einen philosophischen Anteil hat, der insbesondere darin liegt, daß diskursive Grundsätze aus Begriffen zur allgemeinen Naturwissenschaft gehören, wird von den Prolegomena in der Beantwortung der Frage "Wie ist reine Naturwissenschaft möglich?" angeführt^l, aber für die Ausgestaltung dieses Anteils in bezug auf die Naturwissenschaft als System empirischer Erkenntnisse nicht ausgeführt. Wenn von Naturwissenschaft die Rede ist, dann wird darunter in engerer Bedeutung die Wissenschaft der "Gegenstände ä u ß e r e r " Sinne verstanden (AA IV S.467). Die gleiche Verwendung in engerer Bedeutlang erfolgt auch bei den Begriffen "Natur", "Metaphysik der Natur" etc. In der "Vorrede" der M.A.d.NW. ist die Wissenschaft, die sich mit diesem Gegenstandsbereich befaßt, auch als "Körperlehre" bezeichnet, um sie von der "Seelenlehre", die "den Gegenstand des i n n e r e n Sinnes" untersucht, zu unterscheiden (AA IV S. 467). Der Titel "Körperlehre" ist problematisch, da auch Gegenstände der Naturwissenschaft behandelt werden, die nicht notwendigerweise von körperlicher Gestalt sind. Daher wird dem Titel "Naturwisenschaft", in engerer Bedeutung genonmen, der Vorzug eingeräumt. 31
"Ich darf hier nur diejenige Propädeutik der Naturlehre, die unter dem Titel der allgemeinen Naturwissenschaft vor aller Physik (die auf empirische Prinzipien gegründet ist) vorhergeht, zum Zeugen rufen. Darin findet man Mathematik, angewandt auf Erscheinungen, auch bloß diskursive Grundsätze (aus Begriffen), welche den philosophischen Teil der reinen Naturerkenntnis ausmachen" (AA IV S.295).
324
Bezug lind Trennung
Zu den Prinzipien a priori der allgemeinen Naturwissenschaft gehören, da die Gegenstände der äußeren Sinnenwelt "mithin auch" Gegenstände "der Erfahrung sein können" (AA IV S. 467), die synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung. Zwar wird mit den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft der metaphysische Teil der allgemeinen Naturwissenschaft^ der zusammen mit der auf Erscheinungen angewandten Mathematik Bestandteil der reinen Naturwissenschaft ist, auf transzendentalphilosophisch gesicherte Grundlagen gestellt und methodisch auch die Trennung der Grundsätze der Naturwissenschaft nach empirischen und rationalen Prinzipien v o l l z o g e n ^ . Aber es fehlen die philosophischen Prinzipien, die die so getrennten Arten der Grundsätze der Naturwissenschaft zueinander in Beziehung setzen und zu einem durchgängig bestinmten Lehrsystem der Naturwissenschaft vereinigen würden. Solche Prinzipien gehören zum philosophischen Anteil einer Propädeutik der Naturwissenschaft. Eine Entfaltung der Idee einer philosophisch bestimmten syst ana tisehen Propädeutik der Naturwissenschaft, die über den Anteil der metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft hinausgeht, wird im Op.p. gegeben: "Diese Lehre der propädeutischen Naturwissenschaft, welche zwei Territorien (das der Metaphysik der Natur und der Physik) nicht unmittelbar aneinandergrenzen läßt, sondern über eine Kluft zwischen beiden eine Brücke schlägt, auf der man weilen kann und von der man den Prospekt zur Physik sich nach und nach auf Gegenstände der Natur eröffnet, ist also ein wirklicher besonderer Teil der Naturlehre, der aber eigentlich nur die Aufgaben der Philosophie enthält, von dem, was zu tun ist, um zur Physik zu gelangen, nicht sich selbst dahin versetzt und darin anbaut. - Man würde also von Naturwissenschaft drei Abteilungen machen können: 1) 32 33
Vgl. AA IV S.478. Vgl. AA IV S.467f.
Orientierung und Propädeutik
325
Metaphysik der Natur, 2) allgemeine Kräftelehre der Materie (pnysiologia generalis) und 3) Physik (pnysica), System der bewegenden Kräfte der Materie" (AA XXI 28607). Die Pnysiologia generalis hat kein besonderes Territorium neben dem Territorium der Metaphysik der Natur. Daß kein besonderes Territorium für die Physiologia generalis übrig bleibt, ergibt sich daraus, dafc der Bereich der Naturwissenschaft disjunkt in zwei Territorien eingeteilt ist: Es ist das Territorium der rationalen Naturwissenschaft ("Metaphysik der Natur"), die ihre Erkenntnisse a priori erhält und deren Prinzipien durch die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft bereitgestellt sind, und das Territorium der empirischen Naturwissenschaft ("Physik"), die ihre Erkenntnisse aus der Erfahrung erhält^. Die disjunkte Zerlegung des Bereiches der Naturwissenschaft in zwei Territorien kaimt von der Disjunktheit der Unterscheidung der Erkenntnisquellen, der Scheidung der Erkenntnisse a priori von den empirischen Erkenntnissen, "die ihre Quellen a posteriori, nämlich in der Erfahrung, haben" (B 2). Aus dieser vollständigen und disjunkten Zerlegung des Bereiches der Naturwissenschaft in zwei Territorien folgt, weil es kein Verbindungsterritorium gibt, das der Physiologia generalis zugeordnet wäre, daß es "eine Kluft" gibt, die zu überbrücken ist. Die Prinzipien der überbrückung, die philosophische Prinzipien der Verbindung der metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft mit empirischen Prinzipien der Physik zum Ziel eines durchgängig bestürmten Lehrsystems der Naturwissenschaft sind, würden wegen ihrer Zwischenstellung zur Physiologia generalis gehören. Die Prinzipien der Physiologia generalis würden deshalb "den Prospekt zur Physik" eröffnen. Die Aufstellung der Prinzipien der Physiologia generalis ist, da diese Prinzipien philosophisch sind, Aufgabe der Philosophie. Diese Aufgabe gehört zum philosophischen Anteil der Propädeutik der 34
"Wenn aber gleich alle unsere Erkenntnis m i t der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle a u s der Erfahrung" (B 1).
326
Bezug und Trennung
Naturwissenschaft, sie handelt "von dem, was zu tun ist, um zur Physik zu gelangen". Die Prinzipien der Physiologie generalis gehören also zur philosophischen Propädeutik der Naturwissenschaft als einem Lehrsystem, d.h. zur "Lehre der propädeutischen Naturwissenschaft". Da die Aufgabe, die Einheit des Lehrsystems der Naturwissenschaft zu stiften, ausschließlich eine "Aufgabe der Philosophie" ist, spielt die Mathematik für die systematische Zusanmens tel lung der Prinzipien der Physiologia generalis keine Rolle. Daß> die Physiologia generalis als propädeutische Naturwissenschaft35 die Möglichkeit hat, die bestehende Kluft^ß zwischen den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft und der Physik zu schließen, wenn sie eine systematische Zusammenstellung der Prinzipien der bewegenden Kräfte der Materie leistet, wird in einer Vorarbeit zur Ubergangsproblematik dargelegt: Für "die propädeutische Physiologie" ist bildlich ausgeführt, daß sie "eine Brücke" von dem Territorium der metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft zur Physik "als in einem System darstellt" (AA XXI 621)17). Die propädeutische Physiologie gelangt "nicht durch einen Sprung zum System" der Physik, sondern ihre Erörterung kann "durch Schritte" gedacht werden, "welche vermittelst der den ZwischenraumS? ausfüllenden Materialien, welche empirisch sind, aber a priori als in Verbindung zu einem Ganzen die Form eines Systems enthalten" ( AA XXI 35
36
37
Die folgenden Zitate des Abschnittes stammen von der 2. Seite des I.Bogens des VI. Konvoluts, der von Kant mit den Titel "Farrago 1 ante redactionem syst ana t is" bezeichnet ist, AA XXI 62013-28. "Zwischen den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft und der Physik, wohin jene eine Tendenz hat und sie formaliter antizipiert, ist eine Kluft (hiatus)" (AA XXI 62013). Der Begriff "Zwischenraum11 ist mehrdeutig. Zum einen kann hier als "Zwischenraum" in übertragener Bedeutung der Platz zwischen den Territorien der M.A.d.NW. und der Physik verstanden werden und zum anderen in unmittelbarer Bedeutung der Raum, der zwischen zwei Räumen liegt, von deren Erfüllung man eine Empfindung hat.
Orientierung und Propädeutik
327
62020), zustande kcnmen. Die Herausarbeitung der "Form eines Systems" kann "durch eine systenatisehe Aufzählung der bewegenden Kräfte der Materie" gewonnen werden. Im Fortgang des Textes wird dann auch der Terminus "physiologia propaedeutica" durch den Terminus "physiologia generalis" ersetzt, der in der oben genannten Passage zur Übergangsproblematik der auftretende Terminus war^S. Die Prinzipien der Physiologia generalis als propädeutische Naturwissenschaft sind "gedachte Begriffe" und von gegebenen B e g r i f f e n 3 9 5 w i e sie insbesondere als konstruierte Begriffe der Mathematik vorkamen, verschieden. Im Unterschied zur Naturwissenschaft insgesamt, die durch Beobachtung und Experiment die Menge ihrer Erkenntnisse beständig erweitert, gilt für die Lehre des Übergangs von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik, die die Prinzipien der Physiologia generalis beinhaltet und zur Propädeutik der Naturwissenschaften gerechnet wird, die ein vollständiges System von Erkenntnissen werden kann: "Denn die Naturwissenschaft selbst kann nie ein vollständiges System werden, vrahl aber jene Propädeutik (die Lehre des Übergangs von den M.A.d.NW. zur Physik, G.B.)." (AA XXI 48726). Der Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik wurde oben in seiner propädeutischen Funktion für die empirische Naturforschung, darin er die Prinzipien der Physiologia generalis beinhaltet, 38
39
In bezug auf obige "physiologia propaedeutica" wird folgende Erläuterung gegeben: "Jene Propädeutik (gemeint ist die obige "physiologia propaedeutica") enthält eine Tendenz zur Physik durch Aufzählung der bewegenden Kräfte, systematisch, noch ohne das System der Physik. Die Physiologia generalis ist von der Physik noch unterschieden, hat aber einen Prospekt (Tendenz) dazu" (AA XXI 62025). Zum Begriff "Prospekt" vgl. AA XXI 28611. Zum Terminus "physiologia propaedeutica" vgl. auch AA XXI 36622, AA XXII 19114, hier steht sogar der Titel "Physiologische Propädeutische Anfangsgründe". Vgl. AA XXI 35822.
328
Bezug land Trennung
betrachtet. Daß diese Betrachtung zu eng angelegt ist, d.h. daß der Übergang noch andere Funktionen als bloß die propädeutische Funktion aufweist, wird im folgenden dargelegt: "Dieser Übergang ist nicht bloß Propädeutik, denn das ist ein schwankender Begriff und betrifft nur das Subjektive der Erkenntnis. Es ist ein nicht bloß regulatives, sondern auch konstitutives formales a priori bestehendes Prinzip der Naturwissenschaft zu einem System" (AA XXII 24025). Trotz dieser einschränkenden Überlegung findet man weitere Belege im Op.p., die möglicherweise früher abgefaßt worden sind, die den Übergang mit seiner propädeutischen Funktion identifizieren und in denen daher oftmals statt vom "Übergang" von der "Propädeutik" gesprochen wird, obwohl, und das wäre positiv zu vermerken, das die Relevanz der propädeutischen Funktion des Übergangs40 unterstreichen würde. Deswegen wird in den folgenden Ausführungen die "Propädeutik" mit Eigenschaften charakterisiert, die eigentlich dem "Übergang" zukaimen: Es wird betont, daß die Tendenz von der Metaphysik der Natur zur Physik als "propädeutische Naturlehre nicht zur Physik gehöre" (AA XKII 15610), daß die Aufstellung des Systems der bewegenden Kräfte hinsichtlich ihrer Quantität 41 , ihrer Qualität 42 4 ("Rigidität" ) und ihrer Relation ("Zusammenhang" ·*) zu den propädeutischen Prinzipien der Naturforschung gehört und daß der Übergang "die architektonische Einteilung der bewegenden Kräfte der Materie a priori als Propädeutik eines Systems der Physik" ist (AA XXII 26314).
40
41 42 43
Zur propädeutischen Funktion des "Übergang zur Physik" vgl. folgendes: "Dieser Übergang ist also ein besonderer Teil der allgemeinen Naturwissenschaft (Philosphia naturalis) als P r o p ä d e u t i k der Physik, um diese mit der Metaphysik zu verknüpfen, ohne welches Schema die letztere, welche ein System werden soll, in dieser Qualität nie erwartet werden kann" (AA XXI 16905). Vgl. AA XXII 21711. Vgl. AA XXII 21829. Vgl. AA XXII 25618.
Orientierung und Propädeutik
329
In bezug auf die Untersuchung der propädeutischen Funktion des Übergangs bleibt noch die Frage offen, an welcher Stelle der Abhandlung des Ubergangs von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik jene Funktion begründet wird und ob damit ein Prinzip der Physiologia generalis als propädeutische Naturwissenschaft angegeben ist. In einer Vorarbeit zur Übergangsproblematik wird gleichsam als notwendiges Kriterium, das beschreibt, wo die Stelle der Grundlegung der Physiologia generalis als propädeutische Naturwissenschaft zu suchen ist, die Aufgabe der Begründung des Daseins "eines alle Körper durchdringenden, alle bewegenden Kräfte der Materie in Einer allgemeinen inneren Bewegung vereinigenden Stoffes (gemeiniglich Wärmestoff genannt)" gestellt, ohne die der "überschritt zur Physik" nicht vollzogen werden kann (AA XXII 58405). Über diesen alldurchdringenden Stoff ist dort weiter ausgeführt: "Das Prinzip der Möglichkeit einer solchen Materie und der Notwendigkeit der Annehmung derselben gehört aber zum Elementarsystem der bewegenden Kräfte als einer Propädeutik des Überschritts zur Physik" (AA XXII 58402). Ein Teil der Abhandlung zur Übergangsproblematik ist mit dem Ti tel " P r o p ä d e u t i k " überschrieben, und der darauf folgende Text beschreibt, daE> der Übergang von einem "subjektiven Prinzip der Verbindung des Mannigfaltigen bewegender Kräfte" ausgeht und auf das "Objekt" der "Gesamteinheit" der bewegenden Kräfte der Materie abzielt (AA XXI 58209). Dieses 'Objekt" der "Gesamteinheit11 wird im weiteren mit folgenden Attributen belegt: 'Die Attribute dieses Stoffes ... sind nun nach dem Satz der Identität gegeben, näml ich da& er allverbreitet, a l l d u r c n d r i n g e n d und a l l b e w e g e n d i s t ... und als ein solcher notwendig, d.i. auch a l l d a u e r n d ist" (AA XXI 58422). Der Stoff mit diesen genannten Attributen wird als "Wärmestoff" definiert: "Definition verstehe ich eine
Unter dem Begriffe des Wärmestoffes allverbreitete, alldurchdringende,
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Bezug und Trennung
innerlien in allen seinen Teilen gleichförmig bewegende und in dieser inneren Bewegung (agitation) beharrlich begriffene Materie, welche ein den Weltraum als Elementarstoff einnehmendes ... Ganze ausmacht" (AA XXII 60926). Die Aussage der Existenz eines solchen Stoffes ist "das oberste Prinzip des Übergangs von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik" (AA XXI 60002). Neben dem Inhalt der Definition des Wärmestoffes ist auch der Beweis der Aussage der Existenz des Wärmestoffes im Text des "Übergangs zur Physik" angegeben (AA XXI 60010, 60107). Aufgrund des obersten Prinzips des Ubergangs existiert nun "ein solcher Stoff als die Basis der bewegenden Kräfte der Materie" (AA XXI 59712). Daher ist die Aussage der Existenz des Wärmestoffes ein objektives Prinzip, das, weil auf dieser Basis die bewegenden Kräfte beruhen, zur Grundlage der Einteilung der bewegenden Kräfte der Materie genutzt werden kann. Diese Einteilung wird dann auch im Fortgang der Abhandlung zur übergangsproblematik ausgeführt: "Des Elemenarsystems der bewegenden Kräfte der Materie Einteilung nach dem objektiven Prinzip des Überganges von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik" (AA XXI 60601). Die Physiologia generalis ist als allgemeine Kräftelehre insbesondere auch die allgemeine Lehre der bewegenden Kräfte der Materie. Zu ihrer Grundlage gehört daher das El ementar system der bewegenden Kräfte der Materie. Die Einteilung des Elementarsystems wird nach der Ordnung der Kategorien vollzogen^. Die Uberschrift " P r o p ä d e u t i k " markiert den Tei 1 der Abhandlung zur Übergangsproblematik, in dem die Argumentation zum obersten Prinzip des Übergangs als ein objektives Prinzip ansetzte. Dieses objektive Prinzip ist die Grundlage der Physiologia generalis als propädeutische Naturwissenschaft. Damit ist die Setzung des Titels "Propädeutik" als Überschrift dieses Teils der Abhandlung sinnvoll, und die Frage, ob diese Abhandlung ein grundlegendes Prinzip für die Physiologia generalis aufweist, positiv beantwortet. 44
Vgl. AA XXI 60608.
Orientierung und Propädeutik
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Schließlich ist zum Begriff der Propädeutik im Zusammenhang mit der Ubergangsthematik noch anzumerken, daß die Bestimmungen der Formen der Verhältnisse der bewegenden Kräfte zu den für die empirische Naturwissenschaft propädeutischen Begriffe gerechnet werden: "Man kann auch zu den propädeutischen (vorübenden) den Übergang von der Metaphysik der Natur vermittelnden Begriffen folgende f o r m a l e Bestinmungen der Bewegung aus dem Verhältnisse der bewegenden Kräfte überhaupt zu einander a priori aufzählen" ( M XXI 53120). Zu diesen Begriffen werden die Richtung, der Ort der Veränderung und das äußere Verhältnis einer sich ausbreitenden Kraft gezählt^. Ein typischer Begriff, der dem Verfahren der logischen Orientierung unterzogen wird, ist die Idee^ß. Beispielsweise ist der Begriff, der ungleichartige Wissenschaften, wie die empirische Naturwissenschaft und die M.A.d.NW., in einem einheitlichen Lehrsystem unter dem Titel Naturwissenschaft (Scientia naturalis) befaßt, zunächst nur eine Idee. U n aus einer mannigfaltigen Menge von Erkenntnissen eine Wissenschaft zu machen, müssen diese Erkenntnisse in ein System gebracht werden: "Ich verstehe aber unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee" (B 860). Die Idee, die die Einheit des Systems einer empirischen Wissenschaft stiftet, ist kein empirischer Begriff. Sie ist als ein Begriff von Begriffen, die selber kein ursprüngliches Merkmal reiner Bilder der Sinnlichkeit tragen1*?, bestimmt, "der die Möglichkeit der Erfahrung übersteigt" (B 377). Obwohl die Idee einer empirischen Wissenschaft außerhalb der Grenzen der Erfahrung liegt, ist sie doch als Prinzip der Einheit eines Systems empirischer
45 46 47
Vgl. AA XXI 53124. "Ein Begriff aus Notionen, der die Möglichkeit der Erfahrung übersteigt, ist die Idee, oder der Vernunftbegriff" (B 377). "Und der reine Begriff, so fern er lediglich im Verstände seinen Ursprung hat (nicht im reinen Bilde der Sinnlichkeit), heißt Notio" (B 377).
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Bezug und Trennung
Erkenntnisse auf diese und die verschiedenen Arten ihrer Synthesis bezogen. Der regulative Gebrauch der Ideen wurde bereits beschrieben^ s und e s w i r d hier noch einmal darauf hingewiesen, daß dieser regulative Gebrauch der Idee, systematische Einheit für die empirische Naturwissenschaft zu stiften, intendiert ist: 'Dagegen ist die Methode4**, nach einem solchen Prinzip Ordnung in der Natur aufzusuchen, und die Maxime, eine solche, obzwar unbestimmt, wo, oder wie weit, in einer Natur überhaupt als gegründet anzusehen, allerdings ein rechtmäßiges und treffliches regulatives Prinzip der Vernunft; welches aber, als ein solches, viel weiter geht, als daß Erfahrung oder Beobachtung ihr gleichkommen könnte, doch ohne etwas zu bestinmen, sondern ihr nur zur syst ana ti sehen Einheit den Weg vor zuzeichnen" (B 696). Um die Vorzeichnung des Weges zur systematischen Einheit der Naturwissenschaft geht es hier. Die Vorzeichnung eines Weges ist ein Plan. U n eine vorgelegte Idee daraufhin zu überprüfen, ob sie geeignet ist, die systematische Einheit eines gegebenen Aggregats von Erkenntnissen zu stiften, reicht der Test der logischen Widerspruchsfreiheit nicht aus. Die Überprüfung bedarf nämlich darüber hinaus des Verfahrens der logischen Orientierung, um das Verhältnis der vorgelegten Idee zu den Gegenständen der Erfahrung, die durch das gegebene Aggregat von Erkenntnissen bezeichnet sind, "unter reine Verstandesbegriffe zu bringen" (AA VIII S. 136). Hierdurch wird der Test vollzogen, ob die vorgelegte Idee als
48 49
Vgl. den entsprechenden Abschnitt 'Die instrumentale Verwendung der Mathematik für den regulativen Gebrauch der reinen Vernunft" der vorliegenden Arbeit. Das Wort "Methode" wurde von mir hervorgehoben, um auf den Zusanmenhang zwischen dem regulativen Gebrauch einer Idee und der architektonischen Funktion der transzendentalen Methodenlehre hinzuweisen, die die Verwendung geeigneter Ideen zur Systematisierung der Aggregate von Erkenntnissen vorträgt, um zu Wissenschaften zu gelangen, die die Ansprüche der "Lehre des Szienti fischen in unserer Erkenntnis überhaupt" erfüllen (B 860).
Orientierung und Propädeutik
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"etwas übersinnliches wenigstens tauglich zum Erfahrungsgebrauche unserer Vernunft"50 gedacht werden kann. Das Verfahren der logischen Orientierung bringt keine Versinnlichung der untersuchten Idee zustande^. Die Versinnlichung ist aber aufgrund der Architektonik intendiert: "Die Idee bedarf zur Ausführung ein S c h e m a , d.i. eine a priori aus dem Prinzip des Zwecks bestimmte wesentliche Mannigfaltigkeit und Ordnung der Teile" (B 861). Für die Wissenschaft mit dem Titel "physiologia generalis", die insbesondere eine allgemeine Lehre der bewegenden Kräfte der Materie ist, besteht die wesentliche Mannigfaltigkeit, d.h. das Ganze, auf das die Wissenschaft a b z i e l > in dem Stoff, der "die Basis der bewegenden Kräfte" darstellt, und ist das objektive Prinzip, das den Grund der Einteilung der bewegenden Kräfte der Materie ausmacht. Für den Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik enthält jenes objektive Prinzip den Aufweis, daß der genannte Stoff mehr als ein "nur das Subjektive der Erkenntnis" betreffendes P r i n z i p 5 ^ ist, d.h. daß er eine weitergehende Bestimmung der vorgelegten Idee für eine systematische Einheit der Physiologia generalis gibt, als durch ein Verfahren der logischen Orientierung geleistet werden kann, weil die Orientierung nur eine Bestimnung nach einem subjektiven Prinzip ist54, über dieses höchstens regulative Prinzip geht der Übergang hinaus und beschreibt ein "konstitutives formales a priori bestehendes Prinzip der Naturwissenschaft
50 AA VIII S.136. 51 "Wodurch wir ihn (den Vernunftbegriff, G.B.) noch gar nicht versinnlichen" (AAVIII S.136). 52 "Der szientifische Vernunftbegriff enthält also den Zweck und die Form des Ganzen, das mit demselben kongruiert" (B 860). 53 Vgl. AA XXII 24025. 54 "Sich im Denken überhaupt o r i e n t i r e n , heißt also: sich bei der Unzulänglichkeit der objektiven Prinzipien der Vernunft im Fürwahrhai ten nach einem subjektiven Prinzip derselben bestimmen" (AAVIII S.136 Aim.).
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Bezug und Trennung
zu einem System" (AA XXII 24027). Für das Schema einer Wissenschaft schreibt die Architektonik der reinen Vernunft als Kriterium vor, daß dieses "Scharia den Umriß (monogramma) und die Einteillang des Ganzen in Glieder, der Idee gemäß, d.i. a priori enthalten, und dieses von allen anderen sicher und nach Prinzipien unterscheiden muß" (B 861 - 862). Als Regel der Vorzeichnung eines Bildes des Umrisses einer Wissenschaft ( M o n o g r a m m ) 55 stellt das Schema die Versinniichung der Idee der systematischen Einheit einer Wissenschaft dar. Durch die Vorzeichnung des Umrisses einer Wissenschaft ist das Schema einer Wissenschaft ein Kriterium der Architektonik der reinen Vernunft, um die Grenzen dieser Wissenschaft a priori zu bestimmen. Diese architektonische Absicht wird in der Vorrede zur Abhandlung des Überganges zur Physik im Op.p. genannt: "Es ist ein Haupterfordernis der philosophischen Architektonik, die Grenzen der Wissenschaften
55
Zum Verständnis des Begriffs des Schemas einer Wissenschaft wird der Begriff des Monograimies erläutert: Der Begriff des Monogrammes als mittlere Approximation verschiedener formaler Anschauungen, die einem in einer empirischen Anschauung gegebenen Gegenstand korrespondieren, ist in dan Abschnitt "Von dem Ideal überhaupt" dargelegt: "Ganz anders verhält es sich mit denen Geschöpfen der Einbildungskraft, darüber sich niemand erklären und einen verständlichen Begriff geben kann, gleichsam M o n o g r a m m e n , die nur einzelne, obzwar nach keiner angeblichen Kegel bestinmte Züge sind, welche mehr eine im Mittel verschiedener Erfahrungen gleichsam schwebende Zeichnung, als ein bestimmtes Bild ausmachen" (B 598). Der Begriff "angebliche Regel" kann als anzugebende Regel verstanden werden, d.h. eine Regel, die vorhanden, aber nicht explizit formulierbar ist. Das Monogramm wäre dann eine komparativ al 1 geme ine Approximation an das Bild dieser Regel. Ein Verfahren einer solchen komparat i ν allgemeinen Approximation ist in der Kr.d.U. für die Erzeugung einer mittleren Größe aus einer Schar von Bildern angegeben, indem man "ein Bild gleichsam auf das andere fallen zu lassen und durch die Kongruenz der mehrern von derselben Art ein Mittleres herauszubekommen" hat ( A A V S . 2 3 4 ) .
Orientierung und Propädeutik
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nicht ineinander laufen zu lassen, sondern jeder ihr Territorium pünktlich (wenn es auch peinlich gescholten werden sollte) zu bestimmen, ohne welche Sorgfalt man keinen auf zweckmäßige Vollkommenheit derselben gegründeten Anspruch machen kann." (AA XXI 17920). Die Forderung der "pünktlichen" Bestinmung bedeutet, im Wortlaut auf die durch den Schematismus der Architektonik gegebenen Monogramme übertragen, daß die Monogramme sich höchstens in Punkten ihrer ünrißlinien berühren und nicht in inneren Punkten der durch sie umrissenen Gebiete überschneiden dürfen. Der Zweck des Übergangs besteht darin, "zu einer wissenschaftlichen (ein System ausmachenden) Physik zu gelangen" (AA XXI 17925). Die Idee, die mit dem Zweck des Ubergangs kongruiert 5 ^, bestinmt nun "ein Ganzes (der Disziplin) und ein besonderes System" (AA XXI 18004). Daraus wird dann als Folgerung gezogen: "So wird es einen besonderen Abschnitt der Naturlehre geben, der nichts weiter beabsichtigt als die vollständige Aufsuchung aller jener Elemente und die systematische Anordnung derselben zu einem Ganzen, ohne welche selbst die Physik ein bloß fragmentarisches Aggregat sein würde, mithin erfordert die Naturlehre überhaupt außer der Metaphysik und Physik noch eine Behandlung unter dem Titel des Übergangs von der einen zur anderen" (AA XXI 18005). Der Übergang als besondere Wissenschaft ist damit eine Vorübung für die Aufstellung eines Systaiis der Physik, die durch die Philosophie allein nicht geleistet werden kann, und macht genauso, wie die M.A.d.NW., die ebenso eine besondere metaphysische Wissenschaft is einen Bestandteil des philosophischen Anteils an der Propädeutik der Naturwissenschaft aus5**. Dj e propädeutische Leistving der Philosophie für die Naturwissenschaft besteht darin, die für die Physik notwendigen Erkenntnisse a priori darzulegen, sie vollständig
56 57 58
Vgl. Β 860. Vgl. AA IV S.477f. Vgl. AA XXI 28607.
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Bezug und Trennung
in einem einheitlichen System darzustellen und sie im Sinne einer durchgängigen systematischen Bestimmung an die Physik weiterzugeben, um damit dem Plan der reinen Vernunft im Felde der Naturforschung als Vor Zeichnung des Weges zur systanatischen Einheit der Naturwissenschaft Genüge zu tun59. Die propädeutische Funktion der Philosophie für die Naturwissenschaft wird auch dadurch zum Ausdruck gebracht, daß sie für die Anwendung durch den Physiker philosophische Vorbegriffe an die Hand gibt, welches am Beispiel der Vorbegriffe der M.A.d.NW. im folgenden angedeutet ist: "Die Physik also, obgleich das Ziel, worauf jene metaphysischen Vorbegriffe in der Anwendung auf Gegenstände der Erfahrung abzwecken niissen, wird hier anderen Händen zur Bearbeitung überlassen" CAA XXI 52424). Daß die Propädeutik zum System der Naturwissenschaft mit der Anwendung der Mathematik und den Vorbegriffen der M.A.d.NW. nicht erschöpft ist und es eine weitere propädeutische Aufgabe der Philosophie ist, den Plan zum System der Naturwissenschaft zu zeichnen, kann im weiteren Text der "Vorrede" zum Übergang gelesen werden: "Daß mit metaphysischen Vorbegriffen und Mathematik, ja auch einem reichen Vorrat von Beobachtung und Versuchen man sich schon 59
"Es liegt aber in meinem Plane und sozusagen in meinem natürlichen Beruf, mich, was Philosophie betrifft, innerhalb den Grenzen des a priori Erkennbaren zu halten, das Feld derselben womöglich auszumessen und in einem Kreise (orbis), der einfach und einig ist, d.i. einem nicht wirklich ausgedachten, sondern durch reine Vernunft vorgezeichneten System darzustellen" (AA XXI 52417). Vollständigkeit eines Systems "kann durch das Aufsammeln empirischer Elanente der Erkenntnis" nicht erreicht werden. Das System der M.A.d.NW., das zum reinen Teil eigentlicher Naturwissenschaft gehört, kann nicht ohne weiteres der Physik ein vollständiges System ihrer aipirischen Erkenntnisse vorzeichnen, da die jeweiligen Erkenntnisarten ungleichartig sind. Es bedarf eines weiteren Prinzips a priori, das die Weitergabe jener Erkenntnisse a priori an die Physik in Vollständigkeit regelt, weil sonst jene bei der Anwendving auf empirisch gegebene Kräfte als "nur fragmentarisch zusanmengetragen" auftreten (Vgl. AA XXI 52423).
Probi an mathematischer Anfangsgründe
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zur Zimmerung einer Physik als einem System anschicken könne, ist nicht weniger irrig, wenn keine Metaphysik den Plan zum Ganzen**0 entworfen hat" (AA XXI 52706). Zum Übergang als philosophischem Beitrag zur Propädeutik der Naturwissenschaft gehört, wie bereits beschrieben wurde, die Aufzählung der Formen der Verhältnisse der bewegenden Kräfte der Materie, soweit sie a priori bestimmbar sind. In den folgenden Abschnitten soll unter anderen untersucht werden, ob die Aufzählung dieser Formen ein Merkmal zur Bestimnung des Umrisses des Übergangs als besonderes System hergibt, d.h. eine Bestimnung zum Schema der Idee der systematischen Einheit des Überganges darlegt. 3.1.3
Zum Probien mathematischer Anfangsgründe
In Auseinandersetzung mit dem Titel "Principia mathematica philosophiae naturalis" von Newtons Werk wird im "Übergang zur Physik" zur Präzision des formalen Begriffes der Naturwissenschaft^l in engem Zusammenhang mit der formalen Einteilung der Methode des Überganges zur Physik62 das szientifische Prinzip der Naturwissenschaft, das mit dem Titel Scientia naturalis bezeichnet wird, dargelegt. Die Scientia naturalis bezeichnet ein Lehrsystem der bewegenden
60
Diese Ausführung unterstreicht ein weiteres Mal die architektonische Absicht, die der propädeutischen Funktion der Philosophie zum Zweck eines Systems der Naturwissenschaft zukcnmt, dieses wird in einer analogen Formulierung für die architektonische Absicht der Kr.d.r.V. in Hinsicht auf die Transzendentalphilosophie auch genannt: "Die Transzendental-Philosophie ist die Idee einer Wissenschaft, wozu die Kritik der reinen Vernunft den ganzen Plan architektonisch, d.i. aus Prinzipien, entwerfen soll, mit völliger Gewährleistung der Vollständigkeit und Sicherheit aller Stücke, die dieses Gebäude ausmachen" (B 27). 61 Vgl. AA XXI 20709. 62 Vgl. AA XXI 55409.
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Bezug und Trennung
Kräfte®·*, das sowohl mat nema ti sene als auch phi losophische Prinzipien enthält. Während also das eine Fach der Scientia naturalis als Lehrsystem mathematische Prinzipien imfaßt, gilt aber für die Naturwissenschaft andererseits: "Es gibt ebensowenig mathematische Anfangsgründe der Naturwissenschaft als es philosophische der Mathematik gibt" (AA XXI 20901) 64 . Die Überlegung, daß es genausowenig mathematische Anfangsgründe der Naturwissenschaft gibt, wie es philosophische Anfangsgründe der Mathematik gibt, obgleich es ohne Anwendung der Mathematik in keiner besonderen Naturlehre eigentliche Naturwissenschaft gäbe, steht vor der Schwierigkeit, die Kantische Bedeutung des Begriffes "Anfangsgründe" aufzudecken. In den gedruckten Schriften Kants wird der Begriff "Anfangsgründe" ab dem Jahre 1786 nur in der Kombination "metaphysische Anfangsgründe" gebraucht^. Der Begriff 63
64 65
"Das szientifische Prinzip der Naturwissenschaft (Scientiae naturalis) als eines Lehrsystems der bewegenden Kräfte der Materie überhaupt ist also rational, mithin entweder mathematisch oder philosophisch, und kann in zwei Fächer abgeteilt werden (Scientiae naturalis principia mathematica und Scientiae naturalis principia philosphica)" (AA XXI 20714). Eine Erörterung zum Begriff des "szienti fischen Prinzips", das ein wissenschaftliches System zum Zweck der Lehre vorstellt, wurde bereits im Abschnitt "Kanon und Organon" dieser Arbeit gegeben. Vgl. auch AA XXI 55419. Die Belege zum Begriff "Anfangsgründe" treten in den gedruckten Schriften Kants nur an folgenden Stellen auf: AA I 04824 AA II 17029 AA III 09533 A A IV 46501 47703 47714 48002 49602 53602 55402 AA VI 20307 20503 20505 20521 20524 20915 24211 35604 35608 35712 37307 37507 37516 37702 46811 46821 AA VIII 15319 18410 43313 43410 In der Schrift "Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen" referiert Kant auf Kästners Lehrbuch der Mathematik: "Anfangsgründe der Arithmetik Geometrie ebenen und sphärischen Trigonometrie
Problem mathematischer Anfangsgründe
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"metaphysische Anfangsgründe" wird in der M.A.d.NW.-Schrift von 1786 anhand des Begriffes der "metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft" eingeführt. Synonym wird dieser Begriff auch in dem Titel "metaphysische Anfangsgründe der Körperlehre" verwandt (AA IV 47703). Weder der Begriff "metaphysische Anfangsgründe" im allgemeinen noch der Begriff "metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft" im besonderen werden einer expliziten Wortbestimnung unterzogen, wie es für eine Reihe anderer Termini in den M.A.d.NW. ausgeführt wird (etwa für die Termini "Bewegung", "Huhe", "Berührung"). Der Begiff der "metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft" ist durch zwei Informationen gekennzeichnet : (a) Solche "metaphysischen den Grundsätzen ("rationale Gebrauch der Mathematik betreffende. Hierzu wären
66
Anfangsgründe" sind strikt von Prämissen") getrennt, die den in den Naturwissenschaften die Grundsätze (Axiome) der
und Perspektiv", Göttingen, 1758, welches sich auch in Kants Bibliothek befand (Warda S.39). Mit der Aussage der Erstschrift, "wie uns die erste Anfangsgründe der Mechanik lehren" (AA I 04824), bezieht sich Kant auf elementare Lehrsätze der mathematischen Mechanik, wie sie auch als "Anfangs=Gründe der Mechanik oder Bewegungs=Kunst" in Christian Wolffs weitverbreitetan deutschsprachigen Mathematik-Lehrwerk bezeichnet werden (vgl. Christian Wolff: "Der Anfangsgründe aller Mathematischen Wissenschaften Anderer Teil, welcher die Artillerie, Fortifikation, Mechanik, Hydrostatik, ... in sich enthält", Halle, 1757, S.745ff., dieses Buch befand sich auch in Kants Besitz, vgl. Warda S.40). In der zeitlichen Abfolge der gedruckten Werke Kants tritt dann erst 1786 in den M.A.d.NW. der Begriff "Anfangsgründe" wieder auf. Von diesen Zeitpunkt ab wird er in den gedruckten Werken in der Kombination "metaphysische Anfangsgründe" gebraucht. Einzige Ausnahme ist die Belegstelle AA. VI 35608, dort steht "jene Anfangsgründe", und das verweist auf die vier Zeilen höher befindliche Überschrift, in der von "den metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre" die Rede ist (AA VI 35604). Vgl. A A IV 47716ff..
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Bezug und Trennung
mathematischen Disziplinen, die in der Naturwissenschaft angewandt werden, zu zählen. (b) Die "metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft" sind solche Anfangsgründe, die in den M.A.d.NW. "unter vier Hauptstücke zu bringen" sind (Phoroncmie, Dynamik, Mechanik, Phänomenologie). Die Topik der Einteilung der Hauptstücke ist durch die Kategorientafel gegeben**?. Weitere Informationen zum Begriff "metaphysische Anfangsgründe" erhält man erst in der M.d.S., 1797. Obwohl dieser Begriff dort anhand der "metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre" bzw. anhand der "der Tugend lehre" erörtert wird, können allgemeine Rückschlüsse auf den philosophischen Gehalt des Terminus "metaphyische Anfangsgründe" gezogen werden. Die Frage nach den metaphysischen Anfangsgründen einer Wissenschaft steht in direktem Bezug zur Frage nach der "Sicherung der Vollständigkeit der E i n t e i l u n g " dieser Wissenschaft. Die letztgenannte Frage ist für den Bestand dieser Wissenschaft von Relevanz, "weil jene Wissenschaft sonst kein V e r n u n f t s y s t e m , sondern bloß, aufgerafftes Aggregat sein würde" (AA VI S. 357). Der so beschriebene Zusanmenhang der metaphysischen Anfangsgründe einer Wissenschaft mit der Vollständigkeit dieser Wissenschaft deckt sich mit der besonderen Beschreibung dieses Zusammenhanges für die Naturwissenschaft in der Schrift von 1786. Die Garantie der Vollständigkeit der Prinzipien einer Wissenschaft ist eine Leistung der Metaphysik. Das heißt, in jeder Wissenschaft, die ein Vernunft system ist, gibt es philosophische Prinzipien, die die Vollständigkeit der Einteilung garantieren. Die Vollständigkeit der Einteilung ist eine im Hinblick auf die Form der Wissenschaft: "Die Topik der Prinzipien mu& der Form des Systems halber vollständig sein, d.i. es muß> der P l a t z zu einem Begriff (locus communis) angezeigt werden, der nach der synthetischen Form der Einteilung für diesen Begriff offen ist: man mag
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Vgl. AA IV 47703ff.
Probien mathematischer Anfangsgründe
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nachher auch dartun, daß einer oder der andere Begriff, der in diesen Platz gesetzt würde, an sich widersprechend sei und aus diesem Platze wegfalle" (AA VI S.357). Zum Begriff "metaphysische Anfangsgründe" kann nun resümiert werden: Metaphysische Anfangsgründe einer bestinmten Wissenschaft sind philosophische Sätze, die zur Vollständigkeit der Einteilving der bestinmten Wissenschaft, die im Hinblick auf die Form eines Vernunftsystems abgefaßt ist, in Korrespondenz stehen. Durch dieses Charakteristikum der Korrespondenz zur Vollständigkeit der Einteilung einer Wissenschaft sind die metaphysischen Anfangsgründe in der Menge der Prinzipien einer Wissenschaft ausgezeichnet. Wird in dem obigen Zitat des "Überganges zur Physik" das Wort "Anfangsgründe" in der bisher umrissenen Bedeutung des Begriffes "metaphysische Anfangsgründe" verstanden, so gibt es philosophische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, wie sie in den M.A.d.NW. dargelegt sind. Andererseits sind durch die Kr.d.r.V. und die Prolegomena philosophische Prinzipien für die Mathematik vorgetragen worden, wie z.B. die Sätze der transzendentalen Ästhetik, die zur Beantwortung der Frage "Wie ist reine Mathematik möglich?" beitragen. Aber diese philosophischen Prinzipien erfüllen nicht das Charakteristikum, daß sie eine vollständige Einteilung mathematischer Grundsätze (mathematischer Axiome) geben und daß die Menge aller dieser mathematischen Axiome ein der Form nach vollständiges System ausmachen würde. Die Fähigkeit zur Axiomatik entspricht der Fähigkeit, die Begriffe, die in den Axiomen auftreten, unmittelbar in einer Anschauung a priori konstruieren zu können, welches durch eine Vernunfterkenntnis aus Begriffen nicht möglich ist: "Die Mathematik dagegen ist der Axiomen fähig, weil sie vermittelst der Konstruktion der Begriffe in der Anschauung des Gegenstandes die Prädikate desselben a priori und unmittelbar verknüpfen kann .... Dagegen kann ein synthetischer Grundsatz bloß aus Begriffen niemals unmittelbar gewiß sein" (B 760 - Β 761). Die Mathematik stellt der Naturforschung zwar Instrumente bereit, kann aber keine systematischen Einteilungsgründe der
342
Bezug und Trennung
Naturforschung aufstellen, weil solcne Gründe Vernunfterkenntnisse aus Begriffen sind. Man kann datier das obige Zitat des "Überganges zur Physik" aufgrund der ausgeführten terminologischen Überlegung mit folgenden Akzenten bestätigen: Es gibt ebensowenig mathematische Anfangsgründe der Naturwissenschaft als es philosophische Anfangsgründe der Mathematik gibt. Im Unterschied zur Mathematik kann die Philosophie für die Physik, die eine projektierte Erfahrungswissenschaft ist, Anfangsgründe bereitstellen, die ein "System der Nachforschung nach Grundsätzen der Einheit" ausmachen. "Denn unsere Vernunft (subjektiv) ist selbst ein System, aber in ihrem reinen Gebrauch, vermittelst bloßer Begriffe, nur ein System der Nachforschung nach Grundsätzen der Einheit, zu welcher E r f a h r u n g allein den Stoff hergeben kann" (B 765 - Β 766). Bei der Berücksichtigung sämtlicher Belegstellen zum Wort "Anfangsgründe" kann die folgende Notiz des Handschriftlichen Nachlasses, die als Randtext auf Seite III des Bogens der Reflexion Nr.42 zur Physik auftritt, nicht unerwähnt bleiben: "(Metaphysik der Größenlehre oder Metaphysische Anfangsgründe der Mathematik. Von der Größe durch den Grad, der Einheit und der Menge. Von der Menge, die größer ist als alle Zahl. Von der kontinuierlichen Größe, der Unendlichen (der imnensurablen), Unendlich kleinen.)" 68 (AA XIV S. 195f.). Inhaltlich spricht Kant in dieser Randbemerkung Ihemen der Kr.d.r.V. an, die für die Grundlegung der Mathematik von Relevanz sind und in Anlehnung an betreffende Stellen der Kr.d.r.V. bereits in dieser Arbeit behandelt wurden: Das Prinzip der Antizipationen der Wahrnehmung und seine Bedeutung für die Mathematik ("Grad", "kontinuierliche Größe", "Unendlich kleinen"), die Lehre der sogenannten mathematischen Antinomien und ihre Bedeutung für den
68
In diesem Zitat wurde der Wortlaut der modernen Urnlautbildung angepaßt: "Größe" statt "Große" etc. (vgl. AA XIV 19515).
Problem mathematischer Anfangsgründe
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mathematischen Begriff des Unendlichen ("Von der Menge, die größer ist als alle Zahl", "Von der ... Unendlichen (der imnensurablen)" (Größe)). Bemerkenswert ist auch, daß hier für den Grad als Größe die Titel der reinen Verstandesbegriffe angesprochen sind ("Von der Größe durch den Grad, der Einheit und der Menge"), wie sie in den Prolegomena genannt sind, wenn man das Wort "Menge" als Repräsentation des Titels "das Ganze" ansieht: "Einheit (das Maß), Vielheit (die Größe), Allheit (das Ganze)" (AA IV S.303)69. Da vcm Inhalt dieser Randbemerkung Hinweise für den Bezug zu den mathematischen Grundsätzen des reinen Verstandes ableitbar sind, kann der Kant i sehe Gedanke auf eine weitere Ausführung über die transzendental-philosophischen Prinzipien der Grundlegung der Mathematik ausgerichtet sein, die bereits in der Kr.d.r.V. entwickelt sind. Solche Ausführungen könnten zwar philosophische Prinzipien der Grundlegung der Mathematik bestimmen, aber keine "metaphysischen Anfangsgründe" der Mathematik im Sinne der terminologischen Festlegung sein, wie sie durch die M.A.d.NW. und die M.d.S. erfolgt ist. Zwar ist mit der "Analytik der Grundsätze" des reinen Verstandes die Anwendung von Kategorien auf Größen im allgemeinen bestinmt, aber dadurch ist keine Einteilung der Mathematik in Algebra, Geometrie, Topologie, Infinitesimalrechnung etc. gegeben. Die noch nicht vorhandene Endgültigkeit des Titels der Randbemerkung "Metaphysik der Größenlehre oder Metaphysische Anfangsgründe der Mathematik" ist in der genannten Alternative formuliert. Der Gang der terminologischen Entwicklung des Begriffes "metaphysische Anfangsgründe" von den M.A.d.NW. zu der M.d.S. wurde oben skizziert, möglicherweise ist die Randbemerkung der Reflexionen Nr.42 ein Beitrag auf dem Wege der terminologischen Präzisierung dieses Begriffes"^. 69 70
Adickes übersieht in der ausführlichen Konmentierung dieser Stelle den Bezug zu den Prolegomena (vgl. Adickes in: AA XIV S.195f. (Her ausgeben ext)) . Adickes datiert die Reflexion Nr.42 auf den Zeitraum 1773 1775. Mir erscheint eine spätere Datierung der
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In Gestalt der metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft stellt die Philosophie der Scientia naturalis Lehrsätze a priori zur Verfügung: "Naturwissenschaft (philosophie naturalis) ist die Wissenschaft von den bewegenden Kräften der Materie im Weltraum. - Sofern ein solches System bloß auf Begriffen und Lehrsätzen a priori beruht, heißt es Metaphysik der Natur, sofern es aber zugleich auf Erfahrungsprinzipien gegründet werden muß, Physik" (AA XXI 17609). Die strikte Unterseheidung der Disziplin der reinen Vernunft ist noch einmal betont: "Alle reine Vernunftwissenschaft ist also Mathematik oder Philosophie" (AA XXI 24501). Durch die Betrachtung der Prinzipien a priori beider Wissenschaften, die bei der Mathematik auf Anschauungen a priori und bei der Philosophie auf Begriffe a priori bezogen sind, wird die Unterscheidung beider Vernunftwissenschaften vertieft?*: "Es ist auch ebenso fruchtlos und ungereimt, im Felde der Objekte der Mathematik zu philosophieren? 2 , a ls in dem der Philosophie durch Mathematik Fortschritte machen zu wollen" (AA XXI 55426). Der Philosophie und der Mathematik sind als Wissenschaften auch verschiedene Zwecke z u e r k a n n t ) und die Wissenschaftler
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zitierten Randbemerkung aufgrund des Wortgebrauches in den gedruckten Werken wahrscheinlicher: Dort ist die Kombination "metaphysische Anfangsgründe" erst ab 1786 belegt. Für die Mathematik und die Philosophia naturalis wird ausgeführt: "Beide sind durch eine unüberschreitbare Kluft voneinander geschieden und, obzwar beide Wissenschaften von Prinzipien a priori ausgehen, so ist doch der Unterschied, daß die erstere es von Anschauungen, die zweite von B e g r i f f e n a priori tut, so groß, als ob man in dem Übergange von einer zur anderen durch dieselbe V e r n u n f t (denn das bedeutet Erkenntnis a priori) in ganz verschiedene Welten gesetzt würde" (AA XXI 55420). Kant macht hier eine Anmerkung, auf die im folgenden Exkurs zum Krümnungsbegriff eingegangen wird. Vgl. den Abschnitt "Der Instrumentalcharakter der Mathematik" in dieser Arbeit.
Problem mathematischer Anfangsgründe beider
Disziplinen
sollen
auch
verschiedene
345 Talente"^
aufweisen.
Neben der Trennung von Mathematik und Philosophie werden im "Übergang zur Physik" Überlegungen zur Anwendung der Mathematik in der Physik ausgeführt. Insbesondere liegt eine Anwendiang der Mathematik vor, wenn es darum geht, Bewegungsgesetze zu beschreiben oder aus gegebenen Bewegungen bestinmte Kräfte herzuleiten (z.B. die Kraft eines Beweglichen, das sich auf einer ellipsenähnlichen Bahn befindet, in Zentrifugal- und Zentripetralkraft zu zerlegen). "Wenn noch überdem von mathematischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft (wie in Newtons Philosophiae naturalis principia m a t h e m a t i c a ) geredet wird, so werden da die bewegenden Kräfte als zur Physik gehörend vorausgesetzt, z.B. Gravitation, Licht, Schall- und Wasser- bewegend vorausgesetzt, und es wird nicht, wie die Bewegung aus den bewegenden Kräften entspringt, sondern wie gewisse Kräfte aus der Bewegung entspringen (z.B. bei den Zentralkräften im Kreise bewegter Körper) gelehrt, und es ist also nur ein Teil der Physik, der sich mathematisch behandeln läßt, wie nämlich gewisse bewegende Kräfte Bewegungen nach bestürmten Gesetzen hervorbringen und die Form derselben bestürmen" (AA XXI 28619). Die Feststellung, daß nur ein Teil der Physik mathematisierbar ist, ist eine notwendige Einsicht dafür, daß die Mathematik kein System der Physik ausmachen kann. Kant spricht sich gegen die Absicht aus, vorhandene metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft durch Mathematik zu verdecken und dann einen systematischen Aufriss der Physik ohne Philosophie zu präsentieren: "Daß man ohne vorher gegründete Metaphysische Anfangsgründe, bloß etwa mit Mathematik ausgerüstet, ein philosphisches System der Physik zustande zu bringen hoffe, ist zwar dem gemeinen Wahne gemäß, der Erfolg zeigt aber, daß auf die Art alles fragmentarisch behandelt wird und nie daraus ein genugtuendes Ganzes der
74
Vgl. AA XXI 55503.
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Beziig \and Trennung
Physik auch nur im Plane werden kann" (AA XXI 52701)75. D e r Physik mit ihrer Vielzahl empirischer Erkenntnisse "ein System der Nachforschung nach Grundsätzen der Einheit" zu verleihen^, ist ureigenste Aufgabe der Philosophie mit ihrer syst ana ti sehen Methode, die ihren Grund darin hat, daß die Philosophie im Unterschied zur Mathematik "das Besondere nur im Allgemeinen" betrachtet (B 742). Daß die Anwendung der Mathematik im Felde der Naturwissenschaft selber wiederum Philosophie voraussetzt, wurde bereits in der "Vorrede" der M.A.d.NW. erwähnt und dort auch mit dem Ziel vorgetragen, in der allgemeinen Physik in Gemeinschaft gelehrt zu werden: "Indessen ist doch dieses Wenige etwas, das selbst die Mathematik in ihrer Anwendung auf Naturwissenschaft unumgänglich braucht, die sich also, da sie hier von der Metaphysik notwendig borgen muß, auch nicht schämen darf, sich mit ihr in Gemeinschaft sehen zu lassen" (AA IV S. 479). U n diese Gemeinschaft in der Lehre einer allgemeinen Physik zu sichern, bedarf es eines szienti fischen Prinzips einer Scientia naturalis, die in sich alles das, was die Philosophie zur systematischen Einheit der Physik beiträgt ("Scientiae naturalis principia philosophica" (AA XXI 20812)), wozu die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft und die "systematische Einteilung der b e w e g e n d e n K r ä f t e der Materie" gehören, und das, was zur exakten Beschreiblang von Bewegungsgesetzen aus der Mathematik benötigt wird ("Scientiae naturalis principia mathematica" (AA XXI 20811)), enthält. Wenn zu dem szienti fischen Prinzip der Scientia naturalis vermerkt ist, daß Newton über einen solchen Begriff mit sich selbst in Widerspruch geriete 77 , so liegt das daran, daß dort 75
76 77
Die Mathematik macht noch nicht einmal einen Teil des Systems der Naturwissenschaft als Wissenschaft von den bewegenden Kräften im Weltraum aus: "So machen also die mathematischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft keinen Teil des Systems der bewegenden Kräfte der Materie aus" (AA XXI 28702). Β 765-766. Vgl. AA XXI 55417.
Probien mathematischer Anfangsgründe
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der Titel 'Scientia naturalis' als "höherer Begriff der Naturwissenschaft", d.h. als Titel einer Naturphilosophie nach mathematischen Grundsätzen vorgestellt wird, welches nach der Disziplin der reinen Vernunft nicht möglich ist. Aber der Titel eines "höheren Begriffes der Naturwissenschaft" ist auch etwas anderes als der Titel "eines Lehrsystems der bewegenden Kräfte der Materie", der im Unterschied zum ersten Titel ein szientifisches Prinzip der Naturwissenschaft als Lehrsystem der Physica generalis eröffnet. Die Scientia naturalis principia mathematica, die unter ein solches Lehrsystem fallen, charakterisieren darüber hinaus auch den Gehalt von Newtons Werk treffend: Die "Principia mathematica philosophiae naturalis" enthalten zwar auch Ausführungen, die zur Naturphilosophie gehören, aber der Hauptteil der Abhandlung ist auf die grundlegenden Verfahren der Anwendung der Mathematik zur Beschreibung von Bewegungen im Raum, der Ableitung von Kräften aus gegebenen Bewegungen und der Aufstellung von Bewegungsgesetzen bezogen, wie sie in der theoretischen Mechanik vorkamen. Dieser Charakterisierung des Gehalts von Newtons Werk als Grund lehre der Anwendung von Mathematik zur reinen räumlich-zeitlichen Beschreibung des Beweglichen entspricht auch die Bestimmung der "Vorrede" der M.A.d.NW., die Newtons Werk als "mathematische Grundlehren der Naturwissenschaft" einstuft (AA IV S. 478). Im Text der Kr.d.r.V. ist die "physica rationalis" der "physica generalis" gegenübergestellt?**. Die "physica rationalis" enthält die Metaphysik der Natur, sofern diese auf äußere Sinnengegenstände bezogen ist. Würde die "physica rationalis" darüber hinaus auch noch den Teil der allgemeinen Kräftelehre der Materie umfassen, der a priori ist, dann würde sie bezüglich ihres Gehalts die Anforderungen einer scientiae naturalis principia philosophica erfüllen. Die Gegenüberstellung von "physica generalis" und "physica rationalis" ist der Absicht eines korrekten Gebrauches der 78
Vgl. Β 875 Arm.
348
Bezug und Trennung
Mathematik im Felde der Naturforschung zugewandt. Die Korrektheit des Gebrauches, durch die die Mathematik der Naturforschung viele "erweiternde Einsichten" (B 875 Anm.) anbietet, soll darin bestehen, daß künftig die Mathematiker die Naturforschung nicht mehr mit metaphysischen Hypothesen beschweren, die durch die Kritik der reinen Vernunft aufgelöst werden: "In Ermangelung deren (der Kritik des auf die Natur anzuwendenden reinen Verstandeserkenntnisses überhaupt, G.B.) selbst Mathematiker, indem sie gewissen gemeinen, in der Tat doch metaphysischen Begriffen anhängen, die Naturlehre unvermerkt mit Hypothesen belästigt haben, welche bei einer Kritik dieser Prinzipien verschwinden, ohne dadurch doch dem Gebrauche der Mathematik in diesem Felde (der ganz unentbehrlich ist) im mindesten Abbruch zu tun" (B 875 Anm.). Der Unentbehrlichkeit der Mathematik auf diesen Felde, wenn es um das szienti fische Prinzip des Lehrbegriffes der Physica generalis geht, die in der "Vorrede" der M.A.d.NW. mit dem Titel "allgemeine Physik"79 bezeichnet wird, entspricht nämlich die Abfassung des Begriffes der Scientia naturalis, die eine Verknüpfung der beiden Wissenschaften Philosophie und Mathematik in der Naturforschung ermöglicht und die dadurch den "übelstand" des Titels von Newtons Hauptwerk, der entweder in die Tautologie oder in die Kontradiktion führt^O^ überwindet: "Diesem 79 80
Vgl. AA IV S.478. "Da aber alle Erkenntnis a priori nicht anders als entweder mathematisch oder philosophisch sein kann, so zeigt sich in dieser Betitelung (philosophiae naturalis principia mathematica, G.B.) eine innere Mishelligkeit, nämlich entweder tautologisch oder kontradiktorisch zu sein" (AA XXI 24201). Diese Mishelligkeit in Newtons Titel ist auch der Grund, die Scientia naturalis von der Philosophia naturalis zu unterscheiden, wie es im folgenden ausgeführt ist: "Es wird also heißen müssen: 1.) Scientiae naturalis (nicht philosphiae) principia mathematica; 2.) Scientiae naturalis (nicht philosophiae) principia philosophica" (AA XXI 20811). Die Abgrenzung des Titels "Scientia naturalis" van Titel "Philosophia naturalis" ist also noch einmal
Problem mathematischer Anfangsgründe
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Übelstand kann dadurch abgeholfen werden, daB. es heißen niißte: S c i e n t i a e naturalis principia (aut mathematica aut philosophica) zweierlei Systeme der Erkenntnis a priori, entweder aus Begri ffen8l oder durch Konstruktion der Begriffe. Eine dieser Wissenschaften kann mit der anderen verknüpft, aber nicht in den Platz der anderen gestellt werden" (AA XXI 24208). Die Ausarbeitung des szienti fischen Prinzips der Scientia naturalis, die die Grundsätze eines Lehrsystems der "physica generalis" enthalten würde, wäre ein Schritt zur Fortentwicklung der Naturforschung auf dem kritischen Weg82, den die systematisch verfahrende Methode
81 82
unterstrichen worden. "Philosophia naturalis" ist eine äquivalente Bezeichnung für den Titel Naturwissenschaft (vgl. etwa AA XXI 52711). Ein sprachliches Problem tritt jedoch auf, wenn man "Scientia naturalis" aus dem Lateinischen mit dem deutschen Wort "Naturwissenschaft" übersetzt. Eine solche Übersetzung ist untauglich, weil sie die obige Unterscheidung verwischt. Wenn man dennoch eine Übersetzung für den Titel "Scientia naturalis" sucht, wäre vielleicht das Wort "Naturlehre" angemessener. Sein Dekcmpositum "Lehre" verweist auf die Bedeutung eines Lehrsystems, auf das der Titel "Scientia naturalis" hinweist. Weiterhin weist das Wort "Naturlehre" auf die Verknüpfung von Mathematik und "metaphysischer Naturwissenschaft" (AA IV S.470) hin, die in jeder "besonderen Naturlehre" stattfindet: "Aber eine reine Naturlehre über b e s t i mm te Naturdinge (Körperlehre und Seelenlehre) ist nur vermittelst der Mathematik möglich, und da in jeder Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen wird, als sich darin Erkenntnis a priori befindet, so wird Naturlehre nur soviel eigentliche Wissenschaft enthalten, als Mathematik in ihr angewandt werden kann" (AA IV S.470). An dieser Stelle verweist der Text auf eine Anmerkung, die im folgenden Exkurs zum Krünmungsbegriff im Op.p. noch besprochen wird. "Was nun die Beobachter einer s z i e n t i f i s c h e n Methode betrifft, so haben sie hier die Wahl, entweder d o g m a t i s c h oder s k e p t i s c h , in allen Fällen aber doch die Verbindlichkeit, systematisch zu verfahren. Wenn ich hier in Ansehnung der ersteren den berühmten W o l f f , bei der zweiten D a v i d Hume
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Bezug und Trennung
der Philosophie vorzeichnet, die die Mathematik als Instrument verwenden kann83t wenn Bezüge zu Sinnenobjekten überhaupt gegeben sind. Exkurs: Der Krümnungsbegriff im Opus post unum Als Beispiele fruchtloser "Vernünftelei" im Felde der reinen Mathematik spricht Kant "leere Versuche" an, Aufgaben, wie sie beispielsweise durch die Differentialgeometrie gestellt werden, durch diskursives Nachdenken der Philosophie lösen zu wollen. Es sind beispielsweise Versuche "aus bloßen Begriffen a priori erklären zu wallen, warum eine krumme Linie (auf einer Ebene) von durchgehende gleicher Krümnung (deren gleiche Teile einander decken), wenn sie fortgesetzt wird, in sich selbst zurückkehre und als Kreis eine Fläche einschließe; - oder auch warum innerhalb einer Fläche von dieser Krürnnung ein Punkt sei, der von jedem anderen desselben linkreises gleichweit absteht; - oder etwa auch die Aufgabe, ob eine gerade Linie zur krunmen als im gleichen Verhältnis einer geraden Linie zur andern jemals a priori gegeben werden könne, u.d.g." (AA XXI 24220). Mathematisch kann die letztgenannte Aufgabe auf das Problem der Bestimmung der Bogenlänge einer Linie reduziert werden: Ist c: I Kurve 8 4 , womit
83
84
» R n eine stetig für alle t aus I =
di fferenzierbare [a,b] e R die
nenne, so kann ich die übrigen, meiner jetzigen Absicht nach, ungenannt lassen. Der k r i t i s c h e Weg ist allein noch offen" (B 884). "Der Z w e c k , den die Vernunft mit der Mathematik hat, ist, sie als das ausgebreitetste und sicherste I n s t r u m e n t zu jeder technischen Absicht (der Kunst) in seiner Gewalt zu haben, also irgend ein Nutzen für Objekte der Sinnlichkeit" (AA XXI 24401, Hervorhebung gemäß der Kantischen Großschreibung G.B.). Zum Begriff der Mathematik als Instrument vgl. den Abschnitt "Der InstrumentalCharakter der Mathematik" dieser Arbeit. Zum Differenzierbarkeitsbegriff vgl. den Abschnitt "Intensive und infinitesimale Größe" dieser Arbeit.
Probien mathematischer Anfangsgründe
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Tangente c'(t) bestiirmt ist, dann kann die Bogenlänge L c von c auf dem Intervall I folgendermaßen berechnet werden: Lc = J
b
c'(s) ds
85
Der gemeinsame mathematische Gehalt der beiden erstgenannten Probleme kann in folgendem Satz über ebene Kurven zusanmengefaß.t werden: Satz86; ¡st c : ι — ^ r2 eine mindestens zweimal stetig-differenzierbare Kurve, dann sind folgende Aussagen äquivalent: (i) Die Kurve c ist das Stück eines Kreisbogens, d.h. es gibt einen Punkt xq in r2, daß alle Kurvenpunkte von c zu diesem Punkt den gleichen Abstand r haben: |c(t) - xqI = r > 0 (für alle tel) (ii) Die Kurve c hat konstante Krümmung8?, d.h. der Wert der Krümmung K(t) in jedem Kurvenpunkt c(t) ist konstant : |K(t)| = K q > 0 (für alle t aus I). 85 Die Formel zur Berechnung der Bogenlänge geht u.a. auch auf Leibniz zurück. Leibniz führte für ebene Kurven c : I ->R2 c(t)= (ci(t), C2(t)) das "Bogenelement" ds2 = dx2 + dy2 ein (vgl. M. Kline, S.377). Die Differential formen dx und dy berechnen sich aus c(t) folgendermaßen: dx = c'i(t)dt, dy = c'2(t)dt, also gilt für ds: ds2 = (c'i(t)2 + c'2(t)2) dt2. Durch Integration des Bogenelements ds erhält man die angegebene Formel der Bogenlänge. Der Beweis, daß die angegebene Formel die Kurvenlänge, die als Grenzwert der Längen von in die Kurve eingeschriebenen Polygonzügen definiert wird, einer stetig-differenzierbaren Kurve ausmißt, bedarf Überlegungen, die den durch B. Riemann (1826-1866) begründeten Integralbegriff als Voraussetzung haben. 86 Vgl. W. Klingenberg: "Eine Vorlesung über Differentialgeometrie", S. 13. 87 Ist: c = I —> R2 eine ebene, zweimal stetig-differenzierbare Kurve, dann ist der Wert der Krürnnung K(t) für jeden Kurvenpunkt c(t) = (ci(t), c2(t)) durch folgende Gleichung bestinmt: K(t) = (c'i(t) * c"2(t) - c'2(t) * c'*l(t))*(|c'(t)l )"3
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Bezug und Trennung
Mit dem mathematischen Gehalt dieser Probleme sind Fragen angesprochen, die bereits in der Kr.d.r.V. gestellt wurden. Als Beispiel einer dem "Inbegriff" einer Wissenschaft "gehörigen Frage (quaestiones dornesticae)", die "gewisse Auflösungen" erfordert, "ob sie gleich zur Zeit noch vielleicht nicht gefunden sind", wird für die Mathematik die Frage gestellt, "welches Verhältnis der Durchmesser zum Kreise ganz genau in Rational- oder Irrationalzahlen häbe?" (B 508). "Hat man wohl jemals gehört: daß, gleichsam wegen einer notwendigen Unwissenheit der Bedingungen, es für ungewiß sei ausgegeben worden, welches Verhältnis der Durchmesser zum Kreise ganz genau in Rational- oder Irrational-Zahlen habe? Da es durch erstere gar nicht kongruent gegeben werden kann, durch die zweiten aber noch nicht gefunden ist, so urteilte man, daß wenigstens die Unmöglichkeit solcher Auflösung mit Gewißheit erkannt werden könne, und Lambert gab einen Beweis davon" (B 508). Johann Heinrich Lambert (1728 - 77) bewies mittels der von Leonhard Euler eingeführten Methode der Kettenbruchentwicklung, daß die Zahl η - 3,14159... eine Irrationalzahl ist88. j n Für den Kehrwert dieser Formel, den Krümmungsradius¿ gibt Newton im "Methodus fluxionum" (London, 1736) eine Formel an, um die Größe der Krünniung ("Quantitas curvaturae") aus der Reihenentwicklung zu bestürmen (vgl. Cantor Bd.3, S.175). Eine übersichtliche Darstellung dieser Methode findet man in dem Lehrbuch "Introduction a l'analyse de lignes courbes algebriques" von Gabriel Cramer, das 1750 erschien: Ist die Kurve c(t) = (ci(t), c2(t)) in Reihenentwicklung gegeben und als Graph parametrisiert: ci(t) = t C2(t) = A + Bt + Ct2 + Dt3 + ..., so ist der Krümmungsradius R(t) bestinmt als: R(t) = \/(l + B2)3' * (2C)-1 Man kann nachrechnen, daß R(t) = (K(t))~l ist. Der Beweis des angegebenen Satzes benutzt die auf F. Frenet (1816-1868) zurückgehenden Differentialgleichungen für ebene Kurven (vgl. Struik: 'Outline