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German Pages 396 [388] Year 2021
Jan Glatter, Michael Mießner (Hg.) Gentrifizierung und Verdrängung
Interdisziplinäre Wohnungsforschung | Band 3
Editorial Die Schriftenreihe Interdisziplinäre Wohnungsforschung versammelt Beiträge aus Architektur, Geographie, Geschichtswissenschaft, Ökonomie, Planungswissenschaften, Politikwissenschaft und Soziologie, die sich in interdisziplinärer Weise mit der Wohnraumversorgung auseinandersetzen. Im Zentrum steht hierbei das widersprüchliche Verhältnis von Wohnraum als Grundbedürfnis und als Ware, dem ein komplexes Wechselspiel aus gesellschaftlicher Steuerung und Regulierung, sozialen Praktiken, räumlichen Materialisierungen und gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen zugrunde liegt. Ziel der Reihe ist die Zusammenführung fächerübergreifender Untersuchungen, die sich einerseits mit den theoretischen und konzeptionellen Fragestellungen und andererseits mit den historischen und aktuellen Transformationsprozessen der Wohnraumversorgung auseinandersetzen. Die Integration der Wohnungsforschung wird durch das interdisziplinäre Herausgebergremium der Reihe vorangetrieben. Herausgegeben wird die Reihe von Uwe Altrock, Ingrid Breckner, Laura Calbet i Elias, Björn Egner, Stephan Lessenich, Sebastian Schipper, Barbara Schönig, Lisa Vollmer und Daniela Zupan. Ansprechpartnerinnen bei Interesse an der Publikation in dieser Reihe sind Barbara Schönig und Lisa Vollmer.
Jan Glatter (Dr.) arbeitet im Stadtplanungsamt der Stadt Dresden und forscht seit über zwanzig Jahren zu Prozessen der Stadt- und Wohnungsmarktentwicklung mit dem Schwerpunkt auf Ostdeutschland. Er ist Sprecher des Arbeitskreises Geographische Wohnungsmarktforschung, der das Ziel verfolgt, wissenschaftliche und praktische Perspektiven auf die Wohnungsmarktentwicklung zu verknüpfen. Michael Mießner (Dr.) ist Postdoc-Assistent an der Universität Klagenfurt. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kritische Geographie ländlicher und regionaler Entwicklung, Gentrifizierungs- und Wohnungsmarktforschung sowie Raumplanung.
Jan Glatter, Michael Mießner (Hg.)
Gentrifizierung und Verdrängung Aktuelle theoretische, methodische und politische Herausforderungen
Veröffentlicht mit Unterstützung des Forschungsrats der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt und des Instituts für Geographie und Regionalforschung der AlpenAdria-Universität Klagenfurt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Jan Glatter Korrektorat: Rosa Graschitz Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5582-7 PDF-ISBN 978-3-8394-5582-1 https://doi.org/10.14361/9783839455821 Buchreihen-ISSN: 2702-248X Buchreihen-eISSN: 2702-9565 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
Aktuelle Debatten in der deutschsprachigen Gentrifizierungsforschung Zur Einleitung Jan Glatter und Michael Mießner ..................................................... 9
Gentrifizierung und ihre Erforschung im deutschsprachigen Raum Historische Entwicklungen Jan Glatter und Michael Mießner .................................................... 33
I Theoretische Herausforderungen: Finanzialisierung und Grundrentenbildung Gentrifizierung und Finanzialisierung Bernd Belina ....................................................................... 57
Gentrifizierung, Finanzialisierung und Demokratie Konzeptionelle Herausforderungen an kritische Stadtgeographien Michael Janoschka ................................................................. 73
Die Grenzen der rent gap-Theorie Matthias Bernt ...................................................................... 91
Rent gap-getriebene kaskadenförmige Ausdehnung immobilienwirtschaftlicher Aufwertung entlang der Städte-Hierarchie? Richard Bůžek und Michael Mießner................................................ 107
Grundrenten auf einem eigentumsdominierten Wohnungsmarkt Das Corvin Promenade Projekt in Budapest Márton Czirfusz ....................................................................127
II Methodische Herausforderungen: Gentrifizierung erforschen Wie lässt sich Verdrängung messen? Fabian Beran und Henning Nuissl ...................................................147
Gentrifizierung powered by Vonovia Verdrängung im Frankfurter Gallus Sebastian Schipper ............................................................... 167
Der Gentrifizierungseffekt Situationslogik der Aufwertung von Wohngebieten Jan Üblacker...................................................................... 187
Lebensstile, Akteur*innen und Zuzugsmotive Ergebnisse eines Wohnungspanels Jörg Blasius ...................................................................... 209
III Praktische Herausforderungen und politischer Umgang mit Gentrifizierung Wie Verdrängung verhindern? Eine kritische Betrachtung der Wiener Wohnungspolitik Justin Kadi ....................................................................... 237
Wohnungsmarktentwicklung, Gentrifizierung und Wohnquartierswandel in Berlin-Mitte Christian Krajewski ............................................................... 255
Gentrifizierung vermeiden? Von Milieuschutz und Vorkaufsrecht zur Communalisierung! Florian Schmidt ................................................................... 275
(Nicht-)Konflikte um Verdrängung von unten verstehen Moritz Rinn........................................................................ 295
Rechte Ressentiments im Aufwertungsprozess Herausforderungen für mietenpolitische Initiativen Gisela Mackenroth................................................................. 313
IV Spielarten der Gentrifizierung Grüne Gentrifizierung Eine neue Herausforderung für nachhaltige Stadtentwicklung Annegret Haase und Anika Schmidt ................................................ 333
Ländliche Gentrifizierung? Aktuelle Herausforderungen und Ansätze für die Forschung Michael Mießner und Matthias Naumann ........................................... 353
Die symbolische Dimension der Gentrifizierung Jan Glatter........................................................................ 371
Autor*innenbeschreibungen .............................................. 391
Aktuelle Debatten in der deutschsprachigen Gentrifizierungsforschung Zur Einleitung Jan Glatter und Michael Mießner
In den letzten zehn Jahren haben Mietpreissteigerungen, immobilienwirtschaftliche Aufwertung und Verdrängung einkommensarmer Bevölkerungsgruppen insbesondere in den deutschen Großstädten immer größere Aufmerksamkeit erfahren. Diese Prozesse sind eng mit Aufwertungen im Sinne einer Gentrifizierung verknüpft, einem Begriff, der inzwischen eine große Verbreitung und unterschiedliche Deutungen erfahren hat. Den einen gilt Gentrifizierung als positive Entwicklungsstrategie (u.a. Schmidt 2017), anderen als »dirty word« (Smith 1996, 28), das auf die Verdrängung einkommensschwacher Bevölkerungsgruppen hinweist und wieder anderen gilt er als »Kampfbegriff der linken Szene« (Hannemann 2018, 13). In der Wissenschaft kann dagegen ein Grundkonsens dahingehend identifiziert werden, dass Gentrifizierung mit einem Bevölkerungsaustausch und Verdrängung einkommensschwacher Bevölkerungsgruppen in einem Quartier einhergeht. Aufbauend darauf werden in den Studien jedoch unterschiedliche Schwerpunkte bei der Forschung gesetzt. Aufgrund der steigenden Relevanz von immobilienwirtschaftlichen Aufwertungsprozessen und den damit einhergehenden Konflikten hat in der deutschsprachigen Forschung die Auseinandersetzung mit Gentrifizierung in den vergangenen zwei Dekaden deutlich zugenommen. Das zeigt sich unter anderem in einer Vielzahl wissenschaftlicher Publikationen: nach eigenen Recherchen sind seit 2005 mehr als 330 Beiträge zur Gentrifizierung in Deutschland, Österreich und der Schweiz erschienen. Die Themenkonjunktur zeigt sich auch darin, dass einige wissenschaftliche Zeitschriften Themenhefte zur Gentrifizierung herausgegeben haben (u.a. Informationen zur Raumentwicklung (BBSR 2014), sub/urban (Hörning/Vollmer 2019)) und
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auch Fachjournale das Thema aufgreifen, die den Wissenstransfer von der Forschung in die Praxis fördern (u.a. pnd/online (RWTH Aachen 2013), vhw 2013). Zudem sind mehrere Reflexionen des Forschungsstandes, ein Lehrbuch und Lehrbuchbeiträge erschienen (u.a. Glatter 2006; Blasius 2008; Bernt/Holm/Rink 2010; Breckner 2010; Holm 2012; 2014; 2019; Diller 2014; Eckardt 2018; Üblacker 2018). Der Fokus der deutschsprachigen Forschungen liegt – auch angesichts der vor allem in Metropolen stark steigenden Wohnungsmieten – nach wie vor hauptsächlich auf Großstädten. Eine besondere Aufmerksamkeit erfahren dabei Berlin (u.a. Helbrecht 2016a; Holm 2016; Beran/Nuissl 2019), Köln (u.a. Friedrichs/Blasius 2016a), Hamburg (u.a. Pohl/Wischmann 2014), Frankfurt a.M. (u.a. Schipper 2013, Mösgen/Schipper 2017) und Wien (u.a. Kadi/Verlič 2019). Die Gentrifizierungsforschung ist längst interdisziplinär ausgerichtet, was an den Arbeiten aus der Soziologie, Geographie, Politik- und Planungswissenschaft, ethnologischen Stadtforschung bis hin zur Semiologie erkennbar ist. Zu dem breiten Spektrum an betrachteten Themen zählen unter anderem Ursachen, Verläufe, Akteur*innen, Formen und Ausmaß der Verdrängung, der Einfluss von Politik und Stadtplanung, Protestgruppen, Konsumkulturen, Strategien der Immobilienökonomie, der Wandel des Gewerbes, die räumliche Verbreitung der Gentrifizierung, Semantiken und Symbole der Gentrifizierung sowie Methoden der Messung und Früherkennung (vgl. auch die umfassende Analyse wissenschaftlicher Abschlussarbeiten in Üblacker 2018). Im Rahmen dieser Einleitung wollen wir einen Überblick über das umfassende Feld der aktuellen auf den deutschsprachigen Raum ausgerichteten Gentrifizierungsforschung bieten und dabei die wichtigsten Debatten der vergangenen Dekade sowie deren Bezüge zur internationalen Forschung skizzieren. Im Folgenden erläutern wir zunächst, wie der Begriff der Gentrifizierung interpretiert wird und anschließend wichtige konzeptionelle Diskussionen. Darauf folgt die Darstellung methodischer Entwicklungen und schließlich von Herausforderungen in der politischen und planerischen Praxis. Abschließend führen wir in die Beiträge des Bandes ein.
Aktuelle Debatten in der deutschsprachigen Gentrifizierungsforschung
1.
Grundverständnis und Interpretationen
Vielleicht gerade, weil der Begriff der Gentrifizierung inzwischen weit verbreitet ist, gibt es unterschiedliche Interpretationen, was darunter zu verstehen ist. Dennoch verbindet die verschiedenen Sichtweisen ein Grundverständnis von Gentrifizierung. Ausgehend von der initialen Beschreibung der Gentrifizierung bei Ruth Glass (1964) entstand eine Vielzahl an Forschungen, die weltweit vergleichbare Muster der Aufwertung nachgewiesen haben. Mit der wachsenden Aufmerksamkeit für Gentrifizierung wurden im Verlauf der Zeit auch strukturell ähnliche Aufwertungen – zum Beispiel in ländlichen Räumen, bei Neubauprojekten, bei Aufwertungen für studentische Nachfragen oder im Zusammenhang mit Touristifizierungen – als Formen der Gentrifizierung interpretiert. So wurde das »Etikett Gentrifizierung« auf eine Vielzahl empirisch beobachtbarer Aufwertungsprozesse übertragen. Dabei gab es immer wieder Versuche, die Interpretation aufgrund bestimmter Beobachtungen und Erkenntnisse abzuwandeln und zu erweitern. Dass es so viele unterschiedliche Interpretationen des Begriffes gibt, begründet sich auch aus der Vielschichtigkeit des Gegenstandes und der Breite des Diskurses. Der Aufwertungsprozess ist durch eine hohe Komplexität charakterisiert, bei dem sich insbesondere immobilienwirtschaftliche Verwertungsstrategien, Segregationsprozesse, neue Formen der Stadtpolitik und symbolische Umdeutungen der Wohnquartiere überlagern (Beauregard 1986, 35; Holm 2012, 662). Hinzu kommt, dass der bis Ende des 20. Jahrhunderts zumeist nur bei Stadtforscher*innen bekannte Begriff, spätestens seit Ende der 2000er-Jahre ein vertrautes Vokabular medialer Diskurse wurde. Die Popularisierung und weitverbreitete Verwendung in medialen und politischen Debatten haben den Begriff weiter »verwässert« (Bernt 2015, 16) und zu einem »Verlust an inhaltlicher Schärfe und Aussagekraft« geführt (Frank 2018, 197). Nach Susanne Frank (2018, 209) liegt das vor allem daran, dass Gentrifizierung in der öffentlichen Diskussion zumeist als Sammelbegriff fungiert, der die unterschiedlichsten Ängste und Sorgen von Mieter*innen bündelt. Christoph Twickel (2010) bezeichnet Gentrifizierung daher ironisch als »Gentrifidingsbums«. Angesichts der Vielzahl an Entwicklungen, die mit Gentrifizierung in Verbindung gebracht werden, wurde in der Vergangenheit aber auch Kritik formuliert, dass es zu einer zu starken Ausweitung des Gentrifizierungsbegriffes gekommen sei (Slater 2006; Lees/Slater/Wyly 2008). Andere Forscher*innen
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sehen in dieser semantischen Offenheit und Ungenauigkeit weniger ein konzeptionelles Problem, sondern interpretieren diese als Folge gesellschaftlicher Diskurse um Stadtentwicklung und sehen darin einen lohnenswerten Gegenstand der Forschung (Werth/Marienthal 2016, 720; Frank 2018, 211). Im wissenschaftlichen Diskurs lassen sich in der Tat verschiedene Interpretationen des Gentrifizierungsbegriffes identifizieren. Grob können fünf Interpretationen unterschieden werden. Ein erster Interpretationsstrang, die solitären Definitionen, stellt auf das Schlüsselmerkmal des sozialen Austausches der Bewohner*innen ab. Es finde ein »Austausch einer statusniedrigeren durch eine statushöhere Bevölkerungsgruppe in innenstadtnahen Wohnquartieren« statt (u.a. Hamnett 1984; Friedrichs 1996; Diller 2014). Dieser Zugang zur Gentrifizierungsforschung wurde bereits Ende der 1980er-Jahre prominent von Jens Dangschat (1988) in die deutschsprachige Diskussion eingeführt, der dabei die Bedeutung des Zuzuges von Pionieren und Gentrifiern für Gentrifizierungsprozesse betont. Der Bevölkerungsaustausch kann dabei mit einer Verdrängung einhergehen – Personen können in diesem Verständnis aber auch freiwillig das Quartier verlassen. Eine zweite Interpretationslinie von Gentrifizierung, die dualen Definitionen, konzentrieren sich auf den sozialen und baulich-immobilienwirtschaftlichen Wandel als die zentralen Merkmale von Gentrifizierung (u.a. Clark 2005; Krajewski 2013). Interpretationen, die Gentrifizierung als mehrdimensionalen Prozess verstehen (u.a. Beauregard 1986; Davidson/Lees 2005), erweitern diese duale Definition drittens um weitere Merkmale, wie Veränderungen der Konsum- und Gewerbestrukturen oder auch den Wandel von Image und Erscheinungsbild des Quartiers. Ein vierter Strang an Interpretationen argumentiert, dass die mit der immobilienwirtschaftlichen Aufwertung einhergehende Verdrängung das entscheidende Merkmal von Gentrifizierung (Holm 2014; Vollmer 2018) ist. Der Unterschied zu den solitären Definitionen, die auf den Austausch der Bewohner*innen abstellen, der mit Verdrängung einhergehen kann, aber nicht muss, ist Gentrifizierung nach dieser Interpretation immer an Verdrängungen gekoppelt. »Verdrängung ist das Wesen und kein ungewollter Nebeneffekt der Gentrification« (Holm 2014, 102). Verdrängung kann dabei direkt oder indirekt (bspw. über Mieterhöhung), aber auch exkludierend erfolgen. Ein fünfter Interpretationsstrang versteht Gentrifizierung als strategischen Ansatz in der Stadtpolitik, die das Ziel verfolgt, Städte attraktiver zu machen und im internationalen Wettbewerb um Investitionen zu positionieren (u.a. Smith 2002; Holm 2019).
Aktuelle Debatten in der deutschsprachigen Gentrifizierungsforschung
Gemeinsam sind diesen unterschiedlichen Interpretationen aber zwei Aspekte: Erstens ist Gentrifizierung immer mit der immobilienwirtschaftlichen Aufwertung eines Quartiers verbunden. Zweitens ist allen Interpretationen gemein, dass Gentrifizierung durch den Austausch einkommensschwacher und marginalisierter durch einkommensstarke und statushohe Bevölkerungsgruppen gekennzeichnet ist. Diese beiden Aspekte lassen sich daher als Grundverständnis des Gentrifizierungsbegriffes charakterisieren.
2.
Konzeptionelle Diskussionen
Auf konzeptioneller Ebene lassen sich aktuell mehrere Ansätze und Diskussionsstränge identifizieren. Erstens wird in Fortsetzung des sozial-ökologischen Forschungsparadigmas untersucht, wie die Pioniere und Gentrifier als Akteur*innen der Gentrifizierung angemessen definiert werden können und welche Zusammenhänge zwischen deren Zuzug ins Quartier und dem modellhaften Phasenverlauf der Aufwertung bestehen (Friedrichs/Blasius 2016a). Im Zentrum steht dabei eine von Jörg Blasius und dem 2019 verstorbenen Jürgen Friedrichs geleitete Studie über Aufwertungsprozesse in den Kölner Stadtteilen Deutz und Mühlheim. Innovativ sind insbesondere zwei Aspekte des Forschungsdesigns: die Erhebung anhand eines Wohnungspanels (vgl. → Blasius) und das mehrdimensionale Konzept, das nicht mehr nur den sozialen und baulichen, sondern auch den gewerblichen und symbolischen Wandel untersucht. Während die Studie dem Ansatz folgt, die Pioniere und Gentrifier anhand sozial-statistischer Merkmale abzugrenzen, schlägt Frank (2011; 2014) eine offenere Auslegung und Erweiterung der Akteurstypen vor. Insbesondere die Reurbanisierung hat gezeigt, dass inzwischen auch Familien eine bedeutende Rolle für die Quartiersaufwertung spielen können. Ein zweiter Diskussionsstrang dreht sich um die verschiedenen Ausprägungen beziehungsweise Spielarten von Gentrifizierung, die in Typen unterschieden werden. Je Typus wird die Rolle besonderer Merkmale betont und zur Erklärung von Gentrifizierung herangezogen. Mösgen/Rosol/Schipper (2019) haben beispielsweise die Bedeutung staatlicher Politiken für die Gentrifizierung von Stadtteilen in Vancouver und Frankfurt a.M. herausgearbeitet (state-led gentrification). Holm (2011b) zeigt am Beispiel des Prenzlauer Bergs in Berlin, inwiefern die Mitte der 2000er-Jahre beginnende, zweite erneute Aufwertungswelle als Super-Gentrifizierung verstanden werden kann. Auch die Touristifizierung (u.a. Dirksmeier/Helbrecht 2015; Füller/Mi-
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chel 2014) sowie die Bedeutung von Ferienwohnungen (Smigiel u.a. 2020) wird im Zusammenhang mit Gentrifizierung untersucht und als tourism gentrification bezeichnet. Eine weitere Diskussion dreht sich um die NeubauGentrifizierung (u.a. Schipper/Wiegand 2015; Krajewski 2017) und die Frage, ob große Neubauprojekte in angrenzenden Quartieren Verdrängungsprozesse in Gang setzen können. Wie Vermieter*innen mit Studierenden hohe Mieteinnahmen generieren können und wie dies zur Verdrängung einkommensniedriger Bevölkerungsgruppen führt, hat Miessner (2021) untersucht. Gegenstand anderer Forschungen war die Rolle und Ausprägung gewerblicher Aufwertungen im Zuge von Gentrifizierungsprozessen (u.a. Stock 2013; Glatter/Sturm 2019). Im Vergleich zur internationalen Forschung zur ländlichen Gentrifizierung (vgl. Phillips 1993; Stockdale 2010) gab es für den deutschsprachigen Raum bisher nur wenige Studien zu diesem Phänomen. Mießner/Naumann (2021; → Mießner/Naumann) sehen aber deutliche Indizien für deren Relevanz und Bedeutungsgewinn, weshalb sie für eine stärkere Fokussierung der Gentrifizierungsforschung auf ländliche Regionen plädieren. In Anlehnung an internationale Debatten wird inzwischen auch über eine Greentrification beziehungsweise ökologische Gentrifizierung debattiert, bei der ökologische Aufwertungen des Wohnungsbestandes und Wohnumfeldes als Auslöser beziehungsweise Treiber von Aufwertung und Verdrängung gelten (u.a. Weißermel/Wehrhahn 2020; → Haase/Schmidt). Einen dritten Debattenstrang stellen Untersuchungen zur symbolischen und diskursiven Ebene der Gentrifizierung dar. In einer Reihe von Arbeiten wird der Fokus auf die Veränderungen der Stadtteilimages, des lokalen Erscheinungsbildes und der diskursiven Praktiken in Medien und Politik gerichtet (u.a. Holm 2010b; Warnke 2013; Dlugosch 2016; → Glatter ). Mit diesen Arbeiten werden unterschiedliche Aspekte des symbolischen Wandels genauer beschrieben, die bedeutende Rolle kommunikativer und diskursiver Praktiken für die Erzeugung »besonderer Orte« (Holm 2010b) betont sowie auf die unterschiedlichen Perspektiven von Akteur*innen aus Politik, Verwaltung, Immobilienwirtschaft, Medien, Kunst und sozialen Bewegungen aufmerksam gemacht. Viertens wird die rent gap-Theorie und ihre Bedeutung zur Erklärung aktueller Aufwertungsprozesse diskutiert. Die Ende der 1970er-Jahre von Neil Smith entwickelte rent gap-Theorie richtete sich gegen die damals vorherrschende wissenschaftliche Meinung, Gentrifizierung werde hauptsächlich durch den Bevölkerungszuzug von Mittelschichten ausgelöst und betonte stattdessen die »Bewegung des Kapitals« (Smith 2019[1979], 65).
Aktuelle Debatten in der deutschsprachigen Gentrifizierungsforschung
Smith erklärt Gentrifizierung aus dem Zusammenspiel von angebots- und nachfrageseitigen Entwicklungen, die zur Öffnung einer Grundrentenlücke führen. Die Differenz zwischen derzeit realisierter und potenziell erzielbarer Grundrente initiiert Investitionen, die als entscheidender Treiber für Mietpreissteigerungen schließlich in der Verdrängung einkommensschwacher Bevölkerungsgruppen münden (vgl. u.a. Schipper 2013). Wie die rent gap entsteht und in welchem Verhältnis Smiths Theorie zu den Debatten um die marxistische Grundrententheorie steht, wird seit der Veröffentlichung der rent gap-Theorie diskutiert (→ Bernt). Die rent gap-Theorie hat jüngst auch in der deutschsprachigen Gentrifizierungsforschung verstärkt Aufmerksamkeit erfahren (vgl. Holm 2011a; die Debatte in sub\urban 2019). Sebastian Schipper (2013) konnte zeigen, inwiefern sich in Frankfurt a.M. im Zuge der Global City-Formierung Grundrentenlücken öffneten, die Gentrifizierung in Gang setzten. Andrej Holm, der die rent gap-Theorie in mehreren Berliner Gentrifizierungsstudien zugrunde legte, hält sie für ein sehr sinnvolles Konzept zur Erklärung jüngerer Gentrifizierungsprozesse (Holm 2019). Matthias Bernt plädiert jedoch dafür, die immobilienwirtschaftlichen Renditelücken stärker in die institutionellen Kontexte öffentlicher Regulierungen und immobilienökonomischer Strategien einzubetten und als »Kommodifizierungslücke« aufzufassen (Bernt 2020; → Bernt). In der jüngeren Vergangenheit hat ein fünfter konzeptioneller Diskussionsstrang Prominenz erlangt: die Finanzialisierung der Ökonomie (Christophers 2012) und deren Auswirkungen auf Stadtentwicklungs- und Gentrifizierungsprozesse. Seit der Wirtschafts- und Finanzkrise sind große Mengen von Finanzkapital auf der Suche nach einer profitablen Anlagesphäre, die das Kapital im sekundären Kapitalkreislauf, der gebauten Umwelt, findet (Harvey 2006 [1982]; Heeg 2013). Daher wird die Bewirtschaftung von Wohnraum zunehmend an den Finanzmarkt gekoppelt sowie an finanziellen Anlagestrategien und Logiken ausgerichtet. Mit dem Ziel, höhere Renditen zu erreichen, steigt der Druck, die Mieten zu erhöhen, was wiederum Verdrängungsprozesse auslösen kann. Die Finanzialisierung hat in den vergangenen Jahren so stark an Bedeutung gewonnen, dass Aalbers (2019, 9) sie sogar als dominante Kraft hinter der aktuellen Gentrifizierungswelle bezeichnet und andere Autor*innen von einer »financialized gentrification« sprechen (u.a. Risager 2021). Auch in der deutschsprachigen Gentrifizierungsforschung wird in jüngerer Vergangenheit die wachsende Bedeutung der Finanzialisierung für Gentrifizierungsprozesse (u.a. Schipper/Wiegand 2015) oder für die Grundrentenbildung (u.a. Calbet i Elias 2018) thematisiert.
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Ein sechster Diskussionsstrang, der konzeptionelle sowie methodische Fragen verbindet und der in der letzten Dekade deutlich an Gewicht gewonnen hat, ist die Untersuchung von Verdrängung. Damit wird der Schwerpunkt auf die Erforschung derjenigen Bevölkerungsgruppen verlagert, für die Gentrifizierung negative Auswirkungen hat. Verdrängung wird zwar häufig als das »Wesen der Gentrifizierung« aufgefasst, blieb empirisch aber relativ wenig erforscht. Gründe dafür waren, dass unterschiedliche Definitionen und Operationalisierungen Anwendung fanden und Verdrängung aufgrund multipler Wanderungsmotive methodisch schwer zu fassen ist. Verdrängung ist aber auch deshalb schwer zu erforschen, weil die Untersuchungen meist erst beginnen, wenn Gentrifizierung bereits eingesetzt hat und einkommensarme Bevölkerungsgruppen das Quartier bereits verlassen haben (→ Üblacker). Der Diagnose einer erstaunlich wenig erforschten Verdrängung (Helbrecht 2016b, 9f.) folgten in den vergangenen Jahren eine Reihe neuer Studien und Ansätze. Dazu zählen quantitativ angelegte Forschungen, die das Ausmaß und die Verbreitung der Verdrängung untersuchen (insbesondere Beran/Nuissl 2019; siehe → Beran/Nuissl) sowie qualitativ-explorierende Studien, die stärker die Perspektiven der von Verdrängung bedrohten und der Verdrängten fokussieren (Helbrecht 2016a; Meuth/Reutlinger 2021).
3.
Methodische Entwicklungen
Mit der Intensivierung der Forschungsarbeiten zu Gentrifizierung werden neben den konzeptionellen Aspekten auch Fragen der empirischen Methoden zur Erfassung von Aufwertungsprozessen debattiert. In jüngerer Vergangenheit gab es Versuche einer auf statistischen Indikatoren basierenden Identifikation von Gentrifizierungsquartieren. Holm/Schulz (2016) entwickelten am Beispiel von Berlin eine ›GentriMap‹ bei der lediglich zwei Schlüsselvariablen verwendet werden müssen, um die immobilienwirtschaftlichen und sozialstrukturellen Veränderungen in statistischen Teilräumen zu erschließen. Andere Autor*innen leiten aus Bodenrichtwerten mögliche Grundrentensteigerungen ab und identifizieren so innerstädtische rent gaps (Schipper 2013; Mösgen/Schipper 2017). Diese quantitativen Ansätze, die darauf abzielen, »Verdachtsgebiete für eine Gentrifizierung« anhand sekundärstatistischer Daten zu ermitteln, sind vor allem für eine vergleichende Stadtfor-
Aktuelle Debatten in der deutschsprachigen Gentrifizierungsforschung
schung und für die Entwicklung von Instrumenten der Früherkennung geeignet. Darüber hinaus haben einige Forscher*innen bestehende Methoden für die Erforschung von Gentrifizierung weiterentwickelt. So erproben Friedrichs/Blasius (2016b) in einem seit 2012 in zwei Kölner Quartieren laufenden Forschungsprojekt die Erhebungs- und Stichprobenmethode eines Wohnungspanels. Neben den methodischen Erkenntnissen zur Panelerhebung wird auch versucht, die bereits in den Forschungen der späten 1980er-Jahre entwickelten sozial-statistischen Akteurstypen (u.a. Pioniere, Gentrifier) auf ihre Plausibilität mit Verlaufsmodellen der Gentrifizierung zu testen (→ Blasius). Sebastian → Schipper erprobt die wiederholte standardisierte Befragung von Bewohner*innen eines Quartieres in Frankfurt a.M., in dem Gentrifizierung zukünftig erwartet werden kann und ergänzt diese um leitfadengestützte qualitative Interviews. Damit untersucht er Verdrängung nicht im Nachhinein, sondern während sie stattfindet. Diese Methode soll außerdem dazu dienen, verschiedene Formen der Verdrängung empirisch untersuchen zu können. Die Wahrnehmungen und Beweggründe von Bewohner*innen zu bleiben oder wegzuziehen sind auch Gegenstand weiterer jüngerer Forschungen. Diese arbeiten mit einem qualitativen Zugang »von unten« (Rinn/Wiese 2020), erheben in offenen qualitativen Interviews die Perspektive der Bewohner*innen (z.B. Grotefendt u.a. 2016) und können so auch nachvollziehen, warum Mietpreissteigerungen nicht immer zu Mobilisierungen gegen Verdrängung führen (→ Rinn). Solche qualitativ ausgerichteten Forschungen konnten auch aufzeigen, inwiefern im Rahmen von Gentrifizierungs- und Verdrängungsprozessen rassistische Ressentiments mobilisiert werden (Mullis 2019; → Mackenroth). Im Hinblick auf mögliche Gentrifizierungsprozesse in kleineren Städten und ländlichen Regionen ist darüber hinaus deutlich geworden, dass etablierte quantitative Methoden der Gentrifizierungsforschung aufgrund mangelnder Datenverfügbarkeit sowie der meist geringer ausfallenden Mietpreissteigerungen und sozialräumlichen Verdrängungsprozesse nur schwer übertragen werden können (Bůžek/Mießner 2021). Hier dürften sich Befragungen und qualitative Ansätze, wie leitfadengestützte Interviews, Beobachtungen oder ethnographische Zugänge als geeigneter erweisen.
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4.
Praktische Herausforderungen
Angesichts der Bedeutungszunahme von Gentrifizierungsprozessen in immer mehr Städten ist auch die Diskussion um den Umgang mit Gentrifizierung in der politisch-planerischen Praxis wieder verstärkt worden. In der Diskussion lassen sich drei politisch-planerische Debatten identifizieren. Erstens hat eine Reihe von Forschungen diagnostiziert, dass Gentrifizierung zu einer politischen Strategie der Stadtentwicklung im Wettbewerb um Investitionen und Bewohner*innen avancierte (Smith 2002; Holm 2011b). Eine solche Strategie ist aber »ohne das engmaschige Netz von Planungsvorgaben, Genehmigungsverfahren, öffentlichen Subventionen und stadtpolitischer Leitbilder gar nicht denkbar« (Holm 2010a, 40). Ein Teil der Untersuchungen richtet sich daher auf städtische Wohnungspolitiken und kommt zu dem Schluss, dass die seit den 1980er-Jahren vollzogene Deregulierung zu einer neoliberalen Wohnungs- und Stadterneuerungspolitik geführt und wesentliche Rahmenbedingungen für die Gentrifizierungsprozesse der letzten Jahre geschaffen haben (vgl. Schipper/Wiegand 2015; Holm 2016). Während einerseits eine marktkonforme Neuausrichtung der Wohnungspolitik erfolgte, wurden andererseits gezielte Strategien der Aufwertung durchgesetzt, zu denen unter anderem ein aktives Stadtmarketing, die Eventisierung der Stadtpolitik sowie die Revitalisierung von Brachflächen und Gestaltung attraktiver grüner und blauer Infrastrukturen zählen. Die jüngere Entwicklung hat zudem gezeigt, dass mittels öffentlicher Förderprogramme selbst in Stadtteilen, die als »Problemquartiere« identifiziert werden, Aufwertungsprozesse initiiert werden können. So zielen die Maßnahmen des Bund-Länder-Programms Soziale Stadt primär auf die Stabilisierung und die ›Verbesserung der sozialen Mischung‹ von Quartieren, können aber durchaus ›über das Ziel hinausschießen‹ und zu einer Verdrängung der eigentlich zu fördernden Bewohner*innengruppen führen (Holm 2009a; Schnur 2015). Wesentliche Rahmensetzungen für eine Gentrifizierung werden so erst politisch hergestellt (Schipper/Latocha 2018; Holm 2019). Ein zweites Diskussionsfeld dreht sich um die planerischen und stadtpolitischen Interventionen mit denen auf Gentrifizierung und deren Folgen Einfluss genommen werden kann. Hier sind in den letzten Jahren eine Reihe von Publikationen erschienen, die sich mit dem Umgang der Städte mit Gentrifizierung sowie der Wirksamkeit kommunaler Instrumente zur Vermeidung von Verdrängung und anderen negativen Folgen von Gentrifizierung beschäftigen (z.B. Franke u.a. 2017; Holm 2018; Diller 2019). Deutlich wird dabei, dass
Aktuelle Debatten in der deutschsprachigen Gentrifizierungsforschung
einzelne Instrumente, wie die vielfach verhandelte soziale Erhaltungssatzung (auch Milieuschutz), allein nicht genügen, um den Immobilienverwertungsprozessen soweit Einhalt zu gebieten, dass Verdrängungsprozesse in einem Quartier gestoppt werden. Vielmehr müssen mehrere Instrumente, wie die Rekommunalisierung und das Vorkaufsrecht (→ Schmidt), Erbbaurechte, Bodenfonds und eine auf Mieter*innenschutz ausgerichtete Wohnungspolitik gleichzeitig eingesetzt werden, um Verdrängung auch langfristig verhindern oder zumindest abschwächen zu können (u.a. BBSR 2019; Heinz/Belina 2019). Drittens hat die Bedeutung von Protesten gegen Verdrängung in der aktuellen Phase der Gentrifizierung zugenommen und eine Reihe von Forschungsarbeiten angeregt. Konzeptionell beziehen sich die Forschungen überwiegend auf die Arbeiten der Kritischen Stadtforschung (u.a. Lefebvre 1972; Castells 1975; Harvey 2013). Sie haben den Anspruch, Konzepte zu entwickeln, deren Wirksamkeit über den universitären Kontext hinausgeht und Fragestellungen zu untersuchen, die für soziale Bewegungen relevant sind (Jonas/McCann/Thomas 2015; Schipper 2018; Vollmer 2019). Daher untersuchen diese Studien unter anderem auch mögliche Erfolgsfaktoren für die Durchsetzung der Forderungen von sozialen Bewegungen und bemühen sich, diese als Informationsmaterial für die Mieter*innenbewegungen in Form von Blogs, Vorträgen, Stadtrundgängen und Publikationen aufzuarbeiten (u.a. https://gentrificationblog.wordpress.com/; Holm 2010a; Vollmer 2018). Nach Holm (2021, 49ff.) zählen zu den Faktoren erfolgreicher Bewegungen insbesondere eine Legitimierung der Forderungen durch den Bezug auf soziale Bedürfnisse (u.a. Recht auf Wohnen, Mietzahlungsfähigkeit), die Fähigkeit zur lokalen Selbstorganisation, die interurbane und überregionale Vernetzung von Bewegungen sowie die Orientierung auf die Schaffung eines kooperativen und kollaborativen Regimes zwischen Bewegungen und Stadtverwaltung. Neben diesen Initiativen gegen Gentrifizierung lassen sich inzwischen aber auch Bewegungen beobachten, die sich für den Erhalt des Aufwertungsstatus einsetzen. Zu diesen Gruppen zählen beispielsweise NIMBY-Initiativen, die sich für Ruhe, Sauberkeit und Sicherheit in Quartieren engagieren (Holm 2011b).
5.
Aufbau des Bandes
Gentrifizierungsprozesse sind mittlerweile weltweit in vielen Städten und Regionen zu beobachten. Diese globale Verbreitung von Gentrifizierungspro-
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zessen ist sicherlich ein Grund, weshalb in der englischsprachigen Literatur jüngst ein Handbuch (Lees/Phillips 2019) und mehrere Überblickswerke zum aktuellen Forschungsstand publiziert wurden (Albet/Benach 2018; Curran 2018; Lees/Slater/Wyly 2010; Lees/Butler/Bridge 2012). Vergleichende Untersuchungen haben dabei gezeigt, dass es regionale Varianzen gibt, die zumeist auf unterschiedliche politische Regulierungen und Besonderheiten der Wohnungsmärkte zurückgeführt werden (Lees/Shin/López-Morales 2015). Aufgrund der – im internationalen Vergleich – über lange Zeit starken politischen Regulierungen der Wohnungsmärkte in Deutschland, Österreich und der Schweiz sowie der großen Bedeutung des Mietwohnungsmarktes in diesen Ländern waren Gentrifizierungsprozesse im deutschsprachigen Raum bis in die 1990er-Jahre nur in wenigen Großstädten zu beobachten. Erst die seit den 1980er-Jahren einsetzenden und ab den 2000er-Jahren immer stärker wirksam werdenden Deregulierungen der Wohnungs- und Stadterneuerungspolitik (Holm 2009b) haben zu Quartiersaufwertungen und Mietpreissteigerungen in immer mehr Städten und Stadtvierteln geführt (→ Glatter/Mießner). Mit diesem Band verfolgen wir das Ziel, aktuelle Debatten in der deutschsprachigen Gentrifizierungsforschung zu bündeln und damit zur weiteren Diskussion über neue theoretische und methodische Herausforderungen sowie praktische Handlungsansätze anzuregen. Zur weiteren Einordnung der aktuellen Diskussionen geben wir zunächst einen Überblick über die historische Entwicklung der Gentrifizierung und ihrer Erforschung im deutschsprachigen Raum. Nachfolgend haben wir den Band in vier Abschnitte gegliedert. Im ersten Abschnitt werden Finanzialisierung und Grundrentenbildung als aktuelle theoretische Zugänge der Gentrifizierungsforschung thematisiert. Bernd Belina zeigt drei Zusammenhänge zwischen Finanzialisierung und Gentrifizierung auf. Dazu bezieht er sich auf die Arbeiten David Harveys zur Urbanisierung des Kapitals, zur Zirkulation des Kapitals durch die gebaute Umwelt und zur Akkumulation durch Enteignung. Michael Janoschka wirft in seinem Beitrag grundlegende Fragen über Zusammenhänge zwischen Gentrifizierung und den Folgen der Finanzialisierung der Wohnungswirtschaft und Stadtpolitik auf. Danach führen die divergierenden Logiken von Finanzialisierung und Stadtpolitik zu Tendenzen der Entdemokratisierung, die als Ursachen für sozialräumliche Entmischung und politische Marginalisierung zu begreifen sind. Um demokratische Strukturen wieder zu stärken, leitet er aus dieser Diagnose das Erfordernis einer intensiveren Vernetzung der Forschung mit sozialen Bewegungen ab. In einem
Aktuelle Debatten in der deutschsprachigen Gentrifizierungsforschung
dritten Beitrag diskutiert Matthias Bernt den Erklärungsgehalt der rent gapTheorie, die aus seiner Sicht zwar ein wichtiges Instrument zum Verständnis immobilien-ökonomischer Logiken bietet, aber dennoch auf einem zu stark vereinfachten Konzept von Wohnungs- und Immobilienmärkten basiert. Er plädiert für eine Erweiterung um institutionelle Kontexte, zu denen er vor allem Rahmensetzungen der Stadterneuerungs- und Wohnungspolitik zählt. Zur Unterscheidung von der rent gap schlägt er dafür die Bezeichnung »Kommodifizierungslücke« vor. Richard Bůžek und Michael Mießner gehen, unter Rückgriff auf die rent gap-Theorie, der Frage nach, ob es im Verlauf der aktuellen Gentrifizierungsphase zu einer Ausbreitung immobilienwirtschaftlicher Aufwertungslogiken auf Mittelstädte kommt. Dafür untersuchen sie die brandenburgischen Mittelstädte Fürstenwalde/Spree und Neuruppin und zeigen auf, welchen Einfluss lokale Politiken und Rahmenbedingungen für die Herausbildung lokaler rent gaps haben. Der Beitrag von Márton Czirfusz betrachtet – ebenfalls aus der Perspektive der rent gap-Theorie, die Projektentwicklung in einem Budapester Neubauquartier. Er untersucht, wie immobilien-wirtschaftliche Akteur*innen im Verlauf des Projektes ihre Strategien an aktuelle Entwicklungen anpassen, um Wertsteigerungen zu realisieren, und wie in diesem Prozess unterschiedliche Grundrenten im Quartier erzeugt werden. Der zweite Teil des Bandes versammelt Aufsätze, die sich mit methodischen Herausforderungen der Gentrifizierungsforschung auseinandersetzen. Fabian Beran und Henning Nuissl erläutern aufbauend auf ihrem Forschungsprojekt zu Verdrängungsprozessen in Berlin, wie Verdrängung methodisch operationalisiert und damit empirisch erhoben werden kann. Mit dem Frankfurter Stadtteil Gallus stellt Sebastian Schipper eine Studie zu einem Quartier vor, in dem Verdrängungsprozesse zu erwarten sind. In der Arbeit erprobt er ein Forschungsdesign aus quantitativ-statistischer Befragung und qualitativen Leitfadeninterviews, bei dem die Verdrängung nicht ex post, sondern im Prozess untersucht werden soll. Jan Üblacker macht in seinem Beitrag auf die Beziehungen zwischen der Gentrifizierung und dem in der sozialökologischen Stadtforschung entwickelten Konzept der Nachbarschaftseffekte aufmerksam. Dabei spricht aus seiner Sicht einiges dafür, von einem »Gentrifizierungseffekt« zu sprechen, der auf ähnlichen selbstverstärkenden Logiken basiert, wie Nachbarschaftseffekte. Anhand einer langfristig angelegten Panelstudie zur Gentrifizierung in zwei Kölner Quartieren zeigt Jörg Blasius unterschiedliche Möglichkeiten der empirischen Analyse von Zu-
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zugsmotiven und Lebensstilmerkmalen auf. Dabei macht er Potentiale und Grenzen dieses methodischen Ansatzes deutlich. Der dritte Teil beschäftigt sich mit Herausforderungen in der politischplanerischen Praxis. Justin Kadi stellt am Beispiel der Stadt Wien den Einfluss unterschiedlicher Instrumente der Stadt- und Wohnungspolitik auf Gentrifizierung vor. Während Wien häufig als Stadt mit einer traditionell mieter*innenfreundlichen Stadtpolitik gilt, zeigt der Beitrag, dass auch in Wien Neoliberalisierungsprozesse seit den 1990er-Jahren festzustellen sind, die Verdrängung auf dem Wiener Wohnungsmarkt ermöglicht haben. Weit stärker wurde in der letzten Dekade die Gentrifizierung in Berlin beobachtet. Wie sich diese Prozesse in der Spandauer Vorstadt nach der ersten Aufwertungswelle der 1990er-Jahre fortgesetzt haben, untersucht Christian Krajewski. Anhand empirischer Daten beschreibt er den baulichen, sozialen, symbolischen und funktionalen Wandel sowie den Einfluss stadtpolitischer Rahmensetzungen. Wie eine stärker auf Gemeinwohl ausgerichtete Stadtentwicklungspolitik aussehen kann, diskutiert Florian Schmidt. Er entwirft eine Strategie der »Communalisierung«, die anhand der konsequenten Anwendung sozialer Erhaltungssatzungen und des kommunalen Vorkaufsrechtes einen Eigentumstransfer der Immobilienwirtschaft anstrebt. An die Stelle gewinnorientierter Eigentümer*innen sollen gemeinwohlorientierte Genossenschaften, Stiftungen und kommunale Träger treten. Verdrängung aus der Perspektiven »von unten« untersucht Moritz Rinn in seinem Beitrag über Hamburg Altona. Während inzwischen verstärkt Widerstände und Proteste gegen Gentrifizierung erforscht werden, fragt er danach, wann und unter welchen Umständen Widerstände ausbleiben. Auf einen besonderen politischen Aspekt der Gentrifizierung macht Gisela Mackenroth aufmerksam. Am Beispiel des von Migration geprägten Stuttgarter Stadtteils Hallschlag untersucht sie, wie unter den von Mieterhöhung betroffenen Bewohner*innen rechte Ressentiments zunehmen, die einer Solidarisierung von Mieter*innen entgegenstehen. Der vierte Teil des Bandes enthält Beiträge, die unterschiedliche Spielarten und Dimensionen der Gentrifizierung betrachten und somit die Vielfalt und Mehrdimensionalität der Gentrifizierung deutlich machen. Annegret Haase und Anika Schmidt bieten einen Überblick über Forschungen zur »Grünen Gentrifizierung«, die in der jüngsten Dekade an Relevanz gewonnen hat. Deutlich wird dabei, dass eine nachhaltige Stadtentwicklung zu dem Dilemma führen kann, dass »grüne Aufwertungen« zu Verdrängung von Bewohner*innen führen können, die eigentlich vom ökologischen Umbau der Städ-
Aktuelle Debatten in der deutschsprachigen Gentrifizierungsforschung
te profitieren sollten. Empirische Daten deuten darauf hin, dass die Gentrifizierung auch in Mitteleuropa im ländlichen Raum angekommen ist. Michael Mießner und Matthias Naumann diskutieren daher, welche Erkenntnisse aus den Forschungen zur rural gentrification auf die Situation im deutschsprachigen Raum übertragbar sein könnten. Jan Glatter macht in seinem Beitrag auf die besondere Rolle der symbolischen Dimension der Gentrifizierung aufmerksam. Ausgehend von einem Überblick über Forschungen zur Symbolik der Aufwertung plädiert er dafür, die symbolische Dimension als sinnlich wahrnehmbare Erscheinungsform und als strukturelle Komponente der Gentrifizierung anzusehen. Die Arbeiten in diesem Band zeigen, dass sich Gentrifizierung in immer neuen Facetten ausprägt und mit der zugleich entstehenden Anspannung der Wohnungsmärkte zu neuen Herausforderungen für Forschung und Praxis führt. Wir hoffen, dass der Sammelband dazu beiträgt, den Blick auf diese aktuellen Phänomene zu richten und darauf aufbauend Lösungsansätze zu entwickeln, mit denen die negativen Folgen von Gentrifizierung, wie Verdrängung, verhindert oder zumindest entschärft werden können.
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Danksagung
Wir möchten uns bei den Personen bedanken, ohne deren Unterstützung dieser Sammelband nicht möglich gewesen wäre. Bei den Autorinnen und Autoren der Beiträge bedanken wir uns, dass sie sich auf zahlreiche Überarbeitungen eingelassen haben. Für die genaue und kritische Durchsicht des Buchmanuskriptes möchten wir Rosa Graschitz danken. Fabian Beran, Felicitas Kübler, Matthias Naumann, Sebastian Schipper und Jan Üblacker danken wir für die hilfreichen Kommentare zu früheren Versionen dieser Einleitung und des Überblickes über die historische Entwicklung der Gentrifizierung im deutschsprachigen Raum. Der transcript-Verlag hat unser Publikationsvorhaben sehr professionell begleitet und für einen reibungslosen Ablauf der Publikation gesorgt. Schließlich bedanken wir uns beim Forschungsrat und dem Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Klagenfurt für die Beteiligung an den Publikationskosten.
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Gentrifizierung und ihre Erforschung im deutschsprachigen Raum Historische Entwicklungen Jan Glatter und Michael Mießner
Die aktuelle »Welle« der Gentrifizierung hat erhebliche Folgen für die Stadtentwicklung und die Bewohner*innen der Städte. Auch wenn die jüngeren Gentrifizierungsprozesse sehr ausgeprägt sind und sich in vielen Städten Mitteleuropas ausbreiten, so ist Gentrifizierung dennoch kein neues Phänomen. Um diese historische Entwicklung einzuordnen, verfolgt der Beitrag das Ziel, einen Überblick über die mehr als fünfzigjährige Geschichte der Gentrifizierung und dessen Erforschung im deutschsprachigen Raum zu geben. Die nachfolgende Rekonstruktion der historischen Entwicklung stützt sich im Wesentlichen auf wissenschaftliche Studien zur Gentrifizierung in der Bundesrepublik Deutschland, Österreich und der Schweiz, die Gentrifizierung empirisch nachgewiesen haben. Es ist allerdings davon auszugehen, dass im deutschsprachigen Raum über die genannten Beispiele hinaus weit mehr Quartiere von Gentrifizierungsprozessen betroffen sind. In Anlehnung an Erkenntnisse zur historischen Entwicklung der Gentrifizierung in den USA und Großbritannien (u.a. Hackworth/Smith 2001; Lees/Slater/Wyly 2008) lassen sich auch für den deutschsprachigen Raum vier historische Phasen der Gentrifizierung unterscheiden, bei denen auf eine Phase mit besonderer Aufwertungsintensität eine Zeit mit geringerem Aufwertungsdruck folgt (vgl. Abbildung 1). Diese mehrphasige Geschichte verdeutlicht Zusammenhänge zwischen Gentrifizierung und immobilienwirtschaftlichen Konjunkturzyklen und verweist auf die Bedeutung sich ändernder stadtpolitischer Strategien und gesellschaftlicher Kontexte. Die vier historischen Phasen der Gentrifizierung sind:
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1. Die frühe Phase der Gentrifizierung in der westdeutschen Stadtentwicklung von Mitte der 1960er- bis Mitte der 1970er-Jahre. 2. Die Phase der Etablierung von Gentrifizierungsprozessen in westdeutschen Großstädten von Ende der 1970er- bis Ende der 1980er-Jahre. 3. Die Phase einer beginnenden Gentrifizierung in den ostdeutschen Städten des wiedervereinten Deutschlands, während in den westdeutschen Städten die Gentrifizierung keine neue Dynamik aufnahm. 4. Ab Mitte der 2000er-Jahre eine Phase zunehmender Gentrifizierung in west- und ostdeutschen Städten sowie in Österreich und der Schweiz1 .
Abbildung 1: Historische Phasen der Gentrifizierung im deutschsprachigen Raum
Quelle: Eigener Entwurf (Abkürzung der Städte: HH – Hamburg, M – München, B – Berlin, DD – Dresden, L – Leipzig)
Erste Phase: Frühe Gentrifizierung in westdeutschen Großstädten Erste Aufwertungsprozesse, die aus heutiger Sicht als Gentrifizierung gedeutet werden können, lassen sich für den deutschsprachigen Raum seit Mitte der 1960er-Jahre beobachten.
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Nach unseren Recherchen ist Gentrifizierung in Österreich und der Schweiz erst nach 1995 umfassender erforscht worden. Gentrifizierung war dort bis dahin nur schwach ausgeprägt (Leuthold Baumann 2006; Franz 2011).
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Ursächlich dafür sind stadtstrukturelle, wohnungspolitische und gesellschaftliche Entwicklungen. Durch den Wiederaufbau der Innenstädte und den wirtschaftlichen Wachstumsschub ab Mitte der 1950er-Jahre (Altvater/Hübner 1988), der sich insbesondere in den Großstädten niederschlug, waren die Städte bald wieder durch Bevölkerungszuzug gekennzeichnet (Bundesregierung 1963). Eine wichtige wohnungspolitische Rahmensetzung war die ab 1960 eingeleitete Aufhebung der Wohnungszwangswirtschaft, in deren Folgen die Altbaumieten in mehreren Etappen angehoben werden konnten (Harlander 1999, 310). Nach einer Phase des Stadtumbaus mittels Kahlschlagsanierungen setzte in den 1960er-Jahren langsam ein Bewusstseinswandel in der Bewertung von Altbauquartieren ein. Der Wandel begann mit Protesten gegen die Vernichtung historischer Bauensembles durch Flächensanierung, die Verdrängung und Zerstörung gewachsener Sozialstrukturen und Milieus sowie die einsetzende Immobilienspekulation und dem Verlust preisgünstiger Wohnungsbestände. Die Protestwelle stand im Zusammenhang mit der 1968er Studentenbewegung, einer allgemeinen Gesellschafts- und Kapitalismuskritik und kritischen Ansätzen in der Stadtsoziologie. Ausgehend von dieser Kritik kam es Anfang der 1970er-Jahre auf Initiative von Hardt-Waltherr Hämers in Berlin Charlottenburg (Klausenerplatz, Block 118) zur Entwicklung des ersten modellhaften Versuchs einer ›erhaltenden Sanierung‹. Die rechtliche Grundlage dafür bot das 1971 neu verabschiedete Städtebauförderungsgesetz (StBauFG). Erstmals waren Baumodernisierungs- und Abbruchgebiete ins Städtebaurecht aufgenommen worden. In dem Gesetz geregelt waren auch die Übernahme der unrentierlichen Kosten für Abriss, Entschädigung, Neuordnung sowie Mieterumsetzung durch die öffentliche Hand. Bis dahin hatten diese Kosten die Sanierungen blockiert. Das von Ruth Glass (1964) erstmals formulierte Konzept der Gentrifizierung war zu dieser Zeit aber weder in der deutschsprachigen Stadtforschung noch in der Öffentlichkeit bekannt, sodass der Begriff auch keine Verwendung fand. Dennoch finden sich für diese Zeit Prozesse des Quartierswandels, die mit der Gentrifizierung vergleichbar sind. Besonders gut untersucht sind Veränderungen in den Hamburger Stadtteilen Harvestehude, Winterhude und Eppendorf (Busse 1972; 1990; Kurr 2018). Da der Begriff der Gentrifizierung fehlte, benannte man die baulichen und sozialen Aufwertungen nach dem Ort ihres ersten Auftretens als »Pöseldorf-Effekt« (Busse 1990). In diese in der Nähe der Universität liegenden Gebiete zogen damals Studierende, Intel-
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lektuelle und junge Kreative. Zugleich erfolgten bauliche Aufwertungen, die wesentlich durch einen lokal engagierten Antiquitätenhändler initiiert wurden, der die ästhetischen Werte der historischen Bausubstanz erkannt hatte (Kurr 2018). Die Quartiere gerieten außerdem durch das Wachstum der City unter Aufwertungs- und Verdrängungsdruck. Als Reaktionen auf die Gentrifizierung traten bereits in dieser frühen Phase Formen des Protests und der planerischen Intervention auf. Als 1971 die Pläne für den Abriss eines Baublocks und die Neubebauung mit dem Pöseldorf-Center bekannt wurden, formierte sich eine Bürgerinitiative, die gegen »Planungstechnokratie und Spekulant*innen« protestierte. Das Center wurde letztlich gebaut, doch in einer Zeit, in der noch wesentliche Interventionsinstrumente der Planung fehlten, wurde zumindest eine »Milieuschutzfibel« für Harvestehude als Leitbild für die bauliche Gestaltung im Bestand und Neubau erstellt (ebd., 52). Vergleichbare Entwicklungen aus dieser Zeit sind zumindest noch für München Schwabing belegt (Egger 2013), für andere Quartiere können sie vermutet werden (u.a. in Berlin für Teile von Schöneberg und Charlottenburg).
Zweite Phase: Etablierung von Gentrifizierungsprozessen in westdeutschen Städten Ab der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre gewannen Aufwertungsprozesse innenstadtnaher Altbauquartiere wieder an Bedeutung. Nach der Wirtschaftskrise 1973/74 und angesichts zunehmender Staatsverschuldung suchte die öffentliche Hand nach neuen Wegen, um die umfangreichen Aufgaben der Wohnungsmodernisierung zu bewältigen. Aus diesem Grund wurden staatliche Förderinstrumente und steuerliche Anreize geschaffen, mit denen privates Kapital für die Wohnungsmodernisierung mobilisiert werden sollte. Diese staatlichen Anreize wurden durch zinsgünstige Kredite privater Banken und Sparkassen unterstützt. Zugleich kam es zu einer Wiederentdeckung des innenstadtnahen Wohnens in Altbauquartieren, die von einem demographischen Effekt überlagert wurde: Die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer, der zwischen 1955 und 1965 Geborenen, fragten als junge Haushaltsgründer*innen – insbesondere als Studierende – preiswerte und innenstadtnah gelegene Wohnungen nach (Mankiw/Weil 1989). Bis Anfang der 1980er-Jahre verliefen die Gentrifizierungsprozesse noch relativ verhalten, zogen dann aber deutlich an. In vielen westdeutschen Großstädten wurden Gentrifizierungsprozesse beobachtet, etwa in Berlin (Schöneberg),
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Hamburg (Eppendorf, St. Pauli,), München (Schwabing), Köln (Südstadt, Severinsviertel, Belgisches Viertel), Frankfurt a.M. (Westend), Stuttgart (Heusteigviertel) und Düsseldorf (Oberkassel) (vgl. Blasius/Dangschat 1990). Mit der Intensivierung der Aufwertungen und der stärkeren Beteiligung der privaten Akteur*innen prägte sich die ›Janusköpfigkeit‹ der Gentrifizierung deutlicher heraus. Denn einerseits war aus städtebaulicher Sicht die Aufwertung innenstadtnaher Wohnquartiere erwünscht, doch andererseits zeigte sich, dass Aufwertungsprozesse zu sozialen Ungerechtigkeiten führen können, etwa wenn alteingesessene Bewohner*innen aus ihren Wohngebieten verdrängt werden oder aufgrund der Aufwertung der Wohnlage höhere Mieten in Kauf nehmen müssen (Kovács/Wießner 1999). Die Aufwertungsprozesse wurden daher zunehmend kritisch bewertet. Aus diesem Grund formierten sich in vielen Städten soziale Bewegungen und Initiativen, die für den Erhalt der historischen Bausubstanz sowie gegen Verdrängung, Aufwertung und Spekulation protestierten (Breckner 1985). In Reaktion auf die Proteste wurden neue Instrumente der partizipatorischen Planung entwickelt und intermediäre Akteur*innen als Vermittler*innen zwischen Eigentümer*innen, Kommune und Mieter*innen eingesetzt (Häußermann/Holm/Zunzer 2002, 24). Ab Anfang der 1980er-Jahre wuchs auch die Aufmerksamkeit der Forschung für die Aufwertungsprozesse und deren Folgen. In einer der ersten Studien untersuchten Ecker/Schmals (1981) die Folgen der Ansiedlung des Europäischen Patentamtes auf das Gärtnerplatzviertel in München. Die explizite Erforschung von Gentrifizierungsprozessen begann im deutschsprachigen Raum 1987 mit einem empirischen Projekt der Stadtsoziologen Jürgen Friedrichs und Jens Dangschat in Hamburg. Untersucht wurden die Aufwertungsprozesse in drei Hamburger Quartieren mit unterschiedlichem Aufwertungsgrad: Winterhude, St. Georg und St. Pauli (Dangschat/Friedrichs 1988). In einem Grundlagenartikel bereitete Dangschat (1988) den internationalen Forschungsstand zur Gentrifizierung auf und machte diesen somit für das wissenschaftliche Publikum im deutschsprachigen Raum zugänglich. Es folgte eine intensive Forschungstätigkeit mit weiteren Untersuchungen in Hamburg, Köln, München, Frankfurt a.M. und anderen Großstädten (vgl. Blasius/Dangschat 1990). Dabei wurde früh der Kontakt zum praktischen Feld von Politik und Planung gesucht (vgl. Blasius 2008). Gentrifizierung wurde dabei zumeist als steuerbares Phänomen interpretiert und im Zusammenhang mit Instrumenten der erhaltenden Stadterneuerung und des Mieter*innenschutzes diskutiert. Wichtige Forschungsergebnisse
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über diese Phase der Gentrifizierung in deutschen Städten wurden in drei Sammelbänden publiziert (Blasius/Dangschat 1990; Dangschat/Blasius 1994; Friedrichs/Kecskes 1996) und in einer Standortbestimmung kritisch diskutiert (Friedrichs 1996). Zentrale Forschungsthemen waren in dieser Phase die sozialstatistische Definition von Akteur*innen der Gentrifizierung, die Zusammenhänge zwischen Lebensstilen und Gentrifizierung, Formen und Ausmaß der Verdrängung, Verlaufsmodelle sowie die Diskussion von Erklärungskonzepten. Insbesondere der Sammelband von Friedrichs/Kecskes (1996) markiert für die Gentrifizierungsforschung im deutschsprachigen Raum den Höhepunkt eines am kritischen Rationalismus orientierten Forschungsparadigmas, das Hypothesen und Modelle vor allem anhand quantitativer Methoden prüft (Diller 2014).
Dritte Phase: Beginnende Gentrifizierung in Ostdeutschland und stagnierende Gentrifizierungstendenzen in westdeutschen Städten Die Wiedervereinigung und damit einhergehende Integration der DDRWirtschaft in das marktwirtschaftliche System der Bundesrepublik Deutschland hatten – wie in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen auch – zunächst unterschiedliche Trends der Stadtentwicklung in Ost- und Westdeutschland zur Folge. Deren Bedeutung für die Gentrifizierungsprozesse stellen wir hier in zwei Abschnitten dar.
Gentrifizierung in Berlin und ostdeutschen Städten Nach der politischen Wende und der Wiedervereinigung rückten die ostdeutschen Städte und Ost-Berlin in den Fokus der Gentrifizierungsforschung. Grund dafür war der umfassende gesellschaftliche Transformationsprozess in Wirtschaft, Politik, Verwaltung, Sozialstrukturen sowie im Boden- und Wohnungsmarkt und dessen erwartete Folgen für die Stadtentwicklung. In der Annahme einer schnellen baulichen Aufwertung der Altbauquartiere und zunehmender sozioökonomischer Unterschiede wurde von vielen Autor*innen eine sich im Zeitraffertempo vollziehende, nachholende Gentrifizierung und Verdrängung alteingesessener Bewohner*innen prognostiziert (u.a. Friedrichs/Kahl 1991). Tatsächlich waren in einigen Gründerzeitquartieren ab Anfang der 1990er-Jahre erste gentrifizierungs-typische Erscheinungen erkennbar: hoher Investitions- und Spekulationsdruck, zum Teil rabiate
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Entmietungsmethoden, der Zuzug von Studierenden sowie die Ansiedlung neuer Geschäfte, Gastronomiebetriebe und Büros (z.B. Krajewski 2006; Glatter 2007). Bauliche und soziale Aufwertungsprozesse traten aber bis Mitte der 1990er-Jahre nicht ein, da mehrere Einflussfaktoren einer sofortigen immobilienwirtschaftlichen Aufwertung entgegenstanden: die rechtlich und administrativ zeitaufwendige Restitution, die Regelungen der Mietanpassung, die geringere soziale Differenzierung der Bevölkerung, die durch Abwanderung zurückgehende Wohnungsnachfrage, das schlechte Image vieler ostdeutscher Altbauquartiere sowie die allgemein hohe Neubautätigkeit in den Städten und deren Umland. Mit der fortschreitenden Klärung der Eigentumsverhältnisse kam es ab Mitte der 1990er-Jahre zu vermehrten Grundstücksverkäufen. Im Ergebnis führte dies zu einem umfangreichen Eigentums- und Vermögenstransfer nach Westdeutschland (Häußermann/Holm/Zunzer 2002; Glatter 2007). Gelangten die Grundstücke und Gebäude in die Hände finanzkräftiger Investor*innen, kam es relativ schnell zur Modernisierung beziehungsweise zum Neubau. Aus diesem Grund zog die Bautätigkeit in den Gründerzeitgebieten ab Mitte der 1990er-Jahre deutlich an und ging schon bald in einen Bauboom über. Trotz umfangreicher baulicher Aufwertungen konnte die Forschung jedoch bis in die zweite Hälfte der 1990er-Jahre in ostdeutschen Großstädten wie Magdeburg, Erfurt oder Leipzig nur sehr geringe Ansätze einer sozialen Aufwertung nachweisen (z.B. Harth/Herlyn/Scheller 1996; Wiest 1997). Es zogen nur wenige ›klassische‹ Akteur*innen der Gentrifizierung in innenstadtnahe Altbauquartiere. Der in ostdeutschen Städten beobachtete ›unvollständige‹ Aufwertungsprozess wurde als ›gespaltene Gentrifizierung‹ bezeichnet: Gebäudesanierung und Infrastrukturwandel führten zwar zu einer baulichen und kommerziellen Aufwertung, die soziale Aufwertung, im Sinne eines Austausches einkommensschwacher durch einkommensstarke Bevölkerungsgruppen blieb aber bis Mitte der 1990er begrenzt (Harth/Herlyn/Scheller 1996). Erst ab der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre zeigten sich deutliche Anzeichen, dass nach den umfassenden Sanierungen verstärkt Einwohner*innen mit überdurchschnittlichen Einkommen in die Altbauquartiere zogen (Holm 2006; Glatter/Wiest 2008). Ab Ende der 1990er-Jahre kam es dann in Ostdeutschland zu einem Wandel gleich mehrerer Strukturmerkmale der Stadtentwicklung: einer Zunahme des Wohnungsleerstandes, einem Anstieg der Wohnmobilität und dem Auslaufen der besonderen Förderbedingungen für Investitionen in Ostdeutschland. In einer Reihe von Studien wurden die Auswirkungen der neu ent-
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standenen Situation auf die Gentrifizierung untersucht (zur Übersicht Holm 2020). Mit der Herausbildung von Wohnungsleerstand ging eine der wichtigsten Rahmenbedingungen der Gentrifizierung verloren: die Wohnungsknappheit. Eine Folge war der Rückgang der Spitzenmieten und die Angleichung der Mietpreise der verschiedenen Wohnungsmarktsegmente. Zur gleichen Zeit ließ die bis dahin bestehende Dynamik der Modernisierungstätigkeit deutlich nach, denn die Gewinnerwartungen der Investor*innen waren aufgrund der rückläufigen Mietpreise und der Reduzierung der Förderbedingungen für Ostdeutschland gesunken. Die neuen Rahmenbedingungen hatten dazu geführt, dass die baulichen, sozialen, kommerziellen und symbolischen Aufwertungen nur in einigen wenigen Stadtteilen fortbestanden, das aber mit deutlich geringerer Dynamik und geringerem Verdrängungsdruck. In der Forschungsliteratur wurden diese Entwicklungen als ›sanfte Gentrifizierung‹ (Hill/Wiest 2004; Glatter 2007) beziehungsweise ›gebremste Gentrifizierung‹ (Zischner 2003) bezeichnet.
Gentrifizierung in westdeutschen Städten? Während sich die wissenschaftliche Aufmerksamkeit der Gentrifizierungsforschung auf die ostdeutschen Städte verlagerte, schwächte sich auch die Intensität von Gentrifizierungsprozessen in westdeutschen Städten ab. So zeigt das Beispiel Frankfurt a.M., dass die rasante Entwicklung auf dem Immobilienmarkt in den 1980er-Jahren und nach der Wende zu spekulativen Investitionen und steigenden Grundstückspreisen geführt hatte, die Erwartungen in den Folgejahren jedoch nicht erfüllt werden konnten (Schipper 2013, 192). Ähnliche Beobachtungen gibt es zur Entwicklung in München (Landeshauptstadt München 2012, 17). Für einen Rückgang der Intensität der Gentrifizierung in den 1990erJahren spricht auch die demographische Entwicklung. Die sogenannten »Babyboomer«, die in den 1980er-Jahren noch wesentlichen Anteil an einem Nachfrageschub hatten, kamen in den 1990er-Jahren in das Familienbildungsalter und wurden nun Träger*innen einer in westdeutschen Städten ausgeprägten neuen Suburbanisierungswelle. Die neue Generation der Haushaltsgründer*innen war hingegen quantitativ weniger bedeutsam. Dafür nahmen die ostdeutschen und internationalen Zuwanderungen in westdeutsche Städte deutlich zu, Mietsteigerungen waren in dieser Zeit daher auch ohne umfangreiche Modernisierungen umsetzbar. Im Gegenzug wanderten Mittelschichthaushalte aus Westdeutschland nach Ostdeutschland und Ber-
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lin ab, wo sich insbesondere in den neu aufzubauenden Verwaltungen und Hochschulen attraktive berufliche Karrierechancen ergaben. Ein weiterer Grund für ein Nachlassen des Aufwertungsdruckes kann darin liegen, dass sich das Investitionsinteresse auf die neuen Bundesländer verlagerte. Für viele ostdeutsche Altbauquartiere lassen sich umfangreiche Investitionen westdeutscher Kapitalanleger nachweisen (BMVBS/BBR 2007). Diese wurden vor allem durch lukrative Sonderabschreibungen und die Aussicht auf steigende Mietniveaus angelockt. Erst als Ende der 1990er-Jahre der Investitionsboom in ostdeutschen Städten abbrach, richtete sich das Investitionsinteresse wieder stärker auf westdeutsche Regionen.
Vierte Phase: Ausweitung der Gentrifizierung in Zeiten der Finanzialisierung Nachdem zu Beginn des Millenniums Gentrifizierungsprozesse abzuflauen schienen, setzen diese ab Mitte der 2000er-Jahre erneut ein. Die Ausweitung von Gentrifizierung in den Städten resultiert aus einer Reihe von Rahmenbedingungen der Stadt- und Quartiersentwicklung, die in vielen Städten zu einer Anspannung der Wohnungsmärkte, steigenden Mieten und Verdrängungsprozessen führten. Erstens kam es zu einem steigenden Investitionsinteresse privater Unternehmen in die Wohnungs- und Immobilienmärkte in Deutschland, Österreich und der Schweiz (vgl. Heeg 2011; Springler/Wöhl 2019). Nachdem im Jahr 2000 die Dotcom-Blase geplatzt war, verlagerten sich die Investitionen aus dem Aktien- in den Immobilienmarkt. Als die Immobilienmärkte mit den größten Investitionsanreizen (u.a. USA, Großbritannien, Spanien) erschlossen waren, richtete sich die Aufmerksamkeit auf die als stabil und werthaltig geltenden Wohnungsmärkte in Mitteleuropa. Der Verkauf öffentlicher Wohnungsbestände war für viele global agierende und am Finanzmarkt orientierte Investmentgesellschaften der Einstieg in den bis dahin vor allem regional organisierten Wohnungsmarkt. Die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 steigerte das Anlageinteresse weiter. Durch Aufkäufe, Transaktionen und Privatisierungen sind neue, vor allem rendite-orientierte Anleger*innen in den Wohnungsmarkt eingestiegen – darunter am Aktienmarkt gelistete Wohnungsunternehmen, Investmentgesellschaften, Fonds, Renten- und Krankenkassen sowie überregional agierende Bauunternehmen. Allen diesen Akteur*innen ist gemein, dass sie stärker an den Finanzmarkt gekoppelt sind
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und ihre Unternehmensstrategie sehr stark auf Rendite- und Wertsteigerung ausrichten. Diese Finanzialisierung der Produktion und Bewirtschaftung von Wohnungen führte zu einem erhöhten Anlage- und Renditedruck im Bereich der Wohnimmobilien – und damit einhergehend zu steigenden Mieten (Heeg 2011; 2013). Zweitens kam es ab Mitte der 2000er-Jahre in vielen Großstädten wieder zu Bevölkerungsgewinnen, die sich in den 2010er-Jahren noch steigerten und auch kleinere Großstädte erreichte. Die Zuwanderung von Studierenden und jungen Auszubildenden spielte bei diesem Prozess der demographischen Reurbanisierung eine besondere Rolle (Brake/Herfert 2012). Diese Zunahme der Wohnungsnachfrage ging über viele Jahre mit einer nur relativ geringen Neubautätigkeit einher und führte in vielen Städten zu einer zunehmenden Verknappung des Wohnungsangebotes, sodass Mietpreissteigerungen wieder leichter durchsetzbar waren. Drittens erfuhren die seit den 1980er-Jahren entwickelten Strategien und Instrumente zur Wiederbelebung der Städte eine immer größere Verbreitung und entfalteten die von ihnen erhofften Wirkungen. Diese ›postmoderne Reurbanisierungspolitik‹ (Prigge 2004; Harlander 2005) wird als besonderer Ausdruck des politischen Umgangs mit der Transformation von der industriellen Stadt zur Dienstleistungsstadt gedeutet. Politik und Planung verfügen inzwischen über ein breites Spektrum an Entwicklungsstrategien, mit denen die Attraktivität von Städten und benachteiligten Quartieren für Investitionen und Bevölkerungszuzüge gesteigert werden kann und setzen diese auch ein: So werden unter anderem große Events organisiert (u.a. Weltausstellungen, Kulturhauptstadt), Programme der Stadterneuerung eingeführt (u.a. Sanierungsgebiete, Soziale Stadt, Europäische Strukturfonds), Brachflächen revitalisiert (u.a. Bahngelände, Hafenareale) oder Leerstände aktiv gemanagt (u.a. mittels Raumpionieren, Wächterhäusern). Zentrales Element einer politisch initiierten Reurbanisierung ist die gezielte Förderung der Kreativwirtschaft. Diese Strategie geht unter anderem auf die Thesen des amerikanischen Stadtforschers Richard Florida zurück und wird als »Floridaisierung der Stadtpolitik« bezeichnet (Steets 2011). Viertens wurden spätestens Mitte der 2000er-Jahre die Folgen einer dreißigjährigen Phase der Deregulierung der Wohnungs- und Stadterneuerungspolitik deutlich sichtbar (vgl. Holm 2009; Sautter 2009). Die Aufhebung der Wohnungsgemeinnützigkeit, die Reduzierung des sozialen Wohnungsbaus zugunsten der Subjektförderung, die Privatisierung öffentlicher Wohnungsbestände und Liegenschaften, die zunehmende Orientierung auf das Wohn-
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eigentum sowie die Aufhebung sozialer Erhaltungssatzungen und Mietobergrenzen in ehemaligen Sanierungsgebieten ermöglichten eine neue Runde der Quartiersaufwertungen und Mietpreissteigerungen. Der angesichts dieser Entwicklungen einsetzende Aufwertungsdruck hatte in vielen Städten Gentrifizierungsprozesse zur Folge. Viele Quartiere, die bereits in den 1980er- und 1990er-Jahren Aufwertungsprozesse verzeichneten, erfuhren eine erneute Phase der Gentrifizierung. Beispiele dafür sind in Hamburg St. Pauli und das Schanzenviertel (u.a. Böhmer 2013; Pohl/Wischmann 2014), in Köln die Stadtteile Nippes, Belgisches Viertel und Südstadt (u.a. Wallasch 2016), in München die Stadtteile Schwabing und Maxvorstadt (u.a. Landeshauptstadt München 2017), in Berlin Kreuzberg und der Prenzlauer Berg (u.a. Holm 2016), in Bern das Lorraine-Quartier (u.a. Stadt Bern 2007) sowie das Brunnenviertel und der Spittelberg in Wien (u.a. Kadi/Verlič 2019). Wohngebäude werden nochmals, aber aufwendiger saniert (u.a. mittels Dachgeschossausbau, Einbau von Liften, aufwendige Küchen, Sonderausstattungen) und hochpreisige Neubauareale neu errichtet (Holm 2010a; 2011; Krajewski 2013). Diese Modernisierungswelle läuft aber weniger räumlich konzentriert und über einen längeren Zeitraum ab. Mit der neu einsetzenden Aufwertungswelle werden zudem neue Quartiere von der Gentrifizierung erfasst. Beispiele dafür sind Köln Ehrenfeld (Knörzer 2019), Düsseldorf Flingern (Klein 2017), mehrere Quartiere in Berlin Neukölln (Krajewski 2013; Holm 2016), Leipzig Plagwitz (Rink 2015), die Züricher Stadtteile Seefeld und West (Dolder 2010) sowie das Karmeliterviertel in Wien (Huber 2013). Es gibt auch erste Hinweise, dass es zu einer Ausbreitung von Gentrifizierungsprozesse auf kleinere Universitätsstädte (Mießner 2021) sowie auf Klein- und Mittelstädte in Metropolregionen – wie beispielsweise Lüneburg (Guder 2013) oder Neuruppin (Bůžek/Mießner 2021; → Bůžek/Mießner) – und sogar ländliche Räume (Lier 2012; Reichert-Schick 2016) kommt. In der neuen Phase der Gentrifizierung gewinnen Neubauten eine besondere Bedeutung. Zwar gab es bereits in früheren Phasen der Gentrifizierung Zusammenhänge zwischen Neubauprojekten und Gentrifizierung, zum Beispiel der Neubau des Gruner und Jahr-Verlagshauses auf die südliche Neustadt in Hamburg (Herrmann 1996) oder das Gerling-Areal im Kölner Friesenviertel (Hardt 1996), doch handelte es sich dabei fast ausschließlich um größere Dienstleistungsstandorte mit Ausstrahlungseffekten auf die umliegenden Quartiere und noch nicht um Wohnungsbauvorhaben. Seit Mitte der 2000erJahre kommt es verstärkt zum Neubau hochpreisiger Wohnungen in Baulücken und auf Brachen bestehender Aufwertungsquartiere. Nach weitgehen-
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der Ausschöpfung der Modernisierungspotenziale und Dachausbaumöglichkeiten bieten diese Neubauten weitere Chancen für immobilienwirtschaftliche Investitionen in Wohnlagen mit In-Charakter (Holm 2011, 227). Beispiele für diese Neubau-Projekte sind der Marthashof und die Kastaniengärten in Berlin Prenzlauer Berg, die von Holm (2011, 218ff.) auch als Erscheinung einer Super-Gentrifizierung gedeutet werden. Zum anderen werden große exklusive Neubauprojekte für die Mittel- und Oberschicht auf zumeist innenstadtnah gelegenen Brachflächen geschaffen, die auf benachbarte Quartiere ausstrahlen (Schipper/Wiegand 2015; Krajewski 2017). Die Flächen dafür waren und sind aufgrund der Obsoleszenz früherer Nutzungsansprüche in vielen Städten zahlreich vorhanden: Industriebrachen, still gelegte Hafenareale, ehemalige Güterbahnhöfe, aufgegebene Kasernenstandorte, alte Schlachthöfe. Beispiele für diese Art der Umgestaltung von Brachflächen sind die Projekte Hafencity Hamburg, Rheinauhafen Köln, Medienhafen Düsseldorf, Kreativ-Kai Münster, MediaSpree in Berlin und das Europaviertel im Frankfurter Stadtteil Gallus (vgl. z.B. Schipper/Wiegand 2015; Krajewski 2017). Eine wachsende Bedeutung für die Inwertsetzung von Stadtteilen spielen auch Kultur und kreative Milieus. Dabei werden Kreative auch strategisch als Aufwertungsvorbereiter*innen instrumentalisiert. So wurden im Stadthafen Münster ab 1997 Flächen für Künstler*innen angeboten, das Gebiet inzwischen aber zum »Kreativ-Kai« mit Kino, Ateliers und Büros ausgebaut (Krajewski 2019). In Hamburg hatte man Künstler*innen das Frappant-Gebäude in Altona zur Verfügung gestellt, die Mietverträge aber gekündigt, als ein Investor den Gebäudekomplex umnutzen wollte (Twickel 2010). Im Essener Eltingviertel wurden im Jahr 2016 auf Initiative der Vonovia und in Kooperation mit der Stadt Essen Geschäfte in Ladenzeilen gratis an Künstler*innen vermietet, während das Gebiet zeitgleich saniert wurde (Üblacker/Schreiber 2018). Beispiele für gewerbliche Aufwertungen durch die Kreativszene lassen sich unter anderem im Hamburger Karoviertel (Modebranche) und im Belgischen Viertel in Köln (»Chic Belgique«) beobachten (Glatter/Sturm 2019). Mit dem rasanten Bedeutungsgewinn des Städtetourismus kommt es in einigen Quartieren zu einer Kopplung von Prozessen der Gentrifizierung und Touristifizierung (u.a. Füller/Michel 2014; Dirksmeier 2015). Waren lange Zeit die historischen Altstädte und Museumsquartiere die ausschließlichen Hotspots des Städtetourismus, werden jetzt auch innenstadtnahe Altbauquartiere mit der Erwartung an Authentizität und lokaler Lebenskultur erschlossen. Im individualisierten Tourismus spielen dabei Ferienwohnungen eine besondere Rolle, die mithilfe von Sharing-Plattformen eine große Beliebtheit und
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Verbreitung erfahren haben (u.a. Kadi/Plank/Seidl 2019; Smigiel u.a. 2020). Der Einzug des Tourismus in viele innenstadtnahe Quartiere hat durch die Umnutzung von Wohnraum zu Ferienapartments den ohnehin bestehenden Druck auf dem Wohnungsmarkt weiter gesteigert. Diese vierte Phase der Gentrifizierung ist Teil einer allgemeinen Krise der städtischen Wohnungsmärkte, die inzwischen zu einer neuen Politisierung der Wohnungsfrage und in vielen Städten zur Formierung von Protesten gegen Gentrifizierung und Verdrängung geführt hat. Die meisten Protestbewegungen sind neu entstanden, in einigen Fällen haben sich etablierte Protestmilieus re-mobilisiert (u.a. in Hamburg St. Pauli, Schanzenviertel, Berlin Kreuzberg, Leipzig Connewitz). Viele der Protestbewegungen beziehen sich auf das vom französischen Philosophen Henri Lefebvre (2016 [1968]) entwickelte Konzept des »Recht auf Stadt« (Holm/Gebhardt 2011) und sehen ihr Engagement gegen Gentrifizierung als Teil einer politischen Bewegung für mehr Partizipation und Gemeinwohl. Auch der Begriff der Gentrifizierung wird dabei offen ausgelegt und fungiert im politischen Kontext häufig als Sammelbegriff, der die unterschiedlichsten Ängste und Sorgen der Mieter*innen bündelt (Frank 2018, 209). Die neuen Initiativen sind innerhalb der Städte und überregional sehr gut vernetzt und organisieren so beispielsweise auch bundesweite Aktionstage. Auch in der Form verändern sich die Proteste: Die ausschließlich politisch argumentierenden Demonstrationsformen werden nun auch als kreative und witzige Happenings wie »Fettemieten-Partys« und »Monopoly-Spiele« genutzt, um auf die mit der Gentrifizierung einhergehenden Probleme aufmerksam zu machen. Die Mieter*innenbewegungen werden in vielen Regionen von einer neuen Generation junger Wissenschaftler*innen unterstützt, die sich als kritische und engagierte Forscher*innen für die Interessen der von Aufwertung betroffenen einsetzen, in lokale Debatten einbringen und sich mit ihren Forschungsarbeiten direkt an die Bewegungen wenden (u.a. Holm 2010b, Vollmer 2018). In Folge der (Re-)Politisierung der Wohnungsfrage haben Bund, Länder und Kommunen damit begonnen, wieder stärker in den Wohnungsmarkt einzugreifen, um die Mieter*innen vor zu hohen Mietbelastungen und Verdrängungen zu schützen, aber auch um das Angebot an bezahlbaren Wohnungen wieder auszubauen (vgl. Rink/Egner 2020). Zum Einsatz kommen Instrumente zur Mietenregulierung (u.a. Mietpreisbremse, Kappungsgrenzen, Mietspiegel), zur Förderung des sozialen Wohnungsbaus, zur Re-Kommunalisierung des Wohnungsbestandes, aber auch Instrumente, mit denen die Bautätigkeit insgesamt angekurbelt werden soll (Sonder-
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AfA Mietwohnungsbau, Baukindergeld). In unmittelbarer Reaktion auf Gentrifizierung setzen mehrere Großstädte wieder verstärkt auf soziale Erhaltungssatzungen (Milieuschutz), Umwandlungsverbote und kommunales Vorkaufsrecht – unter anderem München, Hamburg, Berlin, Frankfurt a.M. und Leipzig (vgl. u.a. Sarnow 2019; → Schmidt).
Fazit In den letzten fünfzig Jahren entwickelte sich die Gentrifizierung im deutschsprachigen Raum von einer lokalen Ausnahmeerscheinung zu einem in vielen Städten beobachtbaren Prozess, sodass Gentrifizierung mittlerweile als »Mainstreamphänomen« der Stadtentwicklung gilt (Holm 2014). Im internationalen Vergleich fügen sich die Entwicklungen im deutschsprachigen Raum – mit etwas zeitlicher Verzögerung – in die Tendenz einer »planetary gentrification« (Lees/Shin/López-Morales 2016), der globalen Ausbreitung von Gentrifizierung ein (Smith 2006). Im Verlauf dieser Entwicklung haben sich die gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen geändert, sodass aktuelle Aufwertungsprozesse nur noch bedingt mit denen früherer Jahre vergleichbar sind. Die aktuellen, seit Mitte der 2000er-Jahre ablaufenden Prozesse der Gentrifizierung unterscheiden sich von den vorhergehenden, insbesondere durch vier Entwicklungen. Sie sind erstens durch eine größere räumliche Ausbreitung sowohl innerhalb der Großstädte, aber auch in einer größeren Zahl und Bandbreite an Städten, von Großstädten bis zu Kleinstädten und sogar in ländliche Regionen gekennzeichnet. Zweitens hat sich Gentrifizierung mittlerweile als eine städtische und immobilienwirtschaftliche Strategie der Aufwertung von »Problemgebieten« und »Lagen mit Wertsteigerungspotenzial« entwickelt. Drittens ist eine Professionalisierung und Finanzialisierung der Immobilienökonomie und -bewirtschaftung festzustellen, die Verdrängungsprozesse auslöst. Viertens führt die Kopplung von Gentrifizierung mit anderen Stadtentwicklungsprozessen zu unterschiedlichen Erscheinungsformen der Gentrifizierung, wie zum Beispiel Touristifizierung oder Super-Gentrifizierung. Die Transformationen der Gentrifizierung und ihre Erforschung in den vergangenen fünf Dekaden haben neue Erscheinungsformen, Spielarten und treibende Faktoren von Gentrifizierung hervorgebracht, die in unterschiedliche politische Kontexte inklusive politischer Protestformen eingebunden sind. Mit zeitlicher Verzögerung hat auch im deutschsprachigen Raum
Gentrifizierung und ihre Erforschung im deutschsprachigen Raum
eine Beforschung der Gentrifizierung eingesetzt, die inzwischen zu einem multiparadigmatischen Forschungsfeld angewachsen ist. Insbesondere in der letzten Dekade nahm dabei die Bedeutung kritischer Perspektiven auf politische Rahmensetzungen, wirtschaftliche Logiken und negative Folgen von Verdrängungen deutlich zu. Die Gentrifizierungsforschung erweist sich damit als ein Feld, in dem neue wissenschaftliche Ansätze und Methoden Anwendung finden.
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Gentrifizierung und Finanzialisierung Bernd Belina
Der Zusammenhang zwischen Gentrifizierung und Finanzialisierung umfasst unterschiedliche Aspekte, die alle in den Verhältnissen und Entwicklungen des neoliberalen Kapitalismus angelegt sind. Verbunden sind die Prozesse der Finanzialisierung und der Gentrifizierung durch die kapitalistische Grundrente, die sich im Bodenpreis ausdrückt. Im Zuge der Finanzialisierung in ihrer aktuellen Ausprägung gewinnen »leistungslose Gewinne« aus und Spekulation mit Grund und Boden an Bedeutung, was zu tatsächlichen und möglichen Bodenpreissteigerungen führt, also zum Öffnen der Ertragswertlücke beziehungsweise rent gap, die von Neil Smith (1979) treffend als zentraler Treiber der Gentrifizierung bestimmt wurde. Im Beitrag wird der Zusammenhang zwischen Gentrifizierung und Finanzialisierung unter Bezugnahme auf Begriffe diskutiert, die der Geograph David Harvey geprägt hat. Erstens geht es im folgenden Abschnitt darum, wie die Bodenpreisentwicklung in deutschen Großstädten und damit die Finanzialisierung zu einer neuen Ordnung des Raumes und zu Gentrifizierung führt. Dabei wird Harveys (1978; 1982) Begriff der Urbanisierung des Kapitals genutzt, mit dem er beschreibt, dass Städte nur infolge gewaltiger Investitionen von Kapital in Immobilien und Grund und Boden existieren können. Weil ein Großteil dieser Investitionen mittels Krediten finanziert wird, die ihrerseits als fiktives Kapital zirkulieren, kann alles, was derzeit in Städten passiert, von der neoliberalen Finanzialisierung der letzten Jahrzehnte nicht unberührt bleiben. Zweitens bleiben andersherum auch das Finanzkapital und der Fortgang der Finanzialisierung nicht unberührt davon, wie sich die Urbanisierung des Kapitals entwickelt – schon allein deshalb, weil die Kredite, die durch die gebaute Umwelt hindurchzirkulieren, von so großer quantitativer Bedeutung sind. Spezifischer besteht der Zusammenhang beider Prozesse darin, dass in Zeiten magerer Profitaussichten in anderen Sphären Investitionen in den
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Bernd Belina
sekundären Kapitalkreislauf (Harvey 1978; 1982) und damit in Grund und Boden interessanter werden. Auf diese Weise können die zyklisch auftretenden Überakkumulationskrisen aber nur hinauszögert und in ihren Auswirkungen potenziert werden. In Abschnitt 2 diskutiere ich diesen Zusammenhang unter Bezugnahme auf den von Harvey (2017) jüngst vorgeschlagenen Begriff des Anti-Werts. Drittens betont Harvey auch die Folgen der Urbanisierung des Kapitals und der Finanzialisierung für den Alltag von Individuen und Haushalten. In Abschnitt 3 diskutiere ich, wie durch Schulden Renditedruck zum Sachzwang wird, der auf Mieter*innen aber auch Vermieter*innen lastet. Dies erläutere ich mit Harveys (2005b) Begriff der Akkumulation durch Enteignung. In den drei Abschnitten wird also der Zusammenhang zwischen Finanzialisierung und Gentrifizierung aus verschiedenen Perspektiven diskutiert, die unterschiedliche Aspekte ins Zentrum rücken lassen.
1.
Zum Einfluss der Finanzialisierung auf Gentrifizierung: finanzialisierte Raumordnung
Harvey (1982) betont die (raum-)ordnende Funktion der Zirkulation des (Finanz-)Kapitals durch die Grundrente. Investitionsentscheidungen und -ströme des Finanzkapitals organisieren, was in Städten wo der Fall sein kann. Diese finanzialisierte Raumordnung erfolgt über den Bodenpreis, in dem sich die zukünftig mit einem Grundstück zu erwirtschaftende Rendite ausdrückt. Revenue, die allein aus der Verpachtung des Bodens erwächst und dem*der Eigentümer*in zufällt, heißt Grundrente. Wird das Grundstück verkauft, wird die zukünftig erhoffte Grundrente kalkuliert und bestimmt als kapitalisierte Grundrente den Bodenpreis. Je mehr Geld laut Erwartung in Zukunft mit Verpachtung, Vermietung oder Nutzung dieses Grundstücks im Vergleich zu anderen Nutzungsarten zu erwirtschaften ist (in letzterem Fall handelt es sich um Differenzialrente), desto höher ist diese kapitalisierte Grundrente. Und je höher die Grundrentenerwartung, desto mehr verdrängen Nutzungen, die am jeweiligen Ort höhere Profite versprechen, alle Nutzungen, die nicht mithalten können – sofern die staatliche Planung und Regulierung dies erlaubt. Gentrifizierung ist damit ganz grundlegend Resultat dieser Ordnungsfunktion: Wo Luxuswohnen, -hotels und -geschäfte höhere Profite versprechen als Wohnraum für Einkommensschwache und Mittelschichten, dort werden letztere verdrängt.
Gentrifizierung und Finanzialisierung
Steigende Bodenpreise sind deshalb ein Hinweis auf Gentrifizierung. In Abbildung 1 ist die gesamte Geldsumme (in jeweiligen Preisen) dargestellt, die in den ersten beiden Jahrzehnten des Millenniums für Bodenkäufe in Deutschland ausgegeben wurde, und zwar für alle Grundstücke, für jene darunter, die baureifes Land waren, und davon wiederum jene, die in Wohngebieten lagen. Alle drei Kurven bleiben in den ersten zehn Jahren bei gewissen Schwankungen in etwa auf einem konstanten Niveau und gehen dann im zweiten Jahrzehnt steil nach oben. Wurden 2009 knapp 7,5 Mrd. Euro für Boden (insgesamt) ausgegeben, waren es 2019 über 18 Mrd. Euro – eine Steigerung um 142 %. Zum Vergleich stieg das Bruttoinlandsprodukt, ebenfalls in jeweiligen Preisen, im selben Zeitraum nur um 12 % (berechnet nach GENESISTabelle: 99911-0012).
Abbildung 1: Geldsumme, die in Deutschland in den Kauf von Boden investiert wurde in Mrd. Euro
Quelle: Eigene Darstellung, berechnet nach GENESIS-Tabelle: 61511-0006.
Der Anstieg der Bodenpreise geht mit einer klaren Geographie einher: Er ist in den großen Städten konzentriert, weshalb hier auch der stärkste Gentrifizierungsdruck zu verzeichnen ist. Während die durchschnittlichen Preise für baureifes Land vom ersten Quartal (Q1) 2000 mit 67 €/m2 über 119 €/m2 in 2009 (Q1) auf 213 €/m2 in 2020 (Q3) anstiegen, lagen die Werte in den Städ-
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ten mit über 500.000 Einwohner*innen, wie in Abbildung 2 dargestellt, bei 286 €/m2 (2000/Q1), 282 €/m2 (2009/Q1) respektive 1.586 €/m2 (2020/Q3).
Abbildung 2.: Durchschnittlicher Bodenpreis in €/m2 insgesamt und in Städten mit mehr als 500.000 Einwohner*innen.
Quelle: Eigene Darstellung, Datenquelle: GENESIS-Tabelle: 61511-0001.
Mit Blick auf diese Zahlen scheint sich seit 2010 auch für Deutschland die These von Harvey (1978; 2012) zu bestätigen, dass Kapital in Zeiten schlechter Profitaussichten vom »primären Kapitalkreislauf« der Warenproduktion in den »sekundären Kapitalkreislauf« der Immobilien umgeleitet wird, die Christophers (2011) für die Phase bis zur Krise 2007 für Großbritannien empirisch belegt hat. Nachdem in der Finanzkrise 2007/08 die Immobilienblasen unter anderem in den USA und in Spanien geplatzt sind, fließt Kapital nicht nur in gewaltigem Ausmaß in Immobilien und Infrastrukturen in China (Harvey 2017), sondern – in geringerem Umfang – auch in den Immobilienund damit Bodenmarkt in Deutschland. Dass dem so ist, ist Folge der Finanzialisierung. Möglich wurde dies unter anderem durch zwei Prozesse infolge politischer Entscheidungen. Auf der einen Seite wurde auf Bundesebene das Investieren in Immobilien und damit in Grund und Boden im Rahmen der vier Finanzmarktförderungsgesetze zwischen 1990 und 2002 deutlich erleich-
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tert (Dörry 2010, 354). Auf der anderen Seite wurden durch die Aufhebung der Wohngemeinnützigkeit 1990 (vgl. Kuhnert/Leps 2017) die nicht-profitorientierten Akteur*innen auf dem Wohnungsmarkt geschwächt oder zu einer stärkeren Profitorientierung angehalten beziehungsweise gezwungen. Schipper/Latocha (2018) haben für den Frankfurter Stadtteil Gallus detailliert nachgezeichnet, dass zwischen 1970 und 2016 der einst beeindruckend hohe Anteil des Wohnungsbestandes in gemeinnütziger beziehungsweise nicht gewinnorientierter Trägerschaft beinahe auf null geschrumpft ist. In deutschen Städten gab es vor allem drei Typen nicht-profitorientierter Akteur*innen: Werkswohnungen öffentlicher und privater Großbetriebe, öffentliche (v.a. kommunale) Wohnungsbauunternehmen sowie Wohnungsgenossenschaften. Die ersten wurden durch Wegfall der Gemeinnützigkeit uninteressant und abgestoßen, die zweiten wurden, wo sie nicht ebenfalls privatisiert wurden, zunehmend dazu gedrängt, Profite für die öffentlichen Haushalte zu erwirtschaften und letztere haben angesichts der steigenden Bodenpreise keine Chance an Grundstücke für den Neubau zu gelangen. Dabei sind Wohnungsgenossenschaften neben Bodenstiftungen und privatrechtlich organisierten Initiativen wie dem Mietshäusersyndikat die einzigen verbleibenden Akteur*innen, die nicht auf Grundrentensteigerung aus sind. Aufgrund ihrer Rechtsform, durch die im Identitätsprinzip die sonst antagonistischen Positionen von Vermieter*in und Mieter*in zusammenfallen, zeichnet sie das »Merkmal der Dekommodifizierung [des Wohnraums aus], d.h. der dauerhaften Überführung in eine nicht-warenförmige Bewirtschaftung« (Balmer/Bernet 2017, 263). Sie machen den politischen Slogan, dass Wohnen keine Ware sein darf, im Rahmen des Möglichen praktisch wahr. Allerdings hängen ihr Gebaren und damit Art und Umfang der Dekommodifizierung entscheidend vom Selbstverständnis ihrer Mitglieder und insbesondere ihres Vorstandes ab (vgl. bereits Novy 1983 sowie unter Bezug auf aktuelle Debatten Flores 2020). Joscha Metzger (i.E.) zeigt in seiner detaillierten Studie über große Hamburger Traditionsgenossenschaften, dass auch diese Rechtsform Möglichkeiten und in der aktuellen Lage Anreize bietet, das Wohnen wieder stärker zu kommodifizieren. Gleichwohl gelingt es den Wohnungsgenossenschaften in Frankfurt a.M. kostengünstigen Wohnraum auch in stark und zum Teil mehrfach durchgentrifizierten Stadtteilen anzubieten. Neben der Nicht-Profitorientierung und der Tatsache, dass die Bestände von Traditionsgenossenschaften seit Langem abbezahlt sind, trägt dazu wesentlich bei, dass ihnen die Grundstücke, auf denen die Wohnungen stehen, selbst gehören. So kann man bei der Frankfurter
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Wohnungsgenossenschaft im Westend-Süd in einer Gegend, in der die Bodenrichtwerte bei astronomischen 9.000 €/m2 liegen, für unter 7,00 €/m2 Kaltmiete wohnen (vgl. Frankfurter Wohnungsgenossenschaft eG 2014). Als zentralen Hinderungsgrund für von vielen Genossenschaften angestrebten Neubau nennen alle Wohnungsgenossenschaftsvorstände, mit denen wir im Rahmen einer kleinen Studie in Frankfurt a.M. und der Rhein-Main-Region gesprochen haben, die Bodenpreise (Belina/Pechstein 2021): »Wenn wir heute neu bauen würden, ich hab’s berechnet, ohne Förderung, für den normalen Mittelstand […] ohne Rendite […] sind wir bei 14 bis 17 Euro kalt in Frankfurt, mit der Bodenpolitik und das sind Preise, das kann doch keine Familie bezahlen« (Interview mit Vorstand einer Traditionsgenossenschaft, 24.08.2020). Die beiden genannten Prozesse – Investitionserleichterungen und Zurückdrängen nicht-profitorientierter Akteur*innen – nehmen den bezahlbaren Wohnraum über die Grundrente in die Zange: Auf der einen Seite wurde die Möglichkeit geschaffen, immer weiter steigende Grundrenten als »leistungslose Gewinne« abzuschöpfen, auf der anderen Seite wird es jenen, die noch bezahlbaren Wohnraum bereitstellen wollen, durch ebendiese Grundrentenerwartungen unmöglich gemacht an Grundstücke zu kommen. Das Resultat ist Gentrifizierung. Dabei wird auch deutlich, dass es »dem Markt« stets erst ermöglicht werden muss, seine raumordnende und damit gentrifizierende Funktion auszuüben. Erst durch die Neoliberalisierung und die damit einhergehende Durchsetzung des Leitbildes der »unternehmerischen Stadt« (Schipper 2013) wird der »Markt« zunehmend aktiv zum »Ort der Wahrheit« (Foucault 2004, 54) gemacht. Erst die fortschreitende Durchsetzung neoliberaler Ideologie und deren Umsetzung in Gesetze und Regulierungen lässt es als normal erscheinen, dass Politik nur gut ist, wenn »der Markt« ihr Recht gibt und Privatkapitale mittels Gentrifizierung von ihr profitieren. Die raumordnende Funktion der Grundrente, die in deutschen Großstädten zu einer neuen Dynamik der Gentrifizierung und Verdrängung führt, musste auch in Deutschland erst ermöglicht werden. Aus eben diesem Grund kann sie auch außer Kraft gesetzt oder zumindest abgeschwächt werden. Viele der Vorschläge, die von Expert*innen und kommunalen Spitzenverbänden (vgl. Heinz/Belina 2019, Kap. 3) ebenso wie von Bewegungen (Vollmer 2018) diskutiert werden, zielen in diese Richtung.
Gentrifizierung und Finanzialisierung
2.
Zum Einfluss der Urbanisierung des Kapitals auf die Finanzialisierung: Zirkulation von Anti-Wert durch die Stadt
Dass derzeit über die Hälfte des Volumens von deutschen Banken vergebener Kredite Wohnungsbaukredite sind (BBSR 2021, 140), verdeutlicht die quantitative Bedeutung der Urbanisierung des Kapitals für die Finanzialisierung. Ein bedeutender Teil des Kapitals zirkuliert durch die gebaute Wohnumwelt. In seinem Buch Marx, Capital and the Madness of Economic Reason aus dem Jahr 2017 schlägt David Harvey den Begriff »Anti-Wert« (anti-value) vor, um das Verhältnis von Schulden und Wertproduktion, sowie die ökonomischen und politischen Folgen des Bedeutungszuwachses des Finanzkapitals gegenüber dem produktiven Kapital im Zuge der Finanzialisierung zu betonen. Als AntiWert bezeichnet er jene Momente in der Zirkulation des Kapitals, die dieser selbst erwachsen und einer Verwertung des Kapitals entgegenstehen. Kapital ist Geld, aus dem mehr Geld werden soll, das also zum Zweck seiner Vermehrung investiert wird. Harvey betont in Anlehnung an Marx, dass Kapital als »prozessierender Wert« (Marx [1867] 1971, 170) immer in Bewegung sein muss. Um sich zu vermehren, muss das Kapital zirkulieren. Harvey benennt vier systematische Momente im Gesamtprozess der Zirkulation des Kapitals, an denen ein mögliches Scheitern der Prozessierung des Werts eingeschrieben ist: in der Produktion (etwa durch Arbeitsverweigerung; Harvey 2017, 76f.), in der Realisierung (wenn die produzierten Waren nicht verkauft werden, etwa weil die zahlungsfähige Nachfrage fehlt; ebd., 75), die Zunahme unproduktiver Arbeit (die notwendig ist, aber keinen Mehrwert produziert; ebd., 87ff.) sowie Schulden als »entscheidende Form von Anti-Wert«1 (ebd., 78). Schulden sind Anti-Wert, weil sie einen Anspruch auf den Erfolg zukünftiger Profite und damit letztlich Mehrwertproduktion darstellen. Schulden können nur durch ihr Gegenteil, produzierten Wert, beglichen werden und negieren diesen damit a priori, indem sie den erst noch zu produzierenden Wert bereits verbucht haben. Zur »entscheidenden Form« im finanzialisierten Kapitalismus werden sie, weil ihr »Anti-Wert im Kreditsystem als zinstragendes Kapital zirkuliert« (ebd., 79) und das »Handeln mit Schulden ein aktives Element im Finanzsystem wird« (ebd.). Als Folge dessen wächst die Masse an zirkulierendem Anti-Wert relativ deutlich stärker an als jene des produzierten Wertes.
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Mit dem Begriff des Anti-Wertes spitzt Harvey seinen älteren Begriff des sekundären Kapitalkreislaufs (1978; 1982) weiter zu. Mit jenem verweist er auf den empirischen und theoretischen Zusammenhang, nach dem Investitionen in die gebaute Umwelt (und damit in Grund und Boden) im Rahmen etwa von Gentrifizierungsprozessen dann besonders stark zunehmen, wenn im Bereich der Produktion – dem primären Kapitalkreislauf – keine ausreichenden Profite zu machen sind. Damit, so Harvey weiter, potenzieren sie die Entwertung, die infolge der im Kapitalismus zyklisch auftretenden Überakkumulation notwendig einsetzen muss, weil die Kredite, die die Urbanisierung des Kapitals ermöglichen, als »fiktives Kapital« in Vorwegnahme ihrer Rückzahlung schon längst weiterverliehen wurden. Solche »Verbriefungen« beziehungsweise »Securitizations« waren bekanntlich der Grund dafür, dass aus der zunächst ja lokalen Subprime-Immobilienkrise in den USA ab 2007 eine globale Finanzkrise wurde: Die Hauskredite in den USA, die sauer wurden, zirkulierten durch die Bücher von Banken und Finanzinstitutionen weltweit und ließen diese, als die ursprünglichen Hauskredite massenhaft nicht zurückgezahlt wurden, in Schwierigkeiten geraten (Altvater 2010). Wie die Geschichte weiterging, ist ebenfalls bekannt: Die Banken wurden mit Steuergeldern gerettet, was wiederum Staatsverschuldung, Austerität und vielerorts menschliches Elend nach sich zog (Harvey 2017). Solche Rückwirkungen der Urbanisierung des Kapitals auf die Finanzialisierung verstärken also deren Risiken und Ungerechtigkeiten. In der finanzialialisierten Schuldenökonomie nimmt Masse und Bedeutung des Anti-Werts zu, und ein guter Teil dessen kommt in die Welt wegen der und zirkuliert durch die Investitionen in gebaute Umwelt und damit in Grund und Boden. Die Urbanisierung des (Finanz-)Kapitals, die zu Gentrifizierung führt, sorgt zugleich dafür, dass die Finanzialisierung labil wird – beziehungsweise noch labiler, als sie als Handel mit Zahlungsversprechen ohnehin schon ist.
3.
Folgen der Urbanisierung des Kapitals und der Finanzialisierung: Akkumulation durch Enteignung
Diese Labilität hat weitreichende Auswirkungen auf Haushalte und Individuen. Dies gilt für die Käufer*innen von Wohneigentum sowohl für die Selbstnutzung als auch für die Vermietung. Wie Maurizio Lazzarato (2012; 2015) verdeutlicht, muss der »verschuldete Mensch« sein ganzes Leben darauf ausrichten, die Schulden zurückzuzahlen; sie bestimmen seinen Alltag und seine
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Subjektivierung, sie machen ihn zum Gegenstand der Kalkulation und regierbar. Bei Schulden für das selbst genutzte Wohneigentum kommt hinzu, dass Schuldner*innen an den Wohnraum und damit an einen Ort gebunden und deshalb besonders vulnerabel sind. Sie haben auf einmal ein gesteigertes Interesse daran, dass es der Straße, der Nachbarschaft, der Stadt beziehungsweise Region ökonomisch gut geht, weil nur das den Bodenpreis stabil zu halten verspricht. Deshalb gilt: »verschuldete Arbeiterinnen und Arbeiter streiken nicht« (Harvey 2012, 50). Denn verschuldeten Wohneigentümer*innen geht bei Zahlungsunfähigkeit gleich das Zuhause und damit oft ihre Existenz verloren. Ein kurzer Blick zurück: »Bei etwa 25 % der fertiggestellten Gebäude mit ein oder zwei Wohnungen des Jahres 1978 ist später die Zwangsversteigerung beantragt worden« (Häußermann/Siebel 1996, 246). Die Eigentümer*innen konnten die aufgenommenen Kredite nicht mehr bedienen. Die private Katastrophe des Verlustes des Eigenheims, wie wir sie aus den Jahren nach der Weltwirtschaftskrise 2007/08 aus den USA, Spanien und von anderen Orten kennen, gehört auch zum Erfahrungsschatz der alten Bundesrepublik – an den allerdings kaum je erinnert wird. Verantwortlich waren die Veränderungen der wirtschaftlichen Gesamtsituation in der Krise des Fordismus sowie der zunehmend prekären Finanzierung, die auch aufgrund der »Verführung« (ebd., 252) durch Werbung eingegangen wurde (ähnlich für Frankreich in den 1980er-Jahren: Bourdieu u.a. 2002). Auch heute verschulden sich wieder Millionen Haushalte, um sich ein Eigenheim oder eine Wohnung anzuschaffen und darin zu leben. Allerdings ist das heutige Zinsumfeld ein anderes. Die Zwangsversteigerungen in der BRD, die 1985 ihren Höhepunkt erreichten, fanden in einer »Hochzinsperiode« (Häußermann/Siebel 1996, 247) statt. Aus Perspektive der globalen Ökonomie handelte es sich beim Platzen der vielen Hauskredite damals um eine periphere Auswirkung des »Volcker-Shocks« (Klein 2007, 223), also des rapiden Anstiegs der Zinsen infolge der Politik der US-amerikanischen Zentralbank ab 1979, benannt nach deren damaligem Vorsitzendem. Diese Politik war ihrerseits eine Reaktion auf die »erste, umfassende globale Krise des Kapitalismus in der Nachkriegsära« (Harvey 2010, 8), die 1973 begann und »einem weltweiten Einbruch des Immobilienmarktes entsprang, der mehrere Banken zu Fall brachte und die Staatsfinanzen […] erheblich belastete« (Harvey 2010, 8). Der »Volcker-Shock« war also nicht nur Grund der Schuldenkrise der Länder des Globalen Südens und des ehemaligen sowjetischen Blocks mit ihren verheerenden Folgen (Klein 2007, 223ff.) sowie ein zentrales Moment in der
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Durchsetzung des Neoliberalismus (Harvey 2005a, 1), sondern er hatte auch – für viele Hauseigentümer*innen katastrophale – Auswirkungen auf das Wohnen in der BRD. Heute sind die Zinsen, erneut infolge der Entscheidungen von Zentralbanken als Reaktion auf eine globale Wirtschaftskrise, auf einem Rekordtief. Sie »verlocken« erneut zur Kreditaufnahme, auch und vor allem für den Kauf von Wohneigentum. Deutsche Banken vergeben seit 2009 von Jahr zu Jahr in höherem Umfang Wohnungsbaukredite an inländische Haushalte und der Bestand von Wohnungsbaukrediten in Prozent des BIP schnellte von 35 % 2017 auf über 42 % 2020 hinauf (alle Daten in diesem Abschnitt aus Deutsche Bundesbank 2021). Aufgrund der niedrigen Zinsen sank gleichwohl der Anteil der Zinszahlungen für Wohnungsbaukredite privater Haushalte am verfügbaren Einkommen zwischen 2004 und 2020 von über 3,5 % auf unter 1,5 % kontinuierlich ab. Die Kredite sind also deutlich leistbarer geworden. Auch steigt der Anteil der Wohnungsbaukredite mit längerer Zinsbindung seit 2013 tendenziell an. Ihre Sicherheit vor Zinssteigerungen à la Volcker-Schock ist deshalb recht hoch. Eine neue Welle von Zwangsversteigerungen des Wohneigentums von Selbstnutzer*innen infolge steigender Zinsen ist in den nächsten Jahren also nicht zu erwarten. Auch wenn sich viele Tausend Käufer*innen von Wohneigentum zur Selbstnutzung mit ihrem Kredit über Jahre hinaus der Rückzahlung verschrieben haben und dies bei unvorhergesehenen Veränderungen – Arbeitsunfähigkeit, Rezession, Trennung oder anderen privaten oder allgemeinen Einschnitten – zum Problem werden kann, scheint es so, als wäre das Investment in Wohnraum zur Selbstnutzung derzeit lohnend für jene, die es sich leisten können (und die damit ihrerseits zu Grundrentenerwartungen und Gentrifizierung beitragen, unter denen anderen zu leiden haben). Schwieriger könnte sich die Entwicklung für all jene darstellen, die aktuell kaufen, um zu vermieten. Dies wird angesichts niedriger Zinsen für Sparguthaben immer interessanter und zahllose Neubauprojekte wenden sich an eben solche Käufer*innen. Infolge der stark gestiegenen Bodenpreise verschlechtern sich bei solchen Projekten die »Standardindikatoren zur Beurteilung von Wohnimmobilienpreisen«, die die Deutsche Bundesbank (2021) publiziert. Beim Verhältnis von Kaufpreisen zu Durchschnittseinkommen sowie bei jenem von Kaufpreisen und Jahresmieten ist dies seit 2011 kontinuierlich der Fall, bei der Annuität im Verhältnis zum Durchschnittseinkommen schubweise seit 2017. Die günstigen Kredite werden also tendenziell durch die Steigerungen der Miet-, Kauf- und Bodenpreise aufgefressen. Anders formuliert:
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Dieselben Prozesse, die Kredite zurzeit so günstig machen, verteuern eben den Wohnraum, der mit ihnen erworben wird. Bei institutionellen Anlegern sind deshalb Mietsteigerungen beim Kauf bereits eingepreist (Unger 2018). Wie die Schriftstellerin Ria Endres (2020, 102) in ihrer Beobachtung der Veränderung des Frankfurter Stadtteils Nordend formuliert, sehen Investor*innen wie Black Rock »die Städte als Bankkonto«. Sie heben sozusagen Geld ab, indem sie systematisch die Mieten erhöhen. Solchen Großinvestor*innen wird in der kritischen Literatur zu Recht großes Augenmerk geschenkt (Unger 2018). In öffentlichen Debatten wird häufig darauf verwiesen, dass die meisten Wohnungen aber gar nicht solchen großen Investor*innen gehören, sondern Privatpersonen (vgl. Oberhuber 2016). Damit geht die Vorstellung einher, dass private Kleinvermieter*innen weniger schlimm, ja harmlos und nur an legitimer sicherer Anlage fürs Alter interessiert seien. Dem ist zu widersprechen. Auch wenn es unter privaten Kleinvermieter*innen sicher eine große Bandbreite von Motiven und Strategien gibt, hat eine Studie im Auftrag des BBSR bereits 2015 auf »die Tendenz einer zunehmenden Bedeutung von Eigentumswohnungen als Vermietungsobjekte« (BBSR 2015, 16) hingewiesen und darauf, dass dabei »Wertsteigerungserwartung und die Verkaufsabsichten« (ebd., 17), sprich Spekulation, wichtiger werden. Inzwischen ist die private Kleininvestition in Mietwohnungen aufgrund der seit der BBSR-Umfrage weiter gesunkenen Zinsen und der durch die Corona-Pandemie nochmals weniger gewordenen alternativen Geldanlagen ein noch interessanteres Investment geworden. Und wenn der Kauf als Investment erfolgt, wird auch bei Kleinvermieter*innen zunehmend die maximale Rendite und damit Miete die Folge sein. Dass es zur Sicherung und Steigerung der Rendite für institutionelle und private Kleininvestor*innen gleichermaßen interessant sein kann, auch zweifelhafte Methoden unterschiedlicher Art einzusetzen, liegt angesichts des durch die Grundrentenerwartung aufgebauten Renditedrucks nahe. Aus der akademischen und politischen Literatur zu Gentrifizierung sind diese Methoden wohlbekannt: Von der Sache her sinnlose Modernisierungen, nur um die Miete steigern zu können, oder Baustellen, die nur den Zweck, haben Mieter*innen zum Auszug zu bewegen, um dann bei Neuvermietung höhere Mieten veranschlagen zu können, sind ebenso gängig wie etwa systematisch fehlerhafte Nebenkostenabrechnungen. Nur weil letztere für institutionelle Vermieter*innen mit vielen Wohnungen effizienter umzusetzen sind als für private Kleinvermieter*innen, heißt das nicht, dass vermietende Privatleute
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und die häufig mit der Verwaltung beauftragten Immobilienunternehmen nicht auch zu solchen Methoden greifen. Die genannten, und weitere Praktiken reihen sich in die von Ray Hudson (2020, 164) beschriebene Tendenz zu illegalen Praktiken auch in grundsätzlich legalen Geschäftsbereichen ein: »Betrug, Unterschlagung, Diebstahl, Korruption, verdeckte Provision, Insidergeschäfte, Marktmanipulation, Rechnungsbetrug, Preisbetrug, illegale politische Spenden und Steuervermeidung prägen den finanzialisierten Kapitalismus«. Mit dem Begriff der Akkumulation durch Enteignung liefert David Harvey den Kontext, in dem solche Praktiken interessanter werden. Er argumentiert, dass angesichts sinkender Profite in der Mehrwertproduktion im Neoliberalismus systematisch Renten wichtiger werden, also Einnahmen, die nur aufgrund des Eigentumstitels möglich sind; und dass dabei wiederum das Eigentum an Geld, das als Kredit verliehen wird, zentral ist. Verschuldung ist eine Erscheinungsform der Akkumulation durch Enteignung (Harvey 2005b, 145f.; 2017, 199f.): »Heute allerdings ist das Kreditsystem das wichtigste moderne Mittel dafür geworden, mit dem das Finanzkapital Vermögen vom Rest der Bevölkerung abzieht. Alle Arten räuberischer aber auch legaler Methoden […] können genutzt werden, um Taktiken der Enteignung zu verfolgen, die die bereits Reichen und Mächtigen begünstigen«. (Harvey 2010, 245) Die Möglichkeiten ebenso wie der Druck zu legaler und illegaler Akkumulation durch Enteignung seien durch die Finanzialisierung, so fährt er fort, immer weiter verstärkt worden. Die Schuldenökonomie des Anti-Werts bedeutet für zahllose Menschen weltweit eine moderne Schuldknechtschaft (Harvey 2017). Für verschuldete Vermieter*innen kann dies bedeuten, dass sie die Grundrente und damit die Mieten ihrer Wohnungen mit allen Mitteln steigern müssen. Ohne die im antagonistischen Machtverhältnis Mieter*inVermieter*in (Holm 2011) eingeschriebenen Machtverhältnisse zu relativieren, zeitigt die labile, schuldenfinanzierte Zunahme der Investitionen in gebaute Umwelt und Grund und Boden auf beide gleichermaßen Auswirkungen: Die einen müssen einen immer größeren Teil ihres verfügbaren Einkommens für die Miete ausgeben und leiden gegebenenfalls unter den legalen, halb-legalen und illegalen Methoden, die zur Mietsteigerung in Anschlag gebracht werden; die anderen sehen sich durch die aufgenommenen Schulden gezwungen, jeden Cent aus ihren Mieter*innen herauszupressen – auch als private Kleinvermieter*innen.
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4.
Ausblick: Was tun?
Die zunehmende Urbanisierung des Kapitals führt vermittelt über explodierende Grundrenten(-erwartungen) zu Verdrängung und steigert die Labilität des Finanzsystems, und die Zirkulation des Anti-Werts erhöht den Renditedruck auf Vermieter*innen, worunter Mieter*innen leiden. Die Zusammenhänge zwischen Finanzialisierung und Gentrifizierung sind vielfältig und dabei gleichermaßen in den Verhältnissen und Entwicklungen des neoliberalen Kapitalismus angelegt – und sie sind für sehr viele Beteiligte von Nachteil. Um dies zumindest abzumildern, genügt es nicht, die Verantwortung primär der lokalen Wohnungspolitik zuzuschreiben. Vielmehr müssten Anreize zur spekulativen Investition in Immobilien und Grund und Boden systematisch und auf allen räumlichen Maßstabsebenen abgebaut beziehungsweise diese Spekulationen reguliert oder verboten werden. Wenn die wesentliche Verbindung zwischen Finanzialisierung und Gentrifizierung die steigenden Grundrentenerwartungen und damit Bodenpreise sind, ist jede politische Intervention sinnvoll, die solche Erwartungen dämpft. Not tut deshalb eine progressive (v.a. städtische) Bodenpolitik, die dies erreichen kann und zu der zahlreiche ebenso sinnvolle wie umsetzbare Vorschläge vorliegen (vgl. Heinz/Belina 2019).
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Gentrifizierung, Finanzialisierung und Demokratie Konzeptionelle Herausforderungen an kritische Stadtgeographien Michael Janoschka
In jüngeren deutschsprachigen, aber auch internationalen Fachdebatten zur Gentrifizierung hat sich zusehends eine Perspektive konsolidiert, welche die konfliktbeladene Auseinandersetzung um die Produktion und Aneignung der Stadt in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses stellt (vgl. Lees/Annunziata/Rivas-Alonso 2018; Vollmer 2018; Holm 2019). Aufbauend auf neomarxistisch inspirierten Raumtheorien erfolgt insbesondere eine vertiefende Analyse der sich seit der Finanzkrise von 2008 rapide verändernden Logiken der städtischen Kapitalakkumulation; zudem werden nuancierte Herangehensweisen an die sozialen, politischen und ökonomischen Mechanismen der Verdrängung von Haushalten im unteren Einkommensspektrum entwickelt (vgl. Janoschka/Sequera 2016; Schipper/Latocha 2018; ElliottCooper/Hubbard/Lees 2020). Diese Ansätze verstehen die kritische Stadtforschung generell und die Debatte um Gentrifizierung im speziellen als ein dezidiert normatives Projekt mit dem Ziel, einen Beitrag zur Aushandlung von Stadtzukünften zu leisten und einen Resonanzraum für die aufgrund der Geschwindigkeit und Brisanz des städtischen Wandels rasch anschwellenden Gegenstimmen zur hegemonialen neoliberalen Stadtpolitik aufzubauen. An diese Überlegungen, die selbstredend nur einen spezifischen, aber gesellschaftspolitisch und wissenschaftstheoretisch besonders relevanten und inspirierenden Ausschnitt der breiten Gentrifizierungsforschung darstellen, knüpft der vorliegende Beitrag an. Er thematisiert die auch normativ aufgeladene Frage, vor welchen theoretisch-konzeptionellen Herausforderungen kritische Stadtforscher*innen stehen, um den zunehmenden Einfluss der Finanzialisierung der Ökonomie auf die gebaute Umwelt und damit einhergehend auf Gentrifizierung und Verdrängung besser zu verstehen. Zu diesem
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Zweck ist jedoch nicht nur die Betrachtung der raumwirksamen Mechanismen der Finanzialisierung des Städtischen bedeutsam. Es gilt darüber hinaus eine vertiefende Diskussion und ein besseres Verständnis der materiellen, politischen, symbolischen und kulturellen Bedingungen zu etablieren, welche die von der Finanzialisierung beschleunigte Verdrängung von Haushalten ermöglichen sowie die daraus resultierende Gentrifizierung vorantreiben. Ausgangspunkt ist das in politikwissenschaftlichen Debatten etablierte Argument, in der Ära des deregulierten Finanzkapitalismus sei die soziale und politische Einbettung der Ökonomie gesprengt worden, was Konflikte mit der demokratischen Verfassung unserer Gesellschaften erzeuge (Kocka/Merkel 2014; Streeck 2016). Dieser eher grundsätzliche Einwurf soll nachfolgend auf die spezifischen Dimensionen des städtischen Wandels übertragen werden, um zu eruieren, inwiefern demokratietheoretische Perspektiven für eine kritische Betrachtung von Gentrifizierung und Verdrängung einträglich sind. So soll ein Forschungsprogramm konsolidiert werden, das weniger auf die Analyse der (vorhersehbaren) Konsequenzen der Gentrifizierung abzielt, sondern die politökonomischen und administrativen Bedingungen der Stadtentwicklung im Finanzkapitalismus in den Mittelpunkt stellt. Unter Bezug auf demokratietheoretische Perspektiven wird Gentrifizierung primär als Konsequenz eines (wirtschafts-)politischen Projektes verstanden, welches mittels Verdrängung und Ausgrenzung einkommensschwacher Haushalte systematisch die demokratische Verfassung der Stadt verwandelt. Dies vermag die konkreten alltäglichen Erfahrungen der Verdrängung, welche den Lebensalltag von immer mehr Haushalten prägen, konzeptionell mit strukturellen, stadtökonomischen und stadtpolitischen Bedingungen zu verknüpfen. Nachfolgend wird argumentativ in drei Schritten vorgegangen. Erstens werden die Verknüpfungen zwischen den Diskursen zu Finanzialisierung, Gentrifizierung und Verdrängung skizziert. Darauf aufbauend wird zweitens vorgestellt, wie der Nexus zwischen Finanzialisierung und (lokaler) Demokratie konzeptionell weitergedacht werden kann. In einem dritten Schritt wird dargestellt, wie die beiden Perspektiven zusammen die Diskussionen um Gentrifizierung und Verdrängung bereichern und so auch die kritische Stadtforschung inspirieren.
Gentrifizierung, Finanzialisierung und Demokratie
1.
Gentrifizierung und Verdrängung als Konsequenzen der Finanzialisierung des Städtischen – eine Positionierung
Es steht außer Frage, dass Gentrifizierung und die Verdrängung einkommensschwacher Haushalte insbesondere aus zentralen städtischen Lagen in jüngerer Zeit erheblich zugenommen und zu einer weitreichenden sozialräumlichen Neuordnung vieler Städte beigetragen haben. Die Erklärungsansätze, die von kritischen Stadtforscher*innen für diese Vorgänge angeboten werden und über den Mainstream der Gentrifizierungsdebatte hinausweisen, sind vielschichtig. Sie reichen von dem grundsätzlichen Rekurs auf neoliberale Stadtpolitiken (Schipper 2018) über die Diskussion verfehlter, weil marktorientierter Wohnungspolitiken (Schönig 2018; Rink/Egner 2020) bis hin zu dem Konzept der »Kommodifizierungslücke« (Bernt 2020, vgl. auch → Bernt). Mit diesem wird unter dem Rückgriff auf die von Neil Smith (2019 [1979]) entwickelte rent gap-Theorie die Differenz zwischen der potenziellen Grundrente und der aufgrund staatlicher Interventionen in der Stadt überhaupt realisierbaren Grundrente bezeichnet. Mit dem Begriff der Kommodifizierungslücke wird zum Ausdruck gebracht, wie politische Entscheidungen von der lokalen bis zur überstaatlichen Ebene verschiedene Formen der Kommodifizierung fördern beziehungsweise behindern und so das Ausmaß dieser Lücke verändern. Dies ist von erheblicher Relevanz für die Forschungen zu Gentrifizierung und Verdrängung. Die angeschnittenen Debatten bündeln sowohl institutionentheoretische als auch politökonomische Ansätze und stellen den Kern der zeitgenössischen kritischen Stadtforschung dar, die mit einer nuancierten Perspektive auf staatliches und immobilienwirtschaftliches Handeln im Raum aufwartet (Belina 2018; Calbet i Elias 2019). Gerade der Rekurs auf Rententheorien erlaubt dabei neben der Frage der politischen Steuerung von Städten auch einen vertiefenden Einblick in die Veränderung von Kapitalströmen sowie Erklärungsmöglichkeiten für Investitionen an potenziell gentrifizierbaren Orten. Hierbei ist von Bedeutung, dass Kapitalströme sich zunehmend als unabhängig von der lokalen Nachfrage erweisen und über das Potenzial dieser hinausgehen – ein Zusammenhang, der unter anderem in der zuletzt lebhaften internationalen Debatte um die sogenannte ›transnational gentrification‹ thematisiert wurde (Sigler/Wachsmuth 2015; Alexandri/Janoschka 2020; Hayes/Zaban 2020). Darüber hinaus ist die Verknüpfung staats- und institutionentheoretischer Ansätze mit Rententheorien auch in der Lage, die Frage des Zusammenhangs von Gentrifizierung und Finanzia-
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lisierung des Städtischen vertiefend zu thematisieren und so die Debatte über die von Aalbers (2019) stark vereinfachend proklamierte, vermeintlich von der Finanzialisierung hervorgerufene »fünfte Welle« der Gentrifizierung mit theoretisch belastbaren Einblicken zu unterfüttern. Denn während sich der Begriff der Finanzialisierung spätestens seit dem Ausbruch der internationalen Finanzkrise von 2008 zu einem zentralen Feld kritischer Stadtgeographien entwickelte, haben deutschsprachige Stadtforscher*innen erst unlängst das eher vage Verständnis der unter diesem Schlagwort gebündelten Konsequenzen präzisiert und dabei auch die konkreten Auswirkungen der Produktion und kommerziellen Verwertung städtischer Räume vor allem seitens der privaten Wohnungswirtschaft in den Blick genommen (Klus 2020; Metzger 2020; von Frieling/Mießner/Marlow 2020). Aufbauend darauf wird nun erörtert, worin die inhaltlich und konzeptionell interessante und intrinsisch neue Einsicht für Forschungen zur Gentrifizierung besteht, welche der Rekurs auf Finanzialisierung, verstanden als systemisch agierende Transformation des Kapitalismus (vgl. Lapavitsas 2013) erbringt. Wird Finanzialisierung mit Epstein (2005) als die zunehmende Rolle von finanziellen Motiven, Finanzmärkten, Finanzakteur*innen und Finanzinstitutionen im alltäglichen Ablauf wirtschaftlicher Prozesse begriffen, dann zeigt sich diese im Sinne neuartiger gesellschaftlicher Handlungslogiken. In dieser Hinsicht lassen sich Auswirkungen der Finanzialisierung in drei, für ein vertiefendes Verständnis zu Gentrifizierung und Verdrängung zentralen Feldern konstatieren: Erstens trägt die Finanzialisierung zu einer tiefgreifenden Veränderung des ›modus operandi‹ der Akteur*innen bei, die im sozioökonomischen Feld der Immobilienwirtschaft agieren. Hier ist zunächst auf das Entstehen von sogenannten ›finanzindustriellen Wohnungsunternehmen‹ zu verweisen, welche in ihrem Bestand befindliche, in der Regel vermietete Immobilien in zunehmend komplexer gestaltete Finanzanlageprodukte überführen (Unger 2018). Die Steigerung von Mieteinnahmen, zum Teil unter Anwendung automatisierter Verfahren, die Nutzung von Optimierungsmaßnahmen in Finanzierung, Steuerbelastung und Wohnungsverwaltung, sowie territoriale Expansion und Insourcing von Dienstleistungen sind einige der Prozesse, welche die Maximierung von Renditen aus dem Wohnungsbestand begründen. Dabei zeigen sich zwei unterschiedliche Tendenzen: Einerseits sehen einige der heutigen ›big player‹ auf dem deutschen Wohnimmobilienmarkt, die aus den beiden Privatisierungswellen von öffentlichen Wohnungsunternehmen der 1990er- und 2000er-Jahre entstanden sind,
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ihr Geschäftsfeld teils explizit in der Ausschöpfung von Gewinnen aus von staatlichen Transferleistungen garantierten Mieten sozial schwächerer Haushalte (Bernt/Colini/Förste 2017). Im Neubau sowie der Sanierung und Aufwertung des Baubestands dominieren hingegen andererseits vor allem offene Immobilienfonds, spezialisierte Immobilien-AGs, Versicherungen, Pensionskassen und sonstige, oftmals auch transnational agierende Private Equity-Investor*innen (Heeg 2017). Lokal verankerte Unternehmen, deren Geschäftsmodell in der Sanierung und Aufwertung des Baubestandes mit dem Ziel des Weiterverkaufs an institutionelle Investor*innen oder wohlhabende Privatpersonen besteht, haben hingegen aufgrund der rapide gestiegenen Boden- und Immobilienpreise zunehmend Schwierigkeiten, Projekte zu finanzieren und durchzuführen; auch deshalb hat sich die Bedeutung von großen Investorengruppen in der vergangenen Dekade deutlich verstärkt. Wie Trautvetter (2020) am Beispiel Berlins und Janoschka u.a. (2020) am Beispiel Madrids nachweisen, folgen diese anderen Handlungslogiken und üben ihre Marktmacht mit mehr Schärfe aus als dies »kleine« Privateigentümer*innen tun; wenngleich steigende Mieten und Kaufpreise selbstverständlich auch von diesen gerne mitgenommen werden. Als Konsequenz lässt sich festhalten, dass die Veränderungen in der Immobilienwirtschaft tendenziell Verdrängungsprozesse anstoßen und vertiefen und damit auch der weiteren Gentrifizierung Vorschub leisten. Zweitens verändert die Finanzialisierung auch das Handeln des (lokalen) Staates. Über grundlegende, neoliberalen Prinzipien folgende laissez-fairePolitiken und die Liberalisierung des Finanzsektors hinausgehend, lassen sich zunächst einmal der lang anhaltende Rückzug des Staates aus dem sozialen Wohnungsbau und das Outsourcing kommunaler Dienstleistungen als zentrale Aspekte festhalten (Beswick u.a. 2016; Betz 2020). Hinzu kommen aber eine ganze Reihe weiterer Prozesse, in denen der lokale Staat die Logiken des Finanzsektors übernimmt oder diesem zumindest bedeutende Bereiche überlässt. Beispiele hierfür sind das Finanz- und Schuldenmanagement in vielen Kommunen, die Nutzung von ›Tax Increment Financing‹ in den USA, Kanada und Großbritannien oder auch ein irrtümlich als »sozial« bezeichneter, staatlich geförderter Wohnungsneubau im Umland vieler Städte in Mexiko (vgl. für Letzteres: Janoschka/Salinas 2017). All den aufgeführten konkreten Politiken ist die Verbriefung von Krediten beziehungsweise von zukünftigen Einnahmen gemein und damit die aktive Beteiligung des Staates an den institutionalisierten Spekulationsmechanismen des Finanzsektors (Aalbers 2020). In Deutschland kommen noch die Möglichkeiten zur steuerli-
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chen Abschreibung von Investitionen (beispielsweise die Sonder-AfA für neue Mietwohnungen oder die Denkmal-AfA) und zur Verringerung der Steuerlast bei Immobilienkäufen und -verkäufen hinzu, zum Beispiel im Rahmen von sogenannten ›Share Deals‹. In diesem Sinne formt die öffentliche Hand mit der formellen Regulierungshoheit nicht nur den mit dem Immobiliensektor verknüpften Finanzmarkt, sondern wird auch in ihren Handlungslogiken von der Finanzwelt zugrundeliegenden Profit- und Optimierungsstrategien erfasst sowie nach und nach umgestaltet. Dies spiegelt sich auch in der Bodenpolitik und der regelmäßigen Veräußerung von Grundstücken an große Projektentwickler wider. Diese spielen zusammen mit den zuvor erwähnten Aspekten eine wichtige Rolle für lokale Wohnungsmärkte und sind trotz der oft erfolgenden Verknüpfung von Grundstücksveräußerungen mit sozialpolitischen Auflagen und spezifischen Konzeptvorgaben für Bauprojekte in der Lage, Gentrifizierungsprozesse zu verstärken. Drittens erfolgt auch eine vielfach unter dem Schlagwort der Biopolitiken der Finanzialisierung beziehungsweise der Finanzialisierung des Alltagslebens diskutierte Veränderung von Handlungslogiken der Bevölkerung. So ziehen beispielsweise Reformen der öffentlichen und betrieblichen Altersvorsorge und die damit erfolgende »Responsibilisierung« nach sich, dass die Zahl aktiv oder passiv auf den Finanzmärkten tätiger Subjekte deutlich angestiegen ist. Aber auch neuartige Apps wie ›TradeRepublic‹ verändern die Hemmschwelle von Kleinanlegern zur Spekulation auf Finanzmärkten erheblich, insbesondere in Anbetracht der nun schon langanhaltenden Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank. Zudem wirkt sich die Verschuldung für allgemeine Konsumzwecke, im angelsächsischen Kontext überdies für die (universitäre) Ausbildung, aber auch den Hauskauf entscheidend auf die Konstitution von Subjekten aus. Dieser Zusammenhang wurde insbesondere im Zuge der Verwerfungen auf den Immobilienmärkten nach der Finanzkrise von 2008 an Beispielen aus den USA, Irland und Spanien breit diskutiert (Fields 2018; Alexandri/Janoschka 2018; Byrne 2020). In diesen Betrachtungen wurde nicht nur auf die Bedeutung von Hypotheken und Verschuldung für die übersubjektive Steuerung und Aushandlung von Lebensentwürfen eingegangen, sondern auch neu verhandelt, was Verschuldung vor allem mit säumigen Kreditnehmer*innen in symbolischer und psychologischer Hinsicht, das heißt im Sinne der Aufnahme einer ›Schuld‹ macht (García-Lamarka/Kaika 2016). Darüber hinaus wurde empirisch und konzeptionell die grundlegende Rolle des Wohnungsmarktes für vielschichtige finanzielle Akkumulationsprozesse eruiert sowie erörtert, wie diese sich nach der globalen Finanzkrise in
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der Herausbildung neuer, auch für die breite Bevölkerung zugänglichen Investitionsprodukten reproduzieren. Solche Erfahrungen sind vor dem Hintergrund der auch in Deutschland rasch fortschreitenden, jedoch laut Metzger (2020) im Vergleich zum angelsächsischen Raum grundverschieden ausgeprägten Finanzialisierung des Wohnungsmarktes von Relevanz, beispielsweise bei Untersuchungen zur Bedeutung kreditfinanzierter Wohnimmobilien als Form der privaten Kapitalanlage. Zudem kann Nölke (2018) zufolge, der vereinfachte private Zugang zu Krediten die Nachfrage nach staatlichen Transferleistungen inklusive des öffentlich geförderten Wohnungsbaus zunächst reduzieren und so die negativen Auswirkungen der Finanzialisierung auch über längere Zeiträume kaschieren. Ausgehend von diesen für die Untersuchung der Gentrifizierung und Verdrängung im Zeitalter des globalisierten Finanzkapitalismus zentralen Aspekten lässt sich also festhalten, dass gesamtgesellschaftlich ein erheblicher Bedeutungszuwachs von finanzorientierten unternehmerischen Logiken stattgefunden hat. Dies hat Konsequenzen für die Städte, denn Wohnimmobilien werden von ganz verschiedenen Akteur*innen zunehmend als finanzielle Anlageobjekte betrachtet, während soziale Perspektiven in den Hintergrund getreten sind. Genau hier überschneiden sich die Debatten um Gentrifizierung, Verdrängung und Finanzialisierung der Stadt, was vertiefende Einblicke in die vom abstrakten Finanzkapitalismus lokal hervorgerufenen Veränderungen von Lebenswelten und -entwürfen bedeutsam macht. In diesem Sinne kann die zuvor erfolgte Charakterisierung der drei zentralen Felder der Finanzialisierung (Finanz- und Immobilienwirtschaft, Governance von Stadt und Finanzialisierung, und Subjektivierungsprozessen, alltäglichen Regionalisierungen und Normalisierung der Finanzialisierung) als analytischer Ausgangspunkt der weiteren Betrachtungen zu Gentrifizierung und Verdrängung gelten.
2.
Finanzialisierung des Städtischen und die Veränderungen der (lokalen) Demokratie
Wird die Finanzialisierung mit Beyer (2018) als Leitbegriff der Forschung zur gesellschaftlichen Bedeutung der Finanzmärkte aufgefasst, so lässt sich zunächst konstatieren, dass diese eine Befreiung des Marktes von (basis-)demokratischen Prozessen hervorruft, also eine grundlegende Umwälzung der Spielregeln in Politik, Ökonomie und Gesellschaft (Streeck 2013). Als beson-
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ders aggressive und disruptive Form der Globalisierung geht mit dem zunehmenden Einfluss des Finanzsektors und der ihm inhärenten Logiken eine auf vertikalen, von unten nach oben gerichteten Transfers von Einkommen und Vermögen basierende soziale Ungleichheit einher (Nölke 2016; Davis/Williams 2017). Dies umfasst auch den Sozialstaat, dessen Umverteilungsfunktion erheblich abnimmt. Konsequenterweise wird so die soziale und politische Einbettung des Finanzkapitalismus durchweg erschwert, beziehungsweise gesprengt (Kocka/Merkel 2014). Die erheblichen Auswirkungen auf die soziale und politische Konstitution von Städten sind augenscheinlich, und auch die Dynamisierung der Gentrifizierung kann somit als konkreter zeitgenössischer Ausdruck des deregulierten Finanzkapitalismus verstanden werden. Unterdessen höhlt die fortschreitende Marginalisierung in aller Regel unterer sozialer Schichten das formelle Gleichheitsprinzip auf der Partizipations-, Repräsentations- und Policy-Ebene aus (Kocka/Merkel 2014). Ergo stützen sich Kapitalismus und Demokratie auf zwei diametral gegensätzlichen Logiken, denn ungleich verteilter Besitz und Eigentum trifft auf zumindest formal gleiche zivile und politische Rechte. In der politischen Realität schlägt sich die sozioökonomische Spaltung der Gesellschaft demzufolge in einer sozial selektiven und asymmetrischen politischen Beteiligung nieder, die von Merkel (2014, 118) als »elitist democracy« bezeichnet wird. So habe die Erfahrung der letzten drei Dekaden gezeigt, dass sozioökonomische Ungleichheiten immer weniger durch in Wahlen zum Ausdruck gebrachte politische Richtungsentscheidungen zum Halt gebracht oder rückgängig gemacht werden (Merkel 2014). Politikwissenschaftliche Analysen interpretieren dies als Ausdruck der zunehmenden Vulnerabilität staatlicher Institutionen: Akteur*innen des Finanzkapitalismus sähen sich bevollmächtigt, Forderungen geltend zu machen, die eine weitere Umverteilung von unten nach oben befördern. Insbesondere der EU komme bei der Umsetzung dieser Forderungen eine zentrale Rolle zu, inklusive der politischen Entscheidungen zur Vertiefung der Finanzialisierung (Nölke 2016). Wie Davis/Williams (2017) zum Ausdruck bringen, intensiviert die Finanzialisierung zudem die Bedeutung von Expert*innen, Unterhändler*innen, Berater*innen, Anwält*innen, Wirtschaftsprüfer*innen und vielen anderen Akteur*innen, deren Aufgabe auch darin besteht, Narrative zu erfinden, zu verbreiten und so ein gesellschaftliches Echo für der Finanzialisierung unkritisch gegenüberstehende Debatten zu erzeugen. Diesen Zusammenhang hat Metzger (2020) anhand der Bedeutung von Lobbyverbänden wie der ›Initia-
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tive Finanzstandort Deutschland‹ und dem ›Bundesverband Deutscher Kapitalbeteiligungsgesellschaften‹ auch für Deutschland nachgewiesen, inklusive der Belege für enge Beziehungen zwischen der Private-Equity-Branche und der Politik. Es zeigt sich demnach, dass auch die Rahmung von Problemen und Narrativen zu einer »industriellen« Aktivität geworden ist, die das Pendel vor allem zu Gunsten derer beeinflusst, die Besitz und Eigentum konzentrieren (Davis/Williams 2017). Genau deshalb erscheint es auch notwendig, die spezifischen Akteur*innen und Institutionen sowie die konkreten Entscheidungsprozesse, welche die Finanzialisierung vorantreiben, besser zu erforschen und deren individuelle und kollektive Handlungslogiken sichtbar und so allgemein nachvollziehbar zu machen (Nölke/Heires/Bieling 2013). Die dargestellten Prozesse finden jedoch nicht nur auf der supranationalen und nationalstaatlichen Ebene statt, sondern vollziehen sich auch auf den subnationalen Einheiten staatlicher Organisation, also in den Bundesländern und Kommunen. Auch hier lässt sich eine schleichende und oftmals ohne Wissen der Bevölkerung vorangehende ›Finanzialisierung des Staates‹ nachweisen (Hendrikse 2015). Ein Beispiel für die sich wandelnden Handlungslogiken als Ausdruck eines gesellschaftlichen Umdenkens hin zu einer Normalisierung von spekulativen Finanzpraktiken stellt die sich vor allem in den frühen 2000er-Jahren rasch verbreitende Vermarktung von komplexen und hochriskanten Derivate-Produkten durch private Banken, aber auch durch öffentliche Finanzinstitutionen wie die LBBW, Helaba, HSH oder Nordbank an kommunale Entscheidungsträger*innen dar (Trampusch/Spies 2015; Mertens u.a. 2021). Dieses Derivategeschäft wurde durch ein überzeugendes ›story telling‹ geprägt, in dem das Versprechen einer größeren Handlungsfähigkeit und finanziellen Autonomie der Kommunen eine zentrale Rolle spielte. Private und öffentliche Banken, die oftmals seit Jahrzehnten vertrauensvolle Geschäftspraktiken mit kommunalen Entscheidungsträger*innen unterhielten, förderten so eine Neuinterpretation der Schuldenlage und erzeugten ein diskursives Klima, welches die riskanten Instrumente als eine vermeintlich sichere Option finanzpolitischen Handelns darstellten (Fastenrath/Orban/Trampusch 2018). Hier wird deutlich, wie sehr die konkrete Finanzialisierung vor Ort von existierenden Netzwerken zwischen Akteur*innen der Finanzindustrie und staatlichen Entscheidungsträger*innen abhängt (Trampusch 2019). Dies in Betracht ziehend ist Aalbers (2020) zufolge die Finanzialisierung des Städtischen gleichzeitig auf der Ebene von Urban Governance und der gebauten Umwelt zu verstehen, und zwar als eine explizite Strategie staat-
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lichen Handelns. Die Finanzialisierung verändere demnach die organisatorische Kultur der lokalen Verwaltung; sie wende aber auch eine Reihe neuer Techniken an, um Risiken und finanzielle Verpflichtungen zu managen. Gerade das zuvor beschriebene kommunale Schuldenmanagement mit dem Erwerb von Derivaten steht exemplarisch dafür, wie die Logiken des Finanzmarktes die öffentliche Hand erfasst und transformiert haben, wenngleich dies im angelsächsischen Kontext stärker ausgeprägt ist als in Deutschland. Ausgehend von der Einengung des Handlungsspielraums der lokalen Verwaltungen in ihrer Rolle als ›policy maker‹ (bzw. der fortschreitenden Wandlung hin zum ›policy taker‹) erfolge so eine teils auch den Akteur*innen gar nicht voll bewusste Anpassung von Handlungslogiken an die von Finanzmärkten etablierten Diskurse und Praktiken (Merkel 2014). Diese gehe teils so weit, dass selbst hoch riskante Geschäftspraktiken als legitim angesehen werden, um potenzielle finanzielle Handlungsspielräume für die kommunalen Verwaltungen zu generieren. Da Derivatgeschäfte weder genehmigungs- noch anzeigepflichtig sind, erfolgt in der Regel keine öffentliche Diskussion des grundlegenden Wandels von Geschäftspraktiken, das heißt, die Finanzialisierung geht auch mit einem Demokratiedefizit einher. Ein gesellschaftlicher Aufschrei erfolgt nur dann, wenn sich die vermeintlichen Gewinne aus Transaktionen, wie während der Finanzkrise nach 2008 oder auch nach der Pleite der Greensill-Bank im Winter 2020/21, direkt mit hohen Verlusten in den Büchern der Stadtkämmereien niederschlagen. Überdies ist jedoch bedeutsam, dass das hier exemplarisch dargestellte kommunale Schulden- und Anlagenmanagement nur als einer von vielen Bausteinen eines tiefgreifenden Wandels der Stadtpolitik anzusehen ist. Neben einer systematischen Anwendung strukturierter Finanzinstrumente durch die öffentliche Hand spielen auch die vielfältigen Projekte in PublicPrivate-Partnerships eine wichtige Rolle, zum Beispiel im Neubau von Wohnraum. Aalbers (2020) zufolge beruht demnach die Finanzialisierung des Städtischen auf einer strategischen Inwertsetzung der Stadt für die vielfältigen Interessen von Finanzinvestor*innen, mit dem Ziel in möglichst vielen Bereichen den Tauschwert gegenüber dem Gebrauchswert zu priorisieren. Auch deshalb spricht Haila (2016) in diesem Zusammenhang von ›property states‹, in denen der lokale Staat sich rund um die mit der Inwertsetzung von Land und Immobilien zusammenhängenden Akkumulationsprozesse sowohl zum Wegbereiter der Spekulation als auch zum selbst spekulierenden Akteur entwickelt hat. Wird (lokale) Demokratie jedoch als eine Institution verstanden, die notwendig ist, um solidarische sozialpolitische Ziele zu verfolgen, so en-
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gen die fortschreitenden Ökonomien der Finanzialisierung des Städtischen den Raum für aktiv ausgleichende und an den Bedürfnissen und kollektiven Präferenzen der Bürger*innen orientierte Politik massiv ein und stehen diesen potenziell diametral entgegen (Trampusch 2019).
3.
Gentrifizierung, Finanzialisierung und Demokratie: Diskussion und Ausblick
In den beiden vorherigen Abschnitten wurden zwei unterschiedliche Perspektiven auf die Finanzialisierung des Städtischen diskursiv voneinander getrennt, die in der komplexen Realität der (stadt)politischen Aushandlungsprozesse in aller Regel synchron ablaufen. Sie bilden zusammen die komplexen materiellen, politischen, kulturellen und symbolischen Voraussetzungen für die fortschreitende Verdrängung von Haushalten im unteren Einkommensspektrum und damit für die Gentrifizierung städtischer Räume. Als erste analytische Ausprägung erlaubt der Rekurs auf die gesellschaftlichen und ökonomischen Prozesse der Finanzialisierung ein facettenreiches Verständnis der konkreten Veränderungen von Mechanismen der Kapitalakkumulation, die in Städten stattfinden und sich in der Gentrifizierung räumlich verankern. Er zeigt auch auf, wie die vielschichtigen Dimensionen der Finanzialisierung sich nuanciert auf unterschiedliche Akteur*innen auswirkt und deren Praktiken und Diskurse teils ausdrücklich, oft aber auch unbewusst beeinflusst. Die im zweiten Abschnitt vorgestellte politikwissenschaftlich inspirierte Diskussion der Finanzialisierung zeigt hingegen, wie sich die gesellschaftspolitischen Kräfteverhältnisse im globalen und deregulierten Finanzkapitalismus verschoben haben und welche Auswirkungen dies auf die demokratische Konstitution von Stadt und Gesellschaft besitzt. Aus diesen Anmerkungen stellt sich abschließend die Frage, wie die beide Perspektiven die Forschungen zu Gentrifizierung und Verdrängung inspirieren können. In dieser Hinsicht ist zunächst festzuhalten, dass Gentrifizierung und Verdrängung einkommensschwacher Haushalte eine zentrale Säule der gesellschaftlichen Neuordnung des städtischen Lebens und sozialräumlicher Strukturen darstellen. Die erörterten politökonomischen und politikwissenschaftlichen Analysen zur Finanzialisierung erlauben so einen komplementären und vertiefenden konzeptionellen Einblick in die den wirtschaftlichen und politischen Prozessen der Verdrängung und Gentrifizierung zugrundeliegenden Einflussfaktoren und Logiken, inklusive der auf unterschiedlichen
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Ebenen erfolgenden Veränderungen der demokratischen Spielregeln. Hierbei handelt es sich um einen zentralen Baustein, der die zeitgenössische Forschung zur Gentrifizierung ergänzt. Diese hat nämlich ein nuanciertes Verständnis für die vielschichtigen stadträumlichen Konsequenzen etabliert, die sich als Folge der gesellschaftlichen Neuordnung des städtischen Lebens ereignet haben. So haben die andauernden wissenschaftlichen Diskussionen einen soliden interdisziplinären Korpus geschaffen, der – mehr oder weniger kritisch – die Produktion von gentrifizierten städtischen Räumen analysiert hat. Grundlegend lässt sich dem Mainstream der Wissensproduktion zur Gentrifizierung jedoch entgegnen, dass empirische Untersuchungen regelmäßig vergleichsweise vorhersehbare Ergebnisse hervorbringen. Dies mag an einer mangelnden originären Weiterentwicklung der existierenden konzeptionellen Ansätze liegen oder auch dem exzessiven Rekurs auf tradierte Erklärungsmuster geschuldet sein, der nicht müde wird, auch ein Vierteljahrhundert zurückliegende Debatten und Positionen zu rezipieren und so wiederzubeleben. Auch (wissenschafts-)politisch motivierte Beiträge und eine Politikberatung, die ein Minimum an Gentrifizierung als positiv und stimulierend darstellen, geben gravierenden Fehlinterpretationen über die abträglichen Auswirkungen der Gentrifizierung auf den städtischen und gesellschaftlichen Zusammenhalt einen breiten Nährboden. Von solchen Positionen grenzt sich die in diesem Beitrag vorgestellte Perspektive eindeutig ab. Sie hat das Ziel, eine kritische Reflektion zu den politischen und ökonomischen Bedingungen zu etablieren, welche die von Finanzialisierungsprozessen beschleunigte Neuordnung des Städtischen ermöglichen und so Gentrifizierung und die Verdrängung von Haushalten vorantreiben. Genau die darin verborgenen Möglichkeiten der Kapitalakkumulation und Gewinnabschöpfung aus dem städtischen Raum und der gebauten Umwelt werden durch eine vielschichtige Lobbyarbeit unzähliger Akteur*innen der Finanzindustrie und der Immobilienwirtschaft auf allen politischen, sozialen und medialen Ebenen normalisiert. Die hier aufgezeigten Zusammenhänge zwischen Finanzialisierung, Stadtpolitik und Gentrifizierung bedürfen daher einer empirischen Offenlegung und Analyse der Verknüpfungen zwischen diesen Akteur*innen, um potenziell demokratiegefährdende Strukturen klarer nachzuweisen und der Naturalisierung der Finanzialisierung auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens entgegenzuwirken. In dieser Hinsicht sollte es das inhärente Ziel einer kritischen Stadtforschung sein, nicht nur weitere Daten zur Gentrifizierung und Verdrängung hervorzubringen, sondern auch die Zukunft
Gentrifizierung, Finanzialisierung und Demokratie
der (lokalen) Demokratie in durch die Konsequenzen der Finanzialisierung entmischten, segregierten und gentrifizierten Städten zu thematisieren und so den Schulterschluss mit sozialen Bewegungen wie beispielsweise den zahlreichen »Recht auf Stadt«-Initiativen zu suchen. Dies beinhaltet auch, die in der Öffentlichkeit oft unkritisch und unhinterfragten politischen, kulturellen und symbolischen Bedingungen der Finanzialisierung weiter zu hinterfragen, daraus Vorschläge zur De-Finanzialisierung unseres Lebens zu entwickeln und aktiv an der Umsetzung dieser mitzuwirken. Vor dem Hintergrund der sich im Zuge der Covid-19-Pandemie sowie der Klimakrise abzeichnenden tiefgreifenden Umwälzungen des städtischen Lebens ist dies von besonders zukunftsweisender Bedeutung.
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Die Grenzen der rent gap-Theorie1 Matthias Bernt
Das Konzept der rent gap zählt ohne Zweifel zu den zentralen Erklärungsansätzen für Gentrifizierung. Es wurde vor mehr als vier Jahrzehnten von dem marxistischen Geographen Neil Smith in scharfer Abgrenzung zu neoklassisch-ökonomischen und sozialökologischen Ansätzen entwickelt und wird heute vermutlich in jedem Universitätsseminar zum Thema behandelt. Trotz dieser Popularität ist die Anwendung der rent gap-Theorie in der deutschen Forschung ein schwieriges Thema geblieben (vgl. Üblacker 2018). Neben Problemen in der Operationalisierung und der Datenverfügbarkeit (vgl. Friedrichs 1996) hat das vor allem mit der stark auf den US-Kontext bezogenen ursprünglichen Formulierung des Arguments zu tun. Entwickelt vor dem Hintergrund verfallender US-amerikanischer Innenstädte, erschien die rent gap in der Vergangenheit für »europäische« Städte weniger angebracht (Friedrichs 1996). Eine jüngere Generation von Forscher*innen (Ege 2019; Calbet i Elias 2019; Nkula-Wenz 2019; Vollmer 2019; Holm 2019) zeigt sich dem Ansatz gegenüber zwar aufgeschlossener – aber auch hier ist eine über das Zitieren des Ansatzes hinausgehende produktive Anwendung und Weiterentwicklung selten2 . Der Kern der rent gap-Theorie ist schnell erklärt: »To summarize the theory, gentrification is a structural product of the land and housing markets. Capital flows where the rate of return is highest, and the movement of capital to the suburbs along with the continual depreciation of inner-city capital, eventually produces the rent-gap. When this gap grows sufficiently large, rehabilitation (or for that matter, renewal) can be-
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Der Aufsatz fußt auf dem Kapitel einer im Erscheinen befindlichen Monographie (Bernt i.E.) unter dem Titel »The Commodification Gap. Gentrification in London, Berlin and St. Petersburg«, das übersetzt, stark überarbeitet und gekürzt wurde. Eine Ausnahme stellt Schipper (2013) dar.
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gin to challenge the rates of return available elsewhere, and capital flows back.« (Smith 1979, 546). In ihrer ursprünglichen Formulierung basierte die rent gap-Theorie auf zwei theoretischen Eckpfeilern. Dabei handelt es sich zum einen um die Theorie der uneven development (Harvey 2009[1973]; 1982; 1985; Smith 1982; 1984), die von Smith auf die Aufwertung innenstadtnaher Wohnviertel hin »übersetzt« wurde: Kapital, das in die gebaute Umwelt investiert wird, wird für eine Weile »eingefroren«, was effektiv zu Desinvestition und Unterkapitalisierung führt. Diese Unterkapitalisierung schafft neue Investitionsmöglichkeiten, so dass Kapital zurückfließt. Hierdurch entsteht eine »see-saw movement« (Smith 1984, 199), bei der sich Investitions-, Desinvestitions- und Reinvestitionszyklen in die gebaute Umwelt abwechseln. Vernachlässigung und Niedergang eines Wohngebietes und seine spätere Aufwertung sind in dieser Sicht zwei Seiten derselben Medaille. Der zweite theoretische Eckpfeiler der rent gap-These sind marxistische Theorien über die Grundrente (wie sie von Marx im III. Band des »Kapitals« entwickelt wurden, vgl. Marx 1986, 627-821). Hier geht es vor allem um die Tatsache, dass das Privateigentum an Boden, dem/der Besitzer*in eines Stückes Land die Aneignung einer Grundrente ermöglicht. Da diese nur aus Erträgen erwirtschaftet werden kann, die aus der Nutzung des betreffenden Grundstücks entstehen, steht hinter dem Konzept der Grundrente eine soziale Beziehung zwischen Grundstücksbesitzer*innen und Grundstücksnutzer*innen, bei der Erstere die Letzteren ausbeuten. Hinter dem Begriff der Grundrente steht auf diese Weise eine soziale Beziehung zwischen Grundstücksbesitzer*innen und Grundstücksnutzer*innen. Durch die wechselseitige Verschränkung dieser beiden Theorien gelang es Smith, ein »Werkzeug« zu entwickeln, das nicht nur zum Bezugspunkt zahlreicher Forschungen wurde, sondern auch Weiterentwicklungen wie die Konzeptionalisierung anderer »Gaps« (Hamnett/Randolph 1984; López-Morales 2011; Sýkora 1993) anregte. Die rent gap-Theorie kann in diesem Sinne auch als »a synthetic conceptual tool which has been a consistent application of rent theory at the urban level« (Ward/Aalbers 2016, 1776) verstanden werden. Sie enthält (zusammen mit ihren Modifikationen) aus meiner Sicht drei zentrale Elemente, die sie unabdingbar für das Verständnis von Gentrifizierung machen: Zum Ersten liefert die rent gap eine Erklärung dafür, warum und wie die »Kapazitäten« für Gentrifizierung (d.h. renovierte Häuser, Infrastrukturen, Geschäfte) bereitgestellt werden. Sie lenkt damit die Aufmerksamkeit auf die
Die Grenzen der rent gap-Theorie
Produktion von Gentrifizierung. Zweitens unterstützt die rent gap eine historische Sichtweise, die über Momentaufnahmen von Gentrifizierungsprozessen hinausgeht und den/die Forscher*in zwingt, das Gewordensein von Aufwertungsprozessen zu berücksichtigen. Drittens verbindet die rent gap Immobilienökonomie, Nachbarschaftswandel und soziale Ungleichheit. Im Gegensatz zu den Begriffen »Aufwertung«, »Revitalisierung« oder »Reurbanisierung« macht die rent gap damit Eigentumsverhältnisse, soziale Konflikte und Klassenstrukturen zum Ausgangspunkt ihrer Analyse. Mit diesen drei Kernelementen ist die rent gap-Theorie ein unverzichtbares Instrument im Werkzeugkasten der Gentrifizierungsforschung. Wie jede Theorie hat aber auch die rent gap ihre Grenzen. Viele davon hängen mit den beiden oben genannten Theorien zusammen, auf denen sie basiert. In dem vorliegenden Aufsatz möchte ich diese Probleme im Detail ansprechen, denn ich glaube, dass eine Weiterentwicklung und eine produktive Anwendung der rent gap-Theorie nur auf der Basis eines besseren Verständnisses ihrer Grenzen möglich ist. Im Folgenden diskutiere ich in diesem Sinne drei miteinander zusammenhängende Themen: a) die Implikationen einer »nomothetischen« Konzeptualisierung der Grundrente, b) die Grenzen eines eindimensionalen Verständnisses von Eigentumsbeziehungen als »Kontrolle« und c) die fehlende Aufmerksamkeit für Fragen der Realisierung von Grundrentensteigerungen und der Rolle des Staates dabei. Dabei geht es mir nicht darum, die rent gap zu »widerlegen«. Angesichts der »ingenious simplicity« (Smith 1996, 42) des Arguments und seiner absichtlich beschränkten Ansprüche wäre das ein sinnloses Unterfangen. Es geht mir vielmehr darum, Öffnungen zu finden, die von der rent gap-Theorie ausgehen, es aber erlauben, das Argument konzeptionell voranzubringen.
Welche Rente? Wie oben beschrieben, ist das Konzept der Grundrente eine der beiden theoretischen Säulen der rent gap-Theorie. Umso erstaunlicher ist es, dass die Behandlung der »Grundrente« in Smiths Texten eher einfach ist und die wirklich vielfältigen theoretischen Diskussionen zum Konzept der »Grundrente« kaum einbezogen werden. Denn der Begriff »Grundrente« kann sich auf ziemlich unterschiedliche gesellschaftliche Phänomene beziehen. So unterschied Marx zwischen »Absoluter Rente«, »Differenzialrente I«, »Differenzialrente II« und »Monopolrente« (siehe auch → Czirfusz), und über die Bedeu-
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tung all dieser Begriffe wurde in den 1970er-Jahren unter Marxist*innen heftig gestritten. . Darüber hinaus wurden im Laufe der Zeit noch mehr Rentenkonzepte vorgeschlagen, darunter die »Klassen-Monopol-Rente« (Harvey 1974), die »Redistributive Rent« (Walker 1974), »Fiscal Rent«, »Global Rent« und die »Derivative Rent« (Haila 2016). Bedauerlicherweise stellen weder Smiths Formulierungen der rent gap noch die meisten darauf aufbauenden theoretischen Beiträge einen Bezug zu diesen Diskussionen her. Es ist daher überhaupt nicht klar, ob es bei der Schließung von »Rent Gaps« um »Absolute Rente«, »Differenzialrente I«, »Differenzialrente II«, »Monopolrente« oder gar die »Klassen-Monopol-Rente« (Harvey 1974) geht, oder ob Grundrente eher als pragmatische Metapher für die aus einer Immobilie erwirtschafteten Erträge verwendet wird3 . Das Problem dabei ist, dass – wie Tabelle 1 skizziert – unterschiedliche Behandlungen der Grundrente unterschiedliche Ursachen für die Entstehung von »Rent Gaps« nahelegen: Tabelle 1: Rentenformen und Gentrifizierung Formen der Rente & Beschreibung
Moderne Beispiele mit Bezug zur Gentrifizierung
Absolute Rente: Kann auf der Grundlage des Privateigentums an Boden als Eintrittsbarriere für die Nutzung eines Grundstücks verlangt werden
Spekulation auf Preiserhöhungen
Differenzialrente I: Resultiert aus einer relativ höheren Produktivität eines Grundstücks, aufgrund seiner spezifischen Eigenschaften (Fruchtbarkeit, Lage)
Preisaufschläge für die Nähe eines Grundstücks zum Zentrum oder zu wichtigen Infrastrukturen
Differenzialrente II: Resultiert aus Erhöhhungen der Produktivität eines Grundstücks als Ergebnis von Investitionen
Mietpreisforderungen für höhere Wohnqualität nach Sanierung eines Wohngebäudes
Monopolrente/Klassen-Monopolrente: Resultiert aus einem einzigartigen, nicht substituierbaren Merkmal des Grundstücks
Mietpreisforderungen im Hinblick auf einen einzigartigen und exklusiven Charakter eines Viertels (z.B. ethnische Homogenität, Lage am Strand)
Quelle: Eigene Darstellung.
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Eine solche Verwendung findet sich etwa bei Andrej Holm, der den Grundrentenbegriff in seinen Arbeiten in der Regel umgeht und von »Ertragslücken« schreibt (z.B. in Holm 2019).
Die Grenzen der rent gap-Theorie
Versteht man die rent gap in Bezug auf die »Absolute Rente«, würde sie so auf Spekulation und die Fähigkeit, eine Angebotsverknappung zu bewirken, hinweisen. Würde sie als Ausdruck der »Differenzialrente I« verstanden, verweist sie eher auf veränderte Standortmuster (bspw. die höhere Attraktivität einer bestimmten Wohnlage aufgrund der Ansiedlung von hochqualifizierten Arbeitsplätzen in der Nachbarschaft) und die daraus resultierende höhere Wertigkeit eines Grundstücks. Würde sie im Zusammenhang mit der »Differenzialrente II« konzeptualisiert, läge der Schwerpunkt auf der Differenz in Wohnqualitäten, die durch Renovierung oder Verdichtung ermöglicht werden. Würde der Schwerpunkt hingegen auf »Monopolrente« oder »Klassenmonopolrente« gelegt werden, würde man sich auf die Fähigkeit von Hausbesitzer*innen konzentrieren, Teilmärkte zu schaffen und diese vor unerwünschten Nutzungen zu schützen. Kurzum, so plausibel die Verwendung der Kategorie der Grundrente als Schlüssel zur Erklärung von Gentrifizierung auf den ersten Blick erscheinen mag, so wird bei genauerem Hinsehen deutlich, dass unterschiedliche Konzepte von Rente auf sehr unterschiedliche Ursachen und Handlungszusammenhänge hindeuten. Wenn man an dieser Stelle die Grenzen der rent gap-Theorie beleuchtet, sollte man sich auch vor Augen halten, dass die rent gap-Theorie inmitten einer Wiederbelebung des Interesses an klassischen Rententheorien in den 1970er-Jahren formuliert wurde (siehe Ball 1985a;b; Haila 1990; Jäger 2003). In Bezug auf diese Diskussion ist das rent gap-Argument eindeutig dem »nomothetischen« Lager (Haila 1990) der Grundrententheorie zuzuordnen. Ein wesentliches Merkmal dieses von David Harvey (dem Doktorvater von Neil Smith) angeführten Lagers bestand in der »…search for a general theory, which flies in face of the acknowledged diversity and heterogeneity of landed property relations« (Haila 1990, 283). Dreh- und Angelpunkt war dabei die Annahme, dass das Handeln wohnungswirtschaftlicher Akteur*innen im Wesentlichen auf ökonomische Kalküle ausgerichtet ist und dass sich die Differenzen zwischen verschiedenen Wohnungsanbieter*innen auf Dauer homogenisieren würden. Von den Unterschieden zwischen einzelnen Wohnungsanbieter*innen könne deshalb zugunsten einer allgemeinen Theorie abstrahiert werden. Im Gegensatz hierzu unternahmen »idiographische« Ansätze große Anstrengungen, um verschiedene Arten von Akteur*innen zu identifizieren, die an der Entwicklung von Grundstücksmärkten beteiligt sind (bspw. Goodchild/Munton 1985; Kivell 1993; Massey/Catalano 1978). Sie zeigten, dass die Motive von Grundstücksbesitzer*innen recht unterschiedlich sind und dass
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eine Tendenz zur Angleichung und eine ausschließlich auf ökonomischen Motiven beruhende Bewirtschaftung von Land nicht durch empirische Belege gestützt wurde. Auf dieser Grundlage forderte beispielsweise Michael Ball »…to look at detailed historical situations rather than to make gestures towards some grand general theory« (Ball 1985a, 86) und erklärte die Rententheorie – im Sinne einer allgemeinen, über einzelne Räume und historische Epochen hinausreichenden Theorie – schlussendlich für »outlived« (Ball 1985b, 523). An dieser Stelle ist nicht der Platz, um die langen und komplexen Diskussionen der Grundrententheorie angemessen zusammenzufassen. Nichtsdestotrotz kann man feststellen, dass zwischen einer »nomothetischen« und einer »idiographischen« Behandlung von Grundrente Welten liegen. Während erstere im Großen und Ganzen auf eine Anwendung der von Marx ererbten Struktur-Kategorien auf aktuelle Bodenmärkte setzt, ist Letztere akteurstheoretisch orientiert und interessiert sich für die historischen Besonderheiten von Grundeigentum in unterschiedlichen Gesellschaften und das reale empirische Handeln von Grundeigentümer*innen. Leider ist von dieser Spannung bei Smith und in den auf die Arbeit von Smith aufbauenden Gentrifizierungsstudien nicht mehr viel zu merken. Ohne weitere Erklärungen verortet Smith die Behandlung der rent gap (d.h. auch Grundrente) in einer »nomothetischen« Tradition und behandelt Grundrente als eine selbsterklärende Kategorie, ohne auf die spezifischen institutionellen und sozialen Beziehungen eingehen zu müssen, die ihre Existenz ermöglichen. Hierdurch schließt er die Tür gegenüber Analysen, die das Verhalten von Wohnungsmarktakteur*innen in einen konkreten historischen Kontext einbetten.4
Eigentum als Kontrolle? Ein ähnliches Problem ist dort zu beobachten, wo die Rolle des Eigentums in der rent gap-Literatur diskutiert wird. In Anlehnung an Marx wird hier faktisch eine individualistische Konzeptionalisierung von Eigentum vertreten.
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Dabei ist allerdings hervorzuheben, dass Smith durchaus selbst Studien erarbeitet hat, die von einem exzellenten Verständnis der politischen Rahmenbedingungen von Gentrifizierungsprozessen zeugen, (vgl. Smith 1996; Hackworth/Smith 2001). Die von ihm vorgenommene reichhaltige Analyse der politischen Kämpfe in New York City steht aber eher neben dem rent gap-Argument, als dass sie dieses unterstützt.
Die Grenzen der rent gap-Theorie
Das Konzept der Grundrente setzt in dieser Sicht »… das Monopol gewisser Personen voraus, über bestimmte Portionen des Erdkörpers als ausschließliche Sphären ihres Privatwillens mit Ausschluss aller andern zu verfügen« (Marx 1986, 628). Bezugnehmend auf diese Überlegung verwenden Smith und Harvey wiederholt und hartnäckig den Begriff der »Monopolkontrolle«, um die Beziehungen zwischen Grundstückseigentümer*innen und -nutzer*innen in kapitalistischen Bodenmärkten zu beschreiben. Harvey postuliert so: »…rent is, in effect, a transfer payment realized through the monopoly power over land and resources conferred by the institution of private property« (Harvey 1974, 240). In ähnlicher Weise führt Smith aus, dass Grundrente (und damit eine rent gap) nur entstehen könnte, weil »…private property rights confer on the owner near-monopoly control over land and improvements, monopoly control over the uses to which a certain space is put« (Smith 1979, 541)5 . Das grundlegende Problem dieser Konzeptionalisierung ist die Reduzierung der komplexen sozialen und politischen Dimensionen von Eigentum auf einen einseitigen Herrschaftsakt. Insbesondere in den Legal Geographies (Blomley 2003; 2004; 2005; Graham 2011) finden sich zahlreiche Beiträge, die eine solche Konzeptualisierung von Eigentum als vereinfachend und individualistisch kritisieren und ein relationales Verständnis von Grundeigentum einfordern. Eigentum hat diesen Ansätzen zufolge einen dyadischen oder sogar triadischen Charakter: Es wird nur dadurch ermöglicht, dass andere entweder direkt oder mittels eines Rechtssystems Eigentumsrechte anerkennen. In diesem Sinne ist Eigentum nicht statisch und vorgegeben, sondern es hängt von einem kontinuierlichen, aktiven »Doing« (Rose 1994), von einer kontinuierlichen Verhandlung, Inkraftsetzung und Neuinkraftsetzung (Blomley 2004) von Eigentumsrechten ab. Anstelle der Figur einer monopolartigen Kontrolle sind Eigentumstitel demzufolge eher als »Bündel« von kodifizierten sozialen Beziehungen zu verstehen, die verschiedenartig aufgeteilt und in denen bestimmte Interessen gegenüber anderen geschützt werden. Dieser relationale Charakter wird bei einer Konzeptualisierung von Eigentum als Kontrolle nur unzureichend verstanden. Eine ausschließliche Perspektive
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In einer Fußnote zu diesem Abschnitt geht Smith sogar noch weiter: »Certainly zoning, eminent domain, and other state regulations put significant limits on the landowner’s control of land, but in North America and Western Europe, these limitations are little more than cosmetic.« (Smith 1979, F.7, 547)
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auf Eigentum als »Monopol« verschleiert deshalb eher ein in der Realität äußerst komplexes System von Rechten und Pflichten, als dass es die sozialen Interaktionen, Kämpfe und Werte entschlüsselt, auf denen die Fähigkeit zur Aneignung von Grundrenten beruht.
Wie wird die rent gap realisiert? Eine dritte, eher implizit angenommene Verbindung der rent gap-Theorie zur Gentrifizierung, betrifft die konzeptionelle Verknüpfung von Reinvestition und Verdrängung. Sie wird in der rent gap-Theorie zwar nicht explizit behandelt, ist jedoch – da die soziale Aufwertung den Kern der Definition von Gentrifizierung ausmacht – von entscheidender Bedeutung. In diesem Aspekt argumentiert Smith de facto auf der Basis eines einfachen Marktmodells: Da Kapital nur dann investiert wird, wenn höhere Rentenerträge erzielt werden können, muss eine Schließung der rent gap mit einem Anstieg der Wohnungspreise einhergehen, was wiederum Nutzer*innen mit geringerer Kaufkraft ausschließt. David Harvey hat diesen Vorgang mit der Analogie des Auffüllens von Theaterplätzen schön beschrieben: »In the housing market with a fixed housing stock the process is analogous to filling up seats sequentially in an empty theatre. The first who enters has n choices, the second has n-1, and so on, with the last having no choice. If those who enter do so in order of their bidding power then those with money have more choices, while the poorest take whatever is left after everyone else has exercised choice.« (Harvey 2009 [1973], 168) Die Verbindung zur rent gap-Theorie ist offensichtlich: Da Kapital nur dann investiert wird, wenn eine zufriedenstellende Rendite erzielt werden kann – oder, in der Sprache von Smith ausgedrückt, die Lücke zwischen potenzieller und kapitalisierter Grundrente groß genug ist –, und da die von den Bewohner*innen gezahlte Miete beziehungsweise der Kaufpreis die einzige Renditequelle im Bereich des Wohnungsbaus ist, ist die Investition von Kapital in den bestehenden Gebäudebestand nur dann attraktiv, wenn die Preise steigen. Dies schließt Haushalte mit geringerer Kaufkraft automatisch aus, sodass diese durch bessergestellte Bewohner*innen ersetzt werden. Ungleiche Einkommensverteilung, Renditekalküle und die über das Privateigentum ermöglichte Fähigkeit zur Aneignung von Bodenrenten wirken also in dieser
Die Grenzen der rent gap-Theorie
Sicht zusammen und bewirken – quasi im Selbstgang – eine Verdrängung einkommensschwacher Bewohner*innen. Auch hier ist die Realität in der Regel komplizierter. Denn der Preis für Wohnraum entsteht in den meisten Märkten nicht allein durch das Wechselspiel von Angebot und Nachfrage, sondern er wird auch durch die rechtlichen Rahmenbedingungen definiert, die beispielsweise zulässige Bebauungsdichten, Gebäudenutzungen, Mietsteigerungsmöglichkeiten und vieles andere mehr regulieren. Der Preis einer Wohnung – und damit die Wohnkosten – ist also überdeterminiert, das heißt, er wird sowohl vom Staat als auch vom Markt beeinflusst. Dieser Nexus zwischen Staat und Markt im Bereich der Wohnungsversorgung steht seit Jahrzehnten im Mittelpunkt der »Comparative Housing Studies« (für einen Überblick siehe Doling 1997; Lowe 2011). Ausgangspunkt dieses Forschungszweiges ist die Tatsache, dass Wohnen in den meisten kapitalistischen Gesellschaften weder vollständig marktwirtschaftlich organisiert, noch vollständig dekommodifiziert ist. Wohnen ist gleichzeitig eine Ware, die zum Zweck der Kapitalakkumulation produziert wird – und ein staatlich reguliertes soziales Recht. Die Konsequenzen dieser Forschungen für das Thema »Gentrifizierung« sind erheblich. Denn folgt man dem Argument, dass die Wohnungspreise nicht allein durch Angebot und Nachfrage, sondern auch durch Formen staatlicher Intervention bestimmt werden, so wird deutlich, dass der Erklärungswert von ausschließlich ökonomischen Ansätzen, die auf Investitions- und Reinvestitionszyklen, Grundrente und »competitive bidding power« (Harvey 2009[1973], 170) setzen, begrenzt ist. Wenn so beispielsweise Teile des Wohnungsbestands als »Sozialwohnungen« verwaltet werden, werden die hier verlangten Mieten durch politische Festlegungen und Verwaltungsverfahren und nicht durch das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage bestimmt. Sozialwohnungsbestände stellen deshalb – bei großen Unterschieden in den Eigentumsstrukturen, Mietniveaus, Finanzierungsströmen und Eigentumsverhältnissen zwischen verschiedenen Ländern (siehe Balchin 1996; Scanlon/Whitehead 2008; Whitehead/Scanlon 2007) – häufig eine rent gap dar, die aber nicht geschlossen werden kann. In ähnlicher Weise begrenzen Mietpreisregulationen, wie sie in vielen »integrierten Märkten« (Kemeny 1995) in Kraft sind, die Möglichkeit, die kapitalisierte Grundrente auf das Niveau der »highest and best use« (Smith 1979, 543) hochzuziehen. Auch Bestände im Besitz selbstnutzender Wohnungseigentümer*innen befinden sich in einer Zwitterrolle: Auf der einen Seite sind ihre
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Bewohner*innen durch ihren Eigentumstitel gegenüber steigenden Preisen geschützt – auf der anderen Seite profitieren sie als Eigentümer*innen von ihnen. Ambivalent wirken sich auch Wohngeldzahlungen aus: Sie ermöglichen es einkommensschwachen Haushalten in Beständen wohnen zu bleiben, die sie sich eigentlich nicht mehr leisten könnten – gleichzeitig subventionieren sie mit Steuermitteln private Gewinne (respektive Rentenerträge) und ermöglichen eine Erhöhung der kapitalisierten Grundrente – das heißt eine Schließung der rent gap. In der Summe hängt die politische Ökonomie der Gentrifizierung damit nicht allein von einem Wechselspiel von Angebot, Nachfrage und Investitionskalkülen ab, sondern es ergibt sich ein komplizierter und geografisch ungleicher Flickenteppich zwischen Kommodifizierung und Dekommodifizierung, in dem einige Wohnungsbestände sehr stark einer Marktlogik unterliegen, während andere dies kaum tun. In der Folge ergibt sich damit ein recht komplexes Bild, in dem Gentrifizierungsprozesse durch Formen der Dekommodifizierung modifiziert, behindert oder gestoppt werden können (vgl. auch Porter/Shaw 2009; → Kadi), die jedoch unterschiedlich funktionieren, aus unterschiedlichen sozialen Kräfteverhältnissen und Werthaltungen resultieren und unterschiedliche Logiken nach sich ziehen.
Jenseits der rent gap: Schlussfolgerungen Fasst man diese Überlegungen zusammen, wird deutlich, dass die rent gap eine synthetische theoretische Kategorie ist, die sich aus allgemeinen Theorien über ungleiche räumliche Entwicklung und Grundrente ableiten lässt. Sie stellt ein äußerst wertvolles Instrument dar, um zu verstehen, warum und wie die »Kapazitäten« für die Gentrifizierung bereitgestellt werden. Das Problem mit der rent gap-Theorie ist jedoch, dass sie unter einer zu vereinfachten Perspektive auf das Funktionieren von Märkten leidet. Vor diesem Hintergrund ist kaum zu erkennen, wie die rent gap mehr sein kann als ein allgemeiner Hinweis auf die Besonderheiten von Wohnungs- und Bodenmärkten im Kapitalismus und die – allerdings häufig notwendige Mahnung – diese bei der Analyse von Gentrifizierung zu berücksichtigen. Ohne eine Komplettierung durch politische und historische Zugänge bietet diese Theorie nur wenig Orientierung für die Frage, wie mit Gentrifizierung – anders als durch die Abschaffung des Kapitalismus – umgegangen werden kann. Sowohl in analyti-
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scher Hinsicht als auch in Bezug auf ihre politische Orientierungskraft ist der Wert dieser Theorie daher begrenzt.6 Gentrifizierung kann nicht von dem Kontext in dem sie stattfindet, isoliert werden. Sie beruht zwar auf dem Funktionieren von Finanz-, Boden-, Immobilien- und Wohnungsmärkten – diese Märkte sind aber selbst sozial produziert. Was wir als »Markt« bezeichnen, ist eher ein Gefüge von Institutionen, das sich zwischen verschiedenen Kontexten stark unterscheidet und anfällig für historische Veränderungen und politische Auseinandersetzungen ist. Gentrifizierung ist daher kein anonymer, struktureller Prozess, der hinter dem Rücken seiner Akteur*innen stattfindet, sondern eine soziale Beziehung zwischen verschiedenen Personengruppen, die um verschiedene Kombinationen von Rechten kreist und in verschiedene institutionelle Konstellationen eingebettet ist. Zentral ist hier der Begriff der »Embeddedness«. Er geht zurück auf Polanyis berühmtes Buch »The Great Transformation« (1957 [1944]), das zeigte, wie alle wirtschaftlichen Aktivitäten von Netzwerken sozialer Beziehungen abhängen. Märkte und Gesellschaften können in dieser Sicht nicht getrennt werden, sondern sie sind miteinander verflochten und müssen gemeinsam untersucht werden. Es geht also nicht darum zu zeigen, dass Kapital auf die eine oder andere Weise fließt und dass dies dazu führen kann, dass Bewohner*innen mit niedrigem Einkommen auf die eine oder andere Weise verdrängt werden, sondern darum, die Bedingungen zu verstehen, unter denen dies möglich ist. Erklärt werden muss also, wann, wo und wie Kapital in die Produktion von Wohnraum fließt (vgl. auch → Bůžek/Mießner), wie dies von verschiedenen Akteur*innen mit unterschiedlichen Interessen und Kapazitäten gesteuert wird, wie ihr Handeln in verschiedenen Kontexten durch Insitutionen und Regulationen beeinflusst wird , wie sich die Investition von Kapital auf die von verschiedenen Gruppen gehaltenen Wohnrechte auswirkt, welche Auswirkungen auf den Preis von Wohnraum bestehen und warum und wie dies zu Verdrängung führt (vgl. auch → Beran/Nuissl; → Rinn). Offensichtlich handelt es sich hier um ein recht komplexes Bündel von Fragen, die sich nur historisch beantworten lassen. Wie können diese Überlegungen die Konzeptualisierung von Gentrifizierung informieren? Den oben skizzierten Ideen folgend, lassen sich die anschließenden Schlussfolgerungen zusammenfassen: Erstens, und das ist das 6
Noch viel stärker gilt dies allerdings für »nachfrageseitige« Erklärungsansätze, die bislang bestenfalls Anti-Yuppie-Kampagnen befördert haben.
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Wichtigste, können ökonomische Prozesse nur sinnvoll untersucht werden, wenn sie in ihren politischen Kontext gestellt werden. Anstatt Gentrifizierung zunächst auf der Basis verallgemeinerter Regeln der Kapitalakkumulation und der Grundrententheorie zu erklären und in einem zweiten Schritt die tatsächlichen historischen Konfigurationen, unter denen diese möglich sind, als »Kontext« einzubringen, sollten ökonomische Strukturen, politische Kämpfe und staatliche Institutionen gleich zu Beginn der Analyse zusammengebracht werden. Zweitens muss die Art und Weise, wie dies geschehen kann, historisch und lokal spezifisch sein. Wenn man anerkennt, dass Gentrifizierung nur eingebettet in ihren zeitlichen und räumlichen Kontext verstanden werden kann, muss notwendig auch der Erforschung von Unterschieden zwischen verschiedenen gesellschaftlichen und institutionellen Kontexten eine zentralere Rolle zukommen. Anstelle eines einheitlichen Konzeptes von Gentrifizierung (im Singular) kann es dabei hilfreich sein, die Herangehensweise zu flexibilisieren und unterschiedliche Gentrifizierungen (im Plural) zu untersuchen. Drittens muss die historische Analyse zwar die Einbeziehung einer Vielzahl von kontingenten Faktoren ermöglichen, aber die Ergebnisse müssen in einem Konzept zusammengeführt werden, das politische und ökonomische Determinanten der Gentrifizierung wieder miteinander verwebt. Zu diesem Zweck habe ich an anderer Stelle das Konzept einer »Kommodifizierungslücke« (Bernt 2020) als neue Erklärung für die Gentrifizierung vorgeschlagen. Ich definiere die Kommodifizierungslücke als die Differenz zwischen der potenziellen Grundrente, die für ein Grundstück erreicht werden kann, wenn es vollständig kommodifiziert ist, und der tatsächlichen Grundrente, die erwirtschaftet werden kann, wenn das betreffende Grundstück dekommodifiziert (oder wenigstens teilweise dekommodifiziert) ist. Erst wenn diese Lücke geschlossen wird, werden Investitionen in Wohnraum attraktiv und Gentrifizierung kann erfolgen. Für die Möglichkeit von Gentrifizierung ist das zentral, denn Gentrifizierung kann nicht allein durch das Vorhandensein von »Gentrifiern« und »Pionieren« oder durch die Existenz einer »Rent Gap« erklärt werden. Beide Bedingungen müssen gegeben sein, um eine Gentrifizierung zu ermöglichen. Ohne eine institutionelle Umgebung, in der Wohnungen gehandelt, Mietsteigerungen durchgesetzt und Grundstücke bebaut werden können (d.h. ohne eine Schließung der »Kommodifizierungslücke«) bleibt es jedoch bei der Möglichkeit von Gentrifizierung, ohne dass diese zustande kommen kann.
Die Grenzen der rent gap-Theorie
In der Summe plädiere ich also für eine stärker institutionell-politisch ausgerichtete Analyse von Gentrifizierung. Die rent gap-Theorie bietet dafür einen unabdingbaren Ausgangspunkt – nicht mehr und nicht weniger.
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Rent gap-getriebene kaskadenförmige Ausdehnung immobilienwirtschaftlicher Aufwertung entlang der Städte-Hierarchie? Richard Bůžek und Michael Mießner
Steigende Miet- und Immobilienpreise prägen seit rund zehn Jahren die deutschen Großstädte. Gegenwärtig werden aber auch die Wohnungsmärkte des metropolitanen Umlandes und einiger verkehrsgünstig gelegener Klein- und Mittelstädte von dieser Dynamik erfasst, wie jüngste immobilienwirtschaftliche Studien (z.B. F+B 2020) deutlich machen. Dies wirft die Frage auf, ob sich die zuspitzende Wohnungsfrage nicht mehr nur auf deutsche Metropolen beschränkt, sondern sich auch jenseits der urbanen Zentren zunehmend stellt und Aufwertungs- und Verdrängungsprozesse von den Metropolen in kleinere Städte diffundieren. Mit Bezug auf angloamerikanische Diskussionen könnten solche Prozesse angesichts des Investitionsdrucks auf den Wohnungsmärkten der ranghöchsten Global Cities (Atkinson/Bridge 2005) als kaskadenförmige Ausbreitung von Gentrifizierung entlang der Städte-Hierarchie (Lees 2006) interpretiert werden, die zu einer »provincial gentrification« (Bridge 2003) führen. Die Konzeption des Kaskadenmodells ist jedoch theoretisch bisher wenig bestimmt und empirisch auf Metropolen und deren unmittelbares Umland (Smith u.a. 2001, Lees 2006, Porter 2010) oder kleinere Großstädte (Dutton 2003; 2005; Fehlberg/Mießner 2015) beschränkt. So fungiert die Idee der kaskadenförmigen Ausbreitung immobilienwirtschaftlicher Aufwertungsprozesse bisher eher als Metapher denn als Konzept. In unserem Beitrag wollen wir deshalb erstens den Investitionsdruck auf den Immobilienmärkten der Metropolen (Atkinson/Bridge 2005) mit dem steigenden finanzgetriebenen Anlagedruck (Sablowski 2011) erklären. Darauf aufbauend wollen wir zweitens die Ausbreitungsthese des Kaskadenmodells mit Hilfe der rent gapTheorie (Smith 2019 [1979]) fundieren. Drittens erläutern wir, dass eine rein investitionsseitige Erklärung des Kaskadeneffektes zu kurz greift und illus-
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trieren am Beispiel der brandenburgischen Mittelstädte Fürstenwalde (Spree) und Neuruppin die Bedeutung lokaler Bedingungen für das Öffnen von rent gaps in der Städte-Hierarchie. Mit dem Fokus auf Mittelstädte leisten wir einen konzeptionellen Beitrag zu der bislang wenig diskutierten räumlichen Ausbreitung von rent gaps unter Bedingungen von Wohnraumfinanzialisierung und plädieren dafür, dieses Forschungsfeld künftig stärker zu berücksichtigen.
1.
Finanzialisierung des Immobilienmarktes und ihre Konsequenzen für die Metropolen
Kapitalinvestitionen in die »gebaute Umwelt«, welche auch die in diesem Beitrag im Zentrum stehenden Wohnimmobilien umfasst, können als eine Möglichkeit der (temporären) Krisenvermeidung im Rahmen kapitalistischer Akkumulation fungieren (Harvey 2006 [1982]). Die Umlenkung von Überschusskapital in die gebaute Umwelt erfordert entsprechende institutionelle Rahmenbedingungen (Harvey 2006 [1982], → Belina). Diese wurden insbesondere im Rahmen der Verschiebungen vom Fordismus zum finanzdominierten Akkumulationsregime (Sablowski 2011) geschaffen: Deregulierungen erleichterten grenzüberschreitende Kapitalinvestitionen, wodurch auch deutsche Grundstücks- und Immobilienmärkte schrittweise als Anlagesphäre für global zirkulierendes Kapital mobilisiert wurden (Heeg 2004). Der Abbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen hat eine Responsibilisierung breiter Bevölkerungsschichten zur Folge, die Bürger*innen anruft, eigenverantwortlich Lebensrisiken und privaten Wohlstand als rationale Marktakteur*innen zu managen. Einerseits führt dies zur Ausweitung privaten Anlageverhaltens zum Beispiel durch die Bildung von privatem Wohneigentum als Wertanlage oder zusätzlichen Einkommensquelle durch Vermietung. Anderseits erhalten durch Responsibilisierung institutionelle Anleger wie Pensionskassen, Versicherungen oder Investmentfonds großen Kapitalzufluss, welchen sie profitabel anlegen müssen (Heeg 2013). Im Rahmen des finanzdominierten Akkumulationsregimes hat das Finanzkapital somit erheblich an Bedeutung in allen Bereichen der Ökonomie sowie in der Kapitalzirkulation gewonnen (Christophers 2012, sowie → Janoschka). In Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 und der daran anschließenden Niedrigzinsphase hat sich eine sogenannte »wall of money« liquiden Anlagekapitals (Fernandez und Aalbers 2016) auf der Suche nach ren-
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tablen Sphären zur Kapitalplatzierung aufgestaut, die es unter anderem in den profitträchtigen Wohnungs- und Immobilienmärkten deutscher Metropolen wie Frankfurt a.M., Berlin, Hamburg, Köln oder München findet (Heeg 2013). Auf diese Städteklasse konzentriert sich auch die deutsche Gentrifizierungsforschung (Üblacker 2018, → Glatter/Mießner). Kapitalplatzierungen (vgl. Zeller 2011) in Wohnraum konkurrieren allerdings immer mit den Renditeverhältnissen in anderen potenziellen Anlagesphären. Um als Anlagesphäre für liquides Kapital zu fungieren, muss zunächst eine Vergleichbarkeit der traditionell ortsgebundenen, fragmentierten und durch unvollkommene Markttransparenz gekennzeichneten Immobilienmärkte (Musil 2019, 18) mittels kalkulativer Praktiken hergestellt werden (Bitterer/Heeg 2015). Diese Berechnung und Einordnung von Immobilien(-standorten) in global kommensurable Rendite-Risiko-Modellierungen, Marktberichte, Transparenzindizes etc. ist notwendige Entscheidungsgrundlage für systematisierte und rationalisierte Kapitalplatzierungen. Trotz methodischer und räumlicher Expansion der privaten Wohnungsmarktbeobachtung sind die Märkte für Wohnimmobilien weiterhin durch unvollkommene Transparenz (opacity) charakterisiert. Das gilt vor allem für Märkte jenseits der großen Metropolen, da dort besondere Ortskenntnisse und das Wissen über lokale Markt- und Regulationsstrukturen erforderlich sind (Gotham 2009). Zudem werden diese kalkulativen Praktiken hauptsächlich auf metropolitane Immobilienmärkte und weniger auf zweitrangige Städte angewandt, »[so]dass der bereits bestehende Fokus von Investor*innen auf international bekannte Städte weiter verstärkt wird« (Bitterer/Heeg 2015, 47f.). Daher strömt anlagesuchendes Kapital unter Bedingungen der Finanzialisierung zunächst in die Metropolen und sorgt dort für große Investitionsvolumina in Wohnimmobilien. Folglich intensiviert sich der Wettbewerb zwischen konkurrierenden Investor*innen um Grundstücke und Immobilien (Atkinson/Bridge 2005), was zu steigenden Preisen führt (Ache u.a. 2020). Im folgenden Abschnitt zeigen wir, dass dies die Grundlage für eine kaskadenförmige Ausbreitung der Investitionen in andere, in der Städte-Hierarchie nachgeordnete Städte bilden kann.
2.
Städte-Hierarchie und rent gap
Während neomarxistische Ansätze die strukturellen Bedingungen der Kapitalakkumulation in der gebauten Umwelt vom abstrakten Standpunkt des Kapitals aus herausgearbeitet haben (Harvey 2006 [1982], vgl. → Belina) und oben
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diskutiert wurde, wie sich dies auf finanzialisierten Immobilienmärkten verhält, liegt mit der rent gap-Theorie von Neil Smith (2019 [1979]) eine Erklärung vor, wie sich diese abstrakten Tendenzen der Kapitalakkumulation an konkreten Orten in der gebauten Umwelt auswirken können: entscheidend ist hierbei die Grundrente, welche diese Kapitalströme vermittelt, weil sie langfristig hohe Renditen auf das platzierte Kapital aufgrund von Rentenzahlungen ermöglicht. Während der Zusammenhang von Finanzialisierung und rent gap in den vergangenen Jahren vermehrt Aufmerksamkeit erlangt hat (→ Bernt), ist sie bisher nicht systematisch für die Ausbreitung von Kapitalinvestitionen in die gebaute Umwelt entlang der Städte-Hierarchie angewandt worden. Wir argumentieren, dass die rent gap-Theorie eine Möglichkeit zur theoretischen Erklärung der kaskadenförmigen Ausbreitung von Gentrifizierungsprozessen entlang der Städte-Hierarchie darstellt. Smith betont die Bedeutung von Kapitalinvestitionen in die gebaute Umwelt als Auslöser von Gentrifizierung. Er argumentiert, dass die rent gap, die Lücke zwischen aktuell realisierter und potenzieller Grundrente, ursächlich für Investitionen in die gebaute Umwelt ist. Ist diese Lücke ausreichend groß, so ist es für Investor*innen profitabel, in den entsprechenden Gebieten zu investieren. Smith weist darauf hin, dass die rent gap nicht wie ein Naturgesetz wirkt, sondern Ergebnis »kollektiven sozialen Handelns« (Smith 2019 [1979], 80) ist, also gesellschaftlich, politisch und ökonomisch vor Ort spezifisch produziert wird. Obwohl in Smiths Klassiker die Aufwertung urbaner Zentren und nicht der suburbanen Peripherie beschrieben wird, ist es vom Standpunkt des Kapitals aus allein entscheidend, dass die rent gap zukünftige Renditehöhen erlaubt, die im Vergleich mit anderen Anlagesphären konkurrieren können bzw. bei größeren Risiken am Investitionsstandort höhere Renditen ermöglichen. Somit beginnen Prozesse immobilienwirtschaftlicher Aufwertung oftmals in den guten Lagen urbaner Zentren. Ist dort die Kapitalisierung potenzieller Grundrenten bereits vollzogen, können auch periphere Räume innerhalb der Metropolen mit geringeren, jedoch ausreichend hohen Renditemöglichkeiten zu weiteren Zielen der Kapitalplatzierung in Wohnimmobilien werden (ebd., 81). Smith betont darüber hinaus den Zusammenhang zwischen Investitionen in die gebaute Umwelt und der Verfügbarkeit von überakkumuliertem und anlagesuchendem Kapital. In Phasen prosperierender Kapitalakkumulation steigen aufgrund des Anlagedrucks auch die Grundstückswerte in der suburbanen Peripherie. Die Investitionen in suburbanen Räumen werden aufgrund der – durch den Anlagedruck in den Metropolen entstehenden – Knappheit an Grundstücken und Investitionsobjekten
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sowie einer gesteigerten Markttransparenz abseits der Metropolen nochmals befördert. Diese Argumentationsfigur wurde bisher hauptsächlich auf innerstädtische Aufwertungsprozesse übertragen. Wir argumentieren, dass sie sich auch auf Prozesse entlang der Städte-Hierarchie anwenden lässt. So kommt es angesichts des weltweiten Anlagedrucks im finanzdominierten Akkumulationsregime und der Konzentration der Investitionen auf die Metropolen (vgl. Abschnitt 1) dort zu einer großen Konkurrenz um Grundstücke und zu steigenden Immobilienpreisen, wobei die Mietpreisentwicklungen nicht mehr mit den Immobilienpreissteigerungen mithalten können (Rat der Immobilienweisen 2020). Für Berlin konstatierte beispielsweise das Marktforschungsinstitut F+B (2020) zuletzt sogar leicht sinkende durchschnittliche Mieten, was einerseits auf politische Regulierung (z.B. Mietpreisbremse, Kappungsgrenzen oder die zwischenzeitliche Einführung des Mietendeckels) und andererseits auf eine an ihre Grenzen stoßende nachfrageseitige Zahlungsbereitschaft von Mietinteressent*innen zurückgeführt wird. Die zugleich weiter deutlich steigenden Immobilienpreise haben dazu geführt, dass die Bruttoanfangsrenditen in Berlin und anderen deutschen Großstädten sinken (Rat der Immobilienweisen 2020). Entsprechend verringern sich die rent gaps in den Metropolen, sodass in der Städte-Hierarchie nachgeordnete B- und CLagen-Städte in den Fokus von Anleger*innen geraten können, deren rent gaps vormals geringer waren als die metropolitanen (Fehlberg/Mießner 2015). Die kaskadenförmige Ausbreitung immobilienwirtschaftlicher Aufwertungsprozesse entlang der Städte-Hierarchie kann so durch die Inwertsetzung unterschiedlich großer rent gaps in der Städte-Hierarchie erklärt werden. Da Mieterhöhungen eine Möglichkeit sind, die rent gap zu schließen, deuten die steigenden Mieten in vielen kleineren Großstädten (IVD 2018; Savills 2018) darauf hin, dass ein solcher Prozess in Deutschland bereits eingesetzt haben könnte. Dass Investor*innen zunehmend auch B-, C- und auch D-Lagen-Städte als Anlageorte erkannt haben, legen auch die gestiegenen Kaufpreise für Eigentumswohnungen in den kreisfreien deutschen Städten sowie in wachsenden – und sogar schrumpfenden – ländlichen Kreisen nahe (Rat der Immobilienweisen 2020). Ein weiteres Indiz für den sich ändernden räumlichen Fokus von Investor*innen ist die Ausweitung von Marktbeobachtungen und Bewertungen mittels kalkulativer Praktiken auf kleinere B-, C- und D-Lagen-Städte durch erste Marktforschungsinstitute (u.a. F+B 2018). Jüngst wurde entsprechend auch in solchen Städten eine erhöhte Präsenz von institutionellen (Finanz-)Investor*innen und privaten
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Anleger*innen konstatiert (Fehlberg/Mießner 2015; Bernt u.a. 2017). Diese Entwicklungen deuten darauf hin, dass die finanz- und anlagegetriebene immobilienwirtschaftliche Aufwertung nun auch kleinere deutsche Städte erreicht und auch dort Gentrifizierungsprozesse in Gang gesetzt werden könnten (bspw. Mießner/Klinge 2017). Mit dem Fokus auf kleinere Städte wollen wir, ähnlich wie bereits Anfang der 1990er-Jahre von Stefan Krätke (1991) unternommen, die Überlegungen zu globalen Städte-Hierarchien und Global Cities (Sassen 2013[1991]) für eine stärker regionalwissenschaftliche Diskussion (z.B. Krumbein u.a. 2008) nutzbar machen.
3.
Kaskadenförmige Ausbreitung immobilienwirtschaftlicher Aufwertung auf Mittelstädte?
Während der vorherige Abschnitt gezeigt hat, warum es angesichts des finanzgetriebenen Anlagedrucks zu einem Kaskaden-Effekt entlang der StädteHierarchie kommen kann, wollen wir nun ausloten, unter welchen Bedingungen sich rent gaps in nachgeordneten Mittelstädten öffnen. Denn ein gesetzmäßiges Übergreifen des Kaskaden-Effektes aufgrund der jüngeren finanzgetriebenen rent gap-Angleichung auf kleinere Städte kann nicht per se angenommen werden. Vielmehr sind die konkreten lokalen ökonomischen und politischen Konstellationen, die eine Stadt zu einem profitablen Investitionsstandort machen, von entscheidender Relevanz (Dutton 2005). Schon Smith argumentiert, dass alle »Konsumentenpräferenzen der Welt [nichts; d. Verf.] bewirken« (2019 [1979], 80), wenn vor Ort kein Kapital investiert wird. Umgekehrt kann sich ohne eine zahlungsfähige Nachfrage vor Ort das in Wohnimmobilien platzierte Kapital zur Kapitalisierung potenzieller Ertragslücken nicht verwerten. Es sind also die konkreten politisch-ökonomischen Bedingungen vor Ort zu erforschen, die das Interesse an Investitionen in Wohnimmobilien und Bauland wecken und somit das Öffnen von rent gaps bewirken. So konnten bereits einige Untersuchungen zeigen, inwiefern solche Prozesse mit der lokalen Entwicklung des Finanzsektors (Dutton 2005), des Dienstleistungssektors (Lees 2006), der Ausrichtung von Investor*innen auf die studentische Nachfrage (Miessner 2020), lokalen Planungspolitiken (Mösgen u.a. 2019), Tourismus (Van-Hametner u.a. 2019) oder lokalen institutionellen und regulatorischen Strukturen (Zeller u.a. 2018) zusammenhängen. Diese Arbeiten beschränken sich dabei jedoch auf Städte mit mehr als 100.000 Einwohner*innen. Das bisherige Verständnis eines immobilienwirtschaftlich ange-
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triebenen ›kaskadenartigen‹ »gentrifying down the urban hierarchy« (Lees 2006) bzw. »provincial gentrification« (Dutton 2005) bleibt insofern auf diese Städteklassen begrenzt. Im Folgenden erweitern wir das Verständnis der kaskadenförmigen Ausbreitung immobilienwirtschaftlicher Aufwertung entlang der StädteHierarchie. Hierzu orientieren wir uns an der Städte-Hierarchie der Berlin-Brandenburgischen Landesplanung (Land Brandenburg 2019) und fokussieren am Beispiel zweier Mittelstädte (Fürstenwalde/Spree und Neuruppin) empirisch auf eine neue Städteklasse, die in der oben diskutierten Gentrifizierungsforschung bislang einen blinden Fleck darstellte. Anhand des Berlin-Brandenburgischen Städtesystems werden wir illustrieren, inwiefern eine kaskadenförmige Ausbreitung der finanzgetriebenen Immobilieninvestitionen stattfindet und welche Bedeutung die lokalen Bedingungen für das Öffnen von rent gaps in Mittelstädten besitzen. Seit der Wiedervereinigung konzentrierte sich das wirtschaftliche Wachstum der Region auf Berlin und das unmittelbare Umland. Damit verknüpfte Urbanisierungsprozesse fanden somit zunächst hauptsächlich in Berlin und in den suburbanen Berliner Umlandgemeinden statt. Vom Berliner Stadtzentrum ausgehend sorgte eine immobilienwirtschaftlich induzierte »Aufwertungsspirale« (Döring/Ulbricht 2016) für Gentrifizierungsprozesse. Die damit einhergehende Verdrängung, aber auch individuelle Umzugsentscheidungen angesichts abnehmender Bezahlbarkeit am Berliner Wohnungsmarkt führten zu kaskadenförmigen Umzugsketten innerstädtischer Einwohner*innen an den Stadtrand sowie von Stadtrandbewohner*innen in den suburbanen Gürtel Berlins (Hierse u.a. 2017, 197). Der so in der Hauptstadt in den vergangenen zehn Jahren in Gang gesetzte Suburbanisierungsprozess erstreckt sich seit einiger Zeit auch auf die sogenannten »Städte der zweiten Reihe« (Land Brandenburg 2019, 69), die in der Berlin-Brandenburgischen StädteHierarchie zweit- und drittrangigen etwas entfernter gelegenen Mittelstädte Brandenburgs (vgl. Abbildung 1), die verkehrsinfrastrukturell gut angebunden sind und bis vor Kurzem durch Bevölkerungsverluste geprägt waren. In einem Vergleich der Bodenpreisindizes für baureifes Land (vgl. Abbildung 2) wird deutlich, dass die Dynamik auf den jeweiligen lokalen Immobilienmärkten unterschiedlich verläuft. Ab 2014 steigen die Bodenpreisindizes in Berlin, im Berliner Umland, in Mittelzentren der Zweiten Reihe sowie in Oberzentren des »Weiteren Metropolenraums« deutlich an, während bis 2014 nur ein leichter Anstieg mit starken Schwankungen zu verzeichnen ist. Die Dynamik dieses Anstiegs ab 2014 unterscheidet sich allerdings deut-
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lich innerhalb der Städte-Hierarchie in der Hauptstadtregion: während der Bodenpreisindex in der Metropole Berlin bereits von 2014 auf 2015 um über 20 % und seitdem jährlich mehr als 25 % stieg, waren die Steigerungsraten im Berliner Umland (+14 %), aber auch in den Zweite-Reihe-Städten Eberswalde (+15 %) und Gransee (+7 %) von 2014 auf 2015 noch deutlich schwächer. Erst seitdem sind die Preissteigerungsraten denen in Berlin ähnlich – das Wachstum verlief also mit leichter zeitlicher Verzögerung. In den peripherer gelegenen Oberzentren Cottbus und Frankfurt (Oder) fallen die Preissteigerungen dagegen moderater aus. Da eine steigende Bodenpreisentwicklung ein Hinweis auf von den Investor*innen antizipierte rent gaps darstellt (Schipper 2013), könnte die Entwicklung der Bodenpreisindizes in der Hauptstadtregion Berlin-Brandenburg somit auf eine kaskadenförmige Ausweitung von rent-gap Steigerungen entlang der Städte-Hierarchie hindeuten. Allerdings zeigt die sehr divergierende Preisentwicklung in den verschiedenen ZweiteReihe-Städten, dass diese Ausbreitung abhängig von den lokalen Gegebenheiten zu sein scheint: Während etwa die gleich großen Mittelzentren Eberswalde und Neuruppin übermäßige bzw. starke Preisanstiege verzeichneten, sank der Bodenpreisindex im ebenso großen Mittelzentrum Fürstenwalde zuletzt sogar und befindet sich auf ähnlich niedrigem Niveau wie im Oberzentrum Brandenburg/Havel. Folglich lohnt sich ein Blick auf die lokalen Bedingungen, welche die jeweiligen rent gap-Entwicklungen beeinflussen, um diese unterschiedlichen Immobilienmarktentwicklungen in den in der Berlin-Brandenburgischen Städte-Hierarchie nachgeordneten Zweite Reihe-Städten zu verstehen. Dies skizzieren wir für lokal-spezifische Angebots- und Nachfragekonstellationen in den vergleichbaren Mittelzentren Fürstenwalde und Neuruppin, die trotz ähnlicher Bevölkerungszahl (vgl. Tabelle 1) für graduell gegensätzliche Entwicklungen stehen. Obgleich Fürstenwalde über eine deutlich schnellere ÖPNV-Anbindung an das Berliner Stadtzentrum als Neuruppin verfügt, ist der Bodenpreis seit 2010 um nur 25 % gestiegen, während er in Neuruppin um 82 % (s. Abbildung 2) stieg. Auch die Entwicklung des Angebotsmietpreises ist in Fürstenwalde mit 27 % seit 2012 auf ein moderates Niveau von 6,96 €/m² im Vergleich zu Neuruppin mit 48 % im selben Zeitraum deutlich geringer (s. Tabelle 1). Die dargestellten Ergebnisse basieren auf zwei Fallstudien zu Fürstenwalde und Neuruppin im Rahmen derer sekundärstatistische Daten ausgewertet und Interviews mit lokalen Stakeholdern, politischen Entscheidungsträger*innen sowie Expert*innen geführt wurden (für eine ausführliche Darstellung s. Bůžek/Mießner 2021).
Aufwertung entlang der Städte-Hierarchie?
Abbildung 1: Übersicht über die Zweite Reihe-Städte Brandenburgs
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Abbildung 2: Entwicklung der Bodenpreisindizes für baureifes Land in ausgewählten Lagen in der Hauptstadtregion Berlin-Brandenburg
Datenquellen: Oberer Gutachterausschuss für Grundstückswerte im Land Brandenburg (2018) und in den Landkreisen Havelland (2019), Oder-Spree, Ostprignitz-Ruppin (2019), Teltow-Fläming (2019), und in den Städten Frankfurt (Oder) (2019), Brandenburg (2019), Cottbus (2019) sowie Gutachterausschüsse für Grundstückswerte in Berlin (2020)
Aufwertung entlang der Städte-Hierarchie?
Tabelle 1: Übersicht zentraler Daten der Fallstudienorte Indikator
Fürstenwalde
Neuruppin
Fahrtzeit ins Berliner Stadtzentrum mit ÖPNV
31 min
64 min.
Bevölkerungszahl (2018)
33.200
31.600
Bevölkerungsentwicklung 2012-2018
3,6 %
2,7 %
Leerstand
4,9 % (2016)
3,0 % (2019)
Angebotsmietpreis (2019)
6,96 €/m²
7,60 €/m²
Entwicklung der Angebotsmieten 2012-2019
26,8 %
47,9 %
Bodenpreisindexentwicklung (2010-2018)
+25,4
+ 82,4*
*ohne Sonnenufer Quelle: Bůžek/Mießner 2021, 91
3.1
Ausbleibende Öffnung der rent gap in Fürstenwalde
Die moderate Entwicklung der Boden- und Mietpreise in Fürstenwalde beruht auf angebots- und nachfrageseitigen Entwicklungen, die das Öffnen einer rent gap bislang verhindert haben. Erstens sorgte eine ab 2015 gestiegene Nachfrage nach preisgünstigem Wohnraum durch den Zuzug Geflüchteter für keinen erheblichen Druck am Fürstenwalder Wohnungsmarkt: Leerstände und die Reaktivierung stillgelegter Etagen in Beständen des kommunalen Wohnungsunternehmens konnten die kurzfristige Nachfragesteigerung bedienen (I 13), weshalb der Leerstand im Jahr 2016 mit 4,9 % (B.B.S.M. 2018, 7) weiterhin über der Fluktuationsreserve von 3 % lag. Dagegen blieben nennenswerte Zuwanderungen zahlungsfähigerer Interessent*innen aus Berlin nach Fürstenwalde bislang aus (I 12) – das wird auch an dem moderaten Bevölkerungswachstum der Stadt seit 2012 deutlich. Dies wirkt sich zweitens auf die Zahlungsbereitschaft der Nachfragenden am Wohnungs- und Grundstücksmarkt aus: Die seit Mitte der 2010erJahre deutlich gestiegene Nachfrage nach Wohnbaugrundstücken konstituierte sich überwiegend aus lokal ansässigen Käufer*innen bzw. zugewanderten Privathaushalten aus Umlandgemeinden (I 17). Aufgrund des regional unterdurchschnittlichen Kaufkraftniveaus lagen die Kaufpreise bei Grundstücksveräußerungen bei weniger als 100 €/m² und somit deutlich unter jenen in nahe gelegenen Berliner Umlandgemeinden (I 12, I 15). Fehlende Zuzüge zahlungskräftigerer Haushalte aus Berlin lassen zudem die Zahlungs-
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bereitschaft am Grundstücksmarkt auf unterdurchschnittlichem Niveau verharren. Drittens haben lokale Projektentwickler*innen in Fürstenwalde keine Konkurrenz durch überregionale und kapitalstärkere Investor*innen, da die Größe bisher entwickelbarer Wohnbauflächen, die geringere städtebauliche Attraktivität und ein fehlendes positives Image der Stadt als attraktiver Investitionsstandort bislang keine Nachfrage dieser Akteursgruppe am Fürstenwalder Wohnungsmarkt induziert haben (I 12). Dies hat zur Folge, dass ein Überbietungswettbewerb um Grundstücke tendenziell ausbleibt und die Bodenpreise nicht so stark steigen. Viertens sorgt eine auf die Zahlungsbereitschaft lokal ansässiger Mittelschichtshaushalte ausgerichtete kommunale Stadtentwicklungspolitik für gedämpfte Preissteigerungen am Grundstücksmarkt: Mit der zwischen 2016 und 2018 erfolgten Privatisierung kommunaler Grundstücke zum privaten Einfamilienhausbau wurde das Flächenangebot kurzfristig erheblich ausgeweitet. Zudem wurde bewusst auf eine überregionale Bewerbung der Grundstücke verzichtet und die Anzahl möglicher Gebote begrenzt, um einen großflächigen Aufkauf durch Investor*innen zu verhindern, sodass die Veräußerungen überwiegend an lokal ansässige Käufer*innen erfolgten (I 17). Zusammengefasst öffnete sich in Fürstenwalde bislang keine rent gap, da die städtebaulichen und immobilienwirtschaftlichen Rahmenbedingungen sowie das beschriebene Zusammenspiel unterschiedlicher Akteur*innen am lokalen Wohnungsmarkt eine Konstellation produzieren, welche die Durchsetzung erheblicher Grundrentensteigerung unterbindet.
3.2
Rent gap-Öffnung in Neuruppin
Im Gegensatz zu den Entwicklungen in Fürstenwalde deuten die Boden- und Mietpreissteigerungen in Neuruppin auf steigende Grundrenten und damit auf eine sich öffnende rent gap hin. Dies hat verschiedene Gründe. Erstens ist die Leerstandsquote in der Stadt von 5,6 % im Jahr 2011 auf die als Fluktuationsreserve notwendigen 3 % gesunken (Institut für Wohnen und Stadtentwicklung 2019). Zugleich ist die Bevölkerung der Stadt auch aufgrund von Zuzügen aus Berlin (I 2) sowie dem Neuruppiner Umland (I 7) leicht gewachsen. Die Stadtentwicklung setzt angesichts eines langfristig erwarteten Bevölkerungsrückgangs auf Innenentwicklung und geringe Flächenausweisungen (Fontanestadt Neuruppin 2017). Einer gestiegenen Nachfrage stehen also
Aufwertung entlang der Städte-Hierarchie?
keine leicht zu reaktivierenden Leerstände und nur geringe Flächenneuausweisungen gegenüber. Zweitens ist festzuhalten, dass es eine Nachfrage nach Wohnungen im höheren Preissegment durch zahlungskräftige Klientel in der Stadt gibt. Zum einen sind die aus Berlin unter anderem aufgrund der reizvollen Landschaft und der Attraktivität der sanierten historischen Altstadt zuziehenden Haushalte deutlich höhere Immobilien- und Mietpreise gewöhnt und daher bereit, für den Neuruppiner Markt hohe Preise zu zahlen. Zum anderen sorgen die ortsansässigen Behörden, wie Stadt- und Kreisverwaltung, Landgericht oder Polizeidirektion, für eine vergleichsweise zahlungskräftige Nachfrage (Ernst Basler + Partner 2013). Zudem drängen drittens vermehrt externe kapitalstarke Investor*innen – meist, aber nicht ausschließlich aus Berlin – auf den Neuruppiner Immobilienmarkt (I 9). Sie werden immer dann aktiv, wenn größere Häuser zum Verkauf stehen (I 4). Wichtig sei dabei, dass die Renditen auf dem Berliner Markt inzwischen gesunken seien und insbesondere im attraktiven Altstadtbereich Neuruppins zum Teil »bessere Renditen als in Berlin« erzielbar seien (I 1). Im Unterschied zu Fürstenwalde sind lokale Projektentwickler*innen in Neuruppin viertens in der Lage, Angebote an überregionale private Finanzanleger*innen zu vermitteln. So ist es einem dieser Projektentwickler mithilfe einer geschickten Vermarktungsstrategie gelungen, Wohnungen in attraktiver Seelage für mehr als 2.790 €/m² – einem Preis, der weit über dem Neuruppiner Niveau liegt (I 3) – an überregionale private Anleger*innen, insbesondere aus Bayern, zu veräußern und die Stadt als attraktiven Anlagestandort zu vermarkten. Zudem sollen die Wohnungen zu einem ebenfalls überdurchschnittlichen Nettokaltmietenpreis von 12,00 €/m² bis 14,50 €/m² vermietet werden. Zusammenfassend lässt sich für Neuruppin konstatieren, dass einer erhöhten zahlungskräftigen Wohnungsnachfrage geringer Leerstand und geringe Flächenneuausweisungen gegenüberstehen. In diesem Umfeld sehen Investor*innen hier die Möglichkeit, rent gap-Steigerungen durchzusetzen. Deshalb drängen kapitalstarke Investor*innen auf den Neuruppiner Markt und lokale Projektentwickler*innen können erfolgreich überregionales privates Anlagekapital in die Stadt leiten.
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4.
Fazit
Die hier dargestellten Entwicklungen legen nahe, dass sich Immobilieninvestitionen und damit möglicherweise auch Gentrifizierungsprozesse auf kleinere Städte ausweiten können. In der untersuchten Städte-Hierarchie BerlinBrandenburgs wird allerdings deutlich, dass nicht alle nachrangigen Städte gleichermaßen von Aufwertungstendenzen ihrer Wohnungsmärkte betroffen sind. Vielmehr scheinen unsere empirischen Ergebnisse der Fallstudien auf den ersten Blick dem theoretischen Argument einer kaskadenförmigen Ausweitung immobilienwirtschaftlicher Aufwertung zu widersprechen. Trotz ähnlicher Position in der Berlin-Brandenburgischen Städte-Hierarchie wird in Neuruppin die Öffnung einer rent gap vollzogen, während in Fürstenwalde keine Durchsetzung erheblicher Grundrentensteigerungen erkennbar ist. Eine gesetzmäßige, kaskadenförmige Ausbreitung rent gap-getriebener Aufwertungsprozesse entlang der Städte-Hierarchie liegt somit nicht vor. Die von uns vorgenommene Erweiterung des Kaskaden-Modells durch die rent gapTheorie unterstreicht jedoch unsere Ergebnisse: Gemäß der historisch-materialistischen Theorietradition ist die Öffnung und Kapitalisierung von Ertragslücken kein vermeintlich ›natürliches‹ Ergebnis von Angebot und Nachfrage, sondern basiert stets auf den konkreten polit-ökonomischen Bedingungen vor Ort. Die Eigentumsverhältnisse und Akteur*innenkonstellationen, die regionalökonomische Einbindung und stadtpolitischen Programme können an lokalen Immobilienmärkten sehr unterschiedliche Voraussetzungen für das (Nicht-)Öffnen einer rent gap produzieren. Das Fürstenwalder Beispiel verdeutlicht dabei insbesondere die Handlungsfähigkeit von Kommunen bei der Verlangsamung immobilienwirtschaftlicher Aufwertung auf mittelstädtischen Wohnungsmärkten: Ohne eine aktive Politik sozial-gerechter Wohnraumversorgung zu verfolgen, gelang es hier einerseits, über das kommunale Wohnungsunternehmen die Preise am Mietmarkt auf moderatem Niveau zu halten. Andererseits sorgten die Angebotsausweitungen durch Grundstücksprivatisierungen für die Gewährleistung eines niedrigen und den lokalen Kaufkraftverhältnissen entsprechenden Preisniveaus am Grundstücksmarkt. Gleichzeitig wurde auf ein überregionales Marketing verzichtet. Kontrastierend dazu zeigt das Beispiel aus Neuruppin, wie eine langfristig mit Schrumpfung rechnende städtische Liegenschaftspolitik angesichts neuer Wachstumsbedingungen zusammen mit dem Anwerben überregionaler Investor*innen durch private Akteur*innen Boden- und Mietpreissteigerungen begünstigt.
Aufwertung entlang der Städte-Hierarchie?
Wie bereits betont, verhalten sich die lokalen Angebots- und Nachfragekonstellationen unterschiedlich, sodass sich aus den Fallstudien keine direkten kommunalpolitischen Handlungsempfehlungen ableiten lassen. Unser Beitrag weist jedoch darauf hin, dass die Wohnungsmärkte auch in metropolennahen Mittelstädten zunehmend Aufwertungsmechanismen unterworfen werden können. Kommunen sollten daher im interkommunalen Wettbewerb um Kapital und die Anlockung zahlungskräftigerer Mittelschichtshaushalte die soziale Wohnraumversorgung nicht aus dem Blick verlieren. Die Voraussetzungen dafür sind zumindest in den beiden Fallstädten Fürstenwalde und Neuruppin angesichts der noch immer großen Bedeutung der städtischen Wohnungsunternehmen sogar recht gut. Diese Möglichkeiten sollten zusammen mit anderen Instrumenten, wie Erbbaurechten, Bodenbevorratung, Quotenregelungen für bezahlbaren Wohnraum oder Erhaltungssatzungen genutzt werden. Bisher gibt es kaum Indizien, dass die mit den Grundrentensteigerungen häufig einhergehenden Verdrängungsprozesse in Mittelstädten bereits eingesetzt haben. Es besteht also noch Handlungsspielraum für Kommunen, dem Plädoyer von Eric Clark (2014) für ein »making rent gap theory not true« zu folgen und die Voraussetzungen für bezahlbaren Wohnraum für alle zu bewahren.
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Grundrenten auf einem eigentumsdominierten Wohnungsmarkt Das Corvin Promenade Projekt in Budapest Márton Czirfusz
»Wir erwarten eine unglaubliche Aufwertung und die meisten Käufer*innen der Eigentumswohnungen erwarten eine kurzfristige Wertsteigerung der Wohnungen auf das 1,5-Fache« – prognostizierte Péter Futó, Eigentümer und Direktor des Immobilienentwicklers Futureal im Jahre 2006, als er über das damals von der Firma begonnene Stadterneuerungsprojekt Corvin Promenade in der Budapester Innenstadt interviewt wurde (Portfolio 2006). 15 Jahre später und nach der Investition von 920 Mio. Euro in das 22-Hektar große Gelände haben sich die unternehmerischen Hoffnungen erfüllt. Die Aufwertung manifestiert sich in rasch steigenden Wohnungspreisen und der Entwickler ist mittlerweile ein bedeutender Player auf dem mittel- und osteuropäischen Immobilienentwicklungsmarkt (The Yield 2020). Der Beitrag nimmt diese Entwicklungen zum Anlass und fokussiert auf ökonomische Prozesse der Grundrentenbildung. Er schließt damit an jüngere deutschsprachige (Schipper 2013; Jensen u.a. 2018; Calbet i Elias 2019) und englischsprachige (Slater 2017; Christophers 2018; Butcher 2020) Forschungen an. In diesem Beitrag wird dabei der Frage nachgegangen, wer wie von einem der größten Stadtentwicklungsprojekte in der Budapester Innenstadt nach der Wende profitiert. Im Gegensatz zu einigen jüngeren Arbeiten, die den Fokus der empirischen Forschungen auf den Zusammenhang von Gentrifizierung, Finanzialisierung und Grundrentenbildung im Mietwohnungssektor (Heeg 2013; Fehlberg/Mießner 2015) legen, wird gezeigt, dass ähnliche Prozesse in einem eigentumsdominierten Wohnungsmarkt ablaufen. Des Weiteren macht der Beitrag deutlich, wie der Immobilienentwickler Futureal zu einem bedeutenden Player auf dem Budapester Wohnungsmarkt wurde und wie verschiedene Formen von Grundrenten sowie Renditen im Investiti-
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onsprozess miteinander kombiniert wurden. Dieser Beitrag will also den Erklärungsgehalt der Grundrententheorie in der Gentrifizierungsforschung am Beispiel der Corvin Promenade in Budapest im ungarischen Kontext überprüfen. Der erste Abschnitt fasst die Debatten in der Gentrifizierungsforschung über die Entstehung von Grundrenten kurz zusammen. Anschließend wird der geographische Kontext des Corvin Promenade Projektes vorgestellt. Der empirische Teil beschreibt anhand verschiedener Akteur*innen die Grundrenten und Renditen, die während des Bauprozesses und der Nutzung entstanden sind. Abschließend werden einige allgemeine Schlussfolgerungen für die Gentrifizierungsforschung abgeleitet.
1.
Grundrenten in der Gentrifizierungstheorie
Bereits in den 1970er und 1980er-Jahren hatte die Marxsche Theorie der Grundrente einen großen Einfluss auf die Gentrifizierungsforschung (bspw. Harvey 1978; Smith 1987). In der jüngeren Vergangenheit erlangte das Konzept der Grundrente zur Erklärung und Untersuchung von Gentrifizierung erneut Aufmerksamkeit (vgl. Slater 2017). Dabei standen die Veränderungen der Eigentümerstrukturen auf dem Wohnungsmarkt aufgrund des neuen finanzgetriebenen Anlagedrucks im Zentrum der Untersuchungen. Der Grundrententheorie folgend ist die Grundrente die Geldsumme, die Eigentümer*innen eines Grundstücks aus dem Eigentum beziehen (vgl. Marx 1983 [1894], Abschnitt 6; s. → Bernt). In den theoretischen Diskussionen werden inzwischen verschiedene Arten der Grundrente unterschieden. Dazu zählen unter anderem die Differentialrente (auch Surplusprofit), die den spezifischen Gegebenheiten der einzelnen Grundstücke und der dadurch entstandenen profitableren Produktion entspringt und von den Eigentümer*innen abgeschöpft wird; sowie die Monopolrente, welche von der Zahlungsfähigkeit der Bewohner*innen bestimmt wird und weitere in der Literatur besprochene Formen. Schipper (2013) unterscheidet zwischen Monopolrente I und Monopolrente II. Bei der Monopolrente I sind die Renten in der gesamten Stadt höher als der nationale beziehungsweise globale Durchschnitt. Die Monopolrente II wiederum bezeichnet die höhere Grundrente, die in einem Stadtteil im Vergleich zur Gesamtstadt erzielt werden kann. David Harvey (1978) hat darüber hinaus den Begriff Klassenmonopolrente eingeführt. Darunter versteht er, dass die Eigentümer*innen als Klasse ihre
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Interessen an einer höheren Grundrente durchsetzen können. Weiterhin hat Schipper (2013) am Beispiel Frankfurt a.M. eine Super-Monopolrente identifiziert. Diese stellt eine Form der Monopolrente II in Stadtteilen dar, in denen meist aufgrund stadtpolitischer Maßnahmen höhere Grundrenten erzielt werden können. Bereits in den 1980er-Jahren wurde diskutiert, ob sich Wohngebäude und Grundstücke in der Analyse der Verwertungsprozesse voneinander trennen lassen, und ob sich die Theorien der Grundrente nur auf die Grundstücksverwertung beschränken (vgl. Hirsch-Borst/Krätke 1981). In diesem Beitrag wird die Auffassung vertreten, dass Wohnungen ein fester Bestandteil des Bodens sind, da im ungarischen Kontext Grundstücke und die darauf befindlichen Gebäude selten getrennt gehandelt werden. Empirisch wird also von der Aneignung von Grundrenten gesprochen, wenn aus Eigentum in unterschiedlichen Formen, etwa dem Grundstück und darauf stehende Gebäude, Einkommen erworben wird. In der angelsächsischen und der deutschsprachigen Literatur liegt der Fokus meist auf der Grundrente, die sich in Bodenpreisen (vgl. Schipper 2013) sowie in Mietpreisen widerspiegelt. Eine Ausnahme bietet die Studie von Trautvetter (2020), in der Profite bei verschiedenen Eigentümergruppen auf dem Wohnungsmarkt in einer einheitlichen Untersuchung analysiert wurden. Im ungarischen Kontext – wo über 90 % der Bevölkerung in Eigentumswohnungen lebt – ist dieser Ansatz gewinnbringend, um auch Profite von privaten Besitzer*innen sowie Selbstnutzer*innen empirisch fassen zu können.
2.
Geographischer Kontext: Gentrifizierung auf der Corvin Promenade
Das Stadterneuerungsgebiet, welches heute als Corvin Promenade bezeichnet wird, befindet sich in der Budapester Innenstadt im Bezirk Józsefváros (»Josefstadt«, s. Abbildung 1). Das Stadtviertel wurde in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bebaut und war geprägt von ein- und zweistöckigen Mietskasernen mit kleinen Wohnungen niedriger Qualität, in denen untere Einkommensschichten wohnten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Wohnungsbestand verstaatlicht. Da in der anschließenden Zeit des Staatssozialismus ein kompletter Abriss des Altbestandes beabsichtigt war, waren fast alle Modernisierungen untersagt. Dies hatte Desinvestitionen zur Folge und
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die in diesem Quartier lebenden Bewohner*innen gehörten hauptsächlich der armen Bevölkerungsschichten an (Tomay 2006; Czirfusz u.a. 2015). Eine im Jahr 2002 durchgeführte Untersuchung identifizierte 2.400 Wohnungen auf dem heutigen Projektgebiet. Die Hälfte der Wohnungen war kleiner als 35 m², in den Nebenstraßen waren fast alle Häuser in einem für die Bewohner*innen lebensgefährdenden Zustand und drei Viertel aller Wohnungen verfügten über keine Toilette (Somlyódy 2005). Der Stadtteil wurde als Sanierungsgebiet ausgewiesen. Deshalb war in der Corvin Promenade, anders als in vielen anderen Budapester Stadtteilen, in denen die Privatisierung des Wohnungsbestands nach der Wende üblich war, die Wohnungsprivatisierung nicht überall erlaubt. Aus diesem Grund blieb ein hoher Anteil des Wohnungsbestandes in kommunalem Eigentum – so waren im Jahr 2002 zwei Drittel des Wohnungsbestandes in kommunaler Hand. Aufgrund der Desinvestitionen im Sozialismus war fast jedes dritte Grundstück unbebaut beziehungsweise das darauf befindliche Gebäude verfallen (Somlyódy 2005). Nach der Wende erhielten die Budapester Bezirksverwaltungen, die auch für Stadtplanung und Wohnen zuständig sind, umfangreiche Kompetenzen. Die unterschiedlichen wohnungs- und stadtplanerischen Politiken der Bezirksverwaltungen hatten verschiedene Stadtentwicklungs- und Gentrifizierungsprozesse in den einzelnen Bezirken zur Folge (Földi 2006; Zischner 2013). Die Bezirksverwaltung Józsefváros entschied, das Projektgebiet der Corvin Promenade von einem Investor völlig neu bebauen zu lassen, wobei sie versuchte, Verdrängungsprozesse abzumildern (Somlyódy 2005). Wegen der wirtschaftlichen Depression bis Mitte der 1990er-Jahre wurde die rent gap in innenstädtischen Quartieren nur langsam und eher auf einzelnen Grundstücken geschlossen. Größere Neubauprojekte blieben auf Grünflächen in äußeren Bezirken sowie auf industrielle Brachflächen begrenzt. Obwohl die Bezirke eine relative Autonomie in der Bauleitplanung haben, verfügten sie in den 1990er-Jahren nicht über ausreichend finanzielle Mittel, Stadtumbauprogramme in Eigenfinanzierung durchzuführen. Dies änderte sich ein wenig mit der Stabilisierung der Wirtschaft zu Beginn der 2000erJahre, dem EU-Beitritt im Jahr 2004 sowie durch die damit einhergehende Anpassung der finanziellen Regularien an EU-Standards. Nun konnte die Bezirksverwaltung von Józsefváros ihre Pläne für die Corvin Promenade verwirklichen (Alföldi 2019).
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Abbildung 1: Die Lage des Corvin Promenade Projektgebiets in Budapest
Quelle: Eigene Darstellung.
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Die Vorgehensweise war folgende: Die Projektmanagementfirma der Bezirksverwaltung kümmerte sich um den Umzug der Bewohner*innen durch einzelne Verhandlungen mit den Familien und intensive soziale Arbeit, die Ankäufe der Eigentumswohnungen, den Abriss der Gebäude sowie den Umbau einiger öffentlicher Flächen. Futureal kaufte die bereits leerstehenden oder die von der Projektmanagementfirma bereinigten Grundstücke, entwickelte Finanzierungsmodelle und bebaute die einzelnen Grundstücke. Anschließend wurden die Wohnungen und Gebäude verkauft (Abbildung 2). Laut zwei Erfindern des Verfahrens verschlechterte sich die Wohnsituation der ehemaligen Bewohner*innen der abgerissenen 1.100 Wohnungen nicht und die Ersatzwohnungen befanden sich im kommunalen Bestand im gleichen Bezirk (Alföldi 2019). Deswegen sei die Entwicklung der Corvin Promenade keine Gentrifizierung, sondern »das erste soziale Wohnungsprogramm nach der Wende« (Szurovecz 2018).
Abbildung 2: Die Corvin Promenade
Quelle: Eigene Aufnahme (November 2020).
Das Projektgebiet wurde nach unterschiedlichen Funktionen aufgeteilt (Abbildung 3): Der westliche Teil ist von einem Einkaufszentrum geprägt (Übergabe: 2010, 39.000 m² Verkaufsfläche). Neben dem Einkaufszentrum
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sind darüber hinaus Bürogebäude entstanden. Der mittlere Teil auf zwei Seiten einer neu entstandenen, 36-Meter-breiten Fußgängerzone besteht aus Wohngebäuden mit etwa 2.700 Eigentumswohnungen. Weitere Bürogebäude schließen das Projektgebiet nach Osten ab. Alle Bürogebäude wurden anfangs von Futureal selbst verwaltet, dann jedoch zwischen 2018 und 2020 an einen Immobilienfonds der größten heimischen Bank OTP verkauft (Gaál 2020). In Abbildung 3 wird deutlich, dass einzelne Grundstücke von anderen Immobilienfirmen entwickelt wurden und der alte Baubestand sporadisch erhalten geblieben ist. Letzteres geschah hauptsächlich dort, wo der Verkauf aufgrund der Eigentümerstrukturen oder des Zustands des Gebäudes nicht wirtschaftlich gewesen wäre.
Abbildung 3: Funktionaler und baulicher Wandel auf der Corvin Promenade
Quelle: Eigene Erhebung und Darstellung. Stand: November 2020.
3.
Grundrentenbildung auf der Corvin Promenade
Im Folgenden wird erläutert, wie Grundrenten auf der Corvin Promenade produziert werden. Im ersten Teil wird dargestellt, wie Futureal den Wohnungsbau auf dem Projektgebiet finanzierte. Daran anschließend wird erläutert, wie die Grundrenten nach dem Verkauf der Eigentumswohnungen ent-
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standen sind. Die beschriebenen Prozesse sind schematisch in Abbildung 4 dargestellt.
Abbildung 4: Die wichtigsten Prozesse der Grundrentenbildung im Corvin Promenade Projekt
Quelle: Eigene Darstellung.
3.1.
Grundrentenbildung von Futureal
Die Firma Futureal ist ein Paradebeispiel dafür, wie Kapital laut der Theorie von David Harvey (1978) vom primären auf den sekundären Kreislauf umgelenkt wird. Der Mathematiker Péter Futó leitete seit Mitte der 1980er eine Firma in der Süßwarenindustrie, die er 1999 wegen der stärker werdenden in-
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ternationalen Konkurrenz verkaufte. Gemeinsam mit seinem Sohn überführte er den Verkaufserlös in die Projektentwicklungsfirma Futureal. Die Corvin Promenade ist die erste große Entwicklung dieser Firma, nachdem sie zuvor einige kleinere Bauprojekte realisiert hatte (Emőd 2018). Die Wohnungsbauprojekte von Futureal werden unter dem Markennamen und Tochterunternehmen Cordia durchgeführt. Über den Realisierungszeitraum des Projektes Corvin Promenade lassen sich drei verschiedene Finanzierungsmodelle unterscheiden. In den drei Phasen spielten die Grundrenten und Renditen unterschiedliche Rollen, welche unter anderem mit der geographischen Lage, sowie mit nationalen finanzpolitischen Maßnahmen verwoben waren. Die erste Phase der Projektfinanzierung von 2007 bis etwa 2014 war durch einzelne Bankkredite für die Projektfirmen der jeweiligen Wohnhäuser geprägt. Den ersten Finanzierungsprojekten ist dabei gemeinsam, dass diese sehr kleinteilig erfolgen. Finanziert wurde nicht das Gesamtprojekt in einer Tranche, sondern jedes Gebäude über separate Verträge (Abbildung 4). Für Wohnungsbauzwecke waren staatlich subventionierte Kredite für Baufirmen bis Juli 2009 verfügbar, welche die damals hohen Zinssätze (der Basiszinssatz lag Mitte 2008 bei 8,5 %) um einige Basispunkte verringerten. Die Tranche für den Bau des ersten Wohnhauses auf der Corvin Promenade wurde im September 2007 abgerufen, für das zweite Wohnhaus während der Wirtschafts- und Finanzkrise im November 2008. Bis zur Mitte des Jahres 2009 lagen die Zinssätze bei über 10 %. Während der Finanzierungsphase des dritten Hauses sanken die Zinssätze von 10 % auf 5,5 %. Die Projektfinanzierung in der ersten Phase kam von verschiedenen ungarischen Banken, auf Forintbasis. Die geographische Lage in der Budapester Innenstadt und die dort bestehende Nachfrage nach Neubaueigentumswohnungen bedeutete eine risikoarme Finanzierung seitens der Banken. Trotz dieser vergleichsweise leichten Finanzierung hat die Wirtschafts- und Finanzkrise Futureal stark getroffen und die Firma konnte nur mit Hilfe von Eigenkapitalzuschüssen der Futó-Familie überleben (Emőd 2018). Die zweite Phase der Finanzierung zwischen 2016 und 2019 war gekennzeichnet durch objektgebundene Anlagenausgaben. Die für die Wohnprojekte von Futureal etablierte Projektentwicklungsfirma Cordia wurde 2016 in eine neue Finanzierungs-AG, Cordia International Zrt. umgewandelt. Die AG gab Unternehmensanleihen für jedes Wohnhausprojekt separat aus. Die einzelnen Anleihen wurden von unterschiedlichen Banken gekauft und so das Bauvorhaben finanziert. In diesem Modell waren die Anleihen ähnlich wie in der
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ersten Phase an konkrete Immobilienprojekte gebunden und die Kreditkonditionen wurden wahrscheinlich von den Gegebenheiten der einzelnen Projekte beeinflusst. Dabei wurden die Kredite gebündelt verhandelt, zum Beispiel berichtete Cordia Anfang 2019 über die Sicherstellung von fünf Krediten durch zwei Banken für fünf Bauprojekte in Budapest, wovon jedoch nur eines auf der Corvin Promenade angesiedelt war (Világgazdaság 2019). Die dritte Phase ab 2019 ist mit einer raschen Internationalisierung der Bautätigkeit sowie mit günstigen Finanzierungsmodalitäten durch die Ungarische Nationalbank verbunden (Abbildung 4). Als unkonventionelle geldpolitische Maßnahme kaufte die Ungarische Nationalbank 2019-2020 Anleihen privater Unternehmen für 750 Mrd. Forint (2,3 Mrd. Euro). Im November 2019 hat Cordia International Zrt. 7-Jahre-Anleihen im Wert von 44,4 Mrd. Forint (136 Mio. Euro) mit einem Zinssatz von 4 % herausgegeben. Diese Anleihe wurde um 10-Jahres-Anleihen im Wert von 40 Mrd. Forint (114 Mio. Euro) mit einem Zinssatz von 3 % im Juli 2020 ergänzt. Die Ungarische Nationalbank kaufte 41 % der 7-Jahres-Anleihen, der Rest ist in den Händen ungarischer Banken, Rentenfonds und anderen Investmentfonds (Cordia 2020a). Dadurch wurde ausreichende Liquidität hergestellt, strategische Übernahmen durchgeführt (darunter die Übernahme des polnischen Immobilienentwicklers Polnord), sowie der Einstieg in den Mietwohnungssektor ermöglicht – unter anderem auf dem deutschen Markt (Cordia 2020b). Die geographische Lage der einzelnen Projekte spielt im Gegensatz zu den beiden vorhergehenden Finanzierungsphasen keine Rolle mehr. Es ist das Rating der Firma an sich, welches die weitere Kapitalisierung ermöglicht. Da die Ungarische Nationalbank nur Anleihen einiger für die ungarische Wirtschaft strategisch wichtigen Firmen ankauft, kann davon gesprochen werden, dass in dieser Phase Klassenmonopolrenten gesichert werden. In der zweiten und dritten Phase konnten außerdem zusätzliche Grundrenten realisiert werden, weil eine Mehrwertsteuersatzvergünstigung für den Verkauf von Neubauwohnungen (5 % statt der üblichen 27 %) durch den ungarischen Staat gewährt wurde. Diese Vergünstigung bestand zwischen 2016 und 2019 und wurde angesichts der Corona-Pandemie erneut ab Januar 2021 wieder für zwei Jahre eingeführt. Laut einer Analyse der Ungarischen Nationalbank konnte mit dieser Maßnahme die Profitabilität der Investitionen bei gleichzeitig steigenden Baukosten sichergestellt werden (MNB 2020). Große Player konnten aus dieser Maßnahme einen größeren Nutzen ziehen: Sie hatten einen Vorrat von Grundstücken und Baugenehmigungen, welche durch die Senkung des Mehrwertsteuersatzes schneller verwirklicht wurden. Auch
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auf der Corvin Promenade konnte der Bau eines Wohnhauses aufgrund der durch die Mehrwertsteuersenkung steigenden Nachfrage beschleunigt werden. Entsprechend kann hier von der Realisierung von Super-Monopolrenten (Schipper 2013) nicht aufgrund der Lage, sondern aufgrund einer allgemein eingeführten Regelung gesprochen werden, von der große Player der Immobilienbranche am stärksten profitieren. Schließlich spielte die Umschlagszeit des Kapitals (Harvey 1978; HirschBorst/Krätke 1981) bei Futureal/Cordia auch eine wesentliche Rolle. Diese ist auf dem ungarischen Wohnungsmarkt – insbesondere im Eigentumswohnungssektor – im Vergleich zu anderen europäischen Staaten recht kurz. Dies zeigt sich beispielsweise an den kurzen Laufzeiten der Bankkredite, die in der ersten Finanzierungsphase zwei bis drei Jahre betrugen. Eine schnelle Verwertung war am Anfang auch wegen der höheren Zinssätze notwendig. Im heutigen Niedrigzinsumfeld werden die weiteren Wohnungsbauprojekte der Firma durch Anleihen mit deutlich längeren Laufzeiten finanziert. Eine schnellere Verwertung des Kapitals und die Abschöpfung von Differentialrenten in der Wohnungsproduktion ermöglichen die Unterschiede zwischen Polen und Ungarn: Projektentwickler*innen in Polen müssen bei einem Wohnungsbauprojekt für einen Teil des Projektes eine externe Finanzierung für eine vergleichsweise kurze Laufzeit nachweisen (Cordia 2020b). Der Einstieg von Cordia in den polnischen Wohnungsbausektor ist vor diesem Hintergrund eine Strategie, um die Umschlagszeit des Kapitals zu verkürzen und so höhere Renditen zu erwirtschaften.
3.2.
Grundrentenbildung der Wohnungseigentümer*innen
Nachdem Futureal/Cordia die Wohnhäuser errichtet hat, verkauft die Firma die Wohnungen. Danach entstehen bei den neuen Eigentümer*innen diverse Typen von Grundrenten, die im Folgenden untersucht werden. Auf dem Projektareal können sowohl in Neubauwohnungen als auch im Altbaubestand Grundrenten in Form von Monopolrente II, also eine höhere Grundrente als bei anderen Eigentumswohnungen im Bezirk und in der Stadt entstehen. Daten über Immobilienkäufe von Privatpersonen weisen aber darauf hin, dass allein aus dem Verkauf der Neubauwohnungen kurzfristig keine Monopolrente II entstand: Die Verkaufspreise der Wohnungen mit der Adresse auf der mittleren Fußgängerzone (exklusive Eingangsadressen auf den Nebenstraßen) sind zwischen 2011 und 2019 inflationsbereinigt um 71 % gestie-
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gen, im Gegensatz zu 160 % aller Wohnimmobilien im Bezirk, sowie 119 % in ganz Budapest (eigene Berechnungen nach KSH 2020a). Grundrenten entstehen in Neubauprojekten auch durch staatliche Subventionen. Bei der Corvin Promenade spielen nationalstaatliche Fördermittel wie staatlich geförderte Hypothekenkredite und Subventionen eine bedeutende Rolle (Abbildung 4). Die Subventionen wurden fast ausschließlich auf wohlhabende Oberschichtsfamilien ausgerichtet. Außerdem sind die Zuschüsse für Neubaueigentümer*innen höher (Pósfai/Jelinek 2019). Obwohl die Subventionen nur einen geringeren Anteil der Kaufpreise auf der Corvin Promenade ausmachen – die Quadratmeterpreise liegen bei 1 Mio. Forint (ca. 2.900 Euro) – tragen sie sowohl zu einer schnelleren Verwertung seitens der reichen Eigentümer*innen bei, als auch zu Preissteigerungen durch die Immobilienentwickler*innen, die mit einer höheren Kaufkraft rechnen können. Zusammenfassend sind diese Subventionen als Klassenmonopolrenten (Harvey 1978) zu verstehen. Monopolrenten entstehen bei den Wohnungseigentümer*innen, auch wenn sie die Wohnungen als reine Investitionsobjekte kaufen und diese vermieten. Zwischen Mitte 2015 und Anfang der Corona-Krise im März 2020 lag der Anteil der Wohnungsankäufe als Kapitalanlage in Budapest mit 43 %, um 18 % höher als außerhalb der Hauptstadt. Auffällig ist dabei, dass sich viele dieser Kapitalanlagen in einigen wenigen (meist innerstädtischen oder von Neubauprojekten geprägten) Stadtteilen konzentrieren, weshalb Grundrenten in Form der Monopolrente II abgeschöpft werden können (Schipper 2013). Dabei bieten Kapitalanlagen in Wohnungsbeständen auf der Corvin Promenade besonders hohe Renditen: Von 2006 bis 2016 konnte eine durchschnittliche Jahresbruttorendite von 18 % realisiert werden (Cordia 2016). Im gleichen Zeitraum lag die durchschnittliche Inflation bei 3,8 %, der durchschnittliche Basiszinssatz der Ungarischen Nationalbank bei 5,9 %. Im Vergleich dazu waren die Erträge in der Niedrigzinsphase nach 2016 deutlich geringer: Seit Juni 2016 liegt der Basiszinssatz unter 1 % (seit Juli 2020 0,6 %). Cordia bewarb im Herbst 2019 ein Neubauprojekt auf der Corvin Promenade mit einer Bruttorendite von 6 bis 7 % auf Eurobasis, der deutlich höher ist als der Zinssatz ungarischer Premium-Euro-Staatsanleihen von 2,4 % (Portfolio 2019). Die oben genannten Renditeerwartungen weckten auch das Interesse ausländischer Privatinvestor*innen. Laut den Daten des Ungarischen Zentralamtes für Steuern und Zölle (Nemzeti Adó- és Vámhivatal, NAV) fanden zwischen 2008 und 2019 über fünfhundert Wohnungstransaktionen auf
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dem Gebiet statt, bei denen die Käufer*innen eine ausländische Staatsbürgerschaft inne hatten. Leider werden keine Angaben dazu gemacht, ob die Wohnungen zur eigenen Nutzung oder als Kapitalanlage gekauft wurden, es ist aber von einem hohen Anteil der letztgenannten auszugehen. Viele Käufer*innen kommen aus EU-Mitgliedsstaaten wie Spanien, Großbritannien oder Irland, andere aus dem Steuerparadies Zypern oder sind russische Staatsbürger*innen. Diese ausländischen Käufe können damit erklärt werden, dass im europäischen Vergleich ungarische Immobilieninvestitionen wegen der stärker steigenden Wohnungspreise und geringeren Inflation profitabel und aufgrund der einheitlichen finanziellen EU-Regularien risikoarm sind (vgl. Pósfai 2018). Seit 2015 sind die Hauspreise bis zum ersten Quartal 2020 um 74 % und damit deutlich stärker als deutsche (34 %) Hauspreise und auch wesentlich stärker als im EU27-Durchschnitt (24 %) gestiegen (Eurostat 2020). Auch ungarische Politiken, wie das von 2013 bis 2017 laufende Aufenthaltstitel-Programm, dass es ausländischen Personen durch den Kauf ungarischer Staatsanleihen ermöglicht, ein Aufenthaltsrecht in Ungarn zu erwerben (Zöldi 2018), haben verstärkte Investitionen in Ungarn bewirkt. Sie dürften einer der Gründe dafür sein, dass auf der Corvin Promenade die meisten Wohnungen – fast 120 – an chinesische Eigentümer*innen verkauft wurden. Die hohe Anzahl lässt sich dadurch erklären, dass chinesische Mittelschichtsfamilien mit Hilfe dieses Programms günstig ein authentisches »europäisches« Leben in Budapest erhalten können (Beck/Knyihár/Szabó 2021). Wie bereits erläutert, stammen die mit Eigentumswohnungen erwirtschafteten Renditen einerseits aus Preiserhöhungen, andererseits aus Mieteinnahmen. Wobei in den letzten Jahren die stark steigenden Mieten auf dem privaten Mietwohnungsmarkt (dieses Marktsegment umfasste im Jahr 2015 etwa 6 % der Wohnungen landesweit, 10 % in Budapest; KSH 2016) eine relativ stabile Aneignung von Grundrenten ermöglichten. Diese konnten mit Kurzzeitvermietungen aufgrund der noch kürzeren Umschlagszeit nochmals deutlich erhöht werden (Abbildung 4). Dazu trug auch die Touristifizierung der Budapester Innenstadt bei. Sie hatte eine Ausweitung der Kurzzeitvermietungen zur Folge, darunter auch Wohnungen in der Corvin Promenade. Im Gegensatz zu anderen innenstädtischen Vierteln ist hier jedoch keine direkte Verdrängung früherer Bewohner*innen durch Touristifizierung festzustellen, da die Wohnungen neu gebaut wurden. Diese Wohnungen sind natürlich dem privaten Wohnungsmarkt entzogen, womit das Woh-
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nungsangebot in der Stadt nicht ausgeweitet wurde und die anhaltende Wohnungsknappheit zu hohen Mieten führt. Das öffentliche Unterkunftsregister erlaubt eine grobe Einschätzung des Kurzzeitvermietungsmarktes. Mit Stand Februar 2020 sind von 379 kurz vermieteten Wohneinheiten im Bezirk 252 auf der Corvin Promenade, wobei sich von den 46.000 Wohnungen im ganzen Bezirk nur etwa 2.000 in diesen neuen Wohnhäusern befinden. Der Kurzvermietungsmarkt auf der Corvin Promenade ist stark auf wenige Anbieter konzentriert: Rund zwei Drittel der Wohnungen werden von den sechs größten Investoren angeboten. Unter diesen sind drei ungarische Firmen (z.B. der größte Player, »Sun Resort Apartments« mit 47 Wohnungen), eine spanische Vermittlungsfirma (Masaba Kft./Danubio Properties S.L. mit 40 Wohnungen), ein Unternehmen eines in Ungarn gemeldeten chinesischen Investors (29 Wohnungen) sowie ein bahrainischer Privatinvestor. Laut den Geschäftsberichten waren die Umsätze im Jahre 2019 bei den zwei größten Anbietern (Sun Resort Apartments, Danubio Properties) mit 514.000 Forint (ca. 1.600 Euro), sowie 603.000 Forint (ca. 1.850 Euro) pro Wohnung pro Monat deutlich höher als die durchschnittliche Monatsmiete in Budapest von 177.000 Forint (540 Euro; KSH 2020b). Der spanische Investor schüttete in den Jahren 2018 und 2019 den Eigentümern 18 bis 19 % des Umsatzes als Dividende aus. Dies weist darauf hin, dass Vermittlungsagenturen zusätzliche Gewinne über die durchschnittliche Verwertung durch Mieten realisieren können und die Profite nicht nur von den Eigentümer*innen abgeschöpft werden.
4.
Fazit
In diesem Beitrag wurde mit Hilfe der Theorie der Grundentenbildung die ökonomische Seite der Gentrifizierungsprozesse am Beispiel des Corvin Promenade Projektes im Budapester Bezirk Józsefváros untersucht. Dabei wurden insbesondere die Strategien der Finanzierung und Renditeabschöpfung durch den Investor und die neuen Eigentümer*innen betrachtet. Es konnte gezeigt werden, dass im Rahmen der Projektentwicklung verschiedene Grundrenten von unterschiedlichen Akteur*innen abgeschöpft werden. Monopolrenten entstehen durch Vorteile des Projektgebiets beziehungsweise der Hauptstadt gegenüber anderen geographischen Lagen, Klassenmonopolrenten werden sowohl vom Projektentwickler als auch von
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neuen wohlhabenden Eigentümer*innen realisiert, da sie zu günstigen Finanzierungsmodalitäten investieren können. Zwei in der Gentrifizierungsforschung weniger beachtete Prozesse sind dabei hervorzuheben: Zum einen konnte gezeigt werden, dass die Finanzierung der Neubauprojekte mit solchen gesellschaftlichen und geldpolitischen Tendenzen verknüpft sind, von denen insbesondere wohlhabende Schichten profitieren. Zum anderen konnten die Strategien aufgezeigt werden, mit denen sich Wohnungseigentümer*innen in einem von Wohnungseigentum dominierten Markt verschiedene Grundrenten aneignen, welche sozialräumliche Ungleichheiten im Wohnungssektor ankurbeln. Weitere Forschungen könnten die oben besprochenen Prozesse mit drei Fragestellungen ergänzen. Erstens ist die Rolle der lokalen Verwaltung zu nennen (Földi 2006; Czirfusz u.a. 2015), welche zum Beispiel durch die Erhöhung der Geschossflächenzahl Einfluss auf mögliche Grundrenten ausübte. Zweitens ist die Herstellung der Wohnungen von den Baufirmen eine mehrwertproduzierende Aktivität (vgl. Hirsch-Borst/Krätke 1981), bei der beispielsweise die Anstellung von Arbeitenden aus Niedriglohn-Nachbarländern für Extraprofite sorgen. Drittens sollten für die tiefere Analyse der Geschäftsmodelle empirische Daten über Grundrenten gewonnen werden.
Danksagung Ich danke Lilla Jani-Dán für ihre Unterstützung bei der Quellenrecherche, sowie den Herausgebern für die Anregungen und Kommentare.
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Wie lässt sich Verdrängung messen? Fabian Beran und Henning Nuissl
Die zunehmende Anspannung der Wohnungsmärkte führt insbesondere in Deutschlands Großstädten zu einer Wiederkehr der Wohnungsfrage (z.B. Schönig/Vollmer 2020). Steigende Mieten sowie sinkende Leerstandsraten und die damit einhergehenden Auswirkungen für Mieter*innen sind Gegenstand aktueller Debatten in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Im Mittelpunkt steht dabei vielfach das Phänomen der Gentrifizierung. Gemeint ist hiermit üblicherweise die immobilienwirtschaftliche und soziale Aufwertung von (innerstädtischen) Gebieten. Letzteres, die soziale Aufwertung, wird dabei in der Regel als Ergebnis der Verdrängung von Menschen mit geringen Einkommen interpretiert. Verdrängung stellt somit ein zentrales und für viele Autor*innen sogar konstitutives Element der Gentrifizierung dar (z.B. Holm 2011, 214; Slater 2006, 748). Für die Einschätzung der Tragweite von Gentrifizierungsprozessen erscheint es ebenso wie für die Diskussion von politischen und planerischen Maßnahmen zu ihrer Verhinderung oder Gestaltung erforderlich, den Sachverhalt der Verdrängung zu verstehen und auch quantifizieren zu können. In der Wissenschaft wird die Bedeutung der empirischen Erforschung von Verdrängung dementsprechend seit vielen Jahren herausgestellt (z.B. Helbrecht 2016, 10; Elliot-Cooper u.a. 2020, 504; → Schipper). Dennoch fehlt es bislang an Studien, die belastbare Zahlen zum Ausmaß von Verdrängung liefern. Das dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass Verdrängte nicht mehr am Ort ihrer Verdrängung wohnen und somit schwierig aufzufinden sind; Atkinson (2000, 163) beschreibt diese zentrale Herausforderung der Verdrängungsforschung als »measuring the invisible«. Ein weiteres, noch grundlegenderes Problem besteht darin, dass Verdrängung zunächst einmal eindeutig definiert werden muss, bevor sie empirisch operationalisiert und gemessen werden kann, wobei jedoch mitnichten auf ein einheitliches Begriffsverständnis zurückgegriffen werden kann. Der vorliegende Beitrag stellt einen Ansatz zur Konzeptuali-
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Fabian Beran und Henning Nuissl
sierung und Messung von Verdrängung vor. Er beruht auf einer gemeinsamen Studie der Autoren mit der Wüstenrot Stiftung zu Verdrängungsprozessen in Berlin (Beran/Nuissl 2019).1 Zunächst wird gezeigt, dass empirische Arbeiten zur Verdrängung auf unterschiedlichen – und teilweise sogar unpräzisen oder ungeeigneten – Begriffsverständnissen, Konzeptualisierungen und Methoden basieren und dass sie vielfach das Phänomen der Verdrängung auch verkürzen, indem sie es an den Begriff der Gentrifizierung binden (Abschnitt 1). Daran anschließend wird die Berliner Verdrängungsstudie vorgestellt (Abschnitt 2). Es wird erläutert, wie in dieser Studie mittels einer entscheidungstheoretischen Erklärung von Umzugsentscheidungen Verdrängung konzeptualisiert und für eine repräsentative standardisierte Befragung von Umzügler*innen operationalisiert wird, um so das Unsichtbare zu messen. Basierend auf diesen Ausführungen werden im Fazit konzeptionell-methodische Schussfolgerungen gezogen (Abschnitt 3).
1.
Forschungsstand: Ansätze zur Definition und Quantifizierung von Verdrängung
Verdrängung wird seit Jahrzehnten in vielen empirischen Studien untersucht. Die Studien wie auch ihre Ergebnisse sind jedoch sehr heterogen und schwer zu vergleichen. In Abschnitt 1.1 wird gezeigt, dass eine Ursache für die Heterogenität der Studien die Vielzahl an unterschiedlichen Begriffsverständnissen von Verdrängung ist, auf die sich die Forschungen beziehen. Eine weitere Ursache stellen die in Abschnitt 1.2 vorgestellten und diskutierten unterschiedlichen methodischen Ansätze dar, mit denen versucht wird, Verdrängung quantitativ zu erfassen.
1.1
Der Verdrängungsbegriff der vorliegenden Studien
In der Forschungsliteratur existiert eine große Varianz unterschiedlicher Verdrängungsbegriffe, die jeweils auf verschiedene phänomenologische und methodische Dimensionen von Verdrängung rekurrieren. Eine der präzisesten
1
Die vollständige Berliner Verdrängungsstudie, auf der der vorliegende Beitrag basiert, kann auf der Homepage bei der Wüstenrot Stiftung kostenfrei bestellt werden (Beran/Nuissl 2019).
Wie lässt sich Verdrängung messen?
Definitionen von Verdrängung haben Georg und Eunice Grier bereits früh (1980, 256) formuliert: »Displacement occurs when any household is forced to move from its residence by conditions which affect the dwelling or its immediate surroundings, and which: 1. are beyond the household’s reasonable ability to control or prevent; 2. occur despite the household’s having met all previously-imposed conditions of occupancy; and 3. make continued occupancy by that household impossible, hazardous, or unaffordable.« Auf der Basis dieser Begriffsbestimmung hat Peter Marcuse (1985, 204ff.) eine viel rezipierte Typologie von vier Verdrängungsformen entwickelt. Das von Grier/Grier definierte Phänomen stellt für Marcuse erstens eine direkte Form der Verdrängung dar, die er noch nach physischen (z.B. Abstellen der Heizung durch den/die Eigentümer*in) und ökonomischen (z.B. Mieterhöhung) Ursachen differenziert. Eine zweite Form der Verdrängung identifiziert Marcuse in Verdrängungsketten, die sich ergeben, wenn aus ein und derselben Wohnung mehrmals nacheinander Mieter*innen direkt verdrängt werden. Diesen beiden direkten Formen der Verdrängung stellt Marcuse zwei weitere, indirekte Formen der Verdrängung zur Seite: Als dritte Form definiert er die ausschließende Verdrängung, die sich dann ergibt, wenn eine Wohneinheit nach dem Auszug der bisherigen Mieter*innen nicht wieder durch einen Haushalt mit vergleichbaren sozioökonomischen Merkmalen bezogen werden kann, da die Wohnung zu einem höheren Preis angeboten oder leerstehend gelassen wird. Die vierte Form der Verdrängung bezeichnet Marcuse als Verdrängungsdruck; dieser erwächst aus Umständen, die außerhalb der eigenen Wohnung liegen und kann beispielsweise darauf zurückzuführen sein, dass die im Wohnumfeld bestehenden Einzelhandels- und Dienstleistungsinfrastrukturen durch neue Angebote ersetzt werden, die von den Bestandsbewohner*innen nicht nachgefragt werden. Marcuse hebt hervor, dass die vier genannten Formen der Verdrängung alle erfasst werden müssen, um das Phänomen der Verdrängung in seiner Gänze beschreiben und erklären zu können. Mit Blick auf die Konzeptualisierung und Messung von Verdrängung gibt Marcuse zwei wesentliche methodische Hinweise. Erstens schlägt er vor, direkte Verdrängung und Verdrängungsketten auf der Beobachtungs- beziehungsweise Erhebungseinheit von Personen oder Haushalten, ausschließende Verdrängung auf der Ebene von Wohneinheiten und Verdrängungsdruck auf beiden Ebenen zu untersuchen (ebd., 206ff.). Zweitens lässt sich aus
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Fabian Beran und Henning Nuissl
seiner Verdrängungstypologie ableiten, dass unterschiedliche Formen der Verdrängung unterschiedliche Untersuchungszeitpunkte erfordern: Direkte und indirekte Formen der Verdrängung können als Momentaufnahme, Verdrängungsketten nur als Längsschnittanalyse erforscht werden. Darüber hinaus impliziert Marcuses Typologie ein zentrales Kriterium zur inhaltlichen Unterscheidung von Verdrängungsformen: Die jeweiligen Ursachen eines Wohnungswechsels (z.B. physischer oder ökonomischer Druck), anhand derer auch in vielen anderen Studien eine nähere Bestimmung des Phänomens der Verdrängung vorgenommen wird. Neben den gleichsam ›objektiven‹ Ursachen eines Umzugs wird in einer Reihe von Studien auch dessen ›subjektive‹ Wahrnehmung berücksichtigt, um Verdrängung begrifflich zu fassen (z.B. Kearns/Mason 2013, 182): Verdrängung wird dann als unfreiwillig erfolgter Umzug verstanden. Häußermann und andere (2002) nehmen eine noch weitergehende Differenzierung vor und ordnen Umzüge auf einer Skala zwischen den Polen (erzwungene) Verdrängung und freie Entscheidung zum Wegzug ein (ebd., 219f.); sie differenzieren umziehende Personen also nach dem Grad der individuell wahrgenommenen (Un-)Freiwilligkeit des eigenen Umzugs. An der Typologie von Marcuse orientiert, bezeichnen sie eine direkte Verdrängung als Umzugszwang, während indirekte Formen der Verdrängung für sie sowohl freiwillig als auch unfreiwillig wahrgenommen werden können. Andere Autor*innen lehnen es generell ab, die individuelle Wahrnehmung eines Umzugs heranzuziehen, um das Phänomen der Verdrängung begrifflich zu fassen, da die Wahrnehmung eines Sachverhalts auch auf Faktoren beruhen kann (z.B. Emotionen, Lebensumstände), die mit diesem Sachverhalt kaum oder gar nicht in Verbindung stehen (z.B. Grier/Grier 1980, 253). In der Literatur lassen sich weitere Dimensionen der Konzeptualisierung von Verdrängung finden. Für Kearns/Mason (2013, 196f.) stellen nur Umzüge eine Verdrängung dar, die nachteilige Folgen für die betroffenen Personen haben. Dazu zählen sie beispielsweise Umzüge, die mit einem Verlust an sozialen Kontakten (= soziale Verdrängung) oder bisher genutzten Infrastrukturen (= funktionale Verdrängung) einhergehen (ebd., 184). Konzeptionell ist die Definition von Verdrängung über die Folgen allerdings problematisch, da Menschen dazu neigen, ihre aktuelle Wohnsituation – unabhängig von den tatsächlichen Gegebenheiten – positiv zu bewerten (Häußermann/Siebel 2000, 218). Dadurch kann der Ansatz, einen Umzug nur bei (retrospektiv) negativ wahrgenommenen Folgen als Verdrängung zu bezeichnen, zu einer Verharmlosung des Phänomens beitragen.
Wie lässt sich Verdrängung messen?
Die skizzierten Ansätze zur Begriffsbestimmung haben gemein, dass sie das Phänomen der Verdrängung an einen Umzug binden. In der Literatur werden jedoch auch Formen der Verdrängung diskutiert, die nicht mit einem Ortswechsel einhergehen. So bezeichnet Blasius (1993, 235) Haushalte, die sich nach einer Mieterhöhung aufgrund zu hoher Angebotsmieten keinen Umzug leisten können und stattdessen ihren Lebensstandard senken müssen, als aus dem Lebensstandard verdrängt. Auch Davidson (2009, 228) und Elliot-Cooper und andere (2020, 498) betonen die Möglichkeit einer Verdrängung ohne physischen Umzug, wenn Personen einem Verdrängungsdruck (z.B. aufgrund eines veränderten Wohnumfelds) unterliegen. Für sie ist hierbei das Raumempfinden der betroffenen Menschen entscheidend. Insofern lässt sich konstatieren, dass verschiedene Verdrängungsbegriffe existieren, die sich hinsichtlich ihres Raumbezugs unterscheiden. Denjenigen Verdrängungsbegriffen, für die ein Ortswechsel keine konstitutive Bedingung von Verdrängung ist, liegt üblicherweise ein erweiterter Zeitbezug zugrunde. Verdrängung ist demnach nicht als singuläres, zu einem einzelnen Zeitpunkt auftretendes Ereignis, sondern als ein sich über einen Zeitraum erstreckender Prozess zu begreifen (z.B. Elliot-Cooper u.a. 2020, 501f.). In den meisten Studien stehen Mieter*innen als (potentiell) von Verdrängung Betroffene im Fokus. Es gibt allerdings auch Studien, in denen die Verdrängung von Eigentümer*innen, z.B. durch eine Erhöhung der Grundsteuern, untersucht wird (z.B. Martin/Beck 2018). Insgesamt kann Verdrängung als multidimensionaler Begriff bezeichnet werden. Die herausgearbeiteten Dimensionen der Begriffsbestimmung sowie ihre möglichen Ausprägungen werden – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – in Tabelle 1 zusammengefasst.
1.2
Methoden der quantitativen Verdrängungsforschung
Neben unterschiedlichen Begriffsverständnissen lassen sich in der Forschungsliteratur auch ganz unterschiedliche Methoden der Quantifizierung von Verdrängung finden. Bei ausschließlicher Berücksichtigung solcher Studien, die Verdrängung als Umzug erforschen, können im Wesentlichen zwei empirische Zugänge identifiziert werden: die Befragungen von Umzügler*innen und die Sekundäranalyse von Wanderungsdaten.
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Fabian Beran und Henning Nuissl
Tabelle 1: Dimensionen der definitorischen Bestimmung sowie der empirischen Operationalisierung des Verdrängungsbegriffs
Quelle: leicht verändert nach Beran/Nuissl 2019, 73; Anmerkung: Tabelle ist nur in horizontaler Richtung zu lesen
Befragungen von (potentiell verdrängten) Umzügler*innen Die Befragung von Umzügler*innen zu ihren Umzugsgründen gilt als valideste Methode, um Verdrängung empirisch nachzuweisen (Carlson 2020, 577; Diller 2014, 29). Allerdings erfordert diese Methode, die zu befragenden Personen erst einmal ausfindig zu machen und – sofern die Ergebnisse der Befragung generalisiert werden sollen – darüber hinaus deren Repräsentativität zu gewährleisten. Blasius (1993) hat auf der Grundlage einer zufälligen Stichprobenziehung aus dem Kölner Melderegister die aktuellen Adressen von Umzügler*innen erhalten, und diese dann zu den Hintergründen ihres Umzugs befragt (Blasius 1993, 111f). Ähnliche Primärerhebungen, die eine Quantifizierung von Verdrängung erlauben, liegen auch im internationalen Kontext nur in geringer Zahl vor (z.B. Schill/Nathan 1983). Häufiger sind Studien, in denen
Wie lässt sich Verdrängung messen?
eine Sekundärauswertung von Befragungen erfolgt, die Angaben zur Wohnsituation und zu Umzügen der Befragten enthalten, die jedoch nicht unmittelbar auf das Problem der Verdrängung abzielen. Diese Studien sind jedoch in der Regel nicht in der Lage, eine valide Abschätzung (oder gar Messung) von Verdrängung vorzunehmen. Beispielsweise erscheint die Repräsentativität des von Freeman/Braconi (2002) und Newman/Wyly (2006) genutzten New York City Housing and Vacancy Survey fraglich, da keine Personen enthalten sind, die nach einer Verdrängung zu Verwandten oder Freund*innen gezogen sind (Newman/Wyly 2006, 29). Sowohl an den Studien, die mit Daten aus anderen Forschungskontexten arbeiten, als auch an einigen Primärerhebungen lässt sich zudem kritisieren, dass ihnen keine überzeugende Operationalisierung von Verdrängung gelingt. Sie nutzen zur Identifizierung von Verdrängten unter den Befragten nur einen einzigen – beziehungsweise den wichtigsten – Umzugsgrund und bilden damit die Komplexität von Umzugsentscheidungen nur unzureichend ab (z.B. Freeman/Braconi 2002; Schill/Nathan 1983). Wenn beispielsweise eine Mieterin die bevorstehende Modernisierung ihrer Wohnung sowie die damit absehbare Erhöhung der Miete zum Anlass nimmt, näher an ihren Arbeitsplatz zu ziehen, ist es nicht auszuschließen, dass sie in einer Befragung Letzteres als wichtigsten Umzugsgrund angibt, sodass ihre Verdrängung im Dunkeln bleibt (Freeman u.a. 2015, 6). Die schwache Operationalisierung von Verdrängung in den meisten vorliegenden Studien zeigt sich auch daran, dass keine differenzierte Abfrage von Umzugsgründen erfolgt. Beispielsweise können sich hinter der von Martin/Beck (2018) verwendeten Kategorie externe Ereignisse neben Verdrängungsfaktoren wie einer Mieterhöhung auch gesundheitliche Gründe verbergen.
Sekundärdatenanalysen Sekundärdatenanalysen operationalisieren Verdrängung als Fortzüge aus einem (Stadt-)Gebiet, die sich auf Aufwertungen beziehungsweise Gentrifizierung zurückführen lassen. Dazu werden üblicherweise in einem ersten Schritt Gentrifizierungsgebiete ausgewählt und in einem zweiten Schritt über eine Analyse von Umzugsdaten die Zahl der Verdrängungsfälle geschätzt (Holm/Schulz 2016, 296). Mehrere Autor*innen (z.B. Easton u.a. 2020, 288) weisen jedoch darauf hin, dass die jeweilige der Gebietsauswahl zugrundeliegende Definition und Operationalisierung von Gentrifizierung in vielen Studien – sofern sie überhaupt präzise vorgenommen wird – fragwürdig ist. So kritisieren Holm und Schulz (2016, 297), aber auch Zuk und andere
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Fabian Beran und Henning Nuissl
(2015, 34), dass in vielen Studien ausschließlich soziodemographische Daten zur Identifizierung von Gentrifizierungsgebieten genutzt werden, aber keine Indikatoren, die eine immobilienwirtschaftliche Aufwertung belegen. Preis und andere (2020) können zudem zeigen, dass vier unterschiedliche Modelle zur Bestimmung von Gentrifizierung, die sie aus anderen Studien entnommen und für Boston getestet haben, zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen, welche Gebiete von Boston gentrifiziert sind beziehungsweise wo demzufolge ein Verdrängungsdruck existieren müsste. Die Schätzung des Ausmaßes an Verdrängung erfolgt in diesen Studien auf unterschiedliche Weise. Einige Studien (z.B. Atkinson 2000, 158ff.) interpretieren den Fortzug vulnerabler Bevölkerungsgruppen als Verdrängung. Diese Operationalisierung erscheint allerdings unterkomplex und ignoriert, dass Umzüge auch aus anderen Gründen als einer Verdrängung erfolgen können (Easton u.a. 2020, 292). Andere Studien schätzen über Regressionsmodelle das Ausmaß der Verdrängung als denjenigen Anteil der erfassten Umzüge, der durch die Lage der Auszugswohnung in einem der vorab bestimmten Gentrifizierungsgebiete erklärt werden kann (z.B. Freeman u.a. 2015, 10ff.). Die meisten dieser Regressionsmodelle beziehen jedoch keine Indikatoren für eine immobilienwirtschaftliche Aufwertung ein oder unterscheiden zumindest nicht hinreichend zwischen sozialer und immobilienwirtschaftlicher Aufwertung, sodass ihre Erklärungskraft eingeschränkt ist. Eine positive Ausnahme stellt Schulz (2019) dar, der Ausgangsmieten und Mietsteigerungen als erklärende Variablen verwendet. Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass bereits eine Reihe von Versuchen unternommen wurden, Verdrängung zu messen und quantitativ zu analysieren. Sie beruhen auf unterschiedlichen methodischen Ansätzen, die sich grob zwei Typen zuordnen lassen. Alle diese Studien weisen aber auch spezifische Schwächen beziehungsweise blinde Flecken auf. Das betrifft nicht zuletzt die vorliegenden Sekundärdatenanalysen, deren Validität mit der Robustheit der zugrunde gelegten Annahmen hinsichtlich der Einflussstärke der unabhängigen Variablen steht und fällt, für die es ihrerseits wiederum keine eindeutigen Belege gibt. Sofern forschungsökonomisch umsetzbar, erscheint daher die Befragung von Umzügler*innen zu ihren Umzugsgründen als Königsweg der Verdrängungsforschung.
Wie lässt sich Verdrängung messen?
2.
Fallstudie: Konzeptualisierung und Messung von Verdrängung in der Berliner Innenstadt
Im Folgenden wird Verdrängung aus einer entscheidungstheoretischen Perspektive konzeptualisiert (Abschnitt 2.1). Sie wird als Fortzug von Mieter*innen aus einer Wohnung aufgrund eines direkten Verdrängungsdrucks definiert (Abschnitt 2.2). Um Verdrängung auf dieser konzeptionellen Grundlage zu messen, wurde eine repräsentative standardisierte Befragung von über 2.000 Umzügler*innen in Berlin durchgeführt (Abschnitt 2.3), in der unter anderem die Umzugsgründe abgefragt wurden, um feststellen zu können, ob ein betreffender Umzug als Verdrängung zu klassifizieren ist (da diese Gründe einen bestehenden Verdrängungsdruck widerspiegeln) (Abschnitt 2.4). Auf dieser Grundlage wird schließlich Verdrängung als Anteil der als Verdrängung gewerteten Umzüge an allen Umzügen quantifiziert (Abschnitt 2.5).
2.1
Entscheidungstheoretische Wanderungsforschung als konzeptioneller Ansatzpunkt
Auch in Studien, die eine vergleichsweise präzise Definition von Verdrängung zugrunde legen, indem sie Verdrängung als einen unter bestimmten Umständen erfolgten Umzug definieren, gelingt es selten, die Komplexität von Umzugsentscheidungen ausreichend abzubilden (s. Abschnitt 1.). Um diese konzeptionelle Schwachstelle zu adressieren, knüpfen wir an die entscheidungstheoretische Wanderungsforschung an. Demnach kann der komplexe Abwägungs- und Entscheidungsprozess, der einem Umzug vorausgeht, in zwei (idealtypische) Phasen unterteilt werden (s. Abbildung 1; Föbker 2008, 50). In der ersten Phase entwickelt ein Haushalt einen Umzugswunsch, in der zweiten Phase sucht er einen neuen Wohnstandort. Für die Konzeptualisierung von Verdrängung ist die erste Phase entscheidend. In der ersten Phase entsteht ein Problemdruck, der sich aus einer Diskrepanz zwischen den Wohnansprüchen und der Wohnsituation eines Haushalts ergibt. Diese Diskrepanz wiederum kann durch veränderte Wohnwünsche, zum Beispiel weil sich durch Nachwuchs der Bedarf an Wohnraum erhöht hat, ausgelöst werden (ebd., 50). Der Umzugswunsch kann aber auch durch Veränderungen der Wohn- oder Mietsituation entstehen, beispielsweise durch eine Mieterhöhung oder ein sich veränderndes Wohnumfeld. Diese sogenannten externen Veränderungen sind für die Operationalisierung von Verdrängung maßgebend (s. Abschnitt 2.4). Um den Problemdruck zu verrin-
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Fabian Beran und Henning Nuissl
Abbildung 1: Entscheidungstheoretische Konzeptualisierung einer Umzugsentscheidung
Quelle: verändert nach Beran/Nuissl 2019, 76.
gern, kann ein Haushalt zwischen drei Handlungssets wählen: Widerspruch, Passivität oder Abwanderung (Kecskes 1994, 130f.). Sofern er sich für einen Umzug entscheidet, können die internen und/oder externen Faktoren, die den empfundenen Problemdruck ausgelöst haben, als Umzugsgründe interpretiert werden. Ein umziehender Haushalt sucht und wählt anschließend in der zweiten Phase einen neuen Wohnstandort. Falls er dabei nicht erfolgreich ist, kehrt er zur ersten Phase zurück und muss erneut zwischen den drei Handlungssets abwägen.
2.2
Direkte Verdrängung als Fortzug von Mieter*innen aus einer Wohnung
Der in diesem Beitrag unterbreitete Vorschlag zur Definition von Verdrängung basiert auf den in Tabelle 1 dargestellten phänomenologischen Dimensionen sowie den in Abschnitt 2.1 erläuterten Argumenten der ent-
Wie lässt sich Verdrängung messen?
scheidungstheoretischen Wanderungsforschung. Der Fokus liegt dabei auf direkter Verdrängung, die durch physischen oder ökonomischen Druck ausgelöst wird. Darüber hinaus wird Verdrängung als Fortzug von Mieter*innen aus einer Wohnung, also als singuläres Ereignis gefasst, dem eine bewusste Entscheidung vorausgegangen ist. Tabelle 2 verdeutlicht, welche Ausprägungen der hier gewählte Verdrängungsbegriff in verschiedenen Dimensionen aufweist, entlang derer sich die verschiedenen in der Literatur vorfindlichen Verdrängungskonzepte differenzieren lassen. Nicht berücksichtigt wird dabei die subjektive Wahrnehmung der umziehenden Mieter*innen beziehungsweise die Frage, ob ein Umzug als unfreiwillig beziehungsweise erzwungen bewertet wird und welche Folgen er hatte. Denn es besteht zwar eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein verdrängungsbedingter Umzug sowie dessen Folgen negativ (beziehungsweise als unfreiwillig) wahrgenommen werden; zwangsläufig ist das jedoch nicht der Fall, denn die Wahrnehmung eines Sachverhalts kann von vielen, auch sachverhaltsfremden Einflussfaktoren abhängen (s. Abschnitt 1.1). Die wahrgenommene Unfreiwilligkeit eines Umzugs ist in entscheidungstheoretischer Hinsicht daher ebenso wenig ein geeignetes Kriterium, um eine Verdrängung von einem ›normalen‹ Umzug zu unterscheiden, wie die Wahrnehmung negativer Folgen eines Umzugs für die eigene Lebenssituation. Tabelle 2: Dimensionen der definitorischen Bestimmung sowie der empirischen Operationalisierung des Verdrängungsbegriffs im vorliegenden Beitrag Dimensionen
Ausprägungen
Ursachen
›physischer‹ und ökonomischer Druck (direkt)
Raumbezug
Fortzug aus Wohnung
Zeitbezug
singuläres Ereignis
Betroffene
Mieter*innen
Quelle: verändert nach Beran/Nuissl 2019, 80.
Entsprechend den in Tabelle 2 aufgeführten ›Eckpunkten‹ unseres Verdrängungsbegriffs lassen sich die Bedingungen dafür spezifizieren, dass ein bestimmtes Ereignis als Verdrängung eingeordnet wird. Wir beschränken uns dabei auf die direkte Verdrängung im Sinne von Peter Marcuse (1985), deren Umstände in unmittelbarem Zusammenhang mit der eigenen Wohnung ste-
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Fabian Beran und Henning Nuissl
hen. Sie wird als Fortzug aus einer Mietwohnung definiert, der auf Veränderungen zurückzuführen ist, die:
1. das Mietverhältnis des umziehenden Haushalts betreffen, die 2. von der oder den umziehenden Person/en nicht kontrolliert oder vermieden werden können (sodass sie etwa auch bei Erfüllung aller mietvertraglich festgelegten Pflichten auftreten können) und die 3. wesentlich zur Umzugsentscheidung beigetragen haben.
Diese Definition ist angelehnt an jene von Grier/Grier (s. Abschnitt 1.1), modifiziert diese aber so, dass sie dem Phasenmodell zur Erklärung von Umzugsentscheidungen entspricht. Empirisch operationalisieren lässt sich diese Definition, indem umgezogene Personen anhand der von ihnen angegebenen Umzugsgründe als verdrängt oder als nicht verdrängt klassifiziert werden, (ohne dabei jedoch zu berücksichtigen, ob sie sich verdrängt fühlen). Welche potentiell einen Umzug auslösenden (externen) Veränderungen (= Verdrängungsfaktoren) wir heranziehen, um Umzüge als Verdrängung zu klassifizieren, wird in Abschnitt 2.4 erläutert.
2.3
Forschungsdesign
Um einen quantitativen Einblick in das Problem der Verdrängung zu gewinnen, haben wir im Jahr 2015 eine repräsentative schriftliche Befragung durchgeführt, um herauszufinden, aus welchen Gründen Umzügler*innen ihre Wohnung gewechselt haben beziehungsweise ob und, wenn ja, in welcher Weise sie verdrängt wurden. Verdrängung haben wir also auf der Ebene von Personen (Untersuchungseinheit) und als Momentaufnahme (Untersuchungszeitraum) untersucht. Unser Untersuchungsgebiet waren die beiden innerstädtisch gelegenen Berliner Bezirke Friedrichshain-Kreuzberg und Mitte, die von einer Anspannung des Wohnungsmarktes im besonderen Maße betroffen sind. In Berlin ist das Einwohnermelderegister auf Bezirksebene organisiert, sodass eine Stichprobenziehung für Teilgebiete der Stadt möglich ist. Als Grundgesamtheit wurden alle über 18-jährigen Mieter*innen definiert, die zwischen dem 1.9.2013 und dem 31.8.2015 aus ihrer im Untersuchungsraum gelegenen Wohnung (Erstwohnsitz) in eine andere Wohnung innerhalb Berlins umgezogen sind. Aus dieser Grundgesamtheit wurde eine zufällige Stichprobe von
Wie lässt sich Verdrängung messen?
10.000 Personen gezogen. Dies war möglich, da im Melderegister neben der aktuellen auch die vorherige Adresse der gemeldeten Personen erfasst ist und wir uns auf die Untersuchung von Binnenumzügler*innen (innerhalb Berlins) beschränkt haben. Den ausgewählten 10.000 Personen wurde der (weitestgehend) standardisierte Fragebogen postalisch zugeschickt. Um den Rücklauf zu erhöhen und möglichst geringe Verzerrungen hinsichtlich der teilnehmenden Bevölkerungsgruppen zu erreichen, wurde das Vorgehen bei der Erhebung an der Tailored Design Method (TDM) von Jon Dillman orientiert (Dillman u.a. 2014). So wurden die zu befragenden Personen beispielsweise mehrfach (insgesamt drei Mal) kontaktiert und so wurde die schriftliche Befragung mit einem Online-Fragebogen in Deutsch, Englisch und Türkisch kombiniert. Insgesamt konnten wir so einen auswertbaren Rücklauf von 2.082 Fragebögen erzielen.
2.4
Operationalisierung direkter Verdrängung
Entsprechend der Definition von Verdrängung als Umzug, der aufgrund von externen Veränderungen, die das Mietverhältnis betreffen, erfolgte (s. Abschnitt 2.2), wurden die befragten umgezogenen Personen anhand der von ihnen angegebenen Umzugsgründe in zwei Gruppen unterteilt: Verdrängte und Nicht-Verdrängte. Hierfür musste erstens festgelegt werden, welche Umzugsgründe überhaupt der Definition von Verdrängung entsprechen beziehungsweise als Auslöser einer Verdrängung gelten sollen und zweitens, wie die von den Befragten angegebenen unterschiedlichen Gründe gegeneinander zu gewichten sind. Abbildung 2 stellt die sieben potentiell verdrängungsauslösenden Faktoren (und in kleiner Schrift die 14 Items, mit deren Hilfe diese sieben Faktoren im Fragebogen operationalisiert wurden) dar, die wir deduktiv aus der Forschungsliteratur abgeleitet und im Fragebogen abgefragt haben. Bei der Auswahl dieser Verdrängungsfaktoren wurde sichergestellt, dass sie der oben eingeführten Definition direkter Verdrängung entsprechen. Demzufolge • •
betreffen sie das Mietverhältnis, implizieren eine Veränderung einer vorher existierenden Situation (z.B. stellt die absolute Miethöhe, die bereits ohne eine Erhöhung für die Betroffenen zu hoch war, keine Veränderung und damit keinen Verdrängungsauslöser dar) und
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Fabian Beran und Henning Nuissl
•
sind von den Betroffenen nicht kontrollierbar (z.B. wird eine Kündigung aufgrund von Mietrückständen als nicht verdrängungsrelevant bewertet, da ein Mietrückstand grundsätzlich erstmal kontrollierbar ist).
Die Auswahl der berücksichtigten Verdrängungsfaktoren (bzw. der Beweggründe, derentwegen ein Umzug als Verdrängung klassifiziert wird) ist damit durchaus als konservativ zu bezeichnen, was bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden sollte. So wird in anderen Studien nicht selten auch die absolute Miethöhe als Verdrängungsfaktor diskutiert (z.B. Freeman/Braconi 2002, 2; Newman/Wyly 2006, 30), was die Zahl der als Verdrängung zu klassifizierenden Umzugsfälle im Vergleich zum hier präsentierten Ansatz deutlich erhöht.
Abbildung 2: Faktoren direkter Verdrängung und deren Operationalisierung (14 im Fragebogen abgefragte Items)
Quelle: leicht verändert nach Beran/Nuissl 2019, 118.
Die Abfrage, welche der genannten Verdrängungsfaktoren für die Umzügler*innen wesentliche Umzugsgründe darstellten, erfolgte in drei Schritten:
Wie lässt sich Verdrängung messen?
1. Im ersten Schritt wurden die Umzügler*innen gefragt, welche der Verdrängungsfaktoren (und welche anderen potentiell Umzüge auslösenden Faktoren) sie in der Zeit vor ihrem Umzug erlebt haben. 2. Im zweiten Schritt konnten die Umzügler*innen aus den von ihnen angekreuzten Items diejenigen auswählen, die für sie Umzugsgründe darstellten, und diese Auswahl noch um weitere, im Fragebogen nicht abgefragte Gründe ergänzen. Die in dieser offenen Abfrage genannten Umzugsgründe wurden nachträglich mittels einer induktiven Kategorienbildung zusammengefasst. Die Kategorien wurden anschließend darauf hin überprüft, ob sie der Verdrängungsdefinition entsprechen. Dabei konnte kein weiterer direkter Verdrängungsfaktor bestimmt werden; die (zahlreichen) Freitextnennungen der Befragten ließen sich den sieben vordefinierten Verdrängungsfaktoren zuordnen. 3. In einem dritten Schritt benannten die Befragten ihre drei wichtigsten und damit die wesentlichen Umzugsgründe. Diese waren dann maßgebend für ihre Klassifikation als verdrängt oder nicht verdrängt. Befragte, die Verdrängungsfaktoren als wesentliche Umzugsgründe genannt haben, wurden als direkt verdrängt klassifiziert, alle anderen als nicht verdrängt. Mit diesem Schritt wird eine höhere Trennschärfe zwischen den Umzügler*innen hergestellt, da Personen, die mehr als drei Umzugsgründe genannt haben, unter den drei wichtigsten jedoch keinen Verdrängungsfaktor, als nicht verdrängt eingeordnet werden.
2.5
Quantifizierung direkter Verdrängung
Von den 2.082 auswertbaren Fragebögen konnten aufgrund unzureichender Angaben zu den Umzugsgründen 54 nicht für die Operationalisierung von Verdrängung genutzt werden. Von den verbleibenden 2.028 Befragten sind 53 ausschließlich aufgrund von Verdrängungsfaktoren umgezogen. Demgegenüber haben 1.606 Befragte keine Verdrängungsfaktoren als wesentliche Umzugsgründe angegeben. Die restlichen 369 Befragten haben sowohl Verdrängungsfaktoren als auch andere Umzugsgründe (z.B. der Wunsch nach dem Zusammenzug mit einer Partnerin oder einem Partner) genannt. Von dieser Gruppe konnten weitere 260 Personen den direkt Verdrängten zugeordnet werden, da für sie mindestens ein Verdrängungsfaktor einen wesentlichen Umzugsgrund darstellte. Insgesamt werden also 313 der 2.028 in den
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Fragebögen beschriebenen Umzüge als direkte Verdrängung gewertet – das entspricht einem Anteil von 15,4 %. Bei der Interpretation dieser für einen großen Teil der inneren Stadt von Berlin ermittelten Rate direkter Verdrängung gilt es zu berücksichtigen, dass sie auf einer – nicht zuletzt in Relation zu anderen empirischen Studien zur Verdrängung – vergleichsweise ›strengen‹ Operationalisierung beruht. Anders formuliert: Die ermittelte Verdrängungsrate dürfte das faktische Ausmaß der direkten Verdrängung eher unter- als überschätzen. Anstatt der Operationalisierung über die drei wichtigsten Umzugsgründe hätte Verdrängung auch über alle von den Befragten angegebenen Umzugsgründe bestimmt werden können. Für dieses alternative Vorgehen spräche, dass jede noch so marginale Verschlechterung der individuellen Wohnsituation den (subjektiv empfundenen) Problemdruck so weit erhöhen kann, dass genau diese Veränderung den Ausschlag für einen Umzug gibt. Wird dieser Argumentation gefolgt, ergäbe sich eine direkte Verdrängungsrate von fast 21 %. Solch eine Operationalisierung würde allerdings die Trennschärfe zwischen Verdrängten und Nicht-Verdrängten etwas verringern.
3.
Verdrängung, Gentrifizierung und künftige Forschungsdesiderate
Der hier vorgestellte Ansatz zur Untersuchung und Operationalisierung von Verdrängung weicht von den meisten anderen empirischen Studien zu Verdrängungs- und Gentrifizierungsprozessen ab, da es die Verdrängung von Mieter*innen – und nicht die Gentrifizierung – in den Fokus rückt. Während viele Studien zuerst Gentrifizierungsgebiete bestimmen und anschließend Aussagen zu Verdrängung ableiten, wird im vorliegenden Beitrag zuerst Verdrängung – als wesentliches Problem von Gentrifizierung – gemessen. Dabei zeigt sich, dass Verdrängung durch immobilienwirtschaftliche Aufwertungen auf dem angespannten Berliner Wohnungsmarkt ein quantitativ hoch relevantes Phänomen ist. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, die ermittelten Befragungsdaten auf räumliche Zusammenhänge zwischen Verdrängung und gebietsspezifischen Aufwertungsprozessen hin zu befragen (denn für die Befragten ist sowohl der frühere als auch der jetzige Wohnort bekannt), um auf diese Weise Aussagen zu Gentrifizierungsprozessen im Untersuchungsraum treffen zu können. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass eine immobilienwirtschaftliche Aufwertung vielerlei Folgen haben
Wie lässt sich Verdrängung messen?
kann, unter denen der Umzug von Mieter*innen (›Verdrängung‹) nur ein Effekt ist. So finden im vorgestellten Ansatz diejenigen in der Literatur diskutierten Formen der Verdrängung, die keinen Umzug nach sich ziehen (z.B. Verdrängung aus dem Lebensstandard, Lock-in-Effekte), keine Berücksichtigung. Um ein vollständiges Bild der Verdrängung auf angespannten Wohnungsmärkten zeichnen zu können, sollten auch diese Verdrängungsformen quantifiziert werden. Dies kann grundsätzlich auf derselben konzeptionellen Grundlage geschehen wie in der hier vorgestellten Studie. Denn die Verdrängungsfaktoren (z.B. Mieterhöhung), anhand derer hier verdrängungsbedingte von ›normalen‹ Umzügen unterschieden wurden, müssen nicht zwangsläufig in einem Umzug münden. Vielmehr können sich die betroffenen Mieter*innen auch für andere Handlungsoptionen entscheiden (z.B. die Aufnahme von Untermieter*innen, um sich eine Mieterhöhung leisten zu können); in diesem Fall wären sie dann beispielsweise als aus dem Lebensstandard verdrängt zu klassifizieren. Für die planerische und politische Praxis wären zudem Frühwarnsysteme für Verdrängung sinnvoll, anhand derer rechtzeitig Maßnahmen zur Verhinderung von Verdrängung getroffen werden können. Befragungen, wie sie für den vorliegenden Beitrag durchgeführt werden, eignen sich hierzu nur bedingt, da sie sehr aufwendig und teuer sind und zudem als Längsschnittstudien durchgeführt werden müssten. Die bisherigen Sekundärdatenanalysen zur Schätzung von Verdrängung basieren dagegen auf verfügbaren Daten, sind aber mangels gesicherten Wissens über die Einflussstärken verdrängungsauslösender Faktoren möglicherweise nicht valide. Eine gleichermaßen spannende wie anspruchsvolle Herausforderung kann daher darin gesehen werden, die bestehenden Ansätze eines sekundäranalytischen Monitorings von Verdrängungsphänomenen (einschließlich Verdrängungsdruck) mit Hilfe von Primärerhebungen wie der hier vorgestellten, aber ggf. auch qualitativen Studien, die die typischen Verläufe von ›Verdrängungskarrieren‹ und die dort wirksamen Faktoren in die Tiefe verfolgen, weiterzuentwickeln. Ein in dieser Weise entwickeltes Verdrängungsmonitoring wäre dann idealerweise auch in der Lage, die tatsächliche Stärke der Wechselwirkungen zwischen Gentrifizierung und Verdrängung abzuschätzen – was freilich voraussetzt, Gentrifizierung ebenso präzise zu konzeptualisieren wie Verdrängung.
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Gentrifizierung powered by Vonovia Verdrängung im Frankfurter Gallus Sebastian Schipper
Die deutschsprachige sowie internationale Gentrifizierungsforschung beschäftigt sich überwiegend mit der baulichen, funktionalen, symbolischen und sozialen Aufwertung von Quartieren sowie deren Ursachen und Verlaufsformen (Lees/Slater/Wyly 2008; Üblacker 2018). Auf Ebene der Akteur*innen geraten dabei insbesondere Pioniere und Gentrifier in den Fokus der Aufmerksamkeit (Friedrichs/Blasius 2016). Wenig Beachtung finden hingegen die Bevölkerungsgruppen, die aus ihrem Viertel verdrängt werden oder davon bedroht sind. Dementsprechend betont etwa Ilse Helbrecht (2016a, 10), dass durch die Fokussierung auf Phänomene der Aufwertung und Ursachengefüge »die Folgen der Gentrification für die Verdrängten« insbesondere in Studien seit den 1990er-Jahren »nahezu vollständig aus dem Blick« geraten seien. Die Stadtforschung sei als »einäugiger Zyklop« zu charakterisieren, weil »stets nur die Aufwertungsseite des Gentrificationprozesses betrachtet wird – nicht jedoch die andere Seite der Medaille: die Verdrängung« (ebd., 11). In ähnlicher Stoßrichtung unterstreicht auch Tom Slater (2006, 743): »[T]here is next to nothing published on the experiences of non-gentrifying groups living in the neighbourhoods into which the much researched cosmopolitan middle classes are arriving en masse.« Die relativ wenigen Arbeiten, die sich mit Verdrängungsprozessen beschäftigen, verfolgen zudem meist das Ziel, quantitativ die Zahl der von Verdrängung Betroffenen zu bestimmen (Sumka 1979; Marcuse 1986; Atkinson 2000; Blasius 2004; van Criekingen 2008; Wyly/Newman/Schafran/Lee 2010; Beran/Nuissl 2019). Forschungsarbeiten, die sich explizit mit der Lebenswirklichkeit und den Bleibestrategien von einkommensarmen Gruppen beschäftigen, sind dagegen selten und wurden größtenteils in den 1980er- und frühen 1990er-Jahren publiziert (Alisch/Zum Felde 1990; Blasius/Dangschat 1990;
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Blasius 1994). Sie stammen somit aus einer Zeit, in der die Wohnraumversorgung vergleichsweise wohlfahrtsstaatlich geprägt war und von Verdrängung bedrohte Haushalte Wohnraum in den umfangreichen Beständen des sozialen und nicht-gewinnorientierten Wohnungsbaus finden konnten. Aktuelle empirische Studien zu Verdrängungsprozessen liegen kaum vor. Positive Ausnahmen zu diesem Befund stellen etwa der Sammelband von Ilse Helbrecht (2016b) und eine qualitative Studie von Sandra Bernien (2017) zu Verdrängung in Berlin sowie quantitativ-statistische Analysen zu Wohnkostenbelastungen (Lebuhn/Holm 2017) und dem Umzugsverhalten einkommensarmer Haushalte (Winke 2020) auf angespannten Wohnungsmärkten dar. Kate Shaw und Iris Hagemans (2015) sowie Rowland Atkinson (2015) haben darüber hinaus Verdrängungserfahrungen einkommensarmer Mieter*innen in Melbourne und Sydney untersucht. Wie Gentrifizierungsprozesse unmittelbar erlebt und welche emotionalen Reaktionen und Ängste dadurch ausgelöst werden, hat zudem Chiara Valli (2015) am Beispiel des Stadtviertels Bushwick in New York analysiert. Als wesentlicher Grund für den Mangel an Forschungsarbeiten über von Verdrängung bedrohte Haushalte wird gemeinhin auf das forschungspraktische Problem verwiesen, dass es empirisch enorm schwierig ist, Menschen in einem gentrifizierten Stadtteil zu befragen, die bereits verdrängt worden sind und die folglich nicht mehr im Untersuchungsgebiet wohnen (Atkinson 2000; Helbrecht 2016a). Die Gentrifizierungsforscher*innen Kathe Newman und Elvin Wyly (2006, 27) etwa betonen pointiert: »By definition, displaced residents have disappeared from the very places where researchers or census-takers go to look for them«. Verschärft wird dieses methodische Problem unter anderem dadurch, dass erste Verdrängungsprozesse zeitlich bereits deutlich vor der sichtbaren Aufwertung eines Viertels auftreten können; also unter Umständen zu einem Zeitpunkt stattfinden, an dem weder die öffentliche Wahrnehmung noch die Aufmerksamkeit der Stadtforschung auf das Gebiet gerichtet ist (Bernien 2017). Auch aufgrund der langwierigen Förderlogik wissenschaftlicher Forschung sowie der notwendigen Vorbereitungszeit laufen Studien Gefahr, ihre Untersuchung zu spät zu beginnen, da die erste Welle der Verdrängung womöglich bereits erfolgt ist. An dieser methodischen Herausforderung setzt die hier vorgestellte Studie an, indem sie zwei Siedlungskomplexe im Frankfurter Gallusviertel in den Blick nimmt, in denen (noch) überwiegend marginalisierte
Gentrifizierung powered by Vonovia
Bevölkerungsgruppen wohnen, jedoch aus spezifischen Gründen Verdrängungsprozesse zukünftig zu erwarten sind (Abschnitt 1). Selbige werden methodisch kleinräumig untersucht mit Hilfe einer quantitativen Befragung sowie ergänzender qualitativer Interviews (Abschnitt 2).1 Im Ergebnis kann die Analyse der Sozialstruktur sowie der Wohn- und Mietverhältnisse zeigen, dass die Haushalte der beiden Siedlungen existenziell auf den Erhalt preisgünstigen Wohnraums angewiesen sind (Abschnitt 3), die Wohnkosten und Mietbelastungsquoten in den letzten Jahren dagegen deutlich gestiegen sind und weiter steigen (Abschnitt 4). Die sich daraus bedingenden Verdrängungsprozesse werden von vielen Bewohner*innen auch subjektiv als Verdrängungsdruck empfunden (Abschnitt 5). Langfristig ausgerichtete methodische Konsequenzen aus der Studie sowie mögliche Anknüpfungspunkte für die politische Praxis sozialer Bewegungen werden im abschließenden Fazit diskutiert.
1.
Gentrifizierung und Verdrängung im Gallus
Beim Gallus handelt es sich um ein klassisches Arbeiter*innenviertel, welches trotz seiner zentralen Lage bis ca. 2008 vergleichsweise günstige Bestandsund Angebotsmieten aufwies. Lange Zeit konnten auch Haushalte mit niedrigem Einkommen hier bezahlbaren Wohnraum finden (Stadt Frankfurt a.M. 2005; Schipper/Wiegand 2015, 12ff.). Seit 2010 steht das Viertel jedoch unter hohem Gentrifizierungsdruck. Ursächlich dafür sind erstens stadtpolitische Aufwertungsstrategien, die Neoliberalisierung der Wohnungspolitik und die Finanzialisierung der Eigentümerstruktur (Schipper/Latocha 2018), zweitens veränderte immobilienwirtschaftliche Verwertungsstrategien im Anschluss an die globale Finanzkrise von 2008 sowie drittens Ausstrahlungseffekte hochpreisigen Wohnungsneubaus, der im Umfang von ca. 6.000 Wohneinheiten unter anderem auf dem benachbarten Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs im heutigen Europaviertel entstanden ist und im Gallus einen Prozess der »Neubau-Gentrifizierung« (Schipper/Wiegand 2015) ausgelöst hat. Der Fokus der hier vorgestellten Studie liegt auf den bislang kaum erforschten Verdrängungsprozessen. Selbige konnten zwar im Rahmen von 1
Als studentische Hilfskräfte haben Johanna Betz, Paula Betz, Klara Franke, Tobias Kubitza sowie Sara Schmitt Pacífico wesentlichen Anteil an der erfolgreichen Durchführung der Erhebungen.
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zwei Voruntersuchungen (ebd.; Schipper/Latocha 2018) als wahrscheinliche Entwicklungsperspektiven herausgearbeitet, aber bisher nicht explizit untersucht werden. Konkret nimmt die Fallstudie zwei traditionelle Arbeitersiedlungen im Gallus in den Blick: Die Wallauer Straße und die Knorrstraße. Dabei handelt es sich um zwei Nachbarschaften mit jeweils um die 100 Wohnungen, die direkt an der Grenze zum neuen, hochpreisigen Europaviertel verortet sind (Abbildung 1). Die Auswahl liegt darin begründet, dass beide Siedlungen jahrzehntelang einer doppelten Preisbindung unterlagen, sodass dort vor allem untere Einkommensschichten Zugang zu bezahlbarem Wohnraum finden konnten. Zum einen sind die Gebäudekomplexe Wallauer- und Knorrstraße im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus entstanden und waren somit dessen Preis- und Belegungsbindungen unterworfen. Zum anderen befanden sich die Gebäude im öffentlichen Eigentum einer gemeinnützigen EisenbahnWohnungsgesellschaft. Somit bestand eine zusätzliche unternehmensbezogene Preisbindung, da die Eigentümerin gesetzlich auf eine kostendeckende Mietpreisbildung verpflichtet war und keine Marktmieten verlangen durfte (Kuhnert/Leps 2017, 33ff.). Seit Längerem sind allerdings die befristeten Sozialbindungen ausgelaufen. Zudem hat die CDU/FDP Bundesregierung bereits 1989 die Wohngemeinnützigkeit abgeschafft (ebd., 135ff.). Hinzu kommt, dass die rot-grüne Bundesregierung Anfang 2001 deutschlandweit ca. 65.000 Eisenbahnerwohnungen an die Deutsche Annington (heute Vonovia SE) verkauft hat. Allein in Frankfurt waren 6.622 Wohnungen von der Privatisierung betroffen, darunter auch diejenigen in der Wallauer- und Knorrstraße. Bei Vonovia SE handelt es sich um das größte börsennotierte Wohnungsunternehmen in Deutschland mit knapp 495.000 bewirtschafteten Wohneinheiten (davon 356.000 in Deutschland und 27.500 in der Rhein/Main-Region). Der Verkehrswert wird mit 53,3 Mrd. € angegeben (Vonovia 2020, 2). Als finanzmarktorientierte Investorin zeichnet sich Vonovia dadurch aus, ihre Bestände gewinnmaximierend zu bewirtschaften und einer Finanzmarktlogik zu unterwerfen (Unger 2018). Für die Mieter*innen in der Wallauerund Knorrstraße bedeutete dies in den ersten circa 15 Jahren, nachdem Vonovia die Bestände übernommen hatte, dass die Mieten im Rahmen der üblichen rechtlichen Möglichkeiten angehoben, Instandhaltungsinvestitionen jedoch vernachlässigt wurden. Materiell hat sich dieses Geschäftsmodell in baulichen Mängeln, häufigem Schimmelbefall und anderen technischen Einschränkungen manifestiert. Im Anschluss an die Fertigstellung des angrenzenden Europaviertels mit seinen gehobenen und luxuriösen Wohn-
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Abbildung 1: Das Gallus in Frankfurt a.M.
Quelle: Institut für Humangeographie, Goethe Universität Frankfurt a.M.
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komplexen hat sich die Bewirtschaftungspraxis des Unternehmens jedoch grundlegend gewandelt. Seit ca. 2015 hat Vonovia in beiden Siedlungen umfangreiche Modernisierungsmaßnahmen angekündigt und mittlerweile auch durchgeführt, die mit erheblichen Mietsteigerungen einhergehen. Laut Aussage des Unternehmens soll mit diesen Maßnahmen »die ästhetische Lücke zum Europaviertel« (Deal-Magazin 2017) geschlossen werden. Zudem wurde die Knorrstraße in den Jahren 2018/19 durch Neubauten und Aufstockungen nachverdichtet, wobei die 40 neuen Wohneinheiten für bis zu 17 €/m² vermietet werden. In der Wallauer Straße wurde im Sommer 2019 ebenso eine Nachverdichtung angekündigt. Dort entstehen derzeit 25 zusätzliche Mietwohnungen, die laut Angaben der Vonovia später für durchschnittlich 13,50 €/m² angeboten werden sollen (Manus 2019). Bemerkenswerterweise hätten zumindest in der Knorrstraße sowohl die Nachverdichtung als auch die Modernisierungsmaßnahmen von kommunalen Entscheidungsträger*innen verhindert werden können. Entgegen dem damaligen allgemeinen Trend einer Neoliberalisierung der Wohnungspolitik hat die Stadt Frankfurt im Jahr 2005 eine soziale Erhaltungssatzung für das östliche Gallus erlassen, in dem auch die Knorrstraße gelegen ist (Abbildung 1). In der Begründung der Satzung heißt es, dass bezahlbarer Wohnraum für die dort wohnenden einkommensarmen Schichten bewahrt werden müsse. Befürchtet wurde seitens der Stadt, dass »das neu entstehende Europaviertel auf dem ehemaligen Güterbahnhofgelände eine Aufwertung des benachbarten Gallusviertels bewirkt, die eine Verdrängung der ansässigen Wohnbevölkerung ebenfalls durch Modernisierungen zu höherwertigem Wohnraum nach sich zieht« (Stadt Frankfurt a.M. 2005, 2). Damals betrug die durchschnittliche Kaltmiete im östlichen Gallus 5,92 €/m² und lag damit unter dem stadtweiten Durchschnittswert von 6,47 €/m² (ebd., 7). Vor diesem Hintergrund wurde die Milieuschutzsatzung als ein Mittel zum »Schutz der Zusammensetzung der Wohnbevölkerung« (ebd., 2) gesehen, welches den drohenden Verdrängungsprozessen im Gallus präventiv entgegenwirken soll. Rückbau, Änderung und Nutzungsänderung baulicher Anlagen unterliegen seitdem einer städtischen Genehmigungspflicht (§ 172 Abs. 1 BauGB). Gleiches gilt für Modernisierungen, die einen zeitgemäßen Mindeststandard übertreffen. Allerdings wurde dieses Instrument im Fall der Knorrstraße von den zuständigen kommunalen Behörden zehn Jahre später nicht genutzt, um die Nachverdichtung und vor allem die miet-
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preistreibenden Modernisierungsvorhaben zu untersagen bzw. die baulichen Änderungen zumindest auf sozial verträgliche Eingriffe zu begrenzen. Die Gründe dafür, warum das Stadtplanungsamt seine Befugnisse, der Vonovia die Genehmigung der Modernisierungsmaßnahmen zu verweigern, nicht gemäß den Zielen der Milieuschutzsatzung genutzt hat, sind nicht bekannt. Zusammenfassend richtet sich der Fokus der Untersuchung auf die Wallauer- sowie Knorrstraße, weil dort erstens in Anbetracht der Geschichte der Siedlungen eine von Verdrängung bedrohte Bevölkerungsschicht zu erwarten ist, zweitens ein hohes Gentrifizierungspotenzial angesichts der kleinräumlichen Lage zwischen altem Gallus und hochpreisigem Europaviertel besteht und drittens die auf Gewinnmaximierung ausgerichtete Geschäftspraxis von Vonovia es zudem wahrscheinlich macht, dass dieses immobilienwirtschaftliche Renditepotenzial auch zuungunsten der bisherigen Mieter*innen ausgenutzt wird.
2.
Fragestellung und methodisches Vorgehen
Um mögliche Verdrängungsprozesse in den beiden Siedlungen abbilden zu können, wurde auf Basis einer quantitativ-standardisierten Befragung sowie ergänzender qualitativer Leitfadeninterviews mit Bewohner*innen untersucht,
1. inwiefern dort einkommensarme Schichten aufgrund steigender Wohnkosten ihre Wohnungen aufgeben und womöglich den Stadtteil verlassen müssen (direkte Verdrängung); 2. inwiefern Mieterhöhungen zu einer Verdrängung aus dem Lebensstandard führen, da ein kritischer Anteil von über 30 % des verfügbaren Haushaltseinkommens für die Deckung der Kaltmiete aufgewendet werden muss; und 3. inwiefern die Bewohner*innen subjektiv Verdrängungsdruck erleben, das heißt, Ängste haben sich ihre Wohnung zukünftig nicht mehr leisten zu können.
Üblicherweise versucht die Gentrifizierungsforschung derartige Verdrängungsprozesse durch eine Sekundäranalyse von amtlichen Daten der Sozialstatistik oder die Erhebung von Primärdaten zur Sozialstruktur abzubilden.
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In Frankfurt liegen – wie in vielen anderen Kommunen auch – die sekundärstatistischen Datensätze allerdings nicht in kleinräumiger Auflösung vor, sondern nur auf Stadtteilebene. Zudem sind die Daten oft zu unspezifisch und für den Zweck dieser Erhebung unzureichend. Beispielsweise werden bezogen auf Haushaltseinkommen nur sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigungsverhältnisse erfasst und damit insbesondere prekäre Arbeitsverhältnisse ausgeblendet. Darüber hinaus sind viele Datensätze im Zeitverlauf nicht vergleichbar, da Kategoriendefinitionen und Erhebungsmethoden mehrfach geändert wurden. Auch der alternative methodische Zugriff einer auf den gesamten Stadtteil bezogenen Primärdatenerhebung wurde hier nicht verfolgt. Grund dafür ist, dass zum einen die Eigentümerstruktur im Gallus vielfältig ist und Verdrängungsprozesse daher kleinräumig sehr unterschiedlich ausgeprägt sein können (Abbildung 1). Durch die Aggregation von Daten zu stadtteilweiten Durchschnittswerten werden derartige Prozesse womöglich unsichtbar gemacht. Zum anderen nehmen marginalisierte Bevölkerungsgruppen erfahrungsgemäß nur bedingt an allgemeinen Befragungen teil, sodass bei einem solchen Vorgehen die Gefahr besteht, dass insbesondere die Haushalte, die potenziell von Verdrängung bedroht sind, im Ergebnis stark unterrepräsentiert bleiben. In Anbetracht der Defizite der beiden klassischen Untersuchungsdesigns wurde für die hier vorgestellte Studie der Weg einer kleinräumig angelegten Primärdatenerhebung gewählt. Wie im Folgenden dargelegt wird, ermöglicht der kleinräumige Zugriff auf spezifische Wohnkomplexe verbunden mit einem hohen Erhebungsaufwand eine angemessene Beteiligung auch von einkommensarmen und anderweitig marginalisierten Haushalten. Die Befragungen zur Analyse der Sozialstruktur, der Wohn- und Mietverhältnisse sowie des subjektiv erlebten Verdrängungsdrucks wurden von November 2018 bis Januar 2019 in der Knorrstraße und von November 2019 bis Februar 2020 in der Wallauer Straße durchgeführt. Vor Beginn wurden die Bewohner*innen der Siedlungen zunächst mit Informationsschreiben über das Untersuchungsziel informiert. Die Fragebögen wurden auf Deutsch ausgeteilt sowie bei Bedarf in englischer Sprache nachgereicht. Im Anschluss wurde jede Wohneinheit drei- bis viermal an jeweils unterschiedlichen Wochentagen und zu unterschiedlichen Tageszeiten aufgesucht, um zur Teilnahme an der Untersuchung zu motivieren, Hilfestellungen zu leisten und die Fragebögen einzusammeln. Auf Nachfrage wurden auch frankierte Umschläge für die postalische Rücksendung zur Verfügung gestellt. Der mehrfache persönliche
Gentrifizierung powered by Vonovia
Kontakt an der Haustür erleichterte es, das Anliegen der Studie zu erklären, Vertrauen zu den Bewohner*innen aufzubauen und in Haustürgesprächen tiefergehende Einblicke in die Lebens- und Wohnverhältnisse vermittelt zu bekommen. Bei insgesamt 209 Wohneinheiten konnten letztlich 71 Haushalte befragt werden. Mindestens acht Wohnungen waren während der Zeit der Umfrage eindeutig unbewohnt, beispielsweise aufgrund von Renovierungsarbeiten oder Auszügen. Bei 26 Wohnungen war trotz mehrfacher Besuche an verschiedenen Wochentagen und Uhrzeiten keine Kontaktaufnahme möglich, 19 Haushalte konnten an der Befragung aufgrund von Sprachbarrieren bzw. Verständigungsproblemen nicht teilnehmen. Eine Partizipation an der Umfrage haben 25 Haushalte grundsätzlich abgelehnt. In den Haustürgesprächen wurde dabei vielfach deutlich, dass die bewusste Nichtteilnahme an der Befragung aus Resignation und Frust resultiert. Viele Mieter*innen haben nach jahrelangen Konflikten mit Vonovia und bisher folgenlosen politischen Protesten jede Hoffnung auf eine Besserung ihrer prekären Wohnsituation aufgegeben. Auch aufgrund aktuellen Umzugsstresses oder baldigen Wegzugs haben Bewohner*innen eine Teilnahme abgelehnt. In Anbetracht der genannten Gründe für die Nichtteilnahme an der Befragung gilt es bezüglich der Interpretation der Ergebnisse zu bedenken, dass diese womöglich insofern verzerrt sein könnten, dass trotz des hohen Erhebungsaufwandes immer noch die marginalisiertesten Bevölkerungsgruppen (z.B. Sprachbarrieren), welche am unmittelbarsten von Verdrängung betroffen sind (Resignation, baldiger Wegzug, bereits erfolgter Wegzug), weiterhin leicht unterrepräsentiert sind. Lässt man die acht definitiv leerstehenden Wohnungen außer Acht, ergibt sich eine Rücklaufquote von insgesamt 34 %. Diese variiert jedoch zwischen den beiden Siedlungen stark. Während in der Knorrstraße 44 % aller Haushalte teilnahmen, waren dies in der Wallauer Straße lediglich 23 %. Diese Differenz lässt sich vor allem dadurch begründen, dass die Untersuchung in der Knorrstraße mit Unterstützung einer in der Siedlung aktiven Mieterinitiative durchgeführt werden konnte. Akteur*innen dieser Initiative haben die Nachbar*innen zusätzlich auf die Umfrage hingewiesen und für eine Teilnahme motiviert, ferner ausgefüllte Fragebögen direkt vor Ort in Empfang genommen sowie in Einzelfällen bei der Simultanübersetzung in andere Sprachen geholfen. Die erhebliche Differenz des Rücklaufs verweist somit auf den signifikanten Gewinn eines transdisziplinären Forschungsdesigns speziell in Kontexten, in denen die Lebenswirklichkeit von marginalisierten Haushalten untersucht wird. Die Bereitschaft, an einer wissenschaftlichen Befragung
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teilzunehmen, lässt sich durch eine kooperative Wissensproduktion deutlich erhöhen. Für eine Gentrifizierungsforschung, welche die Perspektive von Verdrängten in den Blick nehmen möchte, empfiehlt es sich daher ungemein, Mieterinitiativen oder andere zivilgesellschaftliche Akteur*innen als Kooperationspartner*innen einzubinden.
3.
Sozialstruktur
Die Analyse der Sozialstruktur der beiden Siedlungen macht die hohe Bedeutung von preisgünstigem Wohnraum für die jetzigen Bewohner*innen sichtbar. Die Bewohnerstruktur ist überwiegend durch Haushalte charakterisiert, die aus drei Gründen auf bezahlbaren Wohnraum angewiesen sind bzw. Schwierigkeiten hätten, sich anderswo in Frankfurt a.M. mit angemessenem Wohnraum zu versorgen: Dem hohen Anteil an Haushalten mit Migrationsgeschichte, dem hohen Anteil an Haushalten mit geringem Einkommen sowie dem überdurchschnittlichen Anteil von Haushalten mit mehr als zwei Kindern (Tabelle 1). Erstens haben knapp 80 % der befragten Haushalte eine Migrationsgeschichte in dem Sinne, dass zumindest ein Elternteil nicht in Deutschland geboren wurde. Der Anteil der Menschen, die selbst über Migrationserfahrung verfügen, beträgt 67,2 %. Keine deutsche Staatsbürgerschaft besitzen 50,7 %. Bei der Wohnungssuche sind diese Haushalte daher potenziell mit rassistischen Diskriminierungen konfrontiert. Zweitens geht zwar ein hoher Anteil der Bewohner*innen der beiden Siedlungen einer Vollzeitbeschäftigung nach und bezieht keine staatlichen Transferleistungen.2 Allerdings erfolgt die Beschäftigung überwiegend zu einem
2
Der überwiegende Anteil von 75 % aller befragten Personen ist erwerbstätig. Beschäftigt sind die Bewohner*innen beispielsweise als Kassierer*in, Gebäudereiniger*in, Erzieher*in, Sachbearbeiter*in, Lagerlogistiker*in, Berufskraftfahrer*in, Büroangestellte*r, Elektrotechniker*in, Fachangestellte*r oder sie sind in der Gastronomie, dem Bausektor sowie im Sicherheits- und Hotelgewerbe tätig. Hinzu kommen 14 %, die bereits das Rentenalter erreicht haben. Lediglich 4,7 % geben an, derzeit arbeitslos zu sein und ausschließlich Arbeitslosengeld oder andere Sozialleistungen zu beziehen. Zwar erhalten insgesamt 13,4 % der befragten Haushalte staatliche Transferleistungen (ALG I, ALG II, Sozialhilfe, Wohngeld). Dabei handelt es sich allerdings mehrheitlich um lohnabhängig Beschäftige sowie Rentner/innen, die ihre zu geringen Erwerbseinkommen bzw. Altersrenten aufstocken müssen.
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derart niedrigen Lohnniveau, dass die durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommen mit 2.116 € weit unter dem bundesweiten Mittel von 3.399 € (Statistisches Bundesamt 2018) liegen. Dabei ist das Bildungs- und Ausbildungsniveau der Haushalte äußerst heterogen. Einerseits haben 46 % aller befragten Personen entweder Abitur oder einen äquivalenten Schulabschluss; 32 % aller Befragten haben zudem ein Hochschulstudium oder eine höhere Berufsausbildung absolviert. Dieser Gruppe stehen andererseits allerdings 11 % ohne Schulabschluss sowie 30,6 % ohne Berufsausbildung gegenüber. Ein Vergleich der Einkommensverteilung in den Untersuchungsgebieten mit der Struktur der Nettoäquivalenzeinkommen in Deutschland offenbart, dass 71 % der Haushalte in der Wallauer- bzw. Knorrstraße über weniger als 70 % (d.h. als 1.279 €) des deutschen Medianeinkommens von 1.827 € (Stand 2017) verfügen. Ein monatliches Nettoäquivalenzeinkommen von unter 1.096 € haben 37,5 % aller Haushalte, womit sie als armutsgefährdet gelten. Im bundesweiten Vergleich liegt dieser Wert bei 15,9 % (Statistisches Bundesamt 2020). Bei 20,8 % aller Haushalte im Untersuchungsgebiet liegt das Nettoäquivalenzeinkommen unterhalb des Existenzminimums von 785 € (bzw. unter 43 % des Medianeinkommens). Ein Äquivalenzeinkommen oberhalb des deutschen Medians haben dagegen nur 17 %. Ein Vergleich der Einkommensstruktur der beiden Siedlungen mit den Einkommensgrenzen im geförderten Mietwohnungsbau gemäß des Hessischen Wohnraumfördergesetzes verweist zudem darauf, dass 73 % aller Haushalte in den beiden Siedlungen Anspruch auf eine klassische Sozialwohnung zu einem Mietpreis von 5,00 €/m² bis 6,50 €/m² haben. Schließlich wohnen in der Wallauer- und Knorrstraße drittens überdurchschnittlich viele Alleinerziehende (11 % aller Haushalte) sowie Haushalte mit drei oder mehr Kindern. Der Anteil letzterer liegt mit 14,1 % deutlich über dem städtischen Durchschnitt von nur 3,4 % (Stadt Frankfurt a.M. 2018, 34). Derartige Haushaltstrukturen gelten am Wohnungsmarkt als besonders vulnerabel, da es für diese häufig eine große Herausforderung darstellt, eine angemessene und gleichzeitig bezahlbare Wohnung zu finden (Heyn/Schmandt 2019).
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Tabelle 1: Sozialstruktur in den Vonovia-Siedlungen Migrationshintergrund (Anteile der Befragten) mit Migrationsgeschichte mit Migrationserfahrung ohne deutsche Staatsbürgerschaft
80,0 % 67,2 % 50,7 %
Schulabschuss und Bildungsniveau (Anteile der Befragten) Abitur oder äquivalenter Schulabschluss Hochschulstudium oder höhere Berufsausbildung ohne Schulabschluss ohne Berufsausbildung
46,0 % 32,0 % 11,0 % 30,6 %
Erwerbstätigkeit (Anteile der Befragten)
75,0 % 14,0 % 4,7 %
erwerbtätig Rentner*innen arbeitslos oder beziehen ausschließlich Sozialleistungen Durchschnittliches Haushaltsnettoeinkommen pro Monat in €
2.116
Nettoäquivalenzeinkommen (Anteile der Befragten) weniger als 70 % des Medianeinkommens (unter 1.279 €) armutsgefährdet (weniger als 1.096 €) unterhalb des Existenzminimums (weniger als 785 €) oberhalb des Medianeinkommens (mehr als 1.827 €)
71,0 % 37,5 % 20,8 % 17,0 %
Anteil der Haushalte mit Anspruch auf eine Sozialwohnung
73,0 %
Haushaltsstruktur (Anteile der Befragten) Haushalte mit drei oder mehr Kindern Alleinerziehende
14,1 % 11,0 %
Quelle: Eigene Erhebung.
Durchschnittlich wohnen die befragten Haushalte seit 12 Jahren in der Wallauer- bzw. Knorrstraße (Spannweite: 0-36 Jahre; s = 8,6 Jahre). Knapp 78 % leben seit mehr als 5 Jahren in ihrer Wohnung und gut 48 % seit über 10 Jahren. Es handelt sich also größtenteils um Bestandsmieter*innen, die noch vor dem jüngsten stadtweiten Mietpreisanstieg einen Mietvertrag mit Vonovia (bzw. der vorherigen Eigentümerin) abgeschlossen haben. Auffällig ist, dass ein hoher Anteil der Haushalte zuvor bereits in Frankfurt (68 %) gewohnt hat. Neben persönlichen Gründen (wie etwa Heirat, Scheidung oder Kinderzuwachs) betonen viele, dass die (zum Zeitpunkt des Einzugs noch) günstigen Mieten ein entscheidender Faktor waren, in die jetzige Wohnung zu ziehen.
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4.
Wohn- und Mietverhältnisse
Dementgegen offenbart die Analyse der gegenwärtigen Wohn- und Mietverhältnisse, dass die Mieten in den letzten Jahren deutlich erhöht worden sind, mittlerweile über dem Frankfurter Durchschnittsniveau liegen und weiter rasant steigen. Zudem sind die Wohnkonstellationen oft als prekär und beengt zu charakterisieren (Tabelle 2). Im Schnitt beträgt die Größe der Zwei- oder Dreizimmerwohnungen in der Wallauer- sowie Knorrstraße 60 m². Bei einer durchschnittlichen Haushaltsgröße von 2,5 Personen verfügt somit jede Person rechnerisch über 24 m² Wohnfläche; bei kinderreichen Familien mit mehr als 2 Kindern sinkt dieser Wert auf 12 bis 17 m². Im Vergleich dazu beträgt die mittlere Wohnfläche in Frankfurt 37,6 m² (Lebuhn/Holm 2017, 45) und in Deutschland sogar 53,6 m² pro Person (Statistisches Bundesamt 2019, 166). Die durchschnittliche Kaltmiete von 541 € in den Beständen der beiden Untersuchungsgebiete entspricht einem Quadratmeterpreis von 9,25 €/m2 . Damit liegen die Mietpreise in der Wallauer- und Knorrstraße über dem Mittelwert der Bestandsmieten in Frankfurt von 9,13 €/m² (Lebuhn/Holm 2017, 91). Die durchschnittliche monatliche Warmmiete beträgt in den beiden Siedlungen angesichts von Nebenkosten, die zwischen 140 € und 170 € schwanken, 698 €, was einem Quadratmeterpreis von 11,90 €/m2 entspricht. Tabelle 2: Wohn- und Mietverhältnisse in den Vonovia-Siedlungen Mittelwert (Standardabweichung) Wohnungsgröße
60 m² (7,1 m²)
Haushaltsgröße
2,5 Personen (1,4 Personen)
Wohnfläche pro Person
24 m² (15,9 m²)
Kaltmiete pro Wohneinheit
541 € (117 €)
Kaltmiete pro m²
9,25 € (2,4 €)
Warmmiete pro Wohneinheit
698 € (116 €)
Warmmiete pro m²
11,90 € (2,5 €)
Quelle: Eigene Erhebung.
Die Mietbelastungsquote (kalt) beläuft sich durchschnittlich auf 31 % der Haushaltsnettoeinkommen und liegt damit leicht über dem städtischen Schnitt von 28 % (ebd.). Dabei überschreitet die Kaltmiete bei 41 %
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aller befragten Haushalte die kritische Schwelle von 30 %, ab der in der Wohnungsforschung der Bereich beginnt, bei dem für die Sicherung der Wohnkosten andere Ausgaben und der Lebensstandard wesentlich eingeschränkt werden müssen (kritisch dazu: Praum 2016). Zählt man Neben- und Heizkosten hinzu, steigt die durchschnittliche Mietbelastungsquote (warm) auf 41 %. Somit kommen bereits ohne Berücksichtigung der Modernisierungsmaßnahmen viele Haushalte in der Wallauer- und Knorrstraße an ihre finanzielle Belastungsgrenze, da sie einen hohen Anteil ihres Einkommens für die Miete aufwenden müssen und dementsprechend weniger Spielräume für andere Ausgaben bestehen. In Anbetracht der angekündigten Modernisierungsmieterhöhungen wird die Mietbelastungsquote weiter steigen und sich die finanzielle Situation vieler Haushalte nochmals zuspitzen. Die Bewohner*innen der untersuchten Häuserblöcke haben Mieterhöhungsverlangen von im Schnitt 126 € (s = 59 €) erhalten, insbesondere für den Einbau von (häufig nicht barrierefreien) Aufzügen und den Anbau von Balkonen. Addiert man den Mittelwert der angekündigten Mieterhöhungen zu den bisherigen Kaltmieten, steigt die durchschnittliche Mietbelastungsquote auf 42 %. Darüber hinaus nimmt auch der Anteil derer, die nach der Mieterhöhung 30 % oder mehr ihres Einkommens für die Kaltmiete aufwenden müssen, auf 58 % zu (Tabelle 3). In 36 % aller Fälle wird die Mietbelastung sogar auf 40 % oder mehr ansteigen. Werden die Mieterhöhungen daher wie angekündigt von Vonovia durchgesetzt, kann sich rechnerisch deutlich mehr als die Hälfte aller Haushalte ihre Wohnung nicht mehr leisten, weshalb ihnen zukünftig entweder eine direkte Verdrängung aus der Siedlung oder eine verschärfte Verdrängung aus dem Lebensstandard droht. Tabelle 3: Mietbelastungsquoten vor und nach der Modernisierung Vor der Modernisierung
Nach der Modernisierung (geschätzt)
Durchschnittliche Mietbelastungsquote kalt
Anteil Haushalte, die mehr als 30 % ihres Einkommens für die Kaltmiete aufwenden müssen
Durchschnittliche Mietbelastungsquote kalt
Anteil Haushalte, die mehr als 30 % ihres Einkommens für die Kaltmiete aufwenden müssen
31 %
41 %
42 %
58 %
Quelle: Eigene Erhebung.
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5.
Subjektiv erlebter Verdrängungsdruck
Um den subjektiv empfundenen Verdrängungsdruck zu erfassen, wurden die Bewohner*innen unter anderem danach gefragt, ob es ihnen leichtfällt, monatlich die Miet- und alle weiteren Lebenshaltungskosten decken zu können. Im Ergebnis geben 33,3 % an, damit entweder oft Schwierigkeiten zu haben (18,8 %) oder dass dies für sie fast jeden Monat eine große Herausforderung darstellt (14,5 %). Darüber hinaus müssen 45,8 % ihren Lebensstandard einschränken bzw. an anderer Stelle sparen (22,9 % häufig; 22,9 % manchmal), um die Miete bezahlen zu können. Gesenkt werden die Ausgaben etwa für Lebensmittel, Kleidung sowie die Freizeit- und Urlaubsgestaltung. Angesichts solcher Aussagen, der bereits hohen Mietbelastungsquoten (Abschnitt 4) und der angekündigten Modernisierungsmieterhöhungen überrascht es nicht, dass sich 40,6 % der Befragten große Sorgen machen, zukünftig die eigene Wohnung aufgrund von Mieterhöhungen verlassen zu müssen. Manchmal oder zumindest selten machen sich 36,2 % der Befragten solche Sorgen. Eine Bewohner*in der Knorrstraße beschreibt diese Ängste wie folgt: »Vonovia macht vielen Menschen Angst, die Wohnung zu verlassen. […] Seitdem die Vonovia da ist, gibt es nur Mieterhöhung […] und Streit. Schade, sehr schade, dass nicht alle Menschen sich das leisten können!« Nur knapp ein Viertel (23,2 %) kennt derartige Sorgen nicht. Darüber hinaus befürchten 34 % der Haushalte nicht nur aus der Wohnung, sondern auch aus dem Gallus verdrängt zu werden, da die Wohnkosten in allen Segmenten und Lagen steigen. Weitere 18 % sorgen sich diesbezüglich manchmal. Insgesamt lebt damit gut die Hälfte der Bewohner*innen oft oder manchmal mit der Angst, aus ihrem angestammten Stadtteil verdrängt zu werden.
6.
Fazit und Ausblick
Durch den kleinräumig ausgerichteten Fokus der Untersuchung, den hohen Erhebungsaufwand und die transdisziplinäre Kooperation mit der Mieterinitiative in der Knorrstraße konnte eine angemessene Beteiligung auch von einkommensarmen und marginalisierten Haushalten an der Befragung sichergestellt und somit ein differenziertes Bild der Wohn- und Lebensverhältnisse in den beiden Vonovia-Siedlungen gezeichnet werden. In Anbetracht
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der niedrigen Haushaltseinkommen und der vulnerablen Sozialstruktur sind dort viele Mieter*innen auf bezahlbaren Wohnraum angewiesen. Die oft hohen Mietbelastungsquoten verdeutlichen, dass zahlreiche Haushalte bereits vor den Modernisierungsmaßnahmen an ihre finanzielle Belastungsgrenze gekommen sind. Bezieht man die angekündigten Modernisierungsmieterhöhungen von ca. 2 €/m² mit ein, muss man konstatieren, dass viele Mieter*innen die steigenden Wohnkosten nicht dauerhaft aus ihren Haushaltseinkommen werden bestreiten können. Rechnerisch können sich zukünftig knapp 60 % der Haushalte ihre Wohnung nicht mehr leisten, da sie einen kritischen Anteil von mehr als 30 % ihres Einkommens für die Kaltmiete aufwenden müssen. Als Konsequenz müssen sie deutliche Einschnitte in anderen Lebensbereichen vornehmen, was letztlich einer Verdrängung aus dem schon jetzt oft prekären Lebensstandard gleichkommt. Wenn die Mieter*innen nicht in der Lage sind, die steigenden Mietkosten aufzubringen, sind sie zu einem Auszug gezwungen, sodass eine direkte Verdrängung aus der Wohnung und dann wahrscheinlich auch aus dem Stadtteil droht. Auf Basis einer kontinuierlichen Auswertung der Angebotsmieten konnten zudem exkludierende Verdrängungsprozesse nachgewiesen werden. In beiden ehemaligen Arbeitervierteln mit traditionell relativ günstigen Mieten finden seit einigen Jahren insofern Schließungsprozesse statt, dass Wohnungen im Falle einer Wiedervermietung ab 12 €/m² und für bis zu 17 €/m² angeboten werden. Einkommensarmen Haushalten wird somit systematisch der Zuzug verwehrt. Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse überrascht es nicht, dass die Bewirtschaftungsweisen der Vonovia von vielen auch subjektiv als Verdrängungsdruck erfahren werden. Die hier vorgestellten Ergebnisse bieten gewiss lediglich eine Momentaufnahme, da es sich bei Verdrängung um einen oft langjährigen und mehrdimensionalen Prozess handelt. Um daher den Wandel der Siedlungen im Zeitverlauf begleiten und Verdrängungsprozesse in ihrer Vielschichtigkeit erfassen zu können, werden die Erhebungen zukünftig im Rahmen einer Langzeitstudie mehrfach bis 2026 wiederholt. Zudem sind in der ersten Erhebungsphase 2018/19 die Mieter*innen getrennt von den Fragebögen um eine Kontaktmöglichkeit gebeten worden, die eine Kommunikation auch unabhängig von der jetzigen Wohnadresse erlaubt (Mobiltelefonnummer, E-MailAdresse). Auch im Falle einer direkten Verdrängung bliebe der Kontakt somit potenziell bestehen, um zu einem späteren Zeitpunkt Umzugsgründe erfassen und qualitative Interviews mit den dann tatsächlich Verdrängten durchführen zu können. Das so über mehrere Jahre erhobene empirische Material
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wird abschließend systematisch entlang der Forschungsfragen ausgewertet, wie einkommensarme Haushalte Verdrängungsdruck über einen längeren Zeitraum hinweg erfahren; welche Ängste und Befürchtungen damit einhergehen; welche Strategien der Verdrängung seitens der Eigentümerin angewandt werden; welche Bleibestrategien von den Mieter*innen verfolgt werden sowie wohin die Haushalte umziehen, falls es tatsächlich zu einer direkten Verdrängung kommt. Auf wissenschaftlicher Ebene ermöglicht ein solches methodisches Design aus der Subjektperspektive mehr über die Lebenswirklichkeit von (potenziell) Verdrängten zu erfahren. Zugleich greift das Projekt auch ein zentrales Problem der politischen Praxis auf, insofern Sozialverbände, Gewerkschaften, Mietervereine und -initiativen sowie Stadtteilgruppen immer wieder berichten, dass sich gerade marginalisierte Gruppen, die am unmittelbarsten von Wohnungsnot, Verdrängung und steigenden Mieten betroffen sind, selbst kaum an Protesten beteiligen und nur schwer zu mobilisieren sind (Vollmer 2019). Diesbezüglich verspricht die Langzeitstudie im Sinne einer »Angewandten Kritischen Geographie« (Kuge/Naumann/Nuissl/Schipper 2020, 5f) Antworten zu liefern, warum einkommensarme Haushalte ihre Interessen nur selten politisch artikulieren und wie sich dies womöglich ändern ließe.
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Der Gentrifizierungseffekt Situationslogik der Aufwertung von Wohngebieten Jan Üblacker
Die deutsche Scientific Community führt seit geraumer Zeit eine rege Debatte darüber, was Gentrifizierung ist, wie der Prozess gemessen werden kann und welche methodischen und methodologischen Probleme dabei auftreten. Bereits Rohlinger (1990) und Huinink (1990) betonen, dass der Wechsel der analytischen Ebenen (Gesellschaft, Stadt, Wohngebiet, Individuum) für ein umfassendes Forschungsdesign eine wichtige Bedeutung hat, um die Reichweite der daraus gezogenen Schlussfolgerungen beurteilen zu können. Um atomistische und ökologische Fehlschlüsse zu vermeiden, müsse ein Forschungsdesign mindestens auf der Aggregatebene (des Wohngebietes) als auch auf der Individualebene (über Umfragen) Daten heranziehen. In den folgenden Jahren wurde eine Vielzahl von Studien zur Gentrifizierung durchgeführt, bei denen aber zumeist die Aggregat- oder Individualebene untersucht wurde – oder wenn beide zugleich zur Anwendung kamen, diese eher nebeneinander standen und keine konzeptionell-theoretische Verknüpfung erfolgte. In der jüngsten Vergangenheit konnten zwei methodische Innovationen zum Erkenntnisfortschritt im Feld beitragen. Mit einem Wohnungspanel wurde erstmals der Verlaufscharakter von Gentrifizierung in zwei Kölner Wohngebieten methodisch angemessen erfasst (Friedrichs/Blasius 2015; → Blasius), in dem der soziale Wandel der Wohngebiete über den Austausch der Bevölkerung in den Wohnungen rekonstruiert wurde. Eine Befragung von Fortgezogenen aus zwei Berliner Aufwertungsgebieten gibt erstmals Einblicke in Ursachen, Motive und Auswirkungen des Wohnstandortwechsels unter Berücksichtigung von Wohnsituation und Wohnumfeld (Beran/Nuissl 2019; → Beran/Nuissl). Beide Studien zeichnen sich durch eine kombinierte Betrachtung der Aggregat- und Individualebene aus und spezifizieren auch Brückenannahmen, die zur kausalen Verknüpfung der analytischen Ebenen notwendig sind (vgl. Opp 2014, 157).
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Jan Üblacker
Der vorliegende Beitrag setzt diese Debatte fort und schlägt eine akteurstheoretische Fundierung zur Erklärung der Dynamik von Gentrifizierung vor. Der nachfolgende Abschnitt diskutiert zunächst unterschiedliche Definitionen und plädiert für eine Begrenzung auf die Statusaufwertung und den Bevölkerungsaustausch als notwendige Bedingungen für einen Gentrifizierungsbefund. Die bisherigen Herangehensweisen zur Messung, so das Argument in Abschnitt 3, folgen im Wesentlichen der Logik der Aggregation (vgl. Kroneberg 2008, 233f.; Opp 2014, 160ff.), in dem sie den Status der Aufwertung eines Wohngebietes über sozialstatistische Merkmale der Bevölkerung bestimmen. Um die Dynamik von Gentrifizierung zu erklären, ist es jedoch notwendig, sich auch den Akteur*innen und ihren Handlungen im Kontext der Aufwertung zuzuwenden, sich also der Logik der Situation und dem zu widmen, was in Abschnitt 4 als Gentrifizierungseffekt vorgestellt wird.
Gentrifizierung als mehrdimensionales Konzept Eine häufige Ursache für Probleme bei der Operationalisierung und Messung von theoretischen Konstrukten ist eine zu komplexe oder unspezifische Definition der zentralen Konzepte und Begriffe. Das trifft auch auf den Begriff Gentrifizierung zu, der in der Literatur auf sehr unterschiedliche Weise definiert wird. Um das mögliche Spektrum zu verdeutlichen, sollen hier exemplarisch zwei Definitionen herausgegriffen werden. Eine sehr umfangreiche stammt von Hamnett (1991, 157). Er definiert Gentrifizierung als ein physisches (Renovierung und Sanierung der Wohnungsbestände), ökonomisches (Preissteigerungen und Umwandlungen von Miet- in Eigentumswohnungen), soziales (Austausch oder Verdrängung der alteingesessenen Bevölkerung) und kulturelles Phänomen. Friedrichs hingegen schlägt eine einfache Definition vor, die allein den Aspekt des Bevölkerungsaustauschs beinhaltet: »Gentrification ist der Austausch einer statusniedrigeren durch eine statushöhere Bevölkerung in einem Wohngebiet« (Friedrichs 1996, 14). Eine vergleichende Betrachtung der in empirischen Untersuchungen herangezogenen Definitionen zeigt, dass der Bevölkerungsaustausch und die Statusaufwertung innerhalb eines Wohngebietes in fast allen Definitionen enthalten ist und damit den kleinsten gemeinsamen Nenner bilden (Üblacker 2018, für eine Definitionsklassifizierung siehe auch Glatter 2007, 7f.). Im Gegensatz dazu sind die holistischen Definitionen mit einer Reihe von methodi-
Der Gentrifizierungseffekt
schen Problemen verbunden. Ein Forschungsdesign wird aufwändiger, wenn ihm eine mehrdimensionale Definition von Gentrifizierung zugrunde liegt. Das »Komplexitätsproblem« (Glatter 2006, 162) ist insofern hausgemacht, als es vor allem bei empirischen Studien mit einem mehrdimensionalen Verständnis von Gentrifizierung auftritt. Wie umfassend eine solche empirische Studie ausfällt, verdeutlicht die zusammenfassende Darstellung der gängigsten Indikatoren geordnet nach den vier Dimensionen in Tabelle 1 (vgl. Üblacker 2018). Tabelle 1: Dimensionen und Indikatoren der Gentrifizierung Sozial
- Erhöhung des sozioökonomischen Status - Verkleinerung der Haushalte - Abnahme des durchschn. Alters - Erhöhte Fluktuation/Abnahme der durchschn. Wohndauer - Veränderung der Milieustruktur - Zunahme außen- und erlebnisorientierter Lebensstile
Baulich
- Mieten steigen, insb. kleine und mittlere Wohnungen - Aufwertung der Bausubstanz (Modernisierung und Sanierung) - Umwandlungen von Miet- in Eigentumswohnungen - Homogenisierung und Professionalisierung der Eigentümerstruktur - Veränderung der Wohnungsmerkmale (Ausstattung, Raumaufteilung) - Wohnumfeldverbesserungen (Begrünung, Platzgestaltung)
Gewerblich
- Gewerbemieten steigen - Nutzungsvielfalt nimmt ab - Professionalisierung der Inhaber*innen - Qualitative und preisliche Aufwertung der Waren und Dienstleistungen - Clusterbildung - Stadtteiltourismus - Vergrößerung des Einzugsbereiches - Übernutzung und Konflikte mit Anwohner*innen
Symbolisch
- Intensive Berichterstattung bei starker Veränderung und negativen Sachverhalten - Problem-, Szene- und Funktionsstereotypen - Wandel der Bewertung und Attribuierung des Gebietes - Zukunftsrhetorik - Begriffsübertragungen - Sachverhalte, die auf einen symb. Wandel hindeuten: Bilbao-Effekt, Eventisierung, soziale Schocks, Tourismus, Historie, aktive Imagekonstruktion
Quelle: Eigene Darstellung nach Üblacker 2018
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Die Komplexität des Begriffes wird häufig in ein aufwändiges MixedMethods-Design übersetzt, in dem jede Dimension und mitunter auch die in ihr aufgeführten Indikatoren über unterschiedliche Methoden und Daten erhoben werden müssen. Amtliche Statistiken oder Bevölkerungsumfragen beschreiben den sozialen Wandel im Gebiet. Die bauliche Dimension hingegen kann über immobilienwirtschaftliche Kennwerte (z.B. Angebotsmieten, Bestandsmieten, Eigentumspreise, Investitionskennzahlen) oder Beobachtungen und Kartierungen (z.B. des Sanierungsgrads, des Zustands der Fassade) erhoben werden. Die Messung des gewerblichen Wandels ist sowohl über Befragungen der Gewerbetreibenden als auch über Kartierungen möglich. Die symbolische Dimension wird methodisch am häufigsten durch die Inhaltsanalyse betrachtet, mit Hilfe derer überwiegend lokale Medienberichterstattungen untersucht werden. Die mehrdimensionale Auswertung wird erschwert, weil die über das Gebiet gewonnenen empirischen Informationen nicht nur über unterschiedliche Methoden gewonnen wurden, sondern sich auch auf unterschiedliche Merkmalsträger beziehen. So werden in der sozialen Dimension Merkmale der Wohnbevölkerung beschrieben, wohingegen sich die bauliche Dimension üblicherweise auf die Beschreibung der Wohneinheiten oder Wohngebäude innerhalb eines Gebietes bezieht. Die gewerbliche Dimension nutzt in Abhängigkeit der gewählten Methode entweder die Gewerbeeinheiten, die Inhaber*innen der Geschäfte oder die Angestellten im Gewerbe als Merkmalsträger. Die Merkmalsträger der symbolischen Dimension sind häufig die untersuchten Presseerzeugnisse. Erschwerend kommt hinzu, dass die unterschiedlichen Daten oftmals nicht auf den gleichen analytischen Ebenen zur Verfügung stehen. So sind amtliche Statistiken in der Regel nur in aggregierter Form auf der Ebene der Stadtteile oder bestenfalls der Baublöcke verfügbar. Kleinräumige oder gar adressscharfe Miethöhen sind ebenfalls schwer zu erhalten. Während Haushalte, Wohneinheiten sowie Gewerbetreibende und ihre Gewerbeeinheiten über die jeweiligen Adressen und auf Basis eines materialistischen Raumverständnisses zweifelsfrei einem Gebiet zugeordnet werden können, lassen sich die Images der symbolischen Dimension weniger eindeutig verorten. In der Regel werden die relevanten Artikel für eine Medienanalyse durch eine Schlagwortsuche anhand der Bezeichnung des Gebietes im Archiv der jeweiligen Zeitung ausgewählt. Der darüber gewonnene Korpus enthält folglich alle Artikel, die die Bezeichnung des Stadtteils beinhalten. Dabei wird behelfsmäßig davon ausgegangen, dass sich die in den Artikeln ent-
Der Gentrifizierungseffekt
haltenen Beschreibungen auf den gleichen geographischen Raum beziehen, in dem auch die Merkmalsträger der übrigen Dimensionen verortet werden. Aber welchen geographischen Raum meinen Journalist*innen, wenn sie über Köln-Ehrenfeld schreiben? Diese Frage führt zu einem erkenntnistheoretischen Problem. Die Beschreibungen der sozialen, baulichen und gewerblichen Dimension befassen sich mit »objektiven« Kriterien. Die symbolische Dimension hingegen beschreibt den Diskurs über ein Gebiet, der ein Image generiert. Ihr liegt ein interpretativer erkenntnistheoretischer Ausgangspunkt zugrunde. In diesem Sinne sind die Indikatoren der symbolischen Dimension eine Sammlung sprachlicher Mittel, die in den Kommunikationsprozessen verschiedener Akteur*innen über das Gebiet genutzt werden und so dessen Bedeutung konstruieren. Das hier vorgefundene Raumverständnis entspricht dem des »relationalen Raumes«, wohingegen die soziale, bauliche und gewerbliche Dimension in der oben beschriebenen Form die Räume über ihre geographischen Grenzen definiert (vgl. Herrmann 2010). Die Vielfalt der Methoden, Merkmalsträger, theoretischen Hintergründe und erkenntnistheoretischen Ausgangspunkte haben dazu beigetragen, dass zahlreiche Fallstudien mit einer umfassenden Definition von Gentrifizierung auf einem deskriptiven Niveau verharren und den Wandel der einzelnen Dimensionen »versäult« darstellen, das heißt, sie identifizieren keine (kausalen) Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Indikatoren. Ein möglicher Lösungsansatz ist es, den Fokus der Untersuchung auf die wesentlichen Merkmale von Gentrifizierung, nämlich den Bevölkerungsaustausch und die Statusaufwertung, zu richten und davon ausgehend Hypothesen über Zusammenhänge mit anderen Merkmalen des Gebietes und der Bewohner*innen zu formulieren.
Bevölkerungsaustausch und Statusaufwertung Bereits aus der einfachen Definition, die Gentrifizierung als den Austausch einer statusniedrigeren durch eine statushöhere Bevölkerung in einem Wohngebiet versteht, lassen sich einige Bedingungen für die weitere Vorgehensweise ableiten.
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1. Gentrifizierung beschreibt einen Prozess. Sowohl der Raumausschnitt als auch die darin verorteten Merkmalsträger, die Individuen, müssen zu mindestens zwei Zeitpunkten beobachtet werden. 2. Gentrifizierung bezieht sich zum einen auf ein räumliches Gebiet, zum anderen auf darin wohnhafte Individuen. Beide Ebenen, die räumliche wie die individuelle, können als Merkmalsträger zur Abbildung des Austausches herangezogen werden. Jedoch können räumliche Aggregate nicht zweifelsfrei auf einen Bevölkerungsaustausch hinweisen. 3. Innerhalb des räumlichen Gebietes muss sich ein Austausch von Individuen vollziehen. Dieser Bestandteil enthält die Forderung nach einem Wechsel der Merkmalsträger zwischen einem Zeitpunkt t1 und einem Zeitpunkt t2, wobei der Merkmalsträger i1 zum Zeitpunkt t1 einen niedrigeren Status haben muss als der Merkmalsträger i2 zum Zeitpunkt t2.
Die Definition fordert keine Veränderung von Individualmerkmalen, sondern den Austausch der Merkmalsträger innerhalb eines im Zeitverlauf gleichbleibenden Gebietes. Eine Grundvoraussetzung ist damit die räumliche Mobilität der Individuen innerhalb eines Gebietes und über dessen Grenzen hinaus. Offen bleibt, wie groß der Anteil der ausgetauschten Bewohner*innenschaft zum Zeitpunkt t2 sein muss und was genau unter Status zu verstehen ist. Es wird deutlich, dass eine Begriffsdefinition, die sich ›nur‹ auf den sozialen Austausch bezieht, mit einer Reihe von Anforderungen verbunden ist, um daraus geeignete Messanweisungen ableiten zu können. Demnach muss ein Forschungsdesign für den Nachweis von Gentrifizierung folgende Bedingungen erfüllen: • • • •
Die Statusmerkmale werden auf Basis der Individuen gemessen. Die Messung erfolgt innerhalb eines räumlichen Gebietes, in dem die Individuen verortet sind. Die Messung erfolgt zu mindestens zwei Zeitpunkten. Zwischen den Messzeitpunkten ist ein Austausch der individuellen Merkmalsträger durch räumliche Mobilität über die Grenzen des definierten Gebietes möglich. Der räumliche Bezug der Messung verändert sich dabei nicht.
Abbildung 1 zeigt beispielhaft die Messung des sozialen Status eines Wohngebietes, bestehend aus neun Häusern zu drei Zeitpunkten.
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Abbildung 1: Beispielhafter Verlauf einer Gentrifizierung zu drei Zeitpunkten
Quelle: Eigene Darstellung
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Zum ersten Zeitpunkt t1 befinden sich in jedem Haus vier Wohneinheiten, die in der Mehrzahl von Personen (wir gehen der Einfachheit halber von Einpersonenhaushalten aus) mit geringem sozialen Status (leicht gepunktete Fläche) bewohnt werden. Zu einem späteren Messzeitpunkt t2 weist das Wohngebiet mehr Haushalte mit mittlerem und einige mit hohem sozialen Status auf. Außerdem ist durch einen Dachgeschossausbau eine weitere Wohnung hinzugekommen. Zum Zeitpunkt t3 haben sich die soziale Struktur und der Status der einzelnen Haushalte nochmals verändert und die Anzahl der Wohneinheiten ist durch Aufteilungen und Ausbauten von 36 auf 51 gestiegen. Das Beispiel dient dazu, die methodischen Probleme der nachfolgend erläuterten Vorgehensweisen zu veranschaulichen.
Messung auf der Aggregatebene Die Messung auf der Aggregatebene erfolgt für gewöhnlich auf Basis amtlicher Statistiken der Kommunen oder anhand von Daten privater Anbieter*innen. Im Fall kommunaler Statistiken beschränkt sich die Auswahl der Indikatoren auf die im Rahmen amtlicher Verwaltungsprozesse erhobenen Daten. Hierzu zählen in der Regel der Transferleistungsbezug (z.B. SGB II und SGB XII), Migrationshintergrund, Alter, Haushaltsgröße, Kinderzahl, Familienstand und Wohndauer. Die prozessgenerierten Daten stehen in räumlich aggregierter Form (z.B. auf Ebene der Baublöcke, Stadtteile oder Stadtbezirke) zur Verfügung und erlauben daher keinen Rückschluss auf einzelne Personen oder Haushalte. Sie basieren auf amtlichen Erhebungen, die sich immer auf die Gesamtheit der Einwohner*innen beziehen. Die Gebietsgrößen und Einteilungen variieren von Stadt zu Stadt, was die Vergleichbarkeit zwischen Städten erschwert. Die genannten Indikatoren liegen meist in jährlichen Zeitreihen für alle Teilgebiete einer Stadt vor, sodass eine gesamtstädtisch vergleichende Betrachtung sozialräumlicher Veränderungen möglich ist. Diese Herangehensweise ist sehr weit verbreitet und bietet den Vorteil, dass auf der Aggregatebene des Stadtteils weitere Daten (z.B. zu Mietpreisentwicklungen) hinzugefügt werden können, um Wechselwirkungen zwischen sozialer und baulicher Dimension zu untersuchen. Dabei werden üblicherweise mindestens zwei Messzeitpunkte für eine hohe Zahl städtischer Teilgebiete herangezogen, um Status- und Dynamikindikatoren zu bilden (z.B. Warmelink/Zehner 1996; Holm 2014; Wallasch 2016). In Abhängigkeit der verwendeten Indikatoren kann diese Methode nur als »Indizienprozess« (Rohlinger 1990, 236) dienen, da beispielsweise die verän-
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derte SGB II-Quote eines Wohngebietes keine Aussage darüber erlaubt, inwiefern sich die Einkommenssituation der Bevölkerung verändert. Übertragen auf das Beispielszenario würde diese Methode lediglich Veränderungen des Anteils der ärmeren Bevölkerungsgruppen zeigen. Insbesondere von t2 zu t3 würde also gemessen werden, dass der Anteil der statusniedrigeren Gruppen beinahe gleich bleibt, wenngleich sich der Anteil statushöherer Gruppen erhöht hat. Weil der Austausch der Bewohner*innenschaft auf der Individualebene nicht untersucht werden kann, bleibt unklar, ob Statusveränderungen durch individuellen Statusaufstieg oder durch Bewohner*innenwechsel geschehen. Dies kann auch in Gebieten mit hoher Fluktuation der Fall sein, da nicht bekannt ist, in welchen Wohneinheiten ein Bewohner*innenwechsel stattfindet. So ergibt sich für das mittlere Wohngebäude in der oberen Reihe zu allen drei Zeitpunkten keine Veränderung. Aufgrund der aggregierten Form der Daten können keine kleinräumigen Muster innerhalb des Gebietes betrachtet werden. Das ist insbesondere bei groben Gebietseinteilungen (z.B. 86 Stadtteile in Köln) problematisch, da die Gebiete oftmals eine interne Differenzierung – zum Beispiel nach baulichen Strukturen und Wohnlagen aufweisen. Derartige Trennungen können zu unterschiedlichen Aufwertungsverläufen führen. Der Vorteil dieser Herangehensweise besteht vielmehr darin, eine große Anzahl von Gebietseinheiten im Zeitverlauf betrachten zu können. Ein weiteres Defizit dieser Herangehensweise ist ihre geringe theoretische Kopplung an handelnde Akteur*innen. Der soziale Wandel des Wohngebietes wird hier lediglich auf der Makroebene (des Wohngebietes) betrachtet, was zusätzlich die Gefahr von ökologischen Fehlschlüssen birgt. Ein umfassender Erklärungsansatz müsste die Mikroebene der handelnden Akteur*innen einbeziehen, um den kollektiven Sachverhalt auf der Makroebene zu erklären. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Kriterien der Gebietsdefinition und der Verlaufsmessung erfüllt werden können, wenn auch nur mit einem eingeschränkten Set an Indikatoren. Da die Daten in aggregierter Form auf Stadtteilebene vorliegen, kann ein Austausch der Bewohner*innenschaft nur näherungsweise, zum Beispiel über Wanderungssalden, nachgewiesen werden. Der Ansatz ist ›blind‹ für kleinräumige Muster der Aufwertung, erlaubt aber einen leichteren Bezug zur gesamtstädtischen Ebene.
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Messung auf Individualebene Die Messung auf der Individualebene erfolgt über eine Bevölkerungsbefragung innerhalb eines festgelegten Gebietes. Die abgefragten Items sind mindestens die in der sozialen Dimension aufgeführten (s. Tabelle 1). Der wesentliche Vorteil gegenüber der ökologischen Messung besteht darin, dass Forscher*innen das Erhebungsinstrument selbst konstruieren und dadurch alle relevanten Informationen abfragen können. Wenngleich es sich um Stichproben handelt, ergeben die Befragungsdaten ein umfassendes Bild des sozialen Status der Wohnbevölkerung, wie es modellhaft im Beispielszenario zu sehen ist (s. Abbildung 1). Vereinzelt existieren Untersuchungen, die mehrere Querschnittsbetrachtungen zu Trendstudien kombinieren, um den Verlauf der Aufwertung eines Gebietes zu rekonstruieren. Der Austausch der Bewohner*innenschaft im Gebiet kann damit jedoch nicht nachgewiesen werden, wenn nicht zu beiden Zeitpunkten in identischen Wohneinheiten befragt wurde. Anhand des Beispielwohngebietes würde das bedeuten, dass wir nicht wüssten, ob der Haushalt im oberen linken Wohngebäude im vierten Stock zu t1 identisch mit dem zu t2 ist, oder ob hier ein Haushalt mit geringem sozialen Status einen ebensolchen ersetzt hat. Die Auswahl und Größe des Untersuchungsgebietes kann erheblichen Einfluss auf den gemessenen Status der Aufwertung haben. Würde man im Beispielszenario nur die vier Gebäude in der unteren linken Ecke betrachten, so wäre der Aufwertungsverlauf wesentlich gleichförmiger, als er sich unter Hinzunahme der übrigen fünf Wohngebäude darstellt. Mitunter entsteht so der Eindruck, dass Forschende gezielt Gebiete auswählen, in denen sie Gentrifizierung vermuten (Bernt/Holm/Rink 2010). Trotz ihrer häufigen Anwendung in der deutschsprachigen Forschung wird die operationale Definition der Akteur*innen kontrovers diskutiert (Glatter 2006; Bernt/Holm/Rink 2010). Ihre Grenzwerte seien zu starr, was zu einer Schließung des Konzeptes führe (Glatter 2006, 160). Dies habe sich insbesondere bei Untersuchungen unter den Bedingungen der ostdeutschen Transformationsgesellschaft gezeigt, auf die die westdeutschen Konzepte nicht ohne Anpassung der Definitionen übertragen werden konnte (Bernt/Holm/Rink 2010). Die zunehmende Ausdifferenzierung der Akteur*innen zeigt, dass allein die sozialstatistischen Merkmale Alter, Einkommen, Bildung und Haushaltsgröße nicht ausreichen, um die komplexen sozialen Aufwertungsprozesse mit nur zwei Gruppen zu beschreiben (vgl. »Rollen-
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Problem« bei Glatter 2006, 161). Als auch Gentrifier durch Zuzügler*innen mit einem noch höheren verfügbaren Einkommen ersetzt wurden, kam die Kategorie der Ultra-Gentrifier hinzu (Alisch/Dangschat 1996). Um die Residualkategorie der ›Anderen‹ zu schmälern und der individuellen Beteiligung am Aufwertungsprozess gerecht zu werden, wurden in Untersuchungen ostdeutscher Städte weitere Typen wie zum Beispiel Nachzügler*innen, B-Gentrifier, A-Gentrifier und Aufsteiger*innen eingeführt (Glatter 2007, 114). Auch die Bedeutung von jungen Familien, die in der Stadt verbleiben und zu einem Aufwertungsprozess beitragen, wird diskutiert (Frank 2013). Die anfängliche Definition aus Pionieren und Gentrifiern gewann damit zunehmend an Komplexität, was einerseits den Grad der Vergleichbarkeit der Untersuchungen schmälerte, andererseits aber die Angemessenheit der jeweiligen operationalen Definition in ihrem Untersuchungskontext erhöhte. Diese Kritik an der operationalen Definition übersieht die ursprüngliche Intention dieser Vorgehensweise. Die Klassifikation der Akteur*innen beruht auf einer Veränderung der sozioökonomischen Verhältnisse, Lebensstile und Wohnpräferenzen sowie der Haushalts- und Familienformen im Zuge der Transformation zu einer postindustriellen Gesellschaft (vgl. Bell 1973; Häußermann/Siebel 1987; Hamnett 1991; Friedrichs 1996). Die Diskussion um die sogenannten »neuen Haushalte« (Friedrichs 1996, 27) und die daraus resultierende Wohnraumnachfrage wurde in der soziologischen Stadtforschung aufgegriffen, weil deren Anteile in einigen innerstädtischen Wohngebieten zunahm. Die »neuen Urbaniten« (Häußermann/Siebel 1987, 14), die Yuppies und Alternativen, firmierten bei den Hamburger und später Kölner Forscher*innengruppen in Anlehnung an frühe US-amerikanische Studien als Pioniere und Gentrifier. In dieser Herangehensweise wird Gentrifizierung also als eine städtische Erscheinungsform des Wandels einer industriellen hin zu einer postindustriellen Gesellschaft verstanden, die sich auf lokaler Ebene durch die Veränderung der Bevölkerungsstruktur in den Wohngebieten ausdrückt. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Messung auf der Individualebene, so sie sich der Methode des Wohnungspanels bedient, alle erforderlichen Kriterien zur Messung eines Gentrifizierungsbefundes erfüllt. Auch wenn der Austausch der Bewohner*innenschaft damit gut dokumentiert wird, besteht die theoretische Kritik und der empirische Bedeutungsverlust der definierten Akteur*innen fort. Zumal der Anteil dieser Akteur*innen im Gebiet stark vom Zuschnitt desselbigen abzuhängen scheint. Eine theoretische und empirische Verknüpfung mit Entwicklungen in der gesamten Stadt
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steht bisher noch aus, müsste aber forschungspraktisch durch eine größere Anzahl an Untersuchungsgebieten gestützt werden.
Die Dynamik von Gentrifizierung und das Makro-Mikro-Modell soziologischer Erklärung Die Kritik an den bisherigen Herangehensweisen bezieht sich im Wesentlichen darauf, dass diese den Aufwertungsprozess über die sozialstatistischen Merkmale der Bewohner*innen definieren und messen. Neuere Konzepte wie Studentification (Smith 2005) oder Family-Gentrification (Karsten 2014) und die damit einhergehende Diskussion um Erscheinungsformen zeigen zudem, dass die Akteur*innen, denen eine nachfrageseitige Beteiligung am Aufwertungsprozess zugeschrieben wird, zwar immer vielfältiger werden, aber auch weiterhin über Erwerbsstatus, Alter oder Haushaltsform definiert sind. Im Grunde genommen handelt es sich hierbei ebenfalls um das »Rollen-Problem« (Glatter 2006, 161): Sind die definierten Akteur*innen tatsächlich die Treiber der Aufwertung? Im Folgenden möchte ich diese Perspektive erweitern und dafür plädieren, die Betrachtung nicht allein auf sozialstatistische Merkmale der Bewohner*innen zu richten, sondern deren Wahrnehmung der Wohnumgebung, ihre Einstellungen und die dadurch bedingten Handlungen in den Fokus zu rücken. Die Einstellungen und Handlungen der Akteur*innen können einen wichtigen Beitrag zur Erklärung der Dynamik von Gentrifizierung leisten, wenn sie als eingebettet in den Kontext des Wohngebietes verstanden werden. Denn wie sich eine alteingesessene oder neuzugezogene Person, ein*e Student*in oder eine Familie verhält, mit welchen Nachbar*innen sie in Kontakt tritt, wie und wo sie konsumiert, ob sie sich in einer Mieter*inneninitiative engagiert oder sich an der Umgestaltung von Grünflächen beteiligt, hängt nicht allein von ihren sozialstatistischen Merkmalen ab, sondern ist durch die Situation in ebendiesem Wohngebiet bedingt. Aus diesem Grund ist es zunächst von zentraler Bedeutung zu verstehen, wie Bewohner*innen die Situation vor Ort erleben.
Die Logik der (Wohn-)Situation und der Gentrifizierungseffekt Der erste Erklärungsschritt besteht darin zu spezifizieren, wie die Akteur*innen die Situation wahrnehmen und durch diese in ihrem Handeln beein-
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flusst werden (›Logik der Situation‹, Kroneberg 2008, 234). Übertragen auf den Gegenstandsbereich der Gentrifizierung erfordert das die Formulierung von Brückenhypothesen darüber, wie die Kontextmerkmale des im Aufwertungsprozess befindlichen Wohngebietes die Merkmale der Bewohner*innen und ihr Handeln beeinflussen. In diesem Sinn handelt es sich bei dem im Folgenden erläuterten Gentrifizierungseffekt um eine spezielle Variante des Nachbarschaftseffektes (Galster 2012; Friedrichs 2014, 290ff.), der sich auf die spezifischen Kontextmerkmale eines im Aufwertungsprozess befindlichen Wohngebietes bezieht und dessen Auswirkungen auf der Akteur*innenebene beschreibt. Aus dieser Perspektive sind die Dimensionen der Gentrifizierung (Tabelle 1) als eine Sammlung von Kontextmerkmalen zu verstehen, die jeweils über unterschiedliche Mechanismen auf die lokalen Akteur*innen wirken. In Abgrenzung zu den weiter oben beschriebenen Ansätzen geht es hier nicht mehr darum, die Veränderungen im Gebiet objektiv zu beschreiben, sondern den mehrdimensionalen Wandel der Wohnumgebung aus Sicht lokaler Akteur*innen zu erfassen. Dem liegt die Prämisse zugrunde, dass Menschen nach ihren individuellen Wahrnehmungen statt nach ›objektiven‹ Informationen handeln (›Thomas Theorem‹, vgl. Thomas/Thomas 1928). Die Ausführungen in diesem Beitrag beschränken sich zunächst auf die Bewohner*innen des Gentrifizierungsgebietes. Gleichwohl können auch Wohnungsanbieter*innen, Journalist*innen, Tourist*innen, Makler*innen oder Lokalpolitiker*innen als lokale Akteur*innen verstanden und im Hinblick auf die Auswirkungen des Gentrifizierungseffektes untersucht werden. Aber wie beeinflussen die in der Tabelle beschriebenen Merkmale des Gentrifizierungsgebietes nun die Einstellungen und Handlungen der Bewohner*innen? Die umfassenden Forschungen zu Nachbarschaftseffekten haben eine Reihe von Mechanismen identifiziert, über die der Gebietskontext auf seine Bewohner*innen wirkt (Sampson/Morenoff/Gannon-Rowley 2002; Galster 2012; Friedrichs 2014; Sharkey/Faber 2014). Wenngleich sich die Forschungen oftmals auf statusniedrigere Gebiete und ärmere Bevölkerungsgruppen beziehen, so lassen sich einige Überlegungen auf den Gegenstandsbereich der Gentrifizierung übertragen. In den theoretischen Ausführungen und empirischen Studien zur mehrdimensionalen Aufwertung von Wohngebieten finden sich zahlreiche Beispiele, die implizit auf einen oder mehrere Mechanismen verweisen. Bereits in den Ausführungen zum Phasenmodell wird darauf hingewiesen, dass im Gebiet sichtbare Merkmale dazu führen, dass der Prozess der
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Aufwertung weiter voranschreitet (Friedrichs 1996, 23). Sichtbare Zeichen der Modernisierung von Gebäuden (environmental mechanisms, Galster 2012, 39), veränderte Geschäfte (institutional mechanisms, ebd., 42) und ein anderes Erscheinungsbild der Personen im Gebiet (social contagion und relative deprivation, ebd., 31ff.) vermitteln den Bewohner*innen und Außenstehenden, dass Gentrifizierung stattfindet. Unmittelbare Wirkungen der Gentrifizierung auf die Bewohner*innen lassen sich aus der umfassenden Literatur zum aufwertungsbedingten Verdrängungsdruck ableiten. Der Definition von Marcuse folgend vermittelt sich der Verdrängungsdruck über die Wahrnehmung des sozialen Wandels, der baulichen Umgebung und der gewerblichen Strukturen (Marcuse 1985, 204ff.). Im Anschluss an die Kritik einer zu einseitig ›positiven‹ Auslegung von Gentrifizierung (Slater 2006) folgten eine Reihe von Forschungen, denen ein konzeptionell erweiterter Verdrängungsbegriff zu Grunde liegt (Shaw/Hagemans 2015; Valli 2015; Üblacker/Lukas 2019) und die zeigen, in welcher Weise Gentrifizierung zur Erosion sozialer Netzwerke, der Verringerung sozialer Kohäsion und relativer Deprivation statusniedrigerer und alteingesessener Bewohner*innen führt. Der einseitige Fokus auf durch Gentrifizierung benachteiligte Gruppen verstellt jedoch den Blick auf die ambivalente Wirkung des Gentrifizierungseffektes. Insbesondere in der Anfangsphase berichten Bewohner*innen oftmals positiv von den Entwicklungen, weil es mit dem Gebiet »voran geht«. Wahrgenommene Zugewinne für die eigene Lebensqualität gehen beispielsweise von neuen öffentlichen Infrastrukturen (local institutional resources, Galster 2012, 42f.) und verändertem Gewerbe (local market actors,ebd.) aus. Die Veränderungen der baulichen Dimension wirken auf die Bewohner*innen über zwei Mechanismen. In Form von Baustellen, Fassadenrenovierungen, Lärm und Geruchsemmissionen werden sie durch die Bewohner*innen direkt und negativ wahrgenommen. Die Wirkung der physical surroundings (ebd., 39f.) wird im Kontext der Nachbarschaftseffektforschung unter dem Aspekt der psychischen Folgen für Bewohner*innen diskutiert. Das wiederum kann sich auf die eigene Wohnzufriedenheit auswirken, aufwertungsbedingten Verdrängungsdruck vermitteln (Üblacker/Lukas 2019) und bei anhaltenden Störungen zu Konflikten und Protest führen (Üblacker 2018, 115; Holm 2021). Die Ambivalenz des Gentrifizierungseffektes kommt zum Ausdruck, wenn man berücksichtigt, dass baulich-physische Aufwertung zu einer Attraktivierung der Wohngebäude führt, die wiederum
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die Wohnpräferenzen neuzuziehender Gruppen erfüllt und damit deren Wohnzufriedenheit erhöht (Thomas/Fuhrer/Quaisser-Pohl 2008). Ein zweiter Mechanismus der baulichen Dimension scheint zunächst unabhängig von der Wohnumgebung und betrifft die individuelle Wohnsituation und das Mietverhältnis. Ankündigung und Durchführung von Modernisierung, Verkauf der Wohnung, Mieterhöhungen, Kündigungen, Druck durch die Vermieter*in oder die Hausverwaltung und Instandhaltungsstau sind Faktoren der direkten Verdrängung (für eine umfassende Herleitung und Operationalisierung siehe Beran/Nuissl 2019, 68ff. u. 118). Da es sich bei diesen Vorgängen um Bewirtschaftungs- und Verwertungsstrategien wohnungswirtschaftlicher Akteur*innen handelt, ist aus analytischer Sicht zunächst zu klären, ob diese als Folge von Gentrifizierung im Wohngebiet rekonstruiert werden können. In diesem Fall würde der Gentrifizierungseffekt vermittelt über die Wahrnehmung des Wohngebietes durch die beteiligten wohnungswirtschaftlichen Akteur*innen und den daraufhin hervorgerufenen Bewirtschaftungs- und Verwertungsstrategien auf die Bewohner*innen wirken. Die konkreten Auswirkungen auf die Bewohner*innenschaft können vielfältiger Art sein und bis hin zur Verdrängung aus der Wohnung reichen (vgl. Helbrecht 2016; Beran/Nuissl 2019).
Messung des Gentrifizierungseffektes Der Gentrifizierungseffekt beschreibt die Auswirkungen eines im Aufwertungsprozess befindlichen Wohngebietes (Kontextebene) auf die handelnden Akteur*innen (Akteur*innenebene). Fokussiert man sich auf die Bewohner*innen, sind es insbesondere qualitative empirische Forschungen, die unter anderem am Beispiel des Verdrängungsdruckes das individuelle Erleben des Aufwertungsprozesses umfassend beschreiben und Hinweise für eine quantitative Operationalisierung des Gentrifizierungseffektes liefern können. Auch in der quantitativ-empirischen Gentrifizierungsforschung existieren Skalen, die die Wahrnehmung von Gentrifizierung messen. Allerdings wurden diese bisher nicht unter einer einheitlichen Methodologie zusammengeführt, sodass eine konsistente Theoriebildung möglich gewesen wäre. Nachfolgend werden einige Beispiele für Skalen zur Messung des Gentrifizierungseffektes aus Sicht der Bewohner*innen vorgestellt. Dangschat/Friedrichs (1988) fragen in der ersten Studie zu Gentrifizierung in Hamburg die wahrgenommenen Veränderungen der letzten beiden Jahre im Haus und im Wohngebiet ab. Dabei interessieren sie sich
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für die Wahrnehmung verschiedener Altersgruppen (20- bis 35-jährige, über 65-jährige), Haushaltstypen (Familien, Studierende), des Zuzuges einkommensstärkerer Gruppen und der Veränderung der gewerblichen Infrastruktur. Zusätzlich werden die Befragten gebeten, einer Reihe von Aussagen über ihr Viertel zuzustimmen beziehungsweise diese abzulehnen. In Anlehnung an diese Skala und unter Berücksichtigung qualitativer Beschreibungen zur Wahrnehmung von Aufwertungsprozessen und Verdrängungsdruck entwickeln Üblacker/Lukas (2019, 96ff.) neun Items zur Messung subjektiv wahrgenommener Gentrifizierung. Die Batterie setzt sich aus jeweils drei Aussagen über Veränderungen der sozialen, baulichen und gewerblichen Umgebung während des Aufwertungsprozesses zusammen. Die Befragten werden darum gebeten, anzugeben, ob diese Beschreibungen auf ihr Wohngebiet zutreffen: • • • • • • • • •
Junge Leute sorgen in meinem Wohngebiet für Veränderung. Gutverdienende Leute gehen hier einkaufen oder abends in die Kneipen, Bars und Restaurants. Die gutverdienenden Leute, die hier wohnen, verändern mein Wohngebiet. In meinem Wohngebiet wurden in letzter Zeit viele alte Häuser saniert. Alte Häuser werden in meinem Wohngebiet deshalb saniert, damit die Miete erhöht werden kann. Nachbarn mussten schon in andere Stadtteile ziehen, da sie sich die Miete nicht mehr leisten konnten. Abends kommen viele Leute aus anderen Stadtteilen hierher zum Ausgehen. In meinem Wohngebiet gibt es viele schicke Geschäfte. In meinem Wohngebiet gibt es viele neue Cafés, Bars und Restaurants.
Auch Kommunen interessieren sich für die Sicht ihrer Bürger*innen auf die Wohnumgebung und führen zu diesem Zweck Bevölkerungsbefragungen durch. Die Stadt Köln erhebt die Beobachtung von Veränderungen im Wohnumfeld über das Item »Welche der folgenden Veränderungen haben Sie innerhalb der letzten Jahre in Ihrem näheren Wohnumfeld beobachtet?«. Folgende Nennungen sind möglich (Antwortoptionen: ja/nein):
Der Gentrifizierungseffekt
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Es gibt/gab umfangreiche Modernisierungs-/Sanierungsarbeiten an Häusern. Alteingesessene Läden und Kneipen verschwinden, schickere und teurere folgen nach. Mieten steigen auf ein Niveau, das kaum noch zu zahlen ist. Die alteingesessene Bewohnerschaft zieht nach und nach weg. Es gibt mehr Eigentumswohnungen. Die Wohngegend ist schicker geworden.
Auch hier werden nicht nur Aufwertungserscheinungen abgefragt. Die Itembatterie enthält zusätzlich die folgenden Aspekte, die einen gegenläufigen Prozess indizieren: • • •
Immer mehr ärmere Leute ziehen hier her. Mehr Wohnungen stehen leer. Kriminalität/Vandalismus nehmen zu.
Jede der hier dargestellten Skalen erfasst soziale, bauliche und gewerbliche Veränderungen im Gebiet aus Sicht der befragten Bewohner*innen. Auch wenn die hier dargestellten Ansätze die Items vorwiegend zur Untersuchung von Verdrängungsdruck nutzen, ist es denkbar, diese auch zur Messung des Gentrifizierungseffektes zu nutzen. Darüber hinaus können diese Items auch genutzt werden, um die Auswirkungen der Gentrifizierung eines Wohngebiets bei einem breiteren Spektrum von beteiligten Akteur*innen zu untersuchen: Wie wirkt der Gentrifizierungseffekt auf Wohnungsanbieter*innen, Journalist*innen, Tourist*innen oder Lokalpolitiker*innen?
Fazit: Der Gentrifizierungseffekt und mögliche Anwendungsbereiche Das Ziel des Beitrags bestand darin, die etablierten methodischen Herangehensweisen zur Messung von Gentrifizierung kritisch auf ihre bisherigen »blinden« Stellen zu untersuchen. Ökologische Analysen, die Veränderungen auf der Ebene von Wohngebieten untersuchen, betrachten die Aufwertung als aggregierte Konsequenz kollektiver Zuzugsentscheidungen und Fortzüge von Haushalten, die über sozialstatistische Merkmale klassifiziert werden. In Ergänzung dazu beschreibt der Gentrifizierungseffekt die Auswirkungen eines
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im Aufwertungsprozess befindlichen Wohngebietes auf die Akteur*innen. Im Vordergrund stehen dabei die subjektive Wahrnehmung und das individuelle Erleben des Aufwertungsprozesses. Durch die methodologische Einordnung und den Fokus auf die Akteur*innenebene können qualitative und quantitative Ansätze – beispielsweise in sequenziellen Mixed-Methods-Designs – miteinander verbunden werden, um das Handeln im Aufwertungsgebiet deutend zu verstehen und anschließend ursächlich zu erklären. So stellt sich bei einer Reihe von Akteur*innen (z.B. Bewohner*innen mit hohem sozio-ökonomischen Status, Journalist*innen, Wohnungseigentümer*innen, Makler*innen, Tourist*innen) zunächst die offene Frage, ob und wie diese vom Gentrifizierungseffekt betroffen sind und wie das wiederum ihre Handlungen in Bezug auf das Wohngebiet beeinflusst. Der Einbezug dieser Akteur*innen kann dazu beitragen, die unterschiedlichen Verläufe, Dynamiken und Erscheinungsformen von Gentrifizierung über Wahrnehmung, Kommunikation und kollektive Handlungen zu erklären. Darüber hinaus erlaubt der Fokus auf die individuelle Wahrnehmung und das Erleben der Akteur*innen die konzeptionelle Einbindung der symbolischen Dimension als Deutungsrahmen für »objektive« Veränderungen im Aufwertungsgebiet. So lassen sich Unterschiede in der Wahrnehmung und Bewertung ein und desselben Gebietes möglicherweise durch akteur*innenspezifische diskursive Überprägungen (z.B. regelmäßige Rezeption von lokaler Berichterstattung über Mietsteigerungen) erklären. Gleichwohl bedeutet das nicht, dass »objektive« Daten zum mehrdimensionalen Wandel von Wohngebieten gänzlich obsolet werden. Vielmehr versteht sich diese Herangehensweise als komplementär und wird idealerweise in Kombination mit den bereits etablierten Methoden angewandt. Mit dem Fokus auf die Akteur*innenebene und den Gentrifizierungseffekt lassen sich zudem Fragestellungen bearbeiten, die nicht mehr nur auf die Diagnose von Gentrifizierung (»Findet im Gebiet X Gentrifizierung statt?«) abzielen, sondern die Folgen für Bewohner*innen betrachten. Führt Gentrifizierung zu sozialer Isolation von Alteingesessen? Wie verändert sich das Konsumverhalten von einkommensschwächeren Gruppen in einem Gentrifizierungsgebiet? Unter welchen Bedingungen führt Gentrifizierung zu Konflikten und Protest? Welche Auswirkungen hat Gentrifizierung auf die Wahlentscheidung? Wie bedingt die wahrgenommene Aufwertung im Wohnumfeld den Umgang mit abweichendem Verhalten im öffentlichen Raum?
Der Gentrifizierungseffekt
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Lebensstile, Akteur*innen und Zuzugsmotive Ergebnisse eines Wohnungspanels Jörg Blasius
Seit den 1980er-Jahren wird in Deutschland die Wiederaufwertung innenstadtnaher Wohngebiete unter der Bezeichnung »Gentrification« und seiner deutschsprachigen Entsprechung »Gentrifizierung« diskutiert. Den Trend, dass relativ gut begüterte Personen statt des eigenen Hauses am Stadtrand große und gut geschnittene Wohnungen aus der Gründerzeit in innenstadtnahen Lagen bevorzugen, gibt es auch in Deutschland schon länger. Einer der ersten, der dies auch publizierte, war der Schriftsteller und Nobelpreisträger Heinrich Böll, der 1969 in seine Geburtsstadt Köln zurückkehrte und dort im Stadtteil Neustadt-Nord lebte, gut zwei Kilometer vom Hauptbahnhof entfernt. »Es ist der Weg zurück in die Stadt, in die Vorstadt, zurück in eine mehr als dörfliche Stille, die sich hinter den Fassaden in riesigen, durch Mauern und Dachgärten verwinkelten Höfen verbirgt; aus der Schein-Individualität, der in Wirklichkeit total genormten Weekend-Gartenaktivität des Vororts im Grünen, zurück in die Anonymität, oder sollte man sagen: Urbanität?« (Böll 1974, 129). Gentrifizierung beinhaltet den Zuzug von neuen Bewohner*innen in den innenstadtnahen Bereich. Diese neuen Bewohner*innen gehören überwiegend der Mittelschicht an, sie sind meistens jünger und finanzkräftiger als die Alteingesessenen. Mit dem Zuzug dieser neuen Bewohner*innen erfolgt eine neue Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen (Franzmann 1996); die Wahl eines innenstadtnahen Wohnstandortes erfolgt aber auch aufgrund der geringen Entfernungen zu kulturellen Einrichtungen wie Theater, Oper und Kinos sowie zu Geschäften für den gehobenen Bedarf und Restaurants mit einem gewissen Pfiff. Aufgrund dieser Zuzugsmotive gelten die neuen Bewohner*innen auch als Repräsentanten neuer Lebensstile.
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Jörg Blasius
Die hier vorliegende Studie basiert auf Daten aus einem Wohnungspanel, welches Jürgen Friedrichs und Jörg Blasius in vier Wellen zwischen 2010 und 2015 in den Kölner Stadtteilen Mülheim und Deutz mit Hilfe von face-toface Befragungen durchführten. Die Stichprobeneinheiten waren per Zufall ausgewählte Wohnungen, befragt wurden die Mieter*innen (Eigentümer*innen), die als deren »Sprecher*innen« fungierten. Bei Umzügen zwischen zwei Wellen wurden die neuen Mieter*innen in den Wohnungen befragt. In Deutz befand sich der Prozess der Gentrifizierung zum Erhebungszeitpunkt noch relativ am Anfang, in Mülheim wurde er durch den Zuzug von RTL in die rechtsrheinischen Messehallen erst erwartet (Friedrichs/Blasius 2016b), die erwarteten Effekte sind daher eher gering. Im Zentrum dieses Beitrags steht die Untersuchung von zwanzig möglichen Zuzugsgründen, die auf einer Liste vorgegeben wurden und von denen die Befragten bis zu fünf auswählen sollten. Sind die aus der Literatur bekannten Merkmale von gentrifizierten Gebieten die Gründe für den Zuzug, so sollten diese von den Zuziehenden im Zeitverlauf zunehmend oft angegeben werden. Die Wohnungen werden als Konstante angesehen, weder deren Lage, Größe oder Deckenhöhe verändern sich. In den Fällen, in denen Wohnungen (oder Zimmer) zu größeren Einheiten verbunden werden, wird dies aus den Interviews ersichtlich. Veränderungen an der Ausgestaltung der Wohnungen sind auf die Bewohner*innen zurückzuführen. Der Beitrag beginnt mit einer Diskussion des Zusammenhanges von Lebensstilen, wie sie insbesondere von Bourdieu (1982 [1979]) verwendet wurden, und der Gentrifizierung von innenstadtnahen Wohngebieten. In der Literatur wird von sozialen Gruppen gesprochen, unter anderem jenen der Pioniere und der Gentrifier, die den Prozess vorantreiben. Da dieser Prozess auf Basis von Umfragedaten beschrieben werden soll, bedarf es einer Operationalisierung dieser Gruppen, welche anhand sozio-demografischer Merkmale erfolgt. Das dritte Kapitel ist den Daten und der Methode gewidmet, das vierte den empirischen Ergebnissen. Der Beitrag endet mit einem kurzen Fazit.
Lebensstile in gentrifizierten Gebieten Der Begriff »guter Geschmack« bezeichnet ein Merkmal, das Teil von Bourdieus Konzept der sozialen Distinktion ist (Bourdieu 1982 [1979]; 1983). Auf die Gentrifizierung übertragen definiert Bridge (2001) die neue Mittelschicht anhand ihrer Fähigkeit als »Taste makers«. Er argumentiert:
Lebensstile, Akteur*innen und Zuzugsmotive
»New middle-class gentrifiers recognize the need for a historical marker, but also need to be at the edge of taste-making. This balance of the old and the new is at the heart of the socially differentiating nature of gentrification aesthetics« (Bridge 2001, 94). Ästhetik gilt damit als Unterscheidungsmerkmal der neuen Mittelschicht: Diejenigen, die in ein gentrifiziertes Stadtviertel ziehen, so wurde unter anderem von Butler (1997), Ley (1996) und Zukin (1982; 2010) postuliert, werden von einer Suche nach Authentizität angetrieben. Zukin (1987, 131) betrachtet Gentrifizierung als eine Bewegung »toward the social diversity and aesthetic promiscuity of city life«. Für die neuen, meistens kinderlosen Haushalte war die Nähe zu angesagten Lokalen und Cafés, zu Restaurants, Geschäften für den gehobenen Bedarf und kulturellen Einrichtungen besonders wichtig, sowie auch die Nähe zu Freunden und Bekannten. Weniger entscheidend waren hingegen die Nähe zu Grünflächen und Spielplätzen sowie die ruhige Lage der Wohnung, die »lediglich« ein wünschenswertes Attribut der Wohnumgebung sind. Die neuen Lebensstile beinhalten auch eine bewusste, geschmackliche Hinwendung zu Gebäuden der viktorianischen Epoche und der Gründerzeit, die vornehmlich in den Metropolen Europas als repräsentative Residenzen von Firmen und Privatpersonen verwendet werden. Bei diesen Gebäuden wird schon an der Fassade ersichtlich, dass die entsprechenden Wohnungen großzügig geschnitten sind und dass sich die Raumaufteilung deutlich von der Nachkriegs- und 1960er-Jahre-Bauweise unterscheidet. Zusätzlich zu der äußeren Aufwertung von Fassaden und Treppenhäusern sowie zu (Luxus-)Modernisierungen der Wohnungen haben die neuen Bewohner*innen auch andere Wertvorstellungen: Beauregard (1986) bezeichnet Kleidung, Schmuck, Möbel, Stereoanlagen und andere technische Geräte, Urlaub, Sportausrüstung und Autos als Teil der sichtbaren Identität der Gentrifier. Das Wohnen in gentrifizierten Gebieten wird zusammen mit anderen sichtbaren Werten wie Kleidung, Restaurantbesuch und Auto zum Ausdruck vom ›Sehen und Gesehen werden‹. Und um diesen neuen Lebensstil ohne große Mobilitätskosten bewerkstelligen zu können, ist eine innenstadtnahe Wohnlage das Optimale: Theater, Oper, Kinos und viele Restaurants sind dort angesiedelt, zu dem ist die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr dort am besten. Die Wohnung, das Haus und die Nachbarschaft sind Symbol für den sozialen Rang ihrer Bewohner*innen, oder um mit Bourdieu (1982 [1979]; 1983)
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zu argumentieren, für deren ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital. Bourdieus grundlegender Gedanke ist, dass sich Personen und soziale Gruppen nach ihren Kapitalausstattungen differenzieren, die er als Dimensionen des sozialen Raumes bezeichnet. Die spezifischen Eigenschaften von »Akteuren« oder »Klassen«, also Gruppen von Akteur*innen mit den gleichen sozialen Positionen, ergeben sich aus den relativen Positionen innerhalb des Raumes, sowie durch ihre Verhältnisse zu anderen Akteur*innen beziehungsweise anderen Klassen. Es liegt nahe, auch den physischen Raum als Abbild des sozialen Raumes zu betrachten, so wie ihn Bourdieu (1991) beschreibt. Die Merkmale des physischen Raumes sind das äußere Erscheinungsbild, also die Art der Bebauung (Ein-, Zwei- und Mehrfamilienhäuser, Alter der Häuser etc.), hinzu kommen Attribute der Wohnumgebung wie die Nähe von Freizeit- und Kultureinrichtungen sowie Arten von Geschäften, Restaurants und Kneipen, die Bewertung dieser Umgebung, die Ausstattungsmerkmale des Hauses und der Wohnung sowie die Sozialstruktur der Bewohner*innen (Alter, Einkommen, Kinder, Familienstand, Haushaltsstruktur). In Abhängigkeit vom sozialen Status der Bewohner*innen können die Dimensionen des physischen Raumes insbesondere durch die Wahrnehmungen des Wohngebietes und die Einstellungen zur Nachbarschaft abgebildet werden. In Anlehnung an die Arbeiten von Bourdieu, verwenden Leßke/Blasius (2021) auf der Basis der Daten des Kölner Wohnungspanels die multiple Korrespondenzanalyse, um die Wahrnehmungen des Gebietes zum Zeitpunkt der ersten Welle zu klassifizieren. Als Indikatoren verwenden sie zwei zu Beginn der Interviews offen gestellte Fragen: »Wenn Sie an Ihr Wohnviertel Deutz/Mülheim denken: Was gefällt Ihnen besonders gut?« und »was gefällt Ihnen nicht?«. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass insbesondere die negativen Eigenschaften den zweidimensionalen physischen Raum der Bewertung des Wohngebietes charakterisieren, die positiven Eigenschaften sind nahezu gleichmäßig im Sozialraum verteilt und tragen nur marginal zur Differenzierung der Gruppen von Bewohnern und Bewohnerinnen bei. Blasius/Friedrichs (2019) verwenden ebenfalls die multiple Korrespondenzanalyse, um zu zeigen, wie sich Lebensstile in einem gentrifizierten Stadtteil im Zeitverlauf verändern. Als Indikatoren verwenden sie drei Variablensätze, die auch schon Bourdieu (1982 [1979]) verwendet hat, dies sind Eigenschaften der Wohnungseinrichtung, Quellen des Möbelerwerbes und Arten von Speisen, die Gästen serviert werden. Wie auch Bourdieu, baten Blasius/Friedrichs die Befragten, maximal drei der jeweils vorgegebenen Ausprägungen auszuwählen, diese waren angepasst an kulturelle Vorstellun-
Lebensstile, Akteur*innen und Zuzugsmotive
gen in Deutschland; zum Beispiel wurde bei den Speisen, die Gästen serviert werden, das von Bourdieu verwendete Merkmal »französische Küche« durch »deutsche Küche« ersetzt. Auch Blasius und Friedrichs können ihre Ergebnisse in einem zweidimensionalen sozialen Raum abbilden, deren Achsen sie als kulturelles und ökonomisches Kapital interpretierten. In diesem Beitrag verwende ich eine multi-response Frage, bei der den Befragten eine Liste mit zwanzig Gründen vorgelegt wurde, die für die Wahl einer Wohnung beziehungsweise des Wohnviertels wichtig sein könnten; von diesen sollten maximal fünf genannt werden. Sowohl die offenen Fragen, die Leßke/Blasius (2021) verwendeten, als auch die Fragen zu den Lebensstilen, die Blasius/Friedrichs (2019) nutzten, als auch jene Frage, die für diese Untersuchung verwendet wird, können als Dummy-Variablen mit den Ausprägungen »genannt« und »nicht genannt« aufgefasst werden.
Operationalisierung der sozialen Gruppen In Studien zur Gentrifizierung werden häufig die am Prozess beteiligten sozialen Gruppen voneinander unterschieden. Die Anfangsphase des Gentrifizierungsprozesses wird von Pionieren eingeleitet, sie sind risikobewusster als die Mitglieder anderer Gruppen und auf der Suche nach preiswertem innenstadtnahem Wohnraum, wo die Wege ins Kino, ins Konzert, zur Universität und zu Freunden kurz sind. Nachdem sie das Viertel »entdeckt« haben, kommen die Gentrifier in das Gebiet, diese verfügen über ein höheres Einkommen und sind etwas älter als die Pioniere (Dangschat 1988). In den meisten internationalen Publikationen werden jedoch nur relativ vage Angaben zu den neuen Bewohner*innen gemacht, die in das Gebiet migrieren (vgl. die Diskussion in Butler 1997; Ley 1986; 1996; Skaburskis 2012; Zukin 1982). Es fehlt eine operationale Definition, welche empirisch überprüft und mit deren Hilfe der Prozess der Gentrifizierung auf der individuellen Ebene beschrieben werden kann. Erste derartige Klassifikationen bestanden, basierend auf den Beschreibungen in nordamerikanischen Studien, aus drei Gruppen: Pioniere, Gentrifier und Andere. Diese Klassifikation wurde zuerst von Dangschat/Friedrichs (1988) vorgeschlagen und in einer empirischen Studie in drei Hamburger Gebieten verwendet. Die auf Haushalts- und Individualmerkmalen basierende Definition wurde in der Folgezeit von zahlreichen anderen deutschen Autor*innen (Blasius 1993; Alisch/Dangschat 1996; Friedrichs/Kecskes
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1996; Hardt 1996; Küppers 1996; Glatter 2007) verwendet, wobei häufig leichte Modifikationen bei den Ausprägungen der einzelnen Merkmalsdimensionen vorgenommen wurden. Da der Kern über die Studien hinweg erhalten blieb, gibt es zumindest im deutschsprachigen Raum eine kumulative Forschung. Für diesen Beitrag verwende ich die in Tabelle 1 dargestellte Klassifikation mit fünf Gruppen, die auch für andere Arbeiten auf der Basis der gleichen Daten verwendet wurde (Blasius/Friedrichs/Rühl 2016a; b; Blasius/Friedrichs 2016; 2019; Leßke/Blasius 2021): Pioniere, frühe Gentrifier, etablierte Gentrifier, Ältere und Andere. Es sei angemerkt, dass letztlich alle Operationalisierungen der Gruppen etwas arbiträr sind, so kann zum Beispiel über die genauen Alters- und Einkommensgrenzen gestritten werden. Für eine empirische Überprüfung muss es aber eine disjunkte Klassifikation geben, das heißt, es müssen Schwellenwerte festgelegt werden. Da der Spielraum für die Festlegung der Schwellenwerte begrenzt ist, als obere Altersgrenze für die Pioniere werden in der Literatur meistens 35 beziehungsweise 39 Jahre genannt, korrelieren die resultierenden Klassifikationen hoch miteinander, das heißt an zentralen Ergebnissen ändert sich bei Veränderungen an den Schwellenwerten, wenn überhaupt, nur wenig. Tabelle 1: Klassifikation der fünf sozialen Gruppen Merkmal → soziale Gruppe ↓
Alter
Bildung
Haushaltsgröße
Kinder
Einkommen*
Pioniere
≤ 35 Jahre
min. Fachabitur
beliebig
keine
< 1.500 €
frühe Gentrifier
≤ 45 Jahre
nicht definiert
2 Personen, plus max. 1 Kind
max. 1 Kind
≥1.500 bis 65 Jahre
entsprechend dem Alter, weder Pionier noch Gentrifier
* Haushaltsäquivalenzeinkommen, definiert nach der neuen OECD-Skala: erster Erwachsener = 1,0, andere Personen, 15 Jahre und älter = 0,5, unter 15 Jahre: 0,3.; Quelle: Eigene Darstellung.
Lebensstile, Akteur*innen und Zuzugsmotive
Wie anhand von Tabelle 1 ersichtlich ist, wird eine Person (bzw. der Haushalt) als »Pionier« bezeichnet, wenn sie maximal 35 Jahre alt ist und mindestens 12 Jahre Schulbildung hat. Des Weiteren können Pioniere allein, mit ihrem/ihrer Partner*in oder in einer Wohngemeinschaft leben, jedoch nicht mit ihren Eltern, sie sind kinderlos, eine Obergrenze für die Haushaltsgröße besteht nicht. Der Schwellenwert für das monatliche Einkommen liegt für eine alleinstehende Person bei 1.500 Euro, für jede weitere Person ab 15 Jahren werden weitere 750 Euro angerechnet; die verwendeten Schwellenwerte entsprechen dem Äquivalenzeinkommen. Die zweite Gruppe sind die Gentrifier. Sie haben ein höheres Alter und ein höheres Einkommen als die Pioniere. Innerhalb der Gentrifier werden zwei Gruppen entsprechend der Höhe ihres Äquivalenzeinkommens unterschieden. Die Mitglieder beider Gruppen können allein oder mit ihrem/ihrer Partner*in leben, entsprechend der Definition haben sie maximal ein Kind. Der Status der Haushalte kann sich im Zeitverlauf ändern. Zum Beispiel kann ein Haushalt zum ersten Zeitpunkt aus zwei Erwachsenen bestehen, die beide nicht älter als 45 Jahre sind, die keine Kinder und ein monatliches Äquivalenzeinkommen von mehr als 2.500 Euro haben; sie werden daher als »etablierte Gentrifier« bezeichnet. Zu einem späteren Zeitpunkt kann der gleiche Haushalt, bei dem es sich aufgrund einer Trennung dann vielleicht auch nur noch um eine Person handelt, wieder als »frühe Gentrifier« oder sogar als »Pionier« eingestuft werden. Der erste Fall kann zum Beispiel eintreten, wenn einer der beiden Erwachsenen von einer Vollzeitbeschäftigung zu einer Teilzeitbeschäftigung wechselt, wodurch der Haushalt nicht mehr die operational festgelegte Einkommensschwelle überschreitet (wohl aber jene, welche für »frühe Gentrifier« angelegt wurde). Der Übergang zu einem Pionier kann zum Beispiel eintreten, wenn eine der beiden Personen auszieht und die verbleibende weniger als 1.500 Euro verdient (dabei nicht älter als 35 Jahre alt ist und mindestens 12 Jahre Schulbildung hat). Die hier verwendete Klassifizierung könnte um weitere Kriterien ergänzt werden, welche zum Beispiel aus der Lebensstilforschung kommen. Wird diese Klassifikation verwendet und werden für jeden Zeitpunkt die Pioniere, die frühen und die etablierten Gentrifier auf der Basis des Wohnungspanels über die Zeit verglichen, wobei nur jene Wohnungen der Stichprobe berücksichtigt wurden, von denen zu allen Zeitpunkten Messungen vorlagen, so gehen bei den hier verwendeten Daten des Kölner Wohnungspanel 572 Fälle in die Auswertung ein, beim klassischen Panel sind es nur 404 (Friedrichs/Blasius 2019, 12). Da die 404 Fälle eine Teilstichprobe
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der 572 Fälle sind und da Migrationen mit dem Lebenszyklus zusammenhängen, kommt es zu unterschiedlichen Ergebnissen bei den Anteilen der sozialen Gruppen. Während beim klassischen Panel der Wert für die Pioniere mit der Zeit deutlich zurückgeht (ehemalige Pioniere verlieren diesen Status u.a. durch das gestiegene Alter) und die Werte für die frühen und etablierten Gentrifier auf gleichem Niveau stagnieren (Pioniere werden zu Gentrifier, Gentrifier zu Sonstigen), gehen beim Wohnungspanel die Werte für die Pioniere nur leicht zurück (es ziehen neue Pioniere in das Gebiet), für die frühen und etablierten Gentrifier sind sie jedoch ansteigend (aus Pionieren werden Gentrifier, neue Gentrifier ziehen in das Untersuchungsgebiet). Mit anderen Worten, auf Basis des klassischen Panels können Friedrichs/Blasius (2019) keine Gentrifizierung des Gebietes feststellen, wohl aber auf Basis des Wohnungspanels.
Daten und Methode Für die Untersuchung wurden auf der Basis von Begehungen und Gesprächen mit Expert*innen zwei Nachbarschaften in den beiden genannten innenstadtnahen Kölner Stadtteilen ausgewählt. Zwischen 2010 und 2016 wurden Bewohner*innen der Kölner Stadtteile Deutz und Mülheim in einem Wohnungspanel in vier Wellen (2010, 2011, 2013, 2014) face-to-face befragt. Anstatt das Haushalte oder Einzelpersonen als Stichprobeneinheiten verwendet wurden, wie es in klassischen Panels wie dem sozio-ökonomischen Panel (Schupp 2019) oder dem nationalen Bildungspanel (Blossfeld/von Maurice/Schneider 2009) praktiziert wird, verwenden wir Wohnungen als Stichprobeneinheiten. Befragt wurden die Bewohner*innen, oder genauer, jeweils eine zufällig ausgewählte Person aus den per Zufall ausgewählten Wohnungen, diese sind die »Sprecher*innen« der Wohnungen. Anders als bei einem klassischen Panel (Schupp 2019) wurden bei Migrationen nicht die Bewohner*innen verfolgt und an ihren neuen Wohnstandorten befragt, sondern die Wohnungen waren die Einheiten der Stichprobe. Das heißt, bei Migrationen wurden die neuen Mieter*innen beziehungsweise die neuen Eigentümer*innen der Wohnungen befragt; zur Stichprobenziehung und zur Nachverfolgung der Wohnungen, siehe Friedrichs/Blasius (2015). In der ersten Welle besteht kein Unterschied zwischen den beiden Formen von Paneldaten, also dem klassischen und dem Wohnungspanel. In der zweiten und den nachfolgenden Wellen können die Wohnungen repräsentiert wer-
Lebensstile, Akteur*innen und Zuzugsmotive
den durch: (a) dieselben Befragten wie in der ersten Welle, (b) neue Befragte aus denselben Haushalten, weil die ursprünglich Befragten zwischen zwei Wellen aus der Wohnung ausgezogen sind, oder (c) durch erwachsene Mitglieder der neuen Haushalte, welche nun in den Wohnungen leben. Im Fall (a) werden dieselben Personen befragt – dies entspricht dem klassischen Panel, bei dem immer die gleichen Personen befragt werden; im Fall (b) werden neue Erwachsene zufällig aus den verbleibenden Haushaltsmitgliedern ausgewählt; im Fall (c) werden zufällig ausgewählte Erwachsene aus den Haushalten befragt, welche in die frei gewordenen Wohnungen eingezogen sind. Damit besteht ein deutlicher Unterschied zum klassischen Panel, es kann zu deutlichen Unterschieden in den Ergebnissen kommen (Friedrichs/Blasius 2015; 2019). Da Migrationen unter anderem durch den Lebenszyklus bestimmt werden, zum Beispiel nach einer Heirat oder Scheidung beziehungsweise nach einem Arbeitsplatzwechsel, sind Migrationen selektiv: junge Menschen, die am Anfang ihrer beruflichen Karriere beziehungsweise am Anfang ihrer Familienplanung stehen, ziehen häufiger um als ältere. Daraus folgt, dass das Wohnungspanel innerhalb des Untersuchungsgebietes alle Informationen eines klassischen Panels enthält, darüber hinaus aber auch Informationen über die neu hinzugezogenen Bewohner*innen, welche jene ersetzen, die fortziehen; diese Veränderungen in der Nachbarschaft können mit einem klassischen Panel nicht untersucht werden. Das Wohnungspanel ermöglicht es, detailliertere Informationen über die Veränderungen in der Zusammensetzung von sozialen Gruppen, ihrer Einstellungen, ihrer soziodemographischen Merkmale und ihrer räumlichen Verteilung in der Nachbarschaft zu erhalten (Friedrichs/Blasius 2015; 2019). Durch die Anwendung des Wohnpanels ist es möglich, Prozesse in einer Nachbarschaft zu untersuchen, zum Beispiel bezogen auf die Integration von ethnischen Minderheiten, auf Veränderungen im Konsumverhalten oder von politischen Elektoraten. Prozesse der Veränderung können über die Erhebungswellen in Stufen unterteilt und analysiert werden, es kann damit nachvollzogen werden, wie sich die Sozialstruktur einer Nachbarschaft im Zeitverlauf verändert. Für die nachfolgenden Analysen verwende ich als Beispiel die bereits beschriebenen sozialen Gruppen der Pioniere und der frühen und etablierten Gentrifier, die im Rahmen der Studie mit den Gruppen der anderen (weder Pioniere noch Gentrifier) und der Älteren verglichen werden. In der ersten Welle konnten 1.009 Personen befragt werden, in der letzten immerhin noch 747 (s. Friedrichs/Blasius 2019, 10).
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Jörg Blasius
Ergebnisse Im ersten Analyseschritt sollen die Ergebnisse für alle vier Wellen univariat beschrieben werden. Die allen Personen gleich zu Beginn des Interviews vorgelegte Frage lautete: »Ich lese Ihnen jetzt (auf dieser Liste…) einige Gründe vor, die für die Wahl einer Wohnung bzw. eines Wohnviertels wichtig sein können. Nennen Sie mir bitte die fünf Punkte, die für Sie am wichtigsten sind.« Da diese Frage in jeder Welle gestellt wurde, können die Ergebnisse über die Zeit dargestellt werden (Tabelle 2). Ausgeschlossen von der Analyse wurden die Personen, welche keine Angaben bei der Frage machten. Auffällig an den Daten ist, dass es kaum Veränderungen im Zeitverlauf gibt, nahezu alle Werte stagnieren auf dem gleichen Niveau. Am häufigsten genannt wurde die Anbindung an den ÖPNV, in allen Wellen waren es über 80 % der Befragten, die diese Angabe wählten. Zunehmend wichtig über die Zeit (ansteigend von 46,1 % auf 53,2 %) ist die Nähe zu Parks, was in der internationalen Literatur zum Thema Gentrifizierung zwar nicht als Merkmal für die Bevorzugung von innenstädtischem Wohnraum genannt wird, was aber in den beiden Kölner Stadtteilen durch die Rheinnähe gegeben ist (sofern man die von Grün umgegebenen Wanderwege entlang des Rheins als Parks bezeichnet). Ebenfalls über Zeit ansteigend ist der Wunsch nach Cafés und Bistros in unmittelbarer Nähe der Wohnung, dies entspricht den Annahmen zur Gentrifizierung eines Wohngebietes. Cafés und Bistros sind in den beiden Stadtteilen vorhanden, von daher ist dieser Wunsch erfüllt.
Lebensstile, Akteur*innen und Zuzugsmotive
Tabelle 2: Wichtigste Gründe (max. 5 konnten gewählt werden), die für die Wahl einer Wohnung beziehungsweise der Wohngegend entscheidend sind. Angaben für »genannt«, in Prozent, für alle vier Wellen 1.Welle N=1002
2.Welle N=846
3.Welle N=797
4.Welle N=715
Parks in der Nähe (max. 5 Min. Fußweg)
46,1
49,2
51,7
53,2
Nur Anliegerverkehr in meiner Straße
15,0
14,1
14,0
14,0
Theater, Oper und Konzertsaal sollten in 15 Min. erreichbar sein
7,7
10,3
10,6
10,0
Galerien und Kunsthallen sollten in 15 Min. erreichbar sein
3,9
4,2
5,1
3,8
Eine gute Anbindung an den ÖPNV
80,1
86,9
84,9
86,4
Der Arbeitsplatz sollte in 15 Min. erreichbar sein
20,8
16,3
20,1
21,2
Lokale, in denen viele unterschiedliche Leute sind
17,2
21,0
19,7
23,5
Cafés, Bistros in unmittelbarer Nähe
25,9
28,3
29,2
31,2
Restaurants mit einem gewissen Pfiff und etwas höheren Preisen
4,4
5,3
7,7
6,6
Gehobene Bekleidungsgeschäfte
2,3
3,1
4,2
3,0
Delikatessen- und Spezialitätengeschäfte
4,2
5,6
7,3
4,9
Multi-kulturelle Nachbarschaft
13,7
13,0
13,3
15,9
Hohe Räume/Decken
13,3
12,0
11,4
12,2
Renoviertes Treppenhaus
2,9
5,7
4,3
5,0
Stilvolle Fassade
3,6
3,7
3,6
2,7
Größe der Wohnung
43,8
51,7
47,2
49,4
Aufteilung der Wohnung und Schnitt der Räume
46,1
45,4
46,1
41,9
Ausblick aus dem Fenster
29,7
33,8
29,8
29,7
Ausstattung der Wohnung
16,1
13,6
17,6
16,3
Ein großer Balkon/Terrasse/Garten
52,1
47,2
47,0
53,2
Quelle: Eigene Erhebung.
219
220
Jörg Blasius
Sehr gering scheint der Wunsch nach Galerien und Kunsthallen zu sein, die in fünfzehn Minuten erreichbar sein sollten, ebenso nach Restaurants mit einem gewissen Pfiff, nach gehobenen Bekleidungsgeschäften und nach Delikatessen und Spezialitätengeschäften; der Wunsch nach diesen Arten von Angeboten stagniert im Zeitverlauf bei 5 %. Relativ gering (mit Werten um die 10 %) ist auch der Wunsch nach Theater, Oper und Konzertsaal, die in fünfzehn Minuten erreichbar sein sollten. Diese niedrigen Werte stehen der aus der Literatur erwarteten hohen Bedeutung dieser Einrichtungen für die Wahl des Wohngebietes entgegen. Die Frage ist, ob diese geringen Nennungen auch gegen die Gentrifizierung des Untersuchungsgebietes sprechen. Galerien, Kunsthallen, Theater, Oper und Konzertsaal sind, je nach genauem Wohnstandort, innerhalb von fünfzehn bis dreißig Minuten sehr einfach mit dem ÖPNV oder zu Fuß zu erreichen; die Straßenbahn fährt, da hier mehrere Linien Richtung Zentrum fahren, auch spät abends noch in einem Rhythmus von etwa fünf bis maximal zehn Minuten. Restaurants mit einem gewissen Pfiff, was auch immer man darunter verstehen mag, Delikatessen- und Bekleidungsgeschäfte sind, wiederum je nach genauem Wohnstandort, entweder fußläufig oder sehr schnell mit dem ÖPNV zu erreichen. Der Wunsch nach diesen Einrichtungen mag ein Grund sein, um in diese Nachbarschaft zu ziehen oder auch, wenn sie als nicht ausreichend empfunden werden, die Nachbarschaft zu verlassen, aber werden diese Merkmale genannt, wenn sie vorhanden sind und man mit dem Angebot zufrieden ist? Bezogen auf die Wohnungsausstattung sind die Größe der Wohnung, die Aufteilung der Wohnung und der Schnitt der Räume sowie ein großer Balkon beziehungsweise ein Garten wichtige Merkmale für die Wahl des Wohnstandortes, die Werte liegen für alle vier Erhebungszeitpunkte bei etwa 50 %. Nur für relativ wenige Personen ist die stilvolle Fassade oder das renovierte Treppenhaus ein wichtiger Indikator für die Wohnungswahl, über die Zeit variieren die Werte zufällig um die 5 %, sodass kein Muster zu erkennen ist. Entgegen den Annahmen aus der Gentrifizierungsliteratur scheinen sie ebenfalls keine zentralen Merkmale für die Wahl des Wohnstandortes zu sein. Deutlich wichtiger ist der Ausblick aus dem Fenster, die entsprechenden Zustimmungen liegen bei 30 %, und die Ausstattung der Wohnung mit Werten um die 15 %. Anhand der genannten Anteilswerte sind im Zeitverlauf kaum Veränderungen in den Wünschen der Bewohner*innen der Nachbarschaft zu beobachten, auf eine Gentrifizierung des Gebietes kann aufgrund dieser Ergebnisse nicht geschlossen werden. Im Folgenden soll daher untersucht werden,
Lebensstile, Akteur*innen und Zuzugsmotive
ob es Hinweise auf eine Veränderung des Gebietes gibt, indem die in das Wohngebiet zugezogenen Haushalte mit den Verbliebenen und den Ausziehenden verglichen werden. Für die erste Welle haben wir keine Daten für die zuletzt Hinzugezogenen, das Einzugsdatum wurde in der ersten Befragung nicht ausreichend genau erhoben, aber es ist bekannt, wer zwischen der ersten und zweiten Welle ausgezogen ist. Für die zweite und dritte Welle kann nach Zugezogenen, Verbliebenen und Haushalten, die zwischen der ersten und zweiten beziehungsweise zwischen der zweiten und dritten Welle fortzogen, unterschieden werden. In der vierten Welle kann nur zwischen Haushalten, die zwischen der dritten und vierten Welle einzogen und allen anderen unterschieden werden. Die Anteilwerte für diese zwei beziehungsweise drei Gruppen von Bewohner*innen sind für jede Welle in Tabelle 3 wiedergegeben. Um Tabelle 3 effizient darstellen zu können, sind nur die Anteile der Nennungen angegeben. Um die statistische Signifikanz anzuzeigen, wurden die Werte, die auf dem 5 %-Niveau signifikant sind, kursiv gesetzt, jene, die auf dem 1 %-Niveau signifikant sind, erscheinen im Fettdruck, auf dem 0,1 %Niveau ist keiner der Zusammenhänge signifikant. Werden die angegebenen Prozentwerte betrachtet, so gibt es entgegen den Erwartungen nur wenige Unterschiede, anhand derer ein interpretierbares Muster ersichtlich wird. Zu den relativ wenigen Auffälligkeiten zählt, dass die neu Hinzugezogenen relativ selten angaben, es sei für sie wichtig, dass es nur Anliegerverkehr in der eigenen Straße gibt. Des Weiteren wurde in allen Wellen von den in den Wohnungen Verbleibenden am häufigsten angegeben, dass Theater, Oper und Konzertsaal in der Nähe sein sollten. Die Nähe des Arbeitsplatzes ist sowohl für die Fortgezogenen als auch für die Zuziehenden wichtig, letztere sind vielleicht gerade aus diesem Grund in dieses Wohngebiet gezogen. Es ist auch noch anzumerken, dass zum Zeitpunkt des Projektbeginns in der unmittelbaren Nähe viele neue gut bezahlte Arbeitsgelegenheiten im tertiären Sektor geschaffen wurden; der Zuzug von RTL in die rechtsrheinischen Messehallen war ein wichtiger Grund, dass Friedrichs/Blasius (2016a; b) diese Nachbarschaft als Untersuchungsgebiet wählten. Ein oft genannter Indikator für Gentrifizierung ist der Wunsch nach Cafés und Bistros in unmittelbarer Nähe, was auf der Basis der erhobenen Daten bestätigt werden kann, die Werte für die Zugezogenen sind überdurchschnittlich hoch. Bezogen auf die Wohnungsindikatoren ist lediglich das Merkmal Aufteilung und Schnitt der Räume auffällig, diese Angabe wurde sowohl von den Zuziehenden als auch von den Fortziehenden überdurchschnittlich oft gemacht.
221
4,6 2,4
Restaurants mit einem gewissen Pfiff und etwas höheren Preisen
Gehobene Bekleidungsgeschäfte
2,8
24,5
Cafés, Bistros in unmittelbarer Nähe
Renoviertes Treppenhaus
16,8
Lokale, in denen viele unterschiedliche Leute sind
13,3
19,5
Der Arbeitsplatz sollte in 15 Min. erreichbar sein
Hohe Räume/Decken
81,2
Eine gute Anbindung an den ÖPNV
4,4
4,3
Galerien und Kunsthallen sollten in 15 Min. erreichbar sein
13,9
8,5
Theater, Oper und Konzertsaal sollten in 15 Min. erreichbar sein
Multi-kulturelle Nachbarschaft
15,1
Nur Anliegerverkehr in meiner Straße
Delikatessen- und Spezialitätengeschäfte
45,8
Parks in der Nähe (max. 5 Min. Fußweg)
bleibt N=885
3,4
12,8
12,0
2,6
1,7
2,6
36,8
19,7
29,9
76,1
0,9
1,7
13,7
48,7
Auszug N=117
1.Welle
3,2
9,6
18,1
1,1
0,0
2,1
40,4
22,3
26,6
91,5
2,1
7,4
4,3
50,0
Zuzug N=94
6,3
12,9
12,5
6,3
3,9
6,2
24,6
21,0
14,2
86,4
5,4
11,4
15,1
47,3
bleibt N=634
2.Welle
4,2
11,9
9,3
3,4
0,8
3,4
34,7
18,6
18,6
86,4
0,8
6,8
16,9
59,3
Auszug N=118
4,1
15,7
11,6
0,8
0,0
1,7
31,4
21,5
30,8
86,8
0,8
8,3
9,1
43,8
Zuzug N=121
4,1
10,4
14,2
9,3
5,1
9,8
28,3
18,7
18,2
84,6
5,6
11,6
15,4
52,8
bleibt N=604
3. Welle
5,6
8,3
9,7
2,8
4,2
1,4
31,9
20,8
16,7
84,7
5,6
6,9
9,7
51,4
Auszug N=72
4,6
16,1
18,4
3,4
1,1
2,3
35,6
21,8
33,3
86,2
4,6
6,9
6,9
43,7
Zuzug N=87
4 Welle
4,9
11,6
15,6
5,1
3,3
7,5
30,7
23,6
19,1
86,3
3,7
10,8
14,8
54,3
Andere N=628
Tabelle 3: Wichtigste Gründe (max. 5 konnten gewählt werden), die für die Wahl einer Wohnung beziehungsweise der Wohngegend entscheidend sind. Angaben für »genannt, in Prozent, für alle vier Wellen, nach Migrationsstatus
222 Jörg Blasius
3,5 42,9 44,7 30,5 16,4 52,4
Stilvolle Fassade
Größe der Wohnung
Aufteilung der Wohnung und Schnitt der Räume
Ausblick aus dem Fenster
Ausstattung der Wohnung
Ein großer Balkon/Terrasse/Garten
49,6
13,7
23,9
56,4
50,4
4,3
36,2
23,4
28,7
53,2
50,0
2,1
46,8
12,5
36,0
44,2
51,7
3,8
55,1
14,4
28,8
50,0
53,4
4,2
47,1
16,5
23,1
57,9
45,5
0,8
45,9
18,0
31,1
43,5
62,5
4,5
56,9
18,1
30,6
48,6
50,4
1,4
46,0
14,9
21,8
57,5
50,6
0,0
54,3
15,9
30,9
40,0
49,7
3,0
Lebensstile, Akteur*innen und Zuzugsmotive 223
224
Jörg Blasius
Anhand dieser Ergebnisse kann zwar einiges über die vorhandenen (als auch über die anscheinend nicht vorhandenen) Migrationsgründe der Haushalte ausgesagt werden, für einen Nachweis von Gentrifizierung im Untersuchungsgebiet anhand der in der internationalen Literatur genannten Indikatoren ist dies jedoch nicht ausreichend. Einschränkend sollte aber noch einmal wiederholt werden, dass auf internationaler Ebene bis dato so gut wie keine quantitativen Studien durchgeführt wurden, die dort gemachten Angaben basieren auf qualitativen Studien mit nur wenigen Befragten, sofern überhaupt Daten von Anwohner*innen erhoben wurden. Nachdem gezeigt wurde, dass sich sowohl die Fortziehenden als auch die Zuziehenden in ihren Wünschen bei der Wahl des Wohnstandortes nur geringfügig von den Verbliebenden unterscheiden, soll für die zuvor definierten sozialen Gruppen untersucht werden, ob sich diese anhand ihrer Wünsche an den Wohnstandort unterscheiden. Die Darstellung erfolgt exemplarisch für die erste und vierte Welle, die Ergebnisse der zweiten und dritten Welle unterscheiden sich von den hier gezeigten Ergebnissen nur im Rahmen des statistischen Zufalls. Aufgrund der fehlenden Werte bei den sozialen Gruppen, welche insbesondere durch die Verweigerung der Frage nach dem Einkommen verursacht wurden, ergeben die mit der Anzahl der Gruppenmitglieder gewichteten Mittelwerte (diese Werte sind in den Tabellen 4 und 5 nicht angegeben) nicht exakt die in Tabelle 2 angegebenen Werte. Werden die Indikatoren der Wohnumgebung betrachtet, die in der internationalen Literatur als Nachweis für Gentrifizierung genannt werden, so wurden lediglich Cafés und Bistros, die in unmittelbarer Nähe liegen, von den Pionieren und Gentrifiern überdurchschnittlich oft genannt – und dies auch nur für die erste Welle auf einem hochsignifikanten Niveau, für die vierte Welle gilt dies allenfalls tendenziell. Bezogen auf die Ausstattung der Wohnung sind es die Aufteilung der Wohnungen und der Schnitt der Räume, welche von den Gentrifiern und den Pionieren relativ häufig genannt wurden. Ansonsten sind es die Personen ab 65 Jahren, welche jene Merkmale überdurchschnittlich oft nannten, die eigentlich der Gruppe der neuen Bewohner*innen zugeschrieben werden, im Besonderen sind dies: Theater, Oper und Konzertsaal, die innerhalb von fünfzehn Minuten erreichbar sein sollen, Restaurants mit einem gewissen Pfiff und gehobene Bekleidungsgeschäfte. Da diese Angaben insgesamt relativ selten gewählt wurden, sollten die relativ hohen Werte für die Älteren nicht überinterpretiert werden. Des Weiteren kann vermutet werden, dass es den neuen Bewohner*innen nicht wichtig war, diese Angaben zu wählen, die fehlende Nennung schließt ja keinesfalls
2,0 0,0 4,9
Cafés, Bistros in unmittelbarer Nähe
Restaurants mit einem gewissen Pfiff und etwas höheren Preisen
Gehobene Bekleidungsgeschäfte
Delikatessen- und Spezialitätengeschäfte
2,9
34,3
Lokale, in denen viele unterschiedliche Leute sind
Renoviertes Treppenhaus
12,7
Der Arbeitsplatz sollte in 15 Min. erreichbar sein
16,7
33,3
Eine gute Anbindung an den ÖPNV
14,7
86,3
Galerien und Kunsthallen sollten in 15 Min. erreichbar sein
Hohe Räume/Decken
0,0
Theater, Oper und Konzertsaal sollten in 15 Min. erreichbar sein
Multikulturelle Nachbarschaft
5,9 2,9
Nur Anliegerverkehr in meiner Straße
44,1
Parks in der Nähe (max. 5 Min. Fußweg)
Pioniere (N=102)
0,0
12,0
6,8
4,3
0,0
1,7
42,7
20,5
21,4
80,3
0,9
2,6
12,8
47,0
Gentrifier (N=117)
1,3
15,4
6,4
3,8
1,3
3,8
33,3
19,2
23,1
88,5
2,6
5,1
14,1
34,6
etablierte Gentrifier (N=78)
2,9
13,4
18,0
3,1
1,5
3,6
21,8
17,8
22,0
78,8
5,0
7,7
15,1
49,1
Andere bis 65 J. (N=477)
6,1
8,3
8,8
6,1
8,3
10,5
16,0
16,0
9,4
81,2
5,5
16,0
22,1
44,8
Ältere (N=181)
10,2; < ,05; ,10
4,4; n.s.
19,9; < ,001; ,14
3,1; n.s.
34,2; < ,001; ,19
19,8; < ,001; ,14
36,9; < ,001; ,20
2,8; n.s.
24,7; < ,001; ,16
6,2; n.s.
10,4;