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German Pages 328 Year 2016
Ilse Helbrecht (Hg.) Gentrifizierung in Berlin
Urban Studies
Dieses Buch ist für die Verdrängten, deren Stimmen zu selten gehört werden.
Ilse Helbrecht (Hg.)
Gentrifizierung in Berlin Verdrängungsprozesse und Bleibestrategien
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Gentrification und Verdrängung
Ilse Helbrecht | 9 Gentrification-Hotspots und Verdrängungsprozesse in Berlin. Eine quantitative Analyse
Christian Döring, Klaus Ulbricht | 17 Black Box Verdrängung: Bleiben im Kiez oder Wegzug an den Rand? Kleinräumliche Wanderungen im Zuge von Aufwertungsprozessen in Berlin-Prenzlauer Berg
Daniel Förste, Matthias Bernt | 45 Wohin (ver-)drängt es die Kreuzberger_innen? Wohin ziehen die Verdrängten innerhalb eines Gentrification-Prozesses?
Simon Koch, Marrike Kortus, Christine Schierbaum, Stephanie Schramm | 69 Die statemade-rental-gap: Gentrification im Sozialwohnungsbau
Greta Ertelt, Carlotta-Elena Schulz, Georg Thieme, Christiane Uhlig | 107 Kotti&Co. Ein Beispiel neuer Protestformen als Antwort auf neue Formen der Verdrängung
Lisa Scheer | 151 Die Wohnsituation von ALG-II-Empfänger_innen in Berlin: Prozesse wenn der Umzug naht
Nelly Grotefendt, Malve Jacobsen, Tanja Kohlsdorf, Lina Wegener | 185 Leben im Wohnwagen – ein Phänomen der Verdrängung?
Paul Neupert | 215 Wieso – Weshalb – Wohin? Wohnbiographien als Instrument der sozialräumlichen Verdrängungsanalyse
Camilo Betancourt | 257 GentriMap: Ein Messmodell für Gentrification und Verdrängung
Andrej Holm, Guido Schulz | 287 Autorinnen und Autoren | 319
Danksagung
Ich danke den wunderbaren (heute größtenteils ehemaligen) Studierenden, die mit mir diesen langen Weg von Seminar zu Seminar bis zur Buchpublikation gegangen sind. Seit dem Sommersemester 2012 haben wir uns gemeinsam in aufeinanderfolgenden Modulen des Masterstudiengangs »Geographie der Großstadt« an der Humboldt-Universität zu Berlin mit dem Thema »Gentrification und Verdrängung« beschäftigt. Mein Impuls als Lehrende, die verdrängte Seite der Gentrifizierung – nämlich Verdrängungsprozesse und Bleibestrategien – in Berlin empirisch zu untersuchen, ist auf fruchtbaren Boden im Seminar gestoßen. Aus der intensiven Zusammenarbeit sind die vorliegenden Aufsätze entstanden. Die Hartnäckigkeit und das Engagement meiner Mitstreiter_innen haben mich dabei sehr beeindruckt. Ich danke auch Matthias Bernt, Daniel Förste, Andrej Holm und Guido Schulz sehr, dass sie dieses ursprünglich studentische Projekt durch ihre Beiträge in diesem Sammelband bereichert haben. Die Einheit von Lehre und Forschung ist beglückend, wenn sie gelingt. Dieses Projekt wird mich ermutigen, sie ganz im Sinne Wilhelm von Humboldts weiter zu suchen. Ilse Helbrecht, Berlin im Juli 2016
Gentrification und Verdrängung I LSE H ELBRECHT
Gentrification, Verdrängung, Mietpreisexplosion – abseits des allgegenwärtigen Flüchtlingsthemas hat kein anderes Feld der Stadtentwicklung in Deutschland in den letzten Jahren mehr öffentliche Aufmerksamkeit bekommen. Seit der Finanzkrise im Jahr 2008 und der damit einhergehenden neuen und alten Liebe von Investor_innen für (Wohn-)Immobilien als »Betongold« sind in vielen Städten die Immobilienpreise in eine drastische Aufwärtsspirale geraten, die zu Teilen schon wieder unter der Gefahr der spekulativen »Preisblasenbildung« diskutiert wird. Verstärkt durch den anhaltenden Trend der Metropolitanisierung und Reurbanisierung leiden Ballungsräume wie München, Hamburg, Köln, Berlin, Frankfurt/M. oder Leizpig unter einem zunehmenden Verdrängungswettbewerb auf dem städtischen Wohnungsmarkt. Auch im internationalen Raum sind die Debatten hierzu in beispielsweise London, NewYork, Hong Kong, Seoul oder Santiago de Chile seit langem virulent (Smith 2002; Ley/Teo 2014; Lees/ Shin/López-Morales 2016). Einkommensstarke Gruppen verdrängen einkommensschwächere Bewohner_innen gerade aus innerstädtischen Lagen. Unter den Bedingungen einer wachsenden Einkommensschere, die in vielen westlichen Ländern zu beobachten ist und die soziale Polarisierung zu einer konkreten Alltagswelt vieler Städter_innen macht, wird gutes und kostengünstiges Wohnen nicht nur ein knappes Gut in Städten, sondern vor allem ein umkämpftes (Holm 2010). Die Stadtforschung weiß schon seit über 50 Jahren die dahinter liegenden Prozesse wohltuend kontextsensibel und theoretisch differenziert zu erklären. Seit Ruth Glass (1964) wegweisender Definition von Gentrification sind weltweit viele empirische Studien und konzeptionelle Erkenntnisse hierzu produziert worden. Bei all dieser wissenschaftlichen Einsicht und Expertise ist jedoch stets immer wieder auf die gleiche, die eine Seite dieses Prozesses der stadträumli-
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chen Aufwertung geschaut worden: Gentrification wird in der Stadtforschung lange schon und hoch kompetent von der Seite der Aufwertung her untersucht (vgl. Helbrecht 1996; Ley 1996). Fragen wie diese wurden vielerorts schon gestellt und beantwortet: Wer sind die Pioniere der Gentrification? Wer folgt auf diese als Gruppe der Gentrifier? Was macht Quartiere für Gentrifier attraktiv? Was sind die immobilienwirtschaftlichen Voraussetzungen der Aufwertung (z.B. rent gap)? Welche Formen und Stadien der Aufwertung lassen sich beobachten? Wie verändert Gentrification die Geschäftsstruktur eines Quartiers (commercial gentrification)? All diesen Fragen – und den von der internationalen Forschungscommunity erarbeiteten Antworten – ist gemein, dass sie sich allein für Aspekte der sozialen, funktionalen und baulichen Aufwertung von Stadträumen interessieren. Lange hat sich die Forschungslandschaft der urban studies – und zwar einerlei ob aus soziologischer, geographischer, ethnologischer oder stadtplanerischer Perspektive – stets mit der Erklärung von Gentrification und damit dem Ursachengefüge für Prozesse, Formen und Phänomene der Aufwertung beschäftigt. Was hierbei nahezu vollständig aus dem Blick geriet, sind die Folgen der Gentrification für die Verdrängten (Slater 2009; Atkinson et al. 2011; Butler/Hamnett/Ramsden 2013). Erste tapfere Pionierversuche aus den 1980er Jahren (Henig 1980, Gale 1985), Licht in das Dunkel zu den demographischen Charakteristika der Verdrängten und den Umfang der Verdrängung zu bringen, blieben fast ohne Epigonen – und damit folgenlos. Obwohl Peter Marcuse schon vor über dreißig Jahren eine ausführliche Definition und Differenzierung unterschiedlicher Formen von Verdrängung vornahm (Marcuse 1985, S. 204ff), sind empirische Studien und valide Befunde hierzu eine Seltenheit. Wie Tom Slater prägnant beschreibt: »there is next to nothing published on the experiences of non-gentrifying groups living in the neighbourhoods into which the muchresearched cosmopolitan middle classes are arriving en masse« (Slater 2006, S. 743). Und so wie über die Verbliebenen im Quartier kaum etwas bekannt ist, so erst recht umso weniger über diejenigen, die umziehen mussten als Folge von Aufwertung und Verdrängung. So stammt beispielsweise die einzige aktuelle Studie zu den Folgen von Gentrification für im Quartier verbliebene statusniedrige Gruppen von den australischen Geographinnen Kate S. Shaw und Iris W. Hageman. Sie kommen am Beispiel von Melbourne zu dem Ergebnis, dass selbst dort, wo es möglich sei aufgrund von sozialem Wohnungsbau im Quartier, dass statusniedrige Bevölkerungsgruppen im gentrifizierten Gebiet verbleiben, diese dennoch eine Entfremdung und Entwurzelung erleiden würden aufgrund des Gentrifizierungsdrucks. Die Forscherinnen formulieren als Fazit: »This research shows that secure housing is not sufficient to alleviate the pressure of displace-
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ment on low-income residents in gentrifying areas. Although these residents remain in place, the class remake produces a sense of loss of place: of entitlement to be there and be catered for.« (Shaw/Hagemans 2015, S. 33) Gentrification als Verdrängungsprozess hat also gravierende Folgen für die Betroffenen, über deren Umfang und Qualität wir jedoch wissenschaftlich viel zu wenig wissen. Die Stadtforschung ist ein einäugiger Zyklop, agierend mit einer immensen intellektuellen Einseitigkeit, indem stets nur die Aufwertungsseite des Gentrificationprozesses betrachtet wird – nicht jedoch die andere Seite der Medaille: die Verdrängung. Dies ist wissenschaftlich unhaltbar und entbehrt jeder akademischen Vernunft. Zudem ist die (thematische) Verdrängung der Verdrängung stadtpolitisch ebenso tragisch wie folgenreich. Denn Gentrification ist gewiss kein reibungsloser, konfliktloser Prozess, den man quasi einfach nur wissenschaftlich distanziert beobachten könnte. Es handelt sich vielmehr um einen Prozess der Verdrängung, der Machtausübung, der Benachteiligung gerade ärmerer Bevölkerungsgruppen. Gentrification wird seit Anbeginn der wissenschaftlichen Debatte hierzu verstanden – schon in der Ursprungsdefinition von Ruth Glass aus dem Jahr 1964 – als ein Verdrängungsprozess, im Rahmen dessen statushohe Bevölkerungsgruppen statusniedrige Bevölkerungsgruppen verdrängen und es dabei zu Aufwertungen im Gebäudebestand führt (Blasius 2004: 23). Ein solcher sozialräumlicher Prozess, der nichts anderes beinhaltet als die Durchsetzung von Wohnstandortinteressen ökonomisch starker Gruppen auf Kosten von einkommensschwächeren Gruppen, ist somit per se politisch. Er ist per se gesellschaftlich brisant. Er ist in sich eine Gefahr für die Urbanität einer Stadt, weil Segregation und Separierung schon in den Augen des klassischen Stadt-Denkers Henri Lefèbvre (1990) sogenannte Feinde der Urbanisierung sind. Gentrifizierung verdrängt und separiert. Sie segregiert die sozialen Schichten in der Stadt entlang einer sozialräumlichen Achse des Wohlstands. Im Ergebnis sind innerstädtische Randgebiete in vielen Städten gentrifiziert, das heisst, sie beherbergen die Neuen Mittelschichten und Oberschichten. Es droht die Herausbildung einer »Stadt der Enklaven« (Helbrecht 2009). Die offene Frage bleibt: Aber wo sind die Verdrängten? Und was bedeutet die Verdrängung aus dem angestammten Quartier für sie? Genau diesen beiden Fragen gehen wir in diesem Sammelband nach. Während die internationale Stadtforschung kaum empirische Studien kennt zum weiteren Verbleib der Verdrängten aus gentrifizierten Quartieren (Atkinson 2001; Slater 2006; Atkinson et al. 2011), haben wir uns in Berlin – der gegenwärtigen Hauptstadt der Gentrifizierung in Deutschland, weil nirgends sonst in der Republik die Immobilienpreise und Mieten prozentual so drastisch gestiegen sind in den letzten fünf Jahren wie hier – auf die Spurensuche gemacht nach
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Formen und Orten des Verbleibs der Verdrängten. In zu Teilen kriminalistischen Verfahren, methodisch innovativ, aber auch ganz klassisch bspw. mit den Mitteln der Fragebogenerhebung und amtlichen Statistik, haben wir den Verbleib der Verdrängten, ihre Wohnbiographien und Wohnstandortmuster nach und während der Gentrifizierung untersucht. Ich schreibe von »wir«, weil hier Studierende eines Masterkurses an der Humboldt-Universität zu Berlin gemeinsam mit mir als Dozentin in Teamarbeit einzigartige empirische Ergebnisse produziert haben. Wohin ziehen die Verdrängten? Das war die Leitfrage unserer Untersuchung. Die verschiedenen Aufsätze dieses Sammelbands verdeutlichen aus unterschiedlichen Blickrichtungen das zentrale Ergebnis: 1) Ja, Gentrification ist ein Verdrängungsprozess, der Menschen zu unfreiwilli-
gen Umzügen zwingt. 2) Diese Verdrängung wird vielfach als extrem große Belastung wahrgenom-
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men, weil mit dem Verlust des Quartiers viele nachbarschaftliche Bezüge, soziale Netzwerke und Unterstützungsleistungen, Vertrautheiten und auch existenzielle emotionale Sicherheiten verloren gehen. Die Verdrängten versuchen aktiv der Gentrification zu begegnen und mit ausgeklügelten Bleibestrategien so lange wie möglich im Quartier zu verbleiben. Die Bleibestrategien der Verdrängten führen zu einer Inkaufnahme von schlechteren Wohnbedingungen. Der Verbleib im Quartier ist mit hohen Einbußen in der Wohnqualität in Form von z.B. Überbelegung verbunden. In Berlin lässt sich eine dezidierte sozialräumliche Aufwertungsspirale empirisch beschreiben, die räumlich in der Distanz zum Stadtzentrum immer weiter um sich greift. Die Bugwellen der Verdrängung ergreifen Quartier um Quartier die gesamte innere Stadt, in der ca. eine Million Menschen leben. Dem Staat kommt eine wachsende Rolle als Verursacher und potenzieller Problemlöser im Rahmen von Verdrängungsprozessen zu.
So spielt die Berliner Landespolitik im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus eine gravierende Rolle als Verursacher einer neuartigen Form von rental gap, die wir als »statemade-rental-gap« bezeichnen (vgl. Ertelt et al. 2016 in diesem Band). Der Begriff statemade-rental-gap existiert bisher in der Literatur nicht und verweist auf eine Renditelücke, die nicht durch marktwirtschaftliche Prozesse entsteht, sondern dezidiert vom Staat (unwillentlich) durch bestimmte Rahmenbedingungen im sozialen Wohnungsbau geschaffen wird und heute umfas-
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sende Verdrängungsprozesse in Berlin auslöst. Verdrängung hat also seine Ursachen nicht nur in marktwirtschaftlichen Prozessen von Angebot, Nachfrage und Preisbildung, sondern auch in politischen (Fehl-)Entscheidungen. Gentrifizierung ist umkämpft und umstritten. Es gibt sowohl wissenschaftliche und politische Gegner_innen wie auch Befürworter_innen dieses Prozesses. Ich meine jedoch, solange wir nur die Ursachen der Gentrifizierung wissenschaftlich exakt und international vergleichend untersuchen, wie bisher dominant geschehen in der Forschungslandschaft, sind wir noch nicht am Kern des politischen Problems Gentrification angekommen. Nur wenn wir auch die Folgen des Gentrifizierungsprozesses für die Verdrängten in den Blick nehmen, können wir Gentrification umfassend betrachten und – wissenschaftlich wie politisch – integrativ bewerten als einen stadträumlichen Entwicklungsprozess mit zwei Seiten der Medaille: erstens die Aufwertung von Quartieren und zweitens die Verdrängung von Menschen. Wer die Bedeutung von Verdrängung unterschätzt, ist weder analytisch in der Lage, Gentrifizierungsprozesse umfassend zu beschreiben und zu verstehen noch politisch befähigt, sie zu gestalten: »Underestimating displacement involves high costs for theoretical understanding of neighbourhood change and even higher tolls for poor and working-class residents« (Newman/Wyly 2006: 51). Wohin ziehen die Verdrängten? Und was bedeutet Verdrängung für sie? Das sind zwei zentrale Fragen der Gentrificationforschung, die bisher fast vollständig ausgeblendet wurden aus den Debatten. Sicherlich gibt es wissenschaftlich gute Gründe für die bisherige Blindheit der Forschung für die Sicht und Situation der Verdrängten. Als wesentlicher Grund hierfür wird zu Recht auf die großen empirischen Schwierigkeiten verwiesen, die sich sofort ergeben, will man über Verdrängung und Verdrängte arbeiten (Atkinson 2000). Denn es liegt in der Natur der Sache, dass die Verdrängten im Zuge von Aufwertungsdynamiken ein Quartier verlassen und somit kaum zu befragen und zu erreichen sind. Wie interviewt man Menschen, die vor drei oder acht Jahren in einem heute durchgentrifizierten Gebiet gewohnt haben? Wie findet man diese überhaupt? Und wie unterscheidet man unwillentlich Verdrängte von freiwillig Umgezogenen? Aber auch die Verharmlosung des Problems der Verdrängung in Teilen der Stadtforschung hat zu einer Missachtung dieses wichtigen empirischen Forschungsfeldes geführt. So argumentiert beispielsweise Christ Hamnett (2003) vehement dafür, dass Gentrification in London kein Verdrängungsprozess sei, sondern ursächlich vielmehr dem generellen Schrumpfen des Anteils der Arbeiterklasse im Vergleich zum Wachstum der neuen Mittelschichten geschuldet sei. Zu beobachten wäre deshalb statt eines »displacement« sozial Schwächerer in den Städten vielmehr deren »replacement« durch neue aufstrebende Mittel-
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schichten (Hamnett 2003: 2424). Diese Betrachtung weist zu Recht auf den Wandel der Beschäftigungs- und Sozialstrukturen im Zuge von Tertiärisierung und Globalisierung hin. Schon David Ley hatte diesen Wandel von der industriellen zur postindustriellen Stadt früh als eine Ursache von Gentrification analysiert (Ley 1996). Hamnett übersieht in seiner Argumentation jedoch, dass eine Gleichzeitigkeit der Dynamiken von sozialstrukturellem Wandel und sozialräumlicher Verdrängung besteht. Es sind also sowohl konzeptionelle (vielleicht manchmal sogar ideologische) als auch schwer zu lösende methodische und forschungspraktische Herausforderungen, die dazu geführt haben, dass nur sehr wenige Studien sich überhaupt mit Verdrängten beschäftigen. Empirisch leichter zu untersuchen sind Pioniere und Gentrifier, die kommen, oft auch bleiben und sichtbar die Nachbarschaft verändern. Aus genau diesem Grunde haben wir uns in dem Seminar im Rahmen unseres Masterstudiengangs »Geographie der Großstadt« (HU Berlin) vorgenommen, neue Wege zu gehen bei der Suche nach den Verdrängten. Dieses Buch will einen Lichtkegel werfen auf die andere Seite der Gentrification – in der Hoffnung, dass Wissenschaft und Politik vermehrt beide Seiten der Gentrification bedenken und zukünftig Gentrifizierung als Aufwertung und Verdrängung berücksichtigen in ihren theoretischen Reflektionen und praktischen Entscheidungen zur Stadtentwicklung.
L ITERATUR Atkinson, Rowland (2000): »Measuring gentrification and displacement in Greater London«. Urban Studies 2000, Vol. 37, S. 149-165. Atkinson, Rowland (2001): »The hidden cost of gentrification: displacement in central London«. Journal of Housing and the Built Environment 15 (4), S. 307-326. Atkinson, Rowland/Wulff, Maryann/Reynolds, Margaret/Spinney, Angela (2011): »Gentrification and displacement: the household impacts of neighbourhood change«, AHURI Final Report No. 160. Melbourne: Australian Housing and Urban Research Institute. Blasius, Jörg (2004): »Gentrification und die Verdrängung der Wohnbevölkerung«. In: Kesckes, Robert/Wagner, Michael/Wolf, Christof (2004) (Hg.): Angewandte Soziologie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 21-44.
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Butler, Tim/Hamnett, Chris/Ramsden, Mark J. (2013): »Gentrification, education and exclusionary displacement in East London«. International Journal of Urban and Regional Research 37 (2), S. 556-575 Gale, Dennis (1985): »Demographic Research on Gentrification and Displacement«. Journal of Planning Literature 1 (1), S. 14-29. Glass, Ruth (1964): »Introduction: aspects of change«. In: Centre for Urban Studies (Hg.): London: Aspects of Change. London: MacKibbon and Kee, S. xiii–xlii. Hamnett, Chris (2003): »Gentrification and the Middle-class Remaking of Inner London, 1961-2001«. Urban Studies 40 (12), S. 2401-2426. Helbrecht, Ilse (1996): »Die Wiederkehr der Innenstädte. Zur Rolle von Kultur, Kapital und Konsum in der Gentrification«. Geographische Zeitschrift 84 (1), S. 1-15. Helbrecht, Ilse (2009): »›Stadt der Enklaven‹ – Neue Herausforderungen der Städte in der globalen Wissensgesellschaft«. In: Neues Archiv für Niedersachsen. Zeitschrift für Stadt-, Regional- und Landesentwicklung (2), S. 217. Henig, Jeffrey R. (1980): »Gentrification and displacement within cities: a comparative Analysis«. Social Science Quarterly 61 (3/4), S. 638-652. Holm, Andrej (2010): »Wir Bleiben Alle. Gentrifizierung – Städtische Konflikte um Aufwertung und Verdrängung«. Münster: Unrast-Verlag. Lees, Loretta/Shin, Hyun Bang/López-Morales, Ernesto (2016): »Planetary Gentrification«. Cambridge, Malden: Polity Press. Lefèbvre, Henri (1990): »Die Revolution der Städte«. Frankfurt am Main: Verlag Anton Hein Meisenheim. Ley, David (1996): »The New Middle Class and the Remaking of the Central City«. Oxford: Oxford University Press. Ley, D./Teo, S.Y. (2014): »Gentrification in Hong Kong? Epistemology vs. ontology«. International Journal of Urban and Regional Research 38(4), S. 1286-1303 Marcuse, Peter (1985): »Gentrification, Abandonment, and Displacement: Connections, Causes, and Policy Responses in New York City«. Journal of Urban and Contemporary Law 28 (1), S. 195–240. Newman, Kathe/Wyly, Elvin K. (2006): »The right to stay put, revisited: gentrification and resistance to displacement in New York« City. Urban Studies 43 (1), S. 23-57. Shaw, Kate S./Hagemans, Iris W. (2015): »›Gentrification without displacement‹ and the consequent loss of place: the effects of class transition on low-
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income residents of secure housing in gentrifying areas«. International Journal of Urban and Regional Research 39 (2), S. 323-341. Slater, Tom (2006): »The eviction of critical perspectives from gentrification research«. International Journal of Urban and Regional Research 30 (4), S.737-757. Slater, Tom (2009): »Missing Marcuse. On gentrification and displacemen«t. City 13 (2), S. 292-311. Smith, Neil (2002): »New globalism, new urbanism. Gentrification as Global Urban Strategy«. Antipode 43 (3), S. 427-450.
Gentrification-Hotspots und Verdrängungsprozesse in Berlin Eine quantitative Analyse C HRISTIAN D ÖRING , K LAUS U LBRICHT
E INLEITUNG »Wir schaffen mehr bezahlbare Wohnungen für alle Berlinerinnen und Berliner. Dafür werden wir den Wohnungsbestand der landeseigenen Gesellschaften auf 300.000 erhöhen« (Wahlprogramm SPD 2011). Mit diesem Wahlversprechen zog die SPD 2011 in den Wahlkampf um den Berliner Senat. Es deutet auf ein Problem hin, welches sich in den letzten Jahren nicht nur in Berlin immer weiter verstärkt hat: eine zunehmend angespannte Situation auf dem Wohnungsmarkt. Gegenwärtig ist die Wohnungsmarktsituation in Berlin gekennzeichnet durch einen Nachfrageschub in allen Marktsegmenten und eine erhebliche Verknappung besonders im unteren Mietpreissegment (IBB 2012: 15ff.). Dies führt zu sinkenden Leerstandsquoten, höheren Mieten und einem, insbesondere in Innenstadtlagen verengten Angebot an bezahlbarem Wohnraum für einkommensschwächere Haushalte (Krajewski 2013: 22). Zudem steigen die Mietnebenkosten und erhöhen den finanziellen Druck auf die Berliner Mieter_innen (Fröhlich/Schönball 2012). Die Gründe für diese Entwicklungen sind vielfältiger Natur: Sowohl die Geburtenraten als auch der Wanderungssaldo entwickeln sich in Berlin positiv. In der Konsequenz wächst die Einwohnerzahl. Sie wird laut der mittleren Bevölkerungsprognose für 2030 um 254.000 Einwohner_innen ansteigen, vorausgesetzt die wirtschaftliche Entwicklung Berlins bleibt weiterhin positiv, Berlin festigt sein Image als attraktiver Wohn- und Arbeitsort und es werden neue Wohnungsangebote durch Wohnungsneubau bereitgestellt (SenStadtUm 2012a; SenStadt-
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Um 2012b). Darüber hinaus kann als globale Ursache für das Anwachsen der Bevölkerung in den Innenstädten ihre steigende wirtschaftliche Bedeutung und, bezogen auf die Wohnpräferenzen, ihre hohe Attraktivität für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen ausgemacht werden (Dangschat 1990: 69ff.; ausführlicher: Helbrecht 1996:16ff.). Die angesprochenen Prozesse und Entwicklungen führen jedoch nicht zu einer Gleichverteilung sozialer Gruppen in den Innenstädten, sondern vielmehr zu ihrer Fragmentierung entlang sozioökonomischer Merkmale (Krajewski 2013: 21). Es besteht die Gefahr, dass dies in einem Segregationsprozess mündet, der die sozioökonomisch Schwächeren der Gesellschaft von ihren bisherigen Wohnorten verdrängt, selbige gleichzeitig räumlich von Partizipationsprozessen ausschließt, die integrierende Funktion sozialer städtischer Mischung unterwandert und folglich auch als Exklusionsprozess betrachtet werden muss (Häußermann/Kronauer/Siebel 2004: 33). Helbrecht (2009) bezeichnet diese Gefahr einer sozial exkludierenden Entwicklung auf Basis räumlicher Segregationsprozesse als »Stadt der Enklaven«. An dieser Stelle ist der Begriff Gentrification unumgänglich. Gentrification ist zum Schlagwort geworden, wenn es um gravierende sozialräumliche Veränderungen innerhalb von Städten und Stadtquartieren geht. Die durch Aufwertungstendenzen induzierte Angst vor Mieterhöhungen sowie die Furcht vor der damit assoziierten Verdrängung von Seiten der Bewohner_innen, die Erwartung höherer Renditemöglichkeiten seitens der Investor_innen und Spekulant_innen und die Hoffnung auf den Zuzug sozioökonomisch starker Bewohner_innen zur Stabilisierung von Problemgebieten von Seiten der Politiker_innen laden den Begriff neben seiner wissenschaftlichen Bedeutung emotional auf (Sumka 1976: 480f.). Insbesondere die Angst vor Verdrängung veranlasst die Bewohner_innen, sich gegen geplante Projekte der Aufwertung zur Wehr zu setzen und zu protestieren, wie es der Widerstand der Initiative »Mediaspree versenken!« (http://www.ms-versenken.org/) oder der Mietergemeinschaft »I love Kotti« (siehe Scheer 2016 in diesem Band) zum Ausdruck bringt. Viel ist über die Ursachen und treibenden Kräfte der Aufwertung und ihre Akteure bekannt, hingegen bietet die negativ von diesem Prozess betroffene Gruppe der Verdrängten sowie ihre Rückzugsorte großes Potential für wissenschaftliche Untersuchungen (vgl. Helbrecht 2016 in diesem Band). Ziel dieser Arbeit1 ist es, die Orte der Verdrängung und die Zielgebiete der Verdrängten zu untersuchen. Dabei wird eine umfassende Analyse durchgeführt, die den gesamten Berliner Stadtraum betrachtet und sich methodisch an der
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Wir danken Felix Czarnetzki für seine tatkräftige Unterstützung in der konzeptionellen Phase und bei der Datensichtung und -sammlung für die vorliegende Arbeit.
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Arbeit von Atkinson et al. (2011) orientiert. Anhand einer statistischen Sekundäranalyse und einer Migrationsanalyse wird versucht, folgende Forschungsfragen zu beantworten: • In welchen Gebieten Berlins sind die Aufwertungsprozesse am intensivsten? • Was sind dementsprechend mögliche Orte der Verdrängung? • Welches sind die Zielgebiete möglicher Verdrängung und kann eine Verdrängung an den Stadtrand Berlins nachgewiesen werden?
B EGRIFFSKLÄRUNG G ENTRIFICATION UND V ERDRÄNGUNG Gentrification Es gibt in der wissenschaftlichen Literatur eine Vielzahl verschiedener, sich ergänzender oder sich z.T. widersprechender Definitionen von Gentrification, die je nach Lage des Erkenntnisinteresses ihre jeweiligen Schwerpunkte setzen (Friedrichs 1996: 13ff.). Sie reichen von sehr einfachen und reduzierten Begriffsbestimmungen, die nur ein zentrales Element benennen bis hin zu holistischen Definitionen, die den Versuch unternehmen Gentrification in allen Dimensionen zu erfassen (Glatter 2007: 7). Die vorliegende Arbeit betrachtet Gentrification als einen mehrdimensionalen, mehrstufigen Aufwertungsprozess von Stadtquartieren und reiht sich damit in die Kategorie der holistischen Definitionen ein. Die vier Dimensionen sind bauliche, soziale, funktionale und symbolische Aufwertung (Glatter 2007: 7; Krajewski 2013: 23). Dem Aspekt der sozialen Aufwertung wird hierbei eine konstitutive Rolle zugeschrieben, auf die andere Autor_innen den GentrificationBegriff legitimerweise reduzieren: die Verdrängung von statusniedrigeren durch statushöhere Bevölkerungsgruppen (Helbrecht 1996: 3; Friedrichs 1996: 14; Holm 2010: 7; Marcuse 1985: 198f.). Einige Autoren benutzen den neutralen Begriff »Austausch« anstelle von Verdrängung und ziehen diesen Gesichtspunkt als konstituierendes Element von Gentrification in Zweifel (Glatter 2007: 8f.; Holm 2010: 7). Die Ausweisung der vier Dimensionen von Gentrification stellt den ersten Teilschritt des Versuches dar, die verschiedenen Teilvorgänge entlang des Gentrification-Prozesses zu strukturieren. Die soziale Aufwertung subsumiert die Prozesse des Bewohneraustausches und die sich daraus ergebenden Folgen für das betrachtete Gebiet hinsichtlich der sozialen und demographischen Struktur. Die bauliche Dimension umfasst die Prozesse der Erneuerung und Aufwertung
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der vorhandenen Bausubstanz durch Sanierungsmaßnahmen, die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen und die Verbesserung der Wohninfrastruktur. Die funktionale Aufwertung beleuchtet die sich ändernden gewerblichen Strukturen innerhalb eines Quartiers, insbesondere die Ansiedlung hochwertiger Dienstleistungs- und Einzelhandelsunternehmen, Flag-ship-Stores2, Gastronomie sowie kultureller Einrichtungen. Die symbolische Aufwertung bezieht sich auf das Image, welches durch Politik, Bewohnerschaft, Wirtschaft, Kultur, Tourismus und Medien erzeugt und vermittelt wird (Krajewski 2013: 25; Holm 2010: 9). Das Konzept des Phasenverlaufes stellt den zweiten Teilschritt des Versuches der Strukturierung der Teilprozesse von Gentrification dar. Dem sehr vereinfachten Idealtypus entsprechend, verläuft der Aufwertungsprozess in einem doppelten Invasions-Sukzessions-Zyklus. Im Ersten Schritt ziehen Pioniere, in der Regel Studierende, Künstler_innen und Menschen mit hohem Maß an kulturellem Kapital in ein Wohnquartier und verdrängen einen Anteil alteingesessener Bevölkerungsgruppen bzw. beziehen den vorhandenen Leerstand. In einem zweiten Schritt folgen die Gentrifier, zumeist Menschen mit viel ökonomischem Kapital und verdrängen wiederum Alteingesessene und auch Pioniere (Helbrecht 1996: 5; Friedrichs 1996: 16; Holm 2010: 9ff.). Das Modell ist hinlänglich kritisiert worden. Die Hauptargumente richten sich sowohl gegen die strikte Abfolge der Phasen als auch die unzureichende Beschreibung der Trägergruppen des Gentrification-Prozesses, der Pioniere und Gentrifier (Helbrecht 1996: 5ff.; Friedrichs 1996: 16f.). Allerdings hat sich an dieser Stelle bisher kein alternatives Modell hervorgetan, Gentrification in zeitlichen Abläufen mit den beteiligten Akteuren besser zu modellieren. Aus diesem Grund wird auf das Modell des doppelten Invasions-Sukzessions-Zyklus als ausdrücklich vereinfachter Darstellung des Gentrification-Prozesses hier zurückgegriffen. Verdrängung Der Begriff der Verdrängung muss im Zusammenhang mit Gentrification gedacht werden. Nach Grier/Grier (1978) wird von Verdrängung gesprochen, »when any household is forced to move from its residence by conditions that affect the dwelling or its immediate surroundings, and that: 1) are beyond the household’s reasonable ability to control or prevent; 2) occur despite the house-
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Flagship-Store: »Repräsentatives Geschäft einer Kette, das durch Produkte, Design und Service die hinter der Marke stehende Philosophie vermitteln soll.« (Duden 2009).
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hold’s having met all previously imposed conditions of occupancy; and 3) make continued occupancy by that household impossible, hazardous, or unaffordable« (Grier/Grier 1978 zit. nach Marcuse 1985: 205). Neben der Definition des Begriffs Verdrängung ist es wichtig, die am stärksten gefährdeten Gruppen zu identifizieren. Atkinson et al. (2011) weisen in ihrer Studie zur Messung von Gentrification und Verdrängung in Melbourne und Sydney Gruppen aus, die sie als am gefährdetsten betrachten. Zu diesen zählen Haushalte mit nur einer beschäftigten Person in einem einfachen Beschäftigungsverhältnis, Haushalte älterer Personen im Ruhestand und Arbeitslose unter 65 Jahren (ebd.). Dies findet Übereinstimmung mit den in der weiteren wissenschaftlichen Literatur häufig als Verdrängte von Gentrification genannten Personengruppen, wobei wenig differenziert auch allgemein von »lower income groups« (Sumka 1976: 485), also ärmeren Haushalten (Holm 2011: 18) die Rede ist.
M ETHODIK Für die Vorgehensweise zur Beantwortung unserer Forschungsfragen stellen die Arbeiten von Atkinson (2000) und Atkinson et al. (2011) den entscheidenden methodischen Anstoß dar. Um Verdrängung zu messen führen Atkinson et al. (2011) eine zweistufige Analyse durch, in der zunächst die Ausweisung von Gentrification-Gebieten vorgenommen wird, um in einem zweiten Schritt, mittels einer Migrationsanalyse, Zielgebiete von Verdrängung zu identifizieren. In dieser Arbeit werden diese beiden methodischen Schritte übernommen und modifiziert. Im ersten Schritt erfolgt eine Indikatoren- und Index-gestützte Analyse des Berliner Stadtgebiets, um die Orte intensivster Gentrification zu lokalisieren. Im zweiten Schritt schließt sich daran eine Migrationsanalyse eines Gebietes an, welches laut der berechneten Indices besonders von Gentrification und dementsprechend vermutlich auch von Verdrängung betroffen ist. Wir verwenden die 60 Berliner Prognoseräume als räumliche Bezugsebene. Um das Ausmaß von Gentrification richtig einschätzen zu können, muss der Vergleich zwischen allen städtischen Teilgebieten durchgeführt werden. Aus diesem Grund werden alle 60 Prognoseräume betrachtet (vgl. Friedrichs 1996: 35).
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Indikatoren und Indexbildung Um den mehrdimensionalen Begriff Gentrification methodisch erfassen zu können, ist es notwendig bei der Untersuchung mehr als einen Indikator zu betrachten. Durch die Bildung von mehreren Indices können die Indikatoren zusammengefasst und strukturiert ausgewertet werden (Schnell/Hill/Esser 1999: 160). In dieser Arbeit werden deshalb drei additive, sich an den Dimensionen von Gentrification orientierende Indices gebildet. Zur Beurteilung von Gentrification-Prozessen ist es bei der Auswahl der Indikatoren wichtig, neben sozioökonomischen Aspekten auch demographische und wohnungswirtschaftliche Aspekte zu integrieren (Friedrichs 1996: 21; Holm 2010: 62). Zu diesem Zweck werden folgende Indikatoren herangezogen: 1. Durchschnittliches Wanderungsvolumen 2006 bis 2009 (SenStadt 2006 und 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
2011a), Anteil der Bewohner_innen mit mindestens 5-jähriger Wohndauer 2005 bis 2010 (SenStadt 2011b), Entwicklung der Altersgruppe der 18- bis 35-Jährigen 2007 bis 2011 (StatISBBB 2013), Entwicklung der Altersgruppe der 35- bis 45-Jährigen 2007 bis 2011 (StatISBBB 2013), Entwicklung der Zahl der Langzeitarbeitslosen 2006 bis 2009 (SenStadt 2007a und 2010), Entwicklung des Ausländeranteils 2006 bis 2011(Senstadt 2007b und StatISBBB 2013), Entwicklung der Kaufkraft 2008 bis 2011 (GSW Immobilien AG 2009, 2012), Entwicklung der Kaltmiete bei Neuvermietung 2008 bis 2011 (GSW Immobilien AG 2009, 2012), Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen 2005 bis 2010 (SenStadt 2011b).
Aus den erhobenen Daten wird für jeden Indikator und jeden Prognoseraum eine prozentuale Veränderung gegenüber dem jeweiligen Ausgangsjahr berechnet. Aus den Veränderungsprozenten aller Prognoseräume Berlins wird der Berliner Durchschnitt gebildet. Für die Übertragung der Veränderungsprozente in Punkte wird der Berliner Durchschnittswert als Orientierung für 0 Punkte herangezogen (Abb. 1). Die Zuweisung von positiven Punktwerten orientiert sich an der Entwicklung eines Indikators, der für Gentrification spricht.
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Abbildung 1: Methode der Punktebildung
Quelle: eigene Darstellung
Die Indikatoren werden durch Addition der jeweiligen Punkte zu drei Indices zusammengefasst. Es werden der Index für Mobilität I (M) aus den o.g. Indikatoren (1) und (2), der Index zur Änderung der Bevölkerungsstruktur I (B) aus den Indikatoren (3) bis (7) und der wohnungswirtschaftliche Index I (W) aus den Indikatoren (8) und (9) gebildet, um die Veränderungen getrennt voneinander betrachten zu können. Die Indices orientieren sich an den in Kapitel 2.1 benannten Dimensionen von Gentrification. Die beiden letztgenannten Dimensionen, die funktionale und die symbolische Aufwertung, können hierbei jedoch nicht betrachtet werden, da die symbolische Aufwertung nicht durch eine sekundärstatistische Analyse erfassbar ist und für die funktionale Aufwertung keine Daten auf kleinräumiger Bezugsebene verfügbar sind. Die Ergebnisse werden in Karten dargestellt, die mit Hilfe der Software ArcGIS erstellt wurden. Die Daten für die Kartengrundlagen entstammen der Geo-Datenbank des GIS-Servers des Geographischen Instituts der HumboldtUniversität zu Berlin. Migrationsanalyse Die Migrationsanalyse wird für den Prognoseraum Kreuzberg Ost unter Benutzung von Daten der DEGEWO3 durchgeführt, die im genannten Gebiet über Wohnungsbestände verfügt. Die Auswahl des Prognoseraumes begründet sich in den Ergebnissen der Indices zur Gentrification und der Datenverfügbarkeit. Es werden die zuziehenden und die wegziehenden Haushalte zahlenmäßig erfasst. Bei den Wegziehenden werden die Zielorte bestimmt und in Karten dargestellt. Dabei werden durch die Untersuchung auf Postleitzahl-Ebene auch kleinräumige Veränderungen erfasst.
3
Die DEGEWO ist eines der führenden Wohnungsunternehmen in Berlin. Wir danken der DEGEWO für die Aufarbeitung und Überlassung der Daten.
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AUSWERTUNG
DER I NDICES
Durch die thematische Strukturierung der Indikatoren in drei Indices können die sich überlagernden Vorgänge des komplexen Gentrification-Prozesses differenziert betrachtet und interpretiert werden. Auswertung des Indexes zur Mobilität I(M) Der in Abbildung 2 dargestellte Index zur Mobilität I(M) ist ein Maß für die Umzugstätigkeit innerhalb eines Prognoseraumes. In seine Berechnung fließen folgende Indikatoren ein: 1. Durchschnittliches Wanderungsvolumen 2004 bis 2009: Gebiete mit den
meisten An- und Abmeldungen im Einwohnerregister haben die größte Punktezahl. 2. Anteil der Bewohner_innen mit mindestens fünfjähriger Wohndauer 2005 bis 2010: Gebiete mit dem geringsten Anteil haben die höchste Punktezahl. Abbildung 2: Index zur Mobilität I(M)
Quelle: eigener Entwurf auf Grundlage eigener Berechnungen
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Die Gebiete mit den höchsten I(M)-Werten sind Neukölln, Wedding und Friedrichshain Ost. Über eine hohe Mobilität verfügen auch Zentrum, Kreuzberg Ost und Süd, Moabit, Gesundbrunnen, Nördl. und Südl. Prenzlauer Berg sowie Treptow-Köpenick 2. Die Prognoseräume der dritten Kategorie weisen mit einem I(M) von eins bis drei Punkten immer noch eine überdurchschnittliche Mobilität bezogen auf den Mittelwert von 0,7 Punkten auf. Dazu gehören u.a. Kreuzberg Nord, Friedrichshain West, Schöneberg Nord und Süd, CW (CharlottenburgWilmersdorf) 3, Reinickendorf Ost, Pankow und Lichtenberg. Der Mobilitätsindex bildet ein Zentrum-Peripherie-Gefälle in der Mobilität der Bevölkerung ab, d.h. die Mobilität ist in der Regel in der Innenstadt höher als am Stadtrand. Die Gründe dafür liegen in dem höheren Bestand an Mieter_innen in Innenstadtlage im Vergleich zu (Haus-)Besitzer_innen in Stadtrandlage und in der demographischen Struktur der Prognoseräume. Mobilität ist ein wichtiges Zeichen für Veränderungen in einem Gebiet (Atkinson et al. 2011: 2), sagt aber noch nichts über die Richtung der Veränderung aus. Gentrification ist im Sinne von Aufwertung und Verdrängung vor allem mit einer Erhöhung des Einkommens und des Status der Bevölkerung verbunden. Auswertung des Indexes zur Veränderung der Bevölkerungsstruktur I(B) Abbildung 3: Index zur Änderung der Bevölkerungsstruktur I(B)
Quelle: eigener Entwurf auf Grundlage eigener Berechnungen
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Der Index zur Änderung der Bevölkerungsstruktur I(B) ist ein Maß für die sozioökonomischen und demographischen Veränderungen der Bevölkerung eines Gebiets in Richtung Gentrification (Abb. 3). Dabei gehen sowohl Veränderungen durch Zu- bzw. Wegzüge als auch Veränderungen in der Bestandsbevölkerung ein (z.B. bei Verringerung der Arbeitslosigkeit oder steigendem Einkommen). Der Index wird aus folgenden Indikatoren gebildet: 3. Entwicklung der Altersgruppe der 18- bis 35-Jährigen 2007 bis 2011: Gebie-
4. 5. 6. 7.
te mit der stärksten Erhöhung des Anteils dieser Altersgruppe haben die höchste Punktezahl. Entwicklung der Altersgruppe der 35- bis 45-Jährigen 2007 bis 2011: Gebiete mit dem höchsten Zuwachs dieser Altersgruppe haben die meisten Punkte. Entwicklung der Zahl der Langzeitarbeitslosen 2006 bis 2009: Gebiete mit der größten Verringerung haben die meisten Punkte. Entwicklung des Ausländeranteils 2006 bis 2010: Gebiete mit der größten Verringerung haben die höchste Punktezahl. Entwicklung der Kaufkraft 2008 bis 2011: Gebiete mit dem höchsten Zuwachs haben die meisten Punkte.
Das Gebiet mit den stärksten Veränderungen ist Gesundbrunnen. Zur zweiten Kategorie gehören Kreuzberg Nord und Ost, Neukölln, Moabit und Wedding, zur dritten der Nördl. Prenzlauer Berg, Kreuzberg Süd und Schöneberg Nord. Friedrichshain Ost und etwas ausgeprägter Südl. Prenzlauer Berg haben hingegen unterdurchschnittliche bzw. geringe Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur aufzuweisen. Auswertung des Wohnungswirtschaftlichen Indexes I(W) Als ein Maß für die Veränderung der wohnungswirtschaftlichen Situation dient der Wohnungswirtschaftliche Index I(W) (Abb. 4). Er zeigt einerseits an, dass sich die Bedingungen für private Investitionen verbessern, und dass sich andererseits gerade dadurch die Bedingungen für Haushalte mit geringem Einkommen verschlechtern.
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Abbildung 4: Wohnungswirtschaftlicher Index I(W)
Quelle: eigener Entwurf auf Grundlage eigener Berechnungen
Der Index enthält folgende Indikatoren: 8. Entwicklung der Kaltmiete bei Neuvermietung 2008 bis 2011:
Gebiete mit der stärksten Erhöhung der Neuvermietungsmiete haben die höchste Punktezahl. 9. Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen 2005 bis 2010: In Gebieten mit der höchsten Punktezahl ist der Anteil der Wohnungen, die von Miet- in Eigentumswohnungen umgewandelt wurden, am größten. Den höchsten Wert weist Kreuzberg Süd auf. Überdurchschnittliche Werte – der Mittelwert liegt bei 1,3 Punkten – weisen auch Kreuzberg Ost, Zentrum, Friedrichshain Ost und West, Nördl. und Südl. Prenzlauer Berg, Moabit, Schöneberg Süd, Friedenau, Neukölln, Lichtenberg Nord und Buch auf. Im Durchschnitt befinden sich Kreuzberg Nord und Gesundbrunnen, darunter liegt Wedding. Schlussfolgerungen In Tabelle 1 sind die Rangfolgen der Prognoseräume für die drei Indices I(M), I(B) und I(W) dargestellt. Zur vertieften Betrachtung räumlich differenzierter
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Aufwertungsphasen im Untersuchungszeitraum 2007 bis 2011 werden diejenigen Prognoseräume ausgewählt, die von den drei Indices mindestens einen mit hohem Wert (Rang 1 bis 8) aufweisen und die innerhalb des bzw. am Berliner SBahn-Ring liegen – und damit also in jenem Bereich, der von Stadtforscher_innen in Berlin als ›innere Stadt‹ bezeichnet wird. Tabelle 1: Rangfolge der Indices I(M), I(B) und I(W)
Quelle: eigene Darstellung
Diese Prognoseräume sind in Tabelle 2 aufgeführt. Zur Differenzierung der Aufwertungsphasen werden folgende Gruppierungen gebildet:
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a) Anfangsphase der Aufwertung: frühe Pionierphase Diese Aufwertungsphase ist gekennzeichnet durch hohen I(B), mittleren bis geringen I(W) bei hohem bis mittlerem I(M). Es handelt sich um eine starke Veränderung der Bevölkerungsstruktur bei starker bis mittlerer Mobilität und um die schwächste Veränderung der wohnungswirtschaftlichen Rahmenbedingungen innerhalb der in Tabelle 2 betrachteten Gebiete. Zu den Prognoseräumen dieser Gruppierung gehören Gesundbrunnen, Kreuzberg Nord, Wedding und Schöneberg Nord. Diese Gebiete befinden sich in einer frühen Aufwertungsphase, die wir als frühe Pionierphase bezeichnen. Die Zuwanderung von Pionieren unter Verdrängung statusniedriger Haushalte ist wahrscheinlich, wobei Mieterhöhungen und Eigentumsbildungen noch nicht so weit fortgeschritten sind. Für Schöneberg Nord gilt das sicher noch in abgeschwächter Form, da die Veränderung der Bevölkerungsstruktur dort nicht ganz so hoch ist. b) Mittlere Aufwertungsphase: Pionier- bis Gentrifier-Phase Bei dieser Aufwertungsphase liegt ein hoher I(B) und hoher I(W) bei hohem bis mittlerem I(M) vor. Diese Gebiete sind durch starke Veränderung der Bevölkerungsstruktur und der wohnungswirtschaftlichen Rahmenbedingungen bei starker bis mittlerer Mobilität gekennzeichnet. Die starke Veränderung der Bevölkerungsstruktur spricht für die Zuwanderung von Pionieren und die starke Veränderung von I(W) in Richtung Mieterhöhungen und Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen ist ein Hinweis auf den Zuzug von besserverdienenden Gentrifier-Haushalten. Der Aufwertungszustand in diesen Gebieten reicht im Untersuchungszeitraum 2007 bis 2011 also von der Pionierphase bis zu einer beginnenden Gentrifier-Phase. Die Zuwanderung von Pionieren und Gentrifiern unter Verdrängung von einkommensschwachen Haushalten mit niedrigem Status ist hier wahrscheinlich. Die Prognoseräume, für die das zutrifft, sind folgende: Neukölln, Moabit, Kreuzberg Ost, Nördlicher Prenzlauer Berg und Kreuzberg Süd. Eine Differenzierung zwischen diesen Gebieten ist schwierig, aus der Abstufung von I(B) könnte folgen: Neukölln, Moabit und Kreuzberg Ost befinden sich eher in der Pionierphase, Nördlicher Prenzlauer Berg und Kreuzberg Süd eher in der Gentrifierphase.
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Tabelle 2: Aufwertungsphasen der Prognoseräume 2007 bis 2011
hoch: Rang 1 bis 8; mittel: Rang 9 bis 20; gering: Rang 21 und größer Quelle: eigene Darstellung
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c) Spätere Aufwertungsphase: Gentrifier-Phase bis Super-Gentrification Für diese Aufwertungsphase gilt mittlerer bis geringer I(B) und hoher I(W) bei hohem I(M). Im Vergleich zu den anderen Gruppierungen findet hier trotz starker Mobilität die schwächste Veränderung der Bevölkerungsstruktur statt bei starker Veränderung der wohnungswirtschaftlichen Rahmenbedingungen bezüglich Mieterhöhungen und Eigentumsbildungen. Das trifft für folgende Prognoseräume zu: Zentrum, Friedrichshain Ost und Südlicher Prenzlauer Berg. Der Aufwertungszustand in diesen Gebieten befindet sich teilweise in der Gentrifier-Phase und teilweise bereits in der Phase der Super-Gentrification (Lees 2003, zit. nach Holm 2011: 218). In dieser späten Phase der Gentrification kommt es zur Verdrängung von Haushalten mit mittlerem bis hohem Einkommen durch Haushalte mit sehr hohem Einkommen und hohem Status. Das gilt besonders für Friedrichshain Ost und den Südlichen Prenzlauer Berg, die die geringste Veränderung der Bevölkerungsstruktur aufweisen. d) Prognoseräume, die nicht eindeutig zuzuordnen sind Friedrichshain West und Schöneberg Süd. Diese Gebiete sind durch mittleren I(B) und hohen I(W) bei mittlerem I(M) gekennzeichnet. Derartige Indexwerte können eine Migration in kleinerem Umfang, die die Bevölkerungsstruktur nicht stark verändert, und starke Mieterhöhungen und Eigentumsbildungen bedeuten. Eine Zuordnung zu einer Gentrification-Phase ist nicht möglich.
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Abbildung 5: Aufwertungsphasen 2007 bis 2011
Quelle: eigene Darstellung
In Abbildung 5 sind die Aufwertungsphasen 2007 bis 2011 noch einmal bildlich zusammengefasst. Hier wird auch deutlich, dass die drei Prognoseräume Kreuzbergs einen unterschiedlichen Veränderungsstand haben, wobei der Grad der Gentrification von Kreuzberg Nord über Kreuzberg Ost nach Kreuzberg Süd steigt. Kreuzberg ist auch Gegenstand tiefergehender Untersuchungen von Arbeiten in diesem Band. Folgt man Holms Analyse der Gentrification in Berlin, so vollzieht sich der Prozess zeitlich wellenartig und räumlich im Uhrzeigersinn eines Aufwertungszirkels (Holm 2011: 215f.). Demnach verlagert sich die Pionierphase der Gentrification ausgehend von Kreuzberg (1987) über Mitte (1992), den Prenzlauer Berg (1997), Friedrichshain (2002) nach Neukölln (2007) und erfasst zuletzt das bereits modernisierte Kreuzberg (ebd.). Darüber hinaus identifizieren wir für
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unseren Untersuchungszeitraum von 2007 bis 2011 die Gebiete Moabit, Wedding, Gesundbrunnen und Schöneberg Nord als von Gentrification betroffen und gehen somit über den von Holm beschriebenen Aufwertungszirkel hinaus. Dementsprechend muss dieser ergänzt und zu einer Aufwertungsspirale erweitert werden, wie in Abbildung 6 dargestellt. Abbildung 6: Berliner Aufwertungsspirale
Quelle: eigene Darstellung, verändert nach Holm 2011
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M IGRATIONSANALYSE Um die bisherigen Ergebnisse aus den Gebietsdaten durch Betrachtung der Zuund Wegziehenden zu vertiefen und der Frage nachzugehen, wohin die Verdrängten ziehen, wird ein Gebiet mit hohen Werten bei allen drei Indices, in dem folglich Aufwertung und Verdrängung wahrscheinlich sind, genauer untersucht. Verwendet werden Daten der städtischen Wohnungsgesellschaft DEGEWO, die im Prognoseraum Kreuzberg Ost am Mariannenplatz im Postleitzahlgebiet 10997 über 1.128 Wohnungen verfügt. Von 2006 bis 2011 sind durchschnittlich pro Jahr 125 Haushalte zugezogen und 110 Haushalte weggezogen, der Leerstand konnte von 4,3 auf 0,6% verringert werden. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die DEGEWO als städtische Gesellschaft bei der Betreuung der Mieter_innen und bei der Vermietung von Wohnungen nach Regelungen verfährt, die ihr vorgegeben sind (z.B. die Berücksichtigung von Wohnberechtigungsscheinen). Ihre Vermietungsstrategie unterscheidet sich folglich von der privater Vermieter_innen im Gebiet. Die Erhöhung der Mieten bei Neuvermietungen ist beispielsweise wesentlich moderater als im Gebiet üblich: die Nettokaltmiete pro m² bei Neuvermietung liegt bei der DEGEWO in Kreuzberg Ost 2008 bei 5,36 € und 2011 bei 5,77 €, der Gebietsdurchschnitt liegt bei 6,25 € für 2008 und bei 7,77 € (von 5,05 € bis 11,74 €) für 2011. Es gibt in Kreuzberg Ost aber auch Wohnungen, die mit einer geringeren Neuvermietungsmiete angeboten werden als bei der DEGEWO (GSW Immobilien AG 2009, 2012). Da nur sehr wenige Haushalte von Kreuzberg Ost innerhalb des DEGEWOBestandes umgezogen sind (2011 waren es nur zwei Haushalte), können wir davon ausgehen, dass die Zielorte der Wegziehenden von der Wohnungsgesellschaft praktisch nicht beeinflusst werden. Zielgebiete der Wegziehenden aus den DEGEWO-Beständen in Kreuzberg Ost 2006 bis 2011 Von 2006 bis 2011 sind insgesamt 660 Haushalte aus dem DEGEWO-Bestand in Kreuzberg Ost weggezogen. Die Haushalte sind über die Jahre gemittelt zu 90,9% in Berlin geblieben, 5,2% sind in alte Bundesländer, 2,0% in neue Bundesländer und 1,9% ins Ausland gezogen. Für die Umzüge innerhalb Berlins lagen die Postleitzahlen der Zielgebiete vor. In den Abbildungen 7 und 8 sind die Zielgebiete innerhalb Berlins zum einen auf Prognoseraumebene und zum anderen kleinräumiger für die Postleitzahlgebiete dargestellt.
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Abbildung 7: Zielgebiete der Wegziehenden aus dem Wohnungsbestand der DEGEWO in Kreuzberg Ost (2006 bis 2011) in %
Quelle: eigener Entwurf nach Daten der DEGEWO
Die hauptsächlichen Ziel-Prognoseräume sind: Kreuzberg Ost (38,4%), Kreuzberg Nord (14,5%) und Neukölln (8,9%). In die Prognoseräume mit jeweils 1,01 bis 5,0% ziehen insgesamt 25,8% der Wegziehenden und in die Prognoseräume mit jeweils 0,01 bis 1,0% insgesamt 12,4%.
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Abbildung 8: Zielgebiete der Wegziehenden aus dem Wohnungsbestand der DEGEWO in Kreuzberg Ost(2006 bis 2011)in % auf Ebene der Postleitzahlgebiete
Quelle: eigener Entwurf nach Daten der DEGEWO
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Bei der Betrachtung der Wegzüge auf der Ebene der Postleitzahl-Gebiete ergeben sich folgende Prozentwerte (Abb. 8): Kreuzberg Ost Kreuzberg Nord
PLZ 10997 PLZ 10999 PLZ 10969
29,8% 8,6% 12,5%
Das bedeutet, rund 30% der wegziehenden Haushalte sind in demselben Postleitzahl-Gebiet geblieben. In Kreuzberg Nord ist das Gebiet mit der PLZ 10969 das bevorzugte Zielgebiet. In diesem Gebiet wurden 2011 Wohnungen mit einer durchschnittlichen Kaltmiete von 6,40 € pro m² (von 4,82 bis 10,36 €) angeboten (GSW Immobilien AG 2012). Insgesamt zeigt sich, dass Haushalte, die umziehen – verdrängt oder nicht verdrängt –, in relativ großem Umfang im Stadtteil und in benachbarten Stadtteilen bleiben. Dabei spielen günstige Mietangebote offensichtlich eine entscheidende Rolle. Häufiges Umziehen an den Stadtrand kann nicht nachgewiesen werden, da nur insgesamt 10,5% der wegziehenden Haushalte in am Stadtrand gelegene Prognoseräume ziehen. Davon vereinen allein die am Stadtrand des Bezirks Neukölln gelegenen Prognoseräume Gropiusstadt (2,6%), Britz/Buckow (1,6%) und Buckow Nord/Rudow (1,3%) 5,5% auf sich. In die übrigen am Stadtrand gelegenen Prognoseräume ziehen insgesamt 5% der wegziehenden Haushalte.
Z WISCHENFAZIT M IGRATIONSANALYSE Die hohe Mobilität im Prognoseraum Kreuzberg Ost, die sich aus den Gebietsdaten ergibt, wird am Beispiel der DEGEWO-Wohnungen in Kreuzberg Ost durch die hohe Zahl der Zu- und Wegzüge bestätigt. Gentrification wird als ein »stadtteilbezogener« Prozess (Helbrecht 1996: 3) beschrieben, wobei die Frage, wie groß der »Stadtteil« ist, bisher nicht beantwortet wurde. Wir finden am Beispiel der DEGEWO-Mieter_innen, dass über 50% der wegziehenden Haushalte nicht weiter als zwei Kilometer entfernt eine neue Wohnung beziehen (Abb. 7 und Abb. 8: Umzüge innerhalb von Kreuzberg Ost und nach Kreuzberg Nord). Weitere 10% bleiben innerhalb von nur fünf Kilometern (Abb. 7 und Abb. 8: Umzüge nach Neukölln). Über 20% der Wegziehenden bleiben sogar in ihrem Postleitzahlgebiet (Abb. 8). Gentrification und Verdrängung sind also in beträchtlichem Umfang bisher kleinräumige Prozesse. Möglicherweise sind die Postleitzahlgebiete für die Untersuchung dieser Prozes-
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se noch zu groß. Holm (2010: 62) weist auch bei der Darlegung der methodischen Probleme von bisherigen Verdrängungsanalysen unter anderem darauf hin, dass die Umzüge in die nähere Umgebung nicht berücksichtigt werden. Atkinson definiert in Melbourne und Sydney Gentrification-Gebiete mit einem Durchmesser von etwa fünf Kilometern (Atkinson et al. 2011: 18f.). Er untersucht die aus diesen Gebieten wegziehenden Haushalte, aber nicht die Umzüge innerhalb der »G locations«. Dabei ziehen je nach Haushaltstyp (z.B. Mieter mit und ohne Arbeit, Wohnungseigentümer) 40 bis 60% in benachbarte Gebiete und 14 bis 27% in Melbourne bzw. 4 bis 12% in Sydney an den Stadtrand (ebd.: 30, 36). Von den wegziehenden DEGEWO-Haushalten zieht nur ein geringer Anteil von insgesamt etwa 10% (60 von 600 Haushalten) in die 24 Prognoseräume, die am Stadtrand von Berlin liegen. Eine Häufung gibt es lediglich im Prognoseraum Gropiusstadt mit 2,6%, wo die Zuziehenden offensichtlich eine ähnliche Nachbarschaft finden wie in Kreuzberg Ost.
F AZIT
UND
AUSBLICK
Wo findet Gentrification in Berlin derzeit am intensivsten statt? Und in welche Gebiete werden die Verdrängten hinein verdrängt? Um diese Fragen zu beantworten, betrachteten wir die Veränderungsprozesse von 2007 bis 2011 auf der Basis von Gebietsdaten für alle Prognoseräume Berlins. Die Werte für die Veränderungen der Indikatoren wurden jeweils auf den Berliner Durchschnitt bezogen und die Indikatoren zu drei Indices zusammengefasst: für Mobilität, für Veränderung der Bevölkerungsstruktur und für Veränderung der wohnungswirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Dadurch sind Gebiete mit überdurchschnittlichen Aufwertungstendenzen in unterschiedlichen Stadien im Prozess von Gentrification und damit die wahrscheinlichsten Gebiete der Verdrängung identifiziert worden (Abb. 5). Dazu gehören die Prognoseräume Neukölln, Kreuzberg Ost und Kreuzberg Nord. Erstmals für Berlin werden in der vorliegenden Arbeit auch intensive Aufwertungsprozesse für Moabit, Wedding, Gesundbrunnen und in geringerem Maß für Schöneberg Nord nachgewiesen. Diese Gebiete gehen deutlich über den bisher von Andrej Holm beschriebenen Aufwertungszirkel Berlins hinaus, der für die räumliche Verlagerung von Pionierphasen der Gentrification in Berlin bisher nur Stadtquartiere in Mitte, Prenzlauer Berg, Friedrichshain, Nordneukölln und Kreuzberg einschließt (Holm 2011: 214; Krajewski 2013: 25). Demzufolge erweitern wir Holms Aufwertungszirkel zu einer, wie wir es nennen »Berliner Aufwertungsspirale« (Abb. 6). Weitergehende Untersu-
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chungen zu den Prognoseräumen Moabit, Wedding, Gesundbrunnen und Schöneberg Nord sind erforderlich, um die dortige frühe Pionierphase der Aufwertung genauer zu charakterisieren. Für eine spätere Aufwertungsphase, die durch die Errichtung von Luxuswohnanlagen und den Zuzug von stärker elitären und global vernetzten Personen mit sehr hohem Einkommen gekennzeichnet ist, finden wir hohe Werte für den wohnungswirtschaftlichen Index, ohne dass sich die Bevölkerungsstruktur noch stark verändert. Das trifft für die Gebiete Friedrichshain Ost, Südlicher Prenzlauer Berg sowie Zentrum zu. Diese Aufwertungsphase hat Holm (2011: 218) für Mitte und Prenzlauer Berg als Phase einer »Super-Gentrification« beschrieben. Für die Prognoseräume Kreuzbergs ergibt sich eine deutliche Differenzierung: der Grad der Gentrification steigt von Kreuzberg Nord über Kreuzberg Ost nach Kreuzberg Süd. Bei der Untersuchung der Bezirksdaten der 1990er Jahre wurden für Kreuzberg noch Abwertungs- und Aufwertungstendenzen gefunden (Krätke/Borst 2000: 263). Hier gibt es inzwischen deutliche Aufwertungen, die in den drei Teilräumen Kreuzbergs aber unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Durch eine differenzierte Migrationsanalyse für Wohnungsbestände des Unternehmens DEGEWO in Kreuzberg Ost haben wir in einem zweiten empirischen Schritt versucht, den Aufwertungsprozess, der aus der Veränderung der Gebietsdaten für den Prognoseraum Kreuzberg Ost insgesamt erkennbar ist, detaillierter bezüglich der damit verbundenen räumlichen Verdrängungsprozesse zu beschreiben. Dabei ergibt sich, dass über 50 Prozent der Wegziehenden nicht weiter als zwei Kilometer entfernt – also im Quartier oder in Nachbarquartieren – eine vermutlich preiswertere oder passendere Wohnung beziehen. Gentrification und Verdrängung sind demnach in erheblichem Umfang (noch) kleinräumige Prozesse. Die Menschen wollen in ihrer gewohnten Umgebung bleiben oder in ähnliche Nachbarschaften ziehen. Nur zu einem geringeren Prozentsatz ziehen Haushalte an einen entfernteren Ort in Berlin. Direkte Verdrängung von der Innenstadt an den Stadtrand in größerem Umfang kann nicht nachgewiesen werden. Dies kann jedoch zukünftig, bei weiter steigenden Miet- und Immobilienpreisen und einem zunehmend hochpreisigen innerstädtischen Wohnungsmarkt, nicht ausgeschlossen werden (zu »Bugwellen« der Gentrifizierung in Berlin vgl. den Beitrag von Förste/Bernt 2016 in diesem Band). Es bleibt die Einsicht, dass, wenn es im Rahmen von Gentrification eine Verdrängung von statusniedriger Bevölkerung an den Stadtrand gibt, diese dann in mehreren Umzugsintervallen stattfinden muss, sodass um das Phänomen tiefergehend untersuchen zu können, Umzugsketten betrachtet werden müssen. Inwiefern das Umzugsverhalten demographisch und sozioökonomisch spezifisch
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ist, wird in der Arbeit »Wohin (ver-)drängt es die Kreuzberger_innen?« (Koch et al. 2016 in diesem Band) durch Befragung von Bewohner_innen Kreuzbergs untersucht. Dabei zeigt sich, dass Alter, Haushaltsform und Bildungsabschluss durchaus Einfluss auf die Wohnstandortwahl bei Verdrängung haben würden. Berlin befindet sich in vielen Stadtquartieren in einem rasanten Veränderungsprozess. Um diesen Prozess ausreichend kleinräumig nachweisen, erklären und steuern zu können, fehlen teilweise geeignete Daten. So sind beispielsweise kleinräumige Daten zum Bildungsstand und zum beruflichen Status der Bevölkerung nicht vorhanden. Durch die Gebiets- und Migrationsanalyse konnten wir Gebiete mit intensiver Aufwertung identifizieren und das räumliche Verhalten umziehender Haushalte beschreiben. Es konnte keine Unterscheidung zwischen freiwillig und erzwungen Umziehenden getroffen werden, hierbei stößt die quantitative Analyse an ihre Grenzen. Eine vertiefte Untersuchung der Verdrängung erfordert, auch Aspekte auf der individuellen Ebene mit einzubeziehen. Nicht nur die veränderten Bedingungen der Wohnung oder der Wohnumgebung sind entscheidend, sondern auch persönliche Präferenzen der Nachfrager_innen und der Anbieter_innen gehen in eine Umzugsentscheidung ein (Krätke/Borst 2000: 159). Wie reagiert ein Haushalt auf den Druck, der durch den Aufwertungsprozess entsteht? Derartige Fragen können nur durch die Individual-Methode auf der Basis von Befragungen beantwortet werden. In der Arbeit »Verdrängung, Angst vor Verdrängung, Diskriminierung und Widerstand. Phänomene der Gentrification im Sozialwohnungsbau von Berlin« (Ertelt et al. 2013, in diesem Band) wird diesem Thema am Beispiel von Häusern des Berliner Sozialwohnungsbaus in Kreuzberg und Neukölln, die durch den Wegfall der Anschlussförderung von Gentrification und Verdrängung besonders betroffen sind, nachgegangen.
L ITERATUR Atkinson, Rowland (2000): Measuring Gentrification and Displacement in Greater London. Urban Studies 37 (1), S. 149-165. Atkinson, Rowland/Wulff, Maryann/Reynolds, Margaret/Spinney, Angela (2011): Gentrification and displacement: the household impacts of neighbourhood change, AHURI Final Report No. 160. Melbourne: Australian Housing and Urban Research Institute. Dangschat, Jens S. (1990): Geld ist nicht (mehr) alles – Gentrification als räumliche Segregierung nach horizontalen Ungleichheiten. In: Blasius,
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Black Box Verdrängung: Bleiben im Kiez oder Wegzug an den Rand? Kleinräumliche Wanderungen im Zuge von Aufwertungsprozessen in Berlin-Prenzlauer Berg D ANIEL F ÖRSTE , M ATTHIAS B ERNT
Seit in Berlin über Gentrification diskutiert wird, gibt es auch kontroverse Debatten über die Frage, wohin eigentlich verdrängte Bewohner_innen ziehen. Dabei stehen sich im Wesentlichen zwei Positionen gegenüber. Für die erste Position steht beispielhaft die Einschätzung eines höheren Senatsbeamten, der bereits 1991 in einem Spiegel-Interview für Berlin eine »neue Gründerzeit mit Markanz und Brutalität« vorhersagte, in der die Plattenbaugebiete an der nördlichen und östlichen Peripherie zu »Staubsaugern« für die Innenstadt würden (Spiegel 1991: 112-114). Die These einer Randwanderung von Armutshaushalten hält sich seitdem hartnäckig und wird auch in gegenwärtigen Debatten, häufig mit Verweis auf französische Banlieues, als Drohbild angeführt. Im völligen Gegensatz zu dieser Position findet sich eine Einschätzung, die bspw. von Häußermann/Kapphan (2002) und Häußermann et al. (2002) in der Diskussion um die Aufwertung in Prenzlauer Berg vertreten wurde. Angesichts der Tatsache, dass die meisten Innenstadtgebiete Berlins kleinräumig sehr unterschiedliche Wohnqualitäten aufweisen, käme es dieser These zufolge eher zu einer Verdrängung ärmerer Haushalte in schlechtere Wohnungen (bspw. Hinterhäuser, Erdgeschosswohnungen, Lücken-Neubauten), als zu einer Abwanderung über größere Distanzen. Anstelle einer Verdrängung an den Stadtrand vollzöge sich also eine »Verdrängung aus dem Lebensstil« (vgl. Häußermann et al. 2002). Beide Positionen konnten bislang nur mangelhaft mit Daten unterlegt werden. Hierfür gibt es verschiedene Gründe: Zum einen ist die Untersuchung innerstädtischer Wanderungsprozesse insgesamt in der deutschen Stadtforschung
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ein schwieriges Thema. Grund hierfür ist vermutlich der hohe Abstraktionsgrad und die Multivariabilität von Wanderungen. Die Forschung zu Wanderungen steht hier vor dem Problem, dass sich räumliche Zusammenhänge nur indirekt und schlaglichtartig aufzeigen lassen und sich die theoretischen Grundlagen zur Erklärung von Migrationsprozessen nur auf Wanderungen zwischen Städten anwenden lassen (vgl. Friedrichs/Nonnenmacher 2007). Bei der Analyse der Wanderung ist somit nicht ohne weiteres ein Rückschluss auf die Motive möglich. Zum zweiten hat die Mehrzahl von Beiträgen zu Gentrificationprozessen in Deutschland ihre Forschungsperspektive auf ein jeweiliges Quartier und innerhalb dessen auf die Klassifizierung von Zuzügen gerichtet (vgl. kritisch hierzu Bernt/Holm/Rink 2010). Hierbei werden nur die innerhalb einzelner Gentrificationverdachtsgebiete beobachtbaren Veränderungen untersucht, der Fokus liegt also auf den in das Gebiet einziehenden Gruppen. Beide Untersuchungen werden anhand eines Rasters unterschiedlicher Akteursgruppen vorgenommen. Dabei wird oft die Frage außen vorgelassen, wohin die Verdrängten gehen. Diese ist aber für eine kritische Perspektive auf Aufwertungsprozesse notwendig. Hinzu kommt gewöhnlich eine kurze zeitliche Perspektive der Studien. Intervalluntersuchungen, wie sie bspw. von Karin Wiest und André Hill in Leipzig vorgenommen wurde (vgl. Wiest/Hill 2004) sind eher die Ausnahme als die Regel. Eine Forschungsperspektive, die einen Zusammenhang zwischen teilräumlichen und gesamtstädtischen Entwicklungen herstellt und gesamtstädtisch Wanderungsbewegungen aus einem Quartier heraus über einen längeren Zeitraum betrachtet, ist vor diesem Hintergrund bislang Mangelware geblieben. Der vorliegende Beitrag setzt an dieser Stelle an und untersucht die Abwanderung aus dem Stadtteil Prenzlauer Berg für den Zeitraum 1994-2010. Ziel dieser Untersuchung ist es, Hinweise auf die Richtung von Verdrängungsprozessen zu erhalten. Für diese Fragestellung wird auf Wanderungsdaten aus dem Einwohnermelderegister zurückgegriffen die in Bezug auf Zielorte, Wanderungsvolumina und Anteil an der Gesamtwanderung analysiert werden. Hierdurch werden die wichtigsten Wanderungsströme und deren Dynamik sichtbar gemacht. Da es sich bei den verwendeten Daten um Aggregatdaten handelt, die alle möglichen Wanderungen aus Prenzlauer Berg beinhalten, ist es nicht möglich, auf dieser Grundlage eindeutige Aussagen über die Verdrängung einkommensschwacher Haushalte zu treffen1. Allerdings ist es in der Forschung unstrittig, dass Sanierungs- und damit einhergehende Verdrängungsprozesse als »Mobilitätsschleudern« (vgl. Holm 2006) einzuschätzen sind. Im Rahmen von Mo-
1
Zumal die quantitative Messung von Verdrängungsprozessen insgesamt methodologisch und konzeptionell ein schwieriges Thema ist (vgl. Atkinson 2000).
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dernisierungs- und Instandsetzungsmaßnahmen in Prenzlauer Berg wurden so in den betroffenen Wohngebäuden Wegzugsraten von 60-80 Prozent beobachtet (vgl. Häußermann et.al. 2002; Holm 2006). Eine hohe Intensität von Sanierungsaktivitäten dürfte sich also auch in der Abwanderungsstatistik niederschlagen. Zudem lassen sich aus der Richtung der Abwanderung Einschätzungen über die Aufnahmefähigkeit der Zielorte gewinnen. Insbesondere ärmere Haushalte sind aus Kostengründen in ihrer Wohnstandortwahl eingeschränkt. Von daher muss die Veränderung von Zielorten der Abwanderung aus Prenzlauer Berg in Zusammenhang mit der Mietpreisentwicklung in potenziellen Zuwanderungsquartieren gestellt werden. Der Prenzlauer Berg eignet sich für diese Untersuchung am besten, da er zu den am frühesten aufgewerteten Gebieten Berlins gehört, was erst eine lange Zeitreihenuntersuchung ermöglicht. Gleichzeitig kann an eine kontroverse wissenschaftliche Debatte über die Folgen der Aufwertung angeknüpft werden. Analysiert man die Abwanderung aus Prenzlauer Berg nach ihren Zielorten im Zeitverlauf, wird deutlich, dass keine der oben skizzierten Positionen den Nagel wirklich auf den Kopf trifft. Deutlich wird vielmehr eine komplexe Gemengelage, in der verschiedene Wanderungsströme zusammenkommen, die jeweils unterschiedlichen Bedingungsgefügen folgen.
P HASEN DER AUFWERTUNG IN P RENZLAUER B ERG Von zentraler Bedeutung ist in dieser Gemengelage eine zeitliche Perspektive, die die Wanderungsdynamiken vor dem Hintergrund von Veränderungen in der Sanierungstätigkeit, im Wohnungsangebot, in Mieterschutzregularien etc. einordnet. In dieser Hinsicht sind gerade in Prenzlauer Berg in den letzten 20 Jahren enorme Umbrüche zu beobachten gewesen, die sozusagen den Kontext für das zu beobachtende Wanderungsgeschehen bilden. Vor allem Andrej Holm hat so gezeigt, dass die Aufwertung Prenzlauer Bergs nicht einem simplen Marktmodell folgte, sondern sich in (sich teilweise überschneidenden) Phasen vollzog, die jeweils in einem engen Zusammenhang mit Veränderungen in der staatlichen Sanierungspolitik standen (vgl. Bernt 2003; Bernt/Holm 2005, 2009; Holm 2006, 2010, 2013). Grob lassen sich dabei vier Phasen unterscheiden: In einer ersten Phase, die bis etwa Mitte der 1990er Jahre andauerte, dominierten öffentlich geförderte Maßnahmen das Sanierungsgeschehen. Da die Restitution von Immobilien an ihre sogenannten Alteigentümer_innen erst langsam anlief, herrschte ein Investitionsstau. Entsprechend war das gesamte Erneuerungsvolumen eher begrenzt. Dort, wo saniert wurde, geschah dies in der Regel
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unter Inanspruchnahme öffentlicher Fördermittel mit entsprechenden Miet- und Belegungsbindungen. Eine Verdrängung unterer Einkommensschichten aufgrund zu hoher Mietpreise fand in dieser Zeit kaum statt. Zu beobachten war eher im Gegenteil eine fortlaufende Abwanderung in Folge schlechter Wohnbedingungen. Hierfür sorgte nicht nur die nach dem Mauerfall schnell in Gang kommende Suburbanisierung (vgl. Brake 2004; Matthiesen/Nuissl 2002), sondern auch der in Erwartung eines immensen Einwohnerzuwachses nach der Wende massiv unterstützte Wohnungsneubau, vor allem in Pankow und Weißensee. In einer zweiten Phase ab Mitte der 1990er Jahre war neben einer breiten symbolischen Aufwertung und einem starken Zuzug von »Pionieren« nach Prenzlauer Berg, vor allem die enorme Zunahme privat finanzierter Erneuerungsmaßnahmen zu beobachten. Diese wurden häufig mit Steuerabschreibungen finanziert und waren daher kaum an Miet- und Belegungsrichtlinien gebunden. In Prenzlauer Berg konnte sich dementsprechend eine starke Renditeorientierung von Erneuerungsinvestitionen durchsetzen, die sich in deutlichen Unterschieden in der Sozialstruktur zwischen sanierten und unsanierten Häusern niederschlug. Wie Häußermann et al. (2002) gezeigt haben, konnte im Zuge der Sanierungsmaßnahmen nur eine Minderheit der ursprünglichen Bewohner_innen in ihren Wohnungen verbleiben – vor allem sozial- und bildungsferne Haushalte wurden verdrängt. Hierdurch veränderte sich die Sozialstruktur des Gebietes erheblich. Ähnliche Prozesse waren auch in anderen Ostberliner Erneuerungsgebieten zu beobachten, allerdings mit einer gewissen Zeitverschiebung. Die im Bezirk Mitte an Prenzlauer Berg angrenzende Spandauer Vorstadt erlebte so eine noch frühere und durchgreifendere Aufwertungswelle als Prenzlauer Berg, während der im Osten angrenzende Friedrichshain etwas später in den Fokus geriet. Mit der Jahrtausendwende verschärfte sich die Renditeorientierung der Erneuerung in Prenzlauer Berg weiter. Dies hat verschiedene Gründe: zum einen strich das Land Berlin in Folge der verschärften Haushaltskrise nach dem Berliner Bankenskandal sämtliche Unterstützungsprogramme für Modernisierungsund Instandsetzungsinvestitionen. Hinzu kam eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes, welches 2003 die im Bezirk angewandten Mietobergrenzen für private Sanierungsmaßnahmen für illegal erklärte. Die beiden maßgeblichen Instrumente für die Begrenzung von Mieten nach der Sanierung waren damit unwirksam geworden. Dies war besonders problematisch, weil Sanierungsmaßnahmen zusehends mit der Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen verbunden wurden. Die dabei verwandten Finanzierungsmodelle basierten in der Regel auf dem Verkauf von unbewohnten Wohnungen, so dass dieser Wandel mit einem enormen Druck auf die Bestandsmieter_innen verbunden war.
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Nach Angaben von Mieterorganisationen und Beratungsstellen führte dies zu einer fast vollständigen Vertreibung der Bewohner_innen im Zuge von Sanierungsmaßnahmen und einer kompletten Neubelegung zu Marktmieten. Diese Entwicklung spiegelt sich auch in Sozialuntersuchungen wider, die für die verschiedenen Gebiete Prenzlauer Bergs einen deutlichen Einkommensunterschied zwischen Zuzügen vor und nach 2000 belegen (z.B. asum 2012; PFE 2008). Aufgrund der seit 2007 wachsenden Bevölkerungszahl und der gleichzeitigen Zunahme der Anzahl an Haushalten, kam es parallel zu einer Verknappung des Wohnraums in fast allen Teilen Berlins. Ähnliche Entwicklungen lassen sich deshalb heute auch in anderen Berliner Gebieten beobachten, in denen Gentrificationprozesse in den 2000er Jahren zusehends zum Mainstream der Stadtentwicklung wurden. Holm (2013) spricht hier sogar von einem »Gentrificationzirkel«, in dem nacheinander weite Teile der Berliner Innenstadt Schauplatz von Gentrificationprozessen wurden (vgl. Döring/Ulbricht 2016 zur »Berliner Aufwertungsspirale« in diesem Band sowie Abb. 1). In den letzten Jahren ist der Erneuerungsprozess in Prenzlauer Berg nahezu zum Erliegen gekommen. Die Mehrzahl der Häuser ist inzwischen saniert, Baumaßnahmen finden fast nur noch im Segment von Luxus-Neubauten (vgl. Holm 2010) und im Bereich der Baugruppen statt, wobei vor allem Baulücken geschlossen werden. Die aus den Förderprogrammen der frühen 1990er Jahren resultierenden Miet- und Belegungsbindungen laufen sukzessive aus und die Angebotsmieten auf dem freien Markt gehören zu den höchsten Berlins. Die Nischen für Niedrigeinkommenshaushalte schrumpfen vor diesem Hintergrund rapide und der Bezirk gilt allgemein für ärmere Bewohner_innen als »dicht« (d.h. geschlossen). Dies geht einher mit einem rasanten Anstieg des Mietpreisniveaus in der Gesamtstadt (vgl. Gewos 2012; GSW 2011; IBB 2011; Kholodilin/Mense 2012) und einer Expansion von Anfangsprozessen der Gentrification bzw. Aufwertungsprozesse in bislang eher für ihren sozialen Abstieg bekannten Gebiete wie Nord-Neukölln, Wedding oder Lichtenberg.
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Abbildung 1: Gentrificationzirkel in Berlin
Quelle: Holm 2011: S. 216
ANALYSE DER W ANDERUNGSBEWEGUNGEN NACH Z IELGEBIETEN Der Beitrag untersucht folgende Forschungsfragen: 1. Welche geographischen Abwanderungsmuster aus dem Berliner Stadtteil
Prenzlauer Berg zeigen sich zwischen 1994 und 2010? 2. Sind Zusammenhänge zwischen den raum-zeitlichen Mustern der Abwanderung und den unterschiedlichen Aufwertungsphasen von Prenzlauer Berg zu erkennen? 3. Wie können die unterschiedlichen Phasen der Abwanderung erklärt werden? Welche Rolle spielt die Veränderung staatlicher Sanierungspolitiken? Welchen Einfluss hat die differenzierte Entwicklung von Wohnungsmärkten in der Gesamtstadt?
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Die Analysegrundlage bilden Daten aus der Vollerhebung im Rahmen der Einwohnermeldestatistik, d.h. die Ergebnisse werden nicht durch Schätzungen gewonnen und sind deswegen für sich repräsentativ. Die Untersuchungsebene wird durch die statistischen Gebiete gebildet, die eine behördlich festgelegte Raumstruktur darstellen. Für Prenzlauer Berg werden die statistischen Gebiete Schönhauser Allee–Nord (106), Prenzlauer Allee-Nord (107) und Schönhauser AlleeSüd (110), die den Kern des Ortsteils ausmachen, analysiert. In einem ersten Schritt wurden in der Untersuchung die Umzüge innerhalb dieser drei Gebiete sowie die Wegzüge aus diesen drei Gebieten aufsummiert. Betrachtet werden nur die innerstädtischen Abwanderungen. In einem zweiten Schritt wurden die 25 häufigsten Zielgebiete der Abwanderung zum Anfang (1994) und zum Ende (2010) des 16-jährigen Untersuchungszeitraums ermittelt. Da die Daten der Top25-Zuwanderungsgebiete nur einen Teil der Abwanderungen umfassen und sich gleichzeitig innerhalb dieser Gebiete Zuwanderungsschwerpunkte ergeben, werden in einem dritten Schritt zusammenhängende Zuzugsgebiete gebildet. Als Grundlage dienen die Informationen zur dominierenden Bebauungsstrukturklasse entsprechend der Bebauungsstrukturkarte des IBB-Wohnungsmarktberichtes 2009 (vgl. IBB 2010), die dort in einer gesonderten Erhebung ermittelt wurden. Die auf dieser Grundlage gebildeten Zielgebiete sind durch eine ähnliche Wohnbebauung gekennzeichnet und decken gleichzeitig ungefähr zwei Drittel aller Abwanderungen aus dem Prenzlauer Berg ab. Es wurde zudem versucht, Gebiete mit annähernd gleicher Einwohnerzahl und Größe zu schneiden. Aus diesem Grund wurden z.B. die Gebiete Hohenschönhausen-Lichtenberg und MarzahnHellersdorf unabhängig voneinander betrachtet. Welche Entwicklungen lassen sich im Abwanderungsgeschehen aus Prenzlauer Berg erkennen? Welche Zielorte hatte Abwanderungen und wie veränderte sich die Liste der Zielgebiete im Zeitverlauf? Deutlich wird bei der Auswertung der Wanderungsdaten aus der Einwohnermeldestatistik zunächst, dass während des gesamten Untersuchungszeitraums der größte Teil der untersuchten Wanderungen innerhalb von Prenzlauer Berg erfolgte. Die meisten Wanderungen erfolgten innerhalb des Bezirkes. An zweiter Stelle als Zielgebiet für Wanderungen aus Prenzlauer Berg stehen das südliche Pankow sowie Weißensee, die ebenfalls hohe Anteile von Zuzügen gemessen an der Gesamtwanderung aufweisen. Auch das Gebiet Friedrichshain-Kreuzberg fängt noch beachtliche Teile der Abwanderung auf. Weniger relevante Zielgebiete sind Wedding und Neukölln; hier sind erst zum Ende des Untersuchungszeitraums höhere Anteile an dem Gesamtabwanderungsvolumen zu verzeichnen. Einen geringen Stellenwert hat auch die randstädtische Wanderung in die Gebie-
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te Lichtenberg-Hohenschönhausen und Marzahn-Hellersdorf. Im Gegensatz zu Wedding und Neukölln nimmt dieser im Zeitverlauf sogar ab. Tabelle 1: Untersuchungsgebiete und deren Anteil an der Gesamtabwanderung 1994 und 2010
Untersuchungsgebiet
Anteil der Abwanderungen im Jahr 1994 in % der Gesamtabwanderung
Anteil der Abwanderungen im Jahr 2010 in % der Gesamtabwanderung
Prenzlauer Berg
30,8
34,1
Pankow-Weißensee LichtenbergHohenschönhausen
11,8
14,3
6,2
2,2
Marzahn-Hellersdorf
5,7
0,9
Friedrichshain-Kreuzberg
5,0
6,9
Wedding
3,2
4,9
Neukölln
1,9
4,1
Sonstige
35,3
32,6
Im folgenden Abschnitt werden die Wanderungen nach ihren Zielgebieten im Einzelnen diskutiert, dabei wird die Aufmerksamkeit vor allem auf die Frage gerichtet, ob ein Zusammenhang zwischen den oben beschriebenen Veränderungen in Prenzlauer Berg, dem Abwanderungsgeschehen und dem Wohnungsmarkt in den Zielgebieten beobachtet werden kann.
W ANDERUNGEN INNERHALB P RENZLAUER B ERG
DES
G EBIETES
Wie oben beschrieben, dominieren die Umzüge innerhalb von Prenzlauer Berg das Wanderungsgeschehen während des gesamten Zeitraums von 1994 bis 2010. Gleichzeitig können erhebliche Schwankungen des Wanderungsvolumens festgestellt werden. Bei der Betrachtung der Wanderungen innerhalb des Bezirkes zeigt sich zunächst ein starker Anstieg zwischen 1995 und 1998. Dieser verläuft synchron mit dem Sanierungsgeschehen, das seit 1994/95 langsam in Gang kam und vor dem Auslaufen der Sonder-AfA für Immobilieninvestitionen in Ostdeutschland 1998 einen Höhepunkt erlebte. Die so finanzierten Sanierungsmaßnahmen schlugen sich offensichtlich in einer erhöhten Mobilität nieder, die allerdings in großen Teilen innerhalb des Bezirkes verblieb. Zwischen 2001 und 2007 verblieben die Wanderungen auf diesem hohen Niveau, offensichtlich
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gelang es den Altbewohner_innen in dieser Phase noch, Wohnraum innerhalb des Gebietes zu finden. Dies scheint sich ab 2007 zu verändern: Die Zahl der Wandernden wie auch der Anteil an allen Abwandernden sinkt. Hier lässt sich ein enger Zusammenhang sowohl zu den Sanierungsaktivitäten in Prenzlauer Berg, als auch zur Entwicklung des Wohnungsmarktes in dem Bezirk selbst herstellen: Da Ende der 2000er Jahre die Mehrzahl der Wohnungen im Gebiet bereits saniert waren, nahm die Zahl der neuen Sanierungsmaßnahmen rapide ab – die »Mobilitätsschleuder« (vgl. Holm 2006) Sanierung verlor damit relativ an Bedeutung. Gleichzeitig hat sich Prenzlauer Berg als attraktive Lage auf dem Wohnungsmarkt konsolidiert, so dass Neuvertragsmieten für niedrige Einkommen nur noch schwer zu bezahlen sind. Insgesamt gibt es deshalb in Prenzlauer Berg heute weniger Umzugsfälle – wer umziehen muss, zieht aber eher aus dem Gebiet fort, als dies früher der Fall war. Zusammengefasst kann also festgestellt werden, dass einerseits Umzüge aus Prenzlauer Berg während des gesamten beobachteten Zeitraums bemüht waren, im Bezirk zu bleiben – dass ihnen das andererseits aber mit zunehmender Schließung des Wohnungsmarktes immer seltener gelingt. Abbildung 2: Wanderungen innerhalb des Gebietes des Prenzlauer Berg (absolut, anteilig) Wanderung innerhalb des Gebiets Prenzlauer Berg (anteilig)
6000
45,0
5000
40,0
4000
3000
2000 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010
Anteil an der Gesamtabwanderung (in Prozent)
Summe der abwandernden Einwohner (absolut)
Wanderung innerhalb des Gebiets Prenzlauer Berg (absolut)
35,0
30,0
25,0 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010
Jahr
Quelle: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, eigene Berechnungen
Jahr
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W ANDERUNGEN NACH P ANKOW -W EISSENSEE Abbildung 3: Abwanderung aus dem Prenzlauer Berg in das Gebiet PankowWeißensee (absolut, anteilig) Abw anderung in das Gebiet Pankow -Weißensee (anteilig )
Abw anderung in das Gebiet Pankow -Weißensee (absolut)
18,0
3100
16,0
2100 1600 1100 600 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010
Anteil an der Gesamtabwanderung (in Prozent)
Summe der abwandernden Einwohner (absolut)
2600
14,0
12,0
10,0 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010
Jahr
Jahr
Quelle: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, eigene Berechnungen
Charakteristisch für die Abwanderung nach Pankow-Weißensee ist ein starker Anstieg bis Ende der 1990er Jahre, gefolgt von einer Abflachung der Wanderungszahlen. Auch hier kann der Anstieg bis 1998 in einen Zusammenhang mit dem Höhepunkt der Sanierungstätigkeit in Prenzlauer Berg gestellt werden. Für von der Sanierung »mobilisierte« Bewohner_innen waren die an Prenzlauer Berg grenzenden Gebiete von Pankow und Weißensee offensichtlich eine relevante Alternative, die ein Verbleiben in räumlicher Nähe zur alten Nachbarschaft möglich machte. Gleichzeitig war Pankow-Weißensee in den 1990er Jahren Schauplatz erheblicher Neubauaktivitäten (auch im sozialen Wohnungsbau), wodurch gerade Mitte der 1990er Jahre ein umfangreiches Angebot an freien Wohnungen entstand, welches für einen Umzug aus Prenzlauer Berg genutzt werden konnte. Die Spitze der Zunahme der Baufertigstellung in PankowWeißensee vor allem im Bereich des Gebietes 153-Pistoriusstraße, fällt so exakt in den Zeitraum des ersten Höhepunkts der Sanierung im Prenzlauer Berg zwischen den Jahren 1996 und 1998. Zwischen 1998 und 2002 ist ein rapider Rückgang der Umzüge zu beobachten. Dieser ist einerseits einem Nachlassen der Sanierungstätigkeit in Prenzlauer Berg und andererseits einem Rückgang des Wohnungsangebotes im Zielgebiet nach Wegfall der Neubauförderung des Berliner Senates geschuldet. Mit der in Gesamt-Berlin einsetzenden Verknappung des Wohnungsmarktes wird dieser Trend zwischen 2001 und 2007 zusätzlich forciert, was sich in einem weiteren leichten Rückgang sowohl der absoluten Zahl, wie auch der Anteile der Abwan-
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dernden, niederschlägt. Seit 2007 liegt die Abwanderung auf einem beinahe konstanten Niveau. Zusammenfassend, kann also festgestellt werden, dass Pankow und Weißensee vergleichsweise beliebte Wohngegenden für Fortziehende aus Prenzlauer Berg sind, gleichzeitig aber die Rolle dieser Gebiete als Ausweichquartier im Zeitverlauf abnimmt.
W ANDERUNGEN NACH L ICHTENBERG H OHENSCHÖNHAUSEN Abbildung 4: Abwanderung aus dem Prenzlauer Berg in das Gebiet Lichtenberg-Hohenschönhausen (absolut, anteilig) Abw anderung in das Gebiet Lichtenberg-Hohenschönhausen (absolut)
Abw anderung in das Gebiet LichtenbergHohenschönhausen (anteilig)
1000
8,0
800
400 200 0 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010
Anteil an der Gesamtabwanderung (in Prozent)
Summe der abwandernden Einwohner (absolut)
6,0
600
4,0
2,0
0,0 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010
Jahr
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Quelle: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, eigene Berechnungen
Bei der Betrachtung der Abwanderungen in das durch industriellen Wohnungsbau geprägte Gebiet Lichtenberg-Hohenschönhausen zeigt sich, dass das Wanderungsvolumen Mitte der 1990er Jahre am höchsten war. Der Höhepunkt der Abwanderung fällt in die erste Entwicklungsphase des Prenzlauer Berg, in der das Sanierungsgeschehen erst langsam in Gang kam und nach wie vor schlechte Wohnverhältnisse dominierten. Zu diesem Zeitpunkt stellten die Großwohnsiedlungen offensichtlich noch eine attraktive Alternative zu den durch geringe Wohnqualität gekennzeichneten vernachlässigten Beständen in großen Teilen des Prenzlauer Berg dar. Es kann zudem angenommen werden, dass die damalige noch zum überwiegenden Teil aus Ostdeutschland stammende Bevölkerung des Prenzlauer Berg bei einer durch Wegzug bedingten Wohnstandortentscheidung geringere kulturelle Vorbehalte gegenüber dem »Wohnen in der Platte« hatte.
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Nach 1997 nehmen die Wanderungszahlen in Richtung LichtenbergHohenschönhausen stark ab. Seit diesem Zeitpunkt sinken sowohl die Zahl der in diese Bezirke Abwandernden, als auch der Anteil an der Gesamtabwanderung um vier Prozent, sodass beide seit 2005 auf niedrigem Niveau verharren. Mit fortschreitender Sanierung und in Gang kommender Gentrification in Prenzlauer Berg ist die Bedeutung von Lichtenberg und Hohenschönhausen als Zielgebiet für Abwanderungen also nicht gewachsen, sondern zurückgegangen.
W ANDERUNGEN NACH M ARZAHN -H ELLERSDORF Abbildung 5: Abwanderung aus dem Prenzlauer Berg in das Gebiet MarzahnHellersdorf (absolut, anteilig) Abw anderung in das Gebiet Marzahn-Hellersdorf (anteilig)
800
8,0
600
6,0
400
200
0 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 Jahr
Anteil an der Gesamtabwanderung (in Prozent)
Summe der abwandernden Einwohner (absolut)
Abw anderung in das Gebiet Marzahn-Hellersdorf (absolut)
4,0
2,0
0,0 1994 1996 1998 2000
2002 2004 2006 2008 2010 Jahr
Quelle: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, eigene Berechnungen
Obwohl weiter vom Bezirk Prenzlauer Berg entfernt gelegen, lassen sich ähnliche Muster auch für Hellersdorf und Marzahn beobachten. Auch hier werden die höchsten Werte in den 1990er Jahren erreicht, danach gehen die Werte bis 2001 zurück, um sich im Folgenden bei 2% der Gesamtabwanderungen aus dem Prenzlauer Berg einzupegeln. Auch hier erreicht die vermeintliche »Armutswanderung« aus dem Prenzlauer Berg entgegen der öffentlichen und medialen Wahrnehmung nur ein geringes Niveau.
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W ANDERUNGEN NACH F RIEDRICHSHAIN K REUZBERG Auffallend bei der Betrachtung der Wanderungen nach FriedrichshainKreuzberg ist der Anstieg in dem Zeitraum nach 1994 bis zum Jahr 2001. Auch hier ist ein Zusammenhang mit dem Höhepunkt der Sanierungstätigkeit in Prenzlauer Berg offensichtlich. Der Großteil der Wanderungen geht zu diesem Zeitpunkt noch in den Nachbarbezirk Friedrichshain, Wanderungen in das Kreuzberger Gebiet spielen bis 2000 nur eine geringe Rolle. In den folgenden Jahren bis zum Jahr 2007 stabilisiert sich in einer zweiten Phase die Zahl der Wegzüge aus dem Prenzlauer Berg nach Friedrichhain-Kreuzberg auf hohem Niveau. Die interne Differenzierung zeigt dabei allerdings, dass in dieser Phase Wanderungen nach Kreuzberg an Bedeutung gewinnen. Interessanterweise verläuft diese Verschiebung synchron mit dem von Holm beschriebenen Gentrificationzirkel. Dabei wird mit Fortschreiten der Sanierung in Prenzlauer Berg Ende der 1990er Jahre zunächst Friedrichshain als neues »InViertel« entdeckt. Im weiteren Sanierungsprozess wird auch dieses Gebiet zusehends als »glatt« empfunden, wodurch wiederum Kreuzberg im Vergleich an Attraktivität gewinnt. Der Abwanderung nach Friedrichshain-Kreuzberg scheinen deshalb zwei unterschiedliche Mechanismen zugrunde zu liegen. Zum einen wiederholt sich hier das schon in der Analyse der Abwanderungen nach Pankow und Weißensee beobachtete Muster: Umzüge erfolgen eher in den Nahbereich, denn als Fernwanderung. Zum anderen scheint für innerstädtische Quartiere die Attraktivität für Pioniernutzungen eine Rolle zu spielen, zumindest bestimmen symbolische Aufwertungen und kulturelle Inwertsetzung die Attraktivität eines Gebietes für die im Zuge der Sanierung aus Prenzlauer Berg fortziehenden »Pioniere« mit.
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Abbildung 6: Abwanderung aus dem Prenzlauer Berg in das Gebiet Friedrichshain Kreuzberg (absolut, anteilig) Abw anderung in das Gebiet Friedrichshain-Kreuzberg (anteilig)
1200
8,0
1000
7,0
800 600 400 200 0 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010
Anteil an der Gesamtabwanderung (in Prozent)
Summe der abwandernden Einwohner (absolut)
Abw anderung in das Gebiet Friedrichhain-Kreuzberg (absolut)
6,0 5,0 4,0 3,0 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010
Jahr
Jahr
Quelle: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, eigene Berechnungen
W ANDERUNGEN NACH W EDDING Die Abwanderung in den Wedding unterliegt starken Schwankungen, welche ebenfalls die vier oben beschriebenen Aufwertungsperioden von Prenzlauer Berg reflektieren. So lässt sich ein erster Peak der Zuwanderungen aus Prenzlauer Berg zwischen 1994 und 1998 beobachten. Dieser liegt zeitlich parallel zum Höhepunkt der vor allem privatwirtschaftlichen Sanierungswelle zwischen 1996 und 1998. Bis 2003 sinken die Abwanderungszahlen, um anschließend wieder zuzunehmen. Besonders markant ist der Zuwachs an Abwandernden aus Prenzlauer Berg in den Wedding ab 2007. Diese Entwicklung verläuft erstaunlich synchron mit dem Rückgang der Umzüge innerhalb Prenzlauer Bergs sowie einem Nachlassen der Fortzüge nach Pankow-Weißensee und FriedrichshainKreuzberg. Es ist also zu vermuten, dass nach 2008 nicht nur der Wohnungsmarkt im Prenzlauer Berg, sondern auch die klassischen Ausweichstandorte in Pankow, Weißensee und Friedrichshain so stark geschlossen sind, dass selbst die zuvor unattraktiven Lagen im Wedding an Bedeutung gewinnen.
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Abbildung 7: Abwanderung aus dem Prenzlauer Berg in das Gebiet Wedding (absolut, anteilig) Abw anderung in das Gebiet Wedding (absolut)
Abw anderung in das Gebiet Wedding (anteilig)
700
6,0
650
Summe der abwandernden Einwohner (absolut)
550 500 450 400 350 300 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010
Anteil an der Gesamtabwanderung (in Prozent)
5,0
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4,0
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1,0 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 Jahr
Jahr
Quelle: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, eigene Berechnungen
W ANDERUNGEN NACH N ORD -N EUKÖLLN Abbildung 8: Abwanderung aus dem Prenzlauer Berg in das Gebiet NordNeukölln (absolut, anteilig) Abw anderung in das Gebiet Nord-Neukölln (anteilig)
Abw anderung in das Gebiet Nord-Neukölln (absolut)
5,0
600
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100 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010
Anteil an der Gesamtabwanderung (in Prozent)
Summe der abwandernden Einwohner (absolut)
500
4,0
3,0
2,0
1,0 1994 1996 1998 2000
Jahr
2002 2004 2006 2008 2010 Jahr
Quelle: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, eigene Berechnungen
Die Zahl der Abwandernden aus dem Prenzlauer Berg nach Nord-Neukölln unterliegt ebenfalls Schwankungen, ist aber bis zum Jahr 2007 insgesamt eher gering. In den folgenden Jahren ist indes ein kontinuierlicher Anstieg erkennbar, der sich fast bis zum Ende des Untersuchungszeitraums hinzieht. Wie im Wedding handelt es sich bei Nord-Neukölln ebenfalls um ein sozialstrukturell schwieriges Gebiet, auch wenn die Zahl der Pioniernutzungen in einzelnen Teil-
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bereichen ansteigt und diese heute einen Charakter aufweisen, wie ihn der Prenzlauer Berg in den 1990er Jahren hatte. Dieser Anstieg fällt in die dritte Entwicklungsphase des Prenzlauer Bergs, so dass hier ein Zusammenhang zur Wohnraumverknappung in der Innenstadt möglich scheint. Allerdings scheint auch eine Wanderung der als »Pioniere« bezeichneten, zum Teil relativ inhomogenen Gruppe von Künstler_innen, Freiberufler_innen und Student_innen denkbar, für die der Prenzlauer Berg mittlerweile zu »spießig« geworden ist (erkennbar im Begriff »Bionade Biedermeier«). Neukölln mit seiner neu entstandenen Kneipenstruktur und den dortigen Aktivitäten von Künstlern, z.B. im Zusammenhang mit der Öffnung des Tempelhofer Feldes, genießt bei dieser Gruppe hingegen eine höhere Attraktivität.
S TRUKTUR DER ABWANDERUNG Ziel der Untersuchung war es, aus unterschiedlichen Abwanderungen des Prenzlauer Berg geographische Abwanderungsmuster zu abstrahieren und hieraus thesenhafte Wanderungsbeziehungen abzuleiten. Im Ergebnis der Analyse lassen sich vier Thesen zur Beschreibung von Fortzügen aus Prenzlauer Berg ableiten: 1. »Verbleiben im Gebiet« Die erste These geht davon aus, dass Aufwertung und Sanierung vor allem zu Umzügen innerhalb des Gebietes führen. Sie wurde vor allem von Häußermann und Kapphan Ende der 1990er Jahre vertreten (vgl. Häußermann/Kapphan 2002) und verband sich mit der Annahme, dass sich in Prenzlauer Berg eine kleinräumige Mischung an unterschiedlichen sozialen Gruppen etablieren könnte. Für die erste Phase der Aufwertung von 1994 bis 1998 hat diese These eine geringere Bedeutung als für die übrigen Phasen. Allerdings ist zu vermuten, dass weniger der Mietpreis, als vielmehr die nun vorhandene Möglichkeit des Wegzugs aus dem Prenzlauer Berg in andere Gebiete eine Rolle spielt, auch wenn suburbane Wanderungen nach Brandenburg nicht betrachtet werden. Entsprechend lässt sich die Verbleib-These vor allem für die zweite und dritte Phase der Aufwertung verifizieren. Der Anteil, der in dieser Phase im Gebiet verbleibenden Personen entspricht nun über 40% des gesamten Wanderungsvolumens. Dies ändert sich wiederum in einer vierten Phase ab 2007. Ab diesem Zeitraum ist zu erkennen, dass immer weniger Umziehende innerhalb von Prenzlauer Berg Wohnraum finden und stattdessen das Gebiet verlassen. Die Verbleibsthese verliert daher mit fortschreitender Sanierung immer stärker an Erklärungskraft.
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Zusammengefasst kann also konstatiert werden, dass sich die These einer »gebietsneutralen« Verdrängung so lange halten lässt, wie ein entsprechendes Angebot an preiswerten Wohnungen im Gebiet vorhanden ist und es eine Angebotsreserve an Wohnraum gibt. Wenn diese erschöpft ist, und das ist seit Ende der 2000er Jahre in Prenzlauer Berg offensichtlich der Fall, verliert diese Erklärung an Bedeutungskraft. Insgesamt trifft die These vom »Verbleiben im Gebiet« daher eher für frühe Phasen der Gentrification zu, während sie mit fortschreitender Gentrification zusehends kontrafaktisch wird. 2. »Wanderung an den Rand« Eine zweite These zur Beschreibung der Abwanderungen aus Prenzlauer Berg geht, wie oben gezeigt, von einer Verdrängung in die am Stadtrand gelegenen Großsiedlungen aus. Dabei wird angenommen, dass aufgrund eines hohen Anteils an sozialem Wohnungsbau und einer geringen Attraktivität des Wohnens am Stadtrand ein Miethöhenniveau realisiert werden kann, das für die Verdrängten erschwinglich ist. Diese »Verdrängung an den Rand« wird häufig als problematisch eingeschätzt, da sie zu einer steigenden Armutskonzentration in den Zielgebieten des Fortzugs aus Prenzlauer Berg führt. Die hier vorgenommene Wanderungsanalyse zeigt allerdings, dass sich diese These empirisch nicht verifizieren lässt. Es kann für keine der vier Phasen argumentiert werden, dass ein relevanter Anteil an Bewohner_innen aus dem Prenzlauer Berg direkt in die Platte verdrängt wird. Selbst Anfang der 1990er Jahre lag der Anteil der an den Rand wandernden Personen bei nur zwölf Prozent und ging im Verlauf des Untersuchungszeitraums auf drei Prozent zurück. Bereits in den 1990er Jahren ist diese Wanderungsfolge relativ unbedeutend und verliert im Untersuchungsverlauf weiter an Einfluss. Die Abwanderung in die Neubaugebiete umfasste nie mehr als ein Bruchteil des gesamten Abwanderungsvolumens und war gerade zu dem Zeitpunkt am höchsten, als die Sanierung in Prenzlauer Berg kaum begonnen hatte. Zu Abwanderungen aus dem Prenzlauer Berg in die östlichen Großsiedlungen kam es vor allem in der ersten Phase der Sanierung, diese waren allerdings weniger das Ergebnis eines Verdrängungsprozesses, als eher der Ausdruck eines Sanierungsstaus im Altbaubestand in Prenzlauer Berg. Seitdem geht die Zahl derjenigen, die aus Prenzlauer Berg an den Stadtrand ziehen, kontinuierlich zurück. Auch in der dritten und vierten Aufwertungsphase bleibt die Zahl stabil niedrig. Seit Mitte der 1990er Jahre wohnt offensichtlich im Prenzlauer Berg keine Gruppe mehr, für die Großwohnsiedlungen als Ausweichgebiet in Frage kommen. Die durch niedrige Mietpreise gekennzeichneten
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östlichen Großwohnsiedlungen spielten bisher also bestenfalls eine Nebenrolle als Zufluchtsort für durch Mietsteigerungen aus Prenzlauer Berg Verdrängte. 3. »Bugwelle vor der Sanierung« Eine etwas feinkörnigere Alternative zur Dichotomie »Randwanderung vs. Verbleiben im Gebiet« ist die Interpretation der Abwanderungen aus Prenzlauer Berg als »Bugwelle vor der Sanierung«. Diese Metapher wurde bereits in den 1970er Jahren zur Beschreibung der damals durch die Flächensanierung ausgelösten Entwicklungen verwandt. Das Bild einer »Bugwelle« geht davon aus, dass einkommensschwache Bevölkerungsteile wie in der »Bugwelle eines Schiffes« von der Sanierung vor sich her geschoben werden und jeweils in die nächstgelegenen, für sie noch bezahlbaren, Bestände umziehen. Dabei suchen die Verdrängten einen Wohnort, bei dem der Mietpreis in etwa dem vorher üblichen Preis ihrer Wohnung entspricht, einen ähnlichen Charakter aufweist und möglichst in unmittelbarer Nähe gelegen ist. Diese These knüpft an Erklärungsansätze für Umzugsprozesse an, die den Erhalt des eigenen Lebensstils bzw. die Nähe zum vorherigen Lebensmittelpunkt, dem Ort der eigenen sozialen Netzwerke, als wichtiges Auswahlkriterium eines zukünftigen Wohnortes in den Vordergrund stellen (vgl. Butler/Robson 2003; Häußermann/Siebel 1996). Für die Sinnhaftigkeit dieser Interpretation sprechen bei der Auswertung von Wanderungsdaten sowohl die hohe Bedeutung von Umzügen innerhalb von Prenzlauer Berg, als auch die hohen Zahlen von Umzügen nach PankowWeißensee, Friedrichshain-Kreuzberg und Wedding. Alle drei Gebiete befinden sich mehr oder weniger in Nachbarschaft zu Prenzlauer Berg und weisen eine ähnliche Baustruktur auf. Umzüge in diese Gebiete können daher als Versuch interpretiert werden, bestehende Raumbezüge und soziale Netzwerke möglichst weitgehend zu erhalten und die Verbindung zum vorherigen Wohnort nicht aufzugeben. In der ersten Phase sind dabei vor allem die Umzüge nach Pankow und Weißensee von Bedeutung. Allerdings ist hier zu vermuten, dass es sich weniger um eine Verdrängung, sondern um eine Flucht vor der ausbleibenden Sanierung handelt. In der zweiten Phase spielen Wanderungen nach Pankow und Weißensee ebenfalls eine zentrale Rolle, hinzu tritt außerdem Friedrichshain als Zielgebiet der Abwanderungen. Über ein Viertel der Abwandernden weicht in die genannten Räume aus. Anscheinend existiert zu diesem Zeitpunkt noch preiswerterer Wohnraum in beiden Gebieten, so dass ein Teil der Abwandernden verhindern kann, in die sozial schwierigeren Gebiete ziehen zu müssen. In beiden Phasen sind Wanderungen in den Wedding die Ausnahme, offensichtlich senken die sozialen Probleme die Attraktivität des Gebiets. Dies ändert sich mit
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Fortschreiten der Sanierung in Pankow, Weißensee und Friedrichshain, die ebenfalls zusehends »dicht« für Umzüge aus Prenzlauer Berg werden. Spiegelbildlich gewinnt Wedding als Ausweichgebiet stark an Gewicht. Dies ist insofern ein Novum, als der Wedding – obwohl in unmittelbarer Nähe zu Prenzlauer Berg gelegen – einen deutlich anderen Sozialcharakter als die anderen Bugwellengebiete aufweist. Es handelt sich hierbei um eines der sozial schwierigsten Altbaugebiete Berlins, in denen sich die Probleme der Armutsbevölkerung mit Herausforderungen bei der Integration von Migranten vermischen. Die wachsende Attraktivität von Wedding für Fortziehende aus Prenzlauer Berg deutet deshalb vor allem auf Schwierigkeiten hin, in den klassischen Ausweichquartieren noch adäquate Wohnungen finden zu können. 4. »Pionierthese« Im Rahmen der Bugwellenthese kann allerdings nicht geklärt werden, wie sich die Wohnkarrieren der einzelnen in die Bugwellengebiete gezogenen Personengruppen fortsetzt. Hier setzt als viertes die Pionierthese an. Sie untersucht, welchen möglichen Wegzugslogiken die in der Gentrificationliteratur zentral diskutierte Gruppe der »Pioniere« möglicherweise folgt. Bereits frühe Studien (vgl. Berry 1985; Clay 1979) haben Künstler_innen, Studierenden und Kulturschaffenden eine zentrale Rolle im Prozess der Gentrification zugesprochen. »Pioniere« gelten demnach als risikoaffine, mit hohem Distinktionsbedürfnis ausgestattete Gruppe, die ständig neue städtische Räume entdeckt. Sie etabliert in diesen eine »kulturelle« Infrastruktur und macht die betroffenen Räume dadurch erst für Gentrificationprozesse »reif«. »Pioniere« gelten in weiten Teilen der Literatur als »tragische Figuren«, weil sie in der Frühphase zwar Teil der Aufwertung sind, aber langfristig durch die von ihnen begünstigten Entwicklungen verdrängt werden. Die Annahme einer hoch mobilen Gruppe von »Pionieren« besitzt vor allem Erklärungswert für die Veränderung von Umzugszielpunkten in innerstädtischen Gebieten. Hier ist im Zeitverlauf eine Verschiebung von Zielorten der aus Prenzlauer Berg Wegziehender feststellbar, die im Halbkreis über Friedrichshain und Kreuzberg nach Nord-Neukölln führt. Für die betrachteten Gebiete kann eine erste Phase der Pionierwanderung in Richtung Friedrichshain gezeigt werden. Wie aus den Wanderungszahlen hervorgeht, steigt die Zahl der Umzüge in Richtung Friedrichshain in der zweiten Aufwertungsphase von 1996 bis 1998 an, in der ein erster Sanierungshöhepunkt erreicht wird. Im Verlauf der dritten Phase zwischen 2000 und 2005 erhöht sich dagegen die Zahl derjenigen, die in die untersuchten Kreuzberger Gebiete wegziehen. Gleichzeitig sinkt die Zahl der in den Friedrichshain ziehenden Perso-
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nengruppen nach 2003. Dies deckt sich mit den Beobachtungen von Andrej Holm, der den Höhepunkt der Pioniernutzung in Friedrichshain im Jahr 2002 erreicht sieht. Der Stellenwert der Pionierthese wird zum zweiten an den Wanderungswerten in die Untersuchungsgebiete Neuköllns deutlich, die seit 2007 massiv ansteigen. Auch hier ist ein Zusammenhang zu den Ergebnissen von Andrej Holm erkennbar.
S CHLUSS Ergebnis der Untersuchung ist, dass die beiden in der Öffentlichkeit, wie in der Wissenschaft am häufigsten diskutierten Thesen – die des Verbleibs im Gebiet und die der Randwanderungen – im Zuge der aktuellen Entwicklung an Erklärungskraft verlieren und jeweils nur eine Momentaufnahme darstellen. Weder haben sich die Hoffnungen auf Verbleib im Prenzlauer Berg noch die extrem negativen Befürchtungen einer »Banlieueisierung« bewahrheitet. Stattdessen zeigt sich, dass das Modell einer »Bugwelle«, also einer Verdrängung in nahe gelegene noch bezahlbare Bestände, einigen Erklärungsgehalt besitzt. Die Analyse des Wanderungsgeschehens spricht zudem für eine »Pionierthese«, bei der wenigstens ein Teil der Verdrängten der Karawane symbolischer Aufwertungsprozesse folgt. Wünschenswert, aber aus Gründen der Komplexitätsreduzierung hier nicht leistbar, wäre die Ausweitung der Untersuchungsmethode auf weitere Gebiete, die in Berlin eine Aufwertung erfahren haben. Hierdurch könnte ein komplexeres Bild gezeichnet werden, in dem auch den unterschiedlichen zeitlichen Schwerpunkten der Sanierung und den unterschiedlichen mietrechtlichen Regulativen und förderpolitischen Schwerpunkten besser Rechnung getragen würde. Eine mehrere Gebiete umfassende Analyse könnte zudem Anhaltspunkte für eine bessere Einschätzung von Prozessen der Kettenwanderung ermöglichen, die bei einem Fokus auf nur ein Abwanderungsgebiet ausgeschlossen sind. Hierdurch könnte auch die »Bugwellenthese« präzisiert werden. Die von uns analysierten Daten geben nur Hinweise auf die mögliche Wahrscheinlichkeit von Entwicklung. In ihnen sind keine sozialen Merkmalsausprägungen der Wegziehenden enthalten, es fehlen also Informationen zu Haushalts-, Sozial- und Bildungsstrukturen. Die Analyse der Abwanderung ist deshalb nur bedingt in der Lage, Auskunft über sozialstrukturelle Charakteristika der Fortzüge zu geben (zu einer qualitativen Analyse von Wohnbiographien aus dem Prenzlauer Berg vgl. Betancourt 2016 in diesem Band). Denkbar wären in der
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Folge auch andere, als die von uns vorgeschlagenen Interpretationen. Ein weiteres Manko der verwendeten Daten besteht in dem Umstand, dass sie es nicht erlauben, Kettenumzüge zu erkennen. Das ist vor allem deshalb relevant, weil es durchaus vorstellbar ist, dass eine Verdrängung aus Prenzlauer Berg einen einkommensschwachen Haushalt zwar nicht direkt in die »Plattenbaugebiete« führt, dass dieser aber von der »Bugwelle« der Sanierung über mehrere Stationen durch die Stadt verdrängt wird, um am Ende doch in Lichtenberg-Hohenschönhausen oder Marzahn-Hellersdorf zu landen. In Deutschland lassen die Datenschutzgesetzgebungen eine solche Verbindung von Wanderungs- und Sozialdaten, die nicht auf einer Datenabschätzungsmethode beruht und die als Zeitreihe vorliegt, bisher nicht zu. Die genannten Mängel der Analyse sind mit dem zur Verfügung stehenden Datenset nicht zu beheben. Eine Weiterentwicklung unseres Verständnisses von Gentrifizierungsprozessen würde daher ein Untersuchungsdesign erfordern, das stärker auf Primärerhebungen setzt, die die Erhebung sozialer Merkmale mit der jeweiligen Wohnhistorie koppeln. Außerdem sollten zukünftige Studien verstärkt die Zyklen der Gentrification in Beziehung zueinander setzen. Dazu wären kombinierte Wanderungsanalysen aus allen bekannten Aufwertungsgebieten sinnvoll. Diese Methoden sind allerdings aufwendig und ohne zusätzliche Ressourcen nicht durchführbar. Was unsere Analyse allerdings deutlich macht, ist, dass der Nutzen einer Perspektive, die Gentrification nur mit dem Fokus auf den Wandel einer bestimmten Nachbarschaft betrachtet, begrenzt ist. Erkennbar wird vielmehr, dass die Veränderungsprozesse unterschiedlicher städtischer Gebiete in einem engen Zusammenhang zueinander stehen.
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Wohin (ver-)drängt es die Kreuzberger_innen? Wohin ziehen die Verdrängten innerhalb eines Gentrification-Prozesses? S IMON K OCH , M ARRIKE K ORTUS , C HRISTINE S CHIERBAUM , S TEPHANIE S CHRAMM
Das deutsche Städtebaurecht hat die Aufgabe, »die in einem Gebiet lebende und arbeitende Bevölkerung mit ihren Bedürfnissen ernst zu nehmen und zu schützen« (Tietzsch 1996: 19). Dass dieses Ziel nicht immer erreicht wird, beweisen die Auswirkungen der Gentrification-Prozesse, die in vielen deutschen Großstädten wie München oder Berlin derzeit zu beobachten sind. Bauliche Aufwertungen von Gebäuden und die Entwicklung von ganzen Gebieten haben Einfluss auf die Verhältnisse der angrenzenden Bebauung und Nachbarquartiere. Durch die ansteigenden Mieten entwickelt sich ein Preisdruck, dem die alteingesessenen Unternehmen, Geschäfte und Bewohner_innen in der Regel nicht standhalten können und infolgedessen aus ihren Wohngebieten verdrängt werden (Tietzsch 1996: 17). Für viele dieser Menschen war das Quartier ihr wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Lebensmittelpunkt und ihre Heimat (Tietzsch 1996: 12). Obwohl die Welt immer besser vernetzt ist, viele Lebensbereiche in andere Institutionen ausgelagert werden, immer mehr Frauen voll berufstätig sind und sich die technischen und sozialen Dienstleistungen immer schneller entwickeln, verliert die Wohnung nicht an Bedeutung. Vielmehr stellt sie für viele Menschen immer noch das Zentrum ihres privaten Lebens dar (Häußermann/Siebel 2000: 44; Helbrecht 2013). Die Aufwertung von Stadtgebieten zieht demnach nicht nur positive wirtschaftliche und städtebauliche Effekte nach sich, sondern hat auch massive Auswirkungen auf das Leben ihrer Bewohner_innen. Dabei wäre das bloße Aufhalten des Verfalls und die Sanierung der Häuser vermutlich von vie-
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len gewünscht und für ihre soziale Situation kaum von Belang. Doch durch die von privaten Investoren und öffentlichen Maßnahmen finanzierten Aufwertungen der Gebiete sind die Bewohner_innen der Gefahr der Verdrängung ausgesetzt (Helbrecht 1996; Ley 1996, Holm 2012). In diesem Aufsatz wird der Prozess der Verdrängung näher untersucht. Im Gegensatz zu anderen Forschungsarbeiten, welche sich besonders mit den Gründen und Abläufen von Gentrification beschäftigen, konzentriert sich diese Studie auf die Auswirkungen des Gentrification-Prozesses. Eine Frage, die bislang nicht ausreichend beleuchtet worden ist (vgl. Helbrecht 2016 in diesem Band), steht im Mittelpunkt dieses Beitrags: Wohin ziehen die Verdrängten innerhalb eines Gentrification-Prozesses? Durch die Medien wird die Annahme verbreitet, dass viele einkommensschwache Haushalte sich das Leben in der Innenstadt nicht mehr leisten können und an den Stadtrand verdrängt werden. Die Gefahr bestehe dann, dass die Verdrängten dort eine negative Stigmatisierung erfahren würden (Rada, taz 2012). Diese Annahmen sind jedoch wissenschaftlich kaum belegt und daher reine Behauptungen (vgl. Förste/Bernt 2016 in diesem Band). Wo die von Verdrängung betroffenen Bewohner_innnen tatsächlich hinziehen werden, ist bislang nicht erforscht. Diese Arbeit will dazu beitragen, diese Forschungslücke zu schließen. Dabei dient Berlin Kreuzberg als Untersuchungsgebiet. Dort steigen momentan die Mieten so rasant wie in keinem anderen Stadtteil Berlins. Dies ist auf Aufwertungsprozesse zurückzuführen, die bereits andernorts in vielen Stadträumen zu beobachten sind. Auch in den Wohngebieten mit (noch) niedrigem Mietpreisniveau herrscht bei den Kreuzberger_innen zunehmend die Angst, dass sie aus ihren Wohnungen verdrängt werden könnten (Bax, taz 2012). Wohin sie dann ziehen werden bzw. würden, steht im Mittelpunkt unserer Forschung. Um die Forschungsfrage beantworten und diskutieren zu können, werden zunächst die literaturbasierten theoretischen Begriffe »Gentrification« und »Verdrängung« näher erläutert. Dies basiert auf Erkenntnissen des GentrificationDiskurses und der Wanderungsforschung. Anschließend folgen die vergleichende Auswertung und Beantwortung der Forschungsfrage auf Basis der zuvor formulierten Forschungsthesen unter Berücksichtigung der empirisch erhobenen Daten. In diesem Zusammenhang werden die Ergebnisse auch kartographisch aufbereitet und abschließend kritisch diskutiert.
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Gentrification ist momentan ein allgegenwärtiges Thema in der geographischen Diskussion ebenso wie in der Presse und Öffentlichkeit. Der Begriff beschreibt die qualitative Aufwertung von innerstädtischen Wohngebieten und die damit einhergehende Verdrängung einkommensschwacher durch einkommensstarke Haushalte (Helbrecht 1996; Arikas 2004: 3; Atkinson et al. 2011: 1). Unter qualitativer Aufwertung versteht Arikas (2004) die Modernisierung des Wohnungsbestandes, die Schaffung von Eigentumswohnungen sowie die Verbesserung der Infrastruktur (ebd.: 3). Während in den USA vorrangig ein marktbezogener Erklärungsansatz für Gentrification-Prozesse verwendet wird, hat sich in Europa ein nachfrageorientiertes Modell durchgesetzt (Marquardt 2006: 37). Dieses bezieht sich auf wandelnde Lebensstile und damit einhergehende neue Wohnpräferenzen, wodurch sich die Wohnungsnachfrage ändert. Durch neue Haushaltstypen, wie z.B. vermehrte Single-Haushalte oder so genannte »DINKs« (double income no kids) werden zunehmend innenstadtnahe Wohnungen bevorzugt. Hinzu kommt, dass sich auch die Berufsbilder in den letzten Jahrzehnten stark verändert haben. Der Großteil der arbeitenden Bevölkerung ist heute im Dienstleistungssektor beschäftigt, welcher vorrangig im Stadtzentrum angesiedelt ist. Diese Bevölkerungsgruppen präferieren Wohnstandorte, die zum einen in Arbeitsplatznähe liegen und zum anderen eine Infrastruktur aufweisen, die ihre Konsum-, Kulturund Freizeitbedürfnisse befriedigen kann (Ley 1996: 10; Marquardt 2006: 37f.). Auch nach Arikas (2004) und Sumka (1979) sind die Ursachen für den Gentrification-Prozess in den Entwicklungen der postfordistischen Gesellschaft zu finden. »The revitalization of innercity neighbourhoods is the result of macro trends in housing market economics and in demographic and lifestyle changes« (Sumka 1979: 482). Marcuse (1989) präzisiert, dass Gentrification nicht nur durch eine Verschiebung der Wohnpräferenzen und Lebensstile entstehe, sondern auch durch Veränderungen der Arbeitsmarktprozesse. »The demand for the specific form of housing that gentrified neighbourhoods and gentrified houses represent thus is a response to changes in the nature of work for a particular group; changes that create a need which the new form of housing fulfils. The need is not one that arises out of some unpredictable and arbitrary swing of popular taste, nor is it solely an economic response in housing to changes in wage patterns or job location in the labour market. Rather, gentrification, in its specific social, aesthetic, and cultural forms, is
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Eine verringerte Nachfrage nach geringqualifizierten Arbeiter_innen führt nach Marcuse zu einer verringerten Nachfrage nach günstigem Wohnraum in der Innenstadt, während gleichzeitig eine steigende Nachfrage nach innenstadtnahem Wohnen von hochgebildeten und einkommensstarken Personen entsteht. Dies verursacht nach Marcuse die oben genannte Verdrängung (Marcuse 1989: 214). Er führt weiterhin an, dass diese hochqualifizierten neuen Bewohner_innen der Innenstadt in einer ganz speziellen Umgebung wohnen wollen, die er als »gentrified living« bezeichnet (ebd.). Häußermann/Kapphan (2000) bezeichnen diese Personen als »Urbaniten«, welche sich bewusst für die Innenstadt als Wohnstandort entscheiden, obwohl ihre finanziellen Ressourcen auch andere Möglichkeiten zuließen. »[Sie] unterscheiden sich von den Randwanderern durch ihren Lebensstil, der stark berufsbezogen oder auf die urbanen, kulturellen Einrichtungen bezogen ist« (Häußermann/Kapphan 2000: 129).
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Die Gentrification-Debatte betrachtet oftmals nur die sogenannten »Gentrifier«, doch in diesem Beitrag soll es vorrangig um eine Folge der Gentrification gehen: die Verdrängung der einkommensschwachen Bevölkerung. »Residential displacement is one of the primary dangers cited by those concerned about the exclusionary effects of market- as well as state-driven gentrification« (Newman/Wyly 2006: 27). Newman/Wyly (2006) stellen heraus, dass Bewohner_innen aus verschiedenen Gründen verdrängt werden, zu denen der Abriss oder der Rückbau eines Hauses zählt, ebenso wie der Eigentümerwechsel von Mietshäusern, steigende Mieten, Willkür der Eigentümer_innen und Zwangsräumungen (ebd.: 27). Im vorliegenden Aufsatz wird aus vereinfachenden Gründen der ökonomische Verdrängungsdruck als Folge von steigenden Mieten definiert. »Household displacement results where the increased costs of a dwelling and insufficiency of any relevant regulatory regime allow people to be dislodged by these pressures« (Atkinson et al. 2011: 4). Doch der Verdrängungsdruck muss nicht nur ökonomischer Natur sein, beispielsweise kann auch der Wegzug von Freunden und Familie einen sozialen Verdrängungsdruck erzeugen (Slater 2009: 303f.).
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Atkinson et al. (2011) beschäftigen sich in ihrer Studie mit der Frage, auf welche Weise Haushalte mit einem niedrigen Einkommen im Zuge des Gentrification-Prozesses beeinflusst werden. Besonders die steigenden Mieten seien Auslöser für einen enormen Druck auf sozialschwache Haushalte. Dies habe drei Auswirkungen (Atkinson et al. 2011: 1): 1. Die steigenden Mieten verursachen einen Kostendruck für Niedrigver-
diener_innen und nötigen sie entweder die höheren Kosten zu zahlen oder in Gegenden mit niedrigeren Mieten zu ziehen. 2. Ein Umzug in ein nicht-gentrifiziertes Gebiet hat den Verlust von sozialen Netzwerken zur Folge. 3. Die sich wandelnden Nachbarschaften und Dienstleistungsinfrastrukturen in den gentrifizierten Stadtteilen sind oftmals nicht mehr auf Niedrigverdiener_inner ausgerichtet. In den gentrifizierten Gebieten, Atkinson et al. nennen sie »G-locations« (Atkinson et al. 2011: 2), kann eine höhere Mobilitätsrate nachgewiesen werden als durchschnittlich üblich. Weiterhin ist zu beobachten, dass die Rate an wegziehenden Haushalten aus den G-locations in nicht-gentrifizierte Gegenden ebenfalls sehr hoch ist. Der Anteil der Verdrängten war dort rund 50% höher als die Auszugsrate von Haushalten mit ähnlich hohem Einkommen aus nichtgentrifizierten Stadtteilen (ebd.). Auch Newman/Wyly (2006) bestätigen mit ihrer Analyse der New Yorker Umzugsdaten zwischen 1991 und 2002 diese Ergebnisse: Die Verdrängungsrate liegt hier zwischen 6,2% und 9,9% aller Umzüge von Mietern innerhalb der Stadt, und die große Mehrheit der untersuchten Haushalte ist auch hier aus Kostengründen umgezogen (ebd.: 29). »Cost drives the overall trend, with fluctuations in unemployment, income and rental inflation combining to force households into various relocation or adjustment strategies« (ebd.: 30). Die Verdrängten aus den Glocations sind meist in die angrenzenden Vororte gezogen, was Atkinson et al. (2011: 2) als »desperate attempt to maintain a foothold near the locations they have come from« bewerten. Sumka (1979) kommt in seiner Arbeit zu dem gleichen Schluss und fasst seine Ergebnisse wie folgt zusammen: »Two general patterns are implied by these case studies. First, displaced persons tend to move very short distances. […] The second, and related, point is that dislocated families often move more than once as the boundaries of the revitalization area expand.« (Sumka 1979: 485)
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Anhand dieser Erkenntnisse aus der Literatur lässt sich eine erste Forschungsthese ableiten: Die Kreuzberger_innen wollen auch im Falle einer erzwungenen Migration in Wohnortnähe bleiben.
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Ziel dieser Arbeit ist es, ein Muster zu erkennen, wohin die Verdrängten eines Gentrification-Prozesses ziehen. In der Wanderungsforschung ist die residentielle Mobilität1 häufig Forschungsgegenstand und »stellt auch einen wichtigen Anpassungsmechanismus an den wirtschaftlichen [und] sozialen […] Wandel einzelner Regionen dar« (Bähr 2010: 240). Ein geeigneter Ansatz zur Beschreibung und Erklärung dieses Wanderungsvorgangs bietet die Arbeit von Kecskes (1994). In seinem Modell der residentiellen Mobilität wird der Umzug als eine von mehreren Reaktionsmöglichkeiten auf eine Unzufriedenheit mit der Wohnsituation betrachtet. Es erlaubt Rückschlüsse auf soziodemographische und -ökonomische Faktoren, welche die Reaktion auf Wohnunzufriedenheit beeinflussen. Bevor darauf näher eingegangen wird, muss zunächst der Begriff der Wohnzufriedenheit erläutert werden. Mit Wohnzufriedenheit ist die Zufriedenheit mit der aktuellen Wohnsituation gemeint, welche sowohl die physisch-räumlichen Bedingungen (Wohnungsgröße, Schnitt), als auch die Umweltbedingungen (Nachbarschaftsbeziehungen, Infrastruktur) einschließt (Flade 2006: 51ff.). Die Wohnzufriedenheit ist zudem eng mit der emotionalen Ortsverbundenheit gekoppelt, welche sich durch soziale Netzwerke, Erinnerungen und Geborgenheit manifestiert (ebd.: 30). Indikatoren für die Ortsbindung stellen die Wohndauer und das Wohnverhältnis dar. So sind Eigentümer durchschnittlich enger mit dem Wohnort verbunden als Mieter. »Ähnlich wie es zahlreiche Gründe gibt, den Wohnort zu wechseln, gibt es etliche Gründe, die den Wunsch oder die Entscheidung, an einem Ort wohnen zu bleiben, bekräftigen« (ebd.: 31). Dazu zählt Flade (2006) die am Wohnort vorhandenen Annehmlichkeiten und Ressourcen, wobei vor allem die nachbarschaftlichen Kontakte eine Bindung an den Wohnort stärken. »Wenn man sich mit einem Ort identifiziert, wird dieser zu einem Teil der eigenen Persönlichkeit« (Flade 2006: 32).
1
Residentielle Mobilität ist eine Form der räumlichen Mobilität und bezieht sich auf den Wechsel eines Individuums zwischen definierten Einheiten eines räumlichen Systems. Der Wohnungswechsel ist ein zweckmäßiges Kriterium um dies zu erfassen (Bähr 2010: 239; Kemper/Kuls 2002: 184).
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Entsprechend führen Häußermann/Siebel (2004) an, dass es gravierende Gründe braucht um ein Quartier zu verlassen, in dem man lange wohnte, da Wohnquartiere nach langer Wohndauer auch stets soziale Netze beinhalten (Häußermann/Siebel 2004: 158f.). Bei einem Wohnortwechsel verändert sich das gesamte Mensch-Umwelt-System und eine Eingewöhnung in eine neue Umwelt ist meist mit einem hohen Maß an Stress verbunden. Dazu zählen beispielsweise Isolation und eine mangelnde soziale Integration, dies sei vor allem bei unfreiwilligen Umzügen zu erkennen (Flade 2006: 31). Atkinson et al. (2011) führen dazu aus: »[…] these households suffer significant stress in relocating some distance away from the supporting networks of local family and friends. This can affect psychosocial health, educational outcomes, household dissolution and homelessness« (Atkinson et al. 2011: 5). »For those who were priced-out of their neighbourhoods, they often found that this had a knock-on effect on their relationships and social networks« (ebd.: 44).
Daraus lässt sich die zweite These der vorliegenden Forschungsarbeit ableiten: Die Bindung an den Wohnort und an das soziale Umfeld bestimmt die Standortwahl unter Verdrängungsdruck. Das eingangs erwähnte Modell von Kecskes stellt grundlegend ein verhaltensorientiertes Modell dar (Bähr 2010: 260). Durch verschiedene Faktoren wird, ab einem gewissen individuellen Schwellenwert, die Wohnzufriedenheit eines Akteurs gestört. Solche Faktoren können sowohl exogen sein wie beispielsweise Mietsteigerungen, aber auch endogen wie z.B. Familiengründungen. Laut Kecskes (1994: 129f.) wird der Akteur nach Überschreitung des Schwellenwertes reagieren, um die Stresssituation zu beenden. Er kann dies durch Passivität tun, indem er sich mit seiner Situation abfindet und seine Ansprüche reduziert. Widerstand ist jedoch ebenfalls eine Möglichkeit und kann beispielsweise auch Demonstrationen oder die Mitarbeit in Bürgerinitiativen umfassen. Zuletzt bleibt noch die Option des Umzugs. Diese drei Handlungsstrategien sind jedoch nicht endgültig. Sollte der Widerstand scheitern, sind ein Umzug oder Passivität immer noch verbleibende Möglichkeiten (Kecskes 1994: 132). Die meisten verhaltensorientierten Modelle haben jedoch den Nachteil, dass sie von einer freien Wahl des Individuums bezüglich seiner Entscheidungen ausgehen (Bähr 2010: 263). Doch sind »selbst innerstädtische Migrationen […] in der Regel nicht frei von äußeren Einflussgrößen« (ebd.: 263). In der Hypothesenbildung geht Kecskes (1994) allerdings auf solche Einflüsse ein, denen ein Individuum unterliegt und die dessen Entscheidungen stark beeinflussen. Seine erste Hypothese gilt den materiellen Ressourcen der Haus-
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halte, die einen Umzug gegebenenfalls unmöglich machen: »Schließlich nehmen wir an, daß mit abnehmenden finanziellen Ressourcen auch eine Auszugsintention seltener in einen tatsächlichen Auszug umgesetzt wird, da für die Realisierung häufig die Mittel fehlen. Stattdessen bleibt Haushalten mit geringen finanziellen Ressourcen oft nur die Anpassung der Ansprüche« (Kecskes 1994: 134). Einen weiteren Faktor stellt für Kecskes (1994) die Bildung dar, aus der sich zwei Handlungsmuster ableiten lassen: Zum einen vereinfacht ein hoher Bildungsabschluss die Entwicklung eines umfassenden, räumlich ausgedehnteren sozialen Netzwerks. Dies führt unter der Annahme, dass auf einem angespannten Wohnungsmarkt viele Wohnungen nur durch soziale Netzwerke vermittelt werden, dazu, dass Personen mit einem hohen Bildungsabschluss eher einen Umzug realisieren können, als Personen mit einem niedrigeren Bildungsabschluss. Zum anderen haben Personen mit einem hohen Bildungsabschluss ein höheres kulturelles Kapital und folglich eine umfangreichere Kenntnis über ihre Rechte und die Möglichkeiten einer Anpassung. Somit gleichen sich diese Annahmen aus und es ist nicht gesagt, dass ein höherer Bildungsabschluss automatisch mit häufigeren Umzügen verbunden werden kann, jedoch dass dieser einen Umzugswunsch aufgrund besserer finanzieller Mittel eher umsetzen kann (Kecskes 1994: 134). Clark/Dieleman (1996) merken hierzu an: »The higher the level of education of an individual or in a household, the greater the chance of moving at all age levels« (Clark/Dieleman 1996: 44). Als dritten Faktor führt Kecskes (1994) das Alter an. Hier nimmt er an, dass ein hohes Alter zu weniger Umzügen führt. Zum einen verfügen ältere Menschen in der Regel nicht mehr über die oben genannten finanziellen und sozialen Ressourcen und zum anderen sind sie meist in großem Maße mit ihrer Wohnung und dem Wohnviertel verbunden. Kecskes (1994) nimmt daher an, dass diese Personengruppe eher eine Anpassung der Ansprüche an die Umwelt vornimmt (Kecskes 1994: 134). Anhand dieser Hypothesen wird deutlich, dass die Handlungsentscheidung eines Individuums nicht völlig frei erfolgt. In der Bevölkerungsgeographie werden solche äußeren Einflussgrößen als Zwänge bzw. Constraints bezeichnet und finden häufig Verwendung in handlungszentrierten Konzepten. Constraints engen den Handlungsspielraum ein und können dazu führen, dass einzelne Ziele der Wohnstandortwahl ausgeschlossen sind. Solche Zwänge können beispielsweise aus der Dynamik des Wohnungsmarktes entstehen, aber auch im Zusammenhang mit dem Lebensstil oder dem kulturellen, sozialen und ökonomischen
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Kapital2 (Bähr 2010: 263; Häußermann/Siebel 2004: 158). Laut Kecskes (1994) wirken Constraints vor allem bei der Wahl der Handlungsstrategie und der eigentlichen Wohnstandortwahl. Jedoch kann beispielsweise die Kapitalausstattung eines Individuums auch Einfluss darauf haben, welche Faktoren überhaupt als störend wahrgenommen werden oder wie groß der individuelle Schwellenwert ist. Daran wird wiederum deutlich, welch große Bedeutung das soziale, kulturelle und ökonomische Kapital hat. Manderscheid (2012) spricht daher zu Recht vom Mobilitätsvermögen als ein Kapital im bourdieuschen Sinne. Ein solches Mobilitätskapital ist ebenso mit anderen Kapitalarten transformierbar. So führt ein hohes soziales und/oder ökonomisches Kapital zu einem hohen Mobilitätskapital. Das bedeutet allerdings nicht nur, dass solche Personen mobiler sind. Ein hohes Mobilitätskapital ermöglicht ebenfalls, dass eine Person Mobilitätszwänge vermeiden kann. Beispielsweise würde bei einem hohen ökonomischen Kapitel die Gentrification keine residentielle Migration erzwingen, da die Mietsteigerung getragen werden kann (Manderscheid 2012: 555). Mit Hilfe seiner empirischen Untersuchung konnte Kecskes (1994) alle seine Hypothesen verifizieren, bis auf die Annahme, dass finanzielle Ressourcen einen Umzug beeinflussen. Die Untersuchung hat ergeben, dass sich Personen mit einem hohen Einkommen hinsichtlich stattfindender Umzüge nicht von Personen mit einem niedrigen Einkommen unterscheiden (Kecskes 1994: 143). In diesem Punkt differieren jedoch die Forschungsergebnisse in der Literatur: »Clearly, income is the enabling or constraining variable in the mobility process« (Clark/Dieleman 1996: 51). Auch Clark/Dieleman (1996) haben Faktoren untersucht, die das Mobilitätsverhalten von Haushalten erklären: »[…] mobility behaviour and tenure
2
Bourdieu unterscheidet drei Arten von Kapital: ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital. »Das ökonomische Kapital ist unmittelbar und direkt in Geld konvertierbar und eignet sich besonders zur Institutionalisierung in der Form des Eigentumsrechts« (Bourdieu 1992: 1). »Das Sozialkapital ist die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen« (Bourdieu 1992: 5). »Das kulturelle Kapital kann in drei Formen existieren: (1.) in verinnerlichtem, inkorporiertem Zustand, in Form von dauerhaften Dispositionen des Organismus, (2.) in objektiviertem Zustand, in Form von kulturellen Gütern, Bildern, Büchern, Lexika, Instrumenten oder Maschinen, (...) und schließlich (3.) in institutionalisiertem Zustand« (Bourdieu 1992: 2).
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choice are influenced by household type, including age, size of the household, and income« (Clark/Dieleman 1996: 34). Aus diesen Ergebnissen leitet sich unsere dritte These ab: Die soziodemographischen und -ökonomischen Faktoren Alter, Netto-Haushaltseinkommen, Haushaltsform und Bildungsabschluss haben einen Einfluss auf die Wahl der Wohnstandorte.
Z WISCHENFAZIT Die Literaturauswertung zeigt, dass Verdrängung als Folge von steigenden Mieten im Zuge eines Gentrification-Prozesses zu intraregionaler, residentieller Mobilität führt. Wie Sumka (1979) und Atkinson (2011) anführen, verlaufen die Umzugsströme aus den gentrifizierten Gebieten meist in angrenzende Stadtteile, um so nah wie möglich am vorherigen Wohnstandort zu bleiben. Die Gründe hierfür sind in der emotionalen Bindung an den Standort und in den sozialen Kontakten vor Ort zu finden. Weiterhin konnte festgestellt werden, dass soziodemographische und -ökonomische Faktoren auf Umzugsentscheidungen Einfluss haben. Hierzu lieferten die Arbeiten von Clark/Dieleman (1996) und Kecskes (1994) wichtige Erkenntnisse. Stützend auf diese Befunde formulieren wir die nachstehenden Thesen, die im Folgenden empirisch überprüft werden: • These 1: Die Kreuzberger_innen wollen auch im Falle einer erzwungenen Migration in Wohnortnähe bleiben. • These 2: Die Bindung an den Wohnort und an das soziale Umfeld bestimmt die Standortwahl unter Verdrängungsdruck. • These 3: Die soziodemographischen und -ökonomischen Faktoren Alter, Netto-Haushaltseinkommen, Haushaltsform und Bildungsabschluss haben einen Einfluss auf die Wahl der Wohnstandorte.
E MPIRISCHE U NTERSUCHUNG K REUZBERG
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F ALLBEISPIEL
Der Westberliner Stadtteil Kreuzberg ist seit dem Wegfall der Anschlussförderung im sozialen Wohnungsbau und aktuellen Protestbewegungen gegen Mietpreissteigerungen und Verdrängung medial sehr stark präsent (siehe Scheer 2016 in diesem Band). Kreuzberg ist einerseits geprägt durch eine Gründerzeit-
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bebauung und andererseits durch Neubauten der 1970er Jahre (vgl. Abb. 1a: Kreuzberg Nord und Abb. 1b: Kreuzberg Ost). Abbildung 1a: Kreuzberg Nord
Blick entlang der Prinzenstraße, Foto: Stephanie Schramm
Abbildung 1b: Kreuzberg Ost
Blick auf die Gründerzeitbebauung entlang der Görlitzer Straße (Görlitzer Park rechts), Foto: Christine Schierbaum
Kreuzberg ist vom Amt für Statistik in drei Prognoseräume gegliedert: Kreuzberg Nord (01), Kreuzberg Süd (02) und Kreuzberg Ost (03) (AfS Berlin-
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Brandenburg 2008: 9ff.). Die drei Prognoseräume umfassen ca. 124.730 Einwohner_innen (Stand 2011) (vgl. Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg von Berlin 2013a; 2013b). Für diesen Aufsatz werden aufgrund erheblicher Unterschiede der Mietpreisentwicklungen von 2010 auf 2011 zwei kleinräumige Gebiete ausgewählt (IBB 2012: 85). Es sind die Wohngebiete untersucht worden, welche hohe bzw. geringe Mietpreissteigerungen aufweisen, um die höchstmögliche Vielfalt an Bewohnerdaten in Kreuzberg erheben zu können. Sie weisen aus sozio-demographischer und -ökonomischer Sicht unterschiedliche Merkmale auf. Das Untersuchungsgebiet beschränkt sich daher auf die Prognoseräume Kreuzberg Nord und Kreuzberg Ost (vgl. Abb. 2), genauer: die Wohngebiete entlang der Prinzenstraße (Bezirksregion Südliche Friedrichstadt) und um den Görlitzer Park (Bezirksregion Nördliche Luisenstadt und Südliche Luisenstadt). Abbildung 2: Untersuchungsgebiete und Wohnstandorte der Befragten in Kreuzberg
Quelle: eigene Darstellung
Die Prinzenstraße (Kreuzberg Nord) hat im Zeitraum von 2010 zu 2011 einen Mietpreisanstieg von 4,7% erfahren. Der Berliner Durchschnitt liegt bei 4%
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(IBB 2012: 59). Dem steht das Gebiet um den Görlitzer Park (Kreuzberg Ost) mit einer Mietpreissteigerung von 10 bis 50% im gleichen Zeitraum gegenüber (IBB 2012: 85). Wie bereits in der Theorie erläutert, kann angenommen werden, dass es sich bei Kreuzberg Ost um ein Gebiet handelt, welches sich im GentrificationProzess befindet und entsprechend junge und einkommensstarke Bevölkerungsgruppen anzieht. Kreuzberg Nord hingegen ist bislang wenig vom Gentrification-Prozess betroffen (vgl. Holm 2012; Döring/Ulbricht 2016 in diesem Band; Holm/Schulz 2016 in diesem Band).
M ETHODISCHE V ORGEHENSWEISE Die Überprüfung der drei aus der Literatur hervorgegangenen Thesen wird auf Grundlage eines quantitativ-analytischen Ansatzes durchgeführt. Hierbei handelt es sich um eine mündliche Befragung, die eine annähernd gleichartige Interviewsituation ermöglicht und deren Aussagen nach der Durchführung quantifiziert werden können (Meier/Kruker/Rauh 2005: 90). Diese Methode eignet sich, um die zuvor aufgestellten Thesen zu überprüfen (Wessel 1996: 42). Für die vorliegende Studie ist jede_r zweite angetroffene Bewohner_in in Kreuzberg nach einem systematischen Zufallsprinzip mit einem semi-standardisierten Erhebungsbogen auf der Straße angesprochen und um Teilnahme gebeten worden. Um zu vermeiden, dass die Auswahl der Probanden durch den Ort und Zeitpunkt der Befragung zu einseitig ausfällt, sind die Befragungen zu unterschiedlichen Jahreszeiten, Wochentagen und Tageszeiten durchgeführt worden (ebd.: 127f.). Damit kann gewährleistet werden, dass das Spektrum an Teilnehmer_innen u.a. hinsichtlich des Alters, des Geschlechts, des Einkommens und des Bildungsgrades im Untersuchungsgebiet breit gefächert ist. Weitere Vorteile dieser quantitativ-analytischen Methode sind die Möglichkeiten der direkten Erläuterung der jeweiligen Frage, sowie die Möglichkeit der Vergewisserung, dass die Fragen von den Passanten richtig verstanden werden. Außerdem können die Befragten in einem persönlichen Gespräch besser zum Antworten motiviert werden, als beispielsweise bei einer postalischen oder elektronischen Erhebung (ebd.: 117f.). Der Nettostichprobenumfang3 umfasst bei der Befragung insgesamt 199 Kreuzberger_innen. Die für die Untersuchung relevante Gesamtbevölkerungs-
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Nettostichprobenumfang = Gesamtheit der Befragungen minus Ausfälle (Personen, die nicht teilnehmen möchten) minus Ausfüllfehler (Personen, die dann nichts aussagen konnten/wollten) (Wessel 1996: 202).
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zahl von Kreuzberg bezieht sich auf die Einwohner_innen ab 15 Jahren4 in den untersuchten Prognoseräumen Kreuzberg Nord und Kreuzberg Ost. Damit schließt sie 72.783 Personen ein. Der Nettostichprobenumfang beträgt damit 0,28% der relevanten Bevölkerung (vgl. Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg von Berlin 2013b). Damit kann zwar keine Repräsentativität erzielt und kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden, allerdings lassen sich aus den Ergebnissen Erkenntnisse gewinnen, aus denen sich wiederum neue Forschungsfelder ergeben können. Für die Durchführung dieser quantitativen Methode ist ein Fragebogen auf Grundlage der oben genannten Thesen entwickelt worden. Durch die Filterfrage, ob die Passanten im nahen Umkreis leben und wenn ja, wo ungefähr, kann sichergestellt werden, dass lediglich Bewohner_innen aus den beiden Untersuchungsgebieten an der Befragung teilnehmen. Des Weiteren sind Fragen über den Zeitpunkt und die Gründe des letzten Umzugs beziehungsweise nach bevorstehenden Umzugsabsichten gestellt worden. Der Hauptteil des Erhebungsbogens umfasst Handlungsfragen. Diese liefern Informationen über subjektive Einstellungen und Handlungskonstruktionen der Probanden (Reuber/Pfaffenbach 2005: 72). Die zentralen Fragen sind, welchen Wohnstandort die Passanten bei einer von finanziellen Mitteln unabhängigen Entscheidung wählen würden (»Wunschort«) und wohin es sie verdrängen würde, wenn sie sich die gegenwärtige Miete ihrer Wohnung nicht mehr leisten könnten (»Verdrängungsort«). Diese offenen Fragen nach den beiden fiktiven Situationen ließen mehrere Wohnorte als Antwortmöglichkeit zu. Hierbei darf nicht vernachlässigt werden, dass die Antworten – insbesondere, wenn es um zukünftige Handlungen geht – nur mögliche Absichten darstellen und daher nicht als endgültig verstanden werden dürfen. Neben weiteren Fragen zur gegenwärtigen Wohnsituation, wie z.B. Wohndauer, sind soziodemographische und -ökonomische Fragen wie beispielsweise das Netto-Haushaltseinkommen, der höchste erreichte Bildungsabschluss oder das Geburtsjahr erfasst worden (ebd.: 70ff.). Durch die Befragung können alle drei Thesen überprüft werden. Hierfür sind die Daten mit statistischen Auswertungsprogrammen aufbereitet, analysiert und anschließend die Ergebnisse durch Grafiken und Karten visualisiert worden. Eine kritische Reflexion der Untersuchungsmethode ergibt neben ihren Potentialen auch folgende Probleme und Schwachstellen, die es bei der Untersuchung zu beachten gilt:
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Jugendliche, die beispielsweise eine Ausbildung machen und einen eigenen Haushalt führen, werden ebenfalls bei der Erhebung aufgenommen.
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Hoher Aufwand an Zeit, Kosten und Organisation, der den Umfang der Stichprobe einschränkt, Schwierige Kontrolle der Befragungssituation, beispielsweise durch Störung Dritter, Unterschiedliche Frageformulierungen, Sprachprobleme, kommunikative Fähigkeiten, Nachlässigkeiten oder Interventionen bei mehreren Interviewer_innen können die Antworten der Befragten beeinflussen (subjektiver Einfluss, trotz objektiver Fragestellung), Unverständnis bezüglich des Unterschiedes zwischen Netto-Einkommen pro Person und Netto-Haushaltseinkommen, Misstrauen und mangelnde Kooperation bei einigen Passanten, Unterschiedliche Auswirkungen auf Antworten durch Reaktionen auf die Interviewer_innen oder Sympathien bzw. Antipathien.
S TATISTISCHE AUSWERTUNG
DER
B EFRAGUNG
Wie eingangs erläutert, sind für die Erhebung insgesamt 199 Personen in Kreuzberg befragt worden. Davon leben 42,2% im Wohngebiet Prinzenstraße und 57,8% im Wohngebiet um den Görlitzer Park. Dabei sind 53,3% der Befragten weiblich. Das Geschlechtergleichgewicht ist damit für diese Untersuchung gegeben und entspricht annähernd dem des Bezirks (vgl. Bezirksamt FriedrichshainKreuzberg von Berlin 2013b).
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Abbildung 3: Mittleres Netto-Haushaltseinkommen in €/Monat im Standortvergleich
Quelle: eigene Berechnung; IBB 2012: 84
Das Durchschnittsalter liegt bei 42,7 Jahren, dennoch sind die anteilsmäßig größten Altersgruppen die der jungen Erwachsenen bis 27 Jahre (17,6%), sowie die Erwachsenen mittleren Alters zwischen 28 und 45 Jahren (46,2%). Dieser Altersschnitt entspricht dem Kreuzberger Durchschnitt (vgl. Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg von Berlin 2013a). Zu der Frage nach dem monatlichen Netto-Haushaltseinkommen haben sich nur 182 Personen geäußert, da einige keine Angaben diesbezüglich machen wollten oder die Höhe des Netto-Haushaltseinkommens nicht wussten. Zwar wurden die Angaben zum Einkommen als Antwortkategorien erfasst, doch wurde zur besseren Veranschaulichung und Vergleichbarkeit das arithmetische Mittel für beide Gebiete näherungsweise berechnet. Dieses liegt im Bereich der Prinzenstraße bei 1.700,50 €/Monat (n=105) und im Bereich des Görlitzer Parks bei 2.150,50 €/Monat (n=77). Zum Vergleich: Das bezirkliche Mittel liegt bei 1.888,00 €/Monat (Stand 2011) und der Berliner Durchschnitt bei 2.107,00 €/Monat (Stand 2011) (IBB 2012: 85), (vgl. Abb. 3). Hinsichtlich der beiden Standorte in Kreuzberg fällt auf, dass die Befragten der Prinzenstraße häufig ein geringeres Netto-Haushaltseinkommen von unter 2.000€/Monat (75,3%) angeben, als die im Wohngebiet um den Görlitzer Park (51,4%). Dort hingegen haben deutlich mehr Personen ein Netto-Haushaltseinkommen von 2.000€/Monat und aufwärts (48,6% im Vergleich zu 24,7%) (vgl. Abb. 4).
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Abbildung 4: Verteilung des mittleren Netto-Haushaltseinkommens in €/Monat im Standortvergleich (n1: Görlitzer Park = 105; n2: Prinzenstraße = 77) 30
26,0
24,7
Verteilung in %
25 20 15
24,7
19,0 18,1 14,3
10
14,3 13,3 10,4 5,2
5
6,7
6,7
5,7
3,9 2,6
2,6
1,0
0
Görlitzer Park
Prinzenstraße
Kreuzberg
Quelle: eigene Grafik
In Bezug auf den Bildungsabschluss haben anteilsmäßig mehr Personen aus dem Wohngebiet der Prinzenstraße einen geringer qualifizierten Abschluss. 22,9% können als höchsten Bildungsabschluss das Beenden der 10. Klasse nachweisen und 31,3% eine abgeschlossene Ausbildung. Bei den befragten Passanten am Görlitzer Park haben nur 3,5% ausschließlich einen Abschluss der 10. Klasse und 26,1% eine Ausbildung. Der Anteil an Personen mit einem hohen Bildungsabschluss (Fach-/Abitur und Fach-/Hochschule) ist dort deutlich höher als im Wohngebiet Prinzenstraße (67,0% im Vergleich zu 33,7%) (vgl. Abb. 5). 41,4% aller Befragten in beiden Gebieten können einen hohen Bildungsabschluss nachweisen. An zweiter Stelle steht die berufliche Ausbildung als Bildungsabschluss mit 28,3%. Nur 7,1% der befragten Kreuzberger_innen geben an keinen bzw. noch keinen Bildungsabschluss zu haben.
1,0
86 | SIMON K OCH, M ARRIKE K ORTUS , CHRISTINE SCHIERBAUM, STEPHANIE S CHRAMM
Abbildung 5: Bildungsabschlüsse im Standortvergleich (n1: Görlitzer Park = 115; n2: Prinzenstraße = 83) 60
50,4
Verteilung in %
50 40
26,1
30
28,9
22,9 16,5
20 10
31,3
12,0 3,5
4,8
3,5
0
(noch) keinen Abschluss
10-Klasse Abschluss Görlitzer Park
Ausbildung Prinzenstraße
Fach-/ Abitur
Fach-/ Hochschule
Kreuzberg
Quelle: eigene Grafik
Hinsichtlich der Haushaltsformen geben 34,7% der Befragten und damit die deutliche Mehrheit an mit ihren Familien zusammenzuleben. Die zweithäufigste Haushaltsform ist der Singlehaushalt mit 31,7%, gefolgt von dem Partnerschaftshaushalt (19,6%) und den Wohngemeinschaften (WGs) (14,1%). Zwischen den beiden Untersuchungsorten werden deutliche Unterschiede sichtbar. Während im Wohngebiet der Prinzenstraße mehr Familien- (+8%) und Singlehaushalte (+13,2%) leben, gibt es um den Görlitzer Park deutlich mehr WGs (+22,2%) (vgl. Abb. 6).
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Abbildung 6: Verteilung der Haushaltsformen im Standortvergleich (n1: Görlitzer Park = 115; n2: Prinzenstraße = 84) 50
Verteilung in %
40 30
39,3
39,3 31,3
26,1
20
20,0 19,0
22,6
Görlitzer Park
Prinzenstraße Kreuzberg
10
2,4
0
Single
Paar
WG
Familie
Quelle: eigene Grafik
Die monatliche Haushaltswarmmiete wird in 200€ Spannen erfragt. Für die monatliche Warmmiete zahlt die Mehrheit der befragten Kreuzberger_innen zwischen 401 und 600 € (37,9%). Am zweithäufigsten wird eine Miete zwischen 601 und 800 € pro Monat angegeben (28,4%). In Bezug auf gebietsspezifische Unterschiede zahlt in der Prinzenstraße die Hälfte aller befragten Anwohner_innen (50%) zwischen 401 und 600 € und an zweit häufigster Stelle unter 400 € (20,7%). Am Görlitzer Park hingegen zahlen sie am häufigsten zwischen 601 und 800 € (35,2%) beziehungsweise zwischen 401 und 600 € (28,7%) (vgl. Abb. 7).
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Abbildung 7: Monatliche Warmmiete im Standortvergleich (n1:Görlitzer Park = 112; n2: Prinzenstraße = 82) 60
50,0
Verteilung in %
50 40
35,2 28,7
30 20
17,6
20,7
19,5 12,0
8,5
10
1,9
1,2
4,6
0
≤ 400 €
401-600 €
601-800 €
Görlitzer Park
801-1.000 € 1.001-1.200 €
Prinzenstraße
> 1.200 €
Kreuzberg
Quelle: eigene Grafik
Die Einschätzung des eigenen Mietpreisempfindens ist durch die Kategorien »sehr niedrig«, »niedrig«, »angemessen«, »hoch« und »sehr hoch« vorgegeben. Die Mehrheit der Kreuzberger_innen gibt hierbei ein »angemessenes« Mietpreisempfinden an (46,6%). Hinsichtlich des Vergleichs zwischen den Standorten sind leichte Abweichungen vorhanden. Die Befragten der Prinzenstraße geben anteilsmäßig häufiger höhere Kategorien wie »angemessen« (+3,8%), »hoch« (+2,9%) und »sehr hoch« (+0,3%) an, als die Befragten am Görlitzer Park. Diese beschreiben ihre Miete häufiger als »sehr niedrig« (+2,8%) bzw. »niedrig« (+4,3%). Die Frage nach der Wohndauer ist hinsichtlich der räumlichen und sozialen Bindung zum Wohnstandort von großer Bedeutung. Hierfür ist das Jahr des letzten Umzugs erfragt worden. Es leben 33,0% der befragten Personen seit mehr als zehn Jahren in Kreuzberg. Dabei handelt es sich vorwiegend um Personen, die im Gebiet der Prinzenstraße wohnen (45,0%). Bei denen, die seit kürzerer Zeit am jetzigen Wohnstandort leben, handelt es sich überwiegend um Anwohner_innen vom Görlitzer Park (unter 2 Jahre +9,8%; 3–5 Jahre +12,4%) (vgl. Abb. 8). Durchschnittlich leben die befragten Kreuzberger_innen seit 12,2 Jahren an ihrem Wohnstandort. Bewohner_innen rund um den Görlitzer Park leben im Durchschnitt 9,5 Jahre dort und die Bewohner_innen in der Prinzenstraße im Durchschnitt 15,7 Jahre. Da einige Personen noch nie umgezogen sind,
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wird in diesen Fällen die Wohndauer mit dem Alter gleichgesetzt. Verzerrungen lassen sich daher nicht gänzlich ausschließen. Abbildung 8: Wohndauer nach Wohnstandorten (n1: Görlitzer Park = 105; n2: Prinzenstraße = 80) 50
45,0
45
40 35 30 25 20
32,4 28,6 23,8 18,8
20,0
Görlitzer Park
Prinzenstraße
15,2 16,3
Kreuzberg
15
10 5 0 ≤ 2 Jahre
3-5 Jahre
6-10 Jahre
> 10 Jahre
Quelle: eigene Grafik
In Bezug auf die deskriptiven soziodemographischen und -ökonomischen Faktoren Alter, Haushaltsform, Netto-Haushaltseinkommen, Bildungsabschluss, Warmmiete und Wohndauer gibt es zwischen den beiden untersuchten Wohnstandorten Prinzenstraße und Görlitzer Park (zum Teil höchst-)signifikante Unterschiede, deren Ausprägung allerdings verschieden stark ist. Das Mietpreisempfinden weist jedoch zwischen den Standorten keinen signifikanten Unterschied auf (vgl. Tab. 1).
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Tabelle 1: Stärke und Richtung der signifikanten5 Unterschiede zwischen den Erhebungsräumen bzgl. ausgewählter Variablen Korrigierte Kontigenz-koeffizienten (Stärke des Zusammenhangs6)
Standortvergleich bzgl.
Spearman Korrelations-koeffizient7 (Stärke und Richtung des Zusammenhangs)
Wohndauer
0,454
**
0,286
**
Altersgruppen
0,449
**
0,252
**
Bildungsabschluss
0,468
**
-0,337
**
Haushaltsform
0,364
**
-
Warmmiete
0,321
*
-0,192
**
Netto-Haushaltseinkommen
0,281
*
-0,214
**
Mietpreisempfinden
0,173
-0,062
Damit kann bestätigt werden, dass das Spektrum an Erhebungen durch die Untersuchung in den beiden ausgewählten Gebieten sehr weit gefächert ist. Umso stärker die signifikanten Unterschiede sind, desto verschiedenartiger sind die Ausprägungen der einzelnen Faktoren in den beiden Gebieten.
E RGEBNISSE
UND
D ISKUSSION
Die statistische Auswertung der empirischen Daten ist in drei Schritten vorgenommen worden. Nach der Aufbereitung sind zunächst deskriptive Methoden verwendet worden, um einen Überblick über die Daten zu gewinnen. Darauf aufbauend erfolgt eine bivariate Analyse. Der Fokus der Auswertung liegt auf dem Zusammenhang zwischen alternativen Wohnstandorten in einer Verdrängungssituation und verschiedener unabhängiger Variablen, die aus den Thesen abgeleitet sind. Da die Häufigkeiten der Nennungen teils zu gering sind, um die nötigen Voraussetzungen für statistische Tests zu erfüllen, werden Umcodierungen vorgenommen. Die Verdrängungsorte werden in drei Kategorien zusammengefasst, diese umfassen Kreuzberg, Gebiete innerhalb des S-Bahn-Rings und damit die innere
5
* entspr. α=5%; ** entspr. α=1%; kein * entspr. keine Signifikanz
6
Signifikante Unterschiede: 0-0,3 = schwach; 0,3-0,5 = mittel; 0,5-1,0 = stark
7
Dichotome, nominale Variablen gelten als quasi-ordinal (Bühl 2012)
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Stadt (ohne Kreuzberg) sowie Gebiete außerhalb des S-Bahn-Rings. Auf den SBahn-Ring als Grenze von zwei Raumkategorien in Berlin bezieht sich bereits Gebhardt (2012: 84). Demnach werden Wanderungstrends stark dadurch beeinflusst, ob sich Personen in der Innenstadt oder in den äußeren Bereichen Berlins befinden; eine geeignete Abgrenzung dessen stellt der S-Bahn-Ring dar (Gebhardt 2012: 84). Weiterhin ist die Herkunft in eine dichotome Variable überführt worden. Diese gibt an, ob sich die letzte Wohnung des Befragten innerhalb oder außerhalb Kreuzbergs befand. Ebenso wird das Mietpreisempfinden dichotom in zwei Kategorien, geringe/angemessene Miete und hohe/sehr hohe Miete zusammengefasst. Zudem ist es nötig das Spektrum des Netto-Haushaltseinkommens auf drei Kategorien zu reduzieren: geringes Einkommen (0–1.500€), mittleres Einkommen (1.501–3.000€) und hohes Einkommen (über 3.000€). Des Weiteren werden die Bildungsabschlüsse »kein Abschluss« und »10. Klasse Abschluss« zusammengeführt. Die Resultate der bivariaten Analyse sind in Tabelle 2 ersichtlich. Tabelle 2: Stärke der signifikanten8 Abhängigkeiten zwischen Verdrängungsorten und ausgewählten unabhängigen Variablen Wohnstandorte unter Verdrängungsdruck bzgl.
Korrigierte Kontigenzkoeffizienten (Stärke des Zusammenhangs9)
Haushaltsform
0,386
**
Mietpreisempfinden Alter (in Klassen) Bildungsabschluss Wohndauer (in Klassen) Herkunft (Kreuzberg) Netto-Haushaltseinkommen
0,108 0,446 0,525 0,448 0,286 0,174
** ** ** *
Für den letzten Schritt der Auswertung ist eine multinominale, logarithmische Regressionsanalyse gewählt worden. Dadurch ist es möglich die Größe der Effekte einzelner Variablen auf die Wohnstandortwahl abzuschätzen. In das Regressionsmodell fließen das Alter (als metrische Variable), der Bildungsabschluss, die Wohndauer, die Herkunft und die Haushaltsform ein. Das Einkommen und das Mietpreisempfinden werden nicht einbezogen, da sich bereits in der bivariaten Analyse keine deutlichen Zusammenhänge erkennen lassen. Ein 8
* entspr. α=5%; ** entspr. α=1%; kein * entspr. keine Signifikanz
9
Signifikante Unterschiede: 0-0,3 = schwach; 0,3-0,5 = mittel; 0,5-1,0 = stark
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Nachteil von Regressionsanalysen sind Multikollinearitäten. Solche Zusammenhänge zwischen unabhängigen Variablen lassen sich nicht völlig ausschließen. Die Wohndauer und das Alter zeigen mit 0,7 10 die stärkste Korrelation, jedoch befindet sich dies noch in einem vertretbaren Rahmen (Mayerl/Urban 2008: 230). Als nötige Referenzkategorie für das Verfahren wird Kreuzberg bestimmt, dies ermöglicht Aussagen zur Wahrscheinlichkeit für eine Standortwahl in Gebieten innerhalb oder außerhalb des S-Bahn-Rings gegenüber Kreuzberg. Zudem müssen auch für polychotome Variablen Referenzkategorien gewählt werden. Hierfür werden die Kategorien Paarhaushalte (für die Haushaltsform) und Ausbildung (für den Bildungsgrad) durch SPSS zufällig festgelegt. Die Ergebnisse der Regressionsanalyse sind in Tabelle 3 dargestellt.
10 Korrelation nach Pearson
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Tabelle 3: Wahrscheinlichkeiten der Wahl von Wohnstandorten außerhalb Kreuzbergs in Abhängigkeit ausgewählter Faktoren
Außerhalb S-Bahnring
Innerhalb S-Bahnring
Faktoren
Signifikanz
Exp-B
Wahrscheinlichkeit11
Alter
0,016
0,944
-5,6%
Wohndauer
0,814
0,991
-0,9%
Single
0,034
0,210
-79,0%
WG
0,191
0,307
-69,3%
Familie
0,012
0,150
-85,0%
Herkunft (Kreuzberg)
0,351
0,633
-36,7%
Fach-/Abitur
0,189
2,739
173,9%
10. Klasse Abschluss
0,269
0,378
-62,2%
Fach-/Hochschule
0,464
1,518
51,8%
Alter
0,832
1,004
0,4%
Wohndauer
0,476
0,983
-1,7%
Singlehaushalt
0,007
0,142
-85,8%
Wohngemeinschaft
0,446
0,499
-50,1%
Familie
0,011
0,148
-85,2%
Herkunft (Kreuzberg)
0,010
0,290
-71,1%
Fach-/Abitur
0,818
0,827
-17,3%
10. Klasse Abschluss
0,425
0,607
-39,3%
Fach-/Hochschule
0,148
0,466
-55,4%
Demnach haben das Alter, die Herkunft und die Haushaltsform einen signifikanten Einfluss auf den Wohnstandort unter Verdrängungsdruck. Zur Beurteilung der Modellrelevanz ist das Pseudo-R² nach Nagelkerke herangezogen worden. 11 Wahrscheinlichkeit= ((Exp-B)-1)*100
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Der Wert von 0,332 kann als akzeptabel gesehen werden, ab 0,4 würde von einem guten Modellfit gesprochen werden (Janssen/Laatz 2007: 470). Die erste These lautet: Die Kreuzberger_innen wollen auch im Falle einer erzwungenen Migration in Wohnortnähe bleiben. Hierbei sind zunächst die Angaben »Wunschort« und »Verdrängungsort« von Bedeutung. Die Häufigkeiten zeigen, dass bei der Mehrheit der Anwohner_innen der favorisierte Wohnstandort sowohl als »Wunschort«12 (67,9%) sowie als »Verdrängungsort«13 (42,9%) der Stadtteil Kreuzberg ist. In Bezug auf Standortunterschiede geben 65,1% der Befragten der Prinzenstraße auch im Falle einer Verdrängung an, in Kreuzberg wohnen bleiben zu wollen. Im Gegensatz dazu würden am Vergleichsstandort nur 29,9% in Kreuzberg bleiben. Zudem empfinden 67,1% der Befragten der Prinzenstraße Kreuzberg als den idealen Wohnstandort, sowie 68,4% der Befragten am Görlitzer Park (vgl. Tab. 4). Tabelle 4: Kreuzberg als »Verdrängungs- und Wunschort« Görlitzer Park
Prinzenstraße
Kreuzberg
»Verdrängungsort«
29,9% (n=107)
65,1% (n=63)
42,9% (n=170)
»Wunschort«
68,4% (n=130)
67,1% (n=85)
67,9% (n=215)
Es zeigt sich, dass die Mehrheit der Befragten ihren jetzigen Wohnstandort in Kreuzberg in einer Umzugssituation gegenüber anderen Stadtteilen bevorzugen würde. Daraus kann gefolgert werden, dass die Kreuzberger_innen vorwiegend in der Nähe ihres derzeitigen Wohnstandortes bleiben wollen. Aufgrund der Häufigkeiten der Nennungen von Kreuzberg als »Wunsch- und Verdrängungsort« kann die erste These als richtig angenommen werden. Diese Aussage wird des Weiteren durch die Tatsache gestützt, dass von den Anwohner_innen andere häufig als Wohnorte genannte Stadtteile unmittelbar an Kreuzberg angrenzen: Neukölln (9,4%), Schöneberg (4,7%), Alt-Treptow (4,7%), Friedrichshain (4,1%) und Tempelhof (3,5). Abbildung 9 visualisiert die Umzugsziele der Kreuzberger_innen im Fall einer erzwungenen Migration.
12 »Wunschort« entspricht Wohnortwahl bei freier Entscheidung 13 »Verdrängungsort« entspricht Wohnortwahl bei erzwungener Migration
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Abbildung 9: Umzugsziele in Berlin unter Verdrängungsdruck
Quelle: eigene Darstellung
Bemerkenswert ist, dass Wedding zwar kein an Kreuzberg angrenzender Stadtteil ist, jedoch relativ häufig (5,2%) als »Verdrängungsort« genannt wird, da soziale und kulturelle Ähnlichkeiten zwischen diesen Stadtteilen vermutet werden. Folglich ist es unzureichend, Nähe ausschließlich als räumliche Distanz zu definieren, da ebenfalls soziale und kulturelle Nähe eine Rolle spielen können (Bähr 2010: 255f.). Dies erklärt außerdem die starke Polarisierung in Bezug auf die Wohnstandortwahl zwischen Ost- und Westberliner Stadtteilen. 82,1% der genannten »Verdrängungsorte« befinden sich in Westberlin. Selbst unter Ausschluss der Nen-
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nung Kreuzbergs liegen die Angaben in Westberlin bei 68,4%. Das zeigt, dass Kreuzberger_innen Wohnstandorte im »Westen« noch immer bevorzugen und so beispielsweise eher nach Spandau (1,2%) ziehen würden als nach Marzahn (0,0%). Die unsichtbare, jedoch scheinbar noch immer gegenwärtige Grenze zwischen Ost- und Westberlin, gehört zu einer der bedeutenden Kategorien der Raumordnung der Berliner Wohnmobilität (Gebhardt 2012: 85). Des Weiteren fällt auf, dass abgesehen von Kreuzberg die Mehrheit der Nennungen der »Verdrängungsorte« innerhalb des S-Bahn-Rings liegt (67,0%) (vgl. Abb. 9). Laut Gebhardt (2012) ist die Stadt durch diesen dichotom in einen Innen- und Außenbereich geteilt. Damit gehen unterschiedliche Präferenzen für bestimmte Wohnviertel einher. In diesem Kontext befinden sich Stadtteile innerhalb des S-Bahn-Rings für die befragten Kreuzberger_innen »näher« beieinander als Stadtteile außerhalb dieser Trennlinie, da hier ebenfalls die kulturelle Nähe bedeutender ist, als die räumliche (Gebhardt 2012: 84). Neben der geographischen, kulturellen und sozialen Nähe besteht laut der zweiten These eine Bindung an den Wohnort und an das soziale Umfeld. Diese Standorttreue bestimmt die Wohnstandortwahl. Um die Bindung an den Wohnort zu charakterisieren, eignet sich, wie bereits im Kapitel 2.2 beschrieben, eine Untersuchung der Wohndauer. Hierbei wird angenommen, dass mit zunehmender Wohndauer die Bindung an den Wohnort Kreuzberg größer wird. Diese Bindung wird durch die Anzahl der Nennungen im Falle einer erzwungenen Migration in Abhängigkeit zur Wohndauer deutlich. Dahingehend werden die genannten Annahmen bestätigt (vgl. Abb. 10). Der Zusammenhang zwischen Wohndauer und Wohnortwahl ist hoch signifikant (vgl. Tab. 2).
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Abbildung 10: Umzugsorte in Abhängigkeit zur Wohndauer
Unter Verdrängungsdruck (n=158) 100%
12,5
80% 60%
62,5
25,5
18,2
19,5
Freiwilliger Umzug (n=201) 16,7
27,3
19,5
26,7
54,5
61,0
56,7
6-10 J.
>10 J.
≤ 2 J.
14,0
16,4
18,5
16,0
11,9
72,2
70,0
71,6
3-5 J.
6-10 J.
>10 J.
31,9
40% 20%
9,3
42,6 25,0
0% ≤ 2 J.
3-5 J.
Quelle: eigene Darstellung
Hierbei wird deutlich, dass bei einer bisherigen Wohndauer von bis zu zwei Jahren das Gebiet innerhalb des S-Bahn-Rings als Wohnort am häufigsten genannt wird (62,5%), nicht jedoch Kreuzberg (25,0%). Kreuzberger_innen, die bereits mindestens drei Jahre an ihrem derzeitigen Wohnstandort leben, bevorzugen diesen auch als zukünftigen Wohnort trotz Verdrängungsdruck (3–5 Jahre: 42,6%; 6–10 Jahre: 54,5%; über 10 Jahre: 61,0%). So kann Folgendes festgehalten werden: Je länger die Wohndauer in Kreuzberg ist, desto eher entspricht der Verdrängungsort auch dem Wunschort. Hierbei zeigt sich, dass mit zunehmender Wohndauer der Wunsch in Wohnstandortnähe zu bleiben stärker wird (bis 2 Jahre: 56,7%; 3–5 Jahre: 72,2%; 6–10 Jahre: 70,0%; über 10 Jahre: 71,6%). Bei einer Wohndauer von bis zu zwei Jahren, treten allerdings deutliche Unterschiede auf. In diesen Fällen werden bei Verdrängung andere Wohnstandorte innerhalb des S-Bahn-Rings bevorzugt. Die Regressionsanalyse (vgl. Tab. 3) zeigt ebenfalls, dass mit jedem Jahr die Wahrscheinlichkeit einen Wohnstandort außerhalb Kreuzbergs zu wählen, sinkt. Jedoch ist zu bedenken, dass dies nicht signifikant ist. Die enge Korrelation mit dem Alter ist dafür ursächlich. Neben der Wohndauer spielt der vorherige Wohnstandort eine bedeutende Rolle für die Untersuchung der Bindung zum Wohnort. Personen, die bereits in Kreuzberg gewohnt haben, leben folglich schon länger im Stadtteil und sind daher, wie in Tabelle 2 dargestellt, auch enger an diesen gebunden (siehe Kap. 2.2). Die multinominale, logarithmische Regressionsanalyse erlaubt Aussagen zu den Wahrscheinlichkeiten der Wohnstandortwahl (vgl. Tab. 3). Hierbei wird deutlich, dass es keinen signifikanten Unterschied bei der Wohnstandortwahl zwischen Kreuzberg und Stadtteilen innerhalb des S-Bahn-Rings gibt; diejeni-
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gen, die bereits in Kreuzberg gelebt haben, werden auch in einer Verdrängungssituation in diesem Stadtteil oder einem Stadtteil innerhalb des S-Bahn-Rings nach Wohnalternativen suchen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Kreuzberger_innen in einer Verdrängungssituation nach Wohnungen suchen, die außerhalb des S-Bahn-Rings liegen, ist um 71,1% geringer, als die Suche nach Alternativen in Kreuzberg selbst. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass eine Bindung an den Wohnstandort Kreuzberg, die einerseits durch die Wohndauer und andererseits durch den vorherigen Wohnort charakterisiert wird, einen erkennbaren Einfluss auf die Wohnstandortwahl zeigt. Wie bereits in der Theorie beschrieben und mit der dritten These angenommen, haben die soziodemographischen und -ökonomischen Faktoren Alter, Netto-Haushaltseinkommen, Haushaltsform und Bildungsabschluss einen Einfluss auf die Wahl der Wohnstandorte. Hinsichtlich des Alters, kann davon ausgegangen werden, dass die Wohnmobilität mit zunehmendem Alter abnimmt. Diese Annahme erweist sich als überwiegend zutreffend. Es besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Alter und der Wohnstandortwahl unter Verdrängungsdruck (vgl. Tab. 2; Abb. 11). Abbildung 11: Alter in Jahren und Umzugsorte unter Verdrängungsdruck (n=170) 100% 10,0 16,0 16,7 90% 20,0 Außerhalb 80% 43,8 11,1 30,0 S-Bahnring 70% 60% 49,4 45,7 Innerhalb 6,2 50% S-Bahnring 40% 72,2 Kreuzberg 30% 60,0 50,0 20% 34,6 34,3 10% 0% bis 27 J. 28-45 J. 46-55 J. 56-65 J. ab 66 J. Quelle: eigene Darstellung
Personen zwischen 46 und 65 Jahren bevorzugen in Zwangssituationen Wohnstandorte in Kreuzberg (4655 Jahre: 60,0%; 56–65 Jahre: 72,2%). Ab einem Alter von 66 Jahren steigt jedoch die Mobilität zu Gunsten von Wohnstandorten außerhalb des S-Bahn-Rings (Kreuzberg: 50,0%; Gebiete außerhalb des S-Bahnrings: 43,8%), dies kann mit dem Eintritt in das Rentenalter zusammenhängen
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und der damit einhergehenden Ruhestandsmobilität14 (Kemper/Kuls 2002: 239). Auch die Berechnungen der multinominalen, logarithmischen Regressionsanalyse unterstützen dieses Ergebnis. Mit jedem Lebensjahr sinkt die Wahrscheinlichkeit um 5,6%15 sich für einen Wohnstandort innerhalb des SBahn-Rings und gegen Kreuzberg zu entscheiden (vgl. Tab. 3). Jedoch stellt dies nur die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit der Stichprobe dar. Von Veränderungen entsprechend des Lebenszyklus kann daher ausgegangen werden. So zeigt sich, dass junge Erwachsene bis 27 Jahre sowie Erwachsene mittleren Alters zwischen 28 und 45 Jahren Wohnstandorte innerhalb des S-Bahn-Rings (45,7% bzw. 49,4%) den Wohnstandorten in Kreuzberg vorziehen (34,3% bzw. 34,6%). Das kann mit der selektiven Mobilität bezüglich des Alters zusammenhängen. Jüngere Bevölkerungsgruppen sind mobiler (Bähr 2010: 245). In Bezug auf das Netto-Haushaltseinkommen wird angenommen, dass Menschen mit geringeren finanziellen Ressourcen eher verdrängt werden, als einkommensstarke Haushalte, die flexibler agieren können. Es kann jedoch hierbei kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Netto-Haushaltseinkommen und der Wohnstandortwahl in erzwungenen Umzugssituationen identifiziert werden (vgl. Tab. 2). Die Kreuzberger_innen würden sich daher vermutlich unabhängig vom Einkommen im Falle einer Verdrängung für Kreuzberg entscheiden. Anders verhält es sich jedoch mit den Haushaltsformen. Diese hängen sehr stark mit dem individuellen Lebenszyklus zusammen. Hierbei wird angenommen, dass Singlehaushalte innerstädtische Wohnstandorte bevorzugen und Familien eher den Wunsch haben, außerhalb des Berliner S-Bahn-Rings zu ziehen. Tatsächlich besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Haushaltsform und der Wohnstandortwahl (vgl. Tab. 2; Tab. 3). Singlehaushalte würden Wohnstandorte in Kreuzberg (58,8%) denen innerhalb des S-Bahn-Rings (29,4%) vorziehen (vgl. Abb. 12). Familien weisen entgegen der Erwartung hierbei eine vergleichbare Häufigkeitsverteilung auf (Kreuzberg 57,4%; Gebiete innerhalb S-Bahn-Ring: 27,8%). Die Nennungen von WGs und Partnerschaftshaushalten gleichen sich ebenso. Hierbei werden jedoch Präferenzen für Standorte innerhalb des S-Bahn-Rings deutlich (WGs: 55,9%; Paare: 51,6%).
14 Ruhestandsmobilität ist eine Form der Wohnmobilität nach dem Eintritt in den Ruhestand, beispielsweise durch die Wahl eines Alterswohnsitzes, den Umzug in eine altersgerechte Wohnung oder in ein Pflegeheim (Kemper/Kuls 2002: 239; Schnur 2010:35) 15 Da das Alter bei der Berechnung als metrische Variable einfließt, sind Personen über 66 Jahren unterdurchschnittlich oft vertreten.
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Abbildung 12: Haushaltsformen und Umzugsorte unter Verdrängungsdruck (n=170) 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0%
11,8 29,4
25,8
29,4
27,8
55,9
57,4 14,7
22,6
WG
Paar
Außerhalb S-Bahnring Innerhalb S-Bahnring
51,6
58,8
Single
14,8
Kreuzberg
Familie
Quelle: eigene Darstellung
Hierbei kann bestätigt werden, dass Singlehaushalte auf den innerstädtischen Raum in Kreuzberg fokussiert sind, jedoch auch Familien diesen Wohnstandort bevorzugen. Der Standort innerhalb des S-Bahn-Rings (einschließlich Kreuzberg) hat für alle Haushaltsformen eine ähnlich starke Bedeutung. Hinsichtlich des Bildungsabschlusses wird angenommen, dass Menschen mit einem hohen Bildungsabschluss durch ihr soziales und kulturelles Kapital eine höhere Wohnmobilität aufweisen und im Falle einer erzwungenen Migration häufiger Wohnstandorte außerhalb Kreuzbergs angeben. Ein hoher Bildungsabschluss bedeutet hierbei ein Fach-/Abitur bzw. Fach-/Hochschulabschluss, während ein niedriger Bildungsabschluss die Kategorien (noch) kein Abschluss bzw. einen Abschluss der 10. Klasse meint. Laut Tabelle 2 lässt sich hier ein signifikanter Zusammenhang nachweisen. In Abbildung 13 wird deutlich, dass mit höherem Bildungsabschluss Kreuzberg als bevorzugter Wohnstandort an Bedeutung verliert (kein Abschluss: 100%; 10. Klasse Abschluss: 58,8%). Die Befragten mit hohem Bildungsgrad neigen zu Wohnstandorten außerhalb Kreuzbergs (Fach-/Abitur: 83,3%; Fach-/Hochschule: 66,2%) und sind daher flexibler in der Wohnstandortwahl (Kecskes 1994: 143).
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Abbildung 13: Bildungsabschluss und Umzugsorte unter Verdrängungsdruck (n=169) 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0%
29,4
20,8
11,8
30,2
100,0
25,0
Außerhalb S-Bahnring 50,8
58,3
58,8
49,1
16,7 (noch) kein Abschluss
15,4
10-Klasse Abschluss
Ausbildung
Fach-/ Abitur
33,8
Innerhalb S-Bahnring Kreuzberg
Fach-/ Hochschule
Quelle: eigene Darstellung
Hiermit hat sich die Annahme, dass Menschen mit einem hohen Bildungsabschluss in ihrer Wohnstandortwahl im Falle einer Verdrängung flexibler agieren, bewahrheitet. Die Regressionsanalyse verdeutlicht jedoch (vgl. Tab. 3), dass der Bildungsabschluss bei der Wohnstandortwahl, im Vergleich zu anderen Faktoren, eine geringere Rolle spielt und auf einem 5% Niveau nicht signifikant ist. Für die soziodemographischen Faktoren Alter, Haushaltsform und Bildungsabschluss kann festgestellt werden, dass sie tatsächlich einen Einfluss auf die Wohnstandortwahl im Falle einer Verdrängung haben. Das Netto-Haushaltseinkommen spielt jedoch entgegen der Erwartung keine Rolle (Kecskes 1994: 143).
F AZIT Wer den öffentlichen Diskurs über Gentrification verfolgt, wird immer dem Begriff »Verdrängung« als Schattenseite des Aufwertungsprozesses begegnen. Die Erkenntnisse über Verdrängte beschränken sich jedoch überwiegend auf Vermutungen. Wohin sie ziehen und welche Folgen das für Stadt und Menschen hat, ist bislang nur unzureichend untersucht. Ilse Helbrecht spricht davon, die Stadtforschung sei bisher »ein einäugiger Zyklop, agierend mit einer immensen intellektuellen Einseitigkeit, indem stets nur die Aufwertungsseite des Gentrificationprozesses betrachtet wird – nicht jedoch die andere Seite der Medaille: die Verdrängung« (vgl. Helbrecht 2016, S. 11 in diesem Band). Es können zwar die vom Gentrificationprozess betroffenen Gebiete identifiziert werden, nicht jedoch die neuen Wohnstandorte der Verdrängten. Wohin (ver-)drängt es also die Kreuzberger_innen? Die Momentaufnahme, die sich im Gentrification-Gebiet
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Kreuzberg im Rahmen dieser Studie einfangen lässt, zeigt, dass die Kreuzberger_innen im Verdrängungsfall nicht an den Stadtrand ziehen würden, wie häufig in der Literatur und den Medien angenommen. Es bestehen jedoch Schwierigkeiten die Wirklichkeit individueller Wohnmobilität angemessen einzufangen, da die Kreuzberger_innen vor Ort hypothetisch befragt worden sind, wohin sie sowohl freiwillig als auch unter Verdrängungsdruck ziehen würden. Die hypothetischen Antworten können sich hierbei von den zukünftigen Handlungen unterscheiden. Die daraus gewonnen Erkenntnisse spiegeln jedoch durchaus subjektive Handlungslogiken wider, die Rückschlüsse auf Wohnstandortziele und damit verbundene Determinanten der Wohnmobilität, wie beispielsweise Alter oder Bildungsgrad, erlauben. Die Ergebnisse der Studie zeigen deutlich, dass Kreuzberg der Wunschwohnort für die große Mehrheit der Befragten ist. Gleiches wird deutlich, wenn Umzüge durch Verdrängung notwendig werden, da auch hierbei die Mehrheit der Kreuzberger_innen ihren Stadtteil nicht verlassen wollen. Wenn die Möglichkeit besteht, würden sie in unmittelbarer Nähe wohnen bleiben. Am zweithäufigsten werden in diesem Kontext Umzugsziele in den angrenzenden Stadtteilen, wie Neukölln, Schöneberg, Alt-Treptow, Friedrichshain aber auch Wedding genannt. Daraus kann geschlossen werden, dass sich die »Nähe« nicht nur auf eine räumliche, sondern ebenfalls auf eine kulturelle und soziale Nähe zu anderen Stadtteilen bezieht (vgl. Förste/Bernt 2016 in diesem Band). Insgesamt lässt sich eine starke Fokussierung auf Stadtteile innerhalb des S-Bahn-Rings feststellen. Mit zunehmender Bindung an den Wohnort, die u.a. durch eine lange Wohndauer gekennzeichnet ist, wird der Wunsch, im Falle einer Verdrängung in Kreuzberg bleiben zu wollen, verstärkt. Inwieweit dies in Zukunft umgesetzt werden kann, hängt jedoch stark von der dynamischen Entwicklung auf dem Berliner Wohnungsmarkt ab. Es ist möglich, dass sich durch die weitere Reduzierung in günstigen Marktsegmenten eine Wohnstandortwahl innerhalb des SBahn-Rings immer schwerer realisieren lässt. Soziodemographische Faktoren, wie Alter, Haushaltsform und Bildungsabschluss haben jedoch einen signifikanten Einfluss auf die zukünftige Wohnmobilität. Mit zunehmendem Alter bevorzugen die Kreuzberger_innen ihren derzeitigen Wohnstandort. Allerdings wird bei den Untersuchungen deutlich, dass mit dem Eintritt in das Rentenalter ab 66 Jahren Wohnstandorte außerhalb des Berliner S-Bahn-Rings im Zusammenhang mit der Ruhestandsmobilität attraktiver werden. Unabhängig vom Wohnstandort Kreuzberg wählen Personen bis zu einem Alter von 45 Jahren im Falle einer Verdrängung bevorzugt Gebiete innerhalb des S-Bahn-Rings .
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Dieser Hang zu innerstädtischen Wohnstandorten gilt ebenfalls für Singleund Familienhaushalte. Dies widerspricht den Annahmen der Bevölkerungsgeographie, die besagt, dass die allgemeine Wanderungsneigung von Familien eine Stadt-Rand-Wanderung darstellt (Fassmann et al. 2010: 912; Kemper/Kuls 2002: 247). Eine Vorliebe für einen urbanen Lebensstil auch unter Familien kann eine mögliche Ursache sein und kann als Indiz für die (Re-)Urbanisierung gedeutet werden (Helbrecht 1996). Weiterhin steigt mit zunehmendem Bildungsabschluss das Wohnmobilitätsvermögen. In diesem Zusammenhang verliert Kreuzberg als bevorzugter Wohnstandort an Bedeutung. Die Ergebnisse dieser Arbeit hinsichtlich des Einflusses der ökonomischen Faktoren auf die Wahl der Wohnstandorte zeigen die identische Tendenz zu den oben dargestellten Ergebnissen von Kecskes (1994): Ökonomische Faktoren, wie das Netto-Haushaltseinkommen spielen bei der Wohnmobilität in einer Verdrängungssituation kaum eine Rolle; auch Personen mit einem geringeren Netto-Haushaltseinkommen wollen in der Wohnstandortnähe bleiben und würden vermutlich mehr finanzielle Ressourcen für ihre aktuelle Wohnung aufwenden bzw. kleinere oder qualitativ schlechter ausgestattete Wohnungen in Kreuzberg akzeptieren. Dies hat weitreichende Folgen: Zum einen bleiben den Haushalten dadurch weniger finanzielle Mittel für andere Aufwendungen übrig, zum anderen wirkt es sich auch auf den gesamten Stadtteil aus. So gehört Kreuzberg trotz Aufwertungsprozessen zu den Stadtteilen mit der geringsten Kaufkraft in Berlin (BSM 2012: 38). Es bleibt festzuhalten, dass Wohnmobilität im Zusammenhang mit Verdrängung, wie auch Gentrification, ein Prozess ist. Eine einzelne Erhebung bietet nur einen kleinen zeitlichen Ausschnitt der Realität der Wohnstandortwahl. Veränderungen dessen sind im Laufe von Monaten und Jahren sehr wahrscheinlich. Nicht zuletzt auch, weil etwaige Ausweichstandorte, wie Neukölln, selbst von Aufwertungsprozessen betroffen sind. In Bezug auf das Wanderungsmodell scheint in Kreuzberg zudem aktuell noch Widerspruch und Passivität gegenüber Umzugsintentionen zu überwiegen. Laut Kecskes (1994) werden aber erst bei einer tatsächlichen Umzugsintention deren konkrete Möglichkeiten und Kriterien bedacht. Mit anhaltendem Verdrängungsdruck kann davon ausgegangen werden, dass die Angaben zu Umzugszielen konkreter und räumlich genauer werden. Dennoch ist nicht davon auszugehen, dass sich die Ziele in dem Maße verändern, dass hingegen der vorliegenden Ergebnisse der Stadtrand das Hauptziel wird. Eine derartige erzwungene Migration erfolgt in Etappen. Ob die Verdrängten tatsächlich letztlich am Stadtrand wohnen, lässt sich daher nicht abschließend klären. Die gewählte Methodik kann dennoch als hilfreich betrachtet werden, um Erkenntnisse zu gewinnen, wohin die Verdrängten ziehen würden. Eine ge-
104 | SIMON K OCH, M ARRIKE K ORTUS, C HRISTINE S CHIERBAUM, STEPHANIE S CHRAMM
eignete Weiterentwicklung stellt die Erweiterung der Datengrundlage dar. Zum einen durch einen größeren Stichprobenumfang, zum anderen durch regelmäßig wiederholte Befragungen. Das würde die Möglichkeit bieten durch Gentrification ausgelöste Migrationen besser zu verstehen und sie deutlicher von anderen Wanderungsströmen, die sich in einer Stadt vielfach überlagern, trennen zu können.
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Die statemade-rental-gap: Gentrification im Sozialwohnungsbau G RETA E RTELT , C ARLOTTA -E LENA S CHULZ , G EORG T HIEME , C HRISTIANE U HLIG
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IM S OZIALWOHNUNGSBAU EINE THEMATISCHE H INFÜHRUNG
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Im aktuellen Diskurs zur internationalen ebenso wie zur Berliner Stadtentwicklung hat sich der Begriff Gentrification als ein zentrales Schlagwort gefestigt. Es erfreut sich auch außerhalb des Kreises der sich aktiv mit Themen der Stadtentwicklung beschäftigenden Vertreter_innen aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft zunehmender Beliebtheit: Gentrification hat sich als selbst erklärende Rubrik in Berliner Tageszeitungen etabliert und findet Eingang in den alltäglichen Sprachgebrauch der Berliner Bevölkerung. Seitdem »Gentrification« Anfang der 1990er Jahre zum ersten Mal im Zusammenhang mit dem für Berlin zu erwartenden wirtschaftlichen Aufschwung und den Entwicklungen in den Berliner Sanierungsgebieten genannt wurde (vgl. Bernt/Holm: 2009), ist der Begriff zur zentralen Assoziation des zunehmend angespannten Wohnungsmarktes in Berlin geworden. Gleich zu Beginn dieser Arbeit soll festgehalten werden, dass Gentrification als ein »Prozess der Aufwertung und Verdrängung« (Holm 2011a: 213, Herv. i. Orig.) und nicht als ein Zustand verstanden wird. Die Betrachtung von Gentrification als Prozess ermöglicht es, in verschiedenen innerstädtischen Berliner Bezirken zeitgleich unterschiedliche Stufen dieses Verlaufs zu unterscheiden, die sich nach Andrej Holm (2011a: 213ff.) als raum-zeitliche Entwicklungen verorten lassen. Ausgehend von den Sanierungsgebieten in Kreuzberg verläuft dieser so genannte »Berliner Aufwertungszirkel« (ebd.) weiter über Mitte, Prenzlauer Berg bis zu aktuellen Entwicklungen in (Nord-)Neukölln und führt derzeit wieder zurück zu einer erneuten Aufwertungswelle in Kreuzberg (ebd.). Wie die
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Forschungsergebnisse von Christian Döring und Klaus Ulbricht (2016, in diesem Band) zeigen, erfasst diese Welle mittlerweile auch weitere Berliner Stadtteile wie Moabit, Gesundbrunnen und Wedding, weshalb die Autoren – noch weitergehender als Holm – sogar von einer »Berliner Aufwertungsspirale« sprechen. Holm begründet, ähnlich der Rental-Gap-Theorie nach Smith (1979), die wellenartige Verlaufsform der Aufwertung mit der ökonomischen Inwertsetzungsstrategie der Immobilienwirtschaft, die in Modernisierungen investiert, sobald eine Ertragslücke zwischen aktueller und potentiell möglicher Nutzung vorliegt (Holm 2011a: 216f.): »Als Gentrification definiert werden alle wohnungswirtschaftlichen Inwertsetzungsstrategien und politisch gewollten Aufwertungen in Nachbarschaften, die für ihren Erfolg die direkte oder indirekte Verdrängung statusniederer Bevölkerungsgruppen voraussetzen und/oder eine Verringerung preiswerter Wohnungsbestände bewirken« (Holm 2011a: 213). Diese Erklärungslogik betont die ökonomische und politische Ursächlichkeit des Prozesses, die in den folgenden Kapiteln detaillierter beschrieben wird, vernachlässigt jedoch den konstituierenden Einfluss der wachsenden Nachfragegruppe für innerstädtisches Wohnen in den letzten Jahrzehnten. Im Rahmen der von Daniel Bell (1973) postulierten Entwicklung einer »nachindustriellen Gesellschaft«, für welche »die zentrale Stellung des theoretischen Wissens und das zunehmende Übergewicht der Dienstleistungswirtschaft über die produzierende Wirtschaft« kennzeichnend ist, verändert sich das gesellschaftliche Schichtungssystem (Bell 1985: 13f.). Zahlreiche Autor_innen sprechen vom Aufstreben einer »new middle class«, die von Hochqualifizierten, Manager_innen und Ingenieur_innen geprägt ist. Diese sind die Träger_innen spezifischen Wissens, welches die grundlegende Ressource der Dienstleistungsgesellschaft darstellt (vgl. u.a. Bell 1980; Giddens 1973; Gouldner 1979). Die Arbeitsorte der Beschäftigten im Dienstleistungssektor konzentrieren sich dabei »hochgradig selektiv« auf die innerstädtischen Gebiete urbaner Geschäftszentren, sodass diese Stadträume einen extremen funktionalen Wandel durchlaufen (Helbrecht 1996: 16). Innerhalb dieser neuen gesellschaftlichen Schicht spielt nach David Ley (1996) insbesondere die Sozialgruppe der »cultural and social professionals« eine entscheidende Rolle für den Prozess der Gentrification. Mit ihrer Präferenz eines Lebens in der Innenstadt gegenüber dem suburbanen Raum unterstützen sie die Entstehung neuer innerstädtischer Stadtlandschaften/Umgebungen, in denen sie gleichermaßen als Produzent und Konsument agieren (Ley 1996: 15). Nach günstigem Wohn- und Entwicklungsraum Suchende, so genannte »Pioniere«, konsumieren das vorhandene Alternativmilieu bestimmter Innenstadtbereiche, die eher ihren kulturellen Werten und ästhetischen Empfindungen entspre-
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chen als ein suburbanes Wohngebiet. Diese kreativen Sozialgruppen entwickeln dabei die Stadträume weiter, werden zu Produzenten eines Wandels, der die Aufwertung der sozialen und kulturellen Infrastruktur und damit einhergehend einen Imagewandel sowie einen Zuwachs des Marktwertes dieser Gebiete umfasst (Helbrecht 2011). Diese Entwicklungen generieren einen Anstieg der Mieten sowie eine wachsende Nachfrage statushöherer Bevölkerungsgruppen, der so genannten Gentrifier, welche von den bestehenden sozialen und kulturellen Infrastrukturen profitieren wollen (Blasius/Dangschat 1990: 11ff.). Sie nutzen innerstädtische Standortvorteile wie u.a. die Nähe zum Arbeitsplatz, zu kulturellen Einrichtungen wie Theater, Kino und Konzerthallen sowie zu Restaurants, Kneipen und zur Szene (Blasius 1994: 408). Der Gentrification-Prozess hat folglich nicht nur immobilienwirtschaftliche Hintergründe, sondern ist Teil eines umfassenden wirtschaftlichen und urbanen Strukturwandels. Dieser steht im Zusammenhang mit der Tertiärisierung des Arbeitsmarktes, dem sozialstrukturellen Wandel und der kulturellen Orientierung neuer Lebensstilgruppen (Helbrecht 1996). Berlin hat in den letzten Jahren insbesondere von der »kreativen« Nachfragegruppe starken Zuwachs erhalten, wovon die stetig wachsende Dienstleistungsbranche der Kreativ- und Kulturökonomie sowie die mediale Aufmerksamkeit für diese Gesellschaftsgruppe zeugen (vgl. IHK 2012; Schönball, Tagesspiegel 2010; Müller, Berliner Morgenpost 2011; Paul, Berliner Zeitung 2012a). Eine wachsende nationale und internationale Migration folgte dem Image der Stadt Berlin, welches sich insbesondere aus den kulturellen Werten einer toleranten kreativen Szene bzw. dem besonderen Lebensgefühl zusammensetzte und vor allem mit dem Wohnen in innerstädtischen Gründerzeitvierteln in Beziehung gesetzt wird (vgl. Berlin Partner GmbH 2012; Hank 2012). Neben dem Wanderungsgewinn sorgt ein Geburtenüberschuss für einen steten Bevölkerungszuwachs, sodass der Druck auf den Berliner Wohnungsmarkt wächst (vgl. AfS Berlin-Brandenburg 2013; SenStadt 2012). Auch bisher weniger attraktive Wohnquartiere in Innenstadtlage rücken infolgedessen in das Interesse der Nachfragegruppen und der Immobilienwirtschaft. Zu diesen Wohnobjekten zählen auch Häuser des Sozialwohnungsbaus, in denen seit knapp einem Jahrzehnt verstärkt privatwirtschaftliche Modernisierungsmaßnahmen und die Umwandlung in Eigentumswohnungen stattfinden, wodurch die Ansiedlung statushöherer Bevölkerungsgruppen mit der teilweise einhergehenden Verdrängung der alten Mieterschaft verknüpft ist. Diese Entwicklungen stellen das Forschungsinteresse der hier vorgestellten Untersuchung dar.
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Besondere Brisanz bekommt die Untersuchung eines Gentrification- und Verdrängungsprozesses im Sozialwohnungsbau von Berlin aufgrund der eigentlich zu vermutenden Immunität gegenüber Wandlungsprozessen wie Gentrification des speziell für einkommensschwache Bevölkerungsgruppen vorgesehenen Wohnungsmarktsegments. Doch die vorliegende Untersuchung zeigt, dass infolge staatlicher Deregulierungsmaßnahmen in eben diesen Wohnobjekten Gentrificationphänomene in besonderem Ausmaß feststellbar sind. Durch politische Entscheidungen des Berliner Abgeordnetenhauses wurde eine Ertragslücke im Sozialen Wohnungsbau geschaffen und somit einigen Akteur_innen der Immobilienwirtschaft die Möglichkeit gegeben, diese für ihre Inwertsetzungsstrategien zu nutzen und die Lücke durch Mieterhöhungen zu schließen. Diese politisch geschaffene Ertragslücke bezeichnen wir mit dem Begriff »statemade-rental-gap«.1 Mit dem Senatsbeschluss vom Februar 2003 zum Ausstieg aus der weiteren Förderung (Anschlussförderung) der Berliner Sozialwohnungsbauten, deren 15jährige Grundförderung nach dem 1.1.2003 auslief, eröffnete der Senat den Eigentümer_innen grundsätzlich die Möglichkeit, die Mieten in ihren Objekten auf die so genannte Kostenmiete anzuheben (Abgeordnetenhaus Berlin 2012a: 7). Diese Kostenmiete liegt durchschnittlich bei 13 €/m² und summiert sich aus den beim Bau des Hauses festgelegten Finanzierungskosten und den Bewirtschaftungskosten, wobei erstere den Großteil der Kostenmiete bilden (Kotti&Co/Sozialmieter.de 2012: 19f.). Mit dem Wegfall der im Fördersystem festgelegten staatlichen Zuschüsse zur Senkung der Kostenmiete auf die »Sozialmiete« ist die Anhebung der Miete auf die beim Bau des Hauses errechneten Kostenmiete legitimiert (ebd.). Daraus folgend können fortan Mieten realisiert werden, die weit über der ortsüblichen Vergleichsmiete für nicht preisgebundene Wohnungen liegen. Vom Wegfall der Anschlussförderung sind in Berlin insgesamt 27.786 Wohnungen betroffen (Abgeordnetenhaus Berlin 2012a: 2). Gleichzeitig wurden die Wohnungen bis Ende 2013 grundsätzlich von der Belegungsbindung befreit, sodass die Vermieter_innen die Möglichkeit haben, sich für eine zahlungskräftigere Klientel zu entscheiden. Wir stufen diese Beschlüsse des Senats und ihre Folgen als eine neue Facette der innerstädtischen Aufwertung in Berlin ein. Die mehrdimensionale Betrachtung des Gentrificationprozesses macht eine umfassende Untersuchung der Phänomene der Gentrification im Sozialwohnungsbau möglich. Neben ökonomi-
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Der Begriff »statemade-rental-gap« stammt von Ilse Helbrecht, die ihn im Rahmen der gemeinsamen mündlichen Diskussionen zu unserer empirischen Studie entwickelte.
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schen und sozialkulturellen Dimensionen hat der Prozess eine entscheidende politische Dimension. Politische (De-)Regulierungsmaßnahmen können einem Gentrification-Prozess vorausgehen und/oder ihn erst initiieren (vgl. u.a. Atkinson et al. 2011; Badcock 1989; Helbrecht 1996; Holm 2011a, 2011b; McCarthy 1974). Diese Überzeugung findet erst seit Mitte der 1990er Jahre verstärkt Eingang in die wissenschaftliche Debatte um Gentrification (Holm 2012b: 663). Dass Verdrängungsprozesse oft erst durch den Abbau von Schutzmechanismen bezahlbarer Mieten sowie anderen wirtschaftlichen Anreizen ermöglicht wurden, bildet bereits den Gegenstand einiger Arbeiten aus den USA, Großbritannien, Australien und Deutschland (vgl. u.a. Bernt 2011; Davidson 2008; Hackworth/Smith 2000). Von stadtplanerischer Seite wird der Verdrängung einkommensschwacher Haushalte vor allem die positive Wirkung einer entstehenden sozialen Mischung in einem Wohngebiet entgegengehalten (vgl. Davidson 2008; Holm 2012b). Abgesehen davon, dass dieser Überzeugung viele empirische Untersuchungen widersprechen (Holm 2012b: 674f), bleibt die Frage nach dem »richtigen« Maß des Bewohneraustauschs unbeantwortet. In Berlin haben die Debatten um politische (De-)Regulierungsmaßnahmen und eine zunehmende Bedrohung der Verdrängung von Bewohner_innen aus innerstädtischen Gebieten eine neue Dynamik und Brisanz in die wohnungspolitische Diskussion gebracht. Zahlreiche Initiativen und Zusammenschlüsse von Mieter_innen haben sich gegründet, deren soziales Engagement die Diskussion um den Berliner Sozialwohnungsbau erneut auf die politische Agenda und in das Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt hat (vgl. Scheer 2016 in diesem Band). Dabei lässt sich eine Spannbreite von hausbezogenen Zusammenschlüssen bis zu berlinweit agierenden Mieter_innen bzw. Engagierten erkennen. Besonders öffentlichkeitswirksam fand unter der Regie von den Gruppen Kotti & Co. und Sozialmieter.de mit Unterstützung der Gruppe mietenpolitisches Dossier am 12. November 2012 eine Konferenz zum Sozialen Wohnungsbau statt. Deren herausstechendes Merkmal war es, dass sie im Abgeordnetenhaus von Berlin unter Teilnahme entscheidender Politiker_innen stattfand. Die im Folgenden vorgestellte empirische Studie untersucht bezugnehmend auf diese neue Dynamik die Verdrängungsphänomene des GentrificationProzesses im Sozialwohnungsbau. Dabei wird Verdrängung nicht nur auf den Moment des unfreiwilligen Wohnortwechsels alteingesessener Sozialmieter_innen beschränkt, sondern als ein dem Gentrification-Prozess inhärenter prozessualer Konflikt verstanden, der sich in verschiedenen Phänomenen manifestiert. Diese Phänomene zu beschreiben ist Inhalt der folgenden Ausführungen. Dementsprechend fokussieren wir auf folgende Forschungsfrage: Welche Phänomene der Verdrängung treten im Rahmen des Gentrification-Prozesses in
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Häusern des Berliner Sozialwohnungsbaus auf, die vom Wegfall der Anschlussförderung betroffen sind? Weiterführend ist es von Interesse, welche grundlegenden Faktoren die Gentrification- bzw. Verdrängungsprozesse im Berliner Sozialwohnungsbau bedingen? Wir möchten mit der vorliegenden Arbeit einen Beitrag zur Gewinnung empirischer Daten zur Problematik der Gentrification im Berliner Sozialwohnungsbau leisten. Dazu wurden drei (ehemalige) Mietshäuser des Sozialwohnungsbaus in Berlin-Kreuzberg bzw. Nord-Neukölln untersucht und deren ehemalige und aktuelle Bewohner_innen qualitativ befragt. Vorangegangene qualitative Studien zu Verdrängung zeigen einen erschwerten Zugang zu verdrängten Mieter_innen (vgl. u.a. Atkinson 2011). Um diesen zu erleichtern, wurde von uns ein Ansatz der Mikroperspektive Mietshaus entwickelt und erprobt. Die Fokussierung auf den Mikrokosmos Mietshaus impliziert die Recherche der Bewohnerfluktuation einzelner Häuser sowie die Befragung aktueller und ehemaliger Bewohner_innen. Mit diesem Ansatz, der genauer im zweiten Kapitel vorgestellt wird, kann ein tiefgründiger Einblick in konkrete Gentrification- und Verdrängungsprozesse gewonnen werden. Konkret wird dies mit der Operationalisierung des Ansatzes auf die thematische Fokussierung der Gentrificationproblematik im Sozialwohnungsbau umgesetzt. Zuvor werden der bereits einleitend dargestellte wohnungspolitische Mechanismus und die dadurch entstehende Ertragslücke genauer erläutert. Das Zusammenspiel zwischen diesen beiden Faktoren liegt den in den folgenden Kapiteln aufgezeigten Entwicklungen zugrunde. Anhand der Recherche- und Befragungsergebnisse kann der GentrificationProzess der drei untersuchten Sozialwohnungsbauobjekte im Detail dargestellt und abschließend die festgestellten Phänomene der Verdrängung tiefergehend reflektiert werden: Als diese Phänomene werden Verdrängung, Angst vor Verdrängung, Diskriminierung und Widerstand unterschieden.
V OM
SOZIALEN
W OHNUNGSBAU
AUF
Z EIT
Die im Fokus dieser Studie stehenden Häuser des Sozialwohnungsbaus entstanden als öffentlich geförderter Wohnraum. Als Sozialwohnungsbau werden in Berlin verschiedene staatliche Förderprogramme begriffen, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zur Unterstützung des privaten Mietwohnungsbaus öffentlich teilfinanziert wurden. In Berlin sind rund ein Zehntel des Wohnungsbestands (Stand im Jahre 2010 mit 190.000 Wohneinheiten) öffentlich gefördert (Oellerich 2010: 4).
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Die untersuchten Häuser wurden mit Hilfe staatlicher Förderung seit Anfang der 1970er Jahre durch degressive Aufwendungsdarlehen und -zuschüsse erbaut. Der Aufbau dieses Fördersystems und die im Weiteren beschriebenen politischen Entscheidungen, bilden die erklärende Grundlage einer staatlich geschaffenen Ertragslücke im Sozialwohnungsbau – dem statemade-rental-gap. Die öffentliche Förderung beinhaltete zum einen die Gewährung von Darlehen durch die landeseigene Investitionsbank Berlin für den Bau der Sozialwohnungen. Zum anderen wurde mit Aufwendungszuschüssen an die Eigentümer_innen die hohe Kostenmiete auf die sogenannte Sozialmiete gesenkt. Die Kostenmiete ist die Summe der Kapitalkosten und der Bewirtschaftungskosten der Eigentümer_innen und liegt durchschnittlich bei 13 €/m² nettokalt2, mit Spitzenwerten von bis zu 21 €/m² (Kotti&Co/Sozialmieter.de 2012: 18). Aufgrund der Ausweisung einer staatlichen Förderzusage bauten und wirtschafteten die Investor_innen nicht kostenbewusst, sodass die Baukosten und die sich daraus ergebenden Mieten zur Deckung dieser Kosten sehr hoch ausfielen. Die öffentlichen Stellen ermöglichten diese Verfahrensweise, da sie »so ziemlich alles, was die Bauherren, die Banken, die Baustofflieferanten in Rechnung stellten« akzeptierten (vgl. Holm 2010; Oellerich 2010: 4). Die subventionierten sozialverträglichen Mieten betrugen im Jahre 1987 beispielsweise 3 €/m² (Oellerich 2010: 5). Eine jährliche Mietsteigerung von i.d.R. 13 Cent/m² sollte diese Differenz zumindest minimieren (Kotti&Co/Sozialmieter.de 2012: 19). Ursprünglich nur für einen 15-jährigen Förderzeitraum (Grundförderung) vorgesehen, wurden diese Zuschüsse um weitere 15 Jahre verlängert. Der maßgebliche Grund für die Entscheidung zur Anschlussförderung war die durch die Investor_innen noch nicht vollständig vorgenommene Tilgung der Kredite an die Geschäftsbanken. Dadurch wurde eine drastische Mietbelastung zum Ende der Grundförderung abgewendet bzw. zeitlich heraus gezögert, da mit dem Auslaufen der Grundförderung die Eigentümer_innen die gesamte Kostenmiete von den Sozialmieter_innen verlangen können (vgl. Sethmann 2010). In vielen Objekten des Sozialwohnungsbaus ist dieser Fall des Auslaufens der Grund- bzw. Anschlussförderung je nach Baujahr mittlerweile eingetreten. Vor dem Hintergrund des seit der Wende drastisch gestiegenen öffentlichen Schuldenstands und der Angst vor einer möglichen Handlungsunfähigkeit aufgrund zu hoher Zinslasten sah sich das Land Berlin vor der Notwendigkeit seine Ausgaben in allen Bereichen zu kürzen (vgl. SenFin 2006). Um die Möglichkeiten und Folgen von Einsparungen der Aufwendungen im Sozialwohnungsbau zu ermitteln, richtete die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung im Jahr 2002 eine
2
Im Folgenden beziehen sich alle Mietpreise auf Nettokaltmieten.
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Expertenkommission ein. Zu diesem Zeitpunkt stand die Entscheidung für die Gewährung der Anschlussförderung der Förderjahrgänge 1987 bis 1989 an. Da die Bewilligung für die Wohnungsbauprogrammjahre ab 1987 rund 2,5 Milliarden Euro an Ausgaben für den Berliner Haushalt bedeutet hätten (Empirica 2003: 2), wurde dem Vorschlag der Expertenkommission gefolgt und der Ausstieg aus der bisherigen Wohnungsbauförderung beschlossen. Dies hat zur Folge, dass Eigentümer_innen von geförderten Wohnungsbauobjekten, deren 15-jährige Grundförderung nach dem 01.01.2003 ausläuft, grundsätzlich keine Anschlussförderung mehr erhalten. Davon sind alle Wohnungen ab dem Wohnungsbauprogrammjahr 1985 betroffen, wobei die Förderung der letzten Häuser im Jahr 2016 ausläuft (vgl. SenStadt 2015). Davon betroffen sind in Berlin insgesamt 536 Unternehmen mit 713 Wohnobjekten und 27.786 Mietwohnungen. Bei der Mehrzahl der Objekte (23.631 Wohnungen) lief die Grundförderung bis 2011 aus, wobei die Förderung von 4.155 Wohnungen noch bis 2016 läuft (Abgeordnetenhaus Berlin 2012a: 2f.). Im Zeitraum von 2003 bis 2011 lief im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg die Förderung von 2.009 Wohnungen aus. Bis 2016 werden in diesem Bezirk weitere 236 Wohnungen betroffen sein (ebd.). Durch den Wegfall der Anschlussförderung wird den Eigentümer_innen der staatliche Zuschuss zur Deckung der hohen Kosten der Objekte und damit die Möglichkeit der Tilgung der Kredite nicht länger gewährt. Aufgrund dessen wurde nun die bereits erwähnte Regelung wirksam, die den Eigentümer_innen erlaubt »die Miete über die ortsübliche Vergleichsmiete für nicht preisgebundenen Wohnraum nach dem Berliner Mietspiegel hinaus bis zur Höhe der vollen Kostenmiete« anzuheben (Abgeordnetenhaus Berlin 2012a: 7). Viele der Eigentümer_innen konnten jedoch die hohen Kosten nicht mehr decken und müssen bzw. mussten Insolvenz anmelden (vgl. Kotti&Co/Sozialmieter.de 2012). Die betroffenen Häuser wurden günstig verkauft, behielten jedoch vorerst den Status »öffentlich gefördert«, sodass weiterhin die Kostenmiete durch die neuen Eigentümer_innen erhoben werden konnte. Hinzu kommt, dass die eigentlich auch bei Nichtgewährung der Anschlussförderung bis 31.12.2013 geltende Belegungsbindung aufgehoben wurde und dies sogar für einen Zeitraum von fünf Jahren vor dem Ende der Grundförderung (vgl. SenStadt 2015). Das bedeutet, dass nicht mehr nur die Besitzer_innen eines Wohnberechtigungsscheins sondern auch zahlungskräftigere Mieter_innen Sozialwohnungen anmieten können. Die betroffenen Wohnungen gliedern sich somit in einen allgemeinen Rückgang von preisgebundenen Mietwohnungen in Berlin ein (Mücke 2012: 2). Die neuen Eigentümer_innen können besonders hohe Renditen erwirtschaften: einerseits durch den niedrigen Kaufpreis und andererseits mittels der hohen Mieteinnahmen, die durch die einzigartig hohen Mietsteigerungen erzielt werden
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konnten (Int 63). Die neuen Eigentümer_innen nutzten die statemade-rental-gap. Die vorher durch staatliche Fördermaßnahmen beglichene Lücke zwischen der von den Mieter_innen verlangten Sozialmiete und der für die Alteigentümer_innen kostendeckenden Miete wird durch die Aufhebung der Anschlussförderung und der Belegungsbindung zur Ertragslücke für die Neuinvestor_innen. Sie können die statemade-rental-gap nutzen um einerseits wenig Ertrag bringende Sozialmieter_innen durch abrupte Mietsteigerungen aus ihren Wohnungen zu drängen und dafür neue zahlungskräftige Klientel zu gewinnen. Andererseits kann von dieser eine über dem Durchschnitt liegende Neuvermietungsmiete, die bis auf das Niveau der Kostenmiete reichen kann, gefordert werden. Des Weiteren sind Umwandlungen von Miet- zu Eigentumswohnungen und Luxussanierungen im Sozialwohnungsbau möglich und wurden auch realisiert. Gegen die deutlich gewordenen negativen Auswirkungen dieses Mechanismus beschloss der Senat 2011, dass fortan Häuser, die aus der Insolvenz ihrer Vorbesitzer_innen heraus an neue Eigentümer_innen verkauft werden, den Status »öffentlich gefördert« nicht mehr tragen und dementsprechend die Kostenmiete nicht mehr erhoben werden darf (Senatsverwaltung für Justiz 2011b: §5). Diese Regelung betrifft die im Rahmen dieser Studie untersuchten Häuser nicht mehr, da die Eigentümerwechsel bereits vor Inkrafttreten des Beschlusses stattfanden. Die 2003 eingesetzte Expertenkommission schätzte den Berliner Wohnungsmarkt als entspannt ein und folgerte, dass die Anhebung auf die Kostenmiete in der Regel nicht stattfinden werde und nur auf die ortsübliche Miete für vergleichbare, nicht preisgebundene Wohnungen angehoben werden würde. Diese Einschätzung wird auch aktuell (Stand Mai 2015) in der Beschreibung des Wegfalls der Anschlussförderung auf der Internetpräsenz der Senatsverwaltung Stadtentwicklung geteilt und durch jährliche Berichte des Senats unterstützt. In diesen veröffentlicht der Senat eine seit 2012 durchgeführte Befragung von Eigentümer_innen/Verfügungsberechtigten von Objekten, deren Grundförderung jeweils zum Ende des vergangenen Jahres auslief. Bei allen drei bisherigen Befragungen liegt die Beteiligungsquote bei mindestens 60%4. Die angegebenen Mieten konzentrieren sich 2011 und 2012 zu knapp 60% auf einen Mietpreis zwischen 5,50 und 6,50 €/m². Im Jahr 2013 liegt der Mietpreis betroffener
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Die erhobenen Daten aus den Interviews wurden anonymisiert, mit dem Kürzel Int x
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Die Umfragebeteiligung erreichte bei den Verfügungsberechtigten von Wohneinheiten
bezeichnet und durchnummeriert. mit Belegungsbindung bis zum Ende des Vorjahres: 61% (2011), 65% (2012) und 76% (2013).
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Wohneinheiten bereits zu 69% zwischen 5,50 und 7,00 €/m². Im Allgemeinen ist eine Verschiebung der Mietpreise nach oben deutlich erkennbar. So lag die Miete der in der Befragung verzeichneten Objekte 2011 noch zu 13,07% zwischen 5,00 und 5,50 €/m², während diese Preisspanne 2013 nur noch zu 4,30% verzeichnet werden konnte. Die Forderung der Kostenmiete nimmt über die Zeitspanne der drei Jahre ab und wurde laut den Angaben der Verfügungsberechtigen betroffener Objekte 2011 bei 106 Wohneinheiten, 2012 bei 97 Wohneinheiten und 2013 bei 8 Wohneinheiten gefordert (Abgeordnetenhaus Berlin 2012a: 7f.; Abgeordnetenhaus 2013: 7; Abgeordnetenhaus 2014: 7). Unsere Untersuchung verdeutlicht jedoch, dass der Ausstieg aus der Anschlussförderung nicht über Momentaufnahmen vom Mietenniveau beschrieben werden kann und die Zahlen der Studie des Senats kritisch hinterfragt werden müssen. Im Zusammenhang des Gentrification-Prozesses in Berlin spricht Holm (2010) vom »öffentlich geförderten Verdrängungsmanagement«, durch welches mittels Belegungsfreiheit im Sozialwohnungsbau und dem Kostenmietenprinzip unerwünschte Mieter_innen aus ihren Sozialwohnungen verdrängt werden. Die Ursache dafür liegt in der statemade-rental-gap, welche Investor_innen die Möglichkeit gibt, jahrzehntelang mit öffentlichen Geldern geförderte Sozialwohnungsbauten in Spekulationsobjekte auf dem Berliner Wohnungsmarkt zu verwandeln (vgl. Holm 2011b). Hierbei können die Wohnungen, wie bereits erwähnt, lukrativ als Eigentumswohnungen verkauft oder (saniert) auf dem Wohnungsmarkt angeboten werden, nachdem die Sozialmieter_innen durch die Anhebung der Miete oder Anwendung anderer Druckmittel zum Auszug bewegt wurden (ebd.). So sind von den im Programm der Sozialen Stadterneuerung entstandenen Förderobjekten insgesamt 64 Objekte mit 1.398 Wohnungen in Eigentumswohnungen umgewandelt worden, davon 18 Objekte mit 478 Wohnungen in Friedrichshain-Kreuzberg (Stand: November 2012; Gothe 2012b: 2f.). Der Wohnungsdruck auf die sich im Gentrification-Prozess befindlichen, innerstädtischen Quartiere bestärkt die Investor_innen ihre Inwertsetzungsstrategien der Sozialwohnungsbauten zu realisieren. Von Seiten des Senats wurden mehrere Entscheidungen getroffen, durch welche die Folgen des Wegfalls der Anschlussförderung sozialverträglich gestaltet werden soll(t)en: So hat der Senat eine Härtefallregelung für Mieter_innen verfasst sowie einen zeitlich begrenzten Mietausgleich und eine Umzugskostenhilfe eingerichtet. Zudem informiert die Investitionsbank Berlin die Mieter_innen im Vorhinein über das Auslaufen der Grundförderung ihres Mietshauses. Zur Unterstützung der vom Wegfall der Anschlussförderung betroffenen Mieter_innen wurde die Arbeitsgemeinschaft für Sozialplanung und angewandte
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Stadtforschung e.V. (AG SPAS) mit deren Betreuung beauftragt (vgl. Abgeordnetenhaus Berlin 2012b: Drucksache 17/10951: 1). Von den insgesamt 1.223 betreuten Haushalten befindet sich mit 714 Haushalten die Mehrheit in Friedrichshain-Kreuzberg (Gothe 2012b: 1). Zum 31.8.2012 gab es insgesamt 80 Weitervermittlungen von 113 Haushalten mit Auszugswunsch (ebd.). Vor allem die Arbeit der AG SPAS wird von Seiten der aktiven Mieter_innen skeptisch kommentiert und ironischerweise in »AG SPASS« umbenannt. Die staatlichen Unterstützungsmaßnahmen lassen sich als temporär beschränktes Management der durch die beschriebenen politischen Deregulierungsmaßnahmen gesetzlich abgesicherten Verdrängung der Sozialmieter_innen beschreiben. Das Baujahr des Hauses, das Datum des Wegfalls der Grundförderung, die unterschiedlichen Zielsetzungen der Investor_innen als auch das Engagement der Mieter_innen sind neben den grundlegenden politischen Entscheidungen die individuellen Determinanten für die Gentrification-Prozesse, die in den vom Wegfall der Anschlussförderung betroffenen Häusern stattfinden. Um die Folgen des Fördersystems für die Mieterstruktur und die Mieter_innen zu untersuchen, haben wir uns für die Analyse auf Hausebene entschieden. Die Vorteile dieser Herangehensweise der Mikroperspektive Mietshaus werden im folgenden Abschnitt erläutert.
D IE M IKROPERSPEKTIVE M IETSHAUS Das empirische Forschungsfeld zum Thema Gentrification und Verdrängung differenzierte sich im Laufe seiner Entwicklung in Großbritannien und den USA seit den 1970er Jahren räumlich und thematisch immer weiter aus. Die ersten Studien verfolgten quantitative Ansätze, mit denen der Wandel der Nachbarschaft anhand von Zensusdaten und anderweitigen Haushaltsbefragungen untersucht wurde (vgl. Cousar/Sumka 1978/79; Grier/Grier 1980; LeGates/Hartman 1981, 1986; Marcuse 1985). Eines der Ziele dieser Forschungen bestand im Bestimmen von Gentrificationgebieten (»G-Locations«) unter anderem durch den Nachweis eines deutlichen Bewohnerwechsels. Dabei werden Zuzüge von Besserverdienenden mit hohem Bildungsstand im Vergleich zu Wegzügen von Geringverdiener_innen mit niedrigerem Bildungsstand gesetzt. Dieser Vergleich bietet einen ersten Hinweis auf mögliche Verdrängung, reicht jedoch nicht als alleiniger Indikator aus. Neuere quantitative Studien untersuchen deshalb die Gründe für den Wegzug aus von Gentrification betroffenen Gebieten (vgl. Freeman/Braconi 2004; Newman/Wyly 2006).
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Qualitative Studien bauen häufig auf der quantitativen Bestimmung von Gentrificationgebieten auf, beschäftigen sich jedoch vordergründig mit den persönlichen Folgen für die von Verdrängung Betroffenen oder den Folgen für das aufgewertete Gebiet im Zusammenhang mit dem sozioökonomischen Wandel (vgl. u.a. Atkinson et al. 2011). Ein wesentlicher Vorteil der quantitativen Darstellung von Gentrification ist deren Überzeugungskraft, um politische Regulationsmaßnahmen einzufordern bzw. zu legitimieren. Allerdings können die erfassten Zahlen großen Ungenauigkeiten unterliegen (vgl. Marcuse 1985). Auf der anderen Seite kann die qualitative Forschung ein detaillierteres Bild der Folgen von Aufwertungsprozessen liefern, allerdings beschränkt sie sich oft nur auf die Veränderungen innerhalb der gentrifizierten Gebiete. Somit können diejenigen Verdrängten nur sehr schwer in die Untersuchung miteingeschlossen werden, die aus dem gentrifizierten Gebiet hinausgezogen sind. Atkinson et al. (2011) versuchen daher, die Kontaktaufnahme zu den ehemaligen Bewohner_innen größtenteils über Zeitungsannoncen umzusetzen (Atkinson et al. 2011: 21). Diese Herangehensweise birgt jedoch den Nachteil, dass sich nur diejenigen ehemaligen Bewohner_innen angesprochen fühlen, welche sich selbst als »Verdrängte« definieren. Der Großteil der Betroffenen identifiziert sich selbst jedoch nicht als »verdrängt« (vgl. Atkinson 2001; 2011) und verschwindet damit von der Forschungsoberfläche. Atkinson (2000) spricht bei seiner Untersuchung von Gentrification und Verdrängung in London von »Measuring the Invisible«. Die erschwerten Untersuchungsbedingungen von Verdrängungsprozessen könnten ein Grund dafür sein, dass es noch keine qualitative Beschreibung dazu gibt (Holm 2012b: 679).
I M M IKROKOSMOS M IETSHAUS Eine mögliche Lösung für das Problem der schwierigen Kontaktaufnahme zu Verdrängten bietet die Untersuchung auf der Wohnhausebene. Diese Herangehensweise ermöglicht zum einen eine kleinräumige und tiefergehende Erfassung der Folgen von Aufwertungsprozessen für die Bewohnerstruktur und andererseits die Verortung bereits weggezogener ehemaliger Bewohner_innen. Bereits in den Überlegungen des empirischen Sozialforschers Harald Rohlinger (1990) wird die Erforschung von Gentrification anhand einer Datenanalyse auf Häuserebene als wünschenswert beschrieben: Die Veränderungen eines Viertels bzw. auch eines Straßenzuges können von sehr unterschiedlichen Wohnobjekten sowie Bewohner_innen geprägt sein (Rohlinger 1990: 235). Das Wohnhaus stellt hingegen den jeweiligen Rahmen dar, in dem die Bewohner_innen unter relativ
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gleichen Bedingungen vereint sind: Alle Bewohner_innen eines mehrstöckigen Mietshauses sind in derselben Nachbarschaft verortet und unterliegen generell ähnlichen wohnräumlichen Bedingungen wie beispielsweise der Baugeschichte, dem Sanierungsstand sowie der gleichen Hausverwaltung und Hauseigentümer_innen. Diese Rahmenbedingungen sind für die differenzierte Betrachtung der Aufwertungs- und Verdrängungsprozesse von entscheidender Bedeutung. Durch Haushaltsbefragungen mit halboffenen Fragebögen sind vor allem drei Arten von Informationen zu gewinnen: x
x
x
Der Nachweis und die Nachverfolgung der Entwicklungsstufe von Gentrification über statistische Angaben wie Bildungsstand, Einkommen, Alter, Haushaltsgröße und Erwerbstätigkeit. Die Situation der Mieter_innen bezüglich des sich in Veränderung befindenden Umfelds und eventuelle Auswirkungen auf das Wohnverhältnis wie Mieterhöhungen, unterschiedliche Behandlung durch die Vermieter_innen oder die Hausverwaltung. Verweise zu aktuellen Wohnorten von Verdrängten und Möglichkeiten der Kontaktaufnahme zu ehemaligen Bewohner_innen.
Die Untersuchung des Gentrification-Prozesses mittels der Perspektive Mietshaus bedeutet, die Forschung auf Mikroebene durchzuführen. Der entscheidende Vorteil dieses Ansatzes liegt in der Möglichkeit, Verdrängung und die Angst vor Verdrängung zu erfassen: Es können die Umzugsbewegungen von einem Wohnhaus ausgehend verfolgt und anschließend visualisiert werden. Zudem kann auf der Ebene des Mikrokosmos Wohnhaus der etwaige Wandel der Wohnqualität und der Bewohnerstruktur auch rückwirkend nachvollzogen werden. Hierbei können zudem Rückschlüsse auf Strategien der Hausverwaltung bzw. Eigentümer_innen gezogen werden, die laut Holm bisher nicht ausreichend untersucht worden sind (Holm 2011a: 222).
U NTERSUCHUNGSVERLAUF Der in Abbildung 1 schematisch dargestellte Forschungsablauf zeigt die im Rahmen dieser Studie vorgenommene Operationalisierung des zuvor dargestellten Ansatzes der Mikroperspektive Mietshaus. Sie bildet die Grundlage des qualitativen Forschungsverlaufs. Die konkrete Umsetzung dieser Perspektive soll an dieser Stelle beschrieben und mittels des schematischen, idealtypischen Forschungsablaufes visualisiert werden.
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Die Festlegung der räumlichen Bezugsebene und der thematischen Fokussierung sind zwei Schritte, die sich inhaltlich bedingen. Wie u.a. die Untersuchungen von Holm 2011 und die weiterführenden Untersuchungen von Döring und Ulbricht (2016 in diesem Band) zeigen, ist der Berliner Stadtteil Kreuzberg erneut ein aktueller Hotspot von Gentrification (Holm 2011a: 215; Holm/Schulz 2016 in diesem Band). Kreuzberg und Teile Neuköllns weisen gegenwärtig einen großen Wandel der Bevölkerungsstruktur sowie zahlreiche Umwandlungen von Miet- zu Eigentumswohnungen auf. Darüber hinaus ist der Mietwohnungsanteil in Kreuzberg überdurchschnittlich hoch (vgl. Niendorf 2011), es befinden sich zahlreiche Sozialwohnungsbauten im Stadtteil.
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Abbildung 1: Operationalisierung der Mikroperspektive Mietshaus
Quelle: eigene Darstellung
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In einem zweiten Schritt gilt es, die räumliche Bezugsebene (Berlin-Kreuzberg) auf Hinweise zur thematischen Fokussierung (Untersuchung von Phänomenen und Folgen des Gentrification-Prozesses in Häusern des Sozialwohnungsbaus) konkret zu überprüfen. Unter Anwendung des Schneeballprinzips wurden Informationen zu Häusern erfasst, die der thematischen und räumlichen Fokussierung entsprechen. Mittels einer umfassenden Medienrecherche wurden sowohl direkte Informationen zu den Häusern ermittelt als auch Multiplikatoren wie Nachbarschaftsorganisationen und Mietersprecher_innen erfasst. Durch kurze Gesprächsführungen mit diesen externen Multiplikatoren konnten die Informationen ergänzt werden. Im Fokus standen hierbei sowohl die Informationsgewinnung zu möglichen Häusern, zu bereits verdrängten Mieter_innen, als auch die Suche von etwaigen Schlüsselpersonen zu den jeweiligen Untersuchungsobjekten. Als wichtige Referenz ergab sich aus der Medienrecherche die Internetseite www.sozialmieter.de und die dort veröffentlichte Liste von betroffenen Sozialwohnungsbauten mit Stand September 2011. Darüber hinaus lieferten Gespräche mit Vertreter_innen verschiedener Quartiersmanagementbüros, die stille Teilnahme an Protestaktionen gegen die aktuelle Mietenpolitik von lokalen Bürgerinitiativen in Kreuzberg und anschließende Gespräche mit Teilnehmenden wichtige Informationen. Auf dieser Grundlage konnte eine erste Übersicht erstellt werden, welche Häuser zum Zeitpunkt der Untersuchung tatsächlich von Gentrification betroffen sind. Um aus dieser Summe möglicher Untersuchungsobjekte Fallbeispiele zu ziehen, wurde als wesentliches Auswahlkriterium der Kontakt zu Schlüsselfiguren der jeweiligen Häuser bestimmt. Diese Schlüsselfiguren, Hausmeister_innen, Langzeitmieter_innen und ein Sprecher der Mieter_innen, fungierten als wichtige Informationsquelle für die anschließende Analyse der ehemaligen Bewohnerstruktur. Im Schritt der Auswahl empirisch zu untersuchender Häuser wurden die Sozialwohnungen in der Lindenstraße 36–37, Schöneberger Straße 5–6a und im Maybachufer 18 festgelegt, die sich in BerlinKreuzberg bzw. im angrenzenden Neukölln befinden. Die Untersuchung der Sozialwohnungen im Maybachufer 18 bildet insofern eine Ausnahme, als dass sie in Neukölln und somit nicht in der vorab festgelegten räumlichen Bezugsebene Kreuzberg liegen. Durch die Öffentlichkeitsarbeit der Kreuzberger Stadtteil-Initiative »Café Reiche« sowie der direkten Kontaktaufnahme zu einer Schlüsselperson des Hauses war jedoch eine gute Ausgangssituation für die weitere Recherche gegeben. Das Untersuchungsobjekt liegt in unmittelbarer südlichen Grenzlage zur definierten räumlichen Bezugsebene (Lage in »Kreuzkölln«), so dass sich auch Bewohner_innen des Maybachufer 18 im »Café Reiche« engagieren. Die Forschungsergebnisse von Döring/Ulbricht
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(2016, in diesem Band) zeigen darüber hinaus, dass die Indices in diesen zwei Bezirken häufig dieselben Ausprägungen annehmen. Die Untersuchungsobjekte Lindenstraße 36 und 37 befinden sich im nördlichen Teil des Untersuchungsgebietes und in einer weit vorangeschrittenen Stufe eines Gentrification-Prozesses. Dies kann die Untersuchung zwar erschweren, das Forschungsinteresse jedoch gleichzeitig begründen. Tabelle 1: Übersicht der empirischen Datenerhebung Schöneberger Straße 5–6a
Maybachufer 18
Lindenstraße 36–37
Juli 2012
Dezember 2012
Februar 2013
2009
2008/09
2010
Wohneinheiten6
16
23
44
davon: zur Miete
4
1
37
Eigentum
12
22
-
Ferienwohnungen
2
-
5
Leerstehend
1
-
2
Interviewte
6
12
34
davon: ehemalige
2
-
11
aktuelle
4
12
23
Recherchestand Gentrificationmoment5
Bewohner_innen
davon: Altmieter_innen
3
1
12
Neumieter_innen
1
11
11
Interviewte Schlüsselfiguren
ehemaliger Hauswart
letzter Altmieter
Sprecher der Mieter_innen
Datengrundlage: eigene Erhebung 5
Als Gentrificationmoment wird der Zeitraum des Wandels im untersuchten Sozialbauobjekt bezeichnet. Dieser geht meist einher mit abrupten Mietpreissteigerungen und/oder Umwandlungen in Eigentumswohnungen und in deren Folge einer Auszugswelle von Altmieter_innen sowie dem sukzessiven Zuzug von Neumieter_innen.
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Die Summe der Wohneinheiten setzt sich aus leerstehenden, Miet-, Eigentums- und Ferienwohnungen zusammen, wobei z.B. Eigentumswohnungen auch als Ferienwohnungen genutzt werden.
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Die Untersuchung des Sozialwohnungsbauobjekts in der Schöneberger Straße 5– 6a stellt das Kernstück dieser Arbeit dar. Die sozialpolitischen, mietrechtlichen und medienwirksamen Aktivitäten eines engagierten Sprechers der Mieter_innen und die Größe des Sozialwohnungsbaukomplexes wurden als zwei Merkmale eingestuft, die eine Informations- und Datenvielfalt in Aussicht stellten. Deutlich wurde, dass die Siedlung sich in einem akuten Umwandlungsprozess befindet. Die Auswahl dieser drei Objekte ermöglicht die Untersuchung von Sozialwohnungen verschiedener Stufen des Gentrification-Prozesses im Sozialwohnungsbau und somit die Erfassung einer möglichst großen Datenvielfalt. Es wurden insgesamt 39 aktuelle Mieter_innen bzw. Eigentümer_innen aus allen drei Untersuchungsobjekten befragt. In Tabelle 1 werden die vorgenommenen Befragungen zusammengefasst. Darüber hinaus konnten 13 ehemalige Mieter_innen interviewt werden. Des Weiteren wurden Schlüsselfiguren aller drei Untersuchungsobjekte als Expert_innen interviewt.
S OZIALWOHNUNGSBAU IM G ENTRIFICATION -P ROZESS Als Grundlage der im Folgenden vorgestellten Analyse der Phänomene des Gentrification- und Verdrängungsprozesses soll zunächst aufgezeigt werden, dass typische Merkmale von Gentrification in den drei Untersuchungsobjekten differenziert werden können. Anhand der Kategorien Mietpreisentwicklung, Wandel in der Bewohnerstruktur und Sanierungs- und Aufwertungsprozesse wird der Gentrification-Prozess des jeweiligen Untersuchungsobjektes nachgezeichnet, der in Folge des Wegfalls der Anschlussförderung stattgefunden hat bzw. derzeit stattfindet. Als maßgebliche Momente, aufgrund derer sich der Mietpreis in den untersuchten Häusern deutlich veränderte, sind das Ende der Grundförderung und in Folge dessen der Eigentümerwechsel zu benennen. Dabei wurden in allen untersuchten Häusern Hinweise zu unterschiedlichen Mieterhöhungen festgestellt. In den Untersuchungsobjekten Schöneberger Str. 5–6a meldete der Eigentümer nach dem Ende der Grundförderung Privatinsolvenz an, in deren Folge das Objekt im Jahr 2009 verkauft wurde. Im November 2009 veranschlagte die neue Eigentümerin die erste Mieterhöhung, welche allerdings aufgrund eines Formfehlers abgewendet werden konnte. Im Februar 2010 wurde dann jedoch eine abrupte Mieterhöhung von 5,33 auf 7,04 €/m² realisiert (+32%). Des Weiteren wurde im April 2010 für einzelne von der Hausverwaltung ausgewählte Mieter_innen eine weitere Erhöhung der Miete auf das Kostenmietenniveau von 13,02 €/m² umgesetzt (vgl. BMV 2010; Dunger-Löper 2010; Int 6).
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In den Häusern der Lindenstraße 36 und 37 kam es infolge des Endes der Grundförderung im Jahr 2007/08 sowie eines Eigentümerwechsels nach einem Insolvenzverfahren und der Zwangsversteigerung im Jahr 2008 zu erheblichen Mietsteigerungen im selben und dem darauffolgenden Jahr. Mit der Zwangsversteigerung fand auch der Wegfall der Belegungsbindung statt. Der einzige noch wohnhafte Altmieter zahlt 10 €/m², die Neuvermietungsmieten nach Verkauf liegen zwischen 10 bis 17 €/m² bzw. der Kaufpreis zwischen 1.690 und 2.100 €/m². Das Maybachufer 18 wurde im Jahr 1991 fertiggestellt, sodass die Grundförderung 2006 auslief. Bis zum Eigentümerwechsel 2008 gab es nur moderate Mieterhöhungen, als dessen Folge wurden Mietsteigerungen von bis zu 80% genannt bzw. eine Mietsteigerung auf 12 €/m². Nach dem Auszug nahezu aller Altmieter_innen fand eine Umwandlung in Eigentumswohnungen statt, deren Kaufpreise je nach Etage bei 3.000 bis 3.500 €/m² liegen. Der Aufwertungsprozess ist in allen untersuchten Häusern geprägt von baulichen Modernisierungen, die teilweise als Luxusmodernisierungen beschrieben werden, gefolgt von Umwandlungen in Eigentumswohnungen. Hierbei tritt auch das Phänomen von Zweitwohnsitzen oder Ferienwohnungen auf. Die erst in Folge der Auszüge stattfindenden Sanierungen und die Umwandlung in Eigentumswohnungen lassen sich als Indiz für eine gezielte Verdrängung der Altmieter_innen deuten. In der Schöneberger Str. 5–6a erfolgte die Sanierung ab 2010. Den potentiellen neuen Mieter_innen wurde eine Musterwohnung gezeigt und anschließend die von ihnen ausgewählte Wohnung saniert. Die Wohnungen der Altmieter_innen blieben unsaniert und es wurden nur kleinere Schäden beseitigt sowie Ausbesserungsarbeiten vorgenommen bzw. größere Probleme wie Schimmel nur unzureichend und langsam behoben. In der Lindenstraße 36 hatte der Eigentümer keinen Erfolg mit der Weitervermietung der sanierten Wohnungen und es zog nur ein neuer Mieter 2010 ein. Als Konsequenz wechselte der Eigentümer die Strategie und vermietete parallel unsanierte Wohnungen und verkaufte bis 2011 die nach und nach sanierten Wohnungen. Für die Wohnungen der Lindenstraße 37 kann nur ein ähnlicher Verlauf vermutet werden. Im Maybachufer 18 wurden jeweils nach Auszug der Mieter_innen Sanierungen durchgeführt und es fand ebenfalls eine Umwandlung in Eigentumswohnungen statt. In allen drei Wohnblöcken fand ein nahezu kompletter Austausch der Bewohner_innen bei gleichzeitigem sozialen Wandel in der Bewohnerstruktur statt. Von den befragten ausgezogenen Mieter_innen sind rund die Hälfte arbeitslos bzw. in Rente oder befinden sich in einer Qualifizierungsmaßnahme. Zudem
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sind von denjenigen, die sich in einer Erwerbstätigkeit befinden, zwei auf die staatliche Aufstockung ihres Einkommens angewiesen. Die neuen Mieter_innen sind bis auf spezielle Ausnahmen (Rente, Studium) erwerbstätig und nur die verbliebenen Altmieter_innen beziehen staatliche Unterstützung. Aus der Schöneberger Str. 5–6a zogen im Laufe des Jahres 2010 fast 40% der Mieter_innen aus. Die noch wohnhaften Altmieter_innen gaben ein Einkommen zwischen 1.500 und über 3.000 € und entweder einen Realschulabschluss oder eine Ausbildung als höchsten Bildungsabschluss an. Die neuen Mieter_innen haben meist höhere Einkommen, mehrheitlich einen Studienabschluss bzw. Ausbildungen mit höheren Qualifikationen. In der Lindenstraße 36 lassen sich zwei Auszugswellen unterscheiden: Die ersten Mieter_innen zogen direkt nach der Mieterhöhung 2007/2008 aus, die zweite Welle fand in Folge bevorstehender Sanierungsarbeiten mit dem Ziel von Luxussanierungen im Jahr 2009 statt. Bis auf drei Wohnungen standen alle Wohnungen daraufhin leer, wobei aktuell von diesen drei Mieter_innen nur noch einer dort wohnhaft ist. Dieser Mieter beschreibt die neue Bewohnerstruktur mit den Worten, dass es »keine Nachbarn aus prekären Verhältnissen mehr« (Int 10) gebe. Bis auf eine Ausnahme haben auch hier alle neuen Bewohner_innen Abitur oder einen Studien- bzw. Ausbildungsabschluss. Der verbliebene Sozialmieter ist neben einzelnen Studierenden- bzw. Rentnerhaushalten der einzige nicht berufstätige Bewohner. Im Maybachufer 18 wohnen nur noch drei ehemalige Sozialmieter_innen, die anderen sind im Jahr 2008 ausgezogen. Die skizzierten Entwicklungen stellen den Gentrification-Prozess im Sozialwohnungsbau dar, dem ein zweistufiger Verdrängungsprozess inhärent ist: In einem ersten Schritt werden diejenigen Mieter_innen direkt durch die Mieterhöhung zum Auszug gedrängt, die entweder ein geringes Einkommen oder staatliche Unterstützung beziehen. Im zweiten Schritt werden nach deren Auszug Sanierungsmaßnahmen durchgeführt und die Wohnungen teilweise als Eigentumswohnungen vom Mietwohnungsmarkt genommen. Durch diese immobilienwirtschaftlichen Inwertsetzungsstrategien sind die ehemaligen Sozialwohnungen für den Großteil der ehemaligen Mieterschaft nicht mehr zugänglich. Es lassen sich somit beide Dimensionen der Aufwertung einer Nachbarschaft nach Holm (2011) feststellen: die »direkte oder indirekte Verdrängung statusniederer Bevölkerungsgruppen« und die »Verringerung preiswerter Wohnungsbestände« (Holm 2011a: 213).
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P HÄNOMENE DES V ERDRÄNGUNGSPROZESSES B ERLINER S OZIALWOHNUNGSBAU
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Wie bereits deutlich wurde, ist der Gentrification-Prozess im Berliner Sozialwohnungsbau die Folge des Zusammenspiels der politisch geschaffenen Strukturen des Berliner Senats und den daran ansetzenden Inwertsetzungsstrategien der Immobilienbranche. Der Wandlungsprozess der Gentrification hat weitreichende Auswirkungen auf die (ehemaligen) Bewohner_innen der Sozialwohnungen. Anhand der empirischen Forschungsergebnisse lässt sich ein mehrdimensionaler Verdrängungsprozess erkennen, der anhand von vier Phänomenen kategorisiert wird. Neben der grundlegenden Verdrängung aus dem Wohnraum sind dies Angst vor Verdrängung, Praktiken der Diskriminierung und des Widerstands, die im Folgenden näher skizziert werden.
V ERDRÄNGT
AUS DEM
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Im Rahmen des zuvor beschriebenen Prozesses der Gentrification lassen sich in den untersuchten Objekten des Berliner Sozialwohnungsbaus verschiedene Formen der Verdrängung analytisch voneinander unterscheiden: In allen untersuchten Gebäuden wurden abrupte Mietsteigerungen durchgeführt, in deren Folge zahlreiche Mieter_innen ausziehen mussten, da die neu verlangten Mieten deren Zahlungsfähigkeit überschritten. Nach Marcuse wird diese Verdrängungsform als economical displacement bezeichnet (Marcuse 1985: 205). Die Mietsteigerungen konnten in einem solchen Umfang im Sozialwohnungsbau nur aufgrund der im ersten Kapitel beschriebenen Kostenmietenregelung rechtmäßig durchgeführt werden. Die Angleichung der Miete bis auf das Kostenmietenniveau wurde als gezieltes Druckmittel eingesetzt, um eine selektive Verdrängung bestimmter Teile der Mieterschaft vorzunehmen. Im Abschnitt »Diskriminierung« dieses Kapitels wird auf diesen Zusammenhang detaillierter eingegangen. Unter dem allgemeinen Mietrecht mit der Koppelung der Mieten an den Mietspiegel wären weder solch starke Erhöhungen der Bestandsmiete noch das im Folgenden beschriebene Ausmaß von economical displacement möglich. In der Schöneberger Str. 5-6a gaben neun der elf befragten ehemaligen Mieter_innen an, dass die Mieterhöhung(en) Anfang des Jahres 2010 der Grund für ihren Auszug gewesen ist (sind). Die von den ehemaligen Mieter_innen angegebenen Mietsteigerungen belaufen sich auf 20-30%, in einem Fall sogar auf 45%.
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Diese monatlichen Mehrzahlungen von 130 € bis zu 400 € überstiegen ihre Zahlungsfähigkeit. In der Lindenstraße 36 und 37 wurden laut der Aussage des einzig verbliebenen Altmieters »alle früheren Mieter […] durch extreme Mietsteigerungen vertrieben« (Int 10). Dies wird durch die Aussage eines neuen Eigentümers bestätigt: »alle [sind ausgezogen], außer dem Mieter in der behindertengerechten Wohnung, alle aufgrund der gesteigerten Mieten« (Int 16). Die drei befragten ehemaligen Bewohner_innen des Maybachufers 18 nennen ebenfalls die Mieterhöhung als den Grund ihres Auszugs. Eine vormalige Mieterin spricht von einer »rapiden Mieterhöhung auf 12 €/m²« (Int 5) und eine weitere gibt die Mietsteigerung mit 230 € an, die sie nach einer Räumungsklage und vollstreckter Zwangsräumung zum Auszug zwang. Eine weitere Befragte erhielt eine Steigerung der Miete um 51%, sodass sich die Warmmiete von 581 auf 881 € erhöhte. Laut Aussage der Schlüsselperson ist die Verdrängung infolge gestiegener Mieten bei mindestens zwei weiteren ehemaligen Bewohner_innen des Maybachufer 18 der Fall gewesen. Die Verdrängungsform des economical displacement wird bei einigen der befragten ehemaligen Mieter_innen zusätzlich durch einen externen Faktor beeinflusst: Das Jobcenter übernimmt je nach Personenanzahl und Leistungsanspruch eine festgelegte Mietsumme für die von Sozialleistungen abhängigen Mieter_innen (Senatsverwaltung für Justiz 2011a). Bei zwei der befragten ehemaligen Mieter_innen der Schöneberger Straße 5-6a wurde diese Summe bereits vor der Mieterhöhung überschritten, sodass sie zusätzlich zum maximal gezahlten Wohngeld des Jobcenters eigenes Kapital zur Deckung der Mietkosten verwendeten. Nach der abrupten Mieterhöhung wurden sechs der befragten ehemaligen Mieter_innen seitens des Jobcenters indirekt zum Auszug aufgefordert, da die Mietkosten die übernommene Höhe überstiegen und demnach zu senken seien. Dies ist ebenfalls von einer der befragten ehemaligen Mieter_innen des Maybachufers 18 bekannt. Spezifische Informationen zum Wohnortwechsel von Arbeitslosengeld II-Empfänger_innen infolge einer Aufforderung zur Kostensenkung der Arbeitsagentur können dem Artikel von Grotefendt et al. 2016 in diesem Band entnommen werden. Diejenigen Sozialmieter_innen, deren Zahlungsfähigkeit überschritten wurde, mussten sich innerhalb von 14 Tagen entscheiden, die Mieterhöhung dennoch zu tragen oder ihre Wohnungen zu kündigen und innerhalb einer Auszugsfrist von acht Wochen neuen Wohnraum zu finden (Int 6). Alle befragten ehemaligen Mieter_innen entschieden sich, die Mietkosten durch einen Umzug zu reduzieren. Sie suchten eine neue Wohnung in der unmittelbaren Umgebung, um die gewohnte soziale Infrastruktur, insbesondere Schu-
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len und Kindergärten weiterhin nutzen zu können. Auf der Suche nach neuem Wohnraum stehen sie jedoch der »zunehmenden Schließung des Wohnungsbestandes« in Berlin-Kreuzberg für soziale Gruppen mit geringem Einkommen gegenüber (Holm 2011a: 221). Bestätigt wird diese Entwicklung des Mietpreisniveaus durch die Angaben von Verdrängten der Schöneberger Str. 5-6a. Vier der Befragten verwiesen neben der zu hohen Mietkosten auf das Problem, unter diesen finanziellen Restriktionen eine der Familiengröße entsprechende Wohnung finden zu können. Diesbezüglich sagte eine der Befragten: »Ich habe mit meiner siebenköpfigen Familie in der Gegend gesucht, aber alles finanziell Mögliche wurde uns seitens der Hausverwaltungen verwehrt, da die Wohnungen für die hohe Personenanzahl zu klein waren. Alle größeren und für uns geeigneten Wohnungen waren zu teuer« (Int 64). Ähnlich äußerte sich eine der befragten Verdrängten des Maybachufers 18: »Wo soll ich eine behindertengerechte Wohnung für 378 € finden? Ich habe meine Rente, aber ich kann mit ihr nicht 300 € mehr bezahlen. Wo soll ich hier eine Wohnung finden?« (Int 3). Analytisch können diese Phänomene durch den Begriff des exclusionary displacement nach Atkinson et al. (2011) beschrieben werden: Die Haushalte werden aufgrund des immer kleiner werdenden Angebots des für sie passenden Wohnungsmarktsegments daran gehindert, eine geeignete Wohnung in der von ihnen bevorzugten Lage und Umgebung zu finden (Atkinson et al. 2011: 50). Segregations- und Polarisationstendenzen sozialer Gruppen im Stadtgebiet werden somit durch Gentrification- und Verdrängungsprozesse verstärkt (Holm 2005: 4ff.; LeGates/Hartman 1986: 217ff.). So geben fünf der Befragten an, trotz des Wunsches, im Bezirk wohnen zu bleiben, keine passende Wohnung gefunden zu haben. Andererseits gaben sechs der befragten Verdrängten der Schöneberger Straße 5– 6a sowie die drei befragten ehemaligen Mieter_innen des Maybachufers 18 an, letztendlich eine Wohnung in dem von ihnen bevorzugten Stadtteil gefunden zu haben. Zwei der betroffenen Familien konnten die Auszugsfrist von drei Monaten nicht einhalten. Seitens der Hausverwaltung wurden daraufhin Räumungsklagen ausgesprochen, obwohl das Jobcenter für die zusätzlich benötigte Zeit der Wohnungssuche die Zahlung der gesamten Miete inklusive der Mietpreissteigerungen zugesichert hatte. Einer der Mieter_innen hatte bereits eine neue Wohnung zugesichert bekommen, jedoch erst zu einem Zeitpunkt nach Ablaufen der Auszugsfrist, sodass er trotzdem verklagt wurde. Der Streitwert von rund 20.000 € hätte für den Betroffenen neben des Verlusts des Wohnraums durch Verdrängung auch den finanziellen Bankrott bedeutet. Diese Klagen konnten abgewendet und eine Verlängerung der Auszugsfrist auf weitere drei Monate erwirkt werden. Diese Beispiele verdeutlichen das rigorose Vorgehen des Eigentümers und des-
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sen Versuch, die vorhandenen gesetzlichen Rahmenbedingungen vollends auszunutzen. In der Schöneberger Straße 5–6a ist es zudem zur Verdrängung von Sozialmieter_innen infolge einer unterlassenen Sanierung schimmelbefallener Wohnungen gekommen. Demzufolge kann in diesem Zusammenhang analytisch physical displacement festgestellt werden. Nach Marcuse (1985) wird von physical displacement gesprochen, wenn Bewohner_innen aufgrund »physischer« Eingriffe in die Wohneinheit zum Auszug gezwungen werden (Marcuse 1985: 205). Das Auftreten von Schimmel ist zwar kein direkter physischer Eingriff seitens des Vermieters, jedoch stellte ein vom Bauaufsichtsamt durchgeführtes Gutachten von 2007 für die Schönebergerstraße 5–6a »sowohl konstruktionsbedingte als auch nutzungsbedingte Schadensursächlichkeiten« fest (Abgeordnetenhaus Berlin 2010: 2). Der Vermieter ist somit zumindest teilschuldig für die »physische Einwirkung« des Schimmels auf die Gesundheit der Bewohner_innen. Es wurde »nach einem gerichtlichen Vergleich […] ein Bauzeitplan [zur Beseitigung der konstruktionsbedingten Ursachen der Schimmelbildung] vorgelegt, der die Sanierung zwischen September 2007 und Juni 2008 vorsah. Allerdings wurde die erforderliche Zustimmung durch die Gesellschafterversammlung als Eigentümer verweigert« (ebd.). Eine umfassende Sanierung der betroffenen Wohnungen der Sozialmieter_innen wurde demnach unterlassen. Das Gebäude wurde, wie im vorangegangen Kapitel bereits beschrieben, 2009 verkauft. Auch die neuen Eigentümer_innen nahmen keine Sanierung in den Wohnungen vor, stattdessen erhielten die Sozialmieter_innen die bereits erwähnte(n) Mieterhöhung(en) und wurden teils als alleinige Verursacher_innen des Schimmelbefalls bezichtigt. Jene zwei der elf befragten ehemaligen Bewohner_innen der Schönebergerstr. 5–6a, die nicht die Mieterhöhung als Grund des Auszuges angaben, sahen sich ausschließlich aufgrund der weiterhin unterlassenen Schimmelbeseitigung gezwungen auszuziehen. Laut der Aussage einer ehemaligen Sozialmieterin traten bei ihren Kindern gesundheitliche Beschwerden auf, die sich nach dem Wechsel der Wohnung wieder eingestellt haben. Dies wird von einer weiteren ehemaligen Sozialmieterin bestätigt, deren Tochter unter asthmatischen Beschwerden litt. Weitere fünf der befragten Sozialmieter_innen gaben neben dem Hauptgrund der Mieterhöhung ebenfalls den Grund der Unterlassung der Schimmelbeseitigung an. Die Kombination aus vorsätzlich schlechten und gesundheitsgefährdenden Wohnbedingungen und einer hohen Mietsteigerung ist in den Augen der ehemaligen Bewohner_innen nicht zu rechtfertigen. Angemessene Sanierungsarbeiten, die eine moderate Mieterhöhung ggf. gerechtfertigt hätten, wurden erst
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nach dem Auszug der Sozialmieter_innen vorgenommen. Es besteht somit Grund zur Annahme, die Unterlassung sei vorsätzlich geschehen und ist so als ein weiteres Druckmittel für die Verdrängung der Sozialmieter_innen zu interpretieren. In der Schöneberger Straße 5–6a ist somit eine Kombination von economical und physical displacement feststellbar. Auch Marcuse bemerkte bereits, dass »in den meisten Fällen beide [Formen der direkten Verdrängung] gleichzeitig auftreten« (Marcuse 1985: 205). Es wird deutlich, dass nicht nur die Mieterhöhung(en) als Ursache(n) der Verdrängung der befragten Sozialmieter_innen zu betrachten ist (sind). Die tiefergehende Untersuchung zeigt, dass individuelle Betroffenheiten aufgrund differenzierter Lebensumstände sowie Mängel in der Bausubstanz zu einem Wohnortwechsel geführt haben.
W OHIN
ZIEHEN DIE
V ERDRÄNGTEN ?
Wie Abbildung 2 zeigt, ergeben die ermittelten Wohnorte der Verdrängten ein ambivalentes Bild. Entgegen der im vorherigen Abschnitt erwähnten Hinweise auf exclusionary displacement bzw. eine Schließung des Wohnungsbestandes für sozial schwache Gruppen in Kreuzberg, ist eine Konzentration der neuen Wohnorte in der näheren Umgebung des ehemaligen Wohnorts zu erkennen. Elf der ermittelten verdrängten Sozialmieter_innen sind in eine Wohnung in der Umgebung ihres früheren Wohnorts gezogen und somit innerhalb des S-Bahn-Rings wohnhaft geblieben. Dies bestätigt das bereits in den USA festgestellte Phänomen des Umzugs Verdrängter in die unmittelbare Nachbarschaft des bisherigen Wohnortes (LeGates/Hartman 1986: 190f.). Vier der befragten ehemaligen Sozialmieter_innen der Schöneberger Straße 5–6a konnten in unmittelbarer Nähe eine Wohnung finden. Weitere vier sind ebenfalls erneut im Stadtteil Kreuzberg bzw. in den angrenzenden Innenstadtbezirken Mitte und Schöneberg wohnhaft. Alle drei der befragten ehemaligen Bewohner_innen des Maybachufers 18 wohnen ebenfalls weiterhin in unmittelbarer Nähe.
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Abbildung 2: Alte und neue Wohnorte der befragten Sozialmieter_innen.
Quelle: eigene Darstellung
Dieser Eindruck muss jedoch differenziert betrachtet werden: Aufgrund der großen Öffentlichkeitsarbeit der Mieterschaft der Schöneberger Str. 5–6a setzten sich verschiedene Akteure der Politik aktiv für die Auffindung neuer geeigneter Wohnungen ein. Es wurde seitens der Senatsverwaltung die Arbeitsgruppe für Sozialplanung und angewandte Stadtforschung (AG SPAS) beauftragt, Kontakt zu Wohnungsgesellschaften aufzunehmen, die ihrerseits geeignete Wohnungsangebote vorlegen sollten. Der Mietersprecher der Siedlung wirkte zudem als Mediator und Hilfeleistender bei der Wohnungssuche. Die Wohnungsgesellschaften räumten über die Informationsweitergabe hinaus für die neuen Wohnungen Mietpreisminderungen ein, sodass Wohnungen in Innenstadtlage bezogen werden konnten, die den finanziellen Möglichkeiten der Verdrängten entsprachen. Diese »Vorzüge« der Unterstützung bei der Wohnungssuche und der Mietpreisgestaltung stellten einen Sonderfall dar. Gewöhnlich wird lediglich Umzugshilfe geleistet, die jedoch zeitlich befristet ist und somit von einigen verdrängten Sozialmieter_innen nicht in Anspruch genommen werden konnte.
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Es ist davon auszugehen, dass sich ohne diese besonderen Maßnahmen die Suche deutlich schwieriger gestaltet hätte und sich einige der Optionen in Innenstadtlage nicht in diesem Umfang für die Verdrängten ergeben hätten. Die Aussagen zweier Verdrängter bestätigen dies: »Ohne die Hilfeleistungen hätten wir nichts gefunden« (Int 61); »Dank der Hilfe des Senats haben wir etwas Neues gefunden, zum Glück wurde uns geholfen« (Int 66). Anhand dieser Aussage wird ein kontroverser Zusammenhang deutlich, der von Akteur_innen des Widerstands wie Kotti&Co polemisch aufgegriffen wurde (vgl. Kotti&Co 2012): Die Dankbarkeit gegenüber dem Akteur, der für die Verdrängung aus dem Sozialwohnungsbau mittels der Kostenmietenregelung und der Ausnahmeregelung der Belegungsbindung, sprich der statemade-rental-gap, überhaupt erst gesorgt hat. Diese Maßnahmen des Senats erscheinen als Schadensbegrenzungen der eigens geschaffenen Strukturen. Es sind Reaktionen, welche die Gemüter beruhigen sollen um die angespannte Situation nicht einer größeren Öffentlichkeitsaufmerksamkeit zuzuführen (Int 6). Des Weiteren fanden die Umzüge von zwei der drei befragten Verdrängten aus dem Maybachufer 18 bereits im Jahr 2008 statt. Die Neuvermietungsmieten sind in den vergangenen Jahren in den Postleitzahlgebieten der neuen Wohnorte (12047, 10967) um jährlich rund 15% gestiegen, sodass die Wohnungssuche 2008 in der Umgebung noch deutlich mehr Alternativen für die Verdrängten bereithielt als dies inzwischen der Fall wäre (Datengrundlage: GSW 2013, 2012 und 2011). Außerdem geben die Befragten an, dass sie ohne persönliche Kontakte nicht an die Wohnungen in dieser Lage gekommen wären. Von den ehemaligen Bewohner_innen der Lindenstraße 36 und 37 konnten keine Daten zu den neuen Wohnstandorten ermittelt werden. Das Phänomen eines sich schließenden Wohnungsmarkts in Berlin sowie die anhand empirischer Untersuchungen in London getroffene Feststellung Atkinsons (2000) einer Verdrängung sozial schwacher Gruppen aus gentrifizierten Innenstadtbereichen in die Stadtrandgebiete kann jedoch anhand der neuen Wohnorte einiger Befragter bestätigt werden. Drei der befragten ehemaligen Bewohner_innen der Schöneberger Straße 5-6a konnten nur außerhalb des Innenstadtbereichs wohnhaft werden. Weitere zwei der Verdrängten, die jedoch nicht befragt werden wollten, haben ebenfalls nur in weiter Entfernung (>10km) zum ehemaligen Wohnort neuen Wohnraum gefunden. Ebenso zwei ehemalige Bewohner_innen des Maybachufers 18. Die neuen Wohnorte befinden sich in Reinickendorf, Mariendorf und Spandau und somit außerhalb des Berliner SBahn-Rings (vgl. hierzu auch Förste/Bernt 2016 in diesem Band). Die geringe Fallzahl lässt keine Hinweise auf ein homogenes Muster des Verdrängungsprozesses im Berliner Sozialwohnungsbau erkennen. Einerseits
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werden die Segregations- und Polarisationstendenzen in Berlin deutlich. Andererseits zeigt besonders die erfolgte Ansiedelung einiger Verdrängter in unmittelbarer Nähe ihres ehemaligen Wohnorts, dass mithilfe engagierter Unterstützer_innen bzw. den eingeleiteten Hilfemaßnahmen Lösungen für die Wohnungsnot der Verdrängten gefunden werden können. Voraussetzungen dafür scheinen jedoch die öffentliche Aufmerksamkeit sowie die Sachkenntnis über die komplexen Strukturen zu sein.
I NDIVIDUELLE F OLGEN
DER
V ERDRÄNGUNG
Unabhängig von der Lage des neuen Wohnorts bedeutet die Verdrängung für zahlreiche Sozialmieter_innen aus der Schöneberger Straße 5–6a das Herauslösen aus dem bestehenden Nachbarschaftsverbund. Gerade für sozioökonomisch schwache Gruppen sind soziale Netzwerke und Nachbarschaftsstrukturen besonders wichtig. »Diese Kompensationsmöglichkeiten werden bei einer Verdrängung zerstört« (vgl. Holm 2012a). Acht der Befragten sprechen von einer sehr ausgeprägten und helfenden Nachbarschaftsverbindung, die nun nicht mehr existiert. Dazu sagte eine der Befragten: »Während die Kinder gemeinsam spielten, haben wir uns getroffen, Kaffee getrunken, wir waren eine große Familie« (Int 62). Des Weiteren bemängelt ein Befragter das kriminelle Milieu des neuen Wohnorts: »Wir machen abends niemandem mehr die Tür auf, dies war vorher nicht so« (Int 66). Anders äußerten sich zwei der befragten ehemaligen Mieter_innen des Maybachufers 18. So bemerkt eine der Befragten: »Das nachbarschaftliche Miteinander war nicht so ausgeprägt, nun ist die Hausgemeinschaft sehr gut, das ist ein Gewinn« (Int 4). Die andere bemerkt nach eigenen Aussagen keine sozialen Veränderungen durch ihren Umzug. Es wird deutlich, dass sich die Befragten in Abhängigkeit von der Lage des neuen Wohnorts zur Verfügbarkeit sozialer Kontakte und bestehender Infrastruktur äußerten. Weniger soziale Kontakte und weitere Wege zu Freund_innen und Verwandten bzw. zu weiterhin genutzten Schulen und Kindertagesstätten erwähnten zwei der Befragten, deren neuer Wohnort sich weit (>10km) entfernt vom vorigen befindet. Des Weiteren ist es laut dieser Befragten insbesondere für die Kinder schwierig, ein neues soziales Umfeld aufzubauen. Dem entgegen steht die Aussage einer befragten ehemaligen Mieterin des Maybachufers 18: »Wissen Sie, die Kontakte, die man hat, die hat man dann auch in Charlottenburg oder Spandau« (Int 4). Ebenso äußerte sich eine befragte Mieterin der
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Schöneberger Straße 5–6a: »Ich habe noch guten Kontakt zu meinen ehemaligen Nachbarn, wir treffen uns nach wie vor zum Kaffee« (Int 66). Die genannten individuellen Folgen für die ehemaligen Bewohner_innen der Untersuchungsobjekte Schöneberger Straße 5–6a und Maybachufer 18 verdeutlichen die große Spannbreite sozialer Folgen bzw. Kosten der Verdrängung in Abhängigkeit zur individuellen Wahrnehmung derselben. Es lässt sich anhand der untersuchten Beispiele kein Hinweis auf einen einheitlichen Trend erkennen, welche Bedeutung die Verdrängung für die Befragten hat. Nach der Auswertung zahlreicher US-amerikanischer Studien kommen LeGates und Hartman (1986) ebenfalls zu einem sehr variierenden Ergebnis der Zufriedenheit Verdrängter in der neuen Wohnlage. Sie begründen dies anhand der subjektiven Wahrnehmung der Nachbarschaft aber auch mittels der sozioökonomischen Diversität der Verdrängten (LeGates/Hartman: 1986: 181ff.; 193). Eine ebenso starke Varianz zeigt sich in Bezug auf die Wohnungsgröße und neuen Mietkosten der ehemaligen Bewohner_innen der Schöneberger Str. 5–6a. Für vier der ehemaligen Mieter_innen ist die Warmmiete durch den Wohnortwechsel günstiger geworden als vor der Mieterhöhung. Demgegenüber stehen ebenfalls vier Sozialmieter_innen, die höhere Kosten durch den Wohnortwechsel tragen müssen. Bei drei der Befragten ist die Miethöhe in etwa dieselbe geblieben. Es kann also sowohl die Aussage getroffen werden, dass anhand der Befragungsergebnisse Hinweise vorliegen, die für einen Mietkostenanstieg infolge einer Verdrängung sprechen. Dieser Zusammenhang wurde bereits in zahlreichen US-amerikanischen Studien der 1970/80er Jahre belegt (LeGates/Hartman 1986: 191f.). Allerdings verweist die Verringerung der Mietausgaben einiger ehemaliger Sozialmieter_innen infolge der Verdrängung aus der Schöneberger Straße 5–6a darauf, dass ebenso Gegenteiliges der Fall sein kann. Bei der Wohnungsgröße lässt sich ebenfalls kein eindeutiger Trend ableiten: Fünf Verdrängte haben durch den unfreiwilligen Wohnortwechsel mehr Wohnraum zur Verfügung, drei der Befragten weniger und wiederum drei der Befragten steht in etwa derselbe Wohnraum zur Verfügung wie in der Schöneberger Straße 5–6a. Die Ausführungen zeichnen ein sehr differenziertes Bild der Auswirkungen der Verdrängung auf das Leben der ehemaligen Bewohner_innen: Es könnten viele weitere Folgen und deren Gründe formuliert bzw. Zusammenhänge hergestellt werden. Es gibt einige Hinweise, dass die Folgen der Verdrängung in direkter Abhängigkeit von der Lage des neuen Wohnorts, des jeweiligen Lebenskontextes, der sozialen Kontakte sowie auch der Anerkennung des Problems durch die Politik stehen. Wie auch von Blasius (1994) in einer quantitativen
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Studie zur Verdrängung in Köln-Nippes festgestellt wurde, lässt sich eine allgemeine Verschlechterung der Wohnverhältnisse der Sozialmieter_innen infolge einer Verdrängung nicht bestätigen (Blasius 1994: 412). Die Verteilung der positiven und negativen Effekte ist nicht homogen − sie ist individuell. Es gibt Hinweise, dass die Art der Auswirkungen auch vom glücklichen Zufall bei der Wohnungssuche abhängig ist. »Wir hatten einfach Glück, im Gegensatz zu vielen anderen« äußerte eine der Befragten (Int 62). Doch ein so essenzielles Thema wie die Verfügbarkeit von Wohnraum für verdrängte Sozialmieter_innen sollte nicht von Glück und/oder Zufall abhängig sein.
ANGST
VOR
V ERDRÄNGUNG
Als eine andere, im weitesten Sinne psychologische Folge des GentrificationProzesses im eigenen Wohnhaus, konnte das Verspüren von Angst vor einer möglichen Verdrängung festgestellt werden. In Anlehnung an die verschiedenen dargestellten Formen von Verdrängung aus dem Sozialwohnungsbau des vorangegangen Teilkapitels lassen sich die genannten Gründe für das Verspüren dieser Angst ebenfalls in drei Formen beschreiben: Angst vor economical displacement (nach Marcuse 1985), exclusionary displacement (nach Atkinson 2011) und Angst vor Verdrängung durch Räumungsklagen (eigene Datenerhebung) bzw. physical displacements (nach Marcuses 1985). In allen drei Untersuchungsobjekten kann bei aktuellen Mieter_innen Angst vor Verdrängung festgestellt werden. Elf von dreizehn der befragten Mieter_innen, die vor dem Einsetzen des Gentrification-Prozesses bereits in dem untersuchten Sozialwohnungsbau wohnten und drei der neuen Mieter_innen, äußern das Gefühl von Angst vor Verdrängung. Der häufigste Grund ist nach eigenen Angaben die konkrete Befürchtung von Mieterhöhungen (economical displacement). Der letzte Altmieter in der Lindenstraße 36, einer der letzten Mieter_innen im Maybachufer 18 und 7 von 11 der befragten Altmieter_innen der Schöneberger Str. 5–6a haben die Entwicklungen in ihrem Wohnhaus miterlebt und begründen dadurch ihre Angst (erneut) Mieterhöhungen ausgesprochen zu bekommen. Diese könnten oder wollten sie dann nicht mehr zahlen und müssten folglich ausziehen. Im Fall eines Langzeitmieters des Maybachufer 18, besonders aber in der Schöneberger Str. 5–6a wird das Bewusstsein vieler Mieter_innen deutlich, dass die Vermieter_innen durch die Kostenmietregelung die Möglichkeit besitzen, jederzeit eine sprunghafte Mieterhöhung bis zu 13 €/m² zu realisieren. Viele geben an, dass dies seitens der Hausverwaltung als ein Instrument genutzt wird,
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selektiv unerwünschte Mietparteien zum Auszug zu drängen: »Ich befürchte ausziehen zu müssen, wenn die Kostenmiete erhoben wird. Seit sechs Jahren haben wir davor Angst. Leute, die sie raus haben wollen, haben sie raus bekommen« (Int 23). Dieses Bewusstsein schädigt in vielen Fällen das Vertrauensverhältnis zwischen Mieter_innen und der Hausverwaltung. Es setzt vor allem langjährige Mieter_innen (Einzug vor 2010) in den Zustand ständiger Besorgnis bezüglich der Sicherheit ihres Mietverhältnisses. Nach Aussagen eines sich in Rechtsfragen engagierenden Mieters der Schöneberger Straße 5–6a ist bei neuen Mietverträgen eine Klausel enthalten, die der Hausverwaltung rechtlich das Verlangen der Kostenmiete rückwirkend bis zu 23 Monate ermöglicht (Int 6). Dies wurde von einigen neuen Mieter_innen bestätigt, andere sind sich der Existenz der Klausel nicht bewusst. Demnach kann nicht bei allen Neumieter_innen zwangsläufig von akuter Angst vor Verdrängung infolge der möglichen Anhebung der Miete auf Kostenmietenniveau ausgegangen werden. Zwei der neuen Mieter_innen der Schöneberger Straße 5–6a, die Angst vor Verdrängung äußerten, nehmen darüber hinaus ebenfalls deutliche Veränderungen des direkten Wohnumfeldes wahr. Einer betont die verschlechterte Einzelhandelsstruktur, der andere formuliert die Aussage: »Die Mittelschicht hat die bisherigen Mieter ersetzt« (Int 53). Beide Wahrnehmungen können als Indiz dafür gesehen werden, dass hier eine Mischung aus gefühltem Verdrängungsdruck durch die Veränderung des Wohnumfeldes und Angst vor economical displacement durch Mieterhöhungen verspürt wird. Angst vor exclusionary displacement Neben der Angst vor Verdrängung als solche äußern Bewohner der Schöneberger Str. 5-6a und des Maybachufers Befürchtungen, bei einem möglichen Auszug keine geeignete Wohnung in der von ihnen präferierten Umgebung zu finden. Diese Angst vor exclusionary displacement (vgl. Atkinson 2011) äußert sich in Aussagen zu einer Veränderung des Wohnumfelds bzw. der Bewohnerstruktur, die dazu führt, dass die Bewohner_innen keine neue Wohnung in der direkten Nähe oder gar in ihrem Wohnhaus bzw. des Wohnblocks mehr anmieten könnten. In der Lindenstraße 36 befürchtet der einzige Bewohner einer Mietwohnung ausziehen zu müssen: »Ich bin in diesem Haus der letzte Mieter, alle früheren Mieter wurden durch extreme Mietsteigerungen vertrieben« (Int 10), und alle anderen Wohnungen sind mittlerweile als Eigentumswohnungen verkauft. Im Maybachufer 18 äußert sich ein betroffener Mieter dahingehend, dass er zu Beginn des Rechtsstreits mit der Hausverwaltung intensiv nach einer neuen
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Wohnung gesucht, die Wohnungssuche mittlerweile jedoch wieder eingestellt habe, da er für seine fünfköpfige Familie in der Umgebung nichts Bezahlbares gefunden hätte (Int 1). Eine Verdrängte desselben Hauses stellt ebenfalls fest: »Ich glaube, da würde ich jetzt, unter diesen Bedingungen, keine Wohnung mehr bekommen« (Int 4). Befragte Mieter_innen der Schöneberger Straße 5–6a, die die Sorge äußern umziehen zu müssen, geben zwar Angst vor Mieterhöhungen an und berichten von Veränderungen in der Siedlung, jedoch kann keine Äußerung zweifelsfrei als Angst vor exclusionary displacement gedeutet werden. Es scheint lediglich bekannt zu sein, dass sich das Wohnumfeld stark verändert: »Viele Hotels sind entstanden, viele Restaurants für Touristen, nicht für die Leute, die hier wohnen. Jüngere Leute, auch WGs ziehen zu, Paare statt Familien, vor allem deutsche bzw. Westler gegen ausländische Familien« (Int 60). Angst vor Verdrängung durch Räumungsklagen bzw. physical displacement Sowohl in der Schöneberger Straße 5–6a als auch im Maybachufer 18 gibt es Fälle von Angst vor Zwangsräumungen. Zwei der aktuellen Mieter_innen der Schöneberger Str. 5–6a befinden sich seit mehreren Jahren im Rechtstreit mit der Hausverwaltung. Im Maybachufer 18 hat einer der zwei angeklagten Mieter_innen zunächst auf Grund eines Formfehlers seitens der Hausverwaltung den Prozess der Räumungsklage gewonnen. Er verbleibt aber in ständiger Angst vor Verdrängung: »Mit neuer Mieterhöhung oder sonst was wird der Vermieter versuchen, uns hier raus zu bekommen« (Int 1). Keine dieser Mietparteien kann die in ihren Augen unberechtigt hohen Mieterhöhungen zahlen, noch wäre sie dazu bereit. Im Fall der Mieter_innen der Schöneberger Straße 5–6a laufen die Gerichtsverfahren aktuell noch (Stand Mai 2015). Sollte das Verfahren zu einem aus Sicht der Mietenden negativen Urteil kommen, könnte eine sofortige Zahlungsaufforderung des akkumulierten Mietrückstands mit sonst drohender Zwangsräumung die Folge sein. In der Schöneberger Str. 5–6a äußert eine befragte Mietpartei darüber hinaus die Befürchtung, aufgrund des Schimmelbefalls der eigenen Wohnung (wie andere vor ihr ebenfalls) ausziehen zu müssen. Dieser Zustand kann, ähnlich wie im vorigen Abschnitt bereits beschrieben, als eine Form von Angst vor physical displacement interpretiert werden. Bewusst werden die zuvor beschriebenen Beispiele des direkten Bemühens der Vermieter_innen um die Verdrängung angeklagter Mieter_innen jedoch nicht als Fälle von physical displacement im Sinne Marcuses (1985) bezeichnet. Der Rechtsstreit wurde im Grunde durch ein Nichteinhalten der Mietforderungen durch die jeweiligen Mieter_innen selbst
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initiiert. Dies verdeutlicht, dass die Fälle der Räumungsklagen analytisch auch der Angst vor economical displacement zuordenbar sind. In diesem Teilkapitel soll abschließend darauf verwiesen werden, dass keines der hier beobachteten Phänomene bei Privateigentümer_innen oder Mieter_innen der neuen Eigentumswohnungen in der Lindenstraße 36 und 37 und im Maybachufer 18 festgestellt werden konnte.
D ISKRIMINIERUNG Die zuvor beschriebene Verdrängung und Angst vor Verdrängung werden teilweise durch diskriminierende Mechanismen auf dem Wohnungsmarkt verstärkt. Insbesondere belegen Studien die Diskriminierung von Menschen aufgrund eines Migrationshintergrundes (vgl. Kilic 2008; Barwick 2012) sowie aufgrund des sozialen Status (vgl. Oellerich 2011; Pestel Institut 2012). Als diskriminierend gelten Aussagen und Handlungen, welche die Benachteiligung eines Menschen oder von Menschengruppen aufgrund bestimmter Merkmale erzielen (Hormel/Scherr 2010: 7). Ausgehend von der Begrifflichkeit sowie dem Hintergrund des Sozialwohnungsbaus, der nach dem II. Wohnungsbaugesetz von 1956 mit dem Ziel errichtet wurde, für »breite Schichten der Bevölkerung« zugänglich zu sein (Henckel et al. 2010: 428ff.) liegt hier die Vermutung stattfindender Diskriminierung vorerst fern. Ein Großteil der Befragten aus allen drei Untersuchungsobjekten des Sozialwohnungsbaus berichtet jedoch von einer unterschiedlichen Behandlung seitens der Vermietung oder Hausverwaltung gegenüber Ausländer_innen oder Migrant_innen sowie Empfänger_innen von Sozialleistungen. Eine rassistische Diskriminierung kann sich nach der Berliner Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Familie nach äußerlichen Merkmalen oder »auf eine (zugeschriebene) ethnische Herkunft, eine Nationalität, einen Migrationshintergrund, eine Sprache, eine Religion oder Weltanschauung richten, insofern sich diese mit Ausgrenzungen und Abwertungen verbinden, die in einer vermeintlichen wesensmäßigen Minderwertigkeit begründet werden« (vgl. Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Familie 2013). Durch ein Interview mit dem Mietersprecher der Schöneberger Straße 5–6a konnte in Erfahrung gebracht werden, dass nach einer bei allen Mietparteien vorgenommenen Mieterhöhung eine zweite nur selektiv durchgesetzt wurde. Diese betraf lediglich drei Wohnungen. Die Adressaten jener Selektionsmiete waren Familien mit türkischem oder arabischem Migrationshintergrund und Frauen, die aus religiösen Gründen Kopftücher tragen.
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Rassistische (oder auch ethnische) Diskriminierung kann im Fall der Untersuchungsobjekte der Schöneberger Straße 5–6a an zwei zentralen Punkten festgemacht werden: Die selektive Mieterhöhung und die Zuschreibung von negativ dargestellten Merkmalen, Verhaltensmustern und Lebensstilen, die an einen konstruierten islamischen Kulturraum gekoppelt sind. 13 von 35 Befragten der Schöneberger Straße bestätigen die Praktik der Vergabe unterschiedlicher Mieterhöhungen gegenüber »Ausländern« und »Migrantenen« oder »muslimischen Bewohnern« (Int 6, 27, 43, 51, 55, 57, 58, 60, 62, 63, 65, 66, 68). Fünf Mieter_innen äußerten den Vorwurf der expliziten Diskriminierung der Hausverwaltung gegenüber Mieterinnen, die sich durch ein Kopftuch offen zu ihrer Kultur bzw. Religion bekennen. Sehr deutlich wird die unterschiedliche Behandlung durch die Aussage eines Bewohners, nach dessen Beobachtung eine Familie mit türkischem Namen keine zweite selektive Mieterhöhung erhalten habe. Der einzige erkennbare Unterschied sei, dass in dieser Mietpartei niemand ein Kopftuch trage. Des Weiteren haben die polnischen Nachbarn der arabischen und türkischen Familien ebenfalls keine zweite Mieterhöhung bekommen. Der Vermieter äußerte außerdem gegenüber einigen ehemaligen und aktuellen Bewohner_innen, dass der Schimmelbefall in manchen Wohnungen eine Eigenverschuldung darstelle, die ausschließlich durch die Lebensweise der türkischen und arabischen Familien verursacht worden sei. Sechs der neun befragten ehemaligen Mieter_innen der Schöneberger Straße 5–6a sagten aus, dass sie laut dem Vermieter »zu viel Kochen und zu wenig Lüften« (Int 43,61,62,65,66,68). Des Weiteren werden die Kinder jener Familien des Lärmens und Randalierens bezichtigt und für die Zerstörung von Glastüren im Treppenhaus verantwortlich gemacht, ohne dass dies bewiesen werden konnte. Verstärkt wird die Annahme von diskriminierendem Verhalten durch die Beantragung einer Räumungsklage seitens des Vermieters gegenüber zwei Mietparteien mit türkischem bzw. arabischem Namen. Diese schafften es nicht, innerhalb der gegebenen Zeit von acht Wochen vor der einsetzenden Mieterhöhung, eine geeignete Wohnung zu finden und baten daher um einen Aufschub der Frist. Zeitgleich wurde einer deutschen Familie, welche sich in einer ähnlichen Situation befand, die Bitte der Kündigungsrücknahme gewährt. In den Fällen der untersuchten Objekte in der Lindenstraße 36 und 37 und im Maybachufer 18 liegt ebenfalls die Vermutung nahe, dass der Verdrängung aus den Mietwohnungen durch die Umwandlung in Eigentumswohnungen diskriminierendes Vorgehen inhärent ist. Durch die Angabe eines Altmieters mit deutschem Namen aus der Lindenstraße ist eine Benachteiligung nach Herkunft ebenfalls anzunehmen. Nach seinen Angaben wurden zwar bis Ende 2010 alle
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Mieter_innen verdrängt, aber die türkischen Mietparteien bekamen eine Mieterhöhung, die das Fünffache seiner eigenen betrug. Im Maybachufer 18 sprechen drei der fünf Befragten von einer selektiven Mieterhöhung, jedoch ist in den Aussagen keine genaue Zielrichtung dieser Praxis identifizierbar. Allerdings sagen zwei Befragte aus, dass der Vermieter ihre Erkundigung nach den zukünftigen Kaufpreisen ihrer Wohnungen nicht ernst nehmen wollte. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Umwandlung von Unterkünften des Sozialwohnungsbaus mit Belegungsbindungen in Eigentumswohnungen als ein gezielter Austausch der alten Mieterschaft durch wohlhabendere Bewohner_innen betrachtet werden kann. Die Frage erscheint gerechtfertigt, ob Diskriminierung generell mit dem Mechanismus verknüpft ist, der durch den Wegfall der Anschlussförderung und der Befreiung von Belegungsbindungen im Sozialen Wohnungsbau entstanden ist. Denn entgegen dem freien Wohnungsmarkt sollte der Wohnraum der Sozialwohnungsbauten für alle Menschen zugänglich sein. Im Rahmen des Allgemeinen Mietrechts sind die Mietsteigerungen geregelt und können daher nicht die Auswirkungen mit sich bringen, wie es die teilweise immensen Kostenmieten im Berliner Sozialwohnungsbau ermöglichen. Beispielsweise sind die aktuellen Mietpreise in der Schöneberger Straße 5–6a wieder nahezu auf dem Stand der ersten Mieterhöhungswelle. Demnach ist die gezielte Verdrängung nach kultur-rassistischen und sozialen Indizien kaum zu verleugnen. In den Befragungen der aktuellen Mieter_innen geben fünf an, dass die Herkunft der neuen Bewohner_innen vor allem deutsch oder mitteleuropäisch einzuordnen sei. Fünf langjährige Bewohner_innen sagen darüber hinaus aus, dass die Mieterschaft durch eine wohlhabendere Mittelschicht ausgetauscht wurde. Ein solches diskriminierendes Vorgehen von Seiten der Hausverwaltung kann auch ein Hindernis bei der Wohnungssuche der Verdrängten sein: Für viele Vermieter_innen scheint beispielsweise ein nicht als Deutsch zu identifizierender Name bereits als Ausschlusskriterium von der Vergabe einer freien Wohnung zu sein, wie in einem Testing-Verfahren7 in Berliner Wohnungsvermietungen festgestellt worden ist (vgl. Kilic 2008). Eine exkludierende Wirkung sowie die Verkleinerung des reellen Wohnungsmarktes für Menschen mit Migrationshintergrund sind die Folgen. Auch in der Schöneberger Straße 5–6a wird von einer vergleichbaren Situation berichtet: Eine Befragte ließ eine türkische und eine deutsche Freundin nacheinander bei dem Vermieter anrufen um sich nach einer freien Wohnung zu erkundigen. Der Frau mit türkischem Familiennamen
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Ein Testing-Verfahren kann diskriminierende Handlungen aufdecken. Siehe hierzu: Yigit/Andrades Vazquez/Yazar 2010.
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wurde mitgeteilt, dass die Wohnung bereits vergeben sei, wohingegen der deutschen Frau kurz darauf bei der gleichen Anfrage eine Wohnungsbesichtigung angeboten wurde. Ausgehend von der Perspektive, dass die Ungleichbehandlung von Menschen, die von Transferleistungen abhängig sind, ebenfalls als diskriminierend bezeichnet werden kann, tritt in manchen Fällen eine doppelte Benachteiligung aufgrund ihres Migrationshintergrundes und ihres sozialen Status ein. In den Fällen dieser intersektionellen Diskriminierung ist nicht eindeutig, welches Merkmal zu der Verwehrung von Wohnraum führt. Bei den von rassistischer Diskriminierung betroffenen Verdrängten kann eine intersektionelle Diskriminierung vermutet werden, aber diese ist schwer nachweisbar. Eine weitere zu beobachtende Besonderheit liegt in der sehr differenzierten Behandlung von Rollstuhlfahrer_innen. Diese wurden in seltenen Fällen Mieterhöhungen ausgesetzt und haben in den Objekten, die in Eigentum umgewandelt wurden, weiterhin das Privileg die einzigen Mieter_innen im Haus zu sein. In Anbetracht der sonstigen Härte des Verdrängungsvorgangs fällt auf, dass die rollstuhlgerechten Wohnungen gesonderten Belegungsbindungen unterliegen (Abgeordnetenhaus Berlin 2012a).
W IDERSTAND Die Bildung von Widerstand gegen die Entwicklungen in den Untersuchungsobjekten stößt vor allem auf zwei Hemmnisse: Zum einen, dass das Verständnis der Sachlage eine enorme Zeit- und Aufwandsbelastung darstellt und zum anderen, dass Widerstand auf den ersten Blick wenig Erfolg versprechend zu sein scheint. Zusätzlich bedeutet eine Auseinandersetzung mit der Gesetzeslage für Menschen mit geringen Deutschkenntnissen eine noch größere Barriere. Dennoch gibt es einige Protestformen, die von Betroffenen organisiert werden. In der Schöneberger Straße 5–6a sind mehrere Formen des Widerstands zu erkennen. Bereits der erste Versuch einer Mieterhöhung, der die gesamte Siedlung betraf, konnte aufgrund eines Formfehlers abgewehrt werden und eine weitere Klage bezüglich der ersten durchgesetzten Mieterhöhung Ende 2009/ Anfang 2010 befindet sich aktuell noch im Verfahren. Mindestens zwei Mietparteien haben sich der Androhung einer Räumung widersetzt und befanden sich im Rechtsstreit mit einem erfolgreichen Ergebnis der Fristverlängerung. Eine weitere Familie befindet sich seit fünf Jahren im Rechtsstreit um Mietminderungen aufgrund des starken Schimmelbefalls ihrer damaligen Wohnung.
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Außerdem kam es im Januar 2015 zur Verurteilung der Eigentümerin der besagten Häuser in der Schöneberger Straße auf der Grundlage des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) im Falle von zwei Familien, die von der zweiten selektiven Mieterhöhung betroffen waren. Nach dem AGG ist die Diskriminierung nach Herkunft in Bezug auf den Zugang und die Versorgung mit Wohnraum gesetzeswidrig. Dieses 2006 erlassene Gesetz hat durch die Vergeltung eines immateriellen Schadens und der umgekehrten Beweislast eine besondere Stellung. Das erstmalig in diesem Zusammenhang gefällte Urteil beläuft sich auf eine Entschädigungszahlung von jeweils 15.000 € der Vermieterin an die ehemaligen Mieter_innen (vgl. Senatsverwaltung für Justiz 2015). Jedoch ist das Urteil noch nicht rechtskräftig und es kann Widerspruch seitens der Angeklagten eingereicht werden. Diese Verurteilung nach dem AGG im Zusammenhang mit Wohnraum könnte sich zum Präzedenzfall entwickeln, denn bisher ist es im Allgemeinen noch nicht oft und im Wohnraumkontext noch nie vorher zur Anwendung gekommen. Ein weiterer Bewohner der Schöneberger Straße befindet sich ebenfalls im Rechtsstreit mit dem Vermieter, weil dieser von ihm als einzigem Bewohner die volle Kostenmiete verlangt und zwar rückwirkend für den längst möglichen Zeitraum. Nach Aussage des Betroffenen soll er für seine Tätigkeiten in der Protestorganisation der Nachbarschaft abgestraft werden. Die Bewohner_innen der Schöneberger Straße 5–6a organisierten bereits Demonstrationen vor dem Abgeordnetenhaus. Die zuvor erwähnte Konferenz zum Sozialwohnungsbau im Abgeordnetenhaus, welche mit »Nichts läuft hier richtig« betitelt war, kann ebenfalls als erfolgreiche öffentlichkeitswirksame Protestarbeit bewertet werden. Innerhalb der Konferenz war die Fanny-Hensel-Siedlung und somit auch das Wohnhaus der Schöneberger Straße 5–6a ein wichtiges Beispiel für die diskriminierende Vergabe von Mieterhöhungen, da es im Vergleich zu anderen betroffenen Wohnobjekten einen gut dokumentierten Verlauf der Entwicklungen sowie einen sehr aktiven Vertreter der Bewohnerschaft gibt. Zum Maybachufer 18 ist bekannt, dass sich zwei der Bewohner_innen aktiv ihrer Zwangsräumung entgegengesetzt haben und sich gemeinsam mit der Gruppe Kotti & Co sowie der Initiative gegen Zwangsräumungen organisiert haben. Beide hatten keinen Erfolg und mussten schließlich ausziehen. Über etwaige Widerstandshandlungen in den Untersuchungsobjekten der Lindenstraße konnten leider keine Informationen bezogen werden. Die festgestellten Formen des Widerstands gegenüber dem Wegfall der Belegungsbindung und dem diskriminierenden Mechanismus der Kostenmiete sind mit wenigen und kleinen Erfolgen versehen. Nur eine Minderheit der Bewohner_innen der untersuchten Häuser ist aktiv in Protesten eingebunden. Der Groß-
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teil des Widerstands und der teilweise engagierte Einsatz der Bewohner_innen der Schöneberger Straße hängen in hohem Maße vom Einsatz einzelner Engagierter ab. Das erste Urteil im Rechtsstreit mit Bezugnahme auf das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz zweier ehemaliger Mieter_innen der Schöneberger Straße ist noch nicht rechtskräftig (Stand Mai 2015), aber stellt hoffentlich dennoch ein wegweisendes Ergebnis dar.
F AZIT
UND
R EFLEXION
Die hier vorgestellte Studie belegt, dass auch im Berliner Sozialwohnungsbau vom Prozess der Gentrification gesprochen werden kann. Der dieser Entwicklung inhärente Verdrängungsprozess tritt in besonders intensiver und zeitlich komprimierter Form auf. Grund dafür ist das Berliner System der Kostenmiete im Zusammenspiel mit der temporären Aufhebung der Belegungsbindung. Durch diesen Mechanismus wurde politisch eine Ertragslücke geschaffen: die hier als solche bezeichnete statemade-rental-gap. Diese ließ die Wohnobjekte zu immobilienwirtschaftlichen Spekulationsobjekten werden. Die Eigentümer_innen nutzten die geschaffene systemimmanente Möglichkeit, die teilweise nicht oder nur prekär beschäftigten Mieter_innen aus den Wohnungen zu verdrängen und Raum für eine zahlungskräftigere Klientel zu schaffen. Es konnte gezeigt werden, dass die meisten der befragten Sozialmieter_innen verdrängt wurden, indem die Miete bis über die Grenze ihrer Zahlungsfähigkeit angehoben wurde. In den untersuchten Objekten des Berliner Sozialwohnungsbaus lässt sich somit insbesondere die Verdrängungsform des economical displacements nachweisen. Die Eigentümer_innen der Sozialwohnungsbauten realisieren Mieterhöhungen bis auf das Kostenmietenniveau. Die Ergebnisse der Forschungsarbeit zeigen, dass die Mieterhöhungen nicht willkürlich sind, sondern selektiv gegenüber denjenigen Sozialmieter_innen ausgesprochen werden, die den Inwertsetzungsstrategien der Eigentümer_innen nicht entsprechen. Dabei wurden vor allem im Untersuchungsobjekt Schöneberger Straße 5–6a und der Lindenstraße 36 diskriminierende Praktiken seitens der Eigentümer_innen ausgeübt. Viele der verbliebenen Altmieter_innen – und sogar einige der Neumieter_innen – äußern Angst vor Verdrängung, wobei vereinzelt Widerstand mittels Klagen und medialer Aufmerksamkeitsgenerierung gegen das (diskriminierende) Vorgehen der Hauseigentümer_innen geleistet wird. Bezüglich der neuen Wohnstandorte der Verdrängten ist kein klarer Trend zu verzeichnen. Viele der befragten ehemaligen Sozialmieter_innen haben eine neue Wohnung in Innenstadtrandlage und räumlicher Nähe zum vormaligen
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Wohnstandort gefunden. Die Wohnungssuche ist jedoch von dem Umstand positiv beeinflusst, dass fast alle ehemaligen Bewohner_innen externe Hilfe erhalten haben. Anhand der Aussagen ausgezogener Bewohner_innen lassen sich nur begrenzt Rückschlüsse auf allgemeine Folgen der Verdrängung ziehen, da die Bewertung des neuen bzw. des alten Wohnstandorts von zahlreichen individuellen Faktoren beeinflusst wird. Mittels des Forschungsansatzes der ›Mikroperspektive Mietshaus‹ wurden detaillierte Informationen zur Verdrängungsproblematik im Berliner Sozialwohnungsbau gewonnen. Anhand der Betrachtung der Entwicklungen auf Mikroebene kann der Gentrification-Prozess von seiner Entstehung bis zu seinen Folgen exemplarisch auf Individualebene nachvollzogen werden. Hierbei wird anhand der unterschiedlich erlangten Detailtiefe jedes untersuchten Mietshauses die methodische Abhängigkeit von einzelnen Schlüsselpersonen und/oder anderen Multiplikator_innen deutlich. Konnten für das Untersuchungsobjekt der Schöneberger Straße 5–6a zahlreiche verdrängte Sozialmieter_innen durch die noch vorhandenen Kontakte der bestehenden Altmieterschaft ermittelt und befragt werden, war eine Kontaktaufnahme zu ehemaligen Bewohner_innen der Lindenstraße 36 und 37 aufgrund fehlender Vermittler_innen nicht möglich. Dennoch konnte auch mittels der Befragung aktueller Neumieter_innen bzw. Eigentümer_innen der Gentrification-Prozess des Objektes sowie Phänomene des Verdrängungsprozesses reflektiert werden. Die beschriebenen Phänomene in den untersuchten Wohnobjekten stehen exemplarisch für Entwicklungen, die mit dem Ende der Anschlussförderung in den betroffenen innerstädtischen Sozialwohnungsbauten berlinweit stattfinden. Eine weitergehende Forschung erscheint insbesondere vor dem Hintergrund des Wohnraumgesetzes von 2011 und den Ambitionen des Berliner Senats für einen neuen Sozialwohnungsbau sinnvoll. Besonders aus Sicht der betroffenen Mieter_innen und deren Unterstützer_innen kann eine weitere systematische Erfassung bestärkende Argumente liefern. Politischer Handlungsbedarf besteht vor allem aufgrund eines andauernden Zuzugs nach Berlin und einem damit einhergehenden steigenden Druck auf den Wohnungsmarkt. Ohne ausreichend Wohnraum für sozial-ökonomisch schwache Bevölkerungsgruppen und einen wirksamen gesetzlichen Schutz dieser vor Verdrängung aus innerstädtischen Bereichen sind Gentrification- und Verdrängungsprozesse die Folge. In ihrer Tragweite unterschätzte staatliche Deregulierungsmaßnahmen können, wie diese Untersuchung zeigen konnte, eine statemade-rental-gap schaffen, in deren Folge die Verdrängung aus dem Sozialwohnungsbau verstärkt bzw. initiiert wird.
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L ITERATUR Abgeordnetenhaus Berlin (2010): »Sozialwohnungen Schöneberger Straße«. Drucksache 16/13964. Abgeordnetenhaus Berlin (2012a): »Umsetzung und Folgen der Einstellung der Anschlussförderung im öffentlich geförderten Wohnungsbau (Jahresbericht 2011)«. Drucksache 17/0434. Abgeordnetenhaus Berlin (2012b): »Kleine Anfrage der Abgeordneten Katrin Lompscher (LINKE) vom 10. September 2012«. Drucksache 17/10951. Abgeordnetenhaus Berlin (2013): »Umsetzung und Folgen der Einstellung der Anschlussförderung im öffentlich geförderten Wohnungsbau (Jahresbericht 2012)«. Drucksache 17/1098. Abgeordnetenhaus Berlin (2014): »Umsetzung und Folgen der Einstellung der Anschlussförderung im öffentlich geförderten Wohnungsbau (Jahresbericht 2013)«. Drucksache 17/1803. AfS Berlin-Brandenburg – Amt für Statistik Berlin-Brandenburg (2013): »Weiterhin starker Bevölkerungszuwachs in Berlin bis September 2012«. Pressemitteilung Nr. 24 vom 30. Januar 2013. Atkinson, Rowland (2000): »Measuring Gentrification and Displacement in Greater London«. Urban Studies 37, S. 149-165. Atkinson, Rowland/Wulff, Maryann/Reynolds, Margaret/Spinney, Angela (2011): »Gentrification and displacement: the household impacts of neighbourhood change«. AHURI Final Report 160, S. 1-89. Badcock, Blair (1989): »An Australian View of the Rent Gap Hypothesis«. Annals of the Association of American Geographers 79, S. 125-145. Barwick, Christine (2012): »Wer muss draußen bleiben? Wie landeseigene Wohnungsunternehmen bei der Vergabe von Wohnungen selektieren«. MieterEcho 355, S. 8-9. Bell, Daniel (1973): »The Coming of Postindustrial Society«. New York. Bell, Daniel (1979): »The New Class: A Muddled Concept«. Society 16, S. 15-23. Bell, Daniel (1985): »Die nachindustrielle Gesellschaft«. Frankfurt am Main. Bernt, Matthias/Holm, Andrej (2009): »Is it, or is not? The conceptualization of gentrification and displacements and its political implications in the case of Prenzlauer Berg«. City 13, S. 312-324. Berlin Partner GmbH (2012): »Lifestyle, Kultur und Freizeit top, Mieten und Lebenshaltungskosten niedrig – Berlin bietet eine hohe Lebensqualität!«, www.businesslocationcenter.de/willkommen (Zugriff: 15.05.2015).
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Kotti&Co Ein Beispiel neuer Protestformen als Antwort auf neue Formen der Verdrängung L ISA S CHEER »[…] als Instrument zur Artikulation und Durchsetzung von Ansprüchen an die Gesellschaft stoßen Proteste immer mehr auf Akzeptanz« (Kern 2008: 15).
In dieser Untersuchung soll es um die Artikulation und Durchsetzung des Anspruchs auf bezahlbaren Wohnraum für Bestandsmieter_innen des Sozialen Wohnungsbaus gehen. Gegenstand des Interesses ist die Protestinitiative Kotti&Co in Berlin Kreuzberg. Unter diesem Namen wird seit Mai 2012 gegen die Verdrängung am Kottbusser Tor protestiert, welche aufgrund drastischer Mieterhöhungen nach dem Wegfall der Kappungsgrenze und bedingt durch die soziale Situation vieler Mieter_innen droht. Mit Hilfe einer Analyse der Proteststrukturen, Besonderheiten und bisherigen Erfolge soll die Frage nach dem tatsächlichen Einfluss auf die Hauseigentümerin GSW1, als eine_n der Vermieter_innen, die Hermes Hausverwaltung sowie die Politik auf Ebene des Bezirks und des Senats geklärt werden. Durch Interviews mit Vertreter_innen von Kotti&Co, Hermes, GSW und der Bezirkspolitik in Friedrichshain-Kreuzberg, wird die Bedeutung des Protests auf den verschiedenen Ebenen beleuchtet sowie um die Protestwirkung zu klären, die Einflussmöglichkeiten und besonders die Bereitschaft diese zu nutzen, dargestellt. Die Zusammenführung aller Perspektiven dient zur Beantwortung folgender Forschungsfragen:
1
Ehemalige Gemeinnützige Siedlungs- und Wohnungsbaugesellschaft Berlin mbH, heute GSW Immobilien AG
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x x
Welchen Einfluss hat der Protest von Kotti&Co auf die Wohnungsgesellschaften (GSW und Hermes) und die Berliner Bezirks- und Senatspolitik? Welche Veränderungen können dadurch im Gentrification- und Verdrängungsprozess erzielt werden?
Diese Forschungsfragen ergeben sich aus dem, in der Gentrification-Literatur festgestellten, besonderen Einfluss des Sozialen Wohnungsbaus auf den Gentrification-Prozess. Durch einen außerhalb des privaten Wohnungsmarkts existierenden Sozialen Wohnungsbau können Teilbereiche eines Stadtgebiets vor Gentrification-Prozessen bewahrt werden. In diesem Zusammenhang wird ebenfalls die Bedeutung der politischen Mobilisierung durch die Gemeinschaft betont (vgl. Ley/Dobson 2008). Ziel ist es hier, diesen Zusammenhang im deutschen Kontext zu überprüfen.
D ER F ORSCHUNGSSCHWERPUNKT : K OTTI &C O ALS P ROTEST GEGEN V ERDRÄNGUNG Eine mögliche Erklärung, warum gerade das Thema Gentrification zu zahlreichen Protesten führt, ist das Aufwerfen von Fragen der sozialen, politischen und ökonomischen Gleichberechtigung. Gerade in Berlin werden die Debatten hierzu besonders heftig geführt. So wird jüngst sogar dem vermehrten Tourist_innenzustrom in der Stadt die Rolle als vermeintlichem Sündenbock für Gentrification angehaftet. Diese Art des Tourist Bashing steht in einem größeren Kontext zu den kulturellen Folgen von sozialer Polarisierung im städtischen Kontext und ihrer Bedeutung für neue Formen von Diskriminierung und Vorurteilsbildung (Dirksmeier/Helbrecht 2015). Dazu kommt, dass Gentrification häufig zu Verdrängung und räumlicher Ausgrenzung bestimmter Personengruppen führt (Naegler 2012: 10f.). Verdrängung führt nicht nur zu räumlicher Marginalisierung, sondern kann ebenso eine kulturelle Ausgrenzung und den Ausschluss aus dem urbanen Lebensstil verursachen (ebd.: 42). Empirische Studien zur tatsächlich durch Gentrification verursachten Verdrängung sind allerdings selten (vgl. Helbrecht 2016 in diesem Band). Solche Untersuchungen sind methodisch schwer durchführbar, da sie Langzeitbeobachtungen der Verdrängten und nicht der Gentrification-Gebiete voraussetzen. Wird ein Gebiet für die Forschung interessant, weil sich Aufwertungstendenzen abzeichnen, ist die Verdrängung häufig schon fortgeschritten und kann nur noch in Teilen rekonstruiert werden (Holm 2010: 59f.).
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Im Hinblick auf Kotti&Co ergibt sich die Frage nach dem Grund für die vermehrte Aufmerksamkeit, die dieser Protest erfährt. Sowohl in den Medien als auch von Seiten vieler Wissenschaftler_innen bekommt die Initiative besondere Beachtung. Dies wird z.B. an den von 73 Wissenschaftler_innen, Planer_innen, Autor_innen etc. (nicht nur aus Berlin) unterzeichneten Unterstützungsbekundungen deutlich (vgl. Kotti&Co 2012b). In diesen Aussagen und Unterstützungsbekundungen wird deutlich, dass Kotti&Co nicht nur als ein weiterer Protest gegen zu hohe Mieten und Gentrification gesehen wird, sondern als eine aktuelle Form der politischen Beteiligung. So schreibt Andrej Holm in seinem Gentrificationblog: »Soziale Stadtpolitik braucht keine Mischungskonzepte von oben, sondern Umverteilungen und Aneignungsstrategien von unten. In dieser Perspektive sind Kotti&Co mit ihren Forderungen und Protesten weniger ein Problem der Stadtplanung, sondern der Lösungsansatz einer repolitisierten Stadtgesellschaft.« (Vgl. Holm 2012)
Abbildung 1: Protestcamp von Kotti&Co vor Häusern der GSW
Quelle: Lisa Scheer
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An dieser Aussage wird deutlich, dass der Protest als Gegenentwurf zu staatlichen Strategien des Wohnungsmarktes gedeutet wird. Der Aufbau des Protests erinnert durch seine lokale Verortung und die Besetzung des öffentlichen Raums (vgl. Abb. 1) bei gleichzeitiger Präsenz im Internet und in sozialen Netzwerken, an die Occupy-Bewegung (vgl. (Skinner 2011: 3ff; Helbrecht/Dirksmeier/ Schlüter 2015). Hierbei ergänzen sich beide Protestformen und verstärken so ihre Wirkung. Außerdem vereinfachen die neuen Medien die Koordination nationaler oder internationaler Protestkundgebungen (Höfler 2012: 2), wie die Demonstrationen gegen steigende Mieten in mehreren deutschen Städten, bspw. Hamburg und Freiburg (vgl. Askari, Tagesschau 2012). Besonders ist diesbezüglich die Vielfalt der Protestformen. Kotti&Co war z.B. am 10.11.2012 an der Demonstration »für eine soziale Stadtpolitik« in Berlin beteiligt, veranstaltete drei Tage später eine Konferenz zum Thema Sozialer Wohnungsbau und führt seinen lokalen Protest in Form des Gecekondu fort (vgl. Kotti&Co 2012a). Als Gecekondu werden in der Türkei informelle Siedlungen bezeichnet, die durch über Nacht errichtete Häuser auf öffentlichem Boden entstehen. Im Fall von Kotti&Co handelt es sich um ein im öffentlichen Raum errichtetes Gecekondu als Protestcamp (vgl. Abb. 1). Da Gentrification immer auch durch den lokalen Kontext beeinflusst ist, ist eine Betrachtung der lokalen Einbettung des Phänomens sinnvoll (Shaw 2005: 168).
H INTERGRUND DES P ROTESTS
AM
K OTTBUSSER T OR
Proteststrategien gegen Verdrängung werden durch lokale Kontexte beeinflusst. Sie sind u.a. abhängig von der Situation auf dem Wohnungsmarkt, dem lokalen politischen Klima und den Möglichkeiten der lokalen Organisationen (Levy/Comey/Padilla 2006: 1). Damit stellt jeder Protest gegen Verdrängung auch einen einzigartigen Fall dar, dessen Betrachtung aufschlussreich im Hinblick auf das Verständnis solcher Bewegungen sein kann. Kotti&Co ist allerdings ein Sonderfall. Bei den von Verdrängung bedrohten Bewohner_innen handelt es sich um Mieter_innen aus Häusern des Sozialen Wohnungsbaus (vgl. Abb. 1 und 2). Diese Häuser gehören heute privaten Firmen, wie der GSW, die lange staatliche Subventionen erhalten haben, um günstigen Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Der Wegfall der Kappungsgrenze im Jahr 2010 führt zu jährlichen Erhöhungen der Monatsmiete um 0,13 €/m2. Lediglich in »problematische[n] Großsiedlungen des Sozialen Wohnungsbaus« und Sozialwohnungen der städtischen Wohnungsbaugesellschaften gibt es weiterhin Begrenzungen der Mieten auf 5,35
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€/m2 bzw. 5,75 €/m2 (SenFin 2011: 3). Nach Auslaufen der Begrenzung der förderungsbedingten Mietsteigerungen (Kappungsgrenze) kommt es laut Kotti&Co jedes Jahr zu neuen Mieterhöhungen (vgl. Kotti&Co 2012c). Die Forderungen der Mieter_innen beziehen sich also ganz gezielt auf den Sozialen Wohnungsbau bzw. Hilfe für die Bestandsmieter_innen. Seit der Aufgabe des privat finanzierten Sozialen Wohnungsbaus durch den Senat im Jahr 2003 kommt das Land Berlin nicht mehr für die Differenz zwischen der Kostenmiete und den sozial verträglichen Mieten auf (Ertelt et al. 2016 in diesem Band). Die Kostenmiete liegt oft über den Mieten von nicht preisgebundenen Wohnungen (vgl. SenStadtUm 2013a). Diese Differenz kommt durch die in der zweiten Berechnungsverordnung2 festgelegte Aufstellung der Kostenmiete zu Stande. Dieser liegt eine Wirtschaftlichkeitsberechnung unter Berücksichtigung der Gesamtkosten zu Grunde (vgl. BMJ 2007). Zu den Gesamtkosten zählen die Abschreibungen, die Fremd- und Eigenkapitalzinsen, die Instandhaltungs- und Verwaltungskosten sowie der kalkulatorische Mietausfall. Für die Wirtschaftlichkeitsberechnung sind die Verhältnisse im Jahr der Fertigstellung von Belang (Kirchner 2006: 151). Durch diese Gesetzesgrundlage entwickelt sich die Kostenmiete unabhängig vom restlichen Wohnungsmarkt. Das kann bei einer gesteigerten Nachfrage zu einem Problem für die Mieter_innen werden. Unter einer kurz- oder mittelfristigen Steigerung der Wohnungsnachfrage haben – besonders in Verbindung mit dem Auslaufen von Belegungsbindungen – benachteiligte Haushalte zu leiden (Kirchner 2006: 115). Grundsätzlich kann eine Erhöhung der Miete gerade für Geringverdiener_innen schnell problematisch werden, da ihre Einkommen häufig nicht äquivalent steigen (Levy/Comey/Padilla 2006: 1). Laut der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt resultiert die hohe Kostenmiete in Berlin hauptsächlich aus den hohen Bau- und Grundstückskosten aufgrund der Insellage West-Berlins vor 1990 (SenStadtUm 2012a: 6). Der Bindungsauslauf führt bei kommunalen Wohnungsunternehmen häufig nicht zur Vernachlässigung sozialer Gesichtspunkte bei der Vermietung. Dieser Punkt wird eher nach einer Privatisierung zum Problem (Kirchner 2006: 161). Viele der Häuser am Kottbusser Tor gehören aber der GSW Immobilien AG. Diese ehemals städtische Wohnungsbaugesellschaft wurde im Jahr 2004 für 405 Mio. Euro an die privaten Fondgesellschaften Whi-
2
Die Verordnung über wohnungswirtschaftliche Berechnungen nach dem Zweiten Wohnungsbaugesetz dient u.a. zur Berechnung »[der] Wirtschaftlichkeit, Belastung, Wohnfläche oder de[s] angemessene[n] Kaufpreis[es] für öffentlich geförderten Wohnraum bei Anwendung des Zweiten Wohnungsbaugesetzes oder des Wohnungsbindungsgesetzes« (vgl. BMJ 2007).
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tehall (Goldmann & Sachs) und Cerberus verkauft. Die Käufer_innen sind verpflichtet die sozial- und wohnungspolitischen Ziele fortzusetzen, wollen aber gleichzeitig einen leistungs- und wettbewerbsfähigen Betrieb aus der GSW machen (GSW 2012: 13). So sind »Wertsteigerungsmaßnahmen« ein explizites Ziel der Restrukturierung nach dem Verkauf. Auf diesen folgten dann im Jahr 2010 die Änderung der Rechtsform in eine Immobilien AG und 2011 schließlich der Börsengang (ebd.: 14f.). Abbildung 2: Haus der Hermes Hausverwaltung und Café Südblock
Quelle: Lisa Scheer
Der Bau der von Hermes verwalteten Wohnungen (vgl. Abb. 2 u. 3) wurde von einem geschlossenen Immobilienfond finanziert (Interview Hermes). In Abbildung 3 sind die Häuser der GSW und des Immobilienfonds sowie das Protestcamp von Kotti&Co eingezeichnet. Eine weitere Besonderheit von Kotti&Co ist die soziale und kulturelle Mischung der Mieterschaft. Diese setzt sich z.B. aus zahlreichen Menschen mit unterschiedlichen Migrationshintergründen zusammen. Grundlage dieser Mischung ist u.a. die Ansiedelung ehemaliger türkischer Gastarbeiter_innen, die aufgrund der günstigen Mieten in Mauernähe in den 1960er Jahren nach Kreuzberg zogen. Bei oft schlechter Ausstattung und daher geringer Konkurrenz und Diskriminierung auf diesem wenig beliebten Teil des Wohnungsmarktes, waren
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hier die Chancen auf eine Wohnung häufig höher (Kil/Silver 2006: 96f.). Viele der türkischen Immigrant_innen fühlen sich inzwischen wohl in Kreuzberg und eine Vielzahl türkischer Vereine und Organisationen zeugen vom entstandenen Gemeindeleben (Kil/Silver 2006: 98). Abbildung 3: Lage der Wohnhäuser der GSW und Hermes Hausverwaltung und des Protestcamps am Kottbusser Tor; Kartengrundlage: SenStadtUm 2013b, FIS-Broker
Quelle: eigene Darstellung auf Grundlage von Angaben der GSW und Hermes
G ENTRIFICATION
UND
P ROTESTE
IN
K REUZBERG
Die Gentrification-Literatur thematisiert schon seit längerem die vorhandenen Unterschiede der sogenannten Gentrification-Gebiete (vgl. Helbrecht 1996). So können die unterschiedlichen Situationen zu verschiedenen Formen des Protests führen. Gerade für Berlin gibt es bereits eine theoretische Einordnung der vielfältigen Aufwertungsstrategien und denen folgenden Protestformen (vgl. Holm 2011). Im Fall von Kreuzberg handelt es sich bei den zeitlich verzögerten, erneuten Aufwertungstendenzen um eine so genannte »rental gentrification« (ebd.: 216ff.). Hier führt eine symbolische Aufwertung zu steigenden Mietpreisen
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(ebd.: 214). Diese Form der Aufwertung wird auf die Mietsteigerungen bei Neuvermietung und das Auslaufen der Bindungen im Sozialen Wohnungsbau zurückgeführt (ebd.: 221f.). Der Protest von Kotti&Co richtet sich gegen die hohe Kostenmiete im Sozialen Wohnungsbau, speziell am Kottbusser Tor, aber auch berlinweit. Andere aktuelle Proteste gegen Aufwertung richten sich oft gegen konkrete Projekte und weniger an übergeordnete wohnungspolitische Prozesse (Holm 2011: 228). Die Forderung nach einer generellen Lösung für die Bestandsmieter_innen des Sozialen Wohnungsbaus in Berlin durch Kotti&Co muss daher als Besonderheit herausgestellt werden. Allerdings finden auch in anderen deutschen Städten weitreichende Proteste vor dem Hintergrund der Verwertungsmechanismen des Immobilienmarktes statt, genannt sei hier beispielhaft das Hamburger Netzwerk Recht auf Stadt (vgl. Birke 2010). In Bezug auf Proteste in Kreuzberg gibt es eine gewisse Tradition, welche sich sowohl personell – dies wird auch bei der Protestteilnehmerin aus Interview 1 deutlich – als auch inhaltlich zeigt (Holm 2011: 223). Diese geht u.a. auf die bereits vor der Wiedervereinigung in Kreuzberg bestehenden links autonomen Szenen der 1970er Jahre zurück. Damals führten eine geplante Stadterneuerung und Autobahnerweiterung, verbunden mit dem großflächigen Abriss von Häusern aus dem 19. Jahrhundert am Kottbusser Tor, zu Besetzungen leerstehender Häuser durch die alternative Szene. Nach einem fünfjährigen Konflikt änderte der Berliner Senat seine Planung von Neubaustrategien zu behutsamer Stadterneuerung, verbunden mit einer verstärkten Anwohnerbeteiligung (Kil/Silver 2006: 97). Ein weiteres Beispiel für die Kreuzberger Protestkultur ist die Bürgerinitiative Mediaspree Versenken. Diese hat im Jahr 2008 einen Volksentscheid gegen die Privatisierung des Spreeufers und eine zu hohe Dichte der Bebauung erwirkt. Der Widerstand kann u.a. auf Angst vor Verdrängung und Gentrification der Nachbarschaft zurückgeführt werden (Ahlfeldt 2011: 33ff.). Der Hintergrund des Protests war eine mögliche Verdrängung der lokalen kulturellen Einrichtungen und damit die Sorge um eine Veränderung der Nachbarschaft (ebd.: 43). Unabhängig vom Auslöser der Proteste kann eine politisch aktive Gemeinschaft zu einer erhöhten Reaktionsbereitschaft der lokalen Regierung führen (Shaw 2005: 182). Protestbewegungen können lokalen Wandel hervorrufen, indem sie als »mobilisierte Netzwerke von Gruppen und Organisationen« auftreten (Kern 2008: 13). Verdrängung kann nach Marcuse auf Grundlage der Nachbarschaft, Haushalte, Wohneinheiten oder des Individuums definiert werden, sowie als Konsequenz physischer oder ökonomischer Veränderungen (Marcuse 1985: 204). »Physical« und »economic displacement« sind zwei Formen des »direct displacement«. Sie unterscheiden sich durch den Grund des Auszugs. Im Fall von Kotti&Co handelt
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es sich um den Versuch, »economic displacement«, also ein Anheben der Miete auf ein für den_die Mieter_in nicht mehr tragbares Niveau (ebd.: 205f.), zu verhindern. Der Widerstand gegen diese Verdrängung beruht ferner auf der Angst keine Alternativen mehr vorzufinden. »If households under pressure of displacement do not choose to move, it is probably because of lack of alternatives, rather than a lack of pressure« (Marcuse 1985: 214). Im Folgenden sollen daher die bestehenden Möglichkeiten behandelt werden, die helfen Gentrification und Verdrängung zu verhindern.
(W IE ) KANN G ENTRIFICATION
GESTOPPT WERDEN ?
Gentrification kann – und das auch nur in bestimmten Gebieten – lediglich durch wenige Faktoren aufgehalten werden (Ley/Dobson 2008: 2471). Diese Faktoren sind ein gemindertes Angebot an nachgefragtem Wohnraum, politische Interventionen und öffentlicher Widerstand. Ein geringes Wohnraumangebot ist nur da von Bedeutung, wo die Nachfrage (noch) moderat ist (ebd.: 2473; Marcuse 1985: 202). Ein Bezirk ohne architektonischen Charakter, Zugang zu Grünanlagen oder kulturellen Angeboten, aber in der Nähe von Industriebetrieben mit großen Armutsanteilen in der Bevölkerung und einiger Entfernung von existierenden Elitegebieten, ist in der Regel kein potentielles Gentrification-Gebiet (Ley/Dobson 2008: 2475). Außerdem kann eine gewisse Sicherheit der Wohnund Eigentumsverhältnisse für die Stabilität von Quartieren von Bedeutung sein (Shaw 2005: 173). Als besonders wirksame Intervention von politischer Seite werden der Neubau und die Aufrechterhaltung des Sozialen Wohnungsbaus genannt (Ley/Dobson 2008: 2476). Hierzu gilt: »State intervention may be encouraged by the impacted community itself through political mobilisation that draws attention to the injustice of gentrification, notably the displacement of vulnerable poorer populations« (ebd.: 2475).
Öffentlicher Widerstand ist also relevant für lokale Politik und kann vielfältige Formen annehmen. Sein Erfolg ist von sympathisierenden Unterstützer_innen, einer größeren Öffentlichkeit und der Regierung oder auch der Rechtssprechung abhängig. Eine wichtige Aufgabe des öffentlichen Protests liegt darin zu verdeutlichen, dass die Nachbarschaft keiner Umstrukturierung bedarf, sondern vielmehr schützenswerte Stärken aufweist (Ley/Dobson 2008: 2477). Um dem Druck des Wohnungsmarktes standzuhalten sind daher ungewöhnlich starke und einfallsreiche Nachbarschaftsbewegungen notwendig (ebd.: 2478). Ley und
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Dobson stellen in ihrer Studie fest, dass neben einem beständigen Wohnraumkontingent außerhalb des privaten Marktes auf lange Sicht keine Möglichkeit existiert, Gentrification und Verdrängung zu verhindern (ebd. 2008: 2494; Levy/Comey/Padilla 2006: 74). Der Protest von Kotti&Co setzt an dieser Stelle mit einer Strategie der Aufrechterhaltung günstigen Wohnraums an. Derartige Taktiken zielen meist auf Mietkontrollen und die Aufrechterhaltung günstiger, staatlich geförderter Wohnungen ab. Da hierfür das Wissen über betreffende Gesetze und deren lokale Implementierung nötig ist, kann eine enge Zusammenarbeit der Mietergemeinschaften mit lokalen Organisationen hilfreich sein (Levy/Comey/ Padilla 2006: 7). Lang andauernde Wohnverhältnisse durch sichere Mietverhältnisse im privaten, öffentlichen oder kommunalen Sektor oder Eigentumsbildung spielen ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Reduzierung von Gentrification, indem Verdrängung verhindert und die Entwicklung einer lokal verankerten Gemeinschaft gefördert wird (Shaw 2005: 177). Der Zusammenhalt der Gemeinschaft kann wiederum Einfluss auf die Erfolge lokaler Protestbewegungen haben (ebd.: 179). Lokale Protestbewegungen gegen Verdrängung entstehen häufig erst, wenn Gentrification schon so weit fortgeschritten ist, dass eine Verknappung auf dem lokalen Wohnungsmarkt deutlich spürbar ist (Levy/Comey/Padilla 2006: 81f.). Dies erschwert häufig deren Einflussmöglichkeit. Die Frage, die sich daraus im Hinblick auf Kotti&Co ergibt, ist, ob ihr Protest derartigen Einfluss auf Vermieter_innen und politische Entscheidungsträger_innen gewinnen kann, dass diese ihre Handlungsmöglichkeiten zur Senkung der Kostenmiete im Sozialen Wohnungsbau nutzen.
M ETHODISCHES V ORGEHEN Die Erschließung des Feldes erfolgte zu Beginn durch eine offene, teilnehmende Beobachtung, um den Untersuchungsgegenstand genauer zu bestimmen und daraufhin die Erhebungsmethode festzulegen (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2010: 53). Hierzu war in dem seit Mai 2012 andauernden Protest für mich eine Teilnahme durch die Übernahme sogenannter Schichten3 im Protestcamp problemlos möglich. Weitere Einblicke konnte ich durch die Beteiligung an einer durch Kotti&Co organisierten Demonstration und einer gemeinsam mit Sozialmieter.de organisierten Konferenz gewinnen. Sozialmieter.de ist ein Berliner Bünd-
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Zu Beginn gab es sechs Schichten von je vier Stunden pro Tag. Im Winter wurde dies auf vier Schichten von je drei Stunden im Zeitraum von 10 bis 22 Uhr gekürzt.
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nis, das sich an Mieter_innen des Sozialen Wohnungsbaus richtet, die vom Verlust ihrer Wohnung bedroht sind. Aus der teilnehmenden Beobachtung folgte die Möglichkeit der direkten Kontaktaufnahme mit möglichen Interviewpartner_innen. Als Expert_innen der Abläufe, Regeln, Mechanismen etc. von Kotti&Co wurden zwischen dem 05. Dezember 2012 und dem 16. Januar 2013 sechs Protestteilnehmer_innen mit Hilfe leitfadengestützter Interviews (ebd.: 134) befragt. Die Bereitschaft der Teilnehmer_innen von Kotti&Co Interviews zu geben, war unterschiedlich. Eine geringe Bereitschaft wurde besonders von bereits häufig interviewten Personen aus der Kerngruppe geäußert. Gerade Mitglieder dieser Gruppe sind als Expert_innen besonders interessant, da sie über mehr Informationen zum Aufbau und der Entstehung des Protests verfügen. Bei den interviewten Personen handelt es sich um zwei regelmäßig an den Kerngruppentreffen Teilnehmende und vier weitere unterschiedlich involvierte Personen. Da eine Vielzahl der aktiv beteiligten Mieter_innen sich allerdings nicht im Rahmen der Kerngruppe engagiert, sind gerade auch Einblicke in deren Beweggründe und Ansichten zum Protest überaus wichtig. Im Anschluss wurde je ein Interview mit Vertretern der Hermes Hausverwaltung (25. Januar 2013) und der GSW Immobilien AG (14. Februar 2013) geführt, um ihre Sichtweise auf die von Kotti&Co gestellten Forderungen zu beleuchten. Durch ein Interview mit einem Mitglied der Piratenpartei und des Ausschuss für Stadtentwicklung, Soziale Stadt und Quartiersmanagement, Mieten in Berlin Friedrichshain-Kreuzberg am 09. Februar 2013 wurde die Einschätzung eines bezirkspolitischen Vertreters zur Lage von Kotti&Co erfasst.
B ESONDERHEITEN UND AUFBAU
VON
K OTTI &C O
Nur zwei der interviewten Personen waren bereits vorher an ähnlichen Protesten beteiligt. Dies ist relevant im Hinblick auf das Argument, dass Protestbewegungen sich einfacher etablieren könnten, wenn durch eine auch in der Vergangenheit aktive Gemeinschaft die lokale Regierung kooperationsbereiter ist. Eine bereits in den 1980er Jahren an Hausbesetzungen in Kreuzberg Beteiligte vergleicht beide Proteste direkt und betont die Nachwirkungen der damaligen Proteste auf die Entstehung von Kotti&Co, indem sie die einstigen Protestergebnisse als »Humus« (Int. 1: 6) für Kreuzberg bezeichnet. Außerdem zieht sie aus den früheren Erfolgen Hoffnung für den aktuellen Protest, den sie als besonders wichtig herausstellt: »Na, als alte Hausbesetzerin habe ich ja letztendlich auf so was auch gewartet« (ebd: 1).
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Als Besonderheit wird auf der offiziellen Internetseite von Kotti&Co (2012b) sowie von einigen Interviewten ihre lange Wohndauer in einem früher weniger beliebten Teil Kreuzbergs und die Verbundenheit mit dem Stadtteil genannt. Obwohl nur die Hälfte der Befragten mehr als zehn Jahre in Kreuzberg wohnt, wird auch von anderen Beteiligten die lange Wohndauer vieler Mieter_innen herausgestellt. Gerade diese wird im Zusammenhang mit einer breit aufgestellten Teilnehmerstruktur als außergewöhnlich angesehen. »Also, ich sag mal hier einen Protest zu haben, an dem man nicht mehr so vorbeigehen kann. Der eben wirklich von Leuten ist, die sagen, sie haben lange gearbeitet, sie haben lange hier gewohnt und jetzt können sie sich ihre Mieten nicht mal da leisten, wo sie früher im Prinzip hin geschickt worden sind« (Int. 5: 4).
In dieser Aussage wird angedeutet, dass es sich bei einigen Langzeitmieter_innen um Menschen mit Migrationshintergrund handelt, die damals aus der Not heraus, an anderen Standorten keine Wohnung zu finden, nach Kreuzberg gezogen sind. Gerade sie hätten Kreuzberg und das Kottbusser Tor erst zu einem beliebten Wohnstandort gemacht. »Ich hab’ hier was gebaut. Ich hab’ Kreuzberg gebaut mitgebaut, sagen wir mal so« (Int. 3: 4). Zusammengefasst werden an Kreuzberg vor allem zwei Dinge geschätzt: erstens das Heimatgefühl in Verbindung mit der teilweise sehr langen Wohndauer (drei der Interviewten weisen eine Wohndauer von mehr als 30 Jahren in Kreuzberg auf) sowie die verwandtschaftlichen und gemeinschaftlichen Beziehungen vor Ort und zweitens die Beschreibung als multikulturelles Quartier. »Natürlich ist es hier richtig multikulti. Damals habe ich gesagt, ich kann nicht in Kreuzberg leben, aber ich bin fünf Jahre hier. Es ist alles multikulti, es gibt verschiedene Religionen, verschiedene Farben, so. Es ist für mich richtig, es ist schön« (Int. 6: 2).
Gerade Personen, die seit mehr als 30 Jahren in Kreuzberg wohnen, äußern deutliches Unverständnis und sogar Unmut darüber, dass die Kostenmieten nach einer schon vor dem Bau festgelegten Regelung ständig steigen. Genau diese steigenden Mieten werden als Grund für die Beteiligung am Protest und als beinahe einziges Problem mit dem Wohnraum oder der Wohnumgebung angegeben. Dies ist hinsichtlich der Forderungen von Kotti&Co an den Senat und die Hausverwaltungen kaum überraschend.
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Folgende Forderungen werden gestellt an den Senat des Landes Berlin: x x
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»Sofortige Absenkung der Mieten und temporäre Wiedereinführung einer Mietobergrenze für die ›problematischen Großsiedlungen‹ bei 4,-€! Langfristige Senkung der (Kosten-)Mieten im sozialen Wohnungsbau durch Überprüfung ihrer Berechnungsgrundlage, Umschuldung und Veränderung der Zins-Sätze. Stellen Sie sich der komplexen Problematik des Berliner sozialen Wohnungsbaus und verweisen Sie nicht immer nur auf die landeseigenen Wohnungen oder den geplanten Wohnungsneubau. […] Kommunalisieren Sie den Sozialen Wohnungsbau! […] Organisieren Sie (unter Mithilfe der Oppositionsparteien) für Herbst 2012 eine Arbeitskonferenz zum Berliner sozialen Wohnungsbau […] mit dem Ziel eine Sozialmieter_innenfreundliche und nachhaltige Lösung zu finden! Weisen Sie die Jobcenter an, keine weiteren Kostensenkungen und Zwangsumzüge zu fordern« (vgl. Kotti&Co 2012d).
Forderungen an die Hausverwaltungen: x x x x
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»[…] das Land Berlin zu Mietsenkungen zu bringen! Ihrer Aufgabe, bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung zu stellen, wieder nachzukommen, für die Sie seit Jahrzehnten Subventionen bekommen! Sich dafür zu entschuldigen, dass sie mehrfach unseren Einladungen (als auch des Bezirks und des Senats) zum Gespräch nicht nachgekommen sind! Dem Beschluss der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) vom 28.03. 2012 zu folgen und sich endlich [in] einen Dialog mit den Mieter_innen zu begeben! [bzw.] Den nun begonnenen Dialog aufrecht zu erhalten und aktiv nach Lösungen zu suchen. […] die Wohnungen und Häuser nicht verkommen zu lassen! Sich mit uns und der Politik (Land & Bezirk) zusammenzusetzen und einen konkreten Arbeitsplan zur Mietsenkung, als auch Senkung der Kostenmieten zu erstellen. Sich eigenständig nach einer Umschuldung der Kredite umzusehen, um die Kostenmieten zu senken« (vgl. Kotti&Co 2012d).
Weitere vielfach in den Interviews angesprochene Probleme beziehen sich auf die Betriebskosten und die Instandhaltung der Gebäude sowie auf ein generell zu niedriges Einkommen, um neben der Miete den Lebensunterhalt zu bestreiten. Bei vielen führt eine Mieterhöhung dazu, dass sie ihre Wohnung nicht mehr
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finanzieren können bzw. keine Kostenübernahme durch das JobCenter mehr erfolgt, weil die »angemessenen Aufwendungen für die Unterkunft« überschritten werden (vgl. Senat von Berlin 2012; Forderung von Kotti&Co, S. 13). An dieser Stelle wird die Verbindung der Situation mit Gentrification als Verdrängung in Kreuzberg deutlich. Erstens sind nicht ausschließlich Bewohner_innen der Häuser des Sozialen Wohnungsbaus am Protest beteiligt und zweitens wird die Befürchtung geäußert, auf dem angespannten Kreuzberger oder gar Berliner Wohnungsmarkt keine neue adäquate Wohnung zu finden. Eine Person berichtet bspw. 18 Monate nach einer Wohnung gesucht zu haben, nachdem die angestammte Wohnung zu teuer wurde (Int. 4). All diese Interviewaussagen decken sich deutlich mit den veröffentlichten Forderungen des Protests. Dabei handelt es sich ausdrücklich um einen von anderen politischen Meinungen unabhängigen Protest, der sich nur auf die Mietenproblematik bezieht. Gerade diese konkrete Problemorientierung ermöglicht es, unterschiedliche Personenkreise mit verschiedenen politischen Ansichten zu integrieren, denn ein gemeinsamer Protest kann nur dann aufrechterhalten werden, wenn die Gruppe über ein Zugehörigkeitsgefühl verfügt. Hierfür bedarf es einer kollektiven Identität bzw. einer gemeinsamen Selbstbeschreibung. Zu unterscheidende Ebenen sind dabei die soziale Dimension, die zur Abgrenzung von der sozialen Umwelt dient, im Gegensatz zu inhaltlichen Themen, Interessen und Zielen, die oft von gemeinsamen Betroffenheiten ausgehen und als sachliche Dimension bezeichnet werden (Kern 2008: 120f.). In den Interviews wird die Betonung der sachlichen Dimension durch die ausschließliche Konzentration von Kotti&Co auf das Thema Mieten deutlich: »Ja, aber es ist ganz anders. Kotti&Co ist ganz anders als die anderen Vereine. Weil wir kein Verein sind. Und wir sagen den Leuten auch, [es] ist egal, welche Meinung oder welche Ideen oder welche Richtung sie haben. In den Köpfen sollen sie sich nur hierauf konzentrieren. Wir wollen keine politische Einrichtung hier« (Int. 3: 12f.).
Durch diese klare Abgrenzung von anderen (politischen) Themen bleibt der Protest offen für viele unterschiedliche Teilnehmer_innen. »Und das Schöne an diesem Protest ist ja, dass es nicht die üblichen Verdächtigen sind, die schon immer, sondern wie gesagt, also dass hier wirklich quer Beet, egal wie alt, egal welche Nationalität, ne? Egal welcher Bildungsstand, egal welche Weltanschauung. Also wir hier trotzdem alle miteinander irgendwie kämpfen, und das ist natürlich fast noch viel mehr wert als damals in den besetzten Häusern« (Int. 1: 9).
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Personen, die sich zum ersten Mal an einem Protest beteiligen, oft z.B. türkischstämmige Mieter_innen am Kottbusser Tor, tun dies gerade durch die Übernahme von Schichten im Gecekondu. Dabei geht es vornehmlich um eine dauerhafte Aufrechterhaltung des Protests, die Anwesenheit einer Ansprechperson für Interessierte sowie deren Versorgung mit Kaffee oder Tee und die Instandhaltung des Camps. Einen weiteren wichtigen Punkt bildet die Funktion des Camps als Treffpunkt, besonders auch für den Meinungs- und Problemaustausch. Darüber hinaus entwickelt sich eine Art gemeinsame Biographie auf der Grundlage eines kollektiven Gedächtnisses der protesteigenen Geschichte, welche die zeitliche Dimension betrifft (Kern 2008: 121). Die soziale Dimension ist bei Kotti&Co nicht besonders stark betont, denn grundsätzlich kann jede_r jederzeit teilnehmen. Dies kann ich aus eigener Erfahrung durch die Teilnahme am Gecekondu im Rahmen dieser Arbeit bestätigen. So erfolgt die Definition der Zugehörigkeit nur über die aktive Teilnahme. Der Aufbau kann also als lose Netzwerkstruktur bezeichnet werden (ebd.: 119), was gleichfalls eine Eingrenzung oder zahlenmäßige Benennung der Teilnehmer_innen erschwert bzw. unmöglich macht. So waren die Antworten auf die Frage nach einer ungefähren Teilnehmerzahl sehr vielfältig. Sie reichten von 50 bis 150 Besucher_innen pro Tag hin zu 500 Protestbeteiligten. Sogar die Zahl der in der Kerngruppe engagierten, also an der Organisation beteiligten Personen, variierte in den Angaben von zehn bis 30 Personen. Eine Aussage zur Arbeit der Kerngruppe lautet: »Aber was man ja von Außen nicht sieht, also eigentlich ist ja auch eher die Hauptarbeit, wie geht’s politisch weiter, wie organisiert man sich da, was macht man für Aktionen, schreibt Reden oder wie auch immer, ne? Das läuft dann so ’n bisschen hintergründig, aber das läuft halt auch die ganze Zeit. Und das wird dann so unter der Kerngruppe irgendwie aufgeteilt« (Int. 1: 3).
Die Kerngruppe übernimmt Aufgaben wie die Pressearbeit, Organisation von Demonstrationen, die Auseinandersetzungen mit den Hausverwaltungen und dem Berliner Senat sowie die Aktualisierung der Homepage und die Außendarstellung durch selbst entworfene Flyer, Aufkleber und Buttons. Anders ausgedrückt ist die Kerngruppe für die Binnen- und Außenkommunikation sowie die Vernetzung von Kotti&Co zuständig. Es handelt sich um einen Knotenpunkt in der Kommunikationsstruktur, der von besonderer Bedeutung für den Protest ist (Kern 2008: 117). Einige der am Gecekondu Beteiligten berichten, dass sie erst durch den Bau des Camps auf den Protest aufmerksam geworden sind bzw. dass sie dadurch zur Teilnahme animiert wurden. »Seit Mai. Zufällig habe ich das gesehen hier. Dann
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habe ich gedacht, okay mich interessiert das auch. Dann, das macht mir schon Spaß« (Int. 2: 2). Innerhalb der Protestforschung herrscht aktuell immer noch Uneinigkeit über die für eine Mobilisierung nötigen Mittel (Kern 2008: 123; Helbrecht/Dirksmeier/Schlüter 2016). So kann auch der Bau des Gecekondu als Mobilisierungsressource gesehen werden. Die protesteigene Geschichte oder die zeitliche Dimension des Protests wird bspw. an der Beschreibung der Entstehung deutlich. Die Errichtung des Gecekondu am 26.05.2012 ist ein sichtbarer Startpunkt der Protestgeschichte. Obwohl der Protest schon vor der Errichtung des Gecekondu bestand – so wurden bereits vor der Entstehung des Camps Unterschriften gesammelt – hat die Etablierung eines öffentlichen, baulich fest verorteten Protests zu einer deutlichen Aufmerksamkeit und größeren Beteiligung geführt. »Also aus der Erkenntnis, dass man Presse haben kann, reden kann, aber wenn man nicht zu ›drastischeren‹ Maßnahmen greift, dass sich dann auch nichts bewegt, ne? Und das hat sich ja auch irgendwie so erwiesen« (Int. 1: 2). Wie bei der Occupy-Bewegung hat die Besetzung des öffentlichen Raumes zusätzlich eine symbolische Bedeutung (Höfler 2012: 5). Allerdings findet bei Kotti&Co keine Widersetzung gegen Platzverweise statt (vgl. ebd.). Dennoch steht das Gecekondu sinnbildlich für eine drohende Wohnungslosigkeit (Höfler 2012: 8). Gleichzeitig können viele der am Gecekondu beteiligten Personen für Demonstrationen gewonnen werden. Seit Beginn des Protests werden regelmäßig sogenannte »Lärmdemos« organisiert. Hierbei spielen nicht nur die konstant hohen Teilnehmerzahlen – Kotti&Co zählt mehrere Hundert Teilnehmer_innen (vgl. Kotti&Co 2013a) – eine Rolle, sondern auch die wiederkehrende Symbolik. Neben der Verwendung des eigenen »I love Kotti« Designs (vgl. Abb. 4) wird auf den Protest von »Wir bleiben alle« Bezug genommen (vgl. Kotti&Co 2013a). Die 1992 in Prenzlauer Berg entstandene Bewegung hat ähnlich wie Kotti&Co Demonstrationen gegen steigende Mieten organisiert, um eine breite Basis zu erreichen und die Interessen aller Anwohner_innen in einer Bewegung zu vereinen (Papen 2012: 70). Die Vernetzung und Unterstützung auch bei den Demonstrationen verläuft auf unterschiedlichen Ebenen. Das Café Südblock, welches sich genau gegenüber des Protestcamps in dem von Hermes verwalteten Gebäude (vgl. Abb. 2 und 3) befindet, wird immer wieder als wichtiger Unterstützer genannt.
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Abbildung 4: Kotti&Co bei einer Demonstration im September 2011
Quelle: Steigende Mieten Stoppen! 2011
Die Beteiligung anderer ansässiger Unternehmen oder Vereine und die Vernetzung mit Mieterinitiativen ist ebenfalls von Bedeutung. »Also, was ich auch noch vergessen hab’ da bei den Unterstützern, ich mein’ Südblock unterstützt uns, das hier auch. Und die Kopiererei nebenan auch. Und überhaupt, wenn das nicht der Fall gewesen wäre, also es nicht so ’ne Gesamt-Solidarität wäre, wäre’s viel schwieriger gewesen, so. […] also, das ist was Besonderes an sich auch« (Int. 5: 3).
Unterstützung bekommt Kotti&Co durch den Sportverein Türkiyemspor, aber auch von Parteien wie die Linke und Bündnis 90/Die Grünen vor allem auf Bezirksebene. Eine Vernetzung mit Berliner Initiativen, wie z.B. dem Berliner Bündnis Sozialmieter.de, dem Protest der GSW23-Häuser oder von der Anwohnerinitiative FuldaWeichsel, erfolgt bspw. über das Mietenpolitische Dossier. Für eine Protestmobilisierung ist die Kooperation verschiedener Individuen und Organisationen nötig, um Einflusspotenziale zu vergrößern (Kern 2008: 18). Daher ist die Vernetzung von Kotti&Co wichtig für die Durchsetzung ihrer Ziele und ihre bisherigen Erfolge (vgl. Abb. 4).
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B ISHERIGE E RFOLGE
AUS DER
S ICHT
VON
K OTTI &C O
»[E]ine unserer Forderungen wurde ja erfüllt, das war ja die Konferenz im Abgeordnetenhaus« (Int. 1: 7). Diese fand am 13.11.2012 statt. Auch weil die Konferenz insgesamt als eigener Erfolg und sehr positiv bewertet wird, schließen sich daran Hoffnungen an, diese beziehen sich hauptsächlich darauf, dass der Senat sich zu den Forderungen und auf der Konferenz vorgetragenen Lösungsvorschlägen von Kotti&Co äußert. »Ja, die haben gesagt, entweder positiv oder negativ, die geben noch dieses Jahr eine Antwort. Das heißt, es hat was gebracht« (Int. 2: 6). Am 20.12.2012 wurde das von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt beschlossene Mietenkonzept für den Sozialen Wohnungsbau auf der Homepage von Kotti&Co als Teilerfolg des Protests beschrieben (vgl. Kotti&Co 2012e). »Die wollen das jetzt erstmal mit den Mieten durchrechnen. Es zeichnet sich ab, dass es wahrscheinlich schon möglich ist, dass die Mieten irgendwie etwas sinken werden, aber na ja, […] Also auf unsere 4 € nettokalt, da werden sie sich jetzt wahrscheinlich erstmal nicht so drauf einlassen, ne?« (Int. 1: 7).
In der Pressemitteilung der Senatsverwaltung heißt es, die zum 01.04.2013 anstehende Anhebung der Sozialmieten in etwa 35.000 Sozialwohnungen der Großsiedlungen werde ausgesetzt, wenn die aktuelle Miete bereits 5,50 € netto kalt pro Quadratmeter überschreitet. Das bedeutet, die Miete darf im Jahr 2013 nicht über 5,50 € pro Quadratmeter angehoben werden (vgl. SenStadtUm 2013c). Diese Mietobergrenze überschreitet immer noch die in der Wohnaufwendungsverordnung (WAV) festgelegte Quadratmetermiete von 4,86 € bis 4,93 € für Transferleistungsempfänger_innen (Senat von Berlin 2012: 6). Daher schließt sich daran die Forderung von Kotti&Co an die Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales an, in der es zusammengefasst um eine Anpassung der in der WAV festgelegten Kosten der Unterkunft an den Mietmarkt und vor allem an die Mieten im Sozialen Wohnungsbau geht (vgl. Kotti&Co 2012e). Auch wenn trotz der langen Protestdauer bisher nur Teilerfolge erzielt wurden und wenige der Forderungen konkret umgesetzt worden sind, sprechen viele der Interviewten von dem Gefühl, durch den Protest aus einer hilflosen Situation entkommen zu sein.
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»Das ist natürlich für viele Leute auch genial, ne? Die vorher dachten, Mensch ich bin hier vielleicht nur Einzelfall oder so, und resigniert in der Ecke saßen. Es ist immer was anderes, wenn du halt irgendwie anfängst zu kämpfen und irgendwie so vom ja Opfer, sag ich mal, zum Akteur wirst. Also auch wenn sich erstmal die Situation nicht ändert, aber das gibt natürlich erstmal Kraft und Selbstbewusstsein und man fühlt sich einfach besser, ne? Und das haben mir auch einige gesagt, dass sie vorher regelrecht wie gelähmt und depressiv waren und gar keinen Ausweg wussten« (Int.1: 6).
Daraus wird deutlich, dass durch den Protest ein Bewusstsein für die Verbreitung des Problems der Mieterhöhungen im Sozialen Wohnungsbau in Berlin entstanden ist. Besonders, da die persönliche Situation oft ausweglos erschien, kann aus dem kollektiven Protest und dem Austausch mit anderen Betroffenen neue Hoffnung geschöpft werden. Die Stärke sozialer Bewegungen wird gerade darin gesehen, dass sie individuelle Problemlagen gegenüber betreffenden Teilsystemen thematisieren (Kern 2008: 19). Im Fall von Kotti&Co handelt es sich um die Probleme der Mieter_innen im Sozialen Wohnungsbau, die gegenüber den Vermieter_innen als wirtschaftlichem Teilsystem und dem Senat als politischem Teilsystem artikuliert werden. Die Dauer des Protests wird ebenso als besonders motivierend wie auch als persönlicher Erfolg gesehen. »Also, auch das es nicht so ’ne Eintagsfliege […] ist, sondern es wirklich mit so ’ner Hartnäckigkeit war. ›Wir bleiben jetzt. Wir machen jetzt, wir bleiben auch noch im Winter und wenn’s kalt wird. Wir machen einfach, wir ziehen das jetzt einfach durch‹. Also das ist einfach toll. Ja, insoweit bringt’s mir auch wieder was, dass man einfach mal sieht, Protest kann sich immer noch lohnen« (Int. 5: 5).
Das Einflusspotenzial sozialer Bewegungen vergrößert sich durch die Bündelung individueller Ressourcen (Helbrecht/Dirksmeier/Schlüter 2015). Gleichzeitig können ungewollte Tendenzen der Bewegung durch die Ausstiegsoption der Individuen verhindert werden. So können aufgrund der Repräsentationsbestätigung Interessen gegenüber anderen Akteuren durchgesetzt und den Beteiligten ein Gemeinschaftsgefühl vermittelt werden (Kern 2008: 48). Gerade die Beständigkeit verlangt den Beteiligten eine hohe Motivation ab. Der Anreiz geht dabei meist nicht nur von gemeinsamen politischen Zielen aus, sondern auch das Ausleben der persönlichen Identität spielt eine Rolle. Genau an diesem Punkt können sich Gemeinschaften bilden (ebd.: 60). Viele der Interviewten beschreiben die entstandene Gemeinschaft als persönlichen Vorteil, den sie aus dem Protest ziehen. »Na ja, wir sind ’ne super Gemeinschaft, sind hier fast ’ne Familie irgendwie geworden« (Int. 1: 5). Schon bei meiner beobachtenden Teilnahme am
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Protestcamp wurde deutlich, dass einige Teilnehmer_innen regelmäßig vor Ort sind und das Gecekondu als Treffpunkt für den Austausch, nicht nur über Mietenprobleme, nutzen. Diese Beobachtung wurde durch Aussagen der Interviewten bestätigt. Auf die Frage nach den persönlichen Vorteilen von Kotti&Co gibt eine Person bspw. die Antwort: »Als allererstes bin ich nicht zu Hause, sondern unter Menschen« (Int. 2: 3). Nach einem weiteren Nachfragen nach dem Protestcamp als Treffpunkt erzählt sie: »Also ich bin jetzt seit einem Jahr in Kreuzberg. Ich hab’ nicht viele Bekannte. Durch hier Dienst dann kenn’ ich zum Beispiel, sie habe ich kennengelernt, sie habe ich kennengelernt (zeigt auf andere Frauen im Raum)« (ebd.). Durch Aussagen wie diese wird die Funktion des Protestcamps als Treffpunkt und wichtiger Ort für den Aufbau und die Aufrechterhaltung sozialer Kontakte deutlich. Die Gemeinschaft kann so als Nutzen (selektiver Anreiz) gesehen werden, der ein kollektives Handeln begünstigt (Kern 2008: 113). Ein Vorteil, den Kotti&Co aus der medialen Aufmerksamkeit zieht, ist eine Erleichterung der Spendengenerierung. Diese stammen aus unterschiedlichen Quellen. Ein Teil der Einnahmen kommt aus Spenden für bereitgestellten Kaffee und Tee. Außerdem wurden von unterschiedlichen Veranstalter_innen Benefizpartys durchgeführt; Parteien, wie die Linke und Bündnis 90 die Grünen stellen finanzielle Mittel zur Verfügung. Weitere Gelder konnten durch Preise für soziales Engagement gewonnen werden. Auch das Zustandekommen der geforderten Konferenz wird auf die, allgemein als sehr positiv bewertete, mediale Aufmerksamkeit zurückgeführt. »Ja natürlich, also na ja, ich glaube wir sind die meist gefilmte, interviewte, fotografierte oder sonst wie Initiative. Das ist schon ziemlich einmalig. Und also damit konnten wir ja durchsetzen überhaupt diese Konferenz auch zu bekommen« (Int. 1: 8).
Für die Aufrechterhaltung des Protests wird die Berichterstattung ebenfalls als wichtig angesehen. Indem Kotti&Co immer wieder in den Medien ist, erhöht sich ihrer Meinung nach die Bereitschaft, sich am Protest zu beteiligen. »Es ist natürlich, je mehr Öffentlichkeit man als Initiative hat, desto mehr Leute wissen Bescheid und kommen auch und unterstützen auch und umso leichter wird es, sich zu vernetzen, umso leichter wird es, Gelder zu akquirieren und Menschen für Demos und, und, und. Also, als Mittel zum Zweck ist es natürlich wunderbar, ne? Es ist unser Marketing« (Int. 1: 8).
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Denn durch die Massenmedien wird die Reichweite der Wissensverbreitung erhöht (Kern 2008: 127f.). »Wie weit kann man kommen? Kann ich leider momentan nicht sagen, aber erstmal haben wir geschafft, dass wir unser Gesicht gezeigt haben und die Stimme« (Int. 3: 17). Daraus ergibt sich der letzte Punkt der Eigenbetrachtung von Kotti&Co, in dem es um die zukünftigen Pläne, Hoffnungen und deren Durchsetzungsstrategien geht. Trotz der in der Selbstwahrnehmung von Kotti&Co auf verschiedenen Ebenen erzielten Erfolge ist eine akzeptable Erfüllung der Forderungen und damit ein Ende des Protests noch nicht erreicht. Unter der Voraussetzung eines andauernden Durchhaltevermögens wird die Einschätzung geäußert, dass Kotti&Co Ausgangspunkt einer breiteren Bewegung wird. »Also, von daher denke ich, das ist nur ’ne Frage der Zeit und ’n bisschen Durchhaltewillen und dann haben wir glaub’ ich nach Jahrzehnten echt wieder so die Möglichkeit, dass da ’ne richtig große Bewegung losgetreten wird.« (Int. 1: 9). Andererseits wird aus der erlangten Prominenz eine Verantwortung nicht nur den Protestteilnehmer_innen, sondern auch gegenüber anderen, folgenden Protestbewegungen abgeleitet. »Aber würden wir das irgendwie nicht meistern, dann würde der Senat irgendwie denken, dass egal was die Leute irgendwie machen, egal was für ’ne Fantasie sie hier in Aktion haben, egal was für ’n Durchhaltevermögen, dass der Senat sie trotzdem an der ausgestreckten Hand verhungern lassen kann. Also wir würden ’n Fenster damit schließen, ganz deutlich, für weitere Bewegungen« (Int. 1: 9).
Daran wird ebenfalls deutlich, dass die Forderungen an den Berliner Senat noch nicht erfüllt wurden. So wird der bisherige Verlauf des Protests als erste Phase bezeichnet, auf die eine zweite Phase folgt, in der die politischen Forderungen durchgesetzt werden. »Und jetzt kommt, deswegen habe ich gesagt, die zweite Phase fängt erst an. Die zweite Phase wird dann also wirklich richtige Politik gemacht. Wir haben was dazu gelernt und wir wissen, mit wem wir es zu tun haben und mit welchen Leuten wir zusammen arbeiten. […] ich glaube die zweite Phase wird nicht so schwer sein« (Int. 3: 17f.).
Dahinter steht die Erwartungshaltung, dass sich Vertreter_innen der Politik kooperationsbereit zeigen und den Protest bei der Durchsetzung seiner Forderungen unterstützen. »Nicht nur Protest, sondern die Politiker sollten noch mehr Interesse zeigen, hinter uns stehen« (Int. 2: 5). Diese Wünsche und Hoffnungen gegenüber der Politik ergeben sich laut der GSW Immobilien AG und der Hermes Hausverwaltung wohl auch aus deren nicht vorhandenen eigenen Einfluss-
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möglichkeiten. In Interviews mit Vertretern beider Unternehmen wurde ein selbst initiierter Einfluss ausgeschlossen. Im Folgenden sollen daher die Ergebnisse dieser Interviews detailliert dargestellt werden.
E INFLUSSMÖGLICHKEITEN UND - BEREITSCHAFT DER H ERMES H AUSVERWALTUNG UND DER GSW I MMOBILIEN AG Proteste verfügen über die Möglichkeit, gesellschaftliche Teilsysteme auf für sie neue Problemlagen hinzuweisen. Daraus können sich durch das Erkennen von Defiziten und Grenzen strukturelle Veränderungen und Lernprozesse einstellen (Kern 2008: 183). Kotti&Co wendet sich mit ihrer Problemlage, wie im vorherigen Kapitel bereits beschrieben, an mehrere Teilsysteme. Als Vertreter_innen des wirtschaftlichen Teilsystems wurden Vorstandsmitglieder der GSW und Hermes interviewt, um die Einflussmöglichkeiten der Unternehmen auf die steigenden Mieten in ihren Häusern am Kottbusser Tor und vor allem deren Bereitschaft, Lösungen für ihre davon betroffenen Mieter_innen zu finden, zu ermitteln. Aus Sicht der Hermes Hausverwaltung kann die Gesamtentwicklung am Kottbusser Tor durch die verbesserte Umgebungsstruktur beschrieben werden. Als eigener Beitrag wird die Vermietung an die Betreiber_innen des Cafés Südblock genannt. Besonders wird aber auf die Initiative der GSW und die Zusammenarbeit von Investor_innen und Stadt hingewiesen, die Wohnumgebung durch u.a. bauliche Maßnahmen sowie eine verstärkte Kontrolle der Drogenkriminalität zu verbessern. Profiteure dieser Entwicklung seien die Mieter_innen vor Ort, aber eben nur diejenigen, die die steigenden Mieten auch weiterhin zahlen können. »Und deswegen würde ich sagen, vom Umfeld profitieren die Mieter, von dieser Entwicklung profitieren sie nicht, weil die Mieten steigen« (Vorstand Hermes: 8). Die Mieter_innen des eigenen Objekts werden, aufgrund der gesetzlich festgelegten Berechnung der Kostenmiete, aus dieser widersprüchlichen Entwicklung, der parallel entstehenden Umgebungsvorteile und Mietkostennachteile, ausgeklammert. Dennoch wird eine verhältnismäßig hohe Miete für die eigenen Wohnungen eingeräumt. Allerdings ist dies aus Sicht der Eigentümer_innen und der Hausverwaltung kein Problem, solange es Mieter_innen gibt, die bereit sind diese Mieten zu zahlen. »Und die Mieten, die wir im Moment verlangen, sind sicherlich schon hoch und die steigen automatisch immer weiter. Zwar jetzt noch nicht, dass es Luxusimmobilien sind, aber
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so, dass bestimmte Leute sich das schon jetzt dann nicht mehr leisten können« (Vorstand Hermes: 5).
Die jährliche Mieterhöhung von 13 Cent kommt laut Hermes durch die Rückzahlungsvereinbarungen der Förderung zustande und fließt direkt an die Investitionsbank Berlin. »Aber Tatsache ist, die Mietsteigerung bei uns ist erstmal sozusagen vorgegeben. Da können wir nichts gegen machen« (Vorstand Hermes: 9). Die GSW betont ebenso, dass die Entwicklung der Kostenmiete generell außerhalb der Einflussmöglichkeiten des Eigentümers liegt. Ihre Zunahme sei schon bei Fertigstellung der Objekte festgelegt worden und könne nur bei veränderten Verwaltungs-, Instandhaltungs- oder Finanzierungskosten angepasst werden (vgl. Ertelt et al. 2016 in diesem Band). Im Hinblick auf die eigenen Mieter_innen wird das Bewusstsein betont, dass diese hauptsächlich den mittleren und unteren Einkommensschichten angehören. In diesem Zusammenhang wird die firmeneigene Schuldnerberatung als Hilfe für wenig solvente Mieter_innen genannt. Außerdem käme es – auch am Kottbusser Tor – in Einzelfällen zur Aussprache von Mietverzichten. Gegen zu hohe Betriebskosten ist die GSW aus eigener Sicht ebenfalls mit allen verfügbaren Mitteln vorgegangen. So könnten diese, nach genauer Prüfung aller Betriebskosten sowie einer Erneuerung der Heizungssteuerung, nur auf einen durch Mieter_innen verschuldeten hohen Verbrauch zurückgeführt werden. Der Berliner Wohnungsmarkt wird zwar als moderat bezeichnet, eine erhöhte Nachfrage wird allerdings eingestanden. Verbunden mit der erhöhten Nachfrage wird die Fluktuation am Kottbusser Tor für die letzten Jahre mit etwa zehn Prozent pro Jahr beziffert. Vor allem aber ergäben sich für die Transfereinkommensbezieher_innen Probleme durch die vorgezeichnete Entwicklung der Kostenmiete. »Der Wohnungsmarkt am Kottbusser Tor hat sich nicht unabhängig vom Gesamtwohnungsmarkt in Berlin entwickelt. Wir verzeichneten Ende 2012 einen Leerstand von knapp vier Prozent, dieser war noch vor einigen Jahren viel höher. Wir spüren also auch am Kotti eine zunehmende Nachfrage nach Wohnungen. Was aber weiterhin deutlich auffällt, ist die Diskrepanz zwischen der Entwicklung der Kostenmieten auf der einen Seite und der Entwicklung der individuellen Möglichkeiten der Transfereinkommensbezieher auf der anderen Seite« (Vorstand GSW: 6).
Diese Entwicklung wird auf die vor einigen Jahren stattgefundene Entkoppelung der Individualförderung von der planmäßig jährlich um circa 1,5 Prozent steigenden Kostenmiete zurückgeführt. Indessen wird die gesamte vergangene För-
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derpolitik, durch die eine höhere Kostenmiete als die Vergleichsmieten entstanden sei, kritisiert. »Und ich glaube ganz einfach, dass die Förderpolitik der Vergangenheit am Ziel vorbei gegangen ist. Wie kann man sonst erklären, dass seinerzeit millionenschwere Förderprogramme für den sozialen Wohnungsbau aufgelegt wurden und am Ende kommen nun Kostenmieten zustande, die zum Teil deutlich über der örtlichen Vergleichsmiete liegen? Genau diesen Umstand haben wir auch am Kottbusser Tor, das ist nicht mehr vermittelbar!« (Vorstand GSW: 4).
Allerdings fehlt die eigene Bereitschaft, etwas zu ändern. Hermes sieht seine Verantwortung nur darin im Auftrag der Eigentümer_innen, das heißt der Auftraggeber_innen, deren Wohnungen zu einem bestimmten Preis zu vermieten. Damit wird die eigene Aufgabe als Hausverwaltung und somit als Dienstleistungsunternehmen betont. »Wir haben ja keinen sozialen Auftrag, sondern wir haben den Auftrag für einen Preis eine Wohnung zu vermieten und den Preis auch zu bekommen. Und wenn wir den nicht mehr bekommen, muss derjenige ausziehen. Dann zieht der nächste ein, der ihn dann wieder zahlt« (Vorstand Hermes: 10).
Gleichzeitig wird dadurch die Verantwortung gegenüber den Mieter_innen von sich gewiesen. Die Mieter_innen werden als Mittel zum Zweck gesehen, um das Vermögen der Anleger_innen zu wahren. Lediglich in diesem Sinne wird den, nach diesem Vorsatz schützenswerten, Mieter_innen eine Bedeutung beigemessen. »Denn guckt also auch das Haus auf sein Vermögen, weiß natürlich auch, dass um sein Vermögen zu wahren die Mieter wichtig sind. Also sagt er, sozusagen im übertragenen Sinne, natürlich müsst ihr auch die Mieter gut behandeln« (Vorstand Hermes: 3). Einer ähnlichen Argumentation folgt auch die GSW. Indem sie ihre Verantwortung anderen Gruppen gegenüber herausstellt, wird die Verpflichtung den Mieter_innen gegenüber relativiert. »Wir haben Verantwortung gegenüber unseren Mietern, aber darüber hinaus auch gegenüber anderen Interessengruppen. So bspw. gegenüber Handwerksbetrieben, die für uns arbeiten, die ihre Rechnungen beglichen wissen wollen. Gegenüber Mitarbeitern und deren Familien. Natürlich aber auch gegenüber unseren Aktionären, die uns nämlich das Eigenkapital sichern, um damit zu wirtschaften. Auch dieses Eigenkapital gilt es im Sinne der Gesellschaft und der Aktionäre zu schützen« (Vorstand GSW: 16).
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Sowohl Hermes als auch die GSW argumentieren weiter mit ihren geringen Einflussmöglichkeiten. Bei Hermes beziehen sich diese explizit auf das Kottbusser Tor und ihren geringen Anteil von (nur) 150 Wohnungen dort. Die GSW bezieht sich hingegen auf den gesamten Berliner Wohnungsmarkt und einen eigenen Marktanteil von etwa drei Prozent bzw. 58.000 Wohnungen. »Wenn man bei Unternehmen wie der GSW immer von Treibern der dynamischen Mietentwicklung spricht – mal ganz abgesehen davon, dass unsere Mietentwicklung nicht dynamischer ist als die der städtischen Wohnungsgesellschaften – dann ist das substanzlos. Mit 60.000 Wohnungen kann man einen Markt von 1,9 Millionen Wohnungen, wie wir ihn in Berlin haben, ja gar nicht substanziell beeinflussen« (Vorstand GSW: 2).
Bei etwa 15.000 GSW-Wohnungen handelt es sich um öffentlich geförderte Wohnungen, dies schließt auch die etwa 900 Wohnungen am Kottbusser Tor ein. Die Lage der Mieter_innen des Sozialen Wohnungsbaus am Kottbusser Tor wird als unvermittelbares Ergebnis der Förderpolitik beurteilt (Vorstand GSW: 4). Daraus wird die Ansicht gespeist, mit der Problembewertung von Kotti&Co überein zu stimmen. »Ja, und wir haben auch im Beisein des Bezirksbürgermeisters hier bei der GSW eine große Gesprächsrunde mit Kotti&Co. gehabt. Es wurde ganz offen diskutiert und in der Einschätzung der Situation sind wir uns völlig einig« (Vorstand GSW: 8).
Gleichzeitig ergibt sich aus dieser Lageeinschätzung die Zurückweisung der Verantwortlichkeit, denn die Fehler und somit die Verantwortung und Handlungsmöglichkeiten werden der politischen Seite zu Lasten gelegt. Trotzdem wird anerkannt, dass die Einflussmöglichkeiten der Politik stark begrenzt sind. »Die Politik kann und sollte ja nur Rahmenbedingungen beeinflussen und keine Rechtsvertretung im Einzelfall betreiben« (Vorstand GSW: 11). Vor allem für Wohnungsneubau wäre Berlin auf das Geld von Investor_innen angewiesen, um den Wohnungsmarkt beeinflussen zu können. Daraus wird bei GSW und Hermes der Schluss gezogen, der Politik bliebe, besonders im hochverschuldeten Berlin, nichts anderes übrig, als mit der Wirtschaft zusammen zu arbeiten. »Herr Müller4 kann als Senator für Stadtentwicklung und Umwelt in Berlin allein keinen ausreichenden Wohnungsbau initiieren. Er hat schlicht und einfach nicht das Geld dafür, ihm sind die Hände gebunden. Er muss vielmehr einen Weg im Schulterschluss mit der
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Gemeint ist Michael Müller, seit 2014 Regierender Bürgermeister von Berlin.
176 | L ISA SCHEER Wohnungswirtschaft gehen, auch medial. Nur so können wir alle Entwicklungen des Wohnungsmarktes beeinflussen« (Vorstand GSW: 13).
Auch bei Hermes wird aus einer marktwirtschaftlichen Argumentation, wonach es eine ideologische Frage sei, ob jemand mit wenig Geld mitten in der Stadt wohnen müsse, die Begründung abgeleitet, dass die Politik der richtige Ansprechpartner und möglicher Initiator von Veränderung sei. Hier wird ebenfalls darauf hingewiesen, dass für einen sozial verträglichen (Wohnungs-)Markt Kapital nötig ist. »Man muss ihn [den Markt] sozial verträglich machen. Das hat der Staat, wenn er’s kann. Also er muss ja auch Geld haben. Wenn er’s nicht kann, wird es eben dann schon so sein, dass der günstige Wohnraum eher an Stellen liegt, die eben auch nicht so gefragt sind« (Vorstand Hermes: 4).
Somit wird, im Hinblick auf die Forderungen von Kotti&Co sowie bezüglich der Bereitstellung günstigen Wohnraums in Berlin auf den Staat als Verantwortlichen und Ansprechpartner verwiesen. Dieser könnte, wenn er die Bereitschaft und die Mittel dazu hat, bspw. durch Aufrechterhaltung und Neubau im Sozialen Wohnungsbau, günstigen Wohnraum auch in Innenstadtlage bewahren (vgl. Ley/Dobson 2008). Des Weiteren wird indirekt auf die gesetzlichen Einflussmöglichkeiten auf staatlicher Seite hingewiesen. »Wenn die Leute bereit sind so viel Geld auszugeben für eine Immobilie, die sie dann kaufen, hier um die Ecke, Friedrichstraße, dann kaufen sie die und dann machen sie nach dem Gesetz das, was sie können und das ist eben unter Umständen auch die Miete erhöhen« (Vorstand Hermes: 5).
Solange es also keine gesetzliche Begrenzung für Mieterhöhungen gibt, wird aus unternehmerischer Sicht die Miete so weit erhöht, wie Mieter_innen sie zu zahlen bereit sind. Auf den konkreten Fall am Kottbusser Tor bezogen wird diese Argumentation der staatlichen Verantwortung ebenfalls geführt. Eine mögliche Problemlösung wird in der Zusammenarbeit aller Beteiligten gesehen. »Das jetzt dieser Konflikt zwischen Mieter und Vermieter da ist, hängt nur damit zusammen, dass dieses Konzept, was quasi der Staat sich damals ausgedacht hat, diese Förderung, leider nicht funktioniert, weil die Entwicklung anders gekommen ist, als man es erwartet hat. Ja, also da kann man dann niemandem eine Schuld geben. Man kann nur
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sagen, eigentlich müsste man sich jetzt zusammensetzen und versuchen, der Realität ins Auge zu gucken und die Sache der Realität anzupassen« (Vorstand Hermes: 10).
E INFLUSSMÖGLICHKEITEN DER P OLITIK
UND - BEREITSCHAFT
Auf Ebene des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg wird der politische Wille betont, den Forderungen von Kotti&Co nachzukommen. Als Zeichen dieser Unterstützung kann bspw. die Verleihung der Bezirksmedaille an eine der Initiatorinnen von Kotti&Co gesehen werden (Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg von Berlin 2012). Auch im Interview mit der GSW (S. 26) wird die Vermittlungstätigkeit des Bezirksbürgermeisters (Franz Schulz, Bündnis 90/Die Grünen) erwähnt. Außerdem wird am Unverständnis des Ungleichgewichts zwischen Kostenmiete und den in der WAV festgelegten Mietkosten eine Übereinstimmung sowohl mit den Forderungen von Kotti&Co als auch mit Hermes und GSW deutlich. »Dass Leute, die im Sozialen Wohnungsbau wohnen, im Prinzip rausfliegen weil ihre Sozialwohnungsbaumiete nicht vom Amt bezahlt wird, ja? Is’ ja irgendwo systematisch grundlegend falsch« (Mitglied Piratenpartei: 15). Allerdings werden die stark eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten des Bezirks hervorgehoben und somit eine Konsensfindung auf dieser Ebene ausgeschlossen. »Das ist natürlich ein laufender Prozess und die GSW ist ein privates Unternehmen und solange da keine gesetzliche Handhabe vom Land Berlin irgendwie rübergerückt wird, steht der Bezirk da und kann im Prinzip nur probieren da was rauszuhandeln und was zu finden, wo man sagt, okay wir können mit euch dealen, das gegen das« (Mitglied Piratenpartei: 10).
Genau wie von Hermes und GSW wird die Verantwortlichkeit auf gesamtstädtischer Senatsebene gesehen. Durch diese Weitergabe der Verantwortung wirkt die Übereinstimmung mit Kotti&Co kaum relevant, denn ohne Handlungsbereitschaft der GSW und Hermes bzw. Handlungsmöglichkeiten der Bezirkspolitik wird die Zusammenarbeit nebensächlich für eine Konsensfindung. »Auf der anderen Seite ist es natürlich so, dass die Bezirke relativ geringe Einflussmöglichkeiten bei vielen Dingen haben, weil die gesetzlichen Grundlagen auf Landesebene fehlen« (Mitglied Piratenpartei: 3). Jedoch kann eine Kooperationsbereitschaft der Bezirkspolitik im Hinblick auf eine Konsensfindung mit dem Senat unterstützend wirken. Der durch die mediale Aufmerksamkeit aufgebaute Einfluss von Kotti&Co wird als gegeben angesehen.
178 | L ISA SCHEER »Und da sieht man aber, was für eine Mobilisierung tatsächlich auch gerade durch Kotti&Co, entstanden ist. Also die haben tatsächlich das geschafft, das so prägnant in die Öffentlichkeit zu bringen, dass das Thema behandelt wird. Weil davon geredet, dass die Wohnungen fehlen, wird schon sehr lange« (Mitglied Piratenpartei: 11).
Aufgrund komplexer Zusammenhänge ist eine eindeutige Aussage zur Einflussnahme von Protesten auf andere gesellschaftliche Teilsysteme normalerweise nicht möglich (Kern 2008: 175). Es kann also keine Aussage dazu getroffen werden, welche politischen Entscheidungen konkret durch Kotti&Co beeinflusst wurden. Zwar kann ein vermehrtes Aufgreifen der Themen Wohnungsmarkt, Mietpreisentwicklung sowie Sozialer Wohnungsbau festgestellt werden, dass dies aber auf Proteste oder im Wesentlichen auf Kotti&Co zurückzuführen ist, kann nur vermutet werden. Ein Grund für diese Einschränkung ist, dass es berlinweit und in Kreuzberg aktuell viele weitere Proteste zum Thema Mieten und Sozialer Wohnungsbau gibt. Hier kann das bereits erwähnte Mietenpolitische Dossier genannt werden, in dem mehrere Initiativen vertreten sind. Gerade das Aufgreifen der Wohnungspolitik als Wahlkampfthema (vgl. SPD 2013) erscheint als logische Reaktion auf dessen öffentliche Diskussion. Eine der wesentlichen Leistungen von Protestbewegungen besteht darin, ihre Anliegen in den öffentlichen Raum zu tragen (Kern 2008: 157). Diese Aufgabe hat Kotti&Co u.a. durch die große mediale Aufmerksamkeit erfüllt. Eine alltagsnahe Deutung ihrer Forderungen kann Protestgruppen dann dazu befähigen, diese gegenüber der Politik zu legitimieren oder durchzusetzen (ebd.: 180). Bereits im September 2012 wurde vom Senat ein 100 Millionen Euro teures Mietenbündnis beschlossen. Demnach soll der Bestand der städtischen Wohnungsbaugesellschaften durch Neubau und Ankauf bis 2016 um 30.000 Wohnungen erweitert werden (SenStadtUm 2012b: 13). Außerdem verpflichten sich diese zu Modernisierungen und einer Begrenzung der Miete auf 30 Prozent des Einkommens bei Haushalten mit niedrigem Einkommen 5 (ebd.: 16). Dieses Mietenbündnis wird im Interview mit der GSW als falsches Instrument bezeichnet, denn um auf dem Wohnungsmarkt wirklich etwas zu bewirken, braucht es eher eine breite Grundsatzdiskussion als nur die Auseinandersetzung mit den städtischen Wohnungsgesellschaften. Die Protestgruppe sieht dies ebenso wenig als ausreichend an, um eine Einigung zu erzielen. »Erst wenn keine Mieter mehr aus finanziellen Gründen ausziehen müssen, und wenn private Eigentümer, wie Hermes und GSW, nicht mehr mit Sozialmieten Gewinne erzielen dürfen, hat der Protest sein Ziel erreicht« (vgl. Kotti&Co 2013b). Daher richten sich die
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Orientiert an der Bundeseinkommensgrenze für Wohnberechtigungsscheine.
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Forderungen weiterhin an den Senat, der hierfür eine Gesetzesgrundlage schaffen soll. »So, aber was der Senat dann daraus macht, das muss man dann eben sehen. Also, es wird niemals das rauskommen, was sich Kotti&Co vorstellt, nicht wahr? Es wird irgendwo einen Kompromiss geben, der wahrscheinlich relativ weit weg von dem ist. Trotz allem ist es besser als ohne Kotti&Co.« (Mitglied Piratenpartei: 20)
Daran wird einerseits der Kotti&Co zugeschriebene Einfluss, auch auf den Senat, andererseits aber die Notwendigkeit des direkten Austauschs deutlich.
F AZIT Der Protest von Kotti&Co setzt an einer in der Literatur als besonders wirksam beschriebenen Stelle an, indem er sich auf den Sozialen Wohnungsbau bezieht, welcher gerade mit Hilfe staatlicher Interventionen beeinflussend bzw. verlangsamend auf Gentrification-Prozesse wirken kann. Allerdings kann nicht eindeutig festgestellt werden, dass die Entwicklungen auf politischer Ebene auf die Protestgruppe zurückzuführen sind. Im von Gentrification betroffenen Berliner Stadtteil Kreuzberg scheinen aber erste Schritte gegen die Verdrängung aus dem Sozialen Wohnungsbau angeregt worden zu sein. Gerade schützenswerte Stärken der Nachbarschaft am Kottbusser Tor wurden durch den Protest gefestigt und hervorgehoben. Als ein Erfolg von Kotti&Co kann der vor allem durch die mediale Aufmerksamkeit ausgeübte Druck auf verschiedene Akteure gelten. Die GSW und die Hermes Hausverwaltung sowie die Politik auf Bezirksebene betonen aber ihre beschränkten Einflussmöglichkeiten auf die kritisierte Kostenmietsteigerung. Eine Handlungsbereitschaft der Unternehmen gibt es nur unter der Voraussetzung einer Zusammenarbeit mit dem Senat. Dieser scheint mit dem Mietenbündnis und dem Mietenkonzept schon auf den Druck reagiert zu haben. Ein gemeinsamer, nachhaltiger Konsens ist aber noch nicht erreicht. So wurde konkret bisher lediglich die durch den Protest gestellte Forderung einer Konferenz zum Sozialen Wohnungsbau in Berlin erfüllt. Allerdings kann Kotti&Co auf andere Erfolge zurückblicken. Vielen Beteiligten konnte neue Hoffnung gegeben werden und viele vorher wenig oder gar nicht an Protesten beteiligte Menschen wurden mobilisiert. In diesem Zusammenhang muss noch einmal die Bedeutung des Gecekondu als neue Protestform und Treffpunkt, aber auch zur Pflege sozialer Kontakte und auf symbolischer Ebene betont werden.
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Der Protest von Kotti&Co wird weiterhin fortgeführt. Eine Einigung mit dem Senat des Landes Berlin, Hermes und der GSW über Lösungen für die Bestandsmieter_innen im Sozialen Wohnungsbau ist noch nicht erreicht. Um einen Konsens zu finden, müssten nun gemeinsame Verhandlungen aller Gruppen folgen. Dennoch hat Kotti&Co es gemeinsam mit anderen Protestgruppen geschafft, das Thema Mieten in Berlin und Deutschland wieder in die Diskussion und auf die politische Agenda zu bringen. Daher profitiert die gesamte Stadt durch die Anregung eines mietenpolitischen Diskurses, die Betroffenen selber müssen allerdings weiter auf die Ergebnisse dieses Diskurses warten.
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Die Wohnsituation von ALG-IIEmpfänger_innen in Berlin Prozesse wenn der Umzug naht N ELLY G ROTEFENDT , M ALVE J ACOBSEN , T ANJA K OHLSDORF , L INA W EGENER »Jemand, der Hartz IV kriegt, darf keine Ansprüche stellen.«1
Das JobCenter in Berlin Neukölln ist das zweitgrößte in ganz Deutschland; Foto: Malve Jacobsen 1
Aussage eines_einer Sachbearbeiters_in im JobCenter Mitte zu einem_einer ALG-IIEmpfänger_in auf Wohnungssuche.
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»Berlin – arm aber sexy«, wie der amtierende Bürgermeister Klaus Wowereit im Jahre 2003 so selbstbewusst in die Welt hinaustrug, hat seither als Slogan mehr als nur das Image der Stadt geprägt. Berlin erfreut sich in den letzten Jahren einer vermehrten Beliebtheit nicht nur bei der ansässigen Bevölkerung, sondern auch bei Zuziehenden. Dieses Zitat verdeutlicht allerdings auch die finanzielle Situation vieler Berliner_innen. So erhielten 9,3% der Berliner Erwerbsfähigen im Oktober 2012 Arbeitslosengeld II2 (vgl. Bundesagentur für Arbeit 2013a). In keinem anderen Bundesland leben so viele ALG-II-Empfänger_innen, wodurch die Relevanz für diesen Themenkomplex besonders stark erscheint. Wohnraum, insbesondere innerhalb des Wilhelminischen Rings, ist begehrt und es existieren massive Mietsteigerungen vor allem bei Neuvermietungen (TOPOS 2012: 7). Diese angesprochene Bevölkerungsgruppe ist auf preiswerten Wohnraum angewiesen, aber durch den Aufwind des Berliner Immobilienmarkts wird das Thema des verfügbaren Wohnraums vor allem in Innenstadtbezirken für ALG-IIEmpfänger_innen zunehmend brisanter. Prozesse wie Gentrification, mit Verdrängung als Folge, werden auch verstärkt von den Betroffenen thematisiert. Die Protestbewegung Kotti&Co, welche sich für eine Anschlussförderung des Sozialen Wohnungsbaus einsetzt, bildet hierfür ein treffendes Beispiel (Scheer 2016 in diesem Band). Auch im medialen Diskurs wird dieses Thema zunehmend behandelt. Titel wie »Arme an den Rand gedrängt« (vgl. Pezzei 2011), »Hartz-IV Empfängern droht Verdrängung« (vgl. Zawatka-Gerlach 2012), »Deutsche Großstädte sind nichts für Geringverdiener« (vgl. Schwarze 2012) oder »Mietexplosion – verdrängt aus Wohnung und Kiez?« (vgl. RBB Rundfunk BerlinBrandenburg 2012) zeugen von Verdrängungsmechanismen auf dem Wohnungsmarkt. Im Spannungsfeld zwischen Immobilienmarkt, Wohnungs- und Sozialpolitik soll die Wohnsituation von ALG-II-Empfänger_innen in Berlin als Untersuchungsschwerpunkt dieser Studie dienen. Nach der Erläuterung des Berliner Kontextes werden anhand der folgenden Forschungsfragen die ablaufenden Prozesse bei einem androhenden Umzug dieser Bevölkerungsgruppe chronologisch untersucht: • Welche Ursachen existieren für einen möglichen Umzug von ALG-IIEmpfänger_innen?
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Arbeitslosengeld II wird im Folgenden mit ALG II abgekürzt und wird ferner auch als »Hartz IV« bezeichnet. Von dieser Begrifflichkeit wird im weiteren Textverlauf Abstand genommen.
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• Welche Handlungsmöglichkeiten bestehen für ALG-II-Empfänger_innen um einen Umzug zu vollziehen oder zu verhindern? • Welche Folgen resultieren daraus für ALG-II-Empfänger_innen sowie die jeweiligen Bezirke und Institutionen?
W OHNEN IN B ERLIN : V ON ZUR V ERDRÄNGUNG ?
DER
R EURBANISIERUNG
Seit den 1990er-Jahren verzeichnen einige deutsche Großstädte nach jahrzehntelangem Bevölkerungsrückgang wieder einen Anstieg der Bevölkerungszahl. Diese (Re-)Konzentration in den Städten wird mit dem Konzept der Reurbanisierung definiert (Helbrecht 1996; Haase et al. 2010: 24f.). Die Reurbanisierung beschreibt die letzte Phase einer idealtypischen europäischen Stadtentwicklung des 19. Jahrhunderts. So folgt nach einer Phase der absoluten Konzentration in Städten (Urbanisierung) eine Phase der relativen und absoluten Dekonzentration (Suburbanisierung & Desuburbanisierung). Abgeschlossen wird dieses Phasenmodel mit einer erneuten Phase der Konzentration. Als ein Grund der Entstehung dieser Revitalisierung von Städten wird der soziodemographische Wandel genannt, welcher sich in Teilen auch als Gentrification darstellt. Die sozioökonomischen Prozesse, die eine Reurbanisierung begünstigen, sind vor allem eine steigende Frauenerwerbstätigkeit, die Tertiärisierung des Arbeitsmarktes, verlängerte Ausbildungszeiten und eine verstärkte (Arbeits-)Mobilität. Diese Entwicklungen führen zu einer Strukturveränderung der privaten Haushalte. Daraus ergeben sich der Verlust der Kernfamilie und die Entstehung neuer angepasster Lebensformen. Diese Zusammenhänge zwischen den strukturellen Veränderungen der Haushalte, den Wohnansprüchen und dem Wandel der Innenstädte sind sehr gut erforscht (Helbrecht 1996, 2009). Haase et al. definieren die Reurbanisierung wie folgt: »Auf der gesamtstädtischen Ebene ist es ein Prozess des relativen oder absoluten Bevölkerungsgewinns der Kernstadt im Vergleich zum Umland. Auf der Quartiersebene ist damit ein Prozess der Stabilisierung der inneren Stadt als Wohnstandort nach einer längeren Phase des Niedergangs sowohl durch vermehrte Zuzüge als auch verringerte Wegzüge gemeint« (Haase et al. 2010: 25).
Laut Marcuse führt eine Wiederbelebung der Innenstädte zu Aufwertungsprozessen, die die Mieter_innenstruktur bzw. die Bevölkerung einiger Wohnblöcke oder Gegenden verändert (Marcuse 1985: 201ff.). Wenn vermehrt Statushöhere
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oder Besserverdienende in statusniedrigere Gebiete ziehen, in denen das durchschnittliche Einkommen eher gering ist, verändert sich das ehemals >ärmliche< Viertel in eine angesehene und aufgewertete Wohngegend. Dieser Vorgang wird als Gentrification beschrieben (Atkinson et al. 2011: 6). Wie bereits 1985 von Marcuse untersucht wurde, gibt es mehrere Arten von Verdrängung als Folge von städtischen Gentrification-Prozessen, die jedoch schwer messbar und nur bedingt nachzuweisen sind. Gerade das Identifizieren von bereits Verdrängten führt zu Lücken bei der Messung von Gentrification- und Verdrängungsprozessen. Des Weiteren muss Gentrification nicht unbedingt zu Verdrängung führen, da einem Umzug bzw. Wegzug auch andere Entscheidungen zu Grunde liegen können (Atkinson 2000: 6f.; Betancourt 2016 in diesem Band). Auch in Berlin werden bereits seit den 1990er-Jahren starke Reurbanisierungstendenzen deutlich. Dabei sind besonders Stadtgebiete von Interesse, die eine kleinförmige Nutzungsmischung ermöglichen und eine dichte Raumnutzungsstruktur aufweisen, wie die gründerzeitlichen Gebiete innerhalb des Berliner S-Bahn-Rings (Brake 2012: 258). Diesen Reurbanisierungstendenzen in Berlin und anderen (deutschen) Großstädten folgen oftmals Gentrification-Prozesse. Der starke Zuzug aus dem Umland und dem internationalen Raum fördert den Aufschwung der Immobilienmärkte. Gerade in Berlin, einer Stadt, in der die Mietkosten jahrzehntelang unter dem Preisniveau anderer deutscher und europäischer Städte lagen, ist diese Entwicklung besonders deutlich zu erkennen mit großen Folgen für die gesamte Berliner Bevölkerung. Insbesondere Personen mit geringem Einkommen spüren die angespannte Situation auf dem Wohnungsmarkt, da sie auf preiswerten Wohnraum angewiesen sind (Brake 2012: 258). Autor_innen wie Matthias Bernt und Andrej Holm beschäftigen sich aus diesem Grund intensiv mit dem Thema der Gentrification in Berlin und den daraus resultierenden Verdrängungsmechanismen der angestammten Bewohner_innenschaft (Bernt/Holm 2009: 312). Im Zuge dessen wird ein Perspektivwechsel deutlich, in dem nicht ausschließlich jene Personen betrachtet werden, die den Gentrification-Prozess auslösen, sondern es wird zunehmend untersucht, welche Folgen dieser Prozess für die angestammte Bevölkerung hat. Wie eine Studie des Stadtforschungsunternehmens TOPOS ergab, ist in Stadtteilen mit hohen Wohnkosten der Anteil von ALG-II-Haushalten im Durchschnitt niedrig bis sehr niedrig. Allerdings ist der Anteil von ALG-II-Haushalten, dessen Miete über der Mietobergrenze liegt, in diesen Vierteln nicht durchschnittlich höher als in Vierteln mit geringeren Mieten (TOPOS 2012: 4). Aus der Antwort der Sozialstadträtin Dagmar Pohle auf eine Große Anfrage der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) an das Bezirksamt Marzahn-Hellers-
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dorf geht hervor, dass dort 7.482 Bedarfsgemeinschaften im Jahr 2012 oberhalb der Mietobergrenze lagen. Von diesen wurden bisher 3.005 Bedarfsgemeinschaften aufgefordert, ihre Kosten zu senken. Nur ein Jahr zuvor waren es mit 1.931 in Marzahn-Hellersdorf deutlich weniger Bedarfsgemeinschaften, deren Miete oberhalb der Mietobergrenze lag. Von ihnen sind 140 aufgrund der Aufforderung umgezogen (Stand: Dezember 2012). Ähnliche Zahlen lassen sich auch zu den anderen Berliner Bezirken finden (vgl. Pohle 2012). Diese Entwicklung zeigt, dass es sich beim Arbeitslosengeld II um einen »Motor der Restrukturierung der Stadt handelt«, in der ALG-II-Empfänger_innen zunehmend unter den erschwerten Bedingungen auf dem Wohnungsmarkt leiden (Holm 2007: 101). Dabei droht den Betroffenen nicht nur ein Auszug aus ihrer Wohnung – gewollt oder erzwungen – sondern oftmals auch ein Wegzug aus dem gewohnten Wohnumfeld und somit ein möglicher Verlust der sozialen Netzwerke vor Ort (vgl. Zawatka-Gerlach 2012). Der Vorsitzende des Berliner Mietervereins Reiner Wild äußert sich folgendermaßen dazu: »Arbeitslosengeld-II-Empfänger finden keine Wohnungen mehr. Wer da nicht von Verdrängung spricht, betreibt Schönfärberei.« (Wild, zitiert in Pezzei 2011). Des Weiteren hebt er im Berliner MieterMagazin hervor: »Die Sparpolitik des Berliner Senats wird auf dem Rücken der wirtschaftlich Schwächsten ausgetragen.« (vgl. Leiß 2012). Bereits heute konzentriert sich der zugängliche Wohnraum für ALG-II-Empfänger_innen auf Substandardwohnungen im Innenstadtbereich und Großwohnsiedlungen am Stadtrand (Holm 2005: 135). Der vorliegende Beitrag baut auf den genannten Analysen zu Prozessen der Reurbanisierung und Gentrification in Berlin auf und untersucht, wie sich die strukturellen städtischen Veränderungen auf die Wohnsituation einer der vulnerabelsten Bevölkerungsgruppen in Berlin auswirken. Genauer wird die Wohnsituation für ALG-II-Empfänger_innen vor diesem Hintergrund betrachtet, da die festgelegten Mietobergrenzen für transferabhängige Bedarfsgemeinschaften trotz der enormen Mietpreissteigerung auf einem niedrigen Niveau verweilen.
ALG II
ALS
U NTERSUCHUNGSGEGENSTAND
Personen, die nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II) Leistungen empfangen, sind eine der vulnerabelsten Gruppen des Berliner Wohnungsmarktes. Im deutschlandweiten Vergleich belegt Berlin nach Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt mit 12,3% den dritten Platz der höchsten Arbeitslosenquote und liegt damit über dem Durchschnitt von Ostdeutschland (11,3%) und deutlich
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über dem Westdeutschlands (6,3%). Im September 2012 haben in Berlin 418.146 Personen Leistungen bezogen, wovon 166.310 Personen (39,8%) als arbeitslos galten (vgl. Bundesagentur für Arbeit 2013b). Die anderen 251.836 Leistungsempfänger_innen sind nichtarbeitslose erwerbsfähige Leistungsberechtigte. 3 Untersuchungsgegenstand hier sind primär die sogenannten Arbeitslosengeld-IIEmpfänger_innen (d.h. arbeitslose erwerbsfähige Leistungsberechtigte) und ihre Bedarfsgemeinschaften, wie beispielsweise leistungsempfangende Alleinerziehende und ihre Kinder. Um die Rahmenbedingungen von ALG-II-Empfänger_innen auf dem Wohnungsmarkt zu verstehen, sind einige Kenntnisse über den rechtlichen Kontext vonnöten. Die Rechtslage sieht vor, dass, sobald die Miete von ALG-IIEmpfänger_innen die Mietobergrenze übersteigt, sie automatisch vom JobCenter eine Aufforderung zur Senkung der Kosten der Unterkunft (KdU) bekommen. Innerhalb von zwölf Monaten, in denen die zu hohe Miete noch vom JobCenter übernommen wird, müssen die Betroffenen handeln (vgl. Spies 2012). Auf die Handlungsmöglichkeiten der Betroffenen und inwiefern ein Gefühl der Verdrängung besteht, wird im weiteren Verlauf genauer eingegangen. In diesem Aufsatz sprechen wir nicht von Verdrängung, da es sich formell laut Begründung der JobCenter nicht um einen Zwang zum Umzug handelt, weil die Betroffenen auch andere Möglichkeiten haben, um die KdU zu senken, wie im Folgenden ausführlich dargestellt wird (vgl. Breitenbach/Lompscher 2012). 94% der Berliner_innen insgesamt und 98% der Berliner Bedarfsgemeinschaften leben zur Miete. Berlin wird deshalb eine >Stadt der Mieter_innen< genannt, und auch Deutschland ist im internationalen Kontext ein Land der Mieter (Helbrecht 2013). Ein Haushalt besteht durchschnittlich aus 1,8 Personen, wovon über die Hälfte Single-Haushalte sind (Ludewig 2011: 65f.). Der dementsprechend hohe Bedarf nach günstigen kleinen Wohnungen kann zurzeit in Berlin nicht gedeckt werden. Doch wie bereits erwähnt, sind ALG-II-Bedarfsgemeinschaften nicht nur vom Wohnungsmarkt abhängig:
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»Es lassen sich drei Gruppen nichtarbeitsloser erwerbsfähiger Hilfebedürftiger unterscheiden. […] Da sind zunächst erwerbstätige Leistungsbezieher, deren Einkommen nicht ausreicht, ihren Lebensunterhalt zu sichern. […] Dann gibt es Teilnehmer an Maßnahmen der Arbeitsförderung, die weiter Leistungen aus der Grundsicherung beziehen. […] Als letzte Gruppe kann man die erwerbsfähigen Hilfebedürftigen zusammenfassen, die aus unterschiedlichen Gründen dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen.« (Bundesagentur für Arbeit 2008: 9)
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»Die Wohnungsversorgung der EmpfängerInnen von Arbeitslosengeld II hängt in hohem Maße davon ab, welche Aufwendungen die Haushalte für die Kosten der Unterkunft (KdU) erstattet bekommen.« (ASUM/TOPOS 2012: 10).
Im Oktober 2012 lebten insgesamt 315.591 Bedarfsgemeinschaften in Berlin, die von SGB II abhängig waren (vgl. Bundesagentur für Arbeit 2012). Die SGB IILeistung setzt sich aus der Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes (also dem Arbeitslosengeld II bei erwerbsfähigen Hilfebedürftigen bzw. dem Sozialgeld bei nicht erwerbsfähigen Hilfebedürftigen) sowie den Kosten der Unterkunft und Heizung zusammen (Ludewig 2011: 64). Der bundeseinheitliche Regelsatz soll zur Deckung der Lebenshaltungskosten (Ernährung, Kleidung, Strom etc.) dienen. Er beträgt seit Januar 2013 für eine Person 382 Euro monatlich und für volljährige Partner_innen 345 Euro. Kinder erhalten nach Alter gestaffelt zwischen 224 Euro und 306 Euro. Im Gegensatz zu dieser bundesweiten Regelung liegt die Verantwortung zur Deckung der KdU in den Händen der Länder. Es ist ihnen frei gestellt, ob sie eine landeseinheitliche Regelung finden (wie es zurzeit in Berlin der Fall ist), oder ob sie diese Aufgabe an die kommunalen Träger übergeben. Prinzipiell werden die Kosten der Unterkunft und Heizung laut Bundesagentur für Arbeit in der Höhe der tatsächlichen Aufwendungen übernommen – mit einer signifikanten Einschränkung: »soweit sie angemessen sind« (vgl. Bundesagentur für Arbeit 2010). Durch die Festlegung der Richtlinien der >Angemessenheit< werden die Mietobergrenzen bestimmt und in der Wohnungsaufwendungsverordnung (WAV) für Berlin wiedergegeben. Durch die Einführung der WAV im April 2012 sollte sich die Wohnsituation der ALG-II-Empfänger_innen verbessern, da ihr eine neue Berechnung der Mietobergrenze zugrunde liegt. »Die Angemessenheit wird ausschließlich über die Bruttowarmmiete definiert. Dabei orientiert sich der Richtwert nach der Größe der Bedarfsgemeinschaft, der Größe der beheizten Fläche des Wohnhauses (nicht der Wohnung), dem Heizenergieträger (Öl- oder Gasheizung oder Fernwärme) und der Art der Warmwasserversorgung. Diese Parameter ergeben dann die jeweilige individuelle Mietobergrenze.« (JobCenter TempelhofSchöneberg 2012).
Die neuen Sätze befinden sich durchschnittlich ca. fünf Prozent über den Grenzwerten der ehemaligen Ausführungsvorschrift (AV Wohnen), was in erster Linie eine Verbesserung darstellt. So liegen seit Mai 2012 die Mietobergrenzen je nach Heizenergieträger und Gebäudegröße für beispielsweise eine Bedarfsgemeinschaft mit einer Person zwischen 380 und 408 Euro, mit zwei Personen
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zwischen 456 und 489 Euro und mit fünf Personen zwischen 739 und 793 Euro (siehe Tabelle 1). Tabelle 1: Höhe der zugelassenen KdU nach Größe der Bedarfsgemeinschaft bis Mai 2012: AV Wohnen
seit Mai 2012: WAV
Differenz von AV Wohnen zur WAV
1 Person
378 €
380 – 408 €
2 – 30 €
2 Personen
444 €
456 – 489 €
12 – 45 €
3 Personen
542 €
566 – 608 €
24 – 66 €
4 Personen
619 €
641 – 689 €
22 – 70 €
5 Personen
705 €
739 – 793 €
34 – 88 €
Jede weitere Person
50 €
92 – 99 €
42 – 49 €
Bedarfsgemeinschaft
Quelle: verändert nach JobCenter Berlin Tempelhof-Schöneberg 2012
Diese KdU-Richtwerte können in sogenannten anerkannten Härtefällen um bis zu zehn Prozent überschritten werden (vgl. Abb. 1). Dies betrifft Alleinerziehende, Personen mit einer Wohndauer von mindestens 15 Jahren, Personen mit wesentlichen sozialen Bezügen (z.B. Schulweg von Kindern oder Betreuungseinrichtungen), über 60-jährige Leistungsbeziehende, Schwangere sowie Personen, die absehbar eigene kostendeckende Einkünfte haben werden und Personen mit körperlicher oder geistiger Erkrankung (vgl. JobCenter TempelhofSchöneberg 2012).
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Abbildung 1: Anerkannte Härtefälle
Personen, die in absehbarer Zeit kostendeckende Einkünfte haben
Alleinerziehende & Schwangere
Personen mit längerer Wohndauer (mindestens 15 Jahre)
Personen mit geistigen und körperlichen Erkrankungen
über 60-jährigen Personen
Personen mit wesentlichen sozialen Bezügen (z.B. Schulweg von Kindern)
Quelle: eigene Darstellung nach Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales 2012
Trotz dieser sogenannten Härtefallregelung liegen viele Bedarfsgemeinschaften weiterhin oberhalb der Mietobergrenze und erhalten eine Aufforderung zur Kostensenkung. Von jenen, die die Aufforderung zur Kostensenkung erhalten, galt für ca. die Hälfte der Betroffenen im Jahr 2011 die Härtefallregelung (vgl. Breitenbach/Lompscher 2012). Weiterhin bleibt das Problem, dass die WAV (wie auch bereits die AV Wohnen) lediglich die Bestandsmieten laut Mietspiegel berücksichtigt und nicht die Angebots- bzw. Neuvertragsmieten, die zum Teil stark über den Bestandsmieten liegen. Dennoch hat sich die Situation verbessert, denn unter der AV Wohnen (also vor dem Erlass der WAV) lag bei etwa einem Drittel (32,2%, mit Stichtag 31.12.2011) aller Bedarfsgemeinschaften die Miete über dem Grenzwert und nach Hochrechnung von TOPOS Stadtforschung hat sich dieser Wert nach Einführung der WAV im April 2012 auf 23,3% verringert
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(vgl. ASUM/TOPOS 2012). Den zunächst beschriebenen Erfolg schränkt die TOPOS-Studie allerdings direkt im Fazit wieder ein: »Die neue Wohnungsaufwendungsverordnung (WAV) stellt nur deshalb jetzt gegenüber der AV Wohnen einen Fortschritt dar, weil diese seit 2005 mit faktisch gleich bleibenden Sätzen einen wachsenden Anteil von Alg. II-Empfängern von der vollen Erstattung ihrer Wohnkosten ausgeschlossen hatte. Die deutlichen Mietsteigerungen, die es seit 2005 gegeben hat, kompensiert die WAV aber nur zum Teil. Daher liegen jetzt zum Start der neuen Verordnung mit 70.000 BG deutlich mehr Alg. II-Haushalte über den Fördergrenzen als es 2005 mit ca. 40.000 waren.« (TOPOS 2012: 7)
Nach Erläuterung des theoretischen Hintergrundes, der rechtlichen Rahmenbedingungen und des Berliner Kontextes soll im Folgenden das methodische Vorgehen zur empirischen Beantwortung der Forschungsfragen beschrieben werden.
M ETHODISCHES V ORGEHEN Zur Beantwortung der dieser Untersuchung zugrunde liegenden Forschungsfragen zu den Ursachen, Folgen und Handlungsmöglichkeiten von ALG-IIEmpfänger_innen in der Wohn- und Umzugssituation wurde eine qualitative Methode der empirischen Sozialforschung angewandt. Den Hauptbestandteil der Empirie bilden leitfadengestützte Interviews, die in der ersten Phase mit Expert_innen und in der zweiten Phase mit Betroffenen geführt wurden. Der für die Interviews entwickelte Leitfaden wurde in verschiedene Themenblöcke gegliedert. Diese beziehen sich auf die politischen Rahmenbedingungen, die Wohnraumbedingungen von ALG-II-Empfänger_innen, ihre Handlungsmöglichkeiten bei einem drohenden Umzug, den Prozess der Wohnungssuche sowie die Folgen eines Umzuges. Zunächst haben wir elf leitfadengestützte Expert_inneninterviews geführt. Hierfür konnten Expert_innen aus den Bereichen Soziales, Politik und Wissenschaft gewonnen werden, die sich seit Langem mit dem Thema des Wohnraums als soziale Problematik auseinandersetzen. Darüber hinaus wurden Gespräche mit Vertreter_innen einer Wohnungsbaugesellschaft und der JobCenter geführt, um auch diese Perspektiven in die Untersuchung mit einfließen zu lassen. In Abbildung 2 werden die interviewten Expert_innen dargestellt.
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Katrin Lompscher Sprecherin für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen der Linken, Mitglied des Abgeordnetenhauses Dagmar Pohle stellv. Bezirksbürgermeisterin Marzahn-Hellersdorf und Bezirksstadträtin für Gesundheit, Soziales und Planungskoordination (Die Linke) Bernd Szczepanski Bezirksstadtrat von Neukölln (Bündnis 90/Die Grünen)
Klaus Nolden Freiberuflicher Sozialberater für Wohnungsgenossenschaften Sebastian Jung Mietersprecher der Fanny-HenselSiedlung
Viola Scholz-Thies und Thomas Sonntag Gemeinwesenverein Heerstraße Nord e.V. und Quartiersmanagement Heerstraße Nord Angelika Kübler Arbeitsvermittlerin im Jobcenter FriedrichshainKreuzberg
Michael Wegener Mitarbeiter einer privaten Wohnungsgesellschaft
Andrej Holm Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Stadtund Regionalsoziologie der HumboldtUniversität zu Berlin
Wissenschaft Immobilienwirtschaft
Elke Breitenbach Sozial- und arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Linken, Mitglied des Abgeordnetenhauses
Soziales
Martin Matz 2006 bis 2011 Stadtrat für Soziales und Gesundheit Spandau
Politik
Abbildung 2: Darstellung der interviewten Expert_innen
Quelle: eigene Darstellung
Anschließend wurden Interviews mit sieben ALG-II-Empfänger_innen geführt (siehe Abb. 3), die bereits eine Aufforderung zur Kostensenkung vom JobCenter erhalten haben. Sie befanden sich in unterschiedlichen Phasen der Reaktion auf die Aufforderung zur Senkung der Kosten der Unterkunft: Einige sind bereits umgezogen, andere befanden sich auf Wohnungssuche oder versuchten einen Umzug möglichst zu verhindern. Für die Betroffeneninterviews wurden ALG-IIEmpfänger_innen unterschiedlicher Herkunft, Geschlechts und Alters gewählt. Darüber hinaus wurde auf eine räumliche Verteilung der Interviewten geachtet.
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Die Gespräche wurden in unterschiedlichen Berliner Bezirken geführt, wobei der Schwerpunkt innerhalb des Wilhelminischen Rings liegt. Die Betroffenheit diente bei der Akquisition als alleiniges Auswahlkriterium. Die mögliche gesellschaftliche Stigmatisierung von ALG-II-Empfänger_innen hat zu Schwierigkeiten beim Zugang zu Interviewpartner_innen geführt. Vielen ist ihre Bedürftigkeit unangenehm und sie berichten ungern über ihre Situation, vor allem jene, die für dieses Forschungsvorhaben relevant sind: ALG-II-Empfänger_innen, die Probleme mit ihrer Wohnsituation haben. Im Folgenden werden die Namen der Interviewten anonymisiert, indem AliasNamen verwendet werden. Auch für die Betroffeneninterviews wurde ein Leitfaden entwickelt. Anders als bei den Expert_inneninterviews wurde hier ein besonderes Augenmerk auf die persönliche Situation der Interviewpartner_innen gelegt. Speziell wurde nach Erfahrungen der Betroffenen mit dem JobCenter gefragt. Des Weiteren spielte die jeweilige Wohnsituation eine Rolle und welche Handlungsstrategien sie nach der Aufforderung zur Kostensenkung verfolgen bzw. verfolgten. Durch die Betroffeneninterviews konnten noch einmal tiefgreifende Informationen gesammelt werden. Es wurde ermittelt, wie ALG-II-Empfänger_innen mit erhöhten Mietkosten in Berlin umgehen und welche Handlungsmöglichkeiten für sie bestehen, bzw. ob und welche Strategien bei einem drohenden Umzug entwickelt und angewendet werden.
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Abbildung 3: Darstellung der interviewten Betroffenen Helga & Günther Bauer Wohnort: Neukölln; Alter: 56 und 54 Jahre
• Das Ehepaar lebt in einer Erdgeschosswohnung in Neukölln. Die hohen Nebenkosten müssen sie von ihrem Regelsatz bezahlen. Die Wohnungssuche war bis jetzt erfolglos. Das Ehepaar benötigt eine barrierefreie Wohnung. Laura Hauptmann
Wohnort: Prenzlauer Berg; Alter: k.A.
• Laura Hauptmann ist auf Grund einer Aufforderung zur Kostensenkung umgezogen. Sie hat in Lichtenberg gewohnt und wäre auch gern dort geblieben. Eine Wohnung des gleichen Standards konnte sie mit dem Regelsatz der WAV nicht finden. Heute lebt sie in einer Substandardwohnung im Prenzlauer Berg. Ulrike Weiß
Wohnort: Moabit; Alter: 61 Jahre
• Frau Weiß muss ihre langjährig angestammte Wohnung verlassen da die Wohnung nach Auszug der Tochter zu groß und zu teuer ist. Sie ist auf eine altersgerechte Wohnung angewiesen. Trotz vieler Wohnungsbesichtigungen konnte sie bisher keine neue Wohnung finden. Nun lebt sie in Angst, den ausstehenden Mietbetrag nicht finanzieren zu können und in Mietschulden zu geraten. Florian Kühn
Wohnort: Kreuzberg; Alter: 57 Jahre
• Florian Kühn hat lange Zeit nach einer Wohnung in Berlin gesucht und war bei unzähligen Wohnungsbesichtigungen. Eine Wohnung im Rahmen der WAV zu finden war für ihn fast unmöglich. Viele potentielle Wohnungen wurden vom JobCenter abgelehnt. Heute lebt er in einer kleinen Einzimmerwohnung in Kreuzberg. Sophie Rigot
Wohnort: Wilmersdorf; Alter: 26 Jahre
• Sophie Rigot hat in Weißensee eine Wohnung gefunden, die sie mit Wohnberechtigungsschein im Jahr 2008 problemlos anmieten konnte. Zwei Jahre später wollte sie wieder zurück in die Nähe ihres sozialen Netzwerkes ziehen. Dafür ist sie ohne das JobCenter zu informieren nach Wilmersdorf gezogen, weil dieses dem Umzug nicht zugestimmt hätte. Nun lebt sie mit ihrer Tochter in einer Erdgeschosswohnung, die erheblich über der Mietobergrenze liegt. Nurdan Yilmaz
Wohnort: Kreuzberg; Alter: 43 Jahre
• Frau Yilmaz lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in einer Zweizimmerwohnung in Kreuzberg. Die beengte Situation führt oft zu Spannungen innerhalb der Familie. Außerdem weist ihre Wohnung erhebliche Mängel auf (Schimmel, schlechte Isolierung). Eine bezahlbare Wohnung findet sie in dieser Gegend nicht. Quelle: eigene Darstellung
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AKTUELLE P ROZESSE IN B ERLIN
DER
ALG-II-E MPFÄNGER _ INNEN
Im Falle eines möglichen Umzuges (gewollt oder ungewollt) besteht die bereits beschriebene Wohnsituation von ALG-II-Empfänger_innen in Berlin aus einem mehrstufigen Prozess, der im Folgenden erläutert wird. Am Anfang stehen die Ursachen, die zu einem Umzug führen können. In einem zweiten Schritt wird der Umgang mit dem drohenden Umzug der Betroffenen dargelegt. Die Folgen dieses Handelns werden sowohl für die Betroffenen selbst wie auch für die Bezirke und Institutionen, die in diesen Prozess involviert sind, beleuchtet.
U RSACHEN FÜR EINEN U MZUG VON ALG-IIE MPFÄNGER _ INNEN Um die Ursachen für einen Umzug zu erläutern, muss im Vorfeld auf die Aspekte für eine unzulängliche Wohnsituation eingegangen werden. Diese können in interne und externe Gründe unterteilt werden. Die internen Aspekte beziehen sich direkt auf die ALG-II-Empfänger_innen als Mieter_innen. Bei den internen Gründen handelt es sich um eine unangemessene Wohnsituation (Wohnungsgröße, Zustand etc.), d.h. eine Wohnsituation, die nicht auf die Bedürfnisse oder Umstände des_der Betroffenen angepasst ist. Die externen Aspekte beziehen sich auf neuere Entwicklungen des Berliner Immobilienmarkts, wie z.B. steigende Mietpreise. Daraus ergibt sich auch die Aufforderung zur Senkung der KdU aufgrund einer Überschreitung der Mietobergrenze. Die externen und internen Ursachen können sich ebenfalls ergänzen oder ineinander übergreifen (vgl. Abb. 4). Hierfür konnten durch die Interviews zahlreiche Hinweise gefunden werden. Die einzelnen Gründe werden im nachfolgenden Abschnitt dargestellt.
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Abbildung 4: Unzulängliche Wohnsituation
Quelle: eigene Darstellung
Ein unangemessener Wohnraum ist ein wesentlicher Faktor für eine unzulängliche Wohnsituation. Die internen Gründe beschreiben die persönlichen Bedürfnisse von ALG-II-Empfänger_innen. Dabei handelt es sich um eine unangemessene Wohnsituation, wenn diese nicht den Bedürfnissen der ALG-IIEmpfänger_innen gerecht wird. Dazu zählen vor allem die Größe des Wohnraums und die Anzahl der Zimmer. Oftmals entsteht das Bedürfnis nach mehr oder weniger Wohnraum durch eine veränderte Lebenssituation des betroffenen Menschen. Durch Familienzuwachs, Trennung oder Krankheit verändern sich die Ansprüche an den jeweiligen Wohnraum (Kübler 19.06.2012: 6). So führt beispielsweise ein Auszug der Kinder oder des Kindes aus dem Wohnraum der Bedarfsgemeinschaft zu einem >WohnraumüberschussBleibestrategie< bezeichnet. Um dieses Ziel zu erreichen, wird eine Einbuße der Lebensqualität in Kauf genommen. Zum anderen konnte festgestellt werden, dass Betroffene die Bleibestrategie nicht anwenden konnten bzw. wollten. Sofern das JobCenter eine Aufforderung zur Senkung der Unterkunft ausstellt, werden den Betroffenen folgende Vorschläge ausgesprochen, um eine Senkung der Kosten zu erreichen:
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• Gespräch mit dem_der Vermieter_in • Untervermietung • Umzug in eine andere Wohnung Tabelle 3 zeigt die Zahl der Bedarfsgemeinschaften in Berlin, die eine Aufforderung zur Kostensenkung in den Jahren 2010 und 2011 erhalten haben. Hierbei konnten ca. zwei Prozent ihre Kosten selbständig senken, z.B. durch ein Gespräch mit den Vermieter_innen oder Untervermietung. An dieser Stelle muss betont werden, dass das Untervermieten eines Teilbereichs des Wohnraums aufgrund von Platzmangel oder des Alters für keinen der von uns befragten Betroffenen möglich wäre. Fast alle Betroffenen haben das Gespräch mit ihrem_ihrer Vermieter_in gesucht, konnten die Miethöhe dadurch allerdings nicht reduzieren. So ist eine steigende Tendenz bei den tatsächlichen Umzügen erkennbar. 2011 mussten 1.313 Bedarfsgemeinschaften aufgrund der Aufforderung zur Kostensenkung umziehen (vgl. Breitenbach/Lompscher 2012). Es kann davon ausgegangen werden, dass jene, die weder den Anforderungen eines Härtefalls entsprechen noch umgezogen sind oder die Kosten selbstständig senken konnten, die Miete oberhalb der Mietobergrenze aus ihren eigenen finanziellen Mitteln tragen. Tabelle 3: Reaktion auf Kostensenkungsverfahren nach Bedarfsgemeinschaften
Aufforderung zur Kostensenkung Davon Härtefälle Davon Kosten selbstständig gesenkt Davon Umzüge
2010 71.187 25.132
2011 65.511 36.335
1.797
1.036
1.195
1.313
Quelle: Breitenbach/Lompscher 2012
Damit wird deutlich, dass ein Großteil der interviewten Betroffenen die Bleibestrategie anwendet. Hierfür werden jegliche Ressourcen aufgewendet, um im angestammten Wohnraum zu bleiben. Werden diese Ressourcen wie beschrieben allerdings zunehmend stärker beansprucht, kann ein Umzug kaum noch verhindert werden. Der Prozess der Wohnungssuche ist für die meisten interviewten Betroffenen ein langwieriger Prozess. Bis zum tatsächlichen Umzug vergingen bei einigen Interviewten viele Monate und unzählige Wohnungsbesichtigungen. Insgesamt war es schwierig, überhaupt eine Wohnung zu finden, die den Anforderungen des JobCenters entspricht. Die Mehrheit der interviewten Betroffenen konzentrierte sich bei ihrer Wohnungssuche auf zentrumsnahe Stadtteile. Im
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Gegensatz zu erwerbstätigen Personen ist es ALG-II-Empfänger_innen nicht gestattet, sich frei für eine Wohnung zu bewerben. Bevor eine Bewerbung für eine Wohnung getätigt werden darf, muss das jeweilige JobCenter dem Umzug und der neuen Wohnung zustimmen. Neben der angesprochen Diskriminierung und Stigmatisierung, denen viele ALG-II-Empfänger_innen ausgesetzt sind, beeinflussen diese Strukturen die Wohnungssuche für transferabhängige Personen nachhaltig und negativ (Kühn, 06.11.2012: 6). In der Abbildung 5 wird der komplizierte und langwierige Ablauf einer Wohnungssuche für ALG-IIEmpfänger_innen dargestellt. Abbildung 5: Ablauf einer Wohnungssuche
Recherche
Wohnungsbesichtigung
Anfrage beim JobCenter
• Recherche nach passender Wohnung → Berücksichtigung der Auflagen vom JobCenter (Mietkosten, Quadratmeterzahl etc.) • Identifikation einer Wohnung
• Konkurrenz von vielen Mitbewerber_innen • Bewerbung nicht möglich → Wohnung muss reserviert werden • zusätliche Informationen von dem_der Vermieter_in für das JobCenter nötig (z.B. Gebäudegröße)
• Anfrage beim JobCenter ob die Wohnung den Vorlagen entspricht • Erst wenn das JobCenter die Anfrage bewilligt, kann eine Bewerbung bei dem_der Vermieter_in abgegeben werden
Quelle: eigene Darstellung nach Weiß 22.11.2012
Wird eine Wohnung identifiziert, die den Vorgaben des JobCenters entspricht, kann sich die betroffene Person aufgrund der strukturellen Vorgaben der JobCenter nicht direkt auf die Wohnung bewerben. Die wohnungssuchende Person muss an den_die Vermieter_in heran treten, um die Wohnung zu reservieren. Außerdem müssen Kennzahlen wie die Gebäudegröße erfragt werden, da sie notwendig für die Berechnung der Mietobergrenze sind. Durch dieses sofortige
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>Outing< des_der ALG-II-Beziehenden können weitere Diskriminierungsphänomene auftreten. Nach der Wohnungsbesichtigung muss eine Anfrage beim JobCenter gestellt werden, ob die Wohnung den Vorlagen entspricht. Hierbei ist das JobCenter verpflichtet, innerhalb von drei Tagen einen Termin zu gewährleisten. Die meisten Vermieter_innen wollen eine Garantie, dass die Miete monatlich vom JobCenter übernommen wird. Eine solche Garantie wird vom JobCenter allerdings nicht ausgestellt. Erst wenn das JobCenter die Anfrage geprüft und bewilligt hat, kann eine verbindliche Bewerbung bei dem_der Vermieter_in erfolgen. In vielen Fällen wurde die Wohnung zu diesem Zeitpunkt dann schon an andere Bewerber_innen vergeben, die ohne weitere Verzögerungen die Wohnung anmieten konnten (Weiß 22.11.2012: 8). Die Kommunikation mit dem JobCenter wird von vielen interviewten Betroffenen als kritisch dargestellt. Viele haben besonders bei dem Thema Wohnungssuche und Umzug schlechte Erfahrungen mit ihrem_ihrer jeweiligen Sachbearbeiter_in gesammelt. Besonders kritisch wird seitens der Betroffenen die Willkür der Sachbearbeiter_innen angemerkt: »[…] die Mietberechnung ist aber sehr willkürlich. Es können auch zehn Euro mehr übernommen werden, wenn man sich mit dem Sachbearbeiter gut stellt.« (Weiß 22.11.2012: 7). Eine andere Betroffene berichtet von der Ohnmacht gegenüber der_dem jeweiligen Sachbearbeiter_in: »Sie können jetzt einen Antrag stellen. Und wenn Sie Glück haben und haben einen Sachbearbeiter, der sagt: ‚Och Mensch, mir ist das doch egal, Hauptsache die Akte ist vom Tisch’, denn kriegen Sie das bewilligt. Und wenn der aber einen schlechten Tag hatte […], dann haben Sie Pech, dann lehnt der das ab. Und so läuft das auf den JobCentern wirklich.« (Bauer 28.11.2012: 8).
Generell scheinen die vorgegebenen Strukturen im JobCenter starr und »umständliche Kommunikationswege erschweren die Anmietung einer Wohnung« (Kühn 26.11.2012: 7). Viele Interviewte haben das Vertrauen in ihr JobCenter in Gänze verloren und fühlen sich eher schikaniert und überwacht als bei der Wohnungssuche unterstützt: »Das JobCenter hat sich wirklich extrem Mühe gegeben, mich mit seinen Entscheidungen obdachlos zu machen« (Hauptmann 21.11. 2012: 4). Es scheint, als hätten ALG-II-Empfänger_innen kein Anrecht mehr auf eine für die jeweiligen Bedürfnisse akzeptable Wohnung. Eine Person berichtet, dass sie bei ihrer Wohnungssuche trotz ihres fortgeschrittenen Alters nicht auf einer seniorengerechte Wohnung bestehen darf. Des Weiteren wird Berlin von den JobCentern und von den Gerichten als Gesamtheit angesehen, wodurch die Wohnungssuche bei Betroffenen theoretisch berlinweit stattfinden müsse. Gera-
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de für Kinder können sich diese Entwurzlungen schwierig gestalten (Szczepanski 17.12.2012: 7). Dies sind nur einige Beispiele für diskriminierende Situationen, in der sich ALG-II-Empfänger_innen bei der Wohnungssuche befinden. Die Abhängigkeit von einer staatlichen Institution, die ein Mitentscheidungsrecht über den Wohnort und demzufolge die Wohnsituation erhält, ist der Grund, warum die aktuelle Situation von vielen Betroffenen als kritisch betrachtet wird. Die daraus resultierende Unsicherheit gipfelt in einer Existenzangst; die Angst keinen angemessenen Wohnraum zu erhalten oder ihn gänzlich zu verlieren (Hauptmann 21.11. 2012: 3).
F OLGEN
FÜR DIE
B ETROFFENEN
UND DIE
B EZIRKE
Durch die dargestellten Aufforderungen und Maßnahmen zur Kostensenkung ergeben sich nicht absehbare soziale und räumliche Folgen für die Betroffenen und die jeweiligen Bezirke. Oft müssen sich die Betroffenen entscheiden, ob sie in ihrem angestammten Wohnraum verbleiben oder versuchen, in eine preiswertere Wohnung umzuziehen. Beide Szenarien sind mit Folgen verbunden. Folgen für die Betroffenen bei Abwendung des Umzugs Die Bleibestrategie kann als eine häufig praktizierte Strategie der Betroffenen identifiziert werden, da sie sich aktiv für das Verbleiben im eigenen Wohnraum bzw. Wohnumfeld entschieden haben. Um dies zu realisieren bleibt vielen ALGII-Empfänger_innen häufig nur ein Umzug in eine Substandardwohnung oder das Verbleiben in einem unpassenden Wohnraum. Einige der interviewten Betroffenen wohnen oder haben bereits in einer Substandardwohnung gewohnt, oft »unter erbärmlichen Umständen« (Kühn 26.11.2012: 5). Viele Betroffene sehen sich gezwungen, in eine sehr kleine Wohnung zu ziehen oder verbleiben in einer zu kleinen Wohnung, obwohl sie eigentlich eine Wohnung mit einer höheren Quadratmeterzahl benötigen und auch Anspruch darauf hätten (Yilmaz 12.12.2012: 3). Das Verbleiben in der angestammten Wohnung ist für einige Betroffene mit einem Verzicht auf Lebensqualität verbunden. Viele Betroffene klagen über zu wenig Wohnraum oder den Bedarf eines weiteren Zimmers. Dieser Verzicht auf Wohnraum kann ferner zu Spannungen innerhalb der Bedarfsgemeinschaft führen (Yilmaz 12.12.2012: 9). Des Weiteren wird die erhöhte Unsicherheit beklagt, die sich mit dem Verbleiben in der angestammten Wohnung ergibt. So befürchten viele, dass die
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Gefahr einer weiteren Miet- oder Nebenkostenerhöhung besteht, wodurch sich ein Umzug nicht mehr vermeiden ließe (Kühn 26.11.2012: 11). Durch die Angst vor finanziellen Kürzungen von Seiten des JobCenters steigt der Druck: »Der Druck, der auf einem lastet, dadurch, dass sie einem das Geld kürzen, ist kaum auszuhalten.« (Weiß 22.11.2012: 4). Doch nicht nur die Angst vor der Verdrängung ist bei den Gesprächen spürbar, vielmehr ist es ein Gefühl bedrängt zu werden. Die Betroffenen fühlen sich in ihrer Existenz bedroht, die nicht nur durch einen Wohnungswechsel gefährdet ist, sondern allgemein durch Angst vor einer Anhebung der Kosten, durch diese sie dann kaum noch ihren Lebensunterhalt bestreiten könnten. Die eigene geschaffene Existenz, die auch eng mit dem Thema Wohnen verbunden ist, wird also von außen bedroht (Kühn 26.11.2012: 10). Können die Kosten nicht gesenkt werden, besteht ein erhöhtes Mietschuldenrisiko, da die Mehrkosten oftmals selbst übernommen und vom eigenen Lebensunterhalt bezahlt werden müssen. Daraus kann sich eine Abwärtsspirale für die Betroffenen entwickeln, an deren Ende hohe Mietschulden stehen oder sogar die Wohnungslosigkeit droht. Die meisten Betroffenen sind sich dieser Gefahr bewusst. Aus diesem Grund sprechen sie selbst nicht von einem Gefühl der Verdrängung sondern von einem Gefühl der Bedrängung (Weiß 22.11.2012: 12). Andere Betroffene wiederum sehen sich in der Rolle der Verdrängten: »Ich fühle mich verdrängt, wenn sie mich zwingen auszuziehen ohne dass ich will. Ich will ja nicht umziehen.« (Yilmaz 12.12.2012: 4) Da die meisten interviewten Betroffenen möglichst im gleichen Stadtteil oder Bezirk bleiben wollen, ist eine Aufforderung zur Kostensenkung bzw. eine damit verbundene Wohnungssuche problematisch. Weil die dem Richtwert entsprechenden Wohnungen immer knapper werden und durch Kostensenkungsaufforderungen der Wohnungsmarkt zusätzlich belastet wird, sind viele Familien, insbesondere jene mit mehreren Kindern, überfordert (Szczepanski 17.12.2012: 6). Folgen für die Betroffenen nach dem Umzug Wenn trotz aller Bemühungen ein Umzug nicht verhindert werden kann, hat das oft schwerwiegende Folgen für die jeweiligen Betroffenen. Der dargelegte Verlust der sozialen Einbindung zählt zu einer der drastischsten Folgen. Viele Betroffene haben Angst vor einer räumlichen Trennung zu ihren Familienmitgliedern, Freund_innen und Bekannten. Aber auch die Neuorientierung in einem unbekannten Wohngebiet sowie das fortführende Ausüben einer ortsgebundenen geringfügigen Beschäftigung oder ehrenamtlichen Tätigkeit fällt vielen schwer
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und ist bei einer zu großen räumlichen Entfernung auch nicht mehr möglich (Weiß 22.11.2012: 10). Im Zielbezirk bestehen oft keinerlei Kontakte zu sozialen Einrichtungen wie Kindertagesstätten oder Schulen. Vor allem Alleinerziehende fühlen sich in dieser Situation alleingelassen und isoliert (Scholz-Thies 18.06.2012: 12). Insbesondere ALG-II-Empfänger_innen, die lange Zeit ihren Wohnsitz innerhalb des Wilhelminischen Rings hatten und aufgrund zu hoher Wohnkosten eine Wohnung in einem der Berliner Randbezirke beziehen mussten, bedauern den Verlust des urbanen Flairs. Ihnen fällt es schwer in diesem neuen Umfeld soziale Netzwerke aufzubauen und sich beruflich neu zu orientieren (ScholzThies 18.06.2012: 13). Außerdem wurde die Entfernung zu möglichen Arbeitsplätzen kritisch angemerkt. Als Beispiel hierfür gilt die Spandauer Großwohnsiedlung Staaken, denn hier gibt es einen begrenzten Bedarf an Arbeitsplätzen für Geringqualifizierte. Aufgrund der Entfernung zum Stadtkern ist es insbesondere für Alleinerziehende schwierig, Familienarbeit und Arbeitssuche zu kombinieren (Scholz-Thies 18.06.2012: 12). Hinzu kommt die Angst vor bereits dargestellter Diskriminierung und Stigmatisierung, insbesondere bei Betroffenen mit Migrationshintergrund. Bei einem erfolgten Umzug müssen ALG-II-Empfänger_innen einen neuen Antrag bei dem verantwortlichen JobCenter stellen. Dieses Verfahren ist mit einem großen bürokratischen Aufwand verbunden, dem sich viele Betroffene nicht gewachsen fühlen, da es sich hierbei um einen komplizierten, langwierigen Prozess handelt (Kühn 26.11.2012: 7). Folgen für die Bezirke nach dem Umzug Eine Verdrängung von ALG-II-Empfänger_innen in die Berliner Außenbezirke konnte nicht eindeutig festgestellt werden. Trotzdem lassen sich derartige Tendenzen erkennen: durch Umzüge in die Berliner Randbezirke könnte es zu einem Verlust der sozialen Mischung kommen. Einerseits kommt es zu einer Homogenisierung der Bevölkerung in den aufgewerteten Innenstadtbezirken, andererseits verfestigt sich die Abwärtsspirale der Großwohnsiedlungen am Stadtrand (vgl. Helbrecht 2009). Martin Matz bemerkt dazu: »Das Problem der Gentrifizierung ist nicht das Problem von Kreuzberg, sondern vom Falkenhagener Feld.«4 (Matz 15.06.2012: 9). Matz führt aus, dass durch die steigende Anzahl von Transferleistungsbeziehenden hohe Folgekosten für die Außenbezirke entstünden. So sei
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Das Falkenhagener Feld ist ein Ortsteil im Berliner Bezirk Spandau, der durch städtische Großwohnsiedlungen geprägt ist.
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in Teilbereichen Spandaus der Anteil der Kinder von Transferleistungsempfänger_innen von rund 65 Prozent auf 80 Prozent in den letzten Jahren gestiegen. Hieraus müssten sich veränderte Investitionen in Bildung, Betreuung etc. ergeben, welche häufig nicht durch die Bezirke finanziert werden können (Matz 15.06.2012: 10). Eine Anpassung der sozialen und kulturellen Infrastruktur an die gestiegenen und veränderten Ansprüche verläuft sehr träge, so dass eine ausreichende Versorgung kaum gewährleistet werden kann. Ferner müssen sich auch die JobCenter durch eine steigende Anmeldung von ALG-II-Empfänger_innen in Bezirken wie Spandau auf eine erhöhte Nachfrage einstellen. Diese Expansion bzw. Erweiterung der JobCenter verläuft in den meisten Fällen allerdings schleppend, wodurch eine gute Beratung der Transferleistungsbezieher_innen nicht mehr garantiert werden kann. Durch den Zuzug von Personen mit geringer Kaufkraft wird auch die lokale Ökonomie beeinflusst. Die Einzelhandelsstruktur passt sich der neu zuziehenden Bevölkerung an. Auch hierdurch wird die Abwärtsspirale eines Stadtteils verstärkt (Matz 15.06.2012: 9) und es kommt zu einem immer größeren Imagewandel der Zielstadtteile. Wird bei diesem »Wanderzirkus der Verdrängung« nicht stärker politisch eingegriffen, besteht laut einigen Expert_innen, wie Elke Breitenbach, sogar die Gefahr der Ghettoisierung (Breitenbach 19.06.2012: 11).
F AZIT Dieser Beitrag zeigt das Spannungsfeld zwischen Immobilienmarkt, Wohnungsund Sozialpolitik bezüglich der Widersprüche zwischen den rechtlichen Vorgaben durch das JobCenter und dem verfügbaren Wohnraum in Berlin auf. Insbesondere die Ängste und Bedürfnisse von ALG-II-Empfänger_innen werden in Forschung und Politik oft zu wenig betrachtet, obwohl gerade für diese Bevölkerungsgruppe Wohnen ein zentrales Thema ist. Der duale Ansatz dieser Studie, sowohl Expert_innen wie auch Betroffene zu interviewen, ermöglicht es, verschiedene Blickwinkel auf die aktuelle Berliner Situation einzufangen. Durch die Expert_inneninterviews konnten die politischen Rahmenbedingungen und exemplarisch die bezirksspezifischen Tendenzen abgebildet werden, während mittels Betroffeneninterviews die emotionale, persönliche Ebene dieser Entwicklung dargestellt wurde. Durch diese doppelperspektivische Betrachtung konnten Ursachen, Reaktionen und Folgen erfasst werden. Als Hauptursache für einen Umzug wird eine unzulängliche Wohnsituation definiert, welche interne und externe Ursachen haben kann. Die Aufforderung zur Kostensenkung durch die JobCenter kann hierbei als zentrales Element ange-
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sehen werden. Hierfür konnten eine Vielzahl von Reaktionen identifiziert werden, um einen nahenden Umzug zu vollziehen oder abzuwenden. Eine Reaktion lässt sich als Bleibestrategie betiteln. Darunter kann verstanden werden, dass die Betroffenen mit aller Kraft versuchen in ihrer Wohnung zu bleiben. Dies geschieht teils aus Mangel an attraktiven und vor allem bezahlbaren Alternativen und teils aus Angst ihr Zuhause, ihr Umfeld und den sozialen Anschluss zu verlieren. Dabei kommt es nicht nur zu einer zusätzlichen finanziellen Belastung durch Zuzahlungen zur Miete aus dem Regelsatz und/oder Zuverdienst, sondern besonders zu einer psychischen oder auch gesundheitlichen Belastung. Die Betroffenen und die Mitglieder ihrer Bedarfsgemeinschaften sehen sich hierbei mit Druck und Unsicherheit konfrontiert. Neben der Bleibestrategie kann auch der Umzug bzw. die Verdrängung als Reaktion festgestellt werden. Die Suche nach bezahlbarem Wohnraum ist häufig eine kaum zu überwindende Herausforderung für die Betroffenen. Als Schwierigkeit stellen sich die niedrigen Mietobergrenzen, die steigende Nachfrage und die steigenden Mieten in Berlin sowie die Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt dar. Grundsätzlich kann die Theorie einer Verdrängung der ärmeren Bevölkerungsgruppen an den Stadtrand noch nicht als vollständig zutreffend herausgestellt werden, da viele Betroffene beispielsweise die Bleibestrategie anwenden. Dennoch waren sich die Expert_innen einig, dass vermehrt ALG-IIEmpfänger_innen in die Berliner Außenbezirke ziehen. Zusammenführend muss betont werden, dass es weniger die Angst vor der Verdrängung als die permanente Angst vor dem Existenzverlust ist, die unsere Interviewpartner_innen artikulieren. Die Betroffenen fühlen sich demnach vielmehr bedrängt als verdrängt.
H ANDLUNGSEMPFEHLUNGEN In den sozial- und wohnungspolitischen Debatten bestehen verschiedene Forderungen, die nach politischer Einstellung oder Grad der persönlichen Betroffenheit variieren und sich an unterschiedliche Adressaten wie beispielsweise Senat, JobCenter, Wohnungsbaugesellschaften und Wohnungseigentümer_innen wenden. Hierzu zählen konkrete Handlungsaufforderungen wie die Einführung von sozialen Kriterien zur Wohnungsvergabe für einen inklusiveren Wohnungsmarkt, wie von dem Stadtsoziologen Andrej Holm gefordert (Schumacher 2012) oder ein Mindestanteil von Wohnungen mit einer Kaltmiete von 5,50 Euro pro Quadratmeter bei Neubauten und die davon abhängige Vergabe von Grundstücken (Szczepanski 17.12.2012: 11). Darüber hinaus wird ein weitreichendes
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Unterstützungsangebot durch das JobCenter und soziale Träger gefordert. Elke Breitenbach empfiehlt Mietzuschläge für ALG-II-Empfänger_innen in Gebieten mit einem besonders hohen Verdrängungsdruck (Breitenbach 19.06.2012: 14). Diese Forderungen werden ebenfalls von unseren befragten Betroffenen unterstützt. Grundsätzlicher geht all diesem zunächst die Anerkennung der komplexen Problematik voraus: Anerkennung als Forderung kann verschiedenste Themen integrieren und zusammenführen. Die Anerkennung der Existenz eines angespannten Wohnungsmarktes, die Anerkennung der Illusion einer sozialen Stadt, die Anerkennung von uneffektiven Versorgungsmechanismen oder die Anerkennung eines benötigten Reflektionsprozesses zur Personalpolitik der JobCenter. Die Themenfelder sind vielfältig und wir haben versucht einige davon in dieser Studie aufzuzeigen. Darum lässt sich mit dem Aufruf abschließen, an einer neuen Einstellung ihnen gegenüber zu arbeiten. Solange die Wohnungsnot in Berlin nicht als Problem anerkannt wird, kann nicht gegen sie angegangen werden.
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Leben im Wohnwagen – ein Phänomen der Verdrängung? P AUL N EUPERT
Die Praxis des dauerhaften Lebens im Wohnwagen ist in den USA weit verbreitet. Sie ist ein Phänomen des 20. Jahrhunderts und hat ihren eigentlichen Ursprung in den frühen zwanziger Jahren und dem amerikanischen Traum von der grenzenlosen Reisefreiheit im eigenen Caravan. Im Laufe der Zeit wandelte sich jedoch die einstige Campingnutzung zu einer eher stationären Behelfslösung für die Wohnungslosigkeit in Großstädten. Heute ist sie eng verknüpft mit sozialen Problemen wie Polarisierung, Segregation, Stigmatisierung und Ausgrenzung prekarisierter Bevölkerungsschichten. Allan D. Wallis (1991) zeigt in seinem Buch »Wheel Estate – The rise and decline of mobile homes« die Entstehung des trailer living auf und geht dabei näher auf die Bedeutung von politischen Programmen, technischen Neuerungen und historischen Ereignissen ein. Er verdeutlicht, dass sich diese besondere Wohnform nicht kontinuierlich, sondern phasenartig und stets als Antwort auf eine unzureichende Versorgung mit Wohnraum entwickelt hat. So lebten bereits im Jahr 1947 – im Zuge des nachkriegszeitlichen Wohnengpasses – sieben Prozent der US-amerikanischen Bevölkerung in z.T. staatlich geförderten, eigenen oder gemieteten Wohnwagen. Mehrheitlich junge Wanderarbeiter und deren Familien nutzten sie als transportable Unterkünfte (ebd.: 94ff.). Heute wohnen gemäß dem American Housing Survey landesweit ca. 20 Mio. Menschen ganzjährig in knapp acht Mio. trailers, mobile homes oder manufactured homes (USCB 2013). Der Großteil dieser transportablen Behausungen steht im ländlich geprägten Sunbelt – d.h. in den südlich des 37. Breitengrades gelegenen Bundesstaaten (s. Abb. 1). Obwohl noch immer mehrheitlich ein ländliches Phänomen, hat sich trailer living in den letzten Dekaden besonders in den Randlagen der prosperierenden Städte als preisgünstige Alternative zum meist
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unerschwinglichen Eigenheim entwickelt (Salamon/MacTavish 2006: 46). Im Durchschnitt kostet die Anschaffung eines mobile home nur ein Fünftel des Preises von einem konventionellen Einfamilienhaus (CDCB 2013). Diese Kostenersparnis macht es vor allem attraktiv für finanzschwache Bevölkerungsgruppen. So gilt trailer living weitläufig als die bedeutendste nicht-subventionierte Wohnform für Haushalte mit geringen Einkommen (Burkhart 2010: 428; Kochera 2007: 1; Schmitz 2004: 386). Abbildung 1: Verbreitung von mobile homes in den USA
Quelle: Salamon/MacTavish 2006: 47
Abbildung 2: trailer park in Detroit (1930er Jahre)
Quelle: Wallis 1991: 72, 201
Abbildung 3: Elm Park in Eaglewood, Colorado
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Abbildung 4: Double-wide mobile home
Abbildung 5: Manufactured home beim Transport
Quelle: Wallis 1991: 6
Quelle: Parksville Mobile Home
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Information 2013
Ungefähr ein Drittel aller US-amerikanischen mobile homes steht auf privaten, parzellierten Grundstücken, die von deren Eigentümer_innen meist renditeorientiert verwaltet werden (HAC 2011: 6). Zwischen 50.000 und 60.0001 solcher Wohnwagensiedlungen gibt es heute in den USA (Salamon/MacTavish 2006: 45ff.). Obwohl häufig noch immer abwertend als »trailer parks« 2 bezeichnet, weisen sie inzwischen hinsichtlich Größe, Ausstattung und sozio-ökonomischer Bewohnerstruktur eine große Spannweite auf. James Gillies unterschied bereits 1965 zwei Haupttypen: Die eher einfach ausgestatteten housing oriented parks werden vornehmlich wegen der vergleichsweise geringen Pachtkosten angenommen. Gleichzeitig gibt es luxuriöse service oriented parks, die aufgrund ihrer umfassenden Gemeinschaftsangebote wie Clubhäuser, Sicherheitsdienste oder Golfplätze und den damit anfallenden Ausgaben von wohlhabenderen Bevölkerungsgruppen – oftmals von Senior_innen als Alterswohnsitz – bewohnt werden (Wallis 1991: 185ff.). Letztere sind jedoch in der Minderzahl. So sind US-Amerikaner_innen, die in mobile homes leben, im Vergleich zur Gesamtbevölkerung deutlich schlechter gestellt. Sie weisen im Mittel einen niedrigeren Bildungsstand auf, haben ein deutlich geringeres Haushaltseinkommen und sind
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Hierzu gibt es lediglich Schätzungen, da amtliche Statistiken die eigentumsrechtliche
2
Um dem negativen Image des trailers entgegenzuwirken, haben die Hersteller in den
Form der mobile home-Stellplätze nicht erheben (Salamon/MacTavish 2005: 26). 1960er Jahren den heute gebräuchlicheren Begriff des mobile home eingeführt (Hurley 2001: 271; Wallis 1991: 149). Mit der Verabschiedung des HUD Code im Jahr 1976 hat sich offiziell manufactured home für die Bezeichnung moderner Einheiten etabliert (HAC 2011: 3f.).
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häufiger abhängig von staatlichen Hilfeleistungen. 25,3% von ihnen leben unterhalb der Armutsgrenze (USCB 2011a, 2011b). Studien legen nahe, dass diese Defizite im besonderen Maße für die Bewohner_innen der Wohnwagenparks bestehen (vgl. Baker et al. 2011; Kusenbach 2009; MacTavish 2006; Milstead et al. 2013; Schmitz 2004; Shanbacker 2007). Mehrere Autor_innen argumentieren zudem, dass sich das Leben in den Siedlungen bei genauerer Betrachtung der Rahmenbedingungen als eine vorrangig prekäre Wohnform herausstellt, denn anders als beim »herkömmlichen« Wohnen im Miets- oder Eigentumshaus weist es viele spezifische Unsicherheiten für die besonders vulnerablen Bewohner_innen auf (vgl. Aman/Yarnal 2010; Baker et al. 2011; Genz 2001; HAC 2005; Jewell 2001; Schmitz 2004; Yarnal/Aman 2009). Salamon/MacTavish (2006) sprechen in dem Zusammenhang sogar von einem Status der »quasihomelessness«, da die dort Lebenden permanent vom Verlust der eigenen vier Wände bedroht sind und somit nicht selten am Rande der Wohnungslosigkeit stehen. Entsprechend seiner herausragenden gesellschaftlichen Bedeutung gibt es im nordamerikanischen Raum auch ein breites Spektrum wissenschaftlicher Abhandlungen zum Thema trailer living. Unterschiedliche Fachdisziplinen behandeln es z.B. aus historischer, soziologischer, ethnologischer, geographischer oder immobilienwirtschaftlicher Perspektive. Hinzu kommen wohnungspolitische Abhandlungen von Verbänden, Interessenvertretungen und Regierungsbehörden. Für den deutschsprachigen Raum ist bisher keine Fachpublikation dazu bekannt. Seit einigen Jahren berichten jedoch mehrheitlich regionale Tageszeitungen über den Trend, dass Menschen dauerhaft auf Campingplätzen wohnen (vgl. Dowideit, Die Welt online 2012; Klemp et al., Berliner Kurier 2012; Pluwatsch, Frankfurter Rundschau 2012; Rhein-Sieg-Anzeiger 2012; Rytina, Esslinger Zeitung 2009; Seith, Spiegel online 2009; Turek, Kölner Stadt-Anzeiger 2012; vom Hofe, Westdeutsche Zeitung 2009). Gemein ist ihnen die grundsätzliche Aussage, dass es sich dabei um eine neue günstige Wohnalternative handelt. Demnach sähen sich vor allem Hartz-IV-Empfänger_innen und Rentner_innen mit geringen finanziellen Rücklagen gezwungen, ihre Wohnung aufzugeben und auf einen Campingplatz zu ziehen. Daraus leitet sich das hier im Zentrum stehende Forschungsinteresse ab. Gerade in Hinblick auf die zunehmende soziale Polarisierung der deutschen Bevölkerung (vgl. Aehnelt et al. 2009), die Verschärfung der wohnungspolitischen Situation von Arbeitslosen im Zuge der Hartz-IV-Sozialgesetzgebung3 (vgl. Holm 2007; Grotefendt et al. 2016 in diesem
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Das entsprechende »Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« trat am 1. Januar 2005 in Kraft.
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Band) und die Debatten über Alters- und Erwerbsarmut (vgl. Noll/Weick 2012; Helbrecht 2013), aber auch bezüglich der steigenden Zahl von Zwangsumzügen 4 und Wohnungslosen (vgl. BAG W 2013) stellt sich die Frage, ob sich das Leben im Wohnmobil aufgrund von zunehmender Wohnungsnot künftig als gängige Praxis für Arme etablieren wird und welche Konsequenzen dies für die dort Lebenden hat. Evident wird diese Überlegung mit dem Urteil (B 14 AS 79/09 R) des Bundessozialgerichts vom 17. Juni 2010, wonach kommunale Behörden den Caravan für den Wohnzweck akzeptieren und anfallende Wohnkosten im Sinne des § 22 SGB II übernehmen müssen, solange diese angemessen sind (vgl. BSG 2010). Wenn aber das Leben im Wohnwagen zukünftig gesellschaftliche Realität wird, müssen wir in der Wissenschaft mehr über diese Wohnform erfahren. Im Folgenden soll das Phänomen des trailer living in Deutschland am Beispiel des Central Camping Berlin (CCB) – ein zunehmend als Erstwohnsitz genutzter, gewerblicher Wohnwagenplatz im Süden der Hauptstadt – genauer betrachtet werden. Dabei wird untersucht, ob es sich hierbei um eine Folgeerscheinung von Gentrification, Wohnraumknappheit und innerstädtischer Verdrängung handelt und inwiefern sie sich auch hierzulande – ähnlich wie in den USA – als prekäre Wohnform etablieren könnte. Dementsprechend werden hier Vergleiche zu den in der Fachliteratur beschriebenen nordamerikanischen Verhältnissen gezogen. Bevor jedoch genauer auf die Motive der Bewohner_innen eingegangen wird, soll das Leben auf dem Campingplatz per se, also die Wahrnehmungen und Erfahrungen der dortigen Bewohner_innen, beleuchtet werden. Dies ist forschungsrelevant, denn nur unter Berücksichtigung der entsprechenden Innenwahrnehmung ist eine angemessene Beurteilung der Wohnform und ihrer sozialen Bedeutung möglich. Methodisch ist dabei folgendermaßen vorgegangen worden: Im Zeitraum von Dezember 2012 bis Februar 2013 wurden leitfadengestützte, narrative Interviews mit den Bewohner_innen vor Ort durchgeführt. Dabei ging es im ersten Teil darum, Näheres über die persönlichen Lebensumstände der Befragten, die Ausstattung des CCB sowie die Vor- und Nachteile, die mit ihrer speziellen Wohnform verbunden sind, zu erfahren. Interessant war in dem Zusammenhang auch die Beurteilung der Gemeinschaft und des Zusammenlebens. Der zweite Teil der Befragung beschäftigte sich mit den Motiven für den Umzug auf den
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Zwangsumzug bezeichnet den erzwungenen Wechsel der Unterkunft durch ALG-IIBezieher_innen, die der Aufforderung zur Senkung der Kosten der Unterkunft nicht nachkommen (können) und ihre Wohnung verlassen müssen. Die Zahl der davon Betroffenen stieg in Berlin von 410 im Jahr 2006 auf 1313 im Jahr 2011 (Kampagne gegen Zwangsumzüge 2007: 25; siehe Grotefendt et al. 2016 in diesem Band).
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Campingplatz, wobei die Frage bewusst offen gestellt wurde, um nicht suggestiv zu wirken. Erst danach ging es konkret um Wohnbiographien, Mietkosten und die Frage, ob die Mietpreisdifferenz gegenüber ihrem vorigen Wohnort relevant für die Umzugsentscheidung war bzw. ob sie wieder in eine Wohnung ziehen würden. Die Dauer der Gespräche variierte, je nach Auskunftsbereitschaft der Befragten, zwischen fünf und 120 Minuten. Erwähnenswert ist in dem Zusammenhang die verhältnismäßig hohe Ablehnungsquote von über 50%. Viele verneinten meine Bitte um ein Interview bereits am Gartentor, nicht selten mit dem Verweis auf einen bereits existierenden TV-Beitrag von RTL. Tatsächlich hat der Fernsehsender das Leben auf dem Platz unter dem Titel »Das Wohnwagendorf – Letzte Zuflucht Campingplatz« auf besonders wirkungsmächtige Art portraitiert und dabei gezielt Hartz-IV-Stereotype aufgegriffen und reproduziert. Das Image des CCB und seiner Bewohner_innen hat darunter gelitten und einige sind bis heute davon überzeugt, dass das mediale Auftreten zu nachträglichen Kündigungen der Pachtverträge der in dem Film vorkommenden Protagonist_innen geführt hätte.5 Dieses Risiko wollten sie nicht eingehen. Wiederum andere führten an, dass ihr persönliches Schicksal nicht unproblematisch sei und sie deswegen keinerlei Auskunft geben wollten. Dennoch konnten 15 Interviews mit insgesamt 21 Bewohner_innen geführt werden. In elf Fällen waren die Befragten mit einer Tonaufnahme einverstanden. Die qualitative Herangehensweise legt nahe, die gewonnenen Erkenntnisse mit entsprechenden wörtlichen Zitaten zu verdeutlichen (Übersicht siehe Tabelle 1). Um jedoch der von vielen gewünschten Anonymität gerecht zu werden, wurden hier die Namen aller Bewohner_innen geändert. Abschließend wurde am 11. Februar 2013 ein Interview mit dem Campingplatzbetreiber Markus Müller 6 durchgeführt, um mehr über dessen Arbeit und Perspektive bezüglich des hier untersuchten Zusammenhangs zwischen Wohnungsnot und trailer living zu erfahren. Es muss darauf hingewiesen werden, dass der CCB nicht als repräsentativ für alle ganzjährig bewohnten Campingplätze gelten kann, denn diesbezüglich liegen keine Vergleichsdaten vor. Auch alternative (Bau-)Wagenplätze, wie es sie in und um Berlin noch vereinzelt gibt, bleiben in dieser Untersuchung unberücksichtigt. Zwar ist auch hierbei ein Bezug zur Mietpreisentwicklung möglich, es wird jedoch davon ausgegangen, dass diese nicht kommerziell betrieben werden und eher freiwillig aus einem kollektivistischen oder politisch-ideologischen Bestreben heraus entstehen.
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Der CCB-Betreiber bestreitet dies im Interview.
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Sein Name wurde ebenfalls geändert.
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Tabelle 1: Zitierte CCB-Bewohner_innen im Überblick Name Inge Egon Bärbel Holger Uwe Helga Fritz Lisa Ole
Wohndauer ca. 3 Jahre ca. 3 Jahre ca. 4 Jahre ca. 14 Jahre ca. 3 Jahre ca. 9 Monate ca. 5 Jahre ca. 5 Jahre ca. 3. Jahre
Name Rüdiger Micha Erwin Yvonne Kjeld Benny Kalle Verena
Wohndauer ca. 4 Jahre ca. 6 Monate ca. 1,5 Jahre ca. 5 Jahre ca. 4-5 Jahre ca. ein Jahr ca. 3 Jahre unbekannt
Quelle: eigener Entwurf
D ER C AMPINGPLATZ C ENTRAL C AMPING B ERLIN Der CCB ist ein ca. 5,5 ha großer Campingplatz im äußersten Süden Berlins im Ortsteil Lichtenrade (Bezirk Tempelhof-Schöneberg). Er grenzt lang gestreckt an die S-Bahn-Trasse der Linie S2 und umfasst ca. 260 Parzellen, von denen derzeit knapp 200 belegt sind.7 Ursprünglich ist der Campingplatz entstanden, damit West-Berliner_innen ihren Wohnwagen außerhalb der Feriensaison abstellen konnten. Mit der Zeit wurde das Areal von den Camper_innen zunehmend als städtische Erholungsfläche genutzt. Markus Müller bezeichnet ihn als »Laubenpieperanlage […] auf Campingplatzbasis«. Die Möglichkeit fest auf dem Campingplatz zu wohnen gab es bereits unter der Verwaltung seines Vaters und damit seit mindestens zehn Jahren. Dieses Angebot wurde über lange Zeit vereinzelt angenommen. In den letzten zwei bis drei Jahren nimmt jedoch die Nachfrage nach einem festen Wohnsitz auf dem CCB deutlich zu. Vor allem Arbeitslose, Studierende und »Aussteiger_innen« nehmen – nach Aussagen von Betreiber und Bewohner_innen – das Angebot des preisgünstigen Wohnraums wahr.
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Im Vergleich: In den USA haben mobile home parks durchschnittlich 150 bis 200 Parzellen (Wallis 1991: 16; MacTavish/Salamon 2006: 491). Sie variieren jedoch sehr stark. So gibt es auch geschlossene Anlagen mit über 600 Einheiten und 1600 Bewohner_innen, die strukturell einer kleinen Stadt ähneln (ebd.; Salamon/MacTavish 2006: 46).
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Gegenwärtig wohnen 50 bis 100 Menschen ganzjährig auf dem Campingplatz. 8 Da das Wort »Camping« etymologisch von campus (lat. Feld) abgeleitet ist und eine besondere Form des mobilen Tourismus bezeichnet, können sie jedoch genau genommen nicht als Camper_innen beschrieben werden. Fortan sollen sie daher Bewohner_ innen heißen. Neben diesen Bewohner_innen gibt es auf dem CCB sogenannte Dauercamper_innen, die zusätzlich zu ihrer Parzelle eine eigene Wohnung haben und nur im Sommer entweder durchgängig (ca. 60-70%) oder unregelmäßig bzw. nur an den Wochenenden (ca. 30-40%) auf dem Platz sind. Für Touristen_innen und Wochenendurlauber_innen hat der CCB kaum freie Kapazitäten. Sie machen ca. ein Prozent aus. Hierin unterscheidet er sich maßgeblich von typischen Reisecampingplätzen, auch wenn er damit laut Markus Müller keine Sonderstellung einnimmt. Wie viele der bundesweit 2.872 Campingplätze bzw. 228.660 Stellplätze (Statistisches Bundesamt 2015: 20) dauerhaft bewohnt sind, ist nicht bekannt. Eindeutig ist aber, es gibt die grundlegende Tendenz »des Auseinanderdriften[s] in zwei Gruppen« – eine, die sich auf Urlaubscamper_innen spezialisiert und eine, die vorwiegend Dauercamper_innen und Bewohner_innen aufnimmt (Dowideit, Die Welt online 2012 zit. Thurn). In den USA ist diese konzeptionelle Zweiteilung weitgehend abgeschlossen (Salamon/MacTavish 2006: 46). Sozialdaten zu dem Campingplatz CCB liegen offiziell nicht vor.
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Die Zahl entspricht den Schätzungen der interviewten Bewohner_innen. Markus Müller konnte hierzu keine genaue Angabe machen. Er schätzt sie auf 10% der Gesamtbewohner_innenschaft. Am Eingang des CCB befinden sich 85 Briefkästen, die ungefähr auf die Zahl der festen Meldeadressen schließen lassen.
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Abbildung. 6: Geographische LOR-Analyseebene am Beispiel der Arbeitslosenquote für 2010 und die Lage des CCB (schwarz umrandet)
Quelle: eigene Darstellung, Datengrundlage: FisBroker 2013
Die Fläche des CCB wird von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung als »unbewohnte Fläche« deklariert und somit nicht als statistische Einheit, der Berliner Begriff ist hier LOR-Raum, erfasst (s. Abb. 6). Rechtlich ist das dauerhafte Wohnen auf dem Campingplatz diffizil. Geltende Bestimmungen sind z.T. widersprüchlich. Der Hessische Verwaltungsgerichtshof erklärte in seinem Urteil (9 TG 3588/90) vom 03.09.1991, dass Wohnwagen prinzipiell als geeignete Unterkünfte9 anzuerkennen sind. Gemäß dem Melderecht ist die Anmel9
»Unterkunft sind bei tatsächlicher Nutzung alle baulichen Anlagen oder Teile hiervon, die tatsächlich geeignet sind, vor den Unbilden der Witterung zu schützen und ein Mindestmaß an Privatheit einschließlich der Möglichkeit sicherzustellen, persönliche Gegenstände zu verwahren« (Berlit 2009: 462). Dazu zählen neben Wohnwagen auch Not- und Obdachlosenunterkünfte sowie Hotel- und Pensionszimmer (ebd.).
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dung des Erstwohnsitzes auf einem Campingplatz auch zulässig. Das zuständige Einwohnermeldeamt muss einen Erstwohnsitz eintragen, solange dieser über eine sendungsfähige Adresse verfügt. Dies gilt gemäß § 11 Abs. 5 MRRG auch für Wohnwagen (BMJV 2013a). Der § 10 der BauNVO zählt Campingplätze jedoch zu den Sondergebieten, die allein der Erholung dienen und schließt damit die Wohnnutzung aus (BMJV 2013b). Dies wurde durch entsprechende Urteile gerichtlich bestätigt.10 Auf Länderebene untersagen ebenfalls die meisten Campingplatzverordnungen einen dauerhaften Aufenthalt. Der Gestaltungsspielraum der Kommunen zeigt sich darin, dass sie eine formell illegale Nutzung dulden können. An dieser Stelle gibt es die Möglichkeit einer Einigung zwischen der Campingplatzleitung und der zuständigen Verwaltungsbehörde über eine Dauerwohnpraxis. Eine solche Duldung bietet Bewohner_innen keine Verweilsicherheit, denn sie kann jederzeit ohne Angabe von Gründen widerrufen werden.11 Im Fall des CCB dulden die Ämter die Wohnpraxis. Schätzungsweise 95% der Wohnanmeldungen verlaufen nach der Aussage von Markus Müller problemlos. Ablehnungen sind Einzelfälle. Für ALG-II-Empfänger_innen werden die Kosten der Unterkunft (KdU) von dem zuständigen JobCenter übernommen und in der Regel direkt an den Platzverwalter überwiesen.
»W IE EIN UMGEKIPPTES H OCHHAUS «. 12 L EBEN AUF DEM C ENTRAL C AMPING B ERLIN Da die Befragungen in den Wintermonaten durchgeführt wurden, sind ausschließlich Bewohner_innen des Platzes angetroffen worden. Diese leben mindestens seit sechs Monaten und maximal seit 14 Jahren fest auf dem Campingplatz. In den meisten Fällen sind es zwei bis drei Jahre. Zu ihnen zählen elf Arbeitslose, eine Auszubildende, zwei Rentner, ein Frührentner sowie sechs Berufstätige, zu denen wiederum eine Serviererin, eine Altenpflegerin, ein Tischler, ein Gerüstbauer und eine Beamtin gehören. Es wurde auch von zwei Studenten berichtet. Diese wurden jedoch nicht persönlich angetroffen.
10 Siehe z.B. OVG NRW, Urteil vom 23.10.2006 (7 A 4947/05) und VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 22. August 2012 (Az. 7 K 575/09) sowie VGH Baden Württemberg, Urteil vom 27. Juli 2012 (Az.: 8 S 233/11). 11 Die Möglichkeit eines Bestandsschutzes bleibt hier unberücksichtigt. 12 Aussage der Bewohnerin Helga.
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Die Lebensqualität auf dem CCB wird von seinen Bewohner_innen sehr unterschiedlich bewertet, was besonders deutlich an den Beurteilungen der gemeinschaftlich genutzten Sanitäranlage wird: »Also, es ist hier nicht die gepflegte Grünanlage mit dem absoluten High-TechWaschraum-Dusch-sanitäre-Anlage. Die sind dreckig, eklig oll. Also ich möchte da nicht immer freiwillig auf Klo gehen. […] Also das ist ganz schön, also wirklich schon unterste Schublade, was Campingplätze betrifft. Man kann jetzt nicht sagen, dass das hier ein guter Platz ist.« (Inge, Bewohnerin seit drei Jahren) »Und schön isset auch nicht. Äh, vorne: ’n Scheißhaus, wo nur die janzen Alk-Suffis da rauf jehn. Wenn du da rinjehst, musste erstmal ne halbe Stunde die Tür uff machen, dass de da mal frische Luft rinkrichst. Dann haben wa da vorne zwei Duschen, zwei für 320 13 Leute! […] Willste duschen jehn, dann musste da vorne Schlange stehn bis de drankommst. Und dann nimmt er noch ’nen Euro für sieben Minuten duschen. Dann haben se da drin ne Heizung eingebaut, dann sind da aber nur 13 Grad drin und dit is och nicht so warm bei diesem Wetter zu duschen. Dit is och nicht gut […] Wie jesacht, ick bin 51, ick hab dit och nicht mehr druff. Ick brauch den Luxus, wat man in der Wohnung als normal sieht, wa: Warmwasser aus der Wand, normalet Scheißhaus, ’ne Dusche. Dit is hier Luxus und dit fehlt mir.« (Egon, Bewohner seit ca. drei Jahren) »Hier hat sich ja auch vieles verbessert. […] Und hier hatten wa dit endlich mal, dass de och im Winter vorne duschen kannst, dass die Toiletten beide geheizt werden, weil in den ganzen Jahren zuvor war dit ja so, dass die Frauen bei den Herren im Winter uff Toilette gehen mussten. Jetzt ham wa dit endlich, dass beedes getrennt ist, och im Winter, dass die Heizung loft und dass man duschen kann im Winter, also ist optimal.« (Bärbel, Bewohnerin seit vier Jahren) »[Die] Toiletten wurden neu saniert alles, Duschen gehen. Man kann da im Winter duschen gehen, alles wat, wat vor zehn Jahre nicht war.« (Holger, Bewohner seit 14 Jahren)
In nahezu allen Gesprächen wird betont, dass der Winter besonders hart sei, was jedoch durch die Vorzüge im Sommer wieder ausgeglichen würde. So schwärmt der am längsten dort lebende, der inzwischen arbeitslose Holger:
13 Hierbei bezieht er sich auf die Bewohnerzahl im Sommer, die auch die Saisoncamper_innen umfasst.
226 | P AUL N EUPERT »Im Sommer: schön. Machste die Tür uff, alles schön grün, Liege raus, schön liegen. Man hat hier seine Ruhe. Keen stört hier wat. Man kann hier ’ne Party feiern und so weiter. Dit stört kein’, wat man inne Wohnung nicht machen kann, ne?«
Der Winter ist hingegen mit diversen alltäglichen Entbehrungen verbunden. Alle Befragten führten diesbezüglich an, dass aufgrund des abgestellten Wassers das benötigte Trinkwasser von einer zentralen Stelle geholt werden muss. Je nach Parzellenstandort bedeutet das bis zu 500 Meter Laufstrecke. Besonders für Ältere ist das ein Problem. Manche nutzen ein Auto oder einen Bollerwagen, um die Kanister zu transportieren. Die gleichen Distanzen gelten auch für den Gang zur Toilette oder zur Dusche: »Wir haben hier alles. Im Winter muss man – wie gesacht – Kanister tragen, okay. Im Winter ist 80 Meter bis zur Toilette, is’n bißchen unangenehm. […] Wir haben hier nen Pipi-Eimer für nachts und das reicht – so ’ne Chemie-Toilette. Ansonsten muss man 80 Meter bis zur Toilette, zur Dusche muss man 80 Meter, okay. Aber dafür ist’s günstiger. Wenn ich 600 Euro bezahle, hab ich alles zwei Türen weiter. So. Aber hier zahl ich 175 und lauf eben 80 Meter.« (Uwe, Bewohner seit drei Jahren)
Mehrfach wurden in dem Zusammenhang auch die weitgehend unbefestigten Wege erwähnt. Diese sind schlecht beleuchtet, werden nicht vom Schnee geräumt und verwandeln sich bei Regen oder »Tauwetter [in] eine Schlammwüste oder eine Seenplatte« (Helga, Bewohnerin seit neun Monaten). Die Äußerung von Uwe zeigt jedoch auch, dass die Widrigkeiten klar mit dem deutlich geringeren Mietpreis in einen kausalen Zusammenhang gebracht und in Hinblick auf den Kostenvorteil bereitwillig akzeptiert werden. Darauf wird im Folgenden noch genauer eingegangen. Während einige bezüglich der Ausstattung dem Betreiber Untätigkeit vorwerfen, meinen wiederum andere: »Es tut sich was.« Weitere Unannehmlichkeiten des Winters sind z.B. gefrierende Wäsche, durch Kälte lädierte Elektrogeräte oder die notwendige Befreiung des Vorzelts von der Schneelast. Die Wohneinheiten selbst waren in allen Fällen immer angemessen beheizt. Problematisch ist für viele das nächtliche Auswechseln der zum Heizen benötigten Gasflasche, was meist mit dem Verlassen des stetig auskühlenden Caravans verbunden ist. An einem Tag innerhalb des Befragungszeitraums ist bei mehreren Bewohner_innen die Gasversorgung in unregelmäßigen Abständen ausgefallen. Sie warfen daraufhin dem Gasflaschen-Zulieferer vor, ein nicht kältetaugliches Bhutan-Propan-Gemisch anstelle von reinem Propan abgefüllt zu haben.
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Wichtig ist auf dem CCB eine gute Wärmedämmung. In letzter Zeit haben einige Bewohner_innen begonnen, ihren Wohnwagen zu isolieren. Teilweise ist dieser dann unter der Verschalung kaum noch als solcher zu erkennen. Ebenso präsentiert sich auch die Qualität des individuellen Wohnraums sehr unterschiedlich: Die meisten haben lediglich einen durchschnittlichen, einwandigen 20 m2Wohnwagen mit Vorzelt. In manchen Fällen handelt es sich um eine kleine, alte und recht muffige Wohneinheit auf einer ungenutzt wirkenden oder gar unordentlichen Parzelle. Einige sind nicht ausreichend abgedichtet gegen Kälte und Nässe. Eine Frau klagt über Wasserschäden und Schimmelausbreitung und verweist auf ihr chronisches Asthma. Zwei Paare verfügen hingegen über eine vergleichsweise luxuriöse Doppel- oder gar Dreierparzelle mit bis zu 400 m2 Gesamtfläche, auf der dann ein bis zwei Caravans, Holzhütten, Schuppen und Vorzelte ihren Platz finden. Besonders die sogenannten »Aussteiger_innen« (hierzu siehe unten) bauen ihren Besitz immer weiter aus und präsentieren diesen dann nicht ohne Stolz: »Also wir haben dit schon mal ausgerechnet, wat wir allet hier so haben: wir haben 16 Zimmer, hatten wa, und irgendwie 90 Quadratmeter Wohnfläche, 7 Toiletten und ähh [lacht]« »…’ne Dusche, ne Badewanne, weeß ick wie viel’ Küchen.« (Fritz und Lisa, Bewohner_in seit fünf Jahren)
Geplant haben die beiden zudem die Installation einer großen Solarzelle auf dem Dach zur autarken Stromversorgung. Zusätzliche Fertigteil-Gartenlauben sind auf dem CCB bereits vereinzelt errichtet worden. Entsprechende Bautätigkeiten werden von dem Betreiber toleriert, solange sie nur aus Holz und einfach abzutragen sind. Dennoch gibt es hin und wieder Verstöße gegen diese Auflage. Die Enge und die überwiegend spartanische Ausstattung des »Campinglebens« stellt für die wenigsten ein Problem dar. Für manche macht dies sogar den gewissen Reiz aus: »Viele sagen, wie kannst du nur? Ich muss nicht immer alles haben… ist vielleicht ’ne [Frage], wat du für Ansprüche hast. Man kann auch mit den einfachsten Dingen leben. […] Ich brauch dieses ›Gar-Nix-Haben‹ und ›Alles-Haben‹, ja. …dann schätz du dit mal auch. Für viele ist es so, es ist selbstverständlich…« (Ole)
Die Problematik des begrenzten Stauraums ist aus der anglo-amerikanischen Literatur bekannt (Hurley 2001: 230), auch wenn die dortigen mobile homes in
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der Regel deutlich geräumiger sind14. Sie offenbart sich gerade dann, wenn der Auszug aus der Wohnung kurz bevor steht. Es ist dann notwendig, seinen materiellen Besitz erheblich zu reduzieren. Vieles muss verkauft oder verschenkt werden, was für die meisten einen markanten Lebensstilwandel bedeutet. Ein wesentlicher Unterschied zu den US-Verhältnissen besteht aufgrund der verschiedenen klimatischen Verhältnisse. Besonders im subtropisch geprägten Süden des Landes (Sunbelt) sind die Bewohner_innen deutlich seltener mit den hiesigen Problemen des kalten Winters konfrontiert: keine verschneiten Wege, keine gefrierenden Wasserleitungen und somit ganzjährig fließendes Wasser auf der Parzelle. Andererseits erschweren dort sommerliche Hitzewellen und Hurrikane den Alltag im Wohnwagen (Hurley 2001: 244f.). Im Norden treten wiederum ähnliche wetterbedingte Widrigkeiten wie auf dem CCB in Berlin auf (Aman/Yarnal 2010: 9). Die campingplatzeigene Infrastruktur ist in den Vereinigten Staaten sehr unterschiedlich ausgeprägt. Obwohl es dort auch sehr kleine und schlecht ausgestattete Anlagen gibt, zeigt eine umfassende Erhebung aus dem Jahr 1972, dass dort 79% aller Plätze ein Gemeinschaftshaus, 61% einen Swimming Pool, 89% einen Waschsalon, 11% eine Sauna und 9% einen Golfplatz unterhalten (Wehrly 1972: 26f.). Im Vergleich dazu erscheint die Ausstattung des CCB sehr schlicht. Außer den Sanitäranlagen und einem alten Spielplatz (s. Abb. 23) gibt es keinerlei Einrichtungen, die alle nutzen (können). Es gibt keine Treffpunkte, Sportanlagen oder Parkbänke – nur Parzellen und Wege. Ebenso unterschiedlich wie die materielle Ausstattung bewerten die Bewohner_innen des Central Camping Berlin auch die zwischenmenschlichen Beziehungen und den Gemeinschaftssinn auf dem Platz. Die Aussage des seit drei Jahren dort lebenden, derzeit arbeitslosen Ole fasst dies treffend zusammen: »Diese soziale Ader ist hier besser als inner Wohnung […] Wir müssen ja zusammenhalten, weil wir sitzen ja in einem Boot. Jeder profitiert von dem andern, ja. […] Manchmal geht dit noch nicht mal um dit Materielle an sich, sondern um die Diskussion, die man führt. Wenn man hier mit der Zeit wohnt, dann weißte immer, mit dem kann ick mich mal über’n gewisses Thema unterhalten. Dann brauchste mal jemand, wo de mal Ansätze und wichtige Fragen und Antworten brauchst, denn… also dit is hier schon so, dass man hier
14 Die Durchschnittsgröße des US-amerikanischen mobile home beträgt 102 m2 (USCB 2011c). Dabei variiert die Grundfläche sehr stark. Ein Großteil sind Single-wide coaches (ca. 57%). Sie umfassen konventionelle Wohnwagen und einzeln transportierbare Module (bis zu 150m2). Double-wide coaches (ca. 40%, s. Abb. 4) bestehen aus zwei und trible-wide coaches aus drei oder mehr Einzelmodulen (ca. 2%, bis zu 370m2) (USCB 2013).
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auch aussortiert. Jibt’s ja auch Leute, mit den’ kann ick nur… nix ernstes machen. Aber hier siehste dis vielleicht eher als inner Wohnung… is meine Meinung. Ja? Weil ähm… wenn de hier rausgehst dann triffste hier immer deine Nachbarn. Es ist einfach so. Und es kommt zur Unterhaltung [lacht]. Du kannst ja nicht vorbei gehen und sagen ‚Tschüss und auf Wiedersehn’. […] Also dis hab ich in der Wohnung nie gehabt. Und dis ist auch das schöne an der Sache hier. Aber, es gibt hier auch Fälle der Verwahrlosung. Dit kann man auch nicht von der Hand weisen. […] Das ist dann schon so, dass man sagt, der braucht unbedingt Hilfe… Ich kenn auch ’nen sehr guten Freund von mir, der ist hier richtig abgesackt. Alkohol ist auch zum Beispiel nicht so zu unterschätzen. […] Du stehst ja morgens auf und hast keine Lust oder… oder du schläfst gleich weiter und stehst gar nich uff.«
Fast alle Befragten bestätigten, dass der hier beschriebene Zusammenhalt und die Hilfsbereitschaft auf dem Campingplatz im Vergleich zu einem herkömmlichen Mietshaus deutlich besser ausgeprägt sind.15 Das liegt zum einen daran, dass man sich zwangsläufig regelmäßig auf den Wegen trifft – beim Betreten oder Verlassen des Platzes oder beim Wasserholen – und dann miteinander redet. Zum anderen ist man für diverse Tätigkeiten auf fremde Hilfe angewiesen. Die wenigsten Bewohner_innen haben aber ausreichend Geld, um eine Fachkraft zu bezahlen. Daher ist es vorteilhaft, dass sich die individuellen Fähigkeiten gut ergänzen: »Man kennt seine Nachbarn und… jeder hilft hier jedem und dit ist dit Optimale hier. Wir ham hier allet: Wir ham Elektriker, wir haben Maurer, wir haben Fliesenleger, wir ham Dachdecker, wir ham sämtliche Leute…« (Rüdiger, Bewohner seit vier Jahren)
Inge sagt in dem Zusammenhang, dass sie auf dem Platz gelernt habe, aktiv um Hilfe zu bitten, und sich durch Abgucken bei den häufigen Ausbauten und Reparaturen umfassende handwerkliche Fähigkeiten angeeignet hat. Diese nachbarschaftlichen Freundschaften erzeugen darüber hinaus auch Sicherheit. »Jeder passt auf jeden auf.« (Micha, Bewohner seit ca. sechs Monaten). Dies gilt auch für elterliche Sorgen. So sagt Erwin, dass er diese Gemeinschaft sehr schätzt, da er seine Töchter, die ihn im Sommer oft besuchen, bedenkenlos draußen spielen
15 Die US-Studie von Edwards et al. (1973) zeigt ähnliches auf: Die nachbarschaftlichen Bindungen in Wohnwagen-Siedlungen sind im Vergleich zu Ein-Familien-HausSiedlungen deutlich besser ausgeprägt. Andererseits sind die Bewohner_innen von mobile home parks weniger als halb so häufig in formelle Organisationsstrukturen außerhalb ihrer Anlage eingebunden.
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lassen könne, denn die anderen passten ja mit auf.16 Dieser Sicherheitsaspekt bezieht sich auch auf Einbruch und Diebstahl – ein auf dem CCB relevantes Problem, da Wohnwagen recht einfach aufzubrechen sind. Hier erzeugt die Gruppenzugehörigkeit ein für viele notwendiges Schutzgefühl. Andere wiederum verlassen sich diesbezüglich auf ihre Hunde, von denen es im Winter gefühlt so viele gibt wie Menschen. So oft wie der nachbarschaftliche Zusammenhalt gelobt wird, so oft werden – wie auch in Oles Schilderung – die Problemlagen mancher Bewohner_innen gesehen: Alkoholismus, Drogensucht, Verwahrlosung und Isolation. Micha sagt, dass er sich auf ca. 10 bis 15 Personen immer verlassen könne, er den »Alkoholiker« von Gegenüber aber schon seit Tagen nicht mehr gesehen habe und nicht wüsste, ob dieser überhaupt noch lebe. Von in Wohnwagen Verstorbenen ist in Interviews durchaus berichtet worden. Eine andere, eher vereinsamte Perspektive schildert Egon: »Nee, der Campingplatz is nicht schön. Also ick hab mir wat anderes vorgestellt. Ein bisschen mehr Harmonie, dass man sich mit de Nachbarn jut versteht. Dass man auch mal so Party macht mit mehreren… aber ist überhaupt nicht der Fall. […] Klar, dit jibts vereinzelt mal, dass zweie, dreie mal miteinander klarkommen. Also ich komm vom Haupteingang bis zum Ende mit zwei Leute – von da bis hier her – klar. Mit zwei Leute! Und dit hat och schon wat zu sagen.« (Egon, Bewohner seit zwei Jahren und acht Monaten) »So, ick hab och jesehn wie ick mich verändert habe. Ick bin im Grunde ’n sauberer Typ, wat meine Wohnung betrifft und wat mich betrifft und kieck dir dit hier an! Aber ick mach och nix mehr, weil ick nur noch in meinem Kopp habe: Weg, weg, weg, weg, weg!« (Ebd.)
Damit wird klar, die Einbindung des Einzelnen in das soziale CCB-Gefüge ist sehr unterschiedlich ausgeprägt. Der Campingplatz als solcher bietet diesbezüglich kein vernetzendes Angebot. Es fehlt an Gemeinschaftsräumen. Der Bar »Kiosk« ist aufgrund fehlender Konzessionen der reguläre Betrieb untersagt worden. Früher gab es dort einen erfolgreichen Dartverein. Gemeinsame Veranstaltungen finden heute selten statt und sind stets selbstorganisiert. Dazu gehören ein Osterfeuer, das Kinderfest, eine Sylvesterparty und vereinzelt Geburtstagsfeiern.
16 Anders als in den USA sind Kinder als ganzjährige Bewohner_innen auf einem Campingplatz rechtlich nicht erlaubt. So ist von Fällen berichtet worden, bei denen das Jugendamt eingeschritten ist.
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Gleichzeitig kommt es häufig auch zu zwischenmenschlichen Konflikten, die in einigen Fällen sogar in Gewalt enden. So sagen vier Interviewpartner_innen unabhängig voneinander, dass die Polizei »regelmäßig« oder »oft« auf dem Platz sei. Dabei geht es laut Müller zwar meist um Routinekontrollen eines Kontaktbereichsbeamten, aber eben häufig auch um Streitschlichtung. Ausreichend Konfliktpotential scheint auf dem Platz vorhanden zu sein. Zum einen treffen hier gerade im Sommer eher spießbürgerlich anmutende Campingvorstellungen von wohlhabenden Saisonurlauber_innen auf recht genügsam-pragmatische Lebensvorstellungen von zum Teil gesellschaftlich marginalisierten Dauerbewohner_innen. Zum anderen sind auch die Dauercamper_innen heterogen und haben verschiedene Ordnungs- und Devianzvorstellungen. Die Menschen wohnen jedoch auf dem Platz eng zusammen, nutzen gemeinschaftlich die Sanitäranlage und können sich aufgrund des dörflichen Charakters kaum aus dem Weg gehen. Yvonne (Bewohnerin seit fünf Jahren) erklärt das so: »[Der] Tratsch und Klatsch ist besonders schlimm und führt dann meist zum Krieg.« Besonders die Alkoholabhängigkeit vieler Bewohner_innen steigert dieses Potential, doch für Yvonne ist das auch eine Form der Unterhaltung: »Hier haste Krimi. Hier brauchste kein Fernsehen. [...] Hier erlebste wat.« Ähnlich beschreibt es auch Helga: »Also wie so ein umgekipptes Hochhaus: Es gibt Reibereien. Es gibt Vetternwirtschaft. Also Lindenstraße hätten se auch hier drehen können. [lacht]« Dabei wird gerade die zunehmende Tendenz des Betreibers, auch soziale »Problemfälle« aufzunehmen zum Reibungspunkt: »Und die, die unfreiwillig [hier] sind – jetzt, Assi hört sich immer so… also die sind halt sozial schwach, ne – und dementsprechend die interessiert dis nicht, die wohnen da, die schmeißen ihren Müll rum und machen nix, ja. Kann man nix machen und muss man mit leben, aber ich bin froh, dass ich hier unten bin. Hier ist schön: ruhig, nette Nachbarn…« (Kjeld, Bewohner seit vier bis fünf Jahren)
Ähnliche Bemerkungen werden vereinzelt geäußert. Interessanterweise werden dabei die Konflikte immer an anderer Stelle verortet. 17 So sagt z.B. Bärbel: »Also, ick muss janz ehrlich sagen, normalerweise kracht dit hier unten ja nich. […]
17 Eine geplante Aufteilung des Platzes gibt es – nach Aussage von Markus Müller – nicht. Er ist »komplett gemischt« und die Parzellenvergabe erfolgt abhängig davon, was jeweils frei ist. In den USA ist eine interne Zonierung, z.B. in Gebiete für Rentner_innen oder Familien, durchaus üblich (MacTavish/Salamon 2001: 492, Hurley 2001, 240f.).
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Krachen tut es eigentlich immer meistens da oben.« Markus Müller rechtfertigt seine umstrittene Aufnahmepraxis so: »Ich muss auch sagen, es fällt mir auch schwer. Wir haben letztes Jahr, hab ich zweie aufgenommen, Hartz-IV-Empfänger, stark alkoholisierte, hat man auch schon gesehen, das funktioniert wahrscheinlich nicht, aber ich hab ein Problem, wenn ich ’nen Obdachlosen vor mir habe, also dazustehen habe, der mir schon zeigt vom Amt, ich hab ’ne Übernahmeerklärung – und es sind über -16° […] im Februar letzten Jahres – und ich sag denn, nur weil du Alkoholiker bist, schick ich dich raus und ich hab dann nachher sein Todesurteil unterschrieben, weil er unter der nächsten Brücke einschläft und nicht mehr aufwacht… kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren. Deswegen hab ich auch diese zwei aufjenommen […] – hab das Geld vom Amt auch regelmäßig gekriegt, davon mal [un]abhängig – aber die ham wirklich intensiv getrunken. […] Wir sind da manchmal och zu sozial – gar keene Frage – was och zum Nachteil der anderen Camper ist.«
Zusammenfassend wird deutlich, dass das Leben auf dem Central Camping Berlin von seinen Bewohner_innen sehr ambivalent und z.T. widersprüchlich bewertet wird. Dies gilt sowohl für die Wohnqualität aufgrund der baulichen Ausstattung als auch für das Gemeinschaftsleben vor Ort. Während ersteres in Bezug auf die eigenen »vier Wände« stark von den verfügbaren finanziellen Mitteln und dem handwerklichen Können abhängt, besteht bei der Gesamteinschätzung des Campingplatzes offenbar eine Abhängigkeit von mindestens drei Parametern: Wohndauer, soziale Teilhabe und Freiwilligkeit. Bewohner_innen, die schon seit langem auf dem Platz wohnen, die gut in der cliquenhaft organisierten Gemeinschaftsstruktur integriert sind und den Platz als »Aussteiger_in« in freier Entscheidung als Wohnort gewählt haben, empfinden die Wohnbedingungen als deutlich besser als jene, auf die das nicht zutrifft. Auch MacTavish/Salamon (2001) zeigen am Beispiel des River Terrace Mobile Home Park, dass ein signifikanter Zusammenhang zwischen Wohndauer und sozialer Integration bzw. Isolation der Bewohner_innen besteht. So gibt es Bewohner_innen, die mit ihrer Situation unzufrieden sind, und andere, die den Platz nicht verlassen wollen. Besonders das dritte Kriterium der Freiwilligkeit macht deutlich, warum die Frage nach den Gründen für den letzten Umzug wichtig ist. Welche Rolle spielt soziale Verdrängung? Darum geht es im folgenden Abschnitt.
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Abbildungen 7-24: CCB, Impressionen Quelle: alle Fotos © Paul Neupert
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»D AS IST [ DIE ] Z UKUNFT , JUNGER M ANN !« 18 D AUERCAMPING ALS SOZI ALE V ERDRÄNGUNGS ERSCHEINUNG ? Die Frage nach den Gründen der Bewohner_innen, sich für ein Leben auf dem Campingplatz zu entscheiden, wurde auch dem Betreiber Markus Müller gestellt. Dieser stellte daraufhin eine Motivklassifikation auf, die gut mit den Erklärungen der CCB-Bewohner_innen übereinstimmt: 1. Geldmangel – Menschen, die sich aufgrund ihrer geringen finanziellen Mittel
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für dieses Leben entscheiden (müssen): arbeitslose ALG-II-Bezieher_innen sowie Rentner_innen, deren Einkünfte nach Abzug der Miete nicht mehr für außerplanmäßige Einkäufe oder den Urlaub reichen. Aber auch Studierende, die keinen bezahlbaren Wohnraum in der Nähe der Universität finden. Flucht – Leute, die »die Stadt« wegen der lauten Nachbarn_innen, wegen des störenden Straßenlärms oder wegen der als bedrohlich empfundenen Kulturvielfalt verlassen. Das umfasst auch jene, die sich nach dem Natur- und Urlaubsgefühl, nach der Ruhe und dem »einfachen Leben« sehnen (»Aussteiger_innen«). Geselligkeit – Manche kommen gezielt wegen des Gemeinschaftsgefühls. Sie verlassen ihre Wohnung in der Stadt, weil ihnen das Umfeld als zu anonym missfällt. Meist sind es dann Freunde oder Bekannte, die schon auf dem Platz leben und sie von dessen eher dörflichen Charakter überzeugen. Alle diese Gründe sind in den Bewohnerinterviews genannt und teilweise mit Lebensgeschichten belegt worden. Das zeigt, dass Markus Müller die Lebenssituationen seiner Pächter_innen und Mieter_innen recht treffend einschätzt. Zu erweitern wäre diese Liste noch um die folgenden drei Motive: Freiheit – Dabei geht es in erster Linie um die individuelle Verhaltensfreiheit aufgrund geringer Reglementierung devianten Verhaltens: »Hier kannste feiern wie de willst.«, »Die Leute dürfen machen was sie wollen.« (beides: Helga). »Diese Freiheit haste nirgends.« (Rüdiger) Tierliebe – Drei Befragte gaben an, dass sie auf den Campingplatz gezogen sind, weil das Umfeld deutlich besser für ihre Katzen oder Hunde sei als die beengende Stadtwohnung. Helga gab an, wegen des Bellens ihrer Hunde einen Rechtsstreit mit ihrem Wohnungsvermieter geführt zu haben, den sie sogar gewonnen habe. Anschließend sei sie dennoch ausgezogen – freiwillig.
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7. »Eigentum« – Für manche scheint der Wohnwagen auf der Gartenparzelle
ein Ersatz für das unmöglich zu finanzierende Eigenheim zu sein 19: »Also… Für mich is dit immer noch so: In Berlin, da ja Berlin so ne Metropole ist, ’n Grundstück zu besitzen, find ick schon ’n Privileg irgendwie. Also ich besitz ja nich. Ich bin ja Pächter, aber im Grunde genommen bist du ja drauf.« (Ole) Bei fast allen Antworten überlagern sich zwei oder gar mehrere der sechs genannten Motivationsklassen. Selten trifft ausschließlich ein Argument zu. Auffällig ist dabei, dass bis auf einen Fall immer jene Gründe vorangestellt werden, die die Freiwilligkeit ihrer Entscheidung vermuten lassen, besonders die Punkte 2, 3 und 4 werden oft miteinander kombiniert. Erst im späteren Gesprächsverlauf – meist aber auf die konkrete Frage, welche Rolle der Faktor Geld für ihre Entscheidung eingenommen hat – ist dann bestätigt worden, dass auch dieser Aspekt relevant war. So sagt zum Beispiel der inzwischen arbeitslose 60-jährige Bäcker- und Konditormeister Holger, dass er ursprünglich wegen der schönen Natur und dem deutlich kürzeren Arbeitsweg umgezogen ist, führt dann aber aus: »Und dann hab ick, ham wa ’ne Wohnung jehabt, die hat ja och schon damals 800 Mark, 800 D-Mark damals jekostet und hier war dit natürlich günstiger, [Hier] … hab ick nur monatliche Unkosten von 150 jehabt. Also ham wa uns jeeinicht, dass wa hier ’n janzen Jahr rausziehn.«
Das Ersparnis lag somit bei ihm – als er noch berufstätig war – bei über 80%. Heute zahlen die befragten Bewohner_innen je nach Bezugsjahr, Lage und Größe ihrer Parzelle sowie der jeweiligen Übertragungsform zwischen 130 und 512 €. Die Preise werden bei Vertragsabschluss an die jährlich steigenden Pachtgebühren des eigentlichen Eigentümers angepasst. Alte Verträge sind günstiger. Große Parzellen und Grundstücke, die näher am Sanitärgebäude bzw. weiter entfernt von den Bahnschienen liegen, sind grundsätzlich etwas teurer.
19 Homeownership ist in den USA als Bestandteil des American Dream eine wesentliche Motivation für das Leben im Wohnwagen (Salamon/MacTavish 2006: 48, 59). Die Autoren zeigen aber auch, dass das dort gängige »rent-to-own«-Prinzip, wonach nach einer befristeten Mietzahlungsdauer (ca. 5 Jahre) der Wohnwagen in den Besitz der Bewohner_innen übergeht, letztlich nur selten zum erhofften Eigentümerwechsel führt (ebd.: 51). Zu Wohneigentum in Europa vgl. Behring/Helbrecht 2002; Helbrecht/Geilenkeuser 2010.
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Zudem wird noch unterschieden zwischen Pacht und Miete. Der überwiegende Teil (lt. Müller: 95%) pachtet den Boden und wohnt im eigenen Wohnwagen. Hierfür liegt der Preis bei relativ günstigen 1 €/m2. Damit zahlen diese Bewohner_innen monatlich 130-175 € für eine Einzelparzelle oder 230-260 € für eine Doppelparzelle. Hinzu kommen 100-200 € für Gas und 20-30 € Wasserumlage im Monat, ersteres gilt jedoch nur für den Winter. Der Strom ist auf dem CCB mit 0,51 €/kWh mehr als doppelt so teuer wie der Preis des Berliner Grundversorgers20. Damit liegen die Kosten hierfür bei monatlich ca. 40-80 €. Viele haben bereits ihre Lichtquellen auf energiesparende Leuchtdioden umgestellt. ALG-II-Empfänger_innen mieten in der Regel einen fertig eingerichteten Wohnwagen inklusive der dazugehörigen Parzelle 21. Laut Müller machen sie ca. die Hälfte aller auf dem CCB ganzjährig Lebenden aus. Das JobCenter zahlt zwischen 305 € und 378 € (warm) für eine Person bzw. 463 € (warm) für zwei Personen im Monat. Gasflaschen zum Kochen und Heizen werden dann von Markus Müller kostenlos gestellt. Damit liegen die Mieten 1% bis 25% unter den für Berlin derzeit festgelegten KdU-Obergrenzen für ALG-II-Bezieher_innen (siehe Grotefendt et al. 2016 in diesem Band). Im Fall des vor einem Jahr eingezogenen Benny entspricht die Miete exakt dem damals üblichen Höchstbetrag von 378 € (ebd.). Lediglich Helga hat als einzige Arbeitslose ihren eigenen Caravan und überweist deshalb nur 298 € (warm). Ein direkter Vergleich zu Berliner Wohnungsmietverhältnissen ist schwierig, dennoch ist klar, dass es gegenüber den Vergleichsmieten des Berliner Mietspiegels von durchschnittlich 5,526,81 €/m2 (einfache bis mittlere Wohnlage, unter 40 m2) ein großes Einsparpotential gibt (vgl. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung 2013). Noch deutlicher wird dies im Vergleich mit den Neuvertragsmieten (vgl. Immobilienverband Deutschland 2011).
20 Markus Müller rechtfertigt dies damit, dass er so – wie auf Campingplätzen so üblich – sämtliche weiteren Nebenkosten (Abfall, Wartung etc.), die er nicht extra abrechnet, gegenfinanziert. 21 In den USA ist das Verfahren des Wohnwagenmietens nicht unüblich. 22,5% aller mobile homes gelten als »Renter-Occupied« (USCB 2013). In der Regel sind sie Bestandteil der von Salamon/MacTavish (2006) als rental mobile-home communities klassifizierten Wohnwagensiedlungen, bei denen sowohl Parzellen als auch Wohneinheiten dem_r Platzverwalter_in gehören. Sie liegen vorwiegend am Rand kleiner Städte, sind meist schlechter ausgestattet als die Mehrheit der land-lease communities und werden von besonders armen Bevölkerungsschichten bewohnt (ebd.: 46).
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Manche Befragte geben an, dass dieser Mietkostenvorteil für sie nicht relevant gewesen sei, sehen aber dessen Bedeutung für andere Bewohner_innen. So sagt z.B. die inzwischen arbeitslose Helga es gäbe, »viele, die den Wagen und dit ganze […] vom Arbeitsamt finanziert kriegen, weil se ja nicht irgendwie ’ne Wohnung kriegen, deswegen. Ich glaub nicht, dass da alle freiwillig wohnen […] wie gesagt, ich hab mir dat freiwillig ausgesucht. Ich hab mich da ganz bewusst für entschieden.«
Egon, der viele Jahre in Neukölln gewohnt und gearbeitet hat, bis ihn ein Motorradunfall in die Berufsunfähigkeit zwang, bestätigt diese Einschätzung: »Wat ick hier mitbekommen habe – ick kenn hier viele Leute durch sehen und mit sprechen, der größte Teil is wirklich, die inne Stadt oder im normalen Leben nicht mehr klar kommen, die keene Wohnung bekommen, weil se Mietschulden haben in andere Jesellschaften. Dit is wirklich der letzte Ausweg für die Leute. Deshalb hat der och so viele Hartz-IV-Empfänger.«
Später erklärt er, dass er bereits seit einem Dreivierteljahr auf der Wohnungssuche ist, aber vermutlich aus ähnlichen Gründen keine Wohnung bekommt: »Weil ick auch ein Schufa-Eintrag habe. Weil ick war auch selbstständig, hab Kneipen jehabt und da stand ick inne Schufa denn. Aber dit is nur ’n Ding wat jeder hat, heutzutage. Einen Kredit ufjenom’ und nich richtig zurückgezahlt, nich. [Schon] steht man ja inne Schufa. Aber mein Pluspunkt ist – denk ick mir mal, dit sagen mir alle – wenn de nich inne Schufa stehst wegen Mietnomaden22 und so, denn haste noch Chancen mit ’ne Wohnung, aber dit is och schon so schwer, wenn de inne Schufa stehst […] Aber heutzutage kannste ja sagen, is ja schon jeder dritte, vierte schon verschuldet in diesem Staat. Geht halt nicht anders.«
Hier verschätzt sich Egon, denn laut SchuldnerAtlas 2013 beträgt die Schuldnerquote in Deutschland 9,81% (Creditreform Wirtschaftsforschung 2013: 4). Gleichwohl macht er deutlich, dass Schulden kein gesellschaftliches Randphänomen darstellen und besonders Mietschulden den Zugang zum freien Wohnungsmarkt merklich einschränken. Bei Bewerbungen sind sie oft ein Ablehnungsgrund. Markus Müller verlangt bei Einzug hingegen keine Schufa-
22 Darunter versteht Egon Menschen, die ohne die Miete zu zahlen bzw. ungeachtet der Kündigungsfrist ausziehen und sich auf diese Weise verschulden.
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Auskunft. Lange Zeit wurde jede_r aufgenommen. Seit kurzem fordert er zumindest einen Nachweis über Mietschuldenfreiheit, denn zu oft sind Bewohner_innen spontan und ohne zu zahlen abgereist. Das ausstehende Geld »kriegen Sie nie wieder rein.« (Müller) Eine weitere Perspektive auf das Problem wird aus dem Gespräch mit Uwe deutlich. Als Baggerführer hat er, unterbrochen von Phasen der Arbeitslosigkeit, in Hamburg und auf den Kanarischen Inseln gearbeitet, bevor er mit seiner Frau nach Berlin gekommen ist und die beiden sich auf dem CCB angemeldet haben. Noch immer ist die Joblage für ihn unbeständig. Wenn er Arbeit findet, ist er auf Montage in anderen Städten. Die Fahrtkosten hat er dann vorgestreckt. Die letzten drei Auftraggeber-Firmen sind während seiner Tätigkeit Bankrott gegangen. Sein Gehalt hat er trotz Klage mittels seines Anwalts bis heute nicht erhalten. Auch er sagt, dass er gerne auf dem Campingplatz lebt, weil er dort Ruhe und Natur in Stadtnähe vorfindet, antwortet dann aber auf die Frage, ob er seine Parzelle gegen eine Wohnung eintauschen würde: »Würd’ ich schon, weil... zumindest Winter über würde ich das schon eintauschen, wenn bezahlbarer Wohnraum ist, aber eine kleine 2-Raum-Wohnung mit 40 Quadratmeter kostet heute schon 450 – zur Zeit zahle ich auch noch Nebenkosten – bin ich bei 650 Euro. Kann ich mir nicht leisten. Das JobCenter zahlt – was zahlen die noch hier? – 4-und-63 zahlen die inklusive Heizkosten. Dafür kriegst du keine 2-Raum-Wohnung. Unmöglich! Und wenn überhaupt, dann im tiefsten Osten in Berlin, fünfte Etage mit Kohleofen vielleicht, Einfachfensterverglasung so richtig die uralten Abbruchhäuser, die kriegste vielleicht noch für den Preis. Also lebenswerten bezahlbaren Wohnraum für den Preis nicht.«
Auch dieser Gesprächsauszug zeigt, das Leben auf dem CCB wird zuerst mit dem Freiwilligkeit suggerierenden Motiv 2 begründet. Erst auf die Frage, ob er wieder in eine Wohnung ziehen würde, präsentiert sich die damit verbundene Mietenproblematik. Gleichzeitig wird hier etwas anderes sehr deutlich: Uwe ist nicht bereit, die angestammte Gegend zu verlassen. Andere Bewohner_innen des CCB sehen dies ähnlich. Die meisten kommen aus dem Bezirk TempelhofSchöneberg, ein Teil ist hier aufgewachsen, so wie Kalle, der als Betonsanierer seit August 2012 ebenfalls auf sein letztes Gehalt wartet und das »teure« Lichtenrade nicht verlassen möchte, weil er unweit seine kranke Mutter pflegt. Der »Osten« von Berlin erscheint indes zu peripher und qualitativ nicht lebenswert. Verena spitzt diesen Gedanken noch einmal zu: »Es gibt in Berlin natürlich auch genug viele Ein-Zimmer-Wohnungen, aber natürlich, es kommt immer auf den Bezirk drauf an, ja. Es gibt natürlich jetzt zentral in Berlin Ein-
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Zimmer-Wohnungen sehr teuer und jetzt außerhalb von Berlin wie Hellersdorf und Marzahn gibt’s die natürlich günstiger. Aber wer will schon in Hellersdorf oder Marzahn wohnen?«
In ihrer Vorstellung gehört der Randbezirk Marzahn-Hellersdorf, der noch Wohnungen zu vergleichbar günstigen Mieten anbietet und wohin deshalb zunehmend Arbeitslose, Rentner_innen, Alleinerziehende und Migrantenfamilien aus der Innenstadt ziehen (vgl. Schulze, Der Tagesspiegel 2011), nicht mehr zu Berlin ̶ er liegt »außerhalb«. Nun gibt es sicher nachvollziehbare Gründe, weshalb ein solcher Wohnortwechsel nicht erstrebenswert wäre, doch die befürchteten »Abbruchhäuser« mit Kohleöfen gibt es in dem Plattenbau-Bezirk nicht und auch die Fahrtzeit zum Stadtzentrum entspricht ungefähr jener aus Lichtenrade. Die individuellen Wahrnehmungen der Berliner Distanzen und Wohnverhältnisse sind an der Stelle nicht zutreffend. Micha ist der einzige Bewohner, der das Gespräch sofort auf seine finanzielle Not, die Wohnungsnot in Berlin und Altersarmut lenkt. Bis zum Ruhestand hat er in einer großen Wohnung am Tempelhofer Damm (Bezirk TempelhofSchöneberg) gewohnt. Seit ca. sechs Monaten wohnt er in seinem eigenen Wohnwagen auf dem Campingplatz: »Ich bin Rentner, letztes Jahr geworden. [Von] meine Mini-Rente kann ich keine Miete mehr bezahlen. Das heißt: hier wohnen. […] 750 Euro, was ist denn das? Dann mußt du selber hier Platz bezahlen und jetzt im Winter Heizung, immer wieder Gas neu kaufen…«
Anschließend erzählt er verärgert, dass er 25 Jahre lang als LKW-Fahrer für eine Spedition gearbeitet hat, jetzt mit seiner 750-Euro-Rente nur drei Euro über der Bemessungsgrenze zum Existenzminimum liegt und damit keinen Anspruch auf die staatliche »Grundsicherung im Alter« habe. »Die Idee war schon… ich habe schon vorher überlegt, bevor ich in Rente gegangen bin: Was mache ich jetzt? Naja. Diese Grundsicherungsrente, das war aber… da musste ich schon vorher ganzes Bares, was ich gespart hatte… alles was ich hatte, musste ich erstmal verbrauchen. So ist das Gesetz. So, dann kommst du da mit massenweise Unterlagen, was die alles da verlangen. Das ist schon nicht möglich, weißt du? Da geht’s um Bankkontos oder [unverständlich]… so ’ne Scheiße und naja, das war einzige Lösung, anderes geht nicht.« (Micha)
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Schließlich spricht er über seine ehemalige Wohnung, deren Miete zuletzt zwei Drittel seiner Einkünfte entsprach und verknüpft dabei seine aktuelle Lage mit der innerstädtischen sozialen Verdrängung: »Ja logisch, die Mieten steigen ohne Ende. Es ist Wahnsinn. Mein Haus, wo ich gewohnt habe – hier am Tempelhofer Damm – das war schöne Gegend […] und äh, solange die alte Besitzer da war – Privatperson – war alles in Ordnung und irgendwie hat sich das geändert: Neue Besitzer und neue… und jetzt hat das irgendwie ein Engländer, hat das gekauft und für ihn ist das scheißegal. Der sitzt irgendwo in London und die Mieten steigen. Das kann man nicht bezahlen, kann man nicht. […] Die letzte Frage von meine Nachbarin war: ›Ach, Sie aus… auch?‹ Ich sage: ›Ja, was anderes bleibt mir nicht übrig.‹ Es ist so. Es wird noch schlimmer. So wie sich das alles so entwickelt…«
Dann sagt er bezugnehmend auf den Campingplatz: »Man weiß ganz genau, jeder hat irgendwelche Probleme gehabt und deswegen ist er hier. Aber das ist Zukunft, junger Mann. Vergiss das nicht. Das ist Zukunft, kannst du mir glauben. Viele können keine Miete mehr zahlen.«
Micha ist überzeugt, dass sich trailer living künftig als ständige Wohnform etablieren wird, weil eine gegensätzliche Entwicklung aus sinkenden Einkommen und steigenden Mieten solche wohnungspolitischen Behelfslösungen notwendig macht. Schließlich erzählt er, dass er sich im Frühling oder Sommer doch noch mal einen Minijob suchen wird. Auf dem Campingplatz will er aber vorerst bleiben, denn es geht ihm dabei vorrangig um Geld für die kleinen Annehmlichkeiten von früher. So vermisse er vor allem das Reisen. Damit setzt er klare Prioritäten und macht gleichzeitig die Kernproblematik deutlich. Er könnte eine kleine, preiswerte Wohnung bezahlen – und anders als Verena oder Uwe könnte er sich auch vorstellen, später in Marzahn oder Hellersdorf zu wohnen. Aber eine Wohnung, deren Finanzierung ihm kaum noch ausreichend Geld übrig lässt für Alltägliches, für Konsumgüter und Dienstleistungen in für ihn akzeptabler Qualität und Menge, lehnt er ab. Die damit verbundenen Einschränkungen des Lebensstandards wären für ihn nicht hinnehmbar. Also bleibt er vorerst auf dem preisgünstigen Campingplatz. Dabei handelt er gewissermaßen konträr zu den »Bleibestrategien« der von Verdrängung bedrohten ALG-II-Empfänger_innen, welche die Differenz zwischen Miete und staatlicher Bemessungsgrenze selbst aufbringen, um nicht umziehen zu müssen (siehe Grotefendt et al. 2016 in diesem Band). Einen ähnlichen Fall schildert auch Markus Müller beispielhaft aus seiner Sicht des Vermieters. Auch in diesem Fall geht es um Altersarmut:
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»Ja, also ich les das ja in den Zeitungen und ich hör’ es auch von meinen Campern, dass sie halt sagen – also mehrere, nicht die Masse aber mehrere sagen – sie können es sich in der Wohnung nicht mehr leisten… oder wollen es nicht mehr, weil se noch Geld für andere Sachen noch übrig behalten wollen. Ansonsten würde alles die Miete auffressen… essen, und dann ist alles weg und dann könn’se nur noch aus dem Fenster gucken – wie schon gesagt. Und das wollen auch viele nicht mehr, weil ihre Rente auch nicht mehr ausreicht.«
Die Befragungen auf dem CCB zeigen, die Bewohner_innen haben sehr unterschiedliche und komplexe Gründe für ihr Leben auf dem Campingplatz. Fast alle sehen diesbezüglich Vorteile. Das gilt ganz besonders für den Sommer. Aber nur aus den Aussagen fünf Befragter kann geschlussfolgert werden, dass sie sich völlig freiwillig für das »einfache« Leben im Wohnwagen entschieden und bewusst ihre Wohnung aufgegeben haben. Geldnot war für sie nicht ausschlaggebend und sie würden ihre Parzelle trotz gewisser Entbehrungen auch nicht gegen eine eigene Wohnung eintauschen. Gerade diese Bewohner_innen haben schon vorher Campingerfahrungen gemacht. Sie haben als Tourist_innen mit ihrem Caravan andere Länder bereist (z.B. Micha, Fritz und Lisa) oder verbinden damit schöne Kindheitserinnerungen (z.B. Inge). In mehr als der Hälfte aller Fälle hatten sie bereits vor ihrem Umzug einen eigenen Wohnwagen oder eine Parzelle auf den CCB als Dauercamper_innen. Dies legt nahe, dass ein persönlicher Bezug zum Camping die Bereitschaft für diese Lebensweise steigert oder sie zumindest verstärkt als Wohnalternative in Betracht ziehen lässt. Für viele Bewohner_innen ist der Kostenvorteil des CCB gegenüber einer Wohnung hoch irrelevant. Einige sagen sogar ganz deutlich, dass sie vorwiegend aus finanziellen Beweggründen auf den preisgünstigeren Platz gezogen sind. So ist die eigene Wohnung oftmals nicht mehr bezahlbar oder so teuer, dass ihnen nach Abzug der Miete nicht ausreichend Geld übrig bleibt, um einen für sie hinnehmbaren Lebensstil zu finanzieren. Dies legt eine entsprechende Verdrängungsdimension nahe. Peter Marcuse (1985) spricht in dem Zusammenhang von »economic displacement« (ebd.: 205). Wie gezeigt, sind damit wichtige individuelle Abwägungsentscheidungen verbunden. So werden die Widrigkeiten des Winters hingenommen, um nicht auf gewohnte Annehmlichkeiten des Lebens – wie das eigene Auto oder gute Ernährung – verzichten zu müssen (z.B. Egon und Uwe). Die Interviews haben aber auch ergeben, dass Verdrängung nicht nur einen aktiven Prozess darstellt, der dazu führt, die eigenen vier Wände aufgeben zu müssen, sondern vor allem die Verschließung des benötigten Wohnungsmarktsegmentes umfasst. Hierbei handelt es sich um ein »exclusionary displacement«
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(Marcuse 1985: 206f.). Einige haben zugegeben, dass sie durchaus hin und wieder nach Wohnungsangeboten suchen oder sogar seit einiger Zeit aktiv den CCB verlassen wollen, aber nicht können (z.B. Micha). Eine »echte« Wohnung bleibt ihnen verwehrt, weil entweder entsprechende Mietwohnungen in dem für sie präferierten Stadtteil zu teuer sind oder die private Verschuldung für Vermieter_innen einen Ablehnungsgrund darstellt. Auch letzteres kann als Resultat eines unausgewogenen Angebot-Nachfrage-Verhältnisses auf dem liberalisierten Wohnungsmarkt verstanden werden. Mit der Fokussierung auf ein bestimmtes Gebiet – oftmals das des vorherigen Wohnorts – wird auch die Kleinräumigkeit der Verdrängungsproblematik deutlich. Die Menschen möchten ihr angestammtes Umfeld nicht verlassen. Insofern käme wohl auch ein Campingplatz im Norden von Berlin eher nicht in Frage.
»C AMPING IN B ERLIN MACHT EIN ’ NICHT REICH !« 23 D IE P ERSPEKTIVE DES CCB-B ETREIBERS M ARKUS M ÜLLER Um die Frage, ob sich trailer living künftig auch in Deutschland etablieren wird, beantworten zu können, soll hier noch einmal genauer auf die Einschätzung des Betreibers des Central Camping Berlin eingegangen werden. Vor allem dessen Beurteilung ermöglicht Rückschlüsse auf die Praktikabilität dieser Praxis: Im Zuge der Bewohnerbefragungen sind zur Person Markus Müller sehr gegensätzliche Meinungen offenbart worden – überwiegend wertschätzende: »Müller is ’ne treue Seele« (Uwe), aber auch kritisierende: »Müller sieht nur die Kohle. [Der] verdient und verdient und macht hier nix« (Egon). Müller selbst betont, dass er nicht Eigentümer des Grundstückes sei, sondern auch nur als Pächter agiere. »Camping in Berlin macht ein’ nicht reich. […] Wenn se Eigentümer sind, könn’ se damit richtig Geld verdienen aber nicht als… in meiner Position als Pächter. Da geht zu viel Geld weg« (Müller). Über 50% seiner Einnahmen fließen an den eigentlichen Eigentümer, ein Großinvestor, der vor einigen Jahren das Areal bis zur Bahnhofstraße von der Deutschen Bahn AG gekauft hat und bereits die angrenzende Kleingartensiedlung an der Nuthestraße räumen ließ, um dort ein Shopping Center zu errichten. Schließlich musste er sein Vorhaben wegen fehlender Baugenehmigung aufgeben. Der CCB durfte vorerst bleiben. Müllers Pachtvertrag gilt noch bis 2018. Was danach kommt, ist zurzeit unklar und hängt maßgeblich von neuen Verhandlungen mit dem Eigentümer
23 Zitat Markus Müller
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und dessen Verwertungsabsichten ab. Für Müller bedeutet dies geringe Planungssicherheit. Weitreichende Investitionen seinerseits sind deshalb unwahrscheinlich. Für die Bewohner_innen ergeben sich hingegen existenzielle Unsicherheiten, besteht doch die Gefahr einer erneuten ökonomischen Verdrängung. In den USA ist das erhöhte Risiko einer Verdrängung vom Campingplatz vielfach dokumentiert. Dabei spielen neben NIMBY-Initiativen24 und kommunalen Regulierungsbestrebungen (Wallis 1991: 19-24, 71-76) vor allem wirtschaftliche Entwicklungen eine entscheidende Rolle, denn mit dem Wachstum der Städte nimmt auch der Bodenwert und somit der Verwertungsdruck auf suburbane mobile home parks zu (ebd.: 200ff.). Nach dem Verkauf des Grundstücks ersetzen dann rentablere Nutzungen die offiziell meist nur geduldete Wohnform25. Während auf dem Berliner CCB dank einer Kündigungsfrist von drei Monaten eine gewisse Rechtssicherheit besteht, droht den dortigen Bewohner_innen mit der Schließung des Geländes – aber auch im Falle eines individuellen Verstoßes gegen z.T. sehr rigide Parkverordnungen – die umgehende Vertragsaufhebung (Aman/Yarnal 2010: 2; Wallis 1991: 192-195). Ein Umzug mit einem mobile home ist jedoch technisch aufwändig, sehr teuer26 und ohne fremde Hilfe kaum zu bewerkstelligen (Arman/Yarnal 2010: 8). In der Regel ist es dann günstiger, die Unterkunft aufzugeben und woanders eine neue zu kaufen bzw. zu mieten. Dies erklärt auch die überraschend hohe Standortbindung USamerikanischer (im)mobile homes. Weniger als 8% werden heutzutage nach ihrer ersten Platzierung nochmals bewegt (Burkhart 2010: 433; Dawkins et al. 2011: 5; Schmitz 2004: 389). Zu seiner Praxis, zunehmend Wohnwagen ganzjährig an Arbeitslose zu vermieten, sagt Markus Müller:
24 NIMBY steht als Akronym für Not-In-My-Backyard und beschreibt allgemein den Widerstand gegenüber unliebsamen Phänomenen oder Entwicklungen in der direkten Nachbarschaft (Creel Davis/Bali 2008). 25 Kommunale, stadtplanerische Reglementierung – sogenanntes zoning – untersagt in der Regel mobile home parks in Wohngebieten. Deshalb befinden sich fast alle suburbanen Parks in Industrie- oder Gewerbegebieten, häufig als Zwischennutzung (Hurley 2001: 256f.). 26 Die Kosten für den Transport variieren zwischen 2.000 US-$ (single wide coach) und 12.000 US-$ (triple-wide coach) (Aman/Yarnal 2010: 8; Hirsch 1988: 214; Wallis 2001: 15). Hinzu kommen oftmals exit fees sowie weitere Kosten für die Neuanmeldung auf einem anderen Campingplatz (Hirsch 1988: 214; Genz 2001: 404). Im öffentlichen Raum ist das dauerhafte Abstellen von mobile homes in der Regel verboten.
246 | P AUL N EUPERT »Also diese Hartz-IV-Geschichte, die macht man jetzt mit, ist okay, aber eigentlich nicht… also wenn die mitmachen und den Garten sauber halten […] aber meistens muss man sagen, muss man dieses Klischee bedienen, weil die dann doch [unverständlich] ihre Ruhe haben, sich austoben – keine Ahnung – halten den Garten nicht sauber, halten allgemein dit nicht sauber, sind öfter alkoholisiert, ja. Also nicht unbedingt das Campervolk, was ich bevorzuge, außer sie machen wirklich auch mit und machen wirklich auch Camping. Wenn se das möchten, dann ist das toll, aber das ist die Minderheit – leider. […] Bei mehr als 50% der Hartz-IV-Beziehern kann man den Wohnwagen nach dem Auszug nur mit viel Glück danach nochmal retten. Weil meistens vermüllen die sie so sehr – weil sie nichts pflegen – dass sie die nachher wegschmeißen können.«
Grundsätzlich sind Wohnwagen für eine lange und intensive Wohnnutzung nicht konzipiert. Sie bedürfen umfassender Pflege, erfordern hohe Instandhaltungskosten und verlieren schnell ihren ursprünglichen Wert 27 (Aman/Yarnal 2010: 3; Hurley 2001: 266). Für bauliche Reparaturen ist der_die Betreiber_in verantwortlich. Sie sind aber wegen der hohen Kosten für Ersatzteile sehr teuer. Markus Müller schätzt, dass sich die Investition in einen Miet-Caravan für ihn nach ca. zwei bis drei Jahren rentiert. Für ihn ist das »Hartz-IV-Camping« noch ein betriebswirtschaftliches Experiment, eine »Testphase«. Nach ca. fünf Jahren will er Resümee ziehen und über die Fortführung der Praxis entscheiden. Tatsächlich überlegt er, im Fall einer erneuten Vertragsverlängerung den Campingplatz eventuell auf Berlin-Tourismus umzustellen. Zwar ist Dauerwohnen eine sichere, weil ganzjährige Einnahmequelle, doch ein klassischer Campingbetrieb ist unkomplizierter und einfacher, denn mit der Umstellung vor zwei, drei Jahren sind für ihn neue Aufgaben und Herausforderungen verbunden: »Der reine Beruf des Vermieters ist schon lang überschritten, ja. Da hab ich wesentlich mehr noch zu tun, was auch manchmal sehr anstrengend ist, aber man muss eben klar vermitteln. Man muss manchmal Leute zusammensetzen und sagen, dass se sich da vertragen und fragen, warum er das nicht gemacht hat, andere kommen… selbst Sachen, wo ich sage, dass hat mit dem Vermieter überhaupt nichts mehr zu tun.«
So sieht sich »Sorgentante Müller« (Uwe) selbst im Spannungsfeld zwischen zwei miteinander unvereinbaren Positionen – zwischen renditeorientiertem Unternehmer und philanthropischem Sozialarbeiter:
27 Das mobile home verliert im Schnitt innerhalb der ersten drei Jahren die Hälfte seines ursprünglichen Wertes und gilt deshalb als »risky investment« (Salamon/MacTavish 2006: 49).
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»Da musst ick och von unserem Verpächter lernen, also ich bin nicht reiner Geschäftsmann. Ich könnt’ wesentlich mehr Geld machen, wenn ich reiner Geschäftsmann wäre. Bin ich da nicht. Ich bin da vielleicht noch zu sehr weich – weeß ick nich – oder zu sozial«
Schließlich zieht er seine persönliche Rechtfertigung für das von ihm angebotene Leben auf dem Campingplatz aus der schlechten Versorgung mit Wohnraum und der innerstädtischen Mietpreisentwicklung: »Ja die Polizei weiß davon Bescheid, die Meldestelle weiß davon Bescheid, also irgendwie wissen alle davon Bescheid, akzeptieren es auch, nur es kann sein, dass jetzt gerade alle es nicht mehr so wollen. Also ich frag mich wie se’s ändern wollen. Die haben den Wohnraum gar nicht hier. Es ist kaum Wohnraum vorhanden, also bezahlbarer Wohnraum, ja. Hartz-IVer kommen fast nirgendwo mehr unter. Die müssen sonst weit raus. […] Kaum ein Student hat noch die Möglichkeit eine Ein-Zimmer-Wohnung in der Nähe der Uni zu mieten. Ich frag mich, wenn se verbieten wollen, dass man überall auf dem Campingplatz wohnt, wo se die Wohnungen herzaubern wollen für solche Leute.«
Müllers Perspektive zeigt, die ökonomische Praktikabilität der Praxis, einen Campingplatz ganzjährig als Vermieter_in zu betreiben, ist von verschiedenen Aspekten abhängig, wie z.B. dem eigentumsrechtlichen Besitzstatus, der Planungssicherheit, oder dem Entgegenkommen behördlicher Stellen. Für ihn sind an der Stelle auch die Entwicklung des Angebot-Nachfrage-Verhältnisses auf dem Berliner Wohnungsmarkt und die des touristischen Potentials der Stadt maßgeblich entscheidend. Als CCB-Betreiber gilt es, künftig zwischen Camping-Tourismus, Saisoncamping und trailer living abzuwägen. Eine konzeptionelle Kombination daraus scheint indes nur bedingt umsetzbar, was unter anderem an den schlechten Urlauber-Bewertungen des CCB in dem CampingInternetforum camperpoint.de deutlich wird (ebd. 2011).
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Die Untersuchung des Central Camping Berlin zeigt, dass sich das Leben auf dem Campingplatz in vielerlei Hinsicht vom »konventionellen« Wohnen unterscheidet. Gerade im Winter sehen sich die Bewohner_innen mit verschiedenen Widrigkeiten konfrontiert. Hier zeigen sich erhebliche Einschnitte in der Lebensqualität, die aber von den Betroffenen – je nach Alter, persönlichem Anspruch und Fähigkeiten – sehr unterschiedlich bewertet und bewältigt werden.
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Auch das Zusammenleben auf dem Platz erweist sich als ambivalent. Die große räumliche und funktionale Nähe der Bewohner_innen mindert die sonst typisch städtische Anonymität. Man kennt, grüßt und hilft sich untereinander. Andererseits führt diese Form des Zusammenlebens auch zu zwischenmenschlichen Spannungen. Problematisch ist in dem Zusammenhang der Umstand, dass viele der auf dem Platz ganzjährig Wohnenden individuelle Problemlagen zu bewältigen haben. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Arbeitslosigkeit, Armut und Verschuldung, Alkoholabhängigkeit und persönliche Schicksalsschläge sind unter den CCB-Bewohner_innen keine Seltenheit. Aus stadtplanerischer Sicht stellt sich damit die Frage nach den Folgen sozialer Segregation in der »Stadt der Enklaven« (Helbrecht 2009). Andreas Farwick (2001) hat statistisch belegt, dass Armutsinseln – also die besonders kleinräumige Konzentration von sozial schwachen Bevölkerungsgruppen – deren Chancen, eben diese Armutslage wieder zu verlassen, deutlich reduzieren. Dafür führt er drei Gründe an: mangelhafte Ressourcenausstattung des Wohnquartiers, die Übernahme »destruktiver Handlungsmuster« durch Prozesse des sozialen Lernens aufgrund einer hohen Kontaktdichte sowie Diskriminierungs- und Stigmatisierungsaspekte. Wie in dieser Arbeit gezeigt, treffen alle drei Punkte auf abgegrenzte Wohnwagensiedlungen zu.28 Die Entstehung von »Opferparks« gilt es aber schon aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit zu verhindern. Die Bewertung des Campingplatzes und der eigenen Situation vor Ort ist im besonderen Maße abhängig von den jeweiligen Gründen, ein solches Leben zu führen. Diese Studie hat gezeigt, nicht alle Bewohner_innen leben dort freiwillig, aber auch nicht alle leben dort unfreiwillig. Ihre Motive sind meist vielschichtig und komplex. Es geht an dieser Stelle nicht darum, über den Lebensentwurf der_s Einzelnen zu urteilen. Sicherlich kann man in einem Wohnwagen gut leben, doch gerade der Aspekt der Freiwilligkeit bzw. Unfreiwilligkeit ist für die Beurteilung der jeweiligen Situation von immenser Bedeutung – sowohl aus moralischer als auch psychologischer oder politischer Sicht. Jeder Mensch sollte die Wahl haben, sich für oder gegen ein solches Leben und den damit verbundenen Vor- und Nachteilen entscheiden zu können. Daher geht es nicht darum, das Leben im Wohnwagen grundsätzlich zu problematisieren, sondern die das Phänomen determinierenden Rahmenbedingungen zu hinterfragen und dessen soziale Folgen zu analysieren.
28 Letzteres verdeutlichen insbesondere die US-amerikanischen Studien in Bezug auf die »trailer parks« und auch die dortigen Gesellschaftsdiskurse über »white trash« bzw. »trailer trash«, die mit dieser Wohnform eng verknüpft sind (Harry 2004; Hurley 2001: 247-258; Kusenbach 2009).
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Das Leben auf dem CCB ist preisgünstiger als in einer Wohnung, doch derzeit wird in Berlin niemand per Zwangsumzug direkt und wider Willen zum prekären Leben im trailer park genötigt. Das JobCenter drängt und ermutigt niemanden zu einem solchen Schritt. Dennoch gibt es neben sehr individuellen Motiven auch eindeutig finanzielle Gründe, die eine Verdrängungsdimension nahelegen. Für viele ist eine eigene Wohnung im angestammten Stadtgebiet nicht mehr bezahlbar oder der Verbleib in den eigenen vier Wänden wäre zu teuer, um nach Abzug der Monatsmiete einen hinnehmbaren Lebensstil zu unterhalten. An dieser Stelle entsteht eine für die Betroffenen oft schwierige Abwägungsentscheidung, bei der persönliche Erfahrungen mit dem Campingleben ausschlaggebend sein können. Ähnliches gilt für Menschen, die neu nach Berlin ziehen und keinen bezahlbaren Wohnraum vorfinden. Von beidem ist auf dem CCB berichtet worden. Somit finden sich Belege für economic displacement und exclusionary displacement. Die zweite dieser Verdrängungsformen wird zusätzlich im Falle einer privaten Verschuldung verschärft. Das gilt nachweislich auch für die Absicht, den Campingplatz wieder zu verlassen. Die Vergleiche mit den US-amerkanischen mobile home parks und die Referenzen zu den dortigen Forschungsergebnissen zeigen, dass es einige Parallelen gibt, wie z.B. die relative Armut der Bewohner_innen, der Bezug zur Wohnraumknappheit oder der nachbarschaftliche Zusammenhalt. Andererseits ist unbestreitbar, dass auch grundsätzliche Unterschiede bestehen. In den USA hat das Leben im Wohnwagen eine gewisse Tradition und ist in Hinblick auf die eigentumsorientierte Statusfrage deutlich verbreiteter. Die klimatischen Bedingungen sind andere. Außerdem haben sich dort im Laufe der Zeit unterschiedliche Nutzungsarten weitgehend ausdifferenziert. So existieren touristische Campinganlagen und rein residenzielle Siedlungen getrennt voneinander. Mischformen sind überaus selten. Auch die Angebote und Ausstattungsqualitäten sind sehr verschieden und an die Bedürfnisse der in sich homogenen Bewohnerschaften angepasst. In Berlin ergänzt die neue Wohnpraxis das konventionelle Dauercampingangebot. Während sich im Winter die wenigen Dauergäste des CCB weitgehend in ihre Unterkünfte zurückziehen, leben hier in den Sommermonaten Wohnende und Erholungssuchende nebeneinander auf benachbarten Parzellen, was aufgrund abweichender Nutzungsansprüche erklärtermaßen auch zu Streitigkeiten führt. Platzinterne Infrastrukturen oder Veranstaltungen, die ein harmonisches Miteinander fördern könnten, fehlen fast vollständig. Trotz dieser ausgemachten Unterschiede zu den US-amerikanischen Anlagen sind die Erfahrungen aus Übersee nützlich, um die derzeitige Entwicklung in Deutschland und deren soziale Folgen besser einschätzen und den Prozess entsprechend lenken zu können.
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Ob sich das Leben auf dem Campingplatz zukünftig auch hier etablieren wird, kann an dieser Stelle nicht abschließend beurteilt werden. Diesbezüglich besteht weiterer Forschungsbedarf. Die jüngsten medialen Beispiele – aber auch Berichte von Bewohner_innen des CCB – legen eine generelle Zunahme dieser Praxis nahe und obwohl sie sich derzeit noch in einer gewissen rechtlichen Grauzone befindet, sind bereits erste juristische Schritte für ihre staatliche Anerkennung unternommen worden. Gleichwohl hat die Perspektive des Verwalters Markus Müller gezeigt, dass die Zukunft des trailer living in Deutschland maßgeblich von betriebswirtschaftlichen Voraussetzungen und wohnungspolitischen Entscheidungen abhängt. Sollte sich preiswerter Wohnraum in den Großstädten tendenziell weiter verknappen, werden solch suburbane Behelfslösungen zunehmend profitabel und somit bestimmt bald gesellschaftliche Realität. Die Antwort kann jedoch nicht sein, Plätze wie den Central Camping Berlin grundsätzlich zu verbieten, denn dies hieße wiederum, die Situation der von Wohnungslosigkeit Bedrohten und Betroffenen weiter zu verschlimmern. Stattdessen gilt es, über die Wiederaufnahme eines öffentlich-sozialen Wohnungsbaus die angespannte Lage auf dem überteuerten Wohnungsmarkt zu entschärfen.
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Wieso – Weshalb – Wohin? Wohnbiographien als Instrument der sozialräumlichen Verdrängungsanalyse C AMILO B ETANCOURT
Das Ostberliner Innenstadtviertel Prenzlauer Berg hat einen gravierenden Wandel erlebt. Angestoßen durch den Attraktivitätsanstieg der Innenstadt und der Wiedervereinigung von Ost- und West-Berlin erfolgten großflächige bauliche Sanierungen sowie veränderte Gewerbenutzungen, welche letztendlich auch die Bevölkerungsstruktur betrafen (vgl. Förste/Bernt 2016 in diesem Band). Die Aufwertung von Stadtvierteln ist umstritten, so herrschen in der Stadtforschung und im politischen Diskurs divergierende Debatten bezüglich ihrer Herausforderungen und Probleme. Die Literatur beschreibt den sozialstrukturellen Wandel eines aufgewerteten Innenstadtgebiets anhand des GentrificationAnsatzes. Der Begriff steht für die bauliche, soziale, symbolische und funktionale Aufwertung eines Innenstadtviertels, bei der die ursprüngliche und sozial schwache Bevölkerung durch eine stärkere ersetzt wird (vgl. Hamnet 1979, zitiert in Friedrichs 1996: 14). Der Austausch von großen Teilen der eingesessenen Bevölkerung findet mittels eines vielseitigen Verdrängungsprozesses statt. Das Phänomen der sozialräumlichen Verdrängung ist schwer messbar und ein politisch unerwünschter Begriff. Umso mehr besteht die Notwendigkeit für weiterführende empirische Forschungen, um die Instrumente zur Erfassung von Verdrängung zu verbessern und die Analyse dieses bedeutenden Teilaspekts von Gentrification zu vertiefen. Statistische Auswertungen zur Verdrängungsanalyse waren bisher wenig aufschlussreich und befassten sich mit lediglich einer Umzugsepisode, dem Wegzug aus dem betroffenen Aufwertungsgebiet. Das Ziel dieses Beitrags ist es vor allem über den unmittelbaren Umzug hinaus zu erfahren, welche Motive die
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Befragten verfolgten und welchen Schritten sie nachgingen. Somit wird der (Bevölkerungs-)Wandel im Prenzlauer Berg anhand der Analyse detaillierter und stark persönlicher Wohnbiographien ehemaliger Bewohner_innen des Aufwertungsgebiets diskutiert und ein alternativer Beitrag zur Verdrängungsforschung geleistet. Der Forschungsansatz beruht auf zwei zentralen Fragestellungen, eine konzeptioneller und eine inhaltlicher Natur: • Inwiefern tragen Wohnbiographien zur Determinierung des Umzugsverhaltens ehemaliger Bewohner_innen von Aufwertungsgebieten bei? • Wohin und warum verlagerten ehemalige Prenzlauer-Berger_innen ihre Wohnsitze und was bedeutete für sie der Wegzug?
U NTERSUCHUNGSDESIGN Da die Fragestellung auf die Entdeckung von in Wohnbiographien enthaltenen unbekannten Erklärungsmustern zielt, bietet sich eine qualitative Herangehensweise für die Erhebung und Auswertung des empirischen Materials an. Die Untersuchung ruht auf Leitfaden gestützten Interviews. Dabei interessieren sowohl die räumlichen Verläufe der Biographien als auch die subjektiven Bedeutungen und die Begründungen der Wegzüge als Analyse-Dimensionen für die Erklärung von Verdrängungsprozessen. Im Anschluss entsteht ein erster Versuch genannte Dimensionen zu typologisieren. Wie aus dem ersten Teil hervorgeht ist die Entscheidung für einen Umzug mit strukturellen und persönlichen Motivationen verbunden, also müssen diese für die Erstellung der Ergebnisse ebenfalls berücksichtigt werden. Den theoretischen Rahmen bilden daher erstens die Erkenntnisse der Gentrificationforschung, zweitens – für die Feststellung von sozialräumlicher Verdrängung – die von Peter Marcuse entwickelten Verdrängungsmechanismen und drittens für die subjektive Wahrnehmung und Bewertung der Umzüge theoretische Überlegungen zum Wohnzyklus und dem Wandel von Wohnpräferenzen.
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G ENTRIFICATION , V ERDRÄNGUNG UND W OHNPRÄFERENZEN Gentrification und städtische Aufwertungsprozesse Mit der »Wiederkehr der Städte« (vgl. Helbrecht 1996) kann ein konfliktgeladener Prozess zwischen sozialstrukturell unterschiedlichen Bewohner_innen und Interessengruppen entstehen (vgl. Richter, in: Blasius und Dangschat 1990, zitiert nach Friedrichs, in: Häußermann 1998: 60), welcher unter dem Begriff Gentrification zusammengefasst und beschrieben wird. Die wohl allgemeinste und allumfassende Definition von Gentrification weist auf einen »baulichökonomischen Aufwertungsprozess [...], durch den Haushalte mit höheren Einkommen Bewohner_innen mit geringem Einkommen aus der Nachbarschaft verdrängen und die wesentlichen Merkmale und Stimmungen der Nachbarschaft verändern« (Holm 2006b: 72). Dieser Prozess kann je nach Gebiet diverse Ursachen und Verläufe haben, welche im wissenschaftlichen Diskurs anhand ökonomischer, kultureller und politischer Ansätze erklärt werden. Insbesondere im Aufwertungsgebiet BerlinPrenzlauer Berg fand dieser Wandel als Wechselspiel aller Dimensionen statt. Die Herausforderungen der Aufwertung von Innenstadtvierteln werden oft unter Vorwand des kleinsten Übels relativiert und verkannt. Insbesondere die schwer messbare Verdrängung wird als zentrales Argument gegen die Sache selbst genutzt (Holm 2010: 54). Da Gentrification aber sozialräumliche Verdrängung impliziert und allein schon das Wort Verdrängung kein schönes ist, ignoriert man möglichst, oder verkennt am besten ihre Präsenz, da frühere Probleme wie bauliche Verwahrlosung oder hohe Arbeitslosenquoten auf den ersten Blick gelöst scheinen. Dieser Versuch, auf persönlicher Mikroebene das Phänomen der sozialräumlichen Verdrängung zu determinieren bedarf einer klaren begrifflichen Definition, die im Folgenden geleistet wird. Sozialräumliche Verdrängung Für die Frage, ob Aufwertung auch gleich Gentrification mit sich bringt, ist die Feststellung von Verdrängung ein zentraler Schritt, welcher zur Beilegung der Debatte beitragen kann. Die sozialräumliche Verdrängung der ursprünglichen Bewohner_innenschaft wird in Teilen der Literatur (vgl. Slater 2009), vor allem aber in der Stadtentwicklung (Marcuse 1986: 153) relativiert, bzw. als unvermeidbarer Preis der Aufwertung von Gebieten in Kauf genommen und nicht weiter diskutiert.
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Hinzu kommt die in der sozialwissenschaftlichen Stadtforschung erfahrene Schwierigkeit, das Phänomen empirisch zu untersuchen und zu quantifizieren. Vor allem blieb in bisherigen Studien – u.a. Atkinson 2000; Freeman 2005; Henig 1981 – die persönliche Dimension der Wegzügler_innen unberücksichtigt, worunter auch die Schlussfolgerungen litten. Daraus ergibt sich die diesen Beitrag motivierende Überlegung, anhand einer qualitativen Vorgehensweise eine Brücke zwischen den theoretischen Annahmen der Gentrificationdiskurse und dem steinigen Pfad der quantitativen Verdrängungsforschung zu schlagen. Auch die Frage, wie sich die Wohnbiographie der betroffenen Gruppen nach dem Wegzug aus einem Aufwertungsgebiet weiterentwickelt, kann anhand statistischer Daten, beispielsweise durch Bezirkswanderungen, nicht zufriedenstellend beantwortet werden, da stets von einer natürlichen Umzugsquote auszugehen ist. »Hohe Wanderungsdynamiken müssen nicht zwangsläufig Zeichen für einen Bevölkerungsaustausch sein« (Holm 2010: 63). Deswegen gilt es im Rahmen dieser Arbeit das Verständnis von Verdrängung zu nutzen und einen alternativen Weg zur Feststellung ihrer sozialräumlichen Ausprägungen einzuschlagen. »In der deutschsprachigen Debatte wird oft zwischen freiwilligen und unfreiwilligen Umzügen unterschieden, wenn es darum geht Verdrängung festzustellen« (Holm 2010: 60). Hartman et al. (1982: 3, zitiert nach Slater 2009: 295) definieren Verdrängung als »the term describes what happens when forces outside the household make living there impossible, hazardous or unaffordable«. Marcuse (1986) liefert im Rahmen seiner Arbeit zu New York City eine Typologisierung von Verdrängungsformen. Er bezieht Verdrängung hierbei sowohl auf einzelne Haushalte als auch auf ganze Wohngebäude und zudem sowohl auf die individuelle als auch auf die nachbarschaftliche Ebene. Zuerst unterscheidet er zwischen direkter und indirekter Verdrängung. Direkte Verdrängung entsteht »als Folge physischer oder ökonomischer Veränderungen1« (ebd.: 156), welche sich überlappen können. Während die ökonomische Herausforderung in den steigenden Wohnraumkosten liegt, sind physische Verdrängungsursachen beispielsweise die Vernachlässigung der Heizungs- oder Wasserversorgung des Hauses oder »Formen der Gewaltausübung oder -androhung« (Holm 2010: 61) von Seiten der Verwaltung beziehungsweise der Besitzer_innen. Direkte Verdrängung kann als last-resident displacement geschehen, »if one looks simply at the housing units involved, and counts the last resident in that unit« (Marcuse 1986: 156) oder als chain displacement wenn vorige Haushalte aus demselben Haus ebenfalls verdrängt wurden.
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Indirekte Verdrängung bezieht Marcuse hauptsächlich auf Nachbarschaftseffekte (Holm 2010: 61). Pressure of displacement geschieht unter veränderter Gewerbestruktur, durch den Wegzug des nachbarschaftlichen Bekannten- und Freundeskreises, sprich die Entfremdung im eigenen Viertel unter der »neu etablierten Nachbarschaftsstruktur« (ebd.). Weiter stellt Marcuse die Kategorie exclusionary displacement auf, welche auftritt »when any household is not permitted to move into a dwelling, by a change in conditions which affects that dwelling or its inmediate surroundings« (Marcuse 1985: 156). Somit werden »exklusive Räume« (Holm 2010: 62) geschaffen, die beispielsweise Hartz-IVHaushalten aufgrund ihrer Sozialstruktur verwehrt bleiben. Marcuses Überlegungen haben den Vorteil, sozialräumliche Verdrängung multikausal zu betrachten. Die hier angeführten Verdrängungstypen werden im zweiten Teil der Arbeit dazu dienen, das empirische Material darauf zu prüfen und somit die Ausgangsbedingungen für die Wanderungstypologie zu verdeutlichen. Wohnpräferenzen und Wohnentscheidungen Da die Bewohner_innen einer Stadt selbst wichtige Akteure für die Stadtentwicklung und den Lebenszyklus bestimmter Wohnstandorte sind, indem sie ihre Wohnpräferenzen in Wohnortentscheidungen im Rahmen des Möglichen umzusetzen versuchen, erscheint es ebenso relevant neben den Verdrängungsursachen auch jene Aspekte zu betrachten, die eine bestimmte Wohnpräferenz beeinflussen. Zu diesen gehören subjektive Präferenzen wie Wohlergehen, Sicherheit oder Freiheit (Lindberg et al. 1992: 187). Persönliche Wohnpräferenzen und Wertvorstellungen variieren je nach sozialstrukturellem Hintergrund sowie entlang der unterschiedlichen, zeitlich befristeten Lebenszyklen eines Menschen, sei es aufgrund von veränderten Wahrnehmungen bezüglich der Wichtigkeit verschiedener Werte oder veränderter Lebensumstände, beispielsweise das Hinzukommen von Kindern oder eine Verwitwung. Darüber hinaus ist es wichtig zwischen Präferenzen und Entscheidungen zu unterscheiden. Subjekte entscheiden sich nicht immer für die meist präferierte Alternative. Präferenzen werden auch nicht zwingend von einer Entscheidung gefolgt. Ein Umzug wird erst dann wahrscheinlich, wenn ein starker Auslöser (Floor/Van Kempen 1997: 28) vorhanden ist. Auslöser können »states of the dwelling or location« sein oder »the ocurrence of an event in the life course« (ebd.). Während ein Umzug in der Literatur zu Wohnpräferenzen als freiwilliger Akt behandelt wird, muss dieser nicht zwingend ein ebensolcher sein (ebd.: 29). Doch auch ein unfreiwilliger Wegzug kann die Erfüllung latenter Wohnpräfe-
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renzen mit sich bringen. Der Aspekt der Freiwilligkeit ist somit unter Vorsicht zu behandeln. Zusätzlich sei gesagt, dass die Präferenzen einkommensstarker Haushalte die Optionen für einkommensschwache einschränken mögen (vgl. ebd.: 30), da letztendlich auch die sozialen und materiellen Ressourcen für das Zustandekommen einer befriedigenden Wohnortentscheidung relevant sind. Wenn auch nicht ausschließlich für einen Wohnungswechsel maßgeblich (Gärvill et al. 1992: 40), schränkt das Haushaltsbudget die Betroffenen in ihrer Wahl auf dem Wohnungsmarkt ein, was dafür sorgt, dass einkommensschwache Haushalte weniger umziehen als einkommensstarke Haushalte (Flor/van Kempen 1997: 29). Hier knüpft der Verdrängung beschreibende Ansatz von Marcuse an sowie im allgemeinen die Gentrificationforschung, welche sich mit ebendieser unfreiwilligen Komponente von Wanderungsbewegungen beschäftigt (Falk 1994: 68f). Dennoch sind diese theoretischen Überlegungen mit Vorsicht zu lesen. Häußermann und Siebel schlussfolgern, »dass sich die Befragten nur solche Bedürfnisorientierungen erlauben, die ihnen – gemessen an ihren Möglichkeiten – noch erreichbar erscheinen« (Häußermann/Siebel 2000: 220). Weiter muss auch die Zufriedenheit der Befragten unter Berücksichtigung des Zufriedenheitsparadoxon (vgl. Schober 1993, zitiert nach Häußermann/Siebel 2000), berücksichtigt werden. Dieses folgt der Erkenntnis, dass die »Zufriedenheit das Ergebnis eines Vergleichs zwischen Erwartungen und der Wirklichkeit ist« und die Befragten den Standard analog zu dem Durchschnitt ihrer jeweiligen sozialen Bezugsgruppe anlegen (ebd.). Letztendlich sollte in Betracht gezogen werden, dass laut Dissonanztheorie »jedes Individuum die Tendenz hat, Diskrepanzen zwischen einer unveränderlichen und einer >eigentlich< erwünschten Realität abzubauen, weil die dadurch entstehende Unzufriedenheit auf Dauer nicht zu ertragen ist« (Häußermann/Siebel 2000: 219). Die passive Anpassung an die Realität führt dazu, dass man »zufriedener« wird (ebd.). Es kann dennoch festgehalten werden, dass Wohnpräferenzen in die Wohnortentscheidung mit einfließen und ebenfalls mit dem Datenmaterial kontrastiert werden sollten. An dieser Stelle lässt sich schon behaupten, dass die Freiwilligkeit eines Umzugs und die Möglichkeiten eine neue, den eigenen Präferenzen entsprechende Wohnsituation zu finden, entscheidend für eine bestimmte Wanderungsbewegung sind. Die Frage, inwiefern Verdrängung und Wohnpräferenzen im Falle der Befragten einen Einfluss auf die Wanderungsbewegungen hatten, wird im zweiten Teil wiederaufgenommen. Zunächst gilt es noch die Beschreibung des Wandels
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in Prenzlauer Berg vorzunehmen, durch welche auch die bisher aufgeführten Überlegungen verstärkt nachvollzogen werden können.
D IE F ALLSTUDIE Der Wandel in Berlin-Prenzlauer Berg Das Ausgangsgebiet der anschließenden Untersuchung ist wie bereits erwähnt der ehemalige Ostberliner Bezirk Prenzlauer Berg. Infolge der Wiedervereinigung veränderten sich sowohl die Lage als auch die inneren strukturellen Eigenschaften des Gebiets mit drastischer Geschwindigkeit auf grundlegende Weise (Dörfler 2010: 95). Während zu DDR-Zeiten eine »bauliche Agonie« (Marquardt 2006: 11) herrschte und den Bewohner_innen für damals unüblich viele Freiheiten überlassen wurden (Häußermann/Zunzer/Holm 2002: 52ff.), folgten in den Nachwendejahren zahlreiche politisch gesteuerte Bemühungen, das erneut zentrumsnahe und mit potenziell sehr attraktiver Wohnsubstanz ausgestattete Viertel einer Erneuerung zu unterziehen. Die Stadterneuerungspolitik des Landes Berlin setzte auf die Festlegung von Sanierungsgebieten, die das Wohnen im Innenstadtbereich wieder attraktiv gestalten sollten. Daraufhin begann auch die Stadtforschung sich – mit unterschiedlichen Interpretationen – mit dem Wandel in Prenzlauer Berg auseinanderzusetzen (Häußermann/Zunzer/Holm 2002: 79ff.). Das hauptsächlich durch Gründerzeitbauten gekennzeichnete Untersuchungsgebiet galt zu DDR-Zeiten als »Schmuddelbezirk« aufgrund des heruntergekommenen und unterdurchschnittlich ausgestatteten Wohnraums, welcher den Wohnvorstellungen des politischen Systems nicht entsprach und somit dem Abriss entgegensteuerte. Ein relativ hoher Leerstand – etwa 20 Prozent – sorgte aufgrund alternativer Entfaltungsmöglichkeiten für die Ansiedlung eines bestimmten Milieus – eine Mischung aus DDR-Kritiker_innen, »Asozialen« und Künstler_innen (vgl. Häußermann/Zunzer/Holm 2002: 52), welche die Häuser unter Duldung der Kommunalen Wohnungsverwaltung bezogen und sich selbst mit der zum Leben nötigsten Ausstattung versahen. Darüber hinaus entwickelte sich im Gebiet eine eigene »politische und künstlerische Subkultur […], die auch im Westen wahrgenommen wurde« (Häußermann 2004: 49) und als Nährboden für die Zeit nach der Wende diente. Infolge der Wiedervereinigung befand sich der Bezirk Prenzlauer Berg nun nicht mehr weiter im Grenzgebiet zu West-Berlin, sondern wurde zum unmittelbaren Innenstadtviertel, geprägt von der politischen Arbeit der Umwelt- und
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Friedensbewegung, und er zog weiterhin junge Zuwanderer aus den Westbezirken an, die sich dort politisch und kulturell »austoben« zu können erhofften. Das somit entstandene politische Milieu nutzte den Raum »unkontrolliert« und »spontan« (Häußermann/Zunzer/Holm 2002: 56). Zur Nachwendezeit strebte die Stadterneuerungspolitik die Bewahrung der verfallenen Altbaugebiete an ohne die Gebietsbevölkerung die negativen Konsequenzen des hierfür notwendigen finanziellen Aufwands spüren zu lassen (Häußermann 2004: 53). Auf »behutsame« und inklusive Weise sollten alle Akteursgruppen in diesem Prozess berücksichtigt werden. Die finanzielle Notlage des öffentlichen Haushalts und der hohe Sanierungsbedarf erforderten alternative Finanzierungsquellen, welche anhand von Steuererleichterungen für private Investor_innen erzielt wurden. Die vermeintlich Bewohner_innen freundliche und stark staatlich geprägte Stadterneuerungsstrategie erwies sich aufgrund des genannten finanziellen Drucks als undurchführbar und wurde durch eine öffentlich-privat partnerschaftliche2 ersetzt, welche hauptsächlich von Rendite bringenden Faktoren bestimmt wurde und Prenzlauer Berg zum größten Sanierungsgebiet Europas aufsteigen ließ (Dörries 1998: 47, zitiert nach Marquardt 2006: 11). Die um 1993/94 damit ausgelöste »Welle von Instandsetzungs- und Modernisierungsinvestitionen« veränderte das Viertel visuell und brachte sowohl eine neue finanzkräftigere Bewohner_innenschaft als auch eine Gewerbenutzung auf einem »anderen Niveau« mit sich (Häußermann 2004: 52f.). Dies führte zu Auseinandersetzungen und Machtkämpfen zwischen der sogenannten angestammten Bevölkerung, zu der sich auch die unmittelbar nach der Wende Zugezogenen zählten, und den neueren »fremden« Zuzügler_innen. Beklagt wurden steigende Mieten, auch in bisher von Sanierungsmaßnahmen unberücksichtigten Gebieten, welche aufgrund der zentrumsnahen Lage sowie vom Szene-Image des gesamten Viertels »profitierten«. Letztendlich kann festgestellt werden, dass das Ziel der baulichen Aufwertung erreicht wurde, jedoch nicht ohne sozialstrukturelle Konsequenzen für das Viertel. Die zu DDR-Zeiten sehr niedrige Wanderungsmobilität stieg nach der Wende rasant an und sorgte für einen erheblichen Bevölkerungsaustausch (vgl. Förste/Bernt 2016 in diesem Band). Die Anzahl der verschiedenen Haushaltstypen veränderte sich mit einem Anstieg der Einpersonenhaushalte und Abstieg der großen Haushalte. Auch die Altersstruktur wandelte sich zugunsten einer jüngeren Bevölkerung, die gleichzeitig mit einem »bildungsstrukturelle[n] Statussprung« aufwärts verbunden war.
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Häußermann (2004: 54) nennt die erste Strategie fordistisch, die zweite postfordistisch.
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Dörfler (2010) untersucht den Wandel aus alltagsweltlicher Perspektive der frühen und heutigen Bewohner_innen und spricht von einem Milieuwandel, der prinzipiell durch den Wegzug der vor der Wende bestehenden Milieus von Alternativen und Student_innen gekennzeichnet ist. Die Sanierungen und Neubauten ziehen ein anderes Klientel an, das den Bobos (Bourgeois Bohemiens) oder Bionade-Biedermeier (Holm 2009) entspricht, die vor allem finanziell stärker ausgestattet sind als ihre Vorgänger_innen. Einen Wegzug aus dem Viertel erwogen nicht nur einkommensschwache Haushalte, welche in der Regel weniger mobil sind (Schneider/Spellerberg 1999: 66), sondern auch Durchschnittsverdiener_innen (Holm 2006: 243). Die Motivationen für diese Wegzüge werden einerseits mit der Mobilitätsfreiheit begründet, die für ehemalige Ostberliner_innen im wiedervereinigten Deutschland neu war (Häußermann/Zunzer/Holm 2002: 51). Andererseits schlussfolgert Holm (2006: 243), dass der von Gentrification gekennzeichnete, ökonomische Aufwertungsprozess ebenfalls Fortzüge auslöste, was Marquardt in ihrer Studie zum Kollwitzplatz bestätigt (Marquardt 2006: 61f). Wie fand die Verdrängung statt und welche Zielgebiete steuerten die vermeintlich Verdrängten an? Methodisches Vorgehen Ziel der Fallauswahl ist, möglichst diverse, persönliche, erfahrungsgebundene Aussagen zu sammeln und diese sowohl mit den theoretischen Vorannahmen als auch untereinander zu kontrastieren – was in der hier angewandten Grounded Theory als theoretical sampling bezeichnet wird (Dörfler 2010: 97; Kelle/Kluge 2010: 50ff.). Deshalb erfolgte die Fallauswahl bei der qualitativen Verfahrensweise nach den folgenden für die Fragestellung relevanten Kriterien: Die Befragten sollten im Aufwertungsgebiet Prenzlauer Berg gewohnt haben und möglichst unterschiedliche Lebensphasen während ihrer dortigen Wohnzeit erlebt haben. Der Lebenszyklus-Hypothese folgend wurden die Interviewpartner_innen vor allem nach Altersunterschieden ausgewählt. Ein weiteres Kriterium sollte eine vielseitige sozioökonomische Zusammensetzung des Samples sein, welches jedoch dem Vorwissen über die Sozialstruktur des Gebiets vor und während seines Wandels entsprechend angepasst wurde. In die Auswahl fielen letztendlich sieben Personen (3 Frauen, 4 Männer) zwischen 23 und 51 Jahren, die sowohl zu unterschiedlichen historischen Epochen (80er, 90er und 00er Jahre) als auch während unterschiedlicher Lebensphasen das Gebiet Prenzlauer Berg bewohnt haben (Kindheit, Jugend, Studienzeit, frühes Erwachsensein (mit Kind), Erwachsensein (mit Kind)). Mit Hinblick auf
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die finanzielle Situation der Befragten kann die Auswahl als gering- bis durchschnittsverdienend eingestuft werden. Außer in zwei Fällen wohnen die Befragten heutzutage in verschiedenen Bezirken. Die Auswahl erfolgte durch einen Aufruf über einen Universitätsverteiler mit der Bitte um Weiterleitung an zutreffende Personen. Die Datenerhebung erfolgte über qualitative narrative Interviews, um möglichst umfangreiche thematische und interpretativ offene Antworten zu erhalten, insbesondere aufgrund des stark persönlichen Charakters von Wohnbiographien. Die Interviews folgten einem Leitfaden mit drei zentralen Erzählaufforderungen welche den gesamten autobiographischen Zeitraum seit dem Einzug in das Aufwertungsgebiet bis zur heutigen Wohn- und Lebenssituation abdecken. Im Anschluss an das narrative Interview folgte anhand eines strukturierten Fragebogens die Abfrage der sozioökonomischen Daten der Befragten während jeder erwähnten Wohnphase. Die sieben Interviews wurden während der Monate Juni und Juli 2012 in den aktuellen Wohnungen oder in vertrauter Umgebung der Befragten geführt, das Gesprächsklima war insgesamt angenehm, entspannt, freundlich und von Offenheit gekennzeichnet. Die Gespräche erreichten eine Durchschnittsdauer von 1 Stunde 30 Minuten. Die Interviews wurden transkribiert und in ad hoc ausgewählte, thematische Kodierkategorien eingeteilt. Thematisch zueinander passende Passagen (vgl. Kelle/Kluge 2010: Kapitel 4) wurden mithilfe einer Textanalyse-Software in Codes zusammengefasst. Neben den Aufschlüssen bezüglich der vollzogenen Wanderungsbewegungen äußerten die Befragten zusätzlich eine reichhaltige Reihe an Informationen über die Gründe des Wegzugs und über die Bedeutung der Umzüge. Da die subjektive Rezeption der veränderten Lebensund Wohnbedingungen insbesondere von den Kritiker_innen der Verdrängungsforschung als Argument zu Rate gezogen wird, um die Präsenz von Verdrängung zu verharmlosen, werden diese Aspekte ebenfalls ausgewertet und mit den Überlegungen der Verdrängungsforschung und den Überlegungen bezüglich Wohnpräferenzen kontrastiert.
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AUSWERTUNG UND E NTWICKLUNG EINER W ANDERUNGSTYPOLOGIE Teilaspekte der Verdrängungsanalyse Die Gespräche zeigen, dass Wohnbiographien sehr unterschiedlich voneinander verlaufen und ebenso unterschiedliche Interpretationen vorliegen. Um die zu beantwortenden Fragestellungen anhand des Datenmaterials zu bearbeiten, gliedere ich es in drei Teile: 1. Zeitlich-Räumliches Umzugsverhalten, 2. Umzugsbegründende Motivlagen und 3. Subjektive Rezeption der Umzüge. Ziel ist es, die Typologie so zu entwerfen, dass alle drei Aspekte darin berücksichtigt werden und somit Hauptfragestellung und untergeordnete Fragestellungen darin wiederzufinden sind. Charakter der Wanderungsbewegungen (Teilaspekt I der Typologie) Das Datenmaterial gibt Auskünfte über eine hohe Zahl an Wanderungsbewegungen, welche sich einerseits innerhalb des Aufwertungsgebiets, vor allem aber infolge des Wegzugs aus Prenzlauer Berg ereigneten. Diese galt es zur Beantwortung der Ausgangsfrage Wohin ziehen die vermeintlich Verdrängten? zu systematisieren. Abbildung 1 vereint die von den Befragten vorgenommenen Umzüge seit ihrem Zuzug nach Prenzlauer Berg. Daraus lässt sich erkennen, dass einerseits die unmittelbaren Nachbargebiete (beziehungsweise Bezirke) für die ehemaligen Bewohner_innen attraktiv sind (vgl. die analogen empirischen Ergebnisse von Koch et al. 2016 in diesem Band). Andererseits wurden aus diversen Gründen Zuzugsgebiete gewählt, welche sehr weit entfernt von Prenzlauer Berg liegen.
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Abbildung 1: Skizzierte Wanderungsbewegungen der Befragten 3
Quelle: eigene Darstellung auf Grundlage von Google Maps
Während in manchen Fällen der Wegzug aus dem Aufwertungsgebiet in eine langfristige und stabile Wohnphase mündete, wanderten andere Fälle eine Zeit lang von Wohnung zu Wohnung bis sie zu ihrer aktuellen Wohnsituation fanden. Aus dem räumlichen Umzugsverhalten ergeben sich infolge der Analyse drei Subtypen, die ich Aufrücker_innen, Ausreißer_innen und Nomad_innen nenne und folgend charakterisiere. Aufrücker_innen ziehen sowohl innerhalb des Aufwertungsgebiets als auch über dessen Grenzen hinaus in möglichst nah gelegene Wohnungen. Sie hinterlegen im Rahmen der Umzüge kurze Entfernungen und rücken sozusagen um wenige räumliche Einheiten (Straßen oder Häuser) auf. Haupt-Empfangsgebiete sind in der Regel angrenzende Bezirke. Ausreißer_innen suchen hingegen räumlich entferntere Gebiete auf. Sie zogen zwei oder mehr Bezirke weiter, was auch einen Wegzug aus dem Innenstadtbereich bedeuten kann.
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Die markierten Wanderungen innerhalb der gekennzeichneten Gebiete entsprechen nicht den genauen Zielen der Befragten und dienen lediglich der visuellen Orientierung.
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Die Kategorie Nomad_innen zielt weniger auf das räumliche Umzugsverhalten, sondern auf die zeitliche Dimension. Das Umzugsverhalten von Nomad_innen ist von mehreren zeitlich eng aufeinanderfolgenden Wanderungsbewegungen gekennzeichnet. Die Kategorie Nomad_innen lässt sich mit den Kategorien Aufrücker_innen oder Ausreißer_innen kombinieren. Daraus ergibt sich eine zeitlich-räumliche Beschreibung der Wanderungsbewegungen. Wohnpräferenzen und Verdrängung (Teilaspekt II der Typologie) Aus den Gesprächszusammenfassungen lässt sich erkennen, dass Wohnpräferenzen und Verdrängungsmechanismen einen wechselseitigen Effekt auf das Umzugsverhalten der Befragten haben. Beide Aspekte gilt es im Folgenden näher zu diskutieren. Verdrängung aus dem Prenzlauer Berg? Zentral für die Typologie und die Beantwortung der Fragestellung ist mitunter die Feststellung von Verdrängungsmechanismen als wegzugsmotivierende Faktoren. Der folgende Abschnitt setzt sich mit der Zusammensetzung des Samples in Bezug auf die Gründe des Wegzugs aus dem Aufwertungsgebiet auseinander, um diesbezüglich Gewissheit zu schaffen. Da es sich dabei um ein komplexes und vielschichtiges theoretisches Konstrukt handelt, muss die (nicht) stattgefundene sozialräumliche Verdrängung der Befragten unter Berücksichtigung verschiedener Erzähldimensionen begründet werden. Folgend geht es nicht darum allen Befragten zu unterstellen, dass sie verdrängt wurden, jedoch gilt es zu zeigen, dass Marcuses Verdrängungstypologie persönliche und strukturelle Einzelaspekte berücksichtigt und diese mit der zweiten Begründungsebene, den Wohnpräferenzen, kompatibel sind, woraus letztendlich deutlich wird, dass ein freiwilliger Wegzug kein Garant für die Abwesenheit von Verdrängungsmechanismen ist. Unter den Befragten wurden verschiedene Eindrücke, Selbsturteile und Meinungen zum Aspekt der Verdrängung geäußert. Bewusst wurde nicht gefragt, ob sie sich verdrängt fühlen würden, sondern anhand der in Einzelfragen operationalisierten Verdrängungstypologie von Marcuse. Dieser Fragenkomplex beinhaltete sowohl die ökonomischen als auch physischen Aspekte die Marcuse anspricht, ebenso wie die direkten und indirekten Verdrängungsmechanismen. Die Auswertung ergab, dass ein Großteil der Befragten den Wegzug aus Prenzlauer Berg unter Teilaspekten der Verdrängungsmechanismen erwog.
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Zum einen manifestierten die Befragten die Entfremdung vom eigenen Viertel. Zum Beispiel folgte auf die Frage »Würdest du zurück in den Prenzlauer Berg zieh’n?« die Antwort: » f::: ... (überlegt) weiß ich nich, glaub eher nich, also is mir eher öh so’n bisschen fremd geworden .. [uhum].. also oder, öh... also es is auch so, also es würde jetzt nicht mehr so’n großen Unterschied machen, ob ich jetzt in ’n Prenzlauer Berg oder nach Schöneberg ziehe oder so, also stimmt nicht ganz, weil letztlich im Prenzlauer Berg gibts doch noch so’n paar Anknüpfungspunkte, weil da meine Eltern wohnen und so und aber öh...ja, EIGENTLICH als da is der Unterschied ja der der da hängt halt noch so’n bisschen Geschichte dran, aber eigentlich so rein genommen davon wie der Prenzlauer Berg so heute is, könnt ich auch öh, was weiß ich nach Schöneberg [schmunzeln] (lacht) « (Freddy: 72. Abs.)4.
In einem anderen Gespräch wurde gefragt »Würdest du da gucken, so wenn du dich jetzt nach Wohnungen umguckst?« und die Antwort lautete: »Ich glaub nich. ... Ne ich glaub nich. Ich find’s nicht mehr so interessant. hm...« [...] »Also ich glaub ich kann da noch, ich hatte noch äh, so des Glück den Prenzlauer Berg so zu erleben, wie ich mir es gewünscht hatte und ähm, .. dann lief so noch so’n paar Jahre und für mich hat sich des eigentlich geändert, also man hat schon gesehen, dass diese ganzen Häuser immer so, ähm, saniert werden und dass auf einmal andere Leute rumlaufen und so. Und ganz extrem war für mich die Veränderung wahrnehmbar nachdem ich mein Erasmusjahr oder Halbjahr gemacht hatte und zurückgekommen bin, hm, des war 2005 .. ähm ... des, ich glaube es war vielleicht auch zufällig oder so, es war dann nur noch mein Haus, was nicht saniert war und die Leute waren einfach dann auch anders ähm, .. und ich hab gemerkt, dass es vielleicht gar nicht mehr dem so entspricht was ich mir so vorgestellt hatte« (Magdalena: 10. Abs.).
Die finanziellen Mittel bestimmen für einen Großteil der Befragten die Wohnortwahl. Folgendes Zitat spricht für alle Befragten und legt zudem nahe, dass die materiellen Ansprüche relativ niedrig sind.
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Es wird stets auf den Absatz im originalen Transkript-Dokument verwiesen. Namen vom Autor geändert.
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»Einerseits spielte natürlich Geld ne Rolle, Geld in dem Sinne och, was ich an Wohnkosten bezahle hab ich für andere Lebensqualitäten auch nicht mehr frei, also man kann da sicher schieben und sagen, !na gut, öh, schöne Wohnung und dafür weniger Urlaub oder weniger AusflügeHIER WOHNT NOCH JEMAND< (lacht). Aber öh, ja dadurch dass noch bis zum Schluss die Gewerbemieter unten drin waren und man mit denen auch n Draht hatte und sich verständigte, da ging das, ja war so ne kleine Gemeinschaft von Bleibenden äh solange das ne Gemeinschaft war, ging das auch. Und die sind ja dann, also der Sozialfall und wir sind kurz nachnander dann auch rausgezogen, so dass wa nicht so GANZ allein waren. (lacht)« (Jürgen: 67.–75. Abs.).
Auch die Verdrängungsmechanismen economic und last-resident displacement werden hier erneut deutlich. Dass der Wohnungsmarkt unter dem innerstädtischen Wandel in Berlin allgemein angespannter wird, belegt folgende Äußerung von Jürgen, wenn er sich auf sein ehemaliges und aktuelles Wohngebiet bezieht: »Insofern finde ich DAS wovor ich hier [gemeint ist Prenzlauer Berg] fliehe, diese, diese Umwandlung in Nobelviertel, finde ich dort [gemeint ist Pankow] auch schon und ich rechne damit, dass ich, also ich befürchte, dass ich da nicht lange bleiben kann, dass mich dort dasselbe Schicksal heimsucht, was mich hier vertrieben hat« (Jürgen: 187. Abs.).
Die soziale und bauliche Aufwertung seines ehemaligen Wohnviertels beschränkt sich nicht auf hiesiges Gebiet, sondern wandert selbst weiter in die angrenzenden Wohngebiete. Auf die Frage, ob die Person gerne in Prenzlauer Berg geblieben wäre, bekam ich ebenfalls unterschiedliche Antworten. »Jein (lächelt) also ne, es gab so bestimmte Sachen, die schon schön waren, aber, m.. ich bin, ich sag mal so, damals wär ich bestimmt geblieben, jetzt bin ich so zufrieden, dass ich . genau des nicht mehr als Fehler betrachte wegzuziehen« (Martin: 182. Abs.). »Wenn, ohne Kind ja [uhum] ... joa, auf jeden Fall...« (Anna: 159. Abs.). »Ja. Also öh, ich hätte es für gut gefunden, wenn ick mit einem kurzen Auszug, wenn die schön gemacht worden wäre und öh ich dann och meinetwegen wäre und ich dann meinetwegen etwas in den Marktbereich gehende Miete bezahlt hätte. Also wenn das möglich gewesen wäre, wär ich dort geblieben« (Jürgen: 171 Abs.).
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»also, kurzfristig war für mich erstmal klar >ich zieh aus< aber ich hätte mir, also eigentlich kann ich mir, könnt ich mir auch sehr gut vorstellen ne eigene Wohnung im Prenzlberg zu haben, wenn ich sie mir leisten könnte [uhum] eigentlich würd ich schon gerne im Prenzlberg wohnen, ich mag des Viertel« (Rafael: 141. Abs.).
In manchen Fällen gab es von Seiten der Vermieter Druckmechanismen (pressure of displacement), wobei der Fall von Jürgen als bestes Beispiel dafür steht: »Ja, also der war unverkennbar der Druck, wobei ich find der war irgendwo noch in nem Bereich wo man sagt >is fairich find’ des so toll, ich kann um 3 Uhr auf die Straße gehen und da sind Leute< so, und jetzte wohn’ ich in Lichtenberg und und sag >ich find es toll, dass hier mehr Ruhe ist< ja, also des is schon so, haben sich auch die Prioritäten geändert« (Martin: 18. Abs.).
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»Also insgesamt bin ich nicht mehr so’n Großstadtfan. Also ff- so vor... 10 Jahren hätt ichs mir eigentlich glaub ich nicht vorstellen können wirklich aus der Stadt wegzuziehen .. so, also des is so’n bisschen also für mich is so’n bisschen der Wermutstropfen auch hier an der großen Straße zu wohnen und irgendwie viel Verkehr, viel ..viel Straßenlärm, viel so, Abgase und so, des is, so die *5* ahm ... ansonsten find ichs aber ganz gut, des is halt so öh, noch so’n bisschen lustiger gemixter Kiez is, mit öh, irgendwie so, halt so von Bioladen über besetztes Haus über Szene Latte Machiatto Café. Und so lustige kleine Läden und so öh.. so’n bisschen Kultur.. und also es is jetzt gar nicht so, dass ich da jetzt so öh ausgiebig dran teilhaben würde, aber’s halt da und also, so des, so bisschen pulsiert und lebendig ist und öh.. find ich gut und dass man so für sich ist, so, öh, find ich zum Teil auch ganz gut, also, also was ja auch n Nachteil sein kann, so n bisschen isoliert, man lebt so, kriegt nicht so viel von den Anderen mit, find ich aber andererseits auch ganz angenehm, (..) halt so ungestört, unbehelligt zu sein, seines Weges gehen zu können« (Freddy: 66. Abs.).
Der Wandel eines Viertels kann sich auch mit dem Wandel von persönlichen Wohnpräferenzen decken, wie beispielsweise diese Antwort auf die Frage »und würdest damit auch, glaubst du, gut klarkommen, da wieder zu wohnen?« zeigt: »Öhm, kommt drauf in welcher Ecke, also wenn, wärs mir schon lieb auch ne Gegend zu finden, die etwas ruhiger is, also nich jetzt Simon-Dach-Straße oder Kastanienallee pföhm.. sondern ebend eher so wie’s damals war mit der Erich-Weinert also mehr so ne ruhigere Wohngegend wo man dann aber sich aufs Rad setzt, wenn man Lust hat, am Helmholtzplatz da n Kaffee zu trinken oder wo auch immer, man des machen kann mm« (Angelika: 73. Abs.).
Insbesondere das Thema Nachwuchs bestimmt die Wohnpräferenzen. Das Leben mit Kind in Prenzlauer Berg konnten sich die Befragten schwer vorstellen: »Aber ick hab auch immer gesagt, immer halt gesagt, >wenn ick irgendwann ein Kind kriegen sollte, werd ick nicht mehr im Prenzlauer Berg wohnen< .. AHH die ganzen Mütter da, sind ja auch sehr alt ne? Die gehen mir auch ein bisschen auf den Zeiger [Wohnungstür geht auf] da (lacht). Ist so überfüllt und die Kinder, ja man kann sich halt nicht richtig bewegen ja« (Anna: 16. Abs.).
Während die Wichtigkeit von Ruhe, insbesondere beim Hinzukommen von Kindern, Präferenzwandel bringender Faktor ist, tritt Innenstadtnähe hingegen als Konstante unter den Wohnpräferenzen der Befragten auf, einerlei, ob sie gerade innenstadtnah wohnen oder nicht.
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Die oben angeführten Wohnpräferenzen entsprechen nicht der Gesamtheit aller geäußerten Wohnpräferenzen, sie wurden jedoch von einem Großteil der Befragten vertreten und dienen der Veranschaulichung, dass diese ebenfalls in die Wegzugsentscheidung einfließen. Es lässt sich anhand des analysierten Datenmaterials aussagen, dass sich die Wohnpräferenzen für die Befragten im Laufe der Zeit verschoben haben und diese eine wesentliche Rolle für die Wohnortwahl spielten. Zusammen mit den externen Einflüssen von Verdrängungsmechanismen ergibt sich eine Vielfalt an Kombinationen von Beweggründen für die räumlichen Wanderungsbewegungen. Die Freiwilligkeit der Umzüge ist ein schwer zu beurteilender Aspekt. Alle Befragten verließen ihre Wohnungen in Prenzlauer Berg freiwillig, wobei der Wegzug in manchen Fällen durch externe Faktoren mitverursacht wurde und schon allein die Überlegung des Wegzugs sich mitunter aus externen Faktoren wie Mietsteigerungen, Lärmbelästigung oder strukturellen Veränderungen im Viertel ergab. Diese Verdrängungsmechanismen fallen negativ auf, wenn sie von den Wohnpräferenzen abweichen, sodass beide Aspekte schwer auseinander zu halten sind und somit für eine integrative Betrachtungsweise plädiert wird. Wohnpräferenzen tragen zur Wohnstandortwahl auch insofern bei, dass persönliche Bedürfnisse und Anforderungen, sprich Lebensstil, Haushaltsgröße, Arbeitsplatz, zu erfüllen versucht werden. Von Präferenzen kann nur gesprochen werden, solange tatsächlich die Möglichkeit einer »Wahl« beim Umzug bestand (Bodzentra et al. 1981: 131). Die Wahl findet zwar immer in einem Rahmen begrenzter Möglichkeiten statt, was den »Wähler_innen« eine Anpassung ihrer Präferenzen abverlangt und an diesem Punkt eröffnet sich die Möglichkeit von Wohnpräferenzen und Verdrängung gleichzeitig zu sprechen. Die Schlussfolgerung dieses Teils der Analyse lautet: Die umzugsbegründenden Motivlagen entstehen aus der Wechselwirkung von veränderten Wohnpräferenzen und Verdrängungsmechanismen. Die Präsenz letzterer führt zu einer Neuorientierung und zur Reflexion der persönlichen Wohnbedürfnisse, was nach ihrer Abwägung in eine neue Wohnsituation mündet. Individuen, die vor einem freiwilligen oder unfreiwilligen Umzug stehen, legen ihre Präferenzen im Rahmen ihrer Möglichkeiten neu aus und können sie auch bei unfreiwilligem Wechsel der Wohnsituation decken, wobei die Präsenz von Verdrängung nicht unterschätzt werden darf, da sie als zentraler Auslöser von Umzugsüberlegungen fungieren kann. Daraus ergibt sich die zweite Erklärungsebene der anschließenden Typologie, welche im Rahmen der Wanderungsanalyse genanntes Wechselspiel zu berücksichtigen versucht.
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Subjektive Rezeption des Wegzugs (Teilaspekt III der Typologie) Die Umzüge, so stellte sich bereits während der Feldphase heraus, haben für die Befragten unterschiedliche Bedeutungen. Diese gilt es in die Verdrängungsanalyse miteinzubeziehen und zu systematisieren. Sowohl neue als auch alte in die Beurteilung der Wohnsituation mit einfliessende Aspekte tragen dazu bei, dass die subjektive Rezeption der resultierten Wohnsituation nach einem Umzug differenziert ausfällt. Da die Befragten zum Teil keine pauschale Antwort in Bezug auf die Einschätzung ihrer jetzigen Wohnsituation im Vergleich zu der in Prenzlauer Berg gaben, werden hier verschiedene zu einem Gesamturteil beitragende Faktoren diskutiert. Bei jedem Gespräch wurde nach der Zufriedenheit mit der jetzigen Wohnsituation gefragt, und wie die Befragten diese im Vergleich zu ihrer Wohnzeit in Prenzlauer Berg einschätzen würden. Ich bekam sehr verschiedene Antworten. »Ja es geht mir schon besser, ich hab mehr Platz, ich muss mir kein Zimmer mehr mit meinem Bruder teilen (lacht) des is schon ma, ganz cool, ich kann mehr meine eigenen Gestaltungsvorstellungen in meine Wohnung reinbringen« (Rafael: 60. Abs.). »[H]ier draußen wo ich mich SUPER krass um mein Sozialleben BEMÜHEN muss und auch ab und zu echt Leute einladen und keine Ahnung, dann muss ich halt für die kochen oder irgendwie die hier her ködern, weil freiwillig (lacht) kommt einfach keiner nach Schöneweide also . zumindest nicht von den Freunden, die alle im Stadtzentrum wohnen und DAS is schon schwierig . aber . also das is sozusagen dann der Punkt, um deine Frage zu beantworten JA ich sehne mich schon nach dem Leben da drin, also ich finds- angenehm mal wieder weniger .. mal mal mehr soziales Leben einfach zu bekommen, ohne so viel .. AKTION oder Initiative dabei . aufbringen zu müssen« (Rafael: 54. Abs.). »[A]lso es is:, es sind zwei Seiten von ner Medallie [uhum] muss ich immer so’n bisschen gegeneinander abwägen [ja] ich glaube wenn ich noch hier ne Weile wohne, könnts mir durchaus auch passieren, dass es irgendwann SO anstrengend wird mit dem . s- mit der sozialen Leere hier draußen, dass ich dann doch sage >O.K. scheiß auf Umwelt und Natur, ich will jetzt wieder rein, ich brauch des Leben< kann sein weiß ich nicht« (Rafael: 157158. Abs.)
Diese Passagen aus dem Gespräch mit Rafael deuten auf die hybride Zusammensetzung der Urteile bezüglich der veränderten Wohnsituationen hin. Während
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einige Aspekte oft einschränkend sind, bedeutet der Wegzug aus Prenzlauer Berg hinsichtlich der Lebensumstände oftmals auch eine Verbesserung: »[F]ür mich war dann halt relativ klar, ok, wir ham die Wohnung da unten jetzt ohnehin und jetzt ist halt bloß die Frage, was machen wir mit der Wohnung solange die Sanierungsarbeiten noch NICHT da sind? Und des war für mich sozusagen eine OPTIMALE Gelegenheit zu sagen: hey cool, des is sowieso viel näher an meinem Studie- beziehungsweise an meinem ZUKÜNFTIGEN Studienort, na dann, zieh ich da jetzt schon mal ein und halte die Wohnung halt noch so weit frei, dass IHR auch ausweichen könnt, sobald die Sanierungsarbeiten in der Kastanienallee losgehen« (Rafael: 55. Abs.).
Zwischen positiven und negativen Aspekten kann es zu einer Angleichung bzw. einem Status Quo der Rahmenbedingungen und Wahrnehmungen kommen. »[A]lso sie is jetzt nicht, man könnte nicht sagen besser oder so, ähm, aber ich fühl mich jetzt, ich hab mich damals wohl gefühlt, wohl gefühlt, ich fühl mich jetzt wohl, also des is so gesehen, die Prioritäten ham sich halt verschoben, so könnte man’s halt beschreiben« (Martin: 4. Abs.). »Jaa. Öh ja, wobei, das hat zwei Seiten wieder, einerseits wär ich aus Beharrlichkeit gerne geblieben, wegen der guten Verkehrsanbindung die man hier hat, wegen der Verbindung zur Kirchengemeinde, öh, wegen der Veränderungen im Kiez musste ich zum Schluss feststellen, es ist nicht mehr mein Kiez. Und die Leute, die hier wohnen, haben andere Vorstellungen als ich sie hatte, dieses, diese Gemeinsamkeiten mit vielen anderen jungen Leuten hier im Kiez, die wie in Studentenzeiten hatten, die sind nicht mehr« (Jürgen: 175. Abs.) »Was mir zuerst dort [gemeint ist Pankow] aufgefallen ist, angenehm aufgefallen ist, HIER wohnen wirklich noch Leute. Das war zuletzt in der ganzen Kastanienallee, nicht in meinem Haus, so, dass ich feststellte, hier wohnen immer weniger Leute. Hier ist viel los, hier rennen viele Leute über die Straße, aber richtig wohnen, tut hier kaum noch jemand. Öh, also in dem Kiez wohnen Leute und entsprechend lebt der Kiez auch. Das fällt mir angenehm auf« (Jürgen: 186. Abs.).
Die Befragten beklagten einerseits den Verlust der gewohnten Umgebung und die Vorteile, über lange Zeit in einem Gebiet zu wohnen, zu dem man sich verbunden fühlt. Sie sprachen aber gleichzeitig von erfüllten Wohnbedürfnissen. Folgt man der Dissonanztheorie, so kann man schlussfolgern, dass sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten, zufriedenstellend eine neue Unterkunft gesucht und
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womöglich auch gefunden haben und trotzdem verdrängt wurden. Es sollte hinzugefügt werden, dass der Wegzug im Laufe der Zeit verkraftet worden scheint, da sich der Großteil der Befragten an dem aktuellen Wohnort wohlfühlt und die Wohnbedürfnisse größtenteils gedeckt sind. Eine zusammengefasste Bewertung wurde in manchen Fällen abgegeben, da einzelne Aspekte dennoch schwer auseinander zu halten sind, wird die subjektive Rezeption des Wegzugs in drei untereinander verwobene Kategorien eingeteilt, nämlich Status Quo, Gewinne und Verluste, die der Verlauf der Wohnbiographie mit sich gebracht haben kann. Die Einschätzung bezüglich gedeckter Wohnpräferenzen und die subjektive Beurteilung der infolge des Wegzugs resultierten Wohnsituation erweisen sich ebenfalls als wechselwirkend. Die Abfindung mit der neuen Wohnsituation trägt zu ihrer positiven subjektiven Rezeption bei, während sich nicht erfüllte Wohnpräferenzen negativ auf die Einschätzung der aktuellen Wohnlage auswirken. Von daher lässt sich schlussfolgern, dass Wohnpräferenzen und Verdrängung wechselseitige und kompatible Erklärungsmuster sind, um einen Wegzug zu analysieren, die stark von der subjektiven Einschätzung mitgeprägt sind.
W ANDERUNGSERKLÄRENDE D REI -E BENEN -T YPOLOGIE Aus der vorangegangen Auswertung und den angeführten analytischen Überlegungen haben sich eine Reihe an Hypothesen ergeben, die es in die angestrebte Typologie zur Beschreibung von Wanderungsbewegungen aus dem Aufwertungsgebiet Prenzlauer Berg zu vereinen gilt. Bei einer Typologie handelt es sich um eine »Zusammenfassung jener Objekte zu Typen, die einander hinsichtlich bestimmter Merkmale ähnlicher sind als andere« (Sodeur 1974: 9, zitiert nach Kelle/Kluge 2010: 78). Um sowohl die zeitlich-räumliche als auch die individuelle und subjektive Dimension der Wanderungsbewegungen in die Ergebnisse mit einfließen zu lassen, entschied ich mich für eine dreidimensionale Typologisierung. In jedem Typ sind untereinander ähnliche Merkmalsausprägungen zusammengefasst, die sich wiederum möglichst von den Merkmalen der anderen Typen unterschieden (vgl. Kelle/Kluge 2010: 76). In Abbildung 2 werden die Kategorien der entwickelten Wanderungserklärenden Typologie in drei Ebenen zusammengefasst.
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Abbildung 2: Wanderungserklärende Drei-Ebenen-Typologie Zeitlich-Räumliches Umzugsverhalten
Umzugs-begründende Motivlagen
Subjektive Rezeption
Aufrücker_innen
Wandel der Wohnpräferenzen
Status Quo
Ausreißer_innen Nomad_innen
Sozialräumliche Verdrängung
Verlust
Gewinn
Quelle: eigene Darstellung
Das zeitlich-räumliche Umzugsverhalten kann anhand von zwei räumlichen und einer zeitlichen Kategorie beschrieben werden. Ehemalige Bewohner_innen des Aufwertungsgebiets können entweder in nah liegende Gebiete aufgerückt sein oder in weit entfernt gelegene Gebiete ausgerissen sein. Die Wegzüge können durch ein nomadenhaftes Verhalten gekennzeichnet sein, bei dem innerhalb weniger Zeit mehrere Wohnungswechsel stattfinden. In die Begründung des Wegzugs aus dem Aufwertungsgebiet fließen sowohl veränderte Wohnpräferenzen als auch sozialräumliche Verdrängungsmechanismen ein. Im Nachhinein fällt die Bewertung des Wegzugs aus dem Aufwertungsgebiet teils positiv, negativ oder unverändert aus. Die subjektive Rezeption ergibt sich somit aus der Gesamtgewichtung dieser drei Bewertungsebenen, wobei noch zu erforschen gilt, wie sich eine Gesamtgewichtung möglichst unvoreingenommen bestimmen lässt. Wie bereits im einzelnen beschrieben, trägt jede Ebene zur Beschreibung und Erklärung von Wegzügen infolge eines innenstadträumlichen Aufwertungsprozesses bei. Die wanderungserklärende Drei-Ebenen-Typologie bietet sich aufgrund ihrer integrativen Beschaffenheit für die Analyse anderweitiger Aufwertungsprozesse an. Die einzelnen Ebenen können untereinander verknüpft werden und somit entstehen verschiedene Profile von ehemaligen Bewohner_innen unter Einbeziehung externer und subjektiver Erklärungsfaktoren.
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ABSCHLIESSENDE Ü BERLEGUNGEN DER F RAGESTELLUNG
UND
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B EANTWORTUNG
Die Verdrängungsforschung steht vor der Herausforderung, ihre theoretischen Annahmen empirisch anzuwenden und die verharmlosenden Diskurse bezüglich der negativen Folgen von Aufwertungsprozessen im Innenstadtbereich anzufechten. Dieser explorative Beitrag versucht anhand qualitativer Verfahren eine Alternative zur Verdrängungsanalyse zu schaffen, deren enthaltene Hypothesen in Zukunft auf ihre statistische Relevanz geprüft werden müssen. Die Aufwertung von Innenstadtgebieten hinterlässt auch in Berlin-Prenzlauer Berg ihre Spuren, zu denen nicht nur die sichtbaren Veränderungen im Viertel gehören, sondern ebenfalls die veränderten wohnbiographischen Verläufe seiner ehemaligen Bewohner_innen. Diese galt es im Rahmen dieser Arbeit näher zu untersuchen und zu systematisieren. Die anhand der Gespräche mit ehemaligen Bewohner_innen von BerlinPrenzlauer Berg entwickelten Schlussfolgerungen können als erste Grundlage für die qualitative Verdrängungsforschung angesehen werden. Die Analyse von Wohnbiographien erwies sich als sehr aufschlussreich, da sie wichtige deskriptive und explikative Informationen über die Verläufe der ehemaligen Bewohner_innen von Prenzlauer Berg infolge ihres Wegzugs offenbarte. Die in diesem Rahmen gewonnenen Erkenntnisse können auch für zukünftige Analysen zu Rate gezogen werden, um andere von Gentrification betroffene Gebiete und die sozialräumlichen Folgen zu untersuchen. Anhand der Wohnbiographien konnten die Wanderungsbewegungen von ehemaligen Prenzlauer Berger_innen erfasst und in ein typologisches Schema überführt werden. Neu daran ist, dass einerseits der zeitlich-räumliche Verlauf der Umzüge betrachtet werden kann. Dies hat gegenüber der amtlichen Statistik den Vorteil, dass sowohl Bewegungen innerhalb eines Verwaltungsbezirks als auch weitere Bewegungen nach der ersten Überschreitung der Bezirksgrenze mitberücksichtigt werden konnten. Die Auswertung von Wohnbiographien komplementiert die Erkenntnisse, welche über die quantitativ auswertbaren Daten der Bezirksämter gewonnen werden können. Andererseits liegt der Vorteil der Analyse von Wohnbiographien in der Wissensgenerierung bezüglich der umzugsbegründenden Motivlagen und der subjektiven Rezeption der umgezogenen Befragten. Insofern konnten persönliche Gründe und Bewertungen und strukturelle Rahmenbedingungen als Einflussfaktoren auf den Verlauf der Wohnstationen ebenfalls mitberücksichtigt werden. Die Gründe hierfür lassen sich zusammengefasst als Wechselspiel von Verdrängungsmechanismen und subjektiven Wohnpräferenzen deuten, wobei die subjek-
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tive Einschätzung der Wohnbiographie miteinbezogen werden muss, um die Motivlagen zu reflektieren. Diese Verdrängungsanalyse leistet zusätzlich einen Beitrag zur Berliner Gentrification-Debatte auf der Mikroebene. Es konnte die Präsenz von Verdrängungsmechanismen festgestellt werden, welche als Schlüsselfaktoren für Gentrification gelten. Somit bezieht auch diese Studie Stellung für die Feststellung von Gentrification in Berlin-Prenzlauer Berg. Der Faktor Freiwilligkeit soll hier nochmals gesondert aufgegriffen werden. Freiwilligkeit ist keine Absicherung gegen das Ausschließen von Verdrängung, so wie Verdrängung keine Kategorie ist, die den vermeintlich Betroffenen ohne Anhörung aufgesetzt werden sollte. Diese Analyse hat gezeigt, dass über die Feststellung von freiwilligen Umzügen hinausgegangen werden muss, um das Umzugsverhalten infolge eines Wegzugs aus einem Aufwertungsgebiet zu erklären.
F AZIT Sozialräumliche Verdrängung kann auch infolge dieser Untersuchung weiterhin als schwer messbares Phänomen bezeichnet werden. Es wurde deutlich, dass die Vielschichtigkeit und die Multikausalität der Faktoren, die einen Wegzug aus einem innerstädtischen Aufwertungsgebiet auslösen, für eine offene, unvoreingenommene und somit für eine qualitative Analyse sprechen. Der Gentrificationprozess in Prenzlauer Berg befindet sich heute in der Spätphase des Gesamtverlaufs (vgl. Döring/Ulbricht 2016 in diesem Band), und doch konnten bisher keine aussagekräftigen Ergebnisse bezüglich des Verlaufs der ehemaligen Bewohner_innenschaft getroffen werden. Die vorliegende Analyse kommt diesem Ziel insofern näher, dass erste Überlegungen in dieser Hinsicht systematisch und aufgrund empirischer Daten und unter Integration vorhandener Deutungsmuster entwickelt werden konnten. Der nächste Schritt besteht darin, die hier entwickelte Typologie in einer umfangreicheren Größenordnung zu testen und mit den neu hinzukommenden Erkenntnissen zu ergänzen, beziehungsweise ihre Merkmale zu präzisieren. Ebenso sinnvoll wäre es, die qualitativ gewonnenen Erkenntnisse mit den Ergebnissen quantitativer Auswertungen hinsichtlich der Mobilität von ehemaligen Prenzlauer Berger_innen zu kombinieren. Es besteht kein Grund dafür, die negativen Folgen von innerstädtischen Aufwertungsprozessen zu verharmlosen oder zugunsten anderer Effekte in Kauf zu nehmen. Vielmehr deuten die hier gewonnenen Erkenntnisse daraufhin, dass
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Gentrification – in Prenzlauer Berg – als Beispiel dafür steht, dass das wissenschaftliche und politische Augenmerk nicht nur auf das Gebiet selbst, sondern ebenfalls auf die sozialräumlichen Folgen über seine Grenzen hinweg gelegt werden muss. Prenzlauer Berg war der Berliner Vorreiterbezirk hinsichtlich innerstädtischer Aufwertungsprozesse, weswegen sich die Erkenntnisse bezüglich seiner ehemaligen Bewohner_innen für andere bereits stattfindende Prozesse derselben Art anbieten. Weitere Beispiele in Berlin und weltweit gibt es genug.
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GentriMap: Ein Messmodell für Gentrification und Verdrängung A NDREJ H OLM , G UIDO S CHULZ
Gentrification hat sich in den letzten Jahren (nicht nur in Berlin) zu einem zentralen Stichwort der Beschreibung von aktuellen Stadtentwicklungstrends entwickelt. Hintergrund ist eine veränderte Geographie der Aufwertung, die sich nicht mehr auf einzelne Nachbarschaften beschränkt, sondern vielerorts weite Teile der Innenstädte erfasst. Insbesondere städtische soziale Bewegungen aber auch einige Stadtverwaltungen haben das Thema der städtischen Aufwertungsprozesse in den letzten Jahren auf die politische Tagesordnung gesetzt und suchen nach geeigneten Strategien gegen die damit verbundene Verdrängung. Zur Legitimation ihrer Forderungen und zur Begründung von möglichst zielgenauen Interventionen wächst damit der Bedarf nach detaillierten und aktuellen Daten zur Gentrification. Trotz der sozialpolitischen Dringlichkeit des Themas hat die Stadtforschung bisher nur wenige empirische Studien zu bieten, die versuchen, Gentrification systematisch zu messen, oder das Ausmaß und die Form der aufwertungsbedingten Verdrängung zu erfassen. Auch ein nachvollziehbares und allgemeingültiges Messinstrument wurde bisher noch nicht entwickelt. Im Beitrag werden wir zunächst die Notwendigkeit einer statistisch nachvollziehbaren und möglichst allgemeingültigen Analyse von GentrificationProzessen begründen und Kriterien für ein solches Messinstrument vorstellen (1). Anschließend stellen wir bestehende Studien zur stadtweiten und datenbasierten Gentrification-Analyse vor um verschiedene methodische Herausforderungen solcher Analyseinstrumente kenntlich zu machen (2). Darauf aufbauend werden wir mit dem Projekt GentriMap ein Modell zur Messung von Gentrification-Prozessen zunächst allgemein, dann am Beispiel Berlin darstellen (3). Im abschließenden Fazit fassen wir die Potentiale und Grenzen des von uns entwickelten Modells zusammen (4).
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W ARUM
SOLLTE G ENTRIFICATION ÜBERHAUPT GEMESSEN WERDEN ? Das Vermessen von sozialen Phänomenen hat insbesondere in der kritischen Forschung keinen guten Ruf und steht unter dem Dauerverdacht der positivistischen Ausblendung von strukturellen Kontexten des Untersuchungsgegenstandes (Adorno 1957; Eckardt 2014: 84ff.). So zutreffend die Forderung nach einem Komplexität verstehenden und Ursachen erklärenden Forschen ist, so notwendig sind für Forschungsprozesse selbst und auch für die gesellschaftliche Vermittlung empirische Belege, statistische Daten und nachvollziehbare Methoden. Auch für die Gentrification-Forschung und die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um städtische Aufwertungsprozesse gilt: Zahlen sind nicht alles, aber ohne Zahlen ist alles nichts. Die Herausforderungen für die Entwicklung eines methodisch abgesicherten Messmodells konstituieren sich aus der räumlichen Diversifizierung und globalen Ausbreitung von Gentrification-Dynamiken sowie der erstarkenden (stadt-)politischen Relevanz des Themas.
R ÄUMLICHE D IVERSIFIZIERUNG DER G ENTRIFICATION
UND
M UTATION
Gentrification-Diagnosen sind – das zeigen Beispiele in New York und London – längst nicht mehr auf einzelne Stadtviertel beschränkt, sondern haben sich von der Ausnahmesituation zum neuen städtischen Mainstream entwickelt (Wyly/Hammel 1999). Auch für die Berliner Entwicklungen konnten vergleichbare Aufwertungskaskaden als Mainstream der Stadtentwicklung beschrieben werden (Holm 2013; Döring/Ulbricht 2016 in diesem Band). Über diese Ausbreitung innerhalb der Städte hinaus haben etliche Studien in den vergangenen Jahren Gentrification-Prozesse auch außerhalb der großen Metropolen festgestellt. Exemplarisch benannt seien hier Städte wie Bristol (Bridge 2003), Portland, Maine (Lees 2006), Newcastle (Cameron 2003) oder Leeds (Dutton 2003, 2005) aber auch die Ansätze zur Untersuchung einer Gentrification des ländlichen Raumes (rural gentrification) (Phillips 2005; Darling 2005; Ghose 2007; Hjort 2009). Eine dritte räumliche Modifikation der Gentrification bezieht sich auf bauliche Kontexte von Aufwertungsprozessen. So greifen Autor_innen bei ihren Untersuchungen zur Wiederaufwertung ehemaliger Industrie- und Hafenanlagen auf den Gentrification-Begriff zurück (Davidson/Lees 2005; Visser/Kotze 2008; Rérat/Söderström/Piguet 2009). Tim Butler und Loretta Lees verweisen auf die Verdrängungsdimension von sogenannten »new-build-gentrification« wenn
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UND
V ERDRÄNGUNG
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nachbarschaftliche und gesamtstädtische Zusammenhänge in die Aufwertungsanalyse von Neubauprojekten aufgenommen werden (Butler/Lees 2006: 469). Beispiele aus Newcastle (Cameron 2003) und London zeigen zudem, dass sich die neu entstandenen Luxuswohnanlagen auch auf die Bodenpreise der Umgebung auswirken und dort Aufwertungsprozesse auslösen. Loretta Lees und Mark Davidson benutzen für diese Effekte die Metapher von »Tentakeln der Aufwertung« (Davidson/Lees 2005: 1186). Diese räumliche Ausweitung und Diversifizierung der Gentrification stellt die Forschung vor konzeptionelle und methodische Herausforderungen. Insbesondere die neue entdeckte Vielfalt an räumlichen Kontexten und Varianten ist mit den klassischen Verlaufsmodellen (Clay 1979; Dangschat 1988) und etablierten Annahmen über die sozialstrukturelle Zusammensetzung der Gentrifier (Häußermann/Siebel 1987; Ley 1996) und ihrer spezifischen Lebensstile (Beauregard 1986; ; Blasius 1993; Zukin 1990) nicht mehr angemessen zu analysieren. Loretta Lees und Mark Davidson haben mit der Koinzidenz einer (1) Reinvestition von Kapital, der (2) sozialen Aufwertung des Lokalen durch Zuzüge von Besserverdienenden, der (3) Umwandlung der Landschaft und der (4) direkten oder indirekten Verdrängung von ärmeren Haushalten (Davidson/Lees 2005: 1187) ein Definitionsangebot der Gentrification mit hohem Abstraktionsgrad formuliert. Eine empirische Überprüfung der Indikatoren erfolgte bisher überwiegend in Fallstudien einzelner Nachbarschaften. Die Gentrification-Forschung ist daher nach wie vor mit dem Dilemma konfrontiert, dass GentrificationProzesse nur dort festgestellt werden, wo sie zu Beginn des Forschungsprozesses vermutet wurden. Angesichts des rasanten Tempos der Neuentdeckungen von bisher unbekannten Varianzen der Gentrification stellt sich jedoch die Frage, welche Variationen der Aufwertung bisher übersehen wurden. Stadtweite Prozesse sind mit dem methodischen Instrument der Sozialraumanalyse nicht angemessen zu analysieren. Ein kleinräumiges aber stadtweites statistisches Messmodell von abstrakt formulierten Indikatoren könnte diese Lücke schließen und als Instrument einer umfassenden Identifikation von Gentrification-Dynamiken dienen.
G LOBALE AUSBREITUNG
DER
G ENTRIFICATION
Rowland Atkinson und Gary Bridge beschrieben Gentrification vor über 10 Jahren bereits als »new urban colonialism« (Atkinson/Bridge 2005) und verweisen auf einen doppelten Globalisierungseffekt. Zum einem sind GentrificationProzesse nicht länger auf westeuropäische und nordamerikanische Metropolen
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beschränkt, sondern haben längst einen globalen Maßstab erreicht. Zum anderen werden zunehmend international tätige Investmentfirmen und global agierende Projektentwickler als zentrale Akteure der Aufwertung identifiziert (Hackworth/Smith 2001: 468). So wurde die internationale Gentrification-Debatte in den vergangenen Jahren um zahlreiche Beispiele jenseits der bisherigen Forschungslandschaften bereichert. Darunter sind Studien zu Aufwertungsprozessen in osteuropäischen Städten (Badyna/Golubchikov 2005; Feldmann 2000; Kovács 1998; Ruoppila/Kärik 2003; Sykora 2005) ebenso zu finden, wie Beispiele aus Japan (Fujitsuka 2005; Namba 2000), der Türkei (Ergun 2004; İslam 2010; Uzun 2003) und Brasilien (Rubino 2005). In dem kürzlich veröffentlichten Sammelband »Global Gentrifications« (Lees/Shin/Lòpez-Morales 2015) geben über 20 Beiträge und Fallstudien einen Einblick in die vielfältigen und sehr unterschiedlichen Gentrification-Dynamiken in Afrika, Asien und Lateinamerika. Eric Clark stellt in diesem Zusammenhang zurecht die Frage: Wie können wir angesichts von so verschiedenen Kontexten überhaupt von Gentrification sprechen, ohne in die Falle einer universalistischen Generalisierung oder einer partikularistischen Phänomenologie zu tappen (Clark 2015: 453f.). Von diesen konzeptionellen Unsicherheiten betroffen, stehen sich in der Stadtforschung gegensätzliche Einschätzungen über die Reichweite der etablierten Konzepte gegenüber. Während Neil Smith und Tom Slater mit ihren Thesen einer »global urban strategy« (Smith 2002) und »planetary rent gaps« (Slater 2015) argumentieren, dass Gentrification ein weltweit dominanter Prozess der Stadtentwicklung sei, bestreiten eine Reihe von Autor_innen, dass das Gentrification-Konzept überhaupt einen Erklärungswert für Entwicklungen in Städten des globalen Südens habe (Ghertner 2011, 2015; Lemanski 2014). Die Gentrification-Forschung steht damit vor der typischen Herausforderung des »comparative urbanism« (Conell 2007; Robinson 2003, 2013), westliche Theorien zu »provinzialisieren«, den Blick auf eine Vielzahl von »ordinary cities« (Robinson 2006) zu lenken und durch die Betrachtung divergenter Kontexte zu einer Revision bestehender Konzepte beizutragen (Robinson 2011). Voraussetzung für eine solche Inventur der Gentrification-Theorie ist jedoch ein Minimalkonsens über die zu analysierenden Phänomene im Sinne eines empirisch fassbaren und verallgemeinerbaren Sachbegriffs (Whithead 1987: 15ff.). Ein reproduzierbares Messinstrument zur Identifikation von möglichen Gentrification-Dynamiken ist die Voraussetzung zur Analyse von unterschiedlichen Kontexten, Anlässen, Verlaufsformen und Folgen.
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(S TADT -) POLITISCHE R ELEVANZ
DER
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G ENTRIFICATION
Weil das Konzept der Gentrification die sozialen Kosten der städtischen Veränderung einpreist, ist es umstritten. Die Perspektive auf die Gentrification hängt unmittelbar mit dem sozialen Status und der eigenen Stellung in den Aufwertungsprozessen ab: Die Vorteile, Nachteile und Einschränkungen, die mit der Gentrification einer Nachbarschaft verbunden sind, unterscheiden sich zwischen Immobilienmarktakteuren, Teilen der politischen Elite und der Verwaltung, Bewohner_innen die dort ihre Wohnpräferenzen realisieren können und den Mieter_innen, die wegen steigender Wohnkosten aus den Gebieten verdrängt werden oder sich wegen der hohen Mieten in anderen Lebensbereichen einschränken müssen, oder den Gewerbetreibenden der kleinen Nachbarschaftsgeschäfte, die wegen erhöhter Gewerbemieten und ausbleibender Kundschaft ihre Betriebe und Läden schließen mussten. Entsprechend unterschiedlich fallen auch die Bewertungen von Gentrification-Prozessen aus. Neil Smith erklärt in diesem Zusammenhang das Provokationspotenzial des Begriffs: »Gerade weil die Sprache der Gentrification uns die Wahrheit über die mit der ›Regeneration‹ der Stadt verbundenen Klassenverschiebungen benennt, ist es zu einem dirty word für Immobilienentwickler, Politiker und Finanzakteure geworden« (Smith 2002: 445, Übersetzung AH) Der Gentrification-Begriff hat sich in den letzten Jahren von einem wissenschaftlichen Fachbegriff zum Gegenstand von diskursiven Strategien entwickelt und wurde in öffentlichen Debatten tabuisiert, als »gefühlte Gentrification« angezweifelt, als ideologischer Kampfbegriff diskreditiert, als Anklage für eine ungerechte Stadtentwicklung ins Feld geführt und als Wiederbelebung der Innenstädte romantisiert und verharmlost. Insbesondere in lokalpolitischen Auseinandersetzungen, in denen unterschiedliche Interessengruppen oft unmittelbar aufeinandertreffen, hat sich ein regelrechter Fetisch um den Beleg oder die Zurückweisung eines Gentrification-Befundes entwickelt. Die tatsächlichen sozialen Effekte der Entwicklung treten dabei ebenso in den Hintergrund wie die ökonomischen und politischen Ursachen der Entwicklung. Vielfach scheint sich eine Einstellung durchgesetzt zu haben, die »ein bisschen Gentrification« noch als positive Entwicklung einschätzt und eine »tatsächliche Gentrification« als Problem wahrnimmt. Die Frage, ab wann ein städtischer Veränderungsprozess zur Gentrification wird, beschäftigt nicht nur Nachbarschaftsinitiativen und Sanierungsträger, sondern auch Stadtverwaltungen und Lokaljournalist_innen. Öffentliche Positionierungen zum Thema sind von meist interessengeleiteten Vorstellungen darüber geprägt, was eigentlich als Gentrification zu verstehen sei. Auffällig dabei ist, dass die vielerorts intensiv geführten Debatten sich oft
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weit von den wissenschaftlichen Konzepten entfernen und insbesondere Oberflächenbeobachtungen (Mode, Lebensstile, Angebotsstrukturen) einen großen Stellenwert einräumen. Die von vielen wahrgenommene Vagheit des Gentrification-Konzepts in den öffentlichen Debatten geht jedoch auch auf die Forschung selbst zurück. Erstens konzentrierten sich die engagiert vorgetragenen Forschungsarbeiten über viele Jahre auf zum Teil konkurrierende Erklärungsansätze, so dass der Eindruck entstand, es würde gar kein einheitliches Verständnis des Phänomens existieren (Slater 2006: 746ff.). Zweitens wurde auch nach über 50 Jahren GentrificationForschung noch kein allgemein akzeptiertes Messinstrument entwickelt, um einen empirisch begründeten Gentrification-Befund zu formulieren (Atkinson 2000: 174f.). Anders als beispielsweise zu Konzepten wie der relativen Armut oder der Segregation gibt es für Gentrification-Prozesse weder einen Maßstab noch ein Messinstrumentarium zur Analyse solcher Prozesse in unterschiedlichen Kontexten. Dritter Grund für die öffentliche Konfusion um den Gentrification-Begriff ist eine jahrelange Fokussierung der Forschungsarbeit auf einzelne Nachbarschaften, bei denen der Aufwertungsbefund oft schon vorausgesetzt wurde und spezifische Voraussetzungen, Effekte und Kontexte der Gentrification untersucht wurden. Auch hier könnte ein nachvollziehbares und stadtweites Messmodell eine Lücke schließen, gesellschaftliche Diskussionen mit Sachargumenten ausstatten und Wechselwirkungen zwischen räumlichen Gebietsdynamiken und übergreifenden Struktureffekten erfassbar machen. Zwischenfazit: Die räumliche Ausweitung der Gentrification, eine zunehmende Globalisierung städtischer Aufwertungen und die verstärkten öffentlichen Diskussionen stellen die Gentrification-Forschung vor neue Herausforderungen. Für eine tiefergehende und vergleichende Analyse aber auch für eine sinnvolle gesellschaftliche Diskussion ist es eine Aufgabe der Forschung, nachvollziehbare Daten für städtische Aufwertungsprozesse bereitzustellen. Mit unserem am Beispiel von Berlin entwickelten Instrument der GentriMap können wir hier einen Vorschlag vorstellen, wie Gentrification auf der Basis einer stadtweiten statistischen Analyse in einem kleinräumigen Maßstab auf der Ebene von Nachbarschaften identifiziert werden kann.
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H ERAUSFORDERUNGEN BEI DER M ESSUNG VON G ENTRIFICATION Dass sich selbst nach über 50 Jahren Gentrification-Forschung kein Konsens bezüglich eines Messinstrumentes gebildet hat, ist wohl in erster Linie auf die Uneinigkeit bezüglich der Definition von Gentrifizierung zurückzuführen.1 Unabhängig von der genauen Definition, stellt die stadtweite Messung von Gentrification zum einen eine Vielzahl an Anforderungen an den Umfang und die Qualität der Daten und verlangt zum anderen eine möglichst präzise und aussagekräftige Operationalisierung2. Anforderungen an die Datengrundlage Zur Abbildung des Wandels einzelner Gebiete sind generell konsistente Längsschnittdaten zum »Vorher-Nachher-Vergleich« zwingend erforderlich. Dies stellt insbesondere beim Versuch Verdrängung über Individualdaten zu messen und die Folgen für Betroffene zu bestimmen, ein Problem dar (Lees/Slater/Wyly 2010: 319). Um hingegen aussagekräftige raum- oder subgruppenspezifische Schätzungen per statistischer Inferenz durchführen zu können, ist eine umfangreiche und entsprechend geschichtete Stichprobe erforderlich. Liegt keine geeignete Stichprobe vor, und das ist für die meisten relevanten teilerhobenen Haushaltsbefragungen der Fall, so verlieren die Ergebnisse aufgrund zu hoher Standardfehler ihre Aussagekraft (Small Area Estimation Problem). Demographische oder soziale Indikatoren stehen als Aggregatdaten zumeist in Form von stadtweiten Vollerhebungen zur Verfügung, so dass die Stichprobenproblematik entfällt. Jedoch erfordert der Nachweis der Kleinteiligkeit von Gentrification-Prozessen Aggregatdaten in feinstmöglicher räumlicher Auflösung. Bei unzureichender räumlicher Auflösung können sich lokale Prozesse von
1
Die unterschiedlichen Definitionen, die in empirischen Untersuchungen zur Identifikation von Gentrifizierungsgebieten verwendet wurden, variieren zumeist entlang der gewählten Untersuchungsmethoden. So beinhaltet die Definition von Gentrifizierung in qualitativen Studien zumeist die Veränderung des sozialen Charakters und der lokalen Kultur, während in quantitativen Studien häufig der Wandel der soziodemographischen Struktur der Nachbarschaft als zentrales Kriterium für Gentrifizierungsprozesse erachtet wird (Barton 2016: 93f.).
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In diesem und im folgenden Abschnitt sind einige Ideen und Formulierungen meiner unveröffentlichten Masterarbeit (Schulz 2015) ohne explizite Kennzeichnung entnommen.
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Zerfall, Aufwertung oder Polarisierung innerhalb des Aggregatgebietes gegenseitig aufheben und somit unentdeckt bleiben (Glatter 2007: 45ff.). Hochauflösende Aggregatdaten, etwa auf Nachbarschaftsniveau, werden stadtweit nur selten erhoben oder sind aus Gründen des Datenschutzes nur eingeschränkt zugänglich. Dies gilt insbesondere für wichtige Proxyvariablen wie der Armutsquote, dem Haushaltseinkommen, dem Bildungsniveau, der Wohnkostenquote, der Wohnfläche pro Kopf oder den Miet- und Wohnungspreisen. Zuletzt sollten die Daten nach Möglichkeit vollständig sein oder ein explizites Wissen über Art und Ausmaß der Unvollständigkeit und damit einhergehende Verzerrungen bestehen. Je nach Erhebungsmethode und Inhalt weichen insbesondere behördlich erhobene Daten mehr oder minder von der Realität ab, was beispielsweise präzise Aussagen über das Ausmaß aufwertungsbedingter Verdrängung erschwert. Gerade prekär lebende Mieter_innen sind oft gar nicht bei den Behörden gemeldet und werden somit auch bei erzwungenen Umzügen in den amtlichen Statistiken nicht erfasst. Selbst bei Haushaltsbefragungen wird meist nur der Haushaltsvorstand befragt, wodurch bereits verdrängte Mieter_innen möglicherweise selbst aus den detailliertesten Befragungen verschwinden, wenn sie bei Freund_innen oder Verwandten untergekommen sind (Wyly et al. 2010: 2603). Methodische Herausforderungen Neben diesen Anforderungen an die Daten besteht die zentrale methodische Herausforderung bei der Messung von Gentrification darin, den Zusammenhang zwischen Aufwertung und Verdrängung zu erfassen. Je nach Form der Verdrängung gilt es, ein geeignetes Messinstrument zu finden, um Verdrängungseffekte auch effektiv als solche zu identifizieren. Als besonders komplex gilt die Messung von direkter Verdrängung, welche eine Differenzierung zwischen aufwertungsbedingt unfreiwilligen und anderen Umzügen voraussetzt (vgl. Atkinson 2004: 112ff.). Eine entsprechende Operationalisierung gestaltet sich selbst mit gezielt konzipierten Befragungen von Umgezogenen als schwierig und ihre Ergebnisse bleiben nur bedingt objektivierbar. Soll beispielsweise ein umgezogener Haushalt als ökonomisch verdrängt gelten, wenn der_die Befragte angibt, vor dem Auszug die Ankündigung einer für sie_ihn unbezahlbaren Mietpreissteigerung vom Vermieter erhalten zu haben, als Umzugsgrund aber den jahrelang gehegten Wunsch nach einer Wohnung im Grünen nennt? Umzugsentscheidungen sind selten monokausal und eine »Unterscheidung in persönliche, wohnungs-/wohnumfeldbezogene und berufliche Anlässe [...] ist stets mit Unschärfen behaftet« (Dittrich-Wesbuer/Brzenczek 2010: 39). Zudem wird die Zuord-
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V ERDRÄNGUNG
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nung in die binäre Kategorie »freiwillig« oder »unfreiwillig« umgezogen dadurch erschwert, dass Betroffene dazu neigen, zur Reduktion kognitiver Dissonanz ihren unfreiwilligen Auszug ex post als freiwillig zu verklären (Blasius 1993: 211ff.). Eine eindeutige Einteilung in »freiwillige« und »unfreiwillige« Umzüge als Grundlage der Messung von aufwertungsbedingter Verdrängung zu wählen ist also problematisch – unabhängig von der gewählten Operationalisierung des Verdrängungsbegriffs (Betancourt 2016 in diesem Band). Zudem besteht bei der Analyse von Wanderungsdaten das Problem, dass sich in Umzugsstatistiken unterschiedliche Verdrängungseffekte gegenseitig »neutralisieren« können (Freeman/Cassola/Cai 2015: 16). Während direkte Verdrängung die Fortzugsrate erhöht, senkt ausschließende Verdrängung die Fortzugsrate – was in der Summe zu einer Nivellierung der Effekte führen würde.
F ORSCHUNGSSTAND Vor dem Hintergrund dieser hohen Anforderungen an Daten und Methoden ist es kaum erstaunlich, dass in der Fülle an wissenschaftlichen Publikationen zu Gentrification quantitative Studien zu deren Messung nur einen sehr kleinen Teil ausmachen. Nach einem ersten Boom von Studien von Ende der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre (z.B. Grier/Grier 1980; LeGates/Hartman 1981, 1986; Marcuse 1985; Sumka 1979) kam die quantitative Gentrification-Forschung vor allem im angelsächsischen Raum erst durch das Aufkommen einer weiteren Gentrification-Welle ab Anfang der 2000er Jahre wieder in Schwung (z.B. Atkinson 2000; Atkinson et al. 2011; Freeman/Braconi 2004; Freeman 2005; Freeman/Cassola/ Cai 2015; Hedin et al. 2012; McKinnish/Walsh/White 2008; Newman/Wyly 2006; Wyly et al. 2010). Der geographische Fokus der Untersuchungen lag dabei häufig auf New York City oder dem Großraum London. Obwohl einige dieser neueren Studien für ihren diffusen konzeptionellen Rahmen und ihre teils mangelhafte Auseinandersetzung mit der Theorie und den Begriffen der Gentrification-Forschung scharf kritisiert wurden (vgl. Slater 2009), sind die innovativen Versuche der Autor_innen, überhaupt ein Messinstrument zur Erfassung von Gentrification und Verdrängung zu entwickeln, angemessen zu würdigen. Im Folgenden soll die jeweilige Methodik der genannten Beispielstudien kurz rekapituliert werden. Der Großteil der Studien dieser jüngsten Publikationswelle verwendet Daten von vergleichbarer Struktur, das heißt eine Kombination von teilerhobenen Individualdaten aus längsschnittlichen Haushaltsbefragungen und behördlichen
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Aggregatdaten. Auch in der Methodik ihrer Datenanalyse sind sich die Studien grundsätzlich ähnlich. In einem ersten Schritt werden üblicherweise Gentrification-Gebiete auf Ortsteil- oder Stadtteilniveau identifiziert. Zur Operationalisierung von Gentrification dient meist lediglich ein Indikator für soziale Aufwertung.3 Das bedeutet, dass Orts- oder Stadtteile genau dann als GentrificationGebiet klassifiziert werden, wenn sie sich im Beobachtungszeitraum hinsichtlich bestimmter sozialstruktureller Statistiken hinreichend »verbessert« haben.4 Unter den oben genannten Beispielstudien lässt alleine Freeman (2005: 471 f.) neben sozialstrukturellen Statistiken auch baustrukturelle und immobilienwirtschaftliche Daten in die Kriterien zur Identifikation von Gentrification-Gebieten einfließen. In einem zweiten Schritt wird dann zumeist das Umzugsverhalten der Bewohner_innen von Gentrification- und Nicht-Gentrification-Gebieten mit verschiedensten Instrumenten analysiert, um das Ausmaß von aufwertungsbedingter Verdrängung inferentiell zu schätzen. Freeman/Braconi (2004), Freeman (2005) und Freeman/Cassola/Cai (2015) modellieren hierfür die binäre Zielgröße »umgezogen«/»nicht umgezogen« mittels logistischer Regressionen, Atkinson (2000) und Atkinson et al. (2011) schätzen Verdrängung mithilfe der Wanderungssaldi verschiedener sozialer Gruppen, und Newman/Wyly (2006) und Wyly et al. (2010) operationalisieren Verdrängung über die von Umgezogenen angegebenen Umzugsgründe.5
3
Freeman/Branconi (2004) stellen eine (unrühmliche) Ausnahme dar. Sie identifizieren Gentrification-Gebiete in New York City ohne Rückgriff auf eine Indikatorvariable, sondern allein auf Grundlage ihrer subjektiven »Vertrautheit mit den jüngsten Trends der Nachbarschaftswandel« (Freeman/Braconi 2004: 43, Übersetzung GS).
4
Atkinson (2000) und Freeman/Cassola/Cai (2015) bezogen sich hierfür auf die Änderung der Beschäftigungsstruktur, Hedin et al. (2012) nutzten die Änderung der Haushaltseinkommen, während Atkinson et al. (2011) eine Reihe von sozialstrukturellen Kennzahlen in ihrer Indexbildung kombinierten.
5
Einzig Atkinson et al. (2011) stehen bei der Wanderungsanalyse vollerhobene Individualdaten zur Verfügung, sodass ihre Schätzungen von Verdrängung keinen inferentiellen Schritt erfordern.
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K RITIK Über die letzten Jahrzehnte sind in den Studien zweifellos große Fortschritte im Hinblick auf ihre Datengrundlage und Methodik zu verzeichnen. Dennoch bedürfen deren analytische und methodische Vorgehensweisen sowie ihre jeweiligen Datengrundlagen einer kritischen Auseinandersetzung. Folgende zentrale Kritikpunkte sind an den jüngsten Studien zu äußern: Obwohl fast alle Definitionen von Gentrification immobilienwirtschaftliche Aufwertung als zentral für den Prozess erachten, wird diese Dimension bei der empirischen Identifikation von Gentrification-Gebieten zumeist nicht berücksichtigt (z.B. Atkinson 2000; Atkinson et al. 2011; McKinnish/Walsh/White 2008). Auch bei der Messung von Verdrängung über die Analyse von Wanderungsdaten bleibt der Aspekt der immobilienwirtschaftlichen Aufwertung weitgehend unbeachtet. Das heißt, es wird nicht explizit versucht, den für GentrificationProzesse wesentlichen Zusammenhang zwischen Aufwertung und Verdrängung zu erfassen (z.B. Freeman/Cassola/Cai 2015; Newman/Wyly 2006). Auffällig und problematisch ist auch der unkritische Umgang mit den zu Grunde liegenden Daten und die unsorgfältig bis unsaubere Anwendung statistisch inferentieller Methoden. Fast alle Studien nutzen teilerhobene Befragungsdaten um mithilfe statistischer Inferenz raumspezifische (d.h. einzelne Stadtteile oder zuvor identifizierte Gentrification-Gebiete) oder subgruppenspezifische (d.h. Alleinerziehende, Afrodeutsche, etc.) Aussagen zu treffen, ignorieren dabei aber potentielle Small Area Estimation Probleme. Freeman/Cassola/Cai (2015) verwenden für ihre Studie beispielsweise Daten der British Household Panel Survey (BHPS), welche auf einer für Großbritannien repräsentativen Stichprobe von ca. 5.500 Haushalten beruht (ISER 2016). Ob sich diese Stichprobe jedoch für inferentielle Aussagen über die Umzugsentscheidung von einkommensschwachen Haushalten in Gentrification-Gebieten von London eignet (vgl. Freeman/Cassola/Cai 2015: 11), ist zumindest zweifelhaft. In keiner der oben genannten Beispielstudien, die auf Regressionsanalysen zurückgriffen, wurden die Modellannahmen erwähnt oder überprüft. Da allen Regressionsanalysen räumliche Daten zugrunde lagen und die Modelle meist nur einen niedrigen Erklärungsgehalt besaßen, ist davon auszugehen, dass räumliche Autokorrelation in den Residuen vorherrschte und damit die Modellannahmen verletzt wurden. Dies führte möglicherweise zu verzerrten und ineffizienten Parameterschätzungen. Schwerwiegender ist jedoch, dass die zumeist schlechte Anpassungsgüte der Regressionsmodelle (z.B. Newman/Wyly 2006; Wyly et al. 2010) in den Studien
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nicht hinreichend problematisiert, oder überhaupt keine Angaben über den Erklärungsgehalt der Modelle gemacht wurden (z.B. Freeman/Cassola/Cai 2015). Gemessen an den üblichen wissenschaftlichen Standards der Statistik ist dieses Vorgehen als unsorgfältig bis unsauber zu beurteilen.
D AS G ENTRI M AP M ODELL Die Entwicklung eines möglichst verallgemeinerbaren Messinstruments für die Identifikation von Gentrification-Prozessen steht vor konzeptionellen, methodischen und technischen Herausforderungen. Insbesondere für die Nachvollziehbarkeit muss ein allgemein akzeptierter konzeptioneller Rahmen bestimmt werden, der auf sehr verschiedene städtische Kontexte übertragen werden kann. Die methodischen Herausforderungen bestehen im Wesentlichen in einer kohärenten, aussagekräftigen, nachvollziehbaren und möglichst reproduzierbaren Operationalisierung der theoretischen Annahmen. Die technischen Herausforderungen beziehen sich auf die im vorherigen Abschnitt erläuterten Anforderungen an die Daten, die mitunter in verschiedenen Raumbezugssystemen vorliegen und in ein gemeinsames Raumbezugssystem der Analyse transformiert werden müssen. Wie wir mit diesen Herausforderungen im GentriMap Modell umgegangen sind, soll in diesem Abschnitt erklärt werden. Konzeptionelle Überlegungen zu GentriMap Zunächst standen wir vor der Aufgabe, ausgehend von den vorliegenden Basisdefinitionen der Gentrification ein Modell für die statistische Identifikation von Gebieten mit typischen Merkmalen eines Gentrification-Prozesses zu bilden. Die bis heute vielfach aufgegriffene Erstdefinition der Gentrification von Ruth Glass gibt bereits wichtige Anhaltspunkte für das Modell. In ihrer Studie zu London Islington formuliert sie: »Große Häuser im viktorianischen Stil, heruntergewirtschaftet in früheren Perioden – die als Lagerhäuser oder in anderer Form genutzt wurden – wurden eine weiteres Mal aufgewertet. Sobald dieser Prozess der ›Gentrification‹ in einem Gebiet beginnt, setzt er sich unaufhörlich fort bis alle oder die meisten der bisherigen Arbeiterklasse-Bewohner vertrieben sind und sich der gesamte soziale Charakter des Viertels ändert.” (Glass 1964: XVIII, eigene Übersetzung) Die zentralen Begriffe ihrer Definition sind die Aufwertung (der Gebäude), die Verdrängung (der Arbeiterklasse-Bewohner) und die Veränderung des gesamten sozialen Charakters (des Viertels). In den seither geführten Forschungs-
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debatten zum Phänomen der Gentrification wurden diese drei Merkmale der Gentrification spezifiziert. So hat sich eine Vorstellung eines doppelten Aufwertungsprozesses etabliert, der die baulich-physische Aufwertung ebenso umfasst wie eine immobilienwirtschaftliche Wertsteigerung (Häußermann 1990). In Bezug auf die Verdrängung wurde die stark zeit- und kontextabhängige Engführung auf die Arbeiterklasse durch allgemeinere Klassifikationen ersetzt. In einigen Studien ist von Haushalten mit geringen Einkommen bzw. noch allgemeiner von statusniederen Gruppen (Friedrichs 1996, 2000) die Rede. Für den eher unbestimmten Begriff des sozialen Charakters haben sich Vorstellungen zur veränderten Sozialstrukturzusammensetzung (vom Arbeiterquartier zur Mittelschichtnachbarschaft) ebenso etabliert wie Annahmen zu veränderten kommerziellen Angebotsstrukturen, Qualitäten des öffentlichen Raumes und Stadtteilimages (Glatter 2007). In der Definition von Mark Davidson und Loretta Lees werden mit den vier Merkmalen (1) Reinvestition von Kapital, (2) sozialer Aufwertung des Lokalen durch Zuzüge von Besserverdienenden, (3) Umwandlung der Landschaft und der (4) direkten oder indirekten Verdrängung von ärmeren Haushalten ganz ähnliche Indikatoren genutzt (Davidson/Lees 2005: 1187). Auch hier lässt sich der Dreiklang von immobilienwirtschaftlichen Aspekten, sozialen Veränderungen und einer nachbarschaftlichen Veränderung wiederfinden. Ein Gentrification-Befund würde nach diesen Definitionen die Koinzidenz der benannten Merkmale voraussetzen. Da insbesondere Veränderungen der funktionalen und kommerziellen Angebote, der Freiraumgestaltung und des Images von Nachbarschaften nur schwer mit verallgemeinerbaren Indikatoren beschrieben werden können, sind Analysen dazu mit quantitativen Instrumenten kaum reproduzierbar (Barton 2016: 95). Wir haben daher die symbolischen, funktionalen und lebensstilbezogenen Aspekte aus der Konzeption für ein statistisches Messinstrument ausgeschlossen und für die GentriMap ein möglichst einfaches, nachvollziehbares und zweidimensionales Modell entwickelt. Die in den früheren Definitionen benannten Dimensionen bauliche Aufwertung, immobilienwirtschaftliche Wertsteigerung und Investition von Kapital haben wir in dem übergreifenden Indikator immobilienwirtschaftliche Aufwertung zusammengefasst. Auf Basis der bisherigen Gentrification-Studien gehen wir davon aus, dass es sich bei den angebotsseitigen Definitionsmerkmalen von Ruth Glass, Loretta Lees und Mark Davidson letztendlich um komplementäre Ausprägungen von immobilienwirtschaftlichen Aufwertungen handelt, die durch die (Re-)Investition von Kapital ausgelöst und durch bauliche Maßnahmen sichtbar werden. Beispiele der rental-gentrification (Van Criekingen 2009, Holm 2013) zeigen jedoch, dass auch ohne bauliche Aufwertung und ohne Investitio-
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nen in die Bausubstanz in einzelnen Wohnungsmarktsegmenten massive und vor allem verdrängungsauslösende Mietsteigerungen realisiert werden können. Mit der Fokussierung auf die messbaren Effekte der immobilienwirtschaftlichen Aufwertung haben wir einen von den Variationen und Kontextbedingungen unabhängigen und damit universellen Immoindex für die angebotsseitigen Aspekte der Gentrification gefunden6. Für die nachfrageseitigen Aspekte der Gentrification-Definitionen haben wir die Aspekte der Verdrängung und der sozialstrukturellen Aufwertung in einem übergreifenden Indikator zusammengefasst. Ausgehend von den verschiedenen Verdrängungsformen (Marcuse 1985) gehen wir davon aus, dass sich im Verlauf eines Gentrification-Prozesses die Anzahl und der Anteil von ärmeren Haushalten verringern. Da sich eine Verringerung von statusniederen Gruppen unmittelbar auf die Sozialstrukturzusammensetzung der Gebietsbevölkerung auswirkt, gehen wir davon aus, dass Gentrification als ein Prozess der verdrängungsinduzierten sozialen Aufwertung eines Gebietes7 beschrieben werden kann. Entsprechend fokussieren wir den Sozialindex in unserem Messmodell auf die Veränderung der Anzahl von ärmeren Haushalten. Im GentriMap Modell definieren wir Gentrification als Konjunktion von sozialer und immobilienwirtschaftlicher Aufwertung (vgl. Tab. 1). Das gleichzeitige Auftreten von immobilienwirtschaftlicher Aufwertung, Verdrängung von ärmeren Haushalten und einer daraus resultierenden Aufwertung der sozialen Zusammensetzung der Gebietsbevölkerung entspricht dabei dem empirischen Kernverständnis der Gentrification von allen uns bekannten Studien und Untersuchungen.
6
Die Entwicklung eines universellen Indikators bedeutet nicht, dass in allen Untersuchungskontexten dieselben Daten genutzt werden müssen. Vielmehr gilt es, in den verschiedenen (nationalen und lokalen) Kontexten die geeigneten Daten für die Operationalisierung des Messmodells zu bestimmen.
7
Das hier vorgeschlagene Messmodell kann Aussagen auf der Nachbarschaftsebene treffen. Variationen verschiedener Verdrängungsformen bleiben dabei ebenso unberücksichtigt wie subjektive Dispositionen auf der Individualebene.
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Tabelle 1: Definitionsmerkmale der Gentrification
Ruth Glass (1964)
Loretta Lees & Mark Davidson (2005)
GentriMap
(Re-)Investition von Kapital
Immoindex zur Messung der immobilienwirtschaftlichen Aufwertung
Aufwertung der Baustruktur
Immobilienwirtschaftliche Wertsteigerung Verdrängung von Haushalten mit geringen Einkommen/statusniederen Gruppen
direkte oder indirekte Verdrängung von ärmeren Haushalten
Verschiebung der Sozialstrukturzusammensetzung in Richtung statushöherer Gruppen
soziale Aufwertung des Lokalen durch Zuzüge von Besserverdienenden
Veränderung lokaler Angebotsstrukturen, der Qualitäten des öffentlichen Raumes und des Stadtteilimages
Umwandlung der Landschaft
Sozialindex zur Messung der verdrängungsinduzierten sozialen Aufwertung
Keine Operationalisierung
Aus einer konzeptionellen Perspektive schließt das von uns vorgeschlagene Modell an die Arbeiten von Peter Marcuse an, der die Verdrängung als das Wesen der Gentrification bezeichnet (Marcuse 1992: 80). Die von uns mit dem Sozialindex gemessene Verringerung von ärmeren oder statusniederen Haushalten kann dabei sowohl auf direkte physische oder ökonomische (Marcuse 1985: 205) als auch auf indirekte, ausschließende Formen der Verdrängung (Marcuse 1985: 207) zurückzuführen sein. Um allgemeine gesellschaftliche Veränderungen in Bezug auf die Sozialstruktur und immobilienwirtschaftliche Entwicklungen angemessen zu berücksichtigen, erfolgen die Indexberechnungen in beiden Dimensionen als relationale Analyse. Der Gentrification-Befund setzt im Modell nicht nur eine tatsächliche Aufwertung in wohnungswirtschaftlicher und sozialer Hinsicht voraus, sondern auch eine im Vergleich zur gesamtstädtischen Entwicklung überdurchschnittliche Aufwertung in beiden Dimensionen.
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O PERATIONALISIERUNG Das GentriMap Modell wird in einem fünfstufigen Verfahren operationalisiert. Im Zentrum steht die Entwicklung des Immoindexes und des Sozialindexes, die in ihrer Kombination die Intensität von Gentrification-Prozessen messen (Gentriindex). Im Folgenden werden die einzelnen Arbeitsschritte dieser Operationalisierung allgemein und chronologisch erläutert. Wahl von Indikatorvariablen: Zuerst werden für den lokalspezifischen Kontext der Untersuchung sinnvolle Indikatorvariablen zur späteren Bildung des Immoindexes und des Sozialindexes gewählt. Die Indikatorvariablen sind so zu wählen, dass sie die Prozesse von immobilienwirtschaftlicher bzw. sozialer Aufwertung so gut wie möglich abbilden. Berechnung der Trendabweichung: Die Indikatorvariablen werden dann jeweils einer Shift-Share-Analyse, also einer einfachen StrukturkomponentenAnalyse unterzogen, um gebietsspezifische Abweichungen vom stadtweiten Trend zu quantifizieren (Farhauer/Kröll 2013: 371ff.). Eine positive Abweichung entspricht dabei einer überdurchschnittlichen Dynamik in einem Gebiet, eine negative Abweichung einer unterdurchschnittlichen Dynamik in einem Gebiet.8 Standardisierung: Die festgestellten gebietsspezifischen Trendabweichungen jeder Indikatorvariable werden dann in einem dritten Arbeitsschritt einwohnergewichtet standardisiert (z-Transformation), sodass ihre Werte vergleichbar werden. Bildung des Immoindexes und des Sozialindexes: Daraufhin werden die standardisierten Werte im Immoindex bzw. im Sozialindex zusammengefasst. Die Indexwerte ergeben sich für jedes Gebiet als arithmetisches Mittel der standardisierten Trendabweichungen der Indikatorvariablen. Kombination von Immoindex und Sozialindex zum Gentriindex: Zuletzt wird mit dem Immoindex und dem Sozialindex ein kartesisches Koordinatensystem der Aufwertung aufspannt, in dem jedes Gebiet anhand seiner Koordinaten eindeutig als Punkt zu verorten ist. Weist ein Gebiet beispielsweise stark positive Koordinaten auf, d.h. es besitzt einen stark positiven Wert für den Immoindex,
8
Schnuck (2014: 28 ff.) liefert eine formelle und ausführliche Dokumentation des Verfahrens der Shift-Share-Analyse im Kontext eines GentriMap Modells. Bei der Berechnung der Trendabweichung ist zudem darauf zu achten, ob der stadtweite Trend positiv oder negativ ist. Schließlich sollten Aufwertungsprozesse nur als solche bezeichnet werden, wenn z.B. eine absolute Steigerung der Mietpreise bzw. Senkung der Anzahl ärmerer Haushalte zugrunde liegt.
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als auch einen stark positiven Wert für den Sozialindex, so ist von einem lokalen Gentrification-Prozess von relativ hoher Intensität auszugehen. Die Kombination der beiden Indizes dient folglich einer Bestimmung der relativen Stärke von Gentrification-Prozessen. Die Stärke bemisst sich dabei mit dem Gentriindex entlang der Hauptdiagonalen des Koordinatensystems der Aufwertung. Geometrisch entspricht dies einer Orthogonalprojektion eines Punktes auf die Hauptdiagonale. Die Quadranten des Koordinatensystems oder eine ähnliche Sektoreneinteilung des aufgespannten Raumes kann zudem für eine Typisierung von Gebieten verwendet werden. Die Bildung des Gentriindexes wird in Abbildung 1 veranschaulicht. Das Gebiet A besitzt beispielsweise aufgrund der Koinzidenz eines hohen Immoindexes und eines hohen Sozialindexes einen hohen Wert für den Gentriindex. Im Falle des Gebiets B resultiert ein unterdurchschnittlicher Immoindex und überdurchschnittlicher Sozialindex in einem mittleren Wert für den Gentriindex.
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Abbildung 1: Schematische Darstellung der Indexberechnung im GentriMap Modell
Quelle: eigene Darstellung
ANWENDUNG DES G ENTRI M AP M ODELLS
AUF
B ERLIN
Die vorgeschlagene Operationalisierung erfordert im Gegensatz zu den sonst in der Literatur verwendeten Messinstrumenten keine personen- oder haushaltsbezogenen Individualdaten und ist somit relativ einfach nachvollziehbar, reproduzierbar und auf andere Städte übertragbar. Für die Umsetzung des GentriMap Modells in Berlin benötigten wir deshalb lediglich Aggregatdaten, die den weiter oben formulierten Anforderungen entsprechend für das gesamte Bundesland Berlin einen konsistenten Vorher-Nachher-Vergleich erlauben, kleinräumig verfügbar sind, sowie den wissenschaftlichen Ansprüchen an Genauigkeit und Verlässlichkeit genügen.
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Über das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg bezogen wir Geobasisdaten sowie vollerhobene, auf dem Niveau der lebensweltlich orientierten Planungsräume (n=447) aggregierte demographische Daten und Sozialdaten, die diesen Anforderungen gerecht werden.9 Die Gliederung Berlins in lebensweltlich orientierte Räume (LOR) führten die Berliner Behörden 2007 als »räumliche Grundlage für Planung, Prognose und Beobachtung demografischer und sozialer Entwicklungen in Berlin« (SenStadt 2013) ein. LOR sollen eine räumliche »Abbildung lebensweltlicher Homogenität bei gleichzeitiger Wahrung einer Vergleichbarkeit der Planungsraumeinheiten« liefern, und werden unter anderem über »einheitliche Baustrukturen bzw. Milieubildung, große Straßen und Verkehrstrassen sowie natürliche Barrieren, aber auch eine Begrenzung der Einwohnerzahl« (SenStadt 2013) definiert. Immobilienwirtschaftliche Daten erhielten wir vom führenden Immobilienportal ImmoScout24, aggregiert auf dem vom Unternehmen definierten Raumniveau der ImmoScout24 Ortsteile (n=81). Eine Gegenüberstellung der jährlichen ImmoScout24 Wohnungsangebote für den Zeitraum von 2007 bis 2014 (p.a. ca. 283.000 Wohnungsangebote) mit der Summe aller Zuzüge aus Außenwanderungen und Binnenumzügen (p.a. ca. 490.000 Zuzüge) verweist auf einen Marktanteil des Onlineportals von über 60 Prozent aller anzunehmenden Einzüge in Berlin.10 Als Beobachtungseinheit wählten wir aufgrund der Datenlage die lebensweltlich orientierten Prognoseräume (n=60, durchschnittlich ca. 59.000 Einwohner_innen). Die amtlichen Daten auf Planungsraumebene brauchten wir dank der hierarchischen Geometriestruktur der LOR hierzu nur auf Prognoseraumebene zusammenzufassen, die immobilienwirtschaftlichen Daten mussten wir hingegen aufwendig mithilfe eines blockbasierten, einwohnergewichteten Verfahrens auf das Zielniveau der Prognoseräume interpolieren.11 Prognoseräume können im Vergleich zu den viel kleineren Planungsräumen in ihrer städtebaulichen oder
9
Teilweise sind die Daten des Amts für Statistik Berlin-Brandenburg kostenlos und frei im Internet verfügbar und bei Berlin Open Data (daten.berlin.de/datensaetze), der Sozialverwaltung für Stadtentwicklung (www.stadtentwicklung.berlin.de/planen/basis daten_stadtentwicklung/monitoring) oder dem Geobasisdaten FisBroker (www.stadt entwicklung.berlin.de/geoinformation/fis-broker) herunterzuladen.
10 Bei einer Plausibiliätsprüfung der Angebotsmietpreise über den Vergleich mit entsprechenden Daten des Dienstleistungsunternehmens JLL Research ergaben sich keine Auffälligkeiten. 11 Das von uns verwandte Verfahren der blockbasierten, einwohnergewichteten Interpolation wird in Schulz (2015: 30 ff.) detailliert und anschaulich beschrieben.
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soziodemographischen Struktur relativ heterogen sein, doch ist dieses Raumniveau im Vergleich zu ähnlichen Studien als relativ fein einzuordnen. Das Intervall vom Jahr 2007 bis 2014 wählten wir als Beobachtungszeitraum. Dies hat mehrere Gründe. Zum einen sind vergleichbare behördliche Daten in LOR Systematik erst ab 2007 verfügbar, zum anderen waren keine neueren Sozialdaten zu akquirieren. Die Festlegung des Beobachtungsbeginns ist aber auch inhaltlich motiviert: Mit dem Einsetzen der globalen Finanzkrise 2007 erfuhr der Berliner Immobilienmarkt einen Sprung an Attraktivität für Investor_innen. Damit begann eine neue Welle immobilienwirtschaftlicher Aufwertungsprozesse in Berlin, die bis heute anhält und mit unserem Immoindex erfasst werden soll. Dass dieser achtjährige Beobachtungszeitraum zu lang ist, um verschiedene Phasen von Gentrification-Prozessen oder kurzfristige Entwicklungen in einzelnen Gebieten zu identifizieren, ist uns bewusst. Das GentriMap Modell ist aber auch problemlos für kürzere Zeitintervalle zu operationalisieren – was wir in Zukunft auch umsetzen wollen. Bei der konkreten Operationalisierung des GentriMap Messmodells für Berlin verwendeten wir zur Bildung des Immoindexes vier Indikatorvariablen: die durchschnittlichen Angebotsmietpreise (€/m²), die durchschnittlichen Eigentumswohnungspreise (€/m²), die Anzahl der zur Miete angebotenen Wohnungen und die Anzahl der zum Kauf angebotenen Eigentumswohnungen.12 Zwischen der Dynamik der Preise und der Intensität immobilienwirtschaftlicher Aufwertung besteht ein enger Zusammenhang. Während Eigentumswohnungspreise unmittelbar den Wert der Immobilie ausdrücken, gelten Angebotsmietpreise – ähnlich des Verhältnisses zwischen Aktienpreisen und Unternehmenswert – als mittelbarer Ausdruck für den Wert einer Immobilie und der an sie gebundenen Ertragserwartungen. Die Anzahl der Angebote nahmen wir zusätzlich als Indikatorvariablen auf, da sie einen Anhaltspunkt für die Extensität von immobilienwirtschaftlicher Aufwertung liefern. Durch die gemeinsame Berücksichtigung von Intensität und Extensität werden differenzierte Aussagen über lokale Dynamiken am Wohnungsmarkt möglich. Die vier Indikatorvariablen messen in ihrer Kombination folglich die Stärke der immobilienwirtschaftlichen Aufwertung und eignen sich als Instrument zur indirekten Schätzung des Umfangs immobilienwirtschaftlicher (Re-)Investitionen in einem Gebiet (vgl. Tab. 1).
12 Sofern man sich bei der Bildung des Immoindexes auf nur eine Indikatorvariable, die Angebotsmietpreise, beschränkt, wird das GentriMap Modell für Berlin mithilfe der uns auf Postleitzahlebene (n=190) vorliegenden Daten auch für die räumlich hochauflösende Planungsraumebene operationalisierbar.
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Zur Bildung des Sozialindexes wurde nur eine Indikatorvariable verwendet: die Anzahl der Transferleistungsempfänger_innen im Geltungsbereich des Sozialgesetzbuches Teil II, III und XII. Diese Indikatorvariable umschließt Empfänger_innen von Arbeitslosengeld I, Arbeitslosengeld II (»Hartz 4«), Sozialhilfe und Grundsicherung und wird von uns als untere Schätzung einkommensarmer Menschen in einem Gebiet interpretiert.13 Das Vorzeichen des Sozialindexes wählten wir zur besseren Intuition so, dass soziale Aufwertung im Sinne einer überdurchschnittlichen Senkung der Anzahl einkommensarmer Menschen in einem positiven Wert des Sozialindexes resultierte. Wie oben bereits angedeutet, besteht der zentrale Vorteil einer solchen Operationalisierung von sozialer Aufwertung darin, dass durch die genannte Indikatorvariable beide Aspekte sozialer Aufwertung berücksichtigt werden: Sieht man vom seltenen Fall eines »incumbent upgrading« ab, so erlaubt eine Analyse der Entwicklung der Anzahl einkommensarmer Menschen die gleichzeitige Erfassung der Verdrängung ärmerer Haushalte und der Veränderung der Sozialstrukturzusammensetzung.14 Obwohl in diesem Text keine ausführliche Interpretation und Diskussion der Ergebnisse der GentriMap für Berlin geleistet werden kann, möchten wir im Folgenden einige erste Resultate zumindest knapp darstellen. In Abbildung 2 werden Ergebnisse des GentriMap Modells für Berlin präsentiert. Die Karte des Immoindexes zeigt wenig überraschend, dass die stärksten immobilienwirtschaftlichen Aufwertungsprozesse im Zentrum (Mitte), Nord-Neukölln, Charlottenburg und praktisch dem gesamten Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg stattgefunden haben. Die Karte bestätigt auch die allgemein akzeptierte These einer flächendeckenden immobilienwirtschaftlichen Aufwertung innerhalb des SBahn-Rings (in den Karten als gestrichelte Linie dargestellt). Der Sozialindex zeichnet ein räumlich weit heterogeneres Bild und starke Aufwertungstendenzen sind nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb des S-
13 Aufstocker_innen im Sinne eines gleichzeitigen Bezugs von SGB II und SGB III wurden in der Berechnung natürlich nur einmal berücksichtigt. Kinder in SGB XII abhängigen Haushalten konnten leider nicht berücksichtigt werden, da hierzu keine Daten verfügbar waren. 14 Über eine zusätzliche Analyse von Wanderungsdaten kann das Ausmaß von Verdrängung natürlich differenzierter bestimmt werden. Die Stärke des GentriMap Modells besteht darin, dass für eine Messung von Gentrification und Rückschlüsse über das Ausmaß von aufwertungsbedingter Verdrängung keine Wanderungsdaten notwendig sind. Zudem kann nach der empirischen Umsetzung des Modells eine Untersuchung des Umzugsverhaltens beispielsweise zum Vergleich von Gentrification-Gebieten und anderen Gebieten ergänzend erfolgen.
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Bahn-Rings zu beobachten. Zu den Gebieten mit auffällig hohen Sozialindexwerten zählen das südliche Pankow, Prenzlauer Berg (Pankow), östliches Friedrichshain, östliches und südliches Kreuzberg und Köpenick. Für den nördlichen Prenzlauer Berg entspricht der hohe Sozialindexwert von +2,0 beispielsweise einer stark überdurchschnittlichen Senkung der Anzahl einkommensarmer Menschen um 21,4 Prozent in nur acht Jahren. Zum Vergleich: Im stadtweiten Durchschnitt hatte sich die Anzahl einkommensarmer Menschen im selben Zeitraum lediglich um 4,4 Prozent verringert. Die Karte des durch die Kombination von Immoindex und Sozialindex entstandenen Gentriindexes ermöglicht schließlich die lokale Identifikation und Quantifizierung von Gentrification-Prozessen. Der von Holm (2011: 214ff.) postulierte Berliner »Aufwertungszirkel« vom Prenzlauer Berg über Friedrichshain bis Kreuzberg wird durch hohe Gentriindexwerte auf der Karte deutlich erkennbar. Für den Ortsteil Charlottenburg, welcher bei Diskussionen um Aufwertung und Verdrängung eher selten erwähnt wird, ist ebenfalls ein starker Gentrification-Prozess anzunehmen. Mit Ausnahme eines kleinen Gebietes um den Gesundbrunnen (Mitte) und den nördlichen Tempelhof weist praktisch der gesamte Innenstadtbereich mittlere bis hohe Werte auf dem Gentriindex auf (vgl. Döring/Ulbricht 2016 in diesem Band, die zu ähnlichen Ergebnissen kommen). Auffallend ist auch die augenscheinliche Diskrepanz zwischen den Stadtteilen des ehemaligen Ost- und West-Berlins außerhalb des S-Bahn Rings. In den ehemals Ost-Berliner Bezirken Pankow, Lichtenberg und Treptow-Köpenick sind fast flächendeckend höhere Gentriindexwerte zu beobachten, als in vergleichbaren Stadtteilen des ehemaligen West-Berlins. Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass bei der Interpretation des Gentriindexes darauf zu achten ist, dass das von uns vorgeschlagene Verfahren eine relationale Definition von Gentrification operationalisiert. Es misst also lediglich die Stärke von Gentrification-Prozessen relativ zum Rest der Stadt. Im Kontext stadtweit steigender Immobilienpreise und sinkender Zahlen einkommensarmer Menschen können deshalb selbst mittlere Werte auf dem Gentriindex auf erhebliche Aufwertungsprozesse verweisen.
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Abbildung 2: Gentrification in Berlin 2007 bis 2014
Quelle: eigene Darstellung
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F AZIT Das hier vorgestellte Modell der GentriMap versteht sich als ein kollaboratives, reproduzierbares und kommunikatives Basisinstrument zur Analyse von Gentrification-Prozessen. Kollaborativität: Das GentriMap Modell ist das Ergebnis einer mehrjährigen Projektarbeit mit wechselnden Besetzungen. Seit 2011 haben insgesamt 22 Wissenschaftler_innen und Studierende verschiedener Fachrichtungen, Datenjournalisten und Webdesignerinnen an dem Projekt mitgewirkt.15 Der hier präsentierte Stand des Projektes ist das Substrat von vielfältigen Versuchen, ein geeignetes Messinstrumentarium für Gentrification-Prozesse zu entwickeln. Zugleich ist das dargestellte GentriMap Modell ein Zwischenstand, denn auch in Zukunft soll das Instrument weiterentwickelt und jährlich aktualisiert werden. Der Projektfortschritt und auch ein Teil früherer Ergebnisse wurden im Internet veröffentlicht (gentrima.lepus.uberspace.de). Als nächste Schritte sind eine Aktualisierung der bisherigen Website sowie die Einrichtung einer webbasierten Schnittstelle geplant, über die die von uns genutzten Daten (unter Berücksichtigung der jeweiligen Linzenzvorgaben) und Programmcodes mit allen Interessierten geteilt werden können. Mit der aufwendigen Datenakquise und -verarbeitung steht GentriMap exemplarisch für die Notwendigkeit eines kollaborativen wissenschaftlichen Arbeitens. Wir verstehen die GentriMap als Einladung, mit den von uns zusammengetragenen und bearbeiteten Zahlen weiterzuarbeiten. Reproduzierbarkeit: Das Interesse an der Analyse von GentrificationProzessen ist in den letzten Jahren in vielen Städten gestiegen, und in der Stadtforschung ist eine rasch gewachsene Internationalisierung der GentrificationForschung zu beobachten. Als Ausgangspunkt für tiefergehende und vergleichende Studien bietet die GentriMap ein Basistool, das auf andere Städte übertragen werden kann. In Abhängigkeit von den verfügbaren Daten und den lokalen Kontextbedingungen kann die im Modell beschriebene Indexberechnung auch mit anderen Indikatorvariablen erfolgen. So müsste in Städten mit hohen Eigentumsanteilen eine Berechnung des Immoindexes stärker als in der Mieterstadt Berlin die Haus- und Grundstückspreise berücksichtigen. Auch die unmittelbar aus den momentanen Regelungen der Sozialgesetzgebung abgeleitete
15 Der Dank für die Arbeit am Projekt gilt (in der Reihenfolge ihrer Mitwirkung) Lorenz Matzat, Antje Böttcher, Giovanni Pannico, Florian Strohmair, Michael Kreil, Katja Eckenfels, Jan Dohnke, Apolonijus Zilys, Maurice Meyer, Magdalena Sachs, Daniel Förste, Melanie Thewlis, Nora Lütke, Zeynep Doğusan, Katharina Kruse, Stillsen, Sharon Cheah, Oliver Schnuck, Fabian Beran, Jan-Phillip Postorino.
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Indikatorvariable zur Bestimmung des Sozialindexes könnte in anderen Kontexten variiert werden, so lange das Prinzip der Messung von statusniederen Haushalten aufrecht erhalten bleibt. Kommunikativität: Der Anspruch, nicht nur für den Elfenbeinturm zu forschen ist insbesondere in der Stadtforschung virulent, denn viele ihrer Forschungsfelder sind unmittelbar mit den Alltagserfahrungen von Bewohner_innen und den (stadt-)politischen Debatten verbunden. Um die Ergebnisse der Wissenschaft für eine breitere Öffentlichkeit zugänglich zu machen, braucht es Formen der Vermittlung. Mit der Internetpräsenz und verschiedenen Visualisierungen versuchen wir mit dem GentriMap Projekt schon jetzt, die Erkenntnisse der Gentrification-Forschung möglichst verständlich und nachvollziehbar aufzubereiten und zugänglich zu machen. Basisinstrument: Die GentriMap ist kein abgeschlossenes Forschungsprojekt, sondern ein Analyseinstrument. Die von uns vorgeschlagene relationale Identifikation und Quantifizierung von Gentrification-Dynamiken kann und soll als Grundlage für weitergehende Analysen dienen. Nach einer Typisierung der Gebiete können etwa Fragen des Umzugsverhaltens, der Veränderung der demographischen Zusammensetzung oder der Entwicklung der Gewerbestruktur gezielt untersucht werden. Somit werden Hypothesen wie die von der Verdrängung an den Stadtrand, einem erhöhten Aufkommen von Zwangsräumungen in Aufwertungsgebieten oder der Konzentration von spezialisierten Konsumangeboten in Gentrification-Gebieten empirisch überprüfbar. Zudem sind weiterführende standardisierte Befragungen oder qualitative Studien auf Grundlage der Gebietstypisierung denkbar. Das von uns entwickelte GentriMap Modell zeigt, dass Gentrification quantitativ gemessen werden kann und versteht sich als Einladung, durch weitergehende Analyse die Bedingungen, Verlaufsformen und Effekte der Stadtentwicklung auch ursächlich zu verstehen.
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Autorinnen und Autoren
Betancourt, Camilo (M.A.) untersuchte schon als Bachelorstudent sozialräumliche Verdrängungsprozesse in Berlin und hat im Jahr 2016 den Masterstudiengang Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin mit den Schwerpunkten Stadtsoziologie und Organisationssoziologie abgeschlossen. Bernt, Matthias (Dr. phil.) ist Politologe und arbeitet am Leibniz-Institut für raumbezogene Sozialforschung (IRS) in Erkner. Seine Forschungsschwerpunkte sind Stadterneuerung und Stadtumbau, Urban Governance und Gentrificationforschung. Döring, Christian (M.A.) hat im Jahr 2015 den Masterstudiengang Geographie der Großstadt an der Humboldt-Universität zu Berlin abgeschlossen und ist seit Anfang 2015 als Marktanalyst bei der ZIEGERT - Bank- und Immobilienconsulting GmbH tätig, wo er sich vornehmlich mit Standort- und Marktanalysen für Wohnungsprojekte beschäftigt. Ertelt, Greta (M.A.) hat im Jahr 2015 den Masterstudiengang »Geographie der Großstadt« an der Humboldt-Universität zu Berlin abgeschlossen. Sie beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit städtischem Wohnen, Wohnungspolitik und Ansätzen einer sozialen und ökologischen Stadtentwicklung. Förste, Daniel (Dipl. Soz.Wiss) hat in Berlin und London Stadtsoziologie studiert und war in der Zeit zwischen 2011 und 2015 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung (IRS) in Erkner tätig. Seine Forschungsinteressen liegen in der sozialwissenschaftlichen Metropolenforschung und im Bereich der Wohnungspolitik.
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Grotefendt, Nelly (M.A.) ist studierte Human- und Großstadtgeographin (Master »Geographie der Großstadt«, HU Berlin) und arbeitet als Referentin für Internationale Handelspolitik beim Forum Umwelt und Entwicklung. Helbrecht, Ilse (Prof. Dr. phil.) hat den Lehrstuhl für Kultur- und Sozialgeographie an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist zugleich Direktorin des Georg-Simmel-Zentrums für Metropolenforschung (GSZ) in Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Urban Governance, Stadtentwicklung und Wohnungsmarktforschung. Holm, Andrej (Dr. phil.) ist Sozialwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Stadt- und Regionalsoziologie im Institut für Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Gentrification und Wohnungspolitik. Jacobsen, Malve (M.A.) hat Regionalstudien Asien/Afrika und Stadtgeographie studiert (Humboldt-Universität zu Berlin). Seit 2015 promoviert sie zu globalen Zirkulationen und Materialisierungen von Transportpolitiken an der Goethe Universität Frankfurt. Koch, Simon (M.A.) hat im Jahr 2015 den Masterstudiengang »Geographie der Großstadt« an der Humboldt-Universität zu Berlin absolviert und ist seit 2015 Projektentwickler bei der Laupi GmbH; er beschäftigt sich beruflich mit Standortfragen von Gartenimmobilien. Kohlsdorf, Tanja (B.A.) studiert im Masterstudiengang »Geographie der Großstadt« an der HU Berlin. Kortus, Marrike (M.A.) hat im Jahr 2014 den Studiengang »Geographie der Großstadt« an der HU Berlin abgeschlossen. Sie ist seit 2015 Mitarbeiterin in einem Immobilienbüro und beschäftigt sich mit Standortfragen von Wohnimmobilien in Berlin. Neupert, Paul (M.A.) hat im Jahr 2015 den Masterstudiengang »Geographie der Großstadt« an der Humboldt-Universität zu Berlin abgeschlossen. Er beschäftigt sich mit städtischem Wohnen, Obdachlosigkeit, öffentlichem Raum sowie mit sozialer Stadt- und Quartiersentwicklung.
A UTORINNEN UND A UTOREN
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Scheer, Lisa (M.A.) hat im Jahr 2014 den Masterstudiengang »Geographie der Großstadt« an der Humboldt-Universität zu Berlin absolviert und ist seit dem Mitarbeiterin bei der CIMA Beratung + Management GmbH in Lübeck; ihre beruflichen Schwerpunkte liegen in den Bereichen Stadtentwicklung, Stadtmarketing und Tourismus. Schierbaum, Christine (M.A.) hat im Sommer 2015 den Masterstudiengang »Geographie der Großstadt« absolviert und ist seit September 2015 Mitarbeiterin bei der TERRAGON Projekt GmbH in Berlin; sie beschäftigt sich beruflich mit der Projektentwicklung von Senioren- und Pflegeimmobilien. Schramm, Stephanie (M.A) hat im Jahr 2014 den Masterstudiengang »Geographie der Großstadt« an der HU Berlin absolviert. Sie ist seit 2015 Mitarbeiterin in einem Immobilienbüro und beschäftigt sich mit Standortfragen von Wohnimmobilien. Schulz, Carlotta-Elena (M.A.) hat im Jahr 2015 den Masterstudiengang »Geographie der Großstadt« an der Humboldt-Universität zu Berlin abgeschlossen. Schwerpunkte ihrer beruflichen Interessen sind soziale Gerechtigkeit, die Förderung gesellschaftlichen Engagements und die Findung innovativer Lösungen im social impact sector. Schulz, Guido hat Volkswirtschaftslehre (B.Sc.), Social and Political Thought (M.A.) und Statistik (M.Sc.) studiert und forscht seit 2014 über Gentrifizierung und Verdrängung in Berlin. Thieme, Georg (M.A.) hat im Jahr 2015 den Masterstudiengang »Geographie der Großstadt« absolviert und ist seit 2013 Projektleiter bei »die raumplaner. Berliner Büro für Stadt- und Regionalentwicklung«. Er beschäftigt sich mit Akteursbeteiligung und Netzwerkbildung im Rahmen von Projekten der Geschäftsstraßen- und Innenstadtentwicklung sowie der integrierten Planung und Regionalentwicklung. Uhlig, Christiane (B.Sc. Humangeographie/Soziologie) ist freiberuflich in der politischen Bildungsarbeit tätig und Teil einer Gruppe, die sich mit dem Thema Wohnraum für geflüchtete Menschen in Berlin beschäftigt. Ulbricht, Klaus (Dr. rer. nat), Diplom-Chemiker, war von 1992 bis 2006 Bezirksbürgermeister von Köpenick bzw. Treptow-Köpenick in Berlin; danach ist
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er als Gast-Hörer an der Humboldt-Universität zu Berlin in der HumanGeografie seinem Interesse an Fragen der Stadtentwicklung nachgegangen; heute ist er Vorsitzender des Vorstandes der Bürgerstiftung Treptow-Köpenick. Wegener, Lina (M.A.) hat den Masterstudiengang »Geographie der Großstadt« an der HU Berlin absolviert und ist seit 2015 Studienassistentin bei der bulwiengesa ag; sie beschäftigt sich beruflich mit Standort- und Investmentfragen von gewerblich genutzten Immobilien sowie aktuellen Trends auf dem Berliner Büroimmobilienmarkt.
Urban Studies Andrea Baier, Tom Hansing, Christa Müller, Karin Werner (Hg.) Die Welt reparieren Selbermachen und Openness als Praxis gesellschaftlicher Transformation Oktober 2016, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-3377-1
Amalia Barboza, Stefanie Eberding, Ulrich Pantle, Georg Winter (Hg.) Räume des Ankommens Topographische Perspektiven auf Migration und Flucht Oktober 2016, ca. 216 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3448-8
Andreas Thiesen Die transformative Stadt Reflexive Stadtentwicklung jenseits von Raum und Identität Mai 2016, 156 Seiten, kart., zahlr. Abb., 21,99 €, ISBN 978-3-8376-3474-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Urban Studies Karsten Michael Drohsel Das Erbe des Flanierens Der Souveneur – ein handlungsbezogenes Konzept für urbane Erinnerungsdiskurse März 2016, 286 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3030-5
Lilo Schmitz (Hg.) Artivismus Kunst und Aktion im Alltag der Stadt 2015, 278 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3035-0
Andra Lichtenstein, Flavia Alice Mameli (Hg.) Gleisdreieck/Parklife Berlin 2015, 288 Seiten, Hardcover, zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3041-1
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Urban Studies Birgit Szepanski Erzählte Stadt – Der urbane Raum bei Janet Cardiff und Jeff Wall Dezember 2016, ca. 300 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3354-2
Michaela Schmidt Im Inneren der Bauverwaltung Eigenlogik und Wirkmacht administrativer Praktiken bei Bauprojekten November 2016, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3333-7
Johannes Marent Istanbul als Bild Eine Analyse urbaner Vorstellungswelten April 2016, 284 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3328-3
Manfred Kühn Peripherisierung und Stadt Städtische Planungspolitiken gegen den Abstieg Februar 2016, 200 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3491-4
Noa K. Ha Straßenhandel in Berlin Öffentlicher Raum, Informalität und Rassismus in der neoliberalen Stadt
Johanna Hoerning »Megastädte« zwischen Begriff und Wirklichkeit Über Raum, Planung und Alltag in großen Städten
November 2016, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3486-0
Januar 2016, 368 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3204-0
Carmen M. Enss, Gerhard Vinken (Hg.) Produkt Altstadt Historische Stadtzentren in Städtebau und Denkmalpflege September 2016, 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3537-9
Christopher Dell Epistemologie der Stadt Improvisatorische Praxis und gestalterische Diagrammatik im urbanen Kontext August 2016, 330 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3275-0
Antje Matern (Hg.) Urbane Infrastrukturlandschaften in Transformation Städte – Orte – Räume Mai 2016, 218 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3088-6
Corinna Hölzl Protestbewegungen und Stadtpolitik Urbane Konflikte in Santiago de Chile und Buenos Aires 2015, 422 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3121-0
Judith Knabe, Anne van Rießen, Rolf Blandow (Hg.) Städtische Quartiere gestalten Kommunale Herausforderungen und Chancen im transformierten Wohlfahrtsstaat 2015, 274 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2703-9
Dominik Haubrich Sicher unsicher Eine praktikentheoretische Perspektive auf die Un-/Sicherheiten der Mittelschicht in Brasilien 2015, 378 Seiten, kart., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-3217-0
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