Generationalität und Gewalt: Kriegergruppen im Ostafrika des 19. Jahrhunderts. Dissertationsschrift 9783847104667, 9783847004660, 9783737004664, 3847104667

Vorkoloniale ostafrikanische Gesellschaften wurden bisher kaum erforscht. Neben idealisierten Bildern einer vorkoloniale

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German Pages 328 Year 2015

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Generationalität und Gewalt: Kriegergruppen im Ostafrika des 19. Jahrhunderts. Dissertationsschrift
 9783847104667, 9783847004660, 9783737004664, 3847104667

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Sascha Reif

Generationalität und Gewalt Kriegergruppen im Ostafrika des 19. Jahrhunderts

Mit 5 Abbildungen

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0466-7 ISBN 978-3-8470-0466-0 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0466-4 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Dissertation an der Universität Kassel, Fachbereich 05 Gesellschaftswissenschaften, Verfasser : Sascha Reif, Datum der Disputation: 15. 10. 2014  2015, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Anstürmende »Wagaia« in der Nähe von Utegi am Vikt.-Nyanza. (Sammlung Schott von Lieselotte Gräfin Bülow von Dennewitz).  Koloniales Bildarchiv, Universitätsbibliothek Frankfurt/Main, Bildnr. 084-1710-311. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Danksagung

Anküpfend an eine erhaltenswerte Tradition möchte ich meinen Dank an eine Reihe von Personen richten, die mich bei der Arbeit am vorliegenden Buch unterstützt haben. Die Gespräche mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der DFG-Forschergruppe »Gewaltgemeinschaen« waren stets geprägt von einem fruchtbaren Austausch von Ideen, von der Diskussion übergreifender Fragestellungen sowie der Arbeit an definitorischen, empirischen und phänomenologischen Problemen. Auch die gegenseitige Präsentation einer großen Bandbreite von Projektentwürfen, spezifischen Perspektiven, Konzepten und Ideen sorgte für eine letztlich produktive Art der Ablenkung vom eigenen Fokus, deren Wert besonders in Zeiten überbetonter Quantifizierung, Bilanzierung und Reduktion auf Zählbares sowohl mit dem gebotenen Nachdruck betont als auch im Interesse nachfolgender Forschung verteidigt werden muss. Die Veranstaltungen der Forschergruppe waren eine gelungene Kombination von eigenen Impulsen und externer Forschung, die durch reichhaltige Diskussionsbeiträge und weiterführende Kommentare der Teilnehmenden ergänzt wurden. Von diesem Forschungsumfeld konnte ich profitieren, wofür ich sehr dankbar bin. Ferner gilt mein Dank den einzelnen Projektleiterinnen und Projektleitern für zahlreiche Anregungen, Klärungen und konstruktive Kritik. Im Rahmen der Oberseminare an der Universität Kassel gab es eine große Zahl konzeptioneller wie inhaltlicher Impulse, die im Austausch mit Studierenden und Mitarbeitern des Fachbereichs Neuere und Neueste Geschichte entstanden. Für die ebenso angenehmen wie motivierenden Gespräche vor, während und nach den Veranstaltungen bedanke ich mich ebenfalls herzlich. Der Deutschen Forschungsgemeinscha verdanke ich die Förderung des Projekts und insbesondere die Möglichkeit, eine große Zahl ausländischer Archive aufzusuchen und die dort vorhandenen Bestände ausgiebig studieren zu können. Bei der Arbeit in Archiven und Bibiotheken wurde ich von einer Reihe von Personen unterstützt, die ich ebenfalls dankend erwähnen möchte. Hartmut Bergenthum eröffnete mir zahlreiche Recherchemöglichkeiten und gab mir hilfreiche Hinweise während der Arbeit im DFG-Sondersammelgebiet Afrika südlich der Sahara an der Universität Frankfurt. Ihm und seinen Mitarbeiterinnen dan-

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Danksagung

ke ich sehr. An der University of Nairobi verdanke ich Mary Mwiandi wertvolle Einsichten in den reichhaltigen Quellenkorpus der Departmental Archives und ertragreiche Gespräche über die zentralen emen meiner Forschung. Die Hilfe von Milcah Amolo Achola, Charles E. Sikulu und besonders die Unterstützung durch Tilo Weber ermöglichten mir eine ebenso arbeitsintensive wie ergebnisreiche Zeit in Kenia. An der School of Oriental and African Studies in London verbrachte ich weitere Wochen ausgedehnter Recherchen und habe bei Richard Reid für eine ausgiebige Diskussion zu danken, die Bestätigung und weitere Fokussierung brachte und ein motivierender Auakt dieses Forschungsaufenthaltes war. Bei weiteren Recherchen in der Cadbury Research Library der Universität Birmingham, der Rhodes House Library in Oxford sowie im Archiv der Herrnhuter Brüdergemeinde half mir das jeweilige Personal dabei, die Studie weiterzuführen und in einzelnen Punkten durch archivalische Quellen zu bereichern. Bei der Arbeit im Archiv der Vereinigten Evangelischen Mission in WuppertalBarmen unterstützte mich Wolfgang Apelt, von dessen breiter Sachkenntnis ich ebenso nachhaltig beeindruckt bin wie von seiner schnellen und zuverlässigen Art der Bereitstellung relevanter Quellen. Während der gesamten Projektphase hat mich Christine Momberg als Hilfskra zuverlässig unterstützt und war bei Anfragen stets schnell zur Stelle, wofür ich mich ebenso bedanke wie bei Maria Kiefer für die Hilfe bei der Durchsicht des Manuskripts. In administrativen Fragen konnte ich stets auf die Sachkenntnis von Susanne Weber zählen und bedanke mich herzlich für die Unterstützung. Alexander Eilers verdanke ich ausgiebige Diskussionen und ausgedehnte Gespräche, die mir neue Perspektiven eröffneten und zur gedanklichen Präzisierung beitrugen. Durch Winfried Speitkamp wurde mir eine vorbildliche Betreuung zuteil und ich bedanke mich für klärende Gespräche, inspirierende Vorträge und Seminare, Hilfe bei der Weiterentwicklung zentraler Gedanken meiner Arbeit, ausgiebige fachliche Diskurse sowie ungezählte weitere zusätzliche Impulse und Anregungen. Leider wird dieses Buch einen Leser nicht mehr erreichen, dessen Studien wertvolle Anregungen für meine Arbeit beinhalten und dessen Urteilskra mir ebenso in Erinnerung bleiben wird wie eine beeindruckende intellektuelle Flexibilität, deren Zeuge ich während der Arbeit der Forschergruppe »Gewaltgemeinschaen« sein dure. Trutz von Trotha verstarb während meiner Arbeit an diesem Buch, das seinem Gedenken gewidmet sein soll.

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2 Ostafrikanische Gruppen und politische Strukturen im 19. Jahrhundert 2.1 Gesellschaen im Umbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Europäische Blicke, ostafrikanische Gruppen . . . . . . . . . . . . 2.3 Grundzüge nichtstaatlicher Gesellschaen im 19. Jahrhundert . . .

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3 Alter und Generation in Ostafrika . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Seniorität als gesellschaliches Strukturprinzip . . . . . 3.2 Altersgruppe und Altersklassensystem . . . . . . . . . . 3.3 Altersklassenordnung oder »Altersklassenunordnung«?

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4 Gewalt in ostafrikanischen Gesellschaen des 19. Jahrhunderts . . . . 4.1 »Kriegergeist« und junge Krieger . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Kriegermythen und Kriegertraditionen . . . . . . . . . . . 4.1.2 Gewalt und Männlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Hierarchien, Entstehung und Tätigkeitsfelder von Kriegergruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4 Aggressive Jugend? Kriegertum als Lebensabschnitt . . . . 4.2 Die soziale und politische Einbettung kollektiver Gewalt . . . . . 4.2.1 Eine Ökonomie des Raid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Zyklen der Gewalt. Träger und Routinen saisonaler Raids . 4.2.3 Kooperationsformen, Netzwerke und Streitkulturen . . . . 4.3 Regeln, Grenzen und Vermittler . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Gewalt und Verhandlung. Rolle und Aufgabenbereiche der Elders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Jugendliches Gewaltpotenzial und Konflikte zwischen den Generationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Ehre als Regulativ. Gewalt und sozialer Status. . . . . . . .

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Danksagung

5 Gewalt und gesellschaliche Veränderungen . . . . . . . . . . . . . 5.1 Eine gewaltsame Zeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Neue Gewalteliten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Transformationen der Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Die Festigung veränderter Gewaltnutzung . . . . . . . . 5.2.3 Persönliche Einflussgebiete und charismatische Anführer 5.3 Gesellschaliche Umgestaltung durch Gewalt? . . . . . . . . . 5.3.1 Neue Gewalteliten und koloniale Kräe . . . . . . . . . . 5.3.2 Desintegration bestehender Altersordnungen? . . . . . . 5.3.3 Fortbestehende Ungleichzeitigkeiten . . . . . . . . . . .

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6 Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 7 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1 Unveröffentlichte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1.1 Church Missionary Society Archives, Cadbury Research Library Birmingham . . . . . . . . . . . . 7.1.1.2 School of Oriental and African Studies Archives London . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1.3 Bestände der London Missionary Society, School of Oriental and African Studies London . . . . . . . . 7.1.1.4 Archiv der Vereinigten Evangelischen Mission Wuppertal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1.5 Bundesarchiv Lichterfelde . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1.6 Department of History and Archaeology Archives, University of Nairobi . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1.7 Jomo Kenyatta Memorial Library Archives, University of Nairobi . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1.8 British National Archives London . . . . . . . . . . 7.1.1.9 Archiv der Herrnhuter Brüdergemeinde Herrnhut . 7.1.1.10 Rhodes House Library Oxford . . . . . . . . . . . . 7.1.2 Veröffentlichte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. 301 . 301 . 301 . 301 . 302 . 302 . 302 . 302 . 303 . . . . . . .

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Abkürzungen

CMS - Church Missionary Society Archives, Cadbury Research Library, Birmingham SOAS - School of Oriental and African Studies Archives, London LMS - London Missionary Society Archives, School of Oriental and African Studies, London VEM - Archiv der Vereinigten Evangelischen Mission, Wuppertal BArch - Bundesarchiv Lichterfelde, Berlin UoN - Department of History and Archaeology Archives, University of Nairobi, Nairobi UoNLib - Jomo Kenyatta Memorial Library Archives, University of Nairobi, Nairobi BNA - British National Archives, London HrArch - Archiv der Herrnhuter Brüdergemeinde, Herrnhut RhArch - Rhodes House Library, Oxford

1 Einleitung

Ostafrikanische Krieger sind immer noch eine Projektionsfläche für westliche Imaginationen und prägen Tourismusbroschüren ebenso wie Internetseiten und Werbekampagnen. Sie sind Teil von Phantasien über Ursprünglichkeit und ein naturnahes Leben in Afrika¹. Die vorliegende Arbeit untersucht Kriegergruppen im 19. Jahrhundert, die aus Männern unterschiedlichen Alters bestanden und in einer Umgebung agierten, die von der Abwesenheit von Staaten geprägt war. Generell ist über die Gesellschaen der Vorkolonialzeit nur wenig bekannt, obwohl die Figur des afrikanischen Kriegers bereits die ersten europäischen Besucher so stark fasziniert hat, dass sie regelrecht zur Projektionsfläche für Phantasien über eigene archaische Eigenschaen wurde. Die aktuelle Forschung zu Krieg und Gewalt verstärkt das Interesse an Untersuchungen zu nichtstaatlichen Gesellschaen zusätzlich, indem Konflikte abseits staatlicher Strukturen als die maßgeblichen Formen aktueller und zuküniger Konflikte identifiziert werden². Zunächst stellt sich dabei die grundsätzliche Frage, wie dezentral organisierte Gesellschaen mit Gewalt umgingen: Jede Form menschlicher Gesellscha kennt Eingrenzungsregelungen, welche die Gewalt dauerha tragbar machen³. Die Frage nach der Gewalt steht mithin in engem Zusammenhang mit der Analyse der Organisationsstrukturen ostafrikanischer Gesellschaen und deren Interaktion mit historischen Prozessen und externen Einflüssen. Dabei tritt die grundlegende menschliche Erfahrung von Generationalität als »[...] Dreh- und Angelpunkt gesellschalicher Analyse [...]«⁴ in den Vordergrund. Sie bildet einen Referenzpunkt für die Untersuchung des Gewalthandelns dezentraler Gesellschaen. Zunächst 1

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Aus der Masse des Verfügbaren seien hier nur Filme wie »Die weiße Massai« sowie Zeitungsberichte genannt, in denen moderne Elemente als kurioser Gegensatz zu einer monolithischen Form traditionellen Lebens dargestellt werden. Siehe z.B. Jason Patinkin/Carola Frentzen: Junge Massai in Kenia: Stammesgewand am Leib, iPhone in der Hand, in: Spiegel Online Schulspiegel. 2012, URL:http://www.spiegel.de/schulspiegel/ausland/junge-massai-inkenia-stammesgewand-und-iphone-a-917524.html, Letzter Zugriff: 17.12.2013. Vgl. Herfried Münkler: Die neuen Kriege, Bonn 2002. Vgl. Dierk Walter: Gewalt, Gewaltentgrenzung und die europäische Expansion, in: Mittelweg 3 (2012), S. 3–18, hier S. 11. Ohad Parnes/Ulrike Vedder/Stefan Willer: Das Konzept der Generation. Eine Wissenschasund Kulturgeschichte, Frankfurt am Main 2008, S. 14.

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Einleitung

gilt es, die Phase der Jugend als sowohl physischen wie auch sozialen Transitionsprozess zu begreifen, in dem Jugendliche eigenes Handeln entdecken und in gesellschaliche Strukturen integriert werden oder gegen sie rebellieren⁵. Studien zur deutschen Geschichte wiesen dabei auf eine Rolle der Lebensphase der Jugend hin, die zwar einerseits die lediglich biologisch determinierte Sicht auf ein »[...] Durchgangsstadium von der Kindheit zum Erwachsenenalter«⁶ betont, andererseits jedoch auch auf das Konfliktpotenzial vor dem Hintergrund gesellschalicher Veränderungen hinweist⁷. Ethnologen wie Georg Elwert wiesen ferner auf die besondere Rolle junger Männer als gesellschaliche Akteure, denen gezielt Freiräume und Möglichkeiten eingeräumt werden, Prestige und Anerkennung zu gewinnen⁸. So kann der Blick auf Generationenverhältnisse zur Analyse gesellschalicher Probleme ebenso beitragen wie zur Betrachtung tradierter Autoritätsverhältnisse und Konventionen. Wenn man den Generationenprozess einer Gesellscha näher betrachtet, finden sich zudem Anknüpfungspunkte für die Analyse der Gewaltpraxis: Es ergeben sich Fragen nach tradierten Konzepten legitimer und illegitimer Gewalt sowie danach, wie Gewaltnutzung erlernt wurde, welche gesellschalichen Gruppen am Umgang mit und in der Eingrenzung von Gewalt beteiligt waren und welchen Veränderungsprozessen die Gewaltnutzung unterworfen war. Letzteres verweist auf die Rolle externer Enflüsse, deren hohes Auommen als zentrales Charakteristikum der Geschichte Ostafrikas im 19. Jahrhundert angesehen wurde. Somit stellt sich die Frage nach Aneignungen, Amalgamierungen und Abgrenzungen zwischen externen Einflüssen und dezentralen Gesellschaen. In diesem Zusammenhang tritt die Frage nach der Gewalthaigkeit dieser Prozesse in den Vordergrund: Welche inneren Konflikte und Transformationen spiegelten sich in der Gewaltpraxis und wie stark war der Austausch zwischen ostafrikanischer Bevölkerung und externen Gruppen von Gewalt geprägt? Allen diesen Aspekten unterliegt die grundsätzliche, in zwei Richtungen gestellte Frage nach dem Stabilisierungspotenzial von Gewalt einerseits und nach dem Veränderungspotenzial von Gewalt andererseits: Wie stabilisierten sich soziale Strukturen durch Gewalt, wie veränderten sie sich durch Gewalt und wie weit konnte das Stabilisierungs- und Veränderungspotenzial der Gewalt reichen? Dabei wird jeweils sowohl das Gewalthandeln selbst als auch dessen Androhung betrachtet. 5 6 7 8

Vgl. Sabine Kurtenbach: Youth as a Seismograph for Societal Problems, in: GiGa Focus international 1 (2013), S. 1–8, hier S. 1. Diethardt Kerbs/Jürgen Reulecke (Hrsg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 18801933, Wuppertal 1998, S. 181. Vgl. ebd., S. 182. Vgl. Georg Elwert: Kein Platz für junge Wilde, in: Die Zeit 14 (1998).

Einleitung

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Abbildung 1.1: Ostafrika im 19. Jahrhundert

Gewalt

Gewalt verweist auf Sozialität und konstruiert sie gleichzeitig⁹. Physische Übergriffe¹⁰ finden nicht im luleeren Raum statt, sie sind in ein Handeln eingebettet, welches erlernt werden muss, imitiert, reguliert, sanktioniert und eingegrenzt wird und dem Wandel unterliegt. Die gezielte Verletzung des Körpers eines Anderen ohne dessen Einwilligung hat mithin ihren Platz in der Gesellscha, die Orte und Regeln der Gewalt sowie Mechanismen zur Einhegung und gezielten Gewaltnutzung kennt und Trägergruppen benennt, die legitim Gewalt ausüben dürfen¹¹. In der vorliegenden Studie wird Gewalt als gezielte Nutzung physischer Übergriffe verstanden, die sich gegen Personen, Tiere oder Sachen richten oder eingesetzt 9

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Vgl. orsten Bonacker: Zuschreibungen der Gewalt. Zur Sinnförmigkeit interaktiver, organisierter und gesellschalicher Gewalt, in: Soziale Welt 53 (2002), S. 31–48, hier S. 38. Siehe auch: Anthony Giddens: e Nation-state and violence, London 1992. Vgl. Jan Philipp Reemtsma: Brachiale soziale Gestaltung, in: Mittelweg 36. Zeitschri des Hamburger Instituts für Sozialforschung 5 (2013), S. 79–95, hier S. 79. Vgl. ebd., S. 82, Jörg Baberowski: Gewalt verstehen, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 2008, URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/ 16126041Baberowski-1-2008, Letzter Zugriff: 09.05.2011.

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Einleitung

werden, um physische Übergriffe abzuwehren¹². Jenseits staatlicher Strukturen ist einerseits von einer Vielfalt der Gewaltnutzung auszugehen¹³, andererseits kennen nichtstaatlich organisierte Gesellschaen auch festgelegte Formen der Streitaustragung »mit bestimmten zulässigen Mitteln, [...] eingebettet [...] in eine Kultur der Ehre«¹⁴. Androhung von Gewalt verweist zusätzlich auf die Offenheit einer Situation für Gewalthandeln und umfasst die gezielte Erzeugung von Angst und Terror. Die kulturellen Normalisierungen von Gewalt¹⁵ umfassen Ehrenzeichen, Symboliken und Praktiken der Gewaltnutzung, die wiederum in Sinnzusammenhänge eingeordnet werden¹⁶. Kollektive Gewaltnutzung kann zweckrational erfolgen¹⁷ und ebenso zur punktuellen gewaltsamen Selbsthilfe werden wie auch dauerha die Lebensweise der Akteure bestimmen¹⁸. In der kolonialen Konstellation manifestiert sich zum Einen eine enge Verflechtung kolonialer Herrscha mit Gewalt¹⁹, zum Anderen ergibt sich aus der interkulturellen Begegnung auch eine »[...] Begegnung meist sehr unterschiedlicher Gewaltkulturen«²⁰, was Amalgamierungen und gegenseitige Anpassungs- und Lernprozesse impliziert²¹. Gewalt trägt also sowohl destruktives wie konstruktives und transformatorisches Potenzial in sich. 12 13 14

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Siehe auch: Klaus Schubert/Martina Klein: Gewalt, in: Das Politiklexikon, Bonn 2011. Vgl. Heidrun Zinecker: Editorial, in: Behemoth. A Journal on Civilisation 1 (2009), S. 1–3, hier S. 1. Joachim Eibach: Verbrechen im Blick. Perspektiven der neuzeitlichen Kriminalgeschichte, in: Rebekka Habermas/Gerd Schwerhoff (Hrsg.): Gibt es eine Geschichte der Gewalt? Zur Praxis des Konflikts heute, in der Vormoderne und im 19. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 2009, S. 182– 216, hier S. 187. Grundlegend: Rainer Walz: Agonale Kommunikation im Dorf der frühen Neuzeit, in: Westfälische Forschungen 42 (1992), S. 215–251. Zum Zusammenhang von Ehre und Gewalt siehe auch: Winfried Speitkamp: Ohrfeige, Duell und Ehrenmord. Eine Geschichte der Ehre, Stuttgart 2010. Vgl. Trutz von Trotha: Zur Soziologie der Gewalt, in: Soziologie der Gewalt. Sonderhe der Kölner Zeitschri für Soziologie und Sozialpsychologie, 1997, S. 9–56, hier S. 34. Vgl. Baberowski: Gewalt verstehen. Vgl. Hannah Arendt: Macht und Gewalt, München, Zürich 2005, S. 52. Grundlegend: Gerd Spittler: Konfliktaustragung in akephalen Gesellschaen: Selbsthilfe und Verhandlung, in: Erhard Blankenburg et.al. (Hrsg.): Alternative Rechtsformen und Alternativen zum Recht, Opladen 1980, S. 142–164 sowie Georg Elwert: Gewaltmärkte. Beobachtungen zur Zweckrationalität der Gewalt, in: Trutz von Trotha (Hrsg.): Soziologie der Gewalt, Opladen 1997. Siehe auch: Trutz von Trotha: Koloniale Herrscha. Zur soziologischen eorie der Staatsentstehung am Beispiel des Schutzgebietes Togo“, Tübingen 1994, S. 296 und Reemtsma: ” Brachiale soziale Gestaltung, S. 87. Vgl. Wolfgang Knöbl: Imperiale Herrscha und Gewalt, in: Mittelweg 36. Zeitschri des Hamburger Instituts für Sozialforschung 3 (2012), S. 19–44, hier S. 35. Siehe auch: Susanne Kuß: Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen. Eskalation von Gewalt zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Berlin 2010, S. 14ff. Grundlegend: Trutz von Trotha: Genozidaler Pazifizierungskrieg. Soziologische Anmerkungen zum Konzept des des Genozids am Beispiel des Kolonialkriegs in Deutsch-Südwestafrika, 1904-1907, in: Zeitschri für Genozidforschung 2 (2003), S. 28–57. Walter: Gewalt, Gewaltentgrenzung und die europäische Expansion, S. 10. Siehe auch: Zinecker: Editorial, S. 1f.

Einleitung

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Generationalität

Generationalität ist ein Grundphänomen menschlichen Lebens. Das Handeln eines Menschen ist immer auch in generationelle Zusammenhänge eingebettet. Damit verknüp sind die Erfahrung des Aufwachsens und der Sozialisation, des Wissenserwerbs, der Identifikation mit den Älteren, die Weitergabe von Informationen und Erfahrung von Generation zu Generation sowie die Einbettung in familiäre Strukturen²². Daher ist die Frage, »[...] wie Jugendliche in existierende Muster sozialer Kohäsion integriert werden, eine Entscheidende«²³. Im deutschsprachigen Kontext wurde der Generationsbegriff sowohl zum »[...] Modewort der Feuilletons [...]«²⁴ als auch zum Gegenstand wissenschalicher Analysen. Seit Karl Mannheim als soziologisches Konzept etabliert, wurde das Erneuerungspotenzial von Gesellschaen in einem » [...] steten Neuensetzen neuer Kulturträger [...]«²⁵ ebenso diskutiert wie das Verhältnis von Alterskohorten und Generationen²⁶. Weitere Ansätze betonen zusätzlich die Möglichkeit zur Untersuchung kultureller Orientierungen und politischer Eliten, die einen Anspruch auf die Ablösung des Alten formulieren und sich dadurch als Träger eines verändernden Wechsels konstituieren²⁷. In der Geschichtswissenscha fanden solche Konzepte zur Untersuchung von Generationenkonflikten als »[...] Indikator für vollzogene geschichtliche Brüche sowohl in politisch-sozialer wie kultureller Hinsicht«²⁸ Anwendung. Dabei tritt besonders die Herausbildung eigener kollektiver Überzeugungen innerhalb einer Altersgruppe hervor, die zur Entstehung von Konflikten beitragen²⁹. Im Kontext von Konfliktsituationen wurde insbesondere auf erlern22

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Vgl. Susan Reynolds Whyte/Erdmute Alber/Sjaak van der Geest: Generational connections and conflicts in Africa: An Introduction, in: Erdmute Alber et.al. (Hrsg.): Generations in Africa. Connections and Conflicts, Münster 2008, S. 1–26, hier S. 4ff. sowie Parnes/Vedder/Willer: Das Konzept der Generation, S. 14. »e question [...] how young people are integrated into the existing patterns of social cohesion is a decisive one«, Kurtenbach: Youth as a Seismograph for Societal Problems, S. 6, meine Übersetzung. Dagmar Ellerbrock: Generation Browning. Überlegungen zu einem praxeologischen Generationenkonzept, in: Geschichte im Westen 26 (2011), S. 7–34, hier S. 7. Karl Mannheim: Das Problem der Generationen, in: Kurt H. Wolff (Hrsg.): Wissenssoziologie, Neuwied 1964, S. 509–565, hier S. 530. Vgl. Ulrike Jureit/Michael Wildt: Generationen, zur Relevanz eines wissenschalichen Grundbegriffs, 2005. Siehe hierzu auch: Helmut Schelsky: Die skeptische Generation : eine Soziologie der deutschen Jugend, Frankfurt (M.) [u.a.] 1975 sowie Heinz Bude: Das Altern einer Generation : die Jahrgänge 1938 bis 1948, Frankfurt am Main 1997. Vgl. insbes. Rainer Lepsius: Kritische Anmerkungen zur Generationenforschung, in: Ulrike Jureid/Michael Wildt (Hrsg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschalichen Grundbegriffs, Hamburg 2005, S. 45–52. Hans Mommsen: Generationenkonflikt und politische Entwicklung in der Weimarer Republik, in: Jürgen Reulecke (Hrsg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003, S. 115–126, hier S. 115. Vgl. ebd. Siehe hierzu auch: Jürgen Reulecke: Zornige junge Männer. Jugendprotest als Kennzeichen des 20. Jahrhunderts, in: ders. (Hrsg.): Ich möchte einer werden so wie die.“ Männer”

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Einleitung

te und eingeübte Männlichkeitskonzepte hingewiesen, die »Spiele der Männlichkeit«³⁰ hervorbringen und eine enge kulturelle Verknüpfung zwischen Konzepten von Jugend, Männlichkeit und Gewalt suggerieren³¹. Solche konstruktivistischen Komponenten ergeben sich auch aus Studien, die sich mit afrikanischen Altersund Generationenordnungen befassten und deren Schwerpunkte vorwiegend im Bereich kultureller Konzepte von Lebensphasen mit zugeordneten gesellschalichen Aufgabenfeldern und Rollenmustern gesetzt wurden. Solche Phänomene gehören ebenso zu Generationserfahrungen wie die Orientierung an bzw. Abgrenzung von Vorbildern vergangener Zeit. Eine gemeinsame Zeiterfahrung kann das kollektive Denken und Handeln prägen³². Daraus ergibt sich eine passive Sichtweise, welche die Einbettung in bestehende soziale Ordnungen, Traditionen und Kulturen umfasst, sowie eine aktive Sichtweise, die das Handeln, die gemeinsame Zeiterfahrung und den potenziellen Handlungsspielraum der Beteiligten in den Blick nimmt³³. Im Verhältnis zwischen den Generationen kristallisieren sich Beharrungs- und Veränderungskräe dynamischer Gesellschaen³⁴. Forschungsstand

Die Debatte um Gewalt in nichtstaatlich organisierten Gesellschaen ist bisweilen stark politisch aufgeladen³⁵ und von einer starken Uneinheitlichkeit der verfügbaren Daten geprägt³⁶. Zudem ist die Evidenz rar³⁷, weswegen sich viele Studien auf die Gegenwart konzentrieren³⁸. Ältere ethnologische und völkerkundliche Wer-

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bünde im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2001, 22ff. sowie Parnes/Vedder/Willer: Das Konzept der Generation, S. 280ff. Ellerbrock: Generation Browning. Überlegungen zu einem praxeologischen Generationenkonzept, S. 17. Siehe auch ebd. Siehe hierzu auch: Ute Luig; Jochen Seebode (Hrsg.): Ethnologie der Jugend. soziale Praxis, moralische Diskurse und inszenierte Körperlichkeit, Münster 2003, S. 9–40, hier S. 9ff. sowie Reulecke: Zornige junge Männer. Jugendprotest als Kennzeichen des 20. Jahrhunderts. Vgl. Whyte/Alber/Geest: Generational connections and conflicts in Africa: An Introduction, S. 2f. Siehe auch: Magdaline Wafula: ’Tradition’ versus ’Modernity’: Generational Conflict in Vuta N’Kuvute, Kufa Kuzikana, Msimu Wa Vipepeo and Tumaini, in: Swahili Forum 18 (2011), S. 135–162, hier S. 135. Vgl. Steven Pinker: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit, Frankfurt 2011, S. 83ff. sowie Bernd Hüppauf: Was ist Krieg? zur Grundlegung einer Kulturgeschichte des Kriegs, Bielefeld 2013, S. 357. Siehe Benjamin Ziemann: Eine »neue Geschichte der Menschheit«? Anmerkungen zu Stephen Pinkers evolutiver Deutung der Gewalt, in: Mittelweg 36. Zeitschri des Hamburger Instituts für Sozialforschung 3 (2012), S. 45–56, hier S. 51. Vgl. Hüppauf: Was ist Krieg?, S. 357. Siehe z.B. Morten Boas; Kevin Dunn (Hrsg.): African Guerillas. Raging against the Machine, Boulder, London 2007.

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ke portraitierten einige Gesellschaen als besonders kriegerisch³⁹, ohne die Entstehungsbedingungen ihrer Studien in ausreichender Weise in die Überlegungen einzubeziehen. So wurden Konflikte um westliche Handelsgüter rückprojizierend als gewalthaes Dispositiv gedeutet⁴⁰. Den aktuellen Wissenschasdiskurs prägte einerseits der Versuch Lawrence Keeleys, einen »Myth of the peaceful savage«⁴¹ zu dekonstruieren, während ihm wiederum andererseits vorgeworfen wurde, Vorstellungen eines »kriegerischen Wilden«⁴² an die Stelle jenes Mythos gesetzt zu haben⁴³. Neuere Studien betonen, dass »[...] die An- oder Abwesenheit einer nach westlichen Prinzipien strukturierten Staatlichkeit noch nicht sehr viel über die Gewalttätigkeit in einer Gesellscha besagt«⁴⁴. Mit Blick auf die Gewalt im Ostafrika des 19. Jahrhunderts analysierte die ältere Forschung bereits die Einbettung von Gewaltakteuren in soziale Strukturen und politische Ordnungen⁴⁵. Die Forschungen stützten sich o auf die verfügbare englischsprachige Reiseliteratur sowie mündliche Traditionen, wobei der kulturelle Aspekt gezielt zugunsten einer »[...] strukturell-funktionalen Analyse [...]«⁴⁶ ausgeblendet wurde. Darauf folgten in den letzten Jahren einige umfangreiche Studien, die das u.a. nachholten⁴⁷. Ferner werden Arten der Bewaffnung, die Rolle von Schusswaffen, militärische Hierarchien und die ökonomische Dimension der Gewalt ebenso in den Blick genommen wie die Einbettung der Gewalt in gesellschaliche Zusammenhänge sowie Konfliktvermeidungs- und Konfliktlösungsstrategien⁴⁸. Diese Arbeiten sind räumlich meist groß angelegt und 39 40

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Als idealtypisches Beispiel siehe R. Brian Ferguson: Yanomami warfare. a political history, Santa Fe, NM 1995. Vgl. Heidi Peter-Röcher: Gewalt und Krieg im prähistorischen Europa. Beiträge zur Konfliktforschung auf der Grundlage archäologischer, anthropologischer und ethnologischer Quellen, Bonn 2007, S. 88. Lawrence H. Keeley: War before civilization: e Myth of the peaceful Savage, New York [u.a.] 1996. Peter-Röcher: Gewalt und Krieg im prähistorischen Europa, S. 10. Siehe hierzu auch: Walter: Gewalt, Gewaltentgrenzung und die europäische Expansion, S. 11. Knöbl: Imperiale Herrscha und Gewalt, S. 44. Siehe insbes. G. N. Uzoigwe: e Warrior and the State in Precolonial Africa, in: Journal of Asian and African Studies 12 (1977), S. 20–47 sowie ders.: Pre-Colonial Military Studies in Africa, in: e Journal of Modern African Studies 13,3 (1975), S. 469–481. »Structural-functional analysis«, ders.: e Warrior and the State in Precolonial Africa, S. 22, meine Übersetzung. Siehe Richard J. Reid: Mutesa and Mirambo: oughts on East African Warfare and Diplomacy in the Nineteenth Century, in: e International Journal of African Historical Studies 31.1 (1998), S. 73–89, ders.: War and Militarism in Pre-Colonial Buganda, in: John Lamphear (Hrsg.): African Military History, Hampshire et.al. 2007, S. 426–440, ders.: Human booty in Buganda. some observations on the seizure of people in war c.1700-1890, 2007, ders.: Frontiers of violence in North-East Africa. genealogies of conflict since c. 1800, Oxford 2011, ders.: Warfare in African history, Cambridge [u.a.] 2012, ders.: War in pre-colonial eastern Africa, the patterns & meanings of state-level conflict in the nineteenth century, 2007 sowie ders.: A history of modern Africa, 1800 to the present, 2009. Siehe insbes. ders.: War in pre-colonial eastern Africa.

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umfassen verschiedene politische und soziale Organisationsformen. Ihre Quellenbasis speist sich im Wesentlichen aus Materialien, die in Großbritannien vorhanden sind, und beinhaltet keine deutschsprachigen Texte. Zudem nehmen sie zwar die transformatorischen Aspekte der Gewalt in den Blick, nutzen jedoch ein begriffliches Instrumentarium, welches sich stark am Konzept von Staatlichkeit und Staatenbildungsprozessen orientiert⁴⁹. Die Rolle von Schusswaffen im vorkolonialen Ostafrika und ihrer Wirkung auf soziale und kulturelle Kontexte wurde bereits untersucht⁵⁰, auf der Grundlage der bisher verfügbaren einführenden Studie kann deren Perspektive erweitert werden, indem die Ergebnisse mit dem Hintergrund der Gewaltnutzung im Ostafrika des 19. Jahrhunderts in Verbindung gebracht werden. Die Forschung zu Generationalität und Generationenbeziehungen in Afrika hat eine lange Tradition außerhalb der Geschichtswissenschaen⁵¹. Sie betont den formalisierten Charakter der Generationenbeziehungen und beschäigt sich mit der Rekonstruktion von Altersklassensystemen und Generationeneinheiten. Wir werden an anderer Stelle genauer auf die verschiedenen Studien zu diesem ema eingehen. Vorerst bleibt lediglich festzuhalten, dass die Ergebnisse völkerkundlicher, soziologischer, ethnologischer und anthropologischer Forschungen eine weite Verbreitung von Altersklassensystemen im ostafrikanischen Raum der Vorkolonialzeit annehmen lassen⁵². Während bereits einige ältere Studien die Handelsstrukturen Ostafrikas im 19. Jahrhundert behandelten⁵³, brachten neuere globalgeschichtliche und transna49 50

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Siehe insbes. Reid: Warfare in African history, S. 107, ebd., S. 109 sowie ders.: A history of modern Africa, S. 20. Siehe Reinhard Klein-Arendt: Vielfältige Erinnerung, zwiespältige Erinnerung. Feuerwaffen im vorkolonialen Ostafrika, in: Winfried Speitkamp (Hrsg.): Kommunikationsräume - Erinnerungsräume. Beiträge zur transkulturellen Begegnung in Afrika, München 2005, S. 37–64. Grundlegend: Heinrich Schurtz: Altersklassen und Männerbünde, Berlin 1902. Siehe auch: S.N. Eisenstadt: African Age Groups: A Comparative Study, in: Africa: Journal of the International African Institute 24.2 (1954), S. 100–113, Paul T. W. Baxter/Uri Almagor (Hrsg.): Age, Generation and Time: some features of East African age organisations, New York 1978, Harald K. Müller: Changing Generations: Dynamics of Generation and Age-Sets in Southeastern Sudan (Toposa) and Northwestern Kenya (Turkana), hrsg. v. Volker Löhr/Manfred Schulz/Georg Elwert, Saarbrücken, Fort Lauderdale 1989, Bernardo Bernardi: Age class systems: social institutions and politics based on age, Cambridge 1985, Erdmute Alber/et.al. (Hrsg.): Generations in Africa. Connections and Conflicts, Berlin 2008. Siehe Baxter/Almagor (Hrsg.): Age, Generation and Time: some features of East African age organisations, S. 2 sowie Hermann Amborn: e Contemporary Significance of what has been. ree Approaches to Remembering the Past: Lineage, Gada, and Oral Tradition, in: History in Africa 33 (2006), S. 53–84, hier S. 64. z.B. Iris Hahner-Herzog: Tippu Tip und der Elfenbeinhandel in Ost- und Zentralafrika im 19. Jahrhundert, 1990, G. N. Uzoigwe: Precolonial Markets in Bunyoro-Kitara, in: Comparative Studies in Society and History 14.4 (1972), S. 422–455, R. W. Beachey: e Arms Trade in East Africa in the Late Nineteenth Century, in: e Journal of African History 3.3 (1962), S. 451– 467, ders.: e East African Ivory Trade in the Nineteenth Century, in: e Journal of African

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tional angelegte Studien einige neue Einblicke in die Rolle von Missionaren⁵⁴, die Ausweitung von Handelsnetzwerken⁵⁵ und die einzelnen Aspekte kultureller Begegnungen im ostafrikanischen Raum⁵⁶. Auch zum Sklavenhandel existieren neuere Studien, die einen Einblick in Ausmaß und Bedeutung dieses Phänomens für Ostafrika im 19. Jahrhundert erlauben⁵⁷. Schließlich wird die Bedeutung der Gewalthaigkeit der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts in der Forschung bereits betont und es werden die Verflechtungen zwischen exzessiver Gewalt und auommendem Kolonialismus analysiert⁵⁸. Die Beziehung von Gewalt und Sozialität steht im Mittelpunkt der Studie, die nach neuen Perspektiven sucht, jenseits des »[...] entweder ›durchökonomisierten‹ oder ›durchkulturalisierten‹ (Mainstreams) der Gewaltforschung, demzufolge Gewalt jenseits des Staates vollkommen depolitisiert ist und ihren Bezug zum Staat höchstens mit Verweis auf dessen Absenz ›nachweisen‹ darf«⁵⁹. Die ökonomischen und kulturellen Aspekte der Gewaltnutzung treten damit nicht in den Hintergrund, werden aber analytisch mit sozialen und politischen Phänomenen in Verbindung gesetzt. Dabei werden keine ethnischen Kategorien oder Vorstellungen interethnischer Konflikte genutzt, wie in zahlreichen bisherigen Studien üblich, sondern es wird von einer Vielfalt der Konfliktpotenziale ausgegangen, angesichts derer solche Erklärungsversuche scheitern müssen. Analysen gegenwärtiger Konflikte setzen auf eine »[...] diachrone akteur-orientierte Perspekti-

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History 8.2 (1967), S. 269–290, Edward A. Alpers: Trade, State, and Society among the Yao in the Nineteenth Century, in: e Journal of African History 10.3 (1969), S. 405–420 und Richard Gray/David Birmingham (Hrsg.): Pre-colonial African trade. essays on trade in Central and Eastern Africa before 1900, London [u.a.] 1970. Siehe z.B. Rebekka Habermas: Mission im 19. Jahrhundert - Globale Netze des Religiösen, in: Historische Zeitschri 3 (2008), S. 629–679. Siehe z.B. Stephen J. Rockel: Carriers of Culture. Labor on the Road in Nineteenth-Century East Africa, Portsmouth 2006. Siehe Michael Pesek: Die Kunst des Reisens. Die Begegnung von europäischen Forschungsreisenden und Ostafrikanern in den Kontaktzonen des 19. Jahrhunderts, in: Winfried Speitkamp (Hrsg.): Kommunikationsräume – Erinnerungsräume. Beiträge zur transkulturellen Begegnung in Afrika, 2005, S. 65–99. Siehe Michael Mann: Sahibs, Sklaven und Soldaten. Geschichte des Menschenhandels rund um den Indischen Ozean, Darmstadt 2012 sowie Jan-Georg Deutsch: Emancipation without Abolition in German East Africa c. 1884-1914, Oxfrord et.al. 2006. Siehe Erick J. Mann: Mikono ya damu. African mercenaries and the politics of conflict in German East Africa, 1888-1904, Frankfurt am Main [u.a.] 2002, Trotha: Genozidaler Pazifizierungskrieg. Soziologische Anmerkungen zum Konzept des des Genozids am Beispiel des Kolonialkriegs in Deutsch-Südwestafrika, 1904-1907, Michael Pesek: Koloniale Herrscha in Deutsch-Ostafrika, Frankfurt/Main 2005, omas Morlang: Askari und Fitafita. ’farbige’ Söldner in den deutschen Kolonien, Berlin 2008, Stefanie Michels: Schwarze deutsche Kolonialsoldaten, Bielefeld 2009, Kuß: Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen und Walter: Gewalt, Gewaltentgrenzung und die europäische Expansion. Zinecker: Editorial, S. 1, Hervorhebung im Original.

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ve[...]«⁶⁰, die für die vorliegende Studie ebenfalls genutzt werden kann. Weiterhin stellen einige Studien die Rolle einzelner Personen als charismatische Anführer und bekannte Kriegerfiguren in den Vordergrund, ohne deren Einbindung in sozio-politische und kulturelle Kontexte näher zu beleuchten. Basierend auf einem »[...] Denken in Netzwerken [...], das mit Mehrstimmigkeit rechnet und mit komplexen Wirkungszusammenhängen«⁶¹, werden hier gezielt Überlagerungen, Unklarheiten und Amalgamierungen betrachtet, nicht um sie in klare - oder klar erscheinende - Vorher/Nachher - bzw. europäisch/afrikanisch - Dichotomien zerlegen zu wollen, sondern um sie als zentrale Merkmale dynamischer Gesellschaften zu verstehen. Quellen und Quellenkritik

Die Quellenlage hinsichtlich einer Untersuchung des Handelns der Bevölkerung Ostafrikas im 19. Jahrhundert ist in vielerlei Hinsicht problematisch. Durch externe Betrachter wurden Zeugnisse meist mit Hilfe von Übersetzern aufgeschrieben, somit als (Pseudo-) Tradition festgeschrieben und in der Folge als soziale Realität fortgeschrieben. Die Quellensituation ist mithin von einer grundlegenden Ambivalenz geprägt: Einerseits kann auf eine breite Materialbasis zugegriffen werden, andererseits ist die Auseinandersetzung mit den verfügbaren Quellen zum 19. Jahrhundert stark von Begrenzungen des Blickes geprägt. Es handelt sich beim größten Teil der Überlieferungen um Repräsentationen einer eurozentristischen Sichtweise, die von Superioritätsgefühlen ebenso beeinflusst war wie von Konzepten wie Rassismus, afrikanischer Rückständigkeit und »Wildheit«. Afrika wird als als metaphysischer Ort der Begegnung mit dem Archaischen, Vormodernen, »Natürlichen« dargestellt; Afrikaner erscheinen meist als passive Objekte, bisweilen gar als Teil einer malerischen Kulisse, die es zu erforschen, für den Handel zu erschließen oder mit missionarischen bzw. kolonialstaatlichen Strukturen zu überziehen gelte. Die Bewohner Ostafrikas wurden meist gemäß europäischen Vorstellungen vom »[...] primitiven Menschen als gewalttätig, unkontrolliert und nur an der Befriedigung der eigenen egoistischen Bedürfnisse interessiert«⁶² geschildert. Daraus ergibt sich eine Verzerrung, die o durch sprachliche Barrieren, Verständigungsprobleme, gezielte Falschinformation oder Zurückhaltung von Informationen verstärkt wurde. Meist waren westliche Beobachter auf lokale Führer oder Übersetzer angewiesen, die das Weitergegebene gezielt manipulierten oder vor60

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»[...] diachronical actor-oriented perspective [...]« (Elke Grawert: Cross-border Dynamics of Violent Conflict. e Case of Sudan and Chad, in: Journal of Asian and African Studies 43.6 (2008), S. 595–614, hier S. 595), meine Übersetzung. Albert Wirz: Migrationen. Das Problem der Bantu-Expansion, in: Albert Wirtz; Jan-Georg Deutsch (Hrsg.): Geschichte in Afrika. Einführung in Probleme und Debatten, Berlin 1997, S. 35–52, hier S. 49. Sven Lindquist: Terra Nullius. A Journey rough No One’s Land, New York 2007, S. 47.

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sätzlich Dinge ausließen⁶³. Auch in den schrilichen Zeugnissen selbst schlug sich die ostafrikanische Wirklichkeit lediglich vermittelt durch Begriffe nieder, die vor einem europäischen Denkhorizont ausgeprägt wurden und denen entsprechende Verzerrungen inhärent sind⁶⁴. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts häuen sich Berichte europäischer Reisender und Forscher, die einen Teil des verfügbaren Quellenkorpus ausmachen. Reiseberichte unterliegen einer Reihe von Gattungskonventionen. So zeichnet die Reiseliteratur ein Bild des Fremden, Dunklen, gepaart mit Naturromantik, rassistischen Superioritätsgefühlen und europäisch-christlichem Sendungsbewusstsein, wie es den zeitgenössischen Vorstellungen der Autoren sowie des Leserkreises entsprach. Reisende hatten bereits implizite Vorstellungen über Ostafrika und waren sukzessive zusätzlich von bereits publizierten Werken anderer Reisender beeinflusst. Bei der Darstellung ihrer eigenen Afrikaerfahrung orientierten sie sich an gängigen literarischen Konventionen und schrieben ihre Texte als Schilderungen abenteuerlicher Erlebnisse. Die Literaturwissenschalerin Vera Nünning beschreibt den kulturellen Entstehungskontext dieser Veröffentlichungen als geprägt von Werten der Empfindsamkeit, welche die Kultur Großbritanniens seit dem 18. Jahrhundert immer stärker geprägt hatten. Man orientierte sich weniger an Werten der Vernun und Rationalität, sondern sah die Fähigkeit der verfeinerten Wahrnehmung und des Empfindens von Gefühlen als zentrales Merkmal der Menschlichkeit an⁶⁵. In der Reiseliteratur wurde über diese Werte reflektiert. Dabei trat die Empfindung des Mitleids in den Vordergrund. Gewalt wurde, insbesondere in humanitären Reformschrien, detailiert geschildert, »[...] um die Emotionen ihrer Leser aufzuwühlen«⁶⁶. Entsprechend drastisch erscheinen Schilderungen von Gewalt in Afrika im Allgemeinen, und im Zusammenhang mit dem Sklavenhandel im Besonderen. Die Schrien der Antisklavereibewegung in Großbritannien stützten sich auf solche drastisch geschilderten Beobachtungen, die wiederum bereits vor dem Hintergrund der Kultur der Empfindsamkeit zu sehen sind. Emotionalität war also bereits beim Verfassen der Texte von zentraler Bedeutung und bestimmte die Rezeptionsästhetik: Eine Kultur der Empfindsamkeit prägte die Art, wie über Afrika geschrieben wurde⁶⁷. 63

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Bspw. schilderten sowohl Johann Ludwig Krapf als auch Max Weiß Schwierigkeiten bei der Weitergabe von Informationen durch indigene Informanten (siehe Johann L. Krapf: Kurze Beschreibung der Massai, in: Ausland 30 (1857), S. 437–443, 461–466, hier S. 79 sowie Max Weiss: Die Völkerstämme im Norden Deutsch-Ostafrikas, Berlin 1910, S. 68. Vgl. Leonhard Harding: Geschichte Afrikas im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999, S. 129. Vera Nünning: Die Kultur der Empfindsamkeit. Eine mentalitätsgeschichtliche Skizze, in: Ansgar Nünning (Hrsg.): Eine andere Geschichte der englischen Literatur. Epochen, Gattungen und Teilgebiete im Überblick, Trier 2004, S. 107–126, hier S. 104. ebd., S. 114. Dass solche Konventionen auch im deutschsprachigen Raum von Bedeutung waren, illustrieren die Berichte des Arzts und Afrikaforschers Richard Kandt, der seinem Buch den Untertitel

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Neben jenen Reiseberichten stellen die Schrien von Missionaren einen weiteren Hauptbestandteil der verfügbaren Quellen dar. Wie der Historiker orsten Altena gezeigt hat, steht im Zentrum der Beschäigung mit der Missionsgeschichte in der Zeit des Kolonialismus das Paradigma des Kampfes gegen »Mächte der Finsternis«. In den Schrien von Missionaren und Missionsgesellschaen schlug sich das vor Allem in der Metapher von Licht und Schatten nieder. So trug beispielsweise eine Traktatreihe der Leipziger Mission den Titel »Lichtstrahlen im dunklen Erdteil«. Das Bild von Licht und Schatten zeichnete »unverrückbare Koordinaten« (Altena⁶⁸) vor, welche sich in den Aufzeichnungen ständig wiederfinden. Besonders wenn von beobachteter Aggressivität und Gewalt die Rede ist, wird dies mit Motiven des Kampfes gegen die Finsternis assoziiert und mit Hilfe entsprechender Erzähltechniken angereichert. Trotz solch starker Überformung können die publizierten Reiseberichte dennoch über bestimmte Aspekte Auskun geben. Die unterschiedlichen Motivationen, Interessengebiete und Sprachkompetenzen der Autoren lassen sich erkennen und bieten Erkenntnispotenziale. Das gilt besonders für die Reiseberichte, welche vor der Zeit des sog. »Scramble for Africa«, der kolonialen Ausbreitung Europas seit der sog. Kongo-Konferenz 1884/85, verfasst wurden⁶⁹. Die Beobachtungen von David Livingstone, Henry Morton Stanley, John Haning Speke, Richard Francis Burton, Carl Claus von der Decken, Samuel White Baker, omas Boteler, Edward Steere, Charles New und C.T. Wilson geben Einblicke in die »[...] ökonomischen, gesellschalichen, politischen und kulturellen Strukturen [...]«⁷⁰ Ostafrikas. Besonders die Aufzeichnungen des britischen Händlers und Abenteurers John Boyes liefern dabei einen tieferen Einblick in die Verhältnisse. Er lebte von 1898 bis 1903 in den Hochländern Kenias und knüpe intensive Kontakte zur lokalen Bevölkerung. Seine Erlebnisse schilderte er in zwei Berichten, in denen sich der dauerhae Austausch zwischen ihm und den Bewohnern des Kikuyu-Gebiets niederschlug⁷¹. In seinen Berichten zeigen sich ostafrikanische Sozialstrukturen, Autoritäts- und Machtverhältnisse ebenso deutlich wie kulturelle Phänomene. Gerade durch seinen Status als Fremder manifestierten sich die bestehenden Verhältnisse deutlich: »Man dringt nicht eigentlich in eine andere Kultur ein [...]. Man stellt sich ihr in den Weg, und sie verkörpert sich und fängt

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»eine empfindsame Reise zu den Quellen des Nils« gab, siehe Richard Kandt: Caput Nili, eine empfindsame Reise zu den Quellen des Nils, Berlin 1914. orsten Altena: »Brüder« und »Väter im Herrn«. Notizen zum inneren Machtgefüge protestantischer deutschsprachiger Missionsgesellschaen 1884-1918, in: Ulrich Heyden; Holger Stoecker (Hrsg.): Mission und Macht im Wandel politischer Orientierungen, 2005, S. 51–70, hier S. 51. Vgl. Winfried Speitkamp: Kleine Geschichte Afrikas, Stuttgart 2007, S. 195ff. Harding: Geschichte Afrikas im 19. und 20. Jahrhundert, S. 113. Siehe John Boyes: How I became King of the Wa-Kikuyu, Nairobi o.J. sowie ders.: King of the Wa-Kikuyu, London 1968 [1911].

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einen ein«⁷². Ähnliche Einblicke ergeben sich aus den Tagebüchern von Missionaren und Missionsstationen, die für einen dauerhaen Kontakt mit der Bevölkerung stehen können. Missionare schrieben die Lebensgeschichte einzelner Ostafrikaner auf, sammelten Lieder, Geschichten und Aphorismen oder dokumentierten die Lokalgeschichte aus der Erinnerung der ansässigen Ältesten⁷³. Frühe Fotographien, Illustrationen und Skizzen sind ebenso Bestandteil publizierter Reiseberichte wie privater Unterlagen oder archivierter Bestände missionarischer Sammlungen. Obwohl sich dort selten genaue Orts-, Zeit- oder Personenangaben finden lassen und die Art der Darstellung bisweilen als stark inszeniert angesehen werden muss, können solche Bildmaterialien einzelne Aspekte beleuchten und als Ergänzung herangezogen werden. Publizierte Reiseberichte unterliefen o zahlreiche Änderungen und unterscheiden sich bisweilen stark von Briefen, Notizen und privaten Tagebüchern, die nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren. Daraus ergeben sich Unterschiede in der Charakterisierung der Afrikaner sowie in der Schilderung des Erlebten. Im Fall des britischen Reisenden Richard Francis Burton verglich man Veröffentlichtes und Privates und konnte starke Unterschiede feststellen⁷⁴. Auch der im Jahr 2010 entzifferte Brief des Missionars David Livingstone an Richard Waller, seinen Freund und Herausgeber seiner Schrien, ist ein Beleg für dieses Phänomen. Auf den vermutlich in mehreren Sitzungen zwischen Februar und März 1871 niedergeschriebenen vier Seiten notierte der schwer kranke Livingstone, von ema zu ema springend, zur Veröffentlichung Intendiertes und Privates. Letzteres kennzeichnete der Missionar deutlich und wies beim Hinweis auf seinen körperlichen und seelischen Zustand nochmals auf die strenge Geheimhaltung dieser Information hin⁷⁵. Der Missionar und Völkerkundler Wilhelm Blohm stellte fest:»[...] was man in Büchern liest, ist mehr oder minder idealisiert [...]«⁷⁶. Private Tagebücher und Briefe an Freunde und Bekannte, die nicht zur Publikation bestimmt waren, stellen die Erlebnisse weniger gefiltert dar. Ein Beispiel für diese Quellengattung sind die Aufzeichnungen des Missionars August Schynse, die er seinem Freund

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Clifford Geertz: Spurenlesen. Der Ethnologe und das Entgleiten der Fakten, München 1997, S. 56. Siehe z.B. Elise Kootz: Sichyajunga, Ein Leben in Unruhe, Herrnhut 1938, ders.: Tatu, das geraubte Muvembakind, Herrnhut 1927, ders.: Die alte Zauberin, in: Braunschweigischer VolksKalender 1932, S. 54–55, Joseph Busse: Aus dem Leben von Asyukile Malango. (NyakyusaTexte). In: Zeitschri für Eingeborenen-Sprachen 35.3/4 (1950), S. 191–227. Siehe Greg Garrett: Relocating Burton: Public and Private Writings on Africa, in: e Journal of African Travel-Writing 2 (1997), S. 70–79. David Livingstone: Livingstone an Waller, 5. Februar 1871. URL:http://livingstone.library.ucla.edu/bambarre/1rtext_notes.htm, letzter Zugriff: 10.06.2014. Wilhelm Blohm: Blohm an Missionsdirektur Br. Baudert, Baziya via Umtata, Transkei, South Africa, 30. Juni 1927, HrArch, Signatur: MD 691.

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Karl Hespers schickte⁷⁷. Solche Berichte stehen für ein schreibendes Erleben mit geringem zeitlichen Abstand und wenig Reflexion über das Erlebte. Ein weiterer Teil des Quellenkorpus machen frühe ethnographische Werke, zeitgenössische Wörterbücher und Verschrilichungen mündlicher Traditionen aus. Hier treten besonders die Schrien des deutschen Missionars Johann Ludwig Krapf hervor. Er verfasste Reiseberichte, ethnographische Studien und mehrere Wörterbücher⁷⁸. In den 1840er Jahren nahm er sich einen Swahili-Lehrer, lernte die ostafrikanische Verkehrssprache und brach 1845 ins Landesinnere auf, um dort später die Missionsstation Neurabbai zu gründen, von der aus er, allein oder zusammen mit Johannes Rebmann, weitere Reisen ins Landesinnere unternahm⁷⁹. Durch seine Sprachkenntnis sind seine Schrien charakterisiert von detailierten Einblicken in gesellschaliche Strukturen und kulturelle Phänomene, die durch neuere Forschungen ergänzt und kommentiert wurden⁸⁰. Vor dem Hintergrund des auommenden Kolonialismus muss auch hier die Situation in den Blick genommen werden, in der ethnographische Studien zustande kamen. Das illustriert beispielsweise ein Bericht des Missionars Ernst Johanssen über den Besuch von Dr. Richard Kandt, der im Januar 1908 mit 50 Soldaten der deutschen Kolonialarmee in Usambara ankam, um dort seine Studien zu betreiben⁸¹. In der kolonialen Situation wurde die Beschaffung von Informationen zu einem Sammeln von Herrschaswissen: Es mussten »[...] Strukturen geschaffen werden, auf die sich Herrscha auauen ließ, dann mussten »Stämme« erfunden und die Bevölkerung gewissermaßen entindividualisiert werden, dann mussten chiefs ernannt, Mitglieder der Bevölkerung also gleichzeitig auch wieder individualisiert werden«⁸². Neben solchen Problemen wurde der meist kurze Kontakt von Völkerkundlern und Ethnologen zur Bevölkerung kritisiert, der in den meisten Fällen unter der Mithilfe von Dolmetschern zustande kam. In der ethnologischen Forschung des 20. Jahrhunderts wurde eine bessere Sprachkompetenz der Forscher zwar angestrebt, für den afrikanischen Kontext schätzte man jedoch für die zu Beginn der 1950er Jahren verfügbaren ethnographischen Werke den Anteil von 77

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August Wilhelm Schynse: Pater Schynse’s letzte Reisen, hrsg. v. Karl Hespers, Köln 1892 sowie ders.: Mit Stanley und Emin Pascha durch Deutsch-Ostafrika. Reise-Tagebuch von P. August Schynse, hrsg. v. Karl Hespers, Köln 1890. Siehe Johann L. Krapf: Reisen in Ostafrika ausgeführt in den Jahren 1837-1855, hrsg. v. Werner Raupp, Münster, Hamburg 1994[1858], ders.: A dictionary of the Suahili language. with introduction containing an outline of a Suahili grammar, London 1882, ders.: Kurze Beschreibung der Massai. Siehe Clemens Gütl: Johann Ludwig Krapf. do’ Missionar vo’ Deradenga. Zwischen pietistischem Ideal und afrikanischer Realität, Münster [u.a.] 2001, S. 68f. Siehe Gudrun Miehe; Henrike Firsching: Exploring Krapf ’s Dictionary, in: Swahili Forum 16 (2009) sowie Gütl: Johann Ludwig Krapf und M. Louise Pirouet: e Legacy of Johann Ludwig Krapf, in: International Bulletin of Missionary Research 4 (1999), S. 69–74. Siehe Ernst Johanssen: Tagebücher 1890-1914, VEM, Signatur: M212.MII 1.5 Bd.1 1890-1914. Knöbl: Imperiale Herrscha und Gewalt, S. 43. Hervorhebung und Anführungszeichen im Original. Siehe auch: Harding: Geschichte Afrikas im 19. und 20. Jahrhundert, S. 113.

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Werken, die maßgeblich mit der Hilfe von Dolmetschern entstanden waren, auf ca. 95 Prozent⁸³. Den Erkenntniswert früher ethnographischer Werke charakterisieren die Einschätzungen Wilhelm Blohms, selbst Verfasser eines mehrbändigen ethnographischen Werks über die Bevölkerung Unyamwesis⁸⁴, der seinen Besuch auf einer Tagung zur Missionstätigkeit und der Tätigkeit von Völkerkundlern im Jahr 1927 mit folgender Bemerkung zusammenfasste: »Ich bezweifle, dass wir haben ›a clearer understanding and appreciation of African capacity and customs.‹ Kein Mensch weiss etwas mit der Beschneidung anzufangen; kein Mensch weiss, was ›lobola‹ ist, dh. der Brautkaufpreis; kein Mensch weiss, was eine Heirat ist; kein Mensch kennt die religiösen Übungen, ihre Handhabung und ihren Sinn. Was man als clearer understanding ansieht, bleibt durchaus an der Oberfläche der Dinge haen.«⁸⁵. In seiner Einschätzung der Werke Bruno Gutmanns zum Rechtssystem der Bevölkerung im Dschagga-Gebiet Kenias⁸⁶ zeigt sich die Idealisierung afrikanischer Verhältnisse im Gegensatz zur industrialisierten Moderne Europas als weiteres Problem früher ethnographischer und völkerkundlicher Werke: »Gutmann ist, so wie ich ihn kennengelernt habe, ein Verächter europäischer Zivilisation. Bei den Dschagga ist alles gut, in Europa ist alles schlecht. [...] ich fürchte, diese Art der Forschung und Betrachtung menschlicher gesellschalicher Verhältnisse wird zu neuen Irrtümern führen. Immerhin kommt neue Erkenntnis wohl nie zu spät und wir wollen versuchen zu lernen. Wir hier können doch immer nur das tun, was innerhalb unsers Erkenntniskreises liegt. Und damit dass, was wir tun wollen nach unserer Erkenntnis gut ist, mögen wir uns trösten, wenn andere Menschen und andere Zeiten es tadeln müssen«⁸⁷. Der Erkenntniswert früher ethnographischer Werke ist somit bisweilen stark eingeschränkt; dennoch bietet die Untersuchung der dort enthaltenen Hinweise auf soziale Strukturen, Hierarchien, Bezeichnungen und Praktiken eine Basis für weitere Überlegungen⁸⁸. Schrilich festgehaltene Formen mündlicher Tradition wurden als willkommener Kontrapunkt zu Zeugnissen aus westlicher Feder angesehen⁸⁹. Sie finden sich in den Publikationen afrikanischer Verlage und gingen ferner in die Arbeiten afrikanischer Historikerinnen und Historiker ein⁹⁰, wurden jedoch auch bereits von 83 84 85 86 87 88 89 90

Siehe Hugo Adolf Bernatzik (Hrsg.): Afrika. Handbuch der angewandten Völkerkunde, München 1951, S. 22. Siehe Wilhelm Blohm: Die Nyamwezi, Bd. I-III, Hamburg 1931. ders.: Blohm an Br. Henning, Baziya, den 3. März 1926. HrArch, Signatur: MD 691, Hervorhebungen im Original. Siehe Bruno Gutmann: Das Recht der Dschagga, 1926. Wilhelm Blohm: Blohm an Br. Henning, Baziya, den 3. März 1926, HrArch, Signatur: MD 691. Siehe hierzu auch: Albert Wirtz; Jan-Georg Deutsch (Hrsg.): Geschichte in Afrika. Einführung in Probleme und Debatten, Berlin 1997, S. 13f. Vgl. Toyin Falola/Christian Jennings (Hrsg.): Sources and Methods in African history: spoken, written, unearthed, Rochester, NY 2004, S. xiii. Siehe z.B. Daniel Nyaga: Customs and Traditions of e Meru, Nairobi et.al. 1997, Esther Njiro:

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Missionaren, Reisenden, Völkerkundlern und Kolonialbeamten gesammelt. Dieser Teil des Quellenkorpus repräsentiert eine vielfältige Art der Selbstdarstellung ostafrikanischer Kulturen, die sich in verschiedene Gattungen gliedern lässt⁹¹. Durch die literarischen Ausdrucksmöglichkeiten mündlicher Traditionen gab es die Möglichkeit, auf der Ebene des Erzählten Dinge auszudrücken, die in anderen Formen der Kommunikation verboten gewesen wären⁹². In ostafrikanischen Liedern, Geschichten, Sprichwörtern, Rätseln, Mythen und rituellen Formeln spiegeln sich kollektive Erfahrung, innere Konflikte, soziale Konventionen, Autoritätsbeziehungen, Imaginationen, Projektionen von Bedrohungen und allgemeine Handlungsstrategien⁹³. O zeigen sich allerdings »[...] Unklarheiten bei der Dokumentationsmethode«⁹⁴: So sind meist keine klaren Angaben darüber verfügbar, wo und wann die Texte aufgeschrieben wurden und wer an ihrer Entstehung beteiligt war. Eine Ausnahme bieten die Abschlussarbeiten kenianischer Studenten, die ihre Feldforschungen genauer dokumentierten⁹⁵. Ebenso fehlen Vergleiche zwischen mehreren Versionen ähnlicher Texte. Eine Grundproblematik dieser Texte ist, dass die Situation ausschlaggebend war, in der die Überlieferung selbst stattfand: Es sollte eine »living history« dargestellt werden, deren Elemente nach ihrer Relevanz für die Gegenwart ausgewählt wurden. Hinzu kommt, dass die Erzählungen bereits durch vorherige Überlieferungen mehrfach umgeformt worden waren⁹⁶. Die verfügbaren Informationen weisen lediglich o darauf hin, dass es die Ältesten einer lokalen Gemeinscha waren, die solche Traditionen weiterga-

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A History of Africa in the 19th Century, Nairobi 1985, Assa Okoth: A History of Africa. Volume 1: African Societies and the Establishment of Colonial Rule, 1800-1914, Nairobi 2006, Andrew K Tanui: Dying Voice. An Anthropological Novel, Eldoret 2006, Ciarunji Chesaina: Oral Literature of the Kalenjin, Nairobi 1991, ders.: Oral Literature of the Embu and Mbeere, Nairobi 1997, Henry Stanley Kabeca Mwaniki: Mbeere Historical Texts, Nakuru 2005, Onyangoku Odongo/ J.B. Webster: e Central Lwo During the Aconya, Nairobi 1976, Henry Stanley Kabeca Mwaniki: e living history of Embu and Mbeere to 1906, Nairobi 1985, ders.: Mbeere Historical Texts sowie Kavetsa A. Kabira/Wanjiku Mukabi: Kenyan Oral Narratives. A Selection, Nairobi 1985. Vgl. Sabine Steinbrich: Erzählungen und Mythen in Afrika, in: Walter Heissig (Hrsg.): Formen und Funktionen mündlicher Tradition: Vorträge eines Akademiesymposiums in Bonn, Juli 1993, Opladen 1995, S. 51–78, hier S. 53. Vgl. ebd., S. 59. Vgl. ebd., S. 51ff., ebd., S. 59f., ebd., S. 62ff. sowie Amborn: e Contemporary Significance of what has been. ree Approaches to Remembering the Past: Lineage, Gada, and Oral Tradition, S. 76ff., Aneesa Kassam: Preliminary results of a field study on Gabra oral folk-tales carried out at Kalacha, Morsabit District, Northern Kenya, from 20 Sept. 1980 to 8 October, 1980, UoNLib und T. Matshakayile-Ndlovu: e Role of Folk-Tale in Ndebele Literature, in: Zambezia 21 (1994), S. 43–50. Steinbrich: Erzählungen und Mythen in Afrika, S. 67. Siehe z.B. Charles Nelson Okumu: e Genres of Acoli Oral Literature, Vol. one, Analysis and Evaluation, Magisterarb., University of Nairobi, 1975 und J.A. Nandwa: Oral literature among the Abaluyia, Magisterarb., University of Nairobi, 1976. Als Beispiel hierfür siehe Mwaniki: e living history of Embu and Mbeere to 1906. Siehe hierzu auch: Harding: Geschichte Afrikas im 19. und 20. Jahrhundert, S. 118ff.

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ben⁹⁷. Dokumentierte Formen mündlicher Traditionen sind dennoch wertvolle Ergänzungen zur Überlieferung westlicher Beobachter. Sie sind kulturelle Repräsentationen eines afrikanischen Denk- und Erfahrungshorizonts und waren ein wesentlicher Teil der Lebenswirklichkeit dezentral organisierter Gesellschaen⁹⁸. Die Arbeiten afrikanischer Studenten können für die vorliegende Studie ebenfalls hinzugezogen werden. Seit den 1960er Jahren begaben sich Studenten der University of Nairobi im Rahmen ihrer Abschlussarbeiten oder für einzelne Projekte in die ländlichen Gebiete Kenias und interviewten lokale Älteste. Ihre Arbeiten basierten in hohem Maße auf diesen mündlichen Quellen und in Einzelfällen können auch die Originalmanuskripte von Fragenkatalog und den gegebenen Antworten herangezogen werden⁹⁹. Die Perspektivität der Interviewpartner sowie der Zeitpunkt der Entstehung der Arbeiten geben jedoch Anlass zur genaueren Betrachtung. Viele Interviews mit den Ältesten lokaler Gemeinschaen über die vorkoloniale Zeit wurden in einem Klima nationaler Euphorie angefertigt, was eine idealisierte Darstellung der Vorkolonialzeit begünstigte. Zudem galten die Ältesten einer Siedlung als Verwaltungsinstanzen für Informationen über die Vergangenheit. In dieser Funktion kam ihnen eine Definitionsmacht zu, die besonders im Hinblick auf Generationenkonflikte als problematisch angesehen werden muss. Auch bei der gezielten Frage nach Gewalterfahrungen zeigten sich im Rahmen der Interviews bisweilen große Probleme. So berichtet der kenianische Pfarrer Andrew K. Tanui von wütenden Reaktionen auf seine Fragen nach 97

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Vgl. Steinbrich: Erzählungen und Mythen in Afrika, S. 53 sowie Tanui: Dying Voice. An Anthropological Novel, S. 9ff. und Peter Wohlrab: Usambara. Werden und Wachsen einer heidenchristlichen Gemeinde in Deutsch-Ostafrika. Bielefeld 1915, S. 131. Vgl. Mamadou Diawara: Ethnologie und Geschichte auf dem Prüfstand Afrikas, in: Geschichte in Afrika. Einführung in Probleme und Debatten, Berlin 1997, S. 17–34, hier S. 20. Siehe auch: Ngugi wa iong’o: Towards a National Culture, in: ders. (Hrsg.): Homecoming. Essays on African and Caribbean Literature, Culture and Politics, 1972, S. 3–21, hier S. 16, Dennis D. Cordell: Oral Tradition: Classic Questions, New Answers, in: Christian Falola Toyin & Jennings (Hrsg.): Sources and Methods in African Society: Spoken, Written, Unearthed, Rochester 2004 [2003] sowie Harding: Geschichte Afrikas im 19. und 20. Jahrhundert, S. 121. Siehe z.B. C. Mucuha: Waiyaki wa Hinga, UoN, Signatur: UCN/HD - RPA A/2/1, ders.: Karuri wa Gakure, UoN, Signatur: UCN/HD - RPA B/2/2 (2), ders.: Cege wa Kibiru, UoN, Signatur: UCN/HD - RPA B/2/2 (1), Liembelo Mandia: Last Lozi Invasion of the Lea, UoN, Signatur: F/1/1, Kassam: Preliminary results of a field study on Gabra oral folk-tales carried out at Kalacha, Morsabit District, Northern Kenya, from 20 Sept. 1980 to 8 October, 1980, Philip Arap Magat: Origins of the Nandi Orkoiyot. Oral Interviews collected in 1966. UoN, Signatur: A.1.4, ders.: e rise and fall of the Nandi Orkoiyot 1850-1957. UoN, Signatur: A.1.4 (2), Mai 1967, G.B. Mwaita: Mwangeka wa Malowa, UoN, Signatur: UCN/HD-RPA B/2/4, T.A. Kanyangezi: Mbatiany 1824-1889. A Biographical study of a nineteenth century Maasai Oloibony, Magisterarb., University of Nairobi, 1981, Tabitha W. Muturi: Maasai-Kikuyu relations in Mathira Division of Nyeri 1800-1900, Magisterarb., University of Nairobi, 1973, Maurice Munasie Situma Nakitare: A pre-colonial history of Abatachoni, 1500-1900 AD, Magisterarb., University of Nairobi, 1991 sowie Isaac Tarus: An Outline of the Keiyo people from c.A.D. 1700 to 1919, Magisterarb., University of Nairobi, 1981.

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Informationen zu Viehraub in den ländlichen Gebieten Kenias: während der Recherchen zu seinem Buch sei er auf wütende Reaktionen gestoßen, ihm wurde mit Gewalt gedroht, er wurde beschimp und in manchen Fällen auch verjagt, als er einige Dorfälteste zu diesem ema befragen wollte¹⁰⁰. Abschließend bieten Kolonialakten eine weitere Möglichkeit für Einblicke in einen Wissenskorpus, der unter einem starken Nützlichkeitsaspekt für die Kolonialregierung aufgebaut wurde. So enthalten die Akten Ausküne über Handelsstrukturen, geologische und geographische Gegebenheiten, kulturelle Phänomene und statistische Erhebungen. Zudem wurden beispielsweise Fragebögen zu den Rechtsverhältnissen ostafrikanischer Gesellschaen an Missionare, Händler und Kolonialbeamten verteilt, deren Beantwortungen Auskun über Autoritätsverhältnisse und mündlich weitergegebene Formen des Rechts geben können¹⁰¹. Durch ihre klare Zielsetzung können diese Dokumente einen Einblick in die Verhältnisse bieten, der zwar durch die eindeutige Herrschasperspektive relativiert ist, aber dennoch mit anderen Quellen in Verbindung gesetzt werden kann¹⁰². So bieten weitere Zeugnisse wie die Autobiographie des Sklaven- und Elfenbeinhändlers Hamed Ben-Muhammed El-Murjebi oder die Kindheitserinnerungen von Missionsschülern einzelne Einblicke¹⁰³. Trotz dieser Fülle an Materialien, die sich aus den verschiedensten Überlieferungskontexten speist, muss Vieles anektotenha und an punktuellen Einzelbeispielen orientiert bleiben. Für das 19. Jahrhundert gibt es nicht genügend Zeugnisse, die einen dauerhaen Blick auf einzelne Siedlungen, Gesellschaen oder andere Personengruppen ermöglichen würden. Andererseits ist aber auch gerade diese Überlieferungssituation ein Ergebnis der dynamischen Interaktion, welche zu dieser Zeit in Ostafrika stattfand. Methodik

Zur Erklärung der Einbettung von Gewalt in kulturelle und soziale Kontexte sowie der Gewaltdynamiken des 19. Jahrhunderts werden verschiedene methodische Ansätze kombiniert. Dabei wird eine Perspektive aufgebaut, die auf dem Gedan100 101

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Siehe Tanui: Dying Voice. An Anthropological Novel, S. 9. Siehe z.B. o.A.: Fragebogenbeantwortung: Landscha Kiziba, Residentur Bukoba. Missionsstation Buanja, den 1. Februar 1910. BArch R 1001 / Bd. 4998-5007 sowie C.Büttner: Fragebogenbericht über die Wakimbu, BArch, Signatur: R 1001 / Bd 4997. Vgl. Harding: Geschichte Afrikas im 19. und 20. Jahrhundert, S. 113f. Siehe François Bontinck: L’autobiographie de Hamed ben Mohammed el-Murjebi, Tippo Tip (ca. 1840-1905), Brüssel 1974, Stefano Lyatuu: Begebenheiten, die ich während meiner Kindheit erlebt habe, in: Klaus-Peter Kiesel (Hrsg.): Kindheit und Bekehrung in Nord-Tanzania. Aufsätze von Afrikanern aus dem ehemaligen Deutsch-Ostafrika (Tanzania) vom Anfang des 20. Jahrhunderts, Leipzig 2007 sowie Filipo Njau: Meine Nachrichten von meiner Kindheit an bis jetzt, in: Klaus-Peter Kiesel (Hrsg.): Kindheit und Bekehrung in Nord-Tanzania. Aufsätze von Afrikanern aus dem ehemaligen Deutsch-Ostafrika (Tanzania) vom Anfang des 20. Jahrhunderts, Leipzig 2007.

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ken einer longue durée basiert¹⁰⁴ und die Kontinuitäten afrikanischer Geschichte in den Blick nimmt, ohne in eine dichotomische Aueilung zwischen vorkolonialer Geschichte und der Kolonialzeit zu verfallen. Die Charakterisierung des 19. Jahrhunderts als Übergangsepoche zum Kolonialismus unterlegt der Betrachtung bereits eine Teleologie¹⁰⁵, die es mit Hilfe der folgenden Überlegungen zu umgehen gilt. Konstante wie sich wandelnde »[...] ökologische, soziale, politische und ökonomische Prozesse [...]« können nur mit Blick auf lange Zeiträume verstanden werden¹⁰⁶. Dabei gibt die Quellensituation den Zeitraum entsprechend vor: erst ab den 1840er Jahren häufen sich Quellen, die einen tieferen Einblick in die genannten Prozesse erlauben und Rückschlüsse auf die Lebensverhältnisse der Bevölkerung im Hinterland der ostafrikanischen Küste zulassen. Ferner ist die Quellensituation durch eine paradoxe Informationsübermittlung charakterisiert: Es existieren meist nur die Zeugnisse außenstehender Personen, durch die eine Rekonstruktion der Perspektive der Ostafrikaner erfolgen könnte. Diese doublebind Situation kann nur aufgelöst werden, indem man Außenstehende nicht als solche begrei und sie stattdessen als Akteure inmitten eines Begegnungsraumes wahrnimmt, der sich in der Überlieferung spiegelt und sowohl den Blick auf westliche Vorurteile ermöglicht als auch ostafrikanische Gedanken- und Erfahrungshorizonte erschließen lässt. Nicht selten waren es eben diese erstgenannten westlichen Gedankenkonzepte und Vorurteile, die in den Quellen aufgegriffen, reflektiert, anhand neuer Erfahrungen mit der afrikanischen Bevölkerung angepasst oder gänzlich verworfen wurden¹⁰⁷. Diese Überlegungen münden in die Entscheidung, ethnische Konzepte nicht als zentrales Merkmal der sozialen Organisation vorauszusetzen, um keine ex post-Zustände auf das 19. Jahrhundert rückzuprojizieren¹⁰⁸. Hier soll vielmehr Handeln und Handlungsspielräume von Individuen und Gruppen vor dem Hintergrund tradierter Ordnungen in den Blick genommen werden¹⁰⁹. Solche Ordnungen können mit Hilfe einer eingehenden Beschäf104

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Grundlegend: Fernand Braudel: Geschichte und Sozialwissenschaen. Die longue durée, in: Claudia Honegger (Hrsg.): Schri und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, Frankfurt a.M. 1977, S. 47–85. Siehe auch: Richard J. Reid: Past and Presentism: e ’Precolonial’ and the Foreshortening of African History, in: Journal of African History 52 (2011), S. 135–155. ebd., S. 136. Siehe auch: Deutsch (Hrsg.): Geschichte in Afrika. Einführung in Probleme und Debatten, S. 10. Siehe auch: Achim von Oppen: Für eine Historiographie Afrikas in der Welt, in: Spektrum Uni Bayreuth 2 (2008), S. 20–22, hier S. 22. Vgl. Reid: Past and Presentism: e ’Precolonial’ and the Foreshortening of African History, S. 148. Siehe auch: Aidan W. Southall: e Illusion of Tribe, in: Journal of Asian and African Studies 5 (1970), S. 28–51 sowie Corinne A. Kratz: Are the Okiek really Masai ? or Kipsigis ? Or Kikuyu ?, in: Cahiers d’études africaines 20.79 (1980), S. 355–368. Siehe auch: Hans Medick: «Missionare im Ruderboot»? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte, in: Geschichte und Gesellscha 10 (1984), S. 295–319 sowie Martin Doornbos: Linking the Future to the past: Ethnicity and Pluralism, in: Review of African Political Economy 52 (1991), S. 53–65, hier S. 23.

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tigung mit Semiotik, Symbolik und close reading rekonstruiert werden¹¹⁰. Ethnologische Studien können dabei helfen, die Inhalte zeitgenössischer Zeugnisse neu zu interpretieren - mit der gebotenen Vorsicht, die sich dabei aus der Gefahr der Rückprojektion ergibt. Durch den sprachlichen Zugang zur verbreiteten Metaphorik, Semiotik und Symbolik kann ein größeres Verständnis erwachsen, welches sich auch auf historische Vorgänge und Phänomene des ostafrikanischen Kontexts anwenden ließe. Gleiches gilt für verschrilichte Elemente der mündlichen Überlieferung, die sich zwar eindeutig als Fiktionen identifizieren lassen, aber dennoch Einblicke in zeitgenössische Gedankenhorizonte bieten¹¹¹. Grundlage der (Neu-) Interpretation der sprachlich festgehaltenen Artefakte¹¹² ist es, die Zeugnisse aus unterschiedlichen Quellengattungen miteinander in Verbindung zu setzen, um sowohl die »[...] langlebigen Aggregatszustände des Sozialen«¹¹³ beschreiben als auch kurzfristige Dynamiken herausarbeiten zu können. Der Blick auf das 19. Jahrhundert und den beginnenden Kolonialismus legt es nahe, die Ansätze der Postcolonial Studies besonders zur Analyse heranzuziehen¹¹⁴. Deren gedankliche Konzepte und eorien stellen das Entstehen neuer Zwischenräume und Kontaktzonen als »in-between-Raum der kulturellen Hybridität«¹¹⁵ in den Vordergrund und bieten, so scheint es, eine Basis für die Analyse von Interaktionen und ambivalenten Beziehungen¹¹⁶. Der Anspruch, transkulturelle Identitäten und Verflechtungen zu untersuchen, weist auf vielversprechende Möglichkeiten des Erkenntnisgewinns über kulturelle, sprachliche, gesellschaliche oder politische Phänomene hin; mit Blick auf die Untersuchung von Gewaltphänomenen und Generationalität überwiegen jedoch die Schattenseiten einer solchen Herangehensweise. So wurde bereits auf die Gefahr hingewiesen, dass die Anwendung von Konzepten von Ambivalenz und Hybridität asymetrische Machtverhältnisse verschleiern und eben jene historischen Bedingungen nur unzureichend berücksichtigen könnten, die im Folgenden untersucht werden¹¹⁷. Wenn mögliche Asymetrien in Autoritäts- und Machtverhältnissen ana110

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Siehe Tomas Sundnes Dronen: Anthropological historical Research in Africa: How do we ask?, in: History in Africa 33 (2006), S. 137–153, hier S. 138f. sowie Reid: Past and Presentism: e ’Precolonial’ and the Foreshortening of African History, S. 140f. Vgl. Reinhart Koselleck: Fiktion und geschichtliche Wirklichkeit, in: Idee. Zeitschri für Ideengeschichte I/3 (2007), S. 39–54, hier S. 45. Vgl. Deutsch (Hrsg.): Geschichte in Afrika. Einführung in Probleme und Debatten, S. 14. Wolfgang Sofsky: Traktat über die Gewalt, Frankfurt am Main 1996, S. 158. Siehe auch: Ulrike Lindner: Neuere Kolonialgeschichte und Postcolonial Studies, Version: 1.0, 15. 4.2011, in: Docupedia-Zeitgeschichte 2011, Zugriff: 08.01.2014, : http://docupedia.de/ zg/Neuere_Kolonialgeschichte_und_Postcolonial_Studies?oldid=97427. ebd., Hervorhebung im Original. Grundlegend: Homi K. Bhabha: Of Mimicry and Man: e Ambivalence of Colonial Discourse, in: October 28. Discipleship: A Special Issue on Psychoanalysis (1984), S. 125–133, in Anwendung auf die Geschichte Ostafrikas siehe z.B. Pesek: Koloniale Herrscha in Deutsch-Ostafrika. Vgl. Lindner: Neuere Kolonialgeschichte und Postcolonial Studies, Version: 1.0, 15. 4.2011. Siehe hierzu auch: Robert Young: Colonial Desire. Hybridity in eory, Culture and Race, Lon-

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lysiert werden sollen, verlieren solche Konzepte an explanativem Potenzial. Auch die Ansätze der Subaltern Studies als Subgenre der Postcolonial Studies bieten nur oberflächlich gesehen einen Erkenntnisgewinn. So führt der Anspruch, abseits nationalistischer und imperialistisch resp. marxistisch geprägter Historiographie dem »subalternen Subjekt« eine Agency zuzusprechen, nicht selten in eine vermeintliche kulturelle Solidarität, die jedoch letztlich die Unterdrückung der als subaltern Bezeichneten reproduziert und die Dominanz westlich geprägter Intellektueller festschreibt¹¹⁸. Menschen bereits a priori als »subalterne Subjekte« zu kategorisieren und ihnen darüberhinaus eine Agency erst zusprechen zu müssen, spiegelt zudem rassistische Hierarchie- sowie eurozentristische Suprematievorstellungen. Weitere Kritikpunkte ergeben sich aus der Nähe der Postcolonial Studies zu postmodernen Literatur- und Kulturtheorien: So wies bereits der Literaturwissenschaler Michael Greaney auf die »negativen Epiphanien« hin, die sich als Kernaussagen postmoderner eoretiker etabliert haben: So erzeuge das Sprechen vom »Tod des Autors (Barthes), Tod des Subjekts (Foucault), Tod des Realen (Baudrillard)« zusammen mit der Nachricht, dass »Meistererzählungen (obsolet sind) (Lyotard)« und es »nichts außerhalb des Texts (Derrida)« gebe, den Eindruck, dass die Protagonisten sich wohl eher auf das Schreiben von Todesanzeigen spezialisiert hätten¹¹⁹, als wissenschaliche Erkenntnis zu fördern. Dementsprechend empfiehlt es sich, die bisweilen reflexartig in neue Studien übernommenen Begriffe aus der Feder von Autoren, die der Ahistorizität der eigenen Ansätze nicht allzu viel Beachtung zu schenken schienen¹²⁰, nicht unreflektiert zu reproduzieren. Einem in der Postmoderne »[...] um sich greifenden Gestus der epistemischen Indifferenz [...], Entgründung [...] und Bodenlosigkeit [...]«¹²¹ und der entsprechenden Nutzung einer im Kern dekonstruktivistisch orientierten Herangehensweise wird im Gegenteil eine Methodik entgegengesetzt, die eine möglichst

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don/New York 1995 sowie Benita Parry: Postcolonial Studies. A Materialist Critique, London 2005. Vgl. Lindner: Neuere Kolonialgeschichte und Postcolonial Studies, Version: 1.0, 15. 4.2011, grundlegend siehe z.B. Gayatri Chakravorty Spivak: Can the subaltern speak? : Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien [u.a.] 2008. »eory’s favourite eureka moments have usually been negative epiphanies: […] ’reality’ is nothing more than a copy without an original. Reports of the ›death of the author‹ (Barthes), ›death of the subject‹ (Foucault) and ›death of the real‹ (Baudrillard), together with the news that the grand narratives are obsolete (Lyotard), and there is nothing outside the text (Derrida), can only reinforce the suspicion that theory specialises in orbituary-writing and general debunking« (Michael Greaney: Contemporary Fiction and the Uses of eory: e Novel From Structuralism to Postmodernism, Basingstoke 2006, S. 2), meine Übersetzung. Hervorhebung im Original. Siehe auch: John McLeod: Beginning postcolonialism, Manchester [u.a.] 2007, S. 56f. Sebastian Honert: Wege aus der Entgründung: Ethical Criticism und der US-amerikanische Roman nach der Postmoderne, Diss., Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, 2012, S. 7.

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breit angelegte Quellenanalyse verfolgt und die Zeugnisse historischer Akteure auf einen Erkenntnisgewinn hin untersucht, der sich an den zentralen Analysekategorien von Generationalität und Gewalt orientiert. Dabei werden dekonstruktivistische Aspekte als wichtige Elemente einer ausgewogenen Quellenkritik nicht ignoriert, sie werden jedoch nicht als alleinige Grundlage der Analyse verwendet. Vor dem Hintergrund der gegebenen Quellenlage ist es nicht möglich, konkrete Personen- bzw. Familienverbände, Gruppen, Siedlungen oder andere soziale Zusammenschlüsse über einen längeren Zeitraum in den Blick zu nehmen. Soziale Gruppen, die sich im ostafrikanischen Raum des 19. Jahrhunderts ausmachen lassen, erscheinen bestenfalls punktuell und schemenha. Daher wird von Gemeinschaen die Rede sein, die sich als lokal ansässige oder mobile Personenverbände fassen lassen, deren Mitglieder untereinander durch identitätsstiftende Rituale, Klientelbeziehungen oder familiäre Zusammenhänge miteinander verbunden waren¹²². Ergänzend zu dieser Betrachtung der lokalen und regionalen Sphäre treten kulturelle Ähnlichkeiten oder Gemeinsamkeiten von Gruppen in den Blick, deren Mitglieder nicht notwendigerweise durch Klientel-, Handels, oder Verwandtschasbeziehungen miteinander verbunden sein müssen¹²³. Die folgenden Betrachtungen oszillieren somit zwischen der je nach Quellenlage mehr oder weniger detailreichen Analyse der lokalen bzw. regionalen Ebene und dem Blick auf trans- bzw. überregionale Phänomene. Kapitelübersicht

Den Einstieg in die Studie markiert ein Blick auf die Situation Ostafrikas im 19. Jahrhundert, die geprägt war von Gesellschaen im Umbruch, die mit tiefgreifenden Veränderungsprozessen konfrontiert waren. Zunächst werden die einzelnen Aspekte dieser Umbruchssituation erläutert und die Frage aufgeworfen, wie die Autoren der verfügbaren Quellen diese Veränderungen wahrnahmen. Darauf auauend wird diese Frage beantwortet, indem die Hauptkategorien und Topoi untersucht werden, mit denen die ostafrikanische Bevölkerung eingeschätzt wurde. Es stellt sich heraus, dass die Maßstäbe, nach welchen die externen Beobachter politische und soziale Gegebenheiten beurteilten, unzuverlässig sind. Das wir die Frage nach einer neuen Perspektive auf, welche einen Erkenntnisgewinn ermöglicht. Die Grundzüge dieser Perspektive werden darauf folgend aufgebaut: So wird anhand der Grundbedingungen des Lebens in Ostafrika ein Blick auf die soziale Praxis gerichtet und anhand der Quellen untersucht, welche Strukturen und 122

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Siehe hierzu auch: Achim von Oppen: Dorf, Siedlung, Gemeinscha, in: Albert Wirtz; JanGeorg Deutsch (Hrsg.): Geschichte in Afrika. Einführung in Probleme und Debatten, Berlin 1997, S. 231–260, hier S. 238. Siehe auch: Pierre Bourdieu: e logic of practice, Stanford, CA 1990, S. 53. Grundlegend siehe Ferdinand Tönnies: Gemeinscha und Gesellscha. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Berlin 1922, S. 8ff.

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Institutionen die nichtstaatlich organisierten Gruppen charakterisierten. Dabei tritt besonders die Rolle symbolischer Bindungen in den Vordergrund. So lassen sich weitere soziale und politische Institutionen rekonstruieren, deren Grundlage solche Bindungen waren. Im Kapitel 3. werden Altersklassensysteme als Implementierung symbolischer Bindungen analysiert und es wird deren wirklichkeitsprägende Rolle in ihren Facetten in den Blick genommen. Zunächst wird dabei erläutert, wie das Prinzip der Seniorität auf soziale Beziehungen wirkte. Dabei geht es im Wesentlichen um belegbare Gruppenstrukturen, die sich am Alter orientierten. Darauf folgend wird untersucht, wie sich die kulturelle Überformung des Alters auf das Leben des Einzelnen auswirkte und welche Regeln, Konventionen und Rollen damit verbunden waren. Schließlich wird danach gefragt, wie Völkerkunde und Ethnologie sich mit Altersorganisationen beschäigten und welche Probleme sich aus der Darstellung dieser Phänomene ergeben. Das Kapitel 4. beschäigt sich mit der Rolle der Gewalt in ostafrikanischen Gesellschaen und Kulturen. Zunächst geht es dabei um die Gewaltsozialisation. So wird die Rolle der Gewalt in Kriegermythen und mündlichen Traditionen untersucht, um einen Einstieg in die Analyse der Gewalt zu ermöglichen, der sich am Werthorizont ostafrikanischer Kulturen orientiert. Darauf auauend wird danach gefragt, wie Gewalt erlernt wurde. Vor dem Hintergrund der Altersorganisation geht es dabei um Initiationsriten und die Praktiken darin, welche zur Ausbildung von Kriegeridentitäten beitrugen und dafür sorgten, dass Regeln und Grenzen des Gewaltgebrauchs systematisch an Jüngere weitergegeben wurden. Die Hierarchien innerhalb von Kriegergruppen werden anschließend in den Blick genommen und deren Einsatzbereiche erläutert. Dies bildet die Grundlage für die Beantwortung der aufgeworfenen Frage, wie Gewalt und Aggression in gesellschaliche und politische Zusammenhänge eingebunden waren: Aggressiver Habitus und kriegerische Kompetenz waren zentrale Maßstäbe, nach denen junge Männer beurteilt wurden. Diese Einbindung wird sodann untersucht. Zunächst geht es dabei um wirtschaliche Zusammenhänge; so wird ein Hauptwirkungsfeld für den Gewaltgebrauch in den Blick genommen, indem die Praxis des Raid als Phänomen der Verbindung zwischen Gewalt und Wirtschalichkeit untersucht wird. Wie diese Praxis in saisonale Zeitabläufe integriert wurde, zeigt ein folgendes Teilkapitel. Die politische Ebene kollektiven Gewaltgebrauchs wird daran anknüpfend gezeigt, indem Mechanismen und Regelungen untersucht werden, die für lokale und regionale Bündnisse oder andere Formen der Kooperation sorgten.

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Weitere Phänomene der Einhegung von Gewalt und Kontrolle von Gewaltpotenzial werden darauf folgend untersucht. Zunächst treten die Ältesten als Moderatoren und Respektspersonen in den Vordergrund, die als Vermittler fungieren und Sanktionen aussprechen konnten. Im Folgenden wird gezeigt, wie mit dem Gewaltpotenzial junger Männer umgegangen wurde, um tradierte Autoritätsstrukturen zwischen den Generationen nicht zu gefährden und mögliche Konflikte zwischen den Generationen abzumildern. In einem weiteren Teilkapitel wird die Ehre als Faktor zur Einhegung der Gewalt analysiert. Ging es im ersten Teil der Studie im Wesentlichen um Möglichkeiten, Gesellschaen durch Gewalt zu stabilisieren bzw. das subversive Potenzial der Gewalt zu bannen und sie in geregelte Bahnen zu lenken, konzentriert sich der zweite Hauptteil der Studie auf die Gewalt als möglichen Motor der Veränderung. Dabei wird zunächst ein Blick auf die Gewalt selbst geworfen und anhand eines Vergleichs westlicher Quellen mit den Überlieferungen mündlicher Traditionen gezeigt, wie sich die Gewaltpraxis im 19. Jahrhundert veränderte. Dabei zeigt sich zunächst, dass diese Zeit sowohl von westlichen Beobachtern als auch von der ostafrikanischen Bevölkerung als besonders gewaltsam eingeschätzt wurde. Die einzelnen Faktoren dieser Erfahrung werden anschließend analysiert: Dabei geht es um professionelle Krieger, die Einfuhr und Nutzung von Feuerwaffen und das Auommen unsicherer Zonen der Interaktion, in denen Gewalt immer präsent war. Wie man auf diese Phänomene reagierte, zeigt sich im Folgenden, indem die neue Rolle der Gewaltandrohung betrachtet und gezeigt wird, dass Krieger eine zunehmende Bedeutung bekamen. Die Frage danach, wie sich das auf soziale und politische Strukturen auswirkte, wird anschließend behandelt. Bekannte charismatische Anführer erscheinen als zentrale Figuren neuer oder veränderter Ordnungen, die anhand von Beispielen gezeigt werden. Im folgenden Teilkapitel geht es um die Rolle dieser Männer im Kontext des auommenden Kolonialismus. Neue Gewalteliten wurden meist durch das Wirken kolonialer Akteure zusätzlich gestärkt, wenn sie - zumindest vorgeblich - kooperierten. So bestand zwischen den Einflussbereichen neuer Gewalteliten und dem noch nicht etablierten Kolonialstaat eine intermediäre Machtsphäre, in der charismatische Anführer wirken konnten. Es werden aber auch Widersprüche erkennbar, die auf den verbleibenden Einfluss traditioneller Institutionen hinweisen. Daher wird untersucht, wie sich das Auommen neuer Eliten auf tradierte Altersordnungen auswirkte. Dabei tritt einerseits ein Einflussgewinn junger Männer hervor, die tradierte Ordnungen unterlaufen oder umgehen konnten, und andererseits eine Delegitimierung der Autoritätsbasis von Elders. Allerdings sind das punktuelle Erscheinungen, die nicht als allgemeiner Trend zu verstehen sind. So zeigt sich ebenso häufig die Beharrungskra traditioneller Institutionen wie Ältestenräte, die auch vor dem Hintergrund veränderter Gewaltpraktiken und konfrontiert mit neuen Gewalteliten ihre Rolle als regulierende Institution behielten. Um den Fortbestand

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dieser Ungleichzeitigkeiten geht es abschließend, indem der Verbleib traditionellen Gewaltgebrauchs im Kontext der kolonialen Expansion untersucht wird. So wird deutlich, dass auch mit latent präsenter Zentralgewalt in Form kolonialstaatlicher Akteure traditionelle Formen des Gewaltgebrauchs etabliert blieben. Auch mit der Schaffung rudimentärer (kolonial)-staatlicher Institutionen erfolgte keine grundlegende bzw. flächendeckende und dauerhae Veränderung der Gewaltpraxis. Es etablierte sich hingegen ein Dualismus zwischen Zentrum und Peripherie, der viele Zwischenräume zuließ.

2 Ostafrikanische Gruppen und politische Strukturen im 19. Jahrhundert

2.1 Gesellschaften im Umbruch Im 19. Jahrhundert war Ostafrika mit tiefgreifenden und vielschichtigen Veränderungsprozessen konfrontiert, die sich von der Küste aus ins Hinterland ausbreiteten. Kommerzielle Netzwerke erweiterten sich, neue politische Formationen entstanden oder Bestehende veränderten sich grundlegend. Dies ging einher mit einem verbreiteten Bewusstsein von Unsicherheit und Veränderung. Als der deutsche Missionar Johann Ludwig Krapf in den 1850er Jahren an der ostafrikanischen Küste Informationen für sein Wörterbuch der Swahili-Sprache sammelte, nahm er den Begriff Mwanachuoni auf. Er bezeichnet eine gelehrte Person, die alle Bücher kenne und Prognosen über kommende Ereignisse machen könne. Dabei ging es darum, Veränderungen aufzuzeigen und vorauszusagen, ob die Gefahr von Hungersnöten, Krankheiten oder Kriegen bestehe. Krapfs Informanten teilten ihm jedoch mit, dass solche Personen in diesen Tagen selten zu finden seien, zumindest sei ihnen in Mombasa niemand bekannt, der als Mwanachuoni gelte¹²⁴. Diese Episode weist auf ein Bewusstsein tiefgreifender Veränderungen hin, das sich im Ostafrika des 19. Jahrhunderts verbreitete, einhergehend mit der Wahrnehmung einzelner Phänomene, die mit dem Neuen, bisher nicht Dagewesenen in Verbindung standen. Am Anfang dieser Prozesse stand der expandierende und diversifizierte Handel; die starke Ausweitung des Handels in Ostafrika wurde als Motor weit reichender Veränderungsprozesse in der Zeit seit 1800 angesehen¹²⁵, die auf unterschiedliche regionale Gegebenheiten trafen. So fußte die Ausweitung der Handelsnetzwerke im Südosten auf durch ehemalige portugiesische Stationen geprägten Strukturen, weiter nördlich breitete sich der Einfluss swahili-arabischer Küstenhändler im Hinterland aus, während die Bevölkerung im Landesinneren 124

125

Siehe Krapf: A dictionary of the Suahili language, S. 199. Auch im Landesinneren waren Menschen bekannt, welche Prognosen für die nahe Zukun (Sutro) abgeben konnten (Vgl. Henry Okello Ayot: Historical texts of the lake region of the East Africa, Nairobi 1977, S. 67). Vgl. Okoth: A History of Africa. Volume 1: African Societies and the Establishment of Colonial Rule, 1800-1914, S. 59ff. sowie Robert O. Collins/James M. Burns: A history of sub-Saharan Africa, Cambridge [u.a.] 2008, S. 104.

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ebenfalls durch den Handel mobilisiert wurde¹²⁶. Diese Veränderungen schufen eine Sphäre überregionaler bzw. transregionaler Handelskontakte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte der Handel in weiten Teilen Ostafrikas meist innerhalb von lokalen und regionalen Handelsnetzwerken stattgefunden, die auf kontinuierlichem Kontakt zwischen einzelnen Gemeinschaen basierten. Die jeweiligen Gruppen und Siedlungen waren durch Klientelbeziehungen miteinander verwoben und nicht weit voneinander entfernt. Dauerhae Kontakte gingen mit der Etablierung und Pflege symbolischer und biologischer Verwandtschaen einher¹²⁷. Die Dynamiken transregionalen Austauschs veränderten diese Kontakte zunehmend und formten den ostafrikanischen Raum um. Durch die Ausweitung der Handelsnetzwerke bildeten sich Stützpunkte wie Mpapwa, Tabora und Ujiji im Gebiet des heutigen Tansania sowie Taveta und Mwanza im heutigen Kenia¹²⁸. Der Historiker Assa Okoth identifizierte drei Hauptrouten, die Ostafrika durchzogen: eine südliche Route zwischen Kilwa und dem nördlichen Mozambique, eine Route durch Zentraltanzania sowie eine nördliche Route zwischen dem Hochland Zentralkenias und Mombasa¹²⁹. Immer mehr Karawanen nutzten diese Routen und zogen durch das Hinterland der ostafrikanischen Küste. Die südlichen Gebiete zwischen Kilwa, Lindi und dem Njassa-See waren bereits seit der Zeit vor 1800 von Karawanenstraßen erschlossen, im 19. Jahrhundert stießen Küstenhändler weit in das Gebiet im Westen und Norden vor. Arabische Chroniken der ostafrikanischen Küste berichten von einem bekannten Küstenhändler namens Seyyid Abubakari, der durch Karawanenund Sklavenhandel reich geworden war und bereits in der ersten Häle des 18. Jahrhunderts ins Landesinnere gereist sein soll¹³⁰. Als weiterer Pionier galt der Inder Musa Mzuri, der in den 1820er Jahren in das Gebiet des heutigen Zentraltansania vorgedrungen war und anschließend mehrere Handelsreisen im Landesinneren durchgeführt hatte¹³¹. Der später unter dem Namen Tippu Tip bekannte Hamed Ben-Mohammed El-Murjebi berichtete in seiner Autobiographie von ersten Reisen mit den Brüdern seines Vaters, die zu Beginn der 1850er Jahre im 126

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Vgl. Elisabeth Isichei: A history of African societies to 1870, Cambridge 1997, S. 431ff. Für einen Überblick zur generellen Entwicklung des Handels in dieser Zeitperiode siehe Hahner-Herzog: Tippu Tip und der Elfenbeinhandel in Ost- und Zentralafrika im 19. Jahrhundert, S. 8ff. Siehe hierzu z.B. Uzoigwe: Precolonial Markets in Bunyoro-Kitara, S. 424. Für eine Übersicht der Handelsnetzwerke Ostafrikas im 19. Jahrhundert siehe Rockel: Carriers of Culture. Labor on the Road in Nineteenth-Century East Africa, Karte 0.1. Siehe auch: Matthias A. Ogutu/Simon S. Kenyanchui: An Introduction to African History, Nairobi 2007, S. 134f. Vgl. Okoth: A History of Africa. Volume 1: African Societies and the Establishment of Colonial Rule, 1800-1914, S. 56ff. Siehe Alfred C. Hollis: Notes on the History of Vumba, East Africa, in: e Journal of the Anthropological Institute of Great Britain and Ireland 30 (1900), S. 275–297, hier S. 278. Vgl. Hahner-Herzog: Tippu Tip und der Elfenbeinhandel in Ost- und Zentralafrika im 19. Jahrhundert, S. 35f.

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Landesinneren mit Kopal handelten¹³². Von Norden her wurde das Gebiet des südlichen Sudan und Teile des heutigen Staatsgebiets Kenias und Ugandas für den Elfenbeinhandel erschlossen¹³³. Die im Laufe des 19. Jahrhunderts entstandenen »[...] Stütz- und Sammelpunkte [...]«¹³⁴ dienten als Handels- und Kommunikationszentren. Auf diese Weise entstand eine Grundlage für den späteren Ausbau der politisch-administrativen und militärisch-strategischen Funktionen im Rahmen der kolonialen Besitznahme¹³⁵.

Abbildung 2.1: Handelsrouten im 19. Jahrhundert

In den 1850er Jahren wurde das Hinterland der ostafrikanischen Küste von tief greifenden Transformationsprozessen erfasst. Durch erhöhte Handelsaktivi132 133 134 135

Siehe Bontinck: L’autobiographie de Hamed ben Mohammed el-Murjebi, Tippo Tip (ca. 18401905), S. 41f. Siehe hierzu auch: Beachey: e East African Ivory Trade in the Nineteenth Century, S. 270. Carl Falkenhorst: Schwarze Fürsten. Bilder aus der Geschichte des dunklen Erdteils, Leipzig 1892, S. 47. Vgl. Jürgen Becher: Dar es Salaam, Tanga und Tabora: Stadtentwicklung in Tansania unter deutscher Kolonialherrscha, 1885-1914, Stuttgart 1997, S. 15.

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täten an der Küste weiteten sich bestehende Handelsnetzwerke aus und erhöhten das Auommen des Karawanenhandels. Die Ausweitung der Plantagenwirtscha auf der Insel Sansibar von ca. 1.000 Plantagen im Jahr 1819 auf ca. 5.000 in den 1840er Jahren schuf eine gesteigerte Nachfrage nach Sklaven. In der Folge wurde der Anteil von Sklaven an der Gesamtbevölkerung (ca. 300.000) im Jahr 1860 auf zwei Drittel eingeschätzt. Der Handel mit Sklaven und Elfenbein, das zunehmende Vordringen europäischer Entdecker, Forscher und Missionare sowie ein hohes Auommen von Hungersnöten und Viehseuchen mobilisierten große Teile der Bevölkerung¹³⁶. Diese Zeit stellt den Beginn einer Überlagerung verschiedener Strukturen und Prozesse dar, die ineinander griffen und sowohl getrennt als auch in ihren Verflechtungen untersucht werden können. Im Laufe des 19. Jahrhunderts verband sich der auommende überregionale Handel immer mehr mit den bestehenden lokalen und regionalen Handelsnetzwerken und sorgte dabei auch für stärkeren kulturellen Austausch¹³⁷. Nicht nur Nachrichten kamen dadurch weiter ins Landesinnere, auch Pflanzen aus Südamerika wie Mais und Maniok verbreiteten sich¹³⁸. In den Tauschhandel wurden auch Getreidesaat und Töpferwaren einbezogen und neben weiteren Handelsgütern wurden Salz und Eisenerzeugnisse wie Hacken, Messer- und Speerklingen sowie Pfeilspitzen gehandelt¹³⁹. Hintergrund dessen war besonders der Aufstieg Sansibars, das sich seit dem 18. Jahrhundert zu einem bedeutenden Handelszentrum entwickelt hatte. Die Imame von Oman gründeten Plantagen, auf denen Datteln und Kokosnüsse angebaut wurden¹⁴⁰. Diese wirtschalichen Veränderungen bewirkten eine Ausweitung der Sklavenwirtscha. Zwar war das Phänomen der Sklaverei seit dem 8. Jahrhundert in Ostafrika verbreitet, im 19. Jahrundert erfolgte jedoch ein starker Anstieg der Sklavenwirtscha¹⁴¹. An der Swahili-Küste und auf Sansibar entstanden »[...] neue Kolonien und Imperien [...], deren Wirtscha auf Sklavenarbeit und anderen Formen abgepresster Arbeit basierte«¹⁴². Die wachsende Bedeutung Sansibars in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts spiegelt sich in den Steuerlisten des Sultanats Oman: »Über die Häle der Steuern Omans stammten aus Sansibar und die Einnahmen aus den Zöllen für Sklaven 136

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Beachey: e East African Ivory Trade in the Nineteenth Century, S. 272ff. sowie Juhani Koponen: War, Famine, and Pestilence in Late Precolonial Tanzania: A Case for a Heightened Mortality, in: e International Journal of African Historical Studies 21.4 (1988), S. 637–676. Siehe auch: William R. Ochieng: Kenya’s Internal and International Trade in the Nineteenth Century, in: William R. Ochieng; Robert M. Maxon (Hrsg.): An Economic History of Kenya, Nairobi 1992, S. 49–62, hier S. 44f. sowie M. Abir: Caravan Trade and History in the Northern Parts of East Africa, in: Paideuma 14 (1968), S. 103–120 und Collins/Burns: A history of subSaharan Africa, S. 96f. Vgl. Speitkamp: Kleine Geschichte Afrikas, S. 87. Vgl. Njiro: A History of Africa in the 19th Century, S. 60. Vgl. Mann: Sahibs, Sklaven und Soldaten, S. 67. Vgl. ebd., S. 15 und ebd., S. 19. ebd., S. 17.

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standen dabei an erster Stelle«¹⁴³. In der Folge wurde der Anteil von Sklaven an der Gesamtbevölkerung von Sansibar (ca. 300.000) im Jahr 1860 auf zwei Drittel geschätzt. Der britische Journalist und Autor Alan Moorehead verarbeitete die Berichte britischer Reisender, welche den omnipräsenten Anblick von Sklaven im Stadtbild Sansibars der 1850er Jahre betonten¹⁴⁴. Schätzungen zum Gesamtvolumen des Sklavenhandels mit Ostafrika in der Zeit zwischen 1770 und ca. 1900 belaufen sich grob auf 1,25 Millionen Menschen¹⁴⁵. Verschiedene Ortsbezeichnungen auf der arabischen Halbinsel, wie Zanjabad (»Bewohner von Zanj«), Zanjian (»Burg der Afrikaner« oder Deh-Zanj (»Afrikanerdorf«) zeugen von den Verflechtungen des Sklavenhandels zwischen Ostafrika und der arabischen Welt¹⁴⁶. Die Küste Ostafrikas war seit Jahrhunderten integraler Bestandteil der kommerziellen Netzwerke des westindischen Ozeans¹⁴⁷. Besonders das Jahrzehnt von 1840-50 gilt jedoch als Zeit gesteigerter Aktivität im Sklavenhandel, der sowohl die lokale Nachfrage auf Sansibar als auch die Exportmärkte der arabischen Halbinsel und Indien bediente¹⁴⁸. Diese Steigerung wirtschalicher Aktivitäten durch Plantagenwirtscha im Sansibar-Archipel nach 1840 weitete die bestehenden Handelsnetzwerke auf dem ostafrikanischen Festland aus. In den Jahren um 1860 wurden dorthin, trotz britischer Interventionen und diplomatischer Bemühungen zu Eindämmung des Sklavenhandels seit 1842, immer noch ca. 19.800 Sklaven gebracht, von denen ca. 12.000 zur Arbeit auf lokalen Plantagen einbehalten wurden¹⁴⁹. Hinzu kam schließlich der Elfenbeinhandel. Seit Jahrhunderten in Ostafrika etabliert, stieg der Handel mit Elfenbein im 19. Jahrhundert aufgrund wachsender Nachfrage aus Europa und Amerika an. Die traditionellen Absatzgebiete wie China und Indien wurden weiterhin über den Oman beliefert, was insgesamt zu einer starken Expansion von Elfenbeinjagd und -handel führte. Ostafrika wurde zur weltweit primären Rohstoffquelle für Elfenbein¹⁵⁰. Der Preis für das zunehmend begehrte Gut stieg zwischen den Jahren 1825 und 1873 von zwei Pfund Sterling auf 19 Pfund Sterling an¹⁵¹. Da in Ostafrika aufgrund der Tse-Tse Fliege keine Lasttiere genutzt werden konnten, mussten Waren und Rohstoffe mit Hilfe von 143 144 145 146 147 148

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ebd., S. 67. Siehe Alan Moorehead: e White Nile, London 1960, S. 11. Vgl. Mann: Sahibs, Sklaven und Soldaten, S. 124. Vgl. ebd., S. 72. Vgl. E. A. Alpers: e Coast and the Development of the Caravan Trade, in: I.N. Kimambo/A.J. Temu (Hrsg.): A History of Tanzania, Nairobi 1969, S. 35–56, hier S. 46. Vgl. Catherine Coquery-Vidrovitch: Africa and the Africans in the nineteenth century. A turbulent history, Armonk, N.Y 2009, S. 89f. und ebd., S. 312. Siehe auch: Deutsch: Emancipation without Abolition in German East Africa c. 1884-1914, S. 15ff. sowie Becher: Dar es Salaam, Tanga und Tabora: Stadtentwicklung in Tansania unter deutscher Kolonialherrscha, 18851914, S. 61 und Alpers: e Coast and the Development of the Caravan Trade, S. 47. Vgl. Mann: Sahibs, Sklaven und Soldaten, S. 140f. Vgl. Beachey: e East African Ivory Trade in the Nineteenth Century, S. 269f. Vgl. Jürgen Herzog: Geschichte Tansanias. vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Berlin 1986, S. 21.

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Trägern transportiert werden. Der tradierte Gegensatz zwischen Küste und Hinterland Ostafrikas löste sich im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr auf¹⁵². Durch eine stark erhöhte Nachfrage lohnte es sich für die Händler der Küste, ins Landesinnere zu ziehen und Menschen der unterbevölkerten Regionen gewaltsam zu rekrutieren und in die stetig sich ausdehnenden Handelsnetzwerke zu integrieren¹⁵³. Diese weitreichenden Verwerfungen sorgten für die Mobilisierung großer Bevölkerungsteile, die sich entweder aus Not in die Sklaverei begeben hatten¹⁵⁴, von Sklavenjägern entführt worden waren oder sich an langwierigen Karawanenreisen zur Küste beteiligten. Der nun stärker frequentierte Zugang zu natürlichen Ressourcen wie Elfenbein und die ausgeweitete Plantagenwirtscha sorgte für eine Sogwirkung, die sich auf die Sozialstrukturen Ostafrikas auswirkte. Hinzu kam ein ständiger Mangel an Arbeitskräen in Form von Sklaven, was wiederum den Sklavenhandel ausweitete¹⁵⁵. Exogene Faktoren wie Handel und Migration destabilisierten die soziale Basis ostafrikanischer Gemeinschaen. Sie spielten im 19. Jahrhundert eine besonders große Rolle¹⁵⁶: Lokale, gleichförmige Strukturen wandelten sich unter diesen Einflüssen von Handel, Sklaverei, Migration und Gewalt¹⁵⁷. Hinzu kamen Seuchen, Krankheiten und Hungersnöte, die sich zumindest in einigen Gegenden massiv auf die Bevölkerungsdichte auswirkten¹⁵⁸. All dies förderte die »[...] gesellschaliche, wirtschaliche und politische Differenzierung [...]«¹⁵⁹ ostafrikanischer Gesellschaen. Sozialordnungen veränderten sich rapide, durch weitreichende Migrationsbewegungen wurde traditionellen Institutionen die soziale Basis entzogen, habituelle Kooperationen und Bündnisse lösten sich auf. Es entstanden Räume, die als »frontier zones of competition«¹⁶⁰ bezeichnet wurden. In diesen Räumen der Unsicherheit und Offenheit stellten äußere Einflüsse die Gegebenheiten eines Lebens in Frage, das an natürlichen und rituellen Zyklen orientiert und auf die lokale Sphäre beschränkt gewesen war. Weltbilder, Ideen, kulturelle Praktiken und Identitäten trafen aufeinander, vermischten sich und konkurrierten miteinander. Über die expandierenden Handelsnetzwerke fand ein Transfer von Ideen 152 153

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Vgl. Isichei: A history of African societies to 1870, S. 431. Vgl. Mann: Sahibs, Sklaven und Soldaten, S. 10. Zum globalen Kontext dieser Entwicklung siehe Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, 2009, S. 939f. Vgl. Mann: Sahibs, Sklaven und Soldaten, S. 12. Vgl. ebd., S. 13. Andrew Roberts: Political Change in the Nineteenth Century, in: I.N. Kimambo/A.J. Temu (Hrsg.): A History of Tanzania, Nairobi 1969, S. 57–84, hier S. 57. Siehe hierzu auch: Isichei: A history of African societies to 1870, S. 431 sowie Njiro: A History of Africa in the 19th Century, S. 59ff. Vgl. Koponen: War, Famine, and Pestilence in Late Precolonial Tanzania: A Case for a Heightened Mortality, S. 675f. Mann: Sahibs, Sklaven und Soldaten, S. 17. Reid: Frontiers of violence in North-East Africa, S. 23.

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und Wissen statt, der sich tiefgreifend auf die sozialen und politischen Strukturen ostafrikanischer Gesellschaen auswirkte¹⁶¹. Unter den Bedingungen des Wandels wurde die Aufrechterhaltung stabiler Verhältnisse unter große Schwierigkeiten gestellt. Auf präexistente lokale Formen der Zugehörigkeit trafen zahlreiche neue Impulse: Die mobile Kultur des Karawanenhandels brachte Neuerungen und Herausforderungen¹⁶². Der Historiker Michael Pesek bezeichnete diese Räume als Kontaktzonen, in denen verschiedene Formen der Inszenierung von Macht punktuell zusammentrafen¹⁶³. Dabei entstanden Identitätskonzepte, die sich auf neue Einflüsse stützten. So machten sich einige Bevölkerungsgruppen die Teilnahme am Handel zunutze, indem sie sich als traditionell prädestiniert für Handelstätigkeiten darstellten: man bezeichnete die Bevölkerung von Unyamwesi, im Südwesten des heutigen Tansanias gelegen, als traditionelles Handelsvolk. Auch sog. Yao-Gruppen, die aus südöstlichen Gebieten operierten, und die Einwohner des Kamba-Gebiets in Zentralkenia wurden als Handelsvölker angesehen¹⁶⁴. Dabei spielten die Verflechtungen zwischen Kultur und Ökonomie eine zentrale Rolle: »Es gibt keine echte Unterscheidung zwischen »Kultur« und »Ökonomie«, besonders in Gesellschaen, die am Rande der Hungersnot stehen«¹⁶⁵. Kultur und Ökonomie veränderten sich stark, das Ergebnis waren neue Lebensweisen, die viele Einflüsse miteinander kombinierten. So künden mündliche Traditionen vom nordöstlichen Ufer des Viktoriasees von Händlern, die auf ihren Reisen in die kenianischen Hochländer neue Sprachen lernten und mit ihren erworbenen Waren auch neue kulturelle Impulse zurückbrachten¹⁶⁶. 161 162

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Siehe Rockel: Carriers of Culture. Labor on the Road in Nineteenth-Century East Africa, S. 229ff. Vgl. Michael Pesek: Ruga-ruga: e History of an African Profession, 1820–1918, in: Alain Patrice Nganang/Klaus Mühlhahn/Nina Berman (Hrsg.): German Colonialism Revisited : African, Asian, and Oceanic Experiences, Ann Arbor 2014, S. 85–100, hier S. 85f. Vgl. ders.: Die Kunst des Reisens. Die Begegnung von europäischen Forschungsreisenden und Ostafrikanern in den Kontaktzonen des 19. Jahrhunderts, S. 97f. Siehe hierzu: Stephen J. Rockel: ’A Nation of Porters’: e Nyamwezi and the Labour Market in Nineteenth-Century Tanzania, in: e Journal of African History 41.2 (2000), S. 173–195, Kennell A. Jackson: e Dimensions of Kamba Pre-Colonial History, in: B. A. Ogot (Hrsg.): Kenya before 1900, 1978 sowie Krapf: Reisen in Ostafrika ausgeführt in den Jahren 1837-1855, S. 337, ders.: Journal August 26, 1845, CMS, Mission Book 1842-1846. Signatur: CMS / B / OMS / C A5 / M1, ders.: Journal January 7, 1845, CMS, Mission Book 1842-1846. Signatur: CMS / B / OMS / C A5 / M1 sowie Harry H. Johnston: British Central Africa: an attempt to give some account of a portion of the territories under British influence North of the Zambezi, London et.al. 1897, S. 70, ebd., S. 75, ders.: Report by Commissioner Johnston of the First ree Years’ Administration of the Eastern Portion of British Central Africa, dated March 31, 1894, LMS, Signatur: CWM / LMS / 04 / 08 / 03 / Box 32, 1894, omas T. Spear: e Mijikenda in the 19th century. Paper given at University of Nairobi, October 1971. Original Manuscript, UoN, ohne Signatur, Okt. 1971, S. 8 und J C Anene: e Omani Empire and its Impact on East African Societies. In: Africa in the Nineteenth & Twentieth Centuries, 1966, S. 440–457, hier S. 450ff. Christopher A. Bayly: Die Geburt der Modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780-1914, Frankfurt / New York 2008, S. 128, Hervorhebung im Original. Vgl. Ayot: Historical texts of the lake region of the East Africa, S. 41.

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Diese einzelnen Aspekte waren die Basis weitreichender sozialer Umschichtungen im ostafrikanischen Raum. Mit den Handelskorridoren entstanden Zonen dynamischer Interaktion¹⁶⁷, die für eine Mobilisierung großer Teile der Bevölkerung sorgte. Migrationen sind zwar eine konstante Größe der afrikanischen Geschichte¹⁶⁸, im 19. Jahrhundert fanden jedoch verschiedene Arten erzwungener und freiwilliger Migration gleichzeitig statt. Händler erschlossen neue Gebiete, lokale Bevölkerungsgruppen entdeckten neue Formen von Arbeit wie die Lohnarbeit¹⁶⁹, Jäger legten immer größere Strecken auf der Suche nach ihrer Beute zurück und entfernten sich von ihren Herkunsorten, Dürreperioden und Hungersnöte zwangen die Bevölkerung ganzer Gegenden zur Umsiedlung und neue saisonale Formen der Wirtscha kamen auf¹⁷⁰: »Die Notwendigkeiten des Überlebens, Neugierde, Abenteuerlust, Freiheitsdrang, Unglück, Leiden und Krieg - es gibt vieles, was Menschen auf Wanderscha schickt«¹⁷¹. Auf die einzelnen Facetten dieser Grundtatsachen des 19. Jahrhunderts wird noch zurückzukommen sein; sie spiegeln sich auch in den Berichten westlicher Beobachter, welche in dieser Zeit Ostafrika bereisten. Den Autoren der verfügbaren Zeugnisse zum 19. Jahrhundert erschien Ostafrika entsprechend herrschender Vorurteile als rückständig, chaotisch und gefährlich. Die Eindrücke von Sklaven- und Karawanenhandel, Plantagenwirtscha und undurchsichtiger Verhältnisse schienen Vorgefertigtes und Erwartetes zu bestätigen. Dennoch lohnt es sich, die Kategorien zu untersuchen, nach denen die Bevölkerung Ostafrikas bewertet wurde und die Muster in den Blick zu nehmen, die mit dem Handeln der Ostafrikaner verbunden wurden. Ein Blick auf die Sichtweisen westlicher Beobachter liefert nicht nur Hinweise auf Widersprüche, sondern kann auch dazu beitragen, eine neue Perspektive einzunehmen und die geschilderten Erlebnisse und beobachteten Phänomene neu zu deuten.

2.2 Europäische Blicke, ostafrikanische Gruppen Das Bild, welches sich aus den zeitgenössischen Schilderungen ergibt, attestiert Ostafrika nur selten stabile politische und soziale Strukturen. Die europäischen Autoren orientierten sich an eigenen Herrschasvorstellungen und charakterisierten die Verhältnisse meist als chaotisch, despotisch oder gänzlich unreguliert. 167 168 169

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Vgl. Reid: Frontiers of violence in North-East Africa, S. 14ff. Vgl. Wirz: Migrationen. Das Problem der Bantu-Expansion, S. 35. Vgl. Axel Harneit-Sievers: Markt, Staat und Kapitalismus, in: Albert Wirtz; Jan-Georg Deutsch (Hrsg.): Geschichte in Afrika. Einführung in Probleme und Debatten, Berlin 1997, S. 107–128, hier S. 112. Karin Pallaver: Nyamwezi Participation in Nineteenth-Century East African long-distance Trade: Some Evicence from Missionary Source, in: Africa: Rivista trimestrale di studi e documentazione dell’Istituto italiano per l’Africa e l’Oriente 61.3/4 (2006), S. 513–531, hier S. 516. Wirz: Migrationen. Das Problem der Bantu-Expansion, S. 35.

Europäische Blicke, ostafrikanische Gruppen

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Der Blick auf Ostafrika erfolgte dabei aus mehreren Richtungen, welche auf die unterschiedlich geprägten Perspektiven der Autoren schließen lassen: Missionare, Reisende, Forscher, Händler, Völkerkundler und später Kolonialbeamte und -offiziere lieferten Dokumente, denen verschiedene Sichtweisen unterliegen. Gemeinsam ist ihnen die Sicht auf Afrika als Verkörperung des Fremden, Dunklen, Unerforschten und Unerschlossenen. In ihren Berichten zeigen sich jedoch auch Deutungsmuster und Perspektiven, die sich am eigenen Weltbild und Interessengebiet orientierten. Während manche Autoren der Natur Afrikas weit mehr Aufmerksamkeit widmeten und in ihren Berichten die Bewohner Ostafrikas bestenfalls als Kulisse aureten ließen, versuchten Andere, die Geschichte der einzelnen Völker zu dokumentieren oder politische und soziale Verhältnisse zu ergründen. Weitere Interessengebiete waren die Sprachen der Afrikaner oder das Schicksal einzelner Personen zur Illustration typischer Lebensläufe der indigenen Bevölkerung. Dabei zeigt sich eine Bandbreite der Charakterisierungen, die von Verachtung und Abneigung bis zu romantisierender Verehrung reichte. Eine grundlegende Skepsis und Distanz zu den Händlern, Führern, Karawanenträgern und Dorewohnern, welche mit externen Beobachtern in Kontakt traten, ist in den Berichten jener Autoren stets präsent. Obwohl nicht wenige Beziehungen zu Ostafrikanern von den Autoren als Freundschaen bezeichnet wurden, bleibt stets der unterschwellige Eindruck von Fremdheit und Misstrauen. Dennoch wurde Vieles gesammelt und nach Europa gebracht. Völkerkundliche Sammlungen und Publikationen zeugen vom Engagement der Reisenden, Artefakte und Geschichten, Alltagsgegenstände und Beschreibungen der ostafrikanischen Lebenswelt anzuhäufen. Das Ausstellen exotischer Objekte und die Beschreibung vermeintlich archaischer Gesellschaen ermöglichte Abgrenzung gegenüber den als rückständig erachteten Ostafrikanern sowie eine Vergewisserung eigener Superioritätsvorstellungen¹⁷². In ihrer Methodik waren Missionare wie Forscher und Reisende geprägt von der Vorstellung des Sammelns, was besonders bei völkerkundlichen Publikationen deutlich wird. Sie enthalten o seitenweise Abbildungungen von Alltagsgegenständen, Waffen, Kleidungsstücken und Handelsartikeln. Meist nur grob nach unterschiedlichsten Bereichen geordnet, muten die Darstellungen der gezeigten Bestände o an wie die Abbildungen unsortierter Rumpelkammern, gefüllt mit wahllos aufgesammelten oder erbeuteten Gegenständen¹⁷³. Eine ähnlich unsystematische Anordnung findet sich bei gesammelten Geschichten, Liedern und Aphorismen. Es bleibt vielmals offen, wie und wo genau die gesammelten Informationen und Gegenstände erworben bzw. bescha 172 173

Siehe auch; Christiane Reichart-Burikukiye: Gari la moshi - Modernität und Mobilität. das Leben mit der Eisenbahn in Deutsch-Ostafrika, Münster 2005, S. 109. Siehe z.B. o.A.: Zauber- und andere Gegenstände der heidnischen Vanyamwezi in DeutschOstafrika. HrArch, Signatur: MD 1563 / MD R.r.7. Siehe auch: Deutsch (Hrsg.): Geschichte in Afrika. Einführung in Probleme und Debatten, S. 14.

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Ostafrikanische Gruppen und politische Strukturen im 19. Jahrhundert

wurden. Informanten und andere Gewährsleute erscheinen bestenfalls schemenha und werden nur in seltenen Fällen als eigenständige Personen sichtbar. Neben solchen ungeordneten Darstellungen standen Vorstellungen klar abgrenzbarer sozialer Ordnungen. Bei der Beschreibung der Lebensverhältnisse und politischen Strukturen dominieren Vorstellungen von abgrenzbaren »Stämmen« und ihren Oberhäuptern, die als Könige oder Sultane bezeichnet werden. Das »Denken in Stämmen«¹⁷⁴ wurde räumlich gewendet und resultierte in Karten, die mutmaßliche Siedlungsräume verschiedener Bevölkerungsgruppen zeigten (Siehe Abbildung 2.2). Europäische Vorstellungen von Stämmen existierten neben indigenen Konzepte regionaler und lokaler Gruppenbezeichnungen, die noch näher untersucht werden. Dabei erscheinen die Herrschasstrukturen undurchsichtig und geprägt von der Willkür despotischer Figuren, denen kein zielgerichtetes oder vernungeleitetes Handeln zugetraut wird. O wirken diese Beschreibungen holzschnittartig, gleichförmig¹⁷⁵ und werfen Fragen auf. Europäisch geprägte Konzeptionen von Autorität und Einfluss konnten dem Beobachteten nicht gerecht werden¹⁷⁶. In den Berichten finden sich Beschreibungen über unterschiedliche Gruppen, die nach verschiedenen Kennzeichen voneinander abgegrenzt werden. So wird von unterschiedlichen Sprachen berichtet oder auf bestimmte Kleidung oder Körperpraxis hingewiesen¹⁷⁷. Entsprechend einer auch in Europa neuen Sichtweise, die sich an der Vorstellung scheinbar kohärenter Volks- und Sprachgruppen orientierte¹⁷⁸, wurden die Verhältnisse in Ostafrika ebenso wahrgenommen. Weit verbreitet waren auch Klassifikationen nach körperlichen Merkmalen wie Hautfarbe, Statur und Kopfform¹⁷⁹. Dies folgte ebenfalls einer für europäische Gesellschaften im 19. Jahrhundert zentralen wissenschalichen Entwicklung, die sich unmittelbar gesellschalich auswirkte: Der Rassismus, »[...] dessen zentrale Bedeutung im 19. Jahrhundert gar nicht hoch genug veranschlagt werden kann [...]«¹⁸⁰ prägt die Überlieferung zu Ostafrika in dieser Zeit. So entstanden Werke wie die des Sprachforschers Carl Meinhof, die stark von rassistischen Konzepten über die Verbreitung von Sprachen durch Herrenvölker und die Vorstellung geprägt waren, dass Viehzüchter auf einer höheren Entwicklungsstufe stünden als Hackbau174

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Andreas Eckert: Nationalgeschichtsschreibung und koloniales Erbe. Historiographien in Afrika in vergleichender Perspektive, in: Sebastian Conrad (Hrsg.): Die Nation schreiben. Geschichtswissenscha im internationalen Vergleich, Göttingen 2002, S. 78–111, hier S. 80. Siehe z.B. Falkenhorst: Schwarze Fürsten. Bilder aus der Geschichte des dunklen Erdteils, S. 190. Vgl. Jonathon Glassman: Feasts and riot. revelry, rebellion, and popular consciousness on the Swahili Coast, 1856-1888, Portsmouth, NH [u.a.] 1995, S. xii. Siehe z.B. Friedrich Fülleborn: Das deutsche Njassa- und Ruwuma-Gebiet, Land und Leute, nebst Bemerkungen über die Schire-Länder, Berlin 1906, S. 50. Vgl. Eric J. Hobsbawm: Das imperiale Zeitalter 1875-1914, Frankfurt a.M. 1989, S. 184. Siehe z.B. Fülleborn: Das deutsche Njassa- und Ruwuma-Gebiet, Land und Leute, nebst Bemerkungen über die Schire-Länder, S. 57. Hobsbawm: Das imperiale Zeitalter 1875-1914, S. 316.

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Abbildung 2.2: »Verbreitung der Menschenrassen« Ostafrikas

ern, eine höhere Urteilskra aber letztlich nur durch den Kontakt mit der »weißen Rasse« vermittelt werden könne¹⁸¹. Der auommende Kolonialismus wurde mithin bereits als Form einer humanitären Intervention antizipiert¹⁸². Neben solchen Vorstellungen über die Entwicklung der Afrikaner auf eine Moderne nach europäischem Vorbild hin entstanden Konzepte zur Gliederung nach rassistischen Vorgaben. Hintergrund dafür waren evolutionistische eorien und Fortschritts181

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Vgl. Wirz: Migrationen. Das Problem der Bantu-Expansion, S. 38. Siehe hierzu auch: Michael Schubert: e ‘German nation’ and the ‘black Other’: social Darwinism and the cultural mission in German colonial discourse, in: Patterns of Prejudice 45.5 (2011), S. 399–416, hier S. 408. Vgl. ebd., S. 399f. sowie Dirk van Laak: Kolonien als “Laboratorien der Moderne“?, in: Sebastian Conrad/Jürgen Osterhammel (Hrsg.): Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871-1914, Göttingen 2006, S. 257–279, hier S. 277.

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gedanken, die einen Verlauf der Entwicklung von einfachen, archaischen zu komplexeren und damit höheren Kulturen vorsahen¹⁸³. Afrikanische Gemeinschaen standen für Erstere und wurden gemäß aulärerischer Systematisierungsvorstellungen vermessen und kategorisiert, mit dem Ziel der Anhebung auf eine vermeintlich höhere Kulturstufe¹⁸⁴. In Deutschland entstanden so die Einteilungen in »[...] halbcivilisierte und rohe Völker [...], mehr oder minder schlaff, sorglos und träge [...], [die] Wilden oder Halbwilden, [...] [die] uncivilisierten Völker [und die] rohen Naturmenschen [...]«¹⁸⁵. Das Bild vom »faulen Neger« etablierte sich als bevorzugte Vorstellung eines typischen Afrikaners¹⁸⁶. Der britische Afrikaforscher Harry H. Johnston lieferte eine Aufzählung der verschiedenen Kriterien, nach denen die Bevölkerung geordnet werden sollte: »[...] stock, race, physiognomy, language, customs and traditions, colour of skin according to Topinard’s specimens of the colours of skins, odour, body parts, strength, speed, endurance, muscular development, sight, postures, movement of the body«¹⁸⁷. Diesen Merkmalen wurden meist auch charakterliche Eigenschaen zugeordnet, so dass sich die Vorstellung eines »Volkscharakters« sehr o in den Quellen findet¹⁸⁸. Sie wurde geprägt von Annahmen, die auch in der frühen Völkerpsychologie des 19. Jahrhunderts verarbeitet wurden, welche den »Volksgeist« als Hauptdeterminante, als »das allen Einzelnen Gemeinsame der inneren ätigkeit«¹⁸⁹ ansahen. Einen solchen Volksgeist versuchten europäische Beobachter in der afrikanischen Bevölkerung zu entdecken und zu dokumentieren. So berichtete Graf v.d. Götzen über die Träger seiner Karawane, die aus der Gegend Usukuma im heutigen Tansania stammte: »Ihre Gemüthsart ist durchaus kindlich harmlos und ihre Leistungsfähigkeit dank ihrer grossen Körperkra und Arbeitswilligkeit recht bedeutend«¹⁹⁰. 183

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Vgl. Wirz: Migrationen. Das Problem der Bantu-Expansion, S. 49. Siehe auch: Carola Lentz: Ethnizität und die Interpretation der Vergangenheit, in: Albert Wirtz; Jan-Georg Deutsch (Hrsg.): Geschichte in Afrika. Einführung in Probleme und Debatten, Berlin 1997, S. 149–174, hier S. 151. Siehe auch: Schubert: e ‘German nation’ and the ‘black Other’: social Darwinism and the cultural mission in German colonial discourse, S. 404. ebd., S. 405. Vgl. ebd., S. 406. Johnston: British Central Africa: an attempt to give some account of a portion of the territories under British influence North of the Zambezi, S. 389ff. Siehe hierzu auch: Collins/Burns: A history of sub-Saharan Africa, S. 44. Siehe z.B. Fülleborn: Das deutsche Njassa- und Ruwuma-Gebiet, Land und Leute, nebst Bemerkungen über die Schire-Länder, S. 57. Moritz Lazarus & Hajim Steinthal: Einleitende Gedanken über Völkerpsychologie, als Einladung zu einer Zeitschri für Völkerpsychologie und Sprachwissenscha, in: Georg Eckardt (Hrsg.): Völkerpsychologie. Versuch einer Neuentdeckung, 1997, S. 125–202, hier S. 157. G.A. von Götzen: Durch Afrika von Ost nach West, Berlin 1899, S. 5. Andere Beschreibungen fielen meist weniger positiv aus und betonen Aggressivität, Verlogenheit und Brutalität ebenso wie eine geistige Inferiorität gegenüber den Bewohnern der Küste und westlichen Besuchern

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Solche Einschätzungen charakterisieren die funktionalistische Sichtweise westlicher Besucher, die ihr Gegenüber nach Nützlichkeitskriterien bewerteten und meist nicht gewillt waren, engere Kontakte zu Ostafrikanern aufzubauen. Die Kriterien wurden mangels Interesse an Überprüfung von den Autoren o nicht hinterfragt, was zu einer Vielzahl offensichtlicher Widersprüche führte. Vorstellungen kohärenter Charakterzüge innerhalb abgrenzbarer ethnischer Gruppen brechen bei genauerem Blick auf widersprüchliche Schilderungen der Autoren in sich zusammen. Gleiches gilt für hierarchische Sichtweisen und Vorurteile, die in den Berichten o nur unter starker Umformung des Erlebten aufrecht erhalten werden. Neben diesen offenkundig europäisch geprägten Vorstellungen zu ethnischen Identitäten und rassistischen Vorstellungen griffen andere Arten der Abgrenzung ebenfalls nicht. So wird von »Stämmen« berichtet, deren sprachliche Identität nicht eindeutig war bzw. von angeblich unterschiedlichen Ethnien, die sich jedoch nicht nach den gängigen Merkmalen unterscheiden ließen¹⁹¹. Mangels Kenntnissen lokaler Traditionen und Sprachen wurden die Bezeichnungen für einzelne Ethnien zu reinen Metaphern, deren Inhalt bei genauerer Beobachtung verschwimmt oder sich gänzlich auflöst¹⁹². In manchen Fällen reflektierten die Autoren auch offen ihre Vorstellungen und hinterfragten die erhaltenen Informationen über ansässige Ethnien und deren Kohärenz¹⁹³. So wusste der deutsche Kolonialoffizier Friedrich Kallenberg zu berichten: »Ich erachte es für notwendig, an dieser Stelle ausdrücklich hervorzuheben, daß zwischen Wapare, Waschamba, Wadschagga, Wakuasi, Wandorobbo, Wataita und Wamassai [...] keineswegs ein so pedantischer, scharf abgegrenzter Unterschied herrscht, als ihn typische Abbildungen auf den ersten Blick vermuten lassen«¹⁹⁴. Besonders in sprachlicher Hinsicht wurden hingegen in weiten Teilen Ostafrikas große Überschneidungen festgestellt¹⁹⁵. Der Reisende und Händler John Boyes bemerkte bei seinen Reisen in die Hochländer Kenias ebenfalls große Gemein-

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(Siehe z.B. Boyes: King of the Wa-Kikuyu, S. 50 und Falkenhorst: Schwarze Fürsten. Bilder aus der Geschichte des dunklen Erdteils, S. 68). Siehe z.B. Alfred C. Hollis: e Nandi. eir language and folk-lore, hrsg. v. Charles Eliot, Oxford 1909, S. 24f. und J. W. Gregory: e Great Ri Valley. being the narrative of a journey to Mount Kenya and Lake Baringo; with some account of the geology, natural, history, anthropology, and future prospects of british east africa, London 1896, S. 352. Siehe auch: Hobsbawm: Das imperiale Zeitalter 1875-1914, S. 188 sowie Wirz: Migrationen. Das Problem der Bantu-Expansion, S. 37. Gregory: e Great Ri Valley, S. 331f. Friedrich Kallenberg: Auf dem Kriegspfad gegen die Massai. Eine Frühlingsfahrt nach DeutschOstafrika, 1892, S. 93. G.W.B. Huntingford: Parallel Vocabularies of Nandi, Keyo, Kony, & Sapei, SOAS, Signatur: PP MS 17 / 10, 1926.

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samkeiten im rituellen und religiösen Bereich¹⁹⁶. Die ethnischen Kriterien, nach denen westliche Beobachter die ostafrikanische Bevölkerung zu gliedern versuchten, erweisen sich daher als irreführend und wurden bereits von zeitgenössischen Stimmen hinterfragt, sobald das Erlebte nicht mehr mit der Vorstellung abgrenzbarer Ethnien in Verbindung gebracht werden konnte. Manche Reisende erwiesen sich gar als genaue Beobachter, die wertvolle Innen- und Außenansichten der Gemeinschaen Ostafrikas produzierten und durch ihre Reisetätigkeit vielfältige Informationen hinterlassen haben¹⁹⁷. Während sich also bereits in zeitgenössischen Quellen mehr oder weniger offensichtliche Widersprüche zeigen, arbeitete die Forschung weitere Problemfelder heraus und verstärkte den Eindruck der Unsicherheit bezüglich der Kategorien und Charakterisierungen, wie sie in den verfügbaren Materialien zu finden sind¹⁹⁸. Ethnische Grenzen, im Sinne einer gemeinsamen Identität und gespeist aus einer gemeinsamen Sprache und Kultur, waren im 19. Jahrhundert nur selten aufzufinden und selbst bei scheinbar eindeutigen Fällen wie den als Shambaa bezeichneten Bewohnern der höher gelegenen Gebiete im Westen Usambaras wurden Zweifel geäußert¹⁹⁹. Einige sprachen gar von der Unterteilung nach Ethnien als koloniale Erfindung²⁰⁰. Besonders deutlich treten solche Zweifel bei der Analyse der dokumentierten Ethnienbezeichnungen in den Vordergrund. Der Historiker Juhani Koponen lieferte eine detaillierte Untersuchung verbreiteter Bezeichnungen für Ethnien Ostafrikas und dekonstruierte sie bzw. identifizierte sie als Fremdbezeichnungen. Insgesamt kommt er zu dem Schluss, dass zwar einzelne Elemente ethnischer Identitäten von einer gewissen Wichtigkeit waren, es sich jedoch nicht zufriedenstellend klären lässt, woraus diese Identitäten genau bestanden und wie weit ihre Bedeutung reichte²⁰¹. Ethnische Konzepte als Kriterium zu verwenden, liefert somit für die Untersuchung des 19. Jahrhunderts keine zuverlässige Basis für eine Analyse der Gesellschaen Ostafrikas. Wie Charles Ambler für seine Studie zu Kenia zusammenfasste: »No settled and exclusive ethnic order defined social and economic relationships in nineteenth-century central Kenya. Indeed, the histories of small communities reveal nothing more clearly than the themes of dynamism, movement, and newness«²⁰². Dieser Eindruck von Dynamik und ständiger Bewegung spiegelt einerseits die Erfahrung der bereits gezeigten, profunden Verwerfungen der Bevölkerung, suggeriert andererseits je196 197 198 199 200 201 202

Siehe Boyes: King of the Wa-Kikuyu, S. 299. Vgl. Diawara: Ethnologie und Geschichte auf dem Prüfstand Afrikas, S. 17. Siehe hierzu z.B. die Beiträge in: Andrew Roberts (Hrsg.): Tanzania before 1900, Nairobi 1968. Vgl. Juhani Koponen: People and production in late precolonial Tanzania. History and structures, Helsinki 1988, S. 180ff. Siehe z.B. Southall: e Illusion of Tribe sowie John Iliffe: A modern history of Tanganyika, Cambridge 1994, S. 10. Siehe hierzu auch: Geertz: Spurenlesen, S. 53f. Koponen: People and production in late precolonial Tanzania, S. 180ff. Charles H. Ambler: Kenyan communities in the age of imperialism. e central region in the late 19th century, New Haven u.a. 1988, S. 7.

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doch auch Instabilität und evoziert einen Eindruck, der von Hugh Trevor-Roper mit dem berühmten Zitat kommentiert wurde, dass afrikanische Geschichte vor der Kolonialzeit nichts weiter sei als »[...] the unrewarding gyrations of savage tribes in a picturesque but unrelevant environment«²⁰³. Neben solchen Einschätzungen stand eine Beschäigung mit der afrikanischen Geschichte, die sich zunächst sehr auf größere Königreiche, einflussreiche Händler und deren Taten konzentrierte. Dezentral organisierte Gemeinschaen blieben lange ein Randphänomen, dem kaum Beachtung geschenkt wurde²⁰⁴. Selbst in Studien, die solche Gemeinschaen im Zentrum haben, werden sie bisweilen als ephemeres Übergangsphänomen zur kolonialen Gesellscha angesehen. Eine Sichtweise ostafrikanischer Gesellschaen als » [...] social order in the making«²⁰⁵ betont den Kolonialstaat bereits als Fluchtpunkt und verzerrt potenziell die Perspektive. Die Suche nach großen, statischen Kategorien für die Untersuchung dieser Gruppen scheint mithin vergeblich. Weder Vorstellungen homogener ethnischer Gruppen noch die Charakterisierung ostafrikanischer Geschichte als Betätigungsfeld großer Männer und ihrer Gefolgschaen bringt den erwünschten Erkenntnisgewinn, während die Akzentuierung auf einen Übergangscharakter zusätzlich verzerrend wirken kann. Die Suche nach Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung (Evolutionismus), Ursprungsorten politischer Gebilde und Institutionen (Diffusionismus) sowie das Erforschen von Funktionen der Bedürfnisbefriedigung (Funktionalismus) waren weitere im Europa des 19. Jahrhunderts aufkommende eorieentwürfe, welche die Sicht auf ostafrikanische Gemeinschaften prägten²⁰⁶. Die Analyse muss zunächst an anderen Punkten anknüpfen und den Blick auf zentrale Grundelemente menschlichen Zusammenlebens richten. Einige einführende Werke zur Geschichte Afrikas konzentrieren sich daher auf »traditionelle« Ökonomien und erklären die sozialen Verhältnisse aus materiellen Notwendigkeiten heraus²⁰⁷. Ein weiterer Ansatz nimmt »Grundkonstanten sozialen Handelns - die nicht als biologische Determinanten missverstanden werden dürfen [...]«²⁰⁸ ins Zentrum. Eine solche Betrachtungsweise ermöglicht eine Perspektive, welche die beiden letztgenannten Aspekte - Umweltbedingungen und grundle203 204

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H.R. Trevor-Roper: e rise of Christian Europe, San Diego 1965, S. 9. Siehe auch: Oppen: Dorf, Siedlung, Gemeinscha, S. 232. Vgl. Isichei: A history of African societies to 1870, S. 14. Ausnahmen bildeten John Galaty; Pierre Bonte (Hrsg.): Herders, Warriors, and Traders. Pastoralism in Africa, Boulder, Colorado 1991 sowie John Tosh: Clan Leaders and colonial Chiefs in Lango. e political History of an East African Stateless Society c. 1800-1939, Oxford 1978. Ambler: Kenyan communities in the age of imperialism, S. 7. Vgl. omas Zitelmann: Formen und Institutionen politischer Herrscha, in: Albert Wirtz; Jan-Georg Deutsch (Hrsg.): Geschichte in Afrika. Einführung in Probleme und Debatten, Berlin 1997, S. 201–230, hier S. 203. Siehe insbes. Ogutu/Kenyanchui: An Introduction to African History. Speitkamp: Kleine Geschichte Afrikas, S. 10.

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gende Elemente sozialen Handelns - kombiniert und einen Blick auf die Grundzüge nichtstaatlich organisierter Gemeinschaen eröffnet, der sich an der Frage orientiert, wie Ostafrikaner ein soziales Miteinander ohne Zentralstaatlichkeit und inmitten einer wechselhaen natürlichen Umgebung organisierten. Dabei müssen die Umweltbedingungen ebenso betrachtet werden wie die Kulturgeographie und die wechselhaen Grundbedingungen des Lebens in Ostafrika. Soziales Handeln war dabei zum Einen beeinflusst von der geographischen Umgebung²⁰⁹, zum Anderen wurden geographische, aber auch soziale und imaginierte Räume auf verschiedene Weisen angeeignet²¹⁰. Garanten der Stabilität ostafrikanischer Gesellschaen waren Systeme und Institutionen, die »[...] Respekt gegenüber den Eltern, Harmonie und Wohlstand der eigenen Gruppe, Stabilität und Interdependenz«²¹¹ förderten und die im Folgenden in ihren Grundzügen betrachtet werden.

2.3 Grundzüge nichtstaatlicher Gesellschaften im 19. Jahrhundert Die gezeigten Veränderungen in Wirtscha und Mobilität trafen in weiten Teilen Ostafrikas auf eine unsichere materielle Grundlage: Steppenlandschaen und Grasland waren schlecht zu bewirtschaen und erforderten genaue Kenntnisse und Erfahrung im Anbau von Nutzpflanzen in einer Umgebung, die o von Trockenheit geprägt war²¹². Viehseuchen konnten zusätzlich dafür sorgen, dass es an Nahrung mangelte²¹³. Migrationsbewegungen und Hungersnöte konnten die Folge solcher fragilen Umweltbedingungen sein. Hinzu kamen die Folgen der Expansion des Sklaven- und Karawanenhandels, woraus sich insgesamt ein Bild gesteigerter Mobilität ergibt²¹⁴. In einem von Unsicherheit und wechselhaen Umweltbedingungen geprägten Umfeld war Flexibilität und Anpassungsfähigkeit ein grundlegendes Phänomen²¹⁵, welches sich in der sozialen Organisation ostafrikanischer Gemeinschaen wiederfand. Von europäischen Beobachtern als undurchsichtiges Chaos charakterisiert, waren staatenlose, von informellen Institu209

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Vgl. J. F. Ajayi: A Survey of the Cultural and Political Regions of Africa at the Beginning of the Nineteenth Century, in: Africa in the Nineteenth and Twentieth Centuries, hrsg. v. Godfrey Anene Joseph C & Brown, Ibadan 1966, S. 75–91, hier S. 75f. Vgl. Pierre Bourdieu: Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, in: Martin Wentz (Hrsg.): Stadt-Räume, Frankfurt a.M. 1991, S. 25–34. »[...] filial piety, harmony and group welfare, stability, and interdependence [...]«, Wafula: ’Tradition’ versus ’Modernity’: Generational Conflict in Vuta N’Kuvute, Kufa Kuzikana, Msimu Wa Vipepeo and Tumaini, S. 136, meine Übersetzung. Einführend siehe hierzu auch: Collins/Burns: A history of sub-Saharan Africa, S. 53ff. Das in der Kolonialzeit angelegte Kartenmaterial für Tanzania zeigt für den Osten des Landes eine geringe Bevölkerungsdichte und spärliche wirtschaliche Grundlagen, während den Gebieten zwischen Tabora und den Ufern der ostafrikanischen Seen bessere wirtschaliche Grundlagen und eine höhere Bevölkerungsdichte attestiert werden (Siehe Heinrich Schnee (Hrsg.): Deutsches Kolonial-Lexikon, Leipzig 1920). Vgl. Wirz: Migrationen. Das Problem der Bantu-Expansion, S. 35. Vgl. Harneit-Sievers: Markt, Staat und Kapitalismus, S. 111.

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tionen geprägte Strukturen im ostafrikanischen Raum des 19. Jahrhunderts weit verbreitet. Neben einzelnen, zunächst spärlich verstreuten Handelszentren existierten vornehmlich lokale, dezentrale Gemeinschaen, die besonders für Europäer schwer einzuschätzen waren. Oberflächliche Beobachtungen berichten von chaotischen Zuständen, welche den vorgeprägten Eindruck mangelnder Zivilisation und archaischer Wildheit zu bestätigen schienen. Beim Blick auf die Umweltbedingungen entsteht jedoch ein komplexeres Bild. Dynamik und Flexibilität sind grundlegende Eigenschaen afrikanischer Gesellschaen. Zwar wurden die Anpassungsfähigkeiten bisweilen stark idealisiert und zu optimistisch beschrieben, dennoch bestätigt die Forschung zum 19. Jahrhundert einen hohen Grad von Anpassungsfähigkeit im Umgang mit neuen Herausforderungen²¹⁶. Eine solche Flexibilität suggeriert einerseits Instabilität und Flüchtigkeit, wir jedoch andererseits die Frage danach auf, wie unter wechselhaen Bedingungen soziale Kohäsion hergestellt und aufrecht erhalten werden konnte²¹⁷. Unsichere Lebensbedingungen waren für die ostafrikanische Bevölkerung keine neue Erfahrung. Sie waren die eine Seite der Medaille, an deren anderer Seite sich die Bindungskräe befanden, die es im Folgenden zu analysieren gilt. Zunächst wird dabei ein Blick auf die Kulturgeographie Ostafrikas gerichtet. Belege für verschiedene Formen sozialer Organisation auf lokaler und regionaler Ebene finden sich in vielen Berichten aus dem 19. Jahrhundert. Dort werden kleine Siedlungen oder Ansammlungen kleiner Siedlungen beschrieben, deren geographische Lage sich aufgrund der landwirtschalichen Situation verändern konnte²¹⁸. Entsprechend dieser Siedlungsstrukturen waren ostafrikanische Gesellschaen dezentral organisiert. In weiten Teilen Ostafrikas herrschten politische und soziale Ordnungen vor, die als »akephal« oder »segmentär« bezeichnet wurden. Dabei erkannten die Beobachter verschiedene Arten von Verbindungen zwischen den einzelnen Siedlungen einer Region: »Dorf ist mit Dorf verbunden, jeder Stamm mit seinem Nachbarstamm und darum mit allen anderen«²¹⁹.

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Vgl. Koponen: War, Famine, and Pestilence in Late Precolonial Tanzania: A Case for a Heightened Mortality, S. 675f. Vgl. Jan Philipp Reemtsma: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008, S. 32. Siehe Isichei: A history of African societies to 1870, S. 78f. Falkenhorst: Schwarze Fürsten. Bilder aus der Geschichte des dunklen Erdteils, S. 13). Siehe auch: J. B. Griffiths: Glimpses of a Nyika Tribe (Waduruma), in: e Journal of the Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland 65 (1935), S. 267–296, hier S. 279.

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Ostafrikanische Gruppen und politische Strukturen im 19. Jahrhundert

Die Anordnung der einzelnen »Familienwohnungen«²²⁰ konnte sich ggf. schnell verändern²²¹. In den unterbevölkerten Regionen Ostafrikas bot sich stets die Möglichkeit, sich als kleine Gruppe abzuspalten und eigene Siedlungen (Kraal) zu errichten²²². Solche Einzelsiedlungen blieben allerdings vielfältig mit ihrer Umgebung verbunden. In kleinen, lokalen Gemeinschaen wurde Arbeitskra kontinuierlich gebraucht, zu kleine Gruppen konnten nur schwer überleben, wenn sie sich abgespalten hatten und waren daher auf die Integration in Netzwerke angewiesen²²³. Die Zugehörigkeit einzelner Personen zu größeren sozialen Entitäten bot Orientierung im engeren sozialen Umfeld und die Möglichkeit zur Kommunikation und Kooperation im regionalen und überregionalen Bereich. Die Sozialstruktur wurde als »[...] small patrilineal units [...] related by a kinship network«²²⁴ bezeichnet. Diese Netzwerke aus Verwandtschas- und Kientelbeziehungen dienten als Orientierung und Ressource. So berichtete Friedrich Fülleborn von der Verwendung von Bezeichnungen für Familienverbände als Identifikation auf Reisen: Jene Bezeichnung werde »[...] gleichsam zur Parole für die weitverzweigte Familie und dient auf Reisen und bei fernen Begegnungen als Erkennungszeichen der Familienverwandtscha.«²²⁵ Solche Verzweigungen schlugen sich in einer Fülle von Begriffen und Bezeichnungen nieder: Komplexe Netzwerke von Begriffen bildeten ebenso komplexe und sich überlappende soziale Netzwerke ab²²⁶. Im Bereich der engeren sozialen Beziehungen wurden differenzierte Wortfelder für Verwandtschaen dokumentiert, welche die Komplexität dieser sozialen Räume spiegeln²²⁷. Physische Nähe und verwandschaliche Nähe wurden in diesem Zusammenhang o beobachtet, so 220 221

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C. W. Werther: Zum Victoria Nyanza. Eine Antisklaverei-Expedition und Forschungsreise, eine Antisklaverei-Expedition und Forschungsreise, 1894, S. 261. Siehe Jan Vansina: How to distil Words and obtain Culture History, in: History in Africa 33 (2006), S. 499–511, hier S. 51 sowie Gerhard Hauck: Gesellscha und Staat in Afrika, Frankfurt a.M. 2001, S. 35ff. Vgl. Spear: e Mijikenda in the 19th century. Paper given at University of Nairobi, October 1971. Original Manuscript, S. 2. Siehe auch: Werther: Zum Victoria Nyanza. Eine AntisklavereiExpedition und Forschungsreise, S. 261, Edward C. Hore: On the Twelve Tribes of Tanganyika, in: e Journal of the Anthropological Institute of Great Britain and Ireland 12 (1883), S. 2–21, hier S. 6 sowie Griffiths: Glimpses of a Nyika Tribe (Waduruma), S. 279. Vgl. Monica Wilson: For men and elders. change in the relations of generations and of men and women among the Nyakyusa-Ngonde people 1875-1971, London 1977, S. 101 sowie Ambler: Kenyan communities in the age of imperialism, S. 17. Kenneth Okeny: State formation in Acholi: e Emergence of Obbo, Pajok and Panyikwara states, c.1679-1914, Magisterarb., University of Nairobi, 1982, S. 151. Fülleborn: Das deutsche Njassa- und Ruwuma-Gebiet, Land und Leute, nebst Bemerkungen über die Schire-Länder, S. 41. Siehe hierzu auch: Gutmann: Das Recht der Dschagga, S. 1ff. Vgl. Lentz: Ethnizität und die Interpretation der Vergangenheit, S. 149. Eine Übersicht der Verwandschasterminologie für das Nyamwezi-Gebiet liefert bspw. Achim Gottberg: Unyamwesi. Quellensammlung und Geschichte, Berlin 1971, S. 144f. oder Carl Vel-

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dass sich Strukturen herausprägen konnten, welche soziale Integrität stärkten²²⁸. Dabei wurden zahlreiche Bezeichnungen für die einzelnen Gruppen überliefert, die wiederum größeren ethnischen Verbänden zuzuordnen seien. So zählte der Historiker Maurice Nakitare 42 Clans, die zusammen die Gruppe der Abatachoni ausmachten²²⁹. Wie bereits gezeigt, ist die Methode der Einordnung einzelner Gruppen in statische, an Baumstrukturen orientierte Vorstellungen ethnischer Verbände für das 19. Jahrhundert nicht nutzbar und die Existenz übergeordneter Ethnien für diese Zeit nicht zu belegen bzw. führt meist eher in die Irre als zu einem Erkenntnisgewinn. Die zahlreichen überlieferten Einzelbezeichnungen für kleinere Gruppen liefern jedoch einen Einblick in lokale Verhältnisse. Eine genauere Beschreibung dieser Strukturen lieferte der britische Reisende und Elfenbeinhändler John Boyes, der im Jahr 1898 nach Zentralkenia reiste und einige Jahre in lokalen Gemeinschaen des Kikuyu-Gebiets lebte: »Living, as I did, in close touch with the everyday life of the natives, I became well acquainted with their manners and habits of living, and I also managed to learn a good deal of their genealogy. I found that the Kikuyu tribe was divided into a number of clans, or mahirriga, each of which bore a distinctive heraldic sign on their shields. e origin of these clans was wrapped in mystery, none of the natives with whom I discussed the question being able to tell me how they originally came into existence, or what was their real purpose. e word ’clan,’ as we understand it, suggests unity and combination, but this certainly was not the interpretation of the term accepted by the members of these Kikuyu clans, the members of which were mixed up indiscriminately, and scattered all over the country. ey all knew to which of the clans they belonged, and there the connexion seemed to end, so far as I could gather.«²³⁰ Boyes betont bereits die Dynamik, Flexibilität und Offenheit dieser Strukturen und den Gegensatz zu einem europäisch geprägten Verständnis sozialer Kohärenz und Abgrenzung. Ferner betont er die Schwierigkeit der Benutzung europäischer Konzepte und Vorstellungen sowie deren Unvereinbarkeit mit der von ihm wahrgenommenen sozialen Realität. Während er eine ethnische Konzeption mit dem Begriff »Kikuyu« in Verbindung bringt, assoziiert die jüngere Forschung diese Bezeichnung mit einem starken Ortsbezug. Demnach gelte die Bezeichnung

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ten: Grammatik des Kinyamuesi, der Sprache der Wanyamuesi in Deutsch-Ostafrika, speciell des Dialektes von Unyanyembe, nebst einem Wortverzeichnis kinyamuesi-deutsch und deutsch-kinyamuesi, Göttingen 1901, S. 89ff. Siehe Michael G Kenny: e Wasaki War: An Oral Narrative of Southwestern Kenya, in: John Lamphear (Hrsg.): African Military History, Hampshire et.al. 2007, S. 441–457, hier S. 443. Vgl. Nakitare: A pre-colonial history of Abatachoni, 1500-1900 AD, S. 19. Boyes: King of the Wa-Kikuyu, S. 259f.

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»Kikuyu« für die Bewohner der Gegenden um Mount Kenya und sei nicht weiter ethnisch definiert²³¹. Gemeinsame Identitäten waren auch in anderen Teilen Ostafrikas nicht klar ausgeprägt und konnten auf einer Reihe verschiedener Aspekte basieren²³². So spielte bei der Ausprägung lokaler Identitäten offenbar neben biologischer oder imaginierter Verwandtscha das Land selbst oder auch die Verbindung zu anderen Gruppen eine Rolle. In den kenianischen Hochländern um den Meruberg bezogen sich die ansässigen Familien auf den von ihnen bewohnten und bewirtschaeten Bergrücken (Mwiriga). Im Handel sowie bei Notlagen oder kriegerischer Bedrohung konnte man sich zusammenschließen und neue, zweckgebundene Verbindungen eingehen²³³. Die einzelnen Verwandtschasgruppen (Etuka) verfügten über das Land und trafen gemeinsame Entscheidungen²³⁴. Für die Gebiete westlich des Mt. Kenya dokumentiert der Historiker Peter Ndege für das späte 19. Jahrhundert regionale Gruppenidentitäten (Iloshon): »[...] the following iloshon had emerged [...]: Iloitokitoki, Ilaikipiak, Ildalat-le-kutuk, Ildamat, Ilkaputiei, Ilkekonyokie, Ilmatapato, Iloita, Iloodo-Kilani, Ilaitayoik, Ilpurko, Ilsikirari, Siria, Ilwuas Nkishu, Ilmoitanik, Ilkisongo, and Ilparakuyu«²³⁵ Im Osten Tansanias beobachtete David Livingstone die Einbindung einzelner Personen in den Kontext einer definierten sozialen Einheit: »Nsama is of the Babemba family. Kasonso, Chitimba, Kiwé, Urongwé, are equals and of one family, Urungai«²³⁶. In den nordwestlichen Gebieten Kenias wurden die einzelnen Dörfer als Gwenge bezeichnet. Sie galten als offen zusammengesetzte Siedlungsformen, die sich zu regionalen Gemeinschaen (Piny) zusammenschließen konnten. Für das 19. Jahrhundert wurden die Piny mit den Bezeichnungen Asembo, Uyoma, Sakwa, Gem, Alego, Nyakach, Kano, Ugenya, Kisumo, Seme, Karachuonyo, Karungu 231 232 233 234 235 236

Siehe insbes. Ambler: Kenyan communities in the age of imperialism, S. 23. Vgl. ebd., S. 4. Vgl. Jeffrey Fadiman: e moment of conquest : Meru, Kenya, 1907, Athens / Ohio 1979, S. 3. Siehe Hahner-Herzog: Tippu Tip und der Elfenbeinhandel in Ost- und Zentralafrika im 19. Jahrhundert, S. 232 sowie ebd., S. 238. Peter Ndege: Olonana Ole Mbatian, Nairobi et. al. 2003, S. 7 David Livingstone: e last Journals of David Livingstone, in Central Africa, from 1865 to his death, hrsg. v. Horace Waller, London 1874, S. 187f. In seinem Tagebuch beschrieb er die Besuche einzelner Mitglieder dieser Gruppen und deren Zugehörigkeiten: »I was visited by an important chief called Chapé, who said that he wanted to make friends with the English. He, Chisapi, Sama, Muabo, Karembwé, are of one tribe or family, the Oanza [...]«, ebd., S. 220. Für weitere Beschreibungen lokaler Verwandtschasbeziehungen und ihrer Rolle siehe z.B. Ethel Younghusband: Glimpses of East Africa and Zanzibar, London 1910, S. 33 sowie A. C. Beaton: e Bari: Clan and Age-Class Systems, in: Sudan Notes & Records 19 (1936), S. 109–145, hier S. 57, Godfrey Muriuki: e Kikuyu in the pre-colonial period, in: B. A. Ogot (Hrsg.): Kenya before 1900, Nairobi 1978, S. 126, Kallenberg: Auf dem Kriegspfad gegen die Massai. Eine Frühlingsfahrt nach Deutsch-Ostafrika, S. 96, Boyes: King of the Wa-Kikuyu, S. 303 und BArch, Signatur: R 1001 / Bd. 4998.

Grundzüge nichtstaatlicher Gesellschaften im 19. Jahrhundert

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und Kadem überliefert²³⁷. Solche Zusammenschlüsse waren o Gegenstand ethnologischer Forschung. Die Ethnologin Iris Hahner-Herzog beschreibt die Sozialstrukturen Ostafrikas im 19. Jahrhundert wie folgt: »Als gemeinsames Merkmal dieser Ethnien sind ihre in weiten Zügen ähnlichen sozialen und politischen Strukturen zu nennen, die in erster Linie auf Dorfebene zum Tragen kamen und die auf einem segmentären Lineagesystem, zum Teil mit einem ausgeprägten Bundwesen verknüp, basierten«²³⁸. Die Terminologie spiegelt eine »[...] komplexe Welt sich überschneidender, vielschichtiger und wechselhaer Assoziationen [...]²³⁹. Die einzelnen Gruppen waren o nicht klar voneinander abgrenzbar und fluide²⁴⁰. Klientelbeziehungen überlagerten sich bisweilen²⁴¹, die Integrität der Gruppen scheint zu verschwimmen und kaum greiar. Auch Vorstellungen der Herrscha wirken vieldeutig und ambivalent²⁴². Andererseits waren die beschriebenen Gruppen und Netzwerke offenbar außerordentlich stabil und anpassungsfähig. Rückschlüsse auf den Hintergrund dieses vermeintlichen Widerspruchs ergeben sich beim Blick auf die Phänomene hinter den Verbindungen und die Mechanismen, welche die Identität solcher Gruppen und Netzwerke dauerha zu stabilisieren vermochte. Bei der Ausprägung der Iloshon spielten wirtschaliche Faktoren ebenso eine Rolle wie die Lösung bzw. Vermeidung von Konflikten um Viehnutzung und Nutzung der natürlichen Ressourcen²⁴³. Kooperationen über die lokale Ebene hinaus waren verbreitet und angesichts der Lebensbedingungen immer wieder notwendig. Hatten sich die Umweltbedingungen verändert, konnte Migration zu einem identitätsstienden Faktor werden: »e Kipchornwonek formed as a separate group because individuals from several Mareshionik lineages migrated into the forests south of where they lived in the Okiek age-set of Ilpeles (c. 1866-1870) in response to what is remembered as a catastrophic period for the Okiek, when as many as half of them died. ey believe it may have been caused by a depletion of game and honey brought on by a severe drought, 237 238 239 240 241 242

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Vgl. Bethwell A. Ogot: A history of the Luo-speaking peoples of eastern Africa, 2009, S. 34. Hahner-Herzog: Tippu Tip und der Elfenbeinhandel in Ost- und Zentralafrika im 19. Jahrhundert, S. 253. »[...] complex world of overlapping, layered, and shiing associations«, Ambler: Kenyan communities in the age of imperialism, S. 32, meine Übersetzung. Vgl. ebd., S. 4. Vgl. ebd., S. 18 Vgl. Jan-Georg Deutsch: Sklaverei als historischer Prozess, in: Albert Wirtz; Jan-Georg Deutsch (Hrsg.): Geschichte in Afrika. Einführung in Probleme und Debatten, Berlin 1997, S. 53–74, hier S. 53. Vgl. Ndege: Olonana Ole Mbatian, S. 7.

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though it is known that at that time (1869-70) a severe epidemic of cholera swept this area of Kenya«²⁴⁴. Neben den bereits gezeigten Veränderungen im Handel künden mündlich weitergegebene Berichte von häufigen Hungersnöten, Epidemien oder anderen Notsituationen, die Migrationsbewegungen verursachten. Solche Ereignisse konnten dazu führen, dass sich Klan- und Lineagestrukturen weit verstreuten²⁴⁵. Für das Verständnis dieser Phänomene empfiehlt sich daher ein Denken »[...] in Bildern von Netzwerken und Clustern, Zentren und Peripherien [...]²⁴⁶. Die wechselhaften Lebensbedingungen Ostafrikas erforderten es, auf externe Impulse immer wieder schnell und effektiv reagieren zu können. Gleichzeitig musste lebenswichtiges Wissen bewahrt, das soziale Miteinander aufrecht erhalten und wirtschaliche Beziehungen gepflegt werden. Auf die beiden o miteinander verknüpen Phänomene gesteigerter Mobilität und einer natürlichen Umgebung, die von stark wechselhaen Bedingungen charakterisiert war, reagierten Ostafrikaner mit verschiedenen Strategien. Grundlegendes Element sozialer Stabilisation und »[...] (gesellschalicher) Organisation von Verwandtschasverhältnissen [...]«²⁴⁷ war dabei das Ritual. Der Historiker Gerd Althoff beschreibt die Rolle von Ritualen in Gesellschaften am Übergang zwischen Mündlichkeit und Schrilichkeit. Seine Erkenntnisse können auch für den hier behandelten Kontext fruchtbar gemacht werden. So charakterisiert Althoff Rituale als Phänomene, die klar vom modernen Verständnis unreflektierter, sinnentleerter Abläufe abzugrenzen sind. Stattdessen spricht er von Vorgängen, die eine Reihe kommunikativer Ebenen im öffentlichen Raum beinhalten. Besondere Relevanz bekommen Rituale im Kontext zentraler Brüche und Übergänge im Leben²⁴⁸: »Einer neuen Situation und der durch sie gegebenen Unsicherheit oder Gefährdung begegnen Menschen offensichtlich gerne mit rituellen Verhaltensmustern, um den individuellen Übergang in ein überindividuelles Ordnungsmuster einzufügen«²⁴⁹. Ein genauer Blick auf die Rituale ostafrikanischer Gesellschaen ermöglicht daher die Rekonstruktion solcher Ordnungsmuster. Wie der Historiker Jonathon Glassman bereits vorschlug, ist es möglich, das Szenario öffentlicher Rituale unter Berücksichtigung kultureller Symboliken neu zu deuten. Durch die Analyse der symbolischen Handlungen und Interaktionen 244 245 246 247 248 249

R.H. Blackburn: Okiek History, in: B. A. Ogot (Hrsg.): Kenya before 1900, Nairobi 1978, S. 53– 83, hier S. 69. Siehe auch: Beaton: e Bari: Clan and Age-Class Systems, S. 109ff. Lentz: Ethnizität und die Interpretation der Vergangenheit, S. 151. Deutsch: Sklaverei als historischer Prozess, S. 59. Vgl. Gerd Althoff: Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrscha im Mittelalter, Darmstadt 2013, S. 10ff. ebd., S. 22. Grundlegend siehe hierzu auch: Christiane Brosius; Axel Michaels; Paul Schrode (Hrsg.): Ritual und Ritualdynamik. Schlüsselbegriffe, eorien, Diskussionen, Göttingen 2013.

Grundzüge nichtstaatlicher Gesellschaften im 19. Jahrhundert

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bildeten sich soziale Beziehungen, Weltdeutungen, Autoritätsbeziehungen und gegenwärtige Konfliktfelder zwischen einzelnen Gruppen innerhalb der Gemeinscha: »Diskursive Auseinandersetzung über Rituale waren ein maßgebliches Forum für die Anfechtung der Macht«²⁵⁰. Sie konnten zu Ritualen der Rebellion umgeformt, damit gleichsam zu Blaupausen auommender Konflikte werden²⁵¹ und somit Wandel abbilden. Andererseits konnten sie auch zur Stabilisierung und Festigung bestehender Gemeinschaen beitragen, wenn sie als mystische Reinigung der Gemeinscha fungierten oder Sozialordnungen evozierten. So wurden Gruppenidentitäten geprägt und mit kultureller Symbolik angereichert. Das beinhaltete Fruchtbarkeitsrituale ebenso wie wirtschaliche Transaktionen und die Beilegung von Konflikten unter der Aufsicht lokaler Autoritäten²⁵². Zeitlichkeit ergab sich durch die Orientierung der Riten an natürlichen Kreisläufen und Jahreszyklen²⁵³. So wurden sie zu Bezugspunkten für zeitliche Veränderungen und soziale Übergänge²⁵⁴. Ein Bezug zur Vergangenheit und den eigenen Vorfahren wurde ebenso hergestellt, wie auch konkretes Handeln für bevorstehende Aktionen eingeübt wurde. In rituellen Zusammenkünen bot sich ein Rahmen zur Herstellung von sozialer Stabilität. Zentral war dabei die Rolle der Gewalt, welche dabei als konstituierender Faktor für neue soziale Verhältnisse in Erscheinung trat²⁵⁵. Sie wurde dabei vielfältig umgeformt, von verschiedenen Parteien ausgeübt und mit unterschiedlichen Inhalten verknüp. Davon wird noch genauer zu Reden sein. Rituelle Zusammenküne boten jedoch nicht nur Gelegenheit, Bestehendes fortzuschreiben. Sie dienten besonders auch dazu, Gegebenes neu zu verhandeln und Neues einzubringen. Jonathon Glassman wies darauf hin, dass bisherigen Studien o Vorstellungen einer binären Aueilung von Tradition und Veränderung inhärent waren²⁵⁶. Wie noch genauer zu erläutern sein wird, herrschte in ostafrikanischen Gemeinschaen eine Tradition ständiger Neuausrichtung. Dabei waren Riten und andere kommunale Zusammenküne weniger die Inhalte, die verhandelt wurden, sondern boten den Kontext für Neuverhandlung bzw. Festigung. Sie waren Rahmen und Gelegenheit für das Aufeinandertreffen von Hergebrachtem und Neuem, womit sie zu Kristallisationspunkten der Transformation wurden. 250 251 252 253 254 255

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»discursive struggle over ritual constituted a major forum for the contestation of power (Glassman: Feasts and riot, S. 23), meine Übersetzung. Vgl. ebd., S. 164. Vgl.ebd., S. 170. Vgl. ebd., S. 41. Siehe z.B. Claud Hamilton: Maasai. Manuscript, RhArch, Signatur: MSS Afr s 1810/1, ca. late 1960s, S. 204. Vgl. Rolf Peter Sieferle/Helga Breuninger (Hrsg.): Kulturen der Gewalt, Frankfurt [u.a.] 1998, S. 12. Siehe hierzu auch: Mark F. Chingono: e state, violence and development. e political economy of war in Mozambique, 1975-1992, Aldershot [u.a.] 1996, S. 266 sowie Michael Riekenberg: Einführende Ansichten der Gewaltsoziologie Georges Batailles, in: ders. (Hrsg.): Zur Gewaltsoziologie von Georges Bataille, Leipzig 2012, S. 9–34, hier S. 13. Siehe Glassman: Feasts and riot, S. 11.

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Ostafrikanische Gruppen und politische Strukturen im 19. Jahrhundert

Somit widersetzt sich die historische Praxis einer klaren Aueilung in kalte Gesellschaen, die sich gegen Wandel abschotten und heiße Gesellschaen, welche ihn anstreben²⁵⁷. Ostafrikanische Riten konnten sowohl zur Abschottung gegen Wandel und exogene Einflüsse genutzt werden als auch, um den Wandel voranzutreiben. Sie umfassten die gesamte lokale Gemeinscha und kombinierten festgelegte Abläufe, Feier und Festmahl²⁵⁸. Riten dienten verschiedenen Zwecken und Zielen. Sie waren dabei keine statischen, sinnentleerten Abläufe nach festen Vorgaben, sondern konnten flexibel an wechselnde exogene Impulse angepasst und mit neuem Sinn gefüllt werden²⁵⁹. Dabei entfalteten sie eine große Wirkmächtigkeit auf bestehende Sozialstrukturen: »Ritual is the most passionate, least selfconscious bond of all; it is an emotional unity achieved through drama«²⁶⁰. Rituelle Zusammenküne wurden im 19. Jahrhundert häufig beobachtet, beschrieben und gedeutet. O wurden die Inhalte missverstanden, dämonisiert oder die Rituale pauschal als sinnlose Feiern abgetan. In Reiseberichten und Missionstagebüchern sind sie dennoch allgegenwärtig. Der Missionar Johann Ludwig Krapf lieferte eine ausgiebige Beschreibung der Vorbereitung und des Ablaufs eines solchen Festes. Sein Tagebucheintrag vom 4. Februar 1847 schildert: »Nachdem die Weiber die Wege des Dorfs von Gras u.s.w. gereinigt hatten, erschienen die Aeltesten Nachmittags mit sonderbaren Instrumenten, welche einen Ton gaben, der dem Geräusch einer hinund hergeworfenen Weberspule sehr ähnlich war. [...] Die Aeltesten begaben sich dann nach dem Moroni oder Rathhaus, wo der Muansa wa Kurri bereits zu spielen oder vielmehr zu brummen angefangen hatte. Mit Anbruch der Nacht wurde das Schreien, Tanzen, Singen, Jauchzen der Aeltesten und das Brummen des Muansa furchtbar. Dieser wilde Lärm dauerte die ganze Nacht hindurch, so daß ich o vom Schlafe aufgeweckt wurde, wenn die blinden und eifrigen Diener des Muansa an meinem Hause vorüberzogen. Natürlich stärkten sie sich von Zeit zu Zeit mit einem tüchtigen Zug Palmwein, der die sinkenden Kräe der rasenden Wanika wieder anfachte. [...] Auf meine Frage, was denn der Muansa eigentlich sei und zu bedeuten habe, antwortete ein Mnika, er könne es nicht sagen, denn Niemand außer den Aeltesten dürfe das Instrument sehen. [...] Ueberhapt bildet der Muansa den Mittelpunkt ihres bürgerlichen und religiösen Lebens. Wenn die Wanika opfern und um Regen beten, oder wenn 257 258 259

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Siehe Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken, Frankfurt am Main 1973, S. 270. Vgl. Glassman: Feasts and riot, S. 161. Vgl. hierzu auch: Althoff: Die Macht der Rituale, S. 10ff. Siehe auch: John Galaty: Maasai Expansion & the New East African Pastoralism, in: omas T. Spear/Richard D. Waller (Hrsg.): Being Maasai, Oxford [u.a.] 1993, S. 61–85, hier S. 176. Richard Sennett: Authority, New York [u.a.] 1993, S. 4.

Grundzüge nichtstaatlicher Gesellschaften im 19. Jahrhundert

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sie neue Gesetze einführen, so wird immer der Muansa in Bewegung gesetzt«²⁶¹. Rituelle Zusammenküne auf eigens dafür hergerichteten Plätzen (Unyangoma²⁶²), meist im Zentrum der Siedlung²⁶³, ermöglichten es, der Instabilität zu begegnen und auf die hohe Mobilität der Bevölkerung zu reagieren. So dienten manche Riten der Integration neu angesiedelter Personen und ermöglichten eine gewisse Durchlässigkeit familiärer Strukturen. Die Zugehörigkeit zu einem Familienverband richtete sich nicht notwendigerweise nach der biologischen Verwandtscha, sondern nach der sozialen Akzeptanz der Gemeinscha. Sie konnte durch Riten hergestellt werden. Auf diese Weise lassen sich flexible Strukturen erklären, die eine hohe Fluktuation der Beteiligten ermöglichten und auch außenstehende Personen integrieren konnten²⁶⁴. Es entstanden symbolische Bindungen, wie sie in Ostafrika immer wieder dokumentiert wurden. Solche offenen Strukturen ermöglichten die schnelle Schaffung neuer Bindungen und die Anpassung an Veränderungen. Auf diese Weise entstanden Klientelbeziehungen, die sich räumlich weit ausbreiten konnten. Auch bei Unfruchtbarkeit oder Kindstod konnten Kinder anderer Siedlungen rituell integriert werden, was in einer Umgebung mit Unterbevölkerung und hoher Kindersterblichkeit zur sozialen Stabilität beitragen konnte²⁶⁵. Riten konnten also die Gemeinscha nach innen stärken und für die Stabilität der Familienverbände sorgen²⁶⁶. Durch Riten konnten aber auch regionale Verbindungen geknüp und gestärkt werden, indem Gruppen junger Männer im Rahmen eines Ritus durch benachbarte Dörfer zogen, tanzten und

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Krapf: Reisen in Ostafrika ausgeführt in den Jahren 1837-1855, S. 312ff. Ähnliche Schilderungen siehe z.B. Becker: Anfänge in Usambara - Briefe und Tagebuchberichte. Eintrag v. 22. Oktober 1893, VEM, Signatur: M543 / M III 2.1 Bd. 1 1893 sowie Carl Claus von der Decken: Reisen in Ost-Afrika in den Jahren 1859-1865, hrsg. v. Adelheid von Pless, S. 215. Siehe auch: omas T. Spear: e Kaya Complex. a history of the Mijikenda peoples of the Kenya Coast to 1900, Nairobi 1978, S. 1. Wörtlich: »e Place of Drums« (Livingstone: e last Journals of David Livingstone, in Central Africa, from 1865 to his death, S. 418). Im Westen Kenias bspw. als Duol bezeichnet (Siehe Ogot: A history of the Luo-speaking peoples of eastern Africa, S. 32). Vgl. Isichei: A history of African societies to 1870, S. 78ff. sowie Speitkamp: Kleine Geschichte Afrikas, S. 31. Das Phänomen einer rituellen Form symbolischer Verbindungen zu Kindern, die nicht die Eigenen waren, wurde bereits vor dem 19. Jahrhundert beobachtet, siehe A.W. Schleicher (Hrsg.): Geschichte der Galla. Bericht eines abessinischen Mönches über die Invasion der Galla im sechzehnten Jahrhundert, Berlin 1893, S. 16 Anm. 1. Siehe hierzu auch: Otto Bischoerger: e generation classes of the Zanaki (Tanzania), Fribourg 1972, S. 28. Siehe z.B. Lea Sigei: Some Customs of the Elgeyo Chepkorio, UoN, Signatur: UCN/HD - RPA B/2/2, S. 12, Tarus: An Outline of the Keiyo people from c.A.D. 1700 to 1919, S. 65, Odongo/Webster: e Central Lwo During the Aconya, S. 311 und Satish Saberwal: e traditional political system of the Embu of Central Kenya, Nairobi 1970, S. 16.

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Ostafrikanische Gruppen und politische Strukturen im 19. Jahrhundert

Brautwerbung betrieben²⁶⁷ oder rituelle Verwandtschaen zwischen verschiedenen Siedlungen geknüp wurden. Rituale bündelten die Kräe, welche ostafrikanische Gemeinschaen miteinander verbanden: »[...] kinship, marriage, friendship, mutual confidence in healers and diviners, shared myths and names of putative descent groups, political alliances, patronage, reciprocal exchanges, and trade [...]«²⁶⁸. Veränderungen in rituellen Abläufen, beteiligten Personen und kultureller Symbolik im Kontext von Ritualen bilden daher eine wichtige Kontrastfolie für die Untersuchung von Beharrungs- und Veränderungskräen. Wir müssen sie auch im Folgenden immer wieder in die Betrachtungen einbeziehen und im Blick behalten. Für die Lebensbedingungen ermöglichten Riten ferner eine organisierte Wissensweitergabe und die Ansammlung von Wissen, welches lebenswichtig sein konnte: Die in großen Teilen Ostafrikas nur wenig fruchtbaren Bodenverhältnisse erforderten fundierte Kenntnisse im Anbau von Nutzpflanzen, die o mangelnde Nahrungsversorgung Kenntnisse über die erfolgreiche Jagd. Dieses Wissen war Teil eines Korpus mündlich weitergegebener Traditionen, die im Umfeld zentraler Riten weitergegeben wurden. Ein häufiger Anlass ritueller Feiern war die Veränderung des sozialen Status einer Person bzw. meist einer Gruppe von Personen. Dabei knüpen die Riten an das Alter der Person bzw. Gruppe und sorgten so für eine kohärente Altersordnung, die quer zu Verwandtschas- und Klientelbeziehungen verlief und einen weiteren Orientierungsfaktor bot. Die Weitergabe der Traditionen erfolgte von älteren, gesellschalich höher gestellten Personen, die eine entsprechende Respekts- und Autoritätsstellung inne hatten. Es lohnt sich daher, die Verbindungslinien zwischen den Älteren und den Jüngeren näher zu betrachten. Dabei wird es zunächst nötig sein, das Phänomen der Seniorität als gliederndes Element der gesellschalichen Strukturen in den Blick zu nehmen: wie wurde der Respekt vor dem Älteren ausgedrückt, welche Rolle spielte er im täglichen Umgang und wie manifestierte sich Seniorität? Dazu muss untersucht werden, auf welcher Basis Einzelne und Gruppen Seniorität erlangten und woraus sie gespeist wurde. Dabei spielten besonders die Faktoren ritueller Status, Fruchtbarkeit, zugeschriebene mystische Kräe und tradiertes Wissen eine Rolle.

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Vgl. Paul T. W. Baxter: Boran Age-Sets and Generation-Sets: Gada, a Puzzle or a Maze?, in: ders. (Hrsg.): Age, Generation and Time: some features of East African age organizations, New York 1978, S. 151–182, hier S. 172. James L. Giblin: e Politics of Environmental Control in Northeastern Tanzania, 1840-1890, Philadelphia 1992, S. 15.

3 Alter und Generation in Ostafrika

3.1 Seniorität als gesellschaftliches Strukturprinzip »Iok-toi kiplengoi pello; Send hares to the elephant, not elephants to the hare. [It is the duty of children to wait on elders, not elders on children. Seniores priores.]«²⁶⁹

Der Vorrang älterer Personen war stets präsent. Dabei ging es nicht nur um die Ältesten einer Gemeinscha, sondern auch um Personen, die innerhalb der Altershierarchie einen höheren Rang zugewiesen bekamen. »Ehrfurcht vor dem Alter«²⁷⁰ war eine wichtige soziale Konvention. Ethnologische Studien des 20. Jahrhunderts belegten eine feingliedrige Unterteilung einzelner Segmente der Altersgruppen, die nach dem Prinzip der Seniorität funktionierte²⁷¹. Auch in den Quellen des 19. Jahrhunderts finden sich bereits Hinweise auf solche Unterteilungen. Sie basierten auf dem grundlegenden Konzept von Respekt (Enkanyit²⁷² bzw. Okusuuka²⁷³), der Personen mit entsprechender Stellung erwiesen werden musste²⁷⁴. Demgemäß war es wichtig, eine gehobene soziale Position zu erlangen²⁷⁵. Neben gruppenbezogenen Ehrkonzepten diente der persönliche Rang (Nyangi) als Basis für den Einfluss einer Person²⁷⁶. Innerhalb der Kriegergruppe konnte Kriegerehre und Nyangi dazu führen, Anerkennung als Anführer (Athamaki) zu 269 270 271 272

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Vgl. Hollis: e Nandi, S. 125. Siehe hierzu auch: Veena Sharma: Folk Tales of East Africa, New Delhi 1987, S. 5. A. Oberlein: Die Nyamwezi, HrArch, Signatur: NB.VII.R.2.89y/1, S. 16. Siehe auch: Griffiths: Glimpses of a Nyika Tribe (Waduruma), S. 281. Siehe z.B. Baxter/Almagor (Hrsg.): Age, Generation and Time: some features of East African age organisations. John Galaty: Introduction, in: Tepilit Saitoti (Hrsg.): e Worlds of a Maasai Warrior, Berkeley 1988, S. xx. Siehe hierzu auch: Mwaniki: e living history of Embu and Mbeere to 1906, S. 103 sowie Sigei: Some Customs of the Elgeyo Chepkorio, S. 18. Bischoerger: e generation classes of the Zanaki (Tanzania), S. 67 Siehe Werther: Zum Victoria Nyanza. Eine Antisklaverei-Expedition und Forschungsreise, S. 180. Vgl. hierzu auch: Tarus: An Outline of the Keiyo people from c.A.D. 1700 to 1919, S. 77 sowie Wilson: For men and elders, S. 103f. und Gottberg: Unyamwesi, S. 130. Vgl. Jomo Kenyatta: Facing Mt. Kenya, 1965, S. 192. Vgl. Bischoerger: e generation classes of the Zanaki (Tanzania), S. 22.

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Alter und Generation in Ostafrika

erlangen und eine Autoritätsposition aufzubauen²⁷⁷. Der britische Rechtshistoriker Sir Henry Maine untersuchte, welche Bedeutung die persönliche Autorität in Gesellschaen ohne kodifiziertes Recht hatte. Als Basis für diese Autorität sah er die Einflussmöglichkeiten und Privilegien der Familie an und kam zu dem Schluss, dass der persönliche Status der Beteiligten eine zentrale Rolle für den Ausgang von Verhandlungen und Einigungen jedweder Art hatten²⁷⁸. In ostafrikanischen Gesellschaen war Seniorität eine der Grundbedingungen für Status und Autorität einer Person²⁷⁹. Sie war die Basis für eine komplexe Kombination von Attributen, die an der Erlangung spezieller Ziele orientiert war²⁸⁰. Persönlicher Rang und Einfluss war eines dieser Ziele, die über tradierte Altershierarchien erreicht werden konnten. Basierend auf Seniorität, zugeschriebenem Status und der Kontrolle von Ritualen und Traditionen übten lokale Anführer ihren Einfluss aus²⁸¹. In öffentlichen Zusammenkünen spiegelten sich diese sozialen Ordnungen, wodurch sie zu wichtigen Foren für die Verhandlung und Bestätigung persönlicher Ehre und den Status innerhalb der Gemeinscha wurden. In Riten und Tanzfesten (Ngoma) wurden Privilegien und persönlicher Rang sowohl abgebildet als auch verliehen und gefestigt. Diese öffentlichen Veranstaltungen wirkten als Verhandlungsräume für die Distinktion einzelner Mitglieder oder Gruppen. Personen mit einem hohen sozialen Rang handelten aus einer Position der Seniorität und fungierten als Spender von Einzelprivilegien für jüngere Krieger, die sich hervorgetan hatten. Seniorität diente ferner als Grundlage für die Aufgabenverteilung innerhalb der Gemeinscha, so dass mit wachsender Seniorität die Einflussmöglichkeiten größer wurden und Aufgabenbereiche sich verlagerten²⁸². Eine aufrecht erhaltene Ritenpraxis, die sich an natürlichen Zyklen orientierte und diese mit der Abfolge von Generationen verknüpe, sicherte den Fortbestand dieser Strukturen und sorgte für soziale Stabilität. Gleichzeitig wurden junge Männer in das gemeinschaliche Leben integriert. Mit deren Eintritt in den Status junger Männer ergab sich zunächst die Möglichkeit, Hilfsarbeiten an Jüngere zu delegieren. So berichtete der Afrikaner Asyukile Malango von verschiedenen Hilfstätigkeiten beim Viehhüten und im Haushalt, für die er in seiner Kindheit im Süden Tansanias in der Zeit um 1900 von den Älteren beauragt worden war²⁸³. Auch innerhalb der Altersgruppen gab es Ein277 278 279 280 281 282 283

Vgl. Muriuki: e Kikuyu in the pre-colonial period, S. 129. Vgl. Henry Sumner Maine: Ancient Law. Its connection with the early history of society, and its relation to modern ideas, hrsg. v. Frederick Pollock, New York 1920, S. 173f. Siehe auch: Zitelmann: Formen und Institutionen politischer Herrscha, S. 201. Vgl. Bernardo Bernardi: Uomo cultura società, Milano 1978, S. 60. Vgl. Spear: e Mijikenda in the 19th century. Paper given at University of Nairobi, October 1971. Original Manuscript, S. 8. Vgl. ebd., S. 1. Siehe auch: Ayot: Historical texts of the lake region of the East Africa, S. 122. Vgl. Busse: Aus dem Leben von Asyukile Malango. (Nyakyusa-Texte). S. 201ff. Der Missionar C.Büttner schilderte ebenfalls eine solche Aufgabenverteilung an Kinder (Vgl. C.Büttner: Fragebogenbericht über die Wakimbu).

Seniorität als gesellschaftliches Strukturprinzip

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teilungen nach Alter und Erfahrung, was sich beides als Legitimationsanspruch für die eigene Autorität heranziehen ließ²⁸⁴. Anerkennung, die durch persönliche Leistungen erlangt werden konnte, war ein weiterer Faktor für den Einfluss einer Person. Die Zugehörigkeit und somit der von der Gruppe zugewiesene Status wurde mit Schmuck gekennzeichnet, der als Abzeichen wirkte: »[Young Men, Warriors] divide themselves up into little bevies, almost clubs, and they wear as an insignia or badge of fellowship or brotherhood little armlets made of a strip of cowhide, upon which are sewn beads in special devices and chosen colours, which seem to indicate their particular faction or club«²⁸⁵. Schließlich konstituierte sich Seniorität weiterhin aus einem Wissensvorsprung, der durch die Inhalte der einzelnen rites de passage hergestellt wurde: »Erst mit 35 bis 40 kennt ein Mann alle Gesänge, Zeichnungen und heiligen Gegenstände, erst in diesem Alter versteht er alle Mythen und Rituale«²⁸⁶. Mit dem Status als Elder galt man als lebenskundig (mrango²⁸⁷) und erfahren. Teile dieser Erfahrung wurden kontinuierlich an die jeweils nachfolgende Altersgruppe weitergegeben. Einerseits stellte dies sicher, dass Wissensbestände bestehen blieben und aktiv gepflegt wurden, andererseits ergab sich daraus ein Abhängigkeitsverhältnis, in das sich Jüngere begeben mussten, um von Wissen und Erfahrung der Älteren zu profitieren. Durch das sukzessive Erlernen ritueller Praktiken ergab sich gleichermaßen ein gesteigerter mystischer Status, der für eine Abgrenzung zwischen den Altersgruppen sorgte. So fungierte die nächsthöhere Altersgruppe als rituelle Paten innerhalb der Einsetzung einer Gruppe neuer Initianden²⁸⁸. Auf diese Weise ergab sich für die Mitglieder der höheren Altersklasse eine erzieherische Funktion gegenüber den Mitgliedern der nachgeordneten Altersklasse. In der Ausübung dieser gesellschalichen Rolle fungierten die Mitglieder der höheren Altersklasse als Lehrer und Mentoren, die mittels Flüchen oder Prügel als Strafinstrumente ggf. auf das Verhalten der Jüngeren einwirken konnten. Mit der Integration von Jugendlichen in bestehende Altersordnungen fand deren rituelle Eingliederung in bestehende Sozialstrukturen statt. Die Heranwachsenden befanden sich in einem Stadium, welches es ermöglichte, dass seitens der 284

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Siehe die Unterteilung der Kriegergruppen in 4 Klassen: Mríscho, Kischangóp, Ngarebút, Liteijo (G. A. Fischer: Bericht über die im Aurage der Geographischen Gesellscha in Hamburg unternommene Reise in das Massai-Land, 1892, S. 62). Vgl. auch Wagner: e Abaluyia of Kavirondo. Manuskript, UoNLib, S. 37. Mary French Sheldon: Sultan to sultan. Adventures among the Masai and other tribes of East Africa, Boston, Mass. 1892, S. 230. Jürg Helbling: eorie der Wildbeutergesellscha. Eine ethnosoziologische Studie, Frankfurt/Main 1987, S. 134. Gutmann: Das Recht der Dschagga, S. 14. Vgl. Paul Spencer: e Samburu, London 2004, S. 82.

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Alter und Generation in Ostafrika

Älteren ein Eingreifen in die Sozialisation stattfinden konnte. Die Initianden waren aufgrund ihrer körperlichen und psychischen Konstitution nicht in der Lage, sich gegen die Einordnung in bestehende Altershierarchien zu wehren. O wurden die Kandidaten zudem beschimp, verspottet oder in Situationen gebracht, in denen sie großer Scham ausgesetzt waren²⁸⁹. In der Aneignung des sozialen Raums wurden also Mechanismen verwendet, die den status quo sichern konnten und die etablierten Ordnungen nach dem Prinzip des Vorrangs des Älteren fortschrieben. Die Kandidaten mussten Gehorsam gegenüber den Älteren lernen und jene als Vorbilder und Autoritätsfiguren akzeptieren²⁹⁰. Dieser Gehorsam gegenüber den Älteren war nicht nur auf die jeweils herrschende Altersgruppe bezogen, sondern auch auf das Verhältnis der einzelnen Altersgruppen untereinander. Es bestand ein Antagonismus zwischen der jeweils höheren und deren nachgeordneten Gruppen, der sich durch physische Unterwerfung, Demütigung oder anhand von Verboten manifestierte²⁹¹. Das Autoritätsverhältnis zu allen höher gelagerten Gruppen²⁹² äußerte sich darüber hinaus in festgelegten Konventionen hinsichtlich des Umgangs zwischen unterschiedlich gelagerten Altersgruppen, wie sie vom deutschen Tropenmediziner Friedrich Fülleborn beobachtet wurden: »Nach persönlichen Mitteilungen von Miss. Richards hätte der Höherstehende zuerst zu grüssen, der andere zeige höchstens durch einen Ausruf an, dass er jenen bemerkt habe; bei gleichem Range grüsse der Ankommende zuerst«²⁹³. Seniorität diente auch als Basis für die Unterteilung der Alterseinheiten. Für den Westen Kenias wurden die Bezeichnungen für zyklisch wiederkehrende Altersklassen belegt, die den jeweils Älteren untergeordnet waren: »ere were (are) eight syclic [sic] age-sets which, according to seniority, are, Kolongolo, Kikwameti, Kananachi, Kinyikeu, Nyange, Maina, Chuma and Sawa.«²⁹⁴

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Vgl. Nobuhiro Nagashima: Two Extinct Age Systems among the Iteso, in: Esei Kurimoto (Hrsg.): Conflict, Age and Power in North East Africa. Age Systems in transition, Oxford 1998, S. 227–250, hier S. 242. Siehe Leo Frobenius: Unter den unsträflichen Aethiopen, Berlin 1913, S. 33. Siehe E. C. Baker: Age-Grades in Musoma District, Tanganyika Territory, in: Man 27 (1927), S. 221–224, hier S. 223. Vgl. Tarus: An Outline of the Keiyo people from c.A.D. 1700 to 1919, S. 77. Fülleborn: Das deutsche Njassa- und Ruwuma-Gebiet, Land und Leute, nebst Bemerkungen über die Schire-Länder, S. 341. Für weitere Beispiele solcher Konventionen für Grußprotokolle siehe Gottberg: Unyamwesi, S. 141, Mwaniki: e living history of Embu and Mbeere to 1906, S. 103, Alfred C. Hollis: Masai. Myths, Tales and Riddles, New York 2003, S. 64 sowie ders.: e Nandi, S. 90. Nakitare: A pre-colonial history of Abatachoni, 1500-1900 AD, S. 56f.

Seniorität als gesellschaftliches Strukturprinzip

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Auf solche formalisierten Altersordnungen werden wir im Folgenden noch zurückkommen. Aus solchen Ordnungssystemen ergab sich eine Hierarchie von Statusabfolgen, wie sie z.B. von Carl Claus von der Decken dokumentiert wurde: »Je nach ihrem Alter werden sie wieder als Elkieko oder jüngere Männer, als Esabuki, Männer von vierzig bis sechzig Jahren, und als Elkidscharo oder Elkimirischo d.i. Aelteste oder Greise unterschieden. Letzteren wird von der Jugend große Verehrung gezollt; keiner der jungen Leute würde es wagen, sich in Gegenwart der Alten zu setzen, ohne vorher Erlaubniß erhalten zu haben«²⁹⁵. Durch das Zusammenwirken von Seniorität und Statuserwerb entstand ein integrativer Mechanismus, der das Selbstverständnis für die Interaktion des Einzelnen mit der lokalen Gemeinscha prägte. Aus diesem identitätsstienden Hintergrund ergaben sich vorgegebene soziale Rollen und Möglichkeiten zur Teilhabe, die sich am Lebensalter der Personen orientierten. Wir werden auf dieses Phänomen noch genauer eingehen. Die Einbindung des Einzelnen am gemeinschalichen Leben wurde geregelt und mit dem Fortschreiten innerhalb etablierter Altersorganisationen durch die Vergabe von Privilegien honoriert. Das beinhaltete das Delegieren von Hilfsarbeiten an Jüngere, wirtschaliche Vorteile bei der Ressourcenverteilung und Mitspracherechte in öffentlichen Verhandlungen. Ein gehobener sozialer Status galt somit als Ergebnis persönlichen Mitwirkens und wurde als Resultat einer Verflechtung des Einzelnen mit der Sozialstruktur angesehen²⁹⁶. Aus der engmaschigen sozialen Struktur der lokalen Gemeinscha ergaben sich Regelungen und differenzierte Aufgabenbereiche. Durch das Wirken in diesen Bereichen konnte sich der Rang einer Person entsprechend erhöhen. Das dabei erworbene Wissen wurde kontrolliert weitergegeben. Wirtscha, Handel, soziale Organisation und Reaktion auf die unsicheren Naturgegebenheiten erforderten Lernprozesse, die mit Hilfe der Altersorganisation fortgeschrieben werden konnten. Der Vorrang des Älteren förderte solche Lernprozesse und sicherte die Weitergabe von Wissen. Die jeweils älteren Gruppen fungierten als Lehrer und Mentoren in informellen Zentren (Manyattas), in denen die jüngeren in soziale Rollen und Verantwortungsbereiche eingeführt wurden²⁹⁷.

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Carl Claus von der Decken: Baron Carl Claus von der Decken’s Reisen in Ostafrika in den Jahren 1862 bis 1865, hrsg. v. Otto Kelsten, Leipzig & Heidelberg 1871, S. 25. »A person is not just a certain biological entity with a certain psycho-physical endowment, but, rather, a being of this kind who has shown a basic willingness and ability to fulfill his or her obligations in the community. Personhood, on this showing, is something of an achievement.«, Kwasi Wiredu: Introduction: African Philosophy in our Time, in: ders. (Hrsg.): A Companion to African Philosophy. Oxford 2003, S. 17. Vgl. Kanyangezi: Mbatiany 1824-1889. A Biographical study of a nineteenth century Maasai Oloibony, S. 67.

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Alter und Generation in Ostafrika

Ein Statusgewinn ergab sich auch aus der eigenen Fruchtbarkeit. Durch die Kopplung von Fruchtbarkeitsriten an das Altersklassensystem war die Initiation eine Voraussetzung für eine anerkannte Familiengründung. Orientiert an der wichtigen Rolle der Fruchtbarkeit bedeutete die Zeugung eigener Kinder für die Eltern einen gehobenen Status. Sobald die eigenen Kinder selbst initiiert wurden, rückten die Eltern automatisch in eine höhere Altersklasse. Diese Zugehörigkeit machte die Seniorität der Personen deutlich und ermöglichte eine Stärkung der Autorität. Möglichst viele Kinder zu haben war ein für die Eltern erstrebenswertes Ziel. Durch zahlreiche Nachkommen besserte sich die Möglichkeit wirtschalicher Erfolge, durch die Schaffung von Klientelbeziehungen mittels Heirat weiteten sich die Strukturen des Familienverbandes aus und versprachen Kooperationsmöglichkeiten, während das soziale Ansehen der Eltern durch deren Vorrücken in den Status der Elders gemehrt wurde. Dies wurde o mit einer regional durchgeführten Übergangszeremonie (Nduiko²⁹⁸) begangen²⁹⁹. Auf diese Weise entstanden komplexe Netzwerke enger Klientel- und Verwandtschasbeziehungen. Kinship war die zentrale Metapher lokaler und regionaler Beziehungsgeflechte. Nähe und Distanz wurden durch eine Sprache der Verwandtscha ausgedrückt³⁰⁰, die Seniorität implizierte und höher gestellten eine verbesserte Ausgangsposition bei der Ausübung von Autorität ermöglichte. Diese Sprache, ebenso wie die Beziehungsgeflechte, die sie beschrieb, beinhaltete Ungenauigkeiten und Unklarheiten, die immer wieder durch einzelne Allianzen zwischen Gruppen gestärkt werden mussten³⁰¹. Gemeinsam begangene Riten waren o genutzte Mittel, um Allianzen zu schaffen oder zu bekräigen. Durch die Zuschreibung von Autorität an Ältere ergab sich eine gewisse Orientierung im sozialen Umgang. Besonders zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Generationen machte sich das anhand gegenseitiger Verpflichtungen und sozialer Konventionen bemerkbar. Unter das Autoritätsverhältnis zwischen den Generationen fiel z.B. die Verpflichtung der nachgeordneten Generationeneinheiten, für ältere Mitglieder zu sorgen und ggf. bei der Versorgung höher gelagerter Generationen zu helfen³⁰². Das bezog sich zunächst auf die Mitglieder des eigenen Familienverbandes, konnte aber auf kinderlose Elders ausgeweitet werden³⁰³. Verwandtscha konnte also genealogisch umgeformt bzw. symbolisch hergestellt werden und wurde somit zum Symbol für Klientelbeziehungen und Kooperation. Durch die Herstellung symbolischer Verwandtschasbeziehungen entstand ein Konnex zwischen Sozialbeziehung und gemeinschalicher Aufgabenverteilung. Durch das Prinzip der Seniorität konnten höher gelagerte Altersgruppen wie Elders ihre Autorität ausüben, jüngere Alters298 299 300 301 302 303

Vgl. Mwaniki: e living history of Embu and Mbeere to 1906, S. 51f. ebd., S. 11. Vgl. Kenny: e Wasaki War: An Oral Narrative of Southwestern Kenya, S. 443. Vgl. ebd., S. 443. o.A.: Nandi Customary Law, Kampala et. al. 1954, S. 37. Vgl. ebd., S. 37.

Seniorität als gesellschaftliches Strukturprinzip

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gruppen disziplinieren und ihre eigene Versorgung sichern, sobald sie körperlich nicht mehr in der Lage waren, selbst auf die Jagd zu gehen oder Ackerbau zu betreiben. Während das generative Verhalten für die biologische und, indirekt vermittelt durch die Rollenverteilung mittels der Altersordnungen, ökonomische Reproduktion sorgte, bot Seniorität eine Basis für das soziale Ansehen einer Person³⁰⁴, die Vermittlung von Wissen, sozialer Disziplinierung, Identitätsstiung, Orientierung und Weltzugang. Die Durchführung der Riten stand unter dem Einfluss lokaler Ältestenräte und schrieb so den tradierten Vorrang der Älteren fort³⁰⁵. Johann Krapf dokumentierte den respektvollen Umgang zwischen den Generationen im Hinterland der ostafrikanischen Küste: »Die ganz alten Männer, die elkidscharo oder elkimirischo heißen, bleiben zu Hause und leiten die übrigen Altersstufen durch ihre Weisheit und Erfahrung. Die Jungen haben großen Respekt vor ihnen«³⁰⁶. Außer konkreten Verhaltensregeln und Konventionen wurden symbolische Formen der Verbindung zwischen den Generationen beobachtet. In einigen Gegenden Ostafrikas wurde eine symbolische Assoziation zwischen jungen Männern und ihren Großvätern geschaffen, wodurch die Orientierung an der Großvätergeneration auch auf symbolischer Ebene fest- und fortgeschrieben wurde³⁰⁷. Das beinhaltete auch, dass die entsprechenden Altersgruppen von den Mitgliern der höher gelagerter Altersgruppen als »Söhne« bzw. »Enkel« angesprochen wurden³⁰⁸. Die Verbindungen zwischen den Generationen strahlten auf mystischer Ebene weiter aus und beinhalteten auch die Verstorbenen Mitglieder der Gemeinscha. Der Bezug zu den Vorfahren wurde weiterhin durch mündlich weitergegebene Traditionen gepflegt. Diese Überlieferung untermauerte die Autorität der Elders und machte ihren Bezug zu den Ahnen auch nach außen hin deutlich. Elders wurden als Vermittler zwischen den Lebenden und den Toten angesehen. Sie hielten die Erinnerung an die Vergangenheit fest und konnten Ahnenreihen sowie Rückführungen auf mythische Personen der kollektiven Erinnerung mündlich wiedergeben, was ihren Status als lebenskundige Personen festigen konnte³⁰⁹. Besonders 304 305 306

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Vgl. Wagner: e Abaluyia of Kavirondo. Manuskript, S. 37. Siehe Ndege: Olonana Ole Mbatian, S. 9 sowie Charles Dundas: Kikuyu Rika. In: Man 8 (1908), S. 180–182, hier S. 181. Krapf: Reisen in Ostafrika ausgeführt in den Jahren 1837-1855, S. 271. Siehe auch: Alfred C. Hollis: Taveta Sayings and Proverbs, in: Journal of the African Society 9.35 (Apr. 1910), S. 255– 266, hier S. 256. Vgl. Mwaniki: e living history of Embu and Mbeere to 1906, S. 94 sowie J.E.G. Sutton: e Kalenjin, in: B. A. Ogot (Hrsg.): Kenya before 1900, 1978, S. 21–52, hier S. 28. Vgl. Mwaniki: e living history of Embu and Mbeere to 1906, S. 52f. Siehe Fülleborn: Das deutsche Njassa- und Ruwuma-Gebiet, Land und Leute, nebst Bemerkungen über die Schire-Länder, S. 47 sowie C. W. Werther: Die mittleren Hochländer des nörd-

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in Momenten der Verunsicherung, Unsicherheit und konfrontiert mit Unvorhergesehenem konnten Elders durch ihren Bezug zu den Ahnen Kontinuität wiederherstellen und somit für eine symbolische Stabilisierung sorgen³¹⁰. In ritualisierten Kontexten nutzten sie Musik und Tanz zur symbolischen Kommunikation mit den Verstorbenen³¹¹. Seniorität war ein wichtiger Faktor für die Autorität einer Person. Sie wurde über Altersordnungen erworben und garantierte einen gewissen sozialen Status, der sich in den Riten wie im Alltag bemerkbar machte. Aus diesem Status ergaben sich Privilegien, aber auch Aufgabenfelder und Verpflichtungen. So zeichnete sich bereits innerhalb der Altersgruppe der jungen Männer eine Verteilung wirtschalicher Macht ab, die später durch weitere Einflussnahme verstärkt werden konnte. Militärische Aktivitäten boten Gelegenheit zu Einflussgewinn hinsichtlich politischer Autorität, wirtschalicher Prosperität und Einfluss innerhalb des Gefüges einer Gemeinscha³¹². Der Status als Elder reflektierte diese verschiedenen Aspekte der Seniorität und verband ihn mit verschiedenen Rollenmustern und zugeschriebene Aufgabenbereichen. Das Alter einer Person spielte offensichtlich eine zentrale Rolle bei der Verortung im sozialen Umfeld. Im Folgenden wird daher geklärt, wie die Grunderfahrung des Alterns soziopolitisch und kulturell überformt wurde. Dabei geht es um das vielfach von Völkerkundlern, Missionaren und Ethnologen dokumentierte und untersuchte Phänomen des Altersklassensystems. Dessen Funktion als ordnender, sinnstiender und regulativer gesellschalicher Mechanismus wird ebenso betrachtet wie die Verflechtung mit der historischen Erfahrung einer Gemeinscha, der Einteilung in Teilgruppen mit eigenen Identitäten, Verhaltens- und Kommunikationsregeln für einzelne Altersgruppen sowie den philosophischen Hintergründen der Assoziation einzelner Lebensabschnitte mit dem jeweiligen Rollenverständnis innerhalb der Gemeinscha und Lebenswelt. Neben diesen Aspekten wird zu zeigen sein, welche Rolle solche Altersordnungen im politischen Prozess spielten.

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lichen Deutsch-Ostafrika, Berlin 1898, S. 26. Siehe hierzu auch: Heike Behrend: Geister als Repräsentationen von Vergangenem, in: Albert Wirtz; Jan-Georg Deutsch (Hrsg.): Geschichte in Afrika. Einführung in Probleme und Debatten, Berlin 1997, S. 283–297, hier S. 284. Siehe auch: ebd., S. 288. Vgl. Frank Gunderson: Expressive Bodies / Controlling Impulses: e Dance Between Official Culture and Musical Resistance in Colonial Western Tanganyika, in: Soundings: An Interdisciplinary Journal 96.2 (2013), S. 145–169, hier S. 149. Vgl. Uzoigwe: Pre-Colonial Military Studies in Africa, S. 472.

Altersgruppe und Altersklassensystem

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3.2 Altersgruppe und Altersklassensystem »Handu hewetie sowu na mwana ewetia. e place that the (cow) elephant has passed over its calf will pass over (as well). (A child follows in the footsteps of its parent.)«³¹³

Die Erfahrung des Alterns schlug sich in kulturellen Konzepten verschiedener Lebensabschnitte nieder. So dokumentieren viele Zeugnisse die Einteilung einzelner Lebensphasen mit ihren jeweiligen Besonderheiten. In der Forschung hat die Beschäigung mit solchen Altersorganisationen eine lange Tradition. Neben allgemeinen Untersuchungen zu den verschiedenen Charakteristika und Aufgaben unterschiedlicher Lebensabschnitte entstanden Arbeiten, die sich mit dem Phänomen formalisierter »Altersklassen und Männerbünde«³¹⁴ beschäigten. Auch im ostafrikanischen Raum wurden Formen institutionalisierter Altersklassensysteme beobachtet und untersucht³¹⁵. Männer ungefähr gleichen Alters wurden in Altersgruppen (Age-Groups³¹⁶) zusammengefasst, die innerhalb der jeweiligen Gemeinscha als abgegrenzte Einheit erkennbar waren. Sie verfügten über eine gemeinsame Identität, die sich aus der Vermittlung traditionellen Wissens speiste und durch Rituale gestiet wurde³¹⁷. Aus dieser Zugehörigkeit ergaben sich festgelegte Aufgabenfelder und Regelungen für das Verhältnis zu den Mitgliedern anderer Altersklassen. Solche Altersorganisationen konnten für Orientierung sorgen und wurden als elaborierte Stabilisierungsmechanismen angesehen. Initiations- und Transitionsriten schufen ein Gefüge von Altersklassen und stellten eine »kognitive Ordnungsstruktur«³¹⁸ her, aus der eine segmentäre Alters313 314 315

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Hollis: Taveta Sayings and Proverbs, S. 257, Hervorhebungen und Klammern im Original. So der Titel des bekannten Werks von Heinrich Schurtz (Schurtz: Altersklassen und Männerbünde). Siehe auch: Zitelmann: Formen und Institutionen politischer Herrscha, S. 207. Siehe z.B. Baxter/Almagor (Hrsg.): Age, Generation and Time: some features of East African age organisations, S. 2, Kratz: Are the Okiek really Masai ? or Kipsigis ? Or Kikuyu ?, S. 360 sowie Odongo/Webster: e Central Lwo During the Aconya, S. 311, Georg Christian ilenius: Altersklassen, in: Deutsches Kolonial-Lexikon 1920, 36f. Saberwal: e traditional political system of the Embu of Central Kenya, S. 17ff. und Angela P. Cheater: Social anthropology, London [u.a.] 1995, S. 137f. Die Terminologie zu diesem Bereich der Forschung spiegelt die Komplexität des Gegenstandes. Daher wird im Folgenden eine Gruppe konkreter Personen als Altersgruppe oder Age-Group bezeichnet, während mit dem Begriff Altersklasse (Age-Class, Age-Grade bzw. Age-Set) der abstrakte Begriff bezeichnet wird, der sich auf die strukturelle Kategorie bezieht. Siehe Isichei: A history of African societies to 1870, S. 83, Collins/Burns: A history of subSaharan Africa, S. 43 u. omas Zitelmann: Altersklassen, in: Jacob E. Mabe (Hrsg.): Das Afrika-Lexikon. Ein Kontinent in 1000 Stichwörtern, Stuttgart, Weimar 2001, S. 37. »[...] cognitive order [...]«, Nagashima: Two Extinct Age Systems among the Iteso, S. 228, meine Übersetzung. Siehe auch: S. Ibiam Arunsi/J.U. Ugoji: e traditional political system of the Edda-Igbo, in: U.D. Anyanwu (Hrsg.): e Igbo and e tradition of Politics, Enugu 1993, S. 53– 64, hier S. 64.

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Alter und Generation in Ostafrika

organisation hervorging³¹⁹. Die untersuchten Systeme wurden als »Lebenskalender«³²⁰ bezeichnet, die jedem einzelnen Mitglied einer Gemeinscha einen festen Platz im sozialen Umfeld und in der Zeit zuzuweisen vermochten³²¹. Das machte sich u.a. durch festgelegte Verpflichtungen und Rollenmuster, Erkennungsmerkmale und Verhaltenskonventionen gegenüber den Angehörigen anderer Altersgruppen bemerkbar. So konnten Altersklassensysteme auch als Zeitorientierung in der Gegenwart dienen: ethnologische und ethnographische Arbeiten belegen, dass viele der im Rahmen von Interviews befragten Männer das eigene Alter anhand der Abfolge der Altersklassen bestimmen konnten³²². Nach der Initiation durchliefen die Altersgruppen im Laufe ihres Lebens weitere Übergangsriten, die ihren gesellschalichen Status stufenweise veränderten. Jede Altersgruppe hatte spezifische Aufgaben und stand in einem festgelegten Verhältnis zu übergeordneten und nachfolgenden Altersgruppen: »Age organization provides an ethic of behavior, ordering relationships [...] according to several distinct principles of «respect« (Enkanyit), emphasized and reinforced by supernatural sanctions.«³²³ Die tradierten Verhaltensregeln bezogen sich sowohl auf die eigene Altersgruppe der Initianden als auch auf Mitglieder anderer Altersklassen. So sollte die Interaktion innerhalb einer Altersgruppe unter den Paradigmen von Zusammenhalt und Kooperation stattfinden, während den Mitgliedern höher gelagerter Altersklassen Respekt entgegengebracht und deren Vorrang akzeptiert werden sollte. Unterschiede zwischen den Altersklassen ergaben sich u.a. durch symbolische Beziehungen zu Tieren, nach denen eine Altersklasse benannt sein konnte. Diese Beziehungen waren mit verschiedenen Verboten und Richtlinien im Umgang mit den entsprechenden Tieren verbunden. Wie Leo Frobenius beobachtete, wurden im südäthiopischen Raum Altersklassen belegt, die nach einer Schlange (Ssuo) benannt waren. Für deren Mitglieder war das Töten oder verjagen von Schlangen verboten. Stattdessen musste dem Tier eine bestimmte Nahrung zubereitet und verabreicht werden. Übertretungen dieser Regeln sahen vor, dass die betreffende Person mit einem Fluch belegt werden konnte³²⁴.

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Vgl. Alber/et.al. (Hrsg.): Generations in Africa. Connections and Conflicts, S. 4f. Vgl. Adolf Ellegard Jensen: Neuere Notizen über das Gada-System, in: Paideuma 2/1-2 (1941), S. 84–94, hier S. 91. Siehe auch: Odongo/Webster: e Central Lwo During the Aconya, S. 83. Siehe z.B. Adolf Ellegard Jensen: Das Gada-System der Konso und die Altersklassensysteme der Niloten, in: Ethnos 19 / 1-4 (1954), S. 18. Galaty: Maasai Expansion & the New East African Pastoralism, S. xx, Anführungszeichen im Original. Siehe Frobenius: Unter den unsträflichen Aethiopen, S. 156. Weitere Beispiele für den Bezug zu Tieren liefert Nagashima: Two Extinct Age Systems among the Iteso, S. 234.

Altersgruppe und Altersklassensystem

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Weitere Regelungen hinsichtlich der Ernährung wurden ebenfalls spezifisch für einzelne Altersklassen getroffen, so dass die Grenzen zwischen den Altersklassen auch anhand von Ernährungsregelungen deutlich wurden. So wurde für den Raum Südäthiopiens berichtet, dass das Verspeisen von Eiern für unbeschnittene Kindern verboten bzw. diese Speise lediglich Mitgliedern der aus dem Altersklassensystem ausgeschiedenen Gruppe vorbehalten war³²⁵. Die einzelnen Altersklassen konnten wiederum in Generationeneinheiten zusammengefasst werden, die in einem Rhythmus von ca. 25 bis zu 40 Jahren von nachgeordneten Gruppen abgelöst wurden³²⁶. Schied eine Altersgruppe aus dem System aus, so wurde dies mit einem Übergabezeremoniell begangen, das gleichzeitig die nachfolgende Altersgruppe formal an die Stelle der Ausgeschiedenen treten ließ. Es entstand eine Abfolge von Generationeneinheiten, die ihre Führungsfunktionen jeweils an ihre Nachfolger übergaben³²⁷. Als Bezugsgröße zur Zusammenstellung der Altersgruppen diente nicht das chronologische, sondern das soziale Alter, wodurch sich innerhalb der Altersgruppen chronologische Altersunterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedern ergeben konnten. Die Bindung an die Identifikation einer Person durch die Altersgruppe blieb im Verlauf des Lebens der einzelnen Mitglieder ständig präsent³²⁸. Das wirkte sich sowohl im sozialen Umfeld der eigenen Siedlung und im Bezug zur Herkunsgemeinscha bemerkbar, sondern auch außerhalb davon. So blieb der Bezug zur eigenen Altersklasse auch außerhalb der Sphäre der lokalen Lebensgemeinscha bestehen, so dass die Zugehörigkeit zu einer Altersklasse auch translokal anerkannt wurde und mit verschiedenen Konventionen verbunden war: »Age-mates must share with and provide hospitality towards one another, as when a visitor to a village is presented to the home of a member of the same age-set, where he is given sustenance and shelter.«³²⁹ Altersklassen wurden o mit zyklisch wiederkehrenden Bezeichnungen belegt. Dadurch entstand eine Assoziation der neu geschaffenen Altersgruppe mit der Altersklasse der Großvätergeneration, was bisweilen durch die Praxis verstärkt wurde, Kinder nach deren Großeltern zu benennen und so deren Generation sym-

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Siehe Frobenius: Unter den unsträflichen Aethiopen, S. 153. Gleichzeitig berichtet Frobenius aber auch über Ausnahmen von diesen Regelungen (siehe ebd., S. 153). Vgl. M.J. Ruel: Kuria Generation Classes, in: Africa 32 (1962), S. 14–37, hier S. 14ff., Speitkamp: Kleine Geschichte Afrikas, S. 33 sowie Jack Glazier: Generation Classes among the Mbeere of Central Kenya, in: Africa 46 (1976), S. 313–326, hier S. 313ff. Vgl. Speitkamp: Kleine Geschichte Afrikas, S. 33. Vgl. Bernard Namet: Dictionaire de l’Afrique. Histoire, Civilisation, Actualite, Paris 2006, S. 72. Galaty: Maasai Expansion & the New East African Pastoralism, S. xx.

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bolisch neu zu erschaffen³³⁰. In manchen Systemen korrespondierten die Namen der neu initiierten Altersgruppe und der Gruppe, die mithin aus dem Altersklassensystem ausschied³³¹. Je nach Dauer des kompletten Zyklus eines Altersklassensystems bildete sich ein Abstand von ca. 40 Jahren³³², so dass die Gruppe der neu Initiierten o den gleichen Namen trug wie deren Großvätergeneration. Der zirkulär angelegte Charakter eines Altersklassensystems wurde somit bereits in der Namensgebung von einzelnen Altersgruppen deutlich³³³. Bei der Namensgebung von Altersgruppen ist ferner ein starker Naturbezug erkennbar, so waren Namen für Altersgruppen bspw. »Büffel«, »Elefanten«, »Leoparden« oder »Steine«³³⁴. O wurden die Bezeichnungen zyklisch verwendet, so dass sich eine regelmäßige Abfolge ergab. Solche zyklischen Anordnungen der Bezeichnungen für Altersklassensysteme sowie der symbolische Bezug zu Tieren konstruierte einen rituellen Konnex zwischen Natur und Kultur³³⁵. So ergaben sich Bezüge zur umgebenden Tierwelt und natürlichen Zyklen, die auch in Form kreisförmiger Versammlungsordnungen im rituellen Kontext deutlich wurde³³⁶. Außer einer zirkulären Form der Namensvergabe einzelner Altersklassen gab es jedoch ebenfalls Modelle mit dualem Charakter. Im äthiopischen Raum wurde bspw. eine Einteilung in die Klassen der »Steine« bzw. der »Leoparden« vorgenommen³³⁷. Die Zugehörigkeit zu einer dieser Gruppen orientierte sich an der 330

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Siehe Glazier: Generation Classes among the Mbeere of Central Kenya, S. 318 sowie S. Stanley/ D. Karsten: e Luwa System of the Garbicco subtribe of the Sidama (Southern Ethiopia) as a special case of an age set system, in: Paideuma 14 (1968), S. 93–102, hier S. 93ff. Vgl. ebd., S. 93ff. Vgl. ebd., S. 94, Günther Schlee: Zum Ursprung des Gada-Systems, in: Paideuma 35 (1989), S. 231–246, hier S. 235ff., Jensen: Das Gada-System der Konso und die Altersklassensysteme der Niloten, S. 7, ebd., S. 84, Eike Haberland: Das Gada-System der südwest-abessinischen Völker, Diss., Frankfurt: Johann - Wolfgang - Goethe - Universität Frankfurt, 1950, S. 2. Z.B. untersuchten Stanley und Karsten (1968) ein Altersklassensystem Südäthiopiens, in der jede 5. Altersgruppe den Namen »Darara« trug. Die Implementation festgelegter Namen führte hiermit zu einer begrenzten Anzahl verschiedener Bezeichnungen für Altersgruppen, welche sich ständig wiederholten (Siehe Stanley/Karsten: e Luwa System of the Garbicco subtribe of the Sidama (Southern Ethiopia) as a special case of an age set system, S. 93ff.), als weiteres Beispiel für Benennungen nach zirkulärem Muster siehe Ruel: Kuria Generation Classes, S. 18ff. Siehe Nagashima: Two Extinct Age Systems among the Iteso, S. 234. Siehe Glazier: Generation Classes among the Mbeere of Central Kenya, S. 320 sowie Claude Lévi-Strauss: e Savage Mind, Chicago 1962, S. 915. Vgl. R. G. Abrahams: Aspects of Labwor Age and Generation Grouping and Related Systems, in: Paul T. W. Baxter (Hrsg.): Age, generation and time: some features of East African age organisations, New York 1978, S. 37–67, hier S. 53. Das Konzept der Zirkularität wird als weit verbreitet angesehen; es wird anhand vieler Aspekte vorkolonialer Strukturen Afrikas beschrieben: abstrakt z.B. in Topoi wie Kreislauf der Natur, Kreislauf von Schlafen und Wachen, Leben und Tod etc. aber auch konkret in z.B. der Architektur in Form kreisförmig angelegter Häuser (Siehe Isichei: A history of African societies to 1870, S. 99). Für Zentralkenia und den Norden Tansanias wurde ebenfalls von einer dualen Aueilung berichtet (siehe Jensen: Das Gada-System der Konso und die Altersklassensysteme der Niloten, S. 14).

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Gruppenzugehörigkeit des Großvaters und beinhaltete Regelungen hinsichtlich der Kleidung, des Schmucks und der für die jeweilige Gruppe vorgeschriebenen Gesänge³³⁸. Bei der Initiation wurde jeweils parallel für beide Altersklassen eine neue Gruppe eingesetzt³³⁹. Der Rekurs auf die Vergangenheit wird auch im Kontext der Transitionsriten für Generationeneinheiten deutlich. So wurden die Ereignisse zur Zeit der Aktivität einer bestimmten Altersgruppe idealisiert und in die kollektive Erinnerung aufgenommen³⁴⁰, indem die jeweiligen Gruppen mit diesen Ereignissen assoziiert wurden³⁴¹. Dadurch entstanden Abfolgen, die als »[...] mentales Modell für die Zeit selbst [...]«³⁴² dienten. Der Autor Tepilit Saitoti berichtet über die erste Häle des 19. Jahrhunderts als gemeinsame Zeiterfahrung³⁴³ einzelner Altersklassen: »e history of this period is encoded in the events associated with successive age-sets of warriors: in the age of Ilmerishari (1811-1825), Maasai struggled to take Lake Manyara; in the age of Ilkidotu (18251839), Engaruka was captured; in the age of Iltwati (1839-1853), the war was carried to the Ngorongoro crater; while the age of the first Ilnyangusi (1853-1867) witnessed the complete occupation of the highland region by the Kisongo. Loita Maasai occupied the border highlands to the north, several small Maasai sections-the Serenget and the Salei-and the plains to the west and north of Ngorongoro«³⁴⁴. Historische Erfahrung wurde so kanonisiert, in den Bestand traditionellen Wissens aufgenommen und als Identitätswissen mündlich weitergegeben. Ferner wurden Übergabezeremonien dokumentiert, mit Hilfe derer die symbolische Verantwortung für das Wohlergehen der Gemeinscha von einer Generation auf die nachfolgende übertragen wurde. Die ablösende Gruppe erhielt auf diese Weise eine repräsentative Funktion, der sie fortan verpflichtet war und an der sie sich messen lassen musste. In der Zeit der Ablösung der scheidenden Gruppe fanden rituelle Reisen zu sakralen Orten statt, welche die Migration der Ahnen symbolisch 338 339

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Siehe ebd., S. 11f. Als weiteres Beispiel für ein duales Konzept wurde die Aueilung in »Zebra« und » Felsen« belegt, die Initiationen der jeweils neuen Altersgruppen fanden in diesem Fall alternierend statt, vgl. ebd., S. 11f. Vgl. Alber/et.al. (Hrsg.): Generations in Africa. Connections and Conflicts, S. 10. Vgl. omas Zitelmann: Verzeitlichung und Lebenslauf. Die Alters- und Generationsklassenordnung (Gada) der Borana-Oromo, in: Georg et.al. Elwert (Hrsg.): Im Lauf der Zeit, Saarbrücken 1990, S. 50–68, hier S. 63 sowie Isichei: A history of African societies to 1870, S. 276. Amborn: e Contemporary Significance of what has been. ree Approaches to Remembering the Past: Lineage, Gada, and Oral Tradition, S. 63. Siehe auch: Alber/et.al. (Hrsg.): Generations in Africa. Connections and Conflicts, S. 9. Tepilit Ole Saitoti: e worlds of a Maasai warrior. An autobiography, Berkeley [u.a.] 1988, S. xv. Während Saitoti die Existenz abgrenzbarer ethnischer Gruppen wie der Maasai voraussetzt, kann diese Einteilung durch die Quellen nicht verifiziert werden (Vgl. Kapitel 2.2).

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neu stattfinden ließen³⁴⁵. Ähnliche Reisen wurden auch im Rahmen von Initiationszeremonien vollzogen, so dass bisweilen große Strecken zurückgelegt werden mussten, um rituelle Feste an den sakralen Orten der Vorfahren durchzuführen³⁴⁶. Andere Formen solcher Übergabezeremonien beinhalteten die Errichtung einer steinernen Stele als symbolischen Bezug zu den Vorfahren³⁴⁷. Altersklassensysteme dienten also auch als Mechanismus zur Fortführung von Traditionen. Kulturelle Symbole und Praktiken wurden im zeremoniellen Rahmen innerhalb der Gemeinscha gepflegt und fortgeschrieben, zentrale Ereignisse aus der aktiven Zeit einer Altersgruppe wurden in Form von Assoziationen und Beinamen in das Altersklassensystem integriert. Weltbild und Denkhorizont spiegelten sich in der kulturellen Repräsentation. So entstanden zahlreiche Symbole und Praktiken, die auf einzelne kulturelle Topoi schließen lassen. Weit verbreitet waren im Zusammenhang mit Altersklassensystemen Paradigmen der Fruchtbarkeit, des Gruppenzusammenhalts, des Respekts vor Älteren sowie der Einteilung zeitlicher Abfolgen in Zyklen in den Vordergrund. Diese Grundelemente wurden in verschiedenen Ausprägungen und Variationen in das Zeremoniell von Altersklassensystemen integriert und boten auf diese Weise eine symbolische Ordnung sowie eine Orientierungsmöglichkeit. Grundlage für die herausgeprägten Segmente war die Vorstellung einzelner Lebensperioden (Rika³⁴⁸), die ein Mensch im Laufe seines Lebens durchlief. Der britische Kolonialbeamte Charles Dundas dokumentierte Anfang des 20. Jhs. die verschiedenen Bezeichnungen für solche Lebensabschnitte im Kikuyu-Gebiet Zentralkenias³⁴⁹: 1. 2. 3. 4. 5. 6.

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Morika ya Wabai. e age of young boys. Morika ya Laini. e age up to the time of circumcision. Morika ya Mumo. e age of young warriors. Morika ya Anake. e age of the senior warriors. Morika ya Karabai. e age of the married men. Morika ya Kiama. e age of the elders. Bezeichnungen für Lebensabschnitte³⁵⁰

Siehe Jensen: Das Gada-System der Konso und die Altersklassensysteme der Niloten, S. 11f. Siehe Clifford H. F. Plowman: Notes on the Gedamoch Ceremonies among the Boran, in: African Affairs XVIII.LXX (1919), S. 114–121, hier S. 119. Siehe Amborn: e Contemporary Significance of what has been. ree Approaches to Remembering the Past: Lineage, Gada, and Oral Tradition, S. 64. Siehe Dundas: Kikuyu Rika. S. 180. Vgl. ebd., S. 180. Vgl. ebd., S. 180. Siehe hierzu auch Muriuki: e Kikuyu in the pre-colonial period, S. 126 sowie Spear: e Mijikenda in the 19th century. Paper given at University of Nairobi, October 1971. Original Manuscript, S. 1. Eine ähnliche Aueilung dokumentiert Beaton: e Bari: Clan and Age-Class Systems:»[...] e initiated (kalipinök), the warriors (teton) and the elders (temejik).« (ebd., S. 109).

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Johann Ludwig Krapf beschrieb die einzelnen Altersstufen in der Mitte des 19. Jahrhunderts: »1) Kinder (ingera sing. engerai); 2) Knaben von 6-8 Jahren (Leiok); 3) Knaben von 8-14 Jahren (barnódi). Diese letzteren verlassen die Gesellscha der Frau und treten in die Gesellscha der Jünglinge (Ilmurán) ein, welchen sie dienen müssen als Köche, Wasserträger u.s.w. 4) Jünglinge (ilmuran) von 17 bis 25 Jahren. Dieß ist die eigentliche Kriegerclasse. 5) Die erwachsenen Männer (elkieko), welche geheirathet und ihren eigenen Viehstand erlangt haben. Noch älter (etwa 40-60 Jahre) sind 6) die Esabuki, und 7) die Aeltesten oder Greise, welche Elkidscharo oder Elkimirischo heißen«³⁵¹. Ähnliche Strukturen wurden im Raum Zentralkenias dokumentiert³⁵². Durch ihre Implementierung als »structuring structures«³⁵³ in der sozialen Praxis erscheinen Altersklassensysteme als regulierende und stabilisierende Mechanismen. Die Eingliederung einzelner Gruppen von Kindern ermöglichte einen gesteuerten Sozialisationsprozess, der den Übergang eines Kindes von der Auseinandersetzung mit der engeren Familiengemeinscha in die Interaktion mit der weiteren Umgebung der Siedlung und der Region regelte³⁵⁴. Dadurch wurde jede einzelne Person in ein Geflecht komplexer Sozialbeziehungen eingebunden, die einen großen Teil der persönlichen Identität als Teil der Gemeinscha ausmachten. Person und Gruppe waren durch die Altersorganisation eng miteinander verflochten. Studien zur afrikanischen Philosophie weisen auf die besondere Rolle sozialer Beziehungen in Personenkonzepten hin und betonen die Wichtigkeit einer Einbindung in Familienverbände und Gemeinschaen: »A person is perceived as definable only in terms of membership in society. [...] Right from the beginning of socialization one is brought up to develop such strong bonds with large kinship units that one comes to see oneself as necessary bound up with a community.«³⁵⁵ Die Strukturen vorkolonialer Gemeinschaen Tansanias wurden in ähnlicher Weise kommentiert, wobei ebenfalls die Einbindung des Individuums in dauerhae soziale Beziehungen als Teil der persönlichen Identitätsausprägung hervor351 352

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Krapf: Kurze Beschreibung der Massai, S. 441. Nakitare: A pre-colonial history of Abatachoni, 1500-1900 AD, S. 56f. Weitere Beispiele für Alterssegmente liefern u.a. Haberland: Das Gada-System der südwest-abessinischen Völker, S. 121 und Jensen: Das Gada-System der Konso und die Altersklassensysteme der Niloten, S. 6ff. Bourdieu: e logic of practice, S. 53. Vgl. Eisenstadt: African Age Groups: A Comparative Study, S. 9. Wiredu: Introduction: African Philosophy in our Time, S. 17. Siehe hierzu auch: Muriuki: e Kikuyu in the pre-colonial period, S. 126.

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gehoben wurde. So fasste der Historiker Wilson Niwagila den gedanklichen Hintergrund solcher Ordnungen wie folgt zusammen: »(Every) inividual has a place in the society, clan, family and home. His/her identity is credited to his clan and family. ›I am because we are and we are because I am‹ plays an important role. ere is always a tendency to discourage the ›I‹ idea of individualism. From childhood the individual is taught to think about himself in terms of others, with a ›WE‹ emphasis.«³⁵⁶ Die Rückbindung an soziale Strukturen schuf eine Verbindung zwischen persönlicher Identität und Gruppenidentität³⁵⁷, der sich in Form von Altersgruppen manifestierte. So erscheinen Altersklassensysteme als Ausdruck eines »[...] Bemühens, jede einzelne Kreatur, jedes Objekt und jede Eigenscha in eine Klasse einzuordnen«³⁵⁸. Durch Namensgebung waren sie als Gruppe im sozialen Umfeld definiert und die Gruppen klar abgrenzbar. Neben dem Familienverband bildete die Altersgruppe als eine der »[...] fundamentalen Gruppen innerhalb der Sozialstruktur [...]«³⁵⁹ einen weiteren Loyalitätspol (Hans-Ulrich Wehler³⁶⁰) im sozialen Raum ostafrikanischer Gemeinschaen. Aus der Zugehörigkeit zur Altersgruppe speiste sich sowohl die Rolle der einzelnen Person als auch deren Wissen und Erfahrung³⁶¹. Die Vermittlung erfolgte durch einen institutionalisierten Prozess, der Initiations- und Übergangsriten beinhaltete. Diese Riten wurden zu einer bestimmten Zeit des Jahres durchgeführt und regional abgestimmt. So setzte sich ein Prozess der Identitätsstiung in Gang, der über die Lebenszeit der einzelnen Mitglieder aufrecht erhalten wurde. In höher gelagerten Altersklassen mündete der Prozess in eine organisierte Weitergabe des erlernten Wissens³⁶², so dass sich eine Form zirkulärer Wissensvermittlung ergibt, die in manchen Modellen von Altersklassensystemen auch grafisch dargestellt wurde. An das Alter einer Person bzw. einer Altersgruppe war also eine Reihe von Faktoren geknüp, die sich auf 356

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Wilson B. Niwagila: From the Catacomb to a self-governing church: a case study of the African initiative and the participation of the foreign missions in the mission history of the NorthWestern Diocese of the Evang. Luth. Church in Tanzania, 1890-1965, Ammersbeck bei Hamburg 1988, S. 35f. Hervorhebung und Anführungszeichen im Original. Siehe auch: Alber/et.al. (Hrsg.): Generations in Africa. Connections and Conflicts, S. 2. »[...] the concern to assign every single creature, object or feature to a place within a class.« Claude Lévi-Strauss: Race et histoire, Paris 2007, S. 10, meine Übersetzung. »[...] fundamental groups of the societal structure [...](Elizabeth Colson/Max Gluckman (Hrsg.): Seven tribes of British Central Africa, Manchester 1968, S. 253), meine Übersetzung. Hans-Ulrich Wehler: Land ohne Unterschichten? neue Essays zur deutschen Geschichte, München 2010, S. 69. Siehe z.B. Joseph omson: Durch Massai-Land. Forschungsreise in Ostafrika zu den Schneebergen und wilden Stämmen zwischen dem Kilima-Ndjaro und Victoria-Njansa in den Jahren 1883 und 1884, Leipzig 1885, S. 375ff. und Weiss: Die Völkerstämme im Norden DeutschOstafrikas. Siehe Helbling: eorie der Wildbeutergesellscha, S. 134.

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die persönliche Unabhängigkeit sowie den sozialen Status und die Autorität einer Person auswirkten³⁶³. Darüber hinaus schrieben Verhaltensregeln für einzelne Altersklassen einen respektvollen Umgang mit Mitgliedern höherer Altersklassen vor und beinhalteten festgelegte Grußformeln, Anrede und das Bitten um Erlaubnis, bevor man einer Gruppe von Mitgliedern höherer Altersgruppen beiwohnen dure. Der Umgang mit Mitgliedern der eigenen Altersgruppe konnte zwangloser gestaltet werden. So bezeichneten sich Mitglieder der selben Altersgruppe als Brüder und duren etwa offener über sexuelle Dinge sprechen, zwangloser scherzen und Mahlzeiten vom selben Teller essen³⁶⁴. Weiter gab es Kontaktverbote zwischen den Altersklassen, die das gemeinsame Speisen, sexuelle Kontakte und Heirat regulierten. Besonders gegenüber weiblichen Mitgliedern anderer Altersklassen war ein überlegter, distanzierter Umgang vorgegeben, der offene sexuelle Offerten und enge Kontakte verbot³⁶⁵. Der Umgang mit den Mitgliedern anderer Altersklassen, besonders mit deren weiblichen Mitglieder, sah einen distanzierten Umgang miteinander vor, was das Verbot des gemeinsamen Mahls sowie besonders das Verbot sexueller Offerten und Kontaktaufnahmen mit den weiblichen Mitgliedern gewisser anderer Altersklassen beinhaltete³⁶⁶. Für das Kikuyu-Gebiet berichtet der Historiker Godfrey Muriuki über die Institution eines jeweils eigenen Rates für jede Altersklasse zum Zweck der Kontrolle der gesellschalichen Konventionen³⁶⁷. Neben der Rolle von Altersklassensystemen in der Interaktion des einzelnen Mitglieds mit der Gemeinscha wurden ihnen von vielen Beobachtern auch politische Funktionen zugeschrieben: Vergleiche mit westlichen Herrschasstrukturen wurden häufig gezogen. So bezeichnete Werner das im Raum Südäthiopiens und Nordkenias verbreitete sog. »Gada-System« als eine »oligarchische Republik« und nannte die höchste Altersklasse ein »repräsentatives Organ«³⁶⁸. Ein weiteres 363

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Vgl. Namet: Dictionaire de l’Afrique. Histoire, Civilisation, Actualite, S. 72 sowie Spencer: e Samburu, S. 9 und Joseph O. Vogel (Hrsg.): Encyclopedia of precolonial Africa. Archaeology, History, Languages, Cultures, and Environments, Walnut Creek, London, New Delhi 1997, S. 218. Siehe Ruel: Kuria Generation Classes, S. 19 und Frobenius: Unter den unsträflichen Aethiopen, S. 318. Vgl. Ruel: Kuria Generation Classes, S. 19. Ein Zusammenhang zwischen Speiseverbot und Exogamie wird für einige Gebiete Äthiopiens berichtet. So war in diesem Fall für jede Altersgruppe der Verzehr eines bestimmten Tieres verboten, was ebenfalls ein gleichzeitiges Heiratsverbot zwischen den Mitgliedern der Gruppe beinhaltete, die nach jenem Tier benannt wurde (Siehe Frobenius: Unter den unsträflichen Aethiopen, S. 156). Beispielsweise dure die Altersgruppe der Sonkoda keinen Leoparden Pii essen und den Mitgliedern der nach dem Leopard benannten Altersgruppe Pii wurde die Heirat mit einem Mitglied der Sonkoda verboten (siehe ebd., S. 156). Siehe ebd., S. 318. Siehe Godfrey Muriuki: A History of the Kikuyu. 1500-1900, Nairobi et. al. 1974, S. 121. A. Werner: e Galla of the East Africa Protectorate, in: African Affairs XIII.L (1914), S. 121– 142, 262–287, hier S. 270. Siehe auch: Jensen: Neuere Notizen über das Gada-System, S. 84.

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in diesem Zusammenhang erwähntes Konzept wurde mit dem Begriff der »GadaRepublik«³⁶⁹ belegt und bezog sich auf die politische Organisationsform vieler Gesellschaen des vorkolonialen Ostafrika³⁷⁰. Die Charakterisierung des Altersklassensystems als politische Institution wird aufgrund der weiten Verbreitung und des Stellenwerts innerhalb ostafrikanischer Gesellschaen vorgenommen; Sie wirkten sich auf viele Bereiche des Lebens aus³⁷¹. Einen solch ganzheitlichen, schwer einzuordnenden Charakter der Altersklassenorganisation bestätigt auch deren Beschreibung als religiöses System mit einem »Priesterhäuptlingstum«³⁷² bzw. einem »Wahlkönigtum«³⁷³. Die Hauptcharakteristika von Altersorganisationen lassen sie als Versuch einer allgemeinen Regulierung menschlichen Verhaltens erscheinen. Dementsprechend wurden diesen Systemen politische, philosophische, rituelle, soziale und mystische Elemente attestiert, was ihre Komplexität und Variabilität unterstreicht. Sie entfalteten ihre Wirkung sowohl im persönlichen Bereich eines einzelnen Gemeinschasmitgliedes als auch im sozialen Kontext der Altersgruppe, des Geschlechts und der Generation. Altersklassensysteme vermittelten grundlegende Werte, Normen und Paradigmen. Sie stieten Identität und Gruppenzusammenhalt auf der Ebene der Altersgruppe und schrieben Verbindungen zu Familienverbänden fort. Weiterhin bezogen sie sich auf Fruchtbarkeit, sowohl im Sinne ertragreicher Ernte bzw. Mehrung des Viehbestands als auch im reproduktiven Kontext. Sie beinhalteten einen Naturbezug, indem sie zirkuläre Naturgegebenheiten kulturell nachbildeten und förderten durch die Einbindung der Vorfahren ein zyklisches Verständnis von Zeit. Gleichzeitig waren sie Institutionen, die Respekt und Vorrang des Älteren förderten. Altersklassensysteme erscheinen mithin als elaborierte Werkzeuge sozialer Stabilität, die ihre komplexen Wirkungsmechanismen in vielen Lebensbereichen entfalteten. Bisweilen wurde ihnen eine Natürlichkeit attestiert, die von der westlichen Moderne beeinflusste Vorstellungen einer Entfremdung des Menschen westlicher Staaten spiegelt. Der Ethnologe Eike Haberland beschrieb sie als Gegenbild einer europäischen Industriegesellscha, die sich vermeintlich von ihrer Natürlichkeit entfernt hat³⁷⁴:

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George Peter Murdock: Africa, Its People and eir Culture History, 1959, S. 35. Siehe ebd., S. 35. ebd., S. 35. Bernatzik (Hrsg.): Afrika. Handbuch der angewandten Völkerkunde, S. 801. Siehe James Bruce: Travels to discover the source of the Nile, in the years 1768, 1769, 1770, 1771, 1772, and 1773. Bd. 2: To Abyssinia through an unknown land, Edinburgh 1790, S. 360 sowie Hiob Ludolf: Historia Aethiopica: Iobi Ludolfi aliàs Leutholf dicti Historia aethiopica sive brevis et succincta descriptio regni Habessinorum quod vulgò malè Presbyteri Iohannis vocatur, Frankfurt am Main 1681, Buch I. Kap. XVI. Siehe hierzu auch: Steinbrich: Erzählungen und Mythen in Afrika, S. 72.

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»Nicht unverständliche Form, sondern lebendige Fülle tritt uns entgegen, nicht Willkür und Künstlichkeit des Menschen, sondern der Wille des Menschen zu einer harmonischen Ordnung in seiner Welt, das Streben, das menschliche Dasein in einen natürlichen Zusammenhang mit dem Ganzen zu bringen.«³⁷⁵ Ähnlich romantisiert erscheinen Alters- und Generationenordnungen sowohl in den Beobachtungen von Missionaren, Reisenden und Völkerkundlern als auch in der früheren ethnologischen Forschung zu Altersklassen und Generationenordnungen. Der Ethnologe Adolf E. Jensen bezeichnete das »Gada-System« als »[...] Kalendersystem [...]«, welches »das Lebensschicksal [...] unausweichlich bestimmt«³⁷⁶. Die vorgestellten Modelle in ihrer von Völkerkundlern und Ethnologen dokumentierten und interpretierten Form suggerieren Stabilität und zeichnen ein Bild von Altersklassensystemen als kohärente Orientierungswerkzeuge, die den Generationenprozess einer Gemeinscha steuerten. Bei genauer Betrachtung zeigen sich allerdings einige Probleme solcher Deutungen, die ein solches, statisch wirkendes Bild in Frage stellen und die dynamischen Elemente solcher Strukturen in den Vordergrund treten lassen. Im Folgenden wird daher auf Probleme der bisherigen Forschung zu Altersklassensystemen hingewiesen. Zunächst betri das die Widersprüche, welche sich aus der Methodik der Forscher ergaben. Sowohl aus der Konzeption der Betrachtungsweise als auch aus dem Entstehungskontext der erhobenen Daten folgen Zweifel, auf die näher einzugehen sein wird. Die spezifischen, der Forschung inhärenten Probleme weisen auf eine allgemeinere Problematik hin: Suggerieren Modelle von Altersklassensystemen eine gewisse Statik, so weisen die Quellen im Gegenteil auf große Vielfalt und Dynamik hin. Einzelne Beispiele aus den Quellen werden daher analysiert und den Ergebnissen von völkerkundlicher und ethnologischer Forschung gegenübergestellt. Daraus ergibt sich, dass Altersklassensysteme in Ostafrika unterschiedliche Ausprägungen hatten und sich eine historische Vielfalt belegen lässt, die sich eindeutigen Klassifizierungen und Typologisierungen widersetzt. Mehr noch: solche Vorhaben widersprechen der Dynamik, welche solchen Institutionen zugrunde lag. Trotz der vermeintlichen Undurchsichtigkeit und Vielgestaltigkeit waren Altersklassensysteme dennoch an einigen grundlegenden Prinzipien orientiert und nutzten einen Kernbestand von Symbolen und Praktiken, die in Ostafrika weit verbreitet waren.

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Haberland: Das Gada-System der südwest-abessinischen Völker, S. 7. Jensen: Neuere Notizen über das Gada-System, S. 91.

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3.3 Altersklassenordnung oder »Altersklassenunordnung«? Institutionalisierte Altersklassensysteme waren ein weit verbreitetes Phänomen, doch waren sie weder gleichförmig noch in allen Gebieten in ähnlicher Ausprägung zu finden³⁷⁷. Es ergaben sich zahlreiche lokale Unterschiede auf struktureller Ebene, wenn etwa die Namensgebung eines Altersklassensystems zirkulär verlief, einzelne Altersgruppen aber linear benannt wurden und keine wiederkehrenden Bezeichnungen vorgesehen waren. Es wurde also sowohl Zirkularität als auch Kontinuität repräsentiert³⁷⁸. Andere Konzepte der Namensgebung für Altersgruppen waren gänzlich linear angelegt und verwendeten statt wiederkehrenden Namen eine Benennung der Gruppen nach einem besonderen Ereignis, welches innerhalb der Zeit der Initiation der jeweiligen Gruppe stattgefunden hatte. Auch konnte der Name einer Altersgruppe wechseln³⁷⁹. Diese Flexibilität und historische Vielfalt spiegelt sich auch in der wissenschalichen Forschung zu Altersklassensystemen. So wurde versucht, anhand der Hauptmerkmale des jeweiligen Systems eine Typologie zu erstellen, die zwischen »Initiationsmodell«, »Generationsmodell«, »residentiellem Modell« und »Regimentsmodell« unterscheidet³⁸⁰. Während für das »Initiationsmodell« besonders die Übergänge der einzelnen Phasen und deren Verbindung mit festgelegten Transitionszeremonien hervorgehoben werden, wie sie für einige Gebiete in Kenia und Tansania beschrieben wurden, umfasst das »Generationsmodell« besonders die sog. »Gada«-Altersklassensysteme vorkolonialer Gemeinschaen in Südäthiopien und Nordkenia. Als Hauptcharakteristikum wurde in diesem Fall der besonders stark ausgeprägte Bezug zur Generation identifiziert, der alle Söhne eines Vaters auch ungeachtet großer chronologischer Altersunterschiede in eine einzige Altersgruppe zusammenfasste. Das »residentielle Modell« bezieht sich sowohl auf Regionen in West- als auch in Ostafrika; das hervorgehobene Charakteristikum ist die räumliche Anordnung der einzelnen Altersgruppe in Form eigener Siedlungen. Im vorwiegend für das vorkoloniale Südafrika untersuchten »Regimentsmodell« treten Altersklassensysteme im Kontext der militärischen Organisation in den Vordergrund, da die Heereseinheiten eine nach Altersgruppen geordne-

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Der Ethnologe und Religionswissenschaler Otto Bischoerger zeigte, dass zwar in weiten Teilen Tansanias, Kenias und Ugandas solche Systeme verbreitet waren, nennt aber auch Gebiete, in denen sie nicht belegt werden konnten, wie z.B. im Sukuma-Gebiet Tansanias, vgl. Bischofberger: e generation classes of the Zanaki (Tanzania), S. 75. Webster und Odongo hingegen sprechen von einer Abstimmung der Altersklassensysteme in großen Gebieten Westkenias und Teilen Ugandas, während der Historiker omas Spear dies ebenfalls für das Hinterland der ostafrikanischen Küste belegt, siehe Odongo/Webster: e Central Lwo During the Aconya, S. 311 und Spear: e Kaya Complex, S. 7f. Siehe Glazier: Generation Classes among the Mbeere of Central Kenya, S. 321ff. Wie z.B. im (irua-System, das in Kenia belegt wurde, siehe ebd., S. 313ff. Siehe Zitelmann: Altersklassen, S. 37f.

Altersklassenordnung oder »Altersklassenunordnung«?

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te Struktur aufwiesen³⁸¹. Es kann jedoch von einer starken Vermischung dieser Hauptcharakteristika ausgegangen werden, so dass sich diese Kategorisierung in der Praxis als irreführend erweist. Es finden sich meist die Merkmale mehrerer oder aller der genannten Typen im Kontext einer untersuchten Gemeinscha³⁸². Auch in den Quellen wird von Inkohärenzen und Flexibilität auf lokaler Ebene berichtet. Diese beziehen sich sowohl auf die Abfolge der Generationeneinheiten als auch auf die Regelmäßigkeit von Initiationsriten. Für einzelne Gemeinschaen finden sich Hinweise auf praktizierte Riten, während andere Quellen ausdrücklich betonen, dass es keine systematische Altersorganisation gebe. Im südäthiopischen Raum nahm Leo Frobenius etliche Ausnahmen für die von ihm beobachteten Regelungen innerhalb der Altersklassensysteme wahr. Er berichtete von regelmäßigen Abfolgen von Altersgruppen bei Initiations- und Transitionsriten, während er gleichzeitig Ausnahmen von dieser Regelmäßigkeit belegte³⁸³. In den Aufzeichnungen des abessinischen Mönchs Bahrey werden fünf Altersgruppen des 16. Jahrhunderts beschrieben, die regierten, ohne dass ihre Söhne in das Altersklassensystem eintraten³⁸⁴. Weiterhin wurde über Regelungen berichtet, die über einen Zeitraum von vierzig Jahren nicht befolgt worden seien³⁸⁵. Weitere Berichte schildern gar die gemeinsame Beschneidung von Kindern und alten Männern im Rahmen einer Inititationszeremonie³⁸⁶. Der Missionar Johann Ludwig Krapf charakterisierte die in ethnologischer Forschung und anderen Quellen als Altersklasse in Erscheinung tretende Gruppe der Luba als Priester und vertrat die Auffassung, dass diese Gemeinscha weder Oberhaupt noch Gesetze habe³⁸⁷. Das Wort Luba wurde hingegen vom abessinischen Mönch Bahrey mit »[...] die zur gleichen Zeit Beschnittenen«³⁸⁸ übersetzt. Im Kikuyu-Gebiet Zentralkenias entstanden ebenfalls Variationen beim Versuch, die dort verbreiteten Altersklassensysteme zu rekonstruieren. Die Ergebnisse von fünf verschiedenen Forschern wiesen große Unterschiede auf, ohne dass geklärt werden konnte, wie diese Unterschiede zustande gekommen waren³⁸⁹. Diskrepanzen in der Rekonstruktion von Altersklassensystemen konnten sich auch durch die Art der Zeitrechnung ergeben, wenn z.B. ein lunares Kalendersystem als Basis der Zeitrechnung dien-

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Vgl. ebd., S. 37f. Siehe auch: ebd., S. 37f. Siehe Frobenius: Unter den unsträflichen Aethiopen, S. 153. Siehe Schleicher (Hrsg.): Geschichte der Galla. Bericht eines abessinischen Mönches über die Invasion der Galla im sechzehnten Jahrhundert, S. 21. Siehe ebd., S. 21. Siehe Bernatzik (Hrsg.): Afrika. Handbuch der angewandten Völkerkunde, S. 803. Siehe Krapf: Kurze Beschreibung der Massai, S. 77f. Ähnliche Hinweise auf einzelne Gruppen ohne Altersklassensystem schildert Jensen: Neuere Notizen über das Gada-System, S. 84ff. Schleicher (Hrsg.): Geschichte der Galla. Bericht eines abessinischen Mönches über die Invasion der Galla im sechzehnten Jahrhundert, S. 15. Muriuki: A History of the Kikuyu. 1500-1900, S. 20.

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te und sich entsprechende Ungenauigkeiten bei der Übertragung einstellten³⁹⁰. Heinrich Schurtz kam angesichts unterschiedlicher Beschreibungen ostafrikanischer Altersklassen zu folgendem Schluss: »Vergleicht man freilich die verschiedenen Schilderungen, so ergeben sich Widersprüche, die nicht einfach auf ungenauer Beobachtung beruhen können, sondern wohl auch darauf hindeuten, dass bei den verschiedenen Abteilungen des Volkes die Verhältnisse nicht überall dieselben sind.«³⁹¹ Durch die dezentrale Organisationsform und regional variierende Dynamiken ergaben sich demnach Unterschiede in der jeweiligen Ausprägung der Altersordnungen. In einigen globalen Charakteristika scheinen Übereinstimmungen zwischen den im 16. Jahrhundert erwähnten Systemen und später dokumentierten Formen zu bestehen. So wurden im 16. Jahrhundert Bezeichnungen für Altersklassen dokumentiert, die sich in späteren Quellen ebenfalls wiederfanden³⁹². A.W. Schleicher, der 1893 eine Edition der Quelle eines abessinischen Mönchs aus dem Jahr 1601 übersetzte und herausgab, folgerte daraus, dass in diesem Fall das Altersklassensystem seit dem 16. Jahrhundert ohne große Veränderungen durchgeführt worden war³⁹³. Die Annahme, dass diese Übereinstimmungen auf eine gleichförmige Praktizierung über mehrere Jahrhunderte schließen lassen, kann jedoch nicht empirisch untermauert werden³⁹⁴. Ähnlich problematisch erscheinen theoretische Vorüberlegungen der jeweiligen Forscher. So strebte Leo Frobenius an, eine Reihe »kulturgeographische(r) Gesetze« im ostafrikanischen Raum nachzuweisen³⁹⁵. Der Versuch, die sozialen Strukturen Ostafrikas mit der biblischen Überlieferung in Verbindung zu bringen, bot weiterhin die Gefahr einer Verzerrung³⁹⁶. So charakterisierte der Ethnologe Adolf Ellegard Jensen Zahlen, welche im biblischen Kontext als wichtig erachtet werden³⁹⁷, als besonders signifikant für afrikanische Altersklassensysteme³⁹⁸. Der Völkerkundler Hugo Adolf Bernatzik stellte einen Bezug zwischen der verwendeten Zahl 40 und »jüngeren 390 391 392 393 394

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Siehe z.B. Amborn: e Contemporary Significance of what has been. ree Approaches to Remembering the Past: Lineage, Gada, and Oral Tradition, S. 64. Schurtz: Altersklassen und Männerbünde, S. 129. Siehe Schleicher (Hrsg.): Geschichte der Galla. Bericht eines abessinischen Mönches über die Invasion der Galla im sechzehnten Jahrhundert, S. 16 Anm. 1. Siehe ebd., S. 16 Anm. 1. Für eine generelle Kritik des Umgangs mit Quellenkunde im Kontext afrikanischer Geschichte siehe siehe omas T. Spear: New Approaches to Documentary Sources, in: Toyin Falola & Christian Jennings (Hrsg.): Sources and Methods in African Society: Spoken, Written, Unearthed, Rochester 2004, S. 169ff. Frobenius: Unter den unsträflichen Aethiopen, S. 45ff. Siehe z.B. Werner: e Galla of the East Africa Protectorate. In diesem Falle die Zahlen »40« und »9«. Siehe Jensen: Das Gada-System der Konso und die Altersklassensysteme der Niloten, S. 93.

Altersklassenordnung oder »Altersklassenunordnung«?

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semitischen Einflüssen«³⁹⁹ her, die er in solchen Altersordnungen zu erkennen glaubte. Aufgrund dieser teilweise stark ausgeprägten Verformung der vorhandenen Zeugnisse vor dem Hintergrund der jeweiligen theoretischen Ausrichtung der beteiligten Forscher⁴⁰⁰ widersetzen sich die Überlieferungen einer eindeutigen Klassifizierung und lassen sich nicht mit Vorstellungen numerisch kohärenter Systeme vereinbaren. Es ergibt sich hingegen ein Bild schwer zu ordnender Strukturen, die im 19. Jahrhundert tief greifenden Transformationsprozessen ausgesetzt waren⁴⁰¹. Sowohl zeitgenössische Quellen als auch die Ergebnisse ethnologischer und anthropologischer Studien weisen auf eine historische Vielfalt und Variabilität hin. Der Ethnologe Adolf Ellegard Jensen kam nach eingehender Analyse verbreiteter Altersklassenmodelle und deren rein rechnerischer Plausibilität zu einem Schluss, den er mit dem Begriff einer »Altersklassenunordnung« charakterisierte⁴⁰². Altersklassensysteme folgten keinem Paradigma statischer Ordnungskategorien, das sich in der Wirklichkeit umsetzen lassen musste, sondern boten flexible Orientierungsmöglichkeiten für das Zusammenleben. Gerade die Flexibilität in der Praxis ermöglichte Stabilität in der Persistenz dieser Konzepte von Lebensalter. Als Ergebnis menschlichen Handelns konnten sie schnell an Veränderungen der Umgebung angepasst werden⁴⁰³. So konnte man adaptiv mit neuen Einflüssen umgehen und Altersordnungen als integrative und stabilisierende Mechanismen nutzen. Anhand der einzelnen überlieferten Beispiele und Hinweise zeigt sich ein Zusammenwirken von symbolischen und sozialen Strukturen, wodurch sich Altersklassensysteme als anpassungsfähige Instrumente symbolischer Ordnung charakterisieren lassen. Sie regelten Übergänge und Ausprägungen verschiedener Lebensphasen, wirkten sich auf viele Lebensbereiche aus, schlossen Gemeinschasmitglieder gleichen sozialen Alters in Gruppen zusammen und förderten so die Gruppenidentität der einzelnen Mitglieder. Altersorganisationen boten kulturell überformte Modelle von Altersstufen, die, rituell institutionalisiert, einen Mechanismus zur Sinnstiung der einzelnen Lebensphasen sowie einen Motor der Sozialisation darstellten. Die Aufrechterhaltung solcher Systeme lieferte eine symbolische Ordnung für die soziale Interaktion sowohl auf lokaler als auch auf regionaler Ebene. Sie wirkten als komplementäre Ordnungsstruktur zu Familie und Klan, regelten gemeinschaliche Verpflichtungen der Gruppenmitglieder und boten Kanäle für die Besetzung militärischer, politischer und re399 400

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Bernatzik (Hrsg.): Afrika. Handbuch der angewandten Völkerkunde, S. 804. Siehe Dronen: Anthropological historical Research in Africa: How do we ask?, S. 41 sowie Jon Abbink: Reconstructing Haberland Reconstructing the Wolaitta: Writing the History and Society of a former Ethiopian Kingdom, in: History in Africa 33 (2006), S. 1–15, hier S. 6. Vgl. Simon Kurimoto Esei; Simonse (Hrsg.): Conflict, Age and Power. Age Systems in Transition, Oxford 1998, S. 5. Siehe Jensen: Neuere Notizen über das Gada-System, S. 85. Siehe auch: Zitelmann: Formen und Institutionen politischer Herrscha, S. 63.

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ligiöser Ämter. Neben historischem Quellenmaterial weisen die Ergebnisse ethnologischer und linguistischer Studien ebenfalls auf eine weite Verbreitung von Altersklassensystemen hin und betonen deren Rolle als fester Bestandteil ostafrikanischer Gesellschaen⁴⁰⁴: »Comparative ethnological and linguistic studies [...] suggest that the institutions of age-organization [...] must have been part of the very fabric of East African [...] culture.«⁴⁰⁵ Trotz ihrer regionalen Vielfalt lassen sich somit einige kulturelle Gemeinsamkeiten erkennen, die im östlichen Afrika verbreitet waren. Dadurch ergeben sich Rückschlüsse auf ein »kulturelles Inventar von Symbolen und Praktiken«⁴⁰⁶, aus dem die verschiedenen Formen von Altersklassensystemen konstruiert wurden⁴⁰⁷. Elemente dieses Inventars fanden in Riten ihre Verwendung, wurden unterschiedlich kombiniert und zeigten sich offen für neue Einflüsse. So entstanden geschützte Bereiche der Sinngebung⁴⁰⁸, die sich auf zahlreiche Lebensbereiche auswirken konnten. Sie entfalteten ihre Wirkung in Alltag, Öffentlichkeit, Kultur und Politik. In der Praxis wirkten sie sich unterschiedlich aus, so dass die Integrationskra der Altersklassensysteme bisweilen als ungewiss bezeichnet wurde⁴⁰⁹. Ferner waren Altersorganisationen entgegen der Vorstellungen einiger Völkerkundler nicht statisch, sondern anpassungsfähig und wandelbar. Bei ostafrikanischen Altersorganisationen handelte es sich vielmehr um flexible soziale Institutionen, also »[...] vergleichsweise stabile, dauerha aufeinander bezogene Verhaltensmuster, die in einer sozialen Gruppe wichtigen Bedürfnissen dienen und daher für legitim gehalten und mit sozialen Sanktionen durchgesetzt werden«⁴¹⁰. Zeit wurde dabei als »beziehungsstiende Synthesetätigkeit«⁴¹¹ genutzt, um Erfahrung und Wissen zu tradieren⁴¹². Zeitliche und soziale Ordnungen standen dabei in einem dialektischen Verhältnis. In ihrer Wirkung auf soziale und poli404 405

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Siehe auch: Wafula: ’Tradition’ versus ’Modernity’: Generational Conflict in Vuta N’Kuvute, Kufa Kuzikana, Msimu Wa Vipepeo and Tumaini, S. 139. Galaty: Maasai Expansion & the New East African Pastoralism, S. 66. Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Charles Ambler: »While there is a good deal of confusion about the nature of generational affiliation in those areas where it existed, there is no question as to the role and importance of the bonds of age« (Ambler: Kenyan communities in the age of imperialism, S. 23). »[...] cultural inventory of symbols and practices [...]«, Isichei: A history of African societies to 1870, S. 99, meine Übersetzung. Vgl. ebd., S. 99. Siehe auch: Slavoj Žižek: Violence. Six sideways reflections, New York 2008, S. 26. Kurimoto (Hrsg.): Conflict, Age and Power. Age Systems in Transition, S. 1f. Klaus F. Röhl: Rechtssoziologie. ein Lehrbuch, Köln [u.a.] 1987, S. 394. Manuela Albrecht: Die individuelle und soziale Konstruktion von Wirklichkeit im Hinblick auf die Zeit, Diss., Münster: Westfälische Wilhelms- Universität, 2005, S. 162. Vgl. ebd., S. 162. Siehe hierzu auch: P.H. Gulliver: Social control in an African society: a study of the Arusha: agricultural Masai of Northern Tanganyika, 1963, S. 10f.

Altersklassenordnung oder »Altersklassenunordnung«?

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tische Ordnungen wurden Altersklassensysteme unterschiedlich genutzt: Einerseits wirkten sie als Stabilisator, der Traditionen fortschreiben und die gegebenen Strukturen bewahren konnte, andererseits boten sich Verhandlungsräume für das Einbringen neuer Einflüsse. Eine Stabilität tradierter Altersordnungen ergab sich durch »Habitualisierungsprozesse und (der) daraus (folgenden) Institutionalisierung [...]«⁴¹³. So konnten sie als etwas Gegebenes, als »[...] etwas außer- oder sogar (übermenschlich) Liegendes erfahren [...]«⁴¹⁴ werden. Mit dem Eintritt in die primäre Sozialisationsphase der Heranwachsenden wurden Altersordnungen über die Vermittlung durch vertraute, ältere Personen des sozialen Umfelds tradiert. Durch die emotionale Bindung ergab sich eine Identifizierung mit den Werten, Normen und Konventionen, die mit der Altersordnung assoziiert wurden. Das Durchlaufen von Initiations- und Traditionsriten konnte auf diese Weise eine Symmetrie von äußeren Ordnungen und inneren Überzeugungen fördern⁴¹⁵. Durch die grundsätzlich unabgeschlossenen Charakter von Sozialisation⁴¹⁶ ergab sich jedoch auch eine Offenheit für neue Impulse und die Möglichkeit, bestehende Ordnungen in Frage zu stellen. Altersklassensysteme waren somit Instrumente für Veränderung wie Beharrung, flexible Bezugsrahmen, die sich aus einem reichhaltigen kulturellen Inventar speisten. Daher bieten sie einen Ausgangspunkt für zahlreiche mögliche Untersuchungen. Ein zentraler Aspekt der kulturellen Überformung bezieht sich auf die Art, wie ostafrikanische Gesellschaen mit Gewalt umgingen. Beim Blick auf die Gewalt werden Altersorganisationen immer wieder einzubeziehen sein, ein »[...] dynamisches Eigenleben«⁴¹⁷ dieser Institutionen sowie deren Beständigkeit wird uns im Folgenden immer wieder begegnen.

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Albrecht: Die individuelle und soziale Konstruktion von Wirklichkeit im Hinblick auf die Zeit, S. 167. ebd., S. 167. Vgl. ebd., S. 172. Vgl. ebd., S. 174. Röhl: Rechtssoziologie, S. 400.

4 Gewalt in ostafrikanischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts

4.1 »Kriegergeist« und junge Krieger 4.1.1 Kriegermythen und Kriegertraditionen

Welche Rolle spielte die Gewalt in ostafrikanischen Gesellschaen? Welche Vorstellungen hatten Ostafrikaner von legitimer Gewalt, welche Rolle spielten diejenigen, die Gewalt ausübten? Welche Regeln und Grenzen der Gewalt bzw. Institutionen gab es, deren Aufgabe es war, die Gewalt einzuhegen? Bereits ein oberflächlicher Blick verdeutlicht die Omnipräsenz ostafrikanischer Krieger in den Berichten europäischer Beobachter. Geschichten über Begegnungen mit Kriegern sind ein fester Bestandteil der Überlieferungen aus Ostafrika. Die Figur des afrikanischen Kriegers war einer der Hauptbezugspunkte für europäische Imaginationen. Darstellungen geschmückter Krieger aus Ostafrika zieren die Titelbilder einiger Ausgaben veröffentlichter Reiseberichte, die von gefährlichen, stolzen Kriegern erzählen. Sie nahmen Bezug auf bereits bekannte Kriegerfiguren aus der Südsee und übertrugen Vorstellungen vom »edlen Wilden« auf Afrika⁴¹⁸. Kriegerbilder dienten als Kontrastfolie zu europäischen Männlichkeitsbildern⁴¹⁹ und beinhalteten o Projektionen von Qualitäten, die aus Sicht westlicher Betrachter im eigenen Zivilisationsprozess verloren gegangen waren⁴²⁰. In den Berichten europäischer Beobachter erscheinen ostafrikanische Krieger als stolze, reich geschmückte und mit verzierten Waffen ausgerüstete Figuren, als besonders prägnante Elemen-

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Siehe o.A.: e Noble Savage, in: e Aldine 5.6 (1872), S. 110. Siehe auch: Ter Ellingson: e myth of the noble savage, Oakland, CA 2001 sowie Schubert: e ‘German nation’ and the ‘black Other’: social Darwinism and the cultural mission in German colonial discourse, S. 403. Siehe Sandra Maß: Weiße Helden, schwarze Krieger. zur Geschichte kolonialer Männlichkeit in Deutschland 1918-1964, Köln [u.a.] 2006, S. 2. Vgl. John Tosh: Was soll die Geschichtswissenscha mit Männlichkeit anfangen? Betrachtungen zum 19. Jahrhundert in Großbritannien, in: Christoph Conrad; Martina Kessel (Hrsg.): Kultur und Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, Stuttgart 1998, S. 160–206, hier S. 194f.

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Gewalt in ostafrikanischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts

te einer Szenerie, geprägt von Fremdheit, Wildheit und Bedrohung⁴²¹. O waren es die Krieger einer Gemeinscha, mit denen Besucher zuerst konfrontiert wurden. Parallel zu dieser exponierten Stellung nach außen waren Krieger in soziale, wirtschaliche, politische und religiöse Strukturen eingebunden. Sie stehen somit für die fließenden Übergänge zwischen den Sphären des Lebens in dezentral organisierten Gemeinschaen⁴²². Um die Figur des Kriegers ranken sich indigene Erzähltraditionen, die mythisch überhöhte Kriegerfiguren und Überlieferungen großer Taten einzelner Anführer enthalten. Im Folgenden wird daher das Bild des Kriegers mit einem ostafrikanisch geprägten Denkhorizont in Verbindung gebracht, indem die Kriegerfiguren der mündlichen Überlieferung untersucht werden. In den Erzähltraditionen treten sie als Beschützer, Jäger und Helden auf, von denen das Schicksal ihrer Herkunsgemeinscha abhängt: Kriegerfiguren schützen ihre Siedlungen, Familien und Klans vor externen Bedrohungen, retten sie aus Notsituationen und nutzen dabei mystische Kräe. Ihre Taten wurden in die regionale Erinnerungskultur integriert und bildeten Referenzpunkte für die kollektive Identitätsbildung. Geschichten über Krieger machen einen beträchtlichen Teil der mündlichen Traditionen Ostafrikas aus. So finden sich Geschichten über mythische Ahnherrn, die als Archetypen des erfolgreichen Jägers, Händlers oder Kriegers aureten. Die Erinnerung an Personen mischte sich mit mythischer Überhöhung und schuf Geschichten, die auf lokaler Ebene weitergegeben wurden. Der Tropenmediziner Friedrich Fülleborn beobachtete in den Jahren nach 1896, wie die mündliche Tradition gepflegt wurde: »Die Familienhäupter wissen mit einer staunenswerten geschichtlichen Kenntnis eine ganze Reihe ihrer Ahnen namentlich aufzuzählen und halten mit gewissem Stolz die Familientraditionen [...] gewissenha fest. Auch behält jede Familie den Namen des Urvaters strengstens bei, indem jedes nachgeborene Kind, sei es Knabe oder Mädchen, neben dem Rufnamen den Namen des Urvaters weiterführt«⁴²³. Obwohl die Situationen, in denen diese Traditionen dokumentiert wurden, stark von Machtinszenierungen geprägt war, können die Inhalte und Verweise auf my421

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Kriegerbilder zieren zahlreiche Ausgaben bekannter Reiseberichte und wurden auch im missionarischen Kontext verwendet, vgl. orsten Altena: »Ein Häuflein Christen mitten in der Heidenwelt des dunklen Erdteils«. zum Selbst- und Fremdverständnis protestantischer Missionare im kolonialen Afrika 1884-1918, Münster [u.a.] 2003, S. 78. Siehe auch: Uzoigwe: e Warrior and the State in Precolonial Africa, S. 21. Fülleborn: Das deutsche Njassa- und Ruwuma-Gebiet, Land und Leute, nebst Bemerkungen über die Schire-Länder, S. 48. Siehe auch: Walter Angus Elmslie: Among the wild Ngoni, New York et.al. 1899, S. 76. So berichtete bspw. Falkenhorst von Lobesliedern über Mirambo aus dem Nyamwezi-Gebiet (Falkenhorst: Schwarze Fürsten. Bilder aus der Geschichte des dunklen Erdteils, S. 91). Siehe auch: Henry Morton Stanley: Wie ich Livingstone fand, Wiesbaden 1955, S. 152.

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thische Figuren dennoch als Hinweis darauf gesehen werden, wie sehr solche Erzählungen und ihre Protagonisten zur Identitätsstiung beitrugen. Gegenstand der mündlichen Traditionen sind Reflexionen über grundlegende Probleme einer Gemeinscha und mögliche Strategien zu deren Lösung⁴²⁴. Sie wurden auf Versammlungsplätzen der lokalen Gemeinscha erzählt⁴²⁵ und formten auf diese Weise einen ostafrikanischen Denkhorizont, vor dem über die Erfahrungen der Menschen reflektiert werden konnte. Dieser Denkhorizont ist zwar schwer zu rekonstruieren, da dessen schriliche Fixierung durch Europäer o von biblischen Motiven geprägt ist⁴²⁶; Dennoch zeigen einige Studien, dass auch solche Quellen ertragreich ausgewertet werden können⁴²⁷. Trotz der durch die Quellensituation bedingten Überformung lassen sich zentrale Motive, Erzählstrategien und Charaktere rekonstruieren, die als weit verbreitete Elemente der mündlichen Tradition angesehen werden können. In einigen Geschichten hängt das Schicksal einer gesamten Gemeinscha vom Erfolg der Krieger ab, die Gefahren abwenden sollen. Diese Gefahren treten o in Form einer Ogerfigur (Amanani bzw. Eimu) auf, die eine unbestimmte, unberechenbare Bedrohung von Außen symbolisiert und eine lokale Gemeinscha jederzeit und in verschiedener Weise treffen kann⁴²⁸. Möglichkeiten der Bekämpfung dieses Übels sind zentrale Motive innerhalb des jeweiligen Narrativs. So wurde eine Geschichte überliefert, deren Ausgangssituation der Überfall eines Ogers auf ein Dorf ist. Nachdem der Oger die Bevölkerung des gesamten Dorfes aufgegessen hatte, bleiben nur ein Mann und seine Schwester zurück. Der Mann bricht auf und geht in den Himmel, um besondere Speere zu schmieden. Als er zurückkommt, hat der Oger bereits die Schwester und die Hunde des Mannes verschlungen. Er geht zur Heimat des Ogers und tötet alle anderen Oger, bis er schließlich dem Anführer gegenübersteht. Nach einem dramatischen Kampf tötet er schließlich auch diesen und erreicht so, dass seine Dorewohner aus der Zehe des getöteten Ogers herauskommen⁴²⁹. Diese Geschichte enthält zentrale Elemente des ostafrikanischen Erfahrungshorizonts und Topoi wie die latente Bedrohung durch externe Gefahren, die Wichtigkeit besonderer Waffen, persönliche Tapferkeit und das Abtrennen von Körperteilen als bedeutungsvolle Gewalthandlung. Durch das Abtrennen der Zehe des Ogers können die getöteten Dorewohner errettet wer424 425 426

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Vgl. Sharma: Folk Tales of East Africa, S. vi. Vgl. Griffiths: Glimpses of a Nyika Tribe (Waduruma), S. 279f. So werden besonders bei Missionaren Gründungsmythen überliefert, die an alttestamentarische Geschichten und Figuren erinnern, siehe z.B. Fülleborn: Das deutsche Njassa- und Ruwuma-Gebiet, Land und Leute, nebst Bemerkungen über die Schire-Länder, S. 50. Siehe auch: Patrick J. Geary: Europäische Völker im frühen Mittelalter. zur Legende vom Werden der Nationen, Frankfurt am Main 2002, S. 184. Wie z.B. im Fall von Kenny: e Wasaki War: An Oral Narrative of Southwestern Kenya. Siehe z.B. Kabira/Mukabi: Kenyan Oral Narratives. A Selection, S. 14ff. und Gerhard Lindblom: Kamba folklore, Upsala 1928, S. 28f. Siehe Okumu: e Genres of Acoli Oral Literature, Vol. one, Analysis and Evaluation, S. 66.

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Gewalt in ostafrikanischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts

den, was der Geschichte einen positiven Ausgang verleiht. Gewalt wird in diesem Kontext der Bedrohung nicht nur legitimiert, sondern gar notwendig, um die eigenen Dorewohner zu retten⁴³⁰. Geschichten mit Ogerfiguren schufen ein diffuses Bedrohungsszenario und ermöglichten auf diese Weise eine Grundlage für die Legitimation von Gewalt. Gleichzeitig ermöglichten sie eine Animalisierung des Gegners und ein Mobilisierungspotenzial für Aggressionen gegenüber fremden Gruppen. Wie noch zu zeigen sein wird, spiegelte das Motiv einer fremden Bedrohung eine immer stärkere Rolle und wurde im Lauf des 19. Jahrhunderts zu einem zentralen Aspekt historischer Erfahrung. Neben Ogerfiguren, die ihre Gestalt wechseln können und sowohl als Menschen wie auch als Tiere aureten, finden sich Tierfabeln, die den einzelnen Tieren menschliche Eigenschaen zuschrieben. Als archetypische Elemente verkörperten sie Charakterzüge wie Mut, Weisheit, Gewitztheit oder Dummheit. Harry Hamilton Johnston zog einen Vergleich mit europäischer Folklore und betonte die Nutzung von Tiermetaphern und Fabeln in der Alltagssprache der afrikanischen Bevölkerung: »ese negroes delight in fables and in beast stories. ey may be truly said to «speak in parables,« parabolic metaphor entering largely into their speech. In the beast stories [...] the Hyena, the Leopard, the jackal, the Tortoise, the Owl, and the Hare figure principally, the Hare being usually the leading character and taking the place of the Fox in European folk-lore for cunning and inde- pendence of action, while the Hyena is nearly always the butt, the greedy fool who is the victim of practical jokes. It is difficult to see how this view of the Hare’s character arose, as the African species of this animal do not strike a European as being particularly astute or wily«⁴³¹. Als zentrale Figur tritt der Hase als Symbol von Schlauheit und Flexibilität auf⁴³². Seine Eigenschaen weiß er in den Geschichten immer wieder zu seinem Nutzen einzusetzen und gewinnt so einen persönlichen Vorteil oder kann schwierige Situationen lösen. Die Anthropologin Corinne Kratz untersuchte die zentralen Figuren der mündlich überlieferten Literatur und betonte die symbolische Rolle der Hasenfigur für die erzählerische Verarbeitung menschlicher Interaktion:

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Siehe auch: Kuß: Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen, S. 12. Johnston: British Central Africa: an attempt to give some account of a portion of the territories under British influence North of the Zambezi, S. 452, Anführungszeichen im Original. Siehe auch Diedrich Westermann: Geschichte Afrikas. Staatenbildugnen südlich der Sahara, Köln 1968, S. 12. Siehe hierzu auch: Mustafa Kemal Mirzeler: e Tricksters of Karamoja, in: History in Africa 34 (2007), S. 421–426, hier S. 421.

»Kriegergeist« und junge Krieger

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»e main [...] tradition of stories centers around the trickster type figure of the rabbit (kiplekwet) who [...] embodies and exemplifies a number of [...] ways of dealing with others. Kiplekwet emphasizes cleverness and an adaptivity that does not demean but rather enriches cultural possibilities and maintains personal and group identity«⁴³³. Geschichten um Hasen- und Ogerfiguren repräsentieren unterschiedliche Formen des Umgangs mit neuen, fremden Erfahrungen. Die Flexibilität und Intelligenz des Hasen suggeriert die grundsätzliche Möglichkeit, jeder unbekannten Situation erfolgreich gegenüberzutreten. Solche Figuren und Geschichten waren Ausgangspunkte für Gedankenexperimente, die auf der Ebene des Erzählten durchgeführt und als Orientierung für eigenes Verhalten genutzt werden konnten. Die Sphären von Mensch, Tier und spirituellem Wesen scheinen dabei ständig zu verschwimmen, was zu der Vorstellung führt, dass Menschen sich auf der Ebene des Narrativs in Tiere verwandeln können, Tiere als Symbole für menschliche Eigenschaen erscheinen und die Sphäre der Toten mit der Sphäre der Lebenden interagieren kann. Solche Vorstellungen verflochten sich mit der eigenen Erfahrung der Ostafrikaner. So traf der Missionar und Afrikaforscher David Livingstone im Manyema-Gebiet auf eine Gruppe von Sklaven, die ihm von ihrer Absicht berichteten, sich als Tote an denen zu rächen, unter deren Unterdrückung sie im Zustand des Lebendigen zu leiden hatten⁴³⁴. Gewalterfahrungen und Symbole für Gewalt waren ebenfalls ein Bestandteil mündlicher Traditionen. Wie Bethwell Ogot bereits betonte, wurden bedeutsame Orte und Gegenstände als Erinnerungsorte verehrt, die mit Gewalt assoziiert wurden: »We learn from the Joka-Jok traditions that the Rapogi («e WhetStone«) was used by Ramogi Ajwang’ and his warriors to sharpen their spears or knives as they prepared to set out for war. Aer the death of the Patriarch Ramogi Ajwang’, and following the establishment of peace with the neighbours, the Rapogi came to be treated as a sacred site⁴³⁵. Solche Orte wurden zum Symbol für die Beilegung von Konflikten und standen für die Eindämmung der Gewalt. Ostafrikanische Überlieferungen scheinen die besondere Stellung der Krieger im Zentrum des Gemeinwesens zu betonen und so europäische Vorstellungen zu spiegeln. Erzählungen von großen Kriegern prägten die mündliche Überlieferung und boten Identifikationsfiguren für Jugendliche. 433 434 435

Kratz: Are the Okiek really Masai ? or Kipsigis ? Or Kikuyu ?, S. 360. Vgl. Livingstone: Livingstone an Waller, 5. Februar 1871. URL:http://livingstone.library.ucla.edu/bambarre/1rtext_notes.htm. Ogot: A history of the Luo-speaking peoples of eastern Africa, S. 490, Anführungszeichen im Original.

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Gewalt in ostafrikanischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts

Inhalt dieser Geschichten waren die mythisch überhöhten Taten früherer Krieger oder einzelner Kriegergruppen. Aus ihnen speiste sich eine weit verbreitete Warrior Tradition⁴³⁶, welche die Kriegerfigur im Zentrum des Gemeinwesens, als Referenz- und Orientierungspunkt verortete. Kriegerische Auseinandersetzungen erscheinen als prägendes Element für die Gruppenidentität und als Grund für die Abgrenzung von anderen Gruppen. So spricht der Historiker Geffrey Fadiman von einer »[..] 200 Jahre zurückweisenden Tradition gewalttätigen Kriegertums [...]«⁴³⁷ in der Gegend des Mt. Kenya, sowie einer fest etablierten militärischen Kultur, die ihre Mitglieder bereits im Kindesalter beeinflusst habe⁴³⁸. Geschichten über gewalttätige Auseinandersetzungen akkumulierten sich in der mündlichen Tradition, so dass die Zeitebenen bisweilen verschwimmen und sich insgesamt eine Verwobenheit zwischen sozialen Institutionen wie Altersordnungen und der Zeit- und Gewalterfahrung ergibt: »[...] the continual rotation of seven or eight age-set names (with or without this variability) is based on a sense of permanent timelessness, not of historical progression. erefore the question of whether the warriors of the Kimnyike age-set, say, distinguished themselves in battle two cycles or three cycles back does not really arise. e modern historian must resist the temptation of utilizing the traditions to answer questions that the traditions themselves barely conceive«⁴³⁹. Neben der attestierten Zeitlosigkeit weisen die zyklisch verwendeten Namen auch darauf hin, dass die Identität vergangener Kriegergruppen immer auch Teil der eigenen Gruppenidentität wurde. Mit der Initiation traten die neuen Mitglieder der Kriegergruppen in die Tradition vergangener Krieger mit der gleichen Gruppenbezeichnung. Mit ihrem Wirken reicherten sie die Tradition ihrer Gruppe an und gaben eine kanonisierte Version wiederum an ihre Nachfolger weiter. So stehen körperliche Stärke, Aggressivität und Erfolg als Krieger im Mittelpunkt der Überlieferung zu Horombo, einem Anführer aus dem Kilimandscharo-Gebiet. Bereits als Junge habe er sich rebellisch verhalten und sei früher als üblich in die lokale Kriegergruppe aufgenommen worden, weil er im Alleingang einen Elefanten getötet habe. Durch diese Tat habe er sich bereits früh als Anführer profiliert, was im Verlauf seines Lebens noch durch weiteren Erfolg als Krieger und Anführer untermauert wurde. So wurden Schlachten nach ihm benannt, seine Festungsbauten

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Judith Lynne Hanna: African Dance and the Warrior Tradition, in: Journal of Asian and African Studies 12 (1977), S. 111–133, hier S. 111. »[...] a 200-year tradition of belligerent warriorhood [...]«, Fadiman: e moment of conquest : Meru, Kenya, 1907, S. 2, meine Übersetzung. Vgl. ebd., S. 2. Sutton: e Kalenjin, S. 33.

»Kriegergeist« und junge Krieger

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betont und seine Führungsqualitäten in militärischer Taktik gelobt⁴⁴⁰. Ein ähnliches Muster weisen die Überlieferungen zu Waiyaki wa Hinga, Kumalija, Kitina und Kalekye sowie Kaviu und Mwangeka wa Malowa auf, die sich im ostafrikanischen Raum einen Namen als erfolgreiche Krieger gemacht, ihren Ruhm durch kriegerische und diplomatische Erfolge noch vergrößert hätten und mit Tapferkeit und Mut assoziiert wurden⁴⁴¹. Im südwestlichen Gebiet Tanzanias existierten Geschichten über Chipanganga und Nandoka als Ahnherren, die über einen großen Einflussbereich verfügt hätten⁴⁴². Die Erinnerung an bedeutende und einflussreiche Personen wurde im Rahmen der Erzähltradition gepflegt und weitergegeben. Die Figur des erfolgreichen Kriegers nahm dabei eine zentrale Stellung ein⁴⁴³. Das Symbol der Stärke, verkörpert durch die Assoziation mit Tieren wie Löwen oder Stieren, war ebenfalls verbreitet⁴⁴⁴. Durch Erzählstrategien wie die Verwendung von Tiersymbolik für menschliche Charaktereigenschaen und die Auflösung der Grenzen zwischen Mythos und Realität entstand eine Zwischenebene des Mystischen, die ihre Wirkung in unterschiedliche Richtungen entfalten konnte: Einerseits wurden historische Erfahrung mit Elementen der Fiktion vermischt, andererseits wirkte sich die Fiktion auf Denken, Handeln und Selbstverständnis der Menschen aus. So wurde an der ostafrikanischen Küste die Geschichte von Seyyid Abubakari aufgezeichnet, der durch Handel im Landesinneren Reichtum erlangte und die Eigenschaen der Stärke symbolisch in seinen Namen integrierte. Sein Rufname Ruga wurde mit der Stärke eines Bullen assoziiert⁴⁴⁵. Mündliche Traditionen aus dem Hinterland der Swahili-Küste berichten weiterhin von Fumo Liongo, von dem es hieß, dass seine mythischen Fähigkeiten ihm großes Geschick im Umgang mit Waffen verliehen habe und er ein großer Krieger sei den keine bekannten Mittel töten könnten⁴⁴⁶. 440 441

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Siehe Anza A Lema: Horombo. e chief who united his people. London 1977, S. vi, ebd., S. 1, ebd., S. 9f. sowie ebd., S. 13ff. Zu Waiyaki wa Hinga siehe Mucuha: Waiyaki wa Hinga sowie Phyllis G. Jestice: Waiyaki wa Hinga, in: Holy people of the world: a cross-cultural encyclopedia. Zu Mwangeka wa Malowa siehe Mwaita: Mwangeka wa Malowa, zu Kaviu siehe Mwaniki: e living history of Embu and Mbeere to 1906, S. 150f., zu Kumalija siehe Charles Frederick Holmes: A History of the Bakwimba of Usukuma, Tanzania from earliest Times to 1945, Diss., Boston University Graduate School, 1969, S. 110f. Zu Kitina und Kalekye siehe Jackson: e Dimensions of Kamba Pre-Colonial History, S. 227. Siehe Fülleborn: Das deutsche Njassa- und Ruwuma-Gebiet, Land und Leute, nebst Bemerkungen über die Schire-Länder, S. 48. Weitere Figuren der mündlichen Überlieferung sind z.B. Chemponde und Mataka am Njassasee, Kandula am Ludjendafluss, Chemtila in Massaninga, Karanje und Makanjila in Unango, vgl. ebd., S. 50. Siehe z.B. Kabira/Mukabi: Kenyan Oral Narratives. A Selection, S. 70ff. Vgl. Chesaina: Oral Literature of the Embu and Mbeere, S. 96f. Siehe Hollis: Notes on the History of Vumba, East Africa, S. 284 sowie B. G. Martin: Notes on Some Members of the Learned Classes of Zanzibar and East Africa in the Nineteenth Century, in: African Historical Studies 4.3 (1971), S. 525–545, hier S. 526. Siehe Derek Nurse: Historical Texts from the Swahili Coast II, in: Swahili Forum 2 (1995), S. 41– 72, hier S. 42.

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Gewalt in ostafrikanischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts

Diese Erzähltraditionen mit ihren Fabelwesen weisen auf einen Wertehorizont hin, der den Hintergrund für die Ausprägung von Kriegeridentitäten bildete⁴⁴⁷. Durch die Ansammlung von Geschichten einzelner Krieger oder Kriegergruppen entstanden kanonisierte Formen lokaler Erzähltraditionen, die mündlich weitergegeben wurden. Sie wurden gezielt in der Ausbildung von Kriegergruppen genutzt, um die in den Geschichten dargestellten Qualitäten eines Kriegers in der Praxis zu fördern⁴⁴⁸ und Gruppenkohärenz zu stien: »[...] folk tales spoke directly to the community. ey played a crucial role in the socio-economic induction of the young and proved to be important values for holding the group together«⁴⁴⁹. Mythen, Volkserzählungen und Lieder boten Reflexionsflächen für grundlegende Probleme des Zusammenlebens, Handlungsstrategien, Normen und Werte. Sie dienten somit der Förderung sozialer Stabilität und hatten ihren festen Platz in der Lebenswelt ostafrikanischer Gemeinschaen. Idealisierte Formen von Gewalt, Konzepte von Mut, Stärke und Flexibilität waren wichtige Bestandteile einer Überlieferung, die im Rahmen von Riten und lokalen Festen weitergegeben wurde und bereits frühzeitig das Selbst- und Weltverständnis prägte. Die große Bedeutung von Kriegerfiguren in Liedern und Geschichten spiegelt nicht nur die Erfahrungen ostafrikanischer Gesellschaen, sondern auch die Bedingungen, welche es notwendig machten, erfolgreich als Krieger zu sein. Für die Ausbildung der Krieger sorgte ein System von Riten und sozialen Mechanismen, das Männlichkeitskonzepte mit Gewalt verknüpe und jene zum festen Bestandteil im Heranwachsen junger Männer machte. Daher geht es im Folgenden um die Frage, wie Gewalt erlernt wurde und welche Gewaltsozialisation junge Männer erfuhren. Dabei werden besonders die Kristallisationspunkte der Altersorganisation in den Blick genommen: So bildeten Initiationsriten den Übergang in die Existenz eines vollwertigen Gemeinschasmitglieds, das in bestimmten Kontexten auch Gewalt einsetzen konnte. Dem ging eine Phase des Erlernens und Erprobens hervor, welche die Basis für das zukünige Leben innerhalb der Kriegerkaste bildete. Dabei wurden die Regeln der Gewalt erlernt, Kampf- und Jagdtechniken erprobt und die Gewalt in einen kulturellen Sinnzusammenhang gestellt. Das Ertragen von Schmerz und das Unterdrücken von Emotionen bildeten den Kern einer heroischen Kriegerkultur, die mit der Initiation in das Leben der Betroffenen trat. In öffentlichen Riten wurden unter 447 448

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Vgl. Chesaina: Oral Literature of the Embu and Mbeere, S. 12ff. bzw. ebd., S. 40ff. »Stories of bravery and courage also were told in order to instill the qualities which were required from a military man«, Nandwa: Oral literature among the Abaluyia, S. 66. Siehe auch: Okumu: e Genres of Acoli Oral Literature, Vol. one, Analysis and Evaluation, S. 66. Sharma: Folk Tales of East Africa, S. 5. Siehe auch: Holmes: A History of the Bakwimba of Usukuma, Tanzania from earliest Times to 1945, S. 17f.

»Kriegergeist« und junge Krieger

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aller Augen neue Kriegerkasten geformt, die ihre Gewaltkompetenz unter Beweis stellen mussten. Dabei lernten die Krieger zum Einen als autonome Gruppe zu agieren, zum Anderen wurden sie durch rituelle Patenschaen und symbolische Bindungszeremonien aber auch in eine Verbindung zu den älteren Generationen eingebunden. 4.1.2 Gewalt und Männlichkeit

Das Erlernen von Gewalt und ihr aktives Ausüben waren eng an etablierte Konzepte von Männlichkeit gebunden. Junge Männer wurden im Lauf der Adoleszenz gezielt an kollektive Gewaltpraktiken herangeführt. In der neueren Forschung hat sich die Sichtweise etabliert, Männlichkeit nicht als »[...] ‹natürlich› und somit dem historischen Zugriff entzogen [...]«⁴⁵⁰ zu verstehen. Hingegen wird Männlichkeit sowohl als soziales Konstrukt als auch als innere subjektive Kategorie angesehen⁴⁵¹, die sich historisch analysieren lässt: »Geschlechtsidentität beeinflußt das menschliche Handeln und soziale Erfahrungen und ist Teil gesellschalicher Ideologie«⁴⁵². Die Rolle von Frauen im Rahmen eines gesellschalichen Umgangs mit Gewalt ist dabei nur schwer zu erforschen. Neben den bereits genannten Schwierigkeiten der Quellenauswertung erweist es sich als zusätzliche Einschränkung, dass die Quellenautoren meist männlich waren. Ihnen standen als Übersetzer, Führer und Vermittler ebenfalls meist Männer gegenüber, was den Einblick in die Facetten weiblicher Geschlechtsidentitäten zusätzlich erschwert⁴⁵³. Frauen wurden lediglich als Kommentatorinnen von Gewalthandlungen beobachtet. So wurde geschildert, dass Gruppen von Frauen das Agieren lokaler Kriegergruppen in Form von Liedern kommentierten und auf diese Weise einen indirekten Einfluss gewinnen konnten. Der britische Lord Hamilton schrieb den Wortlaut eines Schmähgesangs auf, der das Zögern der ortsansässigen Krieger als feige und einer Gruppe von Männern unwürdig charakterisiert⁴⁵⁴. Die etablierten Geschlechterkonventionen sahen eine aktive Gewaltnutzung für Frauen jedoch nicht vor. Sie wurden von den zentralen Mechanismen der Gewaltsozialisation ausgeschlossen 450 451 452

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Tosh: Was soll die Geschichtswissenscha mit Männlichkeit anfangen? Betrachtungen zum 19. Jahrhundert in Großbritannien, S. 180, Hervorhebung im Original. Vgl. ebd., S. 189f. Heike Schmidt: Geschlechterverhältnisse. Gegenstand und Methode, in: Albert Wirtz; JanGeorg Deutsch (Hrsg.): Geschichte in Afrika. Einführung in Probleme und Debatten, Berlin 1997, S. 175–200, hier S. 175. Ausnahmen bilden etwa die amerikanische Reisende Mary French-Sheldon oder die Missionarin Elise Kootz-Kretzschmer. Erstere wurde aufgrund ihres als männlich angesehenen Auretens und ihrer offen zur Schau gestellten Bewaffnung Bibi Bwana (»Frau Mann/Herr«) genannt (Siehe Sheldon: Sultan to sultan), während Letzere die passive Rolle von Frauen und deren Charakterisierung als Gewaltopfer in den Vordergrund stellte (Vgl. Kootz: Tatu, das geraubte Muvembakind). Siehe Claud Hamilton: Maasai Tales, Songs and Texts, RhArch, Signatur MSS Afr s 1810/1, S. 157.

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und duren nicht an gemeinschalichen Aktivitäten teilnehmen, die der Einübung von Gewalt dienten⁴⁵⁵. Daraus ergibt sich ein Fokus auf öffentliche Codes und eine Ideologie der Männlichkeit, die immer wieder neu verhandelt und fortgeschrieben wurde⁴⁵⁶. Die Aspekte der Männlichkeit speisten sich aus einem »[...] Repertoire kultureller Formen [...]⁴⁵⁷ und resultierten in »[...] (gelebten) männlichen Identitäten [...]«⁴⁵⁸, die eng mit Gewalt verknüp waren. Im Folgenden wird in den Blick genommen, wie männliche Identitäten fortgeschrieben wurden, mit welchen Vorstellungen sie verbunden waren und auf welche Weise Männlichkeit angeeignet werden konnte. Der Rahmen zum Fortschreiben männlicher Rollenverständnisse waren Riten, in denen öffentliche Codes erlernt wurden. Auf die große Bedeutung von Riten für das Zusammenleben in ostafrikanischen Gesellschaen wurde bereits hingewiesen. Soll analysiert werden, wie mit Gewalt umgegangen wurde, wird es notwendig sein, die Inhalte und Symboliken ostafrikanischer Riten mit Blick auf die Gewalt zu untersuchen. Riten wurden zu verschiedenen Anlässen begangen und waren vielfältig. Wie der Zoologe Harry Hamilton Johnston beobachtete, waren Riten ein zentraler Aspekt des Zusammenlebens: »e life of an African is rigidly ruled by custom. He is more of a slave to custom than the average European. I have noticed most of the ceremonies connected with birth, marriage, death and burial; but all the important phases and functions of their lives are attended with special customs, almost invariably expressed by much dancing, and brewing, drinking, and libations of native beer«⁴⁵⁹. Rituelle Feste fanden im öffentlichen Raum der jeweiligen Siedlungsgemeinscha statt und hatten festgelegte Abläufe. Der Soziologe Richard Sennett beschreibt Riten generell als Möglichkeiten, an die Emotionalität der Teilnehmer anzuknüpfen und Einheit zu stien. Dabei interpretiert er die Rolle der Emotion als bewegendes Element in der menschlichen Erfahrung, nicht als bloße Empfindung⁴⁶⁰. Nach dieser Sichtweise verleihen Emotionen die Fähigkeit zu eigenem aktiven Handeln. In Ostafrika wurden Riten mit Emotionalität verknüp und mit reichhaltiger Symbolik gefüllt. So wurde es möglich, die Flüchtigkeit von Emotionen mit rationalen Inhalten zu verbinden. Das beinhaltete die jeweils gleiche Bemalung der teilnehmenden Gruppen, gemeinsame ausgeführte Handlungen sowie festge455 456 457 458 459 460

Siehe Sheldon: Sultan to sultan, S. 221. Vgl. Tosh: Was soll die Geschichtswissenscha mit Männlichkeit anfangen? Betrachtungen zum 19. Jahrhundert in Großbritannien, S. 163f. ebd., S. 164. ebd., S. 164. Johnston: British Central Africa: an attempt to give some account of a portion of the territories under British influence North of the Zambezi, S. 452. Vgl. Sennett: Authority, S. 4f.

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legte Gruppenanordnungen auf den rituellen Plätzen. Als Teil einer Ritenpraxis, die sich auf alle Lebensbereiche auswirkte, wurde auch der Umgang mit Gewalt in diese Kontexte integriert. Ostafrikanische Formen der Altersorganisation boten Kanäle für den Umgang mit Gewalt und Foren für die Disziplinierung heranwachsender Jugendlicher. Jugendliche wurden auf die Probe gestellt und in ein »System von Orientierungspunkten«⁴⁶¹ eingeführt, das zunächst auf die Probleme des Heranwachsens ausgerichtet war. Kristallisationspunkt der Vermittlung tradierter Gewaltpraktiken waren Inititationsriten, die sich im 19. Jahrhundert vielfach belegen lassen⁴⁶². Jugendlichen wurden in diesem Rahmen und unter Verwendung von Gewalt tradierte Normen und Werte vermittelt. Ferner dienten diese Rituale der Identitätsstiung auf persönlicher Ebene sowie auf Gruppenebene. Durch die Verwendung zyklisch wiederkehrender Bezeichnungen für Altersgruppen, die Administration durch Mitglieder höherer Altersklassen, die rituelle Übergabe von Kleidung, Waffen und rituellen Gegenständen von der höheren zur nachgeordneten Altersgruppe und die Übernahme von Funktionen bzw. Ämtern vom Vater oder Großvater ergab sich ein zyklisches Zeitverständnis, das die Initianden an tradierte Strukturen band⁴⁶³. Gewalt war Teil der Identitätsstiung und wurde innerhalb der Riten z.B. in Form von Auspeitschen oder der Beschneidung ausgeübt. Die Beschneidung war zentraler Bestandteil der rituellen Praxis und stellte den Beginn des Durchlaufens verschiedener Altersstufen dar⁴⁶⁴. Inhalt und Ablauf von Initiationsriten variierten zwar lokal⁴⁶⁵, die Wichtigkeit des Rituals für das soziale Zusammenleben wurde jedoch generell betont. Initiationsriten boten den Rahmen für die Vermittlung von Wissen an Gruppen von Kindern und Jugendlichen, das sie in ihrer künigen Rolle innerhalb der lokalen Gemeinscha anwenden sollten⁴⁶⁶. Der Missionar Johann Ludwig Krapf schilderte solche Kanä461 462

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F. Braudel/G. Duby/M. Aymard: Die Welt des Mittelmeeres: Zur Geschichte und Geographie kultureller Lebensformen, 2006, S. 139. Siehe z.B. Adriaan Hendrik Johan Prins: East African Age-class systems. An inquiry into the social order of Galla, Kipsigis and Kikuyu, Groningen 1953, S. 102. Siehe auch: Muriuki: A History of the Kikuyu. 1500-1900, S. 134. Vgl. Mario Erdheim: Die gesellschaliche Produktion von Unbewusstheit, 1984, S. 285ff. sowie ebd., S. 289. Vgl. Frobenius: Unter den unsträflichen Aethiopen, S. 384. Siehe auch: Jacob U. Egharevba: Benin law and custom, 1949, S. 23 sowie Christine Henry: Le systeme de classes d age des Anaki, in: Journal des Africanistes 65 / 1 (1995), S. 37, Muriuki: A History of the Kikuyu. 15001900, S. 118, Helbling: eorie der Wildbeutergesellscha, S. 134 und Baker: Age-Grades in Musoma District, Tanganyika Territory, S. 221. Siehe z.B. W. Torry: Gabra Age organization and ecology, in: Paul T. W. Baxter (Hrsg.): Age, generation and time: some features of East African age organisations, New York 1978, S. 183– 206, hier S. 191, Kurimoto (Hrsg.): Conflict, Age and Power. Age Systems in Transition, S. 6 sowie Frobenius: Unter den unsträflichen Aethiopen, S. 384. »[...] initiation served as one of the main educational channels in [...] society.« (Muriuki: A History of the Kikuyu. 1500-1900, S. 119), meine Übersetzung. Siehe auch: Joseph Ki-Zerbo: Die Geschichte Schwarz-Afrikas, Frankfurt am Main 1988, S. 182.

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le der Wissensvermittlung in den 1850er Jahren. Elemente der mündlichen Tradition wurden in diesem Rahmen gezielt zur Identitätsstiung genutzt: »Nach der Versicherung meines Berichterstatters herrscht die Sitte […], die jungen Leute in einer bestimmten Periode ihres Alters in den Geschichten und Märchen der Vorältern unterrichten zu lassen durch die Ältesten des Stammes. Nach Beendigung der quasiakademischen Lauahn muß der Zögling dem Lehrer einen Ochsen als Lehrgeld übergeben«⁴⁶⁷. Trotz seiner offenen Ablehnung gegenüber indigener Riten erkannte Krapf die Wichtigkeit der Wissensvermittlung. Während der Vorbereitung auf diese Riten wurden Gruppen von Jugendlichen von ihrer Familie getrennt und in eigenen Hütten untergebracht. Dort fand im Geheimen die Vorbereitung auf die eigentliche Initiationszeremonie statt. Der Missionar Edward C. Hore beschrieb eine solche Hütte und auch die Schwierigkeit, sie als Außenstehender näher zu inspizieren: »Circumcision is practised […], it is evidently an important rite. e youths are secluded apart in a hut, on an open plain, away from the immediate neighbourhood of villages. is hut is decorated profusely with charms, &c., consisting of bones, feathers, pots, skulls of animals, &c. e particular hut I observed was without roof. A close inspection was angrily denied; in fact, I found I had incurred displeasure by approaching it«⁴⁶⁸. Trotz der Abschirmung drang Edward Hore in geschützte Bereiche vor und gewann oberflächliche Einblicke. Die räumliche Aueilung von Siedlungen scheint im Zusammenhang mit Altersorganisationen häufig eine Rolle gespielt zu haben. So berichtete der Reisende Joseph omson von eigenen Siedlungen (Kraal) für Krieger, Jugendliche sowie für Verheiratete⁴⁶⁹. Die unterschiedlichen Berichte belegen eigene Siedlungen für die Initianden, in denen sie über einen Zeitraum von einigen Monaten bis zu mehreren Jahren zusammenlebten⁴⁷⁰. In dieser isolierten Situation wurden u.a. Kriegstechniken und traditionelle Gesänge erlernt⁴⁷¹. Die 467 468 469

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Krapf: Kurze Beschreibung der Massai, S. 438. Hore: On the Twelve Tribes of Tanganyika, S. 6. Siehe omson: Durch Massai-Land. Forschungsreise in Ostafrika zu den Schneebergen und wilden Stämmen zwischen dem Kilima-Ndjaro und Victoria-Njansa in den Jahren 1883 und 1884, S. 375ff. Ähnliche Unterteilungen der Siedlungen wurden auch von Max Weiss beobachtet, siehe Weiss: Die Völkerstämme im Norden Deutsch-Ostafrikas, S. 209ff. Siehe Plowman: Notes on the Gedamoch Ceremonies among the Boran, S. 116, Leo Frobenius berichtete von einem »Beschneidungslager«, in dem die Initianden für einige Monate lebten, siehe Frobenius: Unter den unsträflichen Aethiopen. Siehe Stanley/Karsten: e Luwa System of the Garbicco subtribe of the Sidama (Southern Ethiopia) as a special case of an age set system, S. 97.

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Leitung solcher Vorbereitungslager übernahmen meist Mitglieder einer höheren Altersgruppe oder der Vätergeneration⁴⁷². Im südäthiopischen Raum wurde den Kandidaten für die Zeit dieses Lagers die Rückkehr zur Familie verboten, sie mussten mit den anderen Kandidaten im Lager übernachten und erhielten festgelegte Nahrung von Mitgliedern einer höheren Altersgruppe⁴⁷³. Das Bestehen der Initiation war auf persönlicher Ebene eine wichtige Voraussetzung für die aktive Teilnahme am gemeinschalichen Leben: »Eine unbeschnittene Person kann nicht in die Gesellscha eintreten. Ein Sohn kann das Eigenthum seines Vaters nicht beerben, eine Tochter kann keine Speise bereiten, noch wird ihr Kind, wenn sie eines haben sollte, am Leben gelassen«⁴⁷⁴. Formen dieser Art des Weltzugangs nutzten die Initiation als Kanal für die Vermittlung von Wissen, Tradition, Recht und Mystik. Im Raum Westkenias und Teilen Bugandas prägte sich ab dem 18. Jahrhundert die Institution des Chir aus, die als informelle Form der Schule bezeichnet und unter der Führung lokaler Autoritäten abgehalten wurde⁴⁷⁵. An einem zentralen Ort einer Siedlung wurden jüngere Altersgruppen in verschiedenen Bereichen mehrere Wochen lang unterwiesen⁴⁷⁶. Der kenianische Historiker Bethwell A. Ogot beschreibt die einzelnen Gemeinschaen, deren lokale Praktiken und die einzelnen Akteure, die bei der Durchführung von Initiationsriten beteiligt waren. Traditionelle Geschichtenerzähler gaben kanonisierte Versionen der Geschichte der lokalen Siedlung mündlich weiter. Dies beinhaltete neben Ursprungsmythen auch Informationen über Verbindungen zu anderen Siedlungen (Gwenge) und Zusammenschlüssen (Pinje) verschiedener Gruppen. Ogot nennt für das 19. Jahrhundert die Pinje Asembo, Uyoma, Sakwa, Gem, Alego, Nyakach, Kano, Ugenya, Kisumo, Seme, Karachuonyo, Karungu und Kadem. Neben diesem Wissen wurden den Initianden Autoritätsfiguren der einzelnen Pinje vorgestellt und deren verschiedene Ämter erklärt, die sie bekleideten: Jobilo, Ritenexperten oder Propheten; Ogaye, Botschaer für den Frieden; Osumba Mirwayi, Generäle; Jodong’ Lweny, Kriegsanführer sowie Okebe, reiche Leute. Mündliche Traditionen und Oral Literature wie Sprichwörter, Volksmärchen, Sagen, Lieder etc. bildeten Sigana, einen Korpus aus Elementen mündlicher Traditionen, der um Unterricht in Ackerbau, Kampf und Krieg, Gewohnheitsrecht und den Auau von Reichtum ergänzt wurde«⁴⁷⁷. 472 473 474 475 476 477

Siehe z.B. Frobenius: Unter den unsträflichen Aethiopen, S. 273. Siehe ebd., S. 98. Krapf: Kurze Beschreibung der Massai, S. 440. Siehe hierzu auch: Odongo/Webster: e Central Lwo During the Aconya, S. 388. Vgl. Ogot: A history of the Luo-speaking peoples of eastern Africa, S. 34. Vgl. Griffiths: Glimpses of a Nyika Tribe (Waduruma), S. 292f. Ogot: A history of the Luo-speaking peoples of eastern Africa, S. 34.

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Schwüre und Lieder führten die Kandidaten an kulturelle Topoi heran und veranlassten dazu, diese mit Blick auf Integration, soziale Akzeptanz und Verbesserung des eigenen Status zu achten. Die identitätsstienden Einflüsse erreichten mit der Initiation ihren ersten Höhepunkt⁴⁷⁸. Als Indikator für den Beginn eines neuen Lebensabschnitts, das Erlangen der eigenen Fruchtbarkeit und materieller Gaben als Symbol für den Beginn wirtschalicher Unabhängigkeit markierten Initiationsriten den Bruch mit der bisherigen Existenz eines Kindes im kleinen Kreis der Familie und standen für den Neubeginn des Lebens eines Gemeinschasmitglieds im größeren Kreis der Altersgruppe⁴⁷⁹. Dazu gehörte in den dezentral organisierten Gemeinschaen Ostafrikas auch, die unterschiedlichen Praktiken zu erlernen, die dazu dienten, der Gewalt Sinn zu verleihen. Auf eine solche Verbindung von Gewalt und Sinngebung wies bereits Jörg Baberowski hin: »Wer Entbehrungen kennt, mit Gewalt aufgewachsen ist, kann sich auf eine Gewaltaktion leichter einstellen als Menschen, die ungeübt in die Gewaltsituation geworfen werden. Wer lange in der Gewalt lebt, stellt sich auf ihre Regeln ein, macht sie für sich beherrschbar und stattet sie mit Sinn aus.«⁴⁸⁰ Diese Sinngebung umfasste zahlreiche Aspekte. Gewalt wurde genutzt um einen Bruch zwischen der Existenz als Kind und der eines Erwachsenen zu erzeugen, um die Akzeptanz der eigenen Fruchtbarkeit zu erlangen, die persönliche Autorität zu untermauern, den Respekt vor dem Älteren fortzuschreiben, Gruppenidentitäten herzustellen und zu stärken, die materielle Versorgung der Gemeinscha zu sichern und um regionale Bündnisse zu schließen bzw. aufrecht zu erhalten. Die Initiation stellte einen Bruch mit der Vergangenheit dar⁴⁸¹, der symbolisch mit der Geburt in Verbindung gebracht wurde. Hintergrund solcher Sinngebungsprozesse waren Vorstellungen von Initiation als Form sozialer Geburt⁴⁸². In Ostafrika wurden Initiationsriten dokumentiert, die zahlreiche Rückbezüge auf die biologische Geburt aufweisen⁴⁸³. Die Beschneidung im Rahmen von Initiationsriten⁴⁸⁴ stellte einen symbolischen Bezug auf die Durchtrennung der Nabelschnur her. Analog zur körperlichen Trennung von der Mutter, womit die Existenz eines Kindes im Rahmen des familiären Rahmens ihren Anfang nahm, er478

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Im Kindesalter wurde in spielerischer Form mit Fragen wie der nach dem Namen der Altersgruppe des Vaters oder des Großvaters ein gewisser Einfluss ausgeübt (Vgl. Kenyatta: Facing Mt. Kenya, S. 97). Vgl. Eisenstadt: African Age Groups: A Comparative Study, S. 9. Baberowski: Gewalt verstehen. Siehe hierzu auch: Muriuki: e Kikuyu in the pre-colonial period, S. 127. Vgl. Bernardi: Age class systems: social institutions and politics based on age, S. 5. Siehe z.B. Glazier: Generation Classes among the Mbeere of Central Kenya, S. 314. Siehe z.B.Abrahams: Aspects of Labwor Age and Generation Grouping and Related Systems, S. 47.

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folgte durch die Initiation die symbolische Trennung vom familiären und der Beginn einer eigenständigen Existenz im lokalen und regionalen Rahmen⁴⁸⁵. Die Initianden erhielten o auch einen neuen, eigenen Namen, der im Rahmen des Ritus verliehen wurde⁴⁸⁶. Beschneidungen selbst wurden in Einzelheiten selten belegt, da sie vor Außenstehenden abgeschirmt wurden. In missionarischen Quellen zeigt sich zudem eine Ablehnung, genaue Beschreibungen oder lokale Variationen dieser Riten zu liefern: »Es wäre zu häßlich, alle die schändlichen Sitten nur zu nennen, geschweige denn zu beschreiben, die unter afrikanischen Völkern in Bezug auf die Genitalien vorkommen [...]. Kein Wunder daß die göttliche Nemesis o ganze Stämme vertilgen läßt, wenn man die abscheulichen Fleischlichkeiten und andere Gräuel der Afrikaner bedenkt!«⁴⁸⁷ Christliche Moralvorstellungen und Konzepte von Rückständigkeit der Afrikaner führten bisweilen zu starken Verzerrungen bei der Beschreibung von Riten. Auch wenn sie äußerst selten genau beschrieben wurden, lassen die Überlieferungen keinen Zweifel an der Wichtigkeit solcher Riten für das Leben innerhalb ostafrikanischer Gesellschaen. Im Rahmen von Altersordnungen sorgten Riten für ein geordnetes Aufwachsen und eine Vorbereitung junger Menschen auf ihr späteres Leben. Afrikanische Historiker rekonstruierten den Ablauf von Initiationsriten anhand mündlicher Überlieferungen. So beschrieb der Historiker E.N. Mugo die Formen symbolischer Kommunikation im Rahmen der Riten sowie den genauen Ablauf der Handlungen: »When everything was ready and in good order, the surgeon jumped forward, with his whole body apparently and consciously or unconsciously shaking and trembling all over. On his right hand, he would be holding a sharp knife. He would start the long line at one end. He would then hold the foreskin of the private part of the first uncircumcised boy, with his le hand. He would pull this forwards, as long as he could, and then cut it all around. en, there was the shaping whereby, he cut off any small bits of unwanted flesh, that might have been le around the area. e sensitive forehead of the private part was of course never interfered with, except only the surrounding foreskin itself. e candidate would of course bleed profusely, for there 485 486

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Siehe auch: Eisenstadt: African Age Groups: A Comparative Study, S. 9. Siehe Nagashima: Two Extinct Age Systems among the Iteso, S. 238 sowie Henry: Le systeme de classes d age des Anaki, S. 39 und Glazier: Generation Classes among the Mbeere of Central Kenya, S. 238. Krapf: Kurze Beschreibung der Massai, S. 440.

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were no medicines applied, neither was there anything done to try and stop the heavy loss of blood.«⁴⁸⁸ Im Rahmen der Initiation wurde der Gewalt eine wichtige Rolle für den Bruch mit der Vergangenheit beigemessen. Mit dem Übergang in ein »überindividuelles Ordnungsmuster«⁴⁸⁹ erfolgte eine gezielte Verletzung des Körpers, die mystisch aufgeladen und mit Sinn angereichert wurde. Der Schmerz, den der Initiand zu ertragen hatte, wurde symbolisch zur Ablösung des bisherigen Status in Bezug gesetzt. So beschreibt der kenianische Autor Tepilit Saitoti die Sinngebung im Rahmen der Beschneidung wie folgt: »e pain you will feel is symbolic. ere is a deeper meaning in all this. Circumcision means a break between childhood and adulthood. For the first time in your life, you are regarded as a grown-up, a complete man or woman. You will be expected to give and not just to receive. To protect the family always, not just to be protected yourself. And your wise judgement will for the first time be taken into consideration. No family affairs will be discussed without your being consulted.«⁴⁹⁰ Der besondere Akzent auf das Ertragen von Schmerz wurde noch dadurch verstärkt, dass die Beschneidung öffentlich stattfand und es als besonders wichtig galt, dass der Initiand keinen Schmerz zeige. Die Operation wurde an einem rituell vorbereiteten Ort durchgeführt und jeder Kandidat stand unter genauer Beobachtung. Es galt, alle Schmerzreaktionen zu unterdrücken und die Strapazen möglichst ohne Zittern, Winseln oder Blinzeln zu überstehen. Jede sichtbare Reaktion auf den Schmerz würde von den Umstehenden laut kommentiert und als Zeichen von Schwäche gedeutet, was soziale Ausgrenzung und Schmähung nach sich ziehen konnte. Verhielt der Kandidat sich jedoch entsprechend den Anforderungen, wurde das mit einem hohen Maß an Anerkennung gewürdigt⁴⁹¹. Diese rituelle Sinngebung von Gewalt war direkt mit der persönlichen Identität des Initianden sowie der Gruppenidentität seiner Altersgruppe verknüp. Psychischer 488 489 490 491

E.N. Mugo: Kikuyu People. A brief outline of their customs and traditions, Nairobi 1982, S. 16f. Althoff: Die Macht der Rituale, S. 22. Saitoti: e worlds of a Maasai warrior, S. 67. Vgl. Mugo: Kikuyu People. A brief outline of their customs and traditions, S. 16f. Siehe hierzu auch: Sutton: e Kalenjin, S. 27, Bischoerger: e generation classes of the Zanaki (Tanzania), S. 20 sowie o.A.: Notes on Tribes of East Africa, SOAS, Signatur: VA 306 / 386,836, S. 7. Corinne Kratz dokumentierte die Unterweisung eines einzelnen Initianden:»Everyone will watch you tomorrow. If you’re cut and you run, we’ll catch you and beat you. If you cry people will laugh« (Interview Lemek: 2. Oktober 1974. zit. n.: Kratz: Are the Okiek really Masai ? or Kipsigis ? Or Kikuyu ?, S. 366). Siehe auch: Nakitare: A pre-colonial history of Abatachoni, 1500-1900 AD, S. 83f. sowie Mwaniki: e living history of Embu and Mbeere to 1906, S. 95 und Tanui: Dying Voice. An Anthropological Novel, S. 78.

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Druck und körperliche Gewalt dienten als Träger eines identitätsstienden Moments und verliehen der Initiation den Charakter einer Wurzel persönlicher Identität. Durch die Initiation lernte man, »[...] negative, Leiden bringende Macht, in eine positive zu verwandeln, die [...] hil, später wiederum anderen zu helfen⁴⁹². Nach Bestehen der Initiation waren die Kandidaten vollwertige, akzeptierte Mitglieder der Gemeinscha und hatten einen neuen Namen als Person und als Gruppe. Mit Eintritt in das Altersklassensystem durch die Initiation wurde auch der Beginn generativen Verhaltens markiert⁴⁹³. Nach der Initiation war es erlaubt und auch erwünscht, eigene Kinder zu zeugen. Die Fähigkeit dazu wurde rituell verliehen, die Zeugung von Kindern durch eine nicht initiierte Person wurde streng bestra⁴⁹⁴. In diesem Falle galt der Vater des Kindes noch nicht als voll zeugungsfähig und die Geburt eines Kindes einer solchen Person (Raba) wurde als Zeichen von Unglück verstanden⁴⁹⁵ oder als Beweis für den Ehebruch der Mutter angesehen⁴⁹⁶. Fruchtbarkeit war ein zentrales Paradigma des sozialen und politischen Lebens⁴⁹⁷, das sich in zahlreichen Überlieferungen Ostafrikas finden lässt. Die vitalistische Orientierung der dortigen Gesellschaen angesichts der unterbevölkerten Regionen lässt eine solche kulturelle Überformung bereits vermuten, allerdings gibt die mündliche Überlieferung weitere Hinweise auf die Vorteile einer großen Anzahl eigener Kinder. Der Historiker Bethwell A. Ogot gibt den Text eines verbreiteten Liedes wieder: »[…] one child is not enough, One child is inadequate, […] when the war drum sounds ’tindi! tindi!’ Who will come to your rescue - one child!«⁴⁹⁸ 492 493

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Behrend: Geister als Repräsentationen von Vergangenem, S. 293. Analog dazu belegten ethnologische Untersuchungen den Austritt aus dem Altersklassensystem als rituell begangenes Ende der Fruchtbarkeit. Der entsprechenden Altersgruppe wurde fortan der Geschlechtsverkehr untersagt (Siehe Jensen: Neuere Notizen über das Gada-System, S. 6f., sowie Bernatzik (Hrsg.): Afrika. Handbuch der angewandten Völkerkunde, S. 803 und Enrico Cerulli: Studi Etiopici. Bd. 2: La lingua e la storia dei Sidamo, Roma 1936, S. 40. Vgl. Jensen: Neuere Notizen über das Gada-System, S. 89 sowie Chauncy Hugh Stigand: To Abyssinia, through an unknown land. an account of a journey through unexplored regions of British East Africa by Lake Rudolf to the Kingdom of Menelek, London 1910, S. 234f. Siehe Jensen: Neuere Notizen über das Gada-System, S. 88. Siehe ebd., S. 88 sowie Bernatzik (Hrsg.): Afrika. Handbuch der angewandten Völkerkunde, S. 803. Eine Möglichkeit zur Umgehung dieser Regelung bot die Praxis, den Knaben mit Mädchenkleidung und -haartracht auszustatten und als Mädchen aufzuziehen, bis dessen Großvater aus dem Altersklassensystem ausgeschieden war und der Junge von diesem Zeitpunkt an wieder als solcher gelten konnte (Siehe Jensen: Neuere Notizen über das Gada-System, S. 88). Vgl. John Iliffe: Africans. e History of a Continent, Cambridge 1995, S. 115. Siehe auch: Bischoerger: e generation classes of the Zanaki (Tanzania), S. 20. Bethwell A. Ogot: UNESCO General History of Africa, Vol. V: Africa from the Sixteenth to the Eighteenth Century, 1999, S. 99, Anführungszeichen im Original. Aus anderen Regionen

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Der Liedtext zeigt die Rolle junger Krieger als Beschützer. Die Inhalte vieler Riten waren zudem eng mit dem Topos der Fruchtbarkeit verbunden und nutzten Gewalt als Möglichkeit, die eigene Fruchtbarkeit zu steigern. Ethnologische Studien wiesen auf die rituelle Verknüpfung von Tod und Zeugung hin, mit der Initiationsriten in Verbindung gebracht wurden⁴⁹⁹. Teile dieser Rollenverständnisse galten auch für Frauen, jedoch nicht in einer Ausprägung, die auf aktive Gewaltnutzung ausgelegt war. Zwar wurden Mädchen als Teil der weiblichen Initiation ebenfalls beschnitten, was den Bezug zur Gemeinschaszugehörigkeit ebenso beinhaltete wie das Ertragen von Schmerz und die rituelle Verleihung der Fruchtbarkeit durch den Initiationsritus. Das Erlernen von Praktiken aktiver Gewaltausübung war jedoch ausschließlich Teil der männlichen Initiation. Der symbolische Bruch mit der Kindheit erzeugte den Beginn einer neuen Existenz als Erwachsener, ebenso wie die Tötung eines Tieres die Fruchtbarkeit und somit auch das Prestige dessen erhöhen konnte, der das Tier tötete. Die Schlachtung von Tieren sowie die gewaltsame Beschaffung von Genitaltrophäen waren feste Bestandteile der rituellen Praxis⁵⁰⁰. Das Tragen von Genitaltrophäen wirkte sich auf den Status des Trägers aus und war besonders im Süden Abessiniens weit verbreitet: »Es scheint aber, weder die Masai noch die Wakuafi haben die abscheuliche Sitte der Entmannung, die bei den Galla und Abessiniern so sehr herrschend ist, daß man in einem Galla- und abessinischen Hause o 50 bis 60 männliche Glieder aufgehängt sehen kann - eine Scheußlichkeit welche die Tapferkeit des Hausbewohners beweisen soll. Ja ein Galla im Süden kann nicht heirathen bis er eine Anzahl von Trophäen erschlagener Männer seiner Braut gezeigt hat, welche aus diesen Siegeszeichen auf die Tapferkeit ihres künigen Gatten schließen will. Und da die Galla dergleichen Trophäen nicht immer im Krieg gewinnen können, so belauern sie die Reisenden in den Wäldern und auf den Wegen, und erschlagen wen sie finden. Manche gehen so weit daß sie für Elfenbein oder Vieh Sklaven kaufen, welche sie entmannen, um die von der Braut geforderte Anzahl von Siegeszeichen vorzeigen zu können. In ihrer Verlegenheit haben sie sogar manchen Esel verstümmelt.«⁵⁰¹

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Afrikas stammt die Charakterisierung, eine Frau mit weniger als drei Kindern bereits als unfruchtbar einzustufen (Siehe Iliffe: Africans. e History of a Continent, S. 115). Siehe z.B. Jensen: Neuere Notizen über das Gada-System, S. 91. Siehe z.B. Abrahams: Aspects of Labwor Age and Generation Grouping and Related Systems, S. 45, Frobenius: Unter den unsträflichen Aethiopen, S. 152 sowie Nagashima: Two Extinct Age Systems among the Iteso, S. 239. Krapf: Kurze Beschreibung der Massai, S. 439f. Siehe auch: Werner: e Galla of the East Africa Protectorate, S. 270 sowie ebd., S. 280.

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Krapfs Ausführungen zeigen einen gewissen Einfluss von Frauen auf die Gewaltpraxis der Männer, welche durch die Beschaffung von Genitaltrophäen ein höheres Ansehen erlangen konnten. Die Verstümmelung der Genitalien als symbolischer Angriff auf die Reproduktion des Gegners ließe dessen Energien auf denjenigen übergehen, der die Genitaltrophäe erlangt hatte⁵⁰². Das Töten von Tieren nahm eine ähnliche Stellung ein und beinhaltete z.B. die rituelle Tötung⁵⁰³ oder den erfolgreichen Kampf mit einem Bullen⁵⁰⁴. Einzelne Schwüre, die ein Initiand leisten musste, beinhalteten das Versprechen, ein Tier zu töten und dessen Genitalien abzutrennen: » [...] I will kill a bull and will not be ashamed […] we will cut the penis [...] and we will not be ashamed. [...] We will move the cattle from the resting place outside the kral and we will cut the penis. We will kill two bulls and cut the penis […]«⁵⁰⁵ Solche Schwüre und andere rituelle Liedtexte stellen konservative Bedeutungsträger dar, deren Inhalte sich weniger schnell wandelten als die Alltagssprache⁵⁰⁶. Das Abtrennen von Geschlechtsteilen zur Steigerung der eigenen Fruchtbarkeit wurde in den Kontext der Initiationsriten integriert und in der sozialen Praxis fortgeführt. Ein verbreitetes Mythologem führt diese Vorstellung von Gewalt als Verbindung zur Fruchtbarkeit auf die Erzählung zurück, wonach eine Gottheit getötet und verstümmelt wurde. Aus der Vermischung der einzelnen Körperteile mit dem Erdboden seien alle essbaren Pflanzen entstanden⁵⁰⁷. Auf der Ebene der Gewalt wurden solche Vorstellungen in die soziale Praxis einbezogen. Die Zugehörigkeit zu einer definierten sozialen Einheit war, wie wir bereits gesehen haben, ein wichtiger Faktor der persönlichen Identität⁵⁰⁸. Neben der regionalen und lokalen Sphäre, die durch Strukturen von Familienverbänden geprägt war, schufen Initiationsriten neue Kleingruppen von Altersgenossen. Das gemeinsame Ertragen von Gewalt im Rahmen der Riten selbst wirkte sich ebenso 502

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Vgl. Carolyn Nordstrom: Leben mit dem Krieg. Menschen, Gewalt und Geschäe jenseits der Front, hrsg. v. Andreas Wirthensohn/omas Atzert, Frankfurt am Main [u.a.] 2005, S. 77. Siehe auch: Mann: Sahibs, Sklaven und Soldaten, S. 38. Siehe Spencer: e Samburu, S. xvi sowie Nagashima: Two Extinct Age Systems among the Iteso, S. 239. »[...] in old days a youth was not allowed to marry until he could seize a bull by the horns and retain his hold upon it.«, Beaton: e Bari: Clan and Age-Class Systems, S. 142. Stanley/Karsten: e Luwa System of the Garbicco subtribe of the Sidama (Southern Ethiopia) as a special case of an age set system, S. 99f. Ich danke Vadim Popov für diesen Hinweis. Siehe Schlee: Zum Ursprung des Gada-Systems, S. 243. Siehe z.B. Nakitare: A pre-colonial history of Abatachoni, 1500-1900 AD, S. 56f.

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auf die Gruppenidentität aus, wie das gemeinsame Ausüben von Gewalt in Form vorgeschriebener Kompetenzbeweise. Gewalt war ein Mittel zur Schaffung und Festigung von Kleingruppen. Die gemeinsame Teilnahme an Initiationszeremonien und den damit verbundenen Vorbereitungen wirkten identitätsstiend und kohärenzbildend⁵⁰⁹. Gewalt diente innerhalb dieser Rituale als fester Bestandteil, das Ertragen von Gewalt wirkte sich auch für die gesamte Gruppe der neu Initiierten positiv auf deren sozialen Status innerhalb der lokalen Gemeinscha aus⁵¹⁰. Eine erfolgreich durchgeführte Initiationszeremonie schuf neue Gruppen nachrückender Krieger im Rahmen des Altersklassensystems. Diese Altersgruppen waren wichtige Bezugspunkte für ihre Mitglieder und die Basis für die soziale Praxis. In der Zeit unmittelbar nach der rituellen Schaffung dieser Gruppen wurde von den Mitgliedern erwartet, dass sie ihre Kompetenz als Krieger unter Beweis stellten. Vorher wurden ihnen in rituellem Rahmen Waffen übergeben⁵¹¹ und die Aufgabe übertragen, als eigenständige Kriegergruppe kollektiv Gewalt auszuüben⁵¹². Für den südlichen Raum Ostafrikas wurde diese Praxis als »[...] to wash their spears in blood [...]«⁵¹³ bezeichnet. Auch in anderen Teilen Ostafrikas waren solche Kompetenzbeweise verbreitet. So berichtete der britische Kolonialbeamte Eliot am 10. Oktober 1903 von den Auswirkungen durchgeführter Initiationsriten: »[...] an unusually large circumcision feast was held some time ago, and that honour requires each young warrior to blood his spear as soon as he has recovered from the operation.«⁵¹⁴ Durch die Institutionalisierung von Gewalthandlungen im Rahmen von Riten oder festgelegten Kompetenzbeweisen entfaltete sich eine konstruktive Wirkung von Gewalt auf die Sozialisation des Einzelnen und die Gruppe der Altersgenossen. Die Altersgruppe, durch Gewalt im Ritual konstituiert und als soziale Einheit durch gemeinsame Gewalthandlungen fortgeschrieben, bot einen Bezugspunkt und Perspektiven für das soziale Handeln. Unterstützt wurde diese Form der Identitätsstiung durch das Erlernen von Lektionen, Traditionen, Liedern, Normen und Bräuchen⁵¹⁵. Diese gemeinsame Erfahrung wirkte sich auf die Ausprägung 509 510 511 512 513 514

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Vgl. Mwaniki: e living history of Embu and Mbeere to 1906, S. 73. Vgl. Okumu: e Genres of Acoli Oral Literature, Vol. one, Analysis and Evaluation, S. 66. Siehe auch: Lema: Horombo. e chief who united his people. S. 15f. Siehe Tanui: Dying Voice. An Anthropological Novel, S. 32. Vgl. Mwaniki: e living history of Embu and Mbeere to 1906, S. 93f. Elmslie: Among the wild Ngoni, S. 165. Eliot an Lord Lansdowne at the Foreign office on 10 October, 1903. zit. n. Ndege: Olonana Ole Mbatian, S. 47. Ähnliches berichtete auch der Reisende James W. Jack: »[...] the Ngoni did not consider themselves men until they had shed blood. eir raids were not to revenge any wrongs, but purely from a love of war and plunder«, James W. Jack: Daybreak in Livingstonia. the story of the Livingstonia Mission British Central Africa, hrsg. v. Robert Laws, New York 1900, S. 156. Vgl. Tanui: Dying Voice. An Anthropological Novel, S. 37.

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der Gruppenidentität aus. Durch eine einheitliche äußere Erscheinung waren die Initianden als Gruppe erkennbar⁵¹⁶, im Rahmen der Initiation wurde die Gruppenkohärenz nach innen gestärkt⁵¹⁷. Dies geschah durch eine Reihe von Strapazen, die von den Kandidaten durchlaufen werden mussten. Diese als grausam und hart bezeichneten Teile der Riten⁵¹⁸ funktionalisierten das kollektive Ertragen von Gewalt für die Stärkung der Gruppenidentität als Teil des Altersklassensystems: »[e candidates] were formed into ranks of eighty or more abreast, their bodies bent and their arms stretched out straight before them, the posture of one who is about to die. For a week, from 8 p.m. to 4 a.m., they moved forward and backward from one end of the ground to the other, stamping and singing initiation songs in a cloud of dust. Whether a man was well or ill he could not leave the ranks until the end of the week. If a man le the ranks for any other than a sanitary purpose, he was beaten back with sticks by the elders on duty. When a man fell either by accident or through exhaustion, he was trampled to death and buried on the spot, the news of his death being kept from his female relatives until the end of the week. Of those who entered the ground, a few never le it«⁵¹⁹. Weiterhin war Solidarität innerhalb der Gruppe ein gängiger Topos, der durch mündlich weitergegebene Geschichten verbreitet wurde. Diese Geschichten hatten eine didaktische Funktion und propagierten den Zusammenhalt besonders in Extremsituationen als wirksame Handlungsstrategie⁵²⁰. Ein Beispiel für eine idealisierte Darstellung des Stellenwerts der Solidarität innerhalb einer Altersgruppe findet sich in Form einer Geschichte, die im Gebiet der heutigen Demokratischen Republik Kongo dokumentiert wurde: Adler und Schildkröte, beide Altersgruppengenossen, überlassen sich gegenseitig die für sie selbst charakteristischen Merkmale: die Schildkröte verlangt nach Federn, und der Adler gibt einen Teil seiner Federn ab. Als der Adler nach dem Schild der Schildkröte verlangt, überlässt die Schildkröte dem Adler ihren Schild. Die Federn des Adlers wachsen nach, während die Schildkröte an dem Verlust ihres Schildes stirbt. Das Tier nimmt also eher den eigenen Tod in Kauf, als dem Altersgruppengenossen einen Gefallen 516 517 518 519

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Siehe z.B. Nagashima: Two Extinct Age Systems among the Iteso, S. 232 bzw. Ruel: Kuria Generation Classes, S. 28. »[...] a close and effective bond was forged [...]«, Sutton: e Kalenjin, S. 27. Siehe auch: Muriuki: e Kikuyu in the pre-colonial period, S. 130. Siehe Sutton: e Kalenjin, S. 27 und o.A.: Notes on Tribes of East Africa, S. 7. Griffiths: Glimpses of a Nyika Tribe (Waduruma), S. 293. Andere Riten beinhalteten bspw. das Auspeitschen mit Stöcken oder Ästen, siehe Abrahams: Aspects of Labwor Age and Generation Grouping and Related Systems, S. 45 sowie Bischoerger: e generation classes of the Zanaki (Tanzania), S. 20. Siehe z.B. Lindblom: Kamba folklore, S. 25.

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abzuschlagen⁵²¹. Vor dem Eintritt in Altersklassensysteme zeichnete sich die Herausbildung der Altersgruppen bereits punktuell im Rahmen spielerischer Aktivitäten ab⁵²². Die gemeinsame Initiation stiete Identität und stellte einen fortan gültigen Referenzpunkt her⁵²³. Der Kontext von Initiationsriten schrieb die Verpflichtung vor, die Fähigkeit zum gemeinsamen Handeln auf der Ebene der Altersgruppe unter Beweis zu stellen. Gegenüber dem gemeinsamen Ertragen von Gewalt trat das gemeinsame Ausüben von Gewalt in den Vordergrund. Zur Vorbereitung auf die Gewaltpraxis wurden Schwüre und Lieder belegt, die feste Bestandteile von Initiationsriten waren und die gemeinsame Ausübung von Gewalt in den Mittelpunkt stellten: »[…] without any shyness did they (the children) kill an oryx. eir age-rank have necks like those of bulls«⁵²⁴. Wir werden noch genauer auf die Bedeutung des Bullen als Symbol für Stärke eingehen. In Liedtexten und rituellen Texten wurden Mythen und kulturelle Symbole mit den konkreten Personen einer Altersgruppe verknüp, womit eine Verbindung zwischen Mythos und Realität geschaffen wurde. Die Gewalt selbst wurde in den Kontext einer Aufgabe eingepasst, die von der neuen Altersgruppe zu erfüllen war. So wurde nach Ablauf einer gewissen Zeit, in der die Wunden der Beschneidung verheilen konnten, eine neue Kriegerkleidung angelegt. Deren Träger formierten sich in kleinen Gruppen und begaben sich auf die Suche nach einem männlichen Mitglied einer anderen Siedlung, dessen rechte Hand und Genitalien den lokalen Ältesten überbracht werden musste⁵²⁵. Missionare in Tansania berichteten ebenfalls von einem Ritus, den sie als »Jünglingsweihe« bezeichneten. Um an ihm teilnehmen zu dürfen, mussten junge Männer in der Umgebung Vieh rauben und es den Klanältesten übergeben. Das galt als Beweis der Eignung einzelner junger Männer, die somit »[...] würdig [waren], in die Kriegerkaste aufgenommen zu werden, was nach der Beschneidung erfolgte«⁵²⁶. Nach der Über521

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Siehe Isichei: A history of African societies to 1870, S. 83. Schwüre belegen ebenfalls einen zentralen Bezug auf den Topos der Solidarität innerhalb der Altersgruppe (Vgl. Werner: e Galla of the East Africa Protectorate, S. 273). Siehe R.O.E. Maduka: Age Grade factor in Igbo tradition of politic, in: U.D. Anyanwu (Hrsg.): e Igbo and the Tradition of Politics, Enugu 1993, S. 61–70. Hier S. 62. Vgl. Prins: East African Age-class systems. An inquiry into the social order of Galla, Kipsigis and Kikuyu, S. 102. Siehe auch: Muriuki: A History of the Kikuyu. 1500-1900, S. 134 sowie Sutton: e Kalenjin, S. 27. Im Labwor-Gebiet war das Wort für »Initiation« abgeleitet von einem Verb, das »den Stolz fühlen« bedeutete, siehe Abrahams: Aspects of Labwor Age and Generation Grouping and Related Systems, S. 45f. Plowman: Notes on the Gedamoch Ceremonies among the Boran, S. 120. Vgl. Griffiths: Glimpses of a Nyika Tribe (Waduruma), S. 293f. Siehe auch: Hanna: African Dance and the Warrior Tradition, S. 112. o.A.: Fragebogenbeantwortung: Landscha Kiziba, Residentur Bukoba. Missionsstation Buanja, den 1. Februar 1910. BArch R 1001 / Bd. 4998-5007.

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gabe der Beute erhielten die jungen Männer von einem Ritenexperten (Ol-Oiboni) die Erlaubnis, an der Initiationszeremonie teilzunehmen; »Diese Erlaubnis wurde stets für eine ganze Landscha gemeinsam und in Zeitabschnitten von mehreren Jahren [...] festgesetzt«⁵²⁷. Im Reisebericht Carl Claus von der Deckens aus den 1860er Jahren wird die gemeinsame Gewaltausübung junger Männer im Rahmen von sog. Wagnaro-Riten geschildert: »Bei der Mannbarwerdung angesehener junger Leute, besonders der Söhne von Häuptlingen, herrscht ein grauenvoller Gebrauch, Wagnaro genannt: die Jünglinge von demselben Alter begeben sich in völlig nacktem Zustand in den Wald und bleiben dort, bis sie einen Mann erschlagen haben. Zur Zeit, wann ein Wagnaro gefeiert wird, ist es gefährlich, sich in die Nähe des betreffenden Dorfes zu begeben, weil den aufgeregten jungen Leuten jede Person recht ist, um an ihr der ’Sitte’ Genüge zu leisten. Zu gewissen Zeiten des Jahres ritzen sich die Jünglinge die Brust mit einem Messer, um, wie sie sagen, frisches Blut an Stelle des alten zu erhalten und dadurch stark und tapfer zu werden; hierbei wird, wie bei allen Festlichkeiten der Wanika, getrommelt, getanzt, gejubelt und Palmwein in Menge getrunken.«⁵²⁸ Auch Johann Ludwig Krapf erfuhr von Wagnaro- Riten und dokumentierte deren Inhalt wie folgt: »[...] die Jünglinge von gleichem Alter begeben sich in den Wald, verharren dort in einem völlig nackten Zustand, bis sie einen Mann erschlagen haben. Wenn sie ihre ergriffene Beute tödten, singen sie «ku ulaga kavana haya, ku kumbuka mkue kavana haya, hailondaro halo.« Die andern antworten: «mkuafu mza na rungu«, d.h. zu tödten ist keine Schande, das ist es, was wir wollen. Der Mkuafi kommt mit dem Stock, der unten sehr dick ist, den die Wakuafi mit großer Genauigkeit weithin werfen und damit die Hirnschale einschlagen. Wenn die Jünglinge einen Menschen erschlagen haben, so gehen sie nach Hause«⁵²⁹. Mit dem Initiationsritus wurde die Gewalt zum Bestandteil des Lebens junger Männer. Sie erlernten, andere Körper gezielt zu verletzen und erfuhren die Auswirkungen der Gewalt anhand rituell eingebetteter Gewalt, die auf sie selbst gerichtet war. Außerdem lernten sie, in Gruppen zu agieren und Gewaltroutinen 527 528 529

ebd. Decken: Baron Carl Claus von der Decken’s Reisen in Ostafrika in den Jahren 1862 bis 1865, S. 215, Anführungszeichen im Original. Krapf: Reisen in Ostafrika ausgeführt in den Jahren 1837-1855, S. 337, Anführungszeichen im Original.

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auszuführen, die ihnen im Rahmen der Initiation als traditionelles Wissen vermittelt worden waren. Der rituelle Kontext bot den Rahmen für Erprobung und Herausbildung neuer Identitäten, deren Bestandteil die Fähigkeit war, Gewalt auszuüben und zu ertragen. Junge Männer erlernten in Gruppen die notwendige Körperbeherrschung und übten unter festgelegten Rahmenbedingungen Gewaltroutinen ein, die ihre Fähigkeiten zur Gewaltausübung ausprägten. Letztere waren fester Bestandteil des Rollenverständnisses als erwachsene Männer⁵³⁰. Gleichzeitig wurden bestehende Sozialstrukturen gestärkt: Initiationsriten verliefen unter der Administration lokaler Autoritäten. Gewalt wurde in diesem Rahmen dafür genutzt, soziale Gruppen zu schaffen und deren innere Struktur zu stärken. Das gemeinsame Ertragen von Strapazen und Gewalt sowie die gemeinsame Gewaltausübung band die Mitglieder einer Altersgruppe enger aneinander. Durch die Rückbindung der Prüfungen und Riten an lokale Autoritäten wurde darüber hinaus der tradierte Vorrang des Älteren fortgeschrieben und gefestigt. Das ergab sich aus der Anbindung der einzelnen Riten an bestehende Altersordnungen. Interaktion und Kommunikation zwischen den einzelnen Altersgruppen wurde dabei durch die Altersorganisation gesteuert. Während einerseits die Bindung von Verpflichtungen, Rechten und Verhaltensregeln an das Alter einer Person als universelles Phänomen menschlicher Gemeinschaen angesehen wurde⁵³¹, war die Einweisung in konkrete Umgangsformen gegenüber höher gelagerten Altersgruppen ein wichtiger Bestandteil von Initiationsriten⁵³². Rituelle Formen der Initiation boten einen Rahmen für die Schaffung von Nähe und Distanz zwischen verschiedenen Gruppen einer Gemeinscha. Durch die Administration der Riten durch die Mitglieder höher gelagerter Altersklassen entstand eine Rückbindung an die traditionellen Autoritäten der Gemeinscha. Der Reisende William Astor Chanler beobachtete während seiner Ostafrika-Reise in das Gebiet des Mount Kenya in den Jahren 1892-1894 die einzelnen Akteure in einem Beschneidungsritus: »e circumcisor was invariably a man of not more than middle age. e operation was performed upon the boys at an age, as near as I could judge, between eight and ten.«⁵³³ 530 531

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Siehe auch: Ellerbrock: Generation Browning. Überlegungen zu einem praxeologischen Generationenkonzept, S. 17f. Siehe John W. Burton: Rezension zu: Baxter, Paul T. W.; Almagor, Uri [Hrsg]: Age, Generation and Time. Some Features of East African Age Organisations. New York 1978, in: ASA Review of Books 6 (1980), S. 228–229, hier S. 229. Siehe z.B. Frobenius: Unter den unsträflichen Aethiopen, S. 318 und Ruel: Kuria Generation Classes, S. 28. William Astor Chanler: rough jungle and desert. travels in eastern Africa, New York 1896, S. 251. Der britische Kolonialbeamte Charles Dundas berichtete ebenfalls von dieser Aufgabenverteilung bei Riten im Osten Kenyas (Siehe Charles Dundas: History of Kitui. In: e Journal

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Der deutsche Kolonialbeamte Max Weiß berichtete von festgelegten Verhaltensregeln gegenüber Älteren sowie über die Lehrerrolle höherer Altersgruppen im Kontext der Initiation männlicher sowie weiblicher Gemeinschasmitglieder im Uluguru-Gebirge Tansanias⁵³⁴. Im Raum Kenias wurde ebenfalls davon berichtet, dass ein beschnittener älterer Mann, meist ein Freund der Familie oder ein Verwandter, als Beistand hinzugezogen wurde. Dieser rituelle Pate fungierte als symbolischer Vater und bekam den Teil eines im Rahmen der Zeremonie geschlachteten Tiers als Bezahlung. Auch nach der Initiation bestand die Beziehung fort und die Paten standen fortan mit Rat und Unterstützung zur Verfügung⁵³⁵. Die Initianden wurden in den Bereichen Tradition, Folklore, Religion, geographischer Kenntnisse der Umgebung sowie den Sozialkonventionen und Pflichten Erwachsener Gemeinschasmitglieder unterrichtet, was ebenfalls soziale Tabus und Sexualverhalten beinhaltete und von den Mitgliedern höherer Altersklassen beaufsichtigt wurde⁵³⁶. Initiationsriten bildeten somit eine Basis für die Orientierung im physischen Raum der Umgebung, im sozialen Raum der Gemeinscha und im spirituellen Raum der metaphysischen Ordnung. Diese Orientierung schuf die Basis für eine Dialektik von Konkurrenz und Kooperation. Formalisierte Altersklassensysteme waren der Hintergrund für ein dynamisches Spannungsfeld zwischen Altersgruppen und Generationen⁵³⁷. Bezugspunkte dieses Spannungsfeldes bildeten zunächst Verhaltensregeln in der Interaktion unter Mitgliedern einer Altersgruppe sowie in der Begegnung mit anderen Altersgruppen. Während des Durchlaufens der einzelnen Altersgruppen war das Paradigma des Respekts vor höheren Altersgruppen stets präsent und diente als wichtige Verhaltenskonvention. Speziell im Bereich männlicher Altersklassen wurde dies noch durch zusätzliche Mechanismen verstärkt. So wurde von Riten berichtet, die ein zeremonielles, symbolisches Vater-Sohn-Bündnis enthielten, welches das Respektieren der symbolischen Vaterfiguren seitens der Initianden fördern sollte. Die rituelle Handlung sah vor, dass die Mitglieder der höheren Altersgruppe anlässlich der Initiation Fackeln (lpiron) anzündeten. Die Initiierten empfingen diese Fackeln von ihnen, wodurch die Jüngeren ihren Respekt

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of the Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland 43 (1913), S. 480–549, hier S. 523). Weiss: Die Völkerstämme im Norden Deutsch-Ostafrikas, S. 295. Vgl. Saberwal: e traditional political system of the Embu of Central Kenya, S. 21. Siehe Muriuki: A History of the Kikuyu. 1500-1900, S. 119 sowie omson: Durch MassaiLand. Forschungsreise in Ostafrika zu den Schneebergen und wilden Stämmen zwischen dem Kilima-Ndjaro und Victoria-Njansa in den Jahren 1883 und 1884, S. 376. Ähnliche Belege schildern die Tätigkeit »besondere(r) Medizinmänner«(Weiss: Die Völkerstämme im Norden Deutsch-Ostafrikas, S. 294), welche die Unterweisung und den Unterricht der Initianden vornahmen, siehe ebd., S. 294f. Gleiches wird über die Mädchen berichtet, die ebenfalls von »sogenannten weisen Frauen«(ebd., S. 299) unterrichtet wurden, siehe ebd., S. 299f. Vgl. omas Burgess/Andrew Burton: Introduction, in: Andrew Burton/Helene Charton-Bigot (Hrsg.): Generations Past. Youth in East African History, Athens, Ohio 2010.

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(Enkanyit) zeremoniell ausdrückten⁵³⁸. Der rituelle Kontext bildete den tradierten Vorrang der höheren Altersklassen ab. Rituelle Schlachtungen etwa wurden nach festgelegten Abläufen und Aufgabenverteilungen durchgeführt⁵³⁹. Die zentralen rituellen Handlungen duren in diesem Fall nur von Mitgliedern der höchsten Altersklasse vollzogen werden, andere Aufgaben wurden jeweils von Mitgliedern nachgeordneter Altersklassen durchgeführt. Weiterhin erfolgte die Aueilung des aus der Schlachtung gewonnenen Fleisches nach Hierarchie im Altersklassensystem⁵⁴⁰. Während der Riten wurde somit in der Manier eines eatrum Societatis eine idealisierte Form traditioneller Autoritätsbeziehungen und Gesellschasstrukturen abgebildet. Für die Krieger war die Orientierung an höher gelagerten Altersgruppen ein wichtiges Element der Sozialisation. Jene fungierten als Mentoren, Orientierungsund Referenzgruppen. Soziales Verhalten wurde von den Älteren kopiert und adaptiert, ein Prozess, der sich zunächst spielerisch in Form von Imitation der Krieger durch Kinder manifestierte und sich nachfolgend mit weiterem Durchschreiten der Altersorganisation rituell und in institutionalisierter Form fortsetzte. Der Wissenserwerb funktionierte über die Assoziation jeweils älterer Teile eines Alterssegments mit dem jeweils jüngeren Teil. Noch nicht initiierte Gemeinschasmitglieder orientierten sich spielerisch an den nächsthöheren Alterssegmenten⁵⁴¹, während initiierte Altersgruppen von den jeweils höher gelagerten Gruppen unterwiesen wurden. Diese Einbindung einzelner Personen in soziale Strukturen manifestierte sich auch räumlich, indem einzelne Altersgruppen ihren eigenen Bereich innerhalb dörflicher Siedlungen hatten⁵⁴². Mit der Initiation erwarben die neuen Mitglieder eine Reihe von sozialen Rollen und Aufgaben und galten somit als vollwertige Mitglieder der Gemeinscha. Der Missionar Johann Ludwig Krapf berichtete im März 1844 vom Wagnaro-Ritus der Bevölkerung des Hinterlandes der ostafrikanischen Küste. Ziel dieses Ritus sei es, Jugendliche in die Aufgabenbereiche von Erwachsenen einzuführen. Dieser Ritus erfolge unter der öffentlichen Aufsicht der Gemeinscha an einem zentralen Ort⁵⁴³ und wurde von Krapf in ein »[...] complicirtes System von alten Sitten, Zeremonien und Festlichkeiten [...]«⁵⁴⁴

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Siehe Kaori Kawai: Women’s Age Categories in a Male-dominated society: e Case of the Chamus in Kenya, in: Esei Kurimoto (Hrsg.): Conflict, Age and Power in North East Africa. Age Systems in transition, Oxford 1998, S. 147–167, hier S. 152). Eine ähnliche Zeremonie wurde vom Missionar Becker in Usambara beobachtet (Siehe Becker: Anfänge in Usambara - Briefe und Tagebuchberichte. Eintrag v. 22. Oktober 1893). Siehe Ruel: Kuria Generation Classes, S. 29f. Siehe ebd., S. 29f. Vgl. Sheldon: Sultan to sultan, S. 244. »[...] local groups of contemporaries live together for most or all of their lives.«, Colson/ Gluckman (Hrsg.): Seven tribes of British Central Africa, S. 269. Journal J.L. Krapf, Eintrag: March 5-24, 1844. CMS, Signatur: CMS / B / OMS / CA 5 / M1. Krapf: Reisen in Ostafrika ausgeführt in den Jahren 1837-1855, S. 64.

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eingeordnet, das den Gemeinschaen Integrität verleihe⁵⁴⁵. Die Rolle der Älteren im rituellen Kontext und deren Einfluss auf nachgeordnete Gruppen bildete die tradierten Autoritätsverhältnisse ab und schuf festgelegte Verbindungen zwischen den Altersgruppen. Unterstrichen wurden diese Verbindungen durch die rituelle Übergabe symbolischer Gegenstände und Kleidung an die nachfolgende Altersgruppe⁵⁴⁶. Der Prozess der Initiation formte somit männliche Identitäten aus und bot den Hintergrund einer Praxis, welche »[...] in den Körper ein Ensemble von Dispositionen einprägt, [...] die in einer bestimmten Art des Verhaltens, der Körperhaltung, [...] einem Aureten, einer Gangart sichtbar werden, welche mit einer Denkund Handlungsweise einem ’ethos’ [...] aufs engste verbunden sind«⁵⁴⁷. Der Elfenbeinhändler John Boyes beschrieb die spezielle Art der festgelegten Bewegungsabläufe im Kontext der Initiation junger Krieger: » ere was [...] a particular dance, which was danced by all the young boys before they were circumcised, in which all who took part were painted white from head to foot, while each wore a kind of toy shield on the le arm and carried, in place of the usual spear of the warriors, a white wand, decorated with white goat’s hair. is band of whitewashed young savages went from village to village performing their dance, which they did very well, keeping remarkably good time in exactly the same way and in precisely the same order, it was evident that they had some recognized rule and method in their dancing«⁵⁴⁸. Aus solchen »[...] (mannhaen) Übungen [...]«⁵⁴⁹ ergab sich ein männliches Selbstverständnis, das zum Einen von der »[...] Bereitscha zum Kampf und zur Ausübung von Gewalt«⁵⁵⁰, zum Anderen von der Rückbindung an die Gemeinscha geprägt war⁵⁵¹. Initiationsriten stellten den Kern sozialer Praxis dezentral organisierter Gesellschaen in Ostafrika dar. Sie sorgten für die Integration nachwachsender Gruppen von Kindern in das Gemeinwesen und organisierten einen gesteuerten Generationenprozess. Gewalt wurde im Rahmen der Initiation mit Sinn gefüllt und sorgte für eine Basis der Ausbildung von persönlicher Identität und Gruppenidentität, schrieb den traditionellen Vorrang des Älteren fort und grenzte einzelne Altersklassen voneinander ab. Mit jeder neu geschaffenen Altersgruppe fand ein Übergang in den Status des jugendlichen Kriegers statt, der im 545 546 547 548 549 550 551

Vgl. ebd., S. 64. Siehe Bischoerger: e generation classes of the Zanaki (Tanzania), S. 81. Pierre Bourdieu: Die männliche Herrscha, Frankfurt am Main 2005, S. 91. Boyes: King of the Wa-Kikuyu, S. 264f. Tosh: Was soll die Geschichtswissenscha mit Männlichkeit anfangen? Betrachtungen zum 19. Jahrhundert in Großbritannien, S. 166. Bourdieu: Die männliche Herrscha, S. 92f. Siehe auch: Tosh: Was soll die Geschichtswissenscha mit Männlichkeit anfangen? Betrachtungen zum 19. Jahrhundert in Großbritannien, S. 185f.

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Gewalt in ostafrikanischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts

Zentrum wirtschalicher, sozialer und politischer Aktivität lokaler Gemeinschaften stand. Mit Blick auf die Gewalt schufen Initiationszeremonien Gruppen junger Männer, deren körperliche Fertigkeiten auf den Gewaltgebrauch ausgerichtet wurden und die durch das Einüben von Gewaltroutinen akzeptierte und regulierte Praktiken der Gewalt erlernten. Diese Zusammenschlüsse junger Männer können als distinkte Gruppen innerhalb der Gesellscha näher betrachtet werden. Dabei müssen wir im Auge behalten, dass Männlichkeit immer auch als »[...] ungewiss und verletzlich erlebt [...]«⁵⁵² wurde und männliche Hierarchien ein Eigenleben hatten, das sich anhand vielfältiger Rangabfolgen und Rollenverständnisse rekonstruieren lässt. 4.1.3 Hierarchien, Entstehung und Tätigkeitsfelder von Kriegergruppen

Krieger standen im Zentrum der gesellschalichen Organisation. Sie hatten festgelegte Gruppenbezeichnungen, Hierarchien und abgrenzbare Aufgabenfelder. Ihnen kam innerhalb der Gesellscha eine zentrale Rolle zu, die eng mit der politischen Organisationsform verbunden war⁵⁵³. Als Basis für die Hierarchien und Ordnungen diente die bestehende Alters- und Generationenordnung. Diese enge Verflechtung der Kriegerrolle mit dem Altersklassensystem wird bereits anhand einheitlicher Bezeichnungen deutlich: So wurden die militärischen Organisationseinheiten im Kikuyu-Gebiet des kenianischen Hochlands in enger Anlehnung an die Altersorganisation mit riika bezeichnet⁵⁵⁴. Solche Gruppenstrukturen wurden vor dem Hintergrund kultureller Alterskonzepte ausgeformt. Die Zeit der Jugend galt als Phase hoher körperlicher Aktivität mit einer Aura der Aggressivität im Zentrum der Aufmerksamkeit der Gemeinscha. In der Jugendsoziologie wurde diese Phase des Lebens als soziokulturelles Konstrukt angesehen, die mit verschiedenen Formen adoleszenten Auegehrens verbunden sei⁵⁵⁵. Die jüngere Forschung lenkt die Aufmerksamkeit dabei weg von Vorstellungen jugendlicher Abgrenzung und hin zur Untersuchung individuellen sozialen Handelns inmitten etablierter Netzwerke⁵⁵⁶. Ostafrikanische Altersorganisationen boten eine Basis für den Ausbau solcher Netzwerke und standen für einen Jugendbegriff, der sich nicht nur am Lebensalter der Mitglieder, sondern auch am sozialen Status innerhalb der Gemeinscha orientierte. Gebunden an die Tradierung kultureller 552 553 554

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Tosh: Was soll die Geschichtswissenscha mit Männlichkeit anfangen? Betrachtungen zum 19. Jahrhundert in Großbritannien, S. 186. Vgl. Uzoigwe: e Warrior and the State in Precolonial Africa, S. 21. Siehe Muriuki: A History of the Kikuyu. 1500-1900, S. 118. Charles Dundas übersetzte das Wort riika mit dem Begriff »Lebensabschnitt«(siehe Dundas: Kikuyu Rika.). In dieser Detailgenauigkeit wurden solche Begriffe nicht o überliefert, man muss jedoch von einer weiten Verbreitung der Konzepte ausgehen, für die sie stehen. Seebode (Hrsg.): Ethnologie der Jugend, S. 12. Vgl. ebd., S. 9.

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Kriegerkonzepte gaben Altersorganisationen Verhaltensnormen und Verpflichtungen vor, die auf den durch die Initiation vermittelten Normen und Werten fußten und die Identitätsbildung der Krieger weiter beeinflussten⁵⁵⁷. In Verbindung mit dem Bekleiden dieses sozialen Status sprach man von einer aktiven Generation (Omunyikura), deren Hauptmerkmal die Kriegertätigkeit war⁵⁵⁸. Krieger waren als Gruppe erkennbar räumlich und sozial abgegrenzt vom Rest der Gemeinscha. Durch die Durchführung von Initiations- und Übergangsriten wurde die Integration neuer und die Festigung bestehender Kriegergruppen geregelt. Dabei wurden rituelle Sprechakte genutzt, um die Kriegeridentitäten im öffentlichen Raum zu verankern⁵⁵⁹. So wurde der Eintritt in den Kriegerstatus mittels eines Schwurs (mwehetwa wa anake) und unter den Kriegsgesängen (rohio) der anderen Krieger begangen⁵⁶⁰. Der erste kenianische Präsident Jomo Kenyatta gibt den Wortlaut eines solchen Schwurs wie folgt wieder: »We brandish our spears, which is the symbol of our courageous and fighting spirit, never to retreat or abandon our hope, or run away from our comrades. If ever we shall make a decision, nothing will change us; and even if there seems to be a unity between the heaven and the earth to destroy us, we shall sink the bottom part of our spear on the earth, preventing them from uniting; thus keeping the two entities, the earth and the sky, though together, apart. Our faith and our decision never changing shall act as balance«⁵⁶¹. Dieser gemeinsam begangenen Zeremonie folgte die Einteilung in verschiedene Kriegergruppen (puriosek, sing. puriet), deren Zugehörigkeit sich an der des Vaters orientierte⁵⁶². Anschließend folgte eine Zeit der Erprobung im Rahmen der Gruppe jüngerer Krieger⁵⁶³. In dieser Zeit wurde es von den jungen Kriegern erwartet, ihre Kampünste unter Beweis zu stellen. Ferner wurden sie in Tätigkeiten eingebunden, die ein hohes Maß körperlicher Aktivität beinhalteten⁵⁶⁴. Nach einer gewissen Zeit⁵⁶⁵ duren sie in den Rang der älteren Krieger aufsteigen. Durch die gemeinsame Initiation in den Kriegerstatus und die in der Folge stattfindenden Aktivitäten ergab sich eine nach dem Prinzip der Seniorität seg557 558 559 560 561 562 563 564 565

Siehe hierzu auch: Tosh: Was soll die Geschichtswissenscha mit Männlichkeit anfangen? Betrachtungen zum 19. Jahrhundert in Großbritannien, S. 168. Vgl. Bischoerger: e generation classes of the Zanaki (Tanzania), S. 30. Siehe hierzu auch: Althoff: Die Macht der Rituale, S. 18ff. Siehe Muriuki: A History of the Kikuyu. 1500-1900, S. 36. Kenyatta: Facing Mt. Kenya, S. 191. Vgl. Bischoerger: e generation classes of the Zanaki (Tanzania), S. 78. Siehe auch: J. G. Peristany: e Social Institutions of the Kipsigis, London 1939, S. 161f. Siehe auch: Nagashima: Two Extinct Age Systems among the Iteso, S. 233. Vgl. Mugo: Kikuyu People. A brief outline of their customs and traditions, S. 21. Jomo Kenyatta nennt eine Dauer von »[...] zweiundachtzig Monden oder zwölf Regenzeiten nach der Beschneidung [...]«, Kenyatta: Facing Mt. Kenya, S. 192.

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Gewalt in ostafrikanischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts

mentierte Anordnung von Kriegergruppen für jede Gemeinscha. Der Biologe Gustav A. Fischer dokumentierte eine solche Unterteilung: »Die Krieger gliedern sich in 4 Klassen: mríscho, kischangóp, ngarebút, liteijo; die erstgenannte ist die erfahrenste, älteste, die den andern gleichsam als Führer dient«⁵⁶⁶. Diese Binnengliederung steht für Autoritätsbeziehungen innerhalb der Kriegergruppe und Verhaltensregeln für jede Untereinheit. Grundlage dieser Überformung war ein Konzept von Jugend, das die körperliche Beschaffenheit junger Männer für Aufgaben innerhalb der Lebensgemeinscha zu nutzen suchte: »Whenever there was a task requiring physical strength or bravery, the Maasai would call upon their warriors«⁵⁶⁷. Krieger erschienen als Inbegriff von Jugend, körperlicher Stärke, Fruchtbarkeit, Aggression und Gewalt. Die Verbindung von Jugend und Kriegertum legen bereits die verschiedenen Begriffe nahe, mit welchen die Krieger belegt wurden. So wurde der Begriff Moran mehrfach mit »Krieger«, aber ebenso auch mit »junger Mann« übersetzt⁵⁶⁸. Ein angesehener sozialer Status war damit ebenso verbunden wie eine Zeit der Prüfung und Bewährung, bevor dieser Status erworben werden konnte⁵⁶⁹. Das Konzept des ostafrikanischen Kriegers war an eine Reihe von Faktoren gebunden. Die äußere Erscheinung der Krieger trat besonders in den Vordergrund, ein Phänomen, dass von vielen fremden Beobachtern als primäres Merkmal eines Kriegers geschildert wurde. Darstellungen von Kriegern in den publizierten Reiseberichten des 19. Jahrhunderts sind Legion, afrikanische Krieger blieben beliebtes Motiv bildlicher und fotografischer Darstellungen. 566 567 568

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Fischer: Bericht über die im Aurage der Geographischen Gesellscha in Hamburg unternommene Reise in das Massai-Land, S. 62. Saitoti: e worlds of a Maasai warrior, S. 71. Mary French-Sheldon übersetzte den Begriff sowohl mit »young man« bzw. »young dandies«(Sheldon: Sultan to sultan, S. 252) als auch mit »warriors«(ebd., S. 287), Gregory verwendet ebenfalls beide Begriffe (Gregory: e Great Ri Valley, S. 99 bzw. ebd., S. 353), John Boyes verwendet ausschließlich den Kriegerbegriff (Boyes: King of the Wa-Kikuyu, S. 57), ebenso wie Younghusband (Younghusband: Glimpses of East Africa and Zanzibar, S. 81). Krapf bezeichnet die »[...] jungen [Leute] von 20 bis 25 Jahren« als Moran (Krapf: Reisen in Ostafrika ausgeführt in den Jahren 1837-1855, S. 270). Fischer betont ebenfalls den jugendlichen Aspekt des Begriffs und weist auf die Zeit nach der Initiation als Zeit des »Moran« hin (Vgl. Fischer: Bericht über die im Aurage der Geographischen Gesellscha in Hamburg unternommene Reise in das Massai-Land, S. 64). Weitere Übersetzungen mit dem Begriff des Kriegers siehe Muturi: Maasai-Kikuyu relations in Mathira Division of Nyeri 1800-1900, S. 36, Mwaita: Mwangeka wa Malowa, S. 4 sowie o.A.: Fragebogenbeantwortung: Landscha Kiziba, Residentur Bukoba. Missionsstation Buanja, den 1. Februar 1910. BArch R 1001 / Bd. 4998-5007, Übersetzungen mit dem Jugendbegriff siehe Ndege: Olonana Ole Mbatian, S. 6 sowie ebd., S. 10f., Bureng GV Nyombe: Some Aspects of Bari History. A Comparative Linguistic and Oral Tradition Reconstruction, Nairobi 2007, S. 6, Blackburn: Okiek History, S. 58. Siehe Uzoigwe: e Warrior and the State in Precolonial Africa, S. 28 bzw. ebd., S. 36f.

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Äußerliche Merkmale von Kriegern waren z.B. Insignien wie Ringe, Federn oder Umhänge⁵⁷⁰, Waffen⁵⁷¹, eine bestimmte Art der Kleidung oder spezielle Bemalung⁵⁷². So berichtete Leo Frobenius über den äthiopischen Raum, dass die Initianden mit dem zeremoniellen Übergang in den Erwachsenenstatus auch die entsprechende Kleidung der Erwachsenen tragen duren. In diesen Fällen handelte es sich bei den männlichen Kandidaten um ein aus Leder gefertigtes Kleidungsstück, das mit Muscheln besetzt wurde ⁵⁷³. Im Gebiet des heutigen Tansania wurde von kleinen Holzfiguren berichtet, die jeder Krieger als Talisman trage⁵⁷⁴. Allgemein sorgte eine Reihe von Körperpraktiken (Christopher Bayly⁵⁷⁵) für die Abgrenzung der Krieger vom Rest der Gemeinscha. Gustav Fischer hob die Art der Zurschaustellung durch die Krieger besonders hervor: »Die Krieger sind wahre Stutzer, was man auch schon an den künstlichen Haartrachten sieht«⁵⁷⁶. Der getragene Schmuck wurde als Rangabzeichen verwendet⁵⁷⁷; Bemalung, Kleidung und Körperpraxis wurden detailliert beschrieben. Ethnographische Quellen 570

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Siehe Baxter/Almagor (Hrsg.): Age, Generation and Time: some features of East African age organisations, S. 4 sowie Falkenhorst: Schwarze Fürsten. Bilder aus der Geschichte des dunklen Erdteils, S. 75, Fritz Spellig: Die Wanjamwesi. Ein Beitrag zur Völkerkunde Ostafrikas, in: Zeitschri für Ethnologie 3.59 (1927/28), S. 201–252, hier S. 252, I. Döring: Tagebuch Mittwoch, den 13.12. 1893. VEM, Signatur M III 2.1 Bd. 1 1893, Fülleborn: Das deutsche Njassaund Ruwuma-Gebiet, Land und Leute, nebst Bemerkungen über die Schire-Länder, S. 414, omson: Durch Massai-Land. Forschungsreise in Ostafrika zu den Schneebergen und wilden Stämmen zwischen dem Kilima-Ndjaro und Victoria-Njansa in den Jahren 1883 und 1884, S. 122 und Stanley: Wie ich Livingstone fand, S. 178. Vgl. Stanley/Karsten: e Luwa System of the Garbicco subtribe of the Sidama (Southern Ethiopia) as a special case of an age set system, S. 101 sowie Rev. Pascoe Grenfell Hill: Fiy Days on board a Slave-Vessel in e Mozambique Channel, In April and May 1843, London 1844, S. 18. Siehe Johann L. Krapf: Journal March 5-24, 1844, CMS, Mission Book 1842-1846. Signatur: CMS / B / OMS / C A5 / M1, Hahner-Herzog: Tippu Tip und der Elfenbeinhandel in Ost- und Zentralafrika im 19. Jahrhundert, S. 154, Justin Willis: Potent brews. A Social History of Alcohol in East Africa 1850-1999. Oxford [u.a.] 2002, S. 77,omas Boteler: Narrative of a Voyage of Discovery to Africa and Arabia, performed in his Majesty’s Ships Leven and Barracouta, from 1821 to 1826. London 1835, S. 65ff. und Chanler: rough jungle and desert, S. 106 sowie omson: Durch Massai-Land. Forschungsreise in Ostafrika zu den Schneebergen und wilden Stämmen zwischen dem Kilima-Ndjaro und Victoria-Njansa in den Jahren 1883 und 1884, S. 122. Siehe Frobenius: Unter den unsträflichen Aethiopen, S. 152. Von einer rituellen Weitergabe der Kleidung an die nachfolgende Altersgruppe berichtete auch Bischoerger (Siehe Bischoerger: e generation classes of the Zanaki (Tanzania), S. 77). Falkenhorst: Schwarze Fürsten. Bilder aus der Geschichte des dunklen Erdteils, S. 89. Siehe auch: Döring: Tagebuch Mittwoch, den 13.12. 1893. Bayly: Die Geburt der Modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780-1914, S. 28ff. Fischer: Bericht über die im Aurage der Geographischen Gesellscha in Hamburg unternommene Reise in das Massai-Land, S. 66. Vgl. Sheldon: Sultan to sultan, S. 253.

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schildern, dass Krieger langes Haar trugen und o Stoff oder Holzstücke in ihre Zöpfe einflochten. Dabei wurden verschiedene Arten von Zöpfen beobachtet, die hinter dem Kopf zusammengebunden oder offen getragen wurden⁵⁷⁸. Langes Haar galt als Abgrenzung zu den Mitgliedern anderer Altersgruppen und wurde mit verschiedenen Verzierungen kombiniert. Jugendliche Körper wurden dabei stark mit Symbolik aufgeladen, was den exponierten Status der jungen Krieger innerhalb der Gemeinscha deutlich machte⁵⁷⁹. Verschiedene ethnographische Beschreibungen liefern ein detailliertes Bild der Körper junger Krieger. Während sie im Gefolge ihres Mannes, eines Offiziers der King’s African Rifles, ab 1902 von Mombasa zum Viktoriasee reiste, schrieb Ethel Younghusband eine Beschreibung nieder, die sie später in ihrem Reisebericht veröffentlichte: »Boys and old men shave their heads, and pull out the hairs off the rest of their body and faces, but warriors let it grow on their heads as long as it will ; it is woolly and they pull the cords, which are like those of a corded poodle, and braid leather in with them, forming one queue behind and one each side and another low down their foreheads in front [...]. From this last they are fond of hanging a triangular piece of thin iron by a small chain, which is rather effective, shining low down on their foreheads. ese queues they anoint with oil or mutton fat, mixed with the red clay so much to be seen; they are not content with doing their hair alone, but smear their whole bodies, clothes, and ornaments with the same, looking exactly, as they stand at rest, oen with one leg having the other foot resting on that knee, like a bronze statue, only slightly more red in colour«⁵⁸⁰. Beschreibungen von »Kriegstänzen« ordnete sie in das Kapitel »Various Matters including Pets and Insects«⁵⁸¹ ein, was auf eine entsprechende Wahrnehmung der afrikanischen Bevölkerung hinweist. Kulturelle Praktiken werden als biologische Phänomene geschildert, anhand derer die Rückständigkeit der ostafrikanischen Bevölkerung deutlich gemacht werden soll. 578 579 580

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Hollis: e Nandi, S. 29. Siehe hierzu auch: Seebode (Hrsg.): Ethnologie der Jugend, S. 17. Younghusband: Glimpses of East Africa and Zanzibar, S. 76. Weitere Beschreibungen siehe z.B. E. May Crawford: By the equator’s snowy peak. A record of medical missionary work and travel in British East Africa, London 1913, S. 46f. sowie Johannes Rebmann: Tagebuch des Missionars vom 14. Februar 1848-16. Februar 1849, hrsg. v. Stadtarchiv Goerlingen, Goerlingen 1997, S. 7. Die rote Bemalung wurde ebenfalls o beschrieben: »[...] the warrior class make use of this mineral [red ochre] to colour their bodies and they take on the colour of lobsters«(Nyombe: Some Aspects of Bari History. A Comparative Linguistic and Oral Tradition Reconstruction, S. 98). Eine Form der rituellen Rasur des Kopfes im Rahmen der Initiation beschreibt Vina Shah: Some Masai Customs and Beliefs. Oral Interviews collected in 1966, UoN, Signatur: A.1.3, S. 13. Younghusband: Glimpses of East Africa and Zanzibar, S. 86ff.

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Neben einer symbolischen Sonderstellung, die sich kulturell anhand der Körperpraxis manifestierte, stand die Disziplinierung der jugendlichen Körper, durch rituelle Gewalt und die Weitergabe von Gewaltroutinen, aber auch durch Ernährungsregeln. So war es einem Krieger verboten, Genussmittel wie Tabak oder Alkohol zu sich zu nehmen oder ihnen wurde eine bestimmte Art der Ernährung vorgeschrieben, die auf die körperliche Stärke der Krieger ausgerichtet war und entweder Milch oder Fleisch von Rindern, Schafen oder Ziegen in Verbindung mit dem Blut des jeweiligen Tieres beinhaltete⁵⁸². Friedrich Kallenberg beobachtete, wie die Elmuran zwischen dem Verzehr von Fleisch- und Milchgerichten einen Ritus durchführten, während dessen sie ein Brechmittel einnahmen. Der Hintergrund sei, dass man verhindern wolle, beide Kostarten im Magen zu vermischen⁵⁸³. Jugendliche bekamen eigene Räume zugewiesen. Friedrich Kallenberg beschrieb separate Siedlungen für Jugendliche, die als Freiräume galten und Handlungsspielräume für eine eigene Lebensweise boten⁵⁸⁴. Neben dem öffentlich und auch für fremde Beobachter deutlich wahrnehmbaren Aureten der Kriegergruppen standen getrennte und geschützte Bereiche für Krieger. Sie wurden vom Rest der Siedlung getrennt und lebten in einem sog. Kriegerkraal⁵⁸⁵. Im Gebiet Zentralkenias und Nordtanzanias wurde von solchen Siedlungen berichtet, die alle Krieger (Elmoran⁵⁸⁶) des jeweiligen Distrikts beherbergten⁵⁸⁷. Dort lebten sie mit jungen Mädchen (Dido/Ditto⁵⁸⁸) und einigen älteren Frauen, deren Aufgabe es war, häusliche Arbeiten zu erledigen⁵⁸⁹. Die Hauptbeschäigung der Krieger war 582

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Siehe omson: Durch Massai-Land. Forschungsreise in Ostafrika zu den Schneebergen und wilden Stämmen zwischen dem Kilima-Ndjaro und Victoria-Njansa in den Jahren 1883 und 1884, S. 383 sowie ebd., S. 404. Siehe auch: Richard Francis Burton/John Haning Speke: Der Nil und seine Quellen. Reisen nach den Binnenseen Afrika’s und Entdeckung der Quellen des Nils 1857-1863, Berlin ca. 1864, S. 364 sowie Krapf: Kurze Beschreibung der Massai, S. 439 und Kallenberg: Auf dem Kriegspfad gegen die Massai. Eine Frühlingsfahrt nach Deutsch-Ostafrika, S. 96. ebd., S. 96. Siehe ebd., S. 96. Siehe omson: Durch Massai-Land. Forschungsreise in Ostafrika zu den Schneebergen und wilden Stämmen zwischen dem Kilima-Ndjaro und Victoria-Njansa in den Jahren 1883 und 1884, S. 383 sowie Kallenberg: Auf dem Kriegspfad gegen die Massai. Eine Frühlingsfahrt nach Deutsch-Ostafrika, S. 96, Bischoerger: e generation classes of the Zanaki (Tanzania), S. 93, Iliffe: Africans. e History of a Continent, S. 116 und Schurtz: Altersklassen und Männerbünde, S. 129. Siehe omson: Durch Massai-Land. Forschungsreise in Ostafrika zu den Schneebergen und wilden Stämmen zwischen dem Kilima-Ndjaro und Victoria-Njansa in den Jahren 1883 und 1884, S. 378. Siehe Weiss: Die Völkerstämme im Norden Deutsch-Ostafrikas, S. 388. Siehe omson: Durch Massai-Land. Forschungsreise in Ostafrika zu den Schneebergen und wilden Stämmen zwischen dem Kilima-Ndjaro und Victoria-Njansa in den Jahren 1883 und 1884, S. 383. Siehe Weiss: Die Völkerstämme im Norden Deutsch-Ostafrikas, S. 388.

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die Bewachung des Viehbestands⁵⁹⁰, Verteidigung der Siedlungen sowie Feld- und Raubzüge⁵⁹¹. In den abgetrennten Bereichen prägten sich Gruppenidentität und Kriegertum weiter aus. Das Leben abseits der restlichen Bevölkerung beinhaltete Lektionen der älteren Krieger (Njama ya ita) in Kampechniken, Disziplin, Waffenherstellung und körperlicher Leistungsfähigkeit. Dies wurde unterstützt durch speziell zubereitete Kriegernahrung mit einem hohen Anteil von Fleisch von Bullen, Schafen und Schaöcken⁵⁹². Die speziellen Kriegersiedlungen wurden besonders vor fremden Beobachtern stark abgeschirmt, doch auch die Mitglieder der Gemeinschaen erhielten keinen Zutritt zu manchen Bereichen und Tätigkeiten der Krieger⁵⁹³. Alterskonzepte und geschütze Bereiche für Krieger boten eine Basis für die Festigung von Autoritätsstrukturen und Institutionen des individuellen und kollektiven Umgangs mit Gewalt. Krieger waren in Gruppen organisiert, die sich nach der Altersorganisation richteten⁵⁹⁴ und interne Hierarchien aufwiesen. So gab es einzelne Krieger, die als Vorsteher der Kriegersiedlung (Leitunu⁵⁹⁵) oder als militärische Anführer (Leigonani⁵⁹⁶ bzw. Kiruogindet⁵⁹⁷, Kiptainik⁵⁹⁸, jodong ’lweny⁵⁹⁹ oder athamaki a riika⁶⁰⁰) fungieren konnten. Die Inhaber dieser Positionen standen in Verbindung mit den traditionellen Autoritäten der Gemeinscha und konnten in Streitfragen als Vermittler hinzugezogen werden. Sie übernahmen führende Funktionen in der Planung und Durchführung mili-

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Eigene Siedlungen für Krieger befanden sich o in der Nähe des Viehs, siehe Weiss: Die Völkerstämme im Norden Deutsch-Ostafrikas, S. 389. Siehe ebd., S. 389 sowie omson: Durch Massai-Land. Forschungsreise in Ostafrika zu den Schneebergen und wilden Stämmen zwischen dem Kilima-Ndjaro und Victoria-Njansa in den Jahren 1883 und 1884, S. 385. Vgl. Mwaniki: e living history of Embu and Mbeere to 1906, S. 78. Ein Beispiel liefert der Missionar E.C. Hore, der sich einer Kriegerhütte näherte und auf aggressive Ablehnung stieß (Hore: On the Twelve Tribes of Tanganyika, S. 6). Siehe auch: Tanui: Dying Voice. An Anthropological Novel, S. 38. Der Missionar Becker berichtete im Jahr 1893 ebenfalls von einem »[...] rätselhae(n) Jünglingsheim [...]«, o.A.: Anfänge in Usambara - Briefe und Tagebuchberichte. VEM, Signatur: M543: M III 2.1 Bd. 1 1893. Der Reisende Joseph omson wurde im Jahr 1883 mit diesem Phänomen konfrontiert, als er sich mit einem lokalen Ältesten einer Kriegergruppe näherte und als Eindringling behandelt wurde, siehe Joseph omson: rough Masailand. A Journey of Exploration Among the Snowland Volcanic Mountains and Strange Tribes of Eastern Equatorial Africa, London 1968 [1885], S. 198. Siehe Muriuki: e Kikuyu in the pre-colonial period, S. 127. Siehe omson: Durch Massai-Land. Forschungsreise in Ostafrika zu den Schneebergen und wilden Stämmen zwischen dem Kilima-Ndjaro und Victoria-Njansa in den Jahren 1883 und 1884, S. 385. Siehe ebd., S. 385. Arap Magat: e rise and fall of the Nandi Orkoiyot 1850-1957. S. 27. Tanui: Dying Voice. An Anthropological Novel, S. 44. Ogot: A history of the Luo-speaking peoples of eastern Africa, S. 34. Kenyatta: Facing Mt. Kenya, S. 192.

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tärischer Operationen⁶⁰¹. Weiterhin gab es in jeder Sektion Kriegerräte wie den Rat der jungen Krieger (njama ya anake a mumo) oder den Rat der älteren Krieger (njama ya ita), sowie leitende Krieger, die für die organisierte Weitergabe des notwendigen Wissens zuständig waren und in generelle Aktivitäten sowie Verhaltensregeln und -konventionen einführten⁶⁰². Die Träger dieser Ämter wurden nicht formal in ihr Amt eingesetzt oder gewählt, die Inhaber der Ämter konnten ggf. schnell wechseln. Elders erhielten ihren Status durch Erfahrung, Wissen und Weisheit. Weitere Faktoren waren die Fähigkeit, eloquent zu sprechen und die Erinnerung an militärische Erfolge. Der Status militärischer Anführer (Kiruogindet) wurde an Personen mit außergewöhnlichen Führungsqualitäten und Mut vergeben⁶⁰³. Diese Flexibilität in der Organisationsform förderte eine ständige Konkurrenzsituation in der Kriegergruppe und lenkte das Potential der einzelnen Mitglieder in vorgegebene Bahnen. Als Form institutionalisierter Gewaltausübung bildeten Kriegergruppen einen festen Bestandteil des Gemeinwesens ostafrikanischer Gemeinschaen. Durch Systeme von Riten geschaffen und mit einer Reihe von Aufgaben betraut, waren sie rückgebunden an die Institutionen ihrer lokalen Gemeinscha. Das bezog sich zunächst und für die jüngeren Kriegergruppen auf den Familienverband, deren Vieh durch junge Krieger gehütet werden musste. Der preußische Lieutenant Waldemar Werther beobachtete während seiner 1892 im Aurag des Deutschen Antisklaverei-Komitees unternommenen Reise zum Viktoriasee, welche Aufgaben die jungen Männer in der Viehhaltung hatten: »[...] das Vieh [...] wird zu Herden zusammengetrieben und abwechselnd von den Söhnen der Besitzer bewacht. Es düre dies wohl die wesentlichste Beschäigung der hoffnungsvollen männlichen Jugend Usukuma’s sein.«⁶⁰⁴ Die Beschäigung mit den Viehherden begann bereits vor der Initiation, Kinder wurden frühzeitig in die Tätigkeiten der Viehwirtscha eingeführt. Die Verbindung zwischen Viehwirtscha und Kriegertum ergab sich u.a. durch den Aurag, Vieh auf entfernten Weiden zu hüten und so zu lernen, als Kleingruppe mit wenig Essen und ohne Unterkun zu leben; eine Lebensweise, die auch für die Tätigkei601

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Siehe omson: Durch Massai-Land. Forschungsreise in Ostafrika zu den Schneebergen und wilden Stämmen zwischen dem Kilima-Ndjaro und Victoria-Njansa in den Jahren 1883 und 1884, S. 385f. Siehe Uzoigwe: e Warrior and the State in Precolonial Africa, S. 35f. Die Institution des Rates war auch in anderen Kontexten verbreitet: »[...] boys, youths, warriors, family heads, and ruling elders each formed councils of their own, intended to regulate whatever conflicts might emerge among themselves [...]«, Jeffrey Fadiman: When We Began, ere Were Witchmen: An Oral History from Mount Kenya, Berkeley 1993, S. 25. Siehe auch: Chanler: rough jungle and desert, S. 249. Arap Magat: e rise and fall of the Nandi Orkoiyot 1850-1957. S. 27. Werther: Zum Victoria Nyanza. Eine Antisklaverei-Expedition und Forschungsreise, S. 167. Siehe hierzu auch: Ndege: Olonana Ole Mbatian, S. 6f.

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ten des Kriegertums von zentraler Bedeutung war⁶⁰⁵. Solche Aktivitäten konnten sich über mehrere Wochen hinziehen und beinhalteten auch Übungen im Umgang mit Waffen wie Bogen und Speer⁶⁰⁶. Die Isolation förderte den Zusammenhalt und prägte die unterschiedlichen Rollenverteilungen innerhalb der Gruppe weiter aus. Der Missionar Joseph Busse schrieb die Erinnerungen des Asyukile Malango aus dem südlichen Tansania auf, die eine solche Aktivität ausführlich schildern: Man sei in drei Altersgruppen unterteilt losgezogen und gemeinsam einen Monat Vieh hüten gewesen. In dieser hätten die Älteren eine Reihe von Aufgaben an die Jüngeren verteilt, was zu Spannungen und Auseinandersetzungen zwischen den Altersgruppen geführt habe⁶⁰⁷. Durch diese Spannungen untereinander bildeten sich individuelle Hierarchien und Beziehungen zwischen den Kriegergruppen einer Gemeinscha. Die räumliche Trennung förderte Gruppenkohärenz und Abgrenzung von der älteren Generation, die lediglich bei ausufernden Konflikten regulierend eingriff⁶⁰⁸. Neben den Tätigkeiten im Bereich der Viehwirtscha hatten die Kriegergruppen weitere Verpflichtungen innerhalb der Gemeinscha. Sie wurden mit einer Reihe verschiedener Aufgaben betraut, die ihrer Konstitution als jungen Männern entsprachen. Sie wurden zu körperlichen Arbeiten wie der Urbarmachung von Land, dem Bauen von Häusern und Stallungen, der Besorgung von Baumaterialien, Hüten und Versorgung der Viehherden sowie dem Anpflanzen von Bananen und Jamswurzeln herangezogen. Ihre Aufgabenfelder erstreckten sich jedoch auch in Bereiche, die mit der legitimen Ausübung von Gewalt in Verbindung standen. So sorgten sie im Aurag lokaler Ältestenräte für die Ergreifung von Verbrechern und bewachten Märkte, Riten und andere Festlichkeiten⁶⁰⁹. Ihnen kam somit eine zentrale Bedeutung innerhalb der Gemeinscha zu, die auch von europäischen Beobachtern wahrgenommen und beschrieben wurde: »Die Hauptstärke der Republik liegt in den Ilmuran (sing. orlmurani), oder den jungen Leuten von 18 bis 25 Jahren welche eine Art stehender Armee bilden. Ein eil dieser Leute beschützt die Weiber, Kinder und die Alten welche zu Hause bleiben. Ein anderer eil derselben beschützt das Vieh auf der Weide«⁶¹⁰. Krapfs Interpretation verdeutlicht die enge Beziehung zwischen Kriegergruppe und soziopolitischer Struktur. Kriegergruppen erscheinen gleichsam als Träger von Funktionen legitimierter Gewaltakteure, die strengen Regeln unterlagen, 605 606 607 608 609 610

Vgl.Sigei: Some Customs of the Elgeyo Chepkorio, S. 12f. Vgl. ebd., S. 12f. Busse: Aus dem Leben von Asyukile Malango. (Nyakyusa-Texte). S. 201ff. Siehe auch: Tanui: Dying Voice. An Anthropological Novel, S. 38. Siehe z.B. Busse: Aus dem Leben von Asyukile Malango. (Nyakyusa-Texte). S. 201ff. Vgl. Muriuki: e Kikuyu in the pre-colonial period, S. 127. Krapf: Kurze Beschreibung der Massai, S. 440.

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hierarchisiert waren und in festgelegten Aufgabenfeldern agierten. Altersorganisationen wirkten dabei als Mechanismen zur Verteilung dieser Aufgaben innerhalb der Gemeinscha. Die Jugend als Zeit größter körperlicher Leistungsfähigkeit wurde dadurch kulturell überformt und band die Krieger an eine Reihe von Verpflichtungen⁶¹¹. Die Aufgaben richteten sich nach Lebensweise und Lebensraum der jeweiligen Gemeinscha. Kinder und Jugendliche wurden an die verschiedenen Tätigkeitsfelder herangeführt. Durch ihre Funktionen als polizeiähnliche Kräe bei der Ergreifung von Delinquenten und der Bewachung von Vieh, Märkten und Festen waren sie durch die Altersorganisation in Mechanismen zur Gewaltregulierung eingebunden. Die Überformung ging allerdings noch weiter und funktionalisierte Aggression zur Ausformung der Kriegeridentitäten. 4.1.4 Aggressive Jugend? Kriegertum als Lebensabschnitt

Gewalt und Aggression waren fest in gesellschaliche Zusammenhänge eingebunden. Durch etablierte Riten und eine Gewaltsozialisation, die junge Männer von Kindheit an mit dem Gewaltgebrauch vertraut machte, wurde die Gewalt in festgelegte Bahnen gelenkt. Die Gewaltpraxis formte sich in gemeinschalichen Foren aus, in denen Aggressivität zur Schau gestellt und kriegerische Tätigkeiten eingeübt wurden⁶¹². Was im Rahmen der Initiation erlernt worden war, wurde bei rituellen Anlässen und Tanzfesten vertie und ausgebaut. Das o beobachtete Phänomen sog. »Kriegstänze« beinhaltete das Einüben von Gewalthandlungen, die Zurschaustellung kriegerischer Kompetenz und das Nachstellen vergangener Gewaltakte. In solchen eatern der Aggressivität zeigte sich die gesellschaliche Einhegung von Gewalt sowie die einzelnen Elemente der Gewaltpraxis. Eine regelmäßige Durchführung garantierte zudem das Fortbestehen der etablierten Strukturen und Praktiken. Auf westliche Beobachter wirkten solche Zusammenküne allerdings wie bizarre Phänomene, die mit Wildheit und Rückständigkeit assoziiert und als Ausbruch atavistischer Kräe beschrieben wurden. So machte der britische Geologe, Geograph und Entdecker John Walter Gregory während seiner fünfmonatigen Expedition durch den ostafrikanischen Graben zum Mt. Kenya und Baringo-See im Jahr 1892 immer wieder eine Beobachtung, die er als »the game of brag and bluster«⁶¹³ bezeichnete: Bei der Kontaktaufnahme seiner Karawane mit den Einwohnern ostafrikanischer Dörfer traten die jungen Männer (Elmoran) besonders aggressiv in Erscheinung. Sie drangsalierten die Träger der Karawane, bedrohten sie, zeigten Waffen und martialische Gebärden. Dieses Verhalten bezeichnete Gre611 612

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Vgl. Haberland: Das Gada-System der südwest-abessinischen Völker, S. 114f. Siehe hierzu auch: Paul Spencer: e Maasai of Matapato, Bloomington, IN 1988, S. 120ff. sowie Gunderson: Expressive Bodies / Controlling Impulses: e Dance Between Official Culture and Musical Resistance in Colonial Western Tanganyika, S. 146. Gregory: e Great Ri Valley, S. 100.

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gory als »äußerst unverschämt« und er vermied es fortan, mit den jungen Männern direkt in Kontakt zu treten⁶¹⁴. Auch den Autoren anderer Reiseberichte, Briefe und Tagebücher fiel die ostentative Aggressivität der Elmoran auf. So ist die Rede von in einem gewalthaften Klima dargebotenen »Kriegstänzen«, zurschaustellen kriegerischer Kompetenzen, furchterregenden Gesängen und von martialischen Noms de Guerre. Johann Ludwig Krapf bezeichnete das, was er unter der Bezeichnung Nzua kennengelernt hatte, als »a kind of game [...]. e male population assembles in an open place, and brandish their swords against each other, to the beating of the drum«⁶¹⁵. In anderen Berichten treten ebenfalls das gemeinsame Aureten der Krieger als Gruppe sowie die Aggressivität der einzelnen Akteure in den Vordergrund. Der britische Reisende und Elfenbeinhändler John Boyes verglich die von ihm im Hochland Kenyas beobachteten Kriegergruppen mit einem Regiment ausgebildeter Soldaten und betonte deren Gleichförmigkeit in der gemeinsamen Bewegung⁶¹⁶. Die Missionarin Rebecca Wakefield beschrieb eine Begegnung mit einer Kriegergruppe am 11. Oktober 1871 im Ort Ribé, im Hinterland der kenianischen Küste, in dramatisierter Form und betonte die Wildheit der einzelnen Krieger: »New came home yesterday, attended by about twenty men [...]. When they got near to the house, there was such a wild screaming and shouting as I never heard before. [...] During this performance, they all looked the wildest set of savages I could imagine. [...] their eyes stood wide open, and so did their mouths, which showed fine rows of white teeth. e fellows danced like madmen, flashing their swords, and swinging them about in the air in a dangerous manner; at the same time making the most horrible noises; and all this before they could even come and salute their wives and families. When they did this, there was another great hubbub, of course. Such scenes cannot be described. ey must be seen to be realised«⁶¹⁷. Die körperlichen und äußerlichen Elemente waren begleitet von einer aggressiven Attitüde, mit der Krieger besonders Fremden gegenüber auraten. Die Wirkung der Krieger auf Karawanen und Reisende wurde immer wieder mit einem Auftreten in Verbindung gebracht, das als feindselig, anmaßend und wild charakterisiert wurde. Rebecca Wakefield drückte ihr offenes Entsetzen über das Gebaren der Krieger aus:

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Siehe Gregory: e Great Ri Valley, S. 100ff. Krapf: A dictionary of the Suahili language, S. 95. Siehe Boyes: King of the Wa-Kikuyu, S. 102. Egbert Brewin: Memories of Mrs. Rebecca Wakefield, London 1888, S. 142f.

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»A regiment of warriors from the mainland of Africa passing by somewhat startled me. ey were making a most wild and horrible noise, and were armed with a variety of swords, spears, shields, and other warlike instruments. But what interested me most was their headdresses, being ugly monkey skins, with a hole cut in them to fit round the face. I shall never forget the strange impression the sight made upon me. Some of the head dresses were made of black and white ostrich feathers, rising a great height above the head; and upon these feathers great value is set even here«⁶¹⁸. Die Deutungen für diese Beobachtungen, welche zeitgenössische Autoren meist lieferten, reproduzieren gängige Fremdbilder, die von Vorstellungen der Rückständigkeit geprägt sind und im Verhalten der jungen Männer meist nicht mehr sehen als den Beleg für die »Wildheit« der Einwohner Ostafrikas. Während die meisten Reiseberichte eine terrorisierende Wirkung der sich nähernden Kriegergruppen beschreiben⁶¹⁹, bezeichnete die Reisende Mary French-Sheldon das Auftreten der Krieger als »theatralisch«⁶²⁰. Andere Beobachter führten das aggressive Verhalten auf soziale Konventionen zurück. So berichtete John Walter Gregory, dass die aggressiven Gebärden, Tänze und Drohungen der Elmoran erlernt und einstudiert wurden⁶²¹. Seine Bezeichnung eines »[Spiels] des Prahlens und Aufplusterns«⁶²² weist einerseits auf einen sozialen Kontext und andererseits auf eine gewisse Regelhaigkeit des Phänomens hin. Im Folgenden soll es darum gehen, in welchen Zusammenhängen sich die Aggressivität abspielte und welchen inneren Logiken sie folgte. Die beschriebenen »Kriegstänze« waren eingebettet in ein System von Riten, welche, wie bereits gezeigt, eine große wirklichkeitsprägende Kra ausstrahlten⁶²³. Das beinhaltete auch den Umgang mit Gewalt: Im Rahmen der Initiation wurden Gewaltpraktiken gelehrt und an jüngere weitergegeben. Dazu gehörte die Vermittlung von Verhaltenskonventionen. Kriegergruppen wurden daher gezielt auf die Bewachung der eigenen Herden und die Beschaffung von Vieh durch 618 619

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ebd., S. 109. Siehe auch: Gregory: e Great Ri Valley, S. 99 und Chanler: rough jungle and desert, S. 123 sowie ebd., S. 158. Z.B. schildert Gregory, wie Krieger die Träger seiner Karawane belästigten und diese in einen Zustand der Furcht versetzten, Vgl. Gregory: e Great Ri Valley, S. 99. Siehe auch: Arthur Lehmann: Aggression, Bravery, Endurance, and Drugs: A radical Reevaluation and Analysis of the Masai Warrior Complex, in: Ethnology 21 (1982), S. 335–347, hier S. 335. Sheldon: Sultan to sultan, S. 319. Siehe Gregory: e Great Ri Valley, S. 353. Siehe auch: Nakitare: A pre-colonial history of Abatachoni, 1500-1900 AD, S. 83f. »[...] game of brag and bluster« (Gregory: e Great Ri Valley, S. 100), meine Übersetzung. Siehe hierzu bspw. die Beobachtung des britischen Afrikaforschers und Kolonialbeamten Harry Hamilton Johnston (Johnston: British Central Africa: an attempt to give some account of a portion of the territories under British influence North of the Zambezi, S. 452) sowie die Konzeption Gerd Althoffs von Ritualen als »überindividuelles Ordnungsmuster«, Vgl. Althoff: Die Macht der Rituale, S. 56ff.

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Raids vorbereitet. Die Techniken des Gewaltgebrauchs, welche hierfür notwendig waren, wurden im Rahmen der Initiation erlernt und im Folgenden in der Praxis umgesetzt. Davon wird noch genauer zu reden sein. Solche »plötzlichen Überfälle«, wie sie später in den Aufzeichnungen des kolonialen Bezirksamts Pangani genannt wurden⁶²⁴, erforderten nicht nur Versiertheit im Umgang mit Viehherden, sondern auch Kenntnisse über Techniken eines Gewaltgebrauchs, der auf ein plötzliches Zugreifen aus dem Hinterhalt und die Schaffung eines Schockeffekts abzielte. Ostentative Aggressivität unterstützte Letzeres und konnte die Bewacher der Viehherden in die Flucht schlagen oder handlungsunfähig machen. Die Initiation bereitete auf diese Art der Gewaltnutzung vor. Mit Hilfe von Kriegergesängen, Schwüren und mystischen Praktiken wurde ein Klima der Aggressivität hergestellt, das Gewalt kanalisieren konnte. Die Beherrschung der eigenen Emotionen war dabei zentral für den Status als Elmoran. Das beinhaltete, sich aggressiv zu inszenieren ebenso, wie in der Lage zu sein, Emotionen kontrollieren oder völlig unterdrücken zu können. Im Moment der Beschneidung wurde Gewalt und Schmerz in einen größeren Sinnzusammenhang gestellt: Die gezielte Verletzung des Körpers durch das Initiationsmesser galt als der Moment, in dem der Initiand mystische Kräe erhielt. Das Maß, in welchem der Initiand in der Lage war, sein Schmerzgefühl zu unterdrücken und keine Emotionen zu zeigen, galt als Indikator für diese Kräe. In der folgenden Lebensphase als Elmoran konnte er diese Kräe unter Beweis stellen. Ein Forum für das Erlernen und Praktizieren aggressiven Verhaltens sowie für körperliche Übungen boten kommunale Zusammenküne, die den Rahmen für kriegerische Darbietungen boten. Tanzfeste, sogenannte Ngoma, waren ein wichtiger Faktor für die »[...] horizontale Gemeinschasbildung [...]«⁶²⁵ von Kriegergruppen und ein wichtiges Forum, um kriegerisches Verhalten einzuüben, darzustellen und an vergangene Auseinandersetzungen zu erinnern⁶²⁶. Die Inszenierung als Krieger stand dabei im Mittelpunkt, allerdings bot der öffentliche Raum auch Gelegenheit für die kulturelle Überformung von Emotionalität. Zugeschriebene mystische Kräe konnten in Ngoma-Tanzfesten ausgedrückt und kultiviert werden. Das diente auch der Distinktion der jungen Krieger. Sie traten als gesonderte Gruppe auf, trugen Waffen und Abzeichen in Form von Federn, Bändern und spezieller Bemalung. Diese bereits gezeigten äußerlichen Merkmale wurden 624 625

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Siehe o.A.: BArch R 1001 / Bd. 4999 Deutsch-Ostafrika. Bernhard Gissibl: Die Treue“ der askari. Mythos, Ehre und Gewalt im Kontext des deutschen ” Kolonialismus in Ostafrika, in: Nikolaus et.al. Buschmann (Hrsg.): Treue. Politische Loyalität und militärische Gefolgscha in der Moderne, Göttingen 2008, S. 214–252, hier S. 244. Der Begriff selbst wurde sowohl mit »Trommel« als auch mit »Tanz« übersetzt, beinhaltete jedoch mehr als diese beiden Bedeutungsebenen. Ngoma stand für jegliche Art wichtiger lokaler Ereignisse (Siehe Glassman: Feasts and riot, S. 161). Vgl. Gissibl: Die Treue“ der askari. Mythos, Ehre und Gewalt im Kontext des deutschen Ko” lonialismus in Ostafrika, S. 244.

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um einen aggressiven Habitus ergänzt: Im Rahmen von Ngoma-Tanzfesten wurde Aggressivität inszeniert und als Nachweis für die mystischen Kräe der Elmoran angesehen. Wie der Reisende William Astor Chanler beobachtete, brachten sich die jungen Krieger »[...] durch Lusprünge und ungestümes Geschrei in ein solches Ausmaß der Raserei, dass sie scheinbar den Verstand verlieren; ihr Mund schäumt und sie werfen sich auf den Boden, wo sie sich winden. Die Gewandtheit, mit der ein Krieger sich in diesen epileptischen Zustand versetzen kann wird als Beweis für dessen Besitz des kriegerischen Geistes angesehen; und Experten auf diesem Gebiet versichern, dass ihre Feinde vor ihnen fliehen werden wie der Tau vor der aufgehenden Sonne«⁶²⁷. Die Zurschaustellung aggressiver Emotionen galt als buchstäbliche »Herausbewegung« der mystischen Kra, die jugendliche Krieger für sich nutzen lernen sollten, um ihren Gegnern gegenüber aggressiv aufzutreten und sie dadurch abzuschrecken. Auch der deutsche Reisende Hans Meyer berichtete vom Verhalten der Krieger in Ngoma-Tanzfesten. Im Bericht seiner Reise zum Kilimandscharo aus dem Jahr 1889 schilderte er seine Erlebnisse wie folgt: »Wenn die Sonne zur Rüste⁶²⁸ ging, führten sie auf dem offenen Platz vor unserm Lager mit Kriegsgeschrei allerlei Evolutionen aus, bis sich ihrer eine genügende Anzahl versammelt hatte. Dann marschieren sie in einer langen Reihe auf, die Mädchen, die bisher zugeschaut, stellten sich ihnen in einer zweiten Reihe gegenüber, und nun treten unter dem kurzstrophigen Chorgesang der Menge abwechselnd drei Mann vor die Kriegerfronte, springen mit Kniebeuge hoch in die Lu, schlagen dabei mit ihren rotfettigen langen Mähnen wie der Löwe mit dem Schweif einen furchtbaren Reif, schwingen Schild und Speer und werden von den Mädchen durch ein leichtes Hüpfen auf der Stelle bewillkommt und ermuntert. Das eigenartige Schauspiel dauert beim Mondlicht bis in die späte Nacht hinein«⁶²⁹. 627

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»[...] in leaping into the air, and indulging in tumultuous shouts, they work themselves to such a pitch of fury as apparently to lose their reason; they foam at the mouth and hurl themselves upon the ground, where they writhe. e facility with which a warrior enters into this epileptic condition is accepted as evidence of the degree in which he possesses the martial spirit; and it is said of experts in this line, that their enemies will vanish before them as dew before the rising sun«, Chanler: rough jungle and desert, S. 253, meine Übersetzung. »[...] ein nur noch in einigen gemeinen Sprecharten ohne Artikel übliches Wort, den Untergang der Sonne zu bezeichnen. Die Sonne geht zu Rüste, gehet unter«, Johann Christoph Adelung (Hrsg.): Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Bd. 3: M-Scr, Wien 1811, S. 1219f. Hans Meyer: Zum Gipfel des Kilimandscharo, Leipzig 1989 [1890], S. 204f. Ähnliche Beschreibungen siehe z.B. Falkenhorst: Schwarze Fürsten. Bilder aus der Geschichte des dunklen Erdteils, S. 77 u. ebd., S. 143, Decken: Reisen in Ost-Afrika in den Jahren 1859-1865, S. 321 sowie Brewin: Memories of Mrs. Rebecca Wakefield, S. 142f., Saberwal: e traditional political system of the Embu of Central Kenya, S. 32, o.A.: BArch R 1001 / Bd. 4999 Deutsch-Ostafrika,

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Gewalt in ostafrikanischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts

Solche Beschreibungen verweisen auf die wichtige Rolle solcher eater der Aggressivität im Zusammenhang mit der Ausprägung von Kriegeridentitäten und Konzepten von Kriegertum, Kra und Männlichkeit. Mit dem Bestehen des Initiationsritus waren den jungen Krieger mystische Kräe zugeschrieben worden, die sie im weiteren Verlauf ihres Aufwachsens nutzen konnten und sollten. Das Paradigma der Jugend als das Neue, Wilde und Ungestüme fand sich in der Rolle der jungen Männer wieder. Ein wildes, aufmüpfiges Verhalten wurde von ihnen erwartet⁶³⁰ und sie wurden dazu angehalten, ihre Männlichkeit durch gewalttätige Aktivitäten zu beweisen. Abgrenzung von der älteren Generation und rebellisches, aggressives Verhalten wurden dadurch in vorgegebene Bahnen gelenkt. In diesem Zusammenhang wird eine »sozialtherapeutische Funktion«⁶³¹ tradierter Alterskonzepte erkennbar, die das subversive Potenzial Jugendlicher beeinflusste. Ngoma-Tanzfeste waren Foren, in denen Aggressivität evoziert und mit dem Ziel inszeniert wurde, sie im Rahmen von Überfällen nutzen zu können und es zu ermöglichen, die Krieger in der Vorbereitung eines solchen Raids schnell in einen körperlichen Zustand zu versetzen, der es ermöglichte, mit Hieb-, Wurfund Stichwaffen und von Kriegsschreien untermalt in hoch emotionalisiertem Zustand auf das Ziel loszupreschen, was im Idealfall bewirken konnte, dass die Gegner in der Tat, wie Chanler es formulierte, »wie Tau vor der aufgehenden Sonne«⁶³² flüchteten. Ngomas waren eine Möglichkeit, eine aggressive Attitüde einzuüben und Techniken zu erlernen, die bei vergangenen Raids zum Erfolg geführt hatten. Der Soziologe Hartmut Rosa spricht in einem solchen Zusammenhang in Anlehnung an Charles Taylor und Pierre Bourdieu von einem im Wortsinne verkörperten Wissen: »In Gesten und Körperhaltungen, aber auch im Erfahren des Körpers und im Umgang mit ihm kommen [..] Verstehensweisen zum Ausdruck; sie sind geradezu in ihm eingeschrieben«⁶³³. Die Logik der Aggressivität verband also Emotionen mit einer körperlichen Erfahrung und sorgte für militärischen Drill, der in der Situation eines Raids abgerufen werden konnte. Das sorgte nicht nur für die körperliche Vorbereitung

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Chanler: rough jungle and desert, S. 253, Samuel White Baker: e Albert N’Yanza, Great Basin of the Nile And Explorations of the Nile Sources. London 1867, S. 228ff. und Boyes: King of the Wa-Kikuyu, S. 102. Siehe Baxter/Almagor (Hrsg.): Age, Generation and Time: some features of East African age organisations, S. 16 sowie Baxter: Boran Age-Sets and Generation-Sets: Gada, a Puzzle or a Maze?, S. 172. Siehe Baxter/Almagor (Hrsg.): Age, Generation and Time: some features of East African age organisations, S. 3. »[...] as dew before the rising sun«, Chanler: rough jungle and desert, S. 253, meine Übersetzung. Hartmut Rosa: Identität und kulturelle Praxis. politische Philosophie nach Charles Taylor, hrsg. v. Axel Honneth, Frankfurt/Main [u.a.] 1998, S. 147.

»Kriegergeist« und junge Krieger

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der Kriegergruppen, sondern auch für deren interne Hierarchisierung. So wurden während der Ngomas einzelne Kampfszenen vergangener Raids nachgestellt und die beteiligten Krieger für diese Erfolge geehrt. Dabei wurden Kriegernamen, Noms de Guerre, geprägt und in der Umgebung verbreitet. Nach Innen wirkten diese Distinktionsmöglichkeiten als Stabilisator für die Kohärenz der Kriegergruppen und als Möglichkeit für Einzelne, Anerkennung und Ehre zu erlangen. Die gemeinsam erlebte Emotion stärkte zudem die Bindung der Mitglieder aneinander und formte eine Gruppenidentität aus, die einen festen Platz im sozialen Gefüge zuwies. Durch den Bezug zur Altersordnung hatte die Ausübung von Gewalt zudem »[...] in der männlichen Biographie einen festen Ort [...]«⁶³⁴, der mit der Initiation als Krieger begann. Bezogen auf das soziale Umfeld bot sich für die jungen Männer ein Experimentierfeld für den Umgang mit Gewalt und deren Darstellung in Form eines aggressiven Habitus, in dem Kreativität akzeptiert und willkommen war⁶³⁵. In der Umgebung konnte die Verbreitung von Liedern über ruhmreiche Krieger für neue Allianzen sorgen oder potenzielle Raids abschrecken. Heroisierte Krieger, die einen hohen Grad von Geschicklichkeit im Umgang mit Waffen und eine wirkungsvolle Inszenierung der Aggression an den Tag legten, dienten als Vorbilder, denen der Rest der Gruppe folgte. Ngomas waren eater der Aggressivität, die auf Außenstehende bisweilen übertrieben oder furchterregend wirkten. Doch so wild und unkontrolliert sie Vielen erschienen sein mochte, verlief die Aggressivität keineswegs ausufernd. Ngomas liefen reglementiert ab und fanden vor der gesamten Gemeinscha statt. Die Erfahrung der Krieger während eines Raids oszilierte zwischen kanalisierter Aggression und zielgerichtetem Emotionsausbruch, Anspannung und Kontrolle des eigenen Verhaltens. Im Fall von extremer Gewalt während eines Raids mussten die Beteiligten vor der Rückkehr in ihre Siedlungen an Reinigungszeremonien teilnehmen, so z.B. wenn sie jemanden getötet hatten⁶³⁶. Solche Überformungen von Gewalt und Aggression sicherten die Einhegung in fest definierte Räume, Zeiten und Situationen. Inszenierte Aggressivität und Gewalthaigkeit konnte in verschiedenen situativen Kontexten Gewaltexzesse vermeiden und Verluste minimieren, wenn man in der Lage war, die Hüter von Viehherden erfolgreich zu verjagen. Durch die regelmäßig praktizierte und kontrollierte Aggressivität wurde nicht nur die Gewaltpraxis mit tradierten Normen überformt, es entstand dabei auch eine Verbindung zwischen den Generationen. Elders agierten als Wächter der Regeln und Grenzen, junge Krieger festigten ihre Gewaltkompetenz und integrierten im kontrollierten Rahmen der Ngoma-Tanzfeste neue Elemente. Die regelmäßig belegten Tanzfeste 634 635 636

Ellerbrock: Generation Browning. Überlegungen zu einem praxeologischen Generationenkonzept, S. 13. Siehe auch: ebd., S. 15f. Vgl. Jeffrey Fadiman: Mountain warriors : the pre-colonial Meru of Mt. Kenya, 1976, S. 17.

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Gewalt in ostafrikanischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts

erschienen manchen Beobachtern zwar als Symptom für einen allgemeinen Zustand unregulierter Gemeinschaen. Sie müssen stattdessen im Gegenteil als Stabilisierungsfaktoren angesehen werden. Ngomas standen für Phasen kontrollierter Unsicherheit, die letztlich der Stabilität dienten. Mit Austritt aus der Kriegerkaste legte man, zusammen mit den Kriegerinsignien und Ehrenzeichen auch die aggressive Attitüde ab. Nach der Durchführung eines Übergangsritus in den Status des Elder (Elmorua) wurde nachfolgenden Gruppen die Aufgaben übergeben, welche direkt mit Inszenierung von Aggressivität und Ausübung von Gewalt in Verbindung standen. Nach dem Eintritt in die Kaste der Elders hatten die mittlerweile 30-35jährigen Männer andere Aufgaben zu erfüllen, für die ein Ablegen der aggressiven Attitüde notwendig war. Zur sozialen Institution des Altersklassensystems gehörte also auch die Zuschreibung eines Habitus für die Mitglieder der einzelnen Segmente. Der Ethnograph eodor Meyer beschrieb den Übergang in den Status des Elder und die zugehörigen Veränderungen: »From a lustful bloodthirsty fiend he becomes a staid, courteous and reasonable man«⁶³⁷. Diese Mechanismen, Institutionen und Regeln zeigen, dass Aggressivität und Gewalt keineswegs entgrenzt stattfand, sondern geregelt und überformt wurde. Die Schockwirkung der ostentativen Aggressivität wurde nicht nur für die Bewohner ostafrikanischer Dörfer beschrieben, auch die Repräsentanten kolonialer Expansion zeigten sich beeindruckt vom kriegerischen Gebaren der jungen Männer, wie die studierte Medizinerin Mary French-Sheldon berichtete. Angeregt von den Berichten ihres Freundes Henry Morton Stanley widmete sie sich ethnographischen Studien und leitete im Jahr 1891 selbst eine Expedition in das Kilimanjaro-Gebiet. Sie zeigte sich einerseits nur wenig beeindruckt von den als wild und gefährlich beschriebenen Elmoran, räumte andererseits aber auch den Erfolg des Schockeffekts ihrer aggressiven Attitüde ein: »Blusterers that the Masai are, they cannot be seriously looked upon as true warriors, or as possessing real bravery [...]. eir vocation is cattle stealing, freebooting, and raiding their neighbors, aer terrorizing them by their merciless onslaught. With theatrical make-up and hostile manner, they succeed in creating a panic wherever they list to carry a high hand, not only in the hearts of the natives, but by compelling Germans and English to defence«⁶³⁸. 637

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Meyer, eodor: Die Konde. Ethnographische Aufzeichnungen 1891-1916 des Missionsuperintendanten T. Meyer bei den Nyakyusa, Tanzania. Zürich 1989, zit.n. Willis: Potent brews. A Social History of Alcohol in East Africa 1850-1999. S. 53. Sheldon: Sultan to sultan, S. 319f.

Die soziale und politische Einbettung kollektiver Gewalt

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Diese Beobachtungen Mary French-Sheldons weisen bereits auf die Vielschichtigkeit des Phänomens und die unterschiedlichen Situationen hin, in denen ostentative Aggressivität gezielt eingesetzt werden konnte. Wir werden noch darauf zurückkommen. Vorerst bleibt festzuhalten, dass die Aggressivität junger Männer gezielt in soziale und politische Kontexte eingepasst und mit Regeln und Aufgaben belegt wurde. Neben den Aufgaben im lokalen Bereich wirkten die Krieger dabei in einem Betätigungsfeld außerhalb ihrer Herkunsgemeinscha und im Kontext einer Gewaltökonomie, die im Folgenden in den Blick genommen wird. Es ergibt sich eine Dialektik zwischen dem Einüben und der Repräsentation von Aggressivität nach Innen, auf der internen Ebene der lokalen Gemeinscha, und dem Ausüben zielgerichteter Inszenierung von Aggressivität im Rahmen der Gewaltnutzung nach Außen.

4.2 Die soziale und politische Einbettung kollektiver Gewalt 4.2.1 Eine Ökonomie des Raid »e Maasai [...] do wonders in the art of raiding, so have made a great name for themselves«. - Sir John Ponsonby, 27. Februar 1888⁶³⁹

Die Nutzung von Gewalt war mit verschiedenen wirtschalichen Aspekten verbunden und fand im Kontext der übergeordneten Lebenssituation der Ostafrikaner inmitten einer unsicheren natürlichen Umgebung statt. Dabei tritt besonders die Viehwirtscha in den Vordergrund. Kristallisationspunkt instrumenteller Gewalt war der Raid als Form schnellen, überraschenden Zugriffs auf Vieh, Lebensmittel und auch Frauen und Kinder. Indes musste Vieh und Weidegrund auch verteidigt werden, was beides Aufgabe der Krieger war. Zur Erläuterung dieser Zusammenhänge muss jedoch zunächst ein Blick auf die Grundbedingungen des Wirtschaens gerichtet werden. Das wirtschaliche Leben im Ostafrika des 19. Jahrhunderts erforderte ein hohes Maß an körperlicher Arbeit. Die Bewohner kleiner Siedlungen und Ansammlungen kleiner Siedlungen mussten sich den ökologischen Bedingungen anpassen und waren in weiten Teilen Ostafrikas auf Subsistenzwirtscha angewiesen. Die meisten Güter und Lebensmittel wurden lokal produziert und verbraucht, Handel

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John Ponsonby: Diary 1888-1889. RhArch, Signatur: GB 0162 Micr.Afr.597, 1888. Diese Aussage bezieht sich zwar auf eine ethnisch abgrenzbare Gruppe, wie gezeigt kann zum Einen nicht davon ausgegangen werden, dass ethnische Grenzen für das 19. Jahrhundert gezogen werden können. Zum Anderen wurden Raids als allgemein verbreitete Art kollektiver Gewaltnutzung beschrieben.

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Gewalt in ostafrikanischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts

fand lediglich in einem geringeren Maße statt⁶⁴⁰. Abseits größerer Handelszentren an der Küste und zentralistischer, staatenähnlicher Gebilde wie dem Königreich Buganda spielte sich das wirtschaliche Leben auf lokaler Ebene im Rahmen von Familienverbänden ab, die durch Klientelbeziehungen miteinander verbunden waren. Gruppen von Menschen, deren Bindung aneinander auf gegenseitiger Akzeptanz basierte, fungierten sowohl als Produzenten wie auch als Konsumenten in kleinen wirtschalichen Kreisläufen⁶⁴¹. Johann Krapf dokumentierte die Kulturgeographie des ostafrikanischen Hinterlands in den 1850er Jahren: »Sie leben [...] in [...] Niederlassungen, wo jede Familie ihren eigenen Weiler hat mit einem Stück Land als Weideplatz«⁶⁴². Anbau von Nutzpflanzen und Viehwirtscha wirkte sich auf die sozialen Strukturen der Gemeinschaen aus. Pastorale und agrarische Lebensformen wurden, je nach Bedingungen von unmittelbarem Lebensraum und Jahreszeit, miteinander kombiniert. Von einer strikten Trennung zwischen pastoralen und agrarisch lebenden Gruppen kann also nicht ausgegangen werden⁶⁴³. Durch diese zwangsläufige Flexibilität und besonders durch den damit zusammenhängenden Bedarf an körperlicher Leistungsfähigkeit ergab sich die Notwendigkeit einer Arbeitsteilung innerhalb der Gemeinscha. Institutionen hatten sich herausgeprägt, die körperliche Arbeit verteilten und regelten⁶⁴⁴. Besonders aus dem Zusammenhang mit der Viehhaltung ergibt sich eine Verbindung zwischen diesen Institutionen und dem Umgang mit Gewalt. Während die ältere Forschung die Rolle von Vieh bisweilen als mystisch überhöhte, irrationale Beziehung und Fetischismus charakterisierte, zeigen jüngere Studien eine unterliegende Rationalität im Umgang mit Vieh. Im Hinblick auf die o lebensfeindliche Umgebung wird auf fundierte Kenntnisse in der Viehhaltung und große Kompetenz in der Nutzbarmachung von Vieh hingewiesen⁶⁴⁵. 640

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Zur Einheit von Produktion und Konsum siehe z.B. A.M. Gentili (Hrsg.): Africa come storia. Elementi del dibattito sulla natura della transizione nelle società e nei sistemi africani, Milano 1980, S. 40f. Vgl. ebd., S. 42ff. Krapf: Kurze Beschreibung der Massai, S. 439. Krapf bezeichnete besonders in seinen ersten Jahren in Ostafrika die Bevölkerung des Hinterlands o pauschal als Massai, seine Beobachtungen können mit Blick auf die gezeigten Schwierigkeiten hinsichtlich ethnischer Abgrenzungen als allgemeines Grundmuster ostafrikanischer Siedlungen angesehen werden. Siehe hierzu: Collins/Burns: A history of sub-Saharan Africa, S. 120f. sowie Georg Christian ilenius: Wirtscha der Eingeborenen, in: Deutsches Kolonial-Lexikon 1920, 715 ff.) und Gentili (Hrsg.): Africa come storia. Elementi del dibattito sulla natura della transizione nelle società e nei sistemi africani, S. 35. Siehe ilenius: Wirtscha der Eingeborenen. Zu pastoralen Lebensformen siehe Alan H. Jacobs: African pastoralists: some general remarks, in: Anthropological Quarterly 38.3 (1965), S. 144–154. Vgl. Gentili (Hrsg.): Africa come storia. Elementi del dibattito sulla natura della transizione nelle società e nei sistemi africani, S. 37f.

Die soziale und politische Einbettung kollektiver Gewalt

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Das bezieht sich besonders auf die Nahrungsmittelproduktion und den Konsum; so konnte die Anzahl von Schlachtungen reduziert werden, indem man bevorzugt Nahrungsmittel herstellte, die auf einer Mischung von Blut und Milch basierten. O wurden Schlachtungen auch im rituellen Rahmen durchgeführt, wo sie strengen Regeln unterlagen und die Verteilung des gewonnenen Fleisches streng festgelegt war⁶⁴⁶. Jedoch auch beim Umgang mit Gewalt spielt der Bezug zum Vieh eine tragende Rolle. So lässt sich ebenfalls eine Rationalität beschreiben, die der Gewaltpraxis unterlag und sich zunächst auf die Viehwirtscha bezog. Dabei war die Logik der Gewalt an Alterskonzepte und Generationenabfolgen gebunden. Sie zielte auf Pflege und Aufstockung der Viehherden und organisierte den körperlichen Einsatz der jugendlichen Krieger mittels kultureller Konzepte von Jugendlichkeit. Die kulturell vermittelten Normen der Altersorganisation sahen eine enge Beziehung zwischen Jugendlichkeit und dem Schutz, der Pflege und ggf. der Aufstockung der Viehherden vor⁶⁴⁷. Durch diese Rückbindung an die Altersorganisation konnte Gewalt legitimiert und kanalisiert werden⁶⁴⁸. Viehbesitz ermöglichte zusätzlichen Reichtum, erforderte aber auch die Verteidigung der Herden. Das ergab sich nicht nur aus der wichtigen Rolle des Viehs in der Nahrungsmittelproduktion, sondern auch daraus, dass Vieh als Zahlungsmittel genutzt wurde. Im Fall des Verlusts von Vieh durch Seuchen oder Dürreperioden konnten lokale Gemeinschaen selbst aktiv werden und zur gewaltsamen Selbsthilfe in Form organisierter Raids greifen⁶⁴⁹. Dieses Phänomen steht im Mittelpunkt zahlreicher Untersuchungen zu Gesellschaen ohne Zentralgewalt, wie sie im Ostafrika des 19. Jahrhunderts vorherrschten. Die grundlegende Form der in Raids praktizierten Gewalt war ein schnelles, aber geplantes Vorgehen kleiner Gruppen von 20-30 Kriegern⁶⁵⁰, ein »[...] Prozeß rascher Bemächtigung«⁶⁵¹, der auf den Raub von Gütern und Vieh sowie auf die Entführung von Personen gerichtet war und sich potenziell zum Massaker ausweiten konnte⁶⁵². Ethnologische, soziologische und rechtswissenschaliche Studien⁶⁵³ weisen auf die Zweckrationalität der Gewalt in Bezug auf wirtschaliche Zusammenhänge hin. Die Strategie des organisierten Raid wurde als »[...] tra646 647 648 649 650

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Vgl. ebd., S. 38. Siehe z.B. Njau: Meine Nachrichten von meiner Kindheit an bis jetzt, S. 116. Siehe auch: Wilson: For men and elders, S. 98. Vgl. Collins/Burns: A history of sub-Saharan Africa, S. 120f. Vgl. Alan H. Jacobs: Maasai Inter-Tribal Relations: Belligerent Herdsmen or Peacable Pastoralists?, in: Katsuyoshi Fukui/David Turton (Hrsg.): Warfare among East African Herders, 1979, S. 33–52, hier S. 44f. Wolfgang Sofsky: Gewaltzeit, in: Trutz von Trotha (Hrsg.): Soziologie der Gewalt.Kölner Zeitschri für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderhe 37, Opladen et.al. 1997, S. 102–121, hier S. 111. Vgl. ebd., S. 110. Siehe hierzu besonders Spittler: Konfliktaustragung in akephalen Gesellschaen: Selbsthilfe und Verhandlung.

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gende[r] Pfeiler der politischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse [...]«⁶⁵⁴ angesehen. Akten aus dem Bereich der colonial knowledge⁶⁵⁵ bringen diese Form kollektiver Gewalt mit indigenen Rechtstraditionen und -verhältnissen Ostafrikas in Verbindung. Dies erlaubt Rückschlüsse auf die soziokulturelle Einbettung dieser Gewaltpraktik. Familienverbände, Siedlungsgemeinschaen oder einzelne Alterseinheiten erscheinen als gewalttätiger Arm eines Wirtschassystems, einer Razzia - Ökonomie⁶⁵⁶, die Gewalt im Sinne Hannah Arendts als »[...] ihrer Natur nach instrumental«⁶⁵⁷ charakterisiert und auf die ökonomische Reproduktion der jeweiligen Gemeinscha abzielen lässt. Solche Formen der Zweckrationalität schlugen sich als akzeptierte und tradierte Formen kollektiver Gewalt nieder, die von den beteiligten Gruppen zielgerichtet eingesetzt wurden. List und Gewalt treten als Mittel zur Herstellung des ökonomischen Gleichgewichts in den Vordergrund⁶⁵⁸. Der Viehbestand einer Siedlung konnte durch ein System organisierter Gewaltpraktiken gesichert werden. Raids boten dabei Kanäle für die Versorgung mit Vieh. Der deutsche Reisende Friedrich Kallenberg beobachtete diese Praxis im März 1891: »Den fast ausschließlichen Besitzstand [...] bilden geraubte Viehherden, welche ihren Unterhalt bestreiten müssen. Um diese zu erlangen, unternehmen sie weitgreifende, kühne, sich manchmal bis an die Küste erstreckende Raubzüge«⁶⁵⁹. Auch in der kollektiven Erinnerung stand der Viehraub im Mittelpunkt. Lieder, Erzählungen und lokale Überlieferungen betonen, dass der größte Teil gewalthaer Auseinandersetzungen den gegenseitigen Raub von Vieh zur Ursache hatte⁶⁶⁰. Entsprechend war die Praxis des Raid eng mit ostafrikanischen Gesellschaen verknüp. Deren Kriegergruppen operierten somit an der Verbindungslinie zwischen Gewalt und Wirtschalichkeit. Johann Ludwig Krapf beschrieb die Notwendigkeit einer geregelten Gewaltpraxis im Hinterland der ostafrikanischen Küste in den frühen 1850er Jahren wie folgt: 654 655

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Trotha: Koloniale Herrscha, S. 296. Vgl. Rebekka Habermas: Wissenstransfer und Mission. Sklavenhändler, Missionare und Religionswissenschaler. In: Sebastian Conrad/Rebekka Habermas (Hrsg.): Geschichte und Gesellscha 36 (2010), S. 257–284. Trotha: Koloniale Herrscha, S. 296. Die Begriffe Razzia und Raid werden hier weitgehend synonym verwendet und orientieren sich an der Beschreibung Wolfgang Sofskys (Vgl. oben sowie Sofsky: Gewaltzeit, S. 111). Arendt: Macht und Gewalt, S. 52. Siehe auch: Braudel/Duby/Aymard: Die Welt des Mittelmeeres: Zur Geschichte und Geographie kultureller Lebensformen, S. 112. Kallenberg: Auf dem Kriegspfad gegen die Massai. Eine Frühlingsfahrt nach DeutschOstafrika, S. 90). Siehe auch: Muturi: Maasai-Kikuyu relations in Mathira Division of Nyeri 1800-1900, S. 8, ebd., S. 10, ebd., S. 22 sowie Werther: Zum Victoria Nyanza. Eine AntisklavereiExpedition und Forschungsreise, S. 167f. Vgl. Koponen: People and production in late precolonial Tanzania, S. 143.

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»Da [sie] in ausgedehnten, offenen Ebenen wohnen, und genöthigt sind ihre Weideländer, auf denen ihre Nahrung beruht, gegen alle andern Nationen zu vertheidigen und zu behaupten, so müssen sie in beständiger Bereitscha für Vertheidigung und Angriff stehen, und also unter ihrer Nation einen kriegerischen Geist unterhalten, welcher den Nachbarvölkern Schrecken und Furcht einflößt«⁶⁶¹. Die Logik der Gewalt verweist auf ihre Einbettung in Kultur und Lebensweise. Alterskonventionen und rituelle Praktiken erscheinen vor diesem Hintergrund als zielorientierte Mechanismen, die der Erhaltung bestehender Gemeinschaen dienten und die Wissensweitergabe so organisierten, dass Jugendliche zu kompetenten Gewaltakteuren ausgebildet werden konnten. Die Nutzung des gewonnenen Viehs beinhaltete nicht nur die Gewinnung von Nahrung in Form von Fleisch und Milch, sondern auch die Festigung sozialer Beziehungen. Vieh diente als Transaktionsmedium bei Hochzeiten, was zu dauerhaen wirtschalichen Kooperationen der beteiligten Parteien führen konnte. Rituelle Handlungen beinhalteten o die Schlachtung von Vieh und dessen gemeinsamen Verzehr als Zeichen symbolischer Bindungen⁶⁶². So fand bei einer Hochzeit ein Austausch von Vieh zwischen den beteiligten Familien statt, dessen Umfang im Zusammenhang mit dem sozialen Status der beteiligten Gruppen stand. Höhere Zahlungen von Vieh konnten zur Mitgliedscha in einem prestigeträchtigen Familienverband führen⁶⁶³. Kompensationszahlungen bei Streitigkeiten und andere Strafen wurden ebenfalls in Form von Vieh geleistet⁶⁶⁴, was dessen wirtschaliche Bedeutung unterstreicht. Waldemar Werther fasste seine diesbezüglichen Beobachtungen in seinem Reisebericht wie folgt zusammen: »Da das Vieh das wertvolle Besitztum des Volkes bildet, so ist es erklärlich, daß der Reichtum eines Mannes vornehmlich nach seinem Viehbestand taxiert wird, und daß andererseits die Begierde, Vieh zu erlangen, sehr groß ist. Bei Eintritt von Feindseligkeiten sind daher auch die Herden das erste, was in Sicherheit gebracht wird. Ist man nun genötigt, mit einem Stamm Krieg zu führen, so wird sich derselbe, mag man auch alle Dörfer zerstört und dem Feinde große Verluste an Menschenleben beigebracht haben, doch erst dann als vollkommen besiegt betrachten, wenn es gelungen ist, einen großen Teil des

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Krapf: Kurze Beschreibung der Massai, S. 439. Siehe Fadiman: Mountain warriors : the pre-colonial Meru of Mt. Kenya, S. 19ff. Vgl. Iliffe: Africans. e History of a Continent, S. 106 sowie Frobenius: Unter den unsträflichen Aethiopen, S. 152ff. Vgl. Muturi: Maasai-Kikuyu relations in Mathira Division of Nyeri 1800-1900, S. 10 sowie ebd., S. 22.

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Vieh’s [...] abzufangen. Dies ist mir nicht nur durch die Erfahrung, sondern auch persönlich [...] des öeren bestätigt worden«⁶⁶⁵. Der innere Zusammenhang von Gewalt und Viehwirtscha hatte also direkte Auswirkungen auf die Sozialstruktur der beteiligten Gruppen: »One of the few generalizations we can make about pastoral societies is that social relationships run close to stock-relationships and that stock have the property of creating and transmitting social relationships«⁶⁶⁶. Das Vieh wurde mit »[...] besonderen Zeichen und Figuren«⁶⁶⁷ gekennzeichnet, um es als Besitz der jeweiligen Gruppe identifizieren zu können. Familienverbände kontrollierten den Viehbestand, markierten Besitzverhältnisse und regelten den Zugriff auf Weideplätze sowie die Verteilung von Produkten, die aus der Viehhaltung gewonnen wurden⁶⁶⁸. Soziale Verhältnisse und deren Veränderungen standen im Zusammenhang mit der Viehhaltung, so dass auch die Bezeichnung für Klans semantisch mit dem Viehbesitz in Verbindung gebracht wurden. Etymologische Analysen stützen diese Annahmen: »[...] in fact, dunjet (Bari for clan) means cutting, so that when a man is asked what his Clan is, originally the questioner asked how he cut the ears of his cattle, and, although these cattle subsequently change hands many times, when sold or handed over as part of a brideprice, the ear marking still proclaims the cow that was born in the Minji Kraal or the bull that was the bride of the Biajin.«⁶⁶⁹ So konnten die unterschiedlichen Markierungen an einzelnen Rindern von Käufen und Verkäufen, Abgaben oder Kompensationsleistungen zeugen. Der soziale und wirtschaliche Hintergrund erforderte die Kooperation zwischen Familienverbänden, eine kontinuierliche Heranführung von jungen Personen an Aufgaben im wirtschalichen Bereich und, damit in Verbindung stehend, auch im Bereich der kollektiven Gewalt. Angesichts der wirtschalichen und militärischen 665 666

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Werther: Zum Victoria Nyanza. Eine Antisklaverei-Expedition und Forschungsreise, S. 167f. Baxter/Almagor (Hrsg.): Age, Generation and Time: some features of East African age organisations, S. 9. Siehe auch: George Dalton: Economical Anthropology, in: American Behavioral Scientist 20.5 (1977), S. 635–657, hier S. 642, Galaty: Maasai Expansion & the New East African Pastoralism, S. 77, Colson/Gluckman (Hrsg.): Seven tribes of British Central Africa, S. 257. Krapf: Kurze Beschreibung der Massai, S. 441. Markierungen an den Ohren des Viehs zeigten spezielle Signaturen und damit den Besitz an (Vgl. Beaton: e Bari: Clan and Age-Class Systems, S. 123): »Das Vieh einer jeden Familie hat seine besonderen Zeichen und Figuren, wodurch es von den Heerden eines anderen Stammgenossen unterschieden werden kann. Diese Figuren sehen o sehr curios aus« (Krapf: Kurze Beschreibung der Massai, S. 441). Zur Rolle von Familienverbänden im Rahmen der Viehwirtscha siehe auch: Galaty: Maasai Expansion & the New East African Pastoralism, S. 77 sowie S. N. Sangmpam: Sociology of Primitive Societies“, Evolutionism, and Africa, in: Sociological ” Forum 10.4 (1995), S. 609–632, hier S. 615ff. und Muturi: Maasai-Kikuyu relations in Mathira Division of Nyeri 1800-1900, S. 8. Beaton: e Bari: Clan and Age-Class Systems, S. 124.

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Notwendigkeiten in der Viehwirtscha sah die bisherige Forschung einen Zusammenhang zwischen der Wirtschasform einer Gruppe und der Ausprägung von Kriegertraditionen. So argumentierte der Historiker John Iliffe, vom Ackerbau geprägte Gesellschaen hätten weniger ausgeprägte Formen von Kriegerklassen, während die Pflege von Kriegertraditionen und die Verehrung von Kriegern bei pastoralen Gesellschaen stärker ausgeprägt sei⁶⁷⁰. Zwar wurden diese Phänomene auch für Gemeinschaen belegt, die als landwirtschalich orientiert galten, jedoch wurde in diesem Fall argumentiert, dass die Kriegertraditionen von benachbarten, als pastoral lebend angesehenen Gemeinschaen übernommen worden seien⁶⁷¹. Generell wurde vom Ackerbau geprägten Gebieten eher eine Glorifizierung von Jägern attestiert, während durch lokale Traditionen und Sprichwörter überlieferte Glorifizierung der Kriegerfigur häufig im Kontext pastoral geprägter Gemeinschaen in Erscheinung trete⁶⁷². Eine deutliche Trennung von pastoral und vom Ackerbau geprägten Siedlungen ist jedoch für das 19. Jahrhundert nicht hinreichend zu belegen. Vielmehr weisen die Quellen auf Mischformen von Viehzucht und Ackerbau hin, die saisonal bedingt waren⁶⁷³ oder belegen auch in ackerbaulich stärker genutzten Gebieten ausgeprägte Kriegerkulturen⁶⁷⁴. Somit zerfällt die Basis für eine Argumentation, die von einer stärker ausgeprägten Gewaltnutzung pastoraler Gruppen ausgeht und auch in der jüngeren Forschung übernommen wurde⁶⁷⁵. Kulturell überformte Konzeptionen von Kriegertum und die organisierte Weitergabe von Kenntnissen in diesem Bereich waren universell verbreitete Phänomene, die das Gewaltpotential heranwachsender Jugendlicher kanalisierten⁶⁷⁶. Die Verflechtungen zwischen dieser Form der Gewaltpraxis und der Sozialstruktur wurden durch einen Prozess der »kulturelle[n] Normalisierung«⁶⁷⁷ der Gewalt gefestigt und fortgeführt. Dadurch waren tradierte und regulierte Formen von Gewalt kulturell fest verankert und wurden zum zentralen Bestandteil der Sozialisation junger Männer. Gewalt konnte daher entsprechend offensiv, in der Form des

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Siehe Iliffe: Africans. e History of a Continent, S. 116f. Siehe ebd., S. 116f. Vgl. ebd., S. 116f. Bspw. beschrieb Fischer solche Überschneidungen und bezeichnete eine Warungu-Gruppe als »Viehzüchter und Ackerbauern«, Fischer: Bericht über die im Aurage der Geographischen Gesellscha in Hamburg unternommene Reise in das Massai-Land, S. 40f. Die Notwendigkeit zur variablen Wirtschasweise, die sich an Jahreszeiten orientiert, betont ebenfalls Gentili (Hrsg.): Africa come storia. Elementi del dibattito sulla natura della transizione nelle società e nei sistemi africani, S. 35. Hamilton: Maasai. Manuscript. Siehe insbes. Pinker: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit, S. 83ff. Vgl. Baxter/Almagor (Hrsg.): Age, Generation and Time: some features of East African age organisations, S. 3. Trotha: Zur Soziologie der Gewalt, S. 34.

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Raid, wie auch defensiv eingesetzt werden. Dabei griffen erlernte Gewaltroutinen, wie sie Henry Morton Stanley beschrieb: »Von frühester Jugend mit dem Gebrauch der Waffen vortrefflich vertraut, ist der Mgogo in sehr kurzer Zeit für die Schlacht gerüstet. Der Bote des Häuptlings eilt von Dorf zu Dorf und bläst sein Büffelhorn als Signal zum Kriege: der Krieger hört es, wir seine Hacke über die Schulter, tritt in sein Haus und kommt nach einigen Sekunden wieder in Kriegsfarben und voller Kampfausrüstung heraus. Mit der Hacke des arbeitsamen Bauers hat er auch das Äußere eines solchen abgelegt und ist jetzt der stolze, eitle, übermütige Krieger, der wie ein Athlet aufspringt und begierig nach dem Schlachtfelde eilt«⁶⁷⁸. Stanleys Beobachtung unterstreicht die bereits gezeigten Zusammenhänge zwischen Gewaltsozialisation und dezentralen Gesellschasstrukturen. Die Aufgaben von Kriegern waren vielseitig und beinhalteten die Ausübung von Gewalt in Bereichen der Jagd, der Verteidigung sowie der gewaltsamen Selbsthilfe in Form von Raids als Mittel in der Viehwirtscha. Als Elmoran waren sie fest in soziale und wirtschaliche Strukturen eingebunden. Die Gewaltnutzung orientierte sich an Regeln und Konventionen, die durch rituelle und symbolische Praktiken kommuniziert und verhandelt wurden⁶⁷⁹. Die Grunderfahrungen von Gewalt und Aggression wurden durch die Form des Raid kanalisiert und nahmen Ziele außerhalb der jeweiligen Gemeinscha ins Visier⁶⁸⁰. Die Zweckrationalität dieser Gewalthandlungen unterstreichen Berichte, nach denen nicht alle Jugendlichen an solchen Raubzügen teilnahmen. Gustav Fischer dokumentierte entsprechende Einteilungen innerhalb der Bevölkerung: »Das Volk scheidet sich in Krieger und Nichtkrieger: elmurán (sing. murán) und elmórua (sing. mórua); eine Uebergangsklasse bilden die Levelés, Leute, die zwar schon verheirathet sind, aber unter Umständen noch in den Krieg ziehen. Unter den Nichtkriegern finden sich o sehr junge Leute, die entweder von ihrem Vater einen grossen Viehstand ererbt, oder mit wenigem zufrieden sind, oder keine Neigung zum Räuberleben haben«⁶⁸¹. Diese Beobachtung zeigt sowohl die ökonomischen Aspekte kollektiver Gewaltnutzung als auch Möglichkeiten, sich von der Teilnahme an Raids fern zu halten, 678 679 680 681

Stanley: Wie ich Livingstone fand, S. 71. Vgl. Trotha: Koloniale Herrscha, S. 296. Vgl. Nakitare: A pre-colonial history of Abatachoni, 1500-1900 AD, S. 79. Fischer: Bericht über die im Aurage der Geographischen Gesellscha in Hamburg unternommene Reise in das Massai-Land, S. 62.

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sobald die Versorgung des eigenen Familienverbandes gesichert und ein Aufstocken der Viehherden durch Gewalt nicht als notwendig angesehen wurde. Die Gewaltpraxis spielte sich in verschiedenen Sphären ab. In der Sphäre der lokalen Gemeinscha enstanden Gruppen, die vom gewaltsamen Fortschreiben von Traditionen geprägt waren: Die Strukturen lokaler Kriegergruppen wurden durch rituelle Gewalt gefestigt, wobei die kollektive Gewalt und individuelle Aggressivität der ausgebildeten Krieger in eine externe Sphäre organisierter Raids gelenkt wurde. Beides stärkte die internen Strukturen und Hierarchien der Kriegergruppen und ihrer Herkunsgemeinschaen und ergab sich aus einem Lebensraum, der flexible Anpassung an schnelle Veränderungen erforderte⁶⁸². In ökonomischen Notsituationen, wie sie in weiten Teilen Ostafrikas immer wieder entstanden, konnte Gewalt zu einer kurzfristigen Verbesserung der Versorgungslage führen⁶⁸³. Ostafrikanische Gesellschaen reagierten auf diese ständig wiederkehrenden Herausforderungen, indem sie die Gewalt dauerha nutzten. Die Voraussetzungen dafür wurden durch das Fortschreiben von Altersordnungen geschaffen: »[...] Auau von Loyalitätsbindungen, Versprechen von Gratifikation [...], Charisma des Anführers usw«⁶⁸⁴. Diese Art dauerhaer und regelmäßiger Gewaltnutzung wird im Folgenden in ihren Einzelheiten betrachtet, wobei besonders die saisonale Gewaltausübung näher in den Blick genommen wird. Die wirtschaliche Dimension der Gewalt hing eng mit ihrer kulturellen Überformung zusammen. Das zeigt sich anhand von Regelmäßigkeiten, die mit der Durchführung von Initiationsriten in Verbindung standen. Diese saisonale Gewalt hatte eine große historische Tiefe; sie findet sich bereits in Zeugnissen aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Es zeigt sich eine regelrechte raiding season, die mit dem Eintritt der Trockenzeit in Verbindung stand. Neben solchen jährlichen, kontrollierten Gewaltausbrüchen standen andere Formen kollektiver Gewalt, die mit Transitionsriten in Verbindung standen. Im Folgenden werden diese verschiedenen Formen der Gewaltnutzung untersucht und die Taktiken, Hierarchien und Disziplinierungsmethoden ebenso wie die Vorbereitung auf konkrete Gewaltaktionen näher betrachtet. 4.2.2 Zyklen der Gewalt. Träger und Routinen saisonaler Raids

An der Verbindung zwischen Gewalt und Wirtschalichkeit zeigte sich das Zusammenspiel der einzelnen Altersgruppen und Segmente der Gesellscha. Daher lohnt sich ein genauerer Blick auf Berichte über Raids, die sich vor dem Hintergrund der bereits gezeigten Normalisierung von Gewalt neu deuten lassen und ei682 683 684

Siehe auch: Gregory H. Maddox: Introduction, in: Mathias E. Mnyampala (Hrsg.): e Gogo. History, Customs, and Traditions, 1995, S. 1–32, hier S. 7. Siehe auch: Peter Rigby: Cattle, capitalism, and class. Ilparakuyo Maasai transformations, Philadelphia 1992, S. 56ff. Reemtsma: Brachiale soziale Gestaltung, S. 83.

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nen Blick auf deren Handlungslogiken eröffnen. Präzise Angaben zur Häufigkeit von Raids im 19. Jahrhundert zu machen ist ebenso schwierig, wie die beteiligten Gemeinschaen zu identifizieren. Mündliche Traditionen suggerieren ein hohes Auommen dieser Form von Gewalt im Kontext von grassierenden Viehseuchen und Hungersnöten⁶⁸⁵. Laut diesen Überlieferungen waren weite Teile West- und Zentralkenias in den Jahren 1850 bis 1905 immer wieder von Hungersnöten betroffen, die zu tiefgreifenden Migrationsbewegungen, Sezessionsprozessen sowie Konflikten geführt haben⁶⁸⁶. So beschreiben gesammelte Überlieferungen aus der Gegend des Mt. Elgon, an der heutigen Westgrenze Kenias gelegen, den Verlust von über 400 Kriegern in einer Serie von Raids, die schließlich mit dem Verlust einer gesamten Altersgruppe mit dem Namen Korongoro geendet habe. Eine solche Zahl von Verlusten war für kleine Siedlungen verheerend, da man ständig auf die Tätigkeit der Krieger angewiesen war⁶⁸⁷. Die Untersuchung mündlicher Traditionen weist bereits für das 17. und 18. Jahrhundert auf weitreichende Raids im westlichen Teil Ostafrikas hin⁶⁸⁸. In der Gegend um Mt. Kenya schildern diese Überlieferungen für die Zeit zwischen dem späten 18. und Ende des 19. Jahrhunderts großräumig angelegte Aktivitäten lokaler Kriegergruppen. Dabei lassen sich Regelmäßigkeiten erkennen: Zweimal im Jahr, jeweils zu Beginn der Trockenzeit, seien kleine Gruppen von Kriegern zu Raids in den benachbarten Gebieten aufgebrochen⁶⁸⁹. Die Erzählungen sprechen von großräumig agierenden Kriegergruppen und gegenseitigen Raids in den Gegenden Katheri, Naari und Imenti⁶⁹⁰. Auch in den schrilichen Zeugnissen finden sich Schilderungen von Raids. So weisen Berichte aus den 1820er Jahren auf Raids und Überfälle von Kriegergruppen aus dem Hinterland von Mombasa hin. Ferner dokumentieren Studien, Missionstagebücher und Reiseberichte zahlreiche gewaltsame Vorfälle im Raum der heutigen Staaten Kenia und Tansania⁶⁹¹ für den weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts⁶⁹². John Haning Speke berichtete von solchen Aktivitäten und der Reaktion

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Als Überblick hierzu siehe Koponen: War, Famine, and Pestilence in Late Precolonial Tanzania: A Case for a Heightened Mortality. Siehe Ogot: A history of the Luo-speaking peoples of eastern Africa, S. 571 sowie Jackson: e Dimensions of Kamba Pre-Colonial History, S. 239ff. Siehe Tanui: Dying Voice. An Anthropological Novel, S. 218. „[...] widespread traditions of [...] raiding in the west during the seventeenth and eighteenth centuries [...],” Galaty: Maasai Expansion & the New East African Pastoralism, S. 69. Siehe auch: Nakitare: A pre-colonial history of Abatachoni, 1500-1900 AD, S. 79ff. Vgl. Fadiman: When We Began, ere Were Witchmen: An Oral History from Mount Kenya, S. 94. Vgl.ders.: e Meru Peoples, in: B. A. Ogot (Hrsg.): Kenya before 1900, Nairobi et.al. 1978, S. 165. Zwischen Ri Valley im Norden bis zu Mt. Kenya im Süden, vgl. Galaty: Maasai Expansion & the New East African Pastoralism, S. 72ff. Siehe auch: ebd., S. 72ff.

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des Sultans von Zanzibar⁶⁹³, der Missionar Charles New von einem Überfall auf die Städte Malindi und Mabrui im Jahr 1867 sowie von Überfällen im Hinterland der ostafrikanischen Küste im Jahr 1858⁶⁹⁴, Sir Charles Eliot schilderte Raids bei Vanga 1858/58, Sadaani 1883 und Golbanti 1886⁶⁹⁵. Einen Überfall am Mwachi River im Jahr 1888 schilderte J.W. Gregory⁶⁹⁶, während Oscar Chanler den Raubzug einer Kriegergruppe aus Laikipia beschrieb⁶⁹⁷. Berichte des Lokalhistorikers Latigo schildern für den Raum des heutigen Gernzgebiets zwischen Südsudan, Kenia und Uganda 29 kriegerische Aktivitäten in Form gegenseitiger Raids zweier Gemeinschaen für die Zeit zwischen 1870 und 1910⁶⁹⁸. Die durch zeitgenössische Schrizeugnisse belegten Raids lassen meist keine Regelmäßigkeiten erkennen und charakterisieren diese Form der kollektiven Gewalt als Manifestationen ungezügelter Wildheit »barbarischer Stämme«⁶⁹⁹. Dennoch gibt es sowohl Hinweise auf Mechanismen zur Regelung der Gewalt als auch auf deren innere Logiken und soziokulturelle Einbettung. Gewalt war in hohem Maß zweckgerichtet, reguliert und muss im Zusammenhang mit etablierten Konventionen betrachtet werden. Vor dem Hintergrund einer zyklischen Zeitwahrnehmung, die sich an natürlichen Abfolgen von Jahreszeiten orientierte, sind Zeitabschnitte belegt, in denen Raids besonders häufig durchgeführt wurden. So wurde von einer raiding season gesprochen, die im Zusammenhang mit den Initiationszeremonien stand und regelmäßig zu einer bestimmten Jahreszeit stattfand⁷⁰⁰. Der Beginn der Trockenzeit markierte generell den Beginn erhöhter Jagd- und Raid- Aktivitäten⁷⁰¹. Für das 19. Jahrhundert gibt es viele Belege saisonaler Raubzüge aus unterschiedlichen Gebieten Ostafrikas. Das Phänomen regelmäßig durchgeführter Raids hat allerdings eine größere historische Tiefe. Bereits im Jahr 1593 berichtete der abessinische Mönch Bahrey in seiner »Geschichte der Galla« von solchen Vorfällen⁷⁰². Die Überlieferung schildert die Vorgänge der sog. »Oromo Expansion«; Oromo693 694

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Vgl. John Hanning Speke: Journal of the discovery of the source of the Nile, London [u.a.] 1864, S. 540. Vgl. C. New: Life, Wanderings, and Labours in Eastern Africa: With an Account of the First Successful Ascent of the Equatorial Snow Mountain, Kilima Njaro, and Remarks Upon East African Slavery, 1971, S. 114, ebd., S. 223 sowie ebd., S. 469. Vgl. Charles Norton Edgcombe Eliot: e East Africa Protectorate, London 1966, S. 59ff. Vgl. Gregory: e Great Ri Valley, S. 363. Vgl. Chanler: rough jungle and desert, S. 282. Vgl. Okumu: e Genres of Acoli Oral Literature, Vol. one, Analysis and Evaluation, S. 62. Siehe auch: Ndege: Olonana Ole Mbatian, S. 8. Im Raum Westkenias bspw. im Monat Oktober, wie A.C. Hollis zu Beginn des 20. Jh.s berichtete (Vgl. Hollis: e Nandi, S. 48). Vgl. Simon Simonse: Kings of disaster. dualism, centralism and the scapegoat king in Southeastern Sudan, Leiden [u.a.] 1992, S. 151. Siehe Schleicher (Hrsg.): Geschichte der Galla. Bericht eines abessinischen Mönches über die Invasion der Galla im sechzehnten Jahrhundert bzw. C.F. Beckingham/G.W.B. Huntingford (Hrsg.): Some Records of Ethiopia, 1593-1646, London 1954.

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Gruppen (in den Quellen Galla genannt) seien in ein zwischen den Überresten des christlichen Abessiniens und dem Sultanat von Adal bestehendes Machtvakuum eingedrungen⁷⁰³. Innerhalb des Berichts, dessen ausdrückliche Absicht es ist, die »Mordlust und die viehische Rohheit ihres [der Oromo] Wesens zu erkennen«⁷⁰⁴, finden sich Hinweise auf Angriffe auf externes Territorium, was zu einer Ausweitung der Raids und zur Gründung neuer Siedlungen geführt habe. Die Regelmäßigkeit der Angriffe im Abstand von acht Jahren wird mit der Durchführung von Übergangsriten im Rahmen von Altersklassensystemen in Verbindung gebracht⁷⁰⁵. Spätere Dokumentationen weisen ebenfalls auf vorgeschriebene Raids im Rahmen solcher Riten hin. Dieser Aspekt der Gewaltpraxis findet sich auch in anderen Quellen wieder. So berichtete der schottische Reisende Bruce im 18. Jh.: »Each of [the Oromo subtribes] choose a king once in seven years called Lubo; and it is usually the first act of the new king’s reign to over-run the neighboring provinces of Abyssinia, laying every thing waste with fire and sword for this year, even if they had no provocation, but had been at peace for several years before.«⁷⁰⁶ Belege regelmäßiger Überfälle im Zusammenhang mit lokalen Riten lassen sich mit späteren Aussagen von Ethnologen in Verbindung bringen, die solche Phänomene näher in den Blick nahmen und ebenfalls einen Höhepunkt gewaltvoller Auseinandersetzungen zu vorgeschriebenen Gelegenheiten sowie die Notwendigkeit der Durchführung von Raids als Machtlegitimation und Kompetenzbeweis beobachtet haben. Dabei lassen sich zwei Typen ausmachen, die jeweils mit unterschiedlichen Riten in Verbindung standen. Die u.a. von Bahrey und Bruce geschilderten Raids im Abstand von sieben bis acht Jahren wurden mit der kollek-

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Siehe Schleicher (Hrsg.): Geschichte der Galla. Bericht eines abessinischen Mönches über die Invasion der Galla im sechzehnten Jahrhundert, S. 14ff. sowie Amborn: e Contemporary Significance of what has been. ree Approaches to Remembering the Past: Lineage, Gada, and Oral Tradition, S. 72f. Schleicher (Hrsg.): Geschichte der Galla. Bericht eines abessinischen Mönches über die Invasion der Galla im sechzehnten Jahrhundert, S. 5. Einen weiteren Bericht über regelmäßige Überfälle liefert ebenfalls die Historia Aethiopica, in deren Beschreibung ein Zeitintervall von acht Jahren genannt wird, nach dem ein neuer Herrscher gewählt werde, dessen Plünderungen in Abessinien Ruhm und Machtgewinn beabsichtigten (siehe Ludolf: Historia Aethiopica: Iobi Ludolfi aliàs Leutholf dicti Historia aethiopica sive brevis et succincta descriptio regni Habessinorum quod vulgò malè Presbyteri Iohannis vocatur, Buch I. Kapitel XVI.). Bruce: Travels to discover the source of the Nile, in the years 1768, 1769, 1770, 1771, 1772, and 1773. S. 360. Im Raum Westkenias wurden für das 18.Jh. ebenfalls Hinweise auf saisonale Raids belegt, vgl. Fadiman: When We Began, ere Were Witchmen: An Oral History from Mount Kenya, S. 94.

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tiven Einsetzung der aktiven Altersgruppe (Luba)⁷⁰⁷ und deren Kompetenzbeweis als handlungsfähige Generationeneinheit erklärt, während andere Formen regelmäßiger Gewalt mit dem individuellen Kompetenzbeweis einzelner Krieger im Rahmen der Initiation stattfanden. Letzteres wurde häufiger durchgeführt⁷⁰⁸ und spielte sich in einem kleineren regionalen Rahmen ab. Der britische Reisende John Boyes lebte um 1900 für zwei Jahre in einer Siedlung im Kikuyu-Gebiet und wusste von regelmäßig durchgeführten Gewalthandlungen zu berichten: »[...] it had been the custom of this tribe to raid the country at least once a year, when the young braves would come out on the war-path aer the circumcision ceremony to prove their fighting qualities«⁷⁰⁹. Leo Frobenius verwendete in diesem Zusammenhang den Begriff des Landfriedens und berichtete über die Zeit nach der Initiation junger Männer im südlichen Äthiopien: »Mit dieser Empfangsfestlichkeit ist die große Zeit im Leben der Burschen abgeschlossen und für das Volk die Periode des Landfriedens verstrichen. Plünderei und Raub werden wieder legitim [...]«⁷¹⁰. So gab es festgelegte Zeiten, in denen kollektiv Gewalt ausgeübt wurde, was auch außerhalb ostafrikanischer Siedlungen wahrgenommen wurde und sich auf die Handelswege auswirkte. In dieser Zeit wurden die entsprechenden Gegenden von Karawanen gemieden. So schrieb Johann Ludwig Krapf im März 1844 in sein Tagebuch: »In the present month is the Wagnaro [...], i.e. the time when the young people assume the mastery of the aged ones. e(y) whiten their faces with lime in order to make a more ghostlike appearance. If any spectator should laugh at this comic parade they would beat, strip & send him off empty handed. erefore the Sooahelies do not like to travel amongst them at the time when their annual pranks take place«⁷¹¹. Zu Beginn des folgenden Jahres hatte Krapf detailgenauere Informationen gesammelt und ergänzte: »I have formerly described this practice, but I did not know at that time, that the Wagnaro, or festival of the children, cannot terminate, unless they have slain some-body in the fields or bought (by common 707

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Bahrey und Bruce verbanden ihre Interpretation mit europäischen Herrschasvorstellungen und berichteten von einem König, der Luba genannt werde, spätere Forschungen ergaben jedoch, dass diese Bezeichnung für eine Einheit im Rahmen des Altersklassensystems stand. Z.B. zu jeder Trockenzeit, s.o. Boyes: King of the Wa-Kikuyu, S. 112. Siehe hierzu auch: Fadiman: When We Began, ere Were Witchmen: An Oral History from Mount Kenya, S. 94. Frobenius: Unter den unsträflichen Aethiopen, S. 152. Krapf: Journal March 5-24, 1844.

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contributions) a slave, whom they will kill. When this has been done the festival terminates with eating and drinking, and with washing of their bodies which they cover with mud during the Wagnaro, in order that they remain unknowable, where they slay any-body on the road.[...] e Wagnaro is however not exercised in full force at every village; nor is the month of its celebration the same at every place. A traveller is therefore advised to ask aer the time of the Wagnaro of the village, as he might risk his life, when he is alone on the road«⁷¹². Krapfs Aufzeichnungen bieten ein Beispiel dafür, wie Informationen über die ostafrikanische Bevölkerung sukzessive angesammelt, neu bewertet und mit vorhandenem Wissen in Verbindung gebracht wurden. Seine Beobachtungen bestätigen ferner, dass Altersorganisationen flexible Strukturen waren, die regional unterschiedlich umgesetzt wurden. Als strukturelles Merkmal waren sie jedoch weithin bekannt und etabliert. Die Aufzeichnungen des Missionars zeigen weiterhin, dass ostafrikanische Gemeinschaen ihre Wagnaro-Praktiken auf neue Einflüsse ausrichten und auf Phänomene wie den auommenden Handel reagieren konnte. Darauf wird noch genauer einzugehen sein. Altersklassensysteme wirkten im Hintergrund und führten heranwachsende Jugendliche an die tradierten Gewaltpraktiken heran. Unterhalb der Ebene lokaler Familienverbände gab es weiterhin Ämter, Hierarchien und Aufgabenbereiche, die den Bereich der Viehwirtscha mit der Sphäre der Gewalt verbanden. Zunächst sorgten regelmäßig durchgeführte Initiationsriten für einen steten Nachschub junger Krieger. Im Rahmen der Riten hatten sie das notwendige Wissen erworben und in saisonalen Raids in der Praxis angewandt. Es gab Regelungen der Taktik sowie der Waffengattung, die sich am Fortschreiten der Krieger innerhalb des Altersklassensystems orientierte. In den Aufzeichnungen westlicher Beobachter spiegeln sich die einzelnen Hierarchien und Institutionen ostafrikanischer Altersordnungen. Sie weisen auf die Bedeutung kollektiver Gewaltnutzung als »[...] Schlüsselbereich männlicher Anerkennung [...]«⁷¹³ hin und zeigen die Verschränkungen zwischen einem Paradigma der Seniorität, der Dynamik von Autoritätsbeziehungen und der Gewaltpraxis. Die im Rahmen von Riten geprägten Hierarchien von Kriegergruppen erscheinen im Kontext saisonaler Raids in ihrem praktischen Zusammenspiel. So beobachtete William Astor Chanler die Unterteilung einer Kriegergruppe und die Zuordnung von Waffen je nach Alter der Krieger: »e forces [...] appeared to be divided into three parts: first the old and middle-aged, who confined themselves exclusively to the use of the bow; then the young men, armed with spears, swords, and war 712 713

Krapf: Journal January 7, 1845. Tosh: Was soll die Geschichtswissenscha mit Männlichkeit anfangen? Betrachtungen zum 19. Jahrhundert in Großbritannien, S. 197.

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clubs; then lads of sixteen years and under, who employed themselves with slings«⁷¹⁴. Neben diesen Regelungen der Waffengattung gab es festgelegte Aufgabenbereiche für die einzelnen Teile einer Kriegergruppe, die sich ebenfalls am Alter der Beteiligten orientierten. Der Biologe Gustav A. Fischer dokumentierte vier verschiedene Kriegerklassen, die nach Erfahrung gegliedert waren (mríscho, kischangóp, ngarebút, liteijo⁷¹⁵). Während die jüngeren Krieger als schnelle Vorhut die erste Phase eines Raid initiieren sollten, dienten Erfahrenere als Schutz für die militärischen Anführer,⁷¹⁶ welche wiederum als Ratgeber bei der Planung der Angriffe sowie als Bogenschützen im Hinterhalt agierten. Die erfahreneren Krieger hatten ebenfalls die Aufgabe, das erbeutete Vieh wegzuführen, während jüngere Krieger die Kampandlungen fortsetzen sollten⁷¹⁷. Solche Raids wurden ausgiebig vorbereitet und geplant. Fischer wurde Augenzeuge dessen und beschrieb in seinem Reisebericht sowohl die Vorbereitung eines Raid als auch eine »Gewalt der Plötzlichkeit«⁷¹⁸ während der kollektiven Gewaltnutzung: »[...] eine Tagereise von dem zu bekriegenden Gebiet wird das Lager aufgeschlagen und nachdem man sich durch Späher vorher orientiert, wo die Rinder des Feindes weiden, versteckt man sich Nachts in dem umliegenden Gebiet. Sobald sich am andern Morgen das Vieh auf der Weide ergeht, bricht man mit Ungestüm unter lautem Brüllen hervor; die Einen stürzen auf die Hüter des Viehes, die Andern suchen möglichst viel Rinder von der Heerde abzuschneiden und fortzutreiben«⁷¹⁹. Hinter diesen Kriegergruppen stand die soziale Institution der Altersordnung. Der kenianische Historiker Godfrey Muriuki beschreibt, wie die groben Einteilungen der Altersordnung sich in der Praxis ausdifferenzierte. Dabei wurden die Krieger in ein komplexes Geflecht eingebunden. Demnach hatten Kriegergruppen jeweils einen eigenen Kriegerrat (Njama) mit leitender Funktion⁷²⁰. Nachgeordnet waren die Gruppe der Ngerewani und Gitungati. Die erstgenannte Gruppe bestand aus jungen Kriegern und wurde von erfahrenen und kampfstarken Kriegern geführt. Ngerewani führten die Hauptaufgaben eines organisierten Raids aus, 714 715 716 717 718 719

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Chanler: rough jungle and desert, S. 174. Fischer: Bericht über die im Aurage der Geographischen Gesellscha in Hamburg unternommene Reise in das Massai-Land, S. 62ff. Siehe Saberwal: e traditional political system of the Embu of Central Kenya, S. 33. Tanui: Dying Voice. An Anthropological Novel, S. 252ff. Sofsky: Gewaltzeit, S. 103. Fischer: Bericht über die im Aurage der Geographischen Gesellscha in Hamburg unternommene Reise in das Massai-Land, S. 70. »Der Krieg wurde stets in Gestalt eines plötzlichen Überfalls ausgeführt«, Steinhäuser: Bezirksamt Pangani. BArch R 1001 / Bd. 4999 DOA. Siehe Muriuki: A History of the Kikuyu. 1500-1900, S. 124.

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während die Gruppe der Gitungati aus erfahrenen, älteren Kriegern bestand und nur in Notsituationen aktiv wurde⁷²¹. Unerfahrene, ältere und kampfschwächere Krieger (Murima bzw. Mbutu) wirkten ebenfalls im Hintergrund und hatten die Aufgabe, die erbeuteten Tiere zu den eigenen Siedlungen zu treiben und erbeutete Güter zu transportieren⁷²². Dokumentierte Überlieferungen und protokollierte Interviews mit Ältesten betonen immer wieder einzelne Alterseinheiten als Akteure gemeinsamer Gewaltausübung⁷²³. Im Westen Kenias wurden territoriale und militärische Organisationsstrukturen dokumentiert, deren Hauptmerkmal die Orientierung am Altersklassensystem war. Es existierten verschiedene lokale Einheiten, Pororiet⁷²⁴, deren Strukturen sich im Laufe des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluss häufiger Auseinandersetzungen festigten. Die militärischen Gruppen operierten unter dem Einfluss eines Anführers (Orkoiyot, Ol-Aeguenani bzw. Ol-Oiboni), der in Abstimmung mit lokalen Ältestenräten Raids planen und durchführen konnte⁷²⁵. Dabei wurde bisweilen zwischen Anführern unterschieden, die für taktische Fragen und praktische Belange zuständig waren (Ol-Aeguenani) und solchen, die im spirituellen Bereich wirkten (Ol-Oiboni)⁷²⁶. Missionare und Reisende beobachteten seit dem 16. Jahrhundert verschiedene Hierarchien innerhalb von Kriegergruppen, Bezeichnungen für einzelne Einheiten und für Anführer. Diese Überlieferung wurde durch die Dokumentation mündlicher Traditionen und die Arbeiten afrikanischer Historiker um genauere Angaben, Amtsbezeichnungen und deren Übersetzungen sowie um die Funktion einzelner Teile von Kriegergruppen und deren Interaktion mit der Herkunsgemeinscha ergänzt. Aus der Synthese beider Bereiche ergibt sich ein Bild hierarchisch strukturierter Kriegergruppen mit tradierten Gewaltroutinen. Letztere wurden systematisch eingeübt und in festgelegten Abläufen trainiert. Die erstmalig während der Zeit der Initiation eingeübten Gewaltroutinen wurden im Rahmen einzelner Raids wiederholt und gefestigt. Dabei fand die gezielte Vorbereitung der Krieger in Form von körperlicher Disziplinierung anhand von Übungen 721 722 723 724

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Vgl. Muriuki: A History of the Kikuyu. 1500-1900, S. 125f. Siehe ebd., S. 124f. »[...] we were the age-set of Kaplelach preparing to raid our cousins, Kap Kuugo (’grandfather’s family’)«, Tanui: Dying Voice. An Anthropological Novel, S. 220. Der Begriff Pororiet wird mit dem Maa-Wort ol-poror sowie dem Nandi-Wort poror assoziiert, welches mit ’Altersklasse’ bzw. mit ’to be equal’ übersetzt wurde, vgl. G.W.B. Huntingford: e Nandi Military Divisions and their bearing on the Land-System, SOAS, Signatur: PP MS 17 / 11. Vgl. Tanui: Dying Voice. An Anthropological Novel, S. 220. Missionarische Quellen aus den Usambara-Bergen beziehen sich auf die Zeit vor den 1890er Jahren: »Beim Ausziehen des Heeres hatten die einzelnen Truppenteile ihre festen Namen, ebenso wie ihre Führer«, Ernst Johanssen; Paul Döring: Das Leben der Schambala beleuchtet durch ihre Sprichwörter. Ein Beitrag zum Verständnis der Eingeborenen Deutsch-Ostafrikas. Berlin 1915, S. 15. Hamilton: Maasai. Manuscript. Siehe auch: Frederick John Dealtry Lugard: e diaries of Lord Lugard, hrsg. v. Margery Perham, Evanston, Ill. 1959, S. 375.

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statt, die als »Kriegstänze«⁷²⁷ oder »Exercitien« bezeichnet wurden. Der Missionar Johannes Rebmann dokumentierte eine entsprechende Beobachtung vom 23. Mai 1848: »Am Abend sah ich sie [die Krieger] im Schritt heimmarschiren, worauf sie auf einem freien Wiesengrund eine Art Exercitium hatten. Die Hauptübung schien im bloßen Springen, Angriff auf den Feind und Rückzug vor demselben, zu bestehen«⁷²⁸. Solche Maßnahmen stärkten die körperliche Verfassung der Krieger und ihre Expertise in der Ausführung standardisierter Techniken der Gewaltausübung. Ein sakraler Hintergrund für die Vorbereitung auf Kampandlungen wurde durch die Belegung mit einem Schutzzauber hergestellt, der an Verhaltensregeln gebunden war und durch einen Ritenexperten vermittelt wurde: »Sie machten luduno, d.h. Medizin, die gegen die feindlichen Kugeln schützte. Dann würde der Feind von Bienen vertrieben werden, oder die Krieger wurden unsichtbar, oder die Kugeln prallten ab. Freilich mußten sie dann auch die verschiedenen Vorschrien genau befolgen, z.B. nicht flüchten, nicht schießen, bevor sie ganz nahe waren, usw.«⁷²⁹ Weitere Vorbereitungsmaßmahmen eines Raid waren die Einnahme bestimmter Nahrung und Verbot des Kontakts zu Frauen⁷³⁰. Der Historiker Jeffrey Fadiman beschrieb die Planung eines Raid in seinen auf Oral History basierenden Studien, die sich mit vorkolonialen Gemeinschaen in der Gegend des Mt. Kenya beschäigten. Demnach planten einzelne Anführer (Ncamba⁷³¹ bzw. Kiptainik⁷³²) oder Kriegerräte (Kiamas⁷³³) die Versammlung der Krieger, um sich gemeinsam 727 728

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730 731 732 733

Siehe z.B. Schynse: Mit Stanley und Emin Pascha durch Deutsch-Ostafrika. Reise-Tagebuch von P. August Schynse, S. 64. Rebmann: Tagebuch des Missionars vom 14. Februar 1848-16. Februar 1849, S. 39. Eine ähnliche Beobachtung machte R. F. Burton: »Nach dem Zuno - Kriegsceremonien - zu urtheilen, mit denen sie hervorragende Fremde empfangen, besteht ihre Taktik hauptsächlich aus unregelmäßigen Bewegungen, mittelst derer sie den Wurfgeschossen ihrer Feinde entgehen oder deren Feuer unwirksam machen«, Burton/Speke: Der Nil und seine Quellen. Reisen nach den Binnenseen Afrika’s und Entdeckung der Quellen des Nils 1857-1863, S. 338f. Fragebogenbeantwortung M. H. Löbner, Missionar. Usoke, Bezirk Tabora, den 1.März 1910, in: Gottberg: Unyamwesi, S. 175, Hervorhebung im Original. Der Verweis auf Kugeln weist bereits auf die Rolle von Schusswaffen hin, die im Folgenden noch genauer untersucht werden muss. Siehe z.B. Younghusband: Glimpses of East Africa and Zanzibar, S. 78f. Siehe Fadiman: Mountain warriors : the pre-colonial Meru of Mt. Kenya, S. 23. Tanui: Dying Voice. An Anthropological Novel, S. 44. Siehe Muriuki: e Kikuyu in the pre-colonial period, S. 132. Kriegs- und Friedensräte mit einem Sprecher für jeden dieser Räte beschreibt ebenfalls Chanler: rough jungle and desert, S. 318.

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mit der Auswahl potenzieller Ziele zu befassen. Ein aus dem Kreis der Kriegerversammlung gewählter Sprecher nahm wiederum den Kontakt mit dem lokalen Rat der Ältesten (Njuri⁷³⁴) auf. Nachdem auch dieser Rat der Aktion zugestimmt hatte, wurden Scouts verschickt, die verschiedene Informationen beschaffen sollten: So wurde in Erfahrung gebracht, wie groß der Viehbesitz der anzugreifenden Siedlung war und wie viele Krieger zur Verteidigung der Bestände zu erwarten waren⁷³⁵. Bevor die ausgewählten Krieger loszogen, zog man einen Ritenexperten (Mugwe) hinzu, der Segnungen (Ugwe) vornahm und letzte Ratschläge und Anweisungen gab⁷³⁶. Einige Rituale waren dem Bereich der Jagd entlehnt und wurden auch für Raids eingesetzt: So wurden etwa die Körperteile, welche mit der Handhabung von Waffen in Verbindung standen, mit speziellen Mitteln eingerieben. Wie Reichard berichtete, sollte dadurch den Augen ein geschärer Blick und Armen und Händen größere Sicherheit beim Führen der Waffen verliehen werden⁷³⁷. Für Zentralkenia und weite Teile Tansanias wurden ähnliche Phänomene beschrieben⁷³⁸: »Bevor die Krieger sich auf den Kriegszug begeben, ziehen sie sich kurze Zeit in den Wald zurück, leben nur vom Fleisch, ordnen ihren Kriegsschmuck und bereiten sich für den Kampf vor. [...] Wir haben mehrmals kleinere Abtheilungen solcher Krieger angetroffen«⁷³⁹ Auch Fälle von Drogenkonsum im Rahmen der Vorbereitung auf Raids sind belegt, etwa galt die Verwendung von Cannabis (Bangi) als unter Kriegern weit verbreitet⁷⁴⁰. Andere Mittel beinhalteten einen u.a. aus Myrica Salicifolia und Acacia Nilotica hergestellten Trank, der im rituellen Rahmen ebenfalls eingesetzt und vor einem Raid eingenommen wurde. Seine Wirkung mache die Krieger furchtlos und verursache in Situationen großer Anspannung Ausbrüche von Hysterie⁷⁴¹. Regelmäßige Verletzungen des Körpers durch Schnitte galt ebenfalls als Schutz vor neuen Verwundungen und Stärkung der Krieger⁷⁴². Mitgeführte Insignien wie z.B. Flaschen mit rituell zubereiteten Mitteln (etwa Kinandu, ein spezielles Öl, oder 734 735 736 737

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Vgl. Fadiman: Mountain warriors : the pre-colonial Meru of Mt. Kenya, S. 23f. Ähnliches wird für die Krieger Mbatyans berichtet, siehe Moritz Merker: Die Masai. ethnograph. Monographie e. ostafrikan. Semitenvolkes, New York, N.Y. [u.a.] 1910, S. 19ff. Siehe Fadiman: Mountain warriors : the pre-colonial Meru of Mt. Kenya, S. 24ff. Vgl. Paul Reichard: Die Wanjamuesi, in: Zeitschri der Gesellscha für Erdkunde zu Berlin 24 (1889), S. 246–259, 304–330, hier S. 139. Siehe hierzu auch: Hahner-Herzog: Tippu Tip und der Elfenbeinhandel in Ost- und Zentralafrika im 19. Jahrhundert, S. 130f. Siehe Fischer: Bericht über die im Aurage der Geographischen Gesellscha in Hamburg unternommene Reise in das Massai-Land, S. 62ff. ebd., S. 69. Rockel: Carriers of Culture. Labor on the Road in Nineteenth-Century East Africa, S. 146 sowie Reichard: Die Wanjamuesi, S. 329f. Hamilton: Maasai. Manuscript. Vgl. Ayot: Historical texts of the lake region of the East Africa, S. 102.

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Muthaiga, eine Medizin zur Beschwörung des Glücks) oder kultische Gegenstände (Githitu)⁷⁴³ wurden besonders beschützt und dienten als spiritueller Rückhalt und Verbindung zu Herkunsgemeinscha und Vorfahren. Aus der Region des Viktoriasees wurde von einem Mittel namens Bilo berichtet, das die Gegner in den Zustand der Verwirrung versetzen und sie somit kampfunfähig machen sollte⁷⁴⁴. Für die Gewaltaktion selbst galten Verhaltensregeln, die in Form von Sprichwörtern vermittelt wurden⁷⁴⁵, die das Verbrennen von Dörfern und Feldern ebenso unter Verbot stellten wie das Töten von Frauen, Kindern und Elders oder den Raub des gesamten vorgefundenen Vorrats. Weiterhin galt das Gebot, im Kampf immer an der Seite der Mitkombattanden zu bleiben⁷⁴⁶: »(Jeder) Krieger hat seinen speziellen Kameraden, der im Kampfe an seiner Seite bleibt; fällt einer von beiden, so ist es Pflicht des Ueberlebenden, irgend ein Stück von den Waffen seines todten Freundes den in der Heimath zurückgebliebenen Verwandten heimzubringen; gelingt ihm das nicht, so findet er keinen Freund mehr«⁷⁴⁷. Die Solidarität innerhalb der Kriegergruppe war zudem ein gängiger Topos, der in mündlich weitergegebenen Geschichten verbreitet wurde. Er verweist auf die Rolle der Anerkennung von Kriegern, die wir noch genauer untersuchen werden. Der saisonale Hintergrund gab der Gewalt eine zeitliche Einordnung vor. Die Vorbereitung der Kombattanden konnte so geplant und geregelt werden. Durch eine organisierte Gewaltsozialisation erwarben junge Krieger die nötigen körperlichen Voraussetzungen und Techniken für ihren Einsatz. Aus dem Zusammenhang lokaler Gruppenkonstellationen ergaben sich unterschiedliche Verhaltensregeln, Strukturen und tradierte Praktiken, welche die Gewalt überformten und regulierten. Diese Überformungen wirkten sich stärkend auf die Integrität der Kriegergruppen aus, gaben Handlungsstrategien vor und sorgten für die spirituelle Anbindung an die Herkunsgemeinscha. Der Komplex von Mechanismen und Regeln bot Orientierung und Sicherheit bei der Durchführung von Gewalt und bereitete die Krieger auf die Konfrontation mit Gewaltsituationen vor. Einzelne Kriegergruppen konnten wiederum lokal und regional mit anderen Gruppen in gewaltsame Interaktionen treten. Für solche Auseinandersetzungen waren in einigen Regionen Ostafrikas festgelegte Formen der Kooperation sowie allgemein akzeptierte Streitkulturen verbreitet, die im Folgenden betrachtet werden. 743 744 745 746 747

Siehe Muriuki: A History of the Kikuyu. 1500-1900, S. 124f. Siehe Ayot: Historical texts of the lake region of the East Africa, S. 301. Z.B.: »once you have defeated your opponent in wrestling, you should not continue kicking him«, Tanui: Dying Voice. An Anthropological Novel, S. 223, weitere Beispiele siehe ebd. Vgl. Okumu: e Genres of Acoli Oral Literature, Vol. one, Analysis and Evaluation, S. 62ff., Fadiman: e moment of conquest : Meru, Kenya, 1907, S. 12. Fischer: Bericht über die im Aurage der Geographischen Gesellscha in Hamburg unternommene Reise in das Massai-Land, S. 71. Siehe auch: Hamilton: Maasai Tales, Songs and Texts.

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4.2.3 Kooperationsformen, Netzwerke und Streitkulturen

Bisher standen die einzelnen Kriegergruppen als Akteure autonom agierender Siedlungen im Fokus. Vor dem Hintergrund der bisher gezeigten Formen kollektiver Gewalt stellt sich allerdings die Frage, wie auf lokaler und regionaler Ebene mit ihr umgegangen wurde. Wie reagierten die Einwohner von Siedlungen, die Opfer eines Raids geworden waren, auf solche Vorfälle? Wie konnte man sich ggf. mit anderen Siedlungen zusammenschließen, Überfälle vermeiden oder Wege finden, Gewalt zu umgehen oder unter Regelungen stattfinden zu lassen, die alle beteiligten Parteien kannten und akzeptierten? Entgegen der Vorstellung des Handelns isolierter Einzelgruppen gab es Möglichkeiten der lokalen und regionalen Kooperation sowie etablierte Netzwerke und Bündnisse. Dabei erscheinen Begriffe für Serien von lokalen und ragionalen Auseinandersetzungen, Möglichkeiten zur Verhandlung und Beilegung der Konflikte sowie bekannte Allianzen, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts herausbildeten. Im Zuge von Auseinandersetzungen entstanden zahlreiche Lieder, Volkserzählungen und Sprichwörter, welche diese Ereignisse in lokale Erinnerungskulturen einschrieben. In den Geschichten treten Figuren auf, die eine abstrakte Bedrohung darstellen, die jederzeit über Siedlungen hereinbrechen kann. Missionare dokumentierten zudem Warnmechanismen und Vorsichtsmaßnahmen, die bei drohender Gefahr ergriffen wurden. In Form von Sprichwörtern wurden zusätzlich Verhaltensregeln für Situationen der Gefahr weitergegeben. Ferner werden Hinweise für eine geregelte Konfliktaustragung zwischen einzelnen Gruppen in den Blick genommen und Institutionen dokumentiert, welche damit in Verbindung standen. Die Deutung ostafrikanischer Gewaltpraxis durch Außenstehende steht stark unter dem Einfluss eurozentristischer Färbung. Gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Dörfern und Familienverbänden wurden als Manifestation von Wildheit und Rückständigkeit angesehen. Assoziationen mit düsteren Vorstellungen zum europäischen Mittelalter und den zivilisatorischen Defiziten sogenannter »Urvölker« waren keine Seltenheit. Die dokumentierten Konflikte wurden als gleichförmige, ewig fortgeführte Serien von Überfällen wahrgenommen, deren Hintergründe sich nicht erschließen ließen. Indes wurden sie dazu benutzt, Vorstellungen von Fremdheit und allgegenwärtiger Gefahr zu umschreiben, die in Einzelfällen um Projektionen von Despotismus ergänzt wurden. Europäer urteilten schnell, wenn es um gewaltsame Konflikte in Ostafrika ging. Nicht zuletzt um die eigene zivilisatorische Rolle zu legitimieren und an ein Sendungsbewusstsein anzuknüpfen, welches die Gewalt ostafrikanischer Gemeinschaen als rückständig und barbarisch ansehen musste, erscheinen die Konflikte in den Überlieferungen entsprechend als Manifestationen entgrenzter Gewalt, die dringend aus der Welt zu schaffen seien.

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Neben diesen europäischen Deutungen existierten indigene Begriffe für Serien organisierter Raids. So berichtete der britische Reisende Richard Francis Burton Ende der 1850er Jahre über eine Reihe von Auseinandersetzungen zwischen lokalen Gruppen, die er als »Kriege in der Nachbarscha« bezeichnete⁷⁴⁸. Aus dem Raum Südtansania wurde ferner der Begriff Bulugu überliefert, was mit »Serie von Scharmützeln und Raids« übersetzt wurde⁷⁴⁹. Während die näheren Umstände meist ungeklärt sind und die beteiligten Gruppen o nicht genauer identifiziert werden können, gibt es Hinweise auf Mechanismen militärischer Kooperation sowie Beispiele einzelner Gruppen, die in gegenseitige Kampandlungen verwickelt waren. Dabei wurden elaborierte Formen der Kooperation verwendet bzw. wurden die Konflikte nach bekannten Normen ausgetragen. Jeffrey Fadiman beschreibt ein etabliertes System militärischer Allianzen und Antagonismen im Raum des Mt. Kenia, das auf einem rituellen Bündnis namens Gichiaro basierte. Die Vertreter mehrerer Siedlungen konnten sich treffen und eine symbolische Verbindung schaffen, indem sie das GichiaroRitual gemeinsam begingen. Dieser Pakt schuf eine symbolische Verwandtscha (Kinship⁷⁵⁰) zwischen den beteiligten Parteien und beinhaltete ein gegenseitiges Abkommen zur Unterlassung von Raids in den beteiligten Territorien, Unterstützung im Falle eines Angriffs, die Verpflegung passierender Kriegergruppen der jeweils anderen Partei und ggf. militärische Kooperation in Form gemeinsam organisierter Raids⁷⁵¹. Im Falle einer Übertretung dieser Regeln, bspw. des Raid einer Kriegergruppe auf eine durch Gichiaro verbündete Gemeinscha, konnten die Elders der Geschädigten einen gemeinsamen Rat einberufen, der Kompensationsleistungen sanktionieren konnte⁷⁵². Einen solchen Fall berichtete der britische Elfenbeinhändler John Boyes, der in Zentralkenia ein ähnliches Ritual namens Pigasangi dokumentierte. Die Mitglieder seiner Karawane wurden beraubt, durch seine Verbindungen zu einer Gemeinscha im Kikuyu-Gebiet wurden jedoch die geraubten Güter binnen einiger Tage zurückgebracht⁷⁵³. Die Regelungen des Pigasangi hatten eine Basis für Verhandlungen ermöglicht, die Boyes 748 749 750 751 752

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Siehe Burton/Speke: Der Nil und seine Quellen. Reisen nach den Binnenseen Afrika’s und Entdeckung der Quellen des Nils 1857-1863, S. 343. Siehe Holmes: A History of the Bakwimba of Usukuma, Tanzania from earliest Times to 1945, S. 134. Vgl. Fadiman: When We Began, ere Were Witchmen: An Oral History from Mount Kenya, S. 91. Vgl. ders.: Mountain warriors : the pre-colonial Meru of Mt. Kenya, S. 11f. Siehe auch: Kurimoto (Hrsg.): Conflict, Age and Power. Age Systems in Transition, S. 11. Mündliche Überlieferungen berichten von ähnlichen Phänomenen und Institutionen im Gebiet westlich des Viktoriasees (Siehe Ayot: Historical texts of the lake region of the East Africa, S. 9). Vgl. Boyes: King of the Wa-Kikuyu, S. 97. John Boyes berichtete von seiner Freundscha mit Karuri, den er bei gewalttätigen Auseinandersetzungen unterstützte, woraus eine langfristige Kooperation hervorging (Siehe ebd., S. 81ff.).

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durch seine Kontakte erfolgreich nutzen konnte. Reiseberichte und Missionstagebücher dokumentieren sowohl dauerhae Antagonismen zwischen einzelnen Parteien als auch Friedensabkommen und deren Übertretung. So berichtete G.A. Fischer von Serien gegenseitiger Raubzüge zwischen zwei verfeindeten Siedlungen im Aruscha-Gebiet, die zwar von formellen Friedensabkommen unterbrochen waren, sich aber dennoch ständig wiederholt hätten⁷⁵⁴. Der Missionar Johann Ludwig Krapf wurde Augenzeuge einer Verhandlung über die Rückgewinnung gestohlenen Viehs einer verbündeten Gemeinscha und schilderte die anschliessende Beilegung der Auseinandersetzungen. Krapfs Führer Kiwoi fungierte in diesem Fall als Vermittler und konnte nach drei Tagen die Beilegung des Konflikts erwirken: »14. August [1849]: Heute erschienen etwa 200 Mann in Kiwois Dorf. Sie [...] setzten sich in einem Halbkreis auf den Boden außerhalb des Dorfes. [...] [Kiwoi] erwähnte in seiner Anrede, daß er das geraubte Vieh seines Verwandten [...] zurückerobern wolle [...]. 17. August: Kiwoi kehrte zurück, nachdem er seinen Streit [...] friedlich beigelegt hatte. Die Atua versprachen, das geraubte Vieh zurückzugeben. Beide Parteien hatten ein ier geschlachtet, gewisse eile desselben gegessen und geschworen, daß sie den Friedens-Vertrag halten wollten«⁷⁵⁵. Als Mittel der Kommunikation dienten symbolische Gegenstände, die ein formales Bündnis bzw. eine formale Feindscha begründen konnten. Für den Westen Tansanias wurde berichtet, dass einige Siedlungen durch Boten vor die Wahl gestellt wurden, ein Bündnis einzugehen bzw. eine Feindscha zu erklären. Dazu wurden den lokalen Autoritäten zwei symbolische Gegenstände gebracht, z.B. eine Hacke und einen Köcher Pfeile bzw. ein Bündel Patronen. Die Wahl des Gegenstandes entschied über die künige Kooperation bzw. Feindscha der beteiligten Parteien⁷⁵⁶. Mythen aus dem heutigen Grenzgebiet zwischen Kenia und Tansania 754 755

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Vgl. Fischer: Bericht über die im Aurage der Geographischen Gesellscha in Hamburg unternommene Reise in das Massai-Land, S. 91f. Krapf: Reisen in Ostafrika ausgeführt in den Jahren 1837-1855, S. 223ff. John Boyes machte selbst die Erfahrung, Krieger seiner Verbündeten als Unterstützung gesandt zu bekommen (siehe Boyes: King of the Wa-Kikuyu, S. 231). Ein weiteres Beispiel liefert Spellig: Die Wanjamwesi. Ein Beitrag zur Völkerkunde Ostafrikas, S. 204. Vgl. auch: BArch R 1001 / Bd. 4990. Fragebogenbeantwortung M. H. Löbner, Usoke, Bezirk Tabora, den 1. März 1910. Zitiert nach: Gottberg: Unyamwesi, S. 175. Gleiches beschrieb Johnston: »If one chief resolves to proceed to war with another he usually sends a messenger stating his cause of complaint and offering the offending chief a bullet (or where guns are not used, a spear) or a hoe. e chief thus addressed will retain the bullet and send back the hoe, if he takes up the challenge and is prepared for war; if not he returns the bullet and thus implies that he intends to yield to the demands made of him. Or a defiant potentate may simply send to another ruler bullets or spear-heads as an insolent provocation«, Johnston: British Central Africa: an attempt to give some account of a portion

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weisen auf eine ähnliche Art symbolischer Kommunikation hin⁷⁵⁷. Die Erinnerung an gegenseitige Raids prägte zahlreiche Sprichwörter, Lieder und Volkserzählungen Ostafrikas⁷⁵⁸. Tradierte Geschichten über erlebte Kampandlungen oder die Verteidigung der eigenen Siedlung sind meist stark tendenziös ausgeformt und beinhalten eine entsprechende Glorifizierung der eigenen bzw. Verurteilung der fremden Partei. Mythen enthalten weitere Erfahrungen erlittener Verluste und traumatisierender Gewalterfahrungen. Charles Dundas sammelte als Beamter der Kolonialverwaltung in Kenia mündliche Quellen⁷⁵⁹, die eine tradierte Feindscha zwischen den Ethnien Masai, Kamba und Oromo (Galla) beschreiben, welche auf gegenseitigen Überfällen basiere⁷⁶⁰. Auf lokaler Ebene stehen weiterhin zahlreiche Clan Histories⁷⁶¹ für die erzählerische Verarbeitung wiederkehrender Raids bestimmter Klans. Dadurch wurde die kollektive Erinnerung um Listen befreundeter bzw. verfeindeter Gruppen angereichert, was die Orientierung innerhalb dynamischer Netzwerke von Bündnissen erleichterte. Solche Informationen wurden regelmäßig im Rahmen der Initiation an nachfolgende Generationen weitergegeben. Raids hinterließen auch in der Imagination ostafrikanischer Gemeinschaen ihre Spuren. Neben Geschichten über die Taten konkreter, namentlich benannter Gruppen tritt die Gewalt in Form abstrakter Figuren auf: So existieren zahlreiche Geschichten, die eine Ogerfigur (Amanani bzw. Eimu) beinhalten. Amanani und Eimu treten als namenlose und gewalttätige Akteure auf, deren ausufernde Gewalt plötzlich hereinbricht. Sie rauben Frauen und Kinder, töten Krieger und alte Dorewohner und werden so zum Symbol einer unberechenbaren exogenen Bedrohung ⁷⁶². Es zeigt sich somit ein Spannungsfeld zwischen latenter Gefahr und einer plötzlich auretenden Gewalt einerseits und deren Einhegung durch etablierte Konventionen und Vermittler andererseits. Raids stehen somit für eine ständig präsente Bedrohung, der aber durch Mechanismen und Konventionen begegnet werden konnte, die Gewalt regulierten und Orientierung boten. So be-

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of the territories under British influence North of the Zambezi, S. 469. Das gleiche Vorgehen wurde ebenfalls von Wilhelm Blohm dokumentiert, siehe Blohm: Die Nyamwezi, S. 61f. Siehe Hollis: Masai. Myths, Tales and Riddles, S. 109ff. Siehe z.B. Tanui: Dying Voice. An Anthropological Novel, S. 9ff. Siehe Hartmut Bergenthum: Geschichtswissenscha in Kenia in der zweiten Häle des 20. Jahrhunderts. Herausforderungen, Vielfalt, Grenzen, Münster 2004, S. 182. Siehe Dundas: History of Kitui. S. 484. Mündliche Traditionen wurden innerhalb einer Siedlung weitergegeben und stilisierten die Erfahrung der Gemeinscha, indem sie zentrale Ereignisse in ein übergeordnetes Schema einordneten. Clan Histories sind mnemotechnisch überformte und kanonisierte Versionen dieser Überlieferungen, siehe Kennell A. Jackson: An ethnohistorical study of the oral traditions of the Akamba of Kenya. Diss., Los Angeles: University of California, 1972, S. 5f. Vgl. Kabira/Mukabi: Kenyan Oral Narratives. A Selection, S. 28f. sowie Lindblom: Kamba folklore, S. 28f. Zur Rolle von Erzählungen als Form der Verarbeitung kollektiver Erfahrungen sieheSharma: Folk Tales of East Africa, S. 6.

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richtete der Missionar Pater Wohlrab von Überfällen der Jahre vor 1888 und der Reaktion der Bewohner einer Siedlung in Usambara: »Jahr um Jahr brachen Räuberstämme aus den Steppen in Usambara ein und stahlen Vieh und gelegentlich auch Menschen, die sie dann als Sklaven fortführten. Das waren aufregende Augenblicke, wenn plötzlich hoch oben von einem Berge die gleichmäßigen, dumpfen Schläge der Kriegstrommel erklangen und von einer Ortscha an die andere weitergegeben wurden. Angstvoll flüchteten die Frauen mit ihren Kindern aus den eben noch in stillem Frieden liegenden Tälern hinauf in die Berge, um sich hinter den dichten Palisaden ihrer Dörfer zu verbergen, vor sich her trieben sie ihre Herden. Die Männer eilten zu den Waffen und zogen mit Speeren und Bogen, mit ihren kurzen schmalen Schwertern und alten Gewehren unter Kriegssignalen, die sie aus langen, gewundenen Antilopenhörnern hervorstießen, dem Feinde entgegen«⁷⁶³. Warnmechanismen wie Trommeln konnten von benachbarten Siedlungen aus auf Raids hinweisen, und selbst in der Situation auommender Gewalt gab es Orientierungs- und Handlungsmöglichkeiten. Die Missionare Paul Döring und Ernst Johanssen dokumentierten Sprichwörter und Aphorismen aus den Usambara-Bergen, die sie nach Lebensbereichen ordneten. Im Bereich des »Kriegshandwerks« warnte beispielsweise ein Sprichwort davor, die eigenen Waffen zu lange ungewartet zu lassen⁷⁶⁴ und entsprechend auf Kampandlungen vorbereitet zu sein, so dass man sich ggf. auch schnell zurückziehen kann: »Nkondo ikoma nzuluzi, munyanyi ahona. [...] Der Krieg tötet den Säumigen, der Flinke entrinnt«⁷⁶⁵. Symbolische Verwandtschaen und rituell begangene Bündnisse boten die Möglichkeit der Einschränkung potentieller Raids bzw. Möglichkeiten zur Verhandlung bei Schädigungen und Raub⁷⁶⁶. Der Afrikaforscher und Arzt Emin Pascha, seit 1879 mit der Führung der agyptischen Äquatorialprovinz beauragt⁷⁶⁷, berichtete in den 1890er Jahren von einer weiteren Form der Einhegung von Gewalt. 763 764

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Wohlrab: Usambara. Werden und Wachsen einer heidenchristlichen Gemeinde in DeutschOstafrika. S. 13. »Ukishunga ngawo mushiwa nkondo, nkaitoya [...] Wenn du den Schild erst am Tage des Kampfes in Ordnung bringen willst, so hält er nicht« (Döring: Das Leben der Schambala beleuchtet durch ihre Sprichwörter. Ein Beitrag zum Verständnis der Eingeborenen Deutsch-Ostafrikas. S. 15). ebd., S. 15. Vgl. Fadiman: When We Began, ere Were Witchmen: An Oral History from Mount Kenya, S. 96. Siehe Laszlo Vajda: Emin Pascha, in: Neue Deutsche Biographie 4 (1959), S. 479–482.

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Falls sich die beteiligten Gruppen kannten oder rituelle Verbindungen geschlossen hatten, wurden gewalthae Auseinandersetzungen demnach an einem eigens dafür ausgewählten Ort durchgeführt. Die Krieger der beteiligten Gemeinschaften standen sich auf einem offenen Feld gegenüber. Nachdem die Kriegergruppen sich gegenseitig mit Gesten, Worten und spöttischen Gesängen provoziert hatten, traten einige Krieger der jeweiligen Gruppen vor und begannen den Kampf. Dabei beobachteten die Anführer der Gruppen das Geschehen und hielten Aufsicht. Dabei sei für gewöhnlich lediglich mit einigen Verletzungen zu rechnen gewesen, nur in seltenen Fällen von Eskalation sei die gesamte Kriegergruppe in das Kampfgeschehen hineingezogen worden⁷⁶⁸. Solche Berichte zeugen von einer ritualhaen Austragung von Gewalt, welche auf das Umfeld einer »agonalen Streitkultur«⁷⁶⁹ schließen lässt. Der Streit wurde in einem öffentlichen Raum und unter der Aufsicht von Respektspersonen ausgetragen, die über das Procedere wachten und einen »[...] wettkampfmäßig anmutenden Streitaustrag [...]«⁷⁷⁰ sicherstellten. Innerhalb von Netzwerken verbündeter Gemeinschaen wurde die Gewalt somit unter regulierten Bedingungen ausgetragen. Allerdings waren die Bündnisse ostafrikanischer Gemeinschaen äußerst flexibel und variierten zwischen lokalen und regionalen Aktionsräumen. Hinzu kamen die Folgen destabilisierender Ereignisse wie Viehseuchen, Epidemien und Hungersnöte. In diesem Rahmen entwickelten sich elaborierte Konventionen zur Bewältigung von Konflikten⁷⁷¹. Lokale Gruppen konnten im Falle eines größeren Raids zusammengeschlossen werden, während die Leitfunktionen der jeweiligen Räte (Njama) bestehen blieben⁷⁷². Der auf diese Weise geformten Kriegergruppe stand ebenfalls ein Rat der Krieger (Njama Ya Ita) vor, der den Zusammenschluss der Einheiten (Guukiria Ita) einberief, den Rat der Ritenexperten einholte sowie strategische Informationen sammelte und umsetzte⁷⁷³. Die Aufgabe dieses Rates war es außerdem, die Beute nach erfolgreicher Durchführung der Operation zu verteilen⁷⁷⁴. Die einzelnen Mitglieder des Njama Ya Ita wurden aufgrund persönlicher Tapferkeit, Kampferfahrung und Mut für ihre Funktion rekrutiert⁷⁷⁵. Organisatorische Grundeinheit dieser Zusammenschlüsse waren lokale Territorialverbände (Mwiriga), die wiederum aus einer Reihe von Familienverbänden bestanden. Im Rahmen dauerhaer Konflikte konnten sich die Zusammenschlüsse einzelner Mwiriga verstetigen, was zur Herausbildung einer gemeinsamen Iden768 769 770 771 772 773 774 775

Vgl. Emin Pascha: Land und Leute in Latuka, in: Mit Emin Pascha ins Herz von Afrika, Berlin 1894, S. 777. Eibach: Verbrechen im Blick. Perspektiven der neuzeitlichen Kriminalgeschichte, S. 195. ebd., S. 187. Vgl. Fadiman: e moment of conquest : Meru, Kenya, 1907, S. 3. siehe Muriuki: A History of the Kikuyu. 1500-1900, S. 124. Siehe ebd., S. 124. Eine ähnliche Form des Zusammenschlusses von Kriegerräten beschreibt Odongo/Webster: e Central Lwo During the Aconya, S. 311. Siehe Muriuki: A History of the Kikuyu. 1500-1900, S. 124. Siehe ebd., S. 124.

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tität führen konnte⁷⁷⁶. Die Mitglieder einzelner Mwiriga identifizierten sich nicht mehr nur mit ihrer lokalen Gemeinscha, sondern auch mit den regionalen Zusammenschlüssen⁷⁷⁷. In einigen Fällen konnten die gemeinsamen Gewaltaktivitäten, defensiv oder in Form gewaltsamer Selbsthilfe, zu Ethnisierungsprozessen beitragen. So berichten einige mündliche Traditionen aus der Gegend des Viktoriasees vom Zusammenschluss zweier Gruppen, die durch Schlachtung eines Bullen rituell begangen wurde. Die resultierende Allianz gab sich nach einem erfolgreichen gemeinsamen Kampf den Namen Wanyama ya koringo. Dieser Name wurde als Gruppenbezeichnung weiter gepflegt und diente als überregionaler Identifikationsbezug⁷⁷⁸. Die resultierenden Zusammenschlüsse repräsentierten nicht immer festgelegte Gruppen⁷⁷⁹, wurden aber bisweilen als solche wahrgenommen und mit Vorstellungen einzelner »kriegerischer Stämme«⁷⁸⁰ verknüp. Die beteiligten Gemeinschaen konnten sich aus der Planung gemeinsamer Aktionen jedoch auch zurückziehen, besonders für kleinere Gruppen und Siedlungen ergab sich jedoch die Notwendigkeit der Teilnahme daraus, dass man selbst auf den Schutz der Verbündeten und deren Unterstützung im Fall von Raids angewiesen war⁷⁸¹. Je nach Häufigkeit der Auseinandersetzungen konnten sich also überregionale Strukturen und Netzwerke ausprägen, die aus der Gewaltpraxis hervorgingen. Ferner gab es verschiedene Routen, die regelmäßig von Kriegergruppen genommen wurden und sich ggf. ausweiteten. Der britische Adlige Lord Claud Hamilton dokumentierte feste Routen und Grenzräume Ostafrikas, die sich durch Raid-Praktiken ausgeprägt hatten. Der östliche Wall des Ri-Valley stellte beispielsweise eine natürliche Grenze dar, die von Spähern und Kriegergruppen überwacht wurde. Routen für Raids verliefen zwischen Nyeri und Naivasha in östlicher Richtung nach Nzaoi, nordöstlich nach Ukambani und über den Athi River sowie südöstlich entlang des Tana River⁷⁸². Auf diesen Routen entstanden o genutzte Stationen wie Little Lanjora, sieben Meilen südl. Taveta, das lt. Einheimischen o von Kriegergruppen besucht und als Rast- und Vorbereitungsort genutzt wurde. Der Name Lanjora wird als abgewandelte Form des Wortes für 776 777

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Vgl. Fadiman: e moment of conquest : Meru, Kenya, 1907, S. 3. Siehe auch: ebd., S. 3 sowie Sigei: Some Customs of the Elgeyo Chepkorio, S. 12. Für das südöstliche Afrika wurden solche Zusammenschlüsse ebenfalls geschildert, jedoch wurden sie als lockere, selten vorkommende Bündnisse charakterisiert, vgl. Robert Joseph Papstein: e Upper Zambesi: A History of the Luvale People, 1000-1900, Diss., Los Angeles: University of California, 1978. Vgl. Ayot: Historical texts of the lake region of the East Africa, S. 81. Vgl. Ambler: Kenyan communities in the age of imperialism, S. 7. Siehe z.B. Gregory: e Great Ri Valley, S. 347ff., Boyes: King of the Wa-Kikuyu, S. 49 oder Johnston: British Central Africa: an attempt to give some account of a portion of the territories under British influence North of the Zambezi, S. 145. Siehe auch: Odongo/Webster: e Central Lwo During the Aconya, S. 311. Hamilton: Maasai. Manuscript, S. 122.

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Raiding Party angesehen⁷⁸³. Von solchen Zwischenstationen aus wurden weiter entfernte Ziele angegriffen. Dabei waren Orte wie Kisulutini (Rabai) bereits in den 1850er Jahren so regelmäßig von Raids betroffen, dass die ansässige Bevölkerung in Betracht zog, Viehzucht und Viehwirtscha ganz aufzugeben, um kein Ziel mehr für Überfälle zu bieten⁷⁸⁴. Das spricht für ein hohes Gewaltauommen in der Zeit nach 1850, wovon noch zu reden sein wird. Bei der Ausprägung von Routen wirkten sich besonders geophysische Gegebenheiten auf die Gewaltpraxis aus⁷⁸⁵. Siedlungen, die sich im ostafrikanischen Tiefland befanden, waren besonders attraktive Ziele für die Taktik eines schnellen, plötzlich durchgeführten Raid. Steppenlandschaen boten dabei die Möglichkeit einer relativ schnellen Durchquerung und einen weiten Rückzugsraum. Die Distanz zur eigenen Siedlung bot Kriegergruppen ferner Anonymität und somit Schutz vor eventuellen Racheakten und Verhandlungen über die Rückgabe des geraubten Gutes oder der Rückführung entführter Personen. Je weiter entfernt von der Herkunsgemeinscha ein Raid durchgeführt wurde, desto weniger hatte man mit Konsequenzen zu rechnen. Die dadurch gewonnene Anonymität bot somit einen weitgehend uneingeschränkten Raum für Gewaltpraktiken. Die bereits gezeigten Geschichten von Ogerfiguren (Eimu) spiegeln die Erfahrung, von weit gereisten Kriegergruppen überfallen zu werden, die als anonyme Figuren auftraten. Indes gab es Gebiete, die weniger häufig von Raids betroffen waren. Die Hochländer Kenias werden als Siedlungsraum beschrieben, der schwer mit der Praxis des Raid vereinbar war: Wälder und dichtes Buschland waren ein Hindernis für den schnellen Abtransport geraubter Rinder, wodurch die Schnelligkeit von Kriegergruppen gemindert wurde. Die existierenden Waldwege konnten zudem von beraubten Gruppen mittels gefällter Baumstämme blockiert werden, was das Entkommen zusätzlich erschwerte⁷⁸⁶. Im unübersichtlichen Terrain wurden ferner Fallen aufgestellt, indem Klingen vergraben oder Fallgruben ausgehoben wurden. Hohe Bäume wurden als Überwachungspunkte genutzt, von denen aus man heranziehende Gruppen bereits frühzeitig erkennen konnte. Dadurch konnten die beiden zentralen Merkmale der Gewaltpraxis des Raid, Plötzlichkeit und Geschwindigkeit, entschär werden. In dicht bewachsenen Gebieten musste zudem die Waffennutzung verändert werden: Während Speere in übersichtlichen Gebieten wie Grasland und Hochebene als Distanz- und Nahkampfwaffe eingesetzt werden konnten, ergaben sich in Wäldern und dicht bewachsenem Busch Vorteile für die Nutzung von Pfeil und Bogen⁷⁸⁷. Jene Waffe konnte aus versteckter 783 784 785 786 787

Vgl. ebd., S. 62. ebd., S. 19f. Vgl. Kuß: Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen, S. 32f. Vgl. Hamilton: Maasai. Manuscript, S. 62f. Vgl. ebd., S. 53.

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Position abgefeuert werden und ermöglichte mehrmaliges Schießen. Anhöhen, Gebirgszüge und dicht bewachsene Gebiete bildeten daher bevorzugte Rückzugsräume für fliehende Ostafrikaner, die sich o auch permanent in solchen Räumen ansiedelten und zu defensiver Kooperation vereinigten. In der zweiten Häle des 19. Jahrhunderts kamen zudem weitere Schutzmechanismen auf, die noch genauer in den Blick zu nehmen sein werden. Ein zentraler Aspekt der Gewaltnutzung ist ihre Begrenzung. Stand in der bisherigen Betrachtung die Frage im Mittelpunkt, wie Gewalt kontrolliert und gelenkt wurde, so muss dem ein Blick auf Möglichkeiten und Instanzen folgen, die Gewalt eingrenzten. Ausgangsbasis dieser Betrachtung ist die Rolle traditioneller Respektspersonen und Autoritätsfiguren. Ihre Tätigkeit wird zunächst allgemein untersucht, um die Wirkungsbereiche zu zeigen, in welche die Elders einer Gemeinscha eingebunden waren. Vor diesem Hintergrund muss ihre Rolle in der Begrenzung der Gewalt analysiert werden. Elders waren Vermittler für das Wirken der Ahnen und nutzten diesen Status zur Einwirkung auf die Kriegergruppen sowie auf die Belange ihrer Gemeinscha. Sie administrierten regulierte Formen der Konfliktaustragung und fungierten allgemein als Vermittler. Auch im Kontext organisierter Raids hatten sie eine zentrale administrative Rolle inne. Elders planten die Durchführung und entschieden über Zeitpunkt des Raids ebenso wie über die Zahl und Auswahl der teilnehmenden Krieger. Sie führten junge Männer in die Gewaltnutzung ein und waren Paten und Lehrer. Sie gaben Erfahrungen und Verhaltensregeln weiter und bereiteten die Krieger auf mögliche Schwierigkeiten und Taktiken des Gegners vor. Auch im Kontakt mit Karawanen und anderen Gemeinschaen hatten Elders eine Vermittlerfunktion inne. Die verschiedenen Zeugnisse von Missionaren und Reisenden weisen auf dieses Phänomen hin und berichten von regional bekannten Elders, die als Vermittler anerkannt waren. Das gab ihnen verschiedene Machtmittel, die in den Blick genommen werden. Elders, so die ese, kontrollierten zentrale Institutionen und den soziopolitischen Bezugsrahmen, in welchem sich ostafrikanische Gemeinschaen orientierten.

4.3 Regeln, Grenzen und Vermittler 4.3.1 Gewalt und Verhandlung. Rolle und Aufgabenbereiche der Elders

Mit dem Status als Elder erwarben die jeweiligen Personen eine Reihe zugeschriebener Rollen und Verpflichtungen. Ab einem Alter von ca. 30 Jahren nahmen Junior Elders an einer Zeremonie teil, die ihnen den gehobenen rituellen Status verlieh. Je nach Kompetenz und Erfahrung berieten sie danach jüngere Gruppen bei ihren verschiedenen Tätigkeiten in Bereichen der Jagd, Landwirtscha, im Han-

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del oder bei der Durchführung von Raids⁷⁸⁸. Ihre gesellschaliche Rolle basierte auf öffentlicher Anerkennung, Erfahrung und einer zugeschriebenen mystischen Kra, die im rituellen Bereich abgebildet wurde. Ritueller Status und die zugehörigen Praktiken als Ritenexperten dienten zusätzlich als symbolische Verbindung zu den Ahnen und deren Erfahrung. Elders galten als Vermittler für das Wirken von Ahnenfiguren, deren Präsenz innerhalb der Gemeinscha der Lebenden als gegeben angenommen wurde⁷⁸⁹. Als Teil einer unsichtbaren Sphäre galten die Verstorbenen als aktive Kräe im sozialen Gefüge ostafrikanischer Gesellschaen. Ihnen wurden Tribute dargebracht und es wurde auf symbolischer Ebene mit ihnen Kontakt aufgenommen. So erwähnen verschiedene Berichte Holzfiguren, die jene Ahnen symbolisieren sollten und in Riten eingesetzt wurden, um den Willen der Ahnen darzustellen⁷⁹⁰. Die Seniorität der Ahnenfiguren diente als Teil der Legitimationsbasis der Elders, die den Vorfahren mit Liedern und mündlich tradierten Texten huldigten⁷⁹¹ und mit ihnen kommunizieren könnten⁷⁹². Elders galten als »Mediatoren zwischen sichtbaren und unsichtbaren Welten«⁷⁹³ und ihnen wurde die Fähigkeit zugeschrieben, dadurch drohendes Unheil abwenden zu können⁷⁹⁴. Neben solchen protektiven Funktionen wurde auch der Bereich der Gewalt mit dem Rückbezug auf mythische Ahnenfiguren und deren Taten beeinflusst. Die Erfolge vergangener Altersgruppen bei Raids wurden funktionalisiert, um aktuelle Kriegergruppen zu motivieren und so an die Leistungen ihrer Vorgänger anzu788 789

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Baxter/Almagor (Hrsg.): Age, Generation and Time: some features of East African age organisations, S. 9. Vgl. Fülleborn: Das deutsche Njassa- und Ruwuma-Gebiet, Land und Leute, nebst Bemerkungen über die Schire-Länder, S. 54f. sowie Hollis: e Nandi, S. 41 und Johnston: British Central Africa: an attempt to give some account of a portion of the territories under British influence North of the Zambezi, S. 445 sowie ebd., S. 449. Grundlegend siehe hierzu auch: Behrend: Geister als Repräsentationen von Vergangenem, S. 284ff. Siehe z.B. Hore: On the Twelve Tribes of Tanganyika, S. 16, Fülleborn: Das deutsche Njassaund Ruwuma-Gebiet, Land und Leute, nebst Bemerkungen über die Schire-Länder, S. 91f. sowie Kanyangezi: Mbatiany 1824-1889. A Biographical study of a nineteenth century Maasai Oloibony, S. 67f. Siehe Fülleborn: Das deutsche Njassa- und Ruwuma-Gebiet, Land und Leute, nebst Bemerkungen über die Schire-Länder, S. 274 sowie M.H. Löbner: Unyamwesi und Tabora. Land, Volk und Missionsarbeit. Herrnhut 1914, Götzen: Durch Afrika von Ost nach West, S. 82f., Lema: Horombo. e chief who united his people. S. 43, C. W. Hobley: British East Africa: Anthropological Studies in Kavirondo and Nandi, in: e Journal of the Anthropological Institute of Great Britain and Ireland 33 (1903), S. 325–359, hier S. 343, Tanui: Dying Voice. An Anthropological Novel, S. 155, Gutmann: Das Recht der Dschagga, S. 235 und Gottberg: Unyamwesi, S. 34ff. Diese Vorstellungen fanden Eingang in mündliche Überlieferungen, siehe Lindblom: Kamba folklore, S. 35. »[...] mediators between seen and unseen worlds [...], Kanyangezi: Mbatiany 1824-1889. A Biographical study of a nineteenth century Maasai Oloibony, S. 4, meine Übersetzung. Siehe hierzu auch: Blackburn: Okiek History, S. 58 sowie Trotha: Koloniale Herrscha, S. 297. Vgl. Kanyangezi: Mbatiany 1824-1889. A Biographical study of a nineteenth century Maasai Oloibony, S. 4.

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knüpfen. Mit Hilfe ihrer angesehenen Stellung in der Gesellscha konnten Elders einen »[...] emotional aufgeladenen Teil einer verlorenen Vergangenheit [...]«⁷⁹⁵, die Taten der eigenen Kriegergruppe der Jugendzeit oder die mythischen Taten der Vorfahren, nutzen um aktuelle Gewalthandlungen zu beeinflussen⁷⁹⁶. Die gewaltsame Austragung von Konflikten wurde reguliert und überformt, mit Erfahrungen verwoben und auf neue Herausforderungen ausgerichtet. Elders nahmen dabei als erfahrene und angesehene Personen die Rolle von Innovatoren ein, die Elemente einer realen oder imaginierten Vergangenheit in neuen Situationen einsetzten⁷⁹⁷. Sie wirkten dabei sowohl fördernd als auch einhegend auf Gewalt ein. Von einem Mechanismus der Einhegung von Gewalt in Konfliktfällen berichtete der Tropenmediziner Friedrich Fülleborn, der zwischen 1896 und 1901 für die deutsche Schutztruppe im Gebiet des heutigen Tansania tätig war. Er schilderte eine zur Zeit des beginnenden 20. Jahrhunderts nicht mehr praktizierte Art der Konfliktbewältigung: »In früheren Zeiten, so berichtet eine merkwürdige Tradition, sollen Stammesfehden durch eine Art von Gottesurteil geschlichtet worden sein. Jede Partei musste im Angesicht der andern ein gewaltiges Feuer anzünden. Dann griff jeder Haufe sein Feuer an und versuchte, es schnell zu löschen. Verunglückte dabei ein Mann dadurch, dass er in das Feuer fiel und starb, so hatte seine Partei verloren, sie musste die Flucht ergreifen. Kam kein Unfall vor, so galt der Teil als Sieger, der sein Feuer zuerst auslöschte. Der unterliegende Teil erkannte das an und rühmte den Sieger, der nun das Vieh des Besiegten beim Siegesmahl verzehrte. ›Das war so vor langer Zeit‹, erklärte unser Gewährsmann, ›aber mein Grossvater hat es noch selbst gesehen‹. Später verliess man den Gebrauch, eine Sache durch das Urteil des Feuers zu schlichten; weil Menschen sich dabei verletzten und starben, verwarf man die Sitte als grausam und griff nun zu zugespitzten Stöcken aus hartem Holz (emesu), wie die Konde sie noch heute sehr geschickt verfertigen und als tägliche Wanderstöcke und Handwaffen führen«³⁰⁶. Solche Berichte weisen auf regulierte Abläufe der Konfliktbewältigung hin, die allgemein akzeptiert und deren Regeln anerkannt wurden. In solchen Konstellationen von Konfliktsituationen wirkten die Elders als Vermittler zwischen den Parteien, die ein gemeinsames Verfahren und einen Konsens über die Regeln ge795 796 797 306

Eric J. Hobsbawm: On history, London 2005, S. 20. »What training did the warriors receive? ey got encouragement from their elders, being told of what they had achieved«, Sigei: Some Customs of the Elgeyo Chepkorio, S. 12. Vgl. Hobsbawm: On history, S. 21. Fülleborn: Das deutsche Njassa- und Ruwuma-Gebiet, Land und Leute, nebst Bemerkungen über die Schire-Länder.

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waltsamer Auseinandersetzungen aushandelten. Angesichts einer solchen Praxis ergibt sich nicht das Bild einer monolithischen Tradition, die mit Gewalt durchgesetzt, sondern das einer dynamischen Gewaltpraxis, die ständig mit der Erfahrung in Verbindung gebracht und an neue Herausforderungen angepasst wurde. Elders erscheinen dabei als kompetente ehemalige Krieger, die Elemente aus der Vergangenheit mit neuen Impulsen verbanden und diese Innovationen in ihren Gemeinschaen umsetzten⁷⁹⁸. Das konnte auch die Einführung neuer Waffentechniken oder veränderter Gewaltpraktiken beinhalten. So berichten mündliche Traditionen aus der Gegend westlich des Viktoriasees von einem Elder namens Sigulu, der für eine Zeit in anderen Siedlungen lebte und dort die Herstellung präziserer Wurfspeere und stabiler Schilde erlernte, um das gesicherte Wissen später an die Krieger seines Heimatortes weiterzugeben⁷⁹⁹. Die traditionellen Strukturen der Altersordnung dienten hierbei als Grundlage. So wurde im Westen Kenias eine territoriale und militärische Struktur dokumentiert, deren Hauptmerkmal die Orientierung am Altersklassensystem war. Die militärischen Einheiten operierten unter dem Einfluss eines Anführers (Orkoiyot bzw. Laibon), der in Abstimmung mit lokalen Ältestenräten Gewalthandlungen planen und durchführen konnte⁸⁰⁰. Elders wählten die Teilnehmer einer geplanten Gewalthandlung aus, holten relevante Informationen zur Planung ein, berieten über ein geeignetes Vorgehen und bereiteten schließlich die Kriegergruppe gezielt vor. Dabei nutzten sie ihre zugeschriebene Verbindung zu den Ahnen und transportierten Verhaltensregeln durch vorbereitende Rituale. Durch das Wirken der Elders entstand eine homogene Vorstellungswelt, die den Bereich der Gewalt durchdrang und überformte⁸⁰¹ und die einer grundlegenden Aueilung zwischen den Generationen unterlag⁸⁰². Die den Elders zugeschriebene Rolle beinhaltete zunächst die Aufrechterhaltung einer Sozialisation, die junge Männer an die »kulturelle Ordnung, die die Gewalt strukturiert«⁸⁰³ heranführte. So wurden junge Initianden in Konventionen und Routinen eingeführt, die von einigen Beobachtern als Grundlage eines indigenen Rechtssystems angesehen wurden⁸⁰⁴. Der Geologe John Walter Gregory beschrieb dieses Phänomen in seinem Bericht über die Reise zum Naivasha-See im Jahr 1893: »Order is kept in the tribe by the enforcement of a kind of common law, the unwritten rules of which are applied by a jury of elders«⁸⁰⁵. 798 799 800 801 802 803 804 805

Siehe auch: Hobsbawm: On history, S. 21. Siehe Ayot: Historical texts of the lake region of the East Africa, S. 21. Huntingford: e Nandi Military Divisions and their bearing on the Land-System. Vgl. Sofsky: Traktat über die Gewalt, S. 18. Vgl. z.B. Younghusband: Glimpses of East Africa and Zanzibar, S. 73f. Baberowski: Gewalt verstehen. »Die Tradition ist ihr Gesetz.«(Gottberg: Unyamwesi, S. 224). Gregory: e Great Ri Valley, S. 34.

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Die Weitergabe von Gewaltroutinen und -praktiken fand an Orten statt, die eigens dafür vorbereitet wurden und unter Aufsicht ehemaliger und erfahrener Krieger vollzogen wurde⁸⁰⁶. Die angelegten Hütten (Gaaru⁸⁰⁷ bzw. Kait’-am-murenik⁸⁰⁸) waren vom Rest der Gemeinscha getrennt und wurden stark abgeschirmt. Im Rahmen der Initiation sorgten Elders für eine grundlegende Vermittlung etablierter Normen, Regeln und Techniken der Gewaltausübung, die als Basis für konkrete Gewaltsituationen dienen konnte. O geschah das durch Geschichten, wie sie der britische Lord Hamilton überlieferte. Er schrieb die Geschichte »e cunning Dorobo« auf, die von möglichen Problemen handelte, mit denen Scouts zu rechnen hatten. Im Mittelpunkt stehen dabei Arten der List, die fremde Personen anwenden können, um den Kriegern zu entkommen. So tri eine kleine Gruppe von Scouts im Wald auf eine Person, die Honig sammelt, und nehmen sie gefangen. Die Person gibt den hungrigen Kriegern jedoch Honig zu essen und verschmiert heimlich die Speere der Krieger mit Honig. Danach rennt der Gefangene schnell weg und kann von den Kriegern nicht gestoppt werden, da die Waffen unbrauchbar geworden sind. In einer anderen Situation stehen die Scouts einer mit Pfeil und Bogen bewaffneten Person gegenüber. Einer der Krieger entfernt sich von der Gruppe und versucht, sich an den Bogenschützen anzuschleichen, während die anderen Krieger ihn ablenken. Da der Bogenschütze im Wald lebt und daher selbst die Tarnung der Tiere erkennen kann, bemerkt er den einzelnen Krieger und erschiesst ihn. Als der Rest der Kriegergruppe zu Hilfe eilt, verschwindet der Bogenschütze erfolgreich im Dickicht⁸⁰⁹. Solche Geschichten schulten die taktischen Fähigkeiten der Krieger und bereiteten sie auf ihre Einsätze vor. Besonders bei Scouts wurde darauf Wert gelegt, dass sie möglichst unbemerkt blieben bzw. im Falle einer Entdeckung schnell zuschlagen konnten, damit die Siedlungen nicht gewarnt werden konnten, welchen der geplante Raid gelten sollte. Im Rahmen der weiteren Planung von Raids wurden Anpassungen und detailierte Strategien erarbeitet und eingeübt. In dieser Phase bestimmten Elders die körperliche Vorbereitung der Krieger durch ritualisierte Kampfübungen und Ernährung. So wurde für die Gebiete Zentraltansanias und -kenias dokumentiert, dass Krieger in der Vorbereitungsphase besonders viel Fleisch zu sich nehmen würden⁸¹⁰. Weiterhin wurden rituelle Handlungen durchgeführt, die das Gelingen der Operation und die Gunst von Gottheiten wie Ngai oder den Vorfahren beschwörten⁸¹¹. Elders wirkten durch taktische Anweisungen und Verhaltensre806 807 808 809 810 811

Siehe Tanui: Dying Voice. An Anthropological Novel, S. 38. Siehe Fadiman: Mountain warriors : the pre-colonial Meru of Mt. Kenya, S. 23. Hollis: e Nandi, S. 16. Vgl. Hamilton: Maasai Tales, Songs and Texts. Siehe omson: rough Masailand. A Journey of Exploration Among the Snowland Volcanic Mountains and Strange Tribes of Eastern Equatorial Africa, S. 386f. Siehe ebd., S. 386f. sowie Sigei: Some Customs of the Elgeyo Chepkorio, S. 13. Der rituelle Rahmen sorgte für einen abgegrenzten Raum für das Einüben und Festigen von Gewaltroutinen.

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geln für konkrete Gewaltsituationen. Beides wurde durch ihre rituelle Autorität und die zugeschriebenen mystischen Kräe legitimiert. Nach einem gelungenen Raid leiteten Ältestenräte die Verteilung der erbeuteten Güter und Tiere. Deren Mitglieder sowie die Krieger, welche sich während des Raubzugs durch ihre Leistung besonders hervorgetan hatten, erhielten das Vorrecht bei der Verteilung⁸¹². Hatten diese beiden Parteien ihre Ansprüche geltend gemacht, wurde der Rest der Beute je nach Anzahl der teilnehmenden Gruppen verteilt⁸¹³. Auf lokaler Ebene wirkten die Elders administrativ auf die Gewaltpraxis ein, indem sie offensive Gewaltanwendung planend begleiteten und die Beute unter ihrer Aufsicht verteilen ließen. Die Konventionen der Altersorganisation sahen vor, dass sie nicht mehr aktiv am Gewaltgeschehen teilnehmen und auch nicht Ziel von Gewalt werden duren⁸¹⁴. Vermittler waren als Mwana wa Ndia (»the go-between, a way-son, i.e. a man who is the message-bearer between two tribes, hence his person is inviolable«⁸¹⁵.) bekannt und galten als zu schützende Personen. Im Fall von internen Streitigkeiten und Übertretungen von Konventionen fungierten Ältestenräte als Schlichter und leiteten Verhandlungen, in denen die Beteiligten öffentlich angehört wurden und man anschließend über Strafen bzw. Kompensationsleistungen beriet. Kriegergruppen dienten ihnen in diesem Rahmen als exekutive Kra, die ggf. Flüchtige zurückholen und körperliche Strafen ausführen mussten⁸¹⁶. Im Kontakt mit anderen Siedlungen und mobilen Gruppen wie Karawanen übernahmen Elders die Funktion von Vermittlern. In ihren Berichten erwähnten europäische Reisende immer wieder regional bekannte Elders, die regelmäßig als Vermittler auraten und mit Karawanen verhandelten⁸¹⁷. Gustav A. Fischer beobachtete die unterschiedlichen Rollenmuster und Verhaltenskonventionen von Kriegern und Elders während eines mehrwöchigen Aufenthalts am Naivasha-See im Jahr 1883. Er bemerkte, welche Rolle Letztere in Verhandlungen spielten und versuchte fortan, möglichst mit Elders (Ol-Morua) zu verhandeln und der Konfrontation mit Kriegern aus dem Weg zu gehen. So nahm er Kontakt mit Kidaru auf, den Fischer wie folgt beschrieb: »Der alte Kidaru, der ein angesehener und reicher Mann war und den Ehrentitel Leitunu besass, war besonders auch deshalb von den jungen Leuten gefürchtet, weil er sehr gewaltige Zaubermittel besit-

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Für das Kikuyu-Gebiet wurde ebenfalls von rituellen Handlungen im Vorfeld von Raubzügen berichtet, welche deren erfolgreiche Durchführung sicherstellen sollten, siehe Muriuki: A History of the Kikuyu. 1500-1900, S. 124ff. Siehe ebd., S. 126. Siehe ebd., S. 126. Siehe z.B. Njau: Meine Nachrichten von meiner Kindheit an bis jetzt, S. 116. Krapf: A dictionary of the Suahili language, S. 200. Vgl. Gregory: e Great Ri Valley, S. 347ff. Siehe z.B. Fischer: Bericht über die im Aurage der Geographischen Gesellscha in Hamburg unternommene Reise in das Massai-Land, S. 56.

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zen und sogar sein Blick gefährlich sein sollte. Er sass o stundenlang vor meinem Zelte, um den Andrang zurückzuhalten, liess mir durch eine seiner Frauen täglich Rindermilch bringen, brachte auch zweimal eine Ziege zum Geschenk. Unverschämte Tributforderungen ankommender Krieger mässigte er, gestohlenes Gut brachte er zurück. Die älteren Leute unterstützten ihn hierbei, denn er war der Sprecher der ersten Klasse der Elmórua. Er besass 200 Rinder und an 1000 Schafe und Ziegen, hatte 25 Raubzüge gegen die Wakuavi von Leukipia mitgemacht und besass 7 Frauen [...], aber nur 5 Kinder«⁸¹⁸ Im Kontakt zu Fischers Karawane fungierte Kidaru als Vermittler zwischen lokalen Kriegern und Karawanenreisenden. Als der längere Aufenthalt der Karawane zunehmend als störend empfunden wurde und sich erste gewalttätige Eskalationen abzeichneten, schlug Kidaru zunächst den Weg der Verhandlung ein: »Am 6. Juni [1883] erklärte uns der alte Kidaru, wir düren nicht länger weilen, da er und die älteren Leute nicht mehr im Stande wären, die Krieger von Gewaltthätigkeiten gegen uns zurückzuhalten. Dass er recht gehabt, zeigte sich in der letzten Nacht, die wir in Murentát zubrachten. Gegen Mitternacht wurden wir plötzlich mit Steinen beworfen, welche bis in die Mitte des Lagers geschleudert wurden, ohne jedoch jemanden zu verletzen. Doch trieben ein paar Raketen, welche immer Nachts bereit lagen und schon früher treffliche Dienste geleistet hatten, die Störenfriede in schleunige Flucht, so dass wir fernerhin Ruhe hatten«⁸¹⁹. Elders wirkten als Vermittler, die die Gewalt lokaler Kriegergruppen steuerten und der Gewalt junger Krieger Einhalt geboten. Dabei nutzte ihnen Ansehen und zugeschriebene mystische Kra, um ihren Einfluss auszuüben und Regeln und Konventionen durchzusetzen. Auch der britische Händler und Reisende John Boyes konnte durch Verhandlungen mit den Elders einer Siedlung, deren Krieger das Camp des Briten überfallen hatten, einen Verhandlungserfolg erzielen. Er nutzte dafür die Institution des Shauri (wörtl. »Beratung«), eines gemeinsamen Rates, der ein Forum ergab, lokale Autoritäten zu Verhandlungen einzuberufen: »[...] I hoped [...] to get into communication with the natives, with the object of getting the old men of the district to come in for a shauri. 818

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Fischer: Bericht über die im Aurage der Geographischen Gesellscha in Hamburg unternommene Reise in das Massai-Land, S. 79f., Hervorhebung im Original. Siehe hierzu auch: Oscar Baumann: Durch Massailand zur Nilquelle. Reisen und Forschungen der Massai-Expedition des deutschen Antisklaverei-Komite in den Jahren 1891-1893, Berlin 1894, S. 37. Fischer: Bericht über die im Aurage der Geographischen Gesellscha in Hamburg unternommene Reise in das Massai-Land, S. 81. Hier zeigt sich bereits eine innere Spannung zwischen den Generationen, von der noch genauer zu reden sein wird.

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In this I was successful, and we talked over the whole matter of the raid. ey said that they had no wish to fight, but the young warriors had got out of hand, carrying things their own way. e result of the palaver was that the women and all the stolen cattle were returned, with the exception of a few sheep and oxen that had been eaten, and knowing that my people had been the aggressors in the first instance, I did not see that I could take any stronger action in the matter«⁸²⁰. Auch außerhalb der lokalen Gemeinschaen blieben Elders in ihrer wichtigen Funktion gegenüber Kriegergruppen. Im Kontext saisonaler Raids begleiteten sie die Krieger bei lang angelegten Raubzügen während der Raiding Season und überwachten die Einhaltung von Regeln und Konventionen. Gustav A. Fischer beobachtete eine Gewaltpraxis, die keineswegs von unkontrollierten und exzessiven Gewaltausbrüchen geprägt war. Er dokumentierte hingegen Mechanismen zu Eindämmung und Kontrolle der Gewalt im Rahmen von Raids: »Besonders in den Monaten August, September, October, wo sie mit Heerden zu den noch [...] Gras bietenden Küstengebieten ziehen und wo sich dann zwischen Pangani-Fluss und Pare-Gebirge zahlreiche Massai-Lager finden, machen sie die Küstengebiete so unsicher, dass o der Verkehr zwischen Pangani und Mombasa aufgehoben wird. Einige ältere Leute begleiten die Krieger auf solchen Raubzügen, um zur Vorsicht anzuhalten [...]. Es soll vorkommen, dass zu ungestüme, tüchtige und berühmte Krieger vor dem Kampfe von ihren Kameraden gebunden werden, um sie vom Kampfe fern zu halten«⁸²¹. Mobile Kriegergruppen waren durch diese Praxis an die Regelungen der Altersorganisation gebunden, welche den Vorrang des Älteren sicherstellten. Durch die Präsenz einiger Elders während Raids blieb die Autorität lokaler Ältestenräte bestehen und es entfaltete sich ein Korrektiv der Gewaltpraxis, das einhegend eingreifen konnte und Sanktionen bei Eskalationen verhängte. Elders verhandelten mit den Konfliktparteien um die Rückgabe geraubten Gutes oder die Rückführung entführter Personen. Bei Eskalationen, die durch lokale Kriegergruppen oder einzelne Krieger verursacht wurden, nutzten sie ihren rituellen Einfluss und die zugeschriebenen mystischen Kräe für die Bestrafung der Delinquenten. Die bisherige ethnologische Forschung sieht vor Allem die Abwesenheit eines Zentralstaates und seiner Institutionen als Ursache für unregulierte Gewaltpraktiken und Eskalationen der Gewalt⁸²². Insbesondere Steven Pinker charakterisiert »[...] 820 821 822

Boyes: King of the Wa-Kikuyu, S. 137ff. Fischer: Bericht über die im Aurage der Geographischen Gesellscha in Hamburg unternommene Reise in das Massai-Land, S. 70. Siehe z.B. Peter Waldmann: Terrorismus und Bürgerkrieg. Der Staat in Bedrängnis, München 2003 sowie Jürg Helbling: Tribale Kriege. Konflikte in Gesellschaen ohne Zentralgewalt, 2006.

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Stammesgesellschaen [...], die nicht durch eine koloniale Verwaltung oder nationale Regierung befriedet [sic!] waren [...]«⁸²³ als besonders anfällig für häufige gewalthae Auseinandersetzungen. Für ostafrikanische Gemeinschaen des 19. Jahrhunderts kann jedoch gesagt werden, dass die Gewaltpraxis weder unreguliert, noch im Zustand permanenter Eskalation sich befunden hat. Tradierte Verhaltensrichtlinien, fortgeschrieben, in der Praxis umgesetzt und an neue Einflüsse angepasst durch die Elders, geboten der Gewalt Einhalt. Auch wenn sich also im gegebenen Kontext keine staatlichen oder staatenähnlichen Strukturen vorfinden lassen, welche die Gewalt eindämmen könnten, traten in diesem Fall dezentrale, segmentäre Organisationsformen an deren Stelle bzw. entfalteten eine vergleichbare Wirkung auf das Handeln der Menschen. Im lokalen Rahmen konnten Ältestenräte ihre Reputation und ihre zugeschriebene Verbindung zu den Ahnen nutzen, um die Präsenz einer Autorität aufrecht zu erhalten, die Kriegern überzeugend vermitteln konnte, im Falle von Eskalationen einzugreifen. Durch ausgewählte Vermittler bekamen sie Einblick in die einzelnen Alterseinheiten der Krieger und durch ihre rituelle Autorität legitimierten sie ihre Machtposition. Als Exekutive konnten wiederum loyale Krieger oder Älteste dienen, die entweder öffentlich sichtbar oder im Hintergrund agierend Menschen bestraen, die Konventionen gebrochen hatten⁸²⁴. Nach außen wurde das Wirken der Elders in diesen Fällen mit ihren spirituellen Kräen und der Verbindung zu den Ahnen erklärt, welche in Form von Tierinkarnationen wie Leoparden oder Schlangen Strafen vornehmen konnten⁸²⁵. Als Basis ihres Einflusses wurde die mystische Verbindung zu den Ahnen identifiziert. So wurde dem Wirken des Kóma (Geist oder Schatten eines Verstorbenen)⁸²⁶ eine große Bedeutung beigemessen⁸²⁷. Berichte über die Präsenz der Toten im Bewusstsein der Lebenden gab der Missionar Wohlrab wie folgt wieder:

823 824

825 826

827

Pinker: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit, S. 102. Das während der Kolonialzeit in vielen Regionen Afrikas auommende Phänomen der sog. »Leopardenmänner«, als Leoparden verkleidete Menschen, die im Verborgenen Morde begingen, ließe sich auf diese Art deuten: Als klandestine Exekutive traditioneller Autoritäten bestraen Leopardenmänner Personen, die gegen etablierte Regeln verstoßen hatten. Vgl. Gottberg: Unyamwesi, S. 248. Krapf: Kurze Beschreibung der Massai, S. 443. Siehe auch: Griffiths: Glimpses of a Nyika Tribe (Waduruma), S. 274 und ebd., S. 293 sowie Wohlrab: Usambara. Werden und Wachsen einer heidenchristlichen Gemeinde in Deutsch-Ostafrika. S. 21. Siehe auch: Krapf: Reisen in Ostafrika ausgeführt in den Jahren 1837-1855, S. 225 sowie Crawford: By the equator’s snowy peak. A record of medical missionary work and travel in British East Africa, S. 31f., Elmslie: Among the wild Ngoni, S. 39, Jack: Daybreak in Livingstonia, S. 148, Holmes: A History of the Bakwimba of Usukuma, Tanzania from earliest Times to 1945, S. 11 Johannes Rebmann: Journal, Mar 25/27 to Mar 31/ 1848, CMS, East Africa (Kenya) Mission Mission Book 1846-1856. Signatur: CMS / B / OMS / C A5 / M2 und J. Erhardt: Rev. J. Erhardt to Sec., Sept 24, 1850, CMS, East Africa (Kenya) Mission Mission Book 1846-1856. Signatur: CMS / B / OMS / C A5 / M2.

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»Sie haben uns auch öer erzählt: Sieh’, wenn ein Verwandter gestorben war, dann mußtest du immer an ihn denken, und wenn du in der Nacht schliefst, dann stand er vor dir, und wenn du aufwachtest, dann war er verschwunden; und wenn die Nacht wiederkam und du schliefst, dann war er wieder da. Da merktest du dann: der Ahne ist gestorben, aber er ist noch da«⁸²⁸. Mit Hilfe ritueller Gegenstände wie dem Muansa, dessen Besitz den Status als Elder voraussetzte, wurde das Wirken der Ahnen symbolisiert und gezielt als Mittel zur Einflussnahme eingesetzt⁸²⁹. Elders setzten ihre Vermittlerrolle zwischen Toten und Lebenden ein, um ihren mystischen Status zu untermauern und somit die eigene Machtbasis zu verbreitern bzw. zu erhalten. Als kultureller Hintergrund wurde die Vorstellung mystischer Kräe beschrieben, die sich in afrikanischen Vorstellungswelten antreffen und in sozialen Institutionen wiederfinden lasse⁸³⁰. Elders pflegten die rituellen Zentren der Siedlungen und nahmen ihre Autoritätspositionen wahr, die ihnen aufgrund ritueller Praktiken und ihrer sozialen Stellung als erfahrene, weise Männer zukam. Der Historiker omas Spear beschrieb diese rituellen Orte im Zentrum der Siedlung (Kaya) als Rückgrat traditioneller Formen symbolischer Herrscha und Bezug zu den Ahnen⁸³¹. In ihrer Rolle als Vermittler wirkten Elders vielfältig auf die Gewaltpraxis ein. Zum Einen vermittelten sie zwischen Streitparteien und handelten die Grenzen der Gewalt aus, zum Anderen kontrollierten und kanalisierten sie das Gewaltpotenzial einer Gemeinscha durch Riten und Kra ihrer zugeschriebenen mystischen Macht. Die administrativen Funktionen der Elders bezogen sich weiterhin auf die Angelegenheiten der Familie und des Klans sowie auf zentrale wirtschaliche und rechtliche Vorgänge der Gemeinscha⁸³². Durch ihre Autorität im rituellen Bereich wirkten sie auf die Sozialstrukturen ein. Ihre zugeschriebenen mystischen Kräe und Fähigkeiten, mit den Ahnen zu kommunizieren und zu beraten machte sie zu Vermittlern zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die Traditionen fortschrieben und den Generationenprozess der Gemeinscha lenkend begleiteten. Die Administration der rituellen Feste ermöglichte es den Elders, die sozialen Rahmenbedingungen zu beeinflussen⁸³³. Wie Norbert Elias bereits feststellte, bietet die Zeitwahrnehmung eine Grundlage für den sozialen Prozess: 828 829 830 831 832

833

Wohlrab: Usambara. Werden und Wachsen einer heidenchristlichen Gemeinde in DeutschOstafrika. S. 23, meine Hervorhebung. Siehe Decken: Reisen in Ost-Afrika in den Jahren 1859-1865, S. 217. Siehe auch: Behrend: Geister als Repräsentationen von Vergangenem, S. 294. Vgl. Teobaldo Filesi: Evoluzione storio-politica dell’ Africa, Como 1967, S. 1. Vgl. Spear: e Kaya Complex, S. 106f. Vgl. Ambler: Kenyan communities in the age of imperialism, S. 24. Siehe auch: Shadrack Malo: Luo Customs and Practices. A Translation into English of the book Jaluo by Jane Achieng, Nairobi 2003, S. 15. Vgl. Heinrich Popitz: Phänomene der Macht, Tübingen 1992, S. 12.

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»Das Wort Zeit, so könnte man sagen, ist ein Symbol für eine Beziehung, die eine Menschengruppe, also eine Gruppe von Lebewesen mit der biologisch gegebenen Fähigkeit zur Erinnerung und zur Synthese, zwischen zwei oder mehreren Geschehensabläufen herstellt, von denen sie einen als Bezugsrahmen oder Maßstab für den oder die anderen standardisiert«⁸³⁴. Ostafrikanische Altersorganisationen waren Manifestationen solcher kollektiver Zeitwahrnehmungen, die ein Gerüst für die Konstruktion eines kollektiven Gedächtnisses boten. Als Bezugsrahmen dienten sie dem sozialen Prozess, indem jedes Mitglied der Gemeinscha einen festen Platz im zeitlichen und sozialen Gefüge zugewiesen bekam. Durch ihre Kontrolle der wichtigsten Institutionen, die sich wiederum an natürlichen Zyklen orientierten, beeinflussten Elders die Zeitwahrnehmung und in der Konsequenz auch den Generationenprozess. Vor dem Hintergrund zyklischer Zeitwahrnehmung formten Elders die Beziehung zwischen den Generationen mit Hilfe eines Anknüpfens an frühere Gruppen und stärkten dadurch die traditionelle Unterordnung der Krieger. Zeitliche Rahmenbedingungen traten mit der sozialen Institution des Altersklassensystems in das Leben junger Männer, administriert von den Elders wurden so traditionelle Autoritätsverhältnisse codiert und übernommen. Dennoch war die Autorität der Elders nicht uneingeschränkt. Sie musste durch Kompetenzbeweise immer wieder untermauert werden und konnte von Jüngeren hinterfragt, unterlaufen und desavouiert werden. Davon zeugen sowohl traditionelle Regelungen zur Lösung von Generationenkonflikten als auch Hinweise auf Konflikte zwischen Alt und Jung. 4.3.2 Jugendliches Gewaltpotenzial und Konflikte zwischen den Generationen

Potenzielle Konflikte zwischen den Generationen sind gesellschaliche Grundphänomene, die sich auf der Verbindungsebene zwischen Familie und Gesellscha abspielen. In Generationenkonflikten zeigt sich eine Vielzahl von Faktoren, die insgesamt einen Blick auf das Generationenphänomen als »[...] Dreh- und Angelpunkt gesellschalicher Analyse [...]«⁸³⁵ ermöglichen. Zunächst stehen Generationenkonflikte für einen Wandel in der Beziehung zwischen Alt und Jung. Aus Geförderten werden Konkurrenten, aus der Weitergabe von Erfahrung durch die Älteren und dem Hineinwachsen in bestehende Ordnungen wird die Neuverhandlung zwischen Tradition und Selbsterneuerung. Im Folgenden wird der Blick auf Prozesse und Phänomene gerichtet, die das Selbstverständnis ostafrikanischer Konzepte von Generationenordnung potenziell in Frage stellen konnten. Dabei wird besonders zu erläutern sein, welche Rolle die Gewalt spielte und wie die Dialektik von Eskalation jugendlicher Gewalt und deren Einhegung durch 834 835

Norbert Elias: Über die Zeit, Frankfurt am Main 1988, S. 11f., Hervorhebung im Original. Parnes/Vedder/Willer: Das Konzept der Generation, S. 14.

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traditionelle Autoritäten von sozialen Institutionen geregelt wurde. Vor dem Hintergrund ostafrikanischer Altersordnungen stellt sich die Frage nach den grundlegenden Aspekten von Macht, Weitergabe von Wissen, der Kontrolle gesellschalicher Positionen und dem Umgang mit externen Faktoren. Dabei zeigen sich etablierte Regulationsmechanismen: Ostafrikanische Altersorganisationen boten Foren für Neuverhandlungen zwischen den Generationen und gaben die Rahmenbedingungen für Auseinandersetzungen und Kompromissfindung zwischen Alt und Jung vor. Bevor diese Arten der Regelung jedoch näher betrachtet werden, lohnt es sich zunächst, die tradierten Einflussbereiche und Handlungspotenziale in den Blick zu nehmen, welche den einzelnen Segmenten der Altersordnung zugesprochen wurden. In den verfügbaren Quellen finden sich unterschiedliche Deutungen über den Einfluss der einzelnen Altersgruppen. Während einige Quellenautoren die Rolle der Elders stark betonen und ihre Macht als uneingeschränkt charakterisieren, gibt es ebenso Hinweise auf die Einflussmöglichkeiten von Kriegergruppen. Einige Quellen schildern die Krieger als einflussreichste Gruppe innerhalb der Gemeinscha und schreiben ihren Anführern große Macht zu. Im Gegensatz dazu beschreiben einzelne Quellenautoren das Verhältnis zwischen Kriegern und Elders als Abhängigkeits- und Autoritätsverhältnis. Der Missionar Johannes Rebmann sprach gar davon, dass die Krieger (Elmoran) die Sklaven der Ältesten seien⁸³⁶. Die Beziehung zwischen den Generationen wurde dabei unterschiedlich bewertet. Einige Quellenautoren sowie einige Vertreter völkerkundlicher und ethnologischer Forschung charakterisieren das Gemeinwesen dezentraler Gesellschaften Ostafrikas als Gerontokratie, während andere wiederum die Macht der Krieger in den Vordergrund stellen. Das vorhandene Quellenmaterial wie auch die ethnologische Forschung erlauben meist lediglich einen oberflächlichen, o verzerrten Blick in die Machtverhältnisse ostafrikanischer Gesellschaen des 19. Jahrhunderts. Die Aussagen zu Machtverteilung und Einflussbereichen unterschiedlicher Gruppen sind meist widersprüchlich und orientieren sich stark an europäischen Herrschasvorstellungen, die eine königsähnliche Person an der Spitze der Hierarchie vorsahen. Ließen sich solche vermeintlich bekannten Strukturen nicht erkennen, sprachen die Quellenautoren o von anarchischen Zuständen oder schrieben den Kriegern die Macht zu⁸³⁷. Die Einschätzungen der Quellenautoren liefern also kein klares Bild über die Machtverhältnisse. Sie suggerieren hingegen eine Offenheit und Unordnung, wie sie Vorurteilen gegenüber der Bevölkerung des Hinterlandes der ostafrikanischen Küste inhärent sein mochte. 836 837

Siehe Rebmann: Tagebuch des Missionars vom 14. Februar 1848-16. Februar 1849, S. 57. Siehe hierzu auch: Willis: Potent brews. A Social History of Alcohol in East Africa 1850-1999. S. 60. Siehe z.B. Fischer: Bericht über die im Aurage der Geographischen Gesellscha in Hamburg unternommene Reise in das Massai-Land, S. 94.

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Wie lassen sich die verfügbaren Überlieferungen dennoch deuten? Der Soziologe Heinrich Popitz lieferte einige grundlegende Überlegungen zum Phänomen der Macht. Ausgehend von einer grundsätzlichen »[...] Machbarkeit von Machtordnungen«⁸³⁸, einer Gestaltbarkeit und somit auch Veränderbarkeit, finde sie sich in allen gesellschalichen Institutionen wieder. Dabei unterscheidet Popitz »vier (anthropologische) Grundformen«⁸³⁹, deren innere Logik er mit den Einzelphänomenen Kra, Geschick, Subjektivität & Selbstverständnis, Verletzbarkeit des Körpers und dem Einfluss auf Rahmenbedingungen verbindet. Diese Begriffe können dazu dienen, bereits gezeigte Phänomene in Perspektive zu setzen und Autoritäts- und Machtverhältnisse vor dem Hintergrund ostafrikanischer Altersorganisationen zu betrachten. Eine weiterführende Analysemöglichkeit bietet sich beim Blick auf konkrete Gewaltsituationen, die wiederum Einblick in bestehende Machtordnungen bieten können. Die Frage nach den akzeptierten Möglichkeiten einzelner Altersgruppen, Gewalt auszuüben bzw. deren Ausübung zu beeinflussen, weist bereits auf Grundgegebenheiten der Machtordnung hin. Darauf auauend können weitere Schlüsse aus der Analyse von Situationen gezogen werden, in welchen diese Machtordnung möglicherweise gefährdet war. Gustav A. Fischer lieferte eine Beschreibung, die auf die Verteilung von Macht und Einfluss in den von ihm beobachteten Gebieten um Aruscha hinweist: »Die Bewohner von Gross-Aruscha holen sich ebenfalls Rath bei dem Mbatián der Massai, da sie selbst keinen grossen Zauberer zu besitzen scheinen; überhaupt habe ich keinen Leibón bei ihnen kennen gelernt; der einflussreichste Mann war der Sprecher der älteren Leute und dessen alter Vater, Lebanga mit Namen, der an 100 Kinder besass. Ein Oberhaupt oder Häuptling existirt aber auch hier nicht; die Krieger haben die eigentliche Macht in Händen, was auch daraus hervorgeht, dass sie am Tage vor unserer Ankun den Sprecher der jüngsten Kriegerklasse, einen der Söhne des alten Lebanga getödtet hatten, weil er in Klein-Aruscha bei den Mohammedanern böse Künste erlernt habe«⁸⁴⁰ Blickt man auf die in den vorherigen Kapiteln dargestellten Rollenverteilungen innerhalb ostafrikanischer Gesellschaen, zeichnet sich in den Berichten Fischers bereits ein Machtgefüge ab, dessen Hauptunterteilung im Wesentlichen aus den beiden Altersgruppen der Krieger (Elmoran) und der Elders gebildet wurden - eine gesellschaliche Untergliederung, die vielen Beobachtern des 19. Jahrhunderts

838 839 840

Popitz: Phänomene der Macht, S. 12. ebd., S. 11. Fischer: Bericht über die im Aurage der Geographischen Gesellscha in Hamburg unternommene Reise in das Massai-Land, S. 94f., Hervorhebung im Original.

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auffiel und auch in früheren Zeugnissen zu finden ist⁸⁴¹. Dessen Beobachtungen beschreiben zwar die Krieger als Inhaber der »eigentliche[n] Macht«⁸⁴², bei genauerem Blick werden jedoch komplexere Strukturen erkennbar, die sich vor dem Hintergrund der Altersorganisation erklären lassen. In den Berichten Fischers tritt zunächst die Gewalt als »[...] direkteste Form von Macht«⁸⁴³ hervor. Bei genauerem Blick zeigt sich ein Machtgeflecht zwischen den Generationen. Im Rahmen einer segmentären Altersorganisation wurde Gewalt von verschiedenen Parteien genutzt. Zunächst bewirkte die Grunderfahrung der Verletzbarkeit des eigenen Körpers im Rahmen der Initiation eine mit Sinn aufgeladene Schmerzsituation, die mit der Eingliederung in die bestehende Sozialordnung einherging. Die »schiere Aktionsmacht«⁸⁴⁴ der Älteren bestimmte den situativen Kontext der Initiation und zementierte den tradierten Vorrang höher gelagerter Altersklassen. Elders nutzten Gewalt im rituellen Kontext zur körperlichen Disziplinierung von Jugendlichen sowie, um etablierte Konventionen und Regelungen fortzuschreiben und ihre eigene Macht im spirituell-mystischen Bereich zu festigen. Mit der Kanalisierung der Gewalt nach Außen, wie sie in traditionellen Raids zum Beweis der Kompetenz junger Kriegergruppen erfolgte, kam für die Initianden die Erfahrung hinzu, selbst Gewalt ausgeübt und den Körper Anderer verletzt zu haben - eine Erfahrung der Macht, die bis zur totalen Machterfahrung des Tötens gesteigert werden konnte. Verletzt werden, verletzen und Töten bildete im Kontext der Initiation die Grundlinien der Autoritätsstrukturen ostafrikanischer Gemeinschaen ab. Elders bestimmten den rituellen Rahmen und stabilisierten etablierte Ordnungen mittels Gewalt, während den Initianden mit erfolgreich absolviertem Ritus eigene Machtbereiche zugesprochen wurden. Sie bekamen eigene Freiräume für das Verletzen Anderer. Der Blick auf die Verletzlichkeit des Körpers zeigt außerdem, dass die Verlagerung auf mystische Kräe mit wachsendem Lebensalter gleichzeitig ein Zurückziehen aus der aktiven Gewaltpraxis, und somit auch ein potenziell geringeres Risiko für Verletzungen des Körpers mit sich brachte. Schwindende körperliche Leistungsfähigkeit konnte mit wachsender zugeschriebener mystischer Kra und akkumulierter sozialer Anerkennung kompensiert werden. Ältestenräten stand das Instrument des Fluchs ebenso zur Verfügung wie die Möglichkeit, Jüngere bei Fehlverhalten in die Verbannung 841

842 843 844

Für das 19. Jahrhundert siehe z.B. Baumann: Durch Massailand zur Nilquelle. Reisen und Forschungen der Massai-Expedition des deutschen Antisklaverei-Komite in den Jahren 1891-1893, S. 37. Frühere Dokumentationen dieser Aueilung finden sich z.B. bei Bruce: Travels to discover the source of the Nile, in the years 1768, 1769, 1770, 1771, 1772, and 1773. und Bahrey: History of the Galla, in: C. F. Beckingham/G.W.B. Huntingford (Hrsg.): Some Records of Ethiopia, London 1954. Fischer: Bericht über die im Aurage der Geographischen Gesellscha in Hamburg unternommene Reise in das Massai-Land, S. 94. Popitz: Phänomene der Macht, S. 43. ebd., S. 43.

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schicken zu können⁸⁴⁵. Durch die Kontrolle abgeschirmter Rituale sowie deren Praktiken und Inhalte konnten Elders die traditionellen Autoritätsbeziehungen restituieren, ohne dabei offenen Gewaltsituationen ausgesetzt zu sein. Regelmäßig durchgeführte Übergangsriten dienten jedoch auch als Foren zur Neuverhandlung der Generationenbeziehung. Durch die rituelle Vermittlung von Rollen- und Verhaltensmustern entstand eine Dialektik der Generationenbeziehung, welche die Jungen zu den Empfängern und die Alten zu Stiern von Wissen und Normen machten. Exogene Impulse konnten eine Gefährdung dieser Normen bedeuten, was der Bericht Fischers mit Bezug auf die Hinrichtung des »[Sprechers] der jüngsten Kriegerklasse«⁸⁴⁶ impliziert. Ein Blick auf die Gewalt führt dabei zum Selbstverständnis der Gruppe, die sie ausübt. Durch die Anreicherung der Gewalt mit Sinnzusammenhängen ergibt sich eine Nomenklatur verschiedener Paradigmen, die, in der Summe betrachtet, Eckpfeiler eines Weltbildes darstellen, das Gewalt gezielt funktionalisierte um die Gemeinscha zu stärken und dem Einzelnen einen persönlichen Möglichkeitsraum für eigene Initiativen zuzuweisen. Der Rahmen dieses Möglichkeitsraumes war einerseits begrenzt vom gewaltsam fortgeschriebenen Respekt vor dem Älteren, wie er in Form der Beschneidung durch Gewalt bis in die Körper der Jugendlichen eingeschrieben wurde⁸⁴⁷. Andererseits eröffnete die etablierte Gewaltpraxis die Entfaltung eigener Kräe im Rahmen autorisierter Raids, die dem Einzelnen wie auch der Gruppe junger Krieger Anerkennung und einen festen Platz im sozialen Gefüge ermöglichte. Kriegergruppen und charismatische Kriegerfiguren waren ein zentrales Element segmentärer Gemeinschaen Ostafrikas. Überformung und Sinngebung von Gewalt spielte eine zentrale Rolle in der Schaffung lokaler Kriegergruppen, in der Stärkung von Kohärenz und in der Rückbindung an traditionelle Autoritäten. So fungierten Altersordnungen als Hintergrund für die gewaltsame Durchsetzung von Tradition im Rahmen von Initiationsriten: Neue Kriegergruppen wurden geschaffen, etablierte Kriegeridentitäten fortgeschrieben und Kriegergruppen in ein System von Aufgaben und Verpflichtungen gegenüber der Gemeinscha integriert. Die gemeinsame Ausübung von Gewalt im Zusammenhang mit diesen Aufgaben und das gemeinsame Aureten als aggressive Krieger in traditionellen Festen stärkten die Kohärenz der Gruppen. Durch die Assoziation mit älteren Generationen, Ahnen und Kriegergruppen der Vergangenheit im Rahmen von Altersklassensystemen entstand eine Einbettung in den gemeinschalichen Kontext sowie ein zyklisches Zeitverständnis. Subversive Potenziale der Jugend wurden so an tradierte 845 846 847

Siehe H.R. Tate: e native law of the southern Gikuyu of British East Africa, in: Journal of the African Society 9.35 (Apr. 1910), S. 233–254, hier S. 238. Fischer: Bericht über die im Aurage der Geographischen Gesellscha in Hamburg unternommene Reise in das Massai-Land, S. 94f. Siehe auch: Rosa: Identität und kulturelle Praxis, S. 147.

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Autoritätsbeziehungen gebunden. Der Bezugsrahmen segmentärer Altersorganisationen sicherte die Rückbindung jugendlicher Krieger an etablierte Ordnungen und band sie langfristig in ein Machtgefüge ein, das mit der Initiation in ihr Leben getreten war und fortan ein grundlegendes Orientierungssystem bot. Im Rahmen der Initiation wurde Identitätswissen weitervermittelt, das ein Selbstverständnis der neu Initiierten als junge Krieger förderte. Damit waren die Elders die Protagonisten einer Facette des Machtgefüges, das von Popitz als »autoritative Macht«⁸⁴⁸ bezeichnet wurde. Ihnen kam die Kontrolle der Riten und somit der gesellschalichen und politischen Rahmenbedingungen zu, sie administrierten die Belange lokaler Klans und kontrollierten die Symbole und Artefakte mystischer Macht. Die Tätigkeit der Elders sorgte somit für die Stabilisierung des Status Quo sowie für das Fortschreiben bestehender Ordnungen über die Generationen hinweg. Das beinhaltete freilich auch die Adaption an neue Bedingungen und die Integration neuer Elemente. Den Ältesten standen verschiedene weitere Machtmittel zur Verfügung. So erlaubte ihr mystischer Status die Möglichkeit, Sanktionen in Form von Flüchen aussprechen zu können, um aufstrebende Kriegergruppen zu disziplinieren⁸⁴⁹. Durch die Strukturen der Kriegergruppen mit jeweils einem Sprecher, der mit dem Rat der Elders in Verbindung stand, waren Letztere über aktuelle Vorgänge innerhalb der Kriegergruppen informiert. Ihre soziale Stellung als erfahrene ehemalige Krieger mit zugeschriebenen mystischen Kräen gab Elders weitere Möglichkeiten zur Kontrolle der Krieger, deren subversives Potenzial ständig präsent war. Kriegergruppen konnten ihre körperlichen Vorteile gegenüber Älteren mittels Gewalt einsetzen, um die Machtbereiche der Elders zu unterlaufen⁸⁵⁰. Mit ihrem wachsenden Geschick in Gewaltpraktiken und der körperlichen Stärke Jugendlicher bot sich die Möglichkeit, in Bereiche vorzudringen, die sich dem Zugriff der Elders entzogen. Mit Hilfe unautorisierter Raids konnten Kriegergruppen eigenmächtig Beute machen und so die traditionellen, von Elders gesteuerten Verteilungsmechanismen umgehen. Auch wenn mündliche Traditionen generell die Autorität der Elders betonen, finden sich in Berichten, Liedern und Geschichten immer wieder Hinweise auf eigenmächtiges Handeln junger Krieger⁸⁵¹. Neben der Überformung der Gewaltpraxis durch festgelegte und tradierte Richtlinien gibt es zahlreiche Überlieferungen hinsichtlich der Übertretung dieser Regeln. So werden Kriegergruppen genannt, die ohne die Erlaubnis lokaler Autoritäten 848 849 850 851

Popitz: Phänomene der Macht, S. 29. Vgl. Baxter/Almagor (Hrsg.): Age, Generation and Time: some features of East African age organisations, S. 16. Siehe hierzu auch: Werner: e Galla of the East Africa Protectorate, S. 273. Siehe auch: Okeny: State formation in Acholi: e Emergence of Obbo, Pajok and Panyikwara states, c.1679-1914, S. 152f. sowie Tanui: Dying Voice. An Anthropological Novel, S. 130f. Siehe z.B. Steven Gichuru: e Fly Whisk and other stories from Masailand, Nairobi 1967, S. 39ff. sowie Kanyangezi: Mbatiany 1824-1889. A Biographical study of a nineteenth century Maasai Oloibony, S. 42f.

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agierten und Raids auf andere Gemeinschaen durchführten oder innerhalb der eigenen Siedlung Vieh stahlen⁸⁵². Dies stellte traditionelle Autoritätsverhältnisse in Frage und konnte zu Konflikten führen. Darüber hinaus konnten unautorisierte Raids weitere Konflikte nach sich ziehen, falls die beraubten Gemeinschaen ihrerseits mit Gewalt reagierten⁸⁵³. So konnten sich unautorisierte Raids nicht nur in Form einer Bedrohung tradierter Autoritätsverhältnisse auswirken, sondern auch zu regionalen Gewaltdynamiken führen, wodurch weitere Destabilisierung drohen konnte. Häufiger Erfolg bei der Gewaltnutzung konnte auch ohne die Legitimation durch Ältestenräte und Ritenexperten zur Aufweichung der Grenzen zwischen den Altersgruppen führen. Inhabern ritueller Ämter und einzelnen Anführern von Kriegergruppen wurden auch im jüngeren Alter und bei entsprechendem Erfolg große individuelle mystische Kräe zugesprochen, was zu einem ausgeglicheneren Kräeverhältnis zwischen Elders und Kriegern führen konnte⁸⁵⁴. Dass jüngere Männer bei Erfolg auch hohes Ansehen und großen Einfluss erlangen konnten, spricht zunächst für die Offenheit und Flexibilität von Altersorganisationen. Einem möglichen Ausbruch von Gewalt zwischen den Generationen standen jedoch auch etablierte Mechanismen und Strukturen gegenüber, die Generationenkonflikte regulieren oder ihr Auommen verhindern konnte. Auf der Seite der Elders basierten die Regulierungsmechanismen auf gesellschalichem Status und bestehenden Autoritätsstrukturen: Durch den Einfluss von Ältestenräten konnte in konkreten Fällen auf Gefährdungen für die etablierte Ordnung reagiert werden. Systeme von Initiations- und Transitionsriten boten institutionalisierte Verhandlungsräume für die Beziehung zwischen den Altersgruppen und Generationeneinheiten. Solche Strukturen überformten das Spannungsfeld zwischen etablierten Macht- und Autoritätsverhältnissen und den Möglichkeiten für nachrückende Altersklassen, Macht und Ressourcen zu gewinnen. Der Gefahr drohender und unerwarteter Instabilität begegneten ostafrikanische Gesellschaen mit Phasen kontrollierter Instabilität, die gleichzeitig dazu genutzt wurden, etablierte Strukturen bei wechselnden Personen zu restituieren. In Phasen wachsenden Legitimationsdrucks innerhalb der etablierten Ordnung wurde auf ritueller Ebene reagiert. Besonders markant zeigte sich das in Form überformter Phasen generationeller Übergänge. In Ostafrika wurden Riten überliefert, die als »Handing-Over Ceremonies (Nduiko)«⁸⁵⁵ bezeichnet wurden. Die Zeit dieser Riten galt als Phase des kulmi852

853

854 855

Ersteres schildert Boyes in Form von Beschwerden des Ältestenrates über unerlaubte Raids einer jungen Kriegergruppe, die Boyes’ Karawane überfallen hatten, siehe Boyes: King of the Wa-Kikuyu, S. 137ff. Siehe Willis: Potent brews. A Social History of Alcohol in East Africa 1850-1999. S. 52f. sowie Kanyangezi: Mbatiany 1824-1889. A Biographical study of a nineteenth century Maasai Oloibony. Vgl. Kurimoto (Hrsg.): Conflict, Age and Power. Age Systems in Transition, S. 19. Mwaniki: e living history of Embu and Mbeere to 1906, S. 51f.

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nierenden Antagonismus zwischen der aktiven und nachfolgenden Generation. Die jüngere Generation trat der Autorität zunehmend rebellischer und mit aggressivem Stolz gegenüber, widersetzte sich Anweisungen und agierte ohne Erlaubnis der Elders⁸⁵⁶. Ferner wurden inszenierte Stockkämpfe zwischen den Generationen durchgeführt, die außer der rituell überformten Auseinandersetzung auch ein Forum für offene Rivalität bieten konnte⁸⁵⁷. Solche Rivalitäten zwischen Altersgruppen wurden bereits vor den entsprechenden Übergangsriten in Form von Stockkämpfen, willkürlicher Schikane niedrigerer Altersgruppen durch höhere sowie inszenierten Überfällen ausgetragen⁸⁵⁸, die Häufigkeit dieser Vorfälle stieg jedoch zu Zeiten des Nduiko zu einem Höchstmaß an⁸⁵⁹. Das Gewaltpotential der Gruppen von Elmoran stellte nun eine besondere Gefahr für die etablierten Elders dar⁸⁶⁰. Während das Instrument der kriegerischen Auseinandersetzung in niedrigeren Altersgruppen in höherem Maße die Funktion der Bildung und Stärkung der Gruppenidentität hatte, verschob sich dies in der Phase des Nduiko dahingehend, dass Gewalt von der jüngeren Generation genutzt wurde, um ein Fortschreiten im Altersklassensystem zu beschleunigen und Status sowie Privilegien von Elders zu erlangen⁸⁶¹. Unautorisierte Überfälle boten der aufstrebenden Altersgruppe Gelegenheit, durch Erbeutung von Besitz, welcher im Rahmen des Heiratsmarktes genutzt werden konnte, eine größere Unabhängigkeit gegenüber den Älteren zu erreichen⁸⁶². War die Zeit des Nduiko gekommen, konnte die aufstrebende Generation mit Gewalt drohen, um Ihre Antagonisten zur Übergabe ihrer Positionen zu zwingen, was in Einzelfällen zu fortdauernden, offenen Konflikten führen konnte⁸⁶³. Mit der Durchführung des Nduiko zog sich die etablierte Generation aus ihren Einflussbereichen zurück und überließ sie der nachfolgenden Generation. Der rituelle Rahmen einer solchen Zeremonie bot also ein regelmäßig stattfindendes eatrum Societatis, in dem die Machtansprüche der nachrückenden Generationen geltend gemacht werden konnten. Durch die entsprechende Teilnahme am Ritual manifestierte sich ein neuer gesellschalicher Status⁸⁶⁴. Der Abschluss generationeller Übergangsphasen wurde rituell begangen und beinhaltete die zeremonielle Übergabe von Insignien (Saket ap Eito⁸⁶⁵), die dem Status des Elders zugeordnet waren und an einem vorbereiteten Ort an die Mitglieder der jüngeren Generationseinheit 856 857 858 859 860 861 862 863 864 865

Siehe z.B. Kurimoto (Hrsg.): Conflict, Age and Power. Age Systems in Transition, S. 14ff. Vgl. ebd., S. 3 und ebd., S. 6. Vgl. ebd., S. 8f. Siehe ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 23. Siehe ebd., S. 10f. Siehe ebd., S. 23. Siehe ebd., S. 15. Vgl. Glassman: Feasts and riot, S. 23. Siehe Sutton: e Kalenjin, S. 27.

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übergeben wurden⁸⁶⁶. Mittels Durchführung solcher Zeremonien waren junge Kriegergruppen an die traditionellen Institutionen ihrer Herkunsgemeinschaften rückgebunden. Sie boten ihnen einen Rahmen für eigene Machtansprüche und sorgten für einen geregelten Generationenprozess innerhalb lokaler Gemeinschaen. Regulierte Instabilität während der Phase des Nduiko wirkte sich langfristig stabilisierend auf die Gesellscha aus, indem das Potenzial der Jugend an die tradierten Ritensysteme gebunden wurde und Konflikte zwischen den Generationen einen gemeinsamen Referenzpunkt bekamen. Diese Übergangszeremonien wurden als wichtigstes Element des politischen Lebens bezeichnet. Sie wurden in einem Rhythmus von fünfzehn bis zwanzig Jahren durchgeführt und markierten die offizielle Übergabe der symbolischen Macht an die nächste Generation⁸⁶⁷. Dabei rückten die Mitglieder der etablierten Altersklasse in den Status von Junior Elders, während die Gruppe der jüngeren Krieger formal in den Status der leitenden Altersgruppe trat⁸⁶⁸. Auf diese Weise wurde der Fortbestand der lokalen Siedlungen und Gruppen langfristig gesichert. Eine solche Kultur des Generationenkonflikts stellte die Interaktion zwischen Jung und Alt in den Mittelpunkt gesellschalicher Vorgänge und zog sich durch Zeitwahrnehmung und Gedächtnis. Zudem bestimmte sie Sozialisation und Fortbestand der Gemeinschaen. Dabei bestimmten einerseits Verbindungen und andererseits Trennungen zwischen den Generationen das Bild. Durch die traditionserhaltenden Mechanismen der Altersorganisation wurden Wissen und Fertigkeiten weitergegeben sowie heranwachsende Generationen in die bestehende Sozialordnung integriert, bis die Mitglieder jener Generationen wiederum die erlernten Fertigkeiten nutzten, um selbst den Platz etablierter Autoritäten einzunehmen. Altersklassensysteme wirkten dabei als Mechanismen symbolischer Rückbindung an die Gemeinscha. Sie verliefen quer zu Verwandtschaen und symbolischen Bündnissen und vermittelten soziale Konventionen, Aufgabenbereiche, sozialen Status und Kanäle für die biologische und ökonomische Reproduktion. Durch komplexe Systeme von Riten, die lokal und regional durchgeführt wurden, schufen sie definierte soziale Einheiten und stärkten so das soziale Gefüge. Die Regulierung von Generationenkonflikten war ein Aspekt des geregelten Generationenprozesses, der eine Synthese von Veränderungs- und Beharrungskräen auf lokaler Ebene ermöglichte. Durch die Risiken, die es angesichts einer als feindlich und bedrohlich eingeschätzten Naturumgebung gab, waren die Anreize meist gering, Konflikte durch Emigration zu umgehen. Es ging vielmehr um den Konflikt um prestigeträchtige Positionen innerhalb der Gesellscha. Nicht nur persönliche Einflusssphären hingen damit zusammen, sondern auch materielle Vorteile. Die klanbasierte Versorgung regelte die Partizipation der 866 867 868

Vgl. Bischoerger: e generation classes of the Zanaki (Tanzania), S. 77. Vgl. Sutton: e Kalenjin, S. 27f. Vgl. ebd., S. 27f.

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Einzelnen und bot ein langfristiges System für die Versorgung im Alter und die Gründung eigener Familien. Elders standen im Zentrum dieser Systeme. Sie steuerten sie, profitierten selbst von den rituellen und materiellen Vorteilen und konnten ihre Positionen durch eine erfolgreiche (Gewalt)-Ökonomie festigen. Durch die Institution der Kiamas verfügten sie über geschützte Räume, die Jüngeren nicht zugänglich waren und in denen sie die Belange der Gemeinscha und aktuelle Ereignisse erörtern und Handlungsstrategien entwickeln konnten. Somit bestimmten Elders den Orientierungs- und Bezugsrahmen und kontrollierten die »maßsetzende Macht« (Popitz⁸⁶⁹), welche das Handeln der Mitglieder ihrer Gesellscha in die etablierten Bahnen segmentärer Altersorganisationen lenkte. Kiamas wurden auch vor Europäern und externen Besuchern gezielt abgeschirmt und ihre Inhalte geheim gehalten. Lediglich die Anlässe sind in Einzelfällen überliefert: So gab es in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts im ostafrikanischen Raum zahlreiche »Kiamas of the stomach«, deren Anlass aktuelle Hungersnöte waren⁸⁷⁰. Bei der Betrachtung von Kiamas stoßen wir schnell an die Grenzen des Beobachtbaren. Das hängt zum Einen mit der gezielten Abschirmung der Sitzungen vor Außenstehenden zusammen und zum Anderen mit der Problematik, interne Konflikte anhand der Erinnerung zu rekonstruieren. Die Überlieferung des britischen Reisenden und Händlers John Boyes bietet einen seltenen, zeitgenössischen Einblick in die Konkurrenz der Generationeneinheiten. Nachdem er sich mit dem einflussreichen Karuri angefreundet hatte, lebte er mehrere Jahre im Kikuyu-Gebiet. Aufgrund seiner Waffen und seinem Eingreifen in gewalthae Auseinandersetzungen zur Unterstützung Karuris erwarb er unter den Kriegern ein hohes Ansehen. Im Laufe seines Aufenthaltes wirkte er im taktischen Bereich, indem er die Operationen von Kriegergruppen beaufsichtigte und zusammen mit Karuri plante und indem er seine eigenen Kenntnisse einer westlichen Militärausbildung in Form regelmäßiger Übungen an die Krieger weitergab. Boyes gewann an Einfluss und wurde regional bekannt. In seinem Bericht schilderte er jedoch immer wieder, wie die lokalen Elders seine Position angriffen und seine persönliche Autorität als erfolgreicher Krieger zu untergraben versuchten. Bei der Teilhabe an rituellen Festen und an gemeinschalichen Entscheidungen wurde ihm immer wieder erklärt, dass er die Zustimmung der lokalen Elders brauche⁸⁷¹. Mit der Unterstützung einzelner Personen konnte er Klientelbeziehungen zwischen ihm und den Anführern von Kriegergruppen auauen, die ihn vor dem Zugriff der Elders schützten. So versorgte Boyes nach einer gewaltsamen Auseinandersetzung die Wunden des gefangenen Anführers der Kriegergruppe, der wiederum in der folgenden Nacht mit den Elders stritt. 869 870 871

Popitz: Phänomene der Macht, S. 28. Siehe Jeffrey Fadiman: An oral history of tribal warfare, Athens: Ohio University Press 1982, S. 108f. Vgl. Boyes: King of the Wa-Kikuyu, S. 97.

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Als die Elders den Krieger bestrafen wollten, konnte Boyes das erfolgreich verhindern, was ihm fortan die Loyalität des Anführers der Kriegergruppe sicherte⁸⁷². Er geriet somit ins Zentrum einer Dynamik zwischen Kriegern und Elders, die eine fortdauernde Spannung zwischen den Generationen verursachte und durch Nduiko- Zeremonien geregelt werden konnte. Gleichzeitig stärkten diese Riten die Rückbindung an vorhandene Sozialstrukturen. Regelmäßig durchgeführte Nduiko-Zeremonien boten einen intergenerationellen Verhandlungsraum, in dem Spannungen gesteuert ausgetragen wurden und der die Basis für die Neuverteilung von Autoritätspositionen bildete. Die Phasen des Nduiko waren Umbruchsphasen, die einen Generationenübergang markierten und für die Neuausrichtung des gesellschalichen und politischen Lebens standen. Die Beziehung zwischen den Generationen war bestimmt von einer Dialektik zwischen tradierter Autoritätsbeziehung und latenter Konkurrenz. Etablierte Altersordnungen waren die Basis für festgelegte Generationenschichtungen und regelten die Interaktion sowie die Abfolge der entstandenen Gruppen. Dabei ergaben sich verschiedene Sphären des Einflusses für die jeweiligen Gruppen. In bisherigen Arbeiten zu Macht- und Autoritätsverhältnissen finden sich o Vorstellungen von Gerontokratie, die durch die Logik von Altersklassensystemen bestimmt werde. Elders erscheinen als alleinige Machthaber, die ihren Einfluss weitgehend uneingeschränkt ausübten. Der Einfluss von Elders auf den rituellen Bereich wurde als Form einer »ceremonial facade for gerontocratic power«⁸⁷³angesehen. Diese Vorstellungen setzen eine direkte und uneingeschränkte Umsetzung der durch Altersklassen vorgegebenen Regeln und Aufgabenbereiche voraus und übersehen die Problematik der Überlieferung ebenso wie die Schilderungen einiger Quellen. Neben dem grundsätzlichen Problem einer Idealisierung ostafrikanischer Lebensverhältnisse stehen stark schematische Darstellungen auf der Basis lediglich flüchtiger Einblicke, durch die viele der frühen völkerkundlichen Werke charakterisiert sind. So äußerte Wilhelm Blohm seine Skepsis gegenüber den im frühen 20. Jahrhundert erhältlichen Publikationen:»[...] ich fürchte, diese Art der Forschung und Betrachtung menschlicher gesellschalicher Verhältnisse wird zu neuen Irrtümern führen[...]«⁸⁷⁴. Die Weitergabe von Informationen in Form kanonisierter, mündlich weitergegebener Texte bietet die Gefahr einer einseitigen Darstellung - meist waren es Elders, die solche Informationen zeitversetzt weitergaben. In ihren Schilderungen betonen sie die eigene Autorität, gegenüber den Kriegern wie den Besuchern, und schildern eigenmächtige Gewalthandlungen der Krieger als Insubordination. Bezieht man diesen stark betonten Autoritätsanspruch und die Probleme der Informationsweitergabe ein, zeigen sich fluide Strukturen und schwelende Konflikte. 872 873 874

Vgl. Boyes: King of the Wa-Kikuyu, S. 141ff. Kurimoto (Hrsg.): Conflict, Age and Power. Age Systems in Transition, S. 6f. Blohm: Blohm an Br. Henning, Baziya, den 3. März 1926.

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Der Anthropologe Simon Simonse interpretiert die Interaktion zwischen direkt benachbarten Gruppen innerhalb eines Altersklassensystems mit Hilfe eines Paradigmas des Dualismus⁸⁷⁵. In seinen Studien zum südlichen Sudan belegt er ein Verhältnis dieser Gruppen, das von ständiger Konkurrenz geprägt sei. Einer solchen Konkurrenz zwischen benachbarten Altersgruppen, wie sie auch in anderen Teilen Ostafrikas vorzufinden war⁸⁷⁶, unterlag auch das Verhältnis zwischen den Generationen. Durch die etablierten Altershierarchien bot Generationalität zwar Orientierung und regulierte viele Bereiche des Lebens, doch führten die unterschiedlichen Privilegien auch dazu, dass der Status als Elder aufgrund der materiellen Vorteile begehrt war. Als etablierte Möglichkeit der institutionalisierten Regelung von Konflikten zwischen den Generationen dienten ritualisierte Kämpfe. Sie waren fester Bestandteil von Transitionsriten und fanden zwischen benachbarten Altersgruppen ebenso statt wie Kämpfe zwischen Vätern und Söhnen⁸⁷⁷. Im Rahmen von Initiationszeremonien wurde den Kandidaten der Schmerz von Mitgliedern höherer Altersklassen zugefügt, was Gewalt zur Abgrenzung der Alterstklassen funktionalisierte. Es wurden Riten belegt, innerhalb derer die Gruppe der Initianden von der nächsthöheren Altersgruppe mit Stöcken ausgepeitscht wurde. Außerhalb der Riten wurde von alltäglichem Wettbewerb zwischen den Altersgruppen und gegenseitigem Schmähen berichtet⁸⁷⁸. Der alltägliche Umgang zwischen benachbarten Altersgruppen war geprägt von latentem Konflikt und körperlicher Auseinandersetzung. So berichtete der Missionar Busse von den Erzählungen des Afrikaners Asukile Malango, der sich an seine Kindheit um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert erinnerte und von Schlägereien zwischen den Altersgruppen während alltäglicher Aktivitäten wie dem Viehhüten berichtete⁸⁷⁹. Insgesamt ergeben diese Dualismen zwischen den Altersgruppen und ihre rituell dramatisierten Verhandlungsräume das Bild einer komplexen und fluiden Machtstruktur, die immer wieder in Frage gestellt wurde oder gefestigt werden musste. Eine solche Multipolarität zeigt auch die eingangs zitierte Passage aus dem Reisebericht Fischers. Obwohl er die Krieger als Hauptinhaber der Macht identifiziert, tauchen dennoch weitere Akteure auf. So erscheint der überregional bekannte Ritenexperte (Ol-Oibony) Mbatián, der als Ratgeber konsultiert wurde, um die Probleme einzelner Siedlungen zu behandeln. Wie noch genauer zu erläutern sein wird, spielte das Wirken solcher einflussreichen Männer eine zunehmende Rolle. Auf lokaler Ebene identifizierte Fischer den »[...] Sprecher 875 876 877 878 879

Vgl. Simonse: Kings of disaster, S. 165ff. Siehe Nagashima: Two Extinct Age Systems among the Iteso, S. 234 sowie Kurimoto (Hrsg.): Conflict, Age and Power. Age Systems in Transition, S. 8ff. Siehe Nagashima: Two Extinct Age Systems among the Iteso, S. 234 sowie ebd., S. 242. Siehe auch: Galaty: Maasai Expansion & the New East African Pastoralism, S. xx. Vgl. Busse: Aus dem Leben von Asyukile Malango. (Nyakyusa-Texte). S. 201ff.

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der älteren Leute und dessen Vater, Lebanga [...]«⁸⁸⁰ als einflussreiche Personen. Fischer beobachtete die Bestrafung des »(Sprechers) der jüngsten Kriegerklasse« und wertete dies als Beweis für die Machtposition der Krieger. Dennoch wir diese Sichtweise die Frage auf, warum die Krieger ein Mitglied der eigenen Kaste getötet hatten. Fischer nennt als Begründung, dass der Delinquent im Kontakt mit Küstenhändlern »böse Künste«⁸⁸¹ erlernt habe. Auf lokaler Ebene waren für Besucher wie Fischer lediglich die Personen erkennbar, welche nicht im Rahmen abgeschirmter Bereiche agierten. Beratungen einzelner Ratsinstanzen entzogen sich o dem Blick europäischer Beobachter und konnten entsprechend beim Urteil über die soziopolitischen Verhältnisse nicht einbezogen werden. Lediglich Ergebnisse der Beratungen und deren Umsetzung konnten auch Europäer beobachten. Im geschilderten Fall bestraen Krieger den Sprecher der jüngsten Kriegergruppe, da dieser sich externe Einflüsse zunutze gemacht hatte. Seine Überlieferung lässt darüberhinaus den Schluss zu, dass die genannten Krieger im Aurag des Ältestenrates gehandelt hatten und somit die tradierte Balance zwischen den Generationeneinheiten hergestellt wurde, indem verhindert wurde, dass der Sprecher der Kriegergruppe seine »Künste« weiterhin ausüben und potenziell zu einer Gefährdung der etablierten Ordnung werden konnte. Der Hinweis auf »böse Künste« lässt darauf schließen, dass der Getötete in rituell-mystische Bereiche vorgedrungen war, die ihm traditionell als Krieger verschlossen waren. Solche Grenzüberschreitungen stehen für Desintegrationsphänomene, mit welchen ostafrikanische Gesellschaen im 19. Jahrhundert immer häufiger konfrontiert waren. Die unterschiedlichen Interpretationen zu den Machtverhältnissen weisen sowohl auf den vielschichtigen Charakter der Beziehungen zwischen Kriegern und Elders hin und implizieren einen ständig schwelenden Konflikt, in dem Gewalt eine zentrale Rolle spielte. Jedoch fanden Gewalthandlungen keineswegs völlig unkontrolliert statt, sondern meist in einem regulierten, geplanten oder traditionell überformten Rahmen. Gewaltkompetenz und Funktionalisierung der Gewalt waren zwar zentral, unkontrollierte Eskalation jedoch nicht. Der Gewaltpraxis standen differenzierte Mechanismen gegenüber, die Gewalt regelten und sich besonders auf der Ebene der Generationenverhältnisse entfalteten. Im Machtgefüge zwischen Kriegern und Elders begegneten sich die unterschiedlich verteilten Machtpotenziale von Alt und Jung. Entgegen verbreiteter Konzeptionen von Gerontokratie, die bisher zur Erklärung der Macht der Elders herangezogen wurden, zeigt sich, dass die gezeigten Konfliktphänomene nicht allein mit Konzeptionen von Gerontokratie erklärt werden können. Vielmehr handelte es sich um ausgeglichene, teilweise wechselnde Einflussräume, die 880 881

Fischer: Bericht über die im Aurage der Geographischen Gesellscha in Hamburg unternommene Reise in das Massai-Land, S. 94. ebd., S. 95, Hervorhebung im Original.

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immer wieder zwischen Alt und Jung verhandelt wurden. Die unterschiedlichen Bereiche, aus denen sich die Einflussmöglichkeiten von Elders einerseits und von jungen Kriegern andererseits speisten, lassen sich anhand der von Popitz geprägten Begriffe voneinander abgrenzen. So wurde den Mitgliedern von Kriegergruppen im Rahmen der Altersorganisation mit der Ausübung von Gewalt eine direkte, körperliche Form von Macht zuteil, während Elders im Bereich autoritativer Macht wirkten, der einen allgemeinen Bezugsrahmen bot und auf ein Bedürfnis nach Orientierung antwortete⁸⁸². Dabei stand die Gewalt als Mittel zur Fortschreibung tradierter Ordnungen im Mittelpunkt. Sie wurde genutzt, um Respekt vor dem Älteren regelrecht in die Körper der Jüngeren einzuschreiben. Die Gewalt und Aggressivität der Jugendlichen hingegen wurde durch Formen der gewaltsamen Selbsthilfe gezielt nach Außen kanalisiert und durch rituelle Praktiken eingehegt. Dennoch konnten Krieger ihre Einflussmöglichkeiten nutzen. Davon zeugen zahlreiche Überlieferungen und Regelungen, die Strafen für subversives Verhalten Jüngerer vorsahen. Besonders in Zeiten generationeller Übergänge gab es Phasen kontrollierter Instabilität - Nduiko, welche die Neuverhandlung der Machtbereiche zuließen. Diese Phänomene weisen auf einen geregelten Generationenprozess hin, der auf Konflikte zwischen Alt und Jung reagierte und Eskalationen vermeiden sollte. Weitreichende Umwälzungsprozesse des 19. Jahrhunderts bedrohten jedoch zunehmend solche Formen der Rückbindung und dehnten die integrative Kra vorhandener Sozialstrukturen. Dem standen neben den gezeigten intergenerationellen Regulierungsmechanismen auch Bindungen an Familienverband und Gemeinscha gegenüber, die durch Ehrbeziehungen gefestigt werden konnten. Die militärischen Anführer spielten bei diesen Zusammenschlüssen eine zentrale Rolle. Erfolgreiche, bekannte und kompetente Krieger traten in den Vordergrund. Neben den Umständen, unter denen Gewalt als legitim galt, und den etablierten Gewaltroutinen, Regelungen und Ämtern wirkte sich das Verhalten in Gewaltsituationen auf den Status einer Gruppe oder einer Person aus. Daher wird im Folgenden erläutert, welcher inneren Logik von Ehre und Status der Gewaltgebrauch folgte. Gewaltkompetenz stand in einem engen Zusammenhang zur sozialen Anerkennung. Das zeigte sich an einem Bestand von Ehrenzeichen, die im Folgenden betrachtet werden. Grundlage des sozialen Status von Kriegern war die Initiation, welche den Beginn einer Lebensphase markierte, in der durch Gewalthandlungen Ehre gewonnen werden konnte. Es wird auf die Funktionen der Krieger hingewiesen und gezeigt, durch welche Mechanismen Gewalt zur gehobenen Anerkennung führen konnte. Zentrales Element dieser Mechanismen war das Ngoma als Form öffentlicher Nachstellung von Gewalthandlungen und Distinktionsmöglichkeiten für Krieger durch Noms de Guerre. Aber auch Formen 882

Vgl. Popitz: Phänomene der Macht, S. 11ff.

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öffentlicher Demütigung bei Misserfolgen werden gezeigt und auf die historische Tiefe von Ehrenzeichen hingewiesen. 4.3.3 Ehre als Regulativ. Gewalt und sozialer Status.

In der neueren Forschung wurde der Zusammenhang von Ehre und Gewalt betont⁸⁸³. Die Ehre gilt dabei als »Anrecht auf Respekt«⁸⁸⁴, das aufrecht erhalten und bestätigt, ggf. aber auch mit Gewalt verteidigt oder gewonnen werden muss. Besonders für nichtstaatliche Gesellschaen wurde das eskalatorische Potenzial der Ehre betont⁸⁸⁵. Das stellt jedoch lediglich eine Seite der Medaille dar und muss um die kontrollierenden Aspekte der kollektiven Aneignung von Ehrkonzepten ergänzt werden. Ehre und Anerkennung spielten eine wichtige Rolle für das Selbstverständnis ostafrikanischer Krieger. Johann Krapf übersetzte das Wort Cheo / Jeo sowohl mit »Position, Maßstab«⁸⁸⁶ als auch mit »Sinn für Ehre«⁸⁸⁷, was die soziale Einbettung von Ehrkonzepten bereits verdeutlicht. Teil des Selbstverständnisses junger Männer war es, die eigene Kra und das eigene Geschick für den Erwerb von Ehre einzusetzen. Gewalthaigkeit und Ehre standen im Mittelpunkt der Lebensphase junger Krieger. Mit jedem Beweis ihres Geschicks als Krieger, reflektiert in Noms de Guerre und im Rahmen von Ngoma-Tanzfesten öffentlich zur Schau gestellt, handelten sie in dem Selbstverständnis junger Männer, die als vollwertige Gemeinschasmitglieder zum Nutzen der Gemeinscha bzw. des eigenen Familienverbands beizutragen. Wie bereits gezeigt, konnte eine etablierte Gewaltökonomie zur Stabilisierung der Wirtscha beitragen. Das leitete die Gewaltpotenziale nach Außen und hegte destruktive Potenziale der Jugend ein. In den verfügbaren Quellen wird Afrikanern selten zugesprochen, einen Sinn für Ehre zu haben. Ein Blick auf die bisherige Forschung liefert ein ähnliches Bild: Das Phänomen der Ehre in afrikanischen Gesellschaen wurde bisher nur von wenigen Forschern untersucht⁸⁸⁸. Dennoch stimmen einige neuere Studien darin überein, dass die Ehre eine zentrale Rolle dabei spielte, Rang und Status zu erlangen⁸⁸⁹. Das galt besonders für die Krieger innerhalb einer Gemeinscha. Die 883

884 885

886 887 888 889

Siehe insbes. Speitkamp: Ohrfeige, Duell und Ehrenmord sowie ders.: Die Ehre der Krieger. Gewaltgemeinschaen im vorkolonialen Ostafrika, in: ders. (Hrsg.): Gewaltgemeinschaen. Von der Spätantike bis ins 20. Jahrhundert, Göttingen 2013, S. 297–317. John Iliffe: Honour in African History, Cambridge 2005, S. 4. Insbesondere Steven Pinker stellt die Ehre als anachronistisches Phänomen dar, welches immer wieder zu blutigen Konflikten führe (Siehe Pinker: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit, S. 102). Krapf: A dictionary of the Suahili language, S. 37. ebd., S. 115. Vgl. Speitkamp: Ohrfeige, Duell und Ehrenmord, S. 298. Vgl. Iliffe: Honour in African History, S. 100ff. Siehe auch: Speitkamp: Die Ehre der Krieger. Gewaltgemeinschaen im vorkolonialen Ostafrika, S. 298.

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Ehre eines Kriegers war der Ausgangspunkt für ein komplexes System verschiedener Mechanismen. Sie wirkte sich auf die Beziehung zu sich selbst und zu Anderen aus und folgte einer Nomenklatur festgelegter Symbole⁸⁹⁰. Auf die enge Verbindung zwischen Ehre und Gewalt wurde jüngst hingewiesen⁸⁹¹. Zunächst diente die Initiation als Einstieg in eine Lebensphase des Kriegertums, die vom Streben nach persönlicher Anerkennung sowie der Anerkennung der eigenen Kriegergruppe bestimmt war. Durch die Initiation wurde man gewissermaßen ehrfähig. Ehre verband die Zugehörigkeit zu Familienverband und Herkunsgemeinscha mit der Interaktion und Hierarchie innerhalb der Kriegergruppe. Gewalt und Ehre wirkten dabei auf wirtschalicher wie sozialer Ebene zusammen. Durch eine Ökonomie des Raid bekamen Kriegergruppen eine wichtige Versorgungsfunktion. Sie führten Raids durch, brachten Vieh zurück und schützten Siedlungen vor Angriffen. Max Weiß berichtete zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der wichtigen Rolle, die Krieger von ihrer Gemeinscha zugeschrieben bekamen: »Die Krieger ziehen für uns ins Feld, lassen sich erschlagen und versorgen uns mit Vieh; von ihrer Tüchtigkeit hängt der Wohlstand des ganzen Stammes ab«⁸⁹². Aus der Verknüpfung von Ehre und Gewalt ergab sich daher keineswegs eine grundsätzliche Verherrlichung von Gewalt⁸⁹³, vielmehr kreiste diese Verbindung um einen rationalen Kern. Krieger wurden in ostafrikanischen Gesellschaen gebraucht, um die Viehbestände zu verteidigen oder um sie in Notsituationen durch Raids aufzustocken. Indem die jungen Männer einer Siedlung, wie schon erwähnt, in eigenen Alterseinheiten zusammengefasst wurden, entstanden Kriegergruppen mit wirtschalichen und politischen Aufgaben⁸⁹⁴. Dadurch ergaben sich Prestige und soziale Anerkennung. Der ostafrikanische Autor Tepilit Saioti idealisiert die Rolle des Kriegers in vorkolonialen Gemeinschaen: »In the old days, warriors were like god, and women and men wanted only to be the parent of a warrior. Everything else would be taken care of as a result. When a poor family had a warrior, they ceased to be poor. e warrior would go on raids and bring cattle back. e warrior would defend the family against all odds«⁸⁹⁵. 890 891 892 893 894 895

Siehe hierzu auch: Braudel/Duby/Aymard: Die Welt des Mittelmeeres: Zur Geschichte und Geographie kultureller Lebensformen, S. 133. Speitkamp: Ohrfeige, Duell und Ehrenmord, S. 317. Weiss: Die Völkerstämme im Norden Deutsch-Ostafrikas, S. 389. Vgl. Speitkamp: Ohrfeige, Duell und Ehrenmord, S. 299. siehe z.B.: Krapf: Kurze Beschreibung der Massai, S. 440 oder Decken: Reisen in Ost-Afrika in den Jahren 1859-1865, S. 24. Saitoti: e worlds of a Maasai warrior, S. 71.

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In dieser Verbindung zwischen Kriegern und Herkunsgemeinscha wirkte die Ehre als integrativer Mechanismus, der zur Verbesserung von Rang und Status einer Person führen konnte. Das galt jedoch nicht nur für einzelne Personen, sondern auch für Gruppen von Kriegern. Dabei wirkten sich Altersorganisationen auf die Zusammenstellung der Kriegergruppen aus. So weisen Überlieferungen und protokollierte Interviews mit Elders immer wieder auf einzelne Alterseinheiten als Akteure gemeinsamer Gewaltausübung hin⁸⁹⁶. Kriegergruppen bildeten die soziale Basis für gruppenbezogene Ehrkonzepte. Im Hintergrund dieser Akteure standen Klanoberhäupter, die sich zu einem Ältestenrat zusammenschließen, über Raids entscheiden und so die Aktivitäten der Krieger kontrollieren konnten. Die Aufnahme in die Kriegerkaste beinhaltete die Teilnahme an Raids, in denen sich die jungen Krieger buchstäblich einen Namen machen konnten. Nach Abschluss des Raid wurden einzelne Krieger anhand ihrer Leistung mit Noms de Guerre belegt, die das Verhalten im Kampf reflektierten⁸⁹⁷. Grundlage dieser Namen waren besondere Taten oder Fähigkeiten des Trägers. Zudem existierte ein System von symbolischen Gegenständen und Ehrenzeichen, das die im Raub erlangten Beutetiere und -gegenstände in die symbolische Ebene überführte und somit soziales Kapital schuf⁸⁹⁸. Erfolgreiche Raids steigerten also sowohl den Viehbestand des eigenen Klans als auch das soziale Ansehen eines Kriegers innerhalb der Gemeinscha. Die durch rituelle Praxis geschaffenen Alterseinheiten der jeweiligen Krieger profitierten ebenfalls als Gruppe von erfolgreichen Raubzügen oder mussten bei Misserfolgen Einbußen im Ansehen hinnehmen. Neben der materiellen existierte somit eine symbolische Ebene, die der Gewalt einen Sinn verlieh und die Gewalthandlung auf das Ziel einer gesteigerten sozialen Akzeptanz der Akteure ausrichtete⁸⁹⁹. Ehre war das Verbindungsglied zwischen diesen Ebenen. Ein Forum für die Darstellung der während eines Raid vorgefallenen Ereignisse boten Tanzfeste (Ngoma), die u.a. der Distinktion von Kriegern dienten und für die Verbreitung von Noms de Guerre⁹⁰⁰ sorgten. Sie wurden nach der Rückkehr der Krieger aufgeführt⁹⁰¹. So beobachtete der Geologe John Walter Gregory während seiner Expedition zum Mt. Kenya und Baringo-See in den Jahren 189293 ein Ngoma. Er sprach von einer großen Anzahl von Männern und bezeichnete die Bewegungsabläufe als charakteristisch für ein »kompliziertes militärisches 896 897 898 899 900 901

»[...] we were the age-set of Kaplelach preparing to raid our cousins, Kap Kuugo (’grandfather’s family’)«, Tanui: Dying Voice. An Anthropological Novel, S. 220. Vgl. Simonse: Kings of disaster, S. 145. Siehe Chanler: rough jungle and desert, S. 246 sowie Brewin: Memories of Mrs. Rebecca Wakefield, S. 180. Vgl. Baberowski: Gewalt verstehen. Vgl. Gissibl: Die Treue“ der askari. Mythos, Ehre und Gewalt im Kontext des deutschen Ko” lonialismus in Ostafrika, S. 144. Siehe Saberwal: e traditional political system of the Embu of Central Kenya, S. 33.

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Spiel«⁹⁰². Da er den Hintergrund der Veranstaltung nicht kenne, habe er sich jedoch nicht um eine nähere Betrachtung bemüht⁹⁰³, was als charakteristisch für viele der vorhandenen Quellen gelten kann. Beobachtete »Kriegstänze« wurden meist als Folklore abgetan und als weiterer Beweis für Rückständigkeit und Atavismus der Afrikaner gedeutet. Krieger traten in den öffentlichen Raum und stellten die eigene Ehre, Fruchtbarkeit, Stärke und Männlichkeit zur Schau. Kompetenzen in der körperlichen Beherrschung von Kampechniken wurden mit Ehrenzeichen kombiniert, während die kanalisierte Gewalt des Raid in Triumphliedern besungen wurde. Die Rückbindung an die Familie des Kriegers symbolisieren Texte von Liedern, die bei der Heimkehr einer erfolgreichen Kriegergruppe von einem Raid gesungen wurden⁹⁰⁴. Der Ethnologe Günther Schlee dokumentierte den Wortlaut eines solchen Liedes: »[...] Mütter weinen, die Mütter der Feinde weinen, die Mütter der Feinde verschütten Tränen, meine Mutter, jauchze! [...]«⁹⁰⁵ Im Rahmen eines Ngoma wurden einzelne Tiere des erbeuteten Viehs geschlachtet und gemeinsam verzehrt. Als weiterer Bestandteil solcher Feste wurden Namen für die Krieger geprägt, die an der Erbeutung der Tiere beteiligt gewesen waren. Die Ehre der Krieger musste immer wieder öffentlich dargestellt und bestätigt werden⁹⁰⁶. Einzelne Krieger verkündeten in der Mitte des Versammlungsplatzes ihre Taten während des Raid, während die Frauen der Gemeinscha den Ehrennamen besangen, unter dem der Krieger fortan bekannt war. Der Reisende Hans Meyer beschrieb, wie die Taten der Krieger öffentlich zelebriert wurden: In einem Zeremoniell stellten sich die Mädchen in einer Gruppe auf und sangen im Chorgesang, während die Kriegergruppen jeweils in Dreiergruppen vor sie traten und die eigenen Fähigkeiten im Tanz ausdrückten. Dazu sprangen sie hoch in die Lu, schwangen ihre langen, in nasser, roter Erde getränkten Haare und schwangen dabei Schild und Speer - ein Zeremoniell, dass sich über mehrere Stunden erstrecken konnte⁹⁰⁷. Noms de Guerre konnten sowohl für die einzelne Person als auch für die gesamte Kriegergruppe vergeben werden und beschrieben z.B. das Erbeuten gegnerischer Waffen oder das Besiegen eines besonders großen Gegners. Während solche Namen das Ansehen eines Kriegers mehrten, gab es 902

903 904 905 906 907

»[...] rather complicated military game« (Gregory: e Great Ri Valley, S. 197), meine Übersetzung. Für ähnliche Schilderungen siehe omson: Durch Massai-Land. Forschungsreise in Ostafrika zu den Schneebergen und wilden Stämmen zwischen dem Kilima-Ndjaro und Victoria-Njansa in den Jahren 1883 und 1884, S. 385. Gregory: e Great Ri Valley, S. 197. Siehe Schlee: Zum Ursprung des Gada-Systems, S. 244. Siehe ebd., S. 245. Siehe auch: Speitkamp: Ohrfeige, Duell und Ehrenmord, S. 322. Siehe Meyer: Zum Gipfel des Kilimandscharo, S. 204f.

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ebenfalls Bezeichnungen für negatives Verhalten wie das laute Reden im Moment des Anschleichens oder der Widerspruch gegenüber dem Anführer der Gruppe. Grundsätzlich konnten sich diese Namen aber ständig verändern und Defizite im Ansehen konnten mit dem nächsten positiven Verhalten ins Gegenteil gekehrt werden. Allerdings musste Ehre ständig neu ausgehandelt werden. Solche sozialen Mechanismen zielten auf die Belohnung aggressiven Verhaltens im Kampf und Gehorsam gegenüber der Autorität⁹⁰⁸. Sie funktionalisierten Ehre und Konzeptionen von Männlichkeit und verbanden materiellen mit symbolischem Gewinn⁹⁰⁹. Beispiele für Noms de Guerre dokumentierter Kriegergruppen sind: Akupir, Kala Kupir. Jubudianj. Juryenga. Kakara. Naringa.

those [...] devouring vast numbers of their enemies’ cattle [...] those who kill all their foes. those who seek war (the fearless). those who rush into war with shouts. the Avengers (from rinj = to punish). Tabelle 2: Noms de Guerre⁹¹⁰

Das Töten nahm eine besondere Stellung ein. Einzelne Krieger erhielten sog. Killer-Names, wenn sie bei einer Gewaltaktion getötet hatten. Diese Namen enthielten o Informationen über die Kampfsituation, wie z.B. »Goromoi ’the enemy was crying’; Rumamoi: ’the enemy was caught by the hand while running away’«⁹¹¹. Die Ehre der Krieger spielte nicht nur innerhalb der Gemeinscha eine Rolle, sie strahlte auch nach Außen. Durch die Verbreitung von Killer-Names mit Hilfe von Liedern ergab sich zusätzlich eine Möglichkeit, Angriffe zu vermeiden. Lebten viele Krieger, die einen solchen Namen hatten, in einer Siedlung, konnte das potenziell Angreifer abschrecken⁹¹². Die lokale Gemeinscha reagierte ebenso auf Misserfolge. Das beinhaltete persönliche Schmähungen wie auch Provokationen in Form von Liedern, die bei der Rückkehr der Krieger von Kampandlungen gesungen wurden. Lord Claud Hamilton übersetzte den Text eines solchen Liedes aus dem Ri Valley. Der Inhalt bezieht sich auf wiederholte Auseinandersetzungen zwischen den Kriegergruppen aus Purrko und Aikipiak. Letzere drängten die Purrko-Gruppen in mehreren Raids in Richtung Süden. Als jene über die Möglichkeit berieten, erneut gewalt908 909 910 911 912

Vgl. Fadiman: When We Began, ere Were Witchmen: An Oral History from Mount Kenya, S. 99. »[...] an occasional raid or thieving expedition makes men remember that they still are men«, o.A.: Notes on Tribes of East Africa, S. 24. Vgl. Beaton: e Bari: Clan and Age-Class Systems, S. 134f. Beispiele aus dem 20. Jahrhundert siehe Simonse: Kings of disaster, S. 166f. ebd., S. 26. Vgl. ebd., S. 165ff.

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sam zu reagieren und Einige sich weigerten, wurden die Krieger von den ansässigen Frauen mit einem Schmähgesang belegt: »What, aer all, are the ’lAikipiak? [...] they are only men; they are no bigger than us and we are far smaller than you, But if you fear them, then change clothes with us and we be the warriors and you the girls«⁹¹³. Ein solcher Erfolgsdruck wirkte sowohl auf die gesamte Gruppe als auch auf einzelne Krieger. Misserfolg bei Raids und der damit verbundene wirtschaliche Verlust führten zu Ausgrenzung und Einbußen im Ansehen. Eine solche Schmähung bewegte einzelne Krieger dazu, ihre Herkunsgemeinscha zu verlassen und in anderen Gegenden Anschluss zu suchen. In Einzelfällen wurde davon berichtet, dass Krieger aufgrund der erlittenen Schande Selbstmord begingen⁹¹⁴. Andere Formen der Strafe für unehrenhaes Verhalten beinhalteten die öffentliche Demütigung einzelner Krieger, die geflohen waren und somit als Feiglinge galten. Der Missionar und Völkerkundler Wilhelm Blohm beschrieb eine Praxis, die er im Unyamwesi-Gebiet Tansanias beobachtet hatte: »Wenn einer im Kriege feige ist, meldet der Oberanführer es dem Häuptling, daß der NN, ein Feigling ist. Dann kocht die Hauptfrau des Häuptlings einen Mehlbrei und mischt unter diesen Hundemist, Milch und Medizin. Dann wir der Häuptling diesen Brei an die Erde, tritt darauf und gibt ihn dem Feigling. Dieser ißt ihn auf. Der Häuptling sagt ihm: Wenn du dich noch einmal fürchtest, kommst du nicht wieder ins Dorf, ich werde dich außerhalb ermorden lassen. Dann fürchtet sich der Feigling nicht mehr«⁹¹⁵. Im Gebiet westlich des Viktoriasees, so berichten mündliche Traditionen, wurden selbst die Leichen getöteter Krieger danach untersucht, ob sie Speere im Rücken hatten. War das der Fall, galt das als Beweis für einen Tod während der Flucht; Diese Krieger wurden nicht begraben und galten fortan als Feiglinge⁹¹⁶. Krieger, die gegen Regeln und Konventionen verstießen oder akzeptierte Grade der Gewalt überschritten, mussten entweder mit sozialer Ächtung rechnen⁹¹⁷ oder wurden einem reinigenden Ritual unterzogen. Jeffrey Fadiman berichtet von der Überlieferung eines Rituals im Meru-Gebiet, das von Kriegern absolviert werden musste, 913 914 915 916 917

Hamilton: Maasai Tales, Songs and Texts. Siehe hierzu auch: Reid: War in pre-colonial eastern Africa, S. 157. Vgl. o.A.: Nandi Customary Law, S. 37. Blohm: Die Nyamwezi, S. 62, Hervorhebung im Original. Siehe Ayot: Historical texts of the lake region of the East Africa, S. 32. Vgl. Fischer: Bericht über die im Aurage der Geographischen Gesellscha in Hamburg unternommene Reise in das Massai-Land, S. 71 sowie Hamilton: Maasai Tales, Songs and Texts.

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die während eines Kampfes getötet hatten. Dies bedeutete einen Zustand der Unreinheit (Mugiro), der mittels einer Strafzahlung beglichen werden musste und in dem der Delinquent in sozialer Isolation lebte, bis die Strafe gezahlt war. Besonders das Töten galt dabei als Eskalation, die als potenzielle Gefahr für die Gemeinscha angesehen wurde⁹¹⁸. Soziale Ächtung und Sanktionen stehen für eine weitere Facette eines Bemühens, die Gewalt zu kontrollieren, einzuhegen bzw. sie zu kanalisieren. Der Kontext der Gewalt prägte somit ihre Interpretation und wirkte sich auf Vorstellungen von Legitimität aus. Die gemeinsam verbrachte Zeit von jungen Männern im Rahmen von Raids bot ein Forum für individuelle Sonderleistungen. Konkurrenz innerhalb der Kriegergruppen, verbunden mit Ehre, Stolz, Eifersucht und Neid wirkten auf Agressivität und Gewalthaigkeit ein⁹¹⁹. Besonders tapfere Krieger, Gruppenmitglieder mit großen taktischen Fähigkeiten, konnten sich durch entsprechende Leistungen profilieren, Führungspersönlichkeiten konnten sich entsprechend entfalten. Dies war eine Basis für die spätere Verteilung von Autoritätspositionen; persönliche Kompetenzen hinsichtlich sozialer und politischer Verantwortung konnten im Rahmen der Kriegergruppe erprobt werden. Als Ausdruck für Ehre wurde eine Nomenklatur von Ehrenzeichen und eine Körperpraxis (Christopher Bayly⁹²⁰) genutzt. So trugen junge Krieger einen bestimmten Haarschnitt, der mit erfolgreichem Gebrauch von Gewalt in Verbindung stand. Hierbei wurde ein großer Teil des Kopaares rasiert, so dass nur noch ein Haarbüschel zentral über der Stirn übrig blieb. Der abessinische Mönch Bahrey berichtete von einem solchen Phänomen bereits im frühen 17. Jahrhundert: »[...] they dress their hair like soldiers, and their style of hairdressing is called kalala, if they kill a man, an elephant, a lion, a rhinoceros, or a buffalo, they shave the heads leaving a patch of hair on the top. But those who have killed neither man nor animal do not shave their heads [...]«⁹²¹. Bei der Darstellung von Rang und Ehre ergaben sich Bezüge zu den Initiationsriten, die eine Reihe von Aspekten der Identitätsbildung eingeführt hatten und in der Lebensphase des Kriegertums ausgeweitet wurden. Fruchtbarkeit und Ehre standen als zentrale Aspekte der Sinngebung von Gewalt im Vordergrund. Der Bezug auf diese Werte wurder immer wieder erneuert und wiederholt. Anhand von Ehrenzeichen, die an individuelle Leistungen gebunden waren, bildeten sich 918

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Vgl. Fadiman: When We Began, ere Were Witchmen: An Oral History from Mount Kenya, S. 98 sowie Ayot: Historical texts of the lake region of the East Africa, S. 295 und Simonse: Kings of disaster, S. 152. Vgl. Galaty: Maasai Expansion & the New East African Pastoralism, S. 79f. Bayly: Die Geburt der Modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780-1914, S. 28. Bahrey: History of the Galla, S. 126f. Für spätere Belege siehe Baxter: Boran Age-Sets and Generation-Sets: Gada, a Puzzle or a Maze?, S. 171.

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Hierarchien und Ordnungen innerhalb der einzelnen Kriegergruppen ab. Die Tötung eines Tieres oder der Raub von Vieh waren Beweise der eigenen Kompetenz, das Tragen von Genitaltrophäen symbolisierte den Erfolg und die Fruchtbarkeit eines Kriegers. Zur Schau stellen der eigenen Fruchtbarkeit, aber auch der Raub der Fruchtbarkeit Anderer, standen bei dieser Demonstration von Männlichkeit im Mittelpunkt. Besiegten Gegnern wurden nach dem Kampf o die Geschlechtsteile abgeschnitten und als Trophäe mitgeführt⁹²². Erfolgreiche Raids zahlten sich nicht nur ökonomisch für eine Gemeinscha und den Besitz einzelner Klans aus. Sie konnten für ein gesteigertes Prestige der Kriegergruppen ebenso sorgen wie für die physische Reproduktion der Krieger, die neben Vieh auch Frauen mitgeführt hatten⁹²³. Durch die gewaltsame Integration von Frauen anderer Siedlungen konnte die Notwendigkeit umgangen werden, eine Abgabe an deren Familienverband zu zahlen. Zudem stärkte dies die Strukturen der eigenen Familie und ermöglichte die Zeugung von Kindern. Die Logik der Raids erforderte es, dass Krieger Gewalt zweckrational einsetzten, um Vieh für eine Hochzeit zu gewinnen oder eine Frau zu entführen. Beides repräsentiert die Verbindung zwischen Kriegern und Herkunsgemeinscha, die sich durch Gewalt ausformte und stärken konnte. Durch regelmäßige Ngoma-Veranstaltungen nahm die Gemeinscha an den Taten der Krieger teil und feierte erfolgreiche Raids. Die Gewalt wurde in diesem Rahmen imitiert und zur Schau gestellt, was o auch offene Machtdemonstrationen durch das Zurschaustellen der Köpfe besiegter Gegner beinhalten konnte: »Bei der Heimkehr ist großer Tanz mit Bogen und Lanzen, wobei sie sich damit belustigen, in die Ohren der den Besiegten abgeschlagenen Köpfe zu stechen«⁹²⁴. Die Ästhetik des Kriegertums beinhaltete Distinktion durch Verzierung des Körpers, Gesang und Tanz, öffentliches Ansehen und Repräsentation durch Trophäen und Abzeichen. Hintergrund waren Männlichkeits- und Ehrvorstellungen, die von der Gewaltpraxis direkt abhängig waren. Sie beeinflussten das Verhältnis der Krieger zu sich selbst sowie zum Rest der Gemeinscha und boten Mechanismen 922

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Siehe Baxter/Almagor (Hrsg.): Age, Generation and Time: some features of East African age organisations, S. 10 sowie Kurimoto (Hrsg.): Conflict, Age and Power. Age Systems in Transition, S. 12 und Haberland: Das Gada-System der südwest-abessinischen Völker, S. 143. Vgl. Stanley/Karsten: e Luwa System of the Garbicco subtribe of the Sidama (Southern Ethiopia) as a special case of an age set system, S. 97 sowie Kurimoto (Hrsg.): Conflict, Age and Power. Age Systems in Transition, S. 12 und Schlee: Zum Ursprung des Gada-Systems, S. 243. Zur Rolle der Exogamie im Zusammenhang mit einer hohen persönlichen Mobilität in vorkolonialen Gemeinschaen Afrikas siehe Jan Vansina: Population movements and emergence of new socio-political forms in Africa, in: B. A. Ogot (Hrsg.): UNESCO General History of Africa, Vol. V.: Africa from the Sixteenth to the Eighteenth Century, 1999, S. 51. o.A.: BArch R 1001 / Bd. 4999 Deutsch-Ostafrika.

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zur Integration junger Krieger. Durch das Erlernen von Gewaltpraktiken ergaben sich Möglichkeiten und Kompetenzen für die zweckrational umgesetzte Gewalt im Rahmen von Raids, welcher wiederum eine Resonanz innerhalb der Gemeinscha hatte. Im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit bildeten sich Legenden, Lieder und Mythen über Krieger, die zu einem großen Bestand von Kriegertraditionen führten. Dieser Bestand wurde ständig lebendig gehalten und im Rahmen aktueller Auseinandersetzungen genutzt. Persönlicher Ruhm und Ehre bildeten ebenfalls eine Basis für den Einfluss eines Kriegers und dessen Prestige innerhalb einer Gemeinscha. Dadurch ergab sich eine Anziehungskra des Kriegertums für Jugendliche sowie eine Basis für einen gehobenen sozialen Status von älteren Kriegern⁹²⁵. Solche Mechanismen von Ehre und Anerkennung sorgten für Standards und die eindeutige Zuweisung gesellschalicher Positionen. Dadurch gaben sie den Gewalthandlungen eine Ordnung vor und trugen zur Einhegung der Gewalt bei. Die Ehre war darüber hinaus auch im Zusammenhang mit exzessiver Gewalt von Bedeutung. So wurde das Töten als potenzielle Gefahr für die Gesellscha angesehen, die durch elaborierte Mittel zu kontrollieren sei. Das belegen zahlreiche Hinweise auf Reinigungsrituale, die den Krieger von der Schuld des Tötens befreien und ihn wieder in die Gemeinscha integrieren sollten⁹²⁶. Die Ehre hatte also konfliktfördernde wie regulierende Facetten. Einerseits gaben Ehrkonzepte Wege zur gesellschalichen Anerkennung vor, die auch Gewaltnutzung beinhalten konnten, andererseits enthielten sie auch Strafen für Exzesse und die Missachtung von Konventionen. Beides überformte die Gewaltpraxis und gab Handlungsrichtlinien vor. Im bisherigen Teil der Untersuchung ging es um etablierte Möglichkeiten und Mechanismen, die Gewalt einzuhegen, sie zu begrenzen und in vorgegebene Bahnen zu lenken. In der Sphäre der lokalen Gemeinscha wurde sie streng reglementiert und in kulturell überformte Kontexte wie Initiations- und Transitionsriten eingebunden. In der Interaktion zwischen definierten sozialen Einheiten wie Altersklassen und Generationeneinheiten war Gewalt streng in den sozialen Raum eingepasst⁹²⁷. Im Hinblick auf unterschiedliche Gewaltakteure innerhalb ostafrikanischer Gesellschaen erscheinen keine klaren, statischen Machtverhältnisse, allenfalls traditionelle Einflusssphären, aus denen ein komplexes und flexibles Geflecht zwischen den Generationen entstand. Dennoch lag gerade in dieser Flexibilität die Stabilität dieser Verhältnisse, sofern sich die Rahmenbedingungen nicht grundlegend veränderten. Das 19. Jahrhundert gilt jedoch sowohl im 925 926 927

Vgl. Galaty: Maasai Expansion & the New East African Pastoralism, S. 9f. Siehe z.B. Simonse: Kings of disaster, S. 152 und Ayot: Historical texts of the lake region of the East Africa, S. 295. Trotha: Koloniale Herrscha, S. 296. Siehe auch: Ellerbrock: Generation Browning. Überlegungen zu einem praxeologischen Generationenkonzept, S. 20.

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Hinblick auf gesellschaliche Veränderungen als auch mit Bezug auf die Gewalt als eine von tiefgreifender Umwälzung charakterisierte Zeitepoche. Die ostafrikanische Bevölkerung wurde mit stark veränderten Rahmenbedingungen konfrontiert. Dabei treten besonders Veränderungen in der Gewaltpraxis in den Vordergrund. Die folgenden Betrachtungen orientieren sich am Ziel, die einzelnen Faktoren der veränderten Gewalt und ihre Auswirkungen auf das Handeln der Bevölkerung Ostafrikas mit Blick auf das Transformationspotenzial der Gewalt im gesellschalichen Prozess zu identifizieren.

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5.1 Eine gewaltsame Zeit? Das 19. Jahrhundert wird als gewalthae Übergangsepoche zum Kolonialismus angesehen. Ausgangspunkt dieser Sichtweise sind Überlieferungen, die Ostafrika als Umgebung schilderten, die von Bedrohung, Unsicherheit und extremer Gewalt geprägt war. Welche Hauptmerkmale machen diese Charakterisierung aus? Welcher Perspektive unterliegt sie und auf welchen Annahmen basieren die Schilderungen? Zur Beantwortung dieser Fragen lohnt es sich, einen Blick auf die Gewaltphänomene zu richten und die Kontexte herauszuarbeiten, die für eine gesteigerte Gewalterfahrung stehen können. Dabei wird zunächst der expandierende Handel als zentraler Aspekt eines grundlegenden Transformationsprozesses in den Blick genommen, der Ostafrika erfasste und für das Auommen neuer Netzwerke, Migrationen, Begegnungen und nicht zuletzt auch für Gewalt sorgte. Die soziale Basis ostafrikanischer Gemeinschaen wurde in weiten Teilen des Gebietes durch Sklavenhandel, Migration und Gewalt destabilisiert. Eine große Anzahl neuer materieller und kultureller Einflüsse strömte nach Ostafrika ein und stellte bestehende Ordnungen teilweise in Frage. Inmitten dieser allgemeinen Unsicherheit bekamen Gewalt und Gewaltandrohung eine gesteigerte Bedeutung. Dabei entstanden neue soziale Formationen, die auf kollektiver Gewaltnutzung basierten. Diese Akteure werden dargestellt und deren Handlungslogiken inmitten der veränderten historischen Umgebung erläutert. Grundlage sind verbreitete und veränderte Gewaltphänomene, welche sich in der Überlieferung finden: »Auf meilenweiten Strecken stets dasselbe Bild der Verwüstung! Endlich treffen die Europäer mit einigen verstörten Eingeborenen zusammen und erhalten Kunde von den Ereignissen, die sich hier in den letzten Jahren abgespielt haben. Ein alter Mann berichtete [...] die Geschichte des Jammers und der Trauer. Er beschrieb, wie sein Dorf plötzlich und unerwartet in der Dunkelheit von einer Bande heulender, springender Männer angegriffen und überfallen worden sei, welche ihre Ohren mit mörderischem Schiessen betäubt und die Leute,

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welche aus den brennenden Hütten ins Licht der Flammen gestürzt seien, niedergemetzelt hätten«⁹²⁸. So beschrieb der Autor Stanislaus von Jezewski unter seinem Pseudoym Carl Falkenhorst die von Gewalt geprägte Umgebung Ostafrikas⁹²⁹. Bei seiner Darstellung stützte er sich auf eine Reihe von Vorlagen: Ebenso wie Missionare in Briefen, Tagebüchern und publizierten Reiseberichten von verstörenden Gewalterlebnissen schrieben, zeigt sich in den Zeugnissen von Reisenden, Händlern, Forschern und Kolonialbeamten ein Klima der Unsicherheit und der entgrenzten Gewalt. Unerwartetes, Fremdes und Unvorhersehbares scheint in diesen Berichten allgegenwärtig. Welchen Aussagewert haben diese Quellen aus einer Feder, die einen externen Blick repräsentieren? Fußten die bedrohlichen Vorstellungen auf den Ängsten genährt von einer fremden Umgebung, eines feindlichen Klimas und konfrontiert mit einer Bevölkerung, deren Sprachen den meisten externen Beobachtern unbekannt war? Vieles scheint dafür zu sprechen. Hinzu kam der psychische Zustand, in dem sich die Beobachter befanden, als sie in Kontakt mit afrikanischen Gemeinschaen traten. Meist war die Wahrnehmung geprägt von »[...] extreme(r) Müdigkeit, Furcht und Größenwahn sowie durch Gefühle, die von Zorn bis Verachtung reichten [...]«⁹³⁰ O knüpen die Berichterstatter ihr Urteil über die Gewalterfahrungen an Vorstellungen von Barbarei und »Unzivilisierbarkeit« der Afrikaner. So erschienen externen Beobachtern auch Gewaltphänomene, die sich im Rahmen etablierter und regulierter Gewaltnutzung abspielten, als unkontrolliert und entgrenzt: Die Wahrnehmung ostafrikanischer Gewaltpraktiken, die von schnellen, überraschenden Raid-Attacken kleiner Kriegergruppen geprägt waren, welche Dörfer und Karawanen aus dem Hinterhalt überfielen⁹³¹, wurde vor dem Hintergrund etablierter Vorurteile gedeutet. Berichte von »kriegerischen Stämmen« waren Legion und auch die kursierenden Gerüchte über Gewaltexzesse verursachten Angst und Verunsicherung. Hinzu kam die aggressive Attitüde ostafrikanischer Krieger, die ihr kulturell überformtes Rollenverständnis als Gewaltelite spiegelte: Sie traten rebellisch und aggressiv auf, was der traditionellen Art der Kriegerrepräsentation im Rahmen von Ngoma-Tanzfesten entsprach. Was als Inszenierung der eigenen Kompetenz im Rahmen ostafrikanischer Kriegerkulturen etabliert war und somit als normal galt, erschien fremden Beobachtern brutal und

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Falkenhorst: Schwarze Fürsten. Bilder aus der Geschichte des dunklen Erdteils, S. 58. Siehe auch: Heinrich Pleticha: Carl Falkenhorst. In: Friedrich Schegk/Heinrich Wimmer (Hrsg.): Lexikon der Reise- und Abenteuerliteratur, Meitingen 1988, S. 1988 ff. Johannes Fabian: Im Tropenfieber. Wissenscha und Wahn in der Erforschung Zentralafrikas, hrsg. v. Martin Pfeiffer, München 2001, S. 17f. Siehe hierzu auch: Rockel: Carriers of Culture. Labor on the Road in Nineteenth-Century East Africa, S. 132.

Eine gewaltsame Zeit?

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unkontrolliert⁹³². Westliche Vorstellungen von »afrikanischer Wildheit« passten zu diesen Erscheinungen und boten ein bekanntes Erklärungsmuster an. Hinzu kam ein Selbstverständnis von legitimer und illegitimer Gewaltnutzung, das vor einem europäischen Denk- und Erfahrungshorizont ausgeprägt war und nicht mit dem Beobachteten zu vereinbaren schien. Pläne von Unterdrückung der Raids und der sog. »Zivilisierung« der Afrikaner durch Kolonialmacht und Mission schöpen ihre Legitimation zu großen Teilen aus Beschreibungen dieser Gewaltphänomene. Zusätzlich sorgte die auommende Antisklavereibewegung für ein gesteigertes Bewusstsein in der Öffentlichkeit und leistete den Vorstellungen eines dringend notwendigen Eingreifens weiter Vorschub⁹³³ All dies führte zu dramatisierten Schilderungen von Grausamkeiten vor dem Hintergrund, eine nach westlichem Idealtypus ordnende Kra zu installieren. Im Hinblick auf die Gewalt beeinflusste der Gedanke der Schaffung einer zentralen Autorität, die staatliche Strukturen und ein Gewaltmonopol etablieren werde⁹³⁴, die Deutung des 19. Jahrhunderts. Charakterisierungen dieses Zeitrahmens als gewaltsame Übergangsepoche tragen diesen Aspekten Rechnung und betonen die Kolonialisierung bereits bei der Analyse eines historischen Rahmens, in dem diese Zukun noch offen war⁹³⁵. In zahlreichen Überieferungen erscheint die Zentralgewalt als Wunschvorstellung, die der wahrgenommenen Gewalt ein Deutungsmuster unterlegte. Vieles scheint also wie eine Mischung aus Fehlinterpretationen und übergestülpter, vorgeformter Deutung afrikanischer Gemeinschaen durch den verzerrenden Blick externer Beobachter. Dies wiederum resultiert in einem »(Erschaffen) des Anderen«⁹³⁶, das sich weit von der Selbstwahrnehmung der Afrikaner entfernt hat. Schilderungen von Gewalt muten daher o drastisch an und sind umstritten. Die Vermutung eines hohen Auommens an Gewalt im ostafrikanischen Raum wurde gar als kolonialer Mythos bezeichnet⁹³⁷. Ein Blick auf die Gewaltphänomene selbst ermöglicht es, den Wahrnehmungen der externen Beobachter eine relativierende Perspektive hinzuzufügen. Vor dem Hintergrund »(kultureller) Normalisierung der Gewalt«⁹³⁸, wie sie im Rahmen etablierter Kriegerkulturen anzutreffen war, lassen sich zudem Formen illegitimer 932 933

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Siehe z.B. die Beschreibungen der Missionarin Rebecca Wakefield, siehe Brewin: Memories of Mrs. Rebecca Wakefield, S. 142f. Siehe Horst Gründer: Christliche Heilsbotscha und weltliche Macht. Studien zum Verhältnis von Mission und Kolonialismus ; gesammelte Aufsätze, hrsg. v. Franz-Joseph Post, 2004, S. 175ff. Vgl. Knöbl: Imperiale Herrscha und Gewalt, S. 35ff. Siehe hierzu auch: Reid: Past and Presentism: e ’Precolonial’ and the Foreshortening of African History. Fabian: Im Tropenfieber, S. 364. Vgl. Koponen: War, Famine, and Pestilence in Late Precolonial Tanzania: A Case for a Heightened Mortality, S. 648. Vgl. Trotha: Zur Soziologie der Gewalt, S. 34.

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Gewaltausübung von legitimem Gewaltgebrauch trennen und Grenzüberschreitungen identifizieren. Manche Quellen aus dem Bereich dokumentierter mündlicher Traditionen sowie die Überlieferung früher Völkerkundler lassen solch eine andere Blickrichtung zu und spiegeln auch die Erfahrung der indigenen Bevölkerung. Dass europäische Reisende, Missionare und Forscher eine Umgebung ohne erkennbare staatliche Zentralgewalt als unsicher und gefährlich erachteten, ist aus genannten Gründen nicht weiter verwunderlich. Doch auch indigene Zeugnisse mündlicher Überlieferung über das 19. Jahrhundert weisen sowohl auf Exzesse der Gewalt als auch auf die besondere Wichtigkeit der Fähigkeit zur Verteidigung angesichts häufiger Überfälle hin⁹³⁹. Berichte über gewalthae Auseinandersetzungen prägten die Erinnerungskultur der ostafrikanischen Bevölkerung für diese Zeit⁹⁴⁰. So wurde im Raum Tanzanias die Beschreibung Nguvu kwa Nguvu⁹⁴¹ überliefert, die besonders die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte des Jahrhunderts spiegelt. Der ostafrikanische Historiker und Geschichtenerzähler Latigo berichtete von der als ungewöhnlich hoch angesehenen Zahl von 29 lokalen Auseinandersetzungen im Acholi-Gebiet Kenyas zwischen 1870 und 1910, die von Raids und den daraus resultierenden Racheakten geprägt waren⁹⁴². Auch für andere Gebiete Ostafrikas existieren mündliche Traditionen, welche die Gewalt in der zweiten Häle des 19. Jahrhunderts besonders betonen⁹⁴³. Der bekannte Elfenbeinund Sklavenhändler Hamed Ben-Mohamed El-Murjebi, genannt Tippu Tip, charakterisierte die Bedingungen in ostafrikanischen Handelsnetzwerken und betonte, dass derjenige selbst Schuld sei, der »die Kunst des Krieges nicht beherrscht«⁹⁴⁴. In seiner Autobiographie schilderte er immer wieder gewaltsame Begegnungen, die er bei seinen Reisen zwischen 1849 und 1891 erlebt hatte⁹⁴⁵. Die Analyse dieser Überlieferungen erlaubt einen differenzierteren Blick auf eine Zeit, die auch von den Ostafrikanern als unsicher und von tiefgreifendem Wandel erfasst beschrieben wurde. Auch in der Forschung wurde ein hohes Gewaltauommen betont. Der finnische Historiker Juhani Koponen untersuchte die Be939 940 941 942

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Vgl. Ambler: Kenyan communities in the age of imperialism, S. 13. Vgl. Reid: War in pre-colonial eastern Africa, S. 15. »force vs. force «, Mann: Mikono ya damu, S. 93. Vgl. Okumu: e Genres of Acoli Oral Literature, Vol. one, Analysis and Evaluation, S. 62. Für andere Gebiete Ostafrikas siehe z.B. Odongo/Webster: e Central Lwo During the Aconya, S. 391 sowie Spear: e Kaya Complex, S. 115, Krapf: A dictionary of the Suahili language, S. 4, ebd., S. 361 und Ayot: Historical texts of the lake region of the East Africa, S. 12. Siehe Shah: Some Masai Customs and Beliefs. Oral Interviews collected in 1966, Sigei: Some Customs of the Elgeyo Chepkorio, Tarus: An Outline of the Keiyo people from c.A.D. 1700 to 1919, Steve O. Wandera: e State in pre-colonial east Africa: a discussion of Nkore c.15001850, Shambaa c.1700-1875 and Urambo c.1860-1884, Magisterarb., University of Nairobi, 1981 sowie Jackson: e Dimensions of Kamba Pre-Colonial History, S. 177ff. »Ne me blâmez pas, mais blâmez-vous vous-mêmes [...]. Qu’il en soit aussi à celui qui ne s’y connaît pas dans l’art de la guerre« (Bontinck: L’autobiographie de Hamed ben Mohammed el-Murjebi, Tippo Tip (ca. 1840-1905), S. 45), meine Übersetzung. Siehe z.B. ebd., S. 49, 51, 53f., 55, 57f., 61, 66, 71, 91, 93, 115, 116 und 118.

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völkerungsentwicklung Ostafrikas im 19. Jahrhundert und identifizierte Seuchen, Kriege und Hungersnöte als Faktoren einer sinkenden Lebenserwartung. Er konstatiert für diese Zeitperiode ein stark gesteigertes Gewaltauommen, das zwar regional unterschiedlich ausgeprägt war, sich aber durchgehend belegen lässt⁹⁴⁶ Welche waren die Grundbedingungen und Voraussetzungen dieser gesteigerten Gewalthaigkeit und mit welchen Phänomenen wurde die Gewaltintensivierung in Verbindung gebracht? Die markanteste Facette des Handels als Einwirkung auf die Gewaltpraxis war die Verbreitung von Schusswaffen. Deren Auommen spiegelte sich in eigenständigen Wortschöpfungen und Spezialwortschätzen ostafrikanischer Sprachen⁹⁴⁷. Während Waffen wie Speere und Macheten bereits im frühen 19. Jahrhundert ein etabliertes Handelsgut auf regionaler Ebene darstellten⁹⁴⁸, waren Schusswaffen eine Neuerung mit Folgen auf verschiedenen Ebenen: sie hatten »[...] kulturelle, politische, psychologische und selbstverständlich taktische [...]«⁹⁴⁹ Funktionen. Wie Reinhard Klein-Arendt feststellte, werden Schusswaffen in der ostafrikanischen Erinnerungskultur »[...] häufig eine herausragende gesellschaliche Rolle zugewiesen, die sich nicht auf militärische Aspekte oder die Anwendung physischer Gewalt beschränkt«⁹⁵⁰. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Während des 19. Jahrhunderts stieg die Verbreitung von Feuerwaffen vor allem in den letzten drei Jahrzehnten rapide an. In den 1820er und -30 Jahren waren nur selten Gewehre als Geschenke für lokale Machthaber übergeben worden, wohingegen sich seit den 1850er Jahren zunehmend auch Fachleute für die Reparatur von Schusswaffen auf Handelsstützpunkten antreffen ließen⁹⁵¹, was auf eine stärkere Verbreitung schließen lässt. Ferner begannen traditionelle Schmieden im Laufe des 19. Jahrhunderts, sich auf die Reparatur von Schusswaffen zu spezialisieren oder gar eigene Gewehre herzustellen⁹⁵². Durch ihre Nähe zu wichtigen Knotenpunkten ostafrikanischer Handelsnetzwerke kamen einzelne Gruppen im Hinterland bereits um die 1830er Jahre zu Schusswaffen und Schießpulver⁹⁵³, es dauerte jedoch noch bis zum Beginn der 1870er Jahre, bis Kriegergruppen häufig Schusswaffen dauerha nutzten und sich eine gewisse Expertise im Umgang mit ihnen 946 947 948 949 950 951 952 953

Vgl. Koponen: War, Famine, and Pestilence in Late Precolonial Tanzania: A Case for a Heightened Mortality, S. 651ff. Vgl. Klein-Arendt: Vielfältige Erinnerung, zwiespältige Erinnerung. Feuerwaffen im vorkolonialen Ostafrika, S. 61f. Vgl. Reid: War in pre-colonial eastern Africa, S. 45. »[...] cultural, political, psychological and of course tactical [...]« (ebd., S. 46), meine Übersetzung. Klein-Arendt: Vielfältige Erinnerung, zwiespältige Erinnerung. Feuerwaffen im vorkolonialen Ostafrika, S. 38. Vgl. Falkenhorst: Schwarze Fürsten. Bilder aus der Geschichte des dunklen Erdteils, S. 57. Siehe Klein-Arendt: Vielfältige Erinnerung, zwiespältige Erinnerung. Feuerwaffen im vorkolonialen Ostafrika, S. 43. Siehe ebd., S. 45.

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etabliert hatte. In den 1880er Jahren schließlich stieg die Verbreitung und Nutzung von Schusswaffen besonders im zentralen Tanzania rapide an⁹⁵⁴ Als Resultat von Veränderungen in der Waffentechnik waren europäische Armeen in den 1870er Jahren mit neuen Waffen ausgestattet worden und die Restbestände fanden ihren Weg nach Ostafrika. Ende der 1880er Jahre kalkulierte das britische Generalkonsulat in Sansibar eine jährliche Einfuhr von ca. 100.000 Schusswaffen⁹⁵⁵. Hinzu kamen die Waffen aus den südlichen Handelsrouten ab Delagoa Bay sowie die Importe aus nördlichen Regionen wie dem Sudan über Karthoum⁹⁵⁶. Der ostafrikanische Waffenhandel übte einen großen Reiz auf Opportunisten und Abenteurer aus. So entschloss sich auch der französische Poet Jean-Arthur Rimbaud in den 1880er Jahren, dort als Waffen- und Kaffeehändler tätig zu werden⁹⁵⁷. Der expandierende Handel mit Feuerwaffen ging so weit, dass auch schlecht erhaltene und minderwertige Exemplare ihren Weg nach Ostafrika fanden. Diese als trade guns bezeichneten Schießprügel wurden mit Farbe überzogen oder anderweitig optisch aufgewertet. Auch solch billige Massenware ließ sich außerordentlich gut verkaufen, freilich waren diese rostigen Gewehre mit verzogenen Läufen o für den Schützen gefährlicher als für sein potenzielles Ziel⁹⁵⁸. Neben dem Gewaltpotenzial, welches sich aus der erhöhten Waffeneinfuhr ergab, war die Ausweitung des Handels selbst o mit Gewalt verbunden. Die entstehenden Handelsstützpunkte wurden zu Kommunikations- und Machtzentren, welche die soziopolitische Landkarte Ostafrikas stark veränderten. Gewalt spielte bei der Gründung und Erhaltung von Handelsstützpunkten von Beginn an eine zentrale Rolle. Bereits der erste bekannte Stützpunkt im zentralen Tansania, Kigandu in Usukuma, musste im Jahr 1852 nach zehn Jahren aufgrund anhaltender Kampandlungen aufgegeben werden. Eine Tagesreise südlich wurde stattdessen die Siedlung Tabora (Kazeh) gegründet, die sich in der Zeit nach 1859 zu einem maßgeblichen Handelszentrum Ostafrikas entwickelte⁹⁵⁹ Nicht nur die Ansiedlung fremder Menschen, im Fall von Tabora Mitte des 19. Jahrhunderts ca. 15001600 Personen⁹⁶⁰, sondern auch die Gegebenheiten des Handels selbst wirkten sich auf die lokale Bevölkerung aus. Es kamen gewaltsame Konflikte auf, die sich um Ressourcen wie Wasserquellen, die Erzeugnisse lokaler Produktion oder die 954 955

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Siehe Reid: War in pre-colonial eastern Africa, S. 50f. Vgl. Beachey: e Arms Trade in East Africa in the Late Nineteenth Century, S. 453. Siehe auch Klein-Arendt: Vielfältige Erinnerung, zwiespältige Erinnerung. Feuerwaffen im vorkolonialen Ostafrika, S. 39. Vgl. Beachey: e Arms Trade in East Africa in the Late Nineteenth Century, S. 454. Frank Wanning: Französische Literatur des 19. Jahrhunderts, Barcelona [u.a.] 2006, S. 150. Vgl. Klein-Arendt: Vielfältige Erinnerung, zwiespältige Erinnerung. Feuerwaffen im vorkolonialen Ostafrika, S. 41. Vgl. Hahner-Herzog: Tippu Tip und der Elfenbeinhandel in Ost- und Zentralafrika im 19. Jahrhundert, S. 35ff. Vgl. ebd., S. 37.

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Kontrolle von Handelswegen drehten⁹⁶¹. Auf diese Weise entstanden Korridore gesteigerter und exzessiver Gewalt, die mit dem Phänomen expandierenden Handels verflochten waren⁹⁶². Hinzu kamen gewaltsame Übergriffe bewaffneter Karawanen auf die ansässige Bevölkerung, sei es zur Entführung von Sklaven oder zum Raub von Lebensmitteln oder Vieh⁹⁶³. Neben dem Handel wirkten sich umfassende Migrationsbewegungen auf die Gewaltpraxis aus. Hierbei sind zunächst jene zu nennen, die besonders die südlichen Gebiete des heutigen Tanzania erfassten. Bis dorthin gelangten die Ausläufer eines im südöstlichen Afrika als Mfecane (»Zerschlagung«⁹⁶⁴) belegten Phänomens, das für einen Anstieg der Gewalt ab dem Ende des 18. Jahrhunderts steht. Der Ausmaß dieses Phänomens wurde in der Forschung zwar als unterschiedlich stark angesehen, es herrscht jedoch Konsens darüber, dass die Auswirkungen des mfecane den südöstlichen Raum Afrikas tiefgreifend veränderten⁹⁶⁵: Als Folge steigender Bevölkerungsdichte, Landknappheit und Gewalt fanden weitreichende Bevölkerungsverschiebungen statt, die sich bis in den Raum des heutigen Südtanzania auswirkten⁹⁶⁶. In diese Gebiete wanderten Gruppen von Süden her ein, die unter den Namen Ngoni, Wangoni bzw. Watuta bekannt wurden⁹⁶⁷. In den Quellen wie in der Forschung wurden sie als »warlike people« angesehen, die durch eine straffe militärische Ordnung, reformierte Waffentechnik und aggressive Gewalttaten charakterisiert seien⁹⁶⁸. Die ursprünglich im südlichen Afrika geführten Konflikte um stark eingeschränkte Ressourcen hatten bereits in den Kerngebieten des mfecane zu dauerhaen Konflikten, der Absorption kleiner Gemeinschaen und deren Eingliederung in zentralisiertere und stärker militarisierte Strukturen geführt⁹⁶⁹. Nach den Jahren 1816 - 1819, die als Hochphase des mfecane angesehen wurde⁹⁷⁰, setzten sich Gruppen in Bewegung, welche diese Erfahrungen nutzbar machten. Mit ihrer Migration adaptierten sie die Strategien gewaltsamer Selbsthilfe und der Zwangseingliederung von gefangen genommenen Personen, 961 962 963 964 965 966 967

968

969 970

Vgl. Reid: War in pre-colonial eastern Africa, S. 108. Vgl. ebd., S. 109. Siehe auch: Koponen: War, Famine, and Pestilence in Late Precolonial Tanzania: A Case for a Heightened Mortality, S. 652f. Vgl. Reid: A history of modern Africa, S. 67. Vgl. ebd., S. 67. Vgl. Okoth: A History of Africa. Volume 1: African Societies and the Establishment of Colonial Rule, 1800-1914, S. 245ff. Siehe Ronald J. Harvey: Mirambo ’Napolean of Central Africa’, in: Tanganyika Notes and Records 28 (1950), S. 11 sowie Hahner-Herzog: Tippu Tip und der Elfenbeinhandel in Ost- und Zentralafrika im 19. Jahrhundert, S. 118 und Beverly Brock: e Nyiha (of Mbozi), in: Andrew Roberts (Hrsg.): Tanzania before 1900, Nairobi 1968, S. 59–81, hier S. 68f. Siehe Koponen: People and production in late precolonial Tanzania, S. 76f. sowie Mann: Mikono ya damu, S. 144. Siehe auch: Wilhelm Langheld: Zwanzig Jahre in deutschen Kolonien, Berlin 1909, S. 59. Vgl. Reid: A history of modern Africa, S. 67. Vgl. ebd., S. 67.

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so dass die Größe der als Ngoni bezeichneten Gruppen wuchs und bei Eintreffen dieser Gruppen im Süden Tanzanias einen bedeutenden Faktor darstellten⁹⁷¹. Im ostafrikanischen Raum waren die Folgen kultureller und ökonomischer Veränderungen eng mit der Sphäre der Gewalt verflochten. Durch den diversifizierten Handel und besonders die Einfuhr von Schusswaffen veränderte sich die Rolle der Gewalt und das Selbstverständnis derer, die sie ausübten. Dabei veränderte sich die soziokulturelle Einbettung der Gewalt ebenso wie deren kulturelle Überformung und die Bindung an Autoritäts- und Machtverhältnisse. Neue Formationen entstanden, bestehende Strukturen veränderten sich. Dabei wurde o die Frage gestellt, ob sich »[...] klar das Alte oder das Neue - beziehungsweise eine Spielart davon - (durchsetzen)«⁹⁷² konnte. Der Historiker Richard Reid unterscheidet in seiner Analyse der Gewalt in der afrikanischen Geschichte zwischen traditionellen Formen von Gewalt und neuen, veränderten Formen⁹⁷³. Vor dem Hintergrund der gezeigten adaptiven sozialen Institutionen muss sich die Analyse der Gewaltpraxis an den Handlungslogiken der Gewalt orientieren, welche sich wiederum mit den etablierten Ordnungen und deren Reaktionen auf die Transformationsprozesse des 19. Jahrhunderts in Verbindung bringen lassen. Angesichts der dezentralen Strukturen ostafrikanischer Gesellschaen ist es daher sinnvoll, den Blick zunächst von einer Gegenüberstellung von »Alt vs. Neu« abzuwenden. Die wechselhaen wirtschalichen Grundbedingungen Ostafrikas und zunehmende Unsicherheitsfaktoren erforderten eine ständige Anpassung an veränderte Gegebenheiten. Alt und Neu wurden immer wieder miteinander verknüp. Ferner erscheint es aufgrund der Quellenlage unwahrscheinlich, zuverlässig zu identifizieren, welche Phänomene als Alt bzw. Neu angesehen werden können. Es blieben Kulturen etabliert, welche die Möglichkeit zur Verknüpfung von Alt und Neu institutionalisierten: Rituale, Tanzfeste und mystische Praktiken boten einen Kontext, Überliefertes fortzuschreiben, es zu modifizieren oder durch neue Elemente zu ersetzen. O entziehen sich mögliche Neuerungen darüber hinaus unserem Blick, da Vieles vor dem Blick westlicher Beobachter verborgen wurde. Die bisher gezeigten, rekonstruierten Möglichkeiten, mit Gewalt umzugehen und sie zu kontrollieren bzw. in vorgegebene Bahnen zu lenken, können jedoch als gedanklicher Hintergrund angesehen werden, vor welchem sich die Gewalt in der zweiten Häle des 19. Jahrhunderts betrachten lässt. Als Grundlage für eine nähere Analyse muss zudem die Unterscheidung zwischen Alt und Neu präzisiert werden: Es geht zum Einen um intensivierte Formen tradierter Gewaltpraktiken innerhalb eines sozialen Gefüges, zum Anderen um die Etablierung neuer Sozialstrukturen mit Hilfe von Gewalt außerhalb existierender Gemeinschaen und unter Verwendung einzelner Elemente traditioneller Routinen und Strukturen. Zentrales Un971 972 973

Vgl. Koponen: People and production in late precolonial Tanzania, S. 77. Speitkamp: Kleine Geschichte Afrikas, S. 143. Vgl. Reid: Warfare in African history, S. 107.

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terscheidungskriterium ist also die Rückbindung an bestehende Sozialordnungen und Gemeinschaen. Ein Blick auf die strukturelle Ebene tradierter Altersordnungen verspricht dabei die Möglichkeit, Veränderungen auszumachen und zu rekonstruieren. Eine Analyse solcher möglicher Verschiebungen und Veränderungen muss sich daher auf kulturelle Phänomene konzentrieren, die mit Altershierarchien, Riten und mystischer Macht in Verbindung standen. Der Blick auf diese Phänomene ermöglicht die Rekonstruktion von Handlungslogiken im Bereich der Gewaltpraxis. Durch segmentäre Altershierarchien und die Institution des Kiama wurde die gemeinschaliche Zusammenarbeit gesichert und immer wieder an aktuelle Anforderungen angepasst. Spontan einberufene Kiamas ermöglichten es, die Erfahrung ausgewählter Elders einzubringen und strategische Entscheidungen zu treffen. Mittels Riten und mystischer Machtinstrumente wurden die Entscheidungen durchgesetzt und mit dem Verweis auf den Willen der Ahnen legitimiert. Die Tätigkeit der Elders wurde so untermauert und zur Basis von Autorität. Die Konsequenzen waren Stabilität und Vertrauen in diese tradierten Instanzen. Die auommenden Unsicherheitsfaktoren im Kontext ostafrikanischer Handelsnetzwerke bedrohten diese Ordnungen jedoch zunehmend. Veränderte Kommunikationsräume führten zu gesellschalichen Veränderungen. Gewalt und Gewaltandrohung nahmen zu und bestimmten schließlich die Kommunikation inmitten allgemeiner Unsicherheit. Eine gesteigerte Gewalterfahrung lässt sich für das 19. Jahrhundert in Ostafrika hinreichend belegen, sie führte jedoch nicht zwangsläufig zu Veränderungen. Die Gewaltpraxis des 19. Jahrhunderts band Aspekte traditioneller Gewaltkulturen an neu entstandene Machtstrukturen, beschleunigte den gesellschalichen Wandel und integrierte neue Elemente. Dabei entstanden destabilisierte Räume, in denen etablierte Ordnungen ins Wanken gerieten, akzeptierte Regeln mißachtet, Grenzen überschritten wurden und sich verschiedene Arten des Umgangs mit Gewalt sich überlagerten. Richard Reid spricht von mehreren Korridoren, die in Ostafrika emergierten und zu Zonen beschleunigter Veränderung wurden. Migration und Handel mobilisierten die Gemeinschaen, durch die wachsende Durchdringung mit Karawanen verstärkte sich der Kontakt zur ostafrikanischen Küste. In der Konsequenz daraus wandelten sich Identitäten, politische wie wirtschaliche Strukturen und das soziale Miteinander⁹⁷⁴. In diesen Räumen herrschte jedoch keineswegs das ungeordnete Chaos, welches besonders europäische Beobachter dort vermuteten. Vielmehr trafen verschiedene Einflüsse aufeinander, überlagerten sich und schufen ein Klima von Offenheit, Unsicherheit und Konkurrenz. Auch die Gewalt selbst wurde dabei neu codiert und von verschiedenen Phänomenen beeinflusst⁹⁷⁵. Gewaltsituationen 974 975

Siehe ders.: War in pre-colonial eastern Africa, S. 4f. und ders.: A history of modern Africa, S. 46. Vgl. Sieferle/Breuninger (Hrsg.): Kulturen der Gewalt, S. 12.

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häuen sich, Bündnisse wechselten schnell, Gefolgschaen änderten sich häufig. Der deutsche Reisende Hans Meyer beschrieb im Jahr 1887 die Wechselhaigkeit der Bündnisse im Kilimandscharo-Gebiet: »Gegenseitige Freundscha oder Feindscha der kleinen Despotien hängt einzig von der Gesinnung und dem Interesse ihrer Häuptlinge ab. Und da es der Städtchen über zwanzig in Dschagga gibt, d.h. also in der zwischen 1000 und 2000 Metern Bergeshöhe den Süden und Osten des Kilimandscharo umlagernden, bewohnten und bebauten Zone, so nimmt die Unruhe im Lande, das Bündnisschließen an der einen Stelle zum Kriegführen an der anderen Stelle kein Ende«⁹⁷⁶. Dieses Beispiel weist auf eine Intensivierung bestehender Möglichkeiten zur Konfliktregulation und -vermeidung hin. Ferner düre dies mit einer Diffusion etablierter Streitkulturen einhergegangen sein. Die Interpretation westlicher Autoren für solche Beobachtungen basiert hingegen auf der Vorstellung eines immerwährenden Kriegszustands zwischen Despoten und legt eine grundsätzliche Unlösbarkeit der Konflikte ebenso nahe wie ein zielloses und schwankendes Handeln der Beteiligten⁹⁷⁷. Trotz dieser Einschränkungen finden sich in ihren Überlieferungen Hinweise auf die einzelnen Faktoren, die im Zusammenhang mit einem rapiden Wandel der Gewaltpraxis standen. Das Vertrauen in traditionelle Mechanismen zur Verhandlung und Einhegung von Gewalt sank, überlieferte Strategien verloren ihre Wirkung, langfristige Kooperationen waren o nicht mehr möglich. Es lassen sich Regionen belegen, die davon stark betroffen waren und Faktoren identifizieren, die zum Auommen solcher Räume dynamischer Interaktion⁹⁷⁸ beitrugen. So fasste Jezewski alias Carl Falkenhorst die Überlieferung zum Gebiet um den Kilimandscharo zusammen als generell frei von Bürgerkriegen, aber dennoch durchzogen von einzelnen Raubzügen indigener Kriegergruppen und zunehmend durchdrungen von Gewaltakten der Küstenhändler⁹⁷⁹. Es zeichnet sich das Bild einer multipolaren Landscha ab, in den verschiedene Gewaltakteure anzutreffen waren. Tradierte Formen der Gewalt wurden intensiviert und führten bisweilen zu neuen sozialen Formationen⁹⁸⁰. Dabei lassen sich verschiedene Gruppen identifizieren. Zu den bereits gezeigten Kriegergruppen, die im Rahmen einer Ökonomie der gewaltsamen Selbsthilfe agierten und saisonale Raids durchführten oder in Notsituationen Vieh benachbarter oder entfernter Siedlungen raubten, kamen bewaff976 977 978 979 980

Meyer: Zum Gipfel des Kilimandscharo, S. 82. Siehe auch: Koponen: War, Famine, and Pestilence in Late Precolonial Tanzania: A Case for a Heightened Mortality, S. 650. Vgl. Reid: Frontiers of violence in North-East Africa, S. 23. Vgl. Falkenhorst: Schwarze Fürsten. Bilder aus der Geschichte des dunklen Erdteils, S. 188. Vgl. Reid: Warfare in African history, S. 107.

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nete Karawanen, Elfenbeinjäger oder mobile Kriegergruppen, die als Träger einer veränderten Gewaltpraxis gelten können und eine bisher unbekannte Brutalität an den Tag legten. Gleiches gilt für Söldnertruppen, die vom Sultanat auf Zanzibar aufgestellt wurden, um die Kontrolle der Handelswege zu festigen⁹⁸¹. Die Milizen der Plantagenbesitzer stellen eine weitere Gruppe von Gewaltakteuren dar, sie wurden sowohl auf den Plantagen selbst als auch mobil eingesetzt, um entlaufene Sklaven zurückzuholen⁹⁸². Schließlich bildeten Kolonialtruppen weitere Gewaltakteure, die vor dem Hintergrund westlich geprägter Vorstellungen von Militär und Zentralgewalt agierten und die Gewalt in Form des Massakers als »[...] systematische(n) Bestandteil der Entstehung des Gewaltmonopols«⁹⁸³ nutzten. Aus den verschiedenen Handlungslogiken dieser Gruppen ergaben sich konkurrierende bzw. parallel existierende Konzepte von Gewalt, welche gleichermaßen im ostafrikanischen Raum anzutreffen waren. Die Bevölkerung Ostafrikas reagierte flexibel und anpassungsfähig⁹⁸⁴, so geriet auch die Gewaltpraxis mit der grundlegenden Neuordnung sozialer Verhältnisse durch Migration, Handel und unter neuen Fremdeinflüssen in Bewegung. Sie war Teil eines weitreichenden Umwälzungsprozesses⁹⁸⁵. Der ostafrikanische Raum des 19. Jahrhunderts wurde dabei von Überlagerungen verschiedener Arten der Gewaltnutzung erfasst: Neben den nur in groben Konturen wahrnehmbaren etablierten Gewaltlogiken, in denen rituelle Einhegung der Gewalt und gewaltsame Selbsthilfe ebenso eine Rolle spielten wie deren feste Einbettung in saisonale Abläufe und den Generationenprozess, erscheinen klarer umrissene und von den Quellenautoren bisweilen stark skandalisierte Gewaltphänomene, die von der veränderten und verändernden Rolle der Gewalt zeugen. Es entstanden regional unterschiedlich ausgeprägte Ungleichzeitigkeiten: Aus dem Kontext gleichförmiger, lokal und an natürlichen Zyklen ausgerichteter Kulturen verblieben Formen der Gewaltnutzung, deren innere Logik sowohl das Fortschreiben der soziopolitischen Ordnung als auch gewaltsame Selbsthilfe in Notsituationen und die Wahrung sozialer Stabilität zwischen den Generationen zum Ziel hatte. Hinzu kamen Formen der Gewalt, die von großräumigen Migrationsbewegungen und dem Kontext des überregionalen Handels geprägt waren. Das beinhaltete z.B. die Eskalation von Gewalt in Form von Brandlegung, Entführung und Raub bis hin zu Massakern sowie die Nutzung von Feuerwaffen und die Durchführung weiträumiger Raub- und Beutezüge. Gewalt wurde mit einer mobilen Lebensweise verknüp und wurde zum Hauptaspekt eines gewaltsamen way of life. Etablierte 981 982 983 984 985

Vgl. Koponen: War, Famine, and Pestilence in Late Precolonial Tanzania: A Case for a Heightened Mortality, S. 653. Mann: Sahibs, Sklaven und Soldaten, S. 70f. Trotha: Koloniale Herrscha, S. 28. Vgl. Speitkamp: Kleine Geschichte Afrikas, S. 87. Vgl. Christian Jennings: Beyond Eponymy: e Evidence for Loikop as an Ethnonym in Nineteenth-Century East Africa, in: History in Africa 32 (2005), S. 199–220, hier S. 221.

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Mechanismen zur Einhegung von Gewalt brachen unter der gesteigerten Gewalterfahrung o zusammen, was zu Unsicherheit und Orientierungslosigkeit führte. Diese verschiedenen Phänomene waren vielfältig miteinander verwoben und regional unterschiedlich ausgeprägt. Auch die Trägergruppen der Gewalt veränderten sich und wechselten. Es zeigte sich, dass ostafrikanische Gemeinschaen auch in der Gewaltpraxis variabel, anpassungsfähig und zu schnellen Umformungen in der Lage waren, je nachdem, mit welchen Gewaltphänomenen sie sich ausgesetzt sahen. Dabei lassen sich sowohl Intensivierungen tradierter Gewaltpraktiken und Strukturen identifizieren als auch neue Formen. Grundlage für eine solche Unterscheidung ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen Kriegergruppen und ihren Herkunsgemeinschaen. Um sich dieser Problematik anzunähern, müssen zunächst veränderte Gewaltpraktiken und ihre Trägergruppen in den Blick genommen werden. So werden mobile Kriegergruppen betrachtet, die unter dem Namen Ruga-Ruga bekannt waren. Dabei wird die etymologische Herkun des Begriffes ebenso gedeutet wie dessen Verwendung und Veränderungen im Laufe des 19. Jahrhunderts. Ferner geht es um die Identifikation bisher bekannter Praktiken, Traditionen und kultureller Elemente, die in neuen Kontexten eingesetzt wurden. Insgesamt ensteht ein breites Panorama aus verschiedenen Gewaltkulturen, die sich im Ostafrika des 19. Jahrhunderts überlagerten. Dabei kamen auch ethnische Konzepte auf, die es ganzen Völkern zuschrieben, besonders kriegerisch zu sein. Das weist erneut auf die gesteigerte Bedeutung der Gewalt im behandelten historischen Rahmen hin. Die Gewaltnutzung veränderte sich, wurde verändert und veränderte die Lebenswirklichkeit drastisch. Dabei entstanden Gruppen von Kriegern, welche die Gewalt zu ihrem Lebensunterhalt nutzten. Diese Gruppen verbanden eine traditionelle Ökonomie des Raid mit dem neuen Kontext ausgeweiteter Handelsnetzwerke. Sie nutzten die Gewaltroutinen aus traditioneller Wissensvermittlung, wie sie im Rahmen der Initiation als Krieger weitergegeben wurden, und passten sie auf den neuen Kontext an. Doch auch abseits bestehender und neuer Handelsrouten intensivierten sich Raid-Aktivitäten, wie die mündliche Überlieferung gezeigt hat. Die gesteigerte Gewalt bot eine Voraussetzung für Veränderungen innerhalb ostafrikanischer Gesellschaen. Bevor diese genauer untersucht werden können, müssen zunächst die einzelnen Facetten veränderter Gewaltnutzung analysiert werden.

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5.2 Neue Gewalteliten 5.2.1 Transformationen der Gewalt

Das 19. Jahrhundert Ostafrikas war stark von Gewalt geprägt. Die unterschiedlichen Kontexte, in denen Gewalt ausgeübt wurde, wandelten sich; indes entstanden Räume, die von Unsicherheit und einem Fehlen allgemein akzeptierter Regeln charakterisiert waren. Vor diesem Hintergrund veränderten sich etablierte Gewaltlogiken und neue Faktoren kamen hinzu. Wie gezeigt traten verschiedene Gewaltakteure auf, Schusswaffen prägten immer mehr die Gewalt und deren Einbettung in kulturelle, wirtschaliche und politische Kontexte. Darüber hinaus führten Sklavenhandel und dadurch intensivierte Gewalt zu einem höheren Aufkommen von Gewaltexzessen. In der bisherigen Forschung zu solchen unsicheren, dynamischen Umgebungen konzentrierte man sich o auf das politische und ökonomische Umfeld, in dem Gewalt aurat. Der Ethnologe Georg Elwert beschrieb das Agieren mobiler Kriegergruppen als charakteristisches Phänomen sog. »Gewaltmärkte«⁹⁸⁶, die in destabilisierten Räumen entstanden⁹⁸⁷. Hintergrund für das Auommen solcher Gruppen seien Räume, »[...] in denen keine festen Regeln den Gebrauch der Gewalt begrenzen«⁹⁸⁸. Für Ostafrika im 19. Jahrhundert wurde das Auommen solcher Räume attestiert. Elwerts Charakterisierung ist allerdings noch zu präzisieren. Zunächst scheint die Vorstellung eines Raumes, in dem keine etablierten und allgemein akzeptierten Regeln zur Begrenzung der Gewalt existieren, die Sichtweise europäischer Quellenautoren des 19. Jahrhunderts zu spiegeln. Daraus ergeben sich ein Bild Ostafrikas als ungeordnete, destabilisierte Zone entgrenzter Gewalt und ein Widerspruch zu den gezeigten Einhegungsmechanismen, die von dezentral organisierten Gesellschaen Ostafrikas genutzt wurden. Traditionelle Konventionen für den Umgang mit Gewalt wurden, wie bereits erwähnt, im Rahmen der Initiation vermittelt und von regional bekannten Vermittlern, den Mitgliedern örtlicher Ältestenräte, formuliert und an nachfolgende Generationen weitergegeben. Auch im Fall von Eskalationen und Missachtung dieser Konventionen wurden diese Vermittler aktiv und verhandelten Kompensationsleistungen. Daraus ergab sich ein Korpus mündlich verbreiteter und an die nachfolgenden Generationen weitergegebener Regeln, die auf der kollektiven Erfahrungen der Bevölkerung fußten. Im 19. Jahrhundert verbreitete sich jedoch eine Offenheit im Umgang mit Gewalt, die Umorientierungen notwendig machte. Für die neue Erfahrung stark ausgeweiteten Karawanen- und Sklavenhandels 986 987 988

Siehe Elwert: Gewaltmärkte. Beobachtungen zur Zweckrationalität der Gewalt. Siehe hierzu auch: A. Isaacman/J. Vansina: African initiatives and resistance in Central Africa, 1880-1914, 1985, hier S. 168. Elwert: Gewaltmärkte. Beobachtungen zur Zweckrationalität der Gewalt, S. 88.

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sowie dem damit verbundenen kulturellen Austausch mussten Bereiche des Erfahrungswissens angepasst und Regeln neu geschrieben werden; Gewalt war als Möglichkeit des Handelns ständig präsent, Regeln und Grenzen für ihre Nutzung wurden diffus. Im 19. Jahrhundert verbreiteten sich verschiedene Gewaltpraktiken und logiken, die mit dem Auommen überregionaler Handels- und Kommunikationsnetzwerke in Verbindung standen. Durch die Ausweitung transregionaler Handelsnetzwerke verflocht sich der Handel mit der Gewaltpraxis. Deutlich wird dies anhand eines vielschichtigen Phänomens, das mit der Bezeichnung RugaRuga belegt, als sehr komplex charakterisiert und unterschiedlich gedeutet wurde⁹⁸⁹. Einerseits wurden mobile Krieger, die in Kleingruppen und auf eigene Faust agierten, als Ruga-Ruga bezeichnet⁹⁹⁰, andererseits verwenden manche Quellen den Begriff als Bezeichnung für Leibwache oder bezahlte Krieger eines lokalen Herrschers. Andere Hinweise betonen die Bindung an lokale Autoritäten wie Ältestenräte⁹⁹¹. Diese unterschiedlichen Begriffsdeutungen weisen darauf hin, dass sich auch das Phänomen veränderte, welches mit dem Begriff Ruga-Ruga verbunden wurde. Das lässt wiederum auf eine Offenheit der Gewalt schließen, die verschiedenen Logiken folgen konnte und nicht mehr eindeutig einzuordnen war. Einerseits stand der Begriff Ruga-Ruga für eine klare Einordnung in soziopolitische Kontexte, andererseits wurden damit die neuen soziale Formationen mobiler Kriegergruppen assoziiert, die außerhalb solcher Kontexte wirkten. Gemeinsam ist den Beschreibungen jedoch die Charakterisierung als professionelle Krieger, die Gewalt als Grundlage ihrer Lebensweise nutzten. Das Phänomen Ruga-Ruga steht für einen Transformationsprozess in der Gewaltpraxis des 19. Jahrhunderts⁹⁹². Die Bezeichnung selbst wurde mit verschiedenen Aspekten in Verbindung gebracht. Bereits für das 18. Jahrhundert finden sich Zeugnisse dieses Begriffs in den arabischen Überlieferungen der Chroniken von Kilwa. Der Händler Seyyid Abubakari gab sich laut dieser Quelle bereits in der ersten Häle des 18. Jahrhunderts den Titel Diwan Ruga, was mit »Strength of a Bull« übersetzt wurde⁹⁹³. Neben der Bedeutungsebene körperlicher Stärke lassen weitere Interpretationen des Phänomens auf die soziale Stellung der Ruga-Ruga schließen. So berichtete Reichard von einer »gewissen Popularität«⁹⁹⁴ dieser Krieger, die ihren Frauen 989 990 991 992

993 994

Siehe auch: Gottberg: Unyamwesi, S. 119f. Siehe z.B. Bontinck: L’autobiographie de Hamed ben Mohammed el-Murjebi, Tippo Tip (ca. 1840-1905), S. 51. Vgl. Gottberg: Unyamwesi, S. 114f. Siehe hierzu auch: Pesek: Ruga-ruga: e History of an African Profession, 1820–1918, S. 88f. sowie Pallaver: Nyamwezi Participation in Nineteenth-Century East African long-distance Trade: Some Evicence from Missionary Source, S. 522f. Siehe Hollis: Notes on the History of Vumba, East Africa, S. 284. Reichard: Die Wanjamuesi, S. 307.

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aufgrund ihrer Raubzüge ein Auskommen verschaffen und ihnen geraubte Luxusgüter schenken könnten⁹⁹⁵. Der Zusammenhang zwischen Gewalt und Ökonomie blieb also erhalten, bezog sich nun aber auch auf neue Formen von Luxusgütern, die zunächst nur aus dem Umfeld des Handels kamen. Die ausführlichste belegte Deutung des Begriffs Ruga-Ruga lieferte der deutsche Missionar August Schynse, der selbst diesen Titel trug. In seinen Berichten schilderte er, dass er von Afrikanern »[...] Bwana serkari (Herr Soldat), und Bwana ruga ruga«⁹⁹⁶ genannt wurde. Den Begriff selbst erklärte er folgendermaßen: »Ruga ruga heißt Jemand, der frisch auf seinen Beinen ist, nicht bloß die Spitzbuben im Busch. Das geht freilich meistens zusammen; wenn einer flott auf den Beinen ist, benutzt er es hier, um seinen Nächsten auszuplündern. Im Allgemeinen ist es aber ein ehrendes Prädikat und wird den angesehensten Häuptlingen beigelegt«⁹⁹⁷. Als etymologische Wurzel des Begriffs nannte Schynse das Verb Kuruga, was er mit »Fliegen, Springen« übersetzte⁹⁹⁸. Das Phänomen Ruga-Ruga steht also sowohl für eine »Gewalt der Plötzlichkeit«⁹⁹⁹, wie sie auch im Rahmen saisonaler Raids ausgeübt wurde, als auch für den zentralen Aspekt einer neuen Kriegerkultur, die auf professionellen Kriegern auaute. In den verschiedenen Übersetzungen kristallisieren sich die Hauptaspekte der Gewaltnutzung junger Krieger: Schnelligkeit, Ehre und ökonomische Vorteile. Besonders in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts häue sich die Zahl derer, die sich »[früher] mehr mit Ackerbau und Elephantenjagden abgegeben, in neuerer Zeit aber den RugarugaBeruf als lukrativer erkannt [...]«¹⁰⁰⁰ hatten. Die unterschiedlichen Deutungen des Begriffs Ruga-Ruga stehen für einen Prozess, der Gewaltpraktiken auffächerte und unterschiedliche Gewaltkulturen hervorbrachte. Dabei ergab sich eine Reihe von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu traditionellen Arten, mit Gewalt umzugehen. Es enstanden Kombinationen von Elementen neuer und tradierter Gewaltnutzung. Bereits zeitgenössische Berichte lassen dies erkennen. Neben diesen intensivierten und zunehmend auf die lokale Ebene verlagerten Formen traditioneller Gewaltpraxis verbreitete sich eine Gewaltkultur, die durch Mobilität und Handel geprägt war. So verdeutlichen Vgl. ebd., S. 307. Schynse: Pater Schynse’s letzte Reisen, S. 84. ebd., S. 84. Der Kolonialbeamte C.W. Werther übersetzte den Begriff mit »Räuber«, vgl. Werther: Die mittleren Hochländer des nördlichen Deutsch-Ostafrika, S. 53. 998 Vgl. Schynse: Pater Schynse’s letzte Reisen, S. 84. Diese Interpretation unterstützt auch ein überlieferter Beiname der Ruga-Ruga: isaasa, was u.a. mit »Falke« übersetzt wurde(Siehe Roy Willis: e Fipa, in: Andrew Roberts (Hrsg.): Tanzania before 1900, Nairobi 1968, S. 82–95, hier S. 90.) 999 Sofsky: Gewaltzeit, S. 103. 1000 Werther: Zum Victoria Nyanza. Eine Antisklaverei-Expedition und Forschungsreise, S. 71. Siehe hierzu auch: Mann: Mikono ya damu, S. 164. 995 996 997

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die Aufzeichnungen des Missionars August Schynse, wie sich die Konturen unterschiedlicher Formen der Gewaltanwendung abzeichneten. Am 26. Oktober 1889 wurde seine Karawane auf dem Weg nach Mpapwa, Zentraltanzania, in dichtem Busch überfallen. Er schilderte das Erlebnis wie folgt: »Der anfangs ziemlich gelichtete Busch wird allmählich dichter, und als wir ungefähr eine Stunde marschirt waren, hören wir Lärm an der Spitze. Bald darauf erscheint unser Ziegenführer, aber ohne Ziegen, ganz untröstlich, und erzählt uns, eine Räuberbande sei plötzlich aus dem Busche gebrochen, habe Lanzen und Pfeile auf ihn und die mit ihm gehenden sudanesischen Weiber und Kinder geschleudert, und die Ziegen alle weggetrieben. Zwei oder drei mit Gewehren Bewaffnete hatten nicht geladen, und ehe dies geschehen war, seien die Ziegen schon verschwunden gewesen. Weiber und Kinder seien geflohen und er auch. Ein Knabe hatte einen Pfeilschuß in den Arm bekommen, doch ohne Bedeutung.«¹⁰⁰¹ Nach dem Vorfall überlegten ortskundige Führer und Karawanenträger gemeinsam, um welche Krieger es sich gehandelt hatte. Zunächst verdächtigte man eine seit zehn Jahren bekannte, mobile Kriegergruppe unter der Führung eines Mannes namens Munye Mtwana, die durch Überfälle und Brandlegungen in der Gegend von sich Reden gemacht hatten. Munye Mtwanas Krieger seien jedoch mit Schusswaffen ausgerüstet, während der beobachtete Raub von Männern verübt worden sei, die lediglich mit Bögen und Speeren bewaffnet waren. Man kam schließlich zu dem Schluss, dass es Krieger der ansässigen Bevölkerung gewesen sein mussten¹⁰⁰². Die traditionellen Formen von Raids veränderten sich, Kriegergruppen nutzten ihre Techniken aus Jagd und Raids, passten sie an die Umgebung des Karawanenhandels an und waren so in der Lage, schnelle Überfälle durchzuführen, die mitgeführten Tiere zu erbeuten und zu verschwinden, bevor eine Reaktion oder Verfolgung initiiert werden konnte. In den Beschreibungen der unterschiedlichen Kriegergruppen werden die Überlagerungen verschiedener Handlungslogiken der Gewalt deutlich: Einerseits erscheinen traditionell ausgestattete Kriegergruppen lokaler Siedlungen, die wie im geschilderten Fall hergebrachte RaidTaktiken auf vorbeiziehende Karawanen anwendeten. Die Logik der Gewalt dieser Gruppen zielte auf den Raub von Vieh und brachte selten weitere Eskalation. Traditionelles Wissen ermöglichte es den Kriegern, genau einschätzen zu können, wann, wo und wie viel Gewalt sie einsetzen mussten, um zielgerichtet und effektiv zu handeln. Andererseits entstanden immer mehr Kriegergruppen, deren gesamte Lebensweise auf Raub und Gewalt ausgerichtet war. Sie wurden durch exzessive 1001 Schynse: Mit Stanley und Emin Pascha durch Deutsch-Ostafrika. Reise-Tagebuch von P. August Schynse, S. 44f. 1002 Vgl. ebd., S. 45.

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Gewalt und Terror charakterisiert, wie die beschriebene Gemeinscha um Munye Mtwana. Handel mit Elfenbein, Sklaven und Luxusgütern brachte eine veränderte materielle Kultur, die sich mit der Raubökonomie von Kriegergruppen verband. Deren Gewalt wurde exzessiver, da sie sich auf das Ausheben von Sklaven und den Raub von Elfenbein und Luxusgütern ausrichtete. Die Taktik der Raids solcher Gruppen sah nicht mehr lediglich den schnellen Zugriff auf Vieh und vereinzelt die Entführung von Menschen vor, sondern zielte auf die gewaltsame Entführung ganzer Gruppen von Menschen sowie auf den Raub von Luxusgütern. Eine solche Gewaltnutzung lief nach einer anderen Logik ab, welche veränderte Taktiken, eine höhere Schlagkra und eine Festigung neuer Gewaltroutinen erforderte. Dabei wurden bekannte und neue Elemente der Gewaltkultur miteinander vermischt. Mit der Zuschreibung Ruga-Ruga wurde das Element der Kriegerehre aus traditionellen Kontexten in den Kontext überregionaler Handelsstrukturen eingepasst. Zur individuellen Ebene von Noms de Guerre trat die standardisierte Bezeichung des Ruga-Ruga auf, die nicht mehr auf Altershierarchien bezogen war. Die Offenheit innerhalb einer dynamischen sozialen Umgebung zeigte sich auch an Überschneidungen zwischen unterschiedlichen Bezeichnungen für Krieger. Während Begriffe wie El-Moran noch jugendliches Alter, Eingliederung in lokale Sozialstrukturen und Rückbindung an traditionelle Institutionen wie Ältestenräte beinhalteten, traten im Fall der Bezeichnung Ruga-Ruga Phänomene wie Schnelligkeit, Besitz einer Schusswaffe und Erfolg bei der Erbeutung von Luxusgütern in den Vordergrund. Gleichzeitig überschnitten sich die Aspekte von Jugend und Kriegertum semantisch in beiden Bezeichnungen. Solche semantischen Spannungsfelder weisen ebenfalls auf offene, in tiefgreifendem Wandel befindliche Sozialstrukturen hin. Veränderndes traf auf Etabliertes und formte es um: Das Agieren umherziehender Kriegergruppen stellte keine grundlegend neue Erfahrung dar. Ausgedehnte Raubzüge kleiner Gruppen waren bereits im Kontext saisonaler Raids etabliert, und auch Kampfnamen blieben verbreitet. So fanden aus dem Kimbu-Gebiet bspw. die Namen Kafupa-Mugazi, »Spitter of Blood«, ItovelaMbesi, »Feeder of Vultures« und Nzumbe, »Spear sharpened at both ends« ihren Weg in die mündliche Überlieferung¹⁰⁰³. Eine weitere Ähnlichkeit ergibt sich aus den Taktiken, welche von Ruga-Ruga-Gruppen angewandt wurden: Sie nutzten eine extreme Form von »Gewalt der Plötzlichkeit«¹⁰⁰⁴ in Form überraschender Überfälle aus dem Hinterhalt, die mit Lärm und Schnelligkeit ausgeführt wurden. Auch die äußere Erscheinung überschneidet sich mit den Aspekten traditioneller Krieger: Ruga-Ruga Krieger trugen rote Stoffe und eine besondere Form

1003 Aylward Shorter: Nyungu-Ya-Mawe and the ’Empire of the Ruga-Rugas’, in: e Journal of African History 9.2 (1968), S. 235–259, hier S. 14. 1004 Sofsky: Gewaltzeit, S. 103.

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der Haartracht namens Masinsi (Pudellocken)¹⁰⁰⁵. Außerdem waren sie dafür bekannt, Alkohol und Drogen zu konsumieren, bisweilen auch während der Kampfhandlungen¹⁰⁰⁶, was ebenfalls der traditionellen Praxis entsprach, die Körper der beteiligten Krieger auf ihre bevorstehenden Einsätze vorzubereiten. Das belegen auch die von Missionaren im Nyamwezi-Gebiet gesammelten Artefakte, wie z.B. Armringe oder Amulette, die zum Schutz getragen wurden. Dabei orientierten sich die Attribute der Gegenstände an der veränderten Gewaltpraxis: »Das Amulett öffnet einem feigeren Krieger im Kriege die Augen versteckte Frauen, Kinder und Rinder zu sehen, um sie zur Beute zu machen. Es schützt den Besitzer aber nicht vor dem Erschlagenwerden«¹⁰⁰⁷. Neben diesen, lediglich auf die Situation einer erhöhten Mobilität angepassten Veränderungen, war der größte Unterschied zur traditionellen Gewaltpraxis die Entkopplung der Gewalt von traditionellen Institutionen und Mechanismen zur Einhegung. Da sie sich mit Hilfe von Gewalt selbst versorgen konnten, agierten mobile Kriegergruppen zunehmend auf eigene Faust und waren somit nicht mehr an die mystische Autorität von Ritenexperten und die Entscheidungsgewalt von Ältestenräten gebunden. Sie nutzten ihr tradiertes Wissen über wirkungsvolle Taktiken und richteten traditionelle Elemente wie die besondere Kennzeichnung von Kriegern sowie deren rituelle Vorbereitung auf Kampandlungen durch die Einnahme spezieller Substanzen neu aus und passten sie an den veränderten Kontext transregionaler Handelsnetzwerke an. Bei Überfällen auf Karawanen wurden allerdings auch völlig neue Taktiken genutzt. So berichtete der deutsche Arzt Dr. Schwesinger von Forderungen von Wegzoll unter Gewaltandrohung sowie nächtlichen Scheinangriffen, welche die Karawanenträger zur Flucht veranlassten. Am nächsten Tag habe man schließlich Ersatzträger zu überhöhten Löhnen angeboten¹⁰⁰⁸. Auch die als Schutz von Karawanen angeworbenen Kriegergruppen agierten bisweilen selbstständig. Wie Böhm berichtete, setzten sich die Krieger ein paar Tage nach dem Beginn der Reise ab und schlugen in der Nähe ein eigenes Lager auf, um die Bezahlung für ihre weiteren Dienste neu zu verhandeln¹⁰⁰⁹. Bei Angriffen auf Dörfer verbreitete sich die Praxis der Brandlegung. Henry Morton Stanley berichtete von den Spuren der Ge1005 Vgl. Gottberg: Unyamwesi, S. 283. Siehe auch: Krapf: A dictionary of the Suahili language, S. 76 und Langheld: Zwanzig Jahre in deutschen Kolonien, S. 60. 1006 Vgl. Willis: Potent brews. A Social History of Alcohol in East Africa 1850-1999. S. 84f. sowie Reid: War in pre-colonial eastern Africa, S. 64. 1007 o.A.: Zauber- und andere Gegenstände der heidnischen Vanyamwezi in Deutsch-Ostafrika. S. 9. 1008 DZA Potsdam, RKA Bd 1030, Bl. 59-65. - Dr. Schwesinger an Soden unter dem 26. November 1892 aus Tabora. Zitiert nach: Gottberg: Unyamwesi, S. 356ff. 1009 Siehe Richard Böhm: Von Sansibar zum Tanganjika. Briefe aus Ostafrika ; mit dem Bildniß Böhm’s und einer Uebersichtskarte, hrsg. v. Herman Schalow, Leipzig 1888, S. 20.

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walt in Form von niedergebrannten Resten der Dörfer, die von mobilen Kriegergruppen überfallen worden waren¹⁰¹⁰. Der bekannte Anführer Nyungu-Ya-Mawe im Gebiet des heutigen Tansania gab sich den Beinamen Sipemba, »Einer, der Dörfer niederbrennt«¹⁰¹¹. Als weitere Brutalisierung wurde die Praxis angesehen, die Köpfe der Getöteten als Abschreckung und Trophäe auf Pfähle zu stecken und mit sich zu führen, wovon u.a. der britische Reisende John Boyes berichtete¹⁰¹². Frühere Quellen belegen ebenfalls die Praxis der Verstümmelung des getöteten Gegners und Trophäen z.B. in Form abgetrennter Geschlechtsteile¹⁰¹³. Auch hier blieben die Praktiken aus der traditionellen Gewaltkultur erhalten und wurden in den transregionalen Kontext übertragen. Eine veränderte Gewaltpraxis machte sich bei mobilen Kriegergruppen vorrangig durch die Nutzung von Schusswaffen bemerkbar. Sie wurden von vielen Beobachtern als Ursache einer weitreichenden Brutalisierung angesehen¹⁰¹⁴. Diese Ansicht bleibt jedoch im Hinblick auf die Nutzung der Waffen ambivalent. Während im Westen Tansanias besonders seit den 1880er Jahren regelmäßig Schusswunden dokumentiert wurden, berichteten Beobachter davon, dass Gewehre und Pistolen lediglich als Signalgeber eingesetzt wurden oder man sie zu Beginn eines Raid abfeuerte, um Chaos zu stien. Es war von Kriegern die Rede, die lediglich feuerten, ohne zu zielen. Gleichzeitig erwiesen sich Schusswaffen o als unzuverlässig oder fehleranfällig, so dass deren Rolle als Werkzeug zur gezielten Verletzung des Körpers unklar erscheint¹⁰¹⁵. Im Nahkampf wurden o effektivere und zuverlässigere Waffen wie Macheten, Speere und Messer genutzt, deren Handhabung man von Jugend an gewohnt war¹⁰¹⁶. Unumstritten ist jedoch die generelle Wirkung von Schusswaffen auf die Gewaltkulturen Ostafrikas. Sie wurden vielfältig in bestehende Kontexte integriert. Mit zunehmender Bekanntheit von Schusswaffen und Expertise im Umgang mit ihnen erlangten die Anführer ostafrikanischer Kriegergruppen qualitativ hochwertige Waffen, die sie immer effektiver zu nutzen wussten¹⁰¹⁷. Die Logik der Gewalt wurde dem aktuellen Umfeld angepasst und bezog sich nicht mehr auf die lokale Gemeinscha, sondern auf den weiter gefassten Raum des Handels- und Kommunikationsnetzwerks. In der zweiten 1010 Vgl. Stanley: Wie ich Livingstone fand, S. 98. Siehe auch: Bontinck: L’autobiographie de Hamed ben Mohammed el-Murjebi, Tippo Tip (ca. 1840-1905), S. 52. 1011 Aylward Shorter: Nyungu-Ya-Mawe, Nairobi 1969, S. 10. 1012 Siehe Boyes: King of the Wa-Kikuyu, S. 223. 1013 Siehe Krapf: Reisen in Ostafrika ausgeführt in den Jahren 1837-1855, S. 317f. 1014 Vgl. Reid: War in pre-colonial eastern Africa, S. 51. Siehe auch: Mann: Mikono ya damu, S. 20. 1015 Vgl. Reid: War in pre-colonial eastern Africa, S. 50f. 1016 Vgl. Wandera: e State in pre-colonial east Africa: a discussion of Nkore c.1500-1850, Shambaa c.1700-1875 and Urambo c.1860-1884, S. 87f. Der Kolonialoffizier Wilhelm Langheld erinnerte sich ebenfalls an die unterschiedlichen Waffentechniken und Taktiken, die von einzelnen Gruppen genutzt wurden (Siehe Langheld: Zwanzig Jahre in deutschen Kolonien, S. 61). 1017 Vgl. Klein-Arendt: Vielfältige Erinnerung, zwiespältige Erinnerung. Feuerwaffen im vorkolonialen Ostafrika, S. 41f.

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Häle des 19. Jahrhunderts mehrte sich das Auommen gut ausgerüsteter, brutal agierender Kriegergruppen, die für eine intensive Ausbeutung der Ressourcen Ostafrikas stehen und in ein global agierendes Netz von Sklaven-, Elfenbein- und Waffenhandel einzuordnen sind¹⁰¹⁸. Der Reisende Richard Francis Burton nahm die Unterschiede der Gewaltlogiken wahr und charakterisierte die unterschiedlichen Motive für Gewalthandlungen: »Alle afrikanischen Kriege entstehen nur aus zwei Gründen, entweder soll Vieh oder Menschen geraubt werden. Einige der Hirtenstämme gehen von dem Grundsatz aus, daß nur sie allein das Recht haben, Heerden zu besitzen und daß ihnen dasselbe von ihrem Vorfahren, der das Vieh schuf, direkt hinterlassen wurde. Sklaven sind indessen viel häufiger das Ziel und Zweck von Raub und Mord. Diese Jagden, eine althergebrachte Sitte in diesen Ländern, sind in jeder Hinsicht für den Sinn eines Menschenjägers anziehend. Ein Vielen nützlicher Krieg, vereint er mit den angenehmen Zwischenfällen einer Jagd eine große Uebung in Schlauheit und Muth; ein solcher Zug bringt kriegerischen Vortheil und soliden Gewinn und bewahrt die Wilden vor der Eintönigkeit eines zwecklosen Lebens. [...] der Stärkere grei den Schwächern an, jagt und raubt seine Heerden, brennt seine Dörfer nieder, treibt seine Unterthanen fort und verkau sie der ersten besten vorüberziehenden Karawane«¹⁰¹⁹. Einerseits lassen Burtons Ausführungen traditionelle Gewaltpraktiken erkennen, andererseits erscheinen neue Faktoren: Die Praxis »althergebrachte(r) Sitten«¹⁰²⁰ traditioneller Raids im Rahmen der gewaltsamen Selbsthilfe lokaler Gemeinschaften verband sich nun mit der Nachfrage nach Sklaven für Plantagenwirtscha und Karawanenhandel¹⁰²¹. Auch das Ausmaß der Gewalt schien sich dadurch verändert zu haben. Während für den Kontext regionaler Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Gemeinschaen meist nur geringe Zahlen von Menschen zum Opfer gefallen seien, häufen sich ab der zweiten Häle des 19. Jahrhunderts Berichte über Massaker, bei denen auch Kinder, Frauen und alte Menschen getötet worden seien¹⁰²². Diese Elemente stehen für eine überregionale Intensivierung der Gewalt, die mit einer Umformung der Gewaltpraxis einherging. Gewaltakte fanden mit einer höheren Anzahl von Toten statt, durch die veränderte Form von Raids wurden 1018 Vgl. Klein-Arendt: Vielfältige Erinnerung, zwiespältige Erinnerung. Feuerwaffen im vorkolonialen Ostafrika, S. 47. 1019 Burton/Speke: Der Nil und seine Quellen. Reisen nach den Binnenseen Afrika’s und Entdeckung der Quellen des Nils 1857-1863, S. 462. 1020 ebd., S. 462. 1021 Siehe auch: Deutsch: Sklaverei als historischer Prozess, S. 61. 1022 Siehe Krapf: Reisen in Ostafrika ausgeführt in den Jahren 1837-1855, S. 387f.

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auch Personen Opfer der Gewalt, die nach traditionellen Regeln nicht angegriffen werden duren, wie ältere Männer und Frauen. Das interpretierten besonders westliche Beobachter mit Hilfe ethnischer Kategorien. Ganze Bevölkerungsgruppen wurden als »warlike tribes« charakterisiert. So entstanden Ethnienbezeichnungen, die solche Vorstellungen spiegelten. Den mobilen Ngoni- und Yao- Gruppen wurde etwa ein »Räuberleben« attestiert¹⁰²³, dessen verheerende Auswirkungen auf die Bevölkerung besonders von Missionaren wie David Livingstone in düsteren Farben geschildert wurde: »e whole tribe lives on plundering the other natives by means of the terror their shields inspire[...]«¹⁰²⁴. Große umherziehende Kriegergruppen wurden zum überregionalen Phänomen, das in vielen Gegenden Ostafrikas als Bedrohung angesehen wurde. Aus der Gegend Petauke im heutigen Malawi wurden mündliche Traditionen überliefert, die von umherziehenden Ngoni - Gruppen und deren zahlreicher Raids auf Dörfer berichteten, im Zuge derer Brände gelegt und viele junge Männer entführt wurden, um sie als Krieger auszubilden und in ihre Gruppen zu integrieren - eine Praxis, die ebenfalls im Nsenga-Gebiet überliefert wurde¹⁰²⁵. Zahlreiche weitere Traditionen beschreiben die Ngoni - Gruppen als große, als Familienverband strukturierte Gruppe, die von Süden her eingewandert kam. Sie blieben im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung als aggressive Krieger, die mit einem Ausmaß bisher unbekannter Zerstörung von Siedlungen, Besitztümern und Ressourcen wirkten. Gewaltexzesse wie Massaker an der Bevölkerung und Entführung von Frauen und Kindern fanden ebenso wie der Raub von Nahrungsmitteln und Vieh ihre Erwähnung in der Überlieferung¹⁰²⁶. Solche Gruppen wurden als externe Macht angesehen, die in die Strukturen lokaler Gemeinschaen eingriff und regelmäßig junge Männer zwangsrekrutierte¹⁰²⁷. Das Wirken solcher Gewaltakteure spiegelt sich in den bereits erwähnten Volkserzählungen, in denen Dörfer von Ogern überfallen und Kinder geraubt werden. Die aus dem Süden zugewanderten Gruppen hatten sich in einem weitreichenden Migrationsprozess in einer Umgebung gefestigt, die stark von Gewalt geprägt war. Mfecane (Zerschlagung) galt als der fundamentale 1023 Vgl. Schynse: Pater Schynse’s letzte Reisen, S. 40, ders.: Mit Stanley und Emin Pascha durch Deutsch-Ostafrika. Reise-Tagebuch von P. August Schynse, S. 64f. bzw. Johnston: British Central Africa: an attempt to give some account of a portion of the territories under British influence North of the Zambezi, S. 69. 1024 Livingstone: e last Journals of David Livingstone, in Central Africa, from 1865 to his death, S. 48. 1025 Vgl. Frackson Fwila Bota/Yizenge A Chondoka: A History of the Tumbuka from 1400 to 1900. e Tumbuka under the M’nyanjagha, Chewa, Balowoka, Senga and Ngoni chiefs, Lusaka 2007, S. 190. 1026 Vgl. ebd., S. 195ff. 1027 Vgl. Bridigal Pachai: Early History of Malawi, London 1972, S. 198.

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Impuls weiterer lokaler Auseinandersetzungen mit einem gesteigerten Grad von Brutalität und Zerstörung¹⁰²⁸. Das führte dazu, dass sich große Teile der Bevölkerung des südöstlichen Afrika in Bewegung setzten und nach Norden wanderten. Während der Migrationsprozesse veränderten sich die Sozialstrukturen der beteiligten Gruppen. Vor dem Hintergrund der kollektiven Erfahrung extremer Gewalt adaptierten Ngoni - Gruppen die verschiedenen Elemente einer gesteigerten Gewaltkultur und funktionalisierten ihre Gewaltkompetenz. In den Quellen sowie in Teilen der Forschung erscheinen sie als ethnische Gruppen mit einer straffen Militärorganisation, die besonders junge Männer als Kriegerkaste mit strenger Disziplin und neuer Waffentechnik in den Vordergrund stellen¹⁰²⁹. Weitere als besonders gewalttätig beschriebene Ethnien waren bspw. die Sangu bzw. Rori sowie die Gogo. Ihnen wurden ähnliche Sozialstrukturen attestiert, Henry Morton Stanley beschrieb sie als »Iren Afrikas«, klanbezogen und voller Wut¹⁰³⁰. Durch den Handel hatten Sangu-Gruppen in den 1840er Jahren Schusswaffen erworben, mit denen sie gegen Karawanen vorgingen und einzelne auch vernichteten, worauin sich die Karawanenrouten veränderten¹⁰³¹. Die Annahme einer konstitutiven Verbindung zwischen Gewaltpraxis und ethnischer Identität verzerrt allerdings den Blick auf die Gewaltphänomene. Kriegerkasten im Rahmen von Altersklassensystemen waren in Ostafrika weit verbreitet, ihre organisatorischen Ausprägungen variierten lediglich je nach Häufigkeit und Intensität der Gewalt. Im Fall der Ngoni-Gruppen führte die dauerhae und intensive Gewalterfahrung zu einer Festigung der tradierten Kriegerkultur, welche sich weiter in Ostafrika verbreitete und auch auf andere Gruppen übergriff, die sich nun ebenfalls mit häufig auretender Gewalt konfrontiert sahen. Solche Phänomene traten auch in Gebieten auf, die nicht mit den Migrationsbewegungen aus dem Süden Ostafrikas in Verbindung gebracht werden können. In verschiedenen Teilen Ostafrikas war die Bevölkerung mit extremer Gewalt konfrontiert. Die innere Logik der Gewalt zielte in diesen Fällen auf eine Kombination aus materiellem Gewinn in Form von Viehraub, Verbreiterung der sozialen Basis durch Frauenraub und Kinderentführung sowie Festigung der inneren Strukturen durch die Zwangsrekrutierung und Ausbildung der Entführten zu Kriegern. Die Techniken und Taktiken dieser Kriegergruppen verbreiteten sich in der Folgezeit auch in den Gebieten des heutigen Südtanzania. Die lokale Zeitung Nyasa News berichtete im Februar 1894 von einer erhöhten Verbreitung neuer Gewaltpraktiken durch Lernprozesse zwischen Ngoni-Gruppen und der Bevölkerung. So wird von adaptierten Guerilla-Taktiken wie Überfällen aus dem Hinterhalt und gezielten Brandlegun1028 Siehe Koponen: People and production in late precolonial Tanzania, S. 76ff. 1029 Vgl. ebd., S. 76f. Siehe auch: Bontinck: L’autobiographie de Hamed ben Mohammed el-Murjebi, Tippo Tip (ca. 1840-1905), S. 50. 1030 Siehe Norman Robert Bennett: Mirambo of Tanzania 1840?-1884, London, Toronto 1971, S. 25. 1031 Vgl. ebd., S. 25.

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gen berichtet. Weiterhin habe sich die Praxis verbreitet, die abgetrennten Köpfe besiegter Gegner als Trophäen aufzustellen¹⁰³². In anderen Gebieten Ostafrikas schien die Gewalt sich ebenfalls zu verändern. So schildern die posthum erschienenen Last Journals David Livingstones die Erlebnisse aus der Gegend um den Tanganyikasee, wo Kriegergruppen gezielt zum Zeitpunkt der Ernte handelten, um junge Männer zu entführen, die das geerntete Korn sogleich mit transportieren sollten¹⁰³³. In der folgenden Zeit beobachtete der Missionar und Afrikaforscher, wie die ansässige Bevölkerung sich die Taktiken der mobilen Kriegergruppen aneignete¹⁰³⁴. Im darauffolgenden Jahr schließlich berichtete er von einer erneuten Änderung der Gewaltpraxis mobiler Kriegergruppen: anstelle eines Raid traten die Krieger zunächst gewaltlos auf, forderten unter Androhung von Gewalt eine bestimmte Anzahl junger Männer und Lebensmittel, und zogen davon, sobald ihre Forderungen erfüllt wurden¹⁰³⁵. Was als Auommen »kriegerischer Stämme« galt, ist also im Kontext einer gesteigerten Gewalterfahrung zu sehen. In einer Umgebung destabilisierter Räume mit hohem Auommen extremer Gewalt erscheinen Veränderungen in den eigenen Gewaltroutinen als Versuche, das eigene soziale Umfeld zu stabilisieren. Besonders vor dem Hintergrund einer mobiler werdenden Lebensweise wurde deutlich, dass Gewalt schnellen materiellen Gewinn verschaffen und auf verschiedene Szenarien angewandt werden konnte. Neben einer saisonalen Gewaltkultur verbreiteten sich Formen exzessiver Gewalt, Bedrohungszenarien und punktuelle Machtinszenierung. Im Kontext eines zunehmend von Gewalt geprägten Klimas verlieren zeitgenössische, europäische Beurteilungen über jene Gruppen an Überzeugungskra. Während dort Irrationalität, Wildheit und Entgrenzung als Hauptaspekte des Gewalthandelns erscheinen, tritt bei näherer Analyse die Zweckrationalität der Gewalt in den Vordergrund. Durch die umfassenden Migrationsbewegungen und den ausgeweiteten Handel war eine überregionale Sphäre des Austauschs und der Bewegung entstanden. Immer mehr Menschen wurden mobilisiert und kamen mit vielfältigen neuen Einflüssen in Kontakt. Im Hinblick auf den Umgang mit Gewalt führte das einerseits zur Intensivierung etablierter Gewaltpraxis, andererseits zum Auommen von neuen sozialen Formationen, deren Integrität hauptsächlich auf Gewalt basierte. Diese beiden Phänomene waren aber auch vielfältig miteinander verknüp: Die Verbreitung mobiler Kriegergruppen führte dazu, dass auch bestehende Gemeinschaen ihre Gewaltpraxis veränderten: Es entstanden neue Anreize für Gewalt, die außerhalb der traditionellen, auf saisonale und rituelle Gewalt 1032 Vgl. o.A.: More about the Yaos, in: Nyasa News 3 (Feb. 1894), SOAS, Signatur: CWM / Africa / Odds / Box 33, 77ff. Siehe auch: Livingstone: e last Journals of David Livingstone, in Central Africa, from 1865 to his death, S. 165. 1033 Vgl. ebd., S. 123. 1034 Siehe ebd., S. 132f. 1035 Siehe ebd., S. 170.

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ausgerichteten Bereiche lagen. Die ausgeweiteten Handelsnetzwerke brachen traditionelle Einhegungsmechanismen auf. Damit änderte sich auch die Logik der Gewalt. Außerhalb der etablierten Sozialstrukturen segmentärer Gemeinschaen konnte Gewalt genutzt werden, um von der Unsicherheit und Offenheit zu profitieren. Die entstandene Sphäre des Austauschs und der Bewegung ermöglichte es besonders Gruppen junger Krieger, eigene Ziele zu verfolgen, neue Gemeinschaften zu gründen oder die tradierten Regelungen ihrer Herkunsgemeinschaen zu umgehen. Dadurch bildeten sich neue soziale Formationen wie mobile Kriegergruppen, deren soziale Basis aus geflohenen Sklaven, Elefantenjägern & entwurzelten Jugendlichen bestand¹⁰³⁶. Es handelte sich dabei meist um junge Männer, die getrennt von ihrer Herkunsgemeinscha lebten und ihr Auskommen nunmehr durch Gewalt sicherten. Diese Gruppen überfielen Karawanen und Dörfer oder erzwangen Abgaben wie Wegzölle oder Tributzahlungen unter Androhung von Gewalt. Personen, die als Kinder von Sklavenhändlern entführt, deren Dörfer zerstört oder deren Familien von Hungersnöten getroffen worden waren, schlossen sich solchen Gruppen an. Die Anführer rekrutierten zudem ebenfalls Kinder und gliederten sie gewaltsam in ihre Reihen ein. So entstanden kleine Gruppen professioneller Krieger, die entweder auf eigene Faust agierten und Überfälle durchführten oder mit lokalen Herrschern bzw. Karawanen kooperierten und ihre Dienste anboten¹⁰³⁷. Durch eine solche Professionalisierung mobiler Kriegergruppen wurden traditionelle Gewaltroutinen in einem neuen Kontext intensiviert. Das galt nicht nur für Raids auf Karawanen, sondern auch für Übergriffe auf Siedlungen. Bisher akzeptierte Grenzen der Gewalt wurden immer seltener respektiert oder waren unklar, so dass insgesamt ein von Eskalationen geprägtes Bild von mobilen Kriegergruppen entsteht, das noch zu Beginn der Kolonialzeit dokumentiert wurde. Im Gebiet östlich des Tanganyikasees erinnerte man sich an die Gewalt jener Gruppen: »Sengend, brennend, mordend und Sklaven machend, zogen diese Raubhorden zunächst der Küste entlang bis in die Nähe von Ujiji; dann wendeten sie sich nach Uvinza und kehrten durch das Innere Ukabendes nach Süden zurück. Noch heute sprechen die Leute mit Schrecken von den Greueln jener Raubhorden [...]«¹⁰³⁸. Mobile Kriegergruppen kombinierten Taktiken traditioneller Raids mit der Mobilität überregionaler Handelsnetzwerke und weiteren neuen Elementen. So verbanden sich die Einflüsse traditioneller Kriegerkulturen mit Elementen der 1036 Vgl. Reid: War in pre-colonial eastern Africa, S. 64 und Shorter: Nyungu-Ya-Mawe and the ’Empire of the Ruga-Rugas’, S. 140f. 1037 Vgl. Reid: War in pre-colonial eastern Africa, S. 64 und Shorter: Nyungu-Ya-Mawe and the ’Empire of the Ruga-Rugas’, S. 140f. 1038 o.A.: BArch R 1001 / Bd. 4999 Deutsch-Ostafrika.

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Swahili-Küstenkultur, welche wiederum zunehmend vom weltweiten Handel geprägt war, zu neuen Kriegerkulturen und Identitäten. Soziale Basis dieser Kulturen waren Zusammenschlüsse aus Teilen verschiedener Bevölkerungsgruppen, die durch Handel und Migration mobilisiert worden waren: »[...] aus den Trümmern der vielen Kriegshorden haben sich Banditenbanden gebildet, die unter dem Namen Ruga-Ruga bekannt und gefürchtet sind und von denen alle Wälder voll sind«¹⁰³⁹. Das ließ sie zu einem entscheidenden Faktor in den Konflikten zwischen lokalen Gemeinschaen oder bei der Einflussnahme auf die überregionalen Handelsstrukturen werden. Zwar konnten lokale Siedlungen die zusätzliche Schlagkra mobiler Kriegergruppen nutzen, um eigene Interessen durchzusetzen, doch gefährdete man unter Zuhilfenahme mobiler Kriegergruppen im Konflikt um die Kontrolle der Handelswege insgesamt die Möglichkeiten, die Gewalt einzudämmen. Mit fremden Akteuren, die nicht mit den regionalen Gegebenheiten vertraut waren und weder Vermittler kannten noch akzeptierten, entstand ein immenses Eskalationspotenzial. Die Verbindung von ökonomischen mit weiteren, nichtökonomischen Zielen veränderte die Gewaltnutzung tiefgreifend: Mobile Kriegergruppen nutzten tradierte Formen der Gewaltausübung und passten Taktiken, Hierarchien und Gewaltroutinen an die neuen Bedingungen an, welche durch die Ausweitung der ostafrikanischen Handelsnetzwerke existierten. Sie nutzten Gewalt nicht mehr im Rahmen eines Jahreszyklus zu bestimmten Anlässen wie der Initiation neuer Krieger, sondern waren aufgrund ihrer mobilen Lebensweise ständig darauf angewiesen, Gewalt anwenden zu müssen, um als Gruppen überleben zu können. Gewalt wurde zum Hauptgeschä und zur Basis der Lebensweise dieser Gruppen. Das wirkte sich sowohl auf die internen Hierarchien der Gruppen aus als auch auf die Art der Gewalt. Dabei verbanden sie Elemente tradierter Gewaltsozialisation mit neuen Elementen und kulturellen Einflüssen. Ähnlich dem gewalthaen Arm einer traditionellen Ökonomie, der in Notzeiten Gewalt nutzte, um die Grundbedürfnisse decken zu können, handelten mobile Kriegergruppen schnell. Ihre Ziele waren allerdings nunmehr nicht mehr vorrangig die bewachten Viehherden von Dörfern, sondern zunehmend die Waren und Tiere, welche bei Karawanenreisen mitgeführt wurden. Überfälle auf Karawanen verliefen nach anderen Gewaltroutinen als Raids auf Siedlungen. Die Gewalt der Plötzlichkeit während eines Überfalls auf eine Karawane nutzte zunächst Elemente traditioneller Gewaltroutinen und ein Wissen, wie es im Rahmen der Initiation junger Krieger vermittelt wurde. Die Erfahrung als Jäger, Krieger oder Raiding Scouts und die tradierte Wissensbasis, wie sie traditionell im Rahmen von Altersklassensystemen weiterge1039 Falkenhorst: Schwarze Fürsten. Bilder aus der Geschichte des dunklen Erdteils, S. 68.

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geben wurde, ließ sich auch im Kontext des Handels effizient nutzen¹⁰⁴⁰. Allerdings veränderten sich auch einige Taktiken und wurden durch neue Elemente ergänzt. So verbanden sich bestehende Gewaltkulturen mit neuen Elementen, die aus dem Kontext des überregionalen Handels stammten: In der Nähe von Handelsrouten überfielen die Gruppen Karawanen aus dem sicheren Hinterhalt eines unübersichtlichen Geländes. Besonders die Integration von Schusswaffen intensivierte das Element der Abschreckung und des Überraschungsmoments: Allein der Klang von Schüssen veranlasste Träger o, ihre Lasten aufzugeben und zu fliehen. Solche Überfälle auf mobile Ziele waren außerdem tendenziell weniger verlustreich als Attacken auf Siedlungen, die immer öer befestigt wurden. Besonders bei der Erzeugung von Überraschungs- und Schockeffekten entstand eine Veränderung zum traditionellen Raid: Durch Feuerwaffen entstand zusätzlicher Lärm, der eine höhere Erfahrung von Plötzlichkeit und gesteigertem Terror verursachte. Das Mündungsfeuer der Schusswaffen wurde zu einem festen Bestandteil der Geräuschkulisse ostafrikanischer Handelsnetzwerke des 19. Jahrhunderts¹⁰⁴¹. Da Karawanen auch trotz Begleitung bewaffneter Krieger schlecht zu verteidigen waren, war die Schnelligkeit des Zuschlagens ein zentraler Punkt, auf den mobile Kriegergruppen ihre Gewaltroutinen ausrichteten. Mit Hilfe eines plötzlichen, mit Schusswaffen begleiteten Raids konnte man die Karawanenmitglieder in die Flucht schlagen oder sie in einen Schockzustand versetzen, während die dadurch gewonnene Zeit genutzt werden konnte, um transportierte Güter und mitgeführtes Vieh zu erbeuten. Dies geschah o, bevor die Karawanenanführer eine Verteidigung einleiten konnten. Der Lärm von Schusswaffen und das Wissen um deren tödliche Wirkung sorgte für eine Intensivierung der Schockwirkung. Hinzu kamen abgetrennte Körperteile, die am Körper der Angreifer getragen wurden oder Halsketten aus menschlichen Zähnen bzw. Gürtel aus menschlichen Eingeweiden. Als besonderes Kennzeichen galten rote Bekleidungsstücke (Ngazia), die als Zeichen für Blutvergießen galten und das Blut der Angegriffenen symbolisierten sollten¹⁰⁴². Mit der kreativen Umformung traditioneller Gewaltroutinen ging eine Intensivierung einher, die besonders das gewalthae Aureten und die terrorisierende Wirkung aggressiver Krieger betrafen. Die Umformung der Gewaltlogik ist aus dem Wirken der Kriegergruppen in einer stark dynamisierten Umgebung zu erklären, in der eine punktuelle und exzessiv wirkende Inszenierung von Gewalt besonders wirkungsvoll war. Durch eine mobile Lebensweise professioneller Kriegergruppen ergaben sich nicht nur auf der Ebene der Gewalt selbst Unterschiede zu sesshaeren Grup1040 Vgl. Jackson: e Dimensions of Kamba Pre-Colonial History, S. 224. 1041 Vgl. Gunderson: Expressive Bodies / Controlling Impulses: e Dance Between Official Culture and Musical Resistance in Colonial Western Tanganyika, S. 152. 1042 Shorter: Nyungu-Ya-Mawe, S. 13. Siehe auch: Arthur Dodgshun: From Zanzibar to Ujiji. e Journal of Arthur W. Dodgshun 1877-1879, hrsg. v. Norman Robert Bennett, Boston 1969, S. 72f.

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pen. Auch in der gemeinschalichen Aufgabenverteilung machte sich bemerkbar, dass die Abwesenheit der ständig aktiven Krieger Auswirkungen hatte. David Livingstone berichtete von Frauen, Kindern, Vieh und Ziegen, die zu den mobilen Gruppen gehörten¹⁰⁴³. Während alle Männer in die Raubökonomie eingebunden waren, war es »[...] die Arbeit der Frauen, die Hütten zu bauen und zu reparieren sowie den Boden zu kultivierten [...]«¹⁰⁴⁴. Die Raubzüge der Kriegergruppen erstreckten sich o über mehrere Monate und nahmen großräumige Gebiete zum Ziel. Der Missionar Walter Angus Elmslie beschrieb eine solche Gruppe westlich des Njassasees im Jahr 1878: »I have seen an army, ten thousand strong, issue forth in June and not return till September, laden with spoil in slaves, cattle and ivory, and nearly every man painted with white clay, denoting that he had killed someone«¹⁰⁴⁵. Solche Gruppen repräsentierten die Umformung traditioneller Gewaltkulturen wie der Praxis saisonaler Raids und der Distinktion von Kriegern mittels Ehrenzeichen. Bei den ausgedehnten Raubzügen war eine größere Zahl von Kriegern beteiligt, die durch eine mobile Lebensweise lokale Gewaltspiralen umgehen und verschiedene Gebiete durchziehen konnten, ohne von den Beraubten zur Rechenscha gezogen zu werden. Im Umfeld transregionaler Handelsnetzwerke intensivierte sich die Gewalt und der Raub von Elfenbein und Sklaven verflocht sich mit bestehenden Praktiken wie dem Viehraub. Auch die Formen öffentlicher Gewaltinszenierungen blieben davon nicht unberührt: so wurden Ngomas auch während Karawanenreisen durchgeführt und Schusswaffen integriert. Davon berichtete der Elfenbein- und Sklavenhändler Tippu Tip ebenso wie Arthur Dogshun und John Speke, dessen Mitreisender James Grant sich an den Tänzen beteiligte¹⁰⁴⁶. Gleichzeitig verstetigte sich die Gewalt: Aus der Umformung und Intensivierung der Gewalt entstanden neue soziale Formationen und Identitäten. Erfolgreiche Kriegergruppen, die sich auf eine mobile Lebensweise und eine intensive Raubökonomie eingestellt hatten, wuchsen schnell und konnten viele Menschen in die eigenen Reihen integrieren. Das führte zum Zusammenschluss größerer, mobiler 1043 Vgl. Livingstone: e last Journals of David Livingstone, in Central Africa, from 1865 to his death, S. 48. 1044 »[...] it was the work of the women to build and repair the huts, as well as cultivate the gardens [...]« (Elmslie: Among the wild Ngoni, S. 36), meine Übersetzung. 1045 ebd., S. 78. 1046 Siehe Hamed Bin Muhammed El Murjebi: Maisha ya Hamed Bin Muhammed El Murjebi, Yaani Tippu Tip, kwa Maneno Yake Mwenywe. Nairobi 1971, S. 209, zit. n. Gunderson: Expressive Bodies / Controlling Impulses: e Dance Between Official Culture and Musical Resistance in Colonial Western Tanganyika, S. 153. Siehe auch: Dodgshun: From Zanzibar to Ujiji. e Journal of Arthur W. Dodgshun 1877-1879, S. 45.

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Abbildung 5.1: Darstellung eines Ngoma aus: John Hanning Speke: Journal of the discovery of the source of the Nile, London [u.a.] 1864.

Gruppen, die als Ethnien angesehen wurden. Die Vorstellung von einheitlichen Gruppen ist allerdings irreführend, vielmehr waren die entstehenden Verbände einer hohen Fluktuation ausgesetzt und setzten sich aus Personen unterschiedlicher Herkun zusammen. Das erklärt auch die Festigung von Kriegerkulturen auf der Basis von Altersklassen. Die Schaffung von Kriegergruppen bot die Möglichkeit zur Stabilisierung der mobilen Gruppen. Durch den Zusammenschluss junger Männer in eine Kriegerkaste entstanden definierte soziale Einheiten, welche sich stabilisierend auswirken und immer neue Jugendliche integrieren konnten. Die ostafrikanischen Handels- und Kommunikationskorridore erweiterten die Elemente der Gewaltkultur und begünstigten vielfältige Wandlungsprozesse. Doch auch in Gebieten, die weniger von der Ausweitung der Handelsnetzwerke betroffen waren, veränderten und intensivierten sich traditionelle Gewaltkulturen. In den Hochländern um den Meruberg im heutigen Kenia, so berichten lokale Traditionen, fanden ebenfalls Prozesse kulturellen Austausches statt, welche die Kriegerkultur beeinflussten. Kleidung, Abzeichen und Bewaffnung von Kriegergruppen aus dem umliegenden Tiefland verbreiteten sich und führten zu einer Veränderung im Selbstbild der Gruppen. In den Regionen von Kianjahi und Muthara, so dokumentierte Jeffrey Fadiman, übernahmen die Krieger die Selbstbezeichnung Uru und bildeten einen gewalttätigen Gegensatz zur ansässigen Bevölkerung. Inmitten einer Gewaltlogik zwischen Viehgewinnung, persönlicher Ehre, Männlichkeit und saisonal durchgeführten Raids weiteten sich auch im Hochland um den Meruberg Gewaltpraktiken aus, die zwar als destabilisierend angesehen wurden, aber dennoch durch traditionelle Methoden der Einhegung von Gewalt

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in einem gewissen Rahmen gehalten werden konnten¹⁰⁴⁷. Traditionelle Verhandlungsmechanismen funktionierten in einem gewissen Rahmen weiter, besonders wenn die beteiligten Gemeinschaen vorher bereits miteinander in Kontakt gestanden hatten¹⁰⁴⁸. In diesen Fällen übten bekannte Vermittler ihre traditionellen Funktionen im Bereich der Verhandlung aus und konnten so ggf. für Deeskalation und Gewaltbegrenzung sorgen. Auch die Überlieferung zu Raids im Hinterland der ostafrikanischen Küste lässt den saisonalen Zusammenhang der Gewalt als fortbestehende traditionelle Formen der Gewaltpraxis erkennen. Der Historiker omas Spear dokumentierte zahlreiche Vorfälle von Gewalt in seiner Studie zum Mijikenda-Gebiet im Hinterland der ostafrikanischen Küste. Seit dem Jahr 1824 belegt er solche Vorfälle, die sich auf verschiedene Ziele des Hinterlands richteten: Im Jahr 1855 waren zunächst die Gegenden am Pangani-Fluss betroffen sowie in den Monaten Januar bis April die Gegend um Duruma, als dort Vieh, Frauen und Kinder geraubt wurden. Das restliche Jahr verlief ruhig. Im Jahr 1857 fand ein Raid auf die Siedlung Rabai statt, die ansässige Bevölkerung mitsamt den Inhabern der Missionsstation flüchtete zur Küste und überließ alles Vieh den Angreifern. Weitere dokumentierte Angriffe fanden 1859 in Vanga, zwischen 1870 und 1872 in Mombasa, Ribe und Duruma, 1876 in Jomvu, 1877 in Giriama und Malindi, 1882 in Ribe sowie 1884 und 1887 in Rabai statt, bis eine Rinderseuche in den Jahren 1889/90 eine Hungersnot nach sich zog. Infolge dessen war die Bevölkerung im Hinterland so dezimiert und ihrer Lebensgrundlage beraubt, dass weiträumige Raids ausblieben und lokal stärker eingegrenzt waren. Die Hungersnot der Jahre 1889/90 führte weiterhin dazu, dass die betroffenen Gruppen zersplittert wurden, migrierten oder sich anderen Gruppen anschlossen. Die Gewaltkultur dieser Gruppen basierte auf einer Logik, die sich an Formen saisonaler Gewalt orientierte, auf etablierten Netzwerken traditioneller Raids auaute und gewisse Grenzen hatte. Die Gewalt konzentrierte sich wesentlich auf den Viehraub und hinterließ meist eine intakte Infrastruktur. Die ansässige Bevölkerung konnte nach der Flucht in ihre Dörfer zurückkehren, Häuser und Felder waren nicht beschädigt worden¹⁰⁴⁹. Destabilisierende Faktoren wie Viehseuchen und Krankheiten wirkten sich allerdings auch auf die Gewalt aus. Regionale Viehseuchen verhinderten, weiträumige Raids durchzuführen. Solche Raids erforderten langfristige Planung und eine funktionierende Infrastruktur, die eine dauerhae Versorgung der Kriegergruppen mit Nahrung garantierte. Großräumige Raids mussten zudem gesunde, kräige Rinder zum Ziel haben, die nach dem Raub über große Strecken bewegt werden konnten. Viehseuchen, Ernteausfälle und Hungersnöte machten es daher 1047 Vgl. Fadiman: When We Began, ere Were Witchmen: An Oral History from Mount Kenya, S. 91f. 1048 Vgl. ebd., S. 91f. 1049 Vgl. Spear: e Kaya Complex, S. 178.

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notwendig, dass man Siedlungen in der Nähe angreifen musste. Dies wiederum führte zu einer Intensivierung der Gewalt in den jeweiligen Regionen. So bestätigen lokale Traditionen aus den Hochländern Kenias eine Verlagerung der Raids in Gebiete im Landesinneren. Dort wurde die Rinderseuche der Jahre 1889/90 als Einschnitt gesehen, der vielfach zu lokalen Konflikten führte. Die Kriegerkaste Ndungu, in den Jahren 1884-1888 initiiert, nahm an zahlreichen Auseinandersetzungen teil, die sich nicht mehr auf entfernte Ziele wie die genannten Küstengebiete richteten. Die etablierten Infrastrukturen für solche Vorhaben schienen zusammengebrochen zu sein, was die Konflikte in die Regionen um den Nyeri Distrikt verlagerte¹⁰⁵⁰. Die mündlichen Traditionen bestätigen somit in diesem Fall zeitgenössische schriliche Quellen und belegen die Verlagerung der Gewalt von etablieren, großräumigen Raid-Netzwerken in regional begrenzte Territorien im landesinneren Kenyas in den Jahren 1889 und 1890. Der Vorteil langfristig geplanter saisonaler Raids mit entfernten Zielen war, dass die Angreifer o unerkannt blieben und somit nicht mit Forderungen nach Kompensation durch die Elders der beraubten Siedlung rechnen mussten. Gleichzeitig stärkte die gemeinsame Gewaltaktion und das Zusammenleben über den Zeitraum des Raids die Kriegergruppe nach innen und sorgte bei der Rückkehr in die Herkunsgemeinscha für Prestige und höhere Akzeptanz, die durch den Aufstieg in höhere Segmente des Altersklassensystems honoriert werden konnte. Mit einer Verlagerung der Gewalt in näher gelegene Gebiete bestand ein hohes Risiko von Destabilisierung, falls die Kriegergruppen erkannt wurden und die Herkunsgemeinscha mit Entschädigungsforderungen oder Racheakten reagierten. Das konnte zu einer weiteren Destabilisierung und lokalen Gewaltspiralen führen, wie sie o von europäischen Reisenden beobachtet wurden. Was allerdings von Europäern als irrationale inhärente Gewalthaigkeit afrikanischer Despoten gedeutet wurde, war o die Auswirkung einer umgreifenden Unsicherheit und dem tiefgreifenden Wandel traditioneller Arten, mit Gewalt umzugehen. Durch die umfassenden Migrationsbewegungen und den ausgeweiteten Handel entstand, wie bereits gezeigt, eine überregionale Sphäre des Austauschs und der Bewegung. Immer mehr Menschen wurden mobilisiert und kamen mit vielfältigen neuen Einflüssen in Kontakt. Im Hinblick auf den Umgang mit Gewalt führte das einerseits zur Intensivierung etablierter Gewaltpraxis, andererseits zum Auommen von neuen sozialen Formationen, deren Integrität hauptsächlich auf Gewalt basierte. Diese beiden Phänomene waren aber auch vielfältig miteinander verknüp: Die Verbreitung neuer, mobiler Kriegergruppen und ihr Agieren führte dazu, dass auch bestehende Gemeinschaen ihre Gewaltnutzung veränderten. Mit einer neuen Kultur der Mobilität wandelte sich also auch die Gewaltpraxis: Es entstanden neue Anreize für Gewalt, die außerhalb der traditionellen, auf saisona1050 Vgl. Muriuki: e Kikuyu in the pre-colonial period, S. 132.

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le und rituelle Gewalt ausgerichteten Bereiche lagen. Die situativen Kontexte und Logiken der Gewalt vervielfältigten sich, die Gewalt blieb im Wandel. Es entstanden neue Freiräume für den Gebrauch von Gewalt, die einer veränderten Logik folgte und auf Schockwirkung, Gewaltexzess und Massaker ausgerichtet wurde. Im Umfeld des Handelsnetzwerks war die Möglichkeit des Gewaltexzesses ständig präsent, wenn Karawanen aufeinander trafen, mit der lokalen Bevölkerung in Kontakt traten oder mit Kriegergruppen konfrontiert waren. Durch die grundlegende Mobilisierung der Bevölkerung ergaben sich viele solcher Situationen des Aufeinandertreffens, für deren Ablauf es keine allgemein bekannten oder akzeptierten Konventionen gab. Daher erschien es einerseits zweckrational, bestehende Gewaltpraktiken zu intensivieren, um sich entsprechend verteidigen zu können. Andererseits bot der Handel auch stets die Möglichkeit, durch aktiven Gebrauch von Gewalt an die potenziellen Handelsgüter zu kommen bzw. durch gewaltsame Rekrutierung Sklaven zu gewinnen¹⁰⁵¹. Aus diesen vielschichtigen Aspekten ergibt sich, mit Bezug auf die Charakterisierung Georg Elwerts, eine relative Offenheit der Gewalt, repräsentiert durch eine begrenzte Anzahl von Elementen der Gewaltkultur, die von den jeweiligen Akteuren unterschiedlich kombiniert wurden. Es fanden Umorientierungen in der Gewaltnutzung statt¹⁰⁵². Neues und Bekanntes existierten nebeneinander und beeinflussten sich gegenseitig. Das implizierte gegenseitige Lernprozesse und Austausch in Waffentechnik und Taktik¹⁰⁵³. Vor diesem Hintergrund verstetigten sich transformierte Gewaltkulturen: Ostafrika war dauerha, über Jahrzehnte hinweg, mit veränderten Gewaltpraktiken und -phänomenen konfrontiert. Wie sich die Veränderungen in der Gewaltnutzung auf die dortigen Gemeinschaen auswirkte, wird im Folgenden genauer analysiert. Dabei geht es um belegbare innere Veränderungen, die mit einer gesteigerten Gewalterfahrung einher gingen: Routinen und Praktiken, mit denen sich Siedlungen und Gemeinschaften vor drohender Gewalt schützten, sowie Strategien, die eigene Verteidigung zu stärken und Gewalt zu vermeiden. Dabei steht u.a. die Praxis des Hongo im Mittelpunkt, der Forderung von Wegzöllen unter Androhung von Gewalt. In einem Klima von Unsicherheit und ständiger Bedrohung erhielten traditionelle und neue Gewalteliten eine zentrale Bedeutung. Sie sorgten für Drohkulissen, verteidigten ihre Gemeinschaen oder wandten Gewalt an, um an Güter und Lebensmittel zu kommen. Auf politischer Ebene wurde in der bisherigen Forschung ein Zentralisierungsprozess attestiert, der vor Allem mit dem Auommen neuer Gewalteliten und ihrer Anführer in Verbindung gebracht wurde.

1051 Vgl. Elwert: Gewaltmärkte. Beobachtungen zur Zweckrationalität der Gewalt, S. 88. 1052 Vgl. Reemtsma: Brachiale soziale Gestaltung, S. 85. 1053 Siehe hierzu auch: Ayot: Historical texts of the lake region of the East Africa, S. 29ff.

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5.2.2 Die Festigung veränderter Gewaltnutzung

»Kaum waren wir im Lager, als plötzlich von allen Seiten laut die Kriegshörner ertönten und der Ruf: »Warugu, Urugu!« - was soviel heißt wie »Diebe, Diebe!« - erschallte. [...] Die Leute stürzten sich in ihre Dörfer, und in kurzer Zeit sahen wir sie in voller Kriegsausrüstung heranziehen. Strauß- und Adlerfedern wogten auf der Stirn, Zebramähnen um den Kopf; Knie und Knöchel waren mit kleinen Schellen besetzt. Vom Nacken flatterten ihre Gewänder: Speere, Knüttel und Bogen schwenkten die über dem Kopf oder hielten sie in der rechten Hand, zum Wurf bereit. So passierten in kurzer Zeit an tausend kriegsbereite Soldaten das Dorf. Für diesmal blieb es allerdings bei dem bloßen Alarm, denn der Kriegsruf erwies sich bald als grundlos«¹⁰⁵⁴. Dieses Erlebnis Henry Morton Stanleys steht für eine Vielzahl verschiedener Strategien und Veränderungen, denen sich ostafrikanische Siedlungen im 19. Jahrhundert angesichts gesteigerter Gewalterfahrung ausgeliefert sahen. Neben dem Auommen neuer Formen exzessiver Gewalt intensivierten sich auch traditionelle Methoden, mit Gewalt umzugehen. Dadurch formten sich etablierte Gewaltroutinen um und reagierten auf die Intensität und Häufigkeit gesteigerter Gewalt. Das betraf einerseits defensive Maßnahmen und Praktiken: Die Konfrontation mit häufigen, plötzlichen Raids auf Siedlungen verlangte eine schnelle Reaktion und führte zu Verteidigungsroutinen, die, wie im geschilderten Fall, schnell ausgeführt werden konnten. Weiterhin entwickelte man andere Taktiken, um sich auf die Gewalt einzustellen. Schnelle Flucht der Dorewohner bei jedem Anzeichen von auommender Gewalt wurde o als Reaktion beschrieben. So berichtete David Livingstone von Rückzugsräumen in Wäldern oder Bergen, die den aufgeschreckten Bewohnern regelmäßig als Versteck dienten¹⁰⁵⁵. Siedlungen wurden befestigt, verlegt oder aufgelöst, um der Gefahr von Raids zu begegnen. Viele Berichte schildern die Errichtung von hölzernen Befestigungen oder Gräben, die vor Überfällen schützen sollten¹⁰⁵⁶. Tippu Tip beschrieb mit tiefen Gräben umrundete Dörfer, die mit dreifachen Palisaden aus Dornbüschen gesichert werden sollten¹⁰⁵⁷. Ein Umsiedeln in höher gelegene, steinige Gegenden wurde ebenfalls 1054 Stanley: Wie ich Livingstone fand, S. 178. 1055 Vgl. Livingstone: e last Journals of David Livingstone, in Central Africa, from 1865 to his death, S. 40f. Siehe auch: J. A. Meldon: e Latuka, in: Journal of the African Society 9.35 (Apr. 1910), S. 270–274, hier S. 271. 1056 Siehe auch: Brock: e Nyiha (of Mbozi), S. 72f. 1057 Siehe Bontinck: L’autobiographie de Hamed ben Mohammed el-Murjebi, Tippo Tip (ca. 18401905), S. 50. Siehe hierzu auch die Kindheitserinnerungen des ca. 1889 in Kibosho geborenen Stefano Lyatuu, der sich daran erinnerte, dass seine Mutter ihn bei der Flucht auf dem Rücken trug als sie in einen Graben fiel, der die Siedlung Kibosho umgab (Siehe Lyatuu: Begebenheiten,

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dazu genutzt, um sich durch Steine und Pfeile aus erhöhter Position heraus besser verteidigen zu können¹⁰⁵⁸. Regelmäßige Nachtwachen halfen ebenfalls dabei, eventuelle Angreifer frühzeitig zu erkennen. Auch Höhlen wurden ausgebaut und als Verstecke für die Dorewohner genutzt, sobald man auommende Gefahren erkannt hatte¹⁰⁵⁹.

Abbildung 5.2: Befestigter Dorfeingang. Aus: J. A. Meldon: e Latuka, in: Journal of the African Society 9.35 (Apr. 1910), S. 270–274.

Mit Hilfe dieser defensiven Maßnahmen konnte erreicht werden, dass man in Verhandlungen mit mobilen Kriegergruppen treten bzw. ihre Angriffe rechtzeitig verhindern konnte. So beschrieb der Missionar Dr. Smith einen Vorfall zu Weihnachten 1876, als sich eine Kriegergruppe der befestigten Siedlung genähert hatte, man aber die Tore schließen und alle anderen Eingänge verbarrikadieren konnte. Das führte zu Verhandlungen und schließlich dazu, dass die Krieger ohne Beute weiterziehen mussten¹⁰⁶⁰. Zur Abschreckung wurden Köpfe getöteter Krieger auf Pfählen an den Eingängen befestigter Siedlungen aufgestellt¹⁰⁶¹. Neben der Kombination von Schutzmaßnahmen und Abschreckungsstrategien wurden neue

1058 1059 1060 1061

die ich während meiner Kindheit erlebt habe, S. 57). Weitere Beispiele siehe Langheld: Zwanzig Jahre in deutschen Kolonien, S. 13ff. sowie ebd., S. 79. Livingstone: e last Journals of David Livingstone, in Central Africa, from 1865 to his death, S. 129. Siehe Bontinck: L’autobiographie de Hamed ben Mohammed el-Murjebi, Tippo Tip (ca. 18401905), S. 78. Vgl. Smith: Dr. Smith to Rev. H. Wright; Feb 9th, 1877, CMS, Nyanza Mission Mission Book M1, 1876-1878. Signatur: CMS / B / OMS / C A6 / M1. Vgl. Livingstone: e last Journals of David Livingstone, in Central Africa, from 1865 to his death, S. 165.

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Möglichkeiten genutzt, den eigenen Besitz gegen Raub abzusichern: Als Reaktion auf die vergrößerten Kriegergruppen und die gesteigerte Brutalität von Raids belegten Archäologen für weite Teile der Hochländer Kenias eine Veränderung in der Viehhaltung: In den Gegenden zwischen dem Naivasha-See, dem Nakuru-See und Mt. Kenia wurden sog. Sirikwa Holes untersucht. Dabei handelte es sich um gegrabene Vertiefungen in der Mitte einer Siedlung, in welche das Vieh abends getrieben wurde. Diese Vertiefungen waren umringt von einer Palisade aus Holz und Gebüsch und dienten zum Schutz vor Wildtieren und den Raids kleiner Kriegergruppen. Konfrontiert mit größeren und schlagkräigeren Kriegergruppen boten diese Anlagen jedoch nicht mehr ausreichend Schutz. Die Haltung des gesamten Viehs einer Siedlung an einem zentralen Ort barg zusätzlich die Gefahr, den gesamten Besitz an Vieh zu verlieren, falls man Opfer eines Raids wurde. Im Lauf der Jahrzehnte nach 1850 sorgten zunehmend an erhöhten Punkten postierte Wächter und mobile Späher dafür, dass frühzeitig vor Gefahr gewarnt wurde. In diesem Fall wurde das Vieh in entlegene Verstecke getrieben oder in den Wäldern versteckt¹⁰⁶². Der Begriff Sirikwa selbst wurde mit einer vergangenen Zeit und den Menschen assoziiert, die in der Vergangenheit gelebt hatten¹⁰⁶³. Damit steht diese veränderte Art der Viehhaltung gleichsam für eine weitere Facette transformierter Gewaltpraxis. Die ehemals genutzten Vertiefungen wurden mit Hilfe archäologischer Arbeiten freigelegt, die Deutung ihrer Bezeichnung weist auf eine Veränderung in der Gewaltpraxis hin, die auf eine Kombination aus stationärer und mobiler Viehhaltung setzte und einen gesteigerten Einsatz von Arbeitskräen erforderte. Der britische Reisende John Boyes beschrieb im Jahr 1898 Siedlungen, die ihr Vieh von jungen Kriegern bewachen ließ¹⁰⁶⁴. Die Wache über das Vieh war auch innerhalb traditioneller Altersorganisationen fester Bestandteil und für jeden heranwachsenden Jungen vorgesehen. Diese tradierte Art der Gewaltnutzung wurde intensiviert: Mit der veränderten Art der Viehhaltung und den zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen entstand die Notwendigkeit, mehr junge Männer dafür zu rekrutieren und kompetentere Krieger einzusetzen, die eine effektive Verteidigung ermöglichen konnten. In einem dynamischen, stärker von Gewalt geprägten Umfeld wurden die jungen Krieger zu einem wichtigen Stabilitätsfaktor für ihre Herkunsgemeinschaen; ihre im Rahmen tradierter Altersorganisationen bereits angelegte Rolle wurde vor dem Hintergrund einer allgemein gesteigerten Gewalterfahrung noch mehr betont. Auch im Ackerbau fanden sich Reaktionen auf die Gewalt. So berichtete David Livingstone von kreisförmig angelegten Beeten, die verstreut in naheliegenden 1062 Vgl. Sutton: e Kalenjin, S. 50. 1063 Siehe G.W.B. Huntingford: Survey of Ancient & Historical Monuments & Constructions in Nandi, SOAS, Signatur: PP MS 17 / 12, S. viii sowie Blackburn: Okiek History, S. 75, Galaty: Maasai Expansion & the New East African Pastoralism, S. 67. 1064 Vgl. Boyes: King of the Wa-Kikuyu, S. 78f.

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Wäldern angelegt wurden, um nach Brandlegungen auf Reserven zurückgreifen zu können¹⁰⁶⁵. Trotz dieser Fülle an Reaktionen und Schutzmechanismen gab es manche Gegenden, in denen viele Siedlungen massiv angegriffen wurden. Das führte dazu, dass Viele ihre Heimat verließen und sich selbst in die Abhängigkeit der Sklaverei begaben, um den Lebensunterhalt bestreiten zu können¹⁰⁶⁶. Blieben die Gemeinschaen bestehen, reagierten sie o auch auf der Ebene innerer Strukturen mit offensiv ausgerichteten Gewaltpraktiken. Kriegerkulturen wurden intensiviert und man beteiligte sich ebenfalls am Sklavenhandel, indem man selbst Raids auf benachbarte Siedlungen durchführte, um Menschen zu entführen und sie an Küstenhändler weiter zu verkaufen¹⁰⁶⁷. Dabei veränderten sich die inneren Strukturen ostafrikanischer Gemeinschaen. Mündliche Traditionen aus dem Kikuyu-Gebiet erinnern an die Generationeneinheiten Ndemi und Mathani, welche mit dem ersten Kontakt zu Europäern assoziiert wurden. In dieser Zeit wurde die Ausbildung von Kriegern intensiviert und Ämter geschaffen, die eigens zum Zweck der strategischen Nutzung von Gewalt dienten¹⁰⁶⁸. Auch in den Gebieten um den Meruberg berichteten mündliche Überlieferungen von hohem Auommen von Gewalt seit 1850, auf die man mit Zusammenschlüssen von Kriegergruppen reagiert und dadurch eine erfolgreiche Vertreidigung aufgebaut hatte¹⁰⁶⁹. Östlich des Viktoriasees hatte sich bereits im frühen 19. Jahrhundert aufgrund der Nachfrage nach Elfenbein eine Jägerelite namens Aligo gebildet. Sie organisierten sich als professionelle Jäger, die ihre Waren auf dem Markt von Paluo verkauen. Durch den gewonnenen Reichtum übten sie als neue Elite Druck auf bestehende Autoritäten aus, rekrutierten Mitglieder und agierten als mobile soziale Formationen, die in traditionelle Strukturen eindringen und sie verändern konnten¹⁰⁷⁰. Teile der bisherigen Forschung weisen solchen Eliten eine zentrale Rolle in den Transformationsprozessen des 19. Jahrhunderts zu. So wurden die Anführer von Kriegergruppen zu gefragten Gewaltexperten, deren Handeln sich auf viele Wirklichkeitsbereiche auswirkte. In einem Klima der Unsicherheit wandelte sich auch der Umgang zwischen lokalen Siedlungen und fremden Gruppen. Besucher wurden grundsätzlich als Bedrohung angesehen und ihnen wurde mit Misstrauen, Ablehnung bis hin zur offenen Gewaltandrohung begegnet. Diese Erfahrung spiegelt ein Sprichwort aus den Usambara-Bergen: »Wer sich leichtfertig unbekannte Gäste einlädt, bringt 1065 Livingstone: e last Journals of David Livingstone, in Central Africa, from 1865 to his death, S. 140. 1066 Vgl. ebd., S. 89f. 1067 ebd., S. 89f. 1068 Siehe Mugo: Kikuyu People. A brief outline of their customs and traditions, S. 40ff. 1069 Siehe Arno Krause: Vierteljahresbericht für die Station Nkoaranga am Meru (April, Mai, Juni 1905), in: Klaus-Peter Kiesel (Hrsg.): Tagebuch der Missionsstation Nkoaranga (Tanzania), 1902-1905, Leipzig 2007, S. 101. 1070 Siehe Ogot: A history of the Luo-speaking peoples of eastern Africa, S. 140.

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seinem Dorf die Diebe auf d. Hals« (Akaju kanyegeza kashombela ekyalo abashuma)¹⁰⁷¹. Vor dem Hintergrund gewalttätiger Raubaktivitäten von Karawanen, häufiger Raids auf Dörfer und deren wirtschalichen Folgen etablierte sich eine Praxis, die unter dem Namen Hongo bekannt wurde. John Haning Speke beschrieb dieses Phänomen wie folgt: »On merchandise brought into the country by traders, [the King] has a general right to make any exactions he thinks he has the power of enforcing, without any regard to justice or a regulated tariff. is right is called Hongo, in the plural Mahongo«¹⁰⁷². Es handelte sich dabei traditionell um eine Form der Kommunikation zwischen Reisenden und ansässigen Siedlungen, die im Lauf des 19. Jahrhunderts zunehmend von der Gewalt überschattet wurde¹⁰⁷³. Der Begriff Hongo wurde ursprünglich mit »Gastgeschenk« übersetzt und bezog sich auf die Pflege von Handelsbeziehungen. John Haning Speke bspw. schildert, wie Geschenke gegenseitig ausgetauscht wurden. Er bekam ein Gastgeschenk von Phanze Khombe la Simba, dessen Name er mit »Claw of Lion« übersetzte, und machte ähnliche Erfahrungen des friedlichen Gütertausches¹⁰⁷⁴. Die geschenkten Objekte waren Insignien der Macht, welche auf die mystischen Kräe des charismatischen Anführers bezogen waren: »Some little boys came here who had all their hair shaved off excepting two round tus on either side of the head. ey were the king’s pages; and, producing three sticks, said they had brought them to me from their king, who wanted three charms or medicines. en placing one stick on the ground before me, they said, is one is a head which, being affected by dreams of a deceased relative, requires relief; the second symbolized the king’s desire for the accomplishment of a phenomenon to which the old phallic worship was devoted; and this third one, they said, is a sign that the king wants a charm to keep all his subjects in awe of him«¹⁰⁷⁵. Die Art und Menge der geschenkten Güter wurden dabei individuell zwischen den einzelnen Parteien ausgemacht. Mit der Ausweitung der Handelsnetzwerke formte sich die Praxis des Hongo um, so dass der Begriff in späteren Quellen als 1071 O. Rascher F. & Hagena: Spruchweisheit der Bahaya / Sitten und Gebräuche der Kiriba. VEM, Signatur: M199 MI 15.21, S. 8. Siehe auch: Hollis: Taveta Sayings and Proverbs, S. 262. 1072 John Hanning Speke: e Discovery of the Source of the Nile, Edinburgh, London 1864, S. xviii. 1073 Siehe auch: Brock: e Nyiha (of Mbozi), S. 74. 1074 Speke: e Discovery of the Source of the Nile, S. 22. 1075 Robert O. Collins (Hrsg.): Documents from the African past, Princeton, NJ 2001, S. 256, Hervorhebung im Original.

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»Wegzoll« übersetzt wird¹⁰⁷⁶. Diese Praxis verbreitete sich weit. So berichtete der Missionar Shergold Smith der Church Missionary Society von einer Reise durch das Ugogo-Gebiet, während der er in acht Fällen Hongo zahlen musste und jedes Mal mehrere Tage die Höhe der Abgaben verhandeln musste. Wie es andere Missionare ebenfalls taten, übermittelte er ausgiebige und detailierte Listen der einzelnen Orte und Abgaben¹⁰⁷⁷. Dabei verschmolzen institutionelle Reaktionen auf die Gewalterfahrung mit den Phänomenen des Handels. Die Anführer lokaler Kriegergruppen traten als Gatekeepers (Justin Willis)¹⁰⁷⁸ in Erscheinung und schufen eine Drohkulisse, die eine Abgabe von Luxusgütern erzwingen sollte¹⁰⁷⁹. Eine solche Erfahrung machte der Missionar Wakefield im Dezember 1874, als er ins Chagga-Gebiet gereist war und dort von Kriegern eine Morddrohung erhielt, sollte er die geforderten Dinge, ein Gewehr und eine goldene Uhr, nicht herausgeben¹⁰⁸⁰. Inszenierungen von Aggressivität und Gewalthaigkeit traten nun auch in diesem Zusammenhang in den Vordergrund und stärkten die Position lokaler Gewaltexperten und Kriegergruppen. Gezielt eingesetzte Drohungen können als Reaktionen auf die Unsicherheit im Aufeinandertreffen der Akteure angesehen werden. In Situationen, in denen Gewalt immer als Handlungsoption präsent war, konnte die Drohung ein wirksames Mittel sein, um die eigene Position zu stärken¹⁰⁸¹. Krieger übernahmen verschiedene Funktionen: Sie wurden zu Repräsentanten im Kontakt mit Karawanen und erfüllten ihre wirtschalichen Funktionen gleichzeitig mit ihrer militärischen Schutzfunktion. Somit drangen die Krieger in die Tätigkeitsbereiche traditioneller Elders vor. Der Reisende Carl Claus von der Decken schilderte eine Situation, die er am 24. August 1861 in der Nähe des Kilimandjaro erlebt hatte: Ein für seine Brutalität bekannter und gefürchteter, »[...] etwa zwanzigjähriger, starker, junger Mann«¹⁰⁸² trat vor ihm auf und legte im Beisein der lokalen Elders die Forderungen der Gemeinscha dar¹⁰⁸³. Die Abgabe des Hongo war o von einem Klima gegenseitiger Drohgebärden und Machtdemonstrationen geprägt. Rebecca Wakefield schilderte eine entsprechende Situation in ihrem Tagebuch:

1076 Siehe z.B. omson: Durch Massai-Land. Forschungsreise in Ostafrika zu den Schneebergen und wilden Stämmen zwischen dem Kilima-Ndjaro und Victoria-Njansa in den Jahren 1883 und 1884, S. 179f. und Schnee (Hrsg.): Deutsches Kolonial-Lexikon, Band II, 75. 1077 Siehe Shergold Smith: Lieut. Shergold Smith to Rev. H. Wright; November 7, 1876, CMS, Nyanza Mission Book 1876-1878. Signatur: CMS / B / OMS / C A6 / M1. 1078 Willis: Potent brews. A Social History of Alcohol in East Africa 1850-1999. S. 77ff. 1079 Siehe auch: Holmes: A History of the Bakwimba of Usukuma, Tanzania from earliest Times to 1945, S. 109f. 1080 Siehe Spansholt: Rev. Spansholt to Secretary; March 11, 1875, CMS, Mission Book 1862-1876. Signatur: CMS / B / OMS / C A5 / M4. 1081 Vgl. Reemtsma: Brachiale soziale Gestaltung, S. 91. 1082 Decken: Reisen in Ost-Afrika in den Jahren 1859-1865, S. 294. 1083 Vgl. ebd., S. 294.

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»[...] about thirty [...] warriors abruptly made their appearance in a great state of agitation, with uplied spears, frantically gesticulating, as they ordered us to halt, and demanded from me the payment of a large amount of hongo for the depredation committed. Every porter in my caravan was terror-stricken and quite ready to drop his load and take to his heels«¹⁰⁸⁴. Die Zahlungen von Hongo waren in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts so verbreitet, dass man bereits bei der Aufstellung von Karawanen eigene Kontingente von Waren dazu veranschlagte. Für einen solche Wirksamkeit der Drohkulissen sprechen Berichte wie der des Reisenden Richard Böhm. Im Mai 1880 schrieb er in einem Brief an seine Mutter davon, wie er gerade in Sansibar Handelsware in einzelne Trägerlasten aueilte, um den »[...] exorbitanten Forderungen der kriegerischen Wagogo, durch deren Gebiet wir ziehen müssen [...]«¹⁰⁸⁵ folgen leisten zu können. Das Aufeinandertreffen zwischen Karawanen und den Kriegergruppen ostafrikanischer Siedlungen oder mobilen Kriegergruppen war von angespannter Unsicherheit, Drohgebärden und der ständig präsenten Möglichkeit gewaltsamer Eskalation geprägt. Die Androhung von Gewalt und die Inszenierung von Gewalthaigkeit wurde auch seitens der Karawanen hergestellt. So etablierte John Haning Speke einen Ruf als gefährlicher »Fire-Eater«, um die Zahlungen gering zu halten¹⁰⁸⁶, und G.A. Fischer schoß in der Gegenwart lokaler Krieger Leuchtraketen in die Lu und drohte mit der Vernichtung aller Rinder, sollte er weiter belangt werden. Dennoch wurde er bisweilen täglich von Kriegergruppen aufgesucht, die Hongo von ihm forderten¹⁰⁸⁷. Carl Peters tötete einen Krieger vor den Augen der Dorewohner, um seine Macht zu demonstrieren und die Zahlung von Hongo zu umgehen¹⁰⁸⁸. Auch die Mitglieder von Karawanen sahen sich o von lokalen Kriegergruppen so bedroht, dass die Träger aus Angst flohen, sobald bei den Verhandlungen mit Gewalt gedroht wurde¹⁰⁸⁹. In den küstennahen Gebieten waren regelmäßige Tributzahlungen verbreitet, bei deren Ausbleiben ebenfalls mit Gewalt gedroht wurde¹⁰⁹⁰. Inmitten eines von Bedrohung und Gewalt geprägten Klimas wurde die Rolle von Gewalteliten und ihren An1084 Brewin: Memories of Mrs. Rebecca Wakefield, S. 321. Für ähnliche Berichte siehe Gregory: e Great Ri Valley, S. 99f., Decken: Reisen in Ost-Afrika in den Jahren 1859-1865, S. 277f. sowie Edward Steere: A Walk to the Nyassa Country, Zanzibar 1876, S. 6, Chanler: rough jungle and desert, S. 310f. und Werther: Die mittleren Hochländer des nördlichen Deutsch-Ostafrika, S. 31ff. Siehe auch: Rockel: Carriers of Culture. Labor on the Road in Nineteenth-Century East Africa, S. 182. 1085 Böhm: Von Sansibar zum Tanganjika, S. 4. 1086 Speke: e Discovery of the Source of the Nile, S. 28. 1087 Vgl. Fischer: Bericht über die im Aurage der Geographischen Gesellscha in Hamburg unternommene Reise in das Massai-Land, S. 56f. 1088 Vgl. Tarus: An Outline of the Keiyo people from c.A.D. 1700 to 1919, S. 81. 1089 Siehe Rockel: Carriers of Culture. Labor on the Road in Nineteenth-Century East Africa, S. 182. 1090 Siehe Chanler: rough jungle and desert, S. 62.

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führern besonders betont. Ihre Tätigkeit spiegelt sich in mündlichen Traditionen ebenso wie in den Zeugnissen westlicher Beobachter. Dabei entstand eine unterschiedliche Art der Wahrnehmung von Gewalt. Während Ngoni-Gruppen, Küstenhändler und ihre Karawanen als Bedrohung angesehen wurden, bildete sich eine positiv konnotierte Erinnerungskultur um einzelne charismatische Anführer, die vor solcher Bedrohung schützen konnten. Jene Männer wurden zunehmend in Riten angepriesen und als stabilisierender, Schutz bietender Faktor verehrt¹⁰⁹¹. Wie noch genauer zu zeigen sein wird, nutzten sie die Möglichkeiten, welche sich aus dem Kontext von Handelsnetzwerk, Elfenbein- und Sklavenhandel ergaben, und festigten ihren Einfluss. Viele Legenden erzählen von einzelnen mythischen Figuren, die als Vorbilder einer legitimen Gewaltnutzung zur Abwehr von Gefahren und zur Elefantenjagd dienten. Friedrich Fülleborn dokumentierte während seines Dienstes in der kaiserlichen Schutztruppe in den Jahren nach 1896 die Traditionen im Gebiet östlich des Nyassasees. Seine Schilderungen spiegeln sowohl die Übertragung europäischer Konzepte wie Königtum und Vorstellungen kohärenter ethnischer Strukturen auf die Vergangenheit Ostafrikas als auch die gesteigerte Rolle von Machtinszenierungen in der Kommunikation zwischen Afrikanern und Europäern. Seine Informanten gaben Fülleborn die folgende Darstellung des Handelns einer mächtigen Herrscherdynastie weiter: »Unter ihrem letzten König Namanka, der etwa vor 70 — 90 Jahren gelebt haben mag, gerieten die Stämme nun auch untereinander in Streit und trennten sich unter die Oberhäuptlinge Malia, Chiwaro und Hatia. Dieser Hatia I. zog mit seinen Scharen zum Ruwuma und oblag hauptsächlich der Elefantenjagd. Er soll nur ein Auge gehabt haben. Von Chiwaro bedrängt, zog er über den Ruwuma bis zum Lukuledi, wo er in der Landscha Ndanda starb. Muipwawe übernahm die Führung des Stammes und nannte sich ebenfalls Hatia. Er siedelte die Makua dauernd im Flussgebiet des mittleren Lukuledi an und wurde bei seinem Tode in Litukulu begraben. Sein Grab ist von hohen Mangobäumen umstanden und wird noch heute in Ehren gehalten. Namchina, sein Nachfolger, war tapfer und regierte als Hatia III. den Stamm mit Strenge«¹⁰⁹². Solche Gewaltexperten schienen einerseits als Anführer mobiler Kriegergruppen, andererseits als Schutzfiguren für Siedlungen eine wachsende Bedeutung zu be1091 Vgl. Wilson: For men and elders, S. 167. 1092 Fülleborn: Das deutsche Njassa- und Ruwuma-Gebiet, Land und Leute, nebst Bemerkungen über die Schire-Länder, S. 53. Weitere mythische Figuren finden sich z.B. für den Raum Zentralkenias in der Figur Kamunge, des Sohnes von Njeru Mutunyi, der als großer Krieger und Anführer verehrt wurde, Vgl. Chesaina: Oral Literature of the Embu and Mbeere, S. 76ff. oder in der Figur des Kamankura für das Meru-Gebiet, Vgl. Kabira/Mukabi: Kenyan Oral Narratives. A Selection, S. 70ff.

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kommen. Das in den Quellen vermittelte Bild legt nahe, das Auommen solcher Figuren als zentrales Phänomen des 19. Jahrhunderts anzusehen. Demnach wären die Folgen gesteigerter Gewalterfahrung und transformierter Gewaltkulturen in erster Linie mit dem Machtzuwachs von Gewalteliten in Verbindung zu bringen. Dies wiederum sehen einige Forscher als Basis für umfassende Zentralisierungsprozesse im 19. Jahrhundert. Bisherige Studien schildern die Entstehung oder Ausweitung zentralistischer Strukturen in verschiedenen Gebieten Ostafrikas. Der kenianische Historiker Assa Okoth beschreibt das Phänomen als charakteristisch für die Geschichte Afrikas im 19. Jahrhundert¹⁰⁹³. Verteilt über den gesamten Kontinent belegt er verschiedene Reiche und Machtstrukturen, deren Entwicklung stark von der Zielvorstellung unabhängiger, postkolonialer Staaten her interpretiert wird. Auch wenn sich die Darstellung auf dünner Quellenbasis bewegt und damit viel Raum für theoretische Überlegungen besteht, die nicht empirisch widerlegt werden können, lassen sich verschiedene Phänomene belegen, die auf einen gewissen Grad von Herausbildung überregionaler Strukturen schließen lassen. In der Konkurrenz um die Kontrolle von Handelsnetzwerken seien Machtstrukturen entstanden, die als State-Building oder Zentralisierung bezeichnet wurden. Kern der parallel in mehreren Gegenden Ostafrikas auretenden Phänomene war die Ausbildung proto-staatlicher Strukturen mit einem Oberhaupt im Mittelpunkt und den Inhabern verschiedener Ämter um jenen Kern. Dabei handelt es sich o um Studien, die von politischen und anthropologischen eorien ebenso beeinflusst waren wie von der Situation, in der sie niedergeschrieben wurden: Unter dem Einfluss der Unabhängigkeit afrikanischer Staaten entstanden historiographische Werke mit der Zielvorstellung, die neuen afrikanischen Staaten mit westlichen Staatenbildungsprozessen gleichzustellen und den neu gebildeten Staaten eine historische Tiefe zu geben. Dabei bezog nutzte man eine nationalistische Ideologie als Bezugspunkt für die koloniale Befreiung oder unterlegte Berichte zu den entstehenden Machtsphären des 19. Jahrhunderts eine Deutung als antikolonialer Widerstand avant la lettre. Auch die Abschlussarbeiten von Studenten ostafrikanischer Universitäten standen in diesem Licht. Daher werden jene Zentralisierungsprozesse und die Rolle charismatischer Anführer noch genauer zu untersuchen sein. Bei der Inszenierung von Macht und in der Drohkulisse inmitten der Kommunikation zwischen lokaler und überregionaler Ebene nahmen sie eine zentrale Stellung ein. Die abgegebenen Güter wurden zunächst in traditionellen Foren unter der Aufsicht lokaler Elders verwaltet und genutzt¹⁰⁹⁴. Allerdings machten zunehmend auch die Anführer lokaler Kriegergruppen ihren Einfluss in diesem Bereich geltend. Im Acholi-Gebiet Westkenias etablierte sich bspw. die Regelung, dass mit jedem getöteten Elefanten ein 1093 Vgl. Okoth: A History of Africa. Volume 1: African Societies and the Establishment of Colonial Rule, 1800-1914, S. 1. 1094 Vgl. Ambler: Kenyan communities in the age of imperialism, S. 47.

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Stoßzahn an den lokalen Rwot abgegeben werden musste¹⁰⁹⁵. Auch in Unyamwezi wurde die Abgabe von Hongo durch Karawanen als Haupteinnahmequelle Mirambos angesehen¹⁰⁹⁶. Gewaltexperten waren durch ihre Kontakte mit Karawanen auch außerhalb ihrer Herkunsgemeinschaen gefragt. Der charismatische Anführer Kivui wurde bspw. als Vermittler zwischen Dörfern und Karawanen herangezogen und von einigen Siedlungen für den militärischen Schutz durch seine Krieger bezahlt¹⁰⁹⁷. Der Rwot Ogwok wurde in den Jahren nach 1850 gebeten, die Krieger verschiedener Dörfer in der Handhabung der durch Handel gewonnenen Schusswaffen auszubilden, was seinen Einflussbereich und die Zahl seiner Anhänger vergrößerte¹⁰⁹⁸. Eine größere soziale Machtbasis und Kompetenz als Anführer von Kriegergruppen sorgte für ein höheres Auommen an Hongo, Tributzahlungen und Geschenken¹⁰⁹⁹. Mit dieser Verstetigung der Hongo-Praxis übten neue Gewalteliten einen größeren Einfluss aus und strebten nach Kontrolle der gewonnenen Güter. Eine umfassende Mobilisierung, die sich über den ostafrikanischen Raum erstreckte, war also sowohl Ursache als auch Wirkung neuer Machtstrukturen. Politische und soziale Verhältnisse wurden unter dem Einfluss einer veränderten Gewaltpraxis grundlegend neu verhandelt. Davon profitierten besonders neu formierte Kriegereliten, deren Mitglieder meist junge Männer waren, die tradiertes Wissen im Bereich der Gewalt nutzten, umformten und in eine auf Mobilität und Handel fußende Umgebung einpassten. Das machte sich zunehmend auch auf der Ebene des Zusammenlebens innerhalb segmentär organisierter Gemeinschaen bemerkbar. Daher werden im Folgenden neue politische Formationen betrachtet, in deren Mittelpunkt einzelne, charismatische Anführer standen. Es werden Beispiele für Einflussgebiete von Männern gegeben, die u.a. durch Gewaltkompetenz und Erfolg im Handel viele Menschen an sich binden konnten. Sie rekrutierten Kinder und junge Männer, formten neue Kriegereliten, gründeten eigene Siedlungen und festigten ihre Herrscha durch Kontakte mit Küstenhändlern, europäischen Reisenden und Missionaren. Solche charismatischen Anführer funktionalisierten Elemente bestehender Kriegerkulturen und politischer Bündnissysteme, formten traditionelle Ämter um und nutzten sie zur Verfolgung eigener Ziele. Dabei entstand eine o gewaltsam ausgetragene Konkurrenz um die Kontrolle über Ressourcen und vor Allem Handelswege. Daher wird im Folgenden die Herausbildung ihrer Einflussgebiete anhand einiger Beispiele betrachtet und nach der Verdrängungskra dieser neuen politischen Strukturen gegenüber etablierten In1095 Okeny: State formation in Acholi: e Emergence of Obbo, Pajok and Panyikwara states, c.1679-1914, S. 240. 1096 Vgl. Wandera: e State in pre-colonial east Africa: a discussion of Nkore c.1500-1850, Shambaa c.1700-1875 and Urambo c.1860-1884, S. 80. 1097 Siehe Jackson: e Dimensions of Kamba Pre-Colonial History, S. 225f. 1098 Vgl. Odongo/Webster: e Central Lwo During the Aconya, S. 202. 1099 Siehe auch: Mandia: Last Lozi Invasion of the Lea, S. 4.

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stanzen wie Ältestenräten gefragt. So zeigt sich, dass charismatische Anführer solche Instanzen entweder in ihrem eigenen Sinne beeinflussen oder sich insgesamt über sie hinwegsetzen konnten. Sie etablierten Mitglieder der Eliten, welche sie anführten, als lokale Herrscher und weiteten so ihre Herrschasbereiche aus. Das führte zu einer gewissen Festigung im Zentrum dieser Herrschaszonen, indes aber auch zu einer großen Instabilität an der Peripherie. Meist blieben solche persönlichen Einflussgebiete ephemer und brachen nach dem Tod ihrer zentralen Figur zusammen, in einigen Fällen konnten sich jedoch Dynastien bilden, die über mehrere Generationen ihre Herrscha erhalten konnten. O zeigte sich aber auch die Beharrungskra traditioneller Institutionen, welche in vielen Fällen wieder zu größerer Geltung gelangten, sobald ein charismatischer Anführer starb oder vertrieben wurde. Auch die Ebene familiärer Strukturen und Klanstrukturen wird in den Blick genommen und es wird nach den Auswirkungen der Transformationsprozesse des 19. Jahrhunderts gefragt. So werden immer wieder Mechanismen belegt, welche traditionelle Klanstrukturen durch Adoption oder andere Bündnisse stärken sollten. Das weist auf eine hohe soziale Mobilität und die Destabilisierung von Klanstrukturen hin. 5.2.3 Persönliche Einflussgebiete und charismatische Anführer

Das 19. Jahrhundert gilt nicht nur aufgrund der Einbindung Ostafrikas in globale Handelsstrukturen als Zeit großer Umbrüche. Der Historiker Franz Ansprenger betont die selbstständige Neuordnung gesellschalicher und politischer Systeme als zentrales Charakteristikum afrikanischer Geschichte unmittelbar vor Auommen kolonialer Herrscha¹¹⁰⁰. Wirtschaliche und militärische Veränderungen verstetigten sich und machten sich zunehmend auch auf politischer Ebene bemerkbar. Wirtschaliche und militärische Eliten entstanden und beeinflussten die Verhältnisse. Besonders für dezentrale Gesellschaen hatte das weitreichende Folgen: Grundlage solcher Zusammenschlüsse waren die tradierten Ordnungen, freie Arrangements verschiedener Kräe auf lokaler Ebene, die sich regional und überregional ausweiten konnten. Der Ethnologe Jürg Helbling charakterisiert solche lokalen, dynamischen Organisationsformen mit Hilfe eines »Modell(s) von wechselnden Einfluss-Konstellationen, je nach Situation und Umständen, nach Art der Aktivität, Kompetenzen und Reputation der Involvierten«¹¹⁰¹. Im Schatten der Transformationsprozesse des 19. Jahrhunderts wurden diese Strukturen von facettenreichen Dynamiken erfasst. Transregionale Handels- und Kommunikationsnetzwerke bildeten eine Basis für neue Machtstrukturen. Dabei kamen 1100 Vgl. Franz Ansprenger: Geschichte Afrikas, München 2004, S. 64f. Siehe auch: G. O. Ekemode: Kimweri the Great: Kilindi King of Vuga, in: Obaro Ikime (Hrsg.): Leadership in 19th Century Africa, London 1974, S. 22–32, hier S. xiii. 1101 Helbling: eorie der Wildbeutergesellscha, S. 142

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verschiedene Dynamiken ins Spiel, die sich auf bestehende Verhältnisse auswirkten: die Beziehung zwischen Alt und Jung, charismatischen Anführern und Anhängerscha sowie zwischen ansässiger Bevölkerung und mobilen Gruppen¹¹⁰². Neu codierte Gewalt spielte bei diesen Wechselbeziehungen eine zentrale Rolle. Sie formte die ökonomischen Verhältnisse grundlegend um. Charismatische Anführer gründeten eigene Kriegergruppen, bauten befestigte Siedlungen auf und nutzen ihre ökonomischen Aktivitäten zum Ausbau ihrer Machtpositionen auch auf lokaler Ebene. Sie bauten eigene, o räumlich flexible Einflussbereiche auf, deren Basis Handel und Raids waren¹¹⁰³. Gewalt stand bei der Entstehung dieser neuen ökonomischen und politischen Formationen im Mittelpunkt¹¹⁰⁴. Eingesetzt als zweckrationale Form der gewaltsamen Aneignung von Handelsgütern sorgte sie zum einen für veränderte ökonomische Verhältnisse, zum anderen, durch die gewaltsame Inkorporation von Kindern und Jugendlichen, für das Fortbestehen von Kriegereliten, die an den jeweiligen charismatischen Anführer gebunden waren. Der Einfluss dieser Männer fußte auf außergewöhnlichen Qualitäten in Krieg und Handel. O galten sie als Menschen mit übernatürlichen Kräen und besonderen Fähigkeiten. Mit Hilfe dieser Zuschreibungen konnten sie Anhänger gewinnen und an sich binden¹¹⁰⁵. Sie standen damit an der Spitze eines Phänomens, das der Historiker Richard Reid als armed frontier bezeichnet. Mit diesem Begriff beschreibt er Gruppen, die sich von der jeweiligen Herkunsgemeinscha abgrenzten, migrierten und für gesteigerte Rivalitäten um die regional verfügbaren Ressourcen sorgten¹¹⁰⁶. Zur Festigung ihrer Herrscha nutzten sie nicht nur Gewalt und mythische Zuschreibungen, sondern griffen auch auf etablierte Traditionen zurück, indem sie bekannte rituelle Ämter und Symboliken übernahmen und funktionalisierten. Die armed frontier verschmolz mit lokalen und regionalen Traditionen. Um die charismatische Persönlichkeit des Gewaltexperten bildeten sich neue Machtstrukturen, die auf Handel und Gewalt als dominanten Machtressourcen basierten. Der Zugriff auf Handelsgüter und Prestigeobjekte wie Waffen wurde als Möglichkeit genutzt, persönliche Kräe zu inszenieren und sich gegenüber Anderen abzugrenzen¹¹⁰⁷. Wie Juhani Koponen feststellte, wurden Prestigegüter zu einem neuen, besonderen Bereich des Handels¹¹⁰⁸. Besitz und Kontrolle von Luxusgütern wie Elfenbein und Waffen wurde zur persönlichen Machtressource 1102 Vgl. Dorothy Louise Hodgson: Once intrepid warriors. gender, ethnicity, and the cultural politics of Maasai development, Bloomington [u.a.] 2001, S. 12. 1103 Siehe auch: Reid: A history of modern Africa, S. 42. 1104 Vgl. ebd., S. 43. 1105 Vgl. Max Weber: Wirtscha und Gesellscha. Grundriss der verstehenden Soziologie, hrsg. v. Alexander Ulfig, Frankfurt am Main 2008, S. 179. 1106 Vgl. Reid: Warfare in African history, S. 5. 1107 Vgl. Glassman: Feasts and riot, S. 25. 1108 Koponen: People and production in late precolonial Tanzania.

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und fügte sich in bestehende Konzeptionen von Kriegertum ein, wobei Schusswaffen dieses Phänomen in besonderer Weise akzentuierten¹¹⁰⁹. So wurde Besitz und Gebrauch von Waffen zum rhetorischen Mittel beim Aufeinandertreffen verschiedener Gruppen und zum Distinktionsmechanismus einzelner Anführer¹¹¹⁰. Im gesamten ostafrikanischen Raum entstanden solche Einflussgebiete, in denen Gemeinscha durch die Neucodierung von Gewalt als Ressource für Herrscha entstand. Charismatische Anführer inszenierten sich als kompetente Krieger, Zahl und Verwendung von Schusswaffen untermauerten die Machtposition ebenso wie Kriegergruppen im Umfeld des Herrschers. Die mobilisierte Bevölkerung suchte Schutz in den Einflussgebieten oder ließ sich als Berufskrieger rekrutieren. Während die Verehrung erfolgreicher Krieger und deren soziale Stellung im Zentrum der gesellschalichen Interaktion keinen Unterschied zum traditionellen Kontext ostafrikanischer Gemeinschaen darstellte, traten Mobilität und kulturelle Orientierung an der Swahili-Küste bei neuen Eliten besonders in den Vordergrund, indem man Luxusgegenstände, Habitus, Kleidung und bisweilen auch die Religion der Küstengebiete übernahm¹¹¹¹. Die Ausweitung der Handelsnetzwerke machte sich also auch auf politischer Ebene bemerkbar. Wichtige Knotenpunkte der Handelsnetzwerke im ostafrikanischen Hinterland entwickelten sich auf auf politischer Ebene zu Zentren auommender Herrschasstrukturen, die sich mehr und mehr an den Gegebenheiten der Küste und, mit zunehmendem Kontakt zu europäischen Reisenden, westlich geprägten Herrschasstrukturen orientierten. Freilich bezog sich das zunächst auf die repräsentative Ebene und manifestierte sich in Form punktueller Kontakte, in denen Herrscha und Macht nach der Symbolik von Swahili-Küste und sukzessive auch von europäischer Kolonialmacht inszeniert wurden¹¹¹². So trugen Krieger bspw. Kalikotücher, wie sie an der Küste getragen wurden, als Kopedeckung und Statussymbol¹¹¹³. Einer der Bekanntesten dieser Anführer war der unter dem Namen Mirambo bekannte Mtyela Kasanda. Er wurde um 1840 geboren und war als Jugendlicher Träger im Karawanenhandel teil. In der Nähe von Tabora übernahm er das traditionelle Amt des Ntemi und nutzte es als Basis für den Ausbau seines Einflussbereichs. Dieser Titel bezeichnet eine Form sakralen Königtums innerhalb einer Siedlung, das im Gebiet des westlichen Tanzania verbreitet war. Der Begriff Ntemi selbst wurde mit »Der, der schneidet« übersetzt, was mit dem Mähen des Busches bei der Gründung einer Siedlung assoziiert, aber auch mit dem Kontext von Ge-

1109 Siehe auch: Klein-Arendt: Vielfältige Erinnerung, zwiespältige Erinnerung. Feuerwaffen im vorkolonialen Ostafrika, S. 59f. 1110 Siehe auch: Glassman: Feasts and riot, S. 37. 1111 Für verschiedene Abbildungen, welche dies illustrieren siehe Pesek: Koloniale Herrscha in Deutsch-Ostafrika, S. 53. 1112 Siehe hierzu auch: ebd., S. 52ff. sowie ebd., S. 140ff. 1113 Siehe Jackson: e Dimensions of Kamba Pre-Colonial History, S. 234.

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walt in Verbindung gebracht wurde¹¹¹⁴. Mirambo übernahm auch das Amt des Ntemi für eine benachbarte Siedlung und verschmolz beide Ämter miteinander. Dabei griff er auf einen Verband von Ruga-Ruga zurück, deren militärische Strukturen den Verbänden der Ngoni sehr ähnelten. Mirambo integrierte junge Männer aus überfallenen Dörfern in seine Kriegerverbände und übernahm die Vermittlung von Gewaltpraktiken¹¹¹⁵. Er inkorporierte vor Allem Jugendliche, die aus ihren Herkunsgemeinschaen herausgelöst worden waren. Dabei stützte er sich auf hergebrachte Kriegerkulturen und Konzeptionen der Jugend als Zeit größter körperlicher Leistung. Auch die enge Bindung der ausgehobenen Krieger an Mirambo selbst stellte einen Bezug zu traditionellen Altersklassensystemen her. Über die unterschiedlichen Altersschichten seiner Krieger und deren Aufgabenbereiche berichtete Mirambo, dass ältere Männer eher für defensive Aufgaben geeignet, bei Raids aber zu sehr auf ihre familiären Verbindungen bedacht seien. Junge Krieger seien die wirkungsvollere Avantgarde, die bei der Aussicht auf Beute und Ruhm im Kampf rücksichtsloser vorgingen¹¹¹⁶. Diese Sicht spiegelt die traditionellen Rollenmuster der einzelnen Alterssegmente. Mirambo band die Jugendlichen eng an sich, bildete sie an der Waffe aus und übernahm die Belohnung bei besonderen Leistungen im Kampf bzw. die Bestrafung bei mangelnder Loyalität oder Verweigerung des Kampfes¹¹¹⁷. Ab den 1860er Jahren integrierte er gewaltsam umliegende Siedlungen und stärkte das Zentrum seiner Herrscha, die nach ihm benannte Stadt Urambo. Er erzwang Tributzahlungen in Form von Vieh und Elfenbein, strebte die Kontrolle der naheliegenden Handelsrouten zwischen Zanzibar und dem Königreich Buganda an und nutzte seine wirtschaliche Ausbeute zum Kauf von Schusswaffen. Seine Ambitionen werden eingeschätzt als ausgerichtet auf den Ausbau zentralistischer Strukturen, Kontrolle des Handels und Konkurrenz zum Sultanat auf Zanzibar und später zur europäischen Präsenz in den Küstenregionen¹¹¹⁸. Sein Einfluss auf den Handel ging bisweilen so weit, dass Sultan Bargash auf Zanzibar eigene Truppen rekrutierte, um die Kontrolle der Handelswege zurückzuerlangen. Der Reisende Richard Böhm berichtete seiner Mutter im Mai 1888 von diesem Vorfall und beschrieb die Truppen, die er selbst bei einer Audienz in der Residenz des Sultans antraf. Durch Verhandlungen habe man einen Waffenstillstand erwirkt und der Handel mit Waffen und Munition zwischen dem Sultan und Mirambo sei wieder im Gange¹¹¹⁹. Der Bekanntheitsgrad von Männern wie Mirambo erstreckte sich über große Gebiete und wurde durch ein expandierendes Kommunikationsnetzwerk aufrecht erhalten. 1114 1115 1116 1117 1118 1119

Vgl. Isichei: A history of African societies to 1870, S. 131. Vgl. Bennett: Mirambo of Tanzania 1840?-1884, S. 39f. Vgl. Harvey: Mirambo ’Napolean of Central Africa’, S. 21. Vgl. Reid: War in pre-colonial eastern Africa, S. 81. Vgl. ders.: A history of modern Africa, S. 55f. Siehe Böhm: Von Sansibar zum Tanganjika, S. 4f.

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Mirambo war jedoch kein Einzelphänomen. In den Quellen finden sich Hinweise auf andere Anführer, die mündlichen Überlieferungen erzählen von vielen weiteren Männern, die als Anführer von Kriegergruppen agierten und deren Wirken sich auf die ostafrikanischen Lebensverhältnisse auswirkte. In der Region östlich des Rukwa-Sees formierten sich Gruppen in einem Prozess, der als »xwavakimbilaja, (lit. we drove them out)«¹¹²⁰ bezeichnet wurde. Bezeichnungen für lokale Herrscher und mündliche Überlieferungen suggerieren einen Neuformierungen und Abspaltungen, die damit einhergingen¹¹²¹. Der Historiker Aylward Shorter sammelte mündliche Überlieferungen zu einem bekannten charismatischen Anführer namens Nyungu-Ya-Mawe. Als Basis für dessen spätere Position diente ebenfalls die Rolle als Anführer einer Gruppe von Ruga-Ruga, die mit verschiedenen Paarteien kooperierte, zunächst, um die lokalen Machthaber von Unyanyembe bei der Sicherung ihrer Handelsnetzwerke zu unterstützen, und später, um Nyungu-Ya-Mawes Einfluss auf Handelsrouten zu sichern. Aylward Shorter dokumentierte die wechselnden Allianzen des Anführers mit verschiedenen Kräen über die Jahre zwischen 1878 und 1884¹¹²². Um die zentrale Figur der charismatischen Anführer bildete sich der Kern einer militärischen Elite, der sich o aus rekrutierten Kriegern speiste. Die Praxis der Zwangsrekrutierung bzw. des Herauslösens aus den traditionellen Strukturen eines Familienverbands wurde genutzt, um neue Gemeinschaen aufzubauen und zu festigen. Der Missionar Bruno Gutmann beschrieb die Herausbildung eines solchen Einflussbereichs persönlicher Herrscha am Beispiel des Anführers Rindi von Moschi. Nachdem er mit einer kleinen Gruppe junger Krieger (Masinga) vertrieben worden war, rekrutierte er hunderte junger Männer und bildete sie militärisch aus. Er führte erfolgreiche Raids auf die umliegenden Gebiete durch und beteiligte sich am Sklaven- und Elfenbeinhandel. Dies brachte ihm ein gesteigertes Prestige und eine Gefolgscha von Kriegergruppen, die am materiellen Gewinn der Gewaltökonomie beteiligt wurden¹¹²³. In einer dynamischen Umgebung schnellen Wandels gewannen Personen an Einfluss, die außerhalb bestehender Institutionen standen¹¹²⁴. So wurde über Rindi berichtet, dass er die Reihen seiner Krieger sukzessive mit vielen Kindern und Jugendlichen füllte. Er konnte auf eine wachsende Anzahl dieser Anhänger (Masinga) zurückgreifen, die er zu Kriegern ausbildete und durch Belohnungen an sich band. Er überließ ihnen die 1120 Mann: Mikono ya damu, S. 175. 1121 Vgl. ebd., S. 175. 1122 Vgl. Shorter: Nyungu-Ya-Mawe, S. 11ff., hier: 20ff. Siehe auch: ders.: Nyungu-Ya-Mawe and the ’Empire of the Ruga-Rugas’, S. 108ff. 1123 Siehe Gutmann: Das Recht der Dschagga, S. 230f. und Meyer: Zum Gipfel des Kilimandscharo, S. 18. Eine direkte Verbindung von materiellem Reichtum und politischem Einfluss einzelner Anführer wurde auch für Zentralkenia beschrieben (Siehe Ambler: Kenyan communities in the age of imperialism, S. 25). Für die Schwierigkeit, den Zeitraum dieser Prozesse genauer zu bestimmen siehe Brock: e Nyiha (of Mbozi), S. 67. 1124 Vgl. Jackson: An ethnohistorical study of the oral traditions of the Akamba of Kenya. S. 17.

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Beute aus Raids, wies ihnen eigene Bananenhaine zu und ließ sie gefangene Mädchen und Frauen zur Heirat aussuchen¹¹²⁵. Rindi baute befestigte Siedlungen und nahm aktiv am Sklavenhandel teil, indem er die Gefangenen seiner Raids an vorbeiziehende Karawanen verkaue¹¹²⁶. Auch über den Karawanenhändler Tippu Tip wurde berichtet, dass er ähnlich auf die Sozialisation seiner jungen Anhängerscha einwirkte¹¹²⁷. In einem von Gewalt geprägten Klima entstanden viele solcher Einflussgebiete, die auch als Zufluchtsmöglichkeiten dienen konnten. Befestigte Siedlungen boten die Basis für Raids und die Gelegenheit, sich den Kriegern anzuschließen, um sicher vor ihnen zu sein¹¹²⁸. Bekannte Anführer, die als erfolgreiche Krieger galten, konnten eine breite Gefolgscha erlangen. Jugendliche, die aus ihren hergebrachten Lebensumständen herausgerissen worden waren, bildeten o den engsten Kreis um den Anführer dieser Gruppen. Dabei traten besonders diejenigen in den Vordergrund, die solche instabilen, aber auch offenen Verhältnisse für sich nutzen konnten. Inszenierte und exzessive Gewalt war das Mittel einer Demonstration von Macht, die sich zwar kohärenz- und hierarchiebildend auf die Gruppenstruktur auswirkte¹¹²⁹, aber ständig erneuert werden musste. Ein Handeln nach dieser Logik konnte sich entsprechend verselbständigen: Tradierte Konventionen gerieten dabei aus den Fugen, wurden modifiziert und an die Bedürfnisse der jeweiligen Anführer angepasst. Der Ethnologe Georg Elwert entwickelte seine eorie der »Gewaltmärkte«¹¹³⁰ vor dem Hintergrund des vorkolonialen Ostafrika. Seine Studie belegt, dass sich in Ostafrika Räume ausbreiteten, in denen keine allgemein akzeptierten Regeln zur Gewaltnutzung mehr etabliert waren. In diese Räume stießen meist junge Gewaltunternehmer, die eine neue Form von Krieger- und Herrschaselite bildeten. Sie kombinierten dabei die Strukturen des überregionalen Handels und nutzten die Basis eines Austauschs von Gütern als Ressource für weitere Ziele¹¹³¹. Neue Kriegereliten stehen für eine »Kultur der Opposition«¹¹³², die Gewalt außerhalb bestehender Konventionen nutzte. Die neuen Gewaltlogiken bildeten einen Gegenpol zum Bestehenden und boten eine Basis für gesellschaliche Veränderung. Bestehende Kriegergruppen blieben fluide und instabil, lediglich in einzelnen Fällen zeigte sich eine Verstetigung dieser Verbände. So fanden sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts Hinweise auf eine ethnische Verstetigung der Kriegergruppen im 1125 Siehe Gutmann: Das Recht der Dschagga, S. 230f. 1126 Siehe Anene: e Omani Empire and its Impact on East African Societies. S. 450. 1127 Vgl. Hahner-Herzog: Tippu Tip und der Elfenbeinhandel in Ost- und Zentralafrika im 19. Jahrhundert, S. 285. 1128 Siehe Schynse: Pater Schynse’s letzte Reisen, S. 31. 1129 Vgl. Isichei: A history of African societies to 1870, S. 431. 1130 Siehe Elwert: Gewaltmärkte. Beobachtungen zur Zweckrationalität der Gewalt. 1131 Vgl. Uzoigwe: Precolonial Markets in Bunyoro-Kitara, S. 424. 1132 Bayly: Die Geburt der Modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780-1914, S. 128.

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Westen Tanzanias. In der Gegend um Urambo wurde von einer Sprache Kirugaruga berichtet, die in den 1880er Jahren entstanden sei¹¹³³. Der Dialekt sei vor Allem von Männern gesprochen worden, die ehemals Krieger des charismatischen Anführers Mirambo gewesen seien¹¹³⁴. Durch intensives Training und eine Festigung der militärischen Strukturen hatte sich eine neue Kriegerkultur etabliert, die sich von traditionellen Kontexten absetzte¹¹³⁵. Mit einer Lebensweise als Krieger verbreiteten sich eigene Kriegerlieder, eigene Abzeichen wie rote Federn und ein eigener Dialekt¹¹³⁶. Das Auommen solcher personalisierter Machtstrukturen wurde als Kontrast zu traditionalen Herrschasformen angesehen¹¹³⁷. Traditionelle Formen der kollektiv ausgeübten Autorität etablierter Ältestenräte gerieten zunehmend unter Druck. Dadurch entstand sowohl ein Machtvakuum als auch ein neuer Möglichkeitsraum für Personen, die ein von Gewalt und transregionalem Handel geprägtes Klima für sich zu nutzen wussten. Das hatte auch Auswirkungen auf die internen Autoritätsverhältnisse: Mit dem Auommen persönlicher Herrschasbereiche drangen Einzelne in die Autoritätsbereiche der Elders vor und übernahmen Aspekte von Altersklassensystemen, um eine persönliche Gefolgscha aufzubauen. Charismatische Anführer verdrängten traditionale Autoritäten jedoch nicht nur, sie verknüpen auch verschiedene Einflüsse miteinander. Die Veränderungsprozesse des 19. Jahrhunderts griffen auch auf der familiären Ebene. Durch die sozialen Dynamiken des Handels öffneten sich traditionelle Konzeptionen von Klan und Familie. Als Resultat von Verwerfungen durch Handel und Migration waren lokale Klanstrukturen o erodiert und verloren an Kohärenz, da die soziale Basis fehlte. Die Mitglieder verschiedener Klans und Lineages waren o über große Gebiete verstreut, so dass ein gemeinsames Handeln auf lokaler Ebene immer weniger möglich war. Abstammungsgemeinschaften wurden daher zunehmend fiktionalisiert, um möglichst viele Personen integrieren zu können, die durch Sklaverei, Entführung und freiwilligem Anschluss hinzukamen¹¹³⁸. Lokal ansässige Familien reagierten dabei auch mit Riten, die inkorporierte Kinder integrieren sollten. So dokumentierte Bruno Gutmann im Chagga-Gebiet eine Praxis der familiären Integration, die er mit dem Begriff »Beutekind« belegte: »Das Beutekind tritt in die gleichen Erbrechte mit den eigenbürtigen Kindern des Mannes [...]. Ein größeres Kind, dem schon eine Erinnerung an seine rechte Heimat verbleibt, wird auf eigenartige Weise 1133 1134 1135 1136 1137 1138

Siehe Gottberg: Unyamwesi, S. 127. Siehe Spellig: Die Wanjamwesi. Ein Beitrag zur Völkerkunde Ostafrikas, S. 202f. Vgl. Shorter: Nyungu-Ya-Mawe and the ’Empire of the Ruga-Rugas’, S. 11. Siehe Spellig: Die Wanjamwesi. Ein Beitrag zur Völkerkunde Ostafrikas, S. 252. Vgl. Ogutu/Kenyanchui: An Introduction to African History, S. 139. Vgl. Spear: e Kaya Complex, S. 126.

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eingewöhnt. Der Krieger führt es seiner Frau zu und befiehlt ihr, ihm einmal die Brust zu reichen und daran trinken zu lassen. Dazu spricht er zu ihm: »Heute trinkst du die Mutterbrust. Solltest du jemals dich von uns trennen wollen, so möge diese Milch dich schmerzen«. In der Entstehung verwandt mit diesen Beutekindern sind die Hörigen der vornehmen Wadschagga gewesen, die man fälschlich wohl auch als Haussklaven bezeichnet. Sie heißen masinga oder auch makiro. Ikiro bedeutet der Übriggelassene. Dieser Name weist deutlich auf eine Entstehung im Kriege zurück. Sein Träger hat um Pardon gebeten und gesagt: »Ich bin kein Mann, ich bin ein Rind«. Mit dieser Formel hat er sich selbst versklavt, um am Leben zu bleiben«¹¹³⁹. Die von Gutmann bereits erwähnte Verbindung der Begriffe Masinga und Ikiro zu Kampandlungen und Entführung lässt sich auch anhand der Formel herstellen, sich in der Gewaltsituation als Rind zu deklarieren, um nicht getötet zu werden. Auf der Bedeutungsebene lässt sich ein klarer Bezug zu tradierten Formen der Kollektiven Gewalt dezentraler Gemeinschaen herstellen, die im Wesentlichen den Raub von Vieh zum Ziel hatten. Gleichzeitig weist die Formel auf die Veränderungen in der Gewaltpraxis hin, deren Handlungslogiken sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts veränderten und zunehmend auch die Entführung von Menschen zum Ziel hatten. Besonders die von Gutmann untersuchte Region des Dschagga-Gebiets war von Sklaven- und Karawanenhandel breit erschlossen, deren Begleitphänomene sich auch auf sprachlicher Ebene niederschlugen. Doch auch in anderen Gebieten Ostafrikas war die Praxis der gewaltsamen Entführung verbreitet. Die Missionarin Marie-Elise Kootz traf eine alte Frau, die als Kind entführt worden war, und verfasste deren Biographie. Die Kindheitserinnerungen geben den Raid einer Kriegergruppe wieder, in dem das junge Mädchen entführt und in die Siedlung Karonge am Nordende des Nyassa-Sees gebracht wurde. Dort sei sie stets gut versorgt worden, bis die Siedlung sich nach der Hinrichtung des Anführers durch britische Soldaten auflöste¹¹⁴⁰. Die gemischte soziale Zusammensetzung neuer Siedlungen sollte durch konstruierte Genealogien und Integrationsriten auf symbolischer Ebene durchbrochen werden. Die Rückführung auf einen gemeinsamen, mythischen Ahnen war eine Abkehr von einer Sicht auf die Vergangenheit, wie sie die tradierten Altersklassensysteme beinhaltet hatten. Altersklassensysteme regelten die Wissensweitergabe und das Fortschreiben des kulturellen Gedächtnisses einer Gemeinscha gestützt auf bestehende Strukturen von Familienverbänden. Zeitwahrnehmung war geprägt von der Orientierung an den eigenen Vorfahren und deren Einordnung im Altersklassensystem. Das änderte sich besonders in Siedlungen, die viele Personen unterschiedlicher Herkun beherbergten. Der Bezug zur Vergangenheit wurde nunmehr personalisiert und 1139 Gutmann: Das Recht der Dschagga, S. 229f. 1140 Kootz: Tatu, das geraubte Muvembakind, S. 3ff.

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auf die Interessen und Bedürfnisse charismatischer Anführer umgeformt. Nicht mehr die Kriegergruppen aus den Alterseinheiten der Vergangenheit oder die eigenen Großeltern, sondern einzelne mythische Helden bestimmten das Bild. Damit übernahmen charismatische Anführer auch den Bezug zur Vergangenheit als weitere Legitimationsbasis. Neben diesen eher indirekten Bezügen zu den Traditionen des ostafrikanischen Hinterlandes sorgten charismatische Anführer für kulturgeographische und kulturelle Neuerungen. Verschiedene Wangwana, Mitglieder einer kulturellen Elite des ostafrikanischen Handels¹¹⁴¹, siedelten sich im Gebiet des ostafrikanischen Hinterlandes an, bauten befestigte Anlagen (Tembe) nach den architektonischen Maßstäben der Swahili-Küste und nutzten ihre verbündeten Kriegergruppen, um von Raids zu leben und Gewaltandrohung zu nutzen, wenn Karawanen durch das umliegende Gebiet zogen. August Schynse berichtete von der Siedlung des Munye Mtwana in der Nähe von Kilimatinde: »Munye Mtwana ist ein Mgwana, welcher sich in Mgunda mkali [Waldgebiet südlich von Tabora] angesiedelt hat und nun seit 10 Jahren, durch verlaufenes Gesindel verstärkt, die Karawanen im Mgunda mkali brandschatzt oder ausraubt. Er unterwarf sich eine Anzahl [...] Dörfer bei Mdaburu und machte sich den Arabern, seinen Todtfeinden, so furchtbar, daß die Straße von Mdaburu überhaupt nicht mehr begangen wird, der Weg ist gestorben. Gegen Europäer benahm er sich im Allgemeinen freundlich; die Missionare, welche von 1880-82 in Mdaburu lebten, standen mit ihm auf gutem Fuße und hatten sich nicht über ihn zu beklagen, sie wohnten selbst eine Zeit lang in seinem Tembe; arabische Karawanen dagegen mußten sich durch schwere Hongo ihren ungestörten Durchmarsch durch den Mgunda mkali erkaufen, weshalb sie diese Straße vermieden¹¹⁴². Solche Siedlungen waren besonders in unzugänglichen Regionen verbreitet und wurden von entflohenen Sklaven aufgesucht. Diese Form der Marronage wurde o genutzt. Im küstennahen Hinterland bauten entflohene Sklaven der PlantagenGroßbetriebe der Swahili-Küste befestigte Siedlungen auf, die in einigen Fällen selbst den bewaffneten Milizen der Plantageneigentümer erfolgreich Widerstand leisteten¹¹⁴³. So bot die Siedlung Makorora am Pangani-Fluss regelmäßig entlaufenen Sklaven Schutz hinter ihrem drei Meter hohen Schutzwall¹¹⁴⁴. Einige sol1141 Vgl. Michels: Schwarze deutsche Kolonialsoldaten, S. 38. 1142 Schynse: Mit Stanley und Emin Pascha durch Deutsch-Ostafrika. Reise-Tagebuch von P. August Schynse, S. 24f., Hervorhebung im Original. Ein ähnliches Vorgehen wurde über Kisabengo in der Gegend Uluguru sowie über Mashombo in Mbaga berichtet, siehe Roberts: Political Change in the Nineteenth Century, S. 63ff. Siehe auch: Ekemode: Kimweri the Great: Kilindi King of Vuga, S. 31. 1143 Vgl. Mann: Sahibs, Sklaven und Soldaten, S. 70. 1144 Siehe Glassman: Feasts and riot, S. 112.

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cher Siedlungen waren aber auch mobil und orientierten sich an den Möglichkeiten, auf Handelsnetzwerke und umliegende Gebiete zugreifen zu können. So verlagerte sich der Einflussbereich des charismatischen Anführers Merere im Laufe der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts nach Westen. Mehrmals hatte er befestigte Siedlungen gegründet, die er jeweils Utengule nannte und von denen aus seine Kriegergruppen operierten. Bei veränderten Machtverhältnissen in der Region, zuviel Widerstand seitens der lokalen Bevölkerung oder Veränderungen der Handelsrouten verließ man die alte Siedlung und gründete eine neue¹¹⁴⁵. Charismatische Anführer nutzten Kooperationsstrategien mit regionalen und überregionalen Handels- und Kooperationspartnern. Sie arrangierten sich mit Missionaren und Karawanenreisenden und gingen symbolische Bindungen mit der Bevölkerung ein. So kombinierten sie die lokalen Traditionen zu einem Netzwerk von Einflussmechanismen, an deren Spitze sie selbst standen. Dabei verbreiteten und überlagerten sich unterschiedliche regionale Praktiken. Aus dem Gebiet um das nordwestliche Ufer des Viktoriasees wurde überliefert, dass Küstenhändler ein symbolisches Bündnis der Blutsbrüderscha einführten, das bisher in diesen Gebieten nicht bekannt war. Dazu schnitten sich die Anführer der beteiligten Gruppen in den eigenen Handrücken und leckten anschließend an der Wunde des Gegenübers¹¹⁴⁶. Seitens der Händler wurde so versucht, die eigenen Handelswege abzusichern und mit Hilfe von Klientelbeziehungen dafür zu sorgen, die eigene Position zu stärken und Sicherheit und Versorgung der eigenen Karawanen gewährleisten zu können. Ansässige Gemeinschaen konnten ihrerseits von solchen Bündnissen profitieren, indem festgelegte Zahlungen in Form von Geschenken vereinbart werden konnten, was evtl. Plünderungen von Nahrungsmitteln durch die Karawanenmitglieder verhindern konnte. Tradierte Bündnissysteme und Rituale wurden von der erhöhten Mobilität erfasst und modifiziert. Die Beteiligten bauten Bündnisse auf bestehenden Prinzipien auf und versuchten, neue Loyalitäten zu gewinnen. Die Anreize traditioneller Kriegerkulturen wirkten dabei in einer neuen Umgebung. Prestige konnte durch erfolgreiche Raids und den Erwerb von Schusswaffen als Statussymbole ebenso gewonnen werden wie durch den Besitz von Vieh und Luxusgütern. Zudem boten die Kriegerverbände charismatischer Anführer die Möglichkeit, sich vor den Übergriffen von Kriegergruppen zu schützen, indem man sich ihnen selbst anschloss. Wie bereits gezeigt, wurde Gewalt als Way of Life attraktiv und verließ den einhegenden und regulierten Kontext der Altersklassensysteme. Das führte besonders auf der Ebene der Anführer zu Veränderungen und einer Reihe von 1145 Kootz: Sichyajunga, Ein Leben in Unruhe, S. 14, Julius Richter: Die Konde, ein Missionsvolk, in: Die Evangelischen Missionen. Illustriertes Familienblatt 2 (1908), S. 25–35, hier S. 30ff. und Elise Kootz-Kretschmer: Abriß einer Landesgeschichte von Usafwa in Ostafrika, in: Koloniale Rundschau 4-6 (1929), S. 1–30, hier S. 10. 1146 Siehe Hollis: e Nandi, S. 75.

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Gewaltdynamiken. Zunächst brachte es die Zuschreibung besonderer Fähigkeiten als Krieger mit sich, dass diese Fähigkeiten immer wieder unter Beweis gestellt werden mussten. Demzufolge wurde es für die Anführer der Gruppen erforderlich, ständig erfolgreich zu sein um die entstandenen Loyalitäten der verbündeten Krieger nicht zu gefährden. Mit weiteren militärischen Erfolgen verbreiterte sich sowohl die materielle Basis als auch die Zahl der Geschichten, die von einer Anführerfigur verbreitet wurden. Dabei wurden auch Formen mythischer Überhöhung genutzt. So wurde über Mirambo berichtet, er könne fliegen bzw. an mehreren Orten gleichzeitig sein¹¹⁴⁷. Der Zuwachs an Anhängerscha schuf des Weiteren aber auch rein materielle Notwendigkeiten. Wachsende Kriegergruppen mussten mehr und häufiger rauben, um die Versorgung der Verbände zu sichern. Bisweilen setzten Teile der Krieger den Anführer unter Druck oder zogen auf eigene Faust los, um Raids durchzuführen. Ohne zentralisierende Mechanismen blieben die Verbände um charismatische Anführer daher meist fluide und inkohärent. Dennoch gab es Bemühungen zur Verstetigung der neuen Allianzen. Entsprechend der eorie, dass solche Kriegergruppen eigene Formen von Gouvernementalité herausbilden, sind verschiedene Verbände belegt, die neue militärische und politische Formationen bildeten¹¹⁴⁸. So kam es zur Verstetigung der neuen Gewaltkulturen. Das betraf u.a. die Rekrutierung von jungen Kriegern. Bereits John Haning Speke beobachtete im Unyamwezi-Gebiet, wie in einer Siedlung Gesandte Mkisiwas erschienen, einen Teil der jungen Krieger forderten und im Falle der Verweigerung damit drohten, die Oberhäupter des Dorfes gefangenzunehmen und die Ernte zu beschlagnahmen¹¹⁴⁹. Im Gebiet Zentralkenyas erlangte Horombo als junger Mann militärische Erfolge. Er schickte Gesandte in die umliegenden Gebiete, um Militärkooperationen zu vereinbaren. Außerdem ließ er befestigte Anlagen bauen, bildete Krieger aus, führte neuartige Waffen ein und etablierte ein System von Spähern (Waseru), die ihn mit Neuigkeiten und Informationen versorgten¹¹⁵⁰. Er etablierte außerdem die Praxis, durch lokale Stellvertreter zu herrschen und vergrößerte so seinen Machtbereich¹¹⁵¹. Er stellte einen Stab von Beratern aus erfahrenen Männern auf und administrierte die Verteilung der Beute nach erfolgreichen Raids¹¹⁵². Auch Mirambo baute eine befestigte Anlage aus Lehmziegeln, Isela magazi, »Blutstrom«, für seine Krieger¹¹⁵³. Sie diente als Basis für die Planung von Raids und fußte somit auf traditionellen Konzepten zur Separierung der Krieger in eigene Teilsiedlungen. Für den Einflussbereich 1147 Vgl. Hermann von Wissmann: Unter deutscher Flagge quer durch Afrika von West nach Ost, Berlin 1902, S. 259. 1148 Vgl. Reid: Warfare in African history, S. 107. 1149 Siehe Speke: Journal of the discovery of the source of the Nile, S. 99. 1150 Vgl. Lema: Horombo. e chief who united his people. S. 23ff. 1151 Vgl. ebd., S. 33. 1152 Vgl. ebd., S. 34ff. 1153 Vgl. Spellig: Die Wanjamwesi. Ein Beitrag zur Völkerkunde Ostafrikas, S. 205.

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Ruomas wurde überliefert, dass dieser Verbote hinsichtlich der Bewirtschaung der Äcker aussprach, was Viele dazu bewogen habe umzusiedeln. Weiterhin hatte er eigene Gesandte, die seine Anweisungen verkündeten und als Boten dienten¹¹⁵⁴. Für Unyamwezi wurden Regelungen zu jährlichen Abgaben überliefert, die in Form von Hacken, Ziegen, Honig, Sorghum oder durch Feldarbeit geleistet werden mussten¹¹⁵⁵. Isike hatte eigene Gesandte in Tabora, die dort in seinem Interesse auf den Handel einwirken sollten¹¹⁵⁶. Kimweri, der Herrscher von Usambara, etablierte bereits Mitte des 19. Jahrhunderts eine Regierungsform mit einem militärischen Berater und einer Gruppe von Elitekriegern. In den Siedlungen seines Einflussbereichs verteilte er Stellvertreter und zog Tribute von einigen Küstenstädten wie Pangani ein¹¹⁵⁷. Die Praxis des Hongo bot einen zusätzlichen Anreiz, den eigenen Einflussbereich zu vergrößern. Mirambo zog durch seine Kriegergruppen zunächst von Karawanen auf dem Weg nach Ujiji Wegzölle ein und tat dies in den Jahren um 1870 auch im Manyema-Gebiet. Als er diese Aktivitäten auch auf die Handelsrouten nach Karagwe und Buganda ausweitete, kamen Konflikte auf, die schließlich zum völligen Erliegen des Handels in diesem Gebiet führten¹¹⁵⁸. Zwischen den beiden regional größten Akteuren im Handel, dem Königreich Buganda und dem Sultanat auf Zanzibar, entstanden kleinere Herrschas- und Einflussgebiete, deren Oberhäupter auf den Handel einwirkten und die Verhältnisse zu ihren Gunsten beeinträchtigen wollten. So ergaben sich Kooperationen zwischen Händlern und lokalen Kräen, die sich auch gewaltsam auf den Handel auswirken konnten. Richard Reid verglich das Oberhaupt des Königreichs Buganda, Mutesa, mit Mirambo. Während Ersterer das Oberhaupt einer zentralistisch ausgerichteten und bereits seit Generationen bestehenden Dynastie von Herrschern (Kabaka) war, stand Mirambo für den Auau neuer politischer Strukturen auf der Grundlage dezentral organisierter und bisher auf die lokale Sphäre ausgerichteter Herrschasformen. Die Bevölkerung des Nyamwezi-Gebietes war seit dem frühen 19. Jahrhundert mit dem überregionalen Handel vertraut und stand seit Jahrzehnten mit dem Königreich Buganda in Kontakt. Dabei entwickelte sich die Stadt Unyanyembe zu einem wichtigen Handelsstützpunkt, an dem sich auch Küstenhändler dauerha ansiedelten. Gestützt auf den Einfluss der Händler etablierte sich Mnywa Sele im Jahr 1858. Im Laufe der folgenden Jahre blieb er mit Hilfe der Unterstützung ansässiger Händler an der Macht. Nachdem Mnywa Sele jedoch begonnen hatte, Wegzölle von durchziehenden Karawanen zu erheben, wurde er 1154 Vgl. Schynse: Mit Stanley und Emin Pascha durch Deutsch-Ostafrika. Reise-Tagebuch von P. August Schynse, S. 24f. 1155 Gottberg: Unyamwesi, S. 269. 1156 Vgl. ebd., S. 65. 1157 Vgl. Anene: e Omani Empire and its Impact on East African Societies. S. 449. 1158 Vgl. Okoth: A History of Africa. Volume 1: African Societies and the Establishment of Colonial Rule, 1800-1914, S. 16ff.

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ins Exil gezwungen und durch Mkasiwa ersetzt. Bis zu seinem Tod im Jahr 1865 führte Mnywa Sele eine mobile Kriegergruppe an und verstrickte Unyanyembe in kriegerische Auseinandersetzungen, die durch seinen Verwandten Nyungu-YaMawe fortgeführt wurden¹¹⁵⁹. In diesem Klima eskalierte ein Konflikt zwischen Mirambo und den Händlern von Unyanyembe, dessen Ausbruch damit begründet wurde, dass Mirambo um die Bezahlung einer Elfenbeinlieferung betrogen worden sei. Dieser Konflikt zeigt das Streben verschiedener Anführer nach Autonomie im Handel und Beteiligung an den Profiten¹¹⁶⁰. Dazu versuchten sie, ihren Einfluss mit Hilfe verschiedener Strategien zu festigen. Mirambo ließ in seinem Einflussgebiet verschiedene Forts gründen, die er mit erprobten Kriegern besetzte. Auch führte er regelmäßige militärische Übungen durch und ließ neue Krieger an Schusswaffen ausbilden¹¹⁶¹. In der Gegend Usafwa gründete Merere am Fuße des Mbeje-Berges eine befestigte Siedlung namens Utengule und führte von dort aus Raids durch. Die Bewohner der umliegenden Siedlungen wurden dazu gezwungen, Feldarbeit für Merere zu leisten¹¹⁶². Blieb dies aus, wurde mit Gewalt reagiert: »Vielleicht hatte der Häuptling von Itende oder dessen Dorfschulze Feldhacker für Merere stellen sollen, aber nicht genug bekommen. Sofort kam ein Zug Merere-Soldaten und strae das Dorf; es wurde überfallen und geplündert, die Hütten gingen in Flammen auf, das Vieh wurde weggetrieben, und wohl den Bewohnern, wenn sie den Warnruf zeitig genug vernommen und die Flucht ergriffen hatten«¹¹⁶³. Tjipatankwa etablierte für seine Krieger die Regelung, dass das erste entführte Kind ihm persönlich als Tribut überlassen werde¹¹⁶⁴. Den Verbänden um NyunguYa-Mawe wurde ein hoher Grad struktureller Ausprägung attestiert. Er etablierte ein System von Stellvertretern (Vatwale), die militärische Funktionen hatten und in eroberten Siedlungen installiert wurden und für ein festgelegtes Areal zuständig waren. In seiner größten Ausdehnung soll dieses Netzwerk sechs bis sieben Vatwale umfasst haben¹¹⁶⁵. 1159 Vgl. Reid: Mutesa and Mirambo: oughts on East African Warfare and Diplomacy in the Nineteenth Century, S. 76f. 1160 Siehe auch: ebd., S. 77. 1161 Vgl. Spellig: Die Wanjamwesi. Ein Beitrag zur Völkerkunde Ostafrikas, S. 207. 1162 Vgl. Kootz: Sichyajunga, Ein Leben in Unruhe, S. 14. 1163 ebd., S. 14. 1164 Vgl. ebd., S. 5f. 1165 Siehe Shorter: Nyungu-Ya-Mawe, S. 13ff. sowie ders.: Nyungu-Ya-Mawe and the ’Empire of the Ruga-Rugas’, S. 111f. Im Gebiet des südwestlichen Tansania wurde ebenfalls von der Festigung militärischer Ämter wie dem unndaasi berichtet, was mit »militärischer Gouverneur« übersetzt wurde (Siehe Willis: e Fipa, S. 91). Ähnliche Strukturen wurden für die Gegend Uhehe beschrieben (Siehe Mann: Mikono ya damu, S. 133).

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Charismatische Anführer konnten in neue Möglichkeitsräume vorstoßen und neue Handlungsspielräume für sich erschließen¹¹⁶⁶. Dabei verknüpen sie traditionelle Elemente mit neuen Einflüssen und nutzten besonders Gewalt, um ihre Ziele durchzusetzen. Sie standen an der Spitze der bereits beschriebenen professioneller Kriegergruppen, die sich aus jungen, entflohenen Sklaven, desertierten Trägern von Karawanen oder entführten jungen Männern zusammensetzten¹¹⁶⁷. Es gab neue Anreize für Gewalt. Mobilisierte Kriegergruppen schlossen sich zusammen und führten Raids auf Karawanen oder Siedlungen durch. Ihre Anführer gewannen an Einfluss und viele schlossen sich ihnen freiwillig an. Im gesamten Raum Ostafrikas traten Personen hervor, die traditionelle Titel mit neuen Aspekten verbanden und dabei die Kompetenz als Krieger in den Vordergrund stellten und besonders inszenierten. So wurde im südlichen Gebiet Kenyas und im Raum Tanzanias von zahlreichen Watemi (Sing. Ntemi) berichtet, die über persönliche Einflusssphären verfügten. Der Titel Ntemi bezeichnete traditionell ein Amt, dessen Träger vorwiegend rituelle und symbolische Funktionen zu erfüllen hatte. Im Laufe des 19. Jahrhunderts veränderte sich jedoch die Rolle des Ntemi, so dass gegen Ende dieser Epoche eine Reihe von Kompetenzen mit den Inhabern dieser Ämter verbunden wurde. Johann Krapf fasste die nötigen Fähigkeiten wie folgt zusammen: »Reichthum, Macht der Rede, eine imponirende Persönlichkeit und vorzüglich der Ruf der Zauberei und Regenmacherei bilden die Bedingungen, unter welchen ein Wakamba zu Macht und Ansehen gelangen und sich den Gehorsam seiner Landsleute erwerben kann«¹¹⁶⁸. Die Inszenierung von Macht kombinierte somit sowohl traditionelle Elemente aus dem Bereich der Ritenexperten als auch die jugendliche Kompetenz erfolgreicher Krieger und die Inszenierung von Gewalthaigkeit. So bündelten charismatische Anführer Elemente aus verschiedenen Bereichen und gewannen an Einfluss. Hinzu kam die externe Machtressource des Handels und des Kontakts mit den Protagonisten von Handel, Mission und Kolonisation. Dieser Transformationsprozess hatte die Gewalt im Zentrum und ging aus dem Kontext eines Raumes hervor, dessen besonderes Merkmal die Überlagerung verschiedener Gewaltkulturen war. Im Norden gewannen Personen mit dem Titel Orkoiyot an Einfluss. Die Bezeichnung stammte ebenfalls aus dem rituellen Kontext und beschrieb traditionelle Ritenexperten, deren Ratschläge bei Problemen gehört wurden¹¹⁶⁹. Mit zunehmender Bedeutung von Gewaltkompetenz nahmen taktische Ratschläge sowie die Planung 1166 1167 1168 1169

Vgl. Isichei: A history of African societies to 1870, S. 448f. Vgl. Njiro: A History of Africa in the 19th Century, S. 61 Krapf: Reisen in Ostafrika ausgeführt in den Jahren 1837-1855, S. 264f. Vgl. Njiro: A History of Africa in the 19th Century, S. 55.

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kollektiver Gewalt zu, wodurch sich die Rolle des Orkoiyot ebenfalls veränderte. Das Amt wurde nun von Personen ausgeübt, die einen entsprechenden Ruf als kompetente Krieger hatten. Mündliche Traditionen schildern die Festigung des Orkoiyot-Amtes und den Einflussgewinn der Inhaber als Phänomen der Zeit nach 1850. Zunächst waren die Mitglieder zweier Klans, Kapchemuri und Kamwaikei, unter diesem Titel bekannt. Ihre Funktionen waren rein militärisch und bezogen sich auf die Planung und Durchführung von Raids. Während der zweiten Häle des 19. Jahrhunderts kamen immer häufiger Fälle gegenseitigen Viehraubs im Gebiet zwischen Mt. Elgon und der Gegend um Mombasa vor, was zu einer Reihe von Sezessions- und Migrationsprozessen führte. In diesem Klima häufiger Raids und wechselnder Gewalthandlungen gewannen die Orkoiyot an Einfluss. Sie wurden bekannt als kompetente Kriegerkaste, der besondere Fähigkeiten bei der Eliminierung ihrer Feinde und der erfolgreichen Inbesitznahme der Viehbestände sowie magische Kräe zugeschrieben wurden. Mit wachsendem Einfluss erweiterten sich die Tätigkeitsbereiche, später hatten Inhaber des Amtes Orkoiyot die Funktionen eines militärischen und politischen Beraters sowie des Propheten und Wahrsagers vereint. Ihnen wurde ferner die Fähigkeit zugeschrieben, Unglück abzuwenden; sie sanktionierten und segneten Raids. Die Fruchtbarkeit der Frauen und des Viehs fiel ebenfalls in ihren Aufgabenbereich, Inhaber des Orkoiyot-Amtes sprachen entsprechende Segnungen aus¹¹⁷⁰. Besonders Marasoi galt als erfolgreicher Krieger, dessen Raids sich in den 1860er Jahren häuen und unter seinem Nachfolger Kimuyolei in den 1880er Jahren eine Hochphase erreichten¹¹⁷¹. Die auommenden Eliten konnten sich durch die Weitervergabe ihrer Ämter an ausgewählte Nachfolger stabilisieren. Dabei wurden Ämter neu geschaffen oder Bestehende mit mehr Einfluss ausgestattet. In der Hochebene Zentraltanzanias gewann ein charismatischer Anführer mit dem Namen Mbatian an Bekanntheit. Er bekleidete das Amt des Oloibony, welches traditionell als Vermittlerfigur zwischen Ältestenräten und den Kriegerkasten angesehen wurde und auf den lokalen Rahmen beschränkt war. Mbatian gewann aufgrund seiner taktischen und militärischen Fähigkeiten auch regional an Bekanntheit und stand für eine neuartige Form des Oloibony, der - im Gegensatz zum eher lokal begrenzten Wirkungshorizont - einen überregionalen Herrschasraum beanspruchte und anvisierte und sich mehr in die Entscheidungsprozesse der Gemeinscha einbrachte, um diese zu beeinflussen. Mbatian versuchte insbesondere, möglichst viele Kriegergruppen zu versammeln, um dem Klima gesteigerter Gewalt zu begegnen¹¹⁷². Die Funktionen des Oloibony umfassten zuneh1170 Siehe Arap Magat: Origins of the Nandi Orkoiyot. Oral Interviews collected in 1966. S. 10, ebd., S. 16 und ders.: e rise and fall of the Nandi Orkoiyot 1850-1957. S. 26ff. 1171 Vgl. B. J. Walter: Territorial Expansion of the Nandi of Kenya, 1500-1905, 1970, S. 26. 1172 Vgl. Kanyangezi: Mbatiany 1824-1889. A Biographical study of a nineteenth century Maasai Oloibony, S. 67ff.

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mend auch die Vorhersage unangenehmer Ereignisse wie Kriege, Seuchen und Hungersnöte sowie Beratung und Vorschläge von Reaktionsmöglichkeiten und Handlungsstrategien. Hinzu kam die Ausbildung junger Krieger und eine zentrale Position in der Ritenpraxis. Im Rahmen der Initiationszeremonien nahm die Figur des Oloibony eine beratende Funktion für die jungen Krieger ein. Das betraf auch andere Transitionsriten wie den Übergang zur höheren Kriegerkaste (Eunoto) und den Übergang in den Status eines Elder. Bei diesen Riten wurden die Kandidaten vom Oloibony unterrichtet und beraten¹¹⁷³. Auch im Norden Kenias etablierten sich einzelne Gewaltexperten, Rwot, deren Auommen mit den gesteigerten Gewalterfahrungen durch Handelsnetzwerke und den Mahdi-Aufstand der Jahre nach 1884 in Verbindung gebracht wurden. Sie vermittelten zwischen Streitparteien, wirkten als Garant für den Schutz der Gemeinscha und organisierten kommunale Versammlungen¹¹⁷⁴. Das soziale Gefüge der Altersordnungen formte sich um und räumte solchen Einzelpersonen mehr Einfluss ein, die sich als Experten für die Reaktion auf Krieg, Gewalt und andere äußere Einflüsse bewährt hatten und Handlungsstrategien anbieten konnten. Bei der Herausbildung dieser Strukturen finden sich auch Umformungen aus tradierten Altershierarchien. So berichtete der Missionar C.T. Wilson über das Unyamwezi-Gebiet, wo sich lokale Dualismen zwischen einzelnen Anführern und einer Gruppe Untergebener Waniampara herausbildete. Der Begriff Waniampara wurde mit »Großväter« übersetzt¹¹⁷⁵, die Bezeichnung stammt also aus dem Kontext traditioneller Ältestenräte. Die verschobenen Machtverhältnisse waren allerdings bereits konsolidiert und sahen die Waniampara nicht mehr als eigene Akteure mit Einfluss vor, sondern als Unterstellte, Boten bzw. Ratgeber der charismatischen Anführer. Der Auau eigener, mit Schusswaffen ausgerüsteter Kriegergruppen und deren Verwendung als Machtinstrument einzelner Anführer wurde ein weit verbreitetes Phänomen. Mirambo ließ zu diesem Zweck eigene Siedlungen für junge Krieger bauen¹¹⁷⁶. Taktiken und Vorbereitung von Raids orientierten sich dabei an traditionellen Kriegerkulturen. So berichtete der Ethnologe Fritz Spellig über die militärische Vorgehensweise der Krieger Mirambos berichtet: »Vor Beginn eines Krieges wurde immer in Gegenwart der Unterhäuptlinge und Gruppenführer ein Kriegsrat abgehalten, in dem die Marschordnung und die Angriffspläne besprochen wurden. Dann folgte eine Heerschau mit Kriegstanz, wobei mehrere Rinder ge1173 Vgl. Ndege: Olonana Ole Mbatian, S. 8f. 1174 Vgl.Okeny: State formation in Acholi: e Emergence of Obbo, Pajok and Panyikwara states, c.1679-1914, S. 235ff. 1175 Vgl. C. T. Wilson: A Journey from Kagei to Tabora and Back, in: Proceedings of the Royal Geographical Society and Monthly Record of Geography 2.10 (1880), S. 616–620, hier S. 619. 1176 Vgl. Gottberg: Unyamwesi, S. 57.

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schlachtet und verteilt wurden. Auf dem Marsch war Mirambo streng und unermüdlich, beim Angriff stets an der Spitze. Seine Haupttaktik bestand darin, die feindlichen Siedelungen am frühen Morgen, wenn alles im tiefsten, sorglosesten Schlaf lag, zu überrumpeln. Auf diese Weise mißglückten ihm auch selten seine Handstreiche«¹¹⁷⁷. Ruoma nutzte seine Ruga-Ruga-Krieger für taktische Raids ebenso wie für die Eintreibung von Wegzöllen (Hongo). Er verbot seinen Verbänden, Europäer zu überfallen und schickte seine Krieger bei der Ankündigung europäuscher Besucher los, um Vieh zu beschlagnahmen und es der Karawane als Geschenk anzubieten¹¹⁷⁸. Mirambo schickte seine Krieger zur Eintreibung von Abgaben in Form von Elfenbein und bezahlte eigene Elfenbeinjäger¹¹⁷⁹. Auch die Organisationsstruktur von Karawanen verband sich mit diesen Phänomenen. Die Praktiken der Handelsnetzwerke förderten hierarchisch geprägte Strukturen, da die Bezahlung meist nach festen Kategorien erfolgte. So dokumentiert die Buchführung E.J. Southons die Bezahlung eines »Headman« mit 8, eines »Mailman« mit 7, einer regulären Arbeitskra mit 5 sowie eines Dieners mit 5 Dollar pro Monat¹¹⁸⁰. Diese Art der Hierarchisierung verschmolz mit tradierten Weltbildern, Begriffe und Bezeichnungen überlagerten sich. In der Vorstellung bildeten sich zusammenhängende Verbände und Machtbereiche, die jedoch instabil blieben. Es gibt zahlreiche Überlieferungen, die das eigenmächtige Handeln einzelner Kriegergruppen schildern. So zogen die Krieger Munye Mtwanas auf eigene Faust und ohne dessen Erlaubnis los, um Raids durchzuführen¹¹⁸¹. Über die Bestrafung im Falle eines solchen, eigenmächtigen Handelns berichtete Walter Angus Elmslie: »On one occasion years aer, when some wild youths went on a marauding expedition to the neighbourhood of Bandawe, Mombera, the chief, called them up. He said, You are not chief. I am chief. You went to Bandawe with war. Cut their legs, and they were thereupon hamstrung. You killed Tonga. Cut their wrists, and the tendons were divided, and the miserable wretches crawled away to hide and die«¹¹⁸². Flexible lokale Strukturen festigten sich auf der Basis von Gewalt jedoch nur bis zu einem gewissen Grad: Trotz solch harter Bestrafungen blieben die Verbände 1177 Spellig: Die Wanjamwesi. Ein Beitrag zur Völkerkunde Ostafrikas, S. 206. 1178 Siehe Schynse: Mit Stanley und Emin Pascha durch Deutsch-Ostafrika. Reise-Tagebuch von P. August Schynse, S. 24f. sowie ebd., S. 45. 1179 Vgl. Gottberg: Unyamwesi, S. 57. 1180 Siehe E.J. Southon: Annual Report of the Urambo Mission. LMS, Signatur: CWM / LMS / Central Africa / Reports / Box 1, Dez. 1880. 1181 Vgl. Schynse: Mit Stanley und Emin Pascha durch Deutsch-Ostafrika. Reise-Tagebuch von P. August Schynse, S. 45. 1182 Elmslie: Among the wild Ngoni, S. 247, Hervorhebung im Original.

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charismatischer Anführer instabil und fluide. Neben neuen Formen rituell geschaffener Bündnisse wurden bereits etablierte Kooperationsmechanismen genutzt und erweitert. In den Hochländern Kenyas wurden Karawanen in die traditionellen Formen militärischer Kooperation (Gichiaro) integriert¹¹⁸³. Durch die kurzen Verweildauern der Karawanen blieben diese Bündnisse jedoch punktuell und ephemer. Auch die Präsenz einer Zentralgewalt avant la lettre innerhalb der Einflussgebiete einzelner charismatischer Anführer blieb weitgehend ohne Wirkungsmacht und konnte bestenfalls dazu führen, die Sicherheit europäisch geführter Karawanen zu verbessern¹¹⁸⁴. Das bemerkten auch europäische Reisende, die den politischen Verhältnissen zentralistische Strukturen attestierten, wie Carl Claus von der Decken dies für Usambara berichtete¹¹⁸⁵. In einigen Einflussgebieten wurden grundlegende Regeln eingeführt, so sprach sich Mirambo für ein Verbot von Alkohol aus, da es seine Leute schwäche¹¹⁸⁶. Er etablierte ein System für die Verkündung seiner Regeln, das später von Missionaren dokumentiert wurde. So schickte er Gesandte in die Siedlungen und rief deren Vertreter zu einer Versammlung an seinen Herrschassitz. Am nächsten Tag wurde die Versammlung abgehalten, deren Kern ein Ritus zur Verkündung der neuen Regeln war. Dazu wurde ein Feuer angezündet und Mirambo warf einige symbolische Gegenstände in das Feuer. Überlieferte Regeln Mirambos beinhalten ein Verbot des Diebstahls und vorgeschriebene Arten der Bestrafung und Kompensationsleistung sowie Regelungen zur Viehhaltung und zur Nutzung von Weideflächen¹¹⁸⁷. Das belegt die Bemühungen einzelner charismatischer Anführer, allgemein akzeptierte Regeln für den Umgang mit Gewalt zu etablieren. Die überlieferten Regeln und die Art ihrer Verkündigung verbanden traditionelle Arten der konsensuellen Einhegung von Gewalt mit rudimentären Formen kodifizierten Rechts. An der Peripherie informeller Einflussgebiete ergab sich eine hohe Instabilität. In den Zentren konnten sich die Herrschasstrukturen um charismatische Anführer jedoch auch über Generationen hinweg verstetigen, wenn eine Form des Generationenprozesses etabliert und fortgeführt werden konnte, welche die neuen Eliten stützte. So dokumentierte der Missionar Wohlrab mündliche Traditionen aus Usambara, die vom Einflussbereich von Schebuge berichten. Seine Herkun führte er auf einen mythischen Ahnherrn namens Mbega zurück, der als Anführer einer kleinen Gruppe junger Jäger und Krieger umherzog und aufgrund seiner Jagderfolge von vielen Siedlungen um Hilfe bei der Versorgung mit Fleisch gebeten wurde. In Usambara habe er sich angesiedelt und sei dort durch die Versammlung der Vertreter der Gegenden Bumbuli, Mlalo, Mtili, Mbalamo 1183 Vgl. Fadiman: e moment of conquest : Meru, Kenya, 1907, S. 19. 1184 Siehe auch: Gottberg: Unyamwesi, S. 58. 1185 Siehe Decken: Baron Carl Claus von der Decken’s Reisen in Ostafrika in den Jahren 1862 bis 1865, S. 314. 1186 Vgl. Spellig: Die Wanjamwesi. Ein Beitrag zur Völkerkunde Ostafrikas, S. 206. 1187 Vgl. Blohm: Die Nyamwezi, Bd.2, S. 64f.

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und Ubili zum Anführer gewählt worden. Der Sohn Mbegas namens Mbuge habe dieses Amt geerbt und es als politische Institution durch die Ausweitung der Kommunikations- und Handelsnetzwerke weiter verfestigt. Mbuge habe als Vermittler in lokalen Streitigkeiten fungiert und sei umhergereist, um mit lokalen Autoritäten regelmäßigen Kontakt zu pflegen. Dabei habe er sich um den Ausbau von Wegen ebenso gekümmert wie um die Schaffung von Stauweihern zur besseren Bewässerung der Felder. Schebuge, der Sohn Mbuges, festigte seine Position durch den Auau einer Gruppe von Elitekriegern, die mit Schusswaffen ausgestattet waren. Der Verband bestand aus zwei Elitegruppen, die unter den Anführern Mbaluku und Mbeleko standen. Die internen Strukturen der Verbände Schebuges orientierten sich an traditionellen Mustern. Grundsätzlich blieb eine Gliederung nach Altersklassen bestehen, durch die Einführung von Schusswaffen ergab sich jedoch eine Veränderung: Junge Elitekrieger waren mit Schusswaffen ausgerüstet und eng an Schebuge gebunden. Der Rest des Verbandes ergab sich aus den Mechanismen traditioneller Bündnissysteme und umfasste mit Speer, Bogen und Schwertern ausgerüstete Krieger, die aus den umliegenden Siedlungen ausgehoben wurden¹¹⁸⁸. Wohlrab beschrieb diese Verbände wie folgt: »Die Hörigen mit Bogen, Speer und Schwert zogen meist als die Vorhut voran. Am Schluß kam die Landwehr, die alten erprobten Leute mit dem Häuptling und der Heeresfahne; sie wurden nur ins Treffen geworfen, wenn die anderen Truppen dem Feinde nicht standhalten konnten, und mußten siegen oder sterben. Erst wenn die Landwehr eingreifen mußte, war eine Schlacht wirklich mörderisch. Mit seinem Heere überwand Schebuge die Pare im Norden und die Bonde im Süden und machte sich sogar die Küste mit Pangani und Tanga tributpflichtig«¹¹⁸⁹. Weitere Aspekte der Zentralisierung ergaben sich dadurch, dass lokale Oberhäupter der umliegenden Siedlungen am Fluss Ruvu und der Städte Pangani und Tanga in einer zentralen Zeremonie am Sitz von Schebuge eingesetzt wurden. In der direkten Umgebung wurden lokale Chiefs eingesetzt, die aus dem Familienverband des Anführers rekrutiert wurden. Wohlrab berichtete von einem florierenden Leben in der Umgebung des charismatischen Anführers, das von persönlichen Dienern, einer großen Anzahl Frauen und einer Leibgarde aus Elitekriegern geprägt gewesen sei¹¹⁹⁰. Unterhalb der Ebene solcher persönlicher Herrschasbereiche ergaben sich ebenfalls dynastische Strukturen, indem Ämter wie das des Mutva1188 Siehe Wohlrab: Usambara. Werden und Wachsen einer heidenchristlichen Gemeinde in Deutsch-Ostafrika. S. 4ff. und o.A.: Anfänge in Usambara - Briefe und Tagebuchberichte. 1189 Wohlrab: Usambara. Werden und Wachsen einer heidenchristlichen Gemeinde in DeutschOstafrika. S. 6f. 1190 Siehe ebd., S. 6f.

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le ebenfalls vererbt wurden¹¹⁹¹. Allgemein lässt sich also schlussfolgern, dass es regional unterschiedlich stark ausgeprägte Initiativen dazu gab, der allgemeinen Unsicherheit feste Regeln oder stabile Herrschasstrukturen entgegenzusetzen, die potenziell für eine Einhegung der Gewalt sorgen konnten. Allerdings hatten die Stabilisierungsversuche charismatischer Herrscha auch Grenzen. Die Zentren verschiedener Einflussbereiche charismatischer Anführer bildeten temporäre Fixpunkte, von denen die Zentrifugalkräe einer dynamisierten Gewaltumgebung ausgingen. Die Peripherie dieser Einflusszonen war als Zielgebiet für Raids sowohl Legitimationsquelle für die Macht des charismatischen Anführers, der seine Kompetenz immer wieder unter Beweis stellen musste, als auch Rekrutierungsgebiet für junge Krieger. Die auommenden Einflussbereiche blieben daher meist instabil und regional begrenzt. Zudem war besonders die Peripherie von unregulierter Gewalt geprägt, da einzelne Kriegergruppen auch außerhalb bestehender Verbindungen zu charismatischen Anführern auf eigene Faust operierten, was zu Verwüstung und exzessiver Gewalt führen konnte. Der Anführer Mombera berichtete dem Missionar Walter Angus Elmslie von diesem Phänomen. Letzterer überliefert die folgende Aussage des Anführers: »My army, when away from home, are like mad dogs; they cannot be kept in, but bite small and great the same«¹¹⁹². Somit ergab sich an der Peripherie einzelner Einflusszonen eine weiter erhöhte Mobilität, die Dorewohner nach Verlust des Viehbesitzes zu umherziehenden Kleingruppen machte oder sie dazu bewog, sich einem charismatischen Anführer anzuschließen oder die eigene Arbeitskra auf den Märkten der Küstengebiete anzubieten¹¹⁹³. Johann Ludwig Krapf beschrieb das Auommen solcher Gruppen ohne eigenes Vieh und ohne Familie, die unter der Gruppenbezeichnung Wandurobo bekannt wurden und o zu Hilfsdiensten herangezogen wurden. Etymologisch führte Krapf das Wort auf das Arabische el mandarúb zurück und übersetzte es mit »ein Geschlagener, Ueberwundener, ein Unterthan«¹¹⁹⁴. Aus ihrer Notlage heraus begaben sich Viele in den Einflussbereich eines charismatischen Anführers, der als kompetenter Krieger und Garant einer effektiven Verteidigung, einer gefestigten Gewaltökonomie galt und eine wirksame Drohkulisse zur Abschreckung potenzieller Angreifer schaffen konnte. Wie standen diese charismatischen Anführer zu den traditionellen Elders? Als Folge einer Verschiebung der Autoritätsverhältnisse zugunsten einer jüngeren 1191 Siehe Johanssen: Tagebücher 1890-1914. 1192 Elmslie: Among the wild Ngoni, S. 196. Ähnlich beschrieb August Schynse die Kriegergruppen von Munye Mtwana, die ebenfalls auf eigene Faust agierten (Siehe Schynse: Pater Schynse’s letzte Reisen, S. 45). 1193 Vgl. Rockel: Carriers of Culture. Labor on the Road in Nineteenth-Century East Africa, S. 86. 1194 Krapf: Kurze Beschreibung der Massai, S. 462.

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Gewaltelite wäre anzunehmen, dass solche Anführer für eine weitgehend unabhängige und autokratisch organisierte Form der Herrscha stünden, die sich im 19. Jahrhundert verbreitete. In der bisherigen Forschung wird o ein solcher Standpunkt eingenommen¹¹⁹⁵. Bieten sich vor dem Hintergrund der bereits gezeigten segmentären Altersstrukturen neue Perspektiven? Gibt es Hinweise auf den Fortbestand traditioneller Altershierarchien auch im Umfeld der Einflussbereiche einzelner charismatischer Anführer? In einigen Quellen werden die Eliten um die charismatischen Anführer näher beschrieben. So berichtete Johann Ludwig Krapf im Rahmen seines Aufenthalts in Vuga im Jahre 1848 von »Räthen«, die den von Krapf als König bezeichneten Kimweri umgaben¹¹⁹⁶. Diese Räte hatten Krapf bereits empfangen und versammelten sich um Kimweri, während Krapf seine Pläne zur Gründung einer Missionsstation vortrug. Krapf berichtete weiterhin von einem Magazin für die Luxusgüter, welche als Hongo von Reisenden überreicht wurden, und von einigen Mitgliedern der lokalen Elite, die von der Swahili-Küste stammten¹¹⁹⁷. Der Rat um Kimweri setzte sich aus den lokalen Klanoberhäuptern (Wafung’wa) zusammen, Entscheidungen wurden in gemeinsamer Beratung getroffen, Kimweri fungiere lediglich als Verkünder der Beschlüsse¹¹⁹⁸. Auch Richard Francis Burton berichtete von Eliten, die er als »Geheimräte« (Makunga) bezeichnete. Neben ihnen seien die »Altmänner« (M’ana Mirao) als einflussreiche Gruppe respektierter Männer hervorzuheben¹¹⁹⁹. Auch Johannes Rebmann nannte eine Gruppe von »Geheimräthen« (Wadschama), die er bei einer Besprechung auf einem zentralen Platz beobachtet hatte¹²⁰⁰: »Die Vornehmsten trugen Kopedeckungen von schwarzen ierhäuten. Es sind sehr alte Männer darunter, wie Emkilema, der ein Msoro (Soldat) von Sivia, dem Großvater von Masaki, war. Ihre Angesichter drücken o viel Ernsthaes und Nachdenken aus«¹²⁰¹. Auch in den Reiseberichten Carl Claus von der Deckens werden die Eliten, »Häuptlinge oder Minister«, erwähnt, die sich bei seiner Ankun in Kilema versammelten¹²⁰². Diese Beispiele weisen darauf hin, dass traditionelle Ratsstrukturen weiterhin etabliert und intakt blieben. Gleichzeitig finden sich, wie bereits ge1195 1196 1197 1198 1199 1200 1201 1202

Siehe z.B. Reid: A history of modern Africa, S. 52ff. Krapf: Reisen in Ostafrika ausgeführt in den Jahren 1837-1855, S. 129. ebd., S. 129. Vgl. Arnold Kiel Johannes Paehl: Demokratische und partizipatorische Elemente in vorkolonialen Gesellschaen in Tanzania, in: Habari 1 (2011), S. 6–14, hier S. 12. Vgl. Burton/Speke: Der Nil und seine Quellen. Reisen nach den Binnenseen Afrika’s und Entdeckung der Quellen des Nils 1857-1863, S. 109f. Johannes Rebmann: Tagebücher, in: Johann Ludwig Krapf (Hrsg.): Reisen in Ostafrika ausgeführt in den Jahren 1837-1855. Bd. 2, 1994[1858], S. 42f. ebd., S. 42f. Decken: Reisen in Ost-Afrika in den Jahren 1859-1865, S. 274.

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zeigt, Hinweise auf Veränderungen, die auch externen Beobachtern wie John Haning Speke und Richard Francis Burton nicht unbemerkt blieben. Letzterer charakterisierte eine Gruppe namens Wazegura als ursprünglich friedlich, durch den Erwerb von Schusswaffen allerdings zur Gewaltelite gewandelten Kriegergruppe, die durch Raids Sklaven aushoben und sie an die Küste verkauen. Burton charakterisierte die Machtstrukturen innerhalb dieser Gruppe als Ausnahme, die sich nicht auf traditionale Strukturen stütze, sondern die Autorität von denjenigen Personen ausgeübt werde, »[...] die die größte Beredtsamkeit, die freigiebigste Hand und den schärfsten Speer besitzen«¹²⁰³. Gleichwohl blieb Burton und Speke ein tieferer Einblick in die inneren Hierarchien dieser Gruppe verwehrt. Wie schon erwähnt berichtete auch Johann Ludwig Krapf von den rhetorischen Qualitäten, die ein Anführer haben musste¹²⁰⁴, und attestierte Kimweri sowohl diese als auch einen Ruf als kompetenter Krieger. Angesichts solcher Berichte scheint es zunächst, als ob Charisma und Gewalt traditionelle Formen der Autorität zumindest temporär verdrängen konnten. Bei näherer Untersuchung treten jedoch Zweifel an einer solchen Deutung auf. Im Fall von Kimweri lässt sich belegen, dass auch dessen Autorität nicht unangefochten gewesen zu sein scheint, finden sich doch deutliche Hinweise auf Räte, deren Entscheidungen er zumindest Beachtung schenken musste¹²⁰⁵. Uneingeschränkte Autokratie einzelner Anführer scheint sich also zumindest selten zu finden, o lassen die Quellen einige Zweifel daran zu, dass es sich bei den als despotische Könige charakterisierten Personen um Anführer mit uneingeschränkter Macht handelte. Meist tauchen ebenso Gruppenstrukturen auf, die ein solches Bild wieder in Frage stellen. So weisen besonders Berichte auf ein Fortbestehen traditioneller Autoritätssphären hin, welche eine Gruppe mit dem Titel Banangoma erwähnen, die als einflussreiche Gruppe aurat¹²⁰⁶. Die wörtliche Übersetzung »Mann des Ngoma« zeigt ein Fortbestehen traditioneller Quellen der Autorität, wie sie im Rahmen von Ngoma - Festen erworben und fortgeschrieben werden konnte. Hinzu kommt die Frage danach, wie stabil Kriegergruppen auf Dauer blieben und ob sich soziale Gruppen dauerha auf Gewalt stützen konnten. Auf die Instabilität der Verbände um einzelne charismatische Anführer wurde bereits hingewiesen, kleine Kriegergruppen agierten o auf eigene Faust und entfalteten so eine tendenziell destruktive Wirkung nach Außen. Interne Strukturen konnten sich jedoch mit einem Rückbezug auf hergebrachte Formen der Gewaltnutzung stabilisieren lassen. Daher finden sich auch 1203 Burton/Speke: Der Nil und seine Quellen. Reisen nach den Binnenseen Afrika’s und Entdeckung der Quellen des Nils 1857-1863, S. 109. 1204 Vgl. Krapf: Reisen in Ostafrika ausgeführt in den Jahren 1837-1855, S. 264f. 1205 Siehe auch: Becher: Dar es Salaam, Tanga und Tabora: Stadtentwicklung in Tansania unter deutscher Kolonialherrscha, 1885-1914, S. 61. 1206 Siehe o.A.: Unterlagen Bakumbi, Residentur Bukoba, BArch R 1001 / Bd. 4999 - Dt. Ostafrika sowie Holmes: A History of the Bakwimba of Usukuma, Tanzania from earliest Times to 1945, S. iii.

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in den Gemeinschaen um charismatische Anführer einige integrative Mechanismen traditioneller Gewaltkulturen. Noms de Guerre blieben verbreitet und Kriegermythen behielten ihre integrative Funktion: erfolgreiche Krieger wirkten als Schutz bietender Anziehungspunkt innerhalb einer unsicheren Umgebung. Allerdings weist die Mythenbildung um einzelne Anführer sowie die Rückführung auf mythische Ahnen auf die Notwendigkeit hin, die eigene Herrscha auch auf andere Aspekte als die Gewalt zu stützen. Die Präsenz lokaler Eliten um die einzelnen Anführer belegt zudem, dass die traditionalen Segmente auch weiterhin bestehen blieben. Ostafrikanische Gemeinschaen stützten sich auch weiterhin auf eigene Traditionen, Institutionen und Regeln. Bei genauerem Blick auf die vorhandenen Zeugnisse zeigt sich, dass Bestehendes nicht zusammenbrach, sondern sich lediglich um erfolgreiche Kriegerfiguren neu gruppierte. Das gilt nicht nur für vergleichsweise frühe Zeugnisse wie die Reiseberichte Rebmanns, Krapfs und Burtons, sondern auch für spätere und o detailiertere Beobachtungen. So werden auch in den späteren Zeugnissen europäischer Reisender und Missionare Ratsstrukturen beschrieben, in denen Älteste weiterhin einen Einfluss ausübten, die allerdings o um Mitglieder einer Gewaltelite erweitert waren. Moritz Merker, Premier-Leutnant der kaiserlichen Schutztruppe, charekterisierte die Autoritätsverhältnisse in Moshi im Jahr 1898 wie folgt: »Zu den ›Grossen‹ des Landes gehören in erster Linie die Akidas [lokale koloniale Amtsträger¹²⁰⁷], dann die Reichen (grosser Besitz an Vieh) und ferner die Männer, welche sich durch Tapferkeit im Krieg oder durch Klugheit über die grosse Masse abheben. [...] Als Boten, Zwischenträger, Friedensvermittler etc. hat der Häuptling für jede Nachbarscha einige bestimmte Leute, die in den resp. Landschaften bekannt sind und deren Sicherheit auch zu Kriegszeiten verbürgt ist«¹²⁰⁸ In diesem Bericht spiegelt sich die Beharrungskra traditioneller Institutionen. Neben traditionellen Autoritätsverhältnissen zwischen den Generationen scheinen die Aspekte der Kriegerehre ebenso stabil geblieben zu sein wie die Möglichkeiten zur Einhegung der Gewalt durch bekannte Vermittlerfiguren. Auf der Ebene interner sozialer und politischer Strukturen zeigen sich also nur schemenhae Veränderungen, die meist mit der Hervorhebung charismatischer Anführer in Verbindung stehen. Entgegen den Vorstellungen einiger Quellenautoren und Teilen der Forschung war deren Einfluss nicht uneingeschränkt. Diese Personen traten allerdings in eine neue Sphäre überregionaler Kommunikation, die auf der Basis ausgeweiteten Handels fußte. Solche Anführer und Chiefs wirkten als besondere Faktoren im Zusammenspiel traditioneller und neuer Eliten. In ihrer Po1207 Vgl. Winfried Speitkamp: Deutsche Kolonialgeschichte, Stuttgart 2006, S. 130. 1208 BArch R 1001 / 4990. Zur Bezeichnung Akida siehe außerdem: Glassman: Feasts and riot, S. xv.

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sition im Zentrum der Kommunikation zwischen lokalen Gemeinschaen und auommenden überregional agierenden Kräen kam ihnen eine besondere Stellung zu, die im Folgenden untersucht wird.

5.3 Gesellschaftliche Umgestaltung durch Gewalt? 5.3.1 Neue Gewalteliten und koloniale Kräfte

Ostafrika war in Bewegung. Die im 19. Jahrhundert auommenden Einflussbereiche neuer Eliten stehen für violent frontiers, offene Räume, in denen neue Eliten miteinander konkurrierten¹²⁰⁹. Hintergrund war ein »[...] enlargement of scale [...]«¹²¹⁰, das sich aus den transregionalen Handels- und Kommunikationsstrukturen ergeben hatte. Mobilität, Handel und die gezeigten Gewaltdynamiken hatten zu multipolaren Netzwerken von Einflussbereichen geführt, die durch fluide, wechselnde Allianzen gekennzeichnet waren. Das Wirken charismatischer Anführer wurde dabei bereits im Jahr 1858 von Johann Ludwig Krapf als Bedrohung für die Sicherheit bei Reisen in das Hinterland der ostafrikanischen Küste angesehen. Neue Handels- und Gewalteliten waren für ihn ein Unsicherheitsfaktor, dem mit Hilfe einer Zentralgewalt zu begegnen sei. Er hielt ein baldiges Eingreifen europäischer Kolonialmächte daher für notwendig¹²¹¹. Der Missionar nahm das Auommen einzelner Einflussgebiete und die Konkurrenz der Chiefs um die Dominanz über die Handelsnetzwerke wahr und sah die Notwendigkeit einer - aus seiner Sicht - ordnenden Kra. Zwischen den lokalen und auf regionaler Ebene akzeptierten Einhegungsmechanismen für Gewalt, die bereits durch das Auommen mobiler Kriegergruppen, Karawanen und Gewaltunternehmer destabilisiert worden waren, und einer überregionalen, einheitlichen, zentralstaatlich orientierten Regelung der Gewalt tat sich eine Lücke auf: In einer Sphäre der Unbestimmtheit, in der keine allgemein akzeptierten Regeln der Gewalt existierten¹²¹², trafen unterschiedliche Formen der Gewaltnutzung aufeinander. Das ermöglichte besonders den Gewalteliten neue Handlungsspielräume. Sie konnten innerhalb einer intermediären Machtsphäre zwischen lokalen, traditionellen Autoritäten und auommenden überregionalen Kräen wie Handelsimperien und Kolonialstaaten agieren und so ihre eigene Position festigen. Zwischen jenen neuen, überregionalen Gebilden und einer gleichförmigen, nach natürlichen Zyklen und auf die

1209 Siehe Reid: Frontiers of violence in North-East Africa. 1210 Ochieng: Kenya’s Internal and International Trade in the Nineteenth Century, S. 44. 1211 Siehe Johann L. Krapf: Journal, 2. März 1852, CMS, Signatur: CA5 / 016 / 177 sowie Gütl: Johann Ludwig Krapf, S. 86. Siehe hierzu auch: Glassman: Feasts and riot, S. 249. 1212 Der Ethnologe Georg Elwert prägte hierfür den Begriff »gewaltoffene Räume« (Elwert: Gewaltmärkte. Beobachtungen zur Zweckrationalität der Gewalt, S. 86).

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lokale Ebene beschränkten Form gemeinschalichen Zusammenlebens¹²¹³ entstanden dynamische Räume der Transition, die traditionelle Elemente mit den überregionalen Einflüssen von Swahili-Küste, internationalem Handel und externer politischer Kultur verbanden. Die charismatischen Anführer traten innerhalb einer »Kontaktzone«¹²¹⁴ mit westlichen Reisenden, Missionaren oder Kolonialbeamten in Verbindung und inszenierten sich entsprechend westlicher Vorstellungen als autokratische Herrscher. Das schlug sich in der Wahrnehmung jener Beobachter nieder und ergab eine Vorstellung der politischen Landkarte Ostafrikas als loser Verband einzelner Herrschasbereiche. Das illustriert bereits der Titel des Reiseberichts von Mary French-Sheldon, die ihren Aufenthalt in Ostafrika als eine Reise von »Sultan zu Sultan« beschrieb¹²¹⁵. Solche Vorstellungen spiegeln die als zentralistisch angesehenen Gemeinschaen, wie sie sich um verschiedene charismatische Anführer herausgebildet hatten. An den Erfahrungen aus solchen Begegnungen orientierten sich, gepaart mit der Notwendigkeit ausbeutbarer Klientelbeziehungen, die enstehenden Konzeptionen kolonialer Herrscha. Den heterogenen und lokal variierenden Gebilden wurde dabei eine hierarchische Vorstellung von Herrscha attestiert, die sich dazu eignete, an die Strukturen eines kolonialen Zentralstaats anzuknüpfen. Vorstellungen von »Häuptlingen«, Chiefs und alleinigen Machthabern eigneten sich für politische Konzepte wie bspw. dem einer Indirect Rule, wie sie der britische Kolonialoffizier Lord Lugard formuliert hatte. Unter der Vorannahme, dass »[...] das Ausbilden primitiver Stämme in jedweder Form eigenständiger Regierung sinnlos [...]«¹²¹⁶ sei, strebte die britische Kolonialadministration eine indirekte Herrscha an, die nach den Vorgaben britischer Beamter von lokalen Chiefs umzusetzen sei¹²¹⁷. Auch im deutschen Einflussbereich war man von diesem Konzept überzeugt. Wissmann sah die Kooperation mit lokalen Eliten gar als einzige praktikable Option an¹²¹⁸. Vorstellungen vom Dorf als unterster Ebene der Kolonialherrscha boten einen Hintergrund für diese Arten der Kollaboration¹²¹⁹. Die Protagonisten lokaler Eliten wurden entsprechend als Opportunisten beschrieben, die auf eine durch die Kooperation geförderte Karriere zurückblicken konnten:

1213 Vgl. Njiro: A History of Africa in the 19th Century, S. 59. Siehe auch: Okeny: State formation in Acholi: e Emergence of Obbo, Pajok and Panyikwara states, c.1679-1914, S. 151 sowie Isichei: A history of African societies to 1870, S. 431. 1214 Pesek: Koloniale Herrscha in Deutsch-Ostafrika, S. 140. 1215 Sheldon: Sultan to sultan. 1216 »[...] to train primitive tribes in any form of self-government (is) futile [...]«, Frederick John Dealtry Lugard: e Dual Mandate in British tropical Africa, London 1965[1922], S. 196, meine Übersetzung. 1217 Vgl. ebd., S. 199. 1218 Siehe Mann: Mikono ya damu, S. 16. 1219 Siehe Oppen: Dorf, Siedlung, Gemeinscha, S. 234ff.

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»e Paramount Chief is Kinyanjui, who from being an obscure youth in early days has risen by his own efforts at the beginning of his career in 1891 and aerwards through the support of the Government during the last 10 years to his present position as acknowledged head of the Southern Gikuyu«¹²²⁰. Im multipolaren Netzwerk des ostafrikanischen sozio-politischen Umfelds konnte die Unterstützung durch Kolonialmächte zum entscheidenden Faktor in der Konkurrenz um persönliche Einflussgebiete werden: so konnte sich Rindi im Gebiet südlich des Kilimanjaro gegen Sina durchsetzen und seine regionale Vormachtstellung mit der Hilfe deutscher Kolonialbeamten behaupten¹²²¹. Präexistente Ämter wie das des Ntemi eigneten sich, weil sie sich auf eine Figur konzentrierten, die als Gelenk zwischen indigener Bevölkerung und Kolonialstaat fungieren konnten. Dabei stützte man sich überwiegend auf Männer, die als Chiefs wahrgenommen wurden. In den über 80 erhaltenen Verträgen der britischen Kolonialbehörden wurden lediglich drei explizit mit den Ältesten einer einzelnen Gemeinscha geschlossen¹²²². Durch den kolonialen Überbau konnten sich Strukturen um einen Ntemi verfestigen und den Inhabern dieser Ämter mehr Macht verleihen, als ihnen innerhalb bisher etablierter Ordnungen zuteil geworden wäre. Michael Pesek spricht in diesem Zusammenhang von »Inseln von Herrscha«¹²²³. Schon vorher gingen die Mitglieder überregionaler Handelseliten Bündnisse mit lokalen Autoritäten ein, was sich in Form symbolischer Bündnisse oder schrilich fixierter Verträge von Swahili-Händlern mit lokalen Wanyampara niedergeschlagen hatte¹²²⁴. Auch bei der Wahl von Positionen wie der des Ntemi nahmen Handelseliten Einfluss, indem sie die Wahl zugunsten von Kooperationswilligen beeinflussten¹²²⁵ oder neue Ämter schufen um ein Netzwerk aufzubauen, das die Kooperation zwischen transregionalen und lokalen Eliten dauerha stützte. Im Gebiet der Usambaraberge hatte Kimweri ein solches administratives Netzwerk ausgebaut, dessen Schaltstellen er mit eigenen Gesandten besetzte um die Kontakte zum Sultan von Sansibar zu pflegen¹²²⁶. Später konnten koloniale Kräe an solche Strukturen anknüpfen, die sich durch das Handeln neuer Gewalteliten etabliert hatten. Handelszentren wurden zu Garnisonsstädten und Tate: e native law of the southern Gikuyu of British East Africa, S. 235. Siehe Mann: Mikono ya damu, S. 113f. Siehe o.A.: Treaties 1887-1894, BNA, Signatur: FO 2 / 140. Pesek: Koloniale Herrscha in Deutsch-Ostafrika, S. 190ff. Siehe Xavier Luffin: On the Swahili Documents in Arabic Script from the Congo (19th Century), in: Swahili Forum 14 (2007), S. 17–26, hier S. 19f. 1225 Vgl. Pallaver: Nyamwezi Participation in Nineteenth-Century East African long-distance Trade: Some Evicence from Missionary Source, S. 517f. 1226 Siehe Ludger Wimmelbücker: Der Bericht des Mzee Bin Ramadhani über den Maji-Maji-Krieg im Bezirk Songea: Swahili-Text und zeitgenössische Deutsche Übersetzung mit einem einführenden Kommentar, in: Swahili Forum 12 (2005), S. 173–195, 196–203, hier S. 201. 1220 1221 1222 1223 1224

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administrativen Zentren¹²²⁷. Im Fall der um die Vatwale geschaffenen Strukturen Tansanias setzte die deutsche Kolonialmacht direkt auf den von Nyungu-YaMawe auf. Mit der kolonialen Landnahme durch Tom von Prince wurden die Tembe der einzelnen militärischen Anführer zerstört, falls sie sich widersetzten. Die Schwester des mittlerweile verstorbenen Nyungu-Ya-Mawe unterwarf sich 1895 dem deutschen Expeditionskorps und zog die Vatwale zurück. In der Folge wurde sie von der deutschen Kolonialverwaltung als »Sultanin« anerkannt und blieb bis zu ihrem Tod 1924 in Ukimbu etabliert¹²²⁸. Die Verflechtung zwischen Kolonialtruppen und Gewalteliten beinhaltete auch die Integration von Kriegergruppen, einer Praxis, derer sich die deutsche Kolonialadministration in den 1890er Jahren zunehmend bediente¹²²⁹. Auf die Verflechtung etablierter Kriegerkulturen mit den Kolonialstrukturen wurde bereits hingewiesen. So wurden traditionelle Ehrkonzepte von Kriegern auch im Rahmen des Dienstes in deutschen Hilfstruppen wirksam und ermöglichte es Afrikanern, außerhalb etablierter Ordnungen Ehre zu erlangen¹²³⁰. Bis Mitte der 1890er Jahre bestand fast die Häle der deutschen Hilfstruppen aus Mitgliedern einer neuen Handels- und Gewaltelite, die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts ausgeprägt hatte¹²³¹. Dabei vermischten sich die unterschiedlichen Kulturen der Gewaltnutzung, was sich auch in einer Bedeutungsverschiebung des Begriffs Ruga-Ruga niederschlug: Während, wie gezeigt, in der Zeit seit Mitte des 19. Jahrhunderts u.a. mobile Kriegergruppen unter diesem Namen bekannt waren, wird der Begriff im deutschen Koloniallexikon von 1920 mit der Bedeutung »regulärer Askari« geführt¹²³². Die zusätzliche militärische Ausbildung ostafrikanischer Hilfstruppen veränderte dabei die Gewaltpraxis, konnte aber auch auf bereits etablierte Gewaltkompetenz auauen. So wusste man von verbündeten Ngoni-Gruppen in Tabora zu berichten: »Die Wangoni-Rekruten benehmen sich äußerst gut und es ist eine Freude, diese Kerle abzurichten, es steckt da viel mehr Leben dahinter als in den schlafmützigen Waniamwezis«¹²³³. Im Gebrauch von Schusswaffen wurden Praktiken eingeführt, die sich an europäischen Formen militärischer Gewaltnutzung orientierte. Die bisher bekannten Formen schneller Raids wurden als unorgani1227 Vgl. Becher: Dar es Salaam, Tanga und Tabora: Stadtentwicklung in Tansania unter deutscher Kolonialherrscha, 1885-1914, S. 30. 1228 Siehe Shorter: Nyungu-Ya-Mawe, S. 27f. 1229 Siehe Gissibl: Die Treue“ der askari. Mythos, Ehre und Gewalt im Kontext des deutschen ” Kolonialismus in Ostafrika, S. 240. 1230 Vgl. Iliffe: Honour in African History, S. 227ff. 1231 Vgl. Gissibl: Die Treue“ der askari. Mythos, Ehre und Gewalt im Kontext des deutschen Ko” lonialismus in Ostafrika, S. 240. 1232 Karl Weule: Rugaruga, in: Deutsches Kolonial-Lexikon III (1920), 706f. Siehe auch: Pesek: Ruga-ruga: e History of an African Profession, 1820–1918, S. 85. 1233 DZA Potsdam, RKA Bd 274, Bl. 132-135. - Sigl an Soden unter dem 31. August 1891 aus Tabora (Bericht Nr. 6). Zitiert nach: Gottberg: Unyamwesi, S. 319. Siehe auch: Pesek: Ruga-ruga: e History of an African Profession, 1820–1918, S. 90.

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sierte, stümperhae Frontalangriffe angesehen¹²³⁴. Daraus ergab sich für europäische Beobachter eine Notwendigkeit nach mehr Organisation. So berichtete der Elfenbeinhändler John Boyes von seinem Vorhaben, die ihm zur Verfügung stehenden Kriegergruppen besser auszubilden. Dazu kaue er im KikuyuGebiet erhältliche Schusswaffen und bereitete sie für den Einsatz vor. Von hundert erworbenen Gewehren befand er nur dreißig als funktionstüchtig, besorgte Munition und fing an, Schießübungen wie das Schießen in Formation durchzuführen¹²³⁵. Kolonialtruppen verfuhren ähnlich bei der Ausbildung afrikanischer Rekruten. Bei deutschen Hilfstruppen führte das dazu, dass die Soldaten mit M 71 Hinterladergewehren ausgerüstet wurden, die im Vergleich zu den in Ostafrika verbreiteteren Vorderladern treffsicherer waren¹²³⁶. Im Rahmen sog. »Punitive Expeditions« trafen die unterschiedlichen Gewaltpraktiken mobiler Kriegergruppen und kolonialer Verbände aufeinander¹²³⁷. So beschrieb der britische Offizier John Ponsonby die unterschiedlichen Gefechtsaufstellungen im August 1898, einige Tage nach dem Aufeinandertreffen seiner Expedition mit einer Kriegergruppe in einem Waldgebiet nahe Masindi¹²³⁸. Seine in Formation aufgestellte und in kommandierten Salven schießende Einheit sei mit einzeln hinter Bäumen und in Gebüschen postierten Gegnern konfrontiert gewesen. Während solcher Gefechte folgte die Gewalt der Kolonialtruppen einer anderen Handlungslogik als jene mobiler Kriegergruppen. Während die schnellen Raids ostafrikanischer Kriegergruppen auf einen Schockeffekt ausgelegt waren und auf das Ergreifen von Vieh, Menschen, Handelswaren oder Luxusgütern zielten und dazu die frontale Attacke ohne Formation ausreichen konnte, um den Gegner zu vertreiben, stand bei einer westlich-militärisch organisierten Gewaltnutzung wie dem Schießen in Formation die Effizienz des Verletzens und Tötens der Gegner mehr im Vordergrund. John Ponsonby weist im Kommentar zu seiner Zeichnung auf dieses Effizienz hin und betont, dass seine Truppen 47 Gegner getötet hatten, während man selbst nur zwei Tote zu beklagen und zwei Verwundete zu versorgen habe. Eine solche Gewalt war nicht durch ökonomische Motive charakterisiert, sondern war »brachiale soziale Gestaltung« (Jan Philipp Reemtsma¹²³⁹): Es ging um die »[...] Ersetzung einer alten Machtdynamik durch eine neue«¹²⁴⁰. Extreme und effiziente Gewalt konnte eine neue Ordnung etablieren: »Das Massaker stiet Ordnung, weil die

1234 Vgl. Fadiman: Mountain warriors : the pre-colonial Meru of Mt. Kenya, S. 1. 1235 Siehe Boyes: King of the Wa-Kikuyu, S. 107f. 1236 Siehe Michels: Schwarze deutsche Kolonialsoldaten, S. 181. Siehe auch: Pesek: Ruga-ruga: e History of an African Profession, 1820–1918, S. 95. 1237 Siehe z.B. o.A.: Punitive Expeditions in British East Africa, Zanzibar and Benin City. 1895-1897, BNA, Signatur: ADM 123 / 128 Punitive Expeditions 1895-1897. 1238 Ponsonby: Diary 1888-1889. Für weitere Beispiele siehe Mann: Mikono ya damu, S. 92. 1239 Reemtsma: Brachiale soziale Gestaltung. 1240 ebd., S. 90.

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überwältigende Gewalt schlicht durch sich selbst überzeugt«¹²⁴¹. Koloniale Gewalt war in ihrer exzessiven Form ein Mittel, bestehende Strukturen zu verändern, bzw. sie gänzlich zu ignorieren und neue Verhältnisse an ihre Stelle zu setzen. Dazu musste jedoch nicht immer getötet werden, wie der deutsche Kolonialoffizier Friedrich Fülleborn berichtete: »Da die Wangoni friedlich gestimmt waren (zumal nachdem wir ihnen in aller Freundscha die Wirkung der Hinterlader und unseres Maximgeschützes demonstriert hatten [...]), gelang es, sie ohne Kampf zur Herausgabe einer grossen Anzahl geraubter Sklaven und zur Auslieferung desjenigen Mannes zu bewegen, welcher den letzten Karawanen-Ueberfall verschuldet hatte; freilich mussten die Wangoni-Sultane erst eine Zeit lang gefangen gesetzt werden, um sie gefügiger zu machen«¹²⁴². Dieser Bericht zeigt, dass auch Vertreter der Kolonialmächte Techniken gezielter Einschüchterung nutzten, um eine Drohkulisse aufzubauen. Die Gefangennahme der sog. »Wangoni-Sultane« zeigt, welche Autoritätsstrukturen durch das Wirken der Kolonialmacht untergraben wurden. Die nach dem Prinzip der Seniorität hierarchisierten Strukturen der Ngoni-Gruppen wurden nach dem Vorbild einer stärker auf Einzelpersonen ausgelegten Herrscha umgeformt. Gleichzeitig zeigte sich die Machtlosigkeit bestehender Eliten gegenüber der Kolonialmacht. Deren exzessive Gewaltnutzung verfehlte ihre Wirkung nicht. So berichtete August Schynse bereits im Jahr 1892: »Die Verhältnisse haben sich seit vorigem Jahr sehr geändert. Wir marschirten unter deutscher Flagge, und wo wir vor einem Jahre nur mühsam unter schweren Opfern unsern Durchmarsch erkaufen konnten, waren die Häuptlinge dieses Mal sehr zuvorkommend, verlangten durchaus nichts, sie baten nur, man solle sie nicht ganz mit einem Mal auffressen, sie wollten in allem den Bedingungen der Wadeutschi folgen. Emin Pascha schickte die Abtheilung gegen die Wangoni, welche das ganze Unyamuezi verwüsteten. Bei Masali fanden wir nur Ruinen; fast überall auf dem Wege beim Herannahen an ein Dorf rückte uns die Bevölkerung bewaffnet entgegen, da man uns für Wangoni hielt, welche überall ihr Unwesen treiben. [...] Wir sahen Spuren der Wangoni auf dem ganzen Wege. Vor und hinter uns raubten und mordeten sie, wir selbst aber bekamen nichts von ih1241 Knöbl: Imperiale Herrscha und Gewalt, S. 36, vgl. auch: Trotha: Genozidaler Pazifizierungskrieg. Soziologische Anmerkungen zum Konzept des des Genozids am Beispiel des Kolonialkriegs in Deutsch-Südwestafrika, 1904-1907, S. 45. 1242 Fülleborn: Das deutsche Njassa- und Ruwuma-Gebiet, Land und Leute, nebst Bemerkungen über die Schire-Länder, S. 15.

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nen zu sehen, hatten auch nichts von ihnen zu fürchten. Sie machten das Land durch kleine Räuberbanden, 10 bis 20 Mann, unsicher, welche sich aber nicht an eine Karawane wagen. Inzwischen haben sie in ihren eigenen Dörfern eine blutige Lektion bekommen (Fußnote 2: Durch die Expedition des Lieutnants Langheld)«¹²⁴³. In den Aufzeichnungen des Missionars, die er als Briefe an seinen Freund Karl Hespers schickte, erscheinen die deutschen Kolonialtruppen als weitere Akteure in einem bereits von exzessiver Gewalt geprägten Klima. Militärische Organisation, rassistisches Superioritäts- und missionarisches Sendungsbewusstsein sowie moderne Waffentechnik ließen das Gefolge kolonialer Akteure allerdings dennoch als besonders schlagkräig und rücksichtslos erscheinen. Der Übergang in die Kolonialzeit seit den 1890er Jahren war daher für die ostafrikanische Bevölkerung von punktueller, bisher in ihrer Exzessivität nicht bekannter Gewalt geprägt¹²⁴⁴. Darauf weist die Aussage eines Ältesten hin, der sich in der Kolonialzeit an die unterschiedlichen Ruga-Ruga-Gruppen erinnerte. Besonders die als »Hilfskrieger« bezeichneten Ruga-Ruga galten als noch gewalttätiger als ihre gleich benannten Vorgänger, die nicht in den Diensten der Kolonialmacht gestanden hatten¹²⁴⁵. Die sog. »Hilfskrieger« nutzten Waffengewalt und Machtstruktur der Kolonialarmeen lokal für eigene Zwecke und plünderten in Gewaltexzessen¹²⁴⁶, die einer Logik der Machtdemonstration ebenso folgten wie der Zweckrationalität, die sich primär auf materiellen Gewinn richtete. Auch in der Kriegerehre gab es Überschneidungen. Wie bereits gezeigt, konnten Kolonialsoldaten auf etablierte Konzepte von Kriegerehre zurückgreifen und sie für sich nutzen. Allerdings veränderte die Logik westlich-militärischer Effizienz auch die Gewaltpraktiken, welche auf einen Gewinn an Ehre ausgerichtet waren: So honorierten westliche Kolonialoffiziere gute Schießergebnisse mit Beförderungen, was der Gewaltpraxis eine zusätzliche Dynamik verlieh und Ehrkonzepte von den gezeigten traditionellen Formen der Repräsentation löste. Einerseits kann also von einer Verschmelzung der Gewaltpraktiken bzw. deren Umformung nach westlichen Maßstäben gesprochen werden. Andererseits akzeptierten Kolonialtruppen weder traditionelle Mechanismen zur Einhegung von Gewalt, noch nahm man Foren zur Inszenierung möglicher Konflikte (z.B. im Rahmen eines Ngoma) überhaupt zur Kenntnis. Das Agieren kolonialer Truppen 1243 Schynse: Pater Schynse’s letzte Reisen, S. 10. Siehe auch: Langheld: Zwanzig Jahre in deutschen Kolonien, S. 49. 1244 Siehe auch: Mann: Mikono ya damu, S. 54, Wimmelbücker: Der Bericht des Mzee Bin Ramadhani über den Maji-Maji-Krieg im Bezirk Songea: Swahili-Text und zeitgenössische Deutsche Übersetzung mit einem einführenden Kommentar, S. 188 sowie Brock: e Nyiha (of Mbozi), S. 78f. 1245 Siehe Gissibl: Die Treue“ der askari. Mythos, Ehre und Gewalt im Kontext des deutschen ” Kolonialismus in Ostafrika, S. 247. 1246 Siehe auch: Pesek: Ruga-ruga: e History of an African Profession, 1820–1918, S. 91.

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diente dem Ziel, »[...] Ordnung zu schaffen«¹²⁴⁷, eine Ordnung, die sich an westlichen Konzepten einer Zentralgewalt orientierte. Für die bestehenden mobilen Kriegergruppen und ihre Anführer bedeutete das entweder Kooperation oder gewalthae Auseinandersetzung. So berichtete der Missionar August Schynse von den Maßnahmen gegen Ngoni-Gruppen im Westen Tanzanias: »Entweder entsagen sie ihrem Räuberleben, oder sie werden ausgetrieben; sonst wird das Land nie zur Ruhe kommen; und in diesem Bestreben steht auf Seite der Deutschen der größte eil von Unyamwezi, welches diese Banden nur duldet, um gegebenen Falles sich ihrer zu bedienen, oder nicht von ihnen ausgeplündert zu werden. Ist eine andere Autorität im Lande, welche die Kriege zwischen den einzelnen Stämmen verhindert, so hat keiner mehr ein Interesse an der Gegenwart der Wangoni; im Gegentheil, Jeder muß wünschen, daß sie so weit wie möglich ihm und seinen Ochsen vom Halse bleiben. Das sehen die Leute auch ein, und darum bieten sie ihre Unterwerfung an, die Wangoni an der Spitze; denn wenn sie nicht mehr von den Wanyamwesi geduldet werden dürfen, sind sie verloren«¹²⁴⁸. Die Kollaboration mit der auommenden Kolonialmacht verlieh der bestehenden Gewaltpraxis zusätzliche Dynamiken. Wie der Historiker Bernhard Gißibl bereits feststellte, wurden deutsche Hilfstruppen zu »Experten der Gewalt«¹²⁴⁹, die der ostafrikanischen Bevölkerung durch ihre Brutalität in Erinnerung blieb. Ihr Agieren im Rahmen von Strafexpeditionen, Steuereintreibungen und bei der Niederschlagung von Aufständen trieb einen Entfremdungsprozess von der ostafrikanischen Bevölkerung voran¹²⁵⁰ und orientierte sich an der Praxis europäischer Kolonialoffiziere, deren Nähe zum Gewaltexzess in der Forschung bereits hinreichend betont wurde¹²⁵¹ und die sich mit dem von Justus Strandes überlieferten Ratschlag charakterisieren lässt, den Carl Peters im Jahr 1888 an einige Reisende gab, die sich auf den Weg nach Berlin begeben wollten: Peters riet, im Zweifel »[...] rechts und links alles niederzuschießen [...]«¹²⁵². Somit festigten sich die Strukturen neuer Gewalteliten, die mit der Kolonialmacht kollaborierten und sich vom Rest der Bevölkerung abgrenzten. Die Mitglieder dieser Eliten konnten die 1247 Schynse: Pater Schynse’s letzte Reisen, S. 9. 1248 ebd., S. 14. 1249 Gissibl: Die Treue“ der askari. Mythos, Ehre und Gewalt im Kontext des deutschen Kolonia” lismus in Ostafrika, S. 246. 1250 Vgl. ebd., S. 246ff. 1251 Vgl. Knöbl: Imperiale Herrscha und Gewalt, S. 35 sowie Jonas Kreienbaum: Koloniale Gewaltexzesse - Kolonialkriege um 1900, in: Koloniale Politik und Praktiken Deutschlands und Frankreichs 1880-1962, Stuttgart 2010. 1252 Justus Brandes: Erinnerungen an Ostafrika 1865-1889, Hamburg 2004, S. 171. Siehe hierzu auch: Pesek: Ruga-ruga: e History of an African Profession, 1820–1918, S. 93.

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neuen Möglichkeiten für sich nutzen¹²⁵³ und führten in Eigenregie brutale Raids durch, die sie als legitime »Steuereintreibungen« bezeichneten¹²⁵⁴. Sie nutzten eine »Politik der Extraversion« (omas Zitelmann¹²⁵⁵) um die kolonialen Kräe als externe Machtressourcen zu gewinnen. Dabei konnten sich Besitz- und Autoritätsverhältnisse grundlegend verändern: Der Vierteljahresbericht der Missionsstation Nkoaranga am Meruberg aus dem ersten Quartal 1904 berichtet von einem ortsansässigen alten Mann, der seinen großen Besitz an Land und Vieh durch die sogenannten »Strafexpeditionen« seit 1896 vollständig verloren hatte¹²⁵⁶. Vor dem Hintergrund der »oberflächlichen Einflusssphäre«¹²⁵⁷ stellt sich die Frage, wie sehr tradierte Autoritätsverhältnisse zwischen den Generationen beeinträchtigt wurden, zumal nicht nur junge Krieger und charismatische Anführer versuchten, das Wirken der Kolonialmächte für sich zu nutzen; Auch Elders versuchten dies mit dem Ziel, den tradierten Vorrang des Älteren zu stärken¹²⁵⁸. Wie weit das Veränderungspotenzial der Gewaltdynamiken des 19. Jahrhunderts reichte, kann also mit dem Blick auf mögliche Veränderungen innerhalb der etablierten sozialen Institutionen analysiert werden. Dabei muss besonders nach Veränderungen in den Gewalt einhegenden und kontrollierenden Altersorganisationen gesucht werden. 5.3.2 Desintegration bestehender Altersordnungen?

Aus den bisher betrachteten Transformationsprozessen, Gewaltphänomenen und anderen gesellschalichen und kulturellen Veränderungen ergeben sich einige Ambiguitäten, wenn es um die Frage nach dem Fortbestand etablierter Altersordnungen geht. Einerseits waren jene Institutionen flexibel und wandelbar, andererseits erscheinen Faktoren, welche sie potenziell unter Druck geraten ließen. Sollen diese Faktoren und ihre Auswirkung auf Altersordnungen näher analysiert werden, so bieten die einzelnen Wirklichkeitsbereiche eine Orientierung, in denen sich Veränderungen und neue Phänomene ausmachen lassen: Kultur, Mission, Handel sowie die Kooperation mit Kolonialmächten bieten einen Hintergrund für die Analyse von Generationenkonflikten, Veränderungen in der Ritenpraxis oder der tradierten mystischen Autorität der Elders. In manchen Gebieten Afrikas scheint eine klare Abgrenzung zwischen traditionellen Strukturen und neuen Eliten erkennbar. So etablierte sich im Gebiet des 1253 1254 1255 1256

Vgl. ebd., S. 103. Siehe Mann: Mikono ya damu, S. 152. Siehe Zitelmann: Formen und Institutionen politischer Herrscha, S. 211. Siehe Arno Krause: Tagebuch der Missionsstation Nkoaranga (Tanzania). 1902-1905, hrsg. v. Klaus-Peter Kiesel, Leipzig 2004, S. 97. Das das in dieser Gegend kein Einzelfall war, belegen weitere Briefe und Berichte (siehe ebd., S. 24). 1257 Mann: Mikono ya damu, S. 197. 1258 Vgl. ebd., S. 170.

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oberen Zambesi eine Institution namens Nama Kungu, die als Häuptlingstum angesehen wurde. Eine einzelne Person hatte diesen Titel inne und übte vor dem Hintergrund einer »[...] Kombination von Krieg, expansiver Heiratspolitik, rituellen und technischen Innovationen«¹²⁵⁹ Macht aus. Die Inhaber vererbten ihren Titel, was zur Bildung von Herrscherdynastien führte, die für eine »ungebundene Position politischer Dominanz«¹²⁶⁰ standen. Durch die Kombination genannter Machtfaktoren standen sie außerhalb traditioneller Verflechtungen oder konnten diese entsprechend umformen. Im Gebiet des oberen Zambezi wurde der Initiationsritus (Mukanda) seit der Zeit von Chinyama cha Ngambo (1716-1746) mit dem Amt des Nama Kungu assoziiert, eine präexistente Form der Riten wurde modifiziert und der Vorsitz über die Durchführung wurde dem Nama Kungu unterstellt¹²⁶¹. Durch diese Bindung der Initiationsriten an die neue herrschaliche Instanz erfolgte ein direkter Zugriff auf die Sozialisation junger Männer, was zur Bildung neuer Eliten führte. Traditionelles Wissen und die Handhabung neuer Technologien wurden durch den Nama Kungu vermittelt¹²⁶². Analog zu diesen Erkenntnissen ist zu fragen, ob sich in Ostafrika ähnliche Phänomene belegen lassen. Aus den Quellen ist nur schwer ersichtlich, wie stark der verbleibende Einfluss der traditionellen Autoritäten einzuschätzen ist. Trotzdem lassen sich o Widersprüche erkennen, die zumindest auf eine starke Konkurrenz zwischen neuen und traditionellen Kräen schließen lassen. Es tritt eine Handels- und Gewaltelite hervor, die sich an Habitus und materieller Kultur der Swahili-Küstenkultur annäherte. Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen Einzel- und Gruppenbezeichnungen, mehrere Personen treten unter demselben Namen auf und vorgebliche Alleinherrscher koordinieren ihre Entscheidungen mit traditionellen Ältestenräten. In manchen Fällen ist zu vermuten, dass es sich auch um imaginierte Königtümer einzelner Personen gehandelt habe, die vor Mission und Kolonialmacht zwar als Alleinherrscher auraten, nach Innen jedoch nach wie vor traditionellen Autoritätsstrukturen untergeordnet waren¹²⁶³. Freilich genügte den externen Beobachtern o ein oberflächlicher Blick, der inszenierte Formen der Herrscha nicht hinterfragte. Gelegentlich war die Bruchlinie zwischen einzelnen Chiefs und traditionellen Autoritäten auch für Außenstehende deutlich erkennbar. Das illustriert eine Begegnung zwischen dem Kolonialoffizier C.W. Werther und dem Sohn eines charismatischen Anführers:

1259 »[...] combination of warfare, intermarriage, ritual and technological innovations [...], Papstein: e Upper Zambesi: A History of the Luvale People, 1000-1900, S. xvi, meine Übersetzung. 1260 »[...] loose position of political dominance[...]«, ebd., S. xvi, meine Übersetzung. 1261 Vgl. ebd., S. 174ff. 1262 Vgl. ebd., S. 179f. 1263 Ich danke Dr. Mary Mwiandi für diesen Hinweis.

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»Nach einiger Zeit erschien ein junger Mann mit einem größeren Gefolge und stellte sich mir als der Sohn des Sultans vor; er sagte, er käme, um im Namen seines Vaters, der nicht so weit gehen könne, Freundscha mit mir zu schließen. Er trat ziemlich sicher und imponierend auf, ließ die schreienden Wataturu durch seine Begleiter mit Stöcken zur Ruhe prügeln und bat mich dann feierlichst mit flüsternder Stimme um eine geheime Staatskonferenz, bei der nur sein und mein Dolmetscher zugegen sein sollten«¹²⁶⁴. Im Laufe des anschließenden Treffens wurde ein Schutzbrief für den jungen Mann und seinen Vater gefordert und man beging eine rituelle Freundschaszeremonie. Auch andere Bewohner der Siedlung bekundeten ihren Wunsch nach Schutzbriefen und gemeinsamen Freundschaszeremonien, was Werther jedoch ablehnte¹²⁶⁵. Diese Szene weist auf eine Offenheit der Verhältnisse hin, die erst durch die Präsenz der Kolonialmacht verändert wurde. Gewalt konnte denjenigen einen temporären Vorteil verschaffen, die in der Lage waren, Kriegergruppen an sich zu binden und sie beim Auau ihrer Machtposition zu nutzen. Durch die Kooperation mit der Kolonialmacht konnte ein solcher temporärer Vorteil sich dauerha in Form einer intermediären Machtposition stabilisieren, die sich für ihre Inhaber auszahlte. Diese konnten den kolonialen Überbau auf lokaler Ebene für sich nutzen und so traditionelle Autoritätsstrukturen wie Kiamas umgehen. Das hierarchisch geprägte Umfeld der Kolonialbeamten wurde so, etablierte Traditionen ignorierend, auf ostafrikanische Verhältnisse übertragen. Erst die Erfahrungen aus dauerhaem Kontakt mit der ansässigen Bevölkerung wie im Falle einiger Missionare oder die aus den Ergebnissen von Colonial Knowledge und völkerkundlicher Forschung erlaubten tiefere Einblicke in die Verhältnisse. Gelegentlich führte der Editionsprozess gar zur Entstehung von Königtümern, indem die Überlieferungen aus Missionstagebüchern so umgeformt wurden, dass sie den Erwartungen europäischer Leser gerecht wurden. In manchen Fällen blieben die Umformungen auf die militärische Ebene beschränkt. Im Gebiet um das Nordufer des Nyassa-Sees hatte sich Ende des 19. Jahrhunderts das Einflussgebiet eines charismatischen Anführers etabliert, der von einer befestigten Siedlung aus operierte. Durch die Kooperation einer Missionsstation in der Nähe mit lokalen Gemeinschaen konnte ein militärischer Gegenpol zu den Raids der Kriegergruppen geschaffen werden, der sich auf den Anführer Muandjabara und einen aus 5000 Kriegern bestehenden Verband stützte. Die Interventionen britischer Truppen führten im Jahr 1895 schließlich dazu, dass der Anführer gehängt und seine Siedlung aufgelöst wurde. Durch die Präsenz des deutschen Regierungsdampfers »Hermann v. Wißmann« blieben koloniale Strukturen etabliert, auf lokaler Ebene entstand jedoch keine Alleinherrscha militäri1264 Werther: Zum Victoria Nyanza. Eine Antisklaverei-Expedition und Forschungsreise, S. 262. 1265 Siehe ebd., S. 262f.

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scher Anführer wie Muandjabara. Bei wichtigen Entscheidungen standen Elders, Ritenexperten und militärische Anführer weiterhin ebenso im Vordergrund wie sog. »Räte«, denen sich Erstere beugen mussten¹²⁶⁶. Die weitreichende Mobilisierung erfasste Siedlungen, einzelne Menschen und Altersgruppen. Besonders junge Menschen, die weite Strecken zurücklegen konnten und für körperliche Arbeit gut geeignet waren, verließen ihre Herkunsgemeinschaen. Wie wirkte sich das auf die ansässige Bevölkerung aus? Welche Folgen hatte es mit Bezug auf das Wirtschaen, die lokal anfallenden Arbeiten und das Verhältnis zwischen den Generationen? Monatelange Abwesenheit junger Männer stellte ihre Herkunsgemeinschaen vor die Herausforderung, etablierte Formen der Arbeitsteilung zwischen Alt und Jung zu verändern. Erfolgreicher Handel schuf indes eine Quelle für Reichtum, der abseits tradierter Verteilungsmechanismen generiert wurde und für bestehende Institutionen wie den lokalen Ältestenrat schwer zu kontrollieren war¹²⁶⁷. Hinzu kamen die Erfahrungen, welche junge Männer auf ihren Reisen sammelten und neues Wissen aus den Kontakten zur Kultur der Swahili-Küste. All diese Faktoren bedeuteten eine potenzielle Gefährdung für die Integrität bestehender Altersordnungen. Die Auswirkungen auf das soziale Gefüge ostafrikanischer Gemeinschaen waren allerdings regional unterschiedlich ausgeprägt. Der höchste Grad sozialer Verwerfungen betraf das direkte Hinterland der ostafrikanischen Küste. Dort überlagerten sich die Bewegungen des Karawanenhandels in Richtung des Landesinneren mit Migrationen aus Norden und Süden sowie die Ausläufer des innerafrikanischen Handels. In dieser Übergangszone war die ansässige Bevölkerung mit durchziehenden Karawanen ebenso häufig konfrontiert wie mit mobilen Kriegergruppen und geflohenen Sklaven aus den Küstengebieten. Karawanenreisende und Träger siedelten sich vorübergehend oder dauerha an, gemeinsam Geflohene gründeten neue Siedlungen. Der Historiker omas Spear untersuchte die Veränderungen des als Mijikenda bezeichneten Gebietes in der Zeit des 19. Jahrhunderts. Mit diesem Begriff bezeichnete er ein Archipel von neun Siedlungen im direkten Hinterland der ostafrikanischen Küste, die kulturell, sprachlich und wirtschalich miteinander verwoben waren¹²⁶⁸. Spear beschrieb die Auflösung des sozialen Gefüges aufgrund von Migration und unregelmäßiger Siedlungsstrukturen. Besonders wirkte sich das auf Formen traditionaler Herrscha aus, wie sie durch Altersklassensysteme etabliert waren. Hergebrachte Autorität schien immer mehr gefährdet. Der soziopolitische Hintergrund des Altersklassensystems verlor an Regelhaigkeit. Altersklassensysteme erforderten Kooperation und regelmäßige Teilnahme am sozialen Miteinander, was durch die Veränderungsprozesse stark beeinträch1266 Vgl. Richter: Die Konde, ein Missionsvolk, S. 30ff. 1267 Siehe auch: Mann: Mikono ya damu, S. 156 sowie Pesek: Ruga-ruga: e History of an African Profession, 1820–1918, S. 86. 1268 Spear: e Kaya Complex, S. 3ff.

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tigt wurde. Ratsinstanzen lösten sich auf, lokale Ritenfeste verloren an Stetigkeit und Einfluss, die Autoritätsbeziehungen zwischen Jung und Alt weichten auf¹²⁶⁹. Es entstand eine Bruchlinie zwischen traditionellen und neuen Autoritäten¹²⁷⁰. Die verfügbaren Quellen weisen auf regionale Unterschiede in der Ausprägung dieser Autoritätsverschiebungen hin und lassen heterogene Räume erkennen, in denen Macht und Einfluss unterschiedlich stark neu verhandelt wurden. Die veränderte Umgebung dynamisierter Räume gefährdete auch in anderen Regionen Ostafrikas das traditionelle Gefüge der Generationenbeziehungen. Die Ausweitung des Handels ermöglichte besonders jungen Generationen neue Handlungsspielräume. Wer körperlich dazu in der Lage war, an beschwerlichen Reisen in Karawanen teilzunehmen, konnte nunmehr nicht nur materiell davon profitieren. Im Raum Zentraltansanias reagierten einige Gemeinschaen auf der Ebene der Altershierarchien auf die neue Herausforderung des überregionalen Handels. Die lokale Sphäre verband sich auch auf ritueller Ebene mit der Sphäre überregionalen Handels. So konnten traditionale Autoritäten auf die neuen Möglichkeiten reagieren, die sich aus dem transregionalen Handel ergaben, und formten Altersklassensysteme um. Die Logik traditioneller Initiationsriten zielte darauf ab, junge Männer auf ihre Tätigkeiten als vollwertige Mitglieder der Gemeinscha vorzubereiten. Dazu gehörte auch der Beweis, durch Raids oder Jagd für die Versorgung des eigenen Familienverbands zu sorgen. Als der Handel zu einer weiteren, ständig verfügbaren Versorgungsquelle wurde, veränderten sich auch die Initiationsriten entsprechend. Ehrkonzepte für junge Männer wandelten sich. So wurde die Reise zur Küste zum Bestandteil der Initiation junger Männer, die bei ihrer Rückkehr als vollwertige Gemeinschasmitglieder galten. Richard Francis Burton berichtete von dieser Anpassung des Altersklassensystems an die neuen Herausforderungen des Handels: »Porterage on the long and toilsome journey, is now considered by the Wanyamwezi a test of manliness [...]«¹²⁷¹ In Gesängen wurden diejenigen verspottet, welche sich nicht auf eine Karawanenreise begeben wollten¹²⁷². Im Nyamwezi-Gebiet seien bereits im Kindesalter Vorbereitungen auf die alleinige Karawanenreise vorgenommen worden, indem das Kind mit dem Vater oder Onkel reiste und dessen Verpflegung zu tragen hat1269 Vgl. ders.: e Mijikenda in the 19th century. Paper given at University of Nairobi, October 1971. Original Manuscript, S. 8. 1270 Vgl. ebd., S. 8. 1271 Richard Francis Burton: e lake regions of Central Africa, London 1860, S. 337. Auch im Hinterland der Swahili-Küste wurde diese Anpassung des Altersklassensystems belegt (Vgl. Spear: e Kaya Complex, S. 106f. Siehe auch: Gunderson: Expressive Bodies / Controlling Impulses: e Dance Between Official Culture and Musical Resistance in Colonial Western Tanganyika, S. 151. 1272 Vgl. Glassman: Feasts and riot, S. 59.

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te¹²⁷³. In manchen Fällen nahmen ganze Familien am Karawanenhandel teil¹²⁷⁴. So verlagerte sich die Wissensweitergabe zwischen den Generationen vom lokalen Kontext der Initiations- und Übergangsriten auf die Umgebung von Handelsnetzwerken. Das wirkte sich auch auf die lokale Ritenpraxis aus. Zu Beginn der 1880er Jahre wurde belegt, dass die persönliche Handelsreise eine Vorbedingung zur Heirat und somit zum Fortschreiten innerhalb der Altershierarchie geworden war. Erfolgreiche Reisen wurden zur Quelle für Ansehen und Ehre junger Männer¹²⁷⁵ und zur Vorbedingung für die Teilnahme an Ratsversammlungen der Elders¹²⁷⁶. Auf diese Weise wurden die Handelsaktivitäten an lokale Gemeinschaen rückgebunden und es wurde materieller Profit in die traditionellen Verteilungssysteme integriert. Meist nahmen die Mitglieder der Altersklasse junger Krieger als Gruppe an einer Karawanenreise teil. Dadurch gewannen die einzelnen Gruppen junger Männer Unabhängigkeit und innere Kohärenz¹²⁷⁷. Die grundlegende Logik der Altersklassensysteme blieb also erhalten, wurde aber durch die veränderte Umgebung des transregionalen Handels beeinflusst. So übten die Anführer jener Altersgruppen auf Handelsreisen eine größere Autorität aus und nahmen den Statusbereich höherer Altersgruppen ein. Dabei übernahmen sie Bezeichnungen und Strukturen ihrer Herkunsgemeinschaen. Sie trugen den Titel Waniampara, was mit »Großvater« bzw. Elder übersetzt wurde. Bei der Rückkehr von ihren Reisen wurden die Anführer der Gruppen o in traditionelle Ratsinstanzen (Kiamas) integriert¹²⁷⁸. Erfolgreiche Teilnahme am Handel konnte also dafür sorgen, schneller in höhere Segmente der Altershierarchien vorzudringen. Der Begriff Waniampara verschmolz die Komponente traditioneller Autorität mit der Erscheinung junger, starker Männer im Karawanenhandel¹²⁷⁹ und steht für eine Herauslösung aus traditionellen lokalen Strukturen. Junge Männer zogen freiwillig mit Karawanen, um als Entlohnung eine Schusswaffe zu erstehen, oder wurden als Kinder zwangsrekrutiert. Karawanen überfielen in der Dunkelheit kleine Siedlungen und entführten Frauen und Kinder. Wenn diese nicht durch Elfenbein freigekau wurden, blieben sie meist im Gefolge der Händler¹²⁸⁰. Gruppen junger Männer bildeten eine gute Basis für organisierte Gewalt, besonders in Zeiten,

1273 Vgl. Spellig: Die Wanjamwesi. Ein Beitrag zur Völkerkunde Ostafrikas, S. 209. 1274 Vgl. Glassman: Feasts and riot, S. 59. 1275 Vgl. Hahner-Herzog: Tippu Tip und der Elfenbeinhandel in Ost- und Zentralafrika im 19. Jahrhundert, S. 30. 1276 Vgl. Spellig: Die Wanjamwesi. Ein Beitrag zur Völkerkunde Ostafrikas, S. 209. 1277 Vgl. Hahner-Herzog: Tippu Tip und der Elfenbeinhandel in Ost- und Zentralafrika im 19. Jahrhundert, S. 30. 1278 Rockel: ’A Nation of Porters’: e Nyamwezi and the Labour Market in Nineteenth-Century Tanzania, S. 183. 1279 Siehe hierzu auch: ebd., S. 183. 1280 Vgl. Hahner-Herzog: Tippu Tip und der Elfenbeinhandel in Ost- und Zentralafrika im 19. Jahrhundert, S. 281.

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die von Unsicherheit und fehlenden Perspektiven geprägt waren¹²⁸¹. Diese Kinder und Jugendliche wurden in ihrer Sozialisation nicht mehr von lokalen Ritensystemen und deren organisierter Weitergabe von Wissen beeinflusst, sondern von den Praktiken des Handels, welche eine brutalisierte Form der Gewalt beinhaltete. Nach der Gewaltlogik von Sklaven- und Elfenbeinhändlern richteten sich Raids nicht in erster Linie auf Vieh, sondern auf Menschen bzw. Elfenbein, welches wiederum durch Menschenraub und Freikauf erworben werden konnte. Das hatte zur Folge, dass die Raids nachts durchgeführt wurden und eine gesteigerte Brutalität aufwiesen. Siedlungen wurden überfallen und zerstört, Frauen und Kinder gefangengenommen, Männer getötet¹²⁸². Die Gewalt eskalierte nicht selten zum Massaker. Durch diese Gewalterfahrungen geprägt, wurden traditionelle Formen der Einhegung von Gewalt nicht länger genutzt. Junge Männer kehrten mit Schusswaffen ausgerüstet und mit einem veränderten Gewaltverständnis in traditionelle Kontexte zurück. In vielen Fällen sorgte der Kontakt mit den Ausläufern der Handelsnetzwerke und dessen verknüpen Phänomenen daher auch für Generationendifferenzen und Konflikte¹²⁸³. Die veränderte Rolle der Waniampara setzte traditionelle und rituelle Autoritäten unter Legitimationsdruck. Das konnte zur Folge haben, dass junge Männer die traditionellen Vorrechte der Elders auf die Verteilung der Lebensmittel oder Regeln zum Konsum von Luxusgütern wie Alkohol, dessen Genuss nur Elders vorbehalten war, nicht mehr respektierten¹²⁸⁴. Die gewonnene wirtschaliche Unabhängigkeit veranlasste dazu, sich aus traditionellen Autoritätsverhältnissen zu lösen, eigene Gefolgscha aufzubauen und eigene Siedlungen zu gründen¹²⁸⁵. Die Erfahrung der Teilnahme am Handel ermöglichte Freiräume und konnte zu Generationenkonflikten führen, da die traditionellen Rollenmuster mit klaren Aufgabenverteilungen an Wirkungsmacht verloren. Junge Männer kamen ihren Verpflichtungen, die Verwaltung der erwirtschaeten Güter höheren Altersklassen zu überlassen, nicht mehr nach. Erfahrung im Handel wurde indes zum Stützpfeiler persönlicher Autorität¹²⁸⁶. Das beinhaltete auch, dass junge Männer auf ihren Reisen neue Gewaltpraktiken erlernten und nach ihrer Rückkehr erfolgreichere Krieger werden konnten¹²⁸⁷. Demnach konnten ältere Männer trotz einer nach traditionellen Maßstäben höheren Stellung die Erfahrung machen, dass die eigenen, erfolgreicheren Söhnen sie verließen und eigene Siedlungen gründeten¹²⁸⁸. Übergangsriten wurden dadurch 1281 Tobias Debiel: Kriege/Bürgerkriege, in: Jacob E. Mabe (Hrsg.): Das Afrika-Lexikon. Ein Kontinent in 1000 Stichwörtern, Stuttgart/Weimar 2001, S. 319–323, hier S. 323. 1282 Vgl. Hahner-Herzog: Tippu Tip und der Elfenbeinhandel in Ost- und Zentralafrika im 19. Jahrhundert, S. 218. 1283 Vgl. Ambler: Kenyan communities in the age of imperialism, S. 49. 1284 Vgl. Willis: Potent brews. A Social History of Alcohol in East Africa 1850-1999. S. 47. 1285 Siehe Spear: e Kaya Complex, S. 127. 1286 Siehe auch: Uzoigwe: Precolonial Markets in Bunyoro-Kitara, S. 424. 1287 Vgl. Mwaita: Mwangeka wa Malowa, S. 58. 1288 Vgl. Spear: e Kaya Complex, S. 125.

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nicht mehr zentral durchgeführt, so dass bspw. die letzte Initiation der Elders im 19. Jahrhundert im Mijikenda-Gebiet dezentral durchgeführt werden musste¹²⁸⁹. Mit der Entkopplung der Riten von der lokalen Gemeinscha ging eine Desintegration traditionaler Verhaltensregeln und Versorgungsmechanismen einher, die sich besonders auf die Situation der Älteren auswirkte. Die mündliche Überlieferung aus den Usambara-Bergen weist auf einen bekannten Elder hin, dessen Enkel ihrer traditionellen Versorgungsverpflichtungen nicht nachkamen. Zusätzlich beraubten ihn die Bewohner seiner Siedlung, da die jungen Krieger seines Clans ihn auch nicht beschützten. Er sei allein und in ärmlichen Verhältnissen verstorben und in die kollektive Erinnerung ging er unter dem Namen ye nyumbai yadja makussa, »die Ziege, die in der Hütte blieb und am Hungertuch nagte«, ein¹²⁹⁰. Auch Filipo Njau erinnerte sich Anfang des 20. Jahrhunderts an seinen älteren Bruder, der als Armer Mann starb, obwohl er ein Ratsmitglied gewesen war¹²⁹¹. Ritueller Status führte somit nicht mehr zu den traditionell damit verbundenen materiellen Vorteilen. Das steht für die mehr und mehr verbreitete Notwendigkeit, auch als älterer Mensch an Handel und Landwirtscha teilzunehmen, obwohl dies im Rahmen tradierter Ordnungen als Aufgabe jüngerer Altersgruppen galt, die Älteren zu versorgen. War man als älterer Mensch nicht mehr in der Lage, sich selbst zu versorgen, konnte die Lebenssituation prekär werden. Aufzeichnungen traditionellen Rechts schildern gar das Auommen von Selbstmorden von Elders, die sich nicht länger selbst versorgen konnten und von ihren Verwandten im Stich gelassen wurden¹²⁹². Der Zusammenhang zwischen verstärktem Handel und Auflösung traditioneller Autoritätsstrukturen kann, so omas Spear, nicht als gezielte und konzertierte Handlungsstrategie junger Männer angesehen werden, sondern als gradueller Prozess, der sich tiefgreifend auf ostafrikanische Gemeinschaen auswirkte¹²⁹³. Die Legitimität etablierter Altershierarchien geriet ins Wanken und neue, junge Eliten bildeten eine »Kultur der Opposition«¹²⁹⁴, die zu einem neuen Selbstbild junger Männer beitrug. Sie konnten mit dem Wissen in Kontakt mit lokalen Ältestenräten treten, die eigenen Interessen notfalls mit Gewalt durchsetzen zu können: »Wo Recht und Staat aus Wanderung und Gewalt entstehen können, waren dem eigenen Verhalten keine ethischen Grenzen gesetzt«¹²⁹⁵. Richard Francis Burton formulierte dieses Phänomen im westlichen Tanzania wie folgt: 1289 Siehe Spear: e Kaya Complex, S. 123. 1290 Siehe Wohlrab: Usambara. Werden und Wachsen einer heidenchristlichen Gemeinde in Deutsch-Ostafrika. S. 7. 1291 Vgl. Njau: Meine Nachrichten von meiner Kindheit an bis jetzt, S. 116. 1292 Vgl. o.A.: Nandi Customary Law, S. 37. Siehe hierzu auch: Spear: e Kaya Complex, S. 125. 1293 Vgl. ebd., S. 128. 1294 Bayly: Die Geburt der Modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780-1914, S. 128. 1295 Zitelmann: Formen und Institutionen politischer Herrscha, S. 206, Hervorhebungen im Original.

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»Ein Häuptling, der im Stande ist, eine Faustrechtregierung zu führen, erhebt sich selbst zu dem Range eines Despoten und schlägt und verkau seine Unterthanen ohne Unterschied. Obgleich ihn ein Rath umgiebt, der zwischen zwei und fünfzehn Personen schwankt, die o mit ihm verwandt oder eng bekannt sind und die [...] auch ihre meiste Zeit damit zubringen, dies zu verordnen und jenes zu verbieten, so kann er sie doch ebenn so gut wie jeden Andern verachten und schlagen«¹²⁹⁶ In der Region Unyamwezi wurden mehrere charismatische Anführer bekannt, die als Jugendliche am Handel teilgenommen hatten und später persönliche Einflussbereiche auauten. So wurde davon berichtet, dass der junge Fundikira Ende der 1830er Jahre an Handelsreisen teilnahm, und auch der später als »Napoleon Ostafrikas« bezeichnete Mtyela Kasanda, genannt Mirambo, soll als Kind Träger in Karawanen gewesen sein¹²⁹⁷. Im Hinterland der Swahili-Küste kamen Ngonyo und Mwakikonga als junge Männer zu großem Einfluss. Beide hatten durch Handel einen gewissen Reichtum erworben und jeweils eigene Gefolgschaen aufgebaut, die ihnen eine starke Position gegenüber den Ansprüchen traditioneller Elders verlieh¹²⁹⁸. Durch den Handel gewannen sie neben bekannten Handelsgütern auch neue Luxusgüter, was hergebrachte Regeln der Güterverteilung veränderte. Mit Hilfe dieses Reichtums konnten die Anführer eine eigene Anhängerscha auauen. Eine solche Gefolgscha verdrängte die Legitimationsbasis von Institutionen, die auf der Kontrolle der Ritensysteme und des traditionellen Wissens beruhten. Das hohe Auommen von reich bestückten Karawanen konnte sich außerdem auch mit traditionellen Gewaltlogiken verbinden. Das Auftreten von Karawanen mit »Gütern, Waffen und Arroganz«¹²⁹⁹ bot Anreize für junge Krieger ansässiger Gemeinschaen, sich durch traditionelle Raids auszuzeichnen und dadurch mehr Prestige und ökonomische Unabhängigkeit zu erlangen. Allerdings verbanden sich Elemente der Küstenkultur mit den Kriegerkulturen des Hinterlands. Dabei übernahmen viele den Habitus und die Statussymbole der Swahili-Küste, während bekannte Handelsgüter wie Vieh in die bestehenden Wirtschaskreisläufe integriert wurden¹³⁰⁰. Das wiederum wirkte sich besonders auf das Selbstverständnis junger Menschen aus: Die mobilen Wangwana-Händler wurden zu Vorbildern für Kinder und Jugendliche, wie der Missionar 1296 Burton/Speke: Der Nil und seine Quellen. Reisen nach den Binnenseen Afrika’s und Entdeckung der Quellen des Nils 1857-1863, S. 477f. 1297 Vgl. Hahner-Herzog: Tippu Tip und der Elfenbeinhandel in Ost- und Zentralafrika im 19. Jahrhundert, S. 30. 1298 Vgl. Spear: e Kaya Complex, S. 125. 1299 »goods, guns, and arrogance«, Fadiman: e moment of conquest : Meru, Kenya, 1907, S. 20, meine Übersetzung. 1300 Vgl. Jackson: e Dimensions of Kamba Pre-Colonial History, S. 234. Siehe auch: Pesek: Rugaruga: e History of an African Profession, 1820–1918, S. 92.

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Stewart Wright im Jahresbericht der Missionsstation Urambo von 1888 berichtete: »e apparent aim of the native men & boys was to become Wangwana & not Christians [...]«¹³⁰¹. Die Sprache und Kleidung der Swahili-Küste diente als Mittel zur Distinktion und Herausbildung einer jungen Händlerelite¹³⁰². Mit der Sprache, dem Kleidungsstil und dem Habitus der Swahili-Küste wurde auch deren Weltsicht übernommen. Nach der Auffassung der Wangwana waren die Bevölkerung des Hinterlands Washenzie (Wilde) und den Wangwana untergeordnet¹³⁰³. Das konnte bis zu einem völligen Bruch mit der eigenen Herkun führen und die tradierte Verbindung zwischen den Generationen kappen. Paul Reichard beschrieb die Aussage eines Jugendlichen, der als Kind in das Gefolge eines Küstenhändlers eingegliedert worden war und mit Reichards Karawane in die Gegend seines Heimatdorfes gekommen war¹³⁰⁴: »Der Verfasser fragte den Knaben, ob er nicht Lust habe, seine Eltern zu besuchen, welche noch in der alten Heimat lebten. Mit überlegenem Lächeln antwortete der Sklave: »Jene sind Waschensi (Wilde), ich aber bin jetzt ein Mguana (in diesem Sinn Gebildeter), ich will von jenen Leuten nichts mehr wissen««¹³⁰⁵. Durch die Identifikation mit der Swahili-Kultur und deren Rechtstraditionen, die zwischen Wangwana (Freien) und Washenzie (Barbaren, Unzivilisierte) unterschieden, und die teilweise Durchlässigkeit dieser Unterscheidung hatten auch ehemalige Sklaven, Entführte und freiwillige Einwohner des Hinterlandes die Möglichkeit, gesellschalich angesehene Positionen wie etwa die des Soldaten innerhalb der Swahili-Kultur einzunehmen¹³⁰⁶. Zunächst als metaka, »Beute«, be1301 R. Stewart Wright: Papers, 1888, SOAS, Signatur: CWM / LMS / Central Africa / Reports / Box 1, S. 2. Eine ähnliche Beobachtung machte auch der Missionar Reverend W. Hutley im August 1881 in Urambo (Siehe Glassman: Feasts and riot, S. 117.). Siehe hierzu auch: Wimmelbücker: Der Bericht des Mzee Bin Ramadhani über den Maji-Maji-Krieg im Bezirk Songea: SwahiliText und zeitgenössische Deutsche Übersetzung mit einem einführenden Kommentar, S. 185. 1302 Vgl. Marica Wright: Local Roots of Policy in German East Africa, in: e Journal of African History 9.4 (1968), S. 621–630, hier S. 624 sowie Gissibl: Die Treue“ der askari. Mythos, Ehre ” und Gewalt im Kontext des deutschen Kolonialismus in Ostafrika, S. 239f. und Rockel: Carriers of Culture. Labor on the Road in Nineteenth-Century East Africa, S. 185. Siehe auch: Werther: Zum Victoria Nyanza. Eine Antisklaverei-Expedition und Forschungsreise, S. 271. 1303 Siehe auch: Glassman: Feasts and riot, S. 62. 1304 Vgl. Hahner-Herzog: Tippu Tip und der Elfenbeinhandel in Ost- und Zentralafrika im 19. Jahrhundert, S. 284. Siehe hierzu auch: Reid: A history of modern Africa, S. 105. 1305 Paul Reichard: Deutsch-Ostafrika. das Land und seine Bewohner, seine politische und wirtschaliche Entwickelung ; mit 36 Vollbildern nach Originalphotographien, Leipzig 1892, S. 472. 1306 Siehe auch: Deutsch: Sklaverei als historischer Prozess, S. 68.

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zeichnet, konnten die Einwohner des Hinterlandes (Washambala, »ländliche Personen«) über die Annahme der Swahili-Kultur vom Handel profitieren¹³⁰⁷. Die Anführer der Karawanen fungierten für die entführten und freiwillig sich anschließenden Kinder als Vaterfiguren, von denen sie die Lebensweise der SwahiliKüste adaptierten und in die Tätigkeiten des Handels ebenso eingeführt wurden, wie sie auch handwerkliche Kenntnisse und Kenntnisse im Umgang mit Waffen erwarben¹³⁰⁸. Sie wurden zunehmend auch als »Kinder« bzw. »Verwandte« bezeichnet¹³⁰⁹. Tippu Tip berichtete über seine dritte Karawanenreise in den 1870er Jahren, dass er sowohl von jungen Wangwana begleitet worden war¹³¹⁰, als auch ansässige junge Wangwana antgetroffen hatte, die sich kleideten wie die Bewohner der Swahili-Küste und auch Schusswaffen besaßen¹³¹¹. Eine solche Assoziation mit der Kultur der Küste führte in vielen Fällen zum Bruch mit traditionellen Weltsichten¹³¹². Besonders durch die starke kulturelle Unterscheidung zwischen Wangwana und Washenzie als konstituierende Charakteristik der Sozialstruktur von Gruppen um mobile Händler und Karawanen ergaben sich kaum Freiräume für Mischformen und das Festhalten an Traditionen des ostafrikanischen Hinterlandes¹³¹³. Gleichzeitig hatte die Swahili-Kultur der Küste eine kulturelle Sogwirkung, die wirtschalichen Erfolg versprach und zum dauerhaen Bruch mit der Herkunsgemeinscha führen konnte. Doch auch falls die junge Generation in lokale Gemeinschaen integriert blieb, gab es interne Spannungen zwischen Alt und Jung, welche sich regional unterschiedlich ausprägten. Der Biologe Gustav A. Fischer beobachtete in verschiedenen Gegenden unterschiedliche Verhältnisse zwischen den Generationen, die als Anzeichen für Umformungen der Autoritätsbeziehung gelten können. So beobachtete er unterschiedlich gelagerte Autoritäten bei der Teilnahme am Handel und nahm die damit verbundenen Generationenkonflikte wahr: »Der Vater hat bei den Wakuavi eine grössere Gewalt über den Sohn wie bei den Massai; der Sohn kann nicht wie bei den letzteren Rinder ohne Einwilligung des Vaters verkaufen; die Beute des Sohnes gehört dem Vater und es wurden mehrmals Sklavenverkäufe wieder

1307 Vgl.Mann: Sahibs, Sklaven und Soldaten, S. 69. 1308 Vgl. Hahner-Herzog: Tippu Tip und der Elfenbeinhandel in Ost- und Zentralafrika im 19. Jahrhundert, S. 285. 1309 Vgl. Mann: Sahibs, Sklaven und Soldaten, S. 69. 1310 Siehe Bontinck: L’autobiographie de Hamed ben Mohammed el-Murjebi, Tippo Tip (ca. 18401905), S. 48f. 1311 Siehe ebd., S. 97. 1312 Siehe auch: Nordstrom: Leben mit dem Krieg, S. 83. 1313 Siehe auch: Mann: Sahibs, Sklaven und Soldaten, S. 39.

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rückgängig gemacht, weil der Sohn ohne Wissen des Vaters verkau hatte«¹³¹⁴. Mit den neuen wirtschalichen Möglichkeiten wurde ein Rückgang der Solidarität auf lokaler Ebene in Verbindung gebracht. Autoritätsstrukturen bröckelten und verloren an Integrationskra. Elders behielten o nicht länger die Kontrolle von Landnutzung und Reichtum, da diese beiden Ressourcen durch den Handel auch für jüngere Männer verfügbar wurden¹³¹⁵. Auch die britische Reisende Mary French-Sheldon nahm Anzeichen von Generationendifferenzen und Konflikten wahr. Sie beobachtete zahlreiche Streitigkeiten zwischen jungen Kriegern und Elders über die Verteilung von Hongo: »During the period of my sojourn in East Africa there was considerable friction between the young dandies, or el-moran, and the elders, in Taveta, on the matter of hongo, or tribute exacted from caravans passing through their country. [...] in former days the elders received this toll, and made distribution as it suited them. Now the young men personally desire to receive this tribute [...]«¹³¹⁶. Das Auommen größerer Mengen von Elfenbein, Stoff, Vieh oder Perlen in den neuen Handelsstrukturen überdehnte die feingliedrig regulierten Güterabgaben zwischen Alt und Jung¹³¹⁷. Diese internen Konflikte zwischen den Generationen wurde das ema des Volksmärchens »e story of the Hyena and the Hare«: Zwei Krieger, Hyena und Hare, leben zusammen mit ihren Müttern und beschließen, gemeinsame Raids durchzuführen. Sie haben nach einer Weile Erfolg und bringen Vieh mit nach Hause. Hyena schlägt vor, die Mütter in einen Krater zu werfen, um mehr Vieh für sich selbst zu haben. Hare stimmt aus Furcht vor Hyena zu. Also wir Hyena seine Mutter in einen Krater, Hare aber versteckt die seine in einem Loch im Wald. Er sammelt heimlich Fleisch für seine Mutter und versorgt sie durch eine List. Durch einen Trick bringt Hare Hyena dazu, sich selbst den Kopf an einem Stein aufzuschlagen, wodurch Hyena stirbt. Hare hat dann das gesamte Vieh für sich und holt seine Mutter aus dem Loch¹³¹⁸. Diese Erzählung schildert die unterschiedlichen Möglichkeiten der Krieger, entweder nach traditionellen Vorgaben zu handeln oder diese zu durchbrechen. Durch poetische Gerechtigkeit wird die Figur schließlich bestra, welche die traditionellen Versorgungsrichtlinien zwischen Jung und Alt missachtet. Durch die Auswahl der Tierbilder ist jederzeit vorgezeichnet, welcher Figur die Sympathie gelten sollte und welches 1314 Fischer: Bericht über die im Aurage der Geographischen Gesellscha in Hamburg unternommene Reise in das Massai-Land, S. 94. 1315 Vgl. Spear: e Kaya Complex, S. 114f. sowie ebd., S. 123 1316 Sheldon: Sultan to sultan, S. 257. 1317 Vgl. Spear: e Kaya Complex, S. 106f. 1318 Vgl. Hamilton: Maasai Tales, Songs and Texts.

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Verhalten demnach als negativ einzuschätzen ist. So gilt der Hase als positiv konnotierte, schlaue Figur, die Hyäne hingegen als habgierig und dumm. Am Ende der Geschichte ist die traditionelle Ordnung der Generationen wiederhergestellt und Hare profitiert auch materiell davon, dass er an der Verbindung zwischen den Generationen festgehalten hatte. Die schwer zugänglichen Gebiete in den Hochländern Ostafrikas waren weniger von diesen Prozessen betroffen. Daher wurden die Möglichkeiten junger Männer, durch Handel Reichtum ein Gefolge und somit Unabhängigkeit zu erlangen, als geringer erachtet und der Einfluss traditioneller Ältestenräte als weitgehend unangefochten angesehen¹³¹⁹. Sowohl G.A. Fischer als auch J.W. Gregory berichten von Situationen, in denen sie gemeinsam mit Elders und Kriegergruppen um Hongo verhandelten und die Elders dabei gemäß ihrer traditionellen Vermittlerrolle die Verhandlungen führten¹³²⁰. Doch auch in den entlegeneren Gebieten kamen Konflikte zwischen den Generationen auf, sobald der Handel sie stärker durchdrang. In den westlichen Gebieten Kenias stand die materielle Ressourcenverteilung vor den 1880er Jahren unter der Obhut der Elders. Jungen Kriegern war es verboten, selbst Reichtum anzusammeln, und die in Raids erbeuteten Güter mussten an die älteren Generationen übergeben werden. Diese Verhältnisse änderten sich jedoch, in den durch Handel dynamisierten Gebieten fand eine Verlagerung der Aufgabenbereiche statt. Junge Krieger wurden durch ein hohes Auommen von Gewalthandlungen und ein bisher unbekanntes Maß an Brutalisierung in Funktionen und Aufgabenbereiche der Elders gedrängt. Erfahrung und Kontakte der Elders waren keine wertvollen Ressourcen mehr, die Gewalt einzuhegen vermochten, also drangen junge Krieger und Gewaltexperten in die Tätigkeitsfelder der Elders vor. Aus deren Perspektive wiederum bot die Pflege der Traditionen und der Bezug zur Vergangenheit keine Machtbasis mehr. Persönlicher Status war zunehmend nicht mehr von der Stellung in der Altershierarchie abhängig, sondern von Erfolg und Reichtum. Daran knüpe sich die Wahrnehmung, dass die Kra der Ahnen und der »alten Götter« offensichtlich unwirksam wurde¹³²¹: »Erfahrungswissen beruht auf der Annahme, dass diese Erfahrungen gültig bleiben und ähnliche Situationen angewendet werden können«¹³²². Mit der Vielzahl neuer Erfahrungen, angesichts derer sich Erfahrungswissen als ungültig erwies, stieg auch der Druck auf die institutionellen Ordnungen, die auf Erfahrungswissen aufgebaut waren. Daraus konnten sich Brüche in der Weitervermittlung an jüngere Generationen ergeben und Genera-

1319 Siehe Ambler: Kenyan communities in the age of imperialism, S. 29. 1320 Siehe Gregory: e Great Ri Valley, S. 99f. sowie Fischer: Bericht über die im Aurage der Geographischen Gesellscha in Hamburg unternommene Reise in das Massai-Land, S. 56f. 1321 Vgl. Speitkamp: Kleine Geschichte Afrikas, S. 183. 1322 Albrecht: Die individuelle und soziale Konstruktion von Wirklichkeit im Hinblick auf die Zeit, S. 165.

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tionenkonflikte konnten vor diesem Hintergrund entstehen¹³²³. Mit der Ausbreitung von Missionsstationen kamen zudem Personen ins Land, die die Machtbasis der Elders untergruben. Das beinhaltete einerseits, dass Missionare den Glauben der Bevölkerung als Aberglauben und Teufelsanbetung betrachteten und dessen Verdrängung vorantrieben, und andererseits, dass Missionare in die Tätigkeitsbereiche traditioneller Elders vordrangen. Sie vermittelten zwischen Karawanen und Dorevölkerung, kultivierten Land, bauten Häuser und behandelten Krankheiten. Zudem war es das Ziel von Missionsschulen, Kinder nach christlichen Maßstäben zu erziehen. Damit traten die Missionare in Konkurrenz zu traditionalem Wissen und Rollenkonventionen von Altersklassensystemen. Das untergrub die mystische Autorität der Elders, welche sich in einigen Fällen gegen den Einfluss der Missionare wehrten. Der Missionar Crawford beschreibt die Versuche der Elders im Kikuyu-Gebiet, die tradierten Praktiken der Initiationsriten aufrecht zu erhalten: »Our second year of residence at Kahuhia was one of progress all along the line, but there were seasons of intense difficulty and opposition to be passed through. Chiefs and medicine men began to plot against us. e medical mission was becoming a force to be reckoned with, and many of the young people were making a stand and refusing to participate in certain evil tribal customs, which were as the laws of the Medes and Persians to the Kikuyu elders. Pupils were there fore withdrawn from the school and sent far away in search of work, until we were le with an attendance of only ten or twelve«¹³²⁴. Auch im Handel und in der Administration der materiellen Ressourcen wurden die Elders aus ihren traditionellen Bereichen gedrängt. Verhandlungen (Shauri, wörtlich:»Beratung«¹³²⁵) wurden zunehmend von vorbeiziehenden Europäern als Mittel zur Administration benutzt. Grundsätzlich ergab sich jedoch eine Spannung zwischen den Interessen von Mission und Handel und den lokalen Traditionen, vertreten durch etablierte Ältestenräte¹³²⁶. Die Reaktionen der einzelnen Gemeinschaen variierten zwischen Kooperation und Integration über deren Funktionalisierung für eigene politische Zwecke bis zur Ablehnung und gewaltsamen Bekämpfung. Generell gab es in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch keinerlei 1323 Siehe hierzu auch: Albrecht: Die individuelle und soziale Konstruktion von Wirklichkeit im Hinblick auf die Zeit, S. 168f., Wafula: ’Tradition’ versus ’Modernity’: Generational Conflict in Vuta N’Kuvute, Kufa Kuzikana, Msimu Wa Vipepeo and Tumaini, S. 138 und Claus Leggewie: Die 89er : Portrait einer Generation, Hamburg 1995, S. 77. 1324 Crawford: By the equator’s snowy peak. A record of medical missionary work and travel in British East Africa, S. 107. Mit beständiger Einwirkung der Mission entzogen sich einzelne Jugendliche den Riten und ließen sich christlich taufen, was wiederum zunächst zu Isolation führte, siehe ebd., S. 170f. 1325 Schnee (Hrsg.): Deutsches Kolonial-Lexikon, Bd. 3, S. 261. 1326 Siehe auch: Reid: A history of modern Africa, S. 130.

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Gründe für die ostafrikanische Bevölkerung, in größeren Gruppen zum Christentum überzutreten. Missionare lehnten die etablierten Traditionen, Institutionen und kulturellen Praktiken ab und gaben nur wenig Anreize, sich taufen zu lassen. Ostafrikanisch geprägte Weltbilder kannten zwar o eine Gottheit, die als Schöpfer angesehen wurde, meist orientierte man sich jedoch an konkreten Bedürfnissen und alltäglichen Phänomenen, mit denen mythische Figuren assoziiert wurden. Solche funktionalen Gottheiten waren etwa für Regen, Krieg oder Fruchtbarkeit zuständig, so dass die Vorstellung eines omnipotenten Gottes kaum damit vereinbar schien¹³²⁷. Dennoch suchten Missionare Anknüpfungspunkte auf sozialer, politischer und mystisch-religiöser Ebene. Bereits wenn es darum ging, neue Missionsstationen zu gründen, brauchte man Ansprechpartner und lokale Unterstützer. Wie die Korrespondenz des Missionars Johann Ludwig Krapfs aus dem Jahr 1844 zeigt, trugen lokale Elders entscheidend zur Gründung der Missionsstation Rabai-Empia bei. Krapf verhandelte mit ihnen zunächst in Mombasa und reiste im März 1845 nach Rabai¹³²⁸. Mit seinen fundierten Sprachkenntnissen des Swahili kann Krapf jedoch als Ausnahme gelten, die Regel war ein angespanntes Verhältnis zwischen Missionaren und Elders. Besonders, wenn es um die Integration Jugendlicher in Missionsschulen ging, konnte das zu Konflikten führen. Das zeigt die Beständigkeit traditioneller Generationenverbindungen und deren Gefährdung durch missionarische Aktivitäten. Verwerfungen durch Migration großer Gruppen konnte ebenfalls zu Generationenkonflikten führen. Mündliche Traditionen berichten von der Flucht einer Gemeinscha nach gewalthaen Auseinandersetzungen in ein Gebiet südlich des heutigen Nairobi, was sich jedoch als recht unfruchtbar herausstellte und nicht genügend Weidegrund für das Vieh bot. Also strebte die Kriegerkaste entgegen den Beschlüssen der Elders danach, zurückzukehren und gegen die verbliebene Bevölkerung zu kämpfen. Der Überlieferung nach schnitt ein Krieger symbolisch ein Ohr ab und schickte es den Elders zu, um deutlich zu machen, dass die Krieger deren Beschlüssen kein Gehör schenken würden¹³²⁹. In den Gebieten um den Kilimanjaro wurden mündliche Traditionen überliefert, die ebenfalls von rebellischem Verhalten gegenüber den Elders erzählen. So wird der charismatische Krieger Horombo als erfolgreicher Anführer dargestellt, der bereits als Kind gegenüber dem Vater Ungehorsam zeigte und einen Elefanten allein besiegte. Diese Tat brachte der Kriegerfigur ein hohes Ansehen ein und im Verlauf der Überlieferung 1327 Vgl. ebd., S. 129f. 1328 Vgl. Johann L. Krapf: Krapf to Secretary; August 13, 1844, CMS, Mission Book 1842-1846. Signatur: CMS / B / OMS / C A5 / M1 und ders.: Journal March 1845, CMS, Mission Book 1842-1846. Signatur: CMS / B / OMS / C A5 / M1. 1329 Vgl. Kanyangezi: Mbatiany 1824-1889. A Biographical study of a nineteenth century Maasai Oloibony, S. 42f. Aus der Gegend südlich des Mt. Kenya wurde überliefert, dass es dort ebenfalls einzelne Kriegergruppen gab, welche sich über die Anweisungen der Elders hinwegsetzten, siehe Mwaniki: Mbeere Historical Texts, S. 112.

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wird er zur Heldenfigur, die weiser entscheidet und aufgrund der Gefolgscha seiner Kriegergruppen mehr Einfluss bekommt als die lokalen Ältestenräte¹³³⁰. Die mitgebrachte Erfahrung aus der Tätigkeit in den Handelsnetzwerken veranlasste dazu, die höheren Generationen aus den Ehrenpositionen der Altersklassensysteme hinauszudrängen und selbst durch ein Nduiko-Ritual den Status eines Elder zu erlangen. Aus der Gegend südlich des Mt. Kenya stammt ein Liedtext, der diesen Konflikt zum ema hat: » [...] Father, say what you want, I want to wander (performing nduiko ritual dance)! Ngucaara (dancing gadget) has not been prepared, I’ll do it in Mwea. [...] Yea father, you want to go home and leave me? It’s me who will take you at yours Ciamanji (the watery place). I’ll take you home, my sister, To go and see preparing loads and unloading (the carriers of the loads-ritual gadgets) Father, say what you want, I want to wander dancing [...]«¹³³¹ Das Lied verweist auf ein verändertes Selbstverständnis junger Männer, die durch Teilnahme am Handel wirtschaliche Freiheiten erlangt hatten. Die damit verbundenen, neu gewonnenen Handlungspotenziale sollten auch auf andere gesellschaliche Bereiche ausgeweitet werden. Der überlieferte Text ist somit Ausdruck eines Bestrebens nach größerer Unabhängigkeit und höherem Status auch in tradierten, rituell gesteuerten Bereichen gesellschalicher Anerkennung. Konflikte um die Kontrolle von Handel und Arbeit beeinflussten das Verhältnis zwischen den Generationen im 19. Jahrhundert stark und drückten sich o in Streit darüber aus, wer in den Rang eines Elder eintreten dure¹³³². Entsprechend reagierten lokale Ältestenräte o mit dem Versuch, Kontakte zu überregionalen Handelsnetzwerken zu unterbinden um sowohl ihre eigene Autorität als auch die Mechanismen zur gleichmäßigen Güterverteilung zu schützen¹³³³. In anderen Fällen wurden die Elders selbst aktiv und nahmen am Handel teil. G.A. Fischer berichtete bspw. von »älteren Männern«, die im Kilimandscharo-Gebiet durch den Handel mit Bananen und Getreide mit Karawanen verkehrten¹³³⁴. Einzelner Elders inszenierten sich auch als Krieger und charismatische Anführer, wie Mirambo von Ka-

1330 Siehe Lema: Horombo. e chief who united his people. S. 10 sowie ebd., S. 15f. Die Überlieferungen aus dem Taita-Gebiet zeichnen ein ähnliches Bild von Mwangeka wa Malowa, Mwaita: Mwangeka wa Malowa, S. 4ff. 1331 Mwaniki: Mbeere Historical Texts, S. 82ff., Anmerkungen im Original. 1332 Vgl. Willis: Potent brews. A Social History of Alcohol in East Africa 1850-1999. S. 51. 1333 Vgl. Ambler: Kenyan communities in the age of imperialism, S. 48. 1334 Vgl. Fischer: Bericht über die im Aurage der Geographischen Gesellscha in Hamburg unternommene Reise in das Massai-Land, S. 51.

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masenge, der den Namen des bekannten Ntemi aus Unyamwesi annahm¹³³⁵. Vor dem Hintergrund etablierter Versorgungsregelungen zwischen den unterschiedlichen Altersgruppen erscheint dieses Phänomen als Abkehr von tradierten Rollenmustern, nach denen ältere Männer lediglich für die Verteilung der Handelsgüter sorgten, im Handel selbst jedoch nicht tätig waren. Die Spannungen zwischen den Generationen machten sich jedoch auch außerhalb wirtschalicher Lebensbereiche bemerkbar. In den Gebieten westlich des Kilimandjaro, so stellte C.W. Hobley fest, kursierten »viele Mythen über den Mord von Eltern durch die eigenen Kinder«¹³³⁶. Swahili-Manuskripte aus dem Hinterland der ostafrikanischen Küste künden ebenfalls von diesem Phänomen: So wird in einer der verzeichneten Geschichten der Sohn eines einflussreichen Elders von Fremden dazu verleitet, den eigenen Vater zu töten. Man verspricht dem Sohn, dass man ihn zum Herrscher machen werde, tötet ihn jedoch, nachdem der Vatermord vollzogen wurde¹³³⁷. Auch auf der Ebene der Mythen und Geschichten zeigte sich also, dass das Verhältnis zwischen den Generationen unter Spannung geraten war. Der innere Widerspruch zwischen Geschichten, deren klare didaktische Ausrichtung ein Fortschreiben bestehender Bindungen und wechselseitiger Verpflichtungen war und solchen, die den Elternmord als dominantes Motiv enthalten, spiegelt einen schwelenden Generationenkonflikt. Die wachsende Bedeutung persönlicher Ämter, die mit der Reaktion auf exogene Einflüsse und gesteigerte Gewalterfahrung betraut waren, sorgte für Konflikte im traditionellen Gefüge von Altershierarchien. Als Berater und erfolgreiche Krieger übernahmen sie zwar Funktionen traditioneller Elders, standen als einzelne Personen aber außerhalb der Gruppenkultur des Altersklassensystems. Sie agierten bisweilen außerhalb akzeptierter Normen und Grenzen¹³³⁸. Das betraf die übermäßige Anhäufung von Beute, die traditionelle Verteilungsmechanismen umging und somit für Konflikte mit Ältestenräten sorgen konnte. Außerdem blieben bei Hochzeiten die üblichen Geschenke an die Familie der Frau aus. Ein weiterer Aspekt war die Konkurrenz zu traditionellen Institutionen wie dem Altersklassensystem. Charismatische Anführer wirkten in rituellen und mystischen Bereichen ebenso wie in Bereichen der Gewaltpraxis, indem sie Raids planten, die Krieger instruierten und taktische Anweisungen gaben. Damit traten sie in Konkurrenz mit Elders sowie mit den Anführern einzelner Kriegerkasten¹³³⁹. Im nördlichen Acholi-Gebiet Kenias sind einzelne Anfrührer (Rwot) überliefert, die Tributzahlungen für ihre militärischen Dienste forderten und dadurch mehr 1335 Vgl. Ayot: Historical texts of the lake region of the East Africa, S. 36. Siehe auch: Dodgshun: From Zanzibar to Ujiji. e Journal of Arthur W. Dodgshun 1877-1879, S. 25. 1336 »[...] many myths relating to the murder of parents by their children«, Hobley: British East Africa: Anthropological Studies in Kavirondo and Nandi, S. 334, meine Übersetzung. 1337 Siehe Nurse: Historical Texts from the Swahili Coast II, S. 43. 1338 Vgl. Ndege: Olonana Ole Mbatian, S. 9. 1339 Vgl. ebd., S. 9f.

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ökonomische Unabhängigkeit erlangen konnten¹³⁴⁰. Einzelne Anführer (Osumba Murwayi) wurden in Ältestenräte aufgenommen und durchbrachen so tradierte Abgrenzungen zwischen den Alterssegmenten¹³⁴¹. In einer Umgebung, die immer mehr von Unsicherheit, Gewalt und der Auflösung traditioneller Strukturen geprägt war, gewannen Krieger an Einfluss. In Krisenzeiten konnten junge Krieger die Autoritätsverhältnisse zu ihren Gunsten verschieben und sich gegenüber traditionellen Elders durchsetzen¹³⁴². Das Verhältnis zwischen den Generationen geriet auf mehreren Ebenen unter Spannung. Handel und Migration dehnten das traditionelle Gefüge von Altersklassensystemen, da in weiten Teilen Ostafrikas eine schnelle Veränderung der Siedlungsstrukturen und der demographischen Konstellationen zu beobachten war. Auf ritueller Ebene konnte o nicht schnell genug reagiert werden, um traditionelle Altershierarchien zu erhalten. Darüber hinaus nutzten junge Männer die ökonomischen Möglichkeiten und ihre Sozialisation als Krieger im Umfeld der entstehenden Handelsnetzwerke. Sie gründeten eigene Gemeinschaen und nutzten die durch Handel und Gewalt gewonnenen Güter selbst, anstatt sie den hergebrachten, von Elders administrierten Verteilungssystemen zu überlassen. Dadurch wiederum ermöglichten sich ökonomische Freiräume, die auch in anderen Bereichen zu mehr Einfluss führten. Lässt sich die Erosion von Altersordnungen feststellen, liegt der Schluss nahe, auf eine wachsende Macht der jüngeren Generation zu schließen. Die einzelnen Faktoren, welche zur Desintegration von Altersordnungen führen konnten, waren jedoch facettenreich und lassen sich nicht allein mit einem Umgehen bzw. Durchbrechen der etablierten Ordnungen duch Jüngere erklären. Die Wege junger Krieger führten sowohl am Gefüge der Altersklassen vorbei als auch tiefer in das Gefüge hinein. So konnten junge Männer einerseits mit zunehmendem wirtschalichen Erfolg in hierarchisch höhere Segmente des Altersgefüges eindringen und etablierte Ältestenräte aus ihren Positionen verdrängen. Andererseits konnten sie die Altershierarchien auch vollständig umgehen, indem sie den gewonnenen Einfluss nutzten, um eigene Siedlungen zu gründen. Das Resultat eines Generationenkonflikts konnte also sowohl die Fragmentierung traditioneller Altersklassensysteme sein als auch deren Festigung durch neue, jüngere Amtsträger. Innerhalb des Sozialgefüges konnten junge Männer schneller aufsteigen und einen 1340 Vgl. Okeny: State formation in Acholi: e Emergence of Obbo, Pajok and Panyikwara states, c.1679-1914, S. 241f. 1341 Vgl. William R. Ochieng: e Transformation of a Bantu settlement into a Luo Ruothdom: A case study of the Evolution of the Yimbo Community in Nyanza up to A.D. 1900, in: History & social change in East Africa, hrsg. v. Bethwell A. Ogot, Nairobi, Kampala, Dar es Salaam 1976, S. 58. Siehe auch: Willis: Potent brews. A Social History of Alcohol in East Africa 1850-1999. S. 60. 1342 Vgl. Kanyangezi: Mbatiany 1824-1889. A Biographical study of a nineteenth century Maasai Oloibony, S. 44.

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Status erlangen, der traditionell erst in einem höheren Alter erreichbar gewesen wäre. Außerhalb des Sozialgefüges traditioneller Altershierarchien konnten einzelne charismatische Anführer ebenfalls ein Maß an Einfluss, Macht und Prestige erlangen, welches scheinbar nicht durch traditionelle Autoritätsstrukturen begrenzt wurde. Es bleibt festzuhalten, dass sich abseits traditioneller, segmentär organisierter Gemeinschaen neue Strukturen herausbildeten. Der Kontakt mit transregionalen Handelsstrukturen und der Kultur der ostafrikanischen Küste ermöglichte eine Anbindung neuer Eliten des Hinterlandes an die »komplexe und sozial stratifizierte Gesellscha« der Swahili-Küste und deren »kosmopolitisierte Elite« mit einheitlichem Habitus, Kleidung und Islam als Religion¹³⁴³. Allerdings griffen die Protagonisten dieser neuen Strukturen immer wieder auf verschiedene traditionelle Elemente dezentraler Gemeinschaen zurück und passten sie, neu kombiniert und um einige Aspekte erweitert, an aktuelle bzw. persönliche Erfordernisse an. Neue Logiken der Gewalt hatten zu einer stärkeren Militarisierung bestehender Ordnungen geführt, jene wurden jedoch nicht vollständig ersetzt. Mit den Auswirkungen der Gewaltphänomene um die Etablierung und Ausweitung eines ostafrikanischen Handelsnetzwerks hatten sich neue politische Strukturen um eine neue Handels- und Gewaltelite ausgeprägt. Damit entstanden Ungleichzeitigkeiten zwischen Handelszentren und ihrer Peripherie, die im Folgenden betrachtet werden. 5.3.3 Fortbestehende Ungleichzeitigkeiten

Die Überlagerungen verschiedener Arten der Gewaltnutzung blieben bestehen. Sie weisen auf die Grundproblematik der Durchdringung kolonialer Herrscha hin und verstärkten die Spannungen zwischen dem unterschiedlichen Verlauf der zentralen Transformationsprozesse des 19. Jahrhunderts. Auf der einen Seite dieser Ungleichzeitigkeiten¹³⁴⁴ steht die auommende Kolonialherrscha, die auf den Strukturen des Handels fußte und ihnen zusätzliche Dynamiken verlieh, auf der anderen Seite stehen die Beharrungskräe dezentraler, fluider Ordnungen. Die neu entstehenden Kolonialstaaten Kenia und Deutsch-Ostafrika wurden nach einer eigenen Dynamik aufgebaut, die bereits von den Verhältnissen in Ostafrika geprägt war und sich an den Strukturen des ostafrikanischen Karawanenhandels orientierte¹³⁴⁵. Kolonial geprägte Herrschasstrukturen lösten somit die informell geprägte Durchdringung des ostafrikanischen Hinterlandes durch den 1343 Michels: Schwarze deutsche Kolonialsoldaten, S. 37). 1344 Grundsätzlich zu Begrifflichkeit und Phänomen Ungleichzeitigkeit siehe Ernst Bloch: Der Faschismus als Erscheinungsform der Ungleichzeitigkeit, in: Ernst Nolte (Hrsg.): eorien über den Faschismus, Köln 1976, S. 182–204. 1345 Siehe Pesek: Koloniale Herrscha in Deutsch-Ostafrika, S. 233ff. sowie Sebastian Conrad: Deutsche Kolonialgeschichte, München 2008, S. 42.

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Sultan von Sansibar¹³⁴⁶ ab. Die Präsenz kolonialer Kräe konzentrierte sich jedoch zumeist auf bestehende Zentren und etablierte Handelswege, die sich ihrerseits ebenfalls wandelten. Der Bau von Eisenbahnlinien sowohl in Deutsch-Ostafrika als auch in Kenia sorgte für grundlegende Veränderungen der Bedingungen von Handel und Transport. Insbesondere im Bezug auf die Mobilität ergeben sich Veränderungen in der Gewalt. So führte der Bau von Eisenbahnlinien sowohl in Kenia als auch in Tanzania zu einer Demobilisierung des Karawanenhandels. Auf den Netzwerken des Karawanenhandels auauend wurde der Ostafrikanische Raum sukzessive auf tansanischer Seite von der Usambara-Bahn und auf kenianischer Seite von der Bahnlinie nach Uganda erschlossen¹³⁴⁷. Das erforderte einen weit geringeren Aufwand an Trägern, was wiederum zu grundlegenden Veränderungen im Karawanenhandel führte. Auch die Veränderungen in Sklavenhandel und Plantagenwirtscha sind in Betracht zu ziehen. Mit europäischen Verboten des Sklavenhandels verlagerte sich die Gewaltlogik, welche auf ein Ausheben von Sklaven zielte, ebenfalls. Gruppen, die solche Praktiken verfolgten, wurden von Kolonialarmeen verfolgt und migrierten o in Gebiete außerhalb kolonialer Grenzen. Somit nahm die Bedeutung des situativen Kontexts von Gewalt im mobilisierten Raum ab. Solche Veränderungen in der Infrastruktur hatten Folgen für die Grundbedingungen von Handel und Mobilität, aus denen die Gewaltpraktiken mobiler Kriegergruppen hervorgegangen waren. So machten Elfenbeintransporte und Handel per Bahnlinie monatelange Karawanenzüge überflüssig und führten zu einer Konzentration der Migration auf die Zentren, innerhalb deren sich eine zentralstaatliche Polizeigewalt auch erfolgreich durchsetzen ließ. Dies sowie Verbot und Bekämpfung von Sklavenhandel führten wiederum zu einem geringeren Maß an Migration. Sklavenhändler und mobile Kriegergruppen verlagerten sich mit zunehmendem Ausbau kolonialer Infrastruktur und Reichweite kolonialer Kräe sukzessive nach Westen oder lösten sich auf. Nicht selten tauchen in Missionstagebüchern »niedergelassene Krieger« auf, welche sich in Dörfern ansiedelten¹³⁴⁸. Koloniale Kräe reagierten mit Zerschlagung dieser Gruppen durch Strafexpeditionen, die sich bereits in den 1890er Jahren in den Küstengebieten belegen lassen und sich sukzessive ins Landesinnere fortsetzten¹³⁴⁹. Eine weitere Handlungsstra1346 Vgl. Coquery-Vidrovitch: Africa and the Africans in the nineteenth century, S. 90. 1347 Ausführlich zur Veränderung der Mobilität durch den Eisenbahnbau in Deutsch-Ostafrika siehe Reichart-Burikukiye: Gari la moshi - Modernität und Mobilität. Für den kenianischen Raum siehe John Mwaruvie: e Political Economy of Railway Development in Kenya, in: Manurice Nyamanga Amutabi (Hrsg.): Studies in the Economic History of Kenya. Land, Water, Railways, Education, and Entrepreneurship, New York et.al. 2009, S. 29–76. 1348 Siehe z.B. Schynse: Pater Schynse’s letzte Reisen, S. 40f. sowie Spellig: Die Wanjamwesi. Ein Beitrag zur Völkerkunde Ostafrikas, S. 224. 1349 Für den britischen Einflussbereich: o.A.: Punitive Expeditions in British East Africa, Zanzibar and Benin City. 1895-1897. Für das Gebiet Tansanias siehe: Mann: Mikono ya damu, S. 25ff.

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tegie war, den Kriegern Land zuzuweisen und sie so dazu zu bewegen, von der Gewaltökonomie zu lassen. August Schynse beschrieb diese Vorgehensweise und berichtete, dass sie im Fall einiger Ngoni-Verbände wirksam gewesen sei¹³⁵⁰. Koloniale Herrscha suchte ferner nach ausbeutbaren Klientelbeziehungen¹³⁵¹, was zur Praxis der Eingliederung von Kriegergruppen in Kolonialarmeen und Polizeikräe führte. Gleichzeitig war der Kontakt mit den Vertretern jener Kolonialmächte für die Afrikaner o mit einer extremen Gewalterfahrung verbunden. So ergab sich ein tiefer Widerspruch zwischen dem Selbstverständnis europäischer Kolonialtruppen, die aus ihrer Sicht als ordnende Kra inmitten entgrenzender Gewalt agierten, und der Erfahrung von Afrikanern, welche die Kolonialtruppen als besonders brutal und gewaltsam erlebten: »In einer Kolonialherrscha wurde Gewalt täglich eingeübt und schließlich habituell ausgeübt«¹³⁵². Der Historiker Michael Pesek wies bereits auf die Gewalterfahrung der ostafrikanischen Bevölkerung hin, welche sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ausgebreitet hatte. So besingt das zeitgenössische Lied eines ostafrikanischen Sängers einen mächtigen roten Bullen, der von der Küste ins Landesinnere gekommen sei und den Donner der Gewehre und Kanonen mitgebracht habe. Im Liedtext werden die Gewalterfahrung und die Reaktion der Bevölkerung geschildert, als Deutung schlägt Pesek vor, den roten Bullen weniger im engen Sinne als Symbol für die auommende deutsche Kolonialherrscha anzusehen, als vielmehr im erweiterten Sinne für die generelle Gewalterfahrung der ostafrikanischen Bevölkerung seit Mitte des 19. Jahrhunderts¹³⁵³. Ein Blick auf die Tiersymbolik unterstützt diese Lesart: So wurde, wie gezeigt, der Rufname des Küstenhändlers Seyyid Abubakari, Diwan Ruga, bereits mit einem Bullen assoziiert. Ferner weist der Begriff Ruga auf die gezeigten mobilen Kriegergruppen des 19. Jahrhunderts hin. Fremde, mit Schusswaffen ausgerüstete Krieger, die über ostafrikanische Dörfer oder Karawanen herfallen, waren nicht erst eine Erfahrung der auommenden Kolonialherrscha. Vielmehr zeigen sich die Kontinuitätslinien zwischen der Gewalt mobiler Kriegergruppen und den Kolonialtruppen. Dabei nahm die koloniale Gewalt o die gleichen exzessiven Formen an, wie sie von einzelnen mobilen Kriegergruppen ausgeübt worden war. Krieger wurden in Kolonialtruppen integriert und als »Hilfskrieger« bezeichnet. Im Rahmen sog. »Strafexpeditionen« hielten sie eine Gewaltökonomie aufrecht, die ihnen erlaubte, vor dem Hintergrund kolonialer Herrscha eigene Ziele zu verfolgen. Mit dem Auommen von Gewalteliten und der Kooperation einzelner Gruppen mit Kolonialbehörden fand eine Anbindung der Gewalteliten an die kolonialen Strukturen statt. Dabei fungierten 1350 Siehe Schynse: Pater Schynse’s letzte Reisen, S. 40f. 1351 Vgl. Knöbl: Imperiale Herrscha und Gewalt, S. 42f. sowie Kuß: Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen, S. 18. 1352 ebd., S. 15. Siehe auch: Pesek: Koloniale Herrscha in Deutsch-Ostafrika, S. 202. 1353 Vgl. ebd., S. 40f.

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sog. Chiefs als Gelenk zwischen Kolonialstaat und Bevölkerung, deren Autorität o nicht durch traditionelle Instanzen legitimiert war¹³⁵⁴. O wurden auch Personen zu Chiefs gemacht, die willkürlich von Kolonialbeamten ausgewählt wurden. Während diese Praxis o nicht hinterfragt wurde, gab es dennoch Bedenken, die sich auf die Rolle der Chiefs im Zusammenspiel mit traditionellen Ältestenräten bezogen. In den meisten Fällen stärkten die Kolonialmächte jedoch die Position der Chiefs gegenüber der traditionellen Autorität der Elders. Ein kolonialstaatliches Gewaltmonopol war gleichsam Ziel, Anspruch und fremder Überbau zu vorhandenen Mechanismen des Umgangs mit Gewalt:»Die Europäer erwarteten [...] die Einhaltung der europäischen »Spielregeln« und bewerteten gleichzeitig das Verhalten der anderen Seite als groben Verstoß gegen die Menschlichkeit«¹³⁵⁵. Damit verband sich eine Reihe von Widersprüchen. Zwischen dem Anspruch, einen in der gesamten Fläche der neu geschaffenen Kolonialstaaten wirksamen Verwaltungs- und Polizeiapparat zu etablieren, der die Nutzung von Gewalt erfolgreich monopolisieren könnte, und den bestehenden Gewaltpraktiken klae eine große Lücke. Staatliche Strukturen waren Phänomene, die sich vor einem europäischen Denk- und Erfahrungshorizont herausgebildet hatten. Für Ostafrikaner waren sie jedoch exogene Machtstrukturen, die im Widerspruch zur etablierten politischen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten standen. Somit blieb eine Ambivalenz zwischen auommendem Kolonialstaat, der sich lediglich durch ephemere Präsenz und in Form brachialer Gewalt bemerkbar machte, und den bestehenden sozialen Institutionen dezentraler Gesellschaen Ostafrikas¹³⁵⁶. Dabei entstanden unterschiedlich große Differenzen zwischen alten und neuen Autoritäten¹³⁵⁷. Noch deutlicher zeigt sich die Ambivalenz einerseits anhand der verschiedenen Versuche, etablierte Ordnungen mit der Kolonialherrscha zu verflechten, andererseits am Fortbestehen tradierter Ordnungen und Praktiken. Die Vertreter kolonialer Kräe versuchten bereits früh, sich an die Spitze ostafrikanischer Ordnungen zu stellen. So zeugen viele der Reiseberichte vom Versuch, mittels Ratssitzungen (Shauri) Macht auszuüben bzw. die Verhältnisse zugunsten der Interessen auommender Kolonialmächte zu regeln¹³⁵⁸. Auch bei 1354 Siehe auch: Speitkamp: Deutsche Kolonialgeschichte, S. 130. 1355 Kuß: Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen, S. 17, Anführungzeichen im Original. 1356 Siehe hierzu auch: Pesek: Koloniale Herrscha in Deutsch-Ostafrika, S. 22f. Siehe auch: Wimmelbücker: Der Bericht des Mzee Bin Ramadhani über den Maji-Maji-Krieg im Bezirk Songea: Swahili-Text und zeitgenössische Deutsche Übersetzung mit einem einführenden Kommentar, S. 181. 1357 Vgl. Spear: e Mijikenda in the 19th century. Paper given at University of Nairobi, October 1971. Original Manuscript, S. 8. 1358 Siehe z.B. Fülleborn: Das deutsche Njassa- und Ruwuma-Gebiet, Land und Leute, nebst Bemerkungen über die Schire-Länder, S. 139, Dundas: Kikuyu Rika. S. 180, Hamilton: Maasai. Manuscript, S. 110, Fischer: Bericht über die im Aurage der Geographischen Gesellscha in

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der Anerkennung tradierter sozialer Institutionen wie den Altersordnungen gab es z.T. Umorientierungen gegenüber der anfänglichen Herrschaspraxis mittels Kooperation mit Chiefs. So berichtete die Missionarin May Crawford über einen Prozess des Umdenkens seitens der britischen Kolonialadministration: »e government of the tribe was originally patriarchal, each elder being the head of his own village. ey were divided into many different clans, each of these having its own Kiama or council of elders to whom all affairs of importance were referred. ere were a few chiefs, but their authority was somewhat restricted, and they were expected to act in concert with the Kiama. When the British Government stepped in, much greater power was given to the chiefs, who were also made responsible for the collection of the hut tax. e councils of elders were placed entirely in abeyance until quite recently, when, it having been found by experience that many abuses had crept in owing to the arbitrary power vested in the chiefs, the authority of the Kiama was again restored, with considerable advantage«¹³⁵⁹. Diese Beobachtung illustriert die zunehmende Kenntnisnahme traditionaler Autorität seitens westlicher Beobachter. In Regionen, in welchen sich keine stabilen Strukturen um einzelne Chiefs gehalten hatten, wurden o traditionelle Formen der Herrscha restituiert. Indes finden sich Beispiele für den Fortbestand der Ungleichzeitigkeiten zwischen traditionaler und charismatischer Herrscha. Einerseits hatten sich Dynastien etabliert, in denen Kiamas als Berater fungierten und den neuen Eliten unterstellt blieben. Die Rolle der Elders blieb in diesen Fällen jedoch auf die symbolische und kulturell-mystische Sphäre beschränkt. Indiz für diese Form der Herrscha sind die Kriegergruppen, die in solchen Fällen persönlich an den Chief gebunden waren. Andererseits restituierten sich traditionelle Kiamas und übten ihre Einflüsse weiterhin sowohl auf kulturell-mystischer als auch auf symbolischer und operativer Ebene aus. Die Durchführung traditioneller Riten wie der Initiationsriten und ihre durch diese Ritensysteme etablierte und fortgeschriebene Bindung an höhere Generationeneinheiten sind ein deutliches Indiz hierfür. Etablierte Konzepte der Gewaltnutzung blieben weiterhin erhalten. Für das Verhältnis zwischen den Generationen bedeutet das ein Fortschreiben der Ritensysteme abseits kolonialen Zugriffs. In den Zentren kolonialer Herrscha, in Handels- sowie in missionarischen Zentren blieben allerdings gewisse Eliten etabliert, die ihre Kinder häufig in Missionsschulen schickten und somit traditionelHamburg unternommene Reise in das Massai-Land, S. 56, Gregory: e Great Ri Valley, S. 99, 101, 192f., 201, Boyes: King of the Wa-Kikuyu, S. 95, 137ff. Siehe hierzu auch: Conrad: Deutsche Kolonialgeschichte, S. 42. 1359 Crawford: By the equator’s snowy peak. A record of medical missionary work and travel in British East Africa, S. 50. Siehe hierzu auch: Oppen: Dorf, Siedlung, Gemeinscha, S. 238ff.

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len Altersordnungen entzogen. Zudem setzten sich Missionare dafür ein, saisonale Raids zu unterbinden, was zumindest dazu führte, dass solche Gewaltnutzung außerhalb der Aufmerksamkeitsbereiche der Missionare stattfand oder im Wirkungsbereich der Missionsstationen unterbunden wurde. Abseits des Einflusses von Missionsstationen und kolonialen »Inseln von Herrscha«¹³⁶⁰, muss allerdings davon ausgegangen werden, dass auf lokaler Ebene eine Gewaltnutzung herrschte, die sich an anderen Maßstäben orientierte als dem Modell europäischwestlich geprägter Staaten mit durchgesetztem Gewaltmonopol. In den Quellen finden sich dennoch immer wieder Berichte über Formen saisonal geprägter Gewalt im Rahmen von Initiationsriten. So erlauben kenianische Kriminalstatistiken aus den 1950er Jahren, in denen zwischen 1500 und 4200 Raids pro Jahr verzeichnet wurden, ebenso wie Berichte aus der Kolonialzeit den Rückschluss, dass es sich bei Raids um Gewaltformen handelte, die eine lange Kontinuitätslinie hatten und sich auch bis in die Kolonialzeit als Gewaltphänomen immer wieder antreffen ließen¹³⁶¹. Der Historiker David Anderson bezeichnete den Viehraub in Kenia als »[...] most persistent policing problem in the rural areas of the colony«¹³⁶². Ähnliche Beharrungskräe zeigen sich ebenfalls mit Blick auf die Rolle von Ngoma - Tanzfesten als Möglichkeit zur Darstellung von Gewalthaigkeit und Aggression. Wie der amerikanische Historiker Jonathon Glassman zeigte, nutzten Ostafrikaner die Umgebung des Ngoma als Form subalternen Protests gegen die Kolonialmacht. An der Küste Tansanias wurden besonders im Kontext des sogenannten »Araberaufstands« solche Formen des Rituals genutzt um, mit Schusswaffen ausgerüstet, gegen Kolonialmacht und lokale Kollaborateure zu protestieren. Die Unruhen des Jahres 1895 standen immer wieder mit der Form des Ngoma als Ausdruck gewaltsamer Opposition im öffentlichen Raum in Verbindung¹³⁶³. Auch die Unruhen im Jahr 1905 griffen etablierte Formen der Kooperation zum gemeinsamen Gewalthandeln auf. Als Reaktion auf die Einführung der Hüttensteuer, die in jenem Jahr zur Kopfsteuer umgewandelt und erhöht wurde, formierte sich in der Kolonie Deutsch-Ostafrika eine großräumige Widerstandsbewegung. Im Vorjahr hatte die Kolonialregierung damit begonnen, die Entwaffnung 1360 Pesek: Koloniale Herrscha in Deutsch-Ostafrika, S. 190. 1361 Siehe Odongo/Webster: e Central Lwo During the Aconya, S. 391 sowie David Anderson: Stock e and Moral Economy in Colonial Kenya, in: Africa: Journal of the International African Institute 56.4 (1986), S. 399–416, hier S. 399, Lyatuu: Begebenheiten, die ich während meiner Kindheit erlebt habe, S. 57, Krause: Vierteljahresbericht für die Station Nkoaranga am Meru (April, Mai, Juni 1905), S. 102f. 1362 Anderson: Stock e and Moral Economy in Colonial Kenya, S. 399. Siehe auch: Richard Waller: Bad Boys in the Bush? Disciplining Murran in Colonial Maasailand, in: Andrew Burton; Helene Charton (Hrsg.): Generations Past: Youth in East African History, Athens, OH 2010, S. 135–174. 1363 Siehe Glassman: Feasts and riot, S. 161ff. Siehe auch: Gunderson: Expressive Bodies / Controlling Impulses: e Dance Between Official Culture and Musical Resistance in Colonial Western Tanganyika, S. 166.

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der Bewohner Deutsch-Ostafrikas durchzusetzen. Zusätzliche Ursachen für den auommenden Widerstand waren lokal unterschiedlich und vielfältig. Als Symbol und einendes Movens diente das sog. Maji-Maji, heiliges Wasser, das angeblich bewirken solle, dass die feindlichen Kugeln denjenigen nicht verletzen könnten, der dieses Wasser getrunken habe. Der Ritenexperte und Prophet Kinjiketele Ngwale hatte die Wirkung dieses Wassers propagiert und als Heilmittel gegen die Kolonialmacht angeboten. Selbst nach seiner Hinrichtung folgten viele seiner Prophezeihung und lehnten sich gegen die deutschen Kolonialbehörden auf. Die Bewegung stützte sich vor Allem auf traditionelle Autoritäten wie Ältestenräte, die durch den Einsatz ortsfremder Kollaborateure durch die Kolonialmacht in ihrem Einfluss eingeschränkt worden waren¹³⁶⁴. Auauend auf den Strukturen von Handel, kulturellem Austausch und extremer Gewalterfahrung hatten sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts Kommunikations- und Machtstrukturen herausgebildet, die von der informellen Herrscha des Sultans von Sansibar zur, zunächst nur punktuellen, Kolonialherrscha geführt hatten. Sie waren zwar geprägt von der Verflechtung mit Elementen dezentraler Institutionen, ostafrikanischer Kulturen und deren Praktiken, formten jedoch sukzessive einen Gegensatz zwischen Zentren und Peripherie aus, der sich mit dem Auommen der Kolonialherrscha verfestigte. Auf der Ebene der gesellschalichen Einbettung von Gewalt prägten sich Unterschiede aus: so entstand in kolonialen Zentren ein zentralstaatlich orientierter Überbau für die Gewaltnutzung, während in der Peripherie traditionelle Ordnungen weiterhin bestehen bleiben konnten.

1364 Vgl. Speitkamp: Deutsche Kolonialgeschichte, S. 128ff. sowie Wimmelbücker: Der Bericht des Mzee Bin Ramadhani über den Maji-Maji-Krieg im Bezirk Songea: Swahili-Text und zeitgenössische Deutsche Übersetzung mit einem einführenden Kommentar, S. 200.

6 Schlussbemerkungen

Gewalt war eng mit der etablierten Altersordnung dezentral organisierter Gesellschaen des 19. Jahrhunderts verbunden. Mit der Initiation fand eine Weitergabe von Regeln, Handlungsstrategien und Gewaltpraktiken statt, die in der anschließenden Lebensphase fortgeschrieben und ausgeübt wurden. Ehrkonzepte steuerten die Gewaltnutzung und banden sie an das kulturelle Paradigma des Respekts vor Älteren. Deren Anerkennung wurde für junge Männer zum sozialen Kapital, das durch erfolgreiches Agieren als Krieger verdient, in öffentlichen eatern der Aggressivität inszeniert und bestätigt wurde und sich in Form ehrenvoller Noms de Guerre und anderer Ehrenzeichen abbildete. Regeln und Konventionen stabilisierten das Gewalthandeln und stützten die gesellschaliche Ordnung. Der Bezugsrahmen dieses Handelns wurde von erfahrenen Mitgliedern der lokalen Gemeinscha erhalten, an neue Anforderungen angepasst und um neue Elemente ergänzt. Deren Vergangenheit als Krieger wurde gleichsam zur Basis der eigenen Autoritätsposition. Ehemalige Krieger planten und regulierten die Gewaltnutzung einzelner Gruppen und sorgten für die Rückbindung an die Herkunsgemeinscha. Auch für potenzielle innere Konflikte zwischen den Generationen gab es vorgesehene Räume in den etablierten Altersordnungen. In öffentlichen Zusammenkünen konnten Plätze innerhalb der Altershierarchien neu verhandelt werden. Solche Räume der kontrollierten Unsicherheit und Neuverhandlung sorgten für einen geregelten Generationenprozess innerhalb der lokalen Gemeinscha. Im regionalen Rahmen existierten akzeptierte Regeln, Streitkulturen und Strategien zur Schließung von Bündnissen, die das Bild einer verbreiteten Gewaltkultur dezentral organisierter Gemeinschaen Ostafrikas abrunden. Gewalt wurde dauerha trag- und verhandelbar, sowohl innerhalb lokaler Gemeinschaften als auch im Rahmen regionaler Streitkulturen. Blickt man auf den überregionalen Kontext, so bestimmten tiefgreifender Wandel und Adaption das 19. Jahrhundert Ostafrikas. Im Laufe dieser Zeit entfaltete eine Reihe von Transformationsprozessen ihre Wirkung auf afrikanische Großräume und durchdrang die ansässigen Gemeinschaen. Das Auommen überregionalen Handels, umfangreiche Migrationsbewegungen, Mission und europäische Forschungskarawanen waren für große Teile der afrikanischen Bevöl-

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Schlussbemerkungen

kerung völlig neuartige Phänomene. Die Erfahrung dieser Zeit war stark von Gewalt geprägt, die nach unterschiedlichen inneren Logiken ablief und verschiedene Trägergruppen hatte. Die Karawanen von Sklaven- und Elfenbeinhändlern nutzten Gewalt, um Gruppen von Sklaven auszuheben, Lebensmittel zu beschaffen und die Handelswege zu sichern. Auommende mobile Kriegergruppen, die sich aus Entwurzelten, geflohenen Sklaven und anderen Mitgliedern der mobilen Kultur des Karawanenhandels rekrutierten, überfielen Karawanen und Dörfer, ließen sich als bewaffnete Eskorte von Karawanen oder als söldnerähnliche Truppen von den Oberhäuptern einzelner Dörfer anwerben oder gründeten ihrerseits eigene Siedlungen in der Nähe frequentierter Handelswege. Diese als Ruga-Ruga bekannten Gruppen hatten sich von ihren Herkunsgemeinschaen gelöst und verbanden tradierte Elemente ostafrikanischer Gewaltkulturen mit neuen Elementen wie Schusswaffen. Sie entwickelten eigene Taktiken zur Erzeugung von Schockeffekten, inszenierten Aggressivität und Brutalität mit Hilfe neuer oder abgewandelter Techniken, nutzten extreme Praktiken wie das Brandschatzen und wurden so zu Akteuren, die ihren Lebensunterhalt als Experten der Gewalt bestritten. Die ansässige Bevölkerung reagierte auf verschiedenen Ebenen. Einerseits wurden Dörfer befestigt, andererseits legte man zusätzliche, versteckte Ackerflächen an und hielt das Vieh mobil, um es bei Gefahr rechtzeitig verstecken zu können. Die Oberhäupter einzelner Siedlungen dachten über die Abschaffung der Viehhaltung nach, um kein Ziel mehr für Viehraub zu bieten. Da durch den expandierenden Sklaven- und Elfenbeinhandel ebenfalls Menschen in größerem Maße Ziel von Raids wurden, schuf man auch für die Bevölkerung selbst Rückzugsräume und Verstecke, baute Fallen auf und richtete Wachtposten ein. Die gesellschaliche Organisation stellte sich ebenfalls um: Eine dauerhae Gewalterfahrung sorgte für die Entstehung einer neuen Gewaltelite, die sich mit Schusswaffen ausrüstete und die Praktiken mobiler Kriegergruppen in ihr eigenes Gewalthandeln integrierte. Durch die Nutzung neuer Technologien wie Feuerwaffen und die Ausübung intensiver Gewalt konnte diese Elite Sklaven und Elfenbein erbeuten, Luxusgüter erwerben bzw. sich als Elitekrieger oder Karawaneneskorte anwerben lassen. Solche Gewaltexperten mit moderner Ausrüstung adaptierten tradiertes Wissen über die Gewaltausübung und intensivierten es durch Intergration neuer Technik und veränderter Taktik. Ihr Erfolg im Sklaven- und Elfenbeinhandel und ihr Wirken als mobile Kriegergruppen, die Zölle erpressten und Karawanen überfielen, verschae materielle Vorteile und konnte besonders für junge Männer zur einträglichen Lebensweise werden. Durch ihren kulturellen Bezug zur SwahiliKultur der Küste setzten sie sich von der ansässigen Bevölkerung ab. Der Kontakt zwischen verschiedenen Gruppen wurde immer mehr von der Gewalt als ständig präsenter Möglichkeit des Handelns geprägt. Begegnungen im Rahmen von Handelskontakten waren von Gewalt überschattet, Karawanen trafen auf misstrauische Mitglieder der ansässigen Bevölkerung, deren Siedlungen

Schlussbemerkungen

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im Zuge gesteigerter Gewalterfahrungen befestigt worden waren. Eine umfassende Militarisierung erfasste auch die internen Strukturen dezentraler Gemeinschaen Ostafrikas. Die soziale Institution der Altersordnung wandelte sich im Zuge dauerhaer Gewaltdynamiken. Waren es traditionell regional bekannte Älteste, die mit fremden Gruppen in Kontakt traten und in Fällen von Gewalt vermittelten, spielten nun die lokalen Kriegergruppen selbst eine zentrale Rolle im Kontakt zu Karawanen. Sie wurden Teil eines Bedrohungsszenarios, das von Forderungen nach Wegzoll (Hongo) geprägt war. Das Auommen dieser Zahlungen konnte zu internen Verteilungsstreitigkeiten und Konflikten zwischen den Generationen führen. Für junge Männer boten sich zudem als Anführer von Kriegergruppen neue Handlungspotenziale. Erfolgreiche Krieger konnten viele Menschen an sich binden und sich an die Spitze neuer sozialer Formationen stellen, etablierte Altershierarchien umgehen oder innerhalb dieser Ordnungen agieren und in Autoritätspositionen vordringen, die traditionell Älteren vorbehalten gewesen wären. Die Auswirkungen hoher Mortalitätsraten durch Viehseuchen, Migration, Hungersnöte und Gewalt lassen auf eine Verjüngung der Bevölkerung schließen; zudem konnten junge Männer die Möglichkeiten der Mobilität nutzen, um ihre Position gegenüber der älteren Generation zu stärken: Die Teilnahme am Handel und der Einsatz von Gewalt ermöglichte eine größere wirtschaliche Unabhängigkeit. Das konnte zur Verdrängung von Personen aus höheren Segmenten der Altersorganisation führen, bedeutete jedoch nicht notwendigerweise ein Erodieren der sozialen Institutionen selbst. Die ostafrikanische Händlerelite stand für eine expandierende Kultur der Küste, die sich stark von den Kulturen des Hinterlands distanzierte. Das hatte auch Konsequenzen für Generationenbeziehungen: So konnte die Einbindung in Handelsnetzwerke zur Dissoziation junger Männer mit ihren Herkunsgemeinschaen führen und die dauerhae Herauslösung von Personen fördern, die den Habitus, die Kleidung und den Lebensstil der Swahili-Küste annahmen. Die Einhaltung tradierter Regeln und Grenzen des Gewaltgebrauchs dezentraler Gesellschaen brachen im Kontakt mit der Gewalt von Sklavenjägern und mobilen Kriegergruppen zusammen oder verloren an Bedeutung. Im Einflussbereich der dynamischen Interaktionszonen ostafrikanischer Handelsnetzwerke wurde Gewalt aus ihrem intergenerationellen Zusammenhang gerissen, mithin weniger reguliert und in den neuen Kontext kommerzieller Strukturen eingebunden. Dabei verschoben sich Loyalitäten und etablierte Bindungen zwischen den Generationen. Mobile Kriegergruppen und Karawanen knüpen an lokale und regionale Gefüge von Bündnissen und Streitkulturen an, ihre Gewaltnutzung ignorierte jedoch bestehende Begrenzungen und Regelungen, wodurch eine Dynamik in Gang gesetzt wurde, die aus der Sicht der Bevölkerung eine weitere Eskalationsstufe dauerhaer Gewalterfahrung darstellte. Mit dem Aureten von Kolonialarmeen ver-

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stärkte sich diese brachiale Dynamik extremer Gewalt erneut: Bestehende Gewalteliten wurden entweder in koloniale Verbände integriert, zerschlagen oder gewaltsam verfolgt. Die am zentralstaatlichen Gewaltmonopol orientierte Logik der kolonialen Herrscha sah intermediäre Kräe vor, die sich o aus dem Kreis der neuen Gewalteliten rekrutierten. Deren Selbstinszenierung als mächtige Kriegerfürsten wurde von Kolonialherren nur selten hinterfragt und erschien als nützlicher Anknüpfungspunkt für den neuen administrativen Überbau. In dieser intermediären Machtsphäre agierten nun Gewaltexperten, die außerhalb des Aufmerksamkeitsbereichs der Kolonialadministration eigene Ziele verfolgten und dabei nicht selten zu extremer Gewalt griffen, die sie, nun ausgerüstet mit modernster europäischer Waffentechnik und nach militärischer Ausbildung, noch effektiver nutzen konnten. Das führte zu einer weiteren Entfremdung von der restlichen Bevölkerung, in deren kollektiver Erinnerung sich das Wirken jener Gruppen als extreme Gewalterfahrung wiederfindet. Tradierte Ordnungen blieben in ihrer Adaptivität dennoch bestehen: Entweder wurden sie von Mitgliedern neuer Gewalteliten selbst genutzt und auf deren Bedürfnisse angepasst, oder die Mitglieder traditioneller Ältestenräte versuchten, ihren Einfluss zurückzugewinnen oder sich mit den neuen Eliten zu arrangieren. Mit der Präsenz überregionaler Handelseliten und mobiler Kriegergruppen hatte sich eine Überlagerung verschiedener Gewaltkulturen im ostafrikanischen Raum etabliert, die durch den Ausbau kolonialstaatlicher Strukturen verfestigt wurde. In kolonialen Zentren und um Missionsstationen sollte Gewalt nach europäisch zentralstaatlich organisierten Prinzipien gelehrt und organisiert werden, während abseits eine Gewaltnutzung nach den Prinzipien dezentraler Gesellschaen fortbestand. Diese Polarität blieb bestehen, mit all ihren Zwischenformen und Spannungsfeldern. Unsicherheit begünstigte gesellschaliche Veränderung: Etablierte und tradierte Arten, mit Gewalt umzugehen, brachen zusammen, gesellschaliche Rollen und Positionen veränderten sich vor dem Hintergrund einer gesteigerten Gewalterfahrung. In einem Klima der Unsicherheit, das sich während der zweiten Häle des 19. Jahrhunderts in Ostafrika verbreitete, entfalteten veränderte Gewaltpraktiken Zentrifugalkräe, welche die soziopolitischen Strukturen Ostafrikas ebenso veränderten wie die Arten des Wirtschaens: Gewalt rückte für Viele ins Zentrum der eigenen Lebensweise, wurde zum Geschä und zur Basis neuer sozialer Formationen. Zur Mobilisierung der Gewaltakteure traten mit den Vertretern kolonialer Kräe neue Gewaltakteure, deren zentralstaatlich geprägtes Verständnis eine neue Facette der überregionalen Perspektive wurde. Europäisch geprägte Herrschasstrukturen, die festgefügte Ordnungen mit entsprechenden Ämtern als Verwaltungs- und Exekutivorgane vorsahen, trafen auf dynamisch angelegte Kulturen des ostafrikanischen Hinterlandes. Die neuen Gewalteliten des 19. Jahrhunderts boten Anknüpfungspunkte für koloniale Herrscha, indem sich

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die Protagonisten als mächtige Herrscher inszenierten und sich somit vermeintlich als Inhaber einer Gelenkfunktion für koloniale Machtstrukturen eigneten. Sie operierten in einer intermediären Machtsphäre zwischen lokalen Autoritäten und zentralistischem Kolonialstaat und wurden entweder zum teils autonom handelnden Organ kolonialherrschalicher Macht oder zum Ziel gewalthaer Interventionen, falls sie ihre Kooperation verweigerten oder sich der kolonialen Ordnung widersetzten. Die Offenheit blieb: Einerseits trafen neue Eliten auf die Beharrungskräe traditioneller Autoritätsbeziehungen und Konventionen der Gewaltnutzung sowie auf die Persistenz entsprechender sozialer Institutionen wie Altershierarchien, während der Kolonialstaat gleichzeitig eine nur latent präsente Zentralgewalt blieb. Andererseits konnten traditionelle Autoritäten sich nicht vollständig durchsetzen und mussten sich dauerha mit der neuen Situation arrangieren. Das führte zu einer Verfestigung der Gegensätzlichkeiten von kolonialem Zentrum und Peripherie, deren Ambiguitäten und Ungleichzeitigkeiten die ostafrikanische Geschichte auch weiterhin prägten. Die vorliegende Studie sollte erstens analysieren, wie ostafrikanische Gesellschaen dauerha mit Gewalt umgingen. Zweitens sollte geklärt werden, wie die Gewalt in den Generationenprozess eingebunden war. Vor dem Hintergrund zahlreicher externer Einflüsse sollte, drittens, die Frage nach Aneignung, Abgrenzung und Wandel beantwortet werden, indem die Gewalthaigkeit dieser Phänomene in den Blick genommen wird. Daraus ergibt sich, viertens, die Frage nach dem Stabilisierungs- und Transformationspotenzial der Gewalt. Aus dem verfügbaren Quellenmaterial lassen sich, wenn auch schemenha, etablierte Regeln und Konventionen der Gewaltnutzung rekonstruieren, welche in dezentral organisierten Gesellschaen verbreitet waren. So kann die Vorstellung endemischer, unregulierter Konflikte innerhalb nichtstaatlicher Gesellschaften für das 19. Jahrhundert Ostafrikas widerlegt werden. Gewalt war stattdessen von Regeln überformt, verhandelbar und in soziale, wirtschaliche sowie kulturelle Kontexte eingepasst. Das Erlernen von Gewalthandlungen, das Einüben konkreter Praktiken, der gezielte und organisierte Umgang mit Gewalt und deren Begrenzung waren eng mit dem Generationenprozess verbunden. So gab es kulturell überformte Lebensphasen, in denen junge Männer, gesteuert von Ehrkonzepten, als legitime Träger der Gewaltpraxis auraten und bekannte, erfahrene Älteste, die aus ihrer Autoritätsposition für die Begrenzung der Gewalt, die Einhaltung der tradierten Regeln und die Integration von neuen Elementen und Innovationen sorgten. Gewalt wurde in saisonale Zusammenhänge eingebunden und mittels habituell genutzter Wege, Netzwerke und Streitkulturen kanalisiert. Der expandierende transregionale Handel sorgte für einen Begegnungsraum der Gewaltkulturen, der von dauerhaen, extremen Gewalterfahrungen und gegenseitigen Adaptionsprozessen in der Gewaltausübung geprägt war. Das desta-

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Schlussbemerkungen

bilisierte tradierte Einhegungsmechanismen und formte ostafrikanische Gemeinschaen um: Die sozialen Auswirkungen der veränderten Gewalt schlugen sich in neuen Formationen nieder und transformierten bestehende Ordnungen. Besonders die Verhältnisse zwischen den Generationen waren davon betroffen. Junge Männer konnten etablierte Autoritätsverhältnisse umgehen und abseits traditioneller Aufgabenfelder neue Handlungspotenziale erschließen. Durch die Anbindung an neue Handelsnetzwerke und auommende Kolonialmächte konnten sie eigene Macht- und Einflussbereiche gründen. Auf Dauer zeigten sich sowohl die transformatorischen Potenziale der Gewalt als auch die Beharrungskräfte tradierter Gewaltkulturen über eine longue durée: Einerseit stabilisierten sich neue überregionale Strukturen und Zentren, die auf den Handelsnetzwerken und -stützpunkten des 19. Jahrhunderts basierten und zu kolonialen Zentren wurden. Andererseits brachen soziale Formationen um neue Gewalteliten zusammen oder gingen in den adaptiven dezentralen Ordnungen Ostafrikas auf. Ein zentralstaatlich orientiertes Gewaltverständnis setzte sich indes auf Dauer nicht durch. Saisonale Raids blieben ein weit verbreitetes Phänomen, während koloniale Armeen und Polizeikräe nicht flächendeckend ausgebaut wurden. Es ist zu vermuten, dass diese strukturellen Unterschiede im Gewaltverständnis auf Dauer fortbestanden. Als weiteres Ergebnis dieser Studie bietet sich eine differenziertere Sicht auf den auommenden Kolonialismus in Ostafrika. Die langfristige Konfrontation mit Bewegung, Beschleunigung und tiefgreifenden Veränderungen ging einher mit einer extremen Gewalterfahrung, die nicht erst mit der kolonialen Landnahme in das Bewusstsein der Bevölkerung trat. Bereits die Ausweitung der Handelsnetzwerke im Hinterland der Küstenregionen war mit exzessiven Gewalterfahrungen verbunden. Während der dauerhae Umgang mit Gewalt in dezentral organisierten Gesellschaen Ostafrikas durch soziale Institutionen wie Alters- und Generationenordnungen eingehegt und in regulierte Bahnen gelenkt wurde, ergaben die Veränderungen des 19. Jahrhunderts ein Bild von Umwälzung und Eskalation. Etablierte Regeln gerieten in Vergessenheit oder wurden missachtet, präexistente Kooperationsformen und Bündnisse verloren an Dauerhaigkeit und Wirkung. In einer fluiden Umgebung wie der dezentral organisierten Gesellschasform Ostafrikas, ohne kodifiziertes Recht und festgefügte Amtsstrukturen, war man auf das Wirken von Vermittlern und Schiedsrichtern angewiesen, die der Gewalt mit Hilfe von mündlich weitergegebenem Wissen und rituell fortgeführten Rollenmustern ein Korrektiv entgegensetzten. Verbreitete Vorstellungen von Afrika als Kontinent exzessiver, unregulierter und allgegenwärtiger Gewalt können somit auch für das 19. Jahrhundert widerlegt werden. Dennoch spielte die über Jahrzehnte andauernde Erfahrung von wiederkehrender und extremer Gewalt eine wesentliche Rolle. Verschiebungen traditioneller Autoritätsbeziehungen zwischen den Generationen zugunsten junger Män-

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ner, die mit Hilfe einer Kombination von tradiertem Wissen über Gewaltnutzung, westlicher Waffentechnik und dem kulturellen Einfluss der Küstenregionen nun mehr Macht bekamen, minderten die Einflussmöglichkeiten traditioneller Ältestenräte. Dabei nutzten sie neue Möglichkeiten der Gewaltnutzung für ihre eigenen Zwecke und sind somit auch vor dem Hintergrund des auommenden Kolonialismus als selbstbestimmt handelnde Akteure erkennbar. Trotz der von Neuorientierung und Umwälzung geprägten Umgebung blieben etablierte Strukturen o erhalten und wurden lediglich in einigen Facetten an die neue Situation angepasst. Bezogen auf den auommenden Kolonialismus muss daher die Vorstellung einer plötzlich hereinbrechenden, massiven exogenen Macht revidiert werden, welche bestehende Verhältnisse schlagartig veränderte. Vielmehr ergibt sich das Bild einer Dynamisierung historisch bereits angelegter Wandlungsprozesse, in deren Kontext die koloniale Landnahme lediglich als weitere, gleichsam besonders brachiale Facette einer dauerha von Phasen exzessiver Gewalt geprägten Umgebung angesehen werden kann.

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7.2.1 Bildnachweise

– Abbildung 1.1: Ostafrika im 19. Jh.: Public Domain, Kartenhintergrund von Tom Patterson (www.shadedrelief.com). – Abbildung 2.1: Karawanenrouten in Ostafrika: Public Domain, Kartenhintergrund von Tom Patterson (www.shadedrelief.com). – Abbildung 2.2: Kartenausschnitt aus: »Verbreitung der Menschenrassen« Ostafrikas. Aus: Karl Weule: Leitfaden der Völkerkunde, Leipzig et.al. 1912. – Abbildung 5.1: Ngoma in Speke: Journal of the Discovery of the Source of the Nile, S. 139. – Abbildung 5.2: Befestigter Dorfeingang. Aus: J. A. Meldon: e Latuka, in: Journal of the African Society 9.35 (Apr. 1910), S. 270–274.