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German Pages 414 Year 2016
Tania Meyer Gegenstimmbildung
Theater | Band 87
Tania Meyer (Dr. phil.) ist Kulturwissenschaftlerin und lehrt Ästhetische Bildung mit Schwerpunkt Performative Verfahren an der Universität Potsdam. Sie promovierte im Kolleg Kulturwissenschaftliche Geschlechterstudien der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und ist Gründungsmitglied des Berliner Arbeitskreises Kritische Theaterpädagogik. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Theorien und Praxen politischer Theaterarbeit sowie Theater in der Migrationsgesellschaft.
Tania Meyer
Gegenstimmbildung Strategien rassismuskritischer Theaterarbeit
Das vorliegende Buch basiert auf meiner Dissertation »Gegenstimmbildung. Aufklärungskonstruktionen in interkulturellen theaterpädagogischen Projekten gegen Kulturellen Rassismus« im Kolleg Kulturwissenschaftliche Geschlechterstudien an der Universität Oldenburg.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Einleitung | 9
„Es funktioniert!“ – oder nicht? | 9 Herausforderung | 14 Aufbau | 22 Dank | 29
STANDORTE Diskurse des Interkulturellen | 33
Theaterpädagogik interkulturell: Grundkonzeptionen | 37 Ästhetik der Differenz | 44 Kritik der Aneignungsästhetik | 52 Differenz und Fremdheit in der Theaterpädagogik | 62 Ambivalenz der Präsenz auf der Bühne | 67 Kritik der Differenz | 73
Rassismus | 74 Verfügungen über Aufklärung | 89 Perspektiven | 107
Performativität der Sprache | 108 Repräsentation und Repräsentationssysteme | 113 Subjektbildung als Subjektivierung | 118 Umkämpfbarkeit von Sprache | 121 Beherzte Neuschreibung | 126 Vor-stellen als Zu-sehen-Geben | 131
GEGEN -ERZÄHLUNGEN B EISPIEL : A MO –
EINE DRAMATISCHE
S PURENSUCHE
Re-Signifizieren | 137
Theatrale Lückenüberschreibung | 138 Prolog des Prologs: Rollenfindung | 143 Inszenierung von Differenz – Universität und Theater | 162 Einsprüche | 174 Weiße Abwehrstrategien | 178
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Re-Konstruieren | 183
Gegen Entinnerungen | 183 Entlastung der Aufklärung | 189 Einsprengsel | 198 Utopische Leerstelle | 202 Re-Vidieren | 209
‚Der Mensch‘: Subjekt und Objekt der Aufklärung | 209 Exotenrolle im Goldenen Käfig | 215 Sehen Schreiben Besitzen: Exkurs zur kolonialen Trennung von Subjekt und Objekt | 219 Neuordnung des Schweigens | 229
GEGEN -BILDER B EISPIEL : B OMBENWETTER . D AS K OPFTUCH
HÄLT
Re-Orientieren | 241
Eigene Zugänge – Zugänge zum ‚Eigenen‘ | 242 Politiken des Nahe-Liegenden | 247 Erwartungen an Lessing | 251 „Nathan – da werden Sie geholfen“ | 259 Störungen im Betriebsablauf | 266 Re-Polemisieren | 271
Lessing, der Dissident | 273 Dissidente Aneignung des Fragmentenstreits | 277 Harmonie durch Autorität: Exkurs in das Drama der Aufklärung | 284 Aneignende Frontstellungen | 290 Fragmente (einer Sprache) der kulturkriegerischen Hysterie | 294 Re-Arrangieren | 315
An/Ordnungen | 316 Ambivalente Gemeinschaftsbildungen | 322 Die Wir-Maschine | 326 Plakate des Konfrontativen | 334
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GEGENSTIMMBILDUNG Strategien | 345 ( Selbst-)kritisch reflektieren | 345
Historisieren | 349 Bilden | 358 Politisieren | 361 Anerkennen | 367 Literatur | 379
A NMERKUNG ZU S CHREIBWEISEN In dieser Studie geht es in mehrfacher Hinsicht um Ansprachen, Benennungen und Bezeichnungen, die, wie ich erklären werde, in ihrer Wiederholung das Bezeichnete herstellen. Um dies zu beschreiben, bleiben die Wiederholungen nicht aus. Zur Markierung, aber auch zur unterbrechenden Irritation werden in diesem Text daher solche Begriffe und Bezeichnungen in einer Schreibweise formuliert, die sich bewusst von den Konventionen absetzt. Dies betrifft zuallererst den Begriff „Rasse“, den ich mit doppelten Anführungsstrichen gewissermaßen als Zitat aus einem historischen Begriffsfundus verwende, da er zwar überholt ist, sich jedoch als überaus zählebig erweist. Die Differenzkategorie ist dabei nicht nur als eine biologistische Konstruktion kenntlich gemacht. Darüber hinaus soll die Schreibweise verdeutlichen, dass dieses Konstrukt zwar auf keinen konkreten Referenten verweisen kann, dennoch an Wirkmächtigkeit nicht nachlässt: Race does not exist. But it does kill people, wie Collette Guillaumin erklärt. ‚Kultur‘ oder ‚Aufklärung‘ werden als Unterscheidungskategorien in einfachen Anführungsstrichen geschrieben, um ihren Konstruktionscharakter zu markieren. Zur Destabilisierung der Vorstellung eindeutiger Geschlechtlichkeit und Geschlechtszuweisungen dient der Unterstrich der Markierung eines geschlechtlichen Kontinuums, das mehr das Zwischen als die binäre Abgrenzung betont. Schwarz und weiß sind keine Hautfarben, sondern Positionierungen in einem relationalen Gefüge einer rassistisch strukturierten Gesellschaftsordnung, in der Weiße das Privilegium genießen, in einer unmarkierten ‚Norm‘ zu verschwinden, während people of color als denormalisiert angerufen werden. Zur Betonung des „Schwarzen Widerstandpotentials, das von Schwarzen und People of Color dieser Kategorie eingeschrieben worden ist“ (Eggers u.a. 2005: 13) wird die Schreibweise dieser Relationierungsbegriffe unterschieden in Groß- und markierter Kleinschreibung. Zu allen weiteren rassifizierenden Begriffen möchte ich auf das kritische Nachschlagewerk Afrika und die deutsche Sprache von Susan Arndt und Antje Hornscheidt (2004) verweisen.
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Einleitung
„E S
FUNKTIONIERT !“
–
ODER NICHT ?
Ein traumhafter Anblick: Ferit steht auf der Bühne und spielt voller Leidenschaft den Karl Moor. In weichem, leicht blauem Licht schwört er der Räuberbande, die ihn eben zum Hauptmann gewählt hat, Treue und Standhaftigkeit: „Mein Geist dürstet nach Taten, mein Atem nach Freiheit“, ruft er. „Ich habe keinen Vater mehr, ich habe keine Liebe mehr!“. Ferit spielt, und er spielt gut, so gut, dass die Herzen der Zuschauenden, allen voran das der Lehrerin, aufgehen: Frau Kelich steht vor ihm und ist fasziniert. „Es funktioniert. Ja. Es funktioniert“, spricht sie in die Stille – Schiller hatte Recht: Das Spiel, insbesondere das Theaterspiel, erzieht zu besseren Menschen, oder besser: macht sogar aus diesen Rotzlöffeln Menschen. Ferit geht in seiner Rolle vollends auf. Plötzlich spricht er seinen Text frei, sogar akzent-frei und in fließendem, fehlerfreiem Deutsch. Mit Friedrich Schiller, dessen Namen richtig auszusprechen Ferit erst wenige Momente zuvor noch unter äußerstem Zwang zu üben hatte, mit den Ideen dieses deutschen Aufklärungsdichters – so zeigt uns diese Szene auf der Bühne – werden sogar die gröbsten Rüpelschüler zu Menschen: Nur da, wo der Mensch spielt, ist er richtig Mensch – das beweist Ferit jetzt nicht nur seiner Lehrerin auf der Bühne, sondern auch dem Publikum, das den Glauben an die „Versprechungen des Ästhetischen“ (Ehrenspeck) mit Ferits Lehrerin teilt und teilen möchte. Denn was hier in Verrücktes Blut von Nurkan Erpulat und Jens Hilje auf der Bühne am Ballhaus Naunynstraße inszeniert wird, ist nicht nur der Traum vieler Theaterpädagog_innen, die mit dem Glauben an die ästhetische Bildung ihren Lebensunterhalt verdienen, sondern es ist der bildungsbürgerliche Traum schlechthin, mit dem sich ein großer Teil jenes Publikums identifiziert, das die Szene hier mit Spannung verfolgt. An dieser Stelle wird es für seinen guten Glauben mit der Bestätigung dessen belohnt, was es eigentlich immer schon wusste: Dass Theater und kulturelle Bildung ein hohes Maß an Integrationspo-
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tenzial bereithalten, um jungen Menschen dazu zu verhelfen, die Werte einer modernen Gesellschaft wie der deutschen anzuerkennen und anzunehmen. Nicht genug also, daß alle Aufklärung des Verstandes nur insoferne Achtung verdient, als sie auf den Charakter zurückfließt; sie geht auch gewissermaßen von dem Charakter aus, weil der Weg zu dem Kopf durch das Herz muß geöffnet werden. Ausbildung des Empfindungsvermögens ist also das dringendere Bedürfniß der Zeit, nicht bloß weil sie ein Mittel wird, die verbesserte Einsicht für das Leben wirksam zu machen, sondern selbst darum, weil sie zu Verbesserung der Einsicht erweckt. (Schiller 2006: 33)
So Schillers Worte von 1793. Sonia Kelich, die Deutsch- und Theaterlehrerin, die sich mit dem hoffnungslosen Unterfangen in ihre Klasse begeben hat, ihren Zöglingen über das Spiel von Schillers Räubern zu Ästhetischer Erziehung zu verhelfen, zeigt heute auf der Bühne, was alles möglich ist. Doch gerade als sie ansetzt zu erklären, was Karl Moor nun mit der Lebensrealität ihrer (Migranten-) Schüler_innen zu tun zu haben scheint („ohne Vater und ohne Liebe – das seid IHR! Und jetzt könnt Ihr es endlich einmal aussprechen.“), klingelt ein Handy, das den Traum zerplatzen lässt wie eine Seifenblase und den Zustand der (Bühnen-)Realität wieder ins Gedächtnis ruft: Da liegen sechs andere Jugendliche mit Händen hinter dem Kopf bäuchlings auf dem Boden und starren mit Horror und Angst auf Frau Kelich. Mit einer Knarre in der Hand hält sie die Erfüllung ihrer Träume – und ihres Erziehungsauftrags – unter Kontrolle. Verrücktes Blut ist in einer kaum überschaubaren Anzahl von Kritiken als „Hit der Saison“ 2010/11 (Wolfgang Höbel, Spiegel) hinlänglich beschrieben und bejubelt worden: als „Stück der Stunde: ein Spiel, das mit sozialem Sprengstoff jongliert und dabei sein Vorbild, den Film ‚La Journée de la Jupe‘ von Jean-Paul Lilienfeld, […] weit hinter sich lässt“, wie Andreas Rossmann (FAZ) konstatiert, und das in seiner Gesellschaftsrelevanz „einen Nerv trifft“ (ebd.). Die Frage ist jedoch: Welchen Nerv trifft das Stück eigentlich genau? Rossmann – und andere Kritiker_innen – erkennen in dem Rückgriff auf Schiller einen „Aufklärungscrashkurs“, in dem die Schüler_innen in einer „gewaltsamen Konfrontation mit den Texten“ begreifen, wie viel Schiller ‚sie angeht‘, weil „Blutrache, Vaterliebe, Treue, Verrat ihre Themen“ seien und sie sich schließlich in „wundersame[r] Läuterung“ „von den falschen Autoritäten [und] Lebenslügen“ befreien ließen. „Heilsamer Idealismus“ (ebd.)? Schillers Idealismus ganz anders zu verstehen als das Personal auf der Bühne, meint dagegen Sarah Heppekausen (Nachtkritik) für die Zuschauer_innen, „die, die Schillers [Texte] lesen können“. Sarah Heppekausen bemerkt jedoch als eine von wenigen, dass das Spiel auf der Bühne sein Ende darin findet, dass das Publikum
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symbolisch erschossen und ihm zum Abschied ein Schlaflied gesungen wird. Vermutlich geht es wohl doch um etwas anderes als um die selbstbestätigende Erzählung einer Aufklärungsgesellschaft, die den Migrantenkindern dazu verhilft, Menschen – statt Affen – zu werden: „Wer soll Euch denn glauben, dass Ihr keine Affen seid, wenn Ihr nicht mal dieses schöne deutsche Wort Vernunft aussprechen könnt: Vernunft.“, spricht Frau Kelich ihnen, die Waffe in der Hand, mit rührendem Engagement vor (Erpulat/Hilje 2010: 52). Fast liebevoll betont sie dabei das n – Vernunft: „Nun spricht aber die Vernunft: das Schöne soll nicht bloßes Leben und nicht bloße Gestalt, sondern lebende Gestalt sein,“ zitiert sie. Vor ihr steht Ferit, zitternd bemüht, der Aussprache der Vernunft und dem Aufklärungsdiktat seiner Lehrerin Folge zu leisten. Noch einmal von vorn: Worum ging es? Dezidiert geht es an dem Theaterabend, wie mit wenigen Sätzen dem Stücktext vorangestellt wurde, um viele Dinge gerade nicht: In dem Stück geht es nicht um die Schüler. In dem Stück geht es nicht um die Lehrer. In dem Stück geht es nicht um Schule In dem Stück geht es um den Blick darauf, es geht um das Publikum. (Erpulat/Hilje 2010: 49)
Der Theaterabend beginnt mit dem Eintritt in den Zuschauersaal. Im hell erleuchteten Bühnenraum hängt schräg – wie ein Damoklesschwert – über einer leicht erhöhten spiegelartigen Fläche, als Sinnbild bildungsbürgerlichen Kulturgutes: ein Flügel mit offener Tastatur. Hinter dem Bühnenpodest halten sich die Schauspieler_innen auf, die ihre Vorstellung mit einer offenen Kostümankleidung vorbereiten. In Kapuzenshirts und Schlabberhosen stellen sich sieben von ihnen am vorderen Bühnenrand auf. Sie beginnen in einer „chorischen Sequenz“ klischeehafte „Ghetto-Pose[n]“ einzunehmen und zitieren dazu „mediale[] Repräsentationen von jugendlichen ‚Migrationsanderen‘ aus sogenannten ‚Problemvierteln‘ wie Neukölln“ (Blum 2011: 25). Die demonstrative Herstellung und konfrontative Vorführung dieser Posen als Stereotypen ist hier ebenso (Brecht’sche) Strategie wie der offene Umzug und die wiederholten Spielunterbrechungen im späteren Verlauf des Stücks, bei denen die Spieler_innen sich jeweils unter den Flügel stellen und romantisches Volkliedgut vortragen.1
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Zur Analyse der Stereotypenzitate aus orientalismuskritischer Perspektive führt Thomas Blum die klischeehaften Haltungen und Gesten auf verschiedene Orientdis-
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Mit einem Stapel Reclam-Hefte kommt die Lehrerin Sonia Kelich in ein bereits total chaotisches Klassenzimmer. Dem Geschrei und Gerangel zum Trotz gilt ihr Engagement – zum Wohle ihrer Schüler_innen – der Vermittlung deutschen Bildungsgutes (Schillers Räuber, Kabale und Liebe, die deutsche Aussprache und nicht zuletzt die Werte einer aufgeklärten Zivilisation), und zwar aus der selbstgewissen Perspektive derjenigen, die weiß, was es heißt ‚ganz Mensch‘ zu sein. Doch, wie zu erwarten, sind die Gören weit davon entfernt, sich von Frau Kelich überhaupt zu etwas bewegen zu lassen, sodass das Vorhaben zu scheitern droht. Dass es dennoch gelingt, verdankt Frau Kelich dem Einsatz einer Pistole, die einem der besonders aufsässigen Schüler in einem Handgemenge aus der Tasche gefallen ist, und die sie – zunehmend sicher – einsetzt, um ihre Schüler_innen in den Genuss ästhetischer Erfahrung und Aufklärung zu zwingen. In genau diesem Widerspruch besteht der systematische Witz des Stücks, der den rassistischen Paternalismus in absurder Zuspitzung zur Artikulation kommen lässt. Vorgestellt wird der Einsatz von Aufklärung als materielle wie auch als ideologische Waffe zur Degradierung. Denn Frau Kelich schickt ihre Eleven durch alle Instanzen der ‚Zivilisierung‘ und lässt dabei kaum eine diskriminierende Anrufung aus. Das Stück strotzt vor Rassismen, die die junge engagierte Lehrerin von sich gibt, um die Schüler_innen dahin zu bekommen, wo sie sich in den Augen der Dominanzgesellschaft hinbewegen sollten. Verrücktes Blut konstruiert Aufklärung als eine Art ‚Besitz‘ in der Verfügungsgewalt einer staatstragenden weißen Bildungsschicht, die diese als Waffe oder Bedrohungsinstrument zur Angleichung des Anderen, zur ‚Integrationsbefähigung‘, einsetzt. Auf höchst subtile Weise und vor allem mit sarkastischem Witz wird hier die (erzwungene) Anpassung an eine hegemonial definierte Aufklärung als Dressur in Szene gesetzt: „richtiges Sprechen“ (Aussprache), „freies Spiel zur Menschwerdung“ (Schiller), Fähigkeit zum rechtstaatlich-demokratischen Urteilsvermögen und Emanzipation der Frau (ohne Kopftuch). Aufklärung wird in diesem Spiel zur Bedingung von Überleben. Erpulat und Hiljes Erfolgsstück positioniert sich gegen das dichotom strukturierte Repräsentationsregime der Opposition von Eigenem und Anderem, wie es
kurse zurück (Blum 2011: 19–22; 25–31). Neben dem ausgestellten Zitat beschreibt er auch die Aneignung von deutschem Volksliedgut als ästhetische Strategie zur Destabilisierung von fixierten Identitätskonstruktionen. Aus postmigrantischer Perspektive geht Azadeh Sharifi (2011) auf die Aufklärungsbezüge ein. Hanna Voss (2014) unterscheidet intellektuelle und performative Strategien theatraler Reflexion und beschreibt Verrücktes Blut als performativ reflektierend.
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in den aktuellen Debatten zu Themen um Zuwanderung und Migration dominant und als Blick auf Migrant_innen in der Gesellschaft fest verankert ist. Deswegen geht es „um den Blick darauf“ und „um das Publikum“ (Erpulat/Hilje 2010: 49). Die im Stück zugespitzten Zuweisungen von Modernität und Vormodernität machen Aufklärung im wörtlichen Sinn exklusiv: zu einem Instrument des Ausschlusses. Zugleich stellt Verrücktes Blut die ‚Waffe Aufklärung‘ aber als mobil vor, die angeeignet, in ihrer funktionalen Ausrichtung verschoben und gegen das bildungsbürgerlich angenommene Publikum gerichtet werden kann. Doch hintergeht die Produktion ihr Publikum auf geradezu perfide Weise – so, dass es kaum merkt, wer wen wie und warum in die (Aus-)Bildung schickt. Dass es selbst Adressat der Belehrung ist, wird erst richtig deutlich, als ‚sein‘ Unterricht beendet ist. Besonders ‚hinterlistig‘ ist die Strategie, mit der die Zuschauer_innen hinterrücks gezwungen werden, auf sich selbst zu schauen: Das Stück aktiviert bei ihnen systematisch den Wunsch nach der (vorgestellten) ent/bemündigenden Aufklärung der – ‚migrantisch‘ konstruierten – Schüler_innen, indem es ihnen mit der höchst ambivalenten Figur der Lehrerin die einzig tragbare Figur zur Identifikation anbietet. Und gerade diese Identifikation mit der Lehrerin, die sich so tapfer mit der Waffe gegen ‚ihre‘ impertinenten Schüler_innen schlägt, um diesen zur Aufklärung zu verhelfen, erweist sich schließlich als Identifikation mit den eigenen Rassismen. Das Gut-Gemeinte, das Frau Kelich den jungen Leuten mit der Waffe aufzwingt (Schiller, Spiel zur Menschwerdung, demokratisches Handeln etc.) – all das wird dem Publikum über Frau Kelich als Lehrerin als ‚seins‘ unterstellt: Angesprochen wird ein Publikum, das ‚seinen Schiller kennt‘ – weniger im Sinn einer genauen Kenntnis der Texte als vielmehr in seinem Wissen um ‚sein‘ ‚deutsches Kulturgut‘ – das es aber gern ‚abgibt‘, weitergibt – unter der Bedingung, dass die Gelehrigen willig sind und werden ‚wie wir‘ (gemeint ist die hergestellte Gemeinschaft zwischen Publikum und Lehrerin). Dieses Wissen erzeugt zugleich jenes mit der Lehrerin geteilte Unverständnis, warum ‚sie‘ das vorgehaltene Kulturgut einfach nicht annehmen wollen. Gewaltanwendung und Bedrohung erscheinen plötzlich (heimlich) nachvollziehbar. Aus dem Mitfiebern mit dem zunehmend erfolgreichen Engagement der Lehrerin, aus den Migranten-Schüler_innen mit den Mitteln des Theaters aufgeklärte mündige Menschen zu machen, aus dieser Normalität solchen Integrationsbemühens, das sich offen rassistisch zeigt, rührt der große Schock am Ende, wenn die Lehrerin oder ihre Darstellerin das Publikum – nicht die Schüler – entlässt mit dem Satz: „Der Unterricht ist beendet“. Die Inszenierung hat uns systematisch zu der Annahme verführt: Es funktioniert – oder doch nicht? Sch(l)uss.
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H ERAUSFORDERUNG Auf subtile und eindringliche Weise geht es in Verrücktes Blut um „die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein“, auf die Annita Kalpaka und Nora Räthzel (1985, 1992, 1996) u. a. mit Blick auf den Paternalismus hinweisen, der dem Publikum so radikal ‚gespiegelt‘ vorgehalten wird. Die Autorinnen betrachten Paternalismus als eine „Form des Rassismus, die anderen auf den eigenen Entwicklungsstand ‚hochhelfen‘ will“ und dabei zugleich die „Unterschiede im Grad der erreichten Entwicklung oder der Emanzipationsfähigkeit“ definiert (1985: 25). Denn „Ethnozentrismus und Rassismus wirken auch bei der Übertragung eigener Emanzipationsmodelle auf andere Kulturen. Emanzipation wird so zur Unterwerfung“ (Kalpaka/Räthzel 1992: 98). Das Interesse an der Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein, das Annita Kalpacka und Nora Räthzel vor dreißig Jahren mit der Beobachtung begründeten, dass „‚ausländerfeindliche‘ Gesetzgebung und rassistische Propaganda nicht auf den Widerstand der Mehrheit der deutschen Bevölkerung stoßen“ (Kalpacka/ Räthzel 1994: 9), hat bis heute nicht nachgelassen. Denn es richtet den Blick auf die Mechanismen der Reproduktion und Stabilisierung rassistisch organisierter Machtbeziehungen, die strukturell und hegemonial in die Gesellschaftsordnung eingelassen sind. Rassismus wird in seinen unterschiedlichen Dimensionen und Wirkweisen beschreibbar. Das gilt auch und gerade für die heimlichen und unbewussten Momente sozialer und symbolischer Ausschließungspraxis, die oft unbemerkt den Alltag bestimmen und dabei kaum einen Bereich auslassen – auch nicht die Kunst und das Theater. Die Schwierigkeit, mit Theater nicht rassistisch zu sein, ist Thema dieser Arbeit. Sie fokussiert Ansatzpunkte im Theater und in der Theaterpädagogik, die sich um ein Gegensprechen bemühen. „Gegenstimmbildung zu Kulturellem Rassismus in theaterpädagogischen Projekten“ ist ein Entwurf für eine Theaterpädagogik, die sich als kritische Intervention in gesellschaftliche Diskurse um Migration versteht. Das leitende Interesse besteht darin, ein praktisches wie theoretisches Konzept der Theaterpädagogik, das seit ca. zwanzig Jahren unter der Bezeichnung „Interkulturelle Theaterpädagogik“2 begrifflich wie programmatisch gefasst und beschrieben wird, aufzugreifen, es aus kulturwissenschaftlicher Perspektive zu überdenken und in seiner Ausrichtung grundsätzlich zu verschieben.
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Hoffmann 2008, Sting 1994, 2005, 2008, 2010a, 2010b, Domkowsky 2008, Wartemann 2002, Matthies 1996, darüber hinaus: Fischer-Lichte 1990, 1996a, 1996b, 2009, Balme 1995, 2007, Regus 2009. Eine eingehende Auseinandersetzung nehme ich in Kapitel 1 vor.
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Der Blick richtet sich hier vor allen auf rassismuskritische Reflexion als konstitutivem Teil theater/pädagogischer Praxis und Theoriebildung. Gemeint ist damit zum einen die Reflexion von (eigener) Theaterarbeit sowie ihrer theoretischen Beschreibung im Verhältnis zu ihrem jeweiligen diskursiven Rahmen, zum anderen die Reflexion der Handlungsmacht von/mit Theater als diskursiver Eingriff in die jeweiligen Rahmungen. Im Besonderen geht es dabei um die Befragung der (eigenen) Blick- und Wissensbildungen und deren Verwicklung in einem gesellschaftliches Umfeld, das sich, wie Hartwig Pautz aus politikwissenschaftlicher Perspektive feststellt, durch eine zunehmende „Kulturalisierung des Politischen“ (Pautz 2005: 10) auszeichnet und insofern durch Formen und Funktionsweisen des Kulturalismus3 rassistisch geprägt ist. Vor diesem Hintergrund zielt die Arbeit auf eine sich innerhalb des Migrationsdiskurses kritisch positionierende Theaterpädagogik, die einer zur ‚Kulturalisierung des Theaterpädagogischen‘ tendierenden ‚Interkulturellen Theaterpädagogik‘ mit Skepsis begegnet. Mit dem hier vorgeschlagenen Programm der ‚Gegenstimmbildung‘ lotet sie Möglichkeiten, Varianten und Grenzen antirassistischer Artikulation und Intervention aus und setzt diese in Szene.4 Antirassismus verstehe ich mit Alastair Bonnett nicht nur als „those forms of thought and/or practise that seek to confront, eradicate and/or ameliorate racism“, sondern grundsätzlicher als „anti-essentialist political force that acts to denaturalize both ethnic and racial allegiances and categories“ (Bonnett 2000: 3f). Eine in diesem Sinn antirassistische Theaterpädagogik versteht Theater – die Kunstform, das Medium und die Institution – als Teil gesellschaftlicher Diskursivität und bildet eine auf diese bezogene Reflexions- und Kritikfähigkeit aus. Hierzu gehört auch und insbesondere die Denaturalisierung des ‚weißen Blicks‘, den Julia Lemmle im Rahmen der Debatten um das blackfacing an Berliner Bühnen (vgl. Schmidt 2012) im Jahr 2012 wie folgt beobachtet und kritisiert: „Zum weißen Selbstverständnis gehört, immer und überall über alles sprechen zu können. Das zeigt sich auch in der Idee, man wäre in der Lage, eine antirassistische Inszenierung zu machen, ohne sich intensiv mit dem Thema [Rassismus] auseinanderzusetzen.“ (Lemmle 2012: 2)
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Annita Kalpacka und Nora Räthzel beschreiben mit Kulturalismus die Naturalisierung von Kultur, bei der „Kultur selbst zu einer Naturkonstante“ gemacht wird (Kalpacka/Räthzel 1985: 25); ausführlicher dazu das Kapitel „Kritik der Differenz“.
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Mit dieser Programmatik, so hoffe ich, lassen sich Dynamiken und Handlungsspielräume theoretisieren, die über die Theaterpädagogik hinaus andere Arbeitsfelder Kultureller bzw. Ästhetischer Bildung und künstlerischer Produktion betreffen.
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Diese Reflexions- und Kritikfähigkeit bezieht sich zunächst auf die Auseinandersetzung mit dem ‚Kontext‘, also dem diskursiven gesellschaftlichen Rahmen, in dem Texte – wie z. B. Theaterproduktionen – hergestellt werden, auf den sie reagieren, in den sie aber auch spätestens mit der ersten Aufführung in welchem Maß auch immer eingreifen. Jede Form der Re/Aktion wird dabei also zugleich als ihrerseits aus dem Diskurs hervorgebracht betrachtet – so auch das Phänomen der Interkulturellen Theaterpädagogik selbst.5 Das Theaterprodukt lässt sich als ein komplexer, multimedialer Text auffassen, entstanden aus der Selektion und Kombination gesellschaftlich vorhandener, ‚flottierender‘ Diskurspartikel, die der dem Text vorgängige Kontext enthält und bereitstellt. Da die semantischen Materialien und syntaktischen Regeln der Textproduktion vorausgehen, ist diese kontextuell gerahmt. Gleichzeitig aber ist jeder Text als je neue Re-Selektion und -Kombination des bearbeiteten Materials eine eigenständige Artikulation. Diese beinhaltet immer auch eine diskursive Positionierung sowie ein prinzipielles Potenzial zur Intervention in den rahmenden Kontext und setzt strategische Entscheidungen der beteiligten Akteure voraus. Solche Entscheidungen zu reflektieren ist integraler Bestandteil einer Theaterpädagogik der Gegenstimmbildung: In deren Fokus rücken die in theatralen Re/Aktionen eingesetzten Materialien und Rekurse auf bestimmte Text- und Bildrepertoires (einschließlich der darin eingelassenen Geschichts- und Identitätskonstruktionen), auf die Theaterproduktionen zurückgreifen und die sie selbst re/produzieren, wie auch die künstlerischen Strategien, Repräsentationspraktiken und Sprech- und Adressatenpositionen. Eine so formulierte Reflexionsfähigkeit als konstitutives Element einer Gegenstimmbildung in theaterpädagogischen Projekten setzt sich in der vorliegenden Arbeit (programmatisch) um in der Vorstellung und Verwendung eines theoretischen ‚Vokabulars‘, mit dem aktuelle Diskurse um Migration, Zuwanderung, Flucht und Interkulturalität in Deutschland beschrieben und innerhalb dieses Diskursrahmens sich artikulierende theatrale Interventionen analysiert werden können. Das Begriffs- und Methodenarsenal basiert auf poststrukturalistisch orientierten Theorien der Cultural, Postcolonial und Gender Studies. Ihre Perspektiven lenken den Blick auf die Theaterproduktion sowie ihre theoretische (Neu-) Bestimmung und bieten auch das Handwerkswerkszeug für die angestrebte Reflexion der eigenen Theaterpraxis. Auf dieser Grundlage entwickle ich anhand
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Insofern Texte auch ‚Anrufungen‘ (Interpellationen) sind, die Subjekte im Sinne Althussers und Butlers konstituieren, betrachte ich die Theaterproduktionen auch als Re/Aktionen auf solche vorangegangen Interpellationen.
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der Analyse bestimmter Praxisbeispiele neue Perspektiven für theaterpädagogische Theoriebildung. Ich lese die Stücke exemplarisch als Gegenstimmen zu kulturellen Rassismus, d. h. als Texte, die gesellschaftlichen Mechanismen des Ein- und Ausschlusses entlang bestimmter Differenz-Kategorien wie ‚Kultur‘6 oder Religion (als verschobene „Rasse“-Kategorien) in unterschiedlichen Facetten nachgehen. Mich interessieren die in den Stücken verhandelten unterschiedlichen Dimensionen und Aspekte rassistisch strukturierter Diskurslandschaften ebenso wie die theatralen Strategien zur kritischen Kommentierung der wahrgenommenen Rassismen. Das heißt nicht zwingend, dass die hier analysierten Theaterproduktionen immun wären gegen die Mechanismen des Kulturellen Rassismus; mein Fokus liegt jedoch weniger auf den unreflektierten Momenten, in denen auch diese Produktionen dazu tendieren, Rassismus zu affirmieren, sondern auf denjenigen Aspekten, die für eine Theoriebildung der Gegenstimmbildung produktiv zu machen wären. Es geht insofern darum, die Praxis exemplarisch für die Theoriebildung nutzbar zu machen, um von dort aus Theater als gesellschaftliche Praxis zu verstehen. Die generelle Frage lautet demnach: Wie und mit welchen Effekten werden Gegenstimmen zu Kulturellem Rassismus in Theaterstücken als Ergebnisse theaterpädagogischer Projekte hergestellt? Mit welchen Strategien der Selektion und Kombination werden vorgängige Diskurspartikel aufgegriffen und in die Stücke eingebracht, welche künstlerischen Mittel zur Repräsentation von Rassismus werden gewählt, welche ‚Antworten‘ entstehen daraus, und auf welche Weise werden diese wieder im jeweiligen Diskurs positioniert? Und: Welche Repräsentationspolitiken werden mit den Stücken verfolgt? Hier knüpfen sich Fragen nach den Sprechpositionen der Akteure und deren Positionierungen der Adressierten in den Stücken an. Oder, um es mit Fragen aus dem Bereich der Visual Culture zu formulieren: Wer gibt wem was zu sehen, und wie wird wer mit diesem Akt des Zu-sehen-Gebens hergestellt? (vgl. Schade/Wenk 2011: 9) Der Blick richtet sich auf Theater, das in einem deutschen Kontext für einen deutschen Kontext – von Akteuren mit oder ohne deutschen Pass bzw. ‚Migrationshintergrund‘ – produziert wurde und die innergesellschaftlichen Fragen oder
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Ich verwende die Schreibweise ‚Kultur‘, wenn von Vorstellungen die Rede ist, die den Terminus im Sinne homogener und geschlossener Kulturkreise verwenden (zur Kritik dieser Auffassung vgl. Welsch 2000). Die Schreibweise dient zur Kennzeichnung eines „totalitätsorientierten Kulturkonzepts, [für das] die Kopplung von Kulturen als Lebensformen an einzelne ‚Kollektiv-Subjekte‘ – Völker, Ethnien, Nationen, Kulturkreise –, und an Gemeinschaften“ charakteristisch ist. (Reckwitz zit. in Shooman 2011: 60)
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verlautbarten Konflikte der Einwanderungsgesellschaft reflektiert. Eine zeitliche Eingrenzung des Feldes auf die Theaterpraxis, die sich in den aktuellen politischen Debatten um Integration im Zuge des neuen Staatsbürgergesetzes verorten lässt, führt – trotz erheblicher Forschungslücken – zur Auslassung des sog. „Ausländertheater“, das in soziokulturellen Zentren der 60er und 70er Jahre produziert wurde (vgl.: Brauneck 1983; Boran: 2004 und Cohn 2012: 162). Ausgeklammert wird auch, was in theaterwissenschaftlichen Untersuchungen über internationales Theater mit Begriffen des „Interkulturellen“, „Fremden“, „Synkretismus“ und auch „Postkolonialen“ beschrieben wurde.7 Befragt werden Theaterstücke bzw. Inszenierungen, die dem Diskurs um Migration angehören und sich mit ihm auseinandersetzen. Die Beobachtung, dass in den Debatten um Zuwanderung, Einbürgerung, Flucht und Integration, die begleitet sind von solchen über Marginalisierung, Ausgrenzung, Diskriminierung und Rassismus, auffällig oft ‚Aufklärung‘ und ‚Modernität‘ zur Konstruktion von Identitäten eingesetzt wird, hat mein Interesse auf die spezifische Frage nach Aufklärungskonstruktionen fokussiert. ‚Aufklärung‘, so die hier zugrunde liegende Annahme, wird in den öffentlichen Debatten tendenziell so konstruiert, dass mit ihr gesellschaftliche Ein- und Ausschlüsse legitimiert und erneut hergestellt werden. Solche Aufklärungskonstruktionen bilden das Material für die theatralen Auseinandersetzungen und Verhandlungen, wie eingangs am Beispiel von Verrücktes Blut illustriert wurde. An zwei weiteren Beispielen soll ausführlicher untersucht werden, mit welchen theatralen Mitteln Aufklärungskonstruktionen jeweils vor- und ausgestellt und verschoben werden, sodass neue Vorstellungen von Aufklärung entstehen, die als Gegenstimmen gelten können. Damit präzisiert sich die Fragestellung der Untersuchung folgendermaßen: Wie wird ‚Aufklärung‘ in den Stücken konstruiert, und in welcher Weise verschieben und destabilisieren diese Aufklärungskonstruktionen die Festschreibungen, die im dominanten Diskurs über Zuwanderung vorgenommen werden? Wer wird wie mit den inszenierten Aufklärungskonstruktionen positioniert? Kurz: Wie funktionieren die neuen, tendenziell dissidenten Aufklärungskonstruktionen in den Theaterstücken als Gegenstimmen zu Kulturellem Rassismus? Und schließlich: Was lässt sich aus einer solchen Lektüre theatraler Texte für eine Theorie der Theaterpädagogik im Sinne einer Gegenstimmbildung ableiten? Es wird sich zeigen, dass nicht jede Gegenstimme automatisch destabilisierende Effekte erzeugt, sondern mitunter das Risiko besteht, vorangegangene Zuschreibungen und Positionierungen zu affirmieren und so Rassismen zu re/produzieren. Diese Risiken der Re/Stabilisierung von dominanten Fixierungen
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Vgl.: Fischer-Lichte 1995, 1996a, 1996b, 1999; Balme 1995, Regus 2009.
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als Momente des (partiellen) Scheiterns verweisen jedoch auf Dilemmata, die sich aus langen Traditionen von Festschreibungen und Konventionen des Sprechens ergeben. Insofern sind Gegenstimmen nicht als ‚Lösungen‘ zu verstehen. Sie sind Entgegnungen auf zuschreibende, diskriminierende, positionierende Anreden und Äußerungen, die auf der Grundlage eingehender Reflexion artikuliert werden – aber ohne Garantie auf Widerspruchsfreiheit oder ‚Richtigkeit‘. Mit Judith Butler lese ich sie als Versuche von Umdeutungen (Resignifizierungen) im Rahmen von Sprache und ihren Regeln, als Versuche, genau diese Regeln der Sprache, denen auch sie unterliegen, partiell zu verschieben. Gegenstimmbildung zielt insofern weder auf Widerspruchsfreiheit noch kann sie gar die Anleitung zu ‚richtigen‘ Theaterformen geben.8 Dies würde in der Tendenz zur eindimensionalen, starren Festlegung sehr enggefasster Regeln auf der Grundlage von Wahrheiten und ‚Wissen‘ führen, die ihrerseits jedoch nur neue Konventionen oder Definitionen stützten, und damit einer anvisierten Destabilisierung gerade zuwider laufen. Stattdessen versteht sich Gegenstimmbildung als theatrale Herausforderung zur Verhandlung, ohne Anspruch auf Stabilität und Sicherheit, aber immer mit der Bereitschaft zur Neuverhandlung und vor allem der Selbstreflexion. Eine Neuausrichtung von Theaterpädagogik als eine Theorie und Praxis, die sich in die Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens einmischt, basiert demnach nicht zuletzt auf dem Moment der Bewegung und der Veränderbarkeit, das als Reflexions- und Handlungsfähigkeit (agency) eingefordert wird. In diesem Sinn begreife ich Gegenstimmbildung mittels Theater auch als Intervention, die Roswita Muttenthaler und Regina Wonisch als Praxen des „Einmischens“, des „Beanspruchens“ und des „Verschiebens“ erklären (Muttenthaler/Wonisch 2003). Sie exemplifizieren diese Praxen aus museologischer und
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Sogenannte „performative Spiel- und Darstellungsformate in jugend- und popkulturellen Ausdrucksformen“, mit denen „eine vom Literatur- und Repräsentationstheater abweichende aktuelle Ästhetik mit einer Nähe zur Performance“ entstehe (Sting, 2010: 23), werden vielfach als adäquate Formen für interkulturelles oder auch politisches Theater vorgestellt und begründet. Solchen Nahe-Legungen stehe ich skeptisch gegenüber, da m. E. Rassismen unabhängig von Formaten oder Genres affirmiert werden können. ‚Neue‘ Formen sind also keine Garantie für anti-rassistisches Theater. Dennoch sind in die konventionellen Theaterformen strukturell Machtverhältnisse eingelassen, die sich historisch zurückführen lassen auf Ordnungen und (neue) Aufteilungen des Sinnlichen wie auf ein „neue[s] Regime der Identifizierung mit Kunst […], das sich im Übergang vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert herausgebildet hat“ (Rancière 2008: 78). Ausführlicher werde ich mich dieser Frage noch einmal am Schluss dieser Arbeit widmen.
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kuratorischer Perspektive anhand neuer Ausstellungskonzeptionen, mit denen Kritiker_innen den „zivilisierenden Ritualen“ und Anordnungen musealer Ausstellungsorganisation begegneten, um deren „gesellschaftliche Relevanz [zur] Sicherung dominanter Wissens- und Bedeutungsproduktion einer bürgerlichen Elite“ in Frage zu stellen (ebd.). Durch neue partizipative Ausstellungskonzeptionen, die eine „Auseinandersetzung mit Vergangenheit und der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verfasstheit“ einforderten, fand eine dezidierte Einmischung in gesellschaftliche Diskurse statt (ebd.). Beansprucht wurde dabei der Zugriff auf die Institutionen als machtvolle Orte der Repräsentation und auch die Verfügung über die Repräsentationsstrategien, die nicht zuletzt Ein- und Ausschlüsse, Positionierungen und die Regulierungen von Blicken bestimmen (ebd.). Solchen partizipativen Ansätzen geht es darum, Grenzen und Fixierungen der jeweiligen An/Ordnungen und dadurch hierarchisierte Sichtweisen zu verhandeln und verschieben (ebd.). Auf den Repräsentationsort Theater bezogen heißt das, die Repräsentationspolitiken auch dieser Institution des Ausstellens und des Zu-sehenGebens in den Fokus zu rücken. Unter anderem anhand der Produktion Amo – eine dramatische Spurensuche, aber auch entlang der Theoriebildung zu Interkulturellem und politischem Theater lassen sich diese Dimensionen verdeutlichen. Mit dem Vorhaben der Gegenstimmbildung wird ein wissenschaftlicher Standpunkt in die Theoriebildung der Theaterpädagogik eingeführt, der bisher noch kaum systematisch, sondern lediglich in wenigen, zudem kürzeren Publikationen sowie unveröffentlichten Abschlussarbeiten skizziert worden ist. Dieser, hier noch sehr verkürzt und thesenhaft dargestellte Standpunkt ist in den folgenden Kapiteln zu beschreiben und zu begründen.9 Begriffe sind unterschiedlich verortet und „wandern“, wie Mieke Bal erklärt (Bal 2006: 28). Entsprechend verändern sich ihre Bedeutungszuweisungen. Gerade bei der Verknüpfung solcher Wissenschaftsbereiche wie der Theaterpädagogik, die ihr Vokabular zum Teil aus dem der Theaterwissenschaft generiert,
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Damit verfolge ich zugleich eine Ausformulierung dessen, was Ute Pinkert mit der Bezeichnung „Theater als kulturelle Praxis“ – neben „Theater als subjektiver Erfahrung“ und „Theater als Fähigkeit, Kunstfertigkeit und Handwerk“ – eingeführt hat. Mit „Theater als kultureller Praxis“ plädiert Pinkert für die Reflexion dessen, was ich als (allerdings stärker reziprokes, diskursiv verstandenes) Verhältnis zwischen ‚Text‘ und ‚Kontext‘ benannt habe. Pinkert fordert für diese kulturelle Dimension der Theaterpädagogik die Beschäftigung mit „außerhalb des Theaters vorhandenen kulturellen Praktiken und Bildern und den ihnen zugrunde liegenden und durch sie produzierten Macht- und Gesellschaftsverhältnissen“ ein (Pinkert 2010: 178).
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mit den Gender Studies, den Cultural und Postcolonial Studies sowie den Studien zur visuellen Kultur kommt es zur Anwendung von Begriffen, deren Signifikanten gleich sind, denen jedoch mit je unterschiedlicher wissenschaftlicher Ausrichtung zum Teil deutlich divergente Bedeutungen und Verwendungszusammenhänge zugewiesen werden. Dies gilt insbesondere für Begriffe wie Repräsentation und Performativität, die ich in einem eigenen Kapitel für die Theaterbetrachtungen als Teil meiner theoretischen Perspektive genauer vorstellen werde.10
10 Im Vorgriff auf die Ausführungen meiner theoretischen Basis sei hier kurz auf eine für die Arbeit zentrale Differenz im Begriff des Performativen verwiesen: Zur Theoretisierung zeitgenössischer Theaterformen, die Hans Thies Lehmann (2001) unter dem Begriff des postdramatischen Theaters systematisiert hat, konzeptualisiert Erika Fischer-Lichte eine Ästhetik des Performativen (2004), die sie von einer semiotischen Ästhetik abgrenzt, um beide in ein Wechselverhältnis zueinander zu setzen. Grundlage ist dabei die Differenzierung von zwei Funktionen des Theaters: eine referentielle Funktion, die im Gegensatz zur performativen die „Darstellung von Figuren, Handlungen, Beziehungen, Situationen etc.“ (Fischer-Lichte 1998: 2) fokussiert und darin die Semiotizität, Repräsentation, Referentialität und Bedeutungsproduktion – u. a. als „Verdopplung“ – von Kultur (vgl.: Fischer-Lichte 2003: 19). Die performative Funktion richte sich dagegen „auf den Vollzug von Handlungen – durch die Akteure und zum Teil auch durch die Zuschauer – sowie auf ihre unmittelbare Wirkung.“ (FischerLichte 1998: 3) Mit dem Performativen bezeichnet sie das auf sich selbst verweisende Präsente, dem sie insofern keine oder zumindest in starkem Maße verminderte Bezüge zu einem ‚Außen‘ des Ereignisses zuschreibt. Bedeutung rückt damit in den Hintergrund. Konstitutiv für das Performative ist bei Fischer-Lichte das Flüchtige, Ereignishafte, Singuläre, die Betonung des Einzelvorkommnisses eines Akts im Hier und Jetzt, während Butler mit Austin das Gelingen von performativen Akten gerade auf ihre Konventionalität und damit auf die Wiederholung verweist, hierbei aber jeder Wiederholung, mit Derrida, eine gewisse Singularität zuspricht. Zum Vergleich der Begriffe des Performativen: Meyer 2008; siehe auch Mieke Bals Reflexion von Performanz und Performativität durch eine Konfrontation mit dem Begriff des Gedächtnisses: Bal 2001: 197–241; Bal 2006: 263–294.
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A UFBAU Der in drei Kapitel gegliederter Einführungsteil „Standorte“ beginnt mit der Erläuterung und Diskussion des Diskurses um das ‚Interkulturelle‘ im Theater und in der Theaterpädagogik. Dieser Teil zeichnet nach, wie ‚Interkulturelle Theaterpädagogik‘ als Arbeitsfeld der Theaterpädagogik bisher theoretisch eingeführt und programmatisch umrissen wurde. Durch die Herstellung von Korrespondenzen zu Positionen aus der Theaterwissenschaft lassen sich die diesen Theorien zugrunde liegenden Begriffe wie Differenz, Fremdheit und Interkulturalität präzisieren, diskutieren und zum Teil problematisieren. Ziel ist dabei unter anderem die begründete Abgrenzung vom Begriff der „Interkulturellen Theaterpädagogik“ und die Herleitung einer daraus erkennbaren Neuausrichtung. Unter anderem geben diese Überlegungen dazu Anlass, Theaterpädagogik in einigen definitorischen Grundannahmen wie z. B. Teilnehmer_innenorientierung und NichtProfessionalität zu überdenken. Der Diskurs um Migration mit den darin eingeschriebenen Aufklärungskonstruktionen ist auf dominante Weise rassistisch organisiert. Diese Annahme wird im zweiten Teil der Standortbestimmung aus postkolonialer und rassismuskritischer Perspektive begründet und mit der Einführung in Begriffe wie Rassismus, Differenz und Stereotypisierung aus der Rassismusforschung, der Cultural, Postcolonial und der Critical Whiteness Studies als Grundlagen fundiert.11 Eine genauere Erläuterung der Aufklärungskonstruktionen im Migrationsdiskurs erfolgt im zweiten Teilabschnitt. Im Vorgriff auf die Inszenierungsanalysen verweist bereits ein erster historischer Blick auf das Verhältnis von Aufklärung und Rassismus seit Beginn des 18. Jahrhunderts auf konventionalisierte Wissensrepertoires, die auch im 21. Jahrhundert noch zur Legitimierung sozialer Ordnungen aktiviert werden. Die Beteiligung der Künste und Wissenschaften an der Herstellung und Popularisierung von rassistischem Wissen und Konstruktionen von Identitäten wird hier vorbereitend diskutiert. Im Mittelpunkt steht aber Beschreibung des diskursiven Rahmens für die Stückanalysen – des Rahmens also, in dem die hier untersuchten Theaterproduktionen entstanden sind und auf den sie re/agieren. Dass dieser Rahmen, der wie letztlich jeder Betrachtungs- oder Beschreibungsgegenstand, u. a. durch das Schreiben, Sprechen oder Verbildlichen erst hergestellt und nicht als schon vorgängig bestehend ‚nur‘ abgebildet oder reproduziert wird, ist Teil einer grundlegenden wissenschaftstheoretischen Ausrich-
11 U. a. Terkessidis 2004, 2010a, 2010b, Miles 1989, 2000, Castro Varela/Dhawan 2005, Hall 2000, 2002c, Kalpaka/Räthzel, 1989.
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tung, die ich im letzten Kapitel meiner Einführungen darlege. Mit poststrukturalistischen Theoriebildungen, insbesondere mit Judith Butlers Politik des Performativen (2006), erkläre ich meine Annahme einer sprachlich verfassten ‚Welt‘ und die Macht der wiederholenden Sprache zur Herstellung von Wissen und Vorstellungen. Besonderes Augenmerk fällt dabei auf die Konstituierung von Subjekten und die ihnen zugesprochene Fähigkeit zu sprechen, in der das Potenzial des Wider-Sprechens angelegt ist. Fredric Jamesons Theorie des politischen Unbewussten (1988) folgend nehme ich das Verhältnis von Text und ‚Kontext‘ als sich wechselseitig konstituierend in den Blick. Jameson verortet ‚Kontext‘, wie Butler, nicht als außerhalb von Theater (als) Text, sondern als in den jeweiligen künstlerischen (literarischen, theatralen oder bildlichen) Texten re/artikuliert. Die Verzahnung der beiden Theorien ermöglicht die Betrachtung von Sprechpositionen wie auch von Interpellationen, die in den Texten angelegt sind und die in die Diskurse eingreifen. ‚Kontext‘ wird insofern immer nur als diskursiv, sprachlich fassbar gedacht und ist als der diskursive Rahmen zu verstehen, der in den Texten – inklusive der vorgenommenen Positionierungen – oder Sprechakten konstruiert wird. Die Fragestellung richtet sich an zwei Inszenierungen, die zu dominanten Konstruktionen von Aufklärung im Migrationsdiskurs mit eigenen Positionen Stellung beziehen. In den ausgewählten Theaterstücke (Inszenierungstexte) und ihre Ankündigungen (Paratexte), die in den Jahren 2004 und 2005 als Ergebnisse theater/pädagogischer oder auch soziokultureller Theaterprojektarbeit entstanden sind und die ich im Folgenden kurz vorstellen will, werden als GegenKonstruktionen identifiziert und analysiert. Amo, eine dramatische Spurensuche rekonstruiert eine (historische) Aufklärung, die in der dominanten Rezeption ihrer rassifizierenden Schattenseiten entledigt wurde. Zum einen zeichnet das Stück die in der Geschichtsschreibung verschwiegene Existenz und Laufbahn des ersten deutschen Schwarzen Akademikers Anton Wilhelm Amo Afer im 18. Jahrhundert nach – und damit auch partiell inkludierende Bestrebungen der deutschen Frühaufklärung. Zum anderen rekonstruiert es die versteckte Kontinuität eines rassistisches Wissensarchivs in aktuellen (rassistischen) Theaterpraxen und stellt sie (anzeigend) aus. Die Verknüpfung beider Erzählebenen leistet die Konstruktion eines Stücks im Stück: Präsentiert werden die Erfahrungen eines Schwarzen Schauspielers, der während der Proben zu einer fiktiven Theaterproduktion über den Philosophen Anton Wilhelm Amo den gleichen oder ähnlichen Rassismen ausgesetzt ist wie der von ihm vorgestellte historische Protagonist zur Zeit der Frühaufklärung. In dieser Erzählkonstruktion wird, was Gundrun Hentges als die „Schattenseiten der Aufklärung“ (Hentges 1999) beschrieben hat, in tragischer Form nachempfunden
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und in komischer Weise auf der Gegenwartsebene kommentiert, sodass die Ideen von Vernunft, Universalität, Gleichheit, Fortschritt, etc. als von weißen Europäern einseitig beschriebene und weiter getragene ‚Lichtseite‘ in Frage gestellt und revidiert werden. Darüber hinaus denkt das Stück Aufklärung in ihrem nicht verwirklichten Potenzial utopisch weiter und löst sie schließlich als nur bedingtes Versprechen zu mündigem Sprechen in einem Schweigen auf, in das aporetische Widersprüche eingeschlossen sind. So zwiespältig, wie der als „dramatische Spurensuche“ ausgewiesene Theatertext die historische Aufklärung wie auch das Engagement für antirassistische Aufklärung in der Theatergruppe konstruiert, so ambivalent erweisen sich die Effekte der gedoppelten mimetischen Darstellungsform. Gezeigt wird eine ‚Aufklärung über die (rassistische) Aufklärung‘, die mit argumentierendem Wider-Sprechen und schweigender Verweigerung wie auch mit spielerischen Bedeutungsverschiebungen (Resignifizierungen) arbeitet, aber im Wieder-Aufrufen des rassistischen Wissensapparats (zu seiner enthüllenden Ausstellung und Anzeige) zugleich das Sprechen in und mit dessen Begriffsrepertoire wiederholen muss. Bombenwetter. Das Kopftuch hält reflektiert im Rückgriff auf Lessings dramatisches Gedicht Nathan der Weise das Toleranzparadigma als eine Harmonisierungsbotschaft, die sich in aktuellen gesellschaftlichen und politischen Debatten durch stetige Wiederholung auf ein hohles Glücksversprechen reduziert hat. Standardisierte, kanonisierte Texte und zu Gemeinplätzen verkommene Positionen der Aufklärung werden variiert, verdichtet oder mantraartig wiederholt mit dem Effekt der Erstarrung, Sinnentleerung und Uniformierung. Eingesetzt werden sie zur Disziplinierung und Harmonisierung von Dissens, Widerspruch und offenem Konflikt. Bombenwetter erzählt keine Geschichte, sondern kombiniert Textfragmente aus unterschiedlichen historischen, medialen und diskursiven Zusammenhängen zu einer Collage, die chorisch und choreografisch in szenische Bilder umgesetzt ist. Dabei rekonstruiert das Stück eine Dimension des Originals, die in der dominanten Tradition der Nathan-Rezeption unsichtbar gemacht wurde: Die offenkundig versöhnliche Tendenz, die Lessings Nathan zum gefälligen Klassiker gemacht hat, stellt, so wird gezeigt, eine schreibstrategische Reaktion auf die staatlichen Zensurdrohungen dar, denen Lessing sich nach seinen Polemiken gegen den protestantischen Hauptpastor Goeze ausgesetzt sah. Die fragmentarische Form sowie der Einsatz von Kontrasten und Widersprüchen sprengt die Kohärenz dieser Ausgangserzählung und führt die sich um Intoleranz, Gleichheit und vernunftorientiertes Denken drehende Thematik ‚zurück‘ zu der Form, mit der Lessing diese Auseinandersetzung begann: der Polemik. Indem das Stück auf diese Weise die verschüttete Polemik quasi exhumiert und aneignet, reklamiert es ein streitbares Potenzial der Aufklärung, das sich als Ge-
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genstimme zu Intoleranz und Rassismus artikulieren kann, die in der eigenen Gesellschaft vorgefunden werden. Bombenwetter begegnet so einem ‚kulturellen Erbe‘, das auf Formeln und Phrasen reduziert und fixiert überliefert vorgestellt wird. Als solches wird Nathan als kulturelles Erbe zum Instrument der Selbstvergewisserung der eigenen Gesellschaft als tolerant, offen, demokratisch, vernunftorientiert kurz: aufgeklärt. Als Mittel hegemonialer Differenzproduktion dient es insofern der Legitimation von Herrschaft. Beide Stücke adressieren weiße, nicht marginalisierte Publika, die auf verschiedene Weise ‚gebildet‘, belehrt oder ‚aufgeklärt‘ werden: Die Zuschauer_innen sehen sich mit ‚ihren‘ Grundannahmen über Aufklärung konfrontiert, die aber radikal revidiert, kommentiert oder durch andere, immer ambivalente Konstruktionen von Aufklärung in Frage gestellt werden. Amo folgt dabei der Logik der Erzählung (Gegen-Erzählung) und bemüht sich dabei über die formale Ausrichtung am Drama bzw. am handlungsdramaturgischen Plot, der zur Bildung von Gemeinschaft zwischen den Schwarzen Protagonisten (Doppelrolle) und dem Publikum auf Identifikation setzt. Das Scheitern dieser Anstrengung mündet in ratloses Schweigen, das schließlich im gemeinsamen Scheitern die formal erzielte Einigung doch erzeugt.12 Die tableauhafte Form der Collage Bombenwetter (Gegen-Bilder) lässt dagegen jede Form emotionaler Einbindung oder Ausgrenzung des Publikums außen vor und führt Kontraste, Widersprüche, Konfliktstoffe und Kampf nur in Gestalt einer miteinander verknüpften Bilderreihe vor. Der ‚Zeigefinger‘ Lessings, d. h. der schulmeisterliche Tonfall in dessen Nathan der Weise wird in einen ebenso autoritären Belehrungston der Polemik umgewandelt und an das Publikum gerichtet. Anders als Amo und auch Verrücktes Blut spricht Bombenwetter von einer privilegierten Gymnasiasten-Position aus, die Intoleranz und Minorisierung von einer majorisierten Position aus angreift, ohne dabei in ein distanziertes „Sprechen über“ oder gar „Sprechen für“ Marginalisierte zu verfallen. Der Blick richtet sich stattdessen auf die dominan-
12 Das dieser Einleitung vorangestellte Stück Verrücktes Blut setzt dagegen auf Distanz, die im Brecht’schen Sinne zu Einsicht führen soll. Diese Distanz wird am Ende eines, wenn auch zum Teil unterbrochenen, aber mitreißenden, d.h. Identifikation und Einfühlung provozierenden Theaterspiels der jungen Schauspielgruppe abrupt (wieder) hergestellt, wenn die Belehrung des (oder: der Unterricht für das) Publikum(s) mit dessen symbolischer Erschießung endet. Die Emotionalität, mit der Amo die Nähe zum Publikum sucht, wird hier gegen dieses gerichtet. Größtmögliche Distanz – der symbolische Tod des weißen Publikums – folgt einer zuvor provozierten dichten Identifikation (mit der Lehrerin). In diesem ‚Wechselbad der Gefühle‘ wird die Ratlosigkeit der Zuschauerin durch ihr Abgewiesensein produziert.
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ten eigengesellschaftlichen Mechanismen, mit denen Andere als (nicht zugehörige) Andere konstruiert werden. Fokussiert wird insofern eine eigene Betroffenheit (bzw. die ihres Publikums) von Rassismus und zwar aus einer Position der Dominanz heraus, deren Privilegien mit Gayatri C. Spivak möglicherweise als Verlust betrachtet werden könnten, die es zu verlernen gelten könnte. Konstitutives Merkmal von Gegenstimmbildung ist die kritische Reflexion der eigenen (Theater-)Textproduktion im Verhältnis zu ihrem diskursiven Umfeld, in das sie positionierend interveniert. Exemplarisch konzentriert sich die vorliegende Analyse von Theaterproduktionen auf Gegenstimmbildung zu rassifizierenden Aufklärungskonstruktionen als eine Dimension von Kulturellem Rassismus. Herauszuarbeiten, oder mit Jameson: zu re/konstruieren sind in diesen Texten und Paratexten zunächst Deutungsmöglichkeiten wie auch die jeweiligen Mittel der Bedeutungsproduktion (poetics) und ihre Effekte (politics) (Hall 1997: 6), die der Repräsentation (Darstellung, Vorstellung und Herstellung) von Aufklärungsvorstellungen dienen, und schließlich die jeweiligen Sprechpositionen und vorgenommenen Positionierungen durch die Texte bzw. Textauszüge. Als Methoden der Lektüre kommen semiotische und diskursanalytische Verfahren und solche der rekonstruktiven Texthermeneutik zu Anwendung.13 Meine Re/Konstruktionen und Erläuterungen betrachte ich weniger als Inszenierungs- oder Aufführungsanalysen im streng theaterwissenschaftlichen Sinn (Fischer-Lichte 2003b; Hiß 1993). Die Theaterproduktionen werden vielmehr als Anlässe genommen, um die kritische Reflexion von Rassismus „als Struktur, die hegemoniale Machtverhältnisse, Diskurse und Praktiken prägt“ (Mörsch 2012: 11), zu initiieren und um Möglichkeiten zu diskutieren, rassifizierendes Sprechen im und mit Theater zu unterbrechen. Ich beschreibe die Produktionen als Versuche der Intervention im Sinne eines politischen Antirassismus, der an der „Sichtbarmachung rassistischer Strukturen auf allen gesellschaftlichen Ebenen“ arbeitet und dabei „die Ermächtigung von marginalisierten und diskriminierten Subjekten selber“ anvisiert (ebd.). Mein Vorgehen ist vergleichbar mit ‚Streifzügen‘ durch die Inszenierungen, bei denen längere Momente des genauen Hinsehens, flüchtiges Passieren und Panoramablicke abwechseln. Darin folgt diese Arbeit zugleich einem Anspruch auf vertiefte beispielhafte Detailbetrachtungen (close reading) und dem eines
13 Da beide Stücke – wie auch Verrücktes Blut – auf der Grundlage einer im Ensemble gemeinsamen Entwicklung der Inszenierung (und der Stücktexte) realisiert wurden, sind die zur Analyse herangezogenen Skripte als letzte Fassungen der Inszenierungen zu verstehen, die dennoch nicht vollständig den Aufführungstexten entsprechen.
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(distanzierteren) Blicks auf die Struktur und die Verlaufs-Logiken der Texte.14 Dieser Blick stützt sich zunächst auf mehrere Aufführungsbesuche, die meine erste Lektüregrundlage bilden. Aufführungsgespräche, Ankündigungsmaterial, Gespräche mit den Produktionsleitungen sowie Texte über die Inszenierungen und ihre Entstehungsgeschichten ergänzen meine Rezeption, die auf diese Weise verschiedene Perspektiven berücksichtigt. Zur Unterstützung einer präziseren Analyse standen mir außerdem die Skripte der Theaterstücke zur Verfügung wie auch Videoaufnahmen und Fotografien von unterschiedlichen Aufführungen. Aus diesen sind auch die jeweiligen Zitate (Skriptauszüge und Videostills) entnommen, um meine Aussagen belegen. Allerdings ist der videografierte Blick auf die jeweiligen Aufführungen immer auch durch Kamerastandorte, Wahl von Bildausschnitten, zeitliche Strukturierung ihrer Montage etc. gesteuert. Wie aus den Abbildungen z.T. erkennbar wird, zeigt sich in beiden Produktionsaufnahmen eine Kongruenz zwischen den Grundkonzeptionen der Stücke und dem Bildmaterial, die auf mögliche Absprachen zwischen der Produktionsleitung und dem Videoteam hinweisen. Denn die zentralperspektivische Kameraposition betont die tableauhaft konfrontative Anlage der Szenen/Bildcollage Bombenwetter ebenso, wie die dramatische Erzählung von Amo durch eine eher filmisch zusammengeschnittene Videoproduktion aus Aufnahmen von zwei eher seitlich positionierten Kameras unterstützt wird. Bild- und Videoanalysen über die Produktion sind jedoch nicht primärer Gegenstand meiner Untersuchung, wenngleich die Nutzung von Fotografie und Video als Mittel zur Aufbewahrung und wiederholten Betrachtung der Theaterstücke die Reflexion ihrer Macht, den Blick kaum merkbar zu richten, nicht unberücksichtigt bleiben darf. Darüber hinaus geht es mir in der Reflexion von Theater aus rassismuskritischer Perspektive weder um Vollständigkeit noch um ordnende Systematisierungen oder Vergleiche von vorgefundenem Material. Vielmehr lenkt der Fokus auf Aufklärungskonstruktionen den Blick auf Bezüge zur historischen Aufklärung, so dass die analytische Betrachtung von Theaterstücken exemplarisch zugleich in das „Archiv rassifizierender Repräsentationen“ (Hall 2002c: 269) einführt, das hegemoniale Machtverhältnisse und Praktiken der Gegenwart maßgeb-
14 Eine solche am Inszenierungstext orientierte Herangehensweise ist in der theaterwissenschaftlichen, mit professionell-künstlerischen Produktionen befassten Forschung üblich, in theaterpädagogischer Forschungsliteratur, die sich eher auf Erarbeitungsund Gruppenprozesse konzentriert, jedoch kaum entwickelt; vgl.: Jahnke 2003: 248. Die Analyse theaterpädagogischer Prozesse bedürfte jedoch eines anderen Methodenrepertoires, z.B. Verfahren der Ethnografie bzw. der praxeologischen Soziologie, und wurde daher vollständig ausgelassen.
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lich mitbestimmt. So geht es um den künstlerisch-strategischen Umgang mit tradiertem rassistischen (Praxis-)Wissen, dessen verstecktes, aber nicht minder virulentes Wirken in den aktuellen Diskursen von den Inszenierungen aufgedeckt und unterlaufen wird – selbst wenn es teilweise auch wiederholt werden muss, um den Widerspruch artikulieren zu können. Für Theaterproduktionen und ihre (selbst-)kritische Reflexion ist die Kenntnis eines solchen Wissensrepertoires ebenso unabdingbar wie die Aneignung des – ebenfalls tradierten – Repertoires an Polemiken, Einsprüchen und Strategien der Verschiebungen gegen dieses rassistische Wissen. Gegenstimmbildung benötigt die Anwendung analytischer Werkzeuge zum Selbstgebrauch – sie versteht sich gewissermaßen als Modell einer reflektierenden Erforschung eigener Theaterpraxis und ihrer Theoretisierungen als Voraussetzung einer Theaterproduktion und -theorie, die für (unbewusste) Rassismen weniger anfällig ist, analog etwa zu der Maxime Sandrine Micossé-Aikins’: „It is a common misconception that in order to be able to understand the connection between imagery and racism, you would have to first and foremost have professional knowledge about art. What you need is a fundamental understanding of racism“ (Micossé-Aikins 2012). „Rassismus bildet“. Anne Broden und Paul Mecheril (2010) begründen diese Feststellung in der Einleitung ihrer gleichlautenden Aufsatzsammlung mit einem Bildungsbegriff, der den Prozess der Subjektivierung als Ergebnis „multipler Anrufungen“ (Broden/Mecheril 2010: 9) auffasst.15 Verallgemeinert kann Bildung seinen positiven wie negativen Ausgangspunkt finden an allen inhaltlichen Gegenständen, die Erfahrungen und Wissen strukturieren. Der Ausgangspunkt von Bildungsprozessen ist nicht beschränkt auf jene Inhalte, Themen und Gegenstände, die in einem bildungsbürgerlichen Kanon oder einem sonstigen Sinne als wertvoll gelten. (Ebd.: 7)
Subjekttheoretisch inspirierte Bildungsbegriffe verstehen, so Broden und Mecheril, Bildung weder als ‚autonome Hervorbringungen‘ noch als abschließbar. Bildungsprozesse können stattdessen als heteronome Ansprachen – oder Interpellationen (Althusser) – betrachtet werden. Bildung meint dann „Aneignungen
15 Anne Broden und Paul Mecheril dezentralisieren den von Althusser abgeleiteten Begriff der Subjektivierung, um diesen Prozess in fragmentierten, weniger kohärenten und eindeutigen Zusammenhängen zu fassen. Althussers Begriff der ‚Interpellation‘ wird in eine Vielzahl ‚multipler Anrufungen‘ pluralisiert. Das Subjekt kann so als mehrwertig, uneindeutig und dezentriert konstituiert beschrieben werden, was der „Nicht-Abgeschlossenheit der Diskurse entspricht“, vgl.: Broden/Mecheril 2010: 9.
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und Transformationen von Selbst- und Weltverhältnissen Einzelner […] In Diskursen, Wissensformen und Sprachen, den heteronomen Medien der Subjektkonstituierung, werden Menschen machtvoll unterschieden“ (ebd.: 11). Solche Positionierungen bzw. Subjektivierungen „durch Ansprache [finden] in einem Raum der Ungleichheit statt“ (ebd.: 12). Rassismus bildet in diesem Sinn nicht nur diejenigen, die als Andere konstituiert werden, sondern auch diejenigen, die Andere rassifizierend ansprechen und zu Subjekten in einem Ungleichheitsverhältnis konstituieren. Verrücktes Blut setzt dies an der Figur der Lehrerin Sonia Kelich in radikalisierter Absurdität in Szene. Die Widersprüche einer Bildung als heteronome Ansprache lassen sich wohl kaum besser auf den Punkt bringen als im Bild der Belehrung zu Aufklärung unter vorgehaltener Waffe. Doch die Waffe ‚wandert‘. Im Verlauf des Stückes übernehmen die Schüler_innen das Zepter und geben es immer wieder weiter. Es entsteht eine Dynamik von immer neuen Anrufungen und Subjektivierungen. Am Ende ist das Publikum dran.
D ANK Dass Rassismus sich nicht erschießen lässt, ist eigentlich schade. Doch diese Unmöglichkeit birgt auch das Potenzial für Versuche, sich auf die unendlichen Schwierigkeiten, nicht rassistisch zu sein, einzulassen und die Herausforderung des immer wieder Neu-Versuchens anzunehmen. Diese Versuche sind keine Akte autonomer Hervorbringungen. Fast möchte ich meinen, es sind Ermöglichungen. Als solche betrachte ich zumindest ‚meine‘ Gegenstimm-Bildung/en – gewissermaßen als kooperativen Prozess einer Unzahl von Gesprächen, Widersprüchen, Kritiken wie auch von Erfahrungen, Lektüren, Betrachtungen und Aktionen etc. Sie sind nicht ‚fertig‘, denn die Unabschließbarkeit ist Prinzip. Das vorläufige (Zwischen)Ergebnis, die vorliegende Studie, ist Teil dieses mäandernden Prozesses. Ständig forderte er neue Perspektiven ein, permanent baute er neue Hürden auf und immer verlangte er eine unendliche Geduld und Zeit zum Weitermachen – nicht nur von mir. Dabei haben mich viele auf fachlicher und persönlicher Ebene sehr unterstützt, denen ich an dieser Stelle danken möchte. Für die Begleitung des Dissertationsprojektes, für kritische Fragen, Hinweise und v. a. Zuspruch und Geduld danke ich Ute Pinkert, Karen Ellwanger, Silke Wenk, Barbara Paul und Ulrike Hentschel wie auch den Doktorand_innen des Oldenburger Kollegs Kulturwissenschaftliche Geschlechterstudien und dem Kolloquium des Theaterpädagogischen Instituts an der UdK in Berlin. Den Projektleiter_innen der Produktionen, Margrit Lang, Thomas Sander, Richard Na-
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wezi und Nurkan Erpulat möchte ich herzlich für die Gespräche und das Material danken, das mir eine große Hilfe war. Endlose fachliche und persönliche Diskussionen, Einsprüche, Korrekturen, wichtige Hinweise und immer wieder Zuspruch und Ermutigung verdanke ich Freundinnen und Freunden: Anke Bartels, Satish Poduval, Shaswati Mazumdar, Jörg Lagemann, Verena Rodatus, Ina Driemel, Thomas Blum, Iwan D’Aprile, Madhu Sinha, Andreas Döring, Lisa Nechutnys und Rajni Palriwala. Florian Schybilski danke ich für technische Hilfe, Ute Maack für ein sensibles Lektorat und besonders Gine Seitz für ihre engagierte Beratung und Hilfe im Bereich Grafik und Fotografie. Meine Eltern Uschi und Dieter Meyer und meine Schwestern, allem voran Sandra Meyer haben mir das Projekt durch Ermutigungen und andere Unterstützung überhaupt ermöglicht. Mein ganz besonderer Dank gilt Dirk Wiemann. Um diesen zu fassen, müsste ich die Sprachen der Geschichte und der Gegenwart in einem Wort bündeln können. How many times have I wondered, if it is really possible … !
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Diskurse des Interkulturellen
‚Interkulturelle Theaterpädagogik‘ in Praxis und Wissenschaft bewegt sich in einem höchst ambivalenten Klima, das – im Rahmen der Themen Migration, Zuwanderung und Asylpolitik – bestimmt ist durch ein diskursives Geflecht aus Einladungen, Zuweisungen und Ausschlüssen. Ihren programmatischen Selbstdarstellungen zufolge ist die Bundesrepublik eine für Einwanderung offene Gesellschaft1 mit zunehmenden Zugangsvereinfachungen. Dem widersprechen Abund Ausgrenzungspolitiken und -konstruktionen, die die Debatten um Zuwanderung begleiten und die sog. ‚Integration‘ ganzer Bevölkerungsgruppen betreffen, deren Angehörige seit Jahrzehnten in der Bundesrepublik leben, wenn sie nicht hier geboren und aufgewachsen sind. Nach wie vor konstruiert die Zuwanderungsgesellschaft in ihren medialen Hervorbringungen ‚migrantische Kultur‘ als ‚anders‘ (exotisch oder vormodern), problematisiert die Anwesenheit von Migrant_innen mit Begriffen und Slogans wie Parallelgesellschaft oder „Deutschland schafft sich ab“ (Sarrazin) und pflegt eine ‚Willkommenskultur‘, die von stereotypen Zuwanderungstopoi wie Platzmangel, ‚Überfremdung‘ und Ressour-
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Die Etablierung des lange umstrittenen Selbstverständnisses der Bundesrepublik als Einwanderungsgesellschaft im Zuge der Reform des deutschen Staatsbürgerschaftsgesetzes (1999) kann vielleicht als das wichtigste symbolische Bekenntnis in dieser Richtung gewertet werden. Über die damit verbundenen „Paradoxien bei der Anerkennung“ von Zugewanderten und Eingebürgerten in neuen Unterscheidungsmodi (z. B. nach Religion), die auch den Prozess der Europäischen Integration begleiten, konstatiert Carolin Emcke: „Sobald die Einwanderer Deutsche waren, mussten sie mindestens Muslime bleiben, sonst wären sie ununterscheidbar gewesen.“ (Emcke 2010); siehe auch offizielle Stellungnahmen in Pressemitteilungen des Bundesministerium des Innern, beispielsweise im Memorandum der Bundesbeauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Marieluise Beck: Intergrationspolitik als Gesellschaftspolitik in der Einwanderungsgesellschaft (2005).
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cenbegrenztheit (‚das Boot ist voll‘2) durchzogen ist. Praktische Umsetzung finden die Abgrenzungspolitiken in Arbeitsplatzbeschränkungen, Einbürgerungstests und anderen Integrationsbedingungen für Zugewanderte in eine Gesellschaft, die in „Leit“-Kultur-Debatten ‚eigene Werte‘ zu konstituieren sucht, um sie an ‚Integrationswillige‘ weitergeben zu können.3 Die Aufmerksamkeit, die Migrantinnen und Migranten zukommt, steht im Verbund mit ungleichen Chancenverteilungen, Diskriminierungen und wieder zunehmenden rassistischen Übergriffen.4 Diese rufen zwar mitunter schuldbewusste Erinnerungen an eine in permanenter Aufarbeitung sich befindende – wieder ‚gut‘ zu machende – Vergangenheit wach, aber selten brechen sie das Schweigen über das kaum aufgearbeitete koloniale Erbe oder gar aktuellen Rassismus.5 In diesem Spannungsfeld zwischen verlautbarter Weltoffenheit, Aufrufen zu interkultureller Begegnung und Dialog einerseits und den stetig reproduzierten kulturellen Rassismen auf der anderen Seite bemüht sich die relativ junge Disziplin der Theaterpädagogik – ähnlich wie andere Sparten der Kulturpädagogik auch – um die Zuwendung zu Menschen ‚mit Migrationshintergrund‘. Gerade die in den öffentlichen Debatten und Integrationsgipfeln betonten Herausforderungen und Chancen durch Zuwanderung und Migration sowie die damit verbundene Rede von der Notwendigkeit, im Dienste einer Integration von Migrant_innen Taten folgen zu lassen, sind Anlässe für die künstlerischen und kulturellen Disziplinen, ihre Kapazitäten als gewinnbringend für den allseits gefor-
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Zum Topos des ‚vollen Bootes‘ im aktuellen Migrationsdiskurs vgl.: Ulz: 2011: 29.
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In Anlehnung an Johanna Schaffers Begriff einer „Anerkennung im Konditional“ könnte dies als ‚Integration im Konditional‘ bezeichnet werden (vgl.: Schaffer 2008: 21). Zur Geschichte und Kritik der Integration u. a. Terkessidis 2003, Terkessidis 2004: 110, Terkessidis 2010a: 39–76.
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Die Verschärfungen dieser Tendenzen zeigen sich beispielsweise in den öffentlich bekundeten Rassismen der sog. PEGIDA-Bewegung seit Ende 2014, weiterhin in über 500 Anschlägen auf Unterkünfte für Asylsuchende allein in den ersten 10 Monaten des Jahres 2015 und nicht zuletzt in faktischer Indifferenz der Regierungspolitik zwischen Willkommenskultur und Abgrenzungsmaßnahmen.
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Zu den kolonialen Strukturen der Einwanderungspolitik in der Geschichte der Arbeitsmigration im 19. und 20. Jahrhundert insbesondere Ha 2003; Ha 2007; Hess/Moser 2009: 11–25. – Zur Geschichte der Migrationsbewegungen nach 1989: Terkessidis 2010a: 11–27.
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derten Dialog der Kulturen hervorzuheben.6 Geesche Wartemann beschreibt solche Momente, in denen die Politik auf Künste zurückgreift, wie folgt: Das Theater wird zu einem besonderen gesellschaftlichen Ort, an dem eine Annäherung von Menschen verschiedener Kulturen möglich sei. Während Einwanderern und Asylbewerbern im Alltag feindlich begegnet wird, sie zunehmend ausgegrenzt werden, sollen eben diese Grenzen im Rahmen interkultureller Theaterprojekte überschritten werden. Je bedrohlicher sich die gesellschaftliche Realität gestaltet, je unverhohlener und aggressiver der Fremdenhass zum Vorschein kommt, desto beschwörender klingen die Formeln vom friedfertigen Miteinander im Rahmen des Theaters. (Wartemann 2002: 88)
Die bundesweite „Bestandsaufnahme: Theaterarbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ (Ahrens 2008) belegt denn auch eine Fülle an Projekten, die im Einsatz der Mittel des Theaterspiels einen Beitrag zur Erhöhung der „Integrationschancen der Teilnehmer/-innen“ erkennen (ebd.: 57). Aus beidem, der Projektpraxis und dem Diskurs um Migration, geht die Beschreibung und Theoretisierung dessen hervor, was von verschiedenen Seiten programmatisch als „Interkulturelles Theater“ oder „Interkulturelle Theaterpädagogik“ bezeichnet7 oder kritisch aufgegriffen wurde (Meyer 2007; Blum 2011;
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Das internationale Engagement für interkulturellen Dialog zeigt sich beispielsweise 2001 an dem UNO-Jahr „Dialog zwischen den Kulturen“, dem „Europäischen Jahr des interkulturellen Dialoges“, das die Europäische Kommission 2008 ausrief, wie auch in Themenschwerpunkten wie: „inter.kultur.politik“ in Kulturpolitische Mitteilungen oder „Dialog der Kulturen“ in der Beilage Aus Politik und Zeitgeschichte der Wochenzeitschrift Das Parlament Juli 2006; siehe auch Stellungnahmen des Deutschen Kulturrats zu Kultureller Vielfalt in Deutschland in Zimmermann/Geißler 2012;
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Siehe: Sting 1994, 2005, 2008, 2010a, 2010b: Hoffmann/Klose 2008, Leppek 2010); außerdem eine Reihe von Tagungen wie z. B. „inter.kultur.pädagogik – Konzepte und Praxiserfahrungen in Museen, Kultur- und Jugendeinrichtungen“, Museum Schöneberg, Berlin 2003; „Dialog Theater und Religion“, Fachtagung an der Universität Hamburg u. a. in Kooperation mit der BAG Spiel und Theater, Dez. 2008; Symposium Theater und Migration (Institut für Kulturpolitik/Universität Hildesheim in Kooperation mit der Kulturpolitsichen Gesellschaft; Juni 2010), 25. Bundestagung Theaterpädagogik des BuT „Interkulturelle Theaterarbeit“ Okt. 2010 (Staatstheater in Karlsruhe) sowie Projektanträge beispielsweise der BAG Spiel & Theater: Theater(arbeit) in einer multiethnischen und interkulturellen Gesellschaft, Hannover 2005 und des Bundesverbandes Theaterpädagogik e.V.: Migrara – Vernetzung von interkulturell arbeitenden Theatergruppen mit Kindern und Jugendlichen, Köln 2004.
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Meißner 2010). Denkbare alternative Bezeichnungen – und damit auch andere Perspektiven auf die Praxis – wie antirassistisches, postkoloniales oder transkulturelles Theater (oder Theaterpädagogik) blieben in diesem Diskurs um das Intekulturelle weitestgehend marginal. Erst die „neue Agenda“ eines „postmigrantischen Theaters“ (Sharifi 2011: 35) eröffnete eine Diskursverschiebung, die einen „anderen, neuen Blick“ auf die deutsche Gesellschaft und ihr Theater ermöglichte (Langhoff in Behrendt u. a. 2011: 16), indem es sich in einem dezidierten Bemühen, eurozentrische Perspektiven zu verschieben, mit der „diversifizierten pluralen Stadtgesellschaft“ auseinandersetzt. Die politische Dynamik der Arbeit am Ballhaus Naunynstraße beschreibt Shermin Langhoff dabei durchaus als eher „inhaltistisch“ und weniger an der Bedienung bestimmter Ästhetiken orientiert, die „‚per Avantgardekulturbetriebklausel‘“ normativ wirken: „Für uns war es nicht vorrangig, eigene Formen zu entwickeln, auch wenn die Form selbst immer politisch ist, sondern an die narrativen Traditionen in Deutschland, in denen wir ‚anderen‘ entweder ‚als solche‘ konstruiert wurden oder gänzlich fehlten, zu erinnern und sie fortzuschreiben.“ (Langhoff in Banzinger 2012)8 Im Folgenden werde ich mich dem zuwenden, was in der Theoriebildung zu Interkulturellem Theater und Interkultureller Theaterpädagogik erforscht und konzipiert wurde: Was wurde wie bislang mit dem Begriff eines „Interkulturellen Theaters“ umrissen und programmatisch profiliert? Welche Perspektiven und Paradigmen waren dabei leitend und welche nicht? Mit welchen Beschreibungsweisen wurde das Praxisfeld strukturiert? Dieses bezieht über den großen Bereich der nicht-professionellen Projektarbeit mit Kindern und Jugendlichen hinaus auch professionelle und semi-professionelle Theaterproduktionen mit ein. Da der theoretische Blick der Theaterpädagogik auf interkulturelle Theaterpraxis stark von theaterwissenschaftlicher Seite beeinflusst ist, werden auch Positionen der Theaterwissenschaft diskutiert. Das gilt insbesondere für die Fokussierungen
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Einen ähnlichen Ansatz, wenn auch nicht unter dem Begriff eines Postmigrantischen Theaters, verfolgt das JugendtheaterBüro Berlin, das 2012, 2013 und 2014 in Berlin das Jugendtheaterfestival Festiwalla am Haus der Kulturen der Welt initiierte und dies zum Startpunkt des Projektes Berliner KulTür auf! machte. In ihrem Brennpunktmanifest fordern die Jugendlichen mit dezidiertem Bezug auf dominanzgesellschaftliche Anrufungen den Zugang zu den öffentlichen Bühnen: „WIR sind die, über die Ihr immer redet, WIR sind die Ausländer, WIR sind die Migranten und Migrantinnen, WIR sind die Hartz IV Empfänger_innen, WIR sind Jugendlichen ohne Ausbildungsplätze, WIR sind die kopftuchtragenden Muslima. WIR sind die Problemfälle, die Euch das Leben erschweren!“ (Auszug aus: Brennpunkt Manifest KulTür auf! [JugendtheaterBüro 2012])
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auf ‚das Ästhetische‘ in der Betrachtung des Gegenstands entlang phänomenologischer Grundannahmen. Demgegenüber wurden theaterwissenschaftliche Positionen, die diesem „Ästhetizismus“ (Worthen in Regus 2009: 65) mit Skepsis begegnen und die politischen Dimensionen sog. interkultureller Begegnung mit und auf dem Theater stärker ins Zentrum rücken, von der theaterpädagogischen Theorie bislang nicht oder nur selten aufgegriffen.9
T HEATERPÄDAGOGIK INTERKULTURELL : G RUNDKONZEPTIONEN Klaus Hoffmann, Rainer Klose und Petra-Angela Ahrens diskutierten im Jahr 2008 die Ergebnisse der bundesweiten „Bestandsaufnahme über Theaterarbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ (Hoffmann 2008: 10), in der die interkulturelle Projektarbeit von über 450 Theaterpädagog_innen erfasst wurde. Die Studie beansprucht nicht nur, einen Überblick über Arbeitsformate, Zielsetzungen, pädagogische und künstlerische Methoden und Themengebiete einer Interkulturellen Theaterpädagogik zu geben, sondern auch, die integrativen Effekte interkultureller Theaterarbeit für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund zu beschreiben. Die Künste könnten, so Klaus Hoffmann, politische Zielsetzungen unterstützen, ohne ihren „unabhängigen künstlerischen Anspruch“ aufgeben zu müssen (2008: 11). Durch die Förderung von offener Wahrnehmung, Kreativität und einem Verhalten, das Visionen, Emotionen und Innovationen zulasse, helfe Theater, den „Wandel der Gesellschaft als Herausforderung wahr[zu]nehmen“ (ebd.). Den in der Politik hoch angesetzten „Erwartungen an die Integrationsleistungen von Kunst und Kultur“ (u.a. als „Querschnittsaufgabe [des] Nationalen Integrationsplans“ (Hoffmann/Klose 2008: 81)) könne Theater nachkommen, konstatieren die Autoren mit Blick auf das Ergebnis ihrer Studie: „Theater zeigt hier, welches Integrationspotential und welche Ressourcen sozialer Kreativität es entwickeln kann.“ (Hoffmann 2008: 10) Dies zeige sich insbesondere im Bereich der personalen und sozialen Kompetenzen, die u. a. die Integrationsfähigkeit der Teilnehmenden stärkten. Indem Theater die
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Zu nennen wären hier neben Hanna Voss’ Reflexion von ethnischer Identität(szuweisung) im deutschen Gegenwartstheater (2014) und meinen eigenen Vorarbeiten (Meyer 2007; 2009, 2011a; 2011b) die unpublizierten Master- und Magisterarbeiten von Thomas Blum zu ästhetischen Strategien im Umgang mit Identitätskonstruktionen des „Anderen“ in Nurkan Erpulats Verrücktes Blut (vgl: Blum 2011) und Barbara Meißner zu Kulturbegriffen in der interkulturellen Theaterpädagogik (Meißner 2010).
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„Bereitschaft, sich mit anderen Kulturen auseinander zu setzen und Unterschiede zu respektieren“ fördere und vermittle es “wichtige Fähigkeiten für gelingende Integration, die […] als vielgestalterischer Prozess mit individuellen Wahlmöglichkeiten“ (Hoffmann/Klose 2008: 82).10 Als Integrationsmerkmal wird zudem auch die Entwicklung von (deutschen) Sprachkompetenzen erkundet und bestätigt.11 Neben den integrationsorientierten Aspekten einer Theaterpädagogik, die als kulturelle Bildung Differenzen überbrücken soll12, konstatieren Hoffmann/Klose als bereicherndes Moment in theaterästhetischer Hinsicht eine besondere Körperorientierung. Es falle auf, „dass die Projekte eindeutig körperorientierter werden und von autobiografischem Material geprägt sind. Die theaterpädagogische Szene scheint bereits von den Mitspielern/-innen aus anderen Herkunftskulturen ästhetisch beeinflusst zu werden.“ (Hoffmann 2008: 12) Die Studie präsentiert somit als Ergebnis eine – diskussionswürdige – Differenz, die sie jedoch zugleich vorausgesetzt hat: Die Impulse und Ressourcen ‚anderer Herkunftskulturen‘ werden an die Körper der Mitspieler_innen gebunden und mit der Fokussierung auf Körpersprache tendenziell ‚entverbalisiert‘. Entsprechend zeigten ‚sich‘ die teilnehmenden Spieler_innen vor allem in einer verstärkten Körperlichkeit und bleiben theaterästhetisch auf diese reduziert, während ihnen zugleich mit dem Ziel deutscher Sprachförderung ein Defizit angehaftet wird. Auch Wolfgang Sting spricht von der intensiveren Körperorientierung, mit der in produktiver Weise eine „ästhetische interkulturelle Auseinandersetzung“ (Sting 2008: 101, Herv. tm) geführt werden könne. Anders als Hoffmann und Klose theoreti-
10 Für diese „Integrations- und Transformationsprozesse“ in der Theaterarbeit schlägt Vanessa-Isabelle Reinwand mit Rückgriff auf Wolfgang Welsch das Konzept einer „Transkulturellen Bildung“ vor, für das sie zugleich die „kulturelle Selbstreflexivität jedes Einzelnen“ einfordert (Reinwand 2011: 209). Zu weiteren theoretischen Konzeptionen Transkultureller Theaterpädagogik vgl.: Meißner 2010 und Meyer 2007. 11 Siehe dazu die Beschreibung des Hamburger TheaterSprachCamps von Sting 2010c. 12 Zur Frage nach der „Kunst als Brückenfunktion bei interkulturellen Prozessen“ siehe die Diskussion der Pilotstudie „Kulturelle Identitäten in Deutschland“ von Susanne Keuchel (2011: 30–32), wie auch den Bericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“, in dem die Integrationsleistungen von Kunst und Kultur im Besonderen hervorgehoben werden (Deutscher Bundestag 2007: 211). Bemerkenswert ist auch hier die zugrundeliegende Annahme, dass der „selbstbewusste Umgang mit dem Fremden […] den selbstbewussten Umgang mit dem Eigenen voraus[setzt]“ (ebd.). Auf die Problematik der mit dieser vorausgesetzten Annahme verbundenen Differenzposition gehe ich im folgenden Kapitel zu Rassismus ein.
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siert Sting das Interkulturelle im Theater und in der Theaterpädagogik primär unter Gesichtspunkten künstlerisch-ästhetischer Praxis und befürwortet statt Harmonisierung oder Anpassung an die Dominanzkultur die Produktivität kultureller Differenz (Sting 1994: 96), die an der Schnittstelle zwischen künstlerischer und pädagogischer Praxis zum Tragen komme. Bereits in einem seiner ersten Texte zur Interkulturellen Theaterpädagogik vermeint er in der Körperorientierung einen erste[n] Verweis darauf zu entdecken, was Interkulturelles Theater vermitteln kann. Nämlich das, was nicht allein über verbale Kommunikation mitteilbar oder rationales Denken erschließbar ist. In der Theaterarbeit heißt das, außer dem Text auch Subtext wahrnehmen und formulieren zu können. Das Vermögen sich über die Worte hinaus auch in Gesten und komplexeren Bildern auszudrücken, ermöglicht zwangsläufig eine differenziertere Mitteilung über eine andere Kultur. (ebd.: 86)
Unter der Überschrift „Warum fuchteln die Franzosen mit den Armen? – Oder die Grenzen der interkulturellen Erziehung“ (ebd.: 84) plädiert er für die Überschreitung der Grenzen der als eher kognitiv beschriebenen Interkulturellen Pädagogik. Denn die Theaterpädagogik könne dagegen über „Deutungswissen“ hinaus eben jenes „Handlungswissens“ vermitteln, das zum Verstehen anderer Kulturen notwendig sei (ebd.: 88). Während Sting sich in dieser Argumentation v. a. an Zielsetzungen der Interkulturellen Pädagogik, dem Verständnis und der Anerkennung von der „fremde[n] und andere[n] Kultur“ (ebd.: 87) orientiert, wendet er sich in seinen folgenden Überlegungen ästhetischen Zielsetzungen in der Theaterpädagogik zu und strebt damit auch Erweiterungen oder Verschiebungen in der Beschäftigung mit dem Interkulturellen an. Insbesondere die Vermischung von Formen (Hybridisierung) sowie die Erfahrung von Differenz erklärt er dabei zu zentralen Paradigmen einer Interkulturellen Theaterpädagogik. Für Miriam Cohn besteht Wolfgang Stings einflussreicher Beitrag zur Theoriebildung Interkultureller Theaterpädagogik in der Entwicklung einer Programmatik, die bemüht ist, „migrantische Theaterproduktionen als eigenständiges Schaffen“ zu betrachten (Cohn 2012: 162f) und Interkulturelle Theaterpädagogik als ästhetische Bildung zu entwickeln. Dieser Konzeption, mit der Sting in verschiedenen Aufsätzen seit 1994 an die wissenschaftliche Öffentlichkeit getreten ist, wurde bislang von anderer Seite wenig hinzugefügt oder entgegnet. Entwickelt aus einer Systematisierung des „Umgang[s] mit anderen Kulturen im Theater“ (Sting 2008: 103) in vier Grundkonzepten: Exotismus, Internationalität, Transkulturalität und Hybridkultur, ist sie daher zu einem unwidersprochenen Grundmodell einer Interkulturellen Theaterpädagogik geworden, das im Folgen-
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den – ausgehend von den benannten Grundkonzpten – genauer betrachtet werden soll. Zur Erläuterung von Exotismus wie auch Hybridkultur übernimmt Sting die Befunde von Stephan Wolff, die aus anthropologischer Perspektive Exotismus als den Beginn einer „Beschäftigung mit dem Fremden […] im Sinne des Delektierens am Rätselhaften“ (Wolff 1994: 19) erklären. Wolff lässt eine lange Geschichte des Exotismus im Theater Revue passieren, „beginnend mit den Persern des Aischylos“ über die englische Renaissance (Shakespeare) und „die Zeit des Rokoko“ bis hin zu den Opern des 18. und 19. Jahrhunderts (Mozart, Verdi u.a.).13 Hartwin Gromes (und mit ihm Wolfgang Sting) bemerkt zu Recht die Kontinuität eines Exotismus, der sich ausgehend von der kolonialen Vergangenheit und den sog. Völkerschauen des 19. und 20. Jahrhunderts bis hin zu heutigen touristischen Folkloredarbietungen, Festivals wie dem Karneval der Kulturen oder sog. interkulturellen Begegnungsveranstaltungen fortsetzt.14 Die Verbindung des theatral-spektakulären Exotismus mit Kolonialismus und Tourismus stellt Hartwin Gromes her: In der Gegenwart, in der durch Festivals, Fernsehen und Workshops Elemente aller Kulturen für alle, die sich dafür interessieren, mühelos zur Verfügung stehen, liegt die Gefahr, eigene Einfallslosigkeit mit exotischen Federn zu kaschieren und für diesen nichtssagenden Kultur-Mix die Bezeichnung interkulturelles Theater zu mißbrauchen, sehr nahe, ich meine fast noch näher als zu den Zeiten der Hochblüte des Exotismus, der sich parallel zum Kolonialismus als dessen Begleiter in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts farbenprächtig entfaltete. Denn zu den Künstlern, die sich angezogen fühlen vom Fremden und seinen „Geheimnissen“, gesellen sich die Kultursammler, die auf sogenannten Kulturreisen gleichfalls den Reiz des geheimnisvoll Fremden gekostet haben und die Spielregeln des organisierten Tourismus mit der Begegnung mit fremden Kulturen verwechseln. (Gromes 1994: 33)
13 Sting (2005: 41) übernimmt diese Kontinuitätsdiagnose nahezu wörtlich aus Wolffs Beitrag zur Dokumentation der Hildesheimer Tagung und des Festivals Interkulturelles Theater und Theaterpädagogik 1993, in der die Beiträge von Gromes, Wolff und Sting 1994 veröffentlicht wurden (vgl.: Kurzenberger/Matzke 1994). 14 Zur Kritik aktueller Zurschaustellungen des Exotischen im Tourismus vgl.: Backes u. a. 2002; zur demonstrativen Zurschaustellung kultureller Differenz als Teil einer Programmatik des Multikulturalismus und Hybridität kritisch Teressidis 2003: 242– 249 und Ha 2005b.
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Edward Said hat dieses distanzierte Bestaunen, das die wissenschaftlichen Abhandlungen und künstlerischen Artikulationen über den Orient im 18. und 19. Jahrhundert prägte, als Teil eines Herrschaftssystems des Westens über den kolonialisierten Osten aus postkolonialer Perspektive theoretisiert. Said beschreibt, wie die ‚Idee Europa‘ sich aus der diskursiven Herstellung des Orients und in seiner Abgrenzung konstituierte – gipfelnd in „de[m] Gedanke[n], dass die europäische Identität im Vergleich aller nicht-europäischen Völker und Kulturen überlegen sei.“ (Said 1981: 14). Historisch geht diesem Orientalismus, wie Robert Weimann, Walter Mignolo, Enrique Dussel und Stuart Hall aus den Eroberungsberichten herausgearbeitet haben, eine vergleichbar exotisierende Beschreibung indigener Lebensweisen und Gesellschaften im Amerika des ‚Entdeckungs‘-Zeitalters voraus (Hall 1994; Dussel 1995; Weimann 1997; Mignolo 2003). Auch mit seiner Position zu Internationalität folgt Sting dicht den Ausführungen von Gromes, der das Potential zu interkultureller Projektarbeit in den überwiegend international/multikulturell besetzten Ballettensembles, Opernchören oder Orchestern geradezu als ungenutzt beklagt, „weil die Künste, um die es geht, in der ungebrochenen Tradition westlicher, westeuropäischer Konventionen stehen, die selbst nicht thematisiert werden.“ (Gromes 1994: 31) Die „Voraussetzung für interkulturelles Theater“ sei stattdessen „der Versuch des Dialogs zwischen den Kulturen, vor den die Wahrnehmung und Akzeptanz des Fremden gesetzt sind“ (Gromes 1994: 32). In ähnlicher Weise argumentiert auch Patrice Pavis gegen die Bezeichnung Interkulturelles Theater, insbesondere wenn für die Internationalisierung von Festivals oder die Besetzungspolitiken in der internationalen Theaterszene ökonomische Gründe erkennbar werden: ‚Intercultural‘ does not mean simply the gathering of artists of different nationalities or national practices in a festival. In this banal sense of international (or cosmopolitan), one may say that contemporary theatrical or choreographic production has become international, often for simple economic reason: in this way artists and producers stand much greater chance of making profit, since their productions can be understood everywhere without adaptation. (Pavis 1996: 5)
Auch was die deutschen Theater- und Opernhäuser anbelangt, könnte gefragt werden, wie viel der hohe Anteil an Musiker_innen aus dem internationalen Ausland möglicherweise mit Einsparungen im Bereich der Ausbildung zu tun hat. Dagegen scheint für deutsches Sprechtheater eine internationale Besetzung immer noch nahezu undenkbar. Hier wirkt offenbar die Tradierung des bürgerlichen Theaters als Institution im Dienst der Ausbildung der deutschen Nation
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nach. Das eng mit dem Theater verbundene Konzept der Kulturnation, die das Vereinende in der gemeinsamen deutschen Sprache suchte, schlägt sich bis heute in Besetzungspolitiken nach Maßgabe der akzentfreien Beherrschung der deutschen Sprache, nach Herkunft der Namen und nicht zuletzt nach körperlicher Erscheinung nieder.15 Solange das Einwanderungsland Deutschland sich nicht als Nation in Vielfalt betrachtet, so konstatiert Shermin Langhoff, bleibt es schwer, „sich von den Klischees eines blonden Siegfried und eines blauäugigen Gretchen zu befreien“ (Langhoff in Behrendt et al. 2011: 16). Einer solchen Fokussierung auf Sprache als kulturnationsbildendem Faktor steht diametral gegenüber, was Wolfgang Sting unter Transkulturalität im Theater fasst: die Suche nach „dem verbindende[n] Eine[n] unter oder hinter den Sprachen der Kulturen“ und die Entwicklung „entsprechende[r] theatrale[r] Ausdrucksformen, die allen Menschen verständlich sind“ (Sting 2005: 104, Herv. tm). Peter Brook hatte als Ziel seiner Arbeit die Entdeckung von „Lebensformen […], die frei von Kultur sind“ (Brook zit. in Gromes 1994: 37) beschrieben. Mit Blick auf diese Idee eines „über-kulturell“ Verbindenden in universalen Gemeinsamkeiten bezeichnete Marvin Carlson das Theater von Peter Brook als „transcultural“ (Carlson 1996: 89). Die Universalität wird dabei in einer Sprache des Theaters gesucht – einer „Universalsprache des Theaters“ (FischerLichte 1996a: 258), die den menschlichen Körper und seine (vorgeführten) Bewegungen als universal gegenüber der partikularen Ausgestaltung von verschiedenen kulturellen Ausdruckformen und Sprachen setzt.16 Den in diesen Versu-
15 Dazu: Fülle 2011 und einführend: Fischer-Lichte 1993: 60 – 115); zur kulturellen Nationalisierung und Kultur als Mittel der Identifikation siehe auch Erel 1999: 173–175 und Langhoff 2011: 28. Das Selbstverständnis von Deutschland als Einwanderungsland, das in den Texten und Manifesten (z. B. die Erklärung der Kulturpolitischen Gesellschaft und der Bundeszentrale für politische Bildung 2003) zu einer Öffnung von Zugängen im kulturellen Sektor, insbesondere in Theater und Film, so offensiv formuliert wurde, hat erst in wenigen kulturellen Institutionen zur Reflexion tradierter Selbstverständnisse geführt (vgl: Israel 2011: 61). 16 Nach ähnlichen anthropologischen Grundkonstanten suchte auch die Fotoausstellung Family of Man (1955), die von Edward Steichen für das Museum of Modern Art, New York, kuratiert wurde und in einschlägigen Metropolen Europas, Japans und sogar in Moskau zu sehen war. In der „Foto-Rhetorik universaler ‚Menschlichkeit‘“ (Schmidt-Linsenhoff 2004: 22) suchten Steichen und seine Mitarbeiter das ‚allgemein Humane‘ in der Vielfalt menschlicher Ausdrucksformen und fassten diese in Begriffen wie Liebe, Glaube, Geburt oder Tod etc. Problematisch erscheint hier der Unterschiede gerade nivellierenden Grundton solcher Bemühungen, insbesondere sozialer,
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chen eingelassene Vorstellung von der Unmittelbarkeit einer Kommunikation jenseits kultureller Spezifik und verbal-sprachlicher Äußerung, die in den experimentellen Laboratorien des Theatermachers zur Entwicklung einer „universellen Theatersprache, Orghast, jenseits bekannter Stile und Konventionen“ führen sollten (Sting 2005: 42), steht Hartwin Gromes mit Skepsis gegenüber. Denn die vorkulturell gesuchte und auf den Körper zentrierte Kontaktaufnahme, die Brook „‚auf einer sehr tiefliegenden Ebene‘ zwischen ‚Menschen ohne gemeinsame Sprache oder Bezugspunkte‘“ (Brook zit. in Gromes 1994: 35) anstrebe, erfordere mindestens zur Verständigung im Arbeitsprozess die Ausbildung sprachlicher Gemeinsamkeit und kultureller Codes (vgl.: Gromes 1994: 35). Gegen einen oberflächlichen „Kultur-Mix“, der nicht zu Dialog führe, sondern in einem beziehungslosen Nebeneinander verschiedener Kulturtraditionen verbleibe, erklärt Wolfgang Sting das Konzept der Hybridkulturalität zur programmatischen Position für eine Interkulturelle Theaterpädagogik. „Hybrid meint: gemischt, von zweierIei Herkunft, aus Verschiedenem zusammengesetzt.“ (Sting 2005: 42; 2008: 104) Dabei verwendet Sting den Begriff der Hybridkulturalität nicht nur deskriptiv, sondern erhebt ihn zum normativen ästhetischen und zugleich gesellschaftlichen Programm mit dem Ziel, auf der Basis kultureller Vermischungen in der dialogischen Begegnung neue Ausdrucksformen und Vielsprachigkeit zu entwickeln: „Polyphonie und Differenz werden dabei als positive Eigenschaft und als Ausgangspunkt für Begegnung und Kommunikation gesehen.“ (Sting 2005: 42, Sting 2008: 105) Hierfür böten das Theater und die theaterpädagogische Praxis ideale Freiräume, da sich hier verschiedene Formsprachen vermischen könnten. In Sparten wie dem Tanz oder der Performance, insbesondere aber im Musikbereich sei das hohe Potential solcher Hybridisierungen längst produktiv, im Sprechtheater jedoch noch wenig erkundet.17
ökonomischer und rechtlicher Ungleichheiten, bei gleichzeitiger Hervorhebung von ‚kultureller Differenz‘ im Einzelnen zur Betonung von Vielfalt. 17 Stings Ausführungen hinterfragen nicht die Geschichte dieses Unterschieds zwischen Musik und Sprechtheater. Grundsätzlich kritisch zum „Hype um Hybridität“: Ha 2005b; Pritsch 2001: 171 – 206; mit Bezug auf Reckwitz auch Herrmann 2010: 89 – 90. Kien Nghi Ha kritisiert, dass „Hybridität nicht selten ohne ihre grundlegenden historischen und politischen Kontexte als Modell ‚kultureller Vermischung‘ vorgestellt und [in der sozialwissenschaftlichen Rezeption] euphorisch als neuartiger Vergesellschaftungsmodus zelebriert wird [und dabei] den Problemstellungen und Intentionen des Postkolonialismus zuwiderläuft.“ (Ha 2004: 222). Diese Kritik ist durchaus auf die Anwendung des Hybridkulturbegriffs im Konzept der Interkulturellen Theaterpä-
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In Stings Systematisierung verschiedener Arten der „Auseinandersetzung mit anderen Kulturen und dem Fremden im Theater“ (Sting 2005: 41) lassen sich als leitende Ordnungs- bzw. Kategorisierungsfaktoren der Grad und die Qualität von Dialogizität ausmachen: Während Internationalität und Exotismus wenig dialogisch erscheinen, zeichne sich das Dialogische im Hybridkulturellen durch Differenz und Polyphonie aus – im Gegensatz zur transkulturellen Suche nach einer gemeinsamen Universalsprache. Doch beidem, dem Transkulturellen wie auch dem Hybridkulturellen, spricht Sting die Schaffung von Neuem zu. Die im Konzept des Hybridkulturellen betonten Aspekte des Dialogs, der Differenz und der Erneuerung rücken ins Zentrum dieser Theoretisierung von Interkultureller Theaterpädagogik.
Ä STHETIK
DER
D IFFERENZ
Stings Vorstellung von Hybridkulturalität korrespondiert mit den theoretischen Überlegungen zum Interkulturellen im Bereich der professionellen internationalen Theaterszene der 70er/80er (sowie der 20er/30er Jahre), die Erika FischerLichte vorgenommen hat. Mit der Frage nach Gemeinsamkeiten oder Entsprechungen und damit nach der (sinnvollen) Vergleichbarkeit im „produktiven Umgang […] mit Elementen fremder Theatertraditionen“ (Fischer-Lichte 1996a: 252) betrachtete sie nicht nur die Produktionen von Peter Brook, Robert Wilson oder Ariane Mnouchkine, sondern auch solche des japanischen Theatermachers Suziki Tadashi und des Nigerianers Wole Solyinka. Dialogische Begegnungen unterschiedlicher Theaterkulturen untersuchte sie mit Blick auf kreative Neuerungen, die sich aus Verknüpfungen von Formelementen ergeben. Ihre Beschreibungen der jeweiligen Arbeitsweisen, unterschiedlichen Ausgangspunkte und Zielsetzungen sowie der höchst divergenten Kontexte lässt Fischer-Lichte am Ende auf einen gemeinsamen Nenner zulaufen: die Funktion, „eine ‚universale Sprache des Theaters‘ zu schaffen und die Kommunikation zwischen den Mitgliedern unterschiedlicher Kulturen zu mobilisieren“ (Fischer-Lichte 1996b: 38, Übersetzung tm): The idea underlying the intercultural trend in theatre across the world today is that the path of permanent mediation between the cultures, in the many different ways described
dagogik übertragbar, wie die folgenden Ausführungen verdeutlichen. Auf eine differenzierte Analyse von Stings Bezug auf Homi Bhabhas Begriff des Hybriden muss ich hier jedoch verzichten, weiterführend dazu neben Ha (ebd.) und Erel 1999: 176 – 189.
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above, will gradually lead to the creation of a world culture in which different cultures not only take part, but also respect the unique characteristics of each culture and allow each culture its authority. (Fischer-Lichte: 1996b: 38)
Die Analogie zwischen Fischer-Lichtes Konzeptualisierung des Interkulturellen im Theater und Stings programmatischem Hybridkultur-Ansatz besteht weniger in der Vorstellung einer durch den Kulturaustausch denkbar werdenden „Weltkultur“ (ebd.). Mit der dezidierten Betonung des kulturell Differenten, das im dialogischen Prozess hybridkultureller Mischexperimente produktiv gemacht wird bzw. werden soll, setzt Fischer-Lichte „Weltkultur“ explizit gegen eine oneworld-culture im Sinne eines kulturellen Monopols von Cola, TV oder McDonald ab (ebd.). Ebenso fokussiert auch Wolfgang Sting kulturelle Differenz: „Die Arbeit mit der Differenz heißt: Nicht das universell Verbindende [im Sinne einer anthropologischen Grundkonstante] steht im Mittelpunkt, sondern das Zeigen der Differenz, um darüber in einen Dialog zu kommen.“ (Sting 2008: 108) Dieser Dialog ereigne sich im theaterpädagogischen Prozess auf sozialer und künstlerisch-ästhetischer Ebene gleichermaßen. Deutlich wird bereits, dass in dieser Konzeption einer auf Hybridkulturalität basierenden wie auch auf sie abzielenden Interkulturellen Theaterpädagogik „Differenz“ zu einem Schlüsselbegriff avanciert. In diesen sind zudem zwei weitere Konzepte – das des „Fremden“ und das des „Anderen“ – eingelassen: das Fremde als das Un- oder Nochnicht-Bekannte und das „Andere“ als das Nicht-Eigene, das konstitutiv für die Herausbildung des Eigenen verstanden wird: „Alterität ist […] die Bedingung für Identität und Selbstvergewisserung.“ (Sting 2008: 106) Hier deutet sich bereits eine Verschiebung der Funktion an, die Sting dem Interkulturellen beimisst: Von Zielsetzungen der Interkulturellen Pädagogik, die er mit Verständnis, Akzeptanz und gleichwertiger Anerkennung anderer kultureller Hervorbringungen umrissen hatte, wendet sich der Blick hier explizit auf Alterität als Bedingung zur Herstellung von ‚Identität und Selbstvergewisserung‘ im Eigenen.18 Sting
18 Die selbstverständliche, wenn auch wenig begründete ‚Notwendigkeit‘ von Differenzerfahrungen für die Selbstvergewisserung deutete Sting bereits in dem Artikel von 1994 an, in dem er (s. o.) „Fremdheit“ oder Alterität als konstitutiv („Grundelemente“) für Bildungsprozesse im Allgemeinen und für die interkulturelle Begegnung im Besonderen und als „Bedingung für Identität und Selbstvergewisserung“ diskutiert: „Das Betonen von Differenz und die Differenzerfahrung dienen der Selbstbewußtwerdung. Wenn man selbstbewußt, sich seiner sicher ist, verschwindet die Angst vor anderen und die Ablehnung von anderen.“ Denn: „Je weniger integriert und selbstbewußt man [in diesem Fall der kulturell ‚Andere‘] ist, desto stärker ist die
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etabliert „Differenz“ als Bindeglied zwischen mehreren Paradigmen: dem Ästhetischen, dem Künstlerischen, dem (darin) Bildenden und dem Interkulturellen. Er beschreibt den produktiven Umgang mit Differenz und Fremdheit als gleichermaßen konstitutiv für künstlerische, soziale und ästhetisch bildende Praxen, die im Theater als zugleich sozialer und hybrider oder polyästhetischer Kunstform zusammenkommen (Sting 2005: 47; 2008: 108). Bezogen auf Kunst und künstlerische Prozesse fungieren Fremdheit und Differenz Sting zufolge als Movens jener Grenzüberschreitungen, die zu Verschiebungen von Bedeutungen und Mehrfach-Deutungen sowie zu formalästhetischen wie semantischen Neuverknüpfungen führen. Das gilt für den Prozess der Wahrnehmung von Kunst ebenso wie für den der künstlerischen Produktion. Es gehe, so Sting, um die Herausforderung, Ungewohntes – nicht nur Kunst – ‚sehen zu lernen‘, d. h. aus neuen Blickwinkeln zu betrachten. Diese Mehrdeutigkeit auszuhalten, sei nicht nur Teil kultureller Bildung in einer Gesellschaft, die in sich plural aufgestellt und durch „Brüche, Abspaltungen, Ungleichzeitiges“ charakterisiert sei (Sting 2005: 44), sondern auch intrinsisches Moment künstlerischer Produktionspraxis selbst: Vom künstlerischen Konzept her die Differenz in den Mittelpunkt zu stellen und zu begründen, fällt nicht schwer. Das vom Alltag Differente hervorzuheben, ist elementarer Bestandteil künstlerischen Arbeitens. Kunst als Distinktionsmedium stellt die subjektive Sicht, das Besondere, das Sperrige oder auch das Irritierende ins Zentrum ihrer Inszenierungen, verstärkt durch entsprechende ästhetische Mittel. Die Arbeit mit der Differenz heißt: Nicht das allgemein Bekannte steht im Mittelpunkt, sondern das Zeigen der Differenz, um darüber in einen Dialog zu kommen. (Sting 2010a: 55f)
Die Arbeit mit Differenz im Künstlerischen setzt sich im Theaterspiel als ästhetischer Praxis in Bildungs- und Lernprozessen um, bei denen u. a. die Selbstwahrnehmung in der Differenz zwischen Innen- und Außenwelt, Spieler und Figur, Distanz und Identifikation sowie die wechselseitige Ergänzung von „Körperlichkeit und Kognition“ im Zentrum stehen (Sting 2005: 46) und nicht zuletzt die Ausbildung einer komplexen Fremd- und Selbstwahrnehmung erreicht werden soll. Die theaterpädagogische Theorie konzeptualisiert solche Differenzerfahrungen seit längerem für das Theaterspielen als ästhetische Bildung (Hent-
Notwendigkeit zur Abgrenzung, so meine These.“ (Sting 1994: 95). Ist dies nicht im Umkehrschluss ein Plädoyer zur Legitimierung von (kultureller) Schließung zu ‚kultureller Identität‘ zur Herstellung von individuellem oder gar kollektivem Selbstbewusstsein?
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schel 2000) als Bestandteil individueller Bildungsbewegungen. Aus der Perspektive phänomenologischer Sozialforschung erklärt Ulrike Hentschel Theater beispielsweise als Herstellung und somit Unterscheidung verschiedener Wirklichkeitsmodi (u. a. im Spiel) durch subjektive und sozial-kommunikative Sinngebungen (ebd.: 141–146). Das Konstituieren von wie das Sich-Bewegen in und zwischen diesen betrachtet sie als Grundvoraussetzung für das Theaterspiel: „Erst unter den dargelegten Bedingungen eines Wechsels der Wirklichkeitsordnungen – auf der Ebene der Spielenden war die Rede von einem ‚Oszillieren‘ zwischen Darstellen und Erleben – lässt sich die spezifische Leistung des Theaters erfassen“ (ebd.: 146) – und damit die Differenzerfahrungen und die Bildungsbewegung des theaterspielenden Subjekts. Das labile Gleichgewicht von bewußtem Gestalten und subjektivem Erleben, das sich mit der ambiguosen Erfahrung von Spieler und Figur überschneidet, ist kennzeichnend für die Differenzerfahrungen des künstlerisch gestaltenden Subjekts und für die Bildungsbewegung [als subjektive Suchbewegung zwischen den selbstbestimmt konstituierten Wirklichkeiten], die in diesem Prozess stattfinden kann. (ebd.: 246)
Während also Differenz in Bezug auf Prozesse künstlerischer Produktion und Rezeption als das (u. a. vom Alltag) Andere, Unbekannte und Fremde betont und im Sinne von Ver-Fremdung vorgestellt wird, meint Differenzerfahrung im Rahmen ästhetischer Bildung individuelle wie auch soziale Erfahrungen von Gleichzeitigkeit im Wechsel von verschiedenen Ebenen (z. B Wirklichkeitsmodi), in der das Mehrdeutige, Ambivalente, v. a. aber das „Dazwischen“ zum wesentlichen Moment oder Merkmal erklärt wird. Für Wolfgang Sting stellen sich „über den Theaterprozess auf unterhaltsame Weise kognitive, affektive, subjektund handlungsorientierte, eben auch fremde und befremdende Erfahrungen, Differenzerfahrungen ein“ (Sting 2008: 107), d. h. Differenzerfahrungen, die individuelle wie auch soziale Aspekte des Theaters als Differenzerfahrung des einzelnen – und hier v.a. unmarkierten – Individuums in der Gruppe in Verknüpfung mit dem Aspekt des Differenten zum Alltäglichen (im Künstlerischen) produktiv machen. Unter dieser Maßgabe, dass Differenz und Fremdheit bereits „Grundelemente im allgemeinen Bildungsprozess, aber auch konstitutiv für ästhetische Erfahrung und ästhetische Praxis“ seien (Sting 2005: 43), stellt die Verbindung mit dem Interkulturellen eine Erweiterung dar, und zwar zum einen eine Erweiterung der ästhetisch-künstlerischen Prozesse um ‚außer-theatrale‘ Zielsetzungen und thematische Fokussierungen und zum anderen als eine Erweiterung des Ästhetischen selbst.
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‚Außer-theatrale‘ Zielsetzungen würden vor allem dann relevant, wenn etwa in der interkulturell zusammengesetzten Gruppe die beschriebenen Differenzerfahrungen der Ästhetischen Bildung mit solchen aus dem Bereich der (inter-) kulturellen Bildung verbunden werden: Toleranz, Respekt, Akzeptanz und Begegnung. Weitere Funktionen erhalten Fremdheit, Differenz und Alterität in der interkulturellen Begegnung als Ausgangspunkte inhaltlich-thematischer Auseinandersetzungen mit dem Ziel einer integrativ-dialogischen Kommunikation. Diese im Bereich des sozial- oder kulturpädagogischen Feld zu verortenden Zielsetzungen können unter dem übergreifenden Merkmal der Annäherung zusammengefasst werden. Demgegenüber lässt sich für das Künstlerische die Funktion der Differenz gerade in der Distanz ausmachen, die mit Blick auf das Interkulturelle sogar noch erweitert werden kann. Fremdheit wird dann nicht nur als Merkmal anderer Theaterformen festgestellt, sondern auch an „ethnischer Identität“ von Spieler_innen (Regus 2009: 43). Die für das KünstlerischÄsthetische gesuchte größere Differenz und Fremdheit wird im ethnisch konstruierten Anderen auffindbar. Christine Regus hebt mit ihrer Definition von interkulturellem Theater auf eine möglichst „stark[e] und kontrastreich[e]“ (ebd.) kulturelle Unterscheidbarkeit ab, die sie auf Theaterelemente wie auch auf Akteur_innen bezieht. Interkulturelles Theater profiliert sie „der Konvention“ folgend als theatrale Verknüpfung von Formelementen aus „unterscheidbaren Kulturen“ und grenzt es dabei erstens von „internationalen Produktionen“ westlicher Provenienz ab (ebd., Herv. tm) und zweitens von einer Theaterarbeit, in der populäre und sog. Hochkultur miteinander verknüpft oder Begegnungen zwischen von Ost und West nach der Vereinigung von DDR und BRD produktiv gemacht werden, wie nach 1989 an der Berliner Volksbühne (ebd.): „Spricht man von „interkulturellem“ Theater, geht es also im allgemeinen Sprachgebrauch um ein Theater, bei dem sich Individuen unterschiedlicher ethnischer Identität begegnen oder Elemente völlig fremder Theatertraditionen aufeinander stoßen.“ (ebd.: 43) Dieses ‚allgemeine‘ Verständnis von interkulturellem Theater bringt mit der Vorgabe der ‚Unterscheidbarkeit‘ die Schwierigkeit der Homogenisierung mit sich, mit der ‚Kulturen‘ geradezu zusammen-geschrieben werden: Insbesondere ein ‚ethnisch‘ begründeter Begriff des Interkulturellen definiert in naturalisierender Weise, was dominant als Zusammengehörendes gegenüber einem nicht Dazugehörenden abzugrenzen sei, wobei zugleich kulturelle Praxen selbst ethnifiziert, d. h. als natürliche Vorstellungen von Volk/Ethnie konstruiert werden.19
19 Christine Regus widmet sich dieser Problematik zwar selbst in langen Ausführungen über Kulturbegriffe, schließt sich jedoch am Ende einer konventionellen Verwendung des Begriffs des Interkulturellen Theaters an, den sie – zwar mit einer gewissen Dis-
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In ähnlicher Weise formuliert Wolfgang Sting für die theaterpädagogische Theoriebildung das Versprechen, Vielsprachigkeit und Erneuerung entstünden durch die Anwesenheit von Spieler_innen mit anderen „kulturelle[n] ‚Sprachen‘ und ethnische[n] Bezügen“ und hebt es von inhaltlich-thematischer Auseinandersetzung ab: Im theaterpädagogischen Bereich, also in der Theaterarbeit mit Nicht-Profis, kann das Interkulturelle auf zweierlei Weise aufscheinen. Auf inhaltlich-thematischer Ebene können interkulturelle Probleme wie Fremdheit, Rassismus oder Gewalt inszeniert werden. Oder Interkulturalität zeigt sich auf sozialer und formal-ästhetischer Ebene durch den Gruppenkontext und die spezifische Ausdrucksform, wenn die Spieler einer Gruppe unterschiedliche kulturelle ‚Sprachen‘ und ethnische Bezüge einbringen. (Sting 2010b: 26, Herv. tm)
Das Interkulturelle ist demnach aus der Präsenz von Spieler_innen herzuleiten, deren ‚ethnische Differenz‘ als ‚Migrationhintergrund‘ in die Theaterarbeit einfließt. Genauer: Interkulturalität entsteht durch die Zuschreibung einer Differenz per se an jene Spieler_innen, einer Differenz, die aus einer Vielzahl an (bereichernden, aber auch problembehafteten) konkret fixierbaren ‚kulturellen‘ Differenzen abgeleitet wird und die sich als solche sogar zu einer konzeptuellen Erweiterung theaterpädagogischer Theoriebildung im Allgemeinen eignet. Zu diesem Zweck werden die unterschiedlichen Differenzkonzepte, wie sie für das Künstlerische, für die ästhetische Erfahrung, aber auch für kultur- oder sozialpädagogische Zusammenhänge beschrieben wurden, ineinandergeschoben und entdifferenziert. Für theaterpädagogische Modelle, die dem Künstlerisch-Ästhetischen ein Bildungspotenzial zusprechen, das sich auf der Differenz begründet, die das Künstlerisch-Ästhetische von der normalisierten Wirklichkeit absetzt, stellt der/die – extra differente – Spieler_in mit Migrationshintergrund also den Idealfall dar. Denn in der Verknüpfung mit dem Interkulturellen, als dem eth-
tanz – übernimmt und damit affirmiert. Auch die von ihr formulierte Konzeption einer postkolonialen Ästhetik, mit der sie versucht, den Begriff des Interkulturellen zu überwinden, basiert auf einer Auswahl von Stücken, deren Interkulturalität sich in den biographischen Hintergründen der Akteur_innen zu begründen scheint. Auf der Grundlage dieser qua Herkunft vorformulierten Unterscheidbarkeit erscheint postkoloniale ästhetische Praxis und Ästhetik als eine Sache nicht-europäischer Subjekte, deren Motivation in einer Art Betroffenheit von Kolonialität und Ausgrenzung erkannt wird (vgl.: Regus 2009: 33–44). Unreflektiert bleibt in dieser Konzeption jedoch, dass und in welchem Maße Europa selbst, wie Encarnación Rodriguez höchst plausibel argumentiert, ein „postkoloniales Gebilde“ ist (vgl.: Rodriguez 2005: 71).
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nisch gedachten ‚kulturell Differenten‘, finden solche ästhetischen Bildungsansätze geradezu eine substantielle Vertiefung: Über die ästhetischen Differenzerfahrungen der Einzelnen in der theaterspielenden Gruppe hinaus werden der „interkulturell“ beschriebenen Gruppe ergänzend Differenzerfahrungen in Sachen ‚Kultur‘ zugeschrieben. Im Interkulturellen tritt somit eine – wenn nicht die – Schnittstelle der Theaterpädagogik, nämlich die zwischen Theater/Kunst/ Ästhetik und (ästhetischen) Bildungsprozessen, insofern am deutlichsten zu Tage, als sowohl das Differente im Sozialen als auch das formalästhetisch Differente im Spielenden mit Migrationshintergrund vereint scheint. Anders gesagt fungiert der/die ethnisch different oder ‚migrantisch‘ identifizierte Spieler_in selbst als genau diese Schnittstelle, an der sich die verschiedenen Erfahrungen von Differenz – individuelle, soziale und zudem ‚kulturelle‘ – ästhetisch überkreuzen und bündeln. Diese ästhetisierte Differenz des ‚kulturell‘ Anderen soll im Folgenden grundlegend befragt werden. In klarer Abgrenzung zu jeder Form von Angleichung, die gleichbedeutend sei mit Assimilation und zudem von einem „Defizit des anderen“ und einer „Normalität, [ausgehe,] die immer nur die eigene sein kann“, fordert Wolfgang Sting, darin Eva Krings folgend, die „radikale Kultivierung der Unterschiede“ gegenüber einem „„verständige[n]‘ Harmonisieren der Kulturen, das sowieso nur an der Oberfläche funktioniert“ (Sting 2005: 44). Im Gegensatz zu der eher sozial gedachten Bewegung der Annäherung, sei stattdessen das „ausgestellte Eigene, Spezifische und Differente“ anzustreben, d. h. die aus künstlerischästhetischer Perspektive weit interessantere Figur des Abgegrenzten, über das „vielleicht andere Wahrnehmungen und Zuschreibungen des Fremden“ (ebd.) entständen.20 Mit Richard Sennett und einem (naturalisierenden) Verweis auf biologisch-ökologische Prozesse plädiert Sting für eine Kultur der Unterschiede: Beim Aufeinandertreffen von Differentem und Unbekanntem entstehen die kreativsten Neuschöpfungen, meint Richard Sennett (1991) […] „Der soziale und kulturelle Mittel-
20 Dass dabei die zwei Kategorien des Sozialen und des Künstlerischen in der ‚migrantisch‘ konstruierten Person zusammengeschoben werden, die so in den zwei unterschiedlichen Bewegungen der Annäherung und distanzierenden Abgrenzung widersprüchlich besetzt wird, steht in dieser Konstruktion ebenso wenig zur Debatte wie die sozialen Konsequenzen, die mit dieser Ästhetisierung des Anderen (oder radikaler: der Instrumentalisierung des Anderen für künstlerisch-ästhetische Zwecke) einhergehen. Anerkennung findet der/die Andere in diesem Konzept unter der Bedingung, das er/sie die zugeschriebene Differenz als – wenn auch aufgewertete – Anomalie annimmt und fortschreibt.
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punkt liegt am physischen Rand“, so Sennett. Neue Kulturformen bilden sich abseits oder in Abgrenzung vom Mainstream heraus. Auch das Biotop ist an den Rändern und Übergangsstellen am vitalsten. Nur durch derartig vitale kulturelle und soziale Begegnungen sind Grenzüberschreitungen, Verschiebungen und Mutationen möglich, aus denen „narrative Räume“ (Sennett) entstehen können. (Sting 2005: 44)
In diesem Sinn erfährt die ohnehin als hybrid-kulturell erachtete und zugleich soziale Kunstform des Theaters im (randständig gedachten) Interkulturellen ein ‚bereicherndes‘ Moment durch Erneuerung, die sie – als ihrerseits verhältnismäßig randständiges Phänomen – in die Gesellschaft einbringen kann, um nicht nur Theater (und Theaterbegriffe), sondern auch Gesellschaft zu erneuern. Hier ist eine weitere Übereinstimmung mit Erika Fischer-Lichte festzustellen, derzufolge die experimentelle Integration außereuropäischer Theaterformen in die „eigene“ (europäische) Theaterarbeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Artaud, Brecht) – also der „produktive Umgang […] mit Elementen fremder Theatertraditionen“ – als „grundsätzliche und tiefgreifende Erneuerung des europäischen Theaters“ (Fischer-Lichte 1996a: 254) zu betrachten ist, durch welche die europäische Kultur neue Impulse erhalten hat (ebd.: 255). Die Vorstellung von einer Regeneration durch die Öffnung für ‚fremde‘ kulturelle Ressourcen ist weder neu noch unproblematisch. Edward Said rekonstruiert z. B. die Programmatik der Romantik als ‚Revitalisierung‘ einer als steril und ‚entzaubert‘ wahrgenommenen okzidentalen Kultur durch die Hinwendung zu ‚orientalischen‘ Traditionen. Das Projekt einer „Regenerierung Europas durch Asien“ (Said 1981: 132) basiert jedoch nicht nur auf einer von europäischer Seite vor-gestellten „Seins“-Definition als ‚Essenz‘ des vitalisierenden Orients, sondern reduziert diesen auf seinen kulturellen Nutzwert: „worauf es ankam, war nicht so sehr Asien selbst als Asiens Nutzen für das moderne Europa“ (ebd.: 133). In ähnlichem Instrumentalisierungszusammenhang erhebt der sog. Primitivismus das außereuropäische ‚Primitive‘ zum Anlass einer Wiederentdeckung des Ungezähmten und der vermeintlich unverbildeten, irrationalen und libidinösen Es-Kräfte, wobei auch hier der Wert solcher Indienstnahme des Anderen deutlich hervortritt. Die Literaturwissenschaftlerin Mariana Torgovnick pointiert dies so: „The primitive does what we want it to do“ (Torgovnick 1990: 8–9). Voraussetzung dieser ‚Nützlichkeit‘ ist die Festlegung des Anderen (des ‚Orients‘, des ‚Primitiven‘, später des ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘) auf seine Differenz, aus der allein die revitalisierende ‚Erneuerung‘ der eigenen kul-
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turellen Position erfolgen kann. Differenz wird also mit Nachdruck positiv gewertet, dabei aber fest-gestellt.21
K RITIK
DER
A NEIGNUNGSÄSTHETIK
We need to […] assert that the „third world“ can no longer be reduced to a repository of materials, rejuvenating or otherwise. (Bharucha 1996: 208)
An dieser Stelle schließt der Theaterwissenschaftler Rustom Bharucha mit seiner Kritik am Interkulturalismus westlicher Theatermacher wie Brook, Wilson, Mnouchkine – und deren Rezeption (Fischer-Lichte 1996a, 1996b, Carlson 1996) – an, indem er darauf verweist, dass Interkulturalismus nicht von neokolonialen Praxen der Aneignung getrennt werden kann, zumal sich das westliche Interesse an außereuropäischen Theaterformen vornehmlich auf ‚traditionelle Formen‘ indischer, balinesischer oder anderer Theaterrichtungen konzentriere22, hingegen an einer Wahrnehmung oder gar Aneignung ihrer Moderne kein Interesse bestehe: I found [that the practice of interculturalism] cannot be separated from what could be described as a neo-colonial obsession with materials and techniques from the „third world“. These resources drawing primarily on our traditional disciplines – our „modernity“ being of no concern to most interculturalists – have been recorded, transported, appropriated, and transformed in other scenarios for other audiences. (Bharucha 1996: 207)
21 Zur Problematik der künstlerischen Aneignungen und Ausstellungen von Artefakten von außereuropäischen Gesellschaften siehe: Clifford 1990; Price 1992, in Bezug auf zeitgenössische künstlerische ‚afrikanische‘ Positionen und kuratorische Praxen, die sich kritisch mit kolonialen Aneignungspraxen befassen, siehe auch die Studien von Kerstin Schankweiler (2012) zu Installationen von George Adéagbo und von Verena Rodatus (2015) zur Ausstellungskonzeption ‚zeitgenössischer afrikanischer Kunst‘ am Beispiel der Biennale DAK’ART. 22 Auch die Studie von Kevin Leppek zu Theater als interkulturellem Dialog (2010) – i.B. sein Modell „Die Tür zum Fremden – Schauspieler als Überbringer eines Weltbildes“, das er exemplarisch an dem Stück Afrikanische Märchen der Theatergruppe IYASA erklärt (ebd.: 240–243) – bestätigt Bharuchas Einspruch.
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In der Auslassung dieser Modernitäten des „Drittwelt“-Anderen23 entstehen homogenisierende Repräsentationen u. a. des ‚Orients‘24 als traditionell und damit – entlang einer am Fortschritt orientierten Zeitachse – als rückständig, die sich für die Konstruktion eines modernen Westens dienlich erweisen25: Die Verjüngung, Erneuerung oder Selbst-Modernisierung – auch die (fortschreitende) Bewegung und Beweglichkeit – des Westens26 wird dabei hervorgebracht durch die Konstruktion eines „Drittwelt-Anderen“, dessen Reduktion auf statische Rückständigkeit mit der Befremdung27 seiner (theatralen) kulturellen Ausdrucksformen einhergeht. Hergestellt wird diese be-fremdete, als fremd hergestellte Rückständigkeit zunächst durch die Aneignung dessen, was Bharucha „kulturelles Eigentum“ (Bharucha 1996: 208) nennt. Es ist – insbesondere im Zuge der Debatten um Patentrechte und ‚geistiges Eigentum‘ – insofern als ‚Besitz‘ zu betrachten als den Enteigneten die Kontrolle über Auswahl und Verwendung und damit die Verfügungsgewalt über das Angeeignete entzogen wird. Im Rückblick auf den Interkulturalismus im Theater der 70er und 80er Jahre und die folgenden Kontroversen spricht auch der Theaterwissenschaftler Ric Knowles von der Fortsetzung des kolonialen Projekts: „[…] intercultural performance had unwittingly participated in the commodification of the ‚other‘ and thereby the perpetuation of the colonial project, in which the raw material of the world (including its cultures and peoples) were and are the grist for the colonial mill of western industry and
23 Bharucha reflektiert ausführlich den Standpunkt, von dem aus er seine Kritik formuliert, und beschreibt ihn als mit dem Risiko u. a. der Aneignung behaftet: „[…]‚third world dissent‘ can be marked through a strategic slotting of ‚controversial‘ voices within a spectrum of liberal exchanges on intercultural possibilities. In this process, the ‚third world‘ writer can become conveniently ‚othered‘, fetishised, set up against the mainstream of voices in his or her discipline, or else tolerated to endorse the democratic credentials of liberal structures of representation.“ (Bharucha 1996: 199– 200) Zur Markierung dieser Reflexion behalte ich Bharuchas des Formulierung „Dritt-Welt“-Anderen bei. 24 Bharucha bemerkt nebenbei die konventionalisierte Zuordnung Indiens zum Orient (Bharucha 1996: 206). 25 Mit der Studie Genres of Modernity (2008) führt Dirk Wiemann in den Diskurs um Modernität(en) in Indien ein und reflektiert Konvergenzen zwischen postkolonialer Theorie der Subaltern Studies und literarischer Romanproduktion in Indien. 26 Zur Klärung des Terminus ‚Westen‘ im postkolonialen Kontext vgl.: Hall 2008: 138. 27 Zum Befremden als Resultat eines Fremd-Schreibens siehe den historischen Exkurs zu frühneuzeitlichen Subjekt- und Objektivierungen im Kapitel „Re-Vidieren“.
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capitalist production.“ (Knowles 2010: 22) Die Auswahl und Rekombination ausschließlich traditioneller Theaterelemente führt in ihrer Präsentation vor dem ‚modernen‘ Publikum zur Reduktion und Fixierung des jeweiligen ‚anderen‘ Theaters auf seine Tradition – und damit zu ihrer Repräsentation als zeitlich distanziert, als vormodern. Diese zeitliche Distanzierung des Anderen lässt sich als Fortsetzung des ‚allochronen Diskurses‘ beschreiben, der laut Johannes Fabian für die Ethnographie bis in die 1970er Jahre prägend war. Demnach wurde das Untersuchungsobjekt (die ‚fremde Kultur‘) immer in der eigenen Vergangenheit lokalisiert (vgl.: Fabian 1983: 30–32). Über diese Allochronie hinaus kritisiert Bharucha die Dekontextualisierung der jeweiligen kulturellen Einzelelemente, Formen und Techniken. Denn ein Aspekt der unkontrollierten Verfügung über das angeeignete Andere ist die Isolation der Formen aus ihren jeweiligen kulturellen, pragmatischen und semantischen Zusammenhängen und ihre Neuzusammensetzung nach rein ästhetischen, künstlerischen Gesichtspunkten in den neuen westlichen Kontexten. FischerLichte geht in ihrer Theoretisierung des Interkulturellen Theaters der 70er und 80er Jahre am Beispiel Robert Wilsons sogar so weit, gerade diese Enthistorisierung und Ent-Deutung zum eigentlichen Moment der ästhetischen (revitalisierenden) Weiterführung westlichen Theaters zu konstatieren, das als „Theater der reinen Präsentation“ (Fischer-Lichte 1996a: 257) ein (überkommenes) Theater der Repräsentation ablöst. In Wilsons Theater bilden diese verschiedenen Kontexten entstammenden Elemente […] ein zufälliges Nebeneinander kultureller Fragmente, Versatzstücke und ready-mades. Es führt sie als isolierte Informationen in Bits auf, die auch in ihrer Anhäufung keinen Sinn mehr zu erzeugen vermögen. Die Körper [!] der Schauspieler werden nicht mehr als Zeichen dargeboten, die etwas repräsentieren, etwas bedeuten sollen, sondern als Objekte präsentiert, die auf nichts außerhalb ihrer selbst verweisen sollen und an ihrem ObjektSein ihr Genügen finden. (Ebd.: 256)
Weniger kritikwürdig erscheint an dieser Stelle das eklektische Potpourri einzelner Kulturpartikel, die warenförmig veroberflächlicht28 und damit eines kulturel-
28 Auch das eine Kritik von Bharucha 1996: 207; vgl. auch Knowles 2010: 22 sowie Julie Holledge und Joanne Tompkins, bei denen sich das Thema der commodification als Leitmotiv durch ihre Diskussion des Interkulturalismus in feministischem Theater zieht (vgl.: Holledge/Tompkins 2000).
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len Eigensinns oder einer Identität enteignet werden.29 Es geht auch nicht unbedingt um die Frage nach Zulässigkeit oder „Grenzen“ von Dekontextualisierungen oder der Identifizierung dekontextualisierbarer bzw. kontextgebundener Zeichen, wie Christine Regus vorschlägt.30 Entscheidend erscheint mir die auf diese Weise konstruierte Fremdheit und weiter die Ontologisierung dieses Fremden durch bewusste Herstellung von ästhetischer Unverständlichkeit – nicht zuletzt durch die Ausstellung von ‚anderen Körpern‘, die auf ihr reines So-Sein reduziert und als ‚anders‘ naturalisiert werden. Diese ent-semantisierende und fremd-fixierende Ästhetik benötigt, statt Begegnung, Dialog oder Aushandlungen von und mit Geschichten, Praxen, Sozialitäten, Sprachen oder Sinnstiftungen, gerade Distanz und Differenz per se, um die eigene Theaterkultur in Bewegung beschreiben zu können. Bharuchas Zweifel an dieser Abtrennung der Form vom Text bzw. der Erzählungen von ihren zum Teil widersprüchlichen und vielfältigen Ausdrucksweisen sind vorsichtig, aber eindeutig: Can the expressivities of particular performance traditions be divested from the narratives in which they are placed and the emotional registers by which they are perceived? Can stories be extracted from the multiple and contradictory ways in which they are told to their own peoples? More problematically, can the „pre-expressivity“ of theatre cultures, say of tribal societies, which is grounded in the rituals, rhythms, and gestures of everyday life, be decontextualised and „restored“ into techniques of performance? (Bharucha 1996: 207)
29 Ebenso wenig geht es um den Verlust einer (religiösen) Spiritualität, wie Regus in ihrer Lektüre der Kritik von Bharucha ableitet (vgl.: Regus 2009: 63 und 66). 30 Regus wirft „die komplexe Frage, wo die Grenzen liegen“ zwar auf („Welche Zeichen dürfen fremdverwendet werden, welche nicht? Was sind die Unterschiede zwischen einer politischen, einer religiösen und einer kulturellen Dekontextualisierung?“), lässt sie aber letztlich unbeantwortet, indem sie unter Berufung auf Derrida auf die „Natur des Zeichens“ verweist: Diese liege darin, „dass es für unterschiedliche Rezipienten unterschiedliche Bedeutung tragen kann [und] fortlaufend zitiert, d. h. dekontextualisiert werden“ könne (Regus 2009: 66). Eben jene Fragen wären Teil eines Austauschprozesses über Kulturen im Sinne von Sinnstiftungen, in die politische, soziale, religiöse Fragen und nicht zuletzt Hierarchien eingelassen sind. Die Fragestellungen selbst verweisen auf machtbesetzte Aushandlungsprozesse von Aneignungen und Aneignungsformen. Gestellt werden und unbeantwortet bleiben sie aber mit der hinter ihnen verborgenen Frage, wer eine solche Entscheidungen treffen kann. Anstelle einer übergeordneten Instanz der Objektivität wäre eher danach zu fragen, wer über was verfügt, zu welchem Zweck und welchem Gewinn für wen; vgl.: Knowles 2010: 29 und 41.
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Jede Kenntnis spezifischer sozialer, historischer oder habitueller Kontexte der Formen und Techniken in der Aneignung bedeutete so schon eine Annäherung an das, was nur im (ästhetisierten) Fremd-Sein als Erneuerung, Revitalisierung oder Modernisierung funktioniert. Das heißt, die angeeigneten Elemente müssen enthistorisiert und ihrer – auch umkämpften – Bedeutungsfelder entledigt werden, um künstlerisch als Fremdelemente in den Dienst eines erneuerten ‚Theaters der Präsentation‘ gestellt werden zu können: „Als einzelne in sich bedeutungslose Laute und Bilder ohne jeden Bezug auf Ursprung oder Herkunft verweisen sie lediglich stumm auf sich selbst zurück. Es gibt keine Zeichenprozesse, keine Bedeutungen, keine Orientierung mehr.“ (Fischer-Lichte 1996a: 256) Die Reduktion des Anderen auf den (zudem naturalisierten) Körper31 und infolgedessen die Repräsentation des Anderen als vorsprachlich und somit vormodern ist insofern nicht nur Effekt seiner selektiven, auf Tradition reduzierten Darstellung. Modernität konstituiert sich vielmehr aus einer (ästhetischen) Distanzierung, d. h. aus der Herstellung einer zeitlichen wie auch semantischen Distanz, die nicht zuletzt auch einem Diktum ästhetischer Distanz folgt. Während Fischer-Lichte dem Interkulturellen Theater zwar das Potential einer „Absage an einen westlichen Kulturimperialismus beimisst, der anderen Kulturen mit eigenen Produkten auch die eigenen Bedeutungen aufzwingen will“ (ebd.: 257), kann die von ihr vorgelegte Programmatik einer auf ‚Fremdverstehen‘ gänzlich verzichtenden Theaterpraxis als völlige Negierung dessen gelesen werden, was Gayatri Spivak als Anspruch auf ‚transnational literacy‘ (Spivak 1997: 193; 1999: 398) eingeführt hat. Statt der von Spivak geforderten Bereitschaft, die Sprache(n) des/der Anderen zumindest ansatzweise zu erlernen, um so die Sprachlichkeit des/der Anderen überhaupt erkennen und anerkennen zu können,32 läuft dieser Ansatz Gefahr, eine profunde ‚transnational illiteracy‘
31 Zur Reflexion und Theoretisierung dieser diskursiven Reduktion des außereuropäischen Anderen vgl.: Hall 2002c: 259–275. 32 „I am speaking of transnational literacy. […] Literacy produces the skill to differentiate between letters so that an articulated can be read, reread, written, rewritten. […] It allows to sense that the other is not just a ‚voice‘ but that others produce articulated texts, even as they, like us, are written in and by a text not of our making. It is through transnational literacy that we can invent grounds for an interruptive praxis from within our disavowed hope in justice under capitalism.“ (Spivak 1997: 193) Dabei geht es auch darum, Artikulationen von Anderen auf eine Weise mit Wert belehnen zu können, die über ästhetischen Wert hinaus geht, so dass auch eine „anerkennende Sichtbarkeit“ (vgl.: Schaffer 2008: 19–21) möglich wird.
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zur Voraussetzung gelungener Theaterpraxis und Theaterrezeption zu erheben.33 Äquivalent zu der Faszination am Nicht-Verstehen oder der ‚Verweigerung von Hinhören‘ zugunsten der ästhetischen (Körper-)Präsenzerfahrung im interkulturellen Theater sind die Ausformulierungen Fischer-Lichtes zu den ‚kulturellen‘ Collagen auch lesbar als Verstummung, oder, noch einmal mit Spivak, als „strukturelle Desartikulation“ („structural disarticulation“; Spivak 1988: 284), d. h. als kategorische Ausschließung von der Fähigkeit zum ‚Sprechen‘. Unter dem Vorwand poststrukturalistischer Bedeutungsskepsis hat diese Aneinanderreihung fremdkultureller Versatzstücke, die jeglicher Signifikations- und Repräsentationskompetenz beraubt sind, die strukturelle Desartikulation – und damit auch die Subalternisierung – des/der Anderen zum Effekt. Denn Subalternität ist gerade gekennzeichnet und hergestellt durch strukturelle Verunmöglichung von Sprechen („the muting of the subaltern“; Spivak 1988: 295), durch die radikale Ausschließung aus der Intelligibilität – dem Gehört- und Verstandenwerden.34 Diese – widerstreitenden – Gedanken zum produktiven oder auch revitalisierenden Umgang mit „dem Anderen“ betrachte ich als eine Facette des Rahmens, der die Theoretisierungen des Interkulturellen Theaters wie auch der Interkulturellen Theaterpädagogik in Deutschland bestimmt. Eine weitere ist der international geführte theaterwissenschaftliche Diskurs um das Interkulturelle, der von verschiedenen Seiten als polarisiert vorgestellt wird: Christine Regus beschreibt ihn als Kontroverse zwischen zwei Polen (Regus 2009: 62), während Ric Knowles die Debatten sogar als „intercultural wars“ (Knowles 2010: 21) bezeichnet. In diese Kontroversen sind und waren die Theatermacher_innen ebenso involviert wie diejenigen, die deren künstlerische Strategien und Produktionen rezipiert und theoretisiert haben. Insofern Wissenschaftler_innen und Kritiker_innen mit
33 Zu beachten ist auch, dass die dominante Theaterrezeption aus europäisch-westlicher Perspektive vorgenommen und von dort aus i. d. R. verallgemeinert wird. 34 Insofern Körper immer semantisch besetzt sind (wie gerade die Theatergeschichte zeigt), ist die Rede von der vermeintlichen Bedeutungslosigkeit auch in einem zweiten Sinn verstummend, da die Deutung ‚anderer‘ Körper als ‚Natur‘ diesen Körpern durchaus eine Bedeutung zuweist: allerdings eine, die zum Verstummen bringt. Mit einem Beispiel zu indischem Tanz betont Sigrid Schade die Sprachlichkeit und Diskursivität des Körpers und die Notwendigkeit, Körperkonzepte in ihrer „Historizität, […] kulturelle[n] Verschiedenheit und Veränderbarkeit“ anzuerkennen, nicht zuletzt, die Zuweisungen wie Geschlechterrollen, aber auch Ethnifizierungen dekonstruieren zu können (Schade 2002: 80f). Allgemeiner zu historischer Veränderung von Körperkonzeptionen auch Krüger-Führhoff 2005.
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ihren Konzeptualisierungen richtungsweisend daran beteiligt waren (und sind), die Praxis sichtbar zu machen, bestimmen sie diese auch maßgeblich mit. Denn die Rezeption macht das Produkt und der Diskurs macht das Theater. Knowles führt die Praxis und Theorie des Interkulturellen auf zwei „Strömungen“ in der Theaterpraxis zurück, als deren Ausgangspunkte er die Arbeitsweisen von Artaud und Brecht betrachtet: „I call these streams universalist (or idealist) and materialist“ (Knowles 2010: 13). Er verweist auf ähnliche Gegenüberstellungen wie ‚integrativ‘ und ‚disruptiv‘ bei Richard Schechner bzw. ‚ästhetisch‘ versus ‚politisch‘ bei Jacqueline Lo und Helen Gilbert (2002: 44). Christine Regus beschreibt die beiden Pole als zwei Perspektiven, eine ästhetizistische und eine „politische und kolonialismushistorische“: Auf der einen Seite steht die ästhetizistische Sicht auf interkulturelles Theater, die vor allem theaterimmanente Probleme lösen möchte. […] Dem steht eine politische und kolonialismushistorische Perspektive gegenüber, die den Interkulturalismus auf Machtkonstellationen, ökonomische Ungleichheiten und kulturelle Ausbeutung hin untersucht. (Regus 2009: 62)
Zur weiteren Erklärung der „ästhetizistischen“ Seite verweist Regus auf Schechner, dessen Augenmerk auf dem Austausch und der bereichernden Vielfalt statt auf Fragen nach Ausbeutung oder Fortsetzung von Kolonialismus lag: „Nein, es war wie ein Fest zu entdecken, wie vielfältig die Welt war, wie viele darstellende Genres es gab und wie wir unsere eigene Erfahrung durch Borgen, Stehlen und Tausch bereichern konnten.“ (Schechner zit. nach Regus 2009: 62) Neben der Vielfaltseuphorie zeichnet sich diese Seite durch eine Fokussierung theatraler oder performativer Formelemente aus, die – wie bei Fischer-Lichte deutlich wird – unter vorrangig ästhetisch-künstlerischen Aspekten von Interesse sind. Aus dieser Perspektive leitet Fischer-Lichte eine gesellschaftliche Relevanz der ästhetischen Hybridisierungen ab, die sie mit Bloch als ‚Vor-Schein‘ erklärt. Die Vorstellung von der Entwicklung einer sich in diesen Hybridisierungen ankündigenden „Weltkultur“ (Fischer-Lichte 1996a: 264) basiert hier auf der Annahme, dass sich in der theatralen Performanz ein „Verweben der Kulturen“ (interweaving cultures) vollziehe, das im ästhetischen Experiment performativer „Verflechtungen von Theaterkulturen“ zugleich neue Formen von Zusammenleben antizipiere. Wie das Programm des gleichnamigen internationalen Forschungskollegs35 formuliert, fungiert Theater hier als gesellschaftliches Modell:
35 Das Internationale Kolleg „Verflechtungen von Theaterkulturen“ wurde 2008 an der FU Berlin unter der Leitung von Erika Fischer-Lichte und Gabriele Brandstetter mit
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In this respect, performances take on a paradigmatic role for society. […] In performance, new forms of social coexistence are tried and tested. Performance’s multiple paradigmatic functions are particularly visible in the processes of interweaving cultures. Such processes provide an experimental framework for experiencing the potential of culturally diverse and globalized societies. The interweaving of cultures in performances quite often creates an innovative performance aesthetic, which establishes and gives shape to new collaborative policies in society. It probes the emergence, stabilization, and de-stabilization of cultural identity. Here, the aesthetic and the political merge. (Fischer-Lichte 2009: 400)
Solcher ‚Kraft der Ästhetik‘, d. h. dem Potential, das dem Ästhetischen, künstlerischen Strategien und Formverwendungen unter Ausschluss machtkritischer Fragen (geradezu per se) als politisches zugeschrieben wird, stehen meist nichtwestliche Theoretiker_innen wie Una Chaudhuri, Gautam Dasgupta, Bonnie Marranca, Jacqueline Lo und Helen Gilbert oder Rustom Bharucha skeptisch gegenüber; sie begegnen derartigen Vorstellungen mit Kontextualisierungen sowohl der Praxis als auch der Theorie in historische sowie aktuelle ökonomische und (identitäts-)politische Diskurse.36 Sie untersuchen Theaterproduktionen und ihre Theoretisierungen als in Diskurse und Diskursformationen eingebundene Texte, d. h. als organisierte Zusammenhänge von Bedeutungsangebote, mit denen Machtpositionen ausgehandelt werden. Gefragt wird nach Subjektivierungen als Effekte von Repräsentationen in fiktionalen wie nicht-fiktionalen Texten, Bildern und Handlungen, nach Funktionen, Sinn und möglichen Instrumentalisierungen von Praxen, nach Selbstpositionierungen und darin eingelassenen Vorannahmen und nicht zuletzt nach Wissensformationen und der Handlungsmacht zur Stabilisierung oder Destabilisierung von Wissen und Kategorienbildungen. Im deutschsprachigen Wissenschaftsbetrieb haben Christopher Balme für die Anglistik und Christine Regus in der Theaterwissenschaft entscheidende Vorarbeiten geleistet, um diese und ähnliche Fragen in die Betrachtung von interkulturellen Theaterproduktionen zu integrieren. Balmes Untersuchung des „Synkretismus“ geht dem widerständigen Potential der Verknüpfung von prä-kolonialen und kolonialen Theaterformen nach, das in postkolonialen Gesellschaften von Theatermachern wie Wole Soyinka, Derek Walcott u. a. strategisch eingesetzt wurde (Balme 1995). Christine Regus untersucht, wie das Politische in den äs-
dem Ziel gegründet, internationale Produktionen mit Blick auf „Verflechtungen“ zu untersuchen. 36 „[W]ell meaning intercultural projects can unwittingly perpetuate a neo-colonialism“ zitieren Holledge/Tompkins beispielsweise Una Dasgupta (2000: 11).
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thetischen Strategien von interkulturellen Theaterproduktionen im 21. Jahrhundert impliziert ist, d. h. wie die „genuin theaterästhetischen Verfahrensweisen [die Zuschauer] mit den eigenen identitätspolitischen, kulturellen und sozialen Hintergrundannahmen konfrontieren“ (Regus 2009: 11). Für ein Theater, das jenseits „traditioneller Repräsentationsästhetik“ die Unmöglichkeit „vollkommenen Verstehens und objektiven Zugangs auf das Fremde und die Kunst“ zur „Basis dialogischer Annäherung“ macht (ebd.: 11), kreiert Regus den Begriff einer „postkolonialen Ästhetik“, die sie als antiessentiell, postdramatisch und institutionskritisch charakterisiert (ebd.: 267f). Regus wie auch Balme fokussieren ihren Blick auf formal-ästhetische Strategien von Theaterarbeiten, die in außereuropäischen bzw. diasporischen postkolonialen Kontexten entstanden sind und die im internationalen Rahmen veröffentlicht wurden. Ihre Analysen lassen daher auch eine gewisse Distanz zwischen den untersuchten Gegenständen (internationale, d. h. nicht deutsche postkoloniale Kunstproduktion) und den eigenen Standorten bzw. kulturellen Kontexten erkennen, von denen aus Regus und Balme die Perspektiven auf ihre Gegenstände entwickeln. Diese Distanz verringert sich, wenn postkoloniale, postmigrantische und/oder antirassistische Theaterproduktionen in Deutschland rezipiert werden und die darin vorgenommene Kritik am Eigengesellschaftlichen der/dem Schreibenden näher kommt.37 Für den nicht- oder semi-professionellen Bereich der Theaterpädagogik liegen kritische Reflexionen, die mit denen der Theaterwissenschaft vergleichbar sind, nicht vor. Wolfgang Sting bezieht sich in seinen systematisierenden Ausführungen auf das, was theaterwissenschaftlich auf der internationalen Bühne als „interkulturell“ beschrieben wurde, geht dabei jedoch weder auf die Kritiken am Ästhetizismus noch auf die machtvollen Positionen ein, von denen aus Theaterproduktion als interkulturell beschrieben wird. Ähnlich wie im deutschsprachigen theaterwissenschaftlichen Diskurs um (professionelles) Interkulturelles Theater – und möglicherweise in Orientierung auf eine (entsprechende) auf Kunst bezogene Theaterpädagogik – konzipiert Wolfgang Sting Interkulturelle Thea-
37 Wie diese zumeist nicht einmal erkannt wird, geht aus den Kritiken zu Verrücktes Blut hervor, die gerade die offensichtlichen Angriffe auf diese Gesellschaft entweder nicht wahrgenommen haben oder sie verschwiegen haben. Shermin Langhoff bemerkt in einem unter der Rubrik „Wutanfälle“ des Jahresheftes von Theater heute veröffentlichten Text, dass offenbar „die Kommunikation abreißt, wenn es um den Blick der weißen, bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft auf ihr Anderes geht“ (Langhoff 2011: 27), so dass „nicht alle Zuschauer_innen bemerkt zu haben scheinen, dass sich Verrücktes Blut genau an die Menschen richtet, die es anschauen, und eben deren Blick auf ‚diese‘ Jugendlichen […] thematisiert“ wird (ebd.: 26).
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terpädagogik mit Schwerpunkt auf dem Ästhetischen, das in Paradigmen des Fremden, Anderen, der Differenz Formelementen wie auch Spieler_innen zugeschrieben wird. Mit diesem theaterwissenschaftlich orientierten Blick auf das ‚kulturell Differente‘ als dem Ästhetischen unterstützt Sting auf theoretischer Ebene das, was er zugleich als Paradigmenwechsel der Theaterpädagogik konstatiert: eine Abwendung vom „politische[n] oder pädagogische[n] Verwertungsgedanken“ des Theaterspiels und der Indienstnahme von Theater als „pädagogisch-politische[m] Medium“ gesellschaftlicher Aufklärung oder als Mittel für soziale, integrierende Zwecke zu Gunsten einer Auffassung von Schultheater und Theaterpädagogik als „einer ästhetisch eigenständigen Kunstform“, bei der künstlerische Gestaltung und öffentliche Präsentation im Rahmen eines ästhetischen Lernens vorrangig sind (Sting 2005: 45). Die hier wiedererkennbare Polarisierung zwischen einem ästhetisch orientierten Strang der (interkulturellen) Theaterpädagogik und einem, der Theater als Medium für politische Aushandlungen begreift, macht deutlich, wie ähnlich die z. T. unterschwellig geführten Kontroversen in den beiden Disziplinen Theaterwissenschaft und Theaterpädagogik gelagert sind. Vor diesem Hintergrund besteht die Problematik in der Diskussion um das Interkulturelle in der Theaterpädagogik auch darin, dass ‚das Politische‘ auf inhaltlich-thematische Auseinandersetzungen – gesellschaftliche Problemstellungen der Theaterstücke – reduziert und im Effekt die Differenz des Anderen ‚mit Migrationshintergrund‘ zum Ästhetischen erhoben wird. In einer hierarchischen Ordnung spaltet sich der Migrationshintergrund auf: Zum einen avanciert er zum Mittel der Kunst, während er auf inhaltlicher Ebene mit gesellschaftlichen Problemen behaftet wird. Eine theaterpädagogische Theoriebildung, die sich explizit mit dem Politischen in interkultureller Theaterproduktion im deutschen Kontext beschäftigt, ist kaum zu finden. Dieses Defizit resultiert aus der hierarchisierenden Trennung des (diskreditierten) Inhaltlich-Thematischen vom (privilegierten) Formal-Ästhetischen. Infolgedessen bleiben aber jene ideologischen und politischen Implikationen unreflektiert, die in den ästhetisch begründeten Konzepten der Theaterpädagogik mitschwingen. Diese Auslassung des Politischen kommt einer Entpolitisierung der Theorie und der Praxis gleich und ermöglicht so die Aufwertung der Produktionen als ästhetische Artefakte. Es zeigt sich aber bei genauerem Hinsehen, in welchem Maße und auf welche Weise der Diskurs um das Interkulturelle im Theater – allen Versuchen zum Trotz, einer Indienstnahme von Theater als Medium für politische und pädagogische Zwecke entgegenzuarbeiten – von gesellschaftlich-politischen Debatten geprägt ist. Dies wird besonders deutlich bei der Betrachtung und Lokalisierung dessen, was in den Texten als „das Differente“ oder „das Fremde“ auszumachen ist. In der kon-
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kreten theaterpädagogischen Praxis ebenso wie in der Theorie sind diese gesellschaftlichen Bezüge auf drei Ebenen erkennbar: der Kontextualisierung, der Gegenstandsbestimmung und (ebenso wie in der Theaterwissenschaft) auf der Ebene dessen, was als die ästhetische Seite bezeichnet werden kann.
D IFFERENZ
UND
F REMDHEIT
IN DER
T HEATERPÄDAGOGIK
Im Unterschied dazu, wie der Gegenstand auf der internationalen Bühne im Rahmen professioneller Theaterarbeit als interkulturell profiliert wurde (performative Experimente mit Formelementen unterschiedlicher Traditionen, und eben auch: ‚anderen‘ Körpern), werden interkulturelle Produktionen im deutschen Kontext in erster Line unmittelbar und dezidiert mit Migration, Zuwanderung und Integration in Zusammenhang gestellt. Dieser Zusammenhang scheint genuin konstitutiv für das Interkulturelle und wird einerseits als Problem, andererseits als – euphorisch begrüßter – gesellschaftlicher und ästhetischer Zugewinn betrachtet. In beiden Fällen wird Migration als gesellschafliches Phänomen den Menschen zugewiesen, die mit dem Zusatz „mit Migrationshintergrund“ von jenen Menschen ‚ohne‘ Migrationshintergrund unterscheiden werden.38 Auffällig häufig beginnen theoretische Texte zu Interkulturellem Theater mit der Beschreibung und Problematisierung von ‚Migration und Einwanderung‘ als ‚Herausforderung‘ für die deutsche Gesellschaft39, um von hier aus die Potentiale des Theaters – wie Stärkung von Integrationsfähigkeit und der Erwerb der deutschen Sprache (vgl.: Hoffmann 2008; Sting 2010c) zu erklären. Die Orientierung an gesellschaftlichen Herausforderungen der (neu gebildeten) ‚Einwanderungsge-
38 Im Vorgriff auf das nächste Kapitel kann diese Differenzierung bereits als eine rassifizierende Repräsentationspolitik bezeichnet werden, die die Gesellschaft in Wir und Andere teilt. In den Beschreibungen des Interkulturellen im Theater wird diese unwidersprochen übernommen. 39 Diese Beschreibungen leiten i. d. R. die Begründung für ein Umdenken in der Kulturpolitik ein, das v. a. mit institutioneller Öffnung und auch finanzieller Förderung verbunden ist (vgl. exemplarisch: Kulturpolitische Gesellschaft 2003; Scheytt 2003; 32; Sting: 2010a, 2010b; kritisch dazu Kaschuba 2003; 29). Mit der programmatischen Öffnung geht zudem eine Erforschung dieser neu-deutschen Kulturlandschaft einher; Resultate sind beispielsweise die Bestandsaufnahme zu Interkulturellem Theater (Ahrens/Hoffmann/Klose 2008) und die groß angelegten Studie zu „Kulturellen Identitäten in Deutschland“, die das Zentrum für Kulturforschung im Auftrag der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien durchführte (Keuchel 2011).
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sellschaft‘ und daraus abgeleiteten Zielsetzungen steht in einem reziproken Verhältnis zu der Zentrierung der Spieler_innen ‚mit Migrationshintergrund‘ in der Interkulturellen Theaterpädagogik: Da Interkulturalität ausschließlich aus der Teilnahme von Menschen ‚mit Migrationshintergrund‘ abgeleitet wird und diese zugleich als Klientel der (integrativen) Ziele wie Integration, Spracherwerb etc. fungieren, steht ‚der Migrationshintergrund‘ selbst im Zentrum interkultureller Theaterpädagogik. Interessanterweise lässt sich von diesen Prämissen ausgehend ein Widerspruch zwischen der theoretisch-programmatischen Begründung des Differenten im Ästhetischen und der faktischen Beschreibung des Differenten im Sozialen (als Gegenstand) erkennen.40 Statt der als different erfassten Formelemente außereuropäischer Theatertraditionen im internationalen Rahmen steht im innergesellschaftlichen interkulturellen Theater das (gesellschaftlich) different beschriebene ‚migrantisch‘ markierte Subjekt im Mittelpunkt und zwar gleichermaßen als Zielgruppe der Integration und als Ressource für die künstlerischästhetischen Produktionsprozesse. Die mit Integration begründete Zielgruppenerweiterung sowie die – oft programmatische – Orientierung an Lebenssituationen der Teilnehmenden führt dabei zu einer inhaltlichen Fokussierung der Stücke auf Themen wie „Ausgrenzung und Fremd- oder Anderssein“ (Sting 2008: 101) und rückt zugleich die Figur der/der ‚Ausländer_in‘, ‚Migrant_in‘, ‚Mitbürger_in nicht-deutscher Herkunft‘ (ndH) bzw. seit 2001 des ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ mit je unterschiedlichen Zielsetzungen oder Ausrichtungen in den Blickpunkt. Mark Terkessidis bemerkt den „voyeuristischen Charme“, der die nahezu automatisierte Verknüpfung von Themen und Teilnehmer_innen in der theatralen „Verquickung von Migration und Doku” begleitet. „Die Themenwahl ist von der medial forcierten Problemagenda der ‚Integra-
40 Der für die Bestandsaufnahme interkultureller Theaterarbeit entwickelte Fragebogen nahm diese Zentrierung auch zum unhinterfragten Ausgangspunkt. Er verweist mit den Fragen indirekt auf Zielsetzungen (z.B. Erwerb der deutschen Sprache, Auseinandersetzung mit ‚Multikulturalität‘ etc.) und daraus ableitbare implizite Vorannahmen von Defiziten, die im Theaterspiel ausgeglichen werden könnten (vgl.: Ahrens, Hoffmann, Klose 2008). Auch projektbegründende Ziel- oder sog. Wirkungsbeschreibungen z.B. bei Domkowsky 2008 greifen solche Zielsetzungen auf. Das versprochene Integrationspotential erklärt dabei zugleich den Nutzen der Theaterarbeit mit Nicht-Profis, legitimiert deren Förderwürdigkeit und Finanzierung durch öffentliche und private Mittel und fördert schließlich die Zielgruppenerweiterung eines Arbeitsfeldes. María do Mar Castro Varela fragt insofern mit Recht auch nach „dem Profit vom Wuchern des Diskurses um Interkulturelle Kompetenz […] Wem nutzt er in welcher Weise?“ (Castro Varel 202: 36)
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tion‘ bestimmt“, sodass „Aufführungen vorwiegend als authentischer Einblick in die ‚Parallelgesellschaft‘ wahrgenommen“ würden. (Terkessidis 2010b: 7) Diese Themen-Teilnehmer-Verquickung führt zu einer Festlegung auf bestimmte Themen und Konfliktstoffe, die die in den Mittelpunkt gerückten theaterspielenden ‚migrantischen Subjekte‘ in mehrfacher Hinsicht stereotypisierend positioniert: als Ressource für ‚authentische‘ dramatische Konfliktstoffe auf der Bühne, als Zuständige für die Bearbeitung solcher Stoffe und zur Repräsentation gesellschaftlicher Konfliktquellen.41 Demzufolge haben Spieler_innen mit ‚ihrem‘ Migrationshintergrund solche Lebenserfahrungen in den Arbeitsprozess einzubringen, die zu (‚anderen‘) Konflikten auf der Bühne umgearbeitet werden können. Diese Vorannahme und Zuweisung positioniert die Spieler_innen (wieder) direkt an die Ausgangspunkte der gesellschaftlichen Herausforderungen, sei es als Akteur_innen in den Konflikten oder als Opfer von Reaktionen der Mehrheitsgesellschaft, und schreibt die Zugewanderten als Ursache jener Herausforderungen fest. Nicht nur Menschen ‚mit Migrationshintergrund‘, das ganze Themenfeld wird auf diese Weise mit dem „Geruch der Straße“ (Hallaç 2010: 47) behaftet. Die Zugewanderten erscheinen in dieser Position zugleich zuständig für die Lösung der Konflikte wie für die Bearbeitung des gesamten Themenfeldes.42 Kritiker_innen dieser quasi naturalisierten „gesellschaftlichen Arbeitsteilung“ und deren klare Kompetenzzuweisungen und -beschränkungen (Steyerl 1999: 160) erheben dagegen als postmigrantische Position, einen „Anspruch auf das ganze Land“ (Hilje in Behrendt u. a. 2011: 13). Die mittlerweile zahlreichen Stimmen, die diese Reduktion auf den ‚Migrationshintergrund‘ kritisieren43, finden jedoch kaum Resonanz. Eher wird das auf-
41 Annett Israel hat in einer Analyse von Produktionen im Kinder- und Jugendtheater beobachtet, dass Migration auf der Bühne i. d. R. als Problem verhandelt wird, und zwar zumeist, indem die Protagonist_innen als Opfer, Täter/Opfer und schließlich als „Entwurzelte“ oder Heimatlose mit „Identitäten zwischen zwei Kulturen“ positioniert werden (Israel 2001: 54). Zu diesem Topos eines „Dazwischen“ und dessen bedingte Anerkennung und Pathologisierung siehe Erel 1999. 42 Norma Köhler (2010) hat in Bezug auf die Problematik, dass Jugendliche die „ausgesprochenen und auch unausgesprochenen Erwartungen der Projektleiter“ (Terkessidis 2010b: 7) erfüllen, mit dem biografisches Theater einen Ansatz vorgelegt, der die Spielerinnen und Spieler nach den Prämissen ästhetischer Forschung (nach KämpfJansen) in höherem Maße zu selbstbestimmter Themenfindung führen kann. 43 Azar Mortazavi (2011) beschreibt die Stereotypisierung im Rahmen künstlerischer Produktionen. Mariam Soufi Siavash (2011) betrachtet die Zielgruppendefinition – etwa in Konzepten wie der „Sozialen Ästhetik“ (Sting) mit ihrem anvisierten „Le-
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fällige Fehlen von Interkulturalität auf deutschen Bühnen (Balme 2007: 20) auf die „Diskrepanz zwischen der thematischen Aktualität interkultureller Fragen und dem künstlerischen Interesse an der theaterästhetischen Umsetzung“ geschoben und mit „der recht homogenen Szene der deutschen Theatermacher“ begründet, „denen der eigene motivierende Migrationshintergrund“ fehle (Sting 2010a: 54). Ein weiteres Mal wird so die Zuständigkeit für eine bestimmte „thematische Aktualität“ an ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ delegiert. Umgekehrt reduziert sich für ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ der theaterpädagogisch bearbeitete Stoff auf das – ebenfalls vorgängig – festgelegte mit Migration assoziierte Konfliktrepertoire. Was heißt das für die Verortung von Fremdheit und Differenz? Deutlich wird zunächst, dass das „Fremde“ und „Differente“ ganz nah ist und durch diverse Techniken (Repräsentationen und diskursive Zuweisungen im Gesellschaftlichen wie im Ästhetischen) fremd gemacht wird. Es zeigt aber auch, dass das „Fremde“, wie Sara Ahmed erklärt, keineswegs das ‚Unbekannte‘ ist, sondern im Gegenteil in einem vorstrukturierten Raster gesellschaftlicher Ordnung sehr genau „erkannt“ wird. Das Erkennen des Fremden funktioniert durch bestimmte Techniken (u. a. des „Körper-Lesens“) zur Differenzierung zwischen denen, die zu einem gegebenen Raum (given space) gehören, und solchen, die ‚fehl am Platz‘ sind: The figure of the stranger is far from simply being strange; it is a figure that is painfully familiar in that very strange(r)ness. The stranger has already come too close; the stranger is ‚in my face‘. The stranger then is not simply the one whom we have not yet encountered, but the one whom we have already encountered, or already faced. […] Such techniques involve ways of reading the bodies of others we come to face. Strangers are not simply those who are not known in this dwelling, but those who are, in their very proximity, already recognized as not belonging, as being out of place. (Ahmed 2000: 21; kursiv i. O.; unterstrichen tm)
bensbezug“ – insofern als problematisch, als sie Menschen mit Migration als markiert herausstellt. Sie beschreibt auch im Hinblick auf finanzielle Förderung ein Dilemma zwischen empowerment und Fixierung. Auch Hito Steyerl (1999) kritisiert die Festlegung von Migrant_innen auf ‚ihre Kultur‘ insbesondere bei der Förderung: Bereits die Projektanträge fixieren diese auf eine ‚befremdende‘ Repräsentation und Themenauswahl. Vanessa Lutz (2011) reflektiert den problematisierenden und Differenz (bei Anderen) betonenden Diskurs zu Migration. Recai Hallaç (2010) fordert stattdessen Migrant_innen als Normalität auf der Bühne; auch: Yigit 2011; Sow 2008: 162–170.
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Entsprechend ist das, was in den Texten vorgängig als ‚fremd‘, ‚anders‘ oder ‚different‘ be- und festschrieben wird, eine Konstruktion, die an ‚ethnische Bezüge‘, ‚Sprachen‘, Konfliktstoffe und Körper gebunden und somit an einem identitätspolitischen Raster ausgerichtet ist. Denn mit der Identifizierung, Homogenisierung und Fixierung des Differenten, Anderen, Fremden entlang der Kategorien Herkunft, Ethnie oder ‚Kultur‘ verlieren die Begriffe Fremdheit, Differenz und Alterität, die als die Schnittstelle zwischen Ästhetischer Bildung und Interkultureller Bildung formuliert wurden, ihre ‚Unschuld‘, ihre vermeintliche Allgemeingültigkeit, ihre angenommene Hierarchiefreiheit. Sie mögen als heuristische Konzepte zur Beschreibung der Wahrnehmung des Anderen als Gegenüber und darin von Selbst-Bewusst-Werdung funktionieren. Dies impliziert die Annahme, die zwischenmenschliche Begegnung fände einem hierarchiefreien Raum zwischen gleichberechtigten Individuen statt. Welcher Raum aber ist das? Spätestens mit der Situierung der Theaterarbeit im Rahmen der gesellschaftlichen Diskurse um Migration und Integration wirken die Begriffe sinn- (und in diesem Fall spezifischer:) identitätsstiftend, klären sie doch die Frage nach der Zugehörigkeit zu einem Wir oder einem Sie und arbeiten auf diese Weise an der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung. In dieser werden sie im Bezug auf ‚Interkulturalität‘ entlang der Kategorie ‚Kultur‘ profiliert und dabei auf das kulturell Andere ausgerichtet, dem das kulturell bekannte Eigene gegenübersteht. So ‚gewinnt‘ die Trias Differenz, Fremdheit, Alterität im (theaterpädagogischen) Diskurs das besondere Potential der Selbst-Herstellung und „Selbstvergewisserung“ oder besser: Selbst-‚Abgrenzung‘ im Sinne sog. eigener kultureller Identität, die sich unterscheidet von einer einfachen Selbstwahrnehmung in der Begegnung mit dem Gegenüber. ‚Kultur‘ wird zum Werkzeug für die Produktion und Reproduktion von identitären Einheiten, die zumeist in homogenisierender Weise als von einander getrennt und hierarchisch konstruiert werden, wie auch Hito Steyerl feststellt: „Kultur ist eines der Werkzeuge zur Herstellung gesellschaftlicher Hierarchien innerhalb eines homogenen Wertesystems, wobei die Verhältnisse zwischen verschiedenen Wertesystemen vermittels kultureller Produktion ins soziale Feld umgesetzt werden.“ (Steyerl 1999: 157) Schon im Begriff des Interkulturellen selbst manifestiert sich diese Vorstellung von getrennten kulturellen Ganzheiten, wie Wolfgang Welsch erklärt. InterKulturalität affirmiert einen seit Herder tradierten Kulturbegriff, der ‚Kulturen‘ als ethnisch fundierte, nach innen homogene und nach außen abgrenzende Ganzheiten vorstellt – vergleichbar mit Kugeln, die einander abstoßen. (Welsch 2000: 334) Das Programm Interkulturalität ist insofern angelegt auf die Herstellung von Berührungspunkten, auf Dialoge oder Kontaktzonen – oder metaphorisch gesprochen: auf das Brückenbauen zwischen Kulturen. So betrachtet bleibt
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das Konzept aber einem Denken verhaftet, das von einer prinzipiellen Geschlossenheit von Kulturen ausgeht, die partiell geöffnet werden können. Welsch warnt vor einer Affirmation dieser Kulturkonzeption, die er weder im Hinblick auf historische noch (und im Besonderen) auf aktuelle – globalisierte – Gesellschaftsbeschreibungen für tauglich hält: Das traditionelle Kulturkonzept ist ein Konzept der inneren Homogenisierung und äußerer Abgrenzung zumal. Hart formuliert: Es tendiert in seiner begrifflichen Konsequenz zu kulturellem Rassismus.[…] Das klassische Kulturkonzept ist nicht nur deskriptiv falsch, sondern auch normativ gefährlich und unhaltbar. (ebd: 331; 332)
A MBIVALENZ
DER
P RÄSENZ
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B ÜHNE
Die reduzierende Fixierung von Akteuren auf ‚Migrationshintergrund‘ oder ethnische Differenz sowie auf bestimmte Thematiken, Ansprüche und Zielsetzungen setzt sich im Bereich des Ästhetischen fort – darin dem theaterwissenschaftlichen Diskurs ähnlich. Die den Spieler_innen ‚mit Migrationhintergrund‘ zugeschriebene (ästhetische) Differenz erfährt im Theater, das mit körperlicher Präsenz als „konstitutiver Bedingung“ (Hentschel 2000: 146) arbeitet, eine zusätzliche Ebene mit der besonderen Fixierung der Teilnehmenden ‚mit Migrationshintergrund‘ auf Körper und Bewegung. Wie bereits zu Beginn erwähnt, wird „Differenz“ nicht nur in anderen Namen, Herkünften, Religionen oder in Desintegriertheit konstatiert, sondern auch in einer vermeintlich auffallenden Körperorientiertheit. Diese lässt sich entweder aus dem produktiven Umgang mit sprachlichen Defiziten ableiten oder aus der – durchaus geläufigen – Behauptung einer besonderen Körperlichkeit im Handeln bzw. in der Spielweise der migrantisch Positionierten, wie sie Sting mit dem Bild der ‚fuchtelnden Franzosen‘ andeutete. Die Fokussierung auf ‚differente Körperlichkeit‘ schreibt wiederum einen aus dem theaterwissenschaftlichen Diskurs bekannten stereotypen Topos fort: Die Betrachtung und Bewunderung des ‚anderen‘ Körpers, einer anderen ‚Körperlichkeit‘ und damit verbunden: ‚seiner Sinnlichkeit‘. Oft wird hier die „innovative kulturelle Kraft der Migranten“ (Sting 2010a: 54) als ästhetisches Potenzial postuliert, ohne die fragwürdige Reduktion des Anderen auf das Nicht-Sprachliche und auf das ‚Naturhafte‘ zu hinterfragen. Dieses Denken steht in einer seit Jahrhunderten währenden Kontinuität, die den ‚naturhaften‘ Anderen auf besondere Fähigkeiten festlegt – etwa in den Bereichen des Sports, des Tanzes, der Rhythmik und nicht zuletzt der Sexualität – und fetischisiert (vgl.: Hall 2002c: 266–269).
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Der Fokus auf Körperlichkeit reduziert nicht nur das ‚migrantische Subjekt‘, sondern reziprok auch das Konzept Körper auf ‚seine‘ naturalisierte Physis und Sinnlichkeit und schreibt ihm so eine nicht hintergehbare Präsenz zu, in der das ‚Migrantische‘ mit all seinen Implikationen ‚evident‘ ist. Solche theatrale Evidenzproduktion stellt eine Konstellation her, in der das Differente, das dem/der Spieler_in mit Migrationhintergrund anhaftet, in die Gruppe oder in die Theaterproduktion von ‚außen‘ mitgebracht werden kann, mitgebracht von einem anderen Ort, wo es herkommt und wohin es ‚eigentlich‘ gehört. Die Bezeichnung ‚mit Migrationshintergrund‘ oder ‚nicht-deutscher Herkunft‘ arbeitet binär mit einer Zuschreibung homogenisierter ‚anderer‘ (nationaler oder regionaler) Herkunft, die oft durch das Prinzip der Abstammung ethnisch überlagert und zudem in den letzten Jahren mit religiösen Zuschreibungen aufgeladen wird. (vgl.: Shooman 2011: 54)44 Im Bereich des Ästhetischen schreibt sich insofern die explizite Opposition zwischen dem Fremden und dem Eigenen fort, mittels derer im gesellschaftlichen Diskurs über Migration und Interkulturalität Zugehörigkeiten verhandelt werden. Der Ansatz einer Interkulturellen Theaterpädagogik, der das Zeigen von Differenz produktiv machen will, um etwas Neues zu schaffen, geht schließlich implizit von der Vorgängigkeit der zu zeigenden Differenz aus. Denn die hybridkulturelle Produktivität besteht in und auf einer als vorhanden angenommenen Differenz, statt ihrer diskursiven Herstellung und ihrer stetigen Reproduktion nachzugehen. Zur Aufrechterhaltung der hybridkulturellen Produktivität in der Kunst muss jene Differenz – per se – nicht nur als vorgängig hergestellt und reproduziert werden. Sie wird darüber hinaus essentiell. ‚Zeigen‘ entnennt45, macht unsichtbar: Zumindest partiell verschwindet der vorausgegangene Prozess der (bennennenden) Identifizierung und Unterscheidung. Der Prozess der diskursiven Herstellung von Unterschieden auf gesellschaftlicher, ökonomischer, körperlicher, sozialer oder kultureller Ebene wird also ebenso unsichtbar wie seine Harmonisierung der Differenzen u.a. durch ihre ästhetische Aufwertung. Dieser Prozess als Ansammlung von (Sprech-)Akten drückt dem Ästhetischen das unangenehm Politische auf: die diskursive Affirmation einer gesellschaftlichen Strukturiertheit, die ich im folgenden Kapitel als Rassismus erklären werde. Zugleich sorgt dieser Prozess dafür, dass die Reflexion über alternative
44 Auf vor-angenommene (Nicht-)Zugehörigkeiten verweist dabei die selektive Verwendung der Bezeichnung ‚mit Migrationshintergrund‘ für spezifische Herkünfte (türkisch, arabisch, selten französisch oder schweizerisch). 45 Zum Begriff der Entnennung siehe Barthes 1979: 124.
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Handlungsstrategien gegenüber rassifizierenden Unterschiedsproduktionen ausbleibt: zum Beispiel die Möglichkeit ihrer Unterlassung. Die Ausrichtung auf die Teilnehmenden ‚mit Migrationshintergrund‘ ist insofern in hohem Maße ambivalent. Die Bühne dient als Plattform, von der aus eigene Geschichten und Perspektiven erzählt und v. a. mitgestaltet werden können und sollen. Dabei geht es über „Empowerment“ hinaus (Soufi Siavash 2011: 85) auch kulturpolitisch um Zugänge und in diesem Sinn um ein Recht auf selbstbestimmtes Sprechen, das nicht reduziert ist auf ‚Migrantenthemen‘, sondern im Sinne von Intervention „beansprucht“ (vgl.: Muttentaler/Wonisch) und ‚das Ganze nimmt‘ (vgl.: Hilje in Behrendt u. a. 2011: 13) Es geht (gerade auf der Bühne) auch um die Herstellung einer gesellschaftlich mit Rechten und Zugängen ausgestatteten ‚Sichtbarkeit‘.46 Denn die öffentliche Bühne verspricht über das ‚Sich-Zeigen‘ nicht nur die Herstellung einer Normalität hinsichtlich der Anwesenheit von Migrantinnen und Migranten in der Gesellschaft. Die „kleine“ – im Verhältnis z. B. zum Film relativ unaufwändige, flexible – Theaterbühne bietet vor allem die Möglichkeit, diese Herstellung von Sichtbarkeit in Eigenregie zu gestalten und damit dominante Sichtbarkeitspolitiken in der medialen und gesellschaftlichen Bildproduktion zu subvertieren. Für die Arbeit mit Jugendlichen konstatiert Mariam Soufi Siavashi: „Die aktive Gestaltung des eigenen Bildes wird […] zum Empowerment, das heißt zur Selbstermächtigung [von] Jugendlichen und weitergefasst zum Empowerment von marginalisierten Gruppen der Gesellschaft.“ (Soufi Siavashi 20011: 84) Damit verweist Soufi Siavashi darauf, dass Sichtbarkeit sich nicht auf ‚einfache Präsenz‘ von Körpern, möglicherweise noch in einer wie auch immer gearteten ‚Differenz‘ oder Besonderheit aus- bzw. hergestellt, reduzieren lässt, sondern dass es beim Auftritt auf der Bühne immer auch darum geht, wer was wem zu hören und vor allem zu sehen gibt. ‚Zeigen‘ ist insofern als ein Akt des Sprechens zu verstehen, der im Rahmen von gesellschaftlichen (Macht-)Gefügen vollzogen wird und dort auch verortet werden muss. Interkulturelle Theaterpädagogik, die mit dem Verweis auf Hybridkulturalität normativ das ‚Zeigen von Differenz‘ zur Produktion von ästhetischen NeuKreationen fordert, ist dagegen nur bedingt empowerment, geht sie doch von der Vorgängigkeit jener Differenzen aus, die ‚gezeigt‘, d. h. identifiziert werden sol-
46 Denn statt eine ‚Sichtbarkeit per se‘ einzufordern, muss es, wie Johanna Schaffer betont, darum gehen, das in die Öffentlichkeittreten mit der Forderng nach gleichwertiger gesellschaftlicher Anerkennung mit gleichen Rechten und gesellschaftlichen Relevanzen zu verbinden. In diesem Sinn ist es notwendig, die Bedingungen der Sichtbarkeit zu befragen. (Schaffer 2008: 17)
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len, statt den Akt ihrer Herstellung zu reflektieren. Die Mehrheit der stereotypen Bilder über Menschen ,mit Migrationshintergrund‘ entsteht gerade über die Ausstellung von vor-identifizierten Differenzen. Nicht zuletzt riskiert sie, denjenigen, die auf der Bühne sprechen sollen, wollen oder dürfen, vorzuschreiben, wie dieses Sprechen auszusehen hat, um gehört und anerkannt zu werden. Die programmatische Fokussierung auf das Ästhetische der Differenz positioniert diejenigen, die diese Differenz repräsentieren sollen, in den Bereich des Ästhetischen. Der Blick in die theaterwissenschaftliche Debatte hat gezeigt, dass dies zu einer Ästhetisierung des Anderen führt. Für die Theorie der (Interkulturellen) Theaterpädagogik wäre zu überdenken, inwiefern die negative Rede von einer Instrumentalisierung des Theaters für politische (oder pädagogische) ‚Zwecke‘ nicht gerade einer Instrumentalisierung des Anderen für die Programmatik einer Ästhetisierung Vorschub leistet. Denn diese Differenz wird gerade über ‚Kultur‘ als Differenz-Markierung produziert. Der produktive Akt der theoretischen Differenzproduktion selbst ist politisch (verhandelbar), wird aber im Zuge der allgemein zu vernehmenden Entpolitisierung (Marginalisierung des Politischen in) der Theaterpädagogik gerade verschwiegen. Mit der Konzeptualisierung unter dem Begriff des ‚Interkulturellen‘ findet im Theater indirekt statt, was Hartwig Pautz „Kulturalisierung des Politischen“ (Pautz 2005: 54) nennt. Kulturalisierung bezeichnet die diskursive Verschiebung sozialer, politischer oder auch pädagogischer Gegenstände, Fragestellungen und Verhandlungen zu solchen, die unter der Bezeichnung ‚kulturell‘ quasi unverhandelbar gemacht werden, da die Differenzierung, Kategorisierung und Positionierung von Gruppen innerhalb einer Gesellschaft mit ‚Kultur‘ fixierend und naturalisierend wirken. Im Mittelpunkt steht die Konstruktion ‚kultureller Identität‘ (ebd.: 10). Diese stillschweigende Kulturalisierung47 theaterpädagogischer Praxis wird durch die Verschiebung des Fokus’ auf das Ästhetische in der Theorie zugleich notwendig – und unsichtbar gemacht. Die Euphorie über die Vielfalt von ‚Sprachen‘, die in der theaterpädagogischen Theoriebildung als ‚Polyphonie‘ ‚zu lesen gegeben wird‘48, übersieht zudem, dass es sich beim Sprechen und Zeigen immer um ein Sprechen und Zei-
47 Für den Bereich der Interkulturellen Pädagogik verweist auch Renate Nestvogel darauf, dass der Begriff der Interkulturellen Kompetenz implizit einer Kulturalisiserung unterliege und soziale Wirklichkeit mit der Kategorie ‚Kultur‘ überdeterminiert sei (vgl: Nestvogel 2004: 350). 48 Mit dieser Formulierung (statt z.B. erscheint) orientiere ich mich an dem Begriff des Zu-sehen-Gebens der Visuellen Studien (Schade/Wenk 2011), in den im Kapitel „Perspektiven“ eingeführt wird.
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gen innerhalb bestimmter Ordnungen handelt. Deren Machtgefüge wird nicht durch ein formal-ästhetisch neuartiges Gewirr von ‚Sprachen‘, vergleichbar mit Tönen, durch bunte Vielsprachigkeit und Polyphonie, herausgefordert oder gar destabilisiert. ‚Sprachen‘, ebenso wie ‚Körper‘, kommunizieren nicht per se miteinander, sondern in ihrer Zeichenhaftigkeit. Sprache als Mittel der Kommunikation ist ein Set aus Regeln und auditiven und visuellen Zeichen zur Herstellung von Verständigung, das immer über Deutung funktioniert. Das auf der Bühne Gezeigte und Gesprochene gilt es insofern als zu Deutendes zu betrachten; nur in dieser Funktion kann es zum Mittel von Verhandlung von Ordnungsgefügen werden. Das heißt, es geht nicht um ein „interkulturelles, performatives“ oder „thematisches und ästhetisches ‚Sprechen‘“ (Sting 2010a: 55) per se, sondern um das Was, das mit dem ‚Sprechen‘ in einen zu deutenden Zusammenhang gebracht wird. Ihre reduzierende Festlegung als Ressource für neue ästhetische Perspektiven in Sachen (hybridkultureller) Kunstproduktion entmächtigt die Akteure ebenso wie ihre Positionierung als Zielgruppe ‚mit Differenz‘ in einem Set spezifischer Aufgaben und Ansprüche (zu dem jedoch auch „Empowerment“ gehören kann). So konzipierte Interkulturelle Theaterpraxis als formal-ästhetisches Gemenge wie auch immer gearteter ‚anderer‘ einzelner Töne, dem auf diese Weise die Verstehbarkeit abgesprochen wird, macht die Agierenden auf der Bühne stumm.
Kritik der Differenz
Mit dem Ziel, eine Theaterpädagogik zu denken, die ihre gesellschaftlichpolitische Positioniertheit anerkennt, transparent macht und ihr Handeln als kontextgebunden und diskursiv gerahmt reflektiert, soll der Diskurs um Migration, in dem und durch den auch Interkulturelle Theaterpädagogik hervorgebracht wurde, als Teil dieses Kontextes beschrieben werden. Ausgehend davon, dass Diskurse um Zuwanderung durchaus bereits vor den 90er Jahren rassistisch strukturiert waren,1 werde ich in diesem Kapitel in Anlehnung an Hartwig Pautz u. a. ausführen, wie der aktuelle Migrationsdiskurs durch größere geopolitische Konstellationen gerahmt ist, die sich seit Beginn der 90er Jahre signifikant verändert und neue Grundparadigmen hervorgebracht haben. Denn seit dem Endes des ‚Kalten Krieges‘ verschiebt sich die Bestimmung des ‚Anderen‘ zunehmend durch die Erklärung von ‚kultureller Differenz‘, die ihre systematische Begründung in der These Samuel Huntingtons vom clash of civilizations, findet und insbesondere nach den Terroranschlägen von 2001 in eine Frontstellung zum Islam übergegangen ist. Diesen spezifischen Ausprägungen aktueller rassistischer Diskurse, in denen die historisch weit ältere Differenz modern/vormodern explizit mit Rekurs auf die europäische Aufklärung aufgegriffen und reproduziert wird, soll zunächst eine Positionsbestimmung zur „Struktur des Gesamtphänomens“ Rassismus vorausgehen (Terkessidis 2004: 100).
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Zur rassistischen Struktur früherer Formationen des Migrationsdiskurses in der BRD verweist Kien Nghi Ha auf die „kolonialen Muster der deutschen Migrationspolitiken“. Ha geht den „kolonialen Verflechtungen in der Konzeption und Praxis bundesrepublikanischer Arbeitsmigrationspolitik“ nach, die in migrations- und biopolitischen Überlegungen eingelassen sind, im deutschen Erinnerungsdiskurs jedoch vollends ausgeblendet werden (Ha 2003: 65f).
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R ASSISMUS Rassismus umfasst weit mehr als diskriminierende und gewalttätige Angriffe gegenüber Menschen ‚anderer Herkunft‘, die als Fehlverhalten Einzelner im Rahmen einer ansonsten nicht-rassistischen Gesellschaft zu verurteilen wären. Vielmehr geht Rassismus über ein Verständnis „in Begriffen eines intentionalen, bewußten Handelns von Individuen“ hinaus (Frankenberg 1996: 58). Mark Terkessidis konstatiert mit Blick auf diverse empirische und diskursanalytische Studien und in Abgrenzung zu Konzepten wie „Ausländer- oder Fremdenfeindlichkeit“, dass Rassismus „etwas mit dem ganz normalen Funktionieren des sozialen Gefüges zu tun hat“ (Terkessidis 2004: 93) und insofern gerade nicht als Ausnahmezustand oder Anomalie (ebd.: 89; 93) zu betrachten, sondern in seiner gesellschaftlichen Normalität oder „Banalität“ zu fassen und zu untersuchen ist. 2 Unter Bezugnahme auf Theorien und Positionen der Cultural und Postcolonial Studies, der Rassismusforschung sowie der Critical Whiteness Studies und Genderforschung soll Rassismus als Struktur in folgenden Dimensionen näher beleuchtetet werden: •
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2
Rassismus ist produktiv. Er findet seine Referenten, d. h. seine Bezugskategorien oder Markierungskonzepte wie Religion, ‚Kultur‘, Körper etc. nicht vor, sondern stellt sie permanent (neu) her. Anhand der historischen Konstruktion der Kategorie „Rasse“ wird deutlich, dass diese (Neu-) Herstellung als ‚Feststellung bestehender Tatsachen‘ behauptet wird: Was der Rassismus produziert, stellt er als vorgängig ‚vorhanden‘ vor bzw. stellt es ‚fest‘. Folgende Mechanismen lassen sich heuristisch isolieren: Rassismus ist ein Prozess der Differenzierung (Unterscheidung) und der Identifizierung. Differenzierung ist zugleich ein Vorgang der Trennung und ein Vorgang der Herstellung: In der unterscheidenden Trennung
Auch ist Rassismus nicht auf Debatten um Zuwanderung zu beschränken; vielmehr wird Rassismus im Folgenden, nicht zuletzt in Abgrenzung zu moralisierenden und/oder psychologisierenden Konzepten, als gesellschaftliche Struktur beschrieben, der Diskurse und Praxen bestimmt; mit Ruth Frankenberg ist „Rasse“ als „zutiefst politischer Begriff“ (Frankenberg 1996: 53), dem nur mit einem politischen Antirassismus zu begegnen ist, siehe dazu Mörsch 2012: 10, zur Kritik der Begriffe: Terkessidis 2004: 13–90. Rassismus als Struktur muss v. a. in seiner Flexibilität erkannt werden. Diese ermöglicht durch eine Vielzahl von je konkreten Differenzierungs- und Ausgrenzungsformationen, die als Rassismen im Plural zu beobachten sind (vgl.: Brah 1996: 40: Rommelpacher 39–50).
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werden Gruppen (und Personen) in Kategorien zusammengefasst und so als homogene Identitäten her- und vorgestellt. Zugleich werden die Trennlinien der Unterscheidung, die Differenzen, produziert. Rassismus ist ein Prozess der identifizierenden Markierung: Zur Bildung der Kategorien werden vermeintlich ‚vorgefundene‘ Merkmale als Differenz- und Devianzindikatoren herangezogen, mittels derer die Gruppenzuordnung erfolgt. Auf diese Weise werden die Individuen markiert, d. h. mit den Merkmalen versehen und somit auch identifiziert. Rassismus ist eine Praxis/ein Prozess der hierarchisierenden Relationierung, die gesellschaftliche Ordnung erzeugt. D. h. die identifizierten Gruppen werden zueinander in Beziehung gesetzt und positioniert, indem die markierten Gruppen als Abweichung von einer nicht markierten Norm konstruiert werden. Diese Differenzierung reguliert Machtverhältnisse der Gruppen zueinander asymmetrisch. Rassismus ist eine Praxis/ein Prozess der Naturalisierung. Die gebildeten Unterschiede werden als Gegebenheiten (Natur, Wesen, Essenz) dargestellt bzw. fest-gestellt (als vorgefunden fixiert) und mit dieser Feststellung oder Darstellung zugleich hergestellt. Diese essentialisierende Festsetzung bezieht sich gleichermaßen auf die Unterschiede wie auf die hergestellten Gruppen und auf die jeweiligen Verhältnisse der Gruppen zueinander. Rassismus ist flexibel. Durch ständig neue Differenzierungs- und Markierungsvorgänge modifiziert er die von ihm hergestellten Gruppen und Differenzen oder produziert völlig neuartige Kategorien des Ein- und Ausschlusses; so erweist er sich als überaus anpassungsfähig. Diese Flexibilität ist eine Bedingung für den Selbststabilisierungsprozess des Rassismus. Rassismus ist iterativ, performativ und ‚zirkulär‘: Durch die beständige Wiederholung seiner Aussagen erhalten diese Realitätsstatus in gesellschaftlichen Ordnungen und sozialen Praxen. Reziprok bildet sich ein rassistisches Vokabular und Wissensarchiv heraus, das weiteren – durchaus auch modifizierenden – neuen Aussagen als Referenzrepertoire mit Belegkraft zur Verfügung steht. So ist Rassismus ‚zirkulär‘: Zu seiner ständigen Neuformulierung und Begründung bezieht er sich auf sich selbst, d.h. die bereits etablierten rassistischen Aussagen, gesellschaftlichen Praxen und Ordnungen.
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Rassismus ist ein Dispositiv3, in dem sich symbolische und diskursive Herstellungen, Aushandlungen und Wissensproduktionen mit sozialen, oftmals institutionalisierten Praxen der Ein- und Ausgrenzung untrennbar verbinden.
Wissensbildungen Rassismus ist eine soziale Praxis (Hall 2000: 7), die die Unterscheidung von Bevölkerungsgruppen nach bestimmten Merkmalen organisiert, die am Körper oder auch an bestimmten Praxen fest-gestellt werden. Diese Unterscheidungspraxis vollzieht sich in gesellschaftlichen Ein- und Ausschlüssen als Konstitutionsprozess sozialer Ordnung, in der Menschen auf Grund bestimmter Kennzeichnungen Zugänge verwehrt und in der sie herabgewürdigt, diskriminiert oder sogar körperlich angegriffen werden. Sie zeigt sich aber ebenso in dem Privileg, selbst nicht ausgegrenzt zu werden und dies als ‚Normalität‘ zu erfahren. (vgl. Frankenberg 1996: 55) Auf symbolischer Ebene vollzieht sich die Praxis des Unterscheidens in der Kennzeichnung oder Bezeichnung von ‚Anderen‘ selbst. Gruppen werden identifiziert, indem sie begrifflich (und somit bezeichnend) in Kategorien zusammengefasst werden und den kategoriebildenden Merkmalen Bedeutungen zugewiesen werden, um diese näher zu bestimmen. Diese Bedeutungskonstitution als zentrales Element im Prozess der Repräsentation ist grundlegend für die rassistische Strukturierung sozialer Beziehungen durch merkmalsspezifische Konstruktion von Gruppen. (Miles 2000: 18, 21) Robert Miles nennt diesen Prozess Rassenkonstruktion (racialization).4 „Der Begriff verweist also auf ei-
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Foucault definiert das Dispositiv als „das Netz, das man zwischen den Elementen [des gesellschaftlichen Gesamtensembles mit seinen Institutionen, Diskursen und Praxen] herstellen kann“ (Foucault 2003: 289). Dieses „Netz“ wird vorstellbar in der Gesamtheit diskursiver, institutioneller und praktischer Vorentscheidungen, innerhalb derer sich Diskurse und soziale Interaktionen entfalten können.
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„Rassenkonstruktion“ ist eine von verschiedenen Übersetzungen des Begriffs racialization aus dem Originaltext von Robert Miles (Miles1989). Miles bezieht diesen Begriff primär auf das Feld der ideologischen Wissensbildung, die er von der sozialen Praxis der Ausschließung absetzt. Um diese Wissensbildung selbst auch als soziale Praxis zu fassen, verwende ich in Anlehnung an Terkessidis (2004) den Terminus Rassifizierung, der im Gegensatz zu Rassisierung das Handeln im weitesten Sinn betont (die Endung „-fizierung“ ist abgeleitet von lat.: facere: machen, tun).
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nen Vorgang der Kategorisierung und Repräsentation, in dem ein Anderer (normalerweise, aber nicht ausschließlich) somatisch definiert wird.“ (Ebd.: 21) Mit der Unterscheidung geht zugleich die Feststellung von Identitäten einher, die sich nun nicht mehr nur auf die Konstruktion des Anderen, sondern in Relation dazu immer auch auf die Herstellung eines Eigenen bezieht: „Das ethnozentrische Subjekt etabliert sich selbst durch die selektive Definition eines Anderen“ (Spivak 1988: 292; Übers. tm)5. Insofern ist der Prozess der Identitätsbildung in Differenz vom Anderen grundsätzlich mit dem Aspekt der Herrschaft verknüpft. Dieser Machtaspekt erhält in Analysen rassifizierender Differenzbildungen eine zentrale Bedeutung. Maureen Maisha Eggers betont in ihrer Analyse von Differenzkonstruktionen, wie die Kategorisierungen und Bezeichnungen rassifizierender Markierungspraxis Macht/Wissen produzieren. Im Effekt werden Personen durch die Kategorisierung selbst wie auch über die Ansammlung von weiterem ‚Wissen‘ über sie markiert und spezifiziert. Diese Wissensproduktion als der Blick (von oben) ‚auf‘ findet im Alltäglichen wie auch auf wissenschaftlicher Ebene statt und steht in einem hierarchisierenden Zusammenhang mit Wertung. „Der Unterschied ist […] immer schon bewertet“ (Terkessidis 2004: 99–100). Nach Albert Memmi handelt es sich darum, „imaginäre Unterschiede mit einer verallgemeinerten und finalen Zuschreibung von Wert zu belehnen“ (Memmi 1968: 186, Übers. tm). Eggers konstatiert zur Markierungspraxis als Wissensproduktion: In diesem Wissen [über die gekennzeichnete Gruppe] besteht die Hauptaussage in der Artikulation ihrer ‚Differenz‘ zu der hegemonialen weißen Gruppe. In einer dichotomen Anordnung werden [den in Kategorien zusammengefassten und markierten Personen oder Gruppen] Eigenschaften zugeschrieben, die in Opposition zu den (vermeintlichen) Eigenschaften der weißen Gruppe stehen. (Eggers 2005: 57; Herv. i. O.)
Um Rassismus als hierarchisches gesellschaftliches Ordnungssystem und darin die Normalisierung von Weißsein zu verstehen, entwickelt Eggers den Begriff der „rassifizierten Machtdifferenz“ (ebd.: 56), mit dem sie Rassifizierung in vier Differenzierungspraxen unterscheidet: Markierungspraxis, Naturalisierungspraxis, Positionierungspraxis und Ausgrenzungspraxis. Die Konstruktion „rassistisch markierter Subjekte […] in Relation zu der weißen Gruppe“ (ebd.: 57) bezeichnet Eggers als rassifizierte hierarchisch und zugleich „komplementäre Positionierungspraxis“: „In Relation zu der weißen Gruppe werden sie untergeordnet positioniert und in die weiße hegemoniale Struktur eingeschlossen.“ (Ebd.:
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Vgl. auch Rommelspacher 1998: 14; Said 1981: 8; Dussel 1985: 26.
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57, kursiv i. O., unterstrichen tm) Aus postkolonialer Perspektive nennen Nikita Dhawan und Maria do Castro Varela diese Positionierung „Othering“, das mit einer „Politik der Selbstrepräsentation Europas“ in engem Zusammenhang steht. Es handelt sich um „Konstruktions- und Formationsprozesse […], an deren Ende ‚Europa‘ und seine ‚Anderen‘ stehen“ (Castro Varela/Dhawan 2005: 65): „Der Prozess des Othering zeigt sich dabei eingebettet in die Produktion oppositioneller Dualismen, d. h. diejenigen, die als nicht-dazugehörig konstruiert werden, stehen immer denen gegenüber, die als dazugehörig definiert werden.“ (Ebd.: 66) Da diese binäre Gegenüberstellung die Vielfältigkeit der Differenzen und die internen Heterogenitäten der Gruppen negiert, betonen Dhawan/Varela mit Blick auf die Destabilisierung der hegemonialen Machtverhältnisse die Dekonstruktion der Dualismen selbst: „Dekolonialisierung bedeutet […] aus den etablierten Dualismen […] auszubrechen.“ (Ebd: 67) Avtar Brah weist darauf hin, dass rassifizierende Differenzierungsprozesse ohnehin weitaus flexibler und subtiler vonstatten gehen können und nicht immer auf die Bildung von Bipolaritäten angewiesen sein müssen: Ich würde auch meinen, daß rassisierende Differenzierungsprozesse sich keineswegs immer in der Matrix von einfachen Bipolaritäten wie negativ und positiv, Überlegenheit und Unterlegenheit oder Einschluß und Ausschluß vollziehen. […] Mit anderen Worten ist das ‚andere‘ des Rassismus nicht eindeutig die Kehrseite des ‚Selbst‘; das ‚andere‘ wird vorwiegend, aber nicht ausschließlich, in gegensätzlichen Begriffen konstruiert. (Brah 1996: 27)
Das vermutlich deutlichste historische Beispiel für eine nicht bipolar organisierte und gleichwohl rassifizierende Praxis scheint mit dem Philosemitismus vorzuliegen, der – in scharfer Abkehr von seinem ‚Anderen‘, dem Antisemitismus – nicht degradierend sein will und daher auf befremdende Zuschreibungen völlig verzichtet, aber – insofern ebenso wie der Antisemitismus – beständig die Vorstellung von einer mit bestimmten Merkmalen ausgestatteten, identifizierbaren und homogenen Gruppe, ‚der Juden‘, reproduziert (vgl. Adorno 1971: 116; 127).
Naturalisierung und Stereotypisierung Um rassifizierende Praxen der Kategorisierung von anderen Formen sprachlicher Unterscheidung abzugrenzen, ist der Vorgang der Naturalisierung von Bedeutung. Unterschiede und Identitäten von Gruppen und Personen werden in solcher Weise bestimmt, dass die Unterschiede als „natürlich“ und somit unüberwindbar erscheinen. Dieser Vorgang der Naturalisierung (vgl. Hall 2000: 8),
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Essenzialisierung bzw. Ontologisierung ist zugleich auch als Objektivierung zu verstehen: Aus Unterscheidung wird Unterschied. Dabei verschwindet das agierende Subjekt sprachlicher Unterscheidung (Kategorisierung), und Unterschied als Effekt erscheint als objektive Tatsache oder besser: als ‚gegeben‘ (im Gegensatz zu ‚gemacht‘). Rassifizierung ist daher als sozial ordnender und hierarchisierender Prozess und Praxis der Wissensbildung zu fassen, „in dem einerseits eine Gruppe von Menschen mittels bestimmter Merkmale als natürliche Gruppe festgelegt und gleichzeitig die Natur dieser Gruppe im Verhältnis zur eigenen Gruppe formuliert wird.“ (Terkessidis 2004: 98) Diese Praxis der Markierung ist Wissensherstellung als Konstruktion von Sinn. Miles bezeichnet Rassismus denn auch als „Sinngebungsinstanz“. Rassismus ist ihm zufolge „keine einmalige, statische Ideologie, die sich anhand spezifischer Vorstellungen, Bilder und Stereotypen identifizieren ließe.“ (Miles.: 25f) Miles verweist darauf, dass Vorstellungen von Rassismus als kohärente ‚Lehre‘ oder ‚Irrlehre‘ die nichttextuellen rassistischen Reproduktionen in alltäglichen Sinngebungen, die auch in ihren Inhalten je nach Klassenzugehörigkeit variieren, außer Acht lässt (ebd.: 25). Stuart Hall u. a. haben in vielen Studien gerade die inkohärenten Ansammlungen von stereotypisierenden Repräsentationen in Texten und Bildern untersucht und damit insbesondere auch die alltäglichen Rassismen zum Gegenstand der Betrachtung gemacht (vgl.: Hall 2002c: 223–279; Lidchi 2002: 151–208). Rassismus ist insofern in seinen jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Kontexten und veränderbaren Inhalten zu analysieren. Die wesentliche Repräsentationsstrategie der naturalisierenden Differenzierung ist die Bildung von Stereotypen, die Stuart Hall mit Richard Dyer vom Vorgang der Typisierung abgrenzt: Typisierung meint den im Alltag notwendigen Prozess der Unterscheidung, der jedoch nicht simplifizierend, fixierend und damit markierend verfährt. Stereotypisierungen dienen demgegenüber der „Aufrechterhaltung der sozialen und symbolischen Ordnung“ (Hall 2002c: 258, Übers. tm) und funktionieren in drei Aspekten: •
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Im Gegensatz zur Typisierung reduziert und naturalisiert Stereotypisierung und fixiert Unterschiede: „Stereotypisieren reduziert Menschen zu wenigen, einfachen, essentiellen Charakteristika, die als ‚natürlich‘ repräsentiert werden.“ (Ebd.: 257, Übers. tm) „Stereotypisierung verwendet eine Strategie des ‚Splittens‘“ (Ebd.: 258, Übers. tm). Eingeteilt wird in normal und unnormal, wobei die Norm unbenannt/unmarkiert bleibt. Markiert wird nur das ‚Andere‘, während das ‚Normale‘, der Standard, unbenannt und unmarkiert, gewissermaßen ‚transparent‘ (weiß) bleibt.
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Stereotypisierung ist mit Grenzziehungen und Schließungen verbunden: Gruppen werden (ein- oder aus-)geschlossen. Symbolische Grenzen der Zugehörigkeit werden fixiert, und anhand der Grenzen wird erkennbar, wer oder was als unnormal vom Normalen ausgeschlossen wird – und unbemerkt stellen ‚sich‘ die Einschlüsse in das ‚Wir‘ ein. Zugehörigkeiten folgen dabei i. d. R. binären Oppositionen. Insofern hat das Stereotyp auch den funktionalen Effekt, ,kulturelle Identitäten‘ herzustellen, mit denen (nationale, religiöse, sexuelle) Zugehörigkeiten fixiert werden.
Stereotypisierungen generieren als Symbolisierungsprozesse rassifizierte Differenz und leiten somit Rassifizierung als symbolischen Ausschluss ein. Da Markierungs- und Naturalisierungspraxis im Prozess der Stereotypisierung aufgehen, stellt dieser den grundlegenden rhetorischen und epistemologischen Mechanismus des Rassismus dar: „[…] stereotyping – complex and contradictory though it is […] – does characterise the representation of subordinated social groups and is one of the means by which they are categorised and kept in their place, whereas white people in white culture are given the illusion of their own infinite variety.“ (Dyer 1997: 12) Teil rassifizierender Dynamiken ist darüber hinaus, dass die Internalisierung stereotyper Konstruktionen nicht nur auf Seiten der Dominanzgesellschaft stattfindet, sondern sich auch als Autostereotyp der Stigmatisierten selbst manifestieren kann, wie die Studien Sander L. Gilmans zum ‚jüdischen Selbsthass‘ (Gilman 1993) oder die Ausführungen Frantz Fanons zur ‚Epidermalisierung‘ eines als Stigma wahrgenommenen fact of blackness6 eindrücklich belegen. In einem dominant weißen sozialen Kontext (wie etwa dem der Bundesrepublik Deutschland) ist demgegenüber der unmarkierte, nicht stereotypisierte Zustand von Weißsein in der Weise normalisiert, dass „weiße Menschen in ihrem Weißsein […] als individuell und/oder unendlich vielfältig, komplex und wandelbar repräsentiert werden“, da „das Privileg, in weißen Kulturen weiß zu sein, darin [besteht], in Bezug auf das eigene Weißsein keinen Stereotypisierungen unterworfen zu sein“ (Dyer 1997: 12; 11, Übers. tm).
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So die in der anglophonen Fanon-Rezeption einflussreiche (Fehl-)Übersetzung des Titels des fünften Kapitels von Schwarze Haut, weiße Masken (im frz. Original „L'expérience vécue du Noir“, in der deutschen Fassung „Die erlebte Erfahrung des Schwarzen“); vgl. Fanon 2002: 109–140.
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Zirkularität und Flexibilität Ihr Funktionieren als Sinngebungsinstanz beschreibt Miles schließlich als einen selbststabilisierenden Effekt rassistischer Ideologie: „Rassismus […] reproduziert im Denken bestimmte beobachtbare Regularitäten und liefert eine kausale Erklärung dieser Beobachtungen“. (Miles 2000: 25) Erklärbar wird so die Variation zumindest eines Teils rassistischer Inhalte in den unterschiedlichen Kontexten und Positionen (wie z. B. der Klassenzugehörigkeit) ihrer Vertreter, „denn die Art und Weise, wie die Welt erfahren wird, und die daraus entstehenden Probleme unterscheiden sich je nach Klassenzugehörigkeit“ (ebd.: 25). Um über die ideologische Dimension hinaus die sozialen Praxen der Ein- und Ausschlüsse des Rassismus erfassen zu können, greift Stuart Hall auf den Diskurs-Begriff von Foucault zurück. „In ihm sind alle Praxen durch Ideen bestimmt und alle Ideen in Praxen eingeschrieben.“ (Hall 2000: 8) Die Unterscheidung zwischen Ideologie und Praxis wird durch die wechselseitige Bedingung von Denken und Handeln aufgehoben. Mit dem Rückgriff auf den Diskurs-Begriff ist es möglich, den selbststabilisierenden – zirkulären – Effekt der ideologischen Selbstreproduktion auf die Ebene der sozialen Praxis auszudehnen. Die Zirkularität besteht darin, dass die in der Praxis beobachtete gesellschaftliche Ordnung in ihrer rassistischen Struktur nicht nur der (naturalisierten) Erklärung ihrer selbst dient, sondern als Erklärung Anlass zu erneuten (naturalisierenden) Re/Konstruktionen von Differenz wird und im Effekt die praktische soziale Herstellung von Zugehörigkeit affirmiert. Im zirkulären Zusammenwirken von symbolischer und ideologischer, d. h. sinngebender Praxis der Bedeutungsproduktion, und sozialer Differenzierungspraxis wird Rassismus als Prozess seiner permanenten Reproduktion erkennbar. Diese Zirkularität, mit der sich der Rassismus selbst perpetuiert, erklärt die Schwierigkeit seiner Unterbrechung. Der ‚praktische‘, gesellschaftlich ordnende Aspekt des Rassismus zeigt sich in der Praxis sozialer Ausgrenzung: „Rassismus [ist] ein Diskurs der Differenz anhand körperlicher und kultureller Merkmale, der von materiellen und symbolischen Ressourcen ausschließen soll“ (Pautz 2005: 24), indem er die ungleiche Verteilung von Zugängen und Vorteilen organisiert. Rassifizierte Subjekte und Gruppen werden auf diese Weise performativ einem „Ausschluss durch Einbeziehung“ (Terkessidis 2004: 80) unterworfen, also durch Ausgrenzung ‚integriert‘, indem ihnen eine marginalisierte Position zugewiesen wird. Immanuel Wallerstein erklärt: „The object of racism is not to exclude people, much less to exterminate them. The object of racism is to keep people within the system, but as Untermenschen, who can then be exploited economically and used as political scapegoats.“ (Wallerstein 2003: 78) Dieser „inklusive Rassismus“ (Shohat/Stam
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2008: 23) findet als „soziale Schließung“ beispielsweise in Bereichen der Staatsbürgerschaft oder von national orientierter Kultur (Terkessidis 2004: 101f) statt. Soziale Schließung, wie sie im Zuge der faktischen Unterschichtung des Arbeitssektors und mangelnde Aufstiegschancen für nicht-deutsche Arbeitnehmende stattfand (vgl. Ha 2003: 73) und weiterhin stattfindet7, setzt sich im Bereich der Staatsbürgerschaft bzw. dem Gebiet der Kultur fort. Als Ausländer_innen unterstanden bereits die sog. „Gastarbeiter_innen“ anderen Gesetzen als ihre Kolleg_innen und Mitbürger_innen und waren insofern von Beginn an in die jeweiligen gesellschaftlichen Bereiche einbezogen und doch ausgeschlossen (vgl.: Terkessidis 2004: 80).8 In kultureller Hinsicht wiederholt sich diese Schließung in dem institutionellen Komplex, den Mark Terkessidis „kulturelle Hegemonie [bezeichnet], und der sich als Raum zwischen der Tätigkeit des Staates, den Anforderungen des Arbeitsmarktes und der Aktivität der Individuen reproduziert.“ (ebd: 104) Historisch betrachtet bezieht Rassismus seinen Referenten aus der Konstruktion von „Rasse“ als einer Kategorie, die zu Beginn der Aufklärung erfunden wurde, um Menschen in Gruppen zu unterscheiden und durch Verteilung von Zugehörigkeiten (z. B. zu Kontinenten, Klimazonen oder Weltregionen) zu ordnen. Die Verschiebung des Begriffs ‚Race‘ von einem vorwissenschaftlichen Begriff zur Bestimmung von Zugehörigkeiten in Adelsgeschlechtern hin zu einem modernen Begriff von „Rasse“ als Kategorie zur Systematisierung der menschlichen Erdbevölkerung nach Erscheinungsformen leitet die Historikerin Antje Sommer von einem Text François Berniers von 1684 her und datiert somit den Beginn eines modernen „Rasse“-Diskurses auf das Endes des 17. Jahrhunderts: „Unter
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Im Zusammenhang mit der Anfang 2014 durch die CSU in die Debatte gebrachten Angst vor einer Migration ‚ins deutsche Sozialsystem‘ durch bulgarische und rumänische Zuwander_innen als neue EU-Bürger_innen wurde diese Schließung unerwartet deutlich als sozial-ökonomische erkennbar, nicht zuletzt durch die vermehrten Verweise von moderater Seite, dass die bereits im Land befindlichen Südosteuropäer_innen zu einem überdurchschnittlich hohen Anteil ohne Inanspruchnahme ‚unserer‘ Sozialleistungen auskämen und sich in der übergroßen Mehrheit als ‚Kleinstselbständige‘ (d. h. als unversicherte Tagelöhner_innen) durchschlügen.
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Mit der Einführung des neuen Staatsbürgerschaftsgesetzes und der Europäischen Integration wurden zugleich kategoriale Verschiebungen in der Zuordnungspraxis erkennbar: Eingebürgerte fanden sich in der neuen Zuordnung zwar eingeschlossen, bald aber in neuen Kategorien, beispielsweise Religion, als nicht zugehörig ausgeschlossen wieder. (vgl.: Emcke 2010)
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den Versuchen, das ständig wachsende Beobachtungsmaterial über die Menschen fremder Erdteile zu ordnen, ragt zuerst der Vorschlag des französischen Arztes und Forschungsreisenden François Bernier im ‚Journal des Sçavans‘ 1684 hervor.“ (Sommer 1984: 142) Auf der Grundlage dieser – willkürlichen – Erfindung von „Rasse“ als einer Ordnungskategorie entstanden Forschungsgebiete, in denen im Verlauf von zwei Jahrhunderten „Rasse“ als Kategorie wissenschaftlich immer stärker versichert wurde und sich so die Existenz von „Rassen“ sich zum „natürlichen“ Fakt – sprich: zu Wissen – ausbildete. Mit diesem Wissen wurde im Zuge der globalen Expansion Europas (die zugleich Voraussetzung für diese Wissensproduktion war) die Vorstellung von einer kategorischen Überlegenheit der westlichen Zivilisation zementiert, sodass „das Selbst und der Andere […] gleichermaßen in eine gemeinsame (europäische) Bedeutungswelt eingeschlossen“ waren (Miles 2000: 21): Das außereuropäische Andere war (und ist) konstitutiv für die „Genese des modernen Ego nicht nur als reine Subjektivität, sondern als eine Subjektivität, die sich als Endziel der Weltgeschichte betrachtet“ (Dussel 1995: 25). Während die Begriffe „Rassismus“ (1932) und „Rassisten“ (1936) erst in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts als kritische Termini in Opposition zu und zur Diskreditierung von „Rassen-Lehren“ eingeführt wurden (vgl.: Bonnett 2000: 10), hat der Begriff „Rasse“ somit eine weit ältere Geschichte, an der bereits sein konstruktiver und diskursiver Charakter erkennbar wird. In seiner Genealogie wird eine permanente Neuaushandlung und Verschiebung seiner Bedeutung auffällig, sodass sich die Kategorie „Rasse“ auf keinen historisch stabilen Referenten (vgl.: Gilroy 2002: 36) beziehen kann. Allerdings ist es ein Merkmal von Diskursen, dass in der ständigen Diskussion um Begriffe und ihre Bestimmung nicht nur die Begriffe sich verstetigen, sondern sich auch bestimmte Konsense über Inhalte bilden, die dann als objektives Wissen weitergetragen werden. Emmanuel Chukwudi Eze rekonstruiert für die Entstehung des modernen „Rasse“-Begriffs in der Zeit der Aufklärung diese Unschärfe bei der Herausbildung eines ganzen Vokabulars, das „in erstaunlichem Maße von dem geprägt ist, was wir heute ‚Intertextualität‘ nennen“ (Eze 1997: 6; Übers. tm). Er beschreibt die diskursiven Bewegungen um diese Begriffe als ein geradezu virulentes „climate of in- and cross-breeding of citations and cross-references, one writer being quite dependent upon others in the trading of ideas“ (ebd.: 7). Diese Diskurse geben nicht nur Einblicke in die Begriffsbildung selbst, sondern auch in die Werkstatt der zirkulären Wissensproduktion dieser Zeit sowie der Mechanismen, durch die jene Gegenstände herausgebildet wurden, die Wissenschaft als solche konstituierten:
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84 | S TANDORTE [W]e notice that Kant borrows historical perspectives from Buffon, but relies upon Hume for „proofs“ of specific opinions about the Negro. Blumenbach, meanwhile, relies upon the authority of Kant, in addition to Buffon and Linné, while Buffon, whom Kant cites, relied for evidence on Barrere, Littré, and Winslow. These last three authors were the main authorities cited in Diderot’s Encyclopédie in the entry, „Negre“. Cuvier appealed to Blumenbach, who cited Kant, who cited Hume, while Thomas Jefferson refers to Hume and borrows from the Encyclopédie, and so forth. (Ebd.: 6f)
Neben – und mit – Begriffen wie „Natur“, „Kultur“, „Fortschritt“, „Wildheit“, „Phlogyston“ und „Gallensäure“, so Eze, stellte die Aufklärung auch das Konzept ‚Race‘ als identifizierbare – und identifizierende – Größe für die zunehmend systematisierte und systematisierende Herstellung von Gegenständen zur Verfügung, anhand derer ‚Wissen‘ produziert wurde (vgl. ebd.: 7). Aus heutiger kritischer Sicht lässt sich ohne Frage festhalten, dass die Taxonomien der Aufklärer ebenso wie die der imperialen Ethnographen des 19. Jahrhunderts in besonders eklatantem Maße demonstrieren, wie Wissenschaft ihr eigenes Objekt („Rasse“) selbst produziert9 und zugleich als vorgefundene Gegebenheit postuliert. „Rasse ist eine Erfindung“, stellt Noah Sow (2008: 71) in diesem Sinn lakonisch fest; es bleibt jedoch hinzuzufügen, dass solche ‚Erfindungen‘ soziokulturelle Realitäten mit handgreiflichen Effekten werden können: „Race does not exist. But it does kill people“ (Collette Guillaumin zit. in Wollrad 2005: 117). Die Auswechselbarkeit des Referenten der rassistischen Formationen verdeutlicht deren inhaltliche Abhängigkeit von den historischen politisch-ökonomischen Kontexten des Kolonialismus und der Bildung von Nationalstaaten, zugleich zeigen sich Überschneidungen mit weiteren Konzepten wie ‚Kultur‘, Ethnie, Volk, Mentalität etc. Anhand des „Antisemitismus und seine[r] tödliche[n] Unterscheidungsgewalt im Nationalsozialismus“ (Singer 1999: 71) wird, wie
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Anschaulich dazu der Artikel „Die Rassemacher“ von Wulf D. Hundt (2001). Zahlreiche Studien zur Begriffsgeschichte von „Rasse“ (und „Rassen“lehren, „Rassen“forschung) machen nicht nur die referentielle Unschärfe deutlich, sondern auch die Verwobenheit verschiedener wissenschaftlicher Diskurse in den sich zunehmend ausdifferenzierenden Disziplinen wie u. a. der Medizin, der Anthropologie, der Biologie und der Kriminologie, Psychologie (vgl. Terkessidis 2004: 94) zur weiteren Ausgestaltung des Konzepts (vgl. Gilman 1982). 1995 erklärt die UNESCO-Konferenz das Konzept „Rasse“ als „Glaube, menschliche Populationen unterschieden sich in genetischen Merkmalen von sozialem Wert“ für „obsolet“, denn: „Es gibt keinen überzeugenden wissenschaftlichen Beleg, mit dem dieser Glaube unterstützt werden könnte.“ (zit. in: Heck/Hornemann 2000: 166)
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Mona Singer hervorhebt, in besonderem Maße erkennbar, wie kontingent die Auswahl von Merkmalen zur Herstellung von „Rasse“ und wie wenig Rassismus auf biologische Markierung zu beschränken ist. Um eine unüberwindbare Differenz herzustellen und zu behaupten, wurden Jüdinnen und Juden mittels diverser Repräsentationstechniken die Indikatoren ‚ihrer‘ Erkennbarkeit geradezu auf den Leib geschrieben; zur Absicherung gegen verbleibende Uneindeutigkeiten wurde ‚ihre‘ Identität an den (bekleideten) Körper geheftet. Wenn damit die Referenzund Substanzlosigkeit des nationalsozialistischen Antisemitismus deutlich hervortritt (vgl. Haug 1981: 57), so wäre nichts verfehlter, als aus dieser Inkohärenz eine ‚Schwäche‘ abzuleiten. Im Gegenteil ist es gerade diese Substanzlosigkeit, die es dem Nationalsozialismus ermöglichte, das Stereotyp ‚des Juden‘ nach Belieben zu modifizieren und performativ in Realität umzuwandeln: Die an sich substanzlosen antisemitischen Feindbilder sind „wahr in dem Sinn, daß der Faschismus sie wahr gemacht hat“ (Adorno/Horkheimer 1992: 177). Entsprechend waren die vom Nationalsozialismus aufgerufenen antisemitischen Stereotypen höchst wandelbar und konnten vom bolschewistischen Proletarier bis zum Wallstreet-Monopolisten eine Vielzahl inkompatibler Projektionen aktivieren. „Mit anderen Worten konstruiert der Rassismus erst die ‚rassische‘ Differenz.“ (Brah 1996: 27; vgl. auch Terkessidis 2004: 84)
Variablen der Essenzialisierung Diese Flexibilität lässt sich für alle Formen von Rassismus nachweisen und ist als Stabilisierungsfaktor produktiv. Als soziale Praxis beruft Rassismus sich auf Konstruktionen von größter Variabilität: „Eine beliebige Anzahl von Markierungen – wie Hautfarbe, Physiognomie, Kultur oder Gene – können als ‚Zeichen‘ einer ‚Rasse‘ zusammengefaßt werden.“ (Brah 1996: 27) Während bestimmte Rassismen auf Merkmale des Körpers, sog. ‚biologische‘ Indikatoren, zurückgreifen, die mitunter sogar über das Paradigma der ‚Sichtbarkeit‘ hinausgehen und gerade in dieser Unsichtbarkeit das Moment der (unkontrollierbaren) Bedrohung konstruieren, markieren aktuelle Formen die Differenz unter Rückgriff auf naturalisierte, essentialisierte Vorstellungen von ‚Kultur‘ oder ‚Ethnie‘. Der Bezug auf „Rasse“, wie er im 18. und 19. Jahrhundert verwissenschaftlicht10 und im 20. Jahrhunderts mittels Verfahren der Wissenschaft zu einer Vernichtungskategorie weitergeführt wurde, scheint heute nachhaltig diskreditiert. Da-
10 Peggy Piesche indentifiziert Immanuel Kant als denjenigen, der Vererbbarkeit von Merkmalen auf systematisch-wissenschaftliches Niveau hob; vgl.: Piesche 2005: 30–39.
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mit verschwindet jedoch der Rassismus nicht. Wie Adorno bereits 1954 konstatierte, verschieben sich nur die Begriffe: „Das vornehme Wort Kultur tritt anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber ein bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch.“ (Adorno 1975: 276/77) Insofern als dieser nicht unbedingt an die Konstruktion biologisch körperlicher Merkmale gebunden ist, schließt er die kulturalistische Markierung und Stigmatisierung von Gruppen – d. h. die heute dominante Prozedur der Rassifizierung – mit ein. (vgl. Terkessidis 2004: 98; 100) Die Merkmale, die zur homogenisierenden Gruppenbildung herangezogen werden (können), bilden „ein synkretistisches Bündel von Konnotationen und Bedeutungsclustern“ (Gillaumin zit. in Terkessidis 2004: 98).), die explizit nicht auf biologisch identifizierte Kennzeichen zu reduzieren sind. „Tatsächlich kann sich das beschriebene Merkmalsbündel auch in der Rede von Kulturen oder Ethnien äußern.“ (Ebd.: 98) Harald Pautz konstatiert, dass Rassismus immer eine kulturelle Komponente hatte, „die sich aus der Kombination der Wahrnehmung von Lebensweisen und sozioökonomischen Unterschieden ergibt“ (Pautz 2005: 23). Mit genau dieser Flexibilität erweitert sich der Rassismus-Begriff um ein entscheidendes Moment: Indem es weniger um die (variablen) Konstruktionen selbst geht als vielmehr um Rassifizierung als einen (geradezu regelhaft verlaufenden) Mechanismus, können Phänomene wie Kulturalismus, Kultureller Rassismus bzw. Neo-Rassismus, ‚Rassismus ohne Rassen‘ (Balibar 1990: 28) oder ‚differentieller Rassismus‘ (Targuieff 2000) in der Struktur eines Gesamtphänomens historisiert und lokalisiert werden. Insofern als die unterschiedlichen Rassismen auf vielfältige, jeweils als vorgängig ausgegebene Konzepte zurückgreifen, zeigt sich als ihre Gemeinsamkeit, dass sie austauschbar sind. „Rasse“ wird so zur „diskursiven Metapher“ (Gates zit. in Kossek 1996: 18), zum substanzlosen Platzhalter für eine Reihe anderer sozialer Identitätszuweisungen, deren zweite und zentrale Gemeinsamkeit im Potential ihrer Essenzialisierung liegt. „Rasse“ ist ersetzbar, und die Möglichkeit der Ersetzung ist das Potential des Rassismus. Rassismus lässt sich insofern in einem spezifischen Aspekt fassen: seiner Variabilität oder Flexibilität. Diese Flexibilität des Rassismus als Wissen und Praxis der Essenzialisierung von Differenz und Identität verweist auf seine bemerkenswerte Produktivität wie auf sein Potential zu permanenter Reproduktion.11 Die Herausforderung eines
11 Zwar funktioniert die Verstetigung vor allem durch das Begründungsmoment der ‚Letzlichkeit‘, die Vorstellung von (und der ‚letztliche‘ Bezug auf) irreduzibel Vorgegebenem/s: Natur, Wesen etc.; paradoxerweise macht dieses ‚Letzte‘ als Unbewegliches die Reproduktion (von Wissens um Ungleichheit) als Bewegung möglich.
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Anti-Rassismus besteht daher, so Bonnett, in der Aufgabe der De-Essenzialisierung, der Enthomogenisierung und der De-Naturalisierung von Identität: […] I shall be offering some suggestions as to what form of anti-racism appears most capable of challenging racist knowledges and practices. […] the case is made for an antiracism as an anti-essentialist political force that acts to denaturalize both ethnic and racial allegiances and categories. I say both ethnic and racial deliberately. The anti-racist challenge to stereotyping, homogenisation and naturalisation of identity is just as vital among groups commonly called ‚ethnic‘ as it is among those communities who are understood through the terminology of race. (Bonnett 2000: 4)
Auch, um Formen des Neo-Rassismus der Neuen Rechten zu fassen, spricht Etienne Balibar mit Bezug auf Pierre-André Taguieff von einem „Rassismus ohne Rassen“, der sich interessanterweise dadurch auszeichnet, dass er statt hierarchischer Überlegenheitsbehauptungen Differenz per se gegen Vermischungen und Auflösungen fordert und mit der Unvereinbarkeit unterschiedlicher Lebensweisen begründet. Ideologisch gehört der gegenwärtige Rassismus, der sich bei uns um den Komplex der Immigration herum ausgebildet hat, in den Zusammenhang eines „Rassismus ohne Rassen“ […]: eines Rassismus, dessen vorherrschendes Thema nicht mehr die biologische Vererbung, sondern die Unaufhebbarkeit der kulturellen Differenzen ist; eines Rassismus, der – jedenfalls auf den ersten Blick – nicht mehr die Überlegenheit bestimmter Gruppen oder Völker über andere postuliert, sondern sich darauf „beschränkt“, die Schädlichkeit jeder Grenzverwischung und die Unvereinbarkeit der Lebensweisen und Traditionen zu behaupten. Diese Art von Rassismus ist zu Recht als ein differenzialistischer Rassismus bezeichnet worden (vgl. etwa P.A. Taguieff). (Balibar 1990: 28)
Mit dem binär strukturierten Topos der „Reinheit – Unreinheit“ fordert die Neue Rechte ein „Recht auf Differenz“ und Identität. Einmal mehr zeigt sich, dass der Begriff der Differenz in seiner Bedeutung umkämpft und nicht per se Garant für Forderungen nach Pluralität und kultureller Vielfalt ist. Ich komme im nächsten Abschnitt auf diesen Punkt zurück. Zunächst lässt sich zusammenfassend festhalten: Rassismus ist nicht reduzierbar auf aktive – gar vorsätzliche – rassistische Handlungen, auf individuelle Intentionen, persönliche Einstellungen, Ressentiments, Fehlverhalten oder die „Reaktion auf die Machtlosigkeit der unterworfenen Subjekte […] als fehlgeleitete[r] Protest“ (Terkessidis 2004: 84). Vielmehr liegt die banale Normalität des Rassismus gerade darin, dass seine Produktivität und Flexibilität strukturgebend in die gesamte historisch gewachsene Situation
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(unserer) Gesellschaft(en) eingelassen und somit politisch verhandelbar und veränderbar ist. Macht liegt dabei in der Normalität, und zwar in der ganz alltäglichen Praxis der re-produzierenden Differenzierung von Gruppen durch Homogenisierung, Stereotypisierung und Naturalisierung anhand willkürlicher Kategorien, die sowohl durch alltägliche als auch durch spezialisierte, wissenschaftliche/professionelle Wissensbildung sowie durch soziale Handlungs- und Beziehungspraxen generiert, wiederholt und modifiziert werden: Rassismus ist eine sich selbst stabilisierende und perpetuierende Maschine, ein Zirkel, der nur in der Praxis einer (systematischen) De-Naturalisierung und De-Homogenisierung unterbrochen werden kann. In dieser Situation einer sich selbst perpetuierenden Allgegenwärtigkeit von Rassismus besteht die Anforderung an Antirassismus zunächst in der Anerkennung von Rassismus als struktureller gesellschaftlicher Normalität. Dies impliziert die Anerkennung des eigenen Verstricktseins in diese (gestaltbare) Ordnung, also: die Einsicht in ihr historisches Gemachtsein und beständiges Neugemachtwerden, somit aber auch in die prinzipielle Veränderbarkeit des rassistischen Skripts. Insofern ist Rassismus politisch zu begreifen. Antirassistische Handlungsmacht ist zudem aus seiner Struktur ableitbar. Rassismus ist eingelassen in und möglicherweise sogar vergleichbar mit eine/r Sprache, die gelernt ist. Sie zu verlernen, ist schwer, aber nicht unmöglich. Es bedarf des Verständnisses und der Anerkennung, dass alle gesellschaftlichen Mitglieder in mehr oder weniger starkem Maße als Akteure am Zirkel der Reproduktion des Rassismus beteiligt sind. Die Unterbrechung des Zirkels könnte im Sinne einer aufklärerischen Position mit (und zugleich trotz) Kant12 als Austritt aus den Zirkeln struktureller Reproduktion beginnen mit der ‚einfachen‘ Unterlassung von reproduzierender Affirmationen als Teil ‚mündiger‘ Verantwortung – fortsetzen könnte sie sich in der Aneignung von Taktiken des Gegensprechens. Die agency der Einzelnen liegt (zumindest situativ und partiell) in der Verantwortung für die Wiederholung im Sprechen.
12 Zur Ambivalenz der Schriften Immanuel Kants, die zwischen dem Proto-Rassismus der frühen, anthropologischen Arbeiten und dem dezidierten Anti-Eurozentrismus der späten, kosmopolitischen Schriften pendeln, vgl.: Muthu 2003: 122–200; Wiemann 2013: 48–60; außerdem Piesche 1999 und 2005.
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V ERFÜGUNGEN
ÜBER
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‚A UFKLÄRUNG ‘
Der Prozess der Herstellung von ‚kulturellen‘ (Wir- und Sie-)Identitäten und Differenzen, in dem das Eigene über die Konstruktion des Anderen konstituiert wird, wiederholt sich im aktuellen öffentlichen Migrationsdiskurs unter Rückgriff auf Konzepte der Aufklärung. Rekurriert wird in diesem jedoch weniger auf die „Rasse“-Konstruktionen prominenter Philosophen der Aufklärung13 oder auf andere Othering-Prozesse, die in der Kritischen Weißseinsforschung, der Rassismusforschung und der Postkolonialen Kritik herausgearbeitet wurden. Vielmehr sind es die abstrakten Ideale der Aufklärung (Freiheit, Gleichheit, Toleranz, Vernunft …), kulturelle Artefakte wie auch institutionelle Verfasstheiten (beispielsweise Rechtstaatlichkeit, Recht auf Unversehrtheit, liberale Öffentlichkeit und Freizügigkeit etc.), die zu rein europäischen Erfindungen, Erkenntnissen oder Errungenschaften erklärt werden, als seien sie unveränderbarer und unteilbarer ‚Besitz‘ der Wir-Gruppe (‚des Westens‘, ‚Europas‘, ‚der Deutschen‘) oder zumindest ‚natürlich‘ mit ihr verbunden. Mit Blick auf solche Differenzkonstruktionen und ihre Darstellungen auf deutschen Bühnen konstatiert die Theaterautorin Azar Mortazavi: „Wenn in den Debatten muslimische Migranten als traditionell, undemokratisch und unmodern dargestellt werden, wird gleichzeitig behauptet, selbst aufgeschlossen, liberal und modern zu sein.“ (Mortazavi 2011: 74) Die gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung um Migration in Deutschland – wie auch in anderen europäischen Ländern – ist somit begleitet von einer Konstruktion von Aufklärung, die latent oder offensiv ‚Werte der Aufklärung‘ als ‚westlich‘, ‚europäisch‘ oder ‚deutsch‘ fixiert und sie gegenüber ‚Anderen‘ als solche abzusichern sucht. Säkularismus, Demokratie, Toleranz, Vernunft, Individualismus, Pluralität werden dabei als Paradigmen einer europäischen Moderne festgestellt und einem religiös(-fundamentalistisch) orientierten, irrationalen, kollektiven, kurz: vor-modernen Denken und Handeln gegenübergestellt, das einem nicht-westeuropäischen, fremden Anderen ‚mit Migrationshintergrund‘ zugeschrieben wird.14 Die seit 2005 prominent gewordene Publizistin und Soziologin Necla Kelek kontrastiert beispielsweise „moderne Gesellschaften“ mit einer „islamisch-türkischen Welt“ wie folgt:
13 Vgl. Hentges 1999; Piesche 1999; Melber 1992; Said 1981; Shohat/Stam 2008: 86–93. 14 Vgl. Tibi 2000: 95: „Bei Zuwanderer-Kulturen aus dem Mittelmeerraum und Afrika handelt es sich wertfrei um vor-moderne Kulturen, die absolute Geltung für ihre Anschauungen beanspruchen.“
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90 | S TANDORTE In modernen Gesellschaften trägt jeder für sich selbst Verantwortung. Dem Individuum wird zugestanden und von ihm wird verlangt, sein Handeln selbst zu verantworten, es dementsprechend zu kontrollieren. Moderne Gesellschaften sind dementsprechend horizontal strukturiert. In der vertikal strukturierten türkisch-islamischen Welt wird der Mensch hingegen als ein Sozialwesen verstanden, das nicht sich selbst, sondern der Gemeinschaft gehört. Er kann sich nicht selbst kontrollieren, die Gemeinschaft trägt für ihn die Verantwortung: Der Ältere trägt sie für den Jüngern, die Männer für die Frauen, das Familienoberhaupt für die ganze Familie. (Kelek 2006: 28)
In solchen dichotom aufgestellten Strukturvergleichen, so ließe sich argumentieren, setzen sich historische Grundfigurationen fort, die Edward Said als ‚Orientalismus‘, im Anschluss daran Stuart Hall (2008) als „Idee des Westens“15 und Walter Mignolo als „Okzidentalismus“ theoretisierten: Diskursformationen, durch die sich Europa seit der spanischen Conquista Amerikas (Mignolo 2003) und ‚der Okzident‘ seit dem 18. Jahrhundert (Said 1981) durch die kontrastive Absetzung von seinem als ‚rückständig, sinnlich und passiv‘ konstruierten Anderen – ‚Amerika‘ (Mignolo), dem ‚Orient‘ (Said) bzw. dem ‚Rest‘ (Hall) – als modern, fortschrittlich und rational selbst konstituiert. Im Folgenden sollen diese Beobachtungen mit einem kursorischen Blick auf aktuelle Zuschreibungen etwas genauer nachvollzogen werden.16 Dass Aufklärung oftmals als westliches Alleinstellungsmerkmal in die Debatten um Migration und Toleranz eingebracht wird, beobachtet die Arabistin Silvia Horsch in ihrer Beschäftigung mit dem Islamverständnis bei Lessing: Das Islambild eines Aufklärers wie Lessing ist für uns […] von Bedeutung, weil der Begriff ‚Aufklärung‘ häufig benutzt [wird], um einen Gegensatz zwischen „dem Westen“ und „dem Islam“ zu betonen. […] ‚Aufgeklärt‘ zu sein bedeutet [in einem allgemeinen Sinne], Irrationalität und Unvernunft hinter sich gelassen zu haben, sich von religiös bedingten Zwängen befreit und Fanatismus überwunden zu haben. Man trifft häufig auf die Meinung, die Europäer hätten diese Entwicklung bereits hinter sich, während andere Kulturen sie noch vor sich haben – und zwar insbesondere der Islam. (Horsch 2008: 2)
15 Zur ‚Idee des Westens‘ vgl. auch Said 1981: 12: „der Orient [ist] wie der Westen selbst eine Idee, die eine Geschichte besitzt und eine Tradition als Denkweise, Bildwelt sowie Vokabular und für die es eine Realität und Präsenz im und für den Westen gegeben hat“. 16 Trotz der kritischen Verweise auf die hier nur angedeuteten Facetten der Aneignung von Aufklärung zur Herstellung von Wir-Identitäten, liegt m. E. eine systematische Aufarbeitung solcher Aufklärungskonstruktionen noch nicht vor.
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‚Aufklärung‘ wendet sich so, wie Zafer !enocak in seiner Aufklärungsschrift erklärt, gegen ihre eigenen Versprechungen: Ihre Ideale können „instrumentalisiert werden, um Kulturkreise mit dem Ziel zu konstruieren, Fremde auszugrenzen. […] Die Unvereinbarkeit der anderen, beispielsweise der Muslime, mit den Werten der Aufklärung wird […] zum stigmatisierenden, weil formelhaft wiederholten Urteil und somit zum Vorurteil.“ (!enocak: 2011: 46) Die ägyptische Soziologin Mona Abaza konstatiert hingegen einen ernstzunehmenden Angriff auf die Werte der Aufklärung von zwei verschiedenen Seiten. Neben einem „simplistic Manichean divide of Enlightenment versus counter-Enlightenment“ (Abaza 2007: 7) in der klischeehaften auto- und heterostereotypen Repräsentation des Westens, portraitiert als „secular, sucessfull and democratic, facing a blurred entity of ‚Muslims‘ who are seen as having failed to enter modernity“ (ebd.: 5), stellt sie insbesondere in westlichen Gesellschaften politische, soziale und ökonomische Trends der Unsicherheit, der Prekarisierung und Globalisierung fest. Diese sind begleitet von einem „serious assault on the values of Enlightenment in the West“ (ebd.: 6), und zwar durch eine „reinvented form of communalism among some Muslims in Europe“, die im Umkehrschluss zugleich das Wachsen der Neuen Rechten beschleunigt (ebd.: 6): „They share a common denominator, both fuelling hatred towards ‚Otherness‘“ (ebd.: 7). Vor diesem Hintergrund werden soziale Unterschiede mit Kategorien wie ‚Kultur‘ und Ethnizität verdeckt: „It seems that ‚elite Enlightenment‘ works hand in hand with the culturalist view to revive the public discourse on the perils of immigration as if class has disappeared from the dictionary of sociology, and culture has replaced race and ethnicity as markers of the immutable essence of the outsider.“ (Ebd.: 8) In den Niederlanden, so Abaza, geht diese neokonservative Aneignung der Aufklärung für kulturalistische Slogans gegen Immigration Hand in Hand mit dem Abbau sozialer Sicherungssysteme (ebd.: 7). Die behauptete Unvereinbarkeit insbesondere des Islam, der als Religion oft mit ‚Kultur‘ im Sinne eines Kulturkreises gleichgesetzt und homogenisiert wird17, mit der ‚Aufklärung‘ bzw. ‚kulturellen Moderne‘ Europas wird zum Argument gegen jede Form von Multikulturalismus, Interkulturalität oder gar Transkulturalität. Necla Kelek, Bassam Tibi, Hans Peter Raddatz, Ayaan Hirsi Ali oder auch Thilo Sarrazin werfen der deutschen Gesellschaft u. a. eine unentschiedene, indifferente und unwachsame Haltung gegenüber der von ihnen wahrgenommenen islamischen Gefahr vor und kritisieren die (vermeintliche) Akzeptanz für islamische Traditionen als Resultat eines kriterienlosen ‚Kulturrelativismus‘, der die
17 Zur Ethnisierung der Kategorie ‚Muslim_in‘: vgl.: Shooman 2011: 66.
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universelle Gültigkeit aufklärerischer Prinzipien aufs Spiel setze.18 Demgegenüber gelte, es die Inkompatibilität des „Islam mit der liberalen Gesellschaft, wie sie sich im Gefolge der Aufklärung herausgebildet hat“, zu erkennen, um „der schleichenden Scharia“ zu entgegnen, wie Aayan Hirsi Ali sie prophezeit: „Die Untergrabung der freiheitlichen Gesellschaft ist ein Prozeß in mehreren Stufen.“ (Hirsi Ali 2006: 39) Während Hirsi Ali eine theologische Reform des Islam fordert und zugleich die amerikanische Intervention in den Irak zu dessen Demokratisierung (ebd.) befürwortete, sieht Necla Kelek in der Annahme der Aufklärungsideen seitens der Muslime die Bedingung „für die Zukunft Europas“: Für die Zukunft Europas wird es von entscheidender Bedeutung sein, ob es gelingt, die Muslime von der Idee der aufgeklärten demokratischen Bürgergesellschaft zu überzeugen, ob Freiheit und Verantwortung auch ihnen als attraktiver erscheinen als die kollektiven Zwänge einer religiösen Weltanschauung. Freiheit kann man lernen und muss man verteidigen. (Kelek 2011: 20)
Gegen die „Islamisierung Europas“ als einer „bereits […] „materielle[n] Gefahr‘“ und einer „demografische[n] Herausforderung“ qua Geburtenrate schreibt Kelek (2011: 20) seit 2005 gegen eine kulturrelativistische „falsch verstandene Toleranz“ (Kelek 2005: 239) der Deutschen an. „Von den Deutschen wünsche ich mir, dass sie sehr viel selbstbewusster ihre Errungenschaften und Werte ver-
18 Mit seinem vehementen Plädoyer „gegen multikulturelle Modene“ warnt Bassam Tibi, der sich als „arabischer Semit“ zum Kenner im Sinne eines native informant über ‚den Islam‘ erklärt, vor einem rapiden Werteverfall durch Kulturrelativismus und propagiert die „Bewahrung der Aufklärungsidentität Europas“ (Tibi 2002: 228). Statt Differenzen zu leugnen, wie er seinen Kritiker_innen vorwirft, bedürfe es einer europäischen Leitkultur, die Migranten als Wertekonsens zu teilen hätten (vgl. ebd.: 240): „Seit Lessing und Voltaire und der durch die europäische Aufklärung erreichten Überwindung der Verteuflung Andersdenkender und Andersgläubiger sowohl in den eigenen Reihen als auch in anderen Kulturen und Zivilisationen gehört Toleranz zu den wertvollsten Errungenschaften Europas. Von diesem Kontinent sind gleichwohl viele schwere Verbrechen ausgegangen bzw. begangen worden; Europa hat aber mit der Aufklärung auch erhaltenswürdige Werte, die im Widerspruch zu Faschismus und Kolonialismus stehen, hervorgebracht. Im Multi-Kulti-Zeitalter mit seiner Relativierung aller Werte, das heißt dem Kulturrelativismus […] wird die Verteidigung der europäischen Werte gegenüber vormodernen, damit meine ich: vor-aufklärerischen, Kulturen als Intoleranz gegenüber ‚fremden‘, ja in extremen Fällen als Rassismus diffamiert.“ (Tibi 2000: 33)
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teidigen.“ (Ebd.: 265) Ähnlich wie Bassam Tibi, Aayan Hirsi Ali und nicht zuletzt auch Thilo Sarrazin baut Kelek ihre Forderung zur Verteidigung dieser „Errungenschaften“ mit dem Bedrohungsszenario einer „konspirativ betriebenen Islamisierung“ (Shooman 2011: 71) auf, das mit den rhetorischen Verschwörungsfigurationen naturalisierter expansiver Übermacht einerseits und zugleich einer heimlich-subversiven, somit nicht kontrollierbaren Langsamkeit (schleichenden Unterwanderung) arbeitet – beides Topoi des Antisemitismus, wie er bereits im 19. und 20. Jahrhundert popularisiert wurde. Mit einer anderen Argumentation erhebt dagegen der französische Essayist Pascal Bruckner den Vorwurf des Kulturrelativismus: Der Multikulturalismus verweigere ‚den Anderen‘ den Zugang zur Modernisierung, indem er alle ‚kulturellen‘ Differenzen zulässt. In Bruckners Position zeigt sich ein paternalistischer Zug, der einen selbstbewussten Monokulturalismus gerade als Hilfestellung zur Entwicklung der ‚Vormodernen‘ hin zur europäischen Moderne erklärt. Bruckner bezeichnet Multikulturalismus sogar als einen „Rassismus des Antirassismus. Er kettet die Menschen an ihre Wurzeln“ (Bruckner 2007: 67): Indem „der Multikulturalismus“ Gleichwertigkeit und Respekt verschiedener Lebensweisen (z. B. die „Anerkennung der Gruppe, Unterdrückung des Individuums“ und die „Bevorzugung der Tradition“) einfordere, verweigere er „ihnen“, was bisher ‚unser‘ Privileg gewesen sei: den Übergang […] von der Tradition zur Moderne, vom blinden Gehorsam zur Vernunftentscheidung“ (ebd.). Die Aufklärung gehört dem Menschengeschlecht und nicht nur einigen Privilegierten aus Europa und Nordamerika – die sich überdies herausnehmen, sie wie verwöhnte Gören mit Füßen zu treten und anderen vorzuenthalten. Vielleicht ist der Multikulturalismus angelsächsischer Prägung nichts anderes als eine legale Apartheid, begleitet – wie so oft – vom rührseligen Gesäusel der Reichen, die den Armen erklären, dass Geld allein nicht glücklich macht. Wir tragen die Bürde der Freiheit, der Selbstverwirklichung, der Gleichberechtigung der Geschlechter, euch bleiben die Freuden des Archaischen, des Missbrauchs nach Vorvätersitte, der arrangierten Heiraten, Kopftücher und Vielehen. (Bruckner 2007: 68; Herv. i. O.)
Der Besitz des Privilegs einer (europäischen) Moderne wird in diesem Artikel pointiert zum Ausdruck gebracht und zugleich mit einem universellen Bildungsauftrag gekoppelt, der den christlichen Missionsbefehl ebenso wie die koloniale civilising mission in modernisierter Formulierung fortschreibt. Vom gleichen Klischee des westlichen Aufklärungsmonopols mitsamt der damit einhergehenden globalen Verpflichtung geht auch Wolfgang Günter Lerch aus, der dabei jedoch die praktischen Umsetzungsschwierigkeiten bei der Verbreitung aufkläreri-
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scher Lehren in ‚aufklärungsfernen‘ Regionen betont. Sein Exempel ist bezeichnenderweise der ‚Nahe Osten‘: „Aufklärung ist ein schwieriges Geschäft in einer Region, in der es inzwischen zwar viele säkularisierte Menschen gibt, deren Gesellschaften insgesamt aber nicht jene Prozesse durchgemacht haben, die für Europa und die Vereinigten Staaten von Amerika seit dem 18. Jahrhundert prägend wurden.“ (Lerch 2010)
Kritiken und Korrekturen Der immer wieder aufgerufene Topos der ‚Rückständigkeit‘ wurde für unterschiedliche historische Epochen als Konstruktion der Kolonialmächte herausgearbeitet und kritisiert, so u. a. von Johannes Fabian (1983) für die Anthropologie des Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert, von Edward Said (1981) für den Kolonialismus des 18. und 19. Jahrhunderts und nicht zuletzt von Stuart Hall (2008) für die europäische Expansion seit dem 16. Jahrhundert: Nichteuropäische Gesellschaften wurden demzufolge entlang einer im Westen aufgestellten Zeitleiste des Wachstums und des Fortschritts einem Eigenen gegenübergestellt, um dessen Modernität im selben Zuge zu konstituieren. Dies macht deutlich, wie die aktuellen Diskurse auf alte Muster der Wissensherstellung zurückgreifen und diese mit Topoi der Bedrohung, aber auch der Infantilisierung verknüpfen, wie u. a. Martina Johannsen am Beispiel kolonialer Beschreibung von Afrikanern erklärt: Das koloniale Weltbild sah zwar seit der Aufklärung einen Spielraum vor, innerhalb dessen sich ein mutmaßlich unmündiger, mit kindlichem Gemüte versehener Afrikaner durch Erziehung bzw. Missionierung bessern könne, nämlich insofern als er dem Europäer ähnlicher wurde. Die vermeintliche Überlegenheit der Europäer wurde dadurch aber nicht angetastet, da die Grenze der Assimilationsfähigkeit an der Stelle vermutet wurde, an der der Schwarze die Rolle des dienstbaren Gehilfen erlangt hatte. (Johannsen 2002: 27)19
In dem aktuell dominanten Szenario wird seit dem Ende des Kalten Krieges ein Topos wieder aufgerufen, der sich seit Jahrhunderten durch die westliche Geschichte zieht: der so simple wie strikte Gegensatz zwischen dem ‚Eigenen‘ und
19 Auf die von Homi Bhabha in ähnlicher Stoßrichtung rekonstruierte und kritisierte Strategie ‚kolonialer Mimikry‘ mit ihrer Formel „almost the same but not quite – almost the same but not white“ gehe ich im Kapitel „Gegen-Erzählungen: Re-Signifizieren“ kurz ein.
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dem ‚Anderen‘, an dessen Grundlage sich, wie Mark Terkessidis feststellt, seit über 500 Jahren wenig geändert hat: „Es handelt sich um die bekannte hierarchische Opposition zwischen Modernität und Primitivität. Lediglich die Inhalte und Artikulationsweisen dieser Binarität wurden modifiziert.“ (Terkessidis 2003: 241) Eine Vielzahl postkolonialer und dekolonialer Kritiken ebenso wie die selbstkritische Anthropologie oder der New Historicism haben dieses historische Leitmotiv europäischer Selbst-Konstitution in etlichen unterschiedlichen historischen Situationen ausgemacht.20 Nicht nur wurden dem ‚Anderen‘ dabei im Zuge einer Stereotypen herausbildenden Repräsentation Eigenschaften zugeschrieben, die die jeweilige Alterität in Abgrenzung zum Eigenen markierten, das ‚Andere‘ somit charakterisierten und nach europäischen Maßstäben bewerteten21; auch das ‚Eigene‘ wird in dieser Relationalität immer mit konstruiert. Die Konstruktion z. B. des Orientalen als dem kolonialen, vormodernen ‚Anderen‘ war, wie Edward Said gezeigt hat, nicht nur ein Instrument kolonialer Herrschaft über den Orient und deren Legitimation. Vielmehr diente sie der Selbst-Konstitution der westlichen Identität, die unmarkiert in der Gegenüberstellung hervortrat. Über die stereotypisierende Art und Weise der Repräsentation hinaus war es der (einseitige) ‚Blick auf‘ und das ‚Schreiben über‘ selbst, also: der hierarchisch strukturierte Diskurs, der ‚den Orient‘ konstruierte – und dabei ein Eigenes überhaupt erst hervorbrachte. Die explizit als ‚Orientalismus‘ bezeichnete neue akademische Disziplin, die sich seit Ende des 18. Jahrhunderts der wissenschaftlichen Erfassung arabischer, persischer und indischer Artefakte und Sprachsysteme widmete, spielte bei diesem Prozess eine bedeutsame Rolle: Aus Reiseberichten und einer zunehmend wissenschaftlichen Annäherung und Erfassung entwickelt sich ein diskursives Universum multipler Repräsentationen und Wechselreferenzen, aus deren Zusammenspiel zunächst ein ‚rein schriftlicher Orient‘ der Re-Präsentation hervortritt, der zusehends materiale Effekte („Präsenz für den Leser“) annimmt. ‚Der Orient‘ und ‚der Orientale‘ wurden gewissermaßen als Produkt des europäischen Orientalismus zu einer festen Größe herausgebildet, die zugleich die „reale Sache wie ‚den Orient‘ ausschließt, ver-
20 Postkoloniale Positionen: Said 1981; Gandhi 1999: Spivak 1988; Chakrabarty 2001; dekoloniale Positionen: Mignolo 2003; Dussel 1995; selbstkritische Anthropologie: Fabian 1983; Clifford 1986: 98–121; New Historicism: Greenblatt 1995. Aufgegriffen im deutschsprachigen Bereich von Piesche 1999; Castro Varela/Dhawan 2005; Terkessidis 2003. 21 Zu verschiedenen Facetten der Inszenierung von Differenz, Unter- bzw. Überlegenheiten von Afrikaner_innen und Kolonisator_innen auch: Johannson 2002; Melber 1992; Farr 2005.
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schiebt und überflüssig macht“ (Said 1981: 31, Herv. i. O.). Said hebt hierfür Exteriorität als Positionsprinzip hervor, dem zufolge die Autorität, über den Orient zu sprechen, nicht beim Orientalen, sondern beim Orientalisten liegt. Die Autorität seiner Schriften begründet sich gerade in seiner Position „außerhalb des Orients“ (Said 1981: 29), von der aus er für den Orient dessen Repräsentation vornehmen kann. „Die Exteriorität der Repräsentation wird immer durch eine Version der Wahrheit geleitet, dass der Orient, wenn er sich selbst vertreten könnte, es tun würde; da er es aber nicht kann, muß die Repräsentation diese Aufgabe für den Westen und faux de mieux, für den armen Orient leisten“ (Said 1981: 30f) In diesem Diskurs ‚kultureller‘ Differenz des ‚Orients‘ entsteht – ähnlich wie im Diskurs zur Kategorie „Rasse“ – durch unzählige Rückbezüge jene Vorgängigkeit von ‚Fakten‘, die in einer als vorhanden angenommenen Ordnung (der ‚Natur‘) ‚gefunden‘ wurden und so das weitere Denken determinieren. Was Said ‚Orientalismus‘ nennt, ist in der Tat ebenfalls eine ganze Diskursformation, die sich über die Wissenschaft hinaus auf die Felder der Verwaltung, des Militärs, der Gesetzgebung etc. erstreckte. Besonderes Gewicht misst Saids Studie dem Beitrag der Künste zur Herausbildung und Konsolidierung dieser Diskursformation zu, die nicht nur zur Legitimation der Herrschaft, sondern selbst zum Herrschaftsinstrument wird.22 In seiner Begriffsbestimmung der Idee des Westens hat
22 Auf das enge Zusammenspiel von systematicher Erforschung, militärischer und administrativer Bemächtigung und künstlerischer Repräsentation des ‚Orients‘ weist Said (1981: 100) z.B. im Zusammenhang mit Napoleons Ägypten-Expedition hin. Bereits im 18. Jahrhundert hatte sich die ‚Turquerie‘ in der europäischen Bildenden Kunst und materiellen Kultur insbesondere des Adels herausgebildet (vgl. Pape 1989: 305– 319; Lemaire 2010: 48–85; beide fassen die Hochkonjunktur der Turquerien als Folge der politisch-militärischen Eindämmung des Osmanischen Reichs nach 1683 auf). – Im Gegensatz zur Bildenden Kunst und zur Literatur, deren Rolle bei der Entwicklung und Verfestigung des orientalistischen Diskurses u. a. in der Nachfolge Saids eingehend erforscht wurden, steht eine systematische Bearbeitung der Geschichte des Theaters in Bezug auf die Repräsentation von ‚Anderen‘ noch aus. Auf die Rassifizierungspraxen der Darstellenden Künste u. a. durch diskriminierende Popularisierung von „Rasse“-Konstruktionen, gehe ich in den folgenden Kapiteln anhand der untersuchten Theaterstücke näher ein, um u. a. auch auf die kolonialen Strukturen heutiger Besetzungspolitiken sowie Repräsentationskonventionen an deutschen Bühnen und damit verbundene Zugangsbeschränkungen für Migrant_innen zu erklären. Westliches Theater kann möglicherweise entlang des Paradigmenwechsels vom barocken zum natürlichen Zeichen (kinesischer Code) während der Aufklärung – einschließlich der
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Stuart Hall darauf hingewiesen, dass der „Westen“ als Konstrukt eines „Gesellschaftstyps, der als entwickelt, industrialisiert, städtisch, kapitalistisch, säkularisiert und modern beschrieben wird“ (Hall 2008: 138), vor allem als eine Vorstellung zu betrachten ist, die materielle wie mentale Bilder erzeugt und darüber hinaus als „Denkwerkzeug“ funktioniert, das „eine bestimmte Denk- und Wissensstruktur in Bewegung setzt“ (ebd.). Um derartige homogenisierende, weitgehend unhinterfragt bleibende aktuelle Differenzfeststellungen zu entkräften, denen zufolge ‚Aufklärung‘ (analog zu ‚Moderne‘ generell) eine rein westliche Errungenschaft sei, bemühen sich verschiedene Autor_innen, Aufklärungsbewegungen z. B. des Islam zu rekonstruieren oder die Werke islamischer Aufklärer sichtbar zu machen und somit deren Anschlussfähigkeit an den Westen herzuleiten. Im Sinne einer Revision der eurozentristischen Perspektive werden mit mehr oder weniger starkem Engagement verschüttete Potenziale einzelner Reformdebatten innerhalb der islamischen Philosophie von ihren Anfängen bis ins frühe 20. Jahrhundert betont, mitunter sogar die Überlegenheit islamisch-arabischer Gelehrsamkeit gegenüber der europäischen – zumindest im Mittelalter. Korrekturen von Klischees reflektiert auch Mona Abazas Vorlesung „The Dialectics of Enlightenment, Barbarism and Islam“, in der sie Traditionen einer genuin islamischen Aufklärung zutage fördert, sie aber zugleich ins Verhältnis zu kolonialer Geschichtsschreibung stellt. Je nach Argumentationsausrichtung geht es in solchen Bemühungen darum zu belegen, dass auch der Islam auf Aufklärer zurückblicken kann, wenngleich die Aufklärung eine europäische Erfindung sei (Schwaetzer 2006), oder darum, die Vorgeschichte des Toleranzbegriffs aus der „(Wieder-)entdeckung der Vernunft aus den Quellen des Griechentums durch die arabischen Denker seit dem 8. Jahrhundert“ abzuleiten (von Wolzogen 1991).23 Es bleibt jedoch anzumerken,
‚Theoretisierung‘ von Körpermerkmalen und Pathognomik (Lichtenberg) bzw. Physiognomik (Lavater) – als Differenzproduktionsmedium beschreibbar gemacht werden, das die gesamtgesellschaftlichen Stereotypenrepertoires machtvoll unterstützt. Eine Analyse des Konzept- und Formenwechsels vom barocken zum natürlichen Zeichen, wie er von Fischer-Lichte beschrieben wird, könnte im Hinblick auf die Frage nach der Naturalisierung von Differenz mit theatralen Mitteln (vgl. Fischer-Lichte 1997b) fruchtbar gemacht werden. Desweiteren wäre auf Publikationen der Gender-Studies und der feministischen Kunstgeschichte zurückzugreifen, hier im Besonderen: Wenk 1996: 15–74. Darüber hinaus einführend zu postkolonialen Perspektiven der Kunstwissenschaft: Schmidt-Linsenhoff 1997 und 2005. 23 Weitere Beispiele u.a. Vorträge im Deutschsprachigen Muslimkreis e.V. (DMK): Erich Guist: Islam und Aufklärung; o. A.: Imam Al-Ghazali – Der Wiederbeleber des
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dass solche Revisionen so lange unüberzeugend bleiben müssen, wie sie lediglich den Beweis zu führen versuchen, dass der Islam einer als solcher unangetastet bleibenden europäisch-westlichen Norm genüge. Statt die Konzepte von Aufklärung und Modernität im Grundsatz zu dezentrieren und als Resultate weltumspannender (kolonialer) Kollaborationen zu reformulieren, wie es allem voran das Anliegen von Dipesh Chakrabarty mit seiner Schrift Provincializing Europe (2001) war24, bleiben solche Revisionen der Logik der mimetischen Nachahmung einer bereits vordefinierten Normativität verhaftet. Nicht zuletzt wiederholt sich mit diesen Rekonstruktionen islamischer Aufklärung, insbesondere, wenn sie auf vergangene Traditionen rekurrieren, ein Prinzip orientalistischer Wissenschaft, die sich der Beschreibung des Orients in seiner einstmaligen Größe verschrieb, deren Hochzeit jedoch bereits überschritten sei (vgl. Said 1981: 100).25 Gleichwohl sind auch sie bedeutsame Gegenstimmen zum dominanten Diskurs mit/zu ‚Aufklärung‘, der diese als westliche Identität oder ‚kulturellen‘ Alleinbesitz formuliert und in seiner militanten Ausprägung ihre Verteidigung gegenüber nicht-westlichen Inputs propagiert.
Islam (http://www.dmk-berlin.de); s. a. Angelika Neuwirth: Der Koran als Text der Spätanktike. Ein europäischer Zugang, im Interview mit Migazin: http://www. migazin.de/2013/11/21/die-behauptung-islam-aufklaerung. Vergleichbare Revisionen bzw. Korrekturen lassen sich auch mit Blick auf andere nichtwestliche AufklärungsProjekte und -Historien feststellen. An dieser Stelle sei lediglich auf einige einflussreiche Thesen zur Aneignung der Aufklärung durch Schwarze Aktivist_innen gegen die Sklaverei hingewiesen. Ausgehend von C. L. R. James’ Rekonstruktion einer Schwarzen radikalen Aufklärung in der Karibik (Die schwarzen Jakobiner) erklärt Paul Gilroy eine Schwarze „Gegenkultur der/zur Moderne“, die der dominanten europäischen Aufklärung „antagonistisch verpflichtet“ bleibt („antagonistic indebtedness“; Gilroy 1993: 191); in ähnlichem Kontext rekonstruiert Srinivas Aravamudan die Haitianische Revolution als eine konsequente Umsetzung radikalaufklärerischer Positionen europäischer Provenienz in der Karibik, insofern also ein „tropicalizing of the Enlightenment“ (Aravamudan 1999: 310). 24 Ähnliche Versuche einer nicht-eurozentrischen Modernerekonstruktion finden sich bei Dussel 1995; als Umorientierung nationaler, lokaler oder regionaler Geschichtsschreibungen zu globaler Geschiche/n: Bayly 2005; sowie in den Schriften des Potsdamer Forschungsnetzwerks ‚Global Enlightenment‘. 25 Die beschriebenen ‚Korrekturen‘ eines dominant als ‚vormodern‘ beschriebenen Islambildes bestätigen dieses also sogar, indem sie wieder bemüht sind, ‚den Orient‘ „aus seiner Barbarei zu seiner früheren Größe zurückzuführen“ (Said 1981: 100).
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Zu den hier beschriebenen Rekursen auf und Rekonstruktionen von ‚Aufklärung‘ als Teil einer zu verteidigenden ‚kulturellen Identität‘ konstatiert Hartwig Pautz, nicht ohne den Hinweis, dass das Wortpaar ‚kulturelle Identität‘ von Albert Memmi als Teil des Vokabulars der Neuen Rechten identifiziert wurde: „Kulturelle Identität ist seit dem Ende des Kalten Krieges ein Schlüsselbegriff zur (Welt-)Politik geworden [mit dem s]oziale Antagonismen […] überdeckt und neue Feindbilder […] geschaffen“ werden (Pautz 2005: 10). Mit Blick auf das von Samuel S. Huntington eingeführte Paradigma eines Clash of Civilizations stellt Pautz seit Beginn der 90er Jahre ebenso die Wiedereinführung eines essenzialisierenden Kulturbegriffs fest. Dieser kehrt, wie auch die Migrationsforscherin Regina Römhild erklärt, „in besonders fataler Weise in der Politik des Regierens über Migration“ wieder, gelangt über diese in gesellschaftliche Debatten und bildet von dort aus individuelle Vorstellungsbilder und alltägliche soziale Praxen. Diese zeigen sich als kulturalisierende Zuschreibung und Begründung von „Fremdheit“, die MigrantInnen und selbst deren Kinder und Enkel immer wieder neu zu den problematischen „Anderen“ der „eigenen“ Gesellschaft macht; ein mit Kultur argumentierender Begriff von Fremdheit, der dann der nationalen „Integration“ von MigrantInnen in der Zone der anzupassenden oder aber als Andere zu duldenden „Minderheiten“ sowie der Unterscheidung zwischen „Scheitern“ und „Erfolg“ migrantischer Projekte in der Einwanderungsgesellschaft als Grundlage dient, und der ebenso auch darüber mit entscheidet, wer die nationalen wie auch die neuen EU-europäischen Grenzen überhaupt auf legalem Weg überschreiten kann. (Römhild 2013: 186)
Der Auffassung von ‚Kultur‘ oder ‚Zivilisation‘ als geschlossen und in sich homogen (vergleichbar dem Herderschen Kulturbegriff) entspricht insofern die Absage an alle Konzepte multikultureller Gesellschaften und orientiert sich maßgeblich an dem, was von Huntington mit dem Clash of civilizations als Schlüsselbegriff globaler Politik programmatisch formuliert wurde und sich auf lokaler Ebene in den innenpolitischen Debatten niederschlägt. Denn die Theorie des Kampfes der ‚Zivilisationen‘, die seit 1992 die Diskurse um eine neue Weltordnung nach dem Ende des Kalten Krieges maßgeblich bestimmte, findet ihren Ausgangspunkt in der Annahme einer zunehmenden Bedrohung der US-amerikanischen Gesellschaft durch die transkulturalisierenden Effekte der Migration. Huntingtons geopolitisches Szenario sieht dabei aber nicht länger die Koexistenz oder Konkurrenz politischer oder ökonomischer Systeme vor, sondern fokussiert ‚Bruchlinien‘ zwischen ‚Zivilisationen‘, die als territorial kohärent und intern homogen konstruiert werden. Dabei fasst er „Zivilisationen“ als „kulturelle Enti-
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täten“, die den weitesten Grad an Identifikation ermöglichen und insofern „bedeutungsvoll“ sind: What do we mean when we talk of a civilization? A civilization is a cultural entity. Villages, religions, ethnic groups, nationalities, religious groups, all have distinct cultures at different levels of cultural heterogeneity. […] The civilization to which [one] belongs is the broadest level of identification with which [one] intensely identifies. People can and do redefine their identities and, as a result, the composition and boundaries change. […] Civilizations are nonetheless meaningful entities, and while the lines between them are seldom sharp, they are real. (Huntington 1993a: 24)
Nicht zufällig verwendet Huntington dabei ein der Geologie entlehntes, hochgradig naturalisierendes Vokabular, in dem die ‚Zivilisationen‘ sich wie tektonische Platten aneinander reiben, wobei er den Islam als Gegensatz zum ‚Westen‘ in den Fokus rückt. Zentral an diesem neuen Paradigma ist die Verschiebung von vormals ideologischen Konflikten hin zur Vorstellung prinzipieller, geradezu naturhafter Differenz, Konflikthaftigkeit und Unverträglichkeit von ‚Zivilisationen‘ bzw. ‚Kulturen‘.
Identitätspolitiken: Leitkultur als Differenzmarkierung In nahezu gleichem Wortlaut übernimmt Bassam Tibi diese Konstruktion ‚kultureller‘ (zivilisatorischer) Differenz, um davon ausgehend einen verpflichtenden Wertekanon zu begründen, den er unter den Stichwort der „Europäischen Leitkultur“ als kulturübergreifende internationale Moralität programmatisch festzuschreiben sucht. Dabei erklärt er zur „Tatsache, daß Menschen aus unterschiedlichen Zivilisationen nicht nur unterschiedliche Normen und Werte haben, sondern sich sogar in ihrer Denkweise grundlegend voneinander unterscheiden können. Es macht keinen Sinn, die kulturellen Unterschiede moralisierend zu verleugnen und alles zu nivellieren.“ (Tibi 2002: 239) Sein Konzept einer „Europäischen Leitkultur“, das Tibi erstmals 1998 formulierte, wirkte insofern maßgebend für den deutschen Diskurs, als es konservativen Politikern als Vorlage für ihre Forderung nach einer „deutschen Leitkultur“ diente. Um einer drohenden Islamisierung entgegenzuwirken, besteht Tibis Hauptanliegen jedoch darin, eine europäische Identität als „Leitkultur“ zu profilieren, die sich unter Rückbesinnung auf Prinzipien der „kulturellen Moderne“ selbstbewusst auf die Grundkonzepte der Aufklärung wie Säkularität, Demokratie, Menschenrechte und Zivilgesellschaft stützt. Ausgehend von Jürgen Habermas’ „Subjektivitätsprinzip“ fasst
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Tibi dabei nicht nur „die Bestimmung des Menschen als [die] eines ‚freien Individuums‘“, sondern leitet daraus „Menschenrechte und säkulare Demokratie als Produkte der Entzauberung der Welt“ ab. (Tibi 2000: 34) Damit wertet er den traditionell modernekritischen Topos der ‚Entzauberung‘ insofern um, als dieser nun als Bedingung für die Errungenschaften (statt der ‚Verluste‘) der Modernität gelten kann: „Als ein Mensch, der selbst aus der islamischen Zivilisation stammt, möchte ich […] die ‚kulturelle Moderne‘ Europas gegenüber vormodernen Kulturen verteidigen.“ (Ebd.: 34) Tibi zufolge bietet „Europa mit seiner kulturellen Moderne“ als Leitkultur u.a. das „Primat der Vernunft vor religiöser Offenbarung, d. h. vor der Geltung absoluter religiöser Wahrheiten, individuelle Menschenrechte (also nicht Gruppenrechte), allseitig anerkannter Pluralismus sowie ebenso gegenseitig zu geltende Toleranz. Die Geltung dieser Werte macht allein die Substanz einer Zivilgesellschaft aus.“ (Ebd.: 183) Demgegenüber spricht er anderen „islamischen Migranten“ gerade diese „Substanz einer Zivilgesellschaft“ (ebd.: 183) ab und liefert damit eine brauchbare Vorlage für die ausschließenden Mechanismen der Wir/Sie-Konstruktionen mit kulturalistischen Aufklärungskonstruktionen: „Beispielsweise lehnen viele islamische Migranten säkulare Ordnungsprinzipien ab, sie beanspruchen eine Geltung für ein Leben nach dem entsprechenden Verständnis von Scharia, auch in Europa. Kann der europäische Kontinent unter diesen Bedingungen seine säkulare Identität bewahren?“ (Ebd.: 109, Herv. i. O.) Der Grundtenor seines Konzeptes wird anhand der zwei Zitate sehr deutlich erkennbar: Die Funktion einer „europäischen Leitkultur“ besteht für Tibi darin, sich gegen einen drohenden islamischen Fundamentalismus ein eigenes Selbstbewusstsein aufzubauen und auf diese Weise in der eigenen Gesellschaft unterscheiden zu können, wer dazu gehören kann und wer sich anpassen muss, um Teil der Gesellschaft zu werden. Denn Tibi fordert explizit eine Politik der Integration, in der „auch die Migranten selbst […] eine Leistung zu erbringen [haben]: die Respektierung der europäischen Identität. Das ist ihre Bringschuld“ (ebd.: 69). Mit diesem an „Weltanschauung“ (ebd.: 77) orientierten Leitprogramm wendet sich Tibi zugleich gegen die Regulierung von Zuwanderung nach ethnischvölkischen Kriterien, die er aus dem Nationsbegriff der Deutschen (mit Herder als ethnisch begründete Kulturgemeinschaft) ableitet. Diesem stellt er das Konzept einer ‚modernen Nation‘ in den „entwickelten Teilen Europas Frankreich und England“ (ebd.: 76) gegenüber: „Ethnizität ist ein Rückfall hinter die Nation“. (Ebd.: 77)26 An die Stelle von ‚Herkunft‘ oder ‚Abstammung‘ tritt so die
26 Indem Tibi Ethnizität als „vornationales und vormodernes Gruppenbewußtsein“ herausstellt, markiert er eine Parallele zwischen den Residuen einer deutschen Romantik
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(korrekte) Gesinnung. Diese Tendenz zur ‚Entethnifizierung‘ der Zuwanderungspolitik korrespondiert mit dem „Ethnizitätsparadigma“ von Robert Ezra Park, das im US-amerikanischen Zusammenhang zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine „kulturalistische Wende“ gegenüber einer bioligistisch ausgerichteten Rassenpolitik einleitete, wie Mark Terkessidis rekonstruiert. New immigrants wurden zwar weiterhin als different gegenüber dem ‚Eigenen‘ klassifiziert, zugestanden wurde ihnen jedoch auch ein Potential an individueller Assimilation, mit dem sie ihre Marginalität überwinden konnten. Ähnlich wie im aktuellen Integrationsdiskurs wird Zugehörigkeit zu einer individuellen Anpassungsbereitschaft erklärt, die unabhängig von der Aufnahmegesellschaft auf Seiten der Zugewanderten verortet ist. Dabei erwartete Park von den Anderen zwar „keine kulturelle Anpassung an eine bestimmte Idee vom „Amerikanischen“, sondern lediglich die Umwandlung der angeblich vormodernen Gruppenbindungen in eine private kulturelle Option, einen Lebensstil, was einen Schritt der „formalen“ Anpassung bedeutete“ (Terkessidis 2003: 237) Die von Tibi seit 1998 propagierte Entethnifizierung schreibt dagegen ‚kulturelle‘ oder ‚zivilisatorische‘ Differenzen in hohem Maße fest. Differenz wird als unumstößliches Faktum angenommen, jede Form der Entfixierung wird als moralisierende Verleugnung von zuvor unbegründeten ‚Wahrheiten‘ erklärt. In ähnlich festschreibender Weise arbeiten Differenzkonstruktionen, die mit Begriffen wie Parallelgesellschaft oder gar mit biologisierenden Figuren wie Geburtenrate arbeiten oder, wie Thilo Sarrazin, soziale Unterschiede genetisch begründen.27 Im Widerspruch zu dem ihr eigenen Universalitätsanspruch wird die Idee der Aufklärung somit nicht nur selektiv als Eigenes festgeschrieben, sie wird zudem als monolithische, einseitige und unverhandelbare Größe aufgebaut, anhand derer sich die Integrationsfähigkeit und -bereitschaft der Anderen bemisst. In dieser Modifikation rekurriert ‚Aufklärung‘ auf vormodernes Denken, das zu überwinden sie angetreten war. Die Ideen der Moderne werden zur Norm erhoben, die Ein- und Ausschlüsse in ein Wir regelt: ‚Aufklärung‘ wird zum Instrument der Erklärung von Ungleichheit. Ihre Eigenschaft als Instrument und Norm bleibt nahezu unsichtbar. So betrachtet wird ‚Aufklärung‘ auch zum Vehikel eines Phänomens, das unbenannt und unerkannt ebenfalls den aktuellen dominanten Migrationsdiskurs durchzieht und bereits als Kulturalismus oder Kultureller Rassismus eingeführt wurde: eine (neorassistische) Verschiebung im Alteritäts-Diskurs von ehemals
und dem, was er als „ethnische Selbstromantisierung“ und schließlich als „Rückfall in die Vormoderne“ in den entkolonialisierten Staaten bezeichnet. (Tibi 2000: 77) 27 Zur Kritik des ‚Sarrazynismus‘ vgl. u. a. Link 2011; Butterwegge 2011.
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„Rasse“ auf aktuell ‚Kultur‘.28 Heute ‚haben‘ Menschen nicht mehr „eine andere Hautfarbe“, sondern eine „andere ‚Kultur‘“ – eine ‚Kultur‘, die nicht der aufgeklärt/modernen Norm genügt und deren Nähe zu oder Distanz von dieser Norm zum Maßstab für Integrationsfähigkeit oder zumindest Integrationswilligkeit wird. Eine vergleichbare Form der Exklusion im Namen von ‚Kultur‘ und ‚Aufklärung‘ beschreibt die Ethnologin Halleh Ghorashi auch für die Niederlande der sog. Post-Fortuyn-Periode und darüber hinaus als Tendenz in Europa: In Erweiterung von Noam Chomskys Kritik an einem „militärischen Humanismus“, mit dem Militäraktionen im Namen von Demokratie und Humanismus gerechtfertigt werden, und Verena Stolkes Begriff eines „kulturellen Fundamentalismus“ bezeichnet Ghorashi die Ausschluss-Rhetorik als „liberalen Aufklärungs-Fundamentalismus“. Dieser versuche nicht nur, soziale und ökonomische Probleme von Migrant_innen mit der Forderung ihrer kultureller Assimilation zu lösen, sondern wende sich darüber hinaus gegen sog. Vermischungen von Kulturen: Der „kulturelle Fundamentalismus“, die neue Form einer Ausschließungs-Rhetorik, errichtet eine Mauer zwischen Kulturen, die jede Form der Vermischung unmöglich macht. Diese Rhetorik verschärft sich noch, wenn die Ideen und Werte der westlichen Kultur als Rechtfertigung für die Unterdrückung anderer Kulturen benutzt wird. Auf diese Weise wird es den unterdrückerischen Aufklärern möglich, anderen ihre Werte aufzuzwingen. Diese Reise, die mit dem Aufklärungs-/Kultur-Fundamentalismus beginnt, endet mit der Aufgabe der Zivilgesellschaft. (Ghorashi 2007, Herv. i. O.)
In seiner Analyse der Grundannahmen in Konzepten wie Clash of Civilization (Huntington), „Europäischer Leitkultur“ (Tibi) oder daraus abgeleitet einer „Deutschen Leitkultur“ (Friedrich Merz) im Verhältnis zu solchen der Neuen Rechten konstatiert Pautz eine erschreckende Nähe kulturalistischer Tendenzen zum Neorassisismus. Während Tibi wie auch Hirsi Ali, Kelek u. a. Differenz als ‚kulturelle Identität‘ festschreiben, jegliche Entfixierung als sinnlos, verleugnend und nivellierend diskreditieren und als eigentliche Gefahr für die Demokratie konstruieren, geht die Neue Rechte in der Beschreibung von Angelika Magiros oder Hartwig Pautz einen Schritt weiter: Hier wird mit der Rede von einer ‚kulturellen Identität‘ ein ‚Recht auf Differenz‘ eingeklagt, das aber im Gegensatz zu Forderungen einer pluralen Gesellschaft gerade von der „Annahme der Unvereinbarkeit von fremder Kultur mit der eigenen ‚Mehrheitskultur‘“ ausgeht und
28 Zu aktuellen Begriffen von Rassismus auch: Gilroy 2002: 66; Hall 1995: 35; Brah 1996: 30, 35, 37, 40, Balibar 1990: 28; Targuieff 1987: 14; zum Begriff des Neorassismus: Terkessidis 2003: 231; Magiros 2005; Pautz 2005.
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damit Segregation und Ausgrenzung zur Stabilisierung nationaler Kulturgemeinschaften begründet (Pautz 2005: 66f): „Der Neorassismus ist dadurch gekennzeichnet, daß Differenzen zwischen Kulturen sakralisiert werden und der Originalität von Kulturen höchster Wert zugesprochen wird.“ (Pautz 2005: 65) Diese Form des Monokulturellen, das als Recht auf ‚kulturelle Differenz‘ für eine je differente ‚kulturelle Identität‘ eingefordert wird, macht das Denken der Neuen Rechten aus: Mit einem (durchaus geschickten) „eklektischen Zugriff auf Ethnologie, Strukturalismus, Anti-Kapitalismus und postkolonialen Diskurs“ statt eines „platte[n] ‚Ausländer raus!‘ […] wird versucht, ein neues geistiges und politisches Klima zu schaffen“, um so eine Anschlussfähigkeit der neurechten Ideen an die konservative Mitte herzustellen (Pautz 2005: 44). Ähnlich konstatiert Angelika Magiros: „Immer häufiger trifft man auf rassistische Reden, die sich sozusagen auf den neusten gesellschaftlichen Stand gebracht haben, ihren vormals zentralen Begriff der Rasse in den Hintergrund schieben und nun von der Kultur bzw. von der unaufhebbaren Differenz der Kulturen sprechen.“ (Magiros 2005: 119) Die neo-orientalistische, binär organisierte Konfiguration ‚Westen‘/‚Islam‘ weist jedoch auch eine Verschiebung gegenüber dem von Said beschriebenen Orientalismus auf: Die aktuelle ideologische Konfrontation ist eben nicht mehr nur als eine zwischen dem (aufgeklärten, modernen etc.) ‚Westen‘ und dem (vormodernen, exotischen) ‚Orient‘ konstruiert, sondern heute stehen zwei unvergleichbare Kategorien einander gegenüber: Waren im klassischen Orientalismus, wie ihn Said analysiert hat, mit den geopolitischen Sphären des ‚Okzident‘ und des ‚Orient‘ zwei immerhin prinzipiell vergleichbare Größen konstitutiv aufeinander bezogen, so bringt der Neo-Orientalismus zwei inkommensurable in Opposition: eine geopolitische Sphäre (‚Westen‘) und eine Religion (‚Islam‘). Diese Inkonsistenz schränkt die Wirkungsmacht des Diskurses keineswegs ein, sondern erhöht sie sogar in zweierlei Hinsicht: Durch den Zusammenprall eines säkularen, ‚aufgeklärten‘ mit einem zutiefst religiösen Wertesystem wird im Zuge der oben skizzierten ‚Kulturalisierung des Politischen‘ (Pautz 2005) zugleich die eigene Gesellschaft als homogene ‚Zivilisation‘ naturalisiert und im Effekt entpolitisiert. Zweitens wird aber darüber hinaus in einer Reihe von islamophoben Beiträgen zugleich das Prinzip der Säkularität unterwandert, und zwar indem der diskursive Gegner nun ausschließlich durch das Merkmal der Religion markiert wird. Denn um sich auf einen als Religion definierten Gegenpol beziehen zu können, wird auch die eigene Position selbst religiös ‚autorisiert‘, sodass der anti-islamische Diskurs unversehens dem Postsäkularismus das Wort redet: Während Ella Shohat und Mark Stam vor zwanzig Jahren konstatierten, dass der Eurozentrismus seine Genealogie aus der Tradition der klassischen
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Antike ableite („Greece, where it all began“) (Shohat/Stam 2008: 56), rekurrieren neo-orientalistische Positionen heute zunehmend auf die ‚christlichjüdischen Wurzeln‘ des Abendlandes und ersetzen somit eine philosophischästhetische Referenz durch eine religiöse. Kulturalisierung des Politischen schlägt damit tendenziell in Desäkularisierung (und somit: Gegenaufklärung) um. Diese Desäkularisierung äußert sich in Argumentationen, die religiös codierten ‚Kulturen‘ höchst unterschiedliche ‚Fähigkeit‘ zur Aufklärung beimessen, was auch durch die historische An- oder Abwesenheiten von Aufklärungsbewegungen erklärt wird. Yasemin Shooman weist darauf hin, dass sich die „bipolare Sicht auf ‚Islam‘ und ‚Westen‘“ als Hierarchisierung manifestiert, die „sich auch in einer evolutionären Vorstellung von zivilisatorischen Phasen, die Religionen durchlaufen, nieder[schlägt]: Dem schon aufgeklärten Christentum steht der noch unaufgeklärte Islam gegenüber“ (Shooman 2011: 63). Während dem Christentum ‚universale Werte‘ und damit das Fundament der Aufklärung zugedacht werden, ergibt sich für andere Religionen (und hier wiederum insbesondere für den Islam) nahezu eine Unfähigkeit zur Aufklärung. Sie werden somit als tendenziell „unvereinbar mit der deutschen freiheitlichen Rechtsordnung“ konstruiert (Barskanmaz 2009: 385): Die Frage, „ob der Islam überhaupt mit westlichen Demokratien vereinbar sei“, impliziert zugleich die Ineinssetzung von Demokratie und Christentum (Rommelspacher 2009: 395). Dass sich George W. Bush auf geopolitischer Bühne einer christlich-fundamentalistischen Kreuzzugsrhetorik zur Rechtfertigung des ‚war on terror‘ bediente, ist hinlänglich bekannt und vielfach belächelt worden. Von besonderem Interesse sind aber die kaum beachteten vielfältigen Einschränkungen zivilgesellschaftlicher Strukturen, die die diversen Patriot Acts in den USA (ebenso wie ihre Pendants in einer Vielzahl europäischer Staaten) zur Folge hatten und haben. Nicht zuletzt hat diese religiös untermauerte, vor allem auf den Islam fixierte Kulturalisierung zum Effekt, dass andere Rassismen wie Antisemitismus, Hautfarben-Rassismus oder auch Anti-Ziganismus zunehmend aus dem Diskurs fallen. Mit Blick auf diese Tendenz zur Desäkularisierung bei gleichzeitiger z. T. versteckter Restriktion bürgerrechtlicher Prinzipien wird Mona Abazas oben zitierte Feststellung eines „schwerwiegenden Angriff[s] auf die Werte der Aufklärung im Westen selbst“ (Abaza 2008: 6, Übers. tm) ebenso zur Warnung wie Halleh Ghorashis Prophezeiung vom ‚Ende der Zivilgesellschaft‘: „Es bleibt dann eine Gesellschaft übrig mit wenig oder gar keinem Platz für den anderen.“ (Ghorashi 2007) Der hier skizzierte sich als dominant herausbildende neo-orientalistische und neo-rassistische Diskurs, zu dem auch Angehörige der stigmatisierten Gegensei-
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te wie Hirsi Ali, Tibi oder Kelek beitragen29, bildet den Hintergrund, vor dem die Bildung theatraler Gegenstimmen zum kulturellen Rassismus stattzufinden hat.
29 Während diese von dominanzgesellschaftlicher Seite mit Attributen wie ‚dissident‘ (Ulrike Ackermann im dradio) oder als „aufbegehrend“ (Bruckner) gegenüber ihren (muslimischen) ‚Kulturen‘ versehen werden, wird gerade die Legitimität „als ‚authentische Stimme‘ qua Herkunft“ (per se) von vielen Kritiker_innen angezweifelt und dabei insbesondere die Affirmation hegemonialer Diskurse durch die Unangreifbarkeit, die sich aus ihrem Status als ‚native informant‘ ergibt, als „Legitimierungsstrategie“ wahrgenommen (Shooman 2011: 72).
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Perspektiven
Wie kann eine Theaterarbeit aussehen, die den Zirkel rassistischer ReProduktivität und seine ‚Normalität‘ unterbricht oder sich um ein ‚Austreten‘ aus diesem Zirkel bemüht? Welche Mittel stehen dem Theater – als Medium wie auch als Kunstform – für eine Praxis der De-Homogenisierung und DeEssenzialisierung/De-Naturalisierung zur Verfügung? Mein Vorschlag der Gegenstimmbildung setzt an der Produktivität des Rassismus selbst an, die in der Sprache fundiert ist. Er geht von der sehr grundlegenden Vorstellung aus, dass Gesellschaften, Individuen, Realitäten oder ‚Welt‘ – sofern uns zugänglich – sprachlich verfasst sind, d. h. über Sprache hergestellt, geordnet und reguliert (und verhandelt) werden. Sprache meint dabei ein sozial codiertes, aber nicht vollständig fixiertes System der Signifikation und Bedeutungsproduktion zur Kommunikation und Verständigung. Sprache meint darüber hinaus die Anwendungsregeln dieses Signifikationssystems – und damit die Regulierung und Aushandlung von Ordnungen: insbesondere gesellschaftlicher oder zwischenmenschlicher Relationen, solcher der Wahrnehmung, des Handelns, der Praktiken und des Denkens generell (Diskurs), aber auch von Praxen der Regulierung bzw. De-Regulierung zur Modifikation, Veränderung und Innovation. Sprache meint die Generierung und Anordnung von Worten in Schrift und Mündlichkeit, von Bildern, Geräuschen, Licht, Räumen etc. als Zeichen im Rahmen von relativ stabilen, aber nicht unverrückbar und vollständig festgelegten Regelwerken. Denn Sprache ist performativ, d. h. Sprache bringt hervor und Sprache bildet: Vorstellungen, Subjekte, Verhältnisse. Sie stellt ‚Gegebenheiten‘ her, sie reguliert das Bewusstsein ebenso wie das Unbewusste, und strukturiert somit auch das, was mitunter als vorsprachlich bezeichnet wird. Aber bereits Vorsprachlichkeit als Begriff und der Versuch, mit diesem Begriff etwas zu fassen, das begrifflich (noch) nicht bezeichnet ist oder auch nicht repräsentierbar
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ist, verweist auf die diskursive Verfasstheit auch des ‚Vorsprachlichen‘.1 Alles andere ist uns unzugänglich. Judith Butler insistiert darauf, dass eine bestimmte gesellschaftliche Existenz des Körpers erst dadurch möglich [wird], daß er sprachlich angerufen wird. Um das zu verstehen, muß man sich eine unmögliche Szene vorstellen, nämlich einen Körper, dem noch keine gesellschaftliche Definition verliehen wurde, der für uns also strenggenommen zunächst unzugänglich ist, aber im Ereignis einer Anrede, eines benennenden Rufs, einer Anrufung, die ihn nicht bloß ‚entdeckt‘, sondern allererst konstituiert, zugänglich wird. (Butler 2006: 15)
Mit der folgenden Diskussion von Theorien zur Herstellung oder Bildung von Vorstellungen, Bildern, Wissen und Subjekten möchte ich den wissenschaftlichen Standort transparent machen, von dem aus meine bisherigen und folgenden Überlegungen zu einer Theaterpraxis und -theorie der Gegenstimmbildung gegen Rassismus formuliert werden.
P ERFORMATIVITÄT
DER
S PRACHE
Die Vorstellung von der Handlungsmacht der Sprache und insbesondere des Sprechens stütze ich auf Judith Butlers Theorie der Politik des Performativen. Mit Bezug auf John L. Austins Sprechakttheorie betrachtet Butler Sprechen in dem Sinn als performativ, dass das Bezeichnen oder Benennen das Bezeichnete in seiner Aufführung erst hervorbringt:2 „Eine performative Handlung ist eine solche, die das, was sie benennt, hervorruft oder in Szene setzt und so die konstitutive oder produktive Macht der Rede unterstreicht.“ (Butler 1994b: 123f) Der Performativitätsgedanke unterstellt eine handelnde Kraft des Sagens und die damit einhergehende produktive Kraft des Gesagten, sei es im alltäglichen Sprachgebrauch oder in der wissenschaftlichen Produktion von Wissen. Explizit negiert wird somit die Vorgängigkeit dessen, was ‚ist‘, da dies nur als Bezeich-
1
Kritisch zur Verwerfung sprachwissenschaftlicher Modelle als Interpretationsverfahren in den Kunst-, Theater- oder Medienwissenschaften siehe: u. a. Schade 2001.
2
Das Attribut „performativ“ leitet sich vom englischen Verb to perform ab, das in seiner Doppelbedeutung relevant wird: Während es zum einen mit „vollziehen, verrichten, ausführen“ einen Bezug auf eine Tat herstellt, wird zum anderen mit „aufführen,
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vorführen und zeigen“ der Charakter des (öffentlich) Sichtbar-Machens deutlich. Per-
! formativ bewegt sich insofern zwischen einer Handlung und ihrer ‚Zurschaustellung‘.
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netes in seine Existenz gerufen ist. Der Effekt des ‚Seins‘ ist nicht vorgängig, sondern durch den Sprechakt produziert. Nichts ‚ist‘, was nicht benannt wurde. Der als dem Zeichen vorgängig gesetzte Körper ist stets als vorgängig gesetzt oder bezeichnet. Diese Bezeichnung vollzieht sich dadurch, dass sie einen Effekt ihres eigenen Verfahrens hervorbringt, nämlich den Körper, und dennoch zugleich behauptet, diesen Körper als das zu entdecken, was jeder Bezeichnung vorhergeht. […] die Sprache [ist] produktiv, konstitutiv, man könnte sogar sagen: performativ, weil dieser Bezeichnungsakt den Körper produziert, selbst wenn er ihn angeblich als aller und jeder Bezeichnung vorgängig vorfindet. (Butler 1994a: 52, Herv. i. O.)
Der Effekt der Vorgängigkeit wird dabei durch die stetige Wiederholung hervorgerufen, sie perpetuiert die Reproduktion des Bezeichneten oder Benannten ebenso wie die der Regeln, Normen und Konventionen, die das Sprechen – und bereits die Wahrnehmung – regulieren und bestimmen und die die WiederHerstellung des Bezeichneten als Effekt hervorbringen. Wiederholung und Wiederholbarkeit als konstitutive Merkmale von Sprache selbst werden als stabilisierende Momente effektiv. Wiederholt werden zudem die mit der Bezeichnung einhergehenden Verwerfungen und Ausschlüsse dessen, was das Bezeichnete alles nicht ist.3 Das Bezeichnete wird, so gesehen, nicht nur konstruiert und im Bereich des Intelligiblen, d. h. im historisch regulierten Bereich des Denk-, Versteh- und Wahrnehmbaren und somit auch Erfahrbaren, verortet, sondern konstituiert und materialisiert: als in stetig wiederholten Diskursen re/produzierter Körper. Die repetitiven Prozesse ihrer Zuweisungen „materialisieren“ Körper.4
3
Diese Auffassung ist analog zu Saussures strukturalistischem Zeichenbegriff, dem zufolge jedes Element des Zeichensystems nur in der Differenzrelation zu allen anderen Elementen dieses Systems seine ‚Bedeutung‘ entfalten kann. Butler führt dies weiter, indem sie Normen, die dem Sprechen, Bezeichnen und Benennen vorausgehen, als „Verwerfungen“ (Butler 2006: 216) beschreibt und diese selbst zum konstitutiven Moment der Subjektbildung erklärt (Butler 2006: 222).
4
„Was ich an Stelle dieser Konzeption von Konstruktion vorschlagen möchte, ist eine Rückkehr zu dem Begriff Materie […] als ein Prozess der Materialisierung, der im Laufe der Zeit stabil wird, so dass sich die Wirkung von Begrenzung, Festigkeit und Oberfläche herstellt, den wir Materie nennen.“ (Butler 1997: 32) – Hierdurch wird, wie Karen Ludewig beobachtet, die Grenze zwischen Körper und Geist, Materiellem
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und Denkbarem tendenziell durchlässig (vgl.: Ludewig 2002: 190). Zugleich wird die scheinbare Neutralität des Materiellen aufgehoben, denn „‚Materialität‘ bezeichnet
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„Performativität ist demzufolge kein einmaliger ‚Akt‘, denn sie ist immer die Wiederholung einer oder mehrerer Normen; und in dem Ausmaß, in dem sie in der Gegenwart einen handlungsähnlichen Status erlangt, verschleiert oder verbirgt sie die Konventionen, deren Wiederholung sie ist.“ (Butler 1997: 36) Nicht zuletzt sind diese sich ständig wiederholenden Ketten der diskursiven Erzeugung kaum als laufende Wiederholungen entzifferbar, wie die Wirkungen, die sie materialisiert haben, jene Wirkungen sind, ohne die im Diskurs keine Orientierung gewonnen werden kann. Die Macht des Diskurses, seine Wirkungen zu materialisieren, stimmt somit überein mit der Macht des Diskurses, den Bereich der Intelligibilität einzugrenzen. (Ebd.: 259)
Über die Konstituierung und Materialisierung hinaus ordnen Sprache und Diskurse, wie aus dem Zitat hervorgeht, auch den Bereich des Verstehbaren im Verhältnis zu einem Nicht-Verstehbaren an. Damit betont Butler zum einen die Veränderbarkeit des Vorstellbaren und Denkbaren durch die Möglichkeit von Verschiebungen. Zum anderen hebt sie hervor, dass die Grenzen des Verstehbaren nicht ‚in den Dingen‘ liegen, sondern durch diskursive Praktiken und Wissensproduktion reguliert werden. Insofern unterliegen die Grenzen des Un/ Sagbaren und Un/Verstehbaren – durchaus veränderbaren – Machtstrukturen. Wissen und Verstehbarkeit bestimmen die Arten und Weisen, wie Körper wahrgenommen und hergestellt werden. Bereits der ‚Blick auf‘ das zu Bezeichnende ist reguliert und normiert, d. h. durch Strategien der Strukturierung von Wahrnehmung und Repräsentationspolitiken (z. B. Politiken der Sagbarkeit oder Sichtbarkeit) organisiert. Stuart Hall beschreibt dies als „Repräsentationsregime“, auf das ich im Verlauf weiter eingehen werde. Butlers Begriff von Performativität betont das Bedeutende im Sprechakt, denn er weist der Handlung, dem sprachlichen Bezeichnungsakt explizit Bedeutung und Effektivität zu. Darin unterscheidet er sich deutlich von dem theoretischen Konzept des Performativen, wie es von Erika Fischer-Lichte für die Theaterwissenschaft in einem nahezu oppositionellen Verhältnis zur Bedeutungsproduktion entwickelt wurde. Mit der Gegenüberstellung einer „Ästhetik der Semiotik“ und einer „Ästhetik des Performativen“ ist Fischer-Lichte darum bemüht, performative Akte, Ereignisse und Handlungen, ebenso wie Körper, Materialität, sogar Sprache gerade in ihrer ‚Selbstbezüglichkeit‘ zu beschreiben und
eine bestimmte Wirkung der Macht oder ist vielmehr Macht in ihren formativen und
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konstituierenden Effekten“ (Butler 1997: 62).
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sie zu desemantisieren: In der Ästhetik des Performativen erscheinen „emergente Phänomene“ als „Elemente im Raum“ „in gewisser Weise desemantisiert, sie werden in ihrer spezifischen Materialität wahrgenommen, nicht als Träger von Bedeutungen; sie werden weder in eine Beziehung zu anderen Elementen gesetzt, noch zu einem anderen Kontext. In diesem Sinne bleiben sie insignifikant, ohne Bedeutung.“ (Fischer-Lichte 2004: 243) Diese These der Desemantisierung basiert auf der Beschreibung des Performativen als Aufführung, die mit Konzepten der Präsenz, des Einzigartigen und der Erfahrung als ein Bereich des „Insignifikanten“ (ebd.: 243) konstituiert wird und sich, wie das performative Ereignis, „hartnäckig dem Anspruch […], das Kunstwerk zu verstehen“ widersetzt (ebd.: 17). In dieser Theorie mit ihrem deutlichen Schwerpunkt auf der Singularität des Ereignisses geht es also gerade darum, dem Performativen (potentiell) Bedeutungsgenerierung abzuschreiben. Dies setzt jedoch voraus, dass die für Butlers Performativitätskonzept konstitutive De-Naturalisierung zurückgenommen wird: An die Stelle der Idee, dass Körper signifikant ‚gemacht‘ worden sein müssen, bevor sie überhaupt als solche wahrnehmbar sind, tritt hier die Rede von bedeutungslosen, auf nichts als sich selbst bezogenen Körpern und ‚ihrer‘ Materialität, die weder eine Geschichte noch eine Signifikanz haben – und insofern weitgehend naturalisiert sind. Entsprechend unterdrückt Fischer-Lichte auch das für Butler zentrale Moment der Iteration5: Performativität wird auf ein Einzelvorkommnis eines aufgeführten Aktes im Hier und Jetzt (vgl.: Bal 2001: 198) reduziert. Meine Kritik an Fischer-Lichtes Insistieren auf der theatralen Singularität findet in Kati Röttgers Einwänden gegen das performance-Modell von Peggy Phelan eine Entsprechung. Röttger betrachtet Phelans Konzept als eine neue Ontologie der performance, die den lebendigen Körper in eine absolute Opposition zum reproduzierten Körperbild in den technischen Medien setzt. Die performance, so Phelan, zeichne sich durch Einmaligkeit, Authentizität und unwiederholbare Präsenz aus. […] Damit belebt Phelan […] den Mythos von Theater als Kunst des Augenblicks, der Einmaligkeit und der Flüchtigkeit wieder neu, ohne den jüngeren theoretischen Entwicklungen Rechnung zu tragen. (Röttger 2005: 551f)
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Iteration bedeutet „zitathafte Wiederholung“, d. h. Wiederholung, die verbunden ist mit einer Andersheit. Denn als Wiederaufnahme des Zeichens in einem anderen Kontext ist die Wiederholung niemals dasselbe wie das „Original“. – „Diese Iterierbarkeit
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– (iter, „von neuem“, kommt von itara, anders im Sanskrit, […]) strukturiert das Zeichen der Schrift selbst.“ (Derrida 1988: 298).
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Dieser Privilegierung des Einmaligen entsprechend können Bedeutungszuweisungen laut Phelan oder Fischer-Lichte allenfalls rein individuell durch die einzelnen Betrachter_innen erfolgen, was eine „ungeheure Pluralisierung von Bedeutungsmöglichkeiten zur Folge hat“ (Fischer-Lichte 2004: 244), deren soziale Dimension im Zusammenhang mit der kulturellen Codierung von Sprache oder gar mit gesellschaftlichen Ordnungen jedoch entfällt. Denn mit dem Begriff der Selbstreferentialität wird Handlungen und Materialität ausschließlich eine Bezogenheit ‚auf sich selbst‘ zugestanden; mit der Betonung auf ein ‚phänomenales So-Sein‘ werden Körper als vorgängig konstituiert.6 Für Überlegungen zu Gegenstimmbildungen zu Rassismus im und mit Mitteln des Theaters oder der performativen Kunst ist dieser Begriff des Performativen ebenso wenig brauchbar wie der bei Fischer-Lichte verwendete Begriff der Repräsentation, der in ihrer Performativitätstheorie die Opposition von „Präsenz“ besetzt. Zwar wird Repräsentation in dieser Gegenüberstellung nicht klar definiert, im weiteren Kontext ist aber ein Begriffsfeld erkennbar, das Repräsentation in einen Zusammenhang mit Ausdruck, Expressivität oder auch Vermittlung von Botschaften stellt.7 Die Polarisierung von „Wirklichkeitsrepräsentation“ als der „referentiellen Funktion“ von Theater einerseits und „Wirklichkeitskonstitution“ als einem „performativen“ Ereignis (Fischer-Lichte 1998: 2) andererseits lässt vermuten, dass Repräsentation (ausschließlich) im Sinne von abbildender, verweisender, auch allegorischer oder metaphorischer Darstellung oder Stellvertretung von etwas Anderem, nicht Anwesenden und der Repräsentation eines Äußerlichen zu verstehen ist. Demgegenüber wird hier ein Repräsentationsbegriff angewendet, der im Rückgriff auf strukturalistische Theorien und im Besonderen auf Ferdinand de Saussures Zeichentheorie von den Cultural Studies entwickelt und in den Visual Studies erweitert wurde.
6
Die von Fischer-Lichte vorgeschlagene Differenz zwischen Semiotik und dem Performativem findet eine Analogie in der tradierten Trennung von Text und Bild, die, wie Sigrid Schade und Silke Wenk erläutern, bereits 1969 von Roland Barthes kritisiert wurde. Auch die Aufführung existiert nur in den Erzählungen und Lektüren, über die eine Verständigung über sie erst möglich wird. (vgl.: Schade/Wenk 2005: 148)
7
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Vgl. dazu ihre Erläuterungen zum Begriff der Verkörperung auch in seinem historischen Wandel in Fischer-Lichte 2001: 30–37.
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R EPRÄSENTATION
UND
R EPRÄSENTATIONSSYSTEME
Aus semiologischer Perspektive fasst Stuart Hall den Begriff der Repräsentation zunächst als „the production of meaning through language“ (Hall 2002b: 16). Sprache wird dabei als Mittel der skriptoralen, visuellen, auditiven, spatialen, korporalen, performativen Kommunikation mit geteilten Codes zur Verständigung begriffen und somit als durch und durch soziales System. Hall grenzt diesen Begriff der Repräsentation explizit von referentiellen oder expressionalen Konzepten ab.8 ‚Widerspiegelungs‘theorien wie auch intentionale Ansätze nehmen Bedeutungen als vorgängig in der ‚realen Welt‘ oder einem Beabsichtigten an, die durch Sprache zu (z. B. mimetischer) Abbildung oder zum Ausdruck kämen. Beide Ansätze sind geleitet von der Vorstellung einem eindeutigen und stabilen Verhältnis zwischen den vorgängigen Referenten und ihren Abbildungen bzw. der Intention und ihrem Ausdruck. Fischer-Lichte spricht in ihrer Semiotik des Theaters sogar von Theater als „‚Verdopplung‘ der Kultur, in der Theater gespielt wird“ (Fischer-Lichte 2003: 19). Ausgehend von der strukturalistischen Zeichentheorie Saussures betrachtet dagegen Halls Repräsentationsbegriff die Beziehung zwischen dem Bedeuteten, Bezeichneten (Signifikat) und dem Bedeutenden, Bezeichnenden (Signifikanten) als arbiträr, d. h. als instabil und damit nicht fixierbar: „Things don’t mean: we construct meaning, using representional systems – concepts and signs. […] we must not confuse the material
8
Der Theorie der Mimesis oder auch Widerspiegelung liegt die Vorstellung zugrunde, Bedeutung läge in der realen Welt, sei bereits vorgängig in Ideen, Objekten, Ereignissen, Personen, Verhältnissen oder Strukturen etc. angelegt und würde durch Repräsentation ‚abgebildet‘ oder ‚gespiegelt‘, sei es in Bildern, Geschichten oder Gegenständen: Artefakte seien gewissermaßen Übersetzungen bereits vorhandener Bedeutung. Der intentionale Ansatz weist Bedeutungen den Sprechenden zu, die diese versprachlichen. Bedeutung als das ‚Gemeinte‘ liegt so in der Intention der Sprechenden und käme durch Worte, Bilder, Bewegungen etc. ‚zum Ausdruck‘. Während die Wahrheit von Bedeutungen im ersten Ansatz in ‚den Dingen‘ oder ‚der Welt‘ vermutet wird, unterliegt dem intentionalen Ansatz die Auffassung, Wahrheit von Aussagen läge im Gemeinten. Die Autorität über die Bedeutung des Gesagten wird in diesem Fall den Sprechenden zugesprochen. (Hall 2002b: 24f). Beide Vorstellungen trennen Bedeutung von Sprache und negieren die Bedeutungsproduktion durch Sprache. Texte oder andere Artefakte erscheinen lediglich als neutrale Medien zur Vermittlung o-
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der Übersetzung eines bedeutenden Gehalts, dem insofern auch ein Wahrheits- bzw. Echtheitscharakter zugewiesen wird.
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world, where things and people exist, and the symbolic practices and processes through which representations, meaning and language operate.“ (Hall 2002b: 25, Herv. i. O.) Wir bedienen uns unterschiedlicher Sprachen, die als Zeichenkombinationen weder das ‚Reale‘, ‚Wirkliche‘ oder ‚Intendierte‘, ‚Gemeinte‘ (jeweils als Referenten außerhalb von Sprache gedacht) sind, noch diese exakt fixieren können.9 Denn das Bezeichnende steht in keiner festgelegten Beziehung zum Bezeichneten. Stattdessen wird Bedeutung als Relation zwischen dem Bezeichneten und dem Bezeichnenden in zwei miteinander zusammenhängenden Praktiken hergestellt, die Hall Repräsentationssysteme nennt: In einem dieser Systeme werden Korrespondenzen zwischen den Dingen und unseren mentalen Vorstellungen (conceptual maps), also Ideen von den Dingen hergestellt. Diese Vorstellungsbilder werden anderen gegenüber mitteilbar, sofern sie in ein Bildrepertoire eingelassen sind, das „bereits bewusst oder unbewusst ‚Allgemeingut‘ einer Gemeinschaft ist, auf das sich jede und jeder Einzelne gedanklich bezieht oder beziehen kann“ (Schade/Wenk 2011: 105f). Ein zweites System beschreibt die Verbindung zwischen den conceptual maps und einem Zeichensystem, mit dem diese Vorstellungsbilder kommuniziert werden können. Die Verwendung von Zeichen, Worten und auch Bildern basiert auf sozialen Kodierungen, die diese Relationen regulieren. Repräsentation in einem konstruktivistischen Sinn meint die Herstellung von Bedeutung als konventionalisierte, im kulturellen Code regulierte Relation zwischen Dingen, Begriffen und Zeichen: „The relation between ‚things‘, concepts and signs lies at the heart of the production of meaning in language. The process which links these three elements together is what we call ‚representation‘.“ (Hall 2002b: 19) Mit diesem Repräsentationsbegriff rückt der Prozess der Herstellung von Bedeutung ins Zentrum und der Fokus zugleich auf die Macht von (verbaler, visueller, akustischer, gestischer etc.) Sprache als einem System von Codes, die das Sprechen/Aussagen/Codieren ebenso regulieren wie das Decodieren, Interpretieren und Deuten. Da der Code auf dem sozialen Prinzip der Konventionalität basiert, ist er grundsätzlich historischer Veränderbarkeit unterworfen. Weder sind daher die Regeln des Sprechens starr fixiert noch ‚die‘ Bedeutung von Wörtern oder Zeichen. „Language is a social system through and through. This means that our private thoughts have to negotiate with all the other meanings for
9
Sigrid Schade und Silke Wenk verweisen dazu auf Magrittes Bild Ceci n’est pas une pipe (auch: Verrat der Bilder), das diese Lücke zwischen einem nicht kommunizier-
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baren ‚originalen‘ Referenten und dem Bild sowie die der Lücke zwischen einer Intention und der Aussage thematisiert. Vgl. Schade/Wenk 2011: 86–89.
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words or images which have been stored in language which our use of the language system will inevitably trigger into action.“ (Ebd.: 25) Die Verhandelbarkeit von Bedeutung innerhalb dieses Regelsystems verweist auf Möglichkeiten und Grenzen der Veränderung, die sich zum einen aus der Destabilisierung von vermeintlich fixierten Bedeutungszuweisungen in Umdeutungsprozessen ergibt, zum anderen aus der Verschiebbarkeit der regulierenden Rahmensetzungen. Mit Judith Butlers Gedanken zum Gegensprechen komme ich auf dieses Resignifizierungspotential zurück. Stuart Hall erweitert diesen linguistischen Repräsentationsbegriff für die Cultural Studies um solche Konzepte, die auf dieser semiotischen Grundlage kulturelle und soziale Praxen und Artefakte im Hinblick auf ihre Bedeutungsproduktion untersuchen: In Anlehnung an Saussures Sprachsystem betrachtet beispielsweise Claude Levi-Strauss in seinen anthropologischen Studien gesellschaftliche Praxen in ihren Sinngebungen als paroles im Rahmen einer kulturell regulierten Struktur von Regeln und Codes (langue) (ebd.: 37). Kulturelle Praxis wird somit in ihrer Bedeutungsproduktion ‚lesbar‘ und kann insofern als Text/e begriffen werden. Mit dem Begriff des Mythos untersucht Roland Barthes kulturelle Artefakte, Texte und v. a. Bilder (im besonderen der Populärkultur) in aufeinander folgenden Schritten der Denotation und der Konnotation auf soziale Ideologien (ebd.: 39). Als „ein sekundäres semiologisches System“ (Barthes 1970: 92) baut der Begriff des Mythos auf Saussures strukturalistischem Schema der Beziehungen zwischen Siginifikat, Signifikanten und dem Zeichen auf: „Der Mythos ist eine Aussage“, „eine Botschaft“, „ein Mitteilungssystem“ (ebd.: 85) und zwar eine solche, die „Geschichte in Natur [verwandelt]“ (ebd.: 113). ‚Text‘ und ‚Lesbarkeit‘ beziehen sich aus dieser theoretischen Perspektive auf jede Art kultureller Artikulation; diese Lesbarkeit setzt die begriffliche Fassung von Kultur als ‚Text‘ voraus. Kultur wird dabei nicht nur als System der Sinnstiftung im Sinne etwa Raymond Williams’ (und in seiner Nachfolge der Cultural Studies der Birmingham School) begriffen, sondern auch analysierbar in ihren jeweiligen kulturellen Artikulationen wie Bildern, Riten, gesellschaftlichen Strukturen, literarischen und nicht-literarischen Textproduktionen, cultural performances, Musik oder anderen Performances. Ich möchte betonen, dass diese Auffassung von ‚Lektüre‘ oder ‚Lesbarkeit‘ kulturelle Artefakte oder Handlungen gerade nicht auf bestimmte, als stabil verstandene Bedeutungen (oder: ‚Aussagen‘) fixiert; Lesen als Deutungsprozess basiert auf der Konventionalität von Sprache als Repräsentationssystem. Auch reduziert ‚Textualität‘ die Dinge, Handlungen oder Aufführungen nicht auf Wörter und Sätze; sie sind jedoch nur zugänglich und kommunizierbar durch Sprache. Die ‚Handlung als sol-
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che‘ in ihrem „phänomenalen Sein“ (Fischer-Lichte 2004: 244) wird auch sprachlich als Handlung kommuniziert und in einen – wenn auch recht unspezifischen, aber in gewisser Hinsicht gerade auf ‚Bedeutungslosigkeit‘ orientierten – begrifflichen Sinnzusammenhang des ‚So-Seins‘ gebracht. Die von Erika Fischer-Lichte systematisch aufgebaute Differenz zwischen Semiotik, Textualität, Bedeutungsproduktion einerseits und dem Performativem als Aufführung der Handlung ‚an sich‘ andererseits, die in der Ästhetik des Performativen zum Kollabieren gebracht werden soll, ist insofern bereits als Ausgangspunkt nicht haltbar, da die ‚Aufführung‘, die ‚Atmosphäre‘ oder das ‚Unwiederholbare‘ wie auch „das Bild […] nur in der ‚Erzählung‘, die ich von ihm wiedergebe [existiert]; oder in der Summe und der Organisation der Lektüren, zu denen es mich veranlasst“ (Barthes zit. in: Schade/Wenk 2005: 148). Allerdings unterscheiden sich die jeweiligen Erzählungen und damit Wissensbildungen über das je Rezipierte je nach der Konstruktion des ‚Blicks‘ oder des Fokus’, der, wie im Folgenden beschrieben wird, innerhalb diskursiver und mit Macht besetzter Rahmungen gerichtet ist. Auf welche Weise Repräsentationen – insbesondere solche von Personen oder Gruppen – mit Macht verbunden sind, führt Stuart Hall mit Blick auf Stereotypenbildung im Konzept ‚symbolischer Gewalt‘ aus: „the power to mark, assign and classify“ (Hall 2002c: 259): power […] has to be understood here not only in terms of economic exploitation and physical coercion, but in broader cultural or symbolic terms, including the power to represent someone or something in a certain way – within a certain ‚regime of representation‘. […] Stereotyping is a key element in this exercise of symbolic violence. (Ebd.: 259)
Wie auch Gayatri Spivak hervorhebt, bleibt in solchen Prozessen das Subjekt der Repräsentation (d. h. das repräsentierende Subjekt) unmarkiert und konstituiert sich damit als Norm. Indem Spivak Repräsentation sowohl epistemologisch und/oder ästhetisch (‚Darstellung‘) als auch politisch und juristisch (‚Vertretung‘) auffasst, eruiert sie in kritischer Auseinandersetzung mit poststrukturalistischen Positionen die Möglichkeiten einer verantwortungsvollen Politik der Repräsentation, die nicht nur auf das machtvolle ‚vertretende‘ ‚Sprechen für‘ verzichtet, sondern die darüber hinaus ihre eigene Sprechposition reflektiert und transparent macht: „Ihnen [den Subalternen] gegenüber zu treten, heißt nicht, sie zu repräsentieren (vertreten), sondern zu lernen, uns selbst zu repräsentieren
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(darstellen)“ (Spivak 1988: 288f, Übers. tm)10 Dieses Relationsgefüge von Repräsentation gilt es auch im Theater zu reflektieren. Als Repräsentationsmedium hat Theater – vom Staatstheater bis hin zur Workshop-Präsentation – Macht: Macht, zu zeigen. Es ist die Macht, jemanden in einer bestimmten Art und Weise darzustellen, zu repräsentieren, die Macht, Unterschiede herstellen und reproduzieren zu können wie auch die Macht des stellvertretenden ‚Sprechens für‘. Doch dies impliziert auch die Macht, das Gegenteil zu tun: den Herstellungsund Reproduktionsprozess unterbrechen zu können, festschreibende Darstellung und Vertretung des Anderen zu unterlassen, und stattdessen zu lernen, die eigene Position darzustellen.
Diskurs Macht Wissen Die machtvollen Effekte des Schreibens über ‚das Interkulturelle‘ im Theater sowie die Produktivität des Rassismus wurden in den vorangegangenen Kapiteln als Diskursivität im Foucaultschen Sinne gefasst. Diskurse, so wurde deutlich, stellen Identitäten und Differenzen her und beziehen sich dabei auf Wissenskategorien (wie Geschlecht, „Rasse“, Alter, ‚Kultur‘ etc.), die ihrerseits in Wiederholungen und Variationen von Diskursen zu diskursiven Formationen herausgebildet wurden, d. h. zu Wissenskomplexen, mit denen diskursives Wissen produziert wird. Die jeweiligen Theorien über Rassismus (Terkessidis), Kultur/Repräsentation (Hall), Politik des Performativen (Butler) schließen an Michel Foucaults Konzepte des Diskurses, der Diskursformation und des Macht/ Wissenskomplexes an. Wissen bezieht sich auf alltägliche wie auch auf institutionalisierte disziplinäre Herstellung von Gegenständen (des Wissens), auf ihre Anordnungen und Beziehungen zueinander sowie auf die Beziehungen zu dem, was von diesen Bildungsprozessen ausgeschlossen ist; denn wie Silke Wenk und Sigrid Schade betonen, ist „das ‚Außen‘ des Diskurses immer auch in dessen ‚Innerem‘ als Verworfenes bzw. zu Verwerfendes präsent: als Kulturen der ‚Anderen‘ oder – wogegen sich Kunst seit der Neuzeit immer auch definierte – als ‚Pornografie bzw. als das ‚Abjekte‘“. (Schade/Wenk 2005: 147) Mit Foucault betont Hall – ebenso wie Butler – die Produktivität und die Geschichtlichkeit des Diskurses in der Verbindung von Denken, Sprache und Praktiken. (Hall 2002b: 44; Butler 1997: 259) Als „Praktiken […], die systematisch die Gegenstände
10 Im Original: „To confront them does not mean to represent (vertreten) them but
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to learn to represen (darstellen) ourselves“.
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bilden, von denen sie sprechen“ (Foucault 1986: 74), regulieren Diskurse die Verfahrensweisen der Wissensbildung und der Ausbildung von Denk- bzw. Wahrnehmungsstrukturen: Sie sind performativ. Diskurse werden als Repräsentationssysteme betrachtet, in denen Bedeutung in komplexen, historisch herausgebildeten Zusammenhängen produziert und durch Wiederholungen in Wahrheiten und Regeln der Wissensbildung transformiert wird (vgl.: Hall 2002b: 44). Die Herstellung von Wissen ist dabei in hierarchischen Gefügen zu verstehen, in denen Autoritäten des Sprechens institutionell, politisch oder administrativ verteilt sind. Diese – nicht vollständig fixierte und somit variable – Verteilung von Macht ist ebenso Teil des Wissens, das in diskursiver Praxis hervorgebracht wird: Der Diskurs ist nicht nur gesprochene Wörter, sondern ein Begriff der Bedeutung; nicht bloß, wie es kommt, dass bestimmte Signifikanten bedeuten, was sie nun mal bedeuten, sondern wie bestimmte diskursive Formen Objekte und Subjekte in ihrer Intelligibilität ausdrücken. […] Ein Diskurs stellt nicht einfach vorhandene Praktiken und Bedeutungen dar, sondern er tritt in ihre Ausdrucksformen ein und ist in diesem Sinn performativ. (Butler 1994b: 129)
Wissen ist mehr als die Gegenstände und ihre Begrenzungen, es schließt die Verfügungsgewalt über die Instrumente ihrer Herstellung ebenso ein wie die institutionellen Rahmungen der Wissensproduktion, es ist mithin in die geschichtlichen Tiefen des sozialen Gefüges eingelassen und strukturiert die Handlungs-, Denk- und Wahrnehmungsweisen. Insofern als alle sozialen Praktiken bedeutungsvoll sind, sind sie Teil diskursiver Praxis. (vgl. Hall 2008: 150; Butler 1997: 259)
S UBJEKTBILDUNG
ALS
S UBJEKTIVIERUNG
Die performative Macht des Sprechens und der Diskurse bringt auch Subjekte hervor. Nach Judith Butler basiert Subjektivierung oder Subjektkonstitution auf dem Vorgang der sprachlichen Benennung, die dem Benannten mit seiner Anerkennung als sprechfähiges Subjekt „bestimmte Möglichkeiten der gesellschaftlichen Existenz“ (Butler 2006: 10) verleiht und zuweist, andere dabei aber notwendigerweise (zunächst) ausschließt. „Einen Namen zu erhalten gehört […] zu den Bedingungen, durch die das Subjekt sich sprachlich konstituiert“ (Butler 2006: 9f). Butler erklärt, dass „diese ‚Konstitution‘ sowohl den befähigenden als
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auch den verletzenden Sinn von ‚Unterwerfung‘ beinhaltet.“ (Butler 1997: 175) Butler modifiziert dazu die von Louis Althusser formulierte Vorstellung der subjection als doppeltem, wechselseitigem Vorgang der Unterwerfung des Individuums unter die Ideologie durch Anrufungen oder Interpellationen (Althusser 2006: 115–126) und zugleich dessen Anerkennung als gesellschaftliches Subjekt.11 Butler zufolge wird das Subjekt in den – machtbesetzten – Gebrauch der Sprache, d. h. die gesellschaftlichen Regeln des Sprechens und Benennens, eingeführt und so „im Diskurs situiert“ (Butler 1997: 174). Seine Handlungsfähigkeit bezieht es also aus seiner Verwicklung in die Sprache und die Einbezogenheit in die Diskurse und Machtbeziehungen (ebd.: 175). Es unterwirft sich dem diskursiven „Prozess der Ausschließungen und Differenzierung“ (Butler 1994b: 44), der es hervorbringt (Butler 2006: 222). Die bei Althusser zentralisiert vorgestellten Anrufungen/Interpellationen als Subjektivierung durch die ideologischen Staatsapparate (ISA) wie Schule oder Polizei12 dezentalisiert Butler auf jedwede Benennungen durch alle möglichen anderen sprechenden Subjekte (die allerdings – je nach gesellschaftlicher Positionierung und der jeweiligen Situation – unterschiedlich machtvoll sprechen können). Interpellationen müssen auch nicht an die (präsente) Stimme gebunden sein: „Man muß die Anrufung von der Figur der Stimme ablösen, damit sie als Instrument und Mechanismus von Diskursen hervortritt, deren Wirksamkeit sich nicht auf den Augenblick der Äußerung reduzieren läßt“. (Butler 2006: 57) Interpelliert werden Subjekte somit auch in ihrer Abwesenheit, u. U. auch ohne deren Zustimmung/Anerkennung und nicht zuletzt auch durch die Sprachen des Visuellen, Räumlichen, Objekthaften etc. Schließlich ist Subjektbildung als ein fortwährend sich erneuernder Prozess zu verstehen, der ständig erneute Unterwerfungen/Befähigungen als Subjekt-Positionen hervorbringt:
11 Das wechselseitige Anerkennungsverhältnis von Subjekten und Ideologie vergleicht Althusser (2006: 122f) mit einem Spiegel: Als Bedingung für seine Anerkennung als Subjekt erkennt es die Unterwerfung und sein Unterworfen-Sein (d.h. seine Unfreiheit) an. 12 Althusser erläutert Subjektivierung als Interpellation und Unterwerfung unter die ISA mit dem Beispiel eines Passanten, der von einem Polizisten mit „He, Sie da …“ angerufen und damit als Subjekt interpelliert wird. In der Umwendung erkennt der Passant diese Unterwerfung (als Anerkennung) an, unterwirft sich zugleich unter die Anrufung als unterworfenes Subjekt (subjekt) und erkennt das Subjekt ISA an (vgl.: Althusser 2006: 116).
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120 | S TANDORTE In den fortwährenden Anrufungen des gesellschaftlichen Lebens wiederholt sich eine grundlegende Unterordnung und damit die Szene der Handlungsmacht. Ich habe einen bestimmten Namen erhalten, und weil ich einen Namen erhalten habe, bin ich in das sprachliche Leben eingeführt worden: Das heißt, ich beziehe mich durch die Sprache, die andere mir gegeben haben, auf mich selbst – wenn auch nie genau in denselben Begriffen, die meine Sprache nur nachahmt. (Butler 2006: 66f)
Die Wiederholungen stabilisieren die Subjekt-Position, gehen aber zeitlich weit über die eigentliche Existenz des Subjekts hinaus. Denn in der konventionalisierten Sprache gehen die benennenden Begriffe der Zeit des Subjekts voraus und reichen weiter als dieses, sie bilden einen „Überschuss“, der das Sprechen des Subjekts erst ermöglicht (Butler 2006: 51). Die konventionalisierten und stetig wiederholten Anrufungen verleihen dem Subjekt eine Identität, die aber zum einen niemals vollständig ist, sondern stets neu produziert wird/werden muss: „Das Subjekt […] wird immer wieder neu unterworfen (subjected) und produziert“ (Butler 1994a: 45). Gerade diese iterative Unterwerfung wird jedoch zum anderen als Schauplatz subjektiver agency: Das Subjekt wird von den Regeln, durch die es erzeugt wird, nicht determiniert, weil die Bezeichnung kein fundierender Akt, sondern eher ein regulierter Wiederholungsprozeß ist, der sich gerade durch die Produktion substantialisierter Effekte verschleiert und zugleich seine Regeln aufzwingt. In bestimmter Hinsicht steht jede Bezeichnung im Horizont des Wiederholungszwangs; daher ist die ‚Handlungsmöglichkeit‘ in der Möglichkeit anzusiedeln, diese Wiederholung zu variieren. (Butler 2003: 213)
In der iterativen Variation der Wiederholung beschreibt Butler ein Handlungspotential, das Wider-Sprechen möglich macht. Denn: Produktiv ist Sprechen und Sprache nicht nur in der Determinierung von Bezeichnetem durch die stabilisierenden diskursiven Effekte, sondern zugleich durch ihre Kontingenz und damit durch ein Maß an Unkontrollierbarkeit, die die jeweiligen Wiederholungen und das Gesagte begleitet. Mit dem Begriff der Iteration/Iterierbarkeit (Wiederholbarkeit), den Butler von Jacques Derrida aufgreift, begründet sie die Möglichkeiten des Resignifizierens, des Verschiebens von Bedeutungen: Die Kraft und die Bedeutung einer Äußerung sind nicht ausschließlich durch frühere Kontexte oder ‚Positionen‘ determiniert; eine Äußerung kann ihre Kraft gerade aus dem Bruch mit dem Kontext gewinnen, den sie ausführt. […] Sprache nimmt genau dazu eine nicht
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gewöhnliche Bedeutung an, um sich gegen das zu stellen, was sich im und als das Gewöhnliche sedimentiert hat. (Butler 2006: 227)
Butler sieht das Potential des Wider-Sprechens im fehl-aneignenden WiederSprechen, das die Sprache dadurch eröffnet, dass die Zeichen wiederholbar sind, aber keine Wiederholung, kein Zitat mit dem Zitierten übereinstimmt (vgl.: Derrida 1988: 298–301). Die im Zitat/Zitierten angelegten Überschüsse an Bedeutungen, d. h. die nie voll ausgeschöpften Varianten im Bedeutungsprozess, können genutzt werden, um die Bezeichnungen und das Bezeichnete performativ zu modifizieren und zu verschieben. Die Entgegnung auf degradierende Anrufungen beinhaltet aber zwangläufig, zuvor Gesagtes aufzugreifen; insofern kann nur in der wiederholenden Bezugnahme zuvor Gesagtes angeeignet und umgedeutet werden. Es geht folglich darum, „den Verlauf der Wiederholung zu steuern“ (Butler 2006: 66).
U MKÄMPFBARKEIT
VON
S PRACHE
Gegenstimmbildung setzt an diesem Potential der resignifizierenden Produktivität der Sprache an, indem sie die Möglichkeiten zur Veränderung und DeRegulierung des Gesagten und der Modi des Sprechens aufgreift. ReSignifikation meint, mit Sprache einen neuen, kreativen, ungewöhnlichen Umgang zu praktizieren, der sich in Verschiebungen, Verfremdungen, Wortspielen, parodistischen, absurden, grotesken oder „anthropophagischen“13 Sprechakten und Karnevalisierungen vollzieht. Ähnlich wie Spivak agency als „kreative Performanz eines gegebenen Skripts“ auffasst (Spivak 1999: 56), setzt Butler auf „Politikformen, in denen die Sprache, das Spielerische, das Iterative und Performative eine zentrale Rolle spielen“ (Schirilla 2003: 141). Gegenstimmbildung nutzt dabei auch den institutionalisierten ‚Freiraum‘ des performativen Spiels und des Theaters als einer Kunstform, d. h. den Raum der Kunst, dem Regelverschiebungen und Außer-Kraftsetzungen von Ordnungen und Neuordnungen ge-
13 Der Begriff meint eine künstlerische Strategie der Aneignung, mit der MAIZ, eine Gruppe feministischer Migrantinnen in Österreich, in Anlehnung an die gleichnamige „kulturelle Bewegung der Anthropophagie Brasiliens“ öffentliche – aneignende – Kampagnen durchführte; vgl.: Caixeta: 2003: 186–194.
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sellschaftlich zugewiesen sind.14 Andreas Kotte bezeichnet Theater als „konsequenzverminderten“ Raum (Kotte 2013: 28), als solcher eignet er sich auch besonders für die Initiierung theaterpädagogischer Bildungsprozesse. In diesem Sinn theoretisiert Ute Pinkert „Theaterspielen als erkundende[s] ‚Probehandeln‘“ und dementsprechend das „Theater als Forschungslabor“ (Pinkert 2005: 30f; 42). Dieser Raum ist jedoch nicht ‚frei‘, auch er unterliegt Regeln: Die theaterpädagogische Situation beispielsweise ist durch Regeln des Spiels (u. a. die der Konsequenzvermindertheit) geordnet; Theater als „hervorgehobene Situation“ (Kotte 2013: 28) in der öffentlichen Vorstellung unterliegt einer Reihe spezifischer Restriktionen. Über die Regulierung dessen hinaus, was im Probenraum oder auf der Bühne erlaubt ist und was nicht, betreffen diese Regeln auch die Anordnungen von Blickrichtungen der Rezipient_innen, mit denen das Geschehen als ‚Hervorgehobenes‘ definiert wird. Nicht zuletzt organisieren sie dessen Verständlichkeit als Kunst – und damit die Abgrenzung zu Nicht-Kunst. Insofern ist der Theater-Spiel-Raum nicht konfliktfrei, wie Sigrid Schade und Silke Wenk mit Peter Bürger erklären (Schade/Wenk 2011: 168) und v. a. auch nicht per se ‚nicht-differenzbildend‘. Im Gegenteil verweisen feministische und postkoloniale Kultur-, Kunst-, Film- oder Literaturwissenschaften auf die Beispiele (kategorialer) gesellschaftlicher Festschreibungen im Rahmen dieser – regulierten – Freiräume. Sie sind historisch und gesellschaftlich verortet und begrenzt, sodass es immer auch darum geht, diese Grenzen der Nicht/Freiheiten verhandelbar zu halten. Theater kann also trotz jener verminderten Konsequenz, die in der hervorgehobenen Situation gerade auch öffentliche Regelverschiebungen erlaubt, durchaus als konfliktbehaftet bezeichnet werden, und ist insofern auch umkämpft. Dass das Resignifizierungspotential der Sprache nicht per se zu Entmarginalisierungen oder De-Stabilisierungen rassifizierter oder heteronormativer Gesellschaftsstrukturen führt, zeigt sich an der Fähigkeit des Rassismus, mit immer neuen Kategorien wie Ethnie, ‚Kultur‘ oder Religion Gruppen als ‚different‘ zu einer ‚Norm‘ zu markieren und relational zu verorten.15 Aktuell verschiebt die
14 Einführend zur Diskussion um den autonomen Status der Kunst und institutionskritische Kunst mit Bezug auf Peter Bürger, Andrea Fraser und Pierre Bourdieu: Schade/Wenk 2011: 168. 15 Angelika Magiros erklärt in ihrer Studie Kritik der Identität genau diesen „postmodernen Kulturalismus, für den allein schon die Tatsache, dass er sich an eine Regel hält, ein Dilemma“ ist, als anfälliger für Destabilisierung als seine modernen und
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! vormodernen Vorläufer, weil ihm jene Stabilität fehlt, die er herzustellen versucht.
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Neue Rechte z.B. den Differenz-Begriff selbst: War Differenz lange eine Forderung des Antirassismus im Sinne eines ‚Rechts auf Differenz‘, so greift die Bewegung das Konzept Differenz auf und naturalisiert es als ‚ethnisch‘ oder ‚kulturell‘ mit dem Hinweis auf eine dem Recht zugeordnete Pflicht zur Differenz, die ‚Vermischung‘ unterbinden will. Diese machtvolle produktive Flexibilität gewinnt der aktuelle Rassismus aus dem verschiebenden Potential der Sprache, das sich gerade nicht politisch zuordnen lässt: Theorien, die das Wirkungsmodell des Performativen […] vertreten, können zugleich feministisch und antifeministisch, rassistisch und antirassistisch, homophobisch und antihomophobisch sein. Die Theorien über die Wirksamkeit des Sprechens lassen sich nicht einfach mit den entsprechenden allgemeinen politischen Ansichten oder, genauer, mit einer bestimmten Rechtsauslegung des Ersten Verfassungssatzes in Verbindung bringen. (Butler 2006: 43)
Gegenstimmbildung, die sich als kritische Intervention in bestehende rassistische gesellschaftliche Strukturen versteht, muss insofern anerkennen, dass die Produktivität des Rassismus sich nicht mit einem ‚ein-fachen‘ resignifizierenden Sprechen durchbrechen oder durchlöchern lässt. Es bedarf eines Sprechens, das den ‚alten‘ Differenzordnungen auf neue, ggf. vervielfältigte und dezentralisierte Weisen entgegnet und in der Wiederholung möglicherweise sogar kreative, spielerische Formen des Sprechens (= neue Sprachformen) etabliert. Die verschiedenen de/stabilisierenden Produktivitäten des Sprechens stehen mitunter selbst im Gegensatz zueinander, und möglicherweise tritt darin (zunächst) auch ein grundlegender Antagonismus hervor, der sich nicht zuletzt in den (ideologischen) Positionen zu erkennen gibt. Es gilt daher, gerade die Widersprüche – und auch Antagonismen – herauszufordern und produktiv zu machen. Statt den Gebrauch von Sprache/n – und damit auch die Widersprüche – semantisch oder formal zu fixieren, gilt es, ihre Mobilität immer wieder von Neuem zu aktivieren und selbst zum Prinzip zu erklären. Denn das Potential der Veränderbarkeit liegt in der Umkämpfbarkeit von Sprache/n: „Anstelle einer staatlich gestützten Zensur geht es um einen gesellschaftlichen und kulturellen Sprachkampf, in der sich die Handlungsmacht von der Verletzung herleitet und ihr gerade dadurch entgegentritt.“ (Butler 2006: 70) Aus dieser potentiellen Mobilität ergibt sich für eine
„Der Kulturalismus ist direkter dilemmatisch, direkter lächerlich – und vielleicht wird es schon das sein, was ihn besiegt, doch verlassen sollte man sich nicht darauf.“ (Ma-
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giros 2004: 268)
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Theoriebildung des Sprechens, aber auch des Theatermachens gegen Rassismus oder gegen andere Formen fixierender identitärer Differenzbildung eine Verantwortung, die sich zum einen auf die Wiederholung im Sprechen selbst bezieht, aber zum anderen v. a. die Erhaltung der Mobilität – oder den „Sprachkampf“ – in einem Rahmen stetiger Fixierungs- und Identifizierungsbemühungen als notwendige verpflichtende Herausforderung zur Intervention – oder Gegenstimmbildung – anerkennt.
Verantwortung Verantwortungsvolles Schreiben gegen rassifizierende identitäre Differenzproduktion beginnt daher mit der Anerkennung der (hiesigen) gesellschaftlichen Ordnung als rassistisch strukturiert und reflektiert darin über die eigene Positioniertheit hinaus auch das prinzipielle Handlungspotential im (eigenen) Sprechen. Allerdings insistiert Judith Butler in ihrer Theorie politischer Handlungsmacht (agency) darauf, dass gegenüber einem Verständnis von Handlungsfähigkeit, bei dem das Subjekt als Handlungsträger (agent) ‚hinter‘ der Tat oder Tätigkeit (agency) angenommen wird, sich die „Handlungsmacht des Sprechens nicht von der Souveränität des Sprechers herleitet“ (Butler 2006: 67). Ausgehend von Nietzsches These, dass „es kein Seiendes hinter dem Tun gibt, dass die ‚Täter‘ also bloß eine Fiktion, die Tat dagegen alles ist“ (Butler 2003: 49), verschiebt Butler den Fokus von der Vorstellung souveräner subjektiver Handlungsfähigkeit auf ihre Bedingungen, deren Geschichtlichkeit dem handelnden Subjekt vorausgeht. Insofern als „der Sprecher […] nicht der Urheber seines Sprechens [ist], da das Subjekt in der Sprache durch einen vorhergehenden performativen Sprachgebrauch, die ‚Anrufung‘, hervorgebracht wird“ (Butler 2006: 67), rückt die verletzende oder verändernde Tat als Akt der Wiederholung in den Blick. Denn „die Sprache, die das Subjekt spricht, [ist] konventionell und gleicht in diesem Sinn dem Zitat“ (ebd.: 67). Verantwortungsvolles Handeln gegen Rassismus im reflektierten Aufgreifen von Handlungsmacht bewegt sich insofern im Spannungsfeld zwischen historischem ‚Geworden-Sein‘ und der gleichzeitigen Möglichkeit, die Ketten gesellschaftsstrukturierender (rassifizierender) Wiederholungen zu unterbrechen. Denn die ‚Verwicklung‘ des Subjekts „in eine Sprache, deren Geschichtlichkeit eine Vergangenheit und Zukunft umfasst, die diejenigen des sprechenden Subjekts übersteigen“ (Butler 2006: 51), ermöglicht gerade sein Sprechen als – auch widerständiges – Handlungspotential. Von dort aus ist die Reflexion auf die ei-
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gene mehr oder weniger marginalisierte oder privilegierte Position sinnvoll, um die Machtverhältnisse im (eigenen) habitualisierten Sprechen auf das eigene Handlungspotential zu beziehen. Verantwortungsvolles Sprechen unterbricht zunächst mit der ‚einfachen‘ Unterlassung bestimmter konventionalisierter Praxen, geht darüber aber ebenso hinaus wie über banale identifizierende (Selbst-) Markierung.16 (Selbst-)De/Legitimierungen zum Sprechen qua Identität affirmieren Identitätszuweisungen eher, statt die Mobilität und die verhandelnde Praxis zur Veränderung zu stärken. Im Sinne einer Gegenstimmbildung wäre daher zunächst die Verantwortung in der eigenen Handlungsfähigkeit zu erkennen und sie zur Aufrechterhaltung des „Sprachkampfes“ gegen rassifizierende Praxis zu mobilisieren. Gegen die Vorstellung einer Handlungsmacht des Subjekts im Sinne einer individuellen, singulären ‚Intention‘ oder eines ‚Willens‘ hat Butler immer auf die ‚Handlung als Wiederholung‘ insistiert. Weil „der Zitatcharakter des Diskurses unser Verantwortungsgefühl eher stärken und vertiefen kann“ (Butler 2006: 50), ist er es auch , um den es bei Fragen zur Verantwortung gehen
16 Wenngleich die Reflexion des eigenen Standorts des Sprechens unbedingt zu verantwortungsvollem Wider-Sprechen dazugehört, halte ich, mit Ay!e K. Arslano!lu, Selbstidentifizierungen im Sinne „kategorialer Aufzählungslogiken“, womöglich an biologistischen Merkmalen orientiert, die in „Reihungen von Selbstattributierungen“ münden, für entpolitisierend. Wie Arslano!lu kann auch ich „in solchem Umgang keine politische und/oder antiherrschaftliche Praxis erkennen“, dagegen aber einen Wunsch nach Unangreifbarkeit in der eigenen wissenschaftlichen Position. (Arslano!lu 2010) Arslano!lus’ Kritk richtet sich gegen den Einzug eines „hygienische[n] Diskurs[es] […], der die politische Gemengelage regulieren möchte“ (ebd.). Diese Argumentation widerspricht nicht der Reflexion meiner (verhältnismäßig) privilegierten gesellschaftlichen Sprechposition. Zur Entgegnung auf identitätsfixierende Zuweisungen und Interpellationen halte ich jedoch auch eine politische Standortbestimmung für produktiver als Selbstmarkierungspraxen oder gar „Selbstbezichtigungen[, die] religiösen Praktiken des Bekenntnisses oder der Beichte“ nahekommen und die hegemoniale Identitätspolitiken in umgedrehter Form unreflektiert wiederholen (ebd.). Insofern möchte ich meine wissenschaftliche Position als angreifbar verstehen und als das Bemühen um „Risiko“, wie es von María do Mar Castro Varela mit Foucault als parrhesia ausformuliert wurde: als ein Sprechen, das „die eigene privilegierte Situation nutzt, um Veränderungen zu bewirken“, ohne dabei in eine Praxis des Good Will im Sinne eines stellvertretenden Sprechens für Andere zu verfallen (vgl. Castro Varela 2002: 42–44). Dieses Risiko bezieht sich auch auf das Dilemma der Reifizierung
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beim Schreiben über Praxen zur Markierung von Differenz.
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kann und muss: „Der Sprecher einer hate speech ist verantwortlich dafür, dass er dieses Sprechen in bestimmter Form wiederholt und wiederbelebt und die Kontexte von Haß und Verletzung aktualisiert.“ (Ebd.: 50). Oder allgemeiner gefasst: „Die Verantwortung ist also mit dem Sprechen als Wiederholung, nicht als Erschaffung verknüpft.“ (Ebd.: 68) In der Praxis wie in der Theoriebildung theatraler Gegenstimmbildung gilt es zu reflektieren, dass sich ein Sprechen gegen Rassismus in denselben Praxen der sprachlichen Aneignungen bewegt wie das rassistische Sprechen, also in der Praxis des Wider-Sprechens durch Wieder-Sprechen, des bezugnehmenden Reagierens-auf, und zwar mit immer neuen Sprechweisen. Denn Theater stellt mit den Mitteln der Choreografie, des Texts oder mit Licht, Musik oder Bühnenausstattung etc. Bedeutungen und Sinnkonstruktionen her, indem es auf ein konventionalisiertes Repertoire der Kunstproduktion zurückgreift. Es interessiert also das Wie der Wiederholung im Einsatz der theatralen Mittel zur Repräsentation von Sachverhalten, Personen oder Ideen. Nicht davon zu trennen ist die Frage, welche anderen tradierten Gebrauchsweisen mit dem Aufrufen bestimmter Bilder, Texte, Musiken mit aufgerufen werden; es geht somit darum, zu reflektieren, welche Wissensbildungen mit dem zitierten verwendeten Material mittransportiert und welche Strategien und Machtverhältnisse der Wissensbildung (auch im Theater) auf diese Weise affirmiert oder unterbrochen werden. Darüber hinaus ist zu fragen, welche Subjektivierungen durch die Texte und auch in den Texten vorgenommen werden. Bewusste oder unbewusste Entscheidungen für oder gegen bestimmte inhaltlich-thematische Fokussierungen sowie theatrale Mittel und ihre Verknüpfungen miteinander können durch repräsentationskritische Analysen ebenso erkennbar werden wie Verschiebungspraxen, die rassistischen Bedeutungskonstruktionen und Repräsentationspraktiken entgegensteuern. Im Sinne eines verantwortungsvollen Umgangs mit Sprache in Form von Bildern, Bewegungen/Gesten, literarischen Geschichten oder anderen Formen der textlichen oder performativen Repräsentation gilt es daher, die Möglichkeiten und Grenzen der Veränderung zu erkennen und sie in der produktiven Praxis auszuloten.
B EHERZTE N EUSCHREIBUNG Mit Blick auf eine soziale und politische Handlungsperspektive spricht Judith Butler prospektiv von Sprachkampf; gewissermaßen retrospektiv untersucht Fredric Jameson diese Mobilität in literarischen Texten, indem er umkämpfte
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Besetzungen und Positionen innerhalb der Codes analysiert. Ausgehend davon, „daß die Normalform des Dialogischen eine antagonistische ist und daß sich im Dialog des Klassenkampfes zwei gegenläufige Diskurse innerhalb eines gemeinsamen Codes bekämpfen“ (Jameson 1988: 76), betont er, dass die Diskurse notwendig aufeinander bezogen sind und die Verschiebungen und Veränderungen durch Neuaneignungen und Abwandlungen „innerhalb eines gemeinsamen Codes“ vonstatten gehen (ebd.: 76). Auch Butler erklärt die Verwicklung, das Einbezogensein in Sprache zur Bedingung des Sprechens und Gegensprechens generell – „Die Möglichkeit, andere zu benennen, erfordert, daß man selbst bereits benannt worden ist.“ (Butler 2006: 53). Damit verweist sie auf die notwendige Beziehung zu und Verflechtung mit vorangegangenen performativen Sprechakten, die innerhalb eines gegebenen Rahmens stattfinden, betont aber die prinzipielle Offenheit diskursiver ‚Netzwerke‘ (Butler 1994b: 125). Butler geht also einen Schritt weiter: Ihr Denken ist ausgerichtet auf die Möglichkeit, Rahmen des Sprechens zu verschieben. Über die „einfache Assimilierung und Eingliederung dessen, was in den bestehenden Begriffen ausgeschlossen ist“ (Butler 2006: 251) hinaus geht es auch um die Befragung und, soweit möglich, die Verschiebung der Grenzen des Intelligiblen und damit um die Herausforderung einer Fähigkeit, Unvorstellbares vorstellbar zu machen (vgl. ebd.: 251): Genau darin, daß der Sprechakt eine nicht-konventionale Bedeutung annehmen kann, daß er in einem Kontext funktionieren kann, zu dem er nicht gehört, liegt das politische Versprechen der performativen Äußerung, ein Versprechen, das die performative Äußerung ins Zentrum einer hegemonialen Politik stellt und dem dekonstruktiven Denken eine unvorhergesehene Zukunft eröffnet. (Ebd.: 252)
Theater und Theaterpädagogik kommen weder in der Praxis noch in der Theorie um diese Bezüge auf vorangegangenes – wissensbildendes und subjektivierendes – Sprechen herum. Dies gilt im Besonderen dann, wenn sich Theater und/oder dessen wissenschaftliche Beschreibung als kritische Intervention in rassifizierende Diskurse versteht. Die genauere Betrachtung von Gegenstimmbildungen zu Kulturellem Rassismus mit den Mitteln des Theaters wird sich daher mit Bezugnahmen auf diskursive Rahmungen ihres Sprechens näher beschäftigen und die Theaterstücke dahingehend untersuchen, in welcher Weise die internen Aufklärungskonstruktionen in Relation zu Konstruktionen des Migrationsdiskurses stehen. In diesem (re-)konstruierendem Vorgehen greife ich auf den literaturwissenschaftlichen Analyseansatz von Frederic Jameson zurück, der die Relationen von Texten und rahmenden Diskursen als in den Texten verortet
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untersucht. In seiner Theorie des Politischen Unbewussten fokussiert Jameson die in Texten, insbesondere in literarischen Texten verhandelten gesellschaftlichen Wider-Sprüche, d. h. das Wider-Sprechen in und mit den Texten. Mit Michail Bachtin nimmt er an, dass der (Klassen-)Diskurs „in seiner Struktur im wesentlichen dialogisch“ verfasst ist (Jameson 1988: 75, kursiv i. O.). Diese Annahme ermöglicht die (Re-)Konstruktion der Texte als Aushandlung gesellschaftlicher Widersprüche, d. h. von Widersprüchen, die in Texten als Positionen und Gegenpositionen aufgebaut werden. In der Analyse „nach Kriterien des Widerspruchs“ (ebd.: 76) werden zum einen die untersuchten Texte jeweils als relational verstanden, d. h. als Positionen innerhalb gesellschaftlicher Diskurse, die zu anderen Positionen in Beziehung stehen. Zum anderen ist diese Relationalität innerhalb der jeweiligen Texte selbst zu verorten und von dort aus zu rekonstruieren. Insofern ist das Verhältnis zwischen Text und ‚Kontext‘ intertextuell bestimmt, der Text gegenüber seinem Kontext nicht abgeschlossen. Entsprechend geht Jameson von einer Zugänglichkeit zu ‚Welt‘ ausschließlich über Texte aus: Geschichte ist kein Text, keine Narration, weder als Schlüsselerzählung noch sonstwie, sondern sie ist uns als abwesende Ursache unzugänglich, es sei denn in textueller Form; somit erfolgt unser Zugang zu Geschichte und zum Realen selbst notwendigerweise mittels ihrer vorherigen Textualisierung, d. h. ihrer Narrativierung im politischen Unbewußten. (Ebd.: 29f)
Die historische Situation, die nur über Erzählungen kommunizierbar und verhandelbar ist, wird in den jeweiligen kulturellen Artefakten (re-)konstruiert und (re-)artikuliert. Insofern geht Jameson davon aus, dass ‚Kon-texte‘ im Text selbst aufgebaut sind und sie somit, anders als in sog. Widerspiegelungstheorien, im Text nicht abgebildet, sondern hergestellt werden. Der literarische bzw. ästhetische Akt besitzt folglich immer irgendeinen aktiven Bezug zum Realen; aber um diesen herzustellen, reicht es nicht aus, die ‚Wirklichkeit‘ schlechterdings so, wie sie ist, außerhalb des Textes und in sicherer Distanz passiv weiterbestehen zu lassen. […] Die symbolische Handlung beginnt daher mit der Schaffung ihres eigenen Kontextes im selben Augenblick, da sie ihrerseits auf den Plan tritt und sich vom Kontext ablöst, um ihn für das eigene Transformationsvorhaben auszuloten. […] Das literarische Werk bzw. Kulturobjekt erschafft genau die Situation […] auf die es gleichzeitig und im selben Augenblick reagiert. Es artikuliert seine eigene Situation und textualisiert sie. (Ebd.: 73)
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Der (literarische, theatrale o. a.) Text wird insofern als eine Rekombination und Neuanordnung diskursiver Elemente und Partikel gelesen, die seiner ‚Situation‘ entnommen sind. Diese Neuanordnung erfolgt als eine – affirmative oder subversive – Positionierung gegenüber der durch den Text neu hergestellten ‚Situation‘. Mit diesem Textbegriff verschiebt Jameson die marxistische Annahme einer Vorgängigkeit gesellschaftlicher Grundwidersprüche auf ihre Herstellung und Verhandelbarkeit in den Texten. Dies wird für meine Betrachtung von Gegenstimmbildungen im Theater analytisch brauchbar, die polemisches Widerspruchspotential in den und durch die Inszenierungstexte selbst in den Fokus rücken soll. Diese Setzung von Spruch und Widerspruch als dialogisches Prinzip, mit Butler das Widersprechen und das ihm vorausgehende Sprechen als seine Voraussetzung, ist so gesehen eine heuristische Anordnung, die ich vornehme, um das Sprechen gegen dominante Aufklärungskonstruktionen aus den Texten heraus zu konstruieren. Ich folge damit zugleich Jamesons Grundannahme von Interpretation als einem ‚Metakommentar‘ oder auch als ‚beherzter Neuschreibung‘, die annimmt, dass Texte nie unmittelbar erschließbar sind: Die Lektüren werden zu Aneignungen der Texte erklärt, die durch bereits vorangegangene Lektüren mitbestimmt sind. Texte „präsentieren sich […] uns als Immer-bereits-Gelesenes; wir erfassen sie durch den Filter sedimentierter Schichten früherer Interpretationen bzw. […] durch den Filter sedimentierter Lesegewohnheiten und Begriffskategorien“ (ebd.: 7). Da der „Text als symbolisches Manöver im Rahmen einer als im Kern polemischen und strategisch geführten ideologischen Klassenauseinandersetzung begriffen wird“ (Jameson 1988: 76), sind in ihm immer mehrere widerstreitende Stimmen zu finden, die in Jamesons dialektischem Zugang auf jeweils zwei grundlegende Positionen zugespitzt werden. In der Bezugnahme aufeinander müssen sie einen gemeinsamen Code der Verhandlung teilen, den Jameson „Schlüsselcode“ nennt (ebd.: 76). Dieser Schlüsselcode ist gewissermaßen das umkämpfte sprachliche Terrain, in und mit dem das Ringen um (soziale) Sinnund Bedeutungskonstruktionen stattfindet. Die aus der dialektischen Auffassung folgende dichotome Setzung der Textstruktur als Auseinandersetzung oppositioneller Stimmen wird im Rahmen mehrerer Detailbetrachtungen (close reading) in der Funktion eingesetzt, sowohl die im Text zu erschließenden diskursiven Dominanzpositionen als auch die ihnen polemisch gegenüber stehenden Positionen zu rekonstruieren. Um die zeitliche und somit lineare Anordnung, die Erzählstruktur eines Stückes, im Hinblick auf Widersprüche und Momente bzw. Arten des Gegenspre-
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chen zu untersuchen, lässt sich die dialektische Grundanordnung des beschriebenen Modells auch auf formaler Ebene produktiv machen. Von der herkömmlichen Vor-Annahme ausgehend, dass literarische Texte eine mehr oder weniger ‚geschlossene‘ Form und somit ‚geschlossene‘ Sinnkonstruktionen dar/vorstellen17, können sie zunächst in ihrer Widersprüchlichkeit als ‚widersprechende Spannung‘ rekonstruiert werden. Jameson geht davon aus, dass im Bereich der Ästhetik die in Geschichten konstruierten ‚unlösbaren Widersprüche‘ eine formale ‚Lösung‘ finden. So ist der sog. Subtext in der Form zu erkunden, indem die im Erzähltext qua Form, Genre oder Textart ‚erzwungene‘ Schließung rekonstruiert wird als harmonisierende ‚Aufhebung‘ der Spannung zwischen den als Antagonismen aufgebauten Positionen, genauer: als formale Aufhebung einer Spannung zwischen Widersprüchen im Text, die nicht auflösbar sind. In den Fokus gerät so eine im Text aufgehobene – und damit erhaltene – Spannung. Dieses Vorgehen wird insbesondere für die Diskussion solcher Stücke produktiv, deren Grundanlage eher konventionellen narrativen Prinzipien folgt (wie z. B. Amo, der Gegenstand meines ersten Analysekapitels). Die Analyse der formalen ‚Harmonisierungen‘ im Text hebt so gerade die Unlösbarkeit von einander widersprechenden Grundgesten hervor, die als Spannung erhalten bleibt (z. B. Schließung und Unschließbarkeit). Wenn man, wie Jameson, bestimmte Grundgesten in Texten (z. B. Linearitäten und Schließungen) als Konventionen oder Regulierungsmuster gesellschaftlichen sprachlichen Handelns annimmt, können andere, widersprechende Gesten als polemische Unterbrechung des Regulären gelesen werden. Ideologie [ist] keine Größe, die Symbolproduktion ausprägt oder speist; der ästhetische Akt ist viel mehr als solcher bereits ideologisch, und die Hervorbringung ästhetischer oder narrativer Formen muss als eigenständiger ideologischer Akt verstanden werden, der die Funktion besitzt, für unlösbare gesellschaftliche Widersprüche imaginäre bzw. formale‚ ‚Lösungen‘ zu finden. (Ebd.: 70)18
17 Zur Dramentheorie geschlossener und offener Formen: Klotz 1970; Androtti 1996. 18 Ideologie/Klassenbewusstsein erläutert Jameson als eine kollektive Position, die durch Solidarisierung entsteht und immer historisiert werden muss. Sie wird daher nicht (wie z. B. bei Althusser) als ahistorische Grundkonstante beschrieben: „Der Index jeglichen Klassenbewußtseins besteht nicht in den ‚Inhalten‘ oder ideologischen Motiven dieses Bewußtsein, sondern zuallererst in dem heraufdämmernden Gefühl der Solidarität mit anderen Mitgliedern einer bestimmten Gruppe oder Klasse“ (Jame-
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son 1988: 286).
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In einem weiteren Schritt kann so auch die (institutionalisierte) Vor-Annahme von ‚Geschlossenheit‘ selbst in den Blick geraten, die nicht zuletzt in der Zuordnung von Texten zu Gattungen und damit verbundenen Lektüreanweisungen (vgl. ebd.: 105) angelegt ist.19 Oder anders: Die Regulierung des Blicks durch die Anordnung des Textes als Repräsentationssystem kann in einer widersprechenden Spannung zu anderen im Text (auch) angelegten Arten der Rezeption herausgelesen werden. Über diese Lektüre können Kritiken der Inszenierungen am Theater als institutionalisiertem Repräsentationssystem herausgearbeitet werden, das „bestimmten, historisch herausgebildeten Regelsystemen folg[t] und somit über die Legitimität […] verfüg[t], zu definieren, wer oder was ein- oder ausgeschlossen ist“ (Schade/Wenk 2011: 143f). Theater kann auf diese Weise nicht nur als umkämpftes Sprechen mit den Mitteln des Theaters, sondern auch als umkämpfter Ort rekonstruiert werden, an dem gesellschaftliche Auseinandersetzungen um Schließungen und ‚Geschlossenheiten‘, um Identitäten und v. a. Zugänge geführt werden können und sollten.
V OR - STELLEN
ALS
Z U - SEHEN -G EBEN
Für eine solche Betrachtung von Theater als Repräsentationssystem möchte ich zudem auf den Begriff des Zu-sehen-Gebens zurückgreifen, den Sigrid Schade und Silke Wenk in die Kunstwissenschaft und die deutschsprachigen Studien zur visuellen Kultur eingeführt haben (Schade/Wenk 2005, 2011). Ausgehend von dem in den Cultural Studies durchgesetzten Repräsentationsbegriff thematisieren sie nicht nur, „was wie zu sehen gegeben wird – mit unterschiedlichen Medien und in unterschiedlichen Kontexten“ (Schade/Wenk 2011: 9), sondern auch die Regulierungen der Rezeption durch die Praxis des Zeigens und ihre Bedingungen. Im Gegensatz zum Begriff ‚Sichtbarkeit‘20 betont Zu-sehen-Geben zunächst
19 „Gattungen sind im wesentlichen literarische Institutionen oder Gesellschaftsverträge zwischen einem Schriftsteller und einer Öffentlichkeit, deren Funktion es ist, den rechten Gebrauch eines bestimmten kulturellen Artefaktes zu spezifizieren.“ (Jameson 1988: 105) 20 Zur Kritik phänomenologischer Theorien des Visuellen in den Bildwissenschaften siehe Lorek 2004: 12–26; Mirzoeff (2011) diskutiert ‚Visualität‘ nicht nur als „diskursiv organisierte“, sondern als zutiefst machtbesetzte und machtstabilisierende Katego-
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rie, der historische Formationen dissidenter „Gegenvisualitäten“ (countervisualities) –
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das Aktivum im Akt des Zeigens oder Vorstellens und die Bedingungen des Herstellens von Sichtbarkeit. Diese wird vom Objekt verschoben auf die Akteure des Zu-sehen-Gebens, das in dem Sinn als Sprechakt zu verstehen ist. Das Sichtbare, Erkennbare und Verstehbare wird als das ins Blickfeld Gerückte betrachtet. Das Konzept de-essentialisiert die Verknüpfung des Dings mit ‚seiner‘ Sichtbarkeit und negiert damit die Auffassung einer intrinsischen ‚Strahlkraft der Dinge‘, wie sie im Begriff der Evidenz mitgetragen wird (vgl.: Schneider 2004). Wie auf der Bühne müssen Dinge erst mit bestimmten Mitteln in Szene gesetzt und fokussiert werden, um ‚gesehen‘ werden zu können bzw. ‚sichtbar‘ zu werden. Das Konzept des Zu-sehen-Gebens ist nicht nur auf Visuelles reduziert, sondern bezieht sich auf alle Formen der Darstellung oder Vorstellung in dem Sinn, dass mit dem Zu-sehen-, Zu-hören- oder in anderer Form Zu-rezipierenGeben verschiedene Dimensionen des Zu-verstehen-Gebens gemeint sind. Über diese konkreten Formen der Darstellung hinaus geht es also immer auch um die Herstellung von (mentalen) Bildern, also von ‚Bildern über‘ oder ‚Verständnissen von‘ etwas, die in Repräsentationen generiert werden. In diesem Sinn produzieren Vorstellungen auf der Bühne Vorstellungen im Denken und Handeln. Mit einem aus dem Konzept des Zu-sehen-Gebens abgeleiteten Begriff des Vor-stellens, z.B. die Bühnenpräsentation als Vor-Stellung 21 (auch im Sinne eines Nach-vorne-Stellens) rücken neben den Praktiken der Herstellung von Bedeutung auch die Rezeptionspraktiken in den Mittelpunkt, d. h. die Praktiken des Sehens, des Interpretierens, des Deutens oder auch des Zu-verstehenGebens, der Gesten und Rahmungen des Zeigens und des Sehens […], und damit nicht zuletzt Fragen nach darin eingeschlossenen Effekten vom Autorität, Macht und Begehren in der Konstitution von Relationen zwischen Individuen und Gemeinschaften. (Schade/ Wenk 2011: 9)
Mit der Betrachtung der Apparaturen des Zu-sehen-Gebens, den Akten der Fokussierung und Rahmung rückt zugleich die Abgrenzung eines ‚Sichtbaren‘ als
analog zum von mir verwendeten Terminus der ‚Gegenstimmen‘ – gegenüberstehen (Mirzoeff 2011: bes. 23–35). 21 Der Begriff Vor-Stellung reduziert die Analysegegenstände nicht auf tradierte Formen von Theater in Guckkastenbühnen; denn auch postdramatische Formen, die die Bühne verlassen (z.B. site specific-Produktionen) oder partizipative Events wie z.B. street games geben zu verstehen und sind u.a. in Bezug auf die Relationen von Produktion
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und Rezeption oder auf machtvolle ‚Blickrichtungen‘ analysierbar.
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Sichtbar-Gemachten von einem gleichzeitig Unsichtbar-Gemachten in den Vordergrund und somit die Regulierung der Rezeption. Für die konkrete Analyse von Inszenierungen wird dabei relevant, wie der Blick, die Aufmerksamkeit von Zuschauer_innen in und mit der vorgestellten Aufführung gelenkt wird, u. a. durch Positionierungen von Darsteller_innen auf der Bühne, durch Hervorhebungen mittels Techniken der Licht- oder Tonführungen, aber auch in den Aufteilungen des Sehens und Gesehen-Werdens. Zu untersuchen sein werden die jeweiligen Praxen des ‚in den Blick Nehmens‘, des ‚zur Sprache Bringens‘ und des ‚in Bewegung Setzens‘, wobei auch Raum-Ordnungsfragen, Verortungen der Aufführung, aber auch Rahmungen durch z. B. Paratexte und kontextuelle Erwartungen von größerem Interesse sein werden. Dies schließt die Reflexion von vorgeschalteten Verfügungen darüber ein, wer wen oder was darstellend oder beschreibend re/präsentiert bzw. die Bestimmungen dessen, wer sich selbst wie re/präsentieren kann und wer nicht, sowie wer oder was in welchen Zusammenhängen re/präsentabel ist und wer oder was nicht. Der Begriff der Aufführung, wie er in der theaterwissenschaftlichen Theorie der Ästhetik des Performativen von Erika Fischer-Lichte auf das flüchtige, singuläre Ereignis (der Performance etc.) selbst und auf eine als Ko-Präsenz von Körpern, Tönen etc. mit ‚ihrer‘ je ‚spezifischen Materialität‘ ausgewiesene ‚Medialität‘ m. E. verengt wurde, kann solchen Fragen nicht nur nicht hinreichend begegnen, weil sein Fokus auf der Beschreibung emergenter Phänomene und Atmosphären liegt. Insofern als er die in jedem Ereignis, in jeder ‚Atmosphäre‘ und jeder ‚Präsenz‘ von Körpern, Gegenständen und Räumen mitgetragenen Bedeutungselemente gerade marginalisiert, affirmiert er zudem die in der Institution tradierten, machtbesetzten Ordnungen des Ästhetischen oder auch, mit Rancière: die Verteilung des Sinnlichen. Die Apparaturen zur Herstellung des Emergenten und die Regulierung des Blicks geraten (nicht nur zufällig) aus dem Blick: Die Theorie selbst rückt sie in einen Bereich des Marginalen oder Unsichtbaren. Mit dem Konzept des Zu-sehen-Gebens oder Vor-stellens lässt sich dagegen nicht nur die Institution des Theaters samt ihrer Effekte (und Funktionen) der Vorstellungs-Bildung (im doppelten Sinn) auf ihre machtvollen Normierungen hin analysieren, sondern darüber hinaus die ‚entnannten‘, dem kritischen Diskurs entzogenen Stabilisierungseffekte institutionalisierter akademischer Wissensbildung zum Theater ins Feld der Sichtbarkeit (zurück-)rücken.22
22 Ein solcher Stabilisierungseffekt lässt sich nicht zuletzt in der theoriebildenden VorStellung von Bedeutung als etwas dem (literarischen) Text ‚Entnehmbares‘ und mit theatralen Mitteln ‚Ausdrückbares‘, und dem Publikum zu ‚Vermittelndes‘ erkennen,
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Theater als Institution und darin die Bühne als die räumliche Plattform des Zu-sehen-Gebens ist ein Ort des Zeigens, eine „Aufforderung des Hinsehens“ (Schade/Wenk 2011: 145) und des Teilnehmens an einem Geschehen, das in der und durch die Institution u. a. als aus dem Alltag ‚hervorgehoben‘ und ‚konsequenzvermindert‘ definiert ist. Theater gehört, wie Museen, Ausstellungen, aber auch Film, Fernsehen und Internet, zu den Institutionen, die „in besonderer Weise zum Sehen auffordern. Sie lassen sich als spezifische Systeme der Repräsentation analysieren, die den je gezeigten Dingen Bedeutung und Wert verleihen“ (ebd.: 144). Der – eher an Brecht orientierte – Begriff der Vor-Stellung versucht nicht nur, diese Aspekten zu berücksichtigen. Für Theater/Pädagogik als Gegenstimmbildung ist darüber hinaus auch das Moment der Bildung relevant. Denn Vorstellungen (Texte, Inszenierungen auf der Bühne) werden nicht nur produziert (in dem Sinn: gebildet), sie produzieren auch Bilder und Vorstellungen, die Subjekte bilden (interpellieren).
wie in der Theorie des Performativen nahegelegt wird (vgl.: Fischer-Lichte 2004: 240). Denn die Profilierung des Performativen als Bewegliches, Flüchtiges, Emergentes funktioniert gerade durch seine Gegenüberstellung zu stabil vorgestellter Bedeutung. Diese Art der Theoretisierung von Bedeutung schreibt diese geradezu fest und läuft v. a. Gefahr, mögliche Verantwortungen in der (notwendigen) Wiederholung zu
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externalisieren.
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Gegen-Erzählungen Beispiel: Amo – eine dramatische Spurensuche
Re-Signifizieren
Das Theaterstück Amo – eine dramatische Spurensuche, das von der Münsteraner Kulturinitiative kitunga.projekte 1 entwickelt und im November 2005 im Theater im Pumpenhaus (Münster) zur Premiere gebracht wurde, entstand nach einer zweijährigen Recherche über die historische Person Anton Wilhelm Amo Afer (ca. 1700 – ca. 1748), der als Kind im Rahmen des transatlantischen Menschenhandels aus dem heutigen Ghana verschleppt und am Hof von Wolfenbüttel aufgezogen wurde. Amo erhielt eine Ausbildung bis zur Hochschulreife, die ihn zum Studium befähigte. Als zweifacher Doktor der Philosophie forschte und lehrte Amo an den Universitäten in Halle, Wittenberg und Jena. Mitte der 1740er Jahre verließ der Gelehrte Europa und siedelte nach Afrika um. Richard Nawezi, der Initiator von kitunga.projekte und künstlerischer Leiter des Theaterprojekts, stellte diese Persönlichkeit der Zeit der Aufklärung in den Mittelpunkt einer als „Spurensuche“ spezifizierten Veranstaltungsreihe, die sich eine interkulturelle grenzüberschreitende künstlerische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit afro-deutscher und afrikanischer Geschichte in Deutschland zum Ziel setzte:
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Kitunga ist das Label des Münsteraner Kulturschaffenden Richard Nawezi. Er initiiert Begegnungsprojekte zwischen deutschen und afrikanischen Künstler_innen und Vereinen, Veranstaltungsreihen zu deutsch-afrikanischer Geschichte sowie Radio Soukous, um dem hiesigen „Zerrbild des Kontinents“ Afrika ein differenzierteres Bild entgegenzuhalten. Sein Engagement gilt insbesondere der Kooperation unterschiedlichster Menschen aus Afrika und Europa, die „zusammen an der Vision eines Miteinander“ arbeiten: „Unterschiedlichster Herkunft heißt dabei auch Profis, Semiprofessionelle und Laien, Jugendliche und Erwachsene aus Kunst, Kultur, Wissenschaft oder Politik, die ihre Unterschiedlichkeit aushalten und für kreative Prozesse nutzen wollen.“ Siehe: http://www.kitunga.de (zuletzt besucht 22. 2. 2014).
138 | G EGEN -E RZÄHLUNGEN : A MO – EINE DRAMATISCHE S PURENSUCHE „Amo“ war Ideengeber und gleichzeitig Schwerpunkt der Veranstaltungsreihe „Spurensuche“, die sich von November 2004 bis April 2005 mit afrikanischer Geschichte in Deutschland beschäftigte. Mit dem Thema hat sich kitunga auf künstlerischer und wissenschaftlicher Ebene auseinandergesetzt. Ziel war es, mit dem Projekt Grenzen von Kulturräumen, Disziplinen und Ideologien zu überschreiten und neue interkulturelle Lebenskonzepte, künstlerische Ausdrucksformen und wissenschaftliche Erkenntnisse zu suchen. (Nawezi 2006)
THEATRALE LÜCKENÜBERSCHREIBUNG Ausgangspunkt der Theaterproduktion wie auch der rahmenden Veranstaltungsreihe ist der Versuch, afro-deutsche Geschichte auf der Grundlage einer äußerst dürftigen Quellenlage mit der Rekonstruktion der Lebensgeschichte des Akademikers aus dem 18. Jahrhundert zu exemplifizieren und auf diese Weise einer dominanten Geschichtsschreibung, in der Schwarze Deutsche ausgelassen wurden, (eine) Geschichte entgegenzusetzen. Dabei bewegt sich das als Spurensuche angekündigte Projekt zwischen zwei Paradigmen der Geschichtsrekonstruktion, die sich aufgrund divergenter Verhältnisse zu ihrem jeweiligen Gegenstand in ihrer Zielsetzung unterscheiden: Erkennbare Bemühungen, afro-deutsche Geschichte im Sinne einer ‚Geschichte von unten‘ zu Tage zu fördern und so einer Herrschaftsgeschichte eine andere kohärente Geschichte (des Alltags) zur Seite zu stellen,2 gehen hier eine – zum Teil widersprüchliche – Allianz mit einer Vergangenheitsrekonstruktion im Duktus der Subaltern Studies ein. Diese profiliert die Geschichte(n) von Marginalisierten als nicht wieder herstellbare verlorene Vergangenheit, so dass die Spurensuche nicht die Geschichte(n) selbst, sondern den Verlauf ihres Unsichtbarmachens rekonstruiert.3 Der von Nawezi formulierte Anspruch einer künstlerisch-wissenschaftlichen Grenzüberschreitung mit anderen Formen des Erkenntnisgewinns und der Wissensvermittlung
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Das Projekt lässt sich als ein individueller, nicht organisierter Beitrag zu einer Geschichte von unten einordnen, als deren Zielsetzung die Aneignung und Praxis einer dezentralisierten, die Forschungsinstrumente und -strukturen der etablierten Geschichtswissenschaft reflektierenden historischen Forschung gilt, die ihre Erträge als Diskussionsbeitrag auffasst; zur Bewegung der Geschichtswerkstätten, Geschichte von unten siehe Paul/Schoßig 1986.
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Mit Blick auf die Subaltern Studies Group bringt Gayatri Chakravorty Spivak diesen Ansatz auf die folgende Formel: „The point is not to recover a lost consciousness but […] to see the itinerary of the silencing“; Spivak 1990: 31.
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fand eine konkrete Umsetzung in der Aufarbeitung und darstellenden Präsentation einer Person, die zwar historisch verbürgt ist, auf die jedoch nur wenige Erwähnungen und Fragmente von Dokumenten bruchstückhaft hinweisen. Die Erarbeitung einer performativ-theatralen Vorstellung von dieser afro-deutschen Geschichte, die, mit anderen Worten, vornehmlich aus Lücken besteht, gestaltete sich als längerer Prozess, aus dem zunächst in Kooperation mit Historiker_innen und einer Dramaturgin mehrere Stückentwürfe von Richard Nawezi hervorgingen. Der Inszenierungstext entstand in weiteren Stückimprovisationen des 2005 eigens für die Produktion zusammengestellten Ensembles und wurde während der Proben bis zur Premiere noch mehrfach gekürzt und verändert.4 Ausgehend von diesem Entstehungskontext und den damit verbundenen Ansprüchen interessieren mich die Strategien der Geschichtsrekonstruktion, d.h. der Aneignung und Neuschreibung von Geschichte, die sich programmatisch als Spurensuche ausgibt und dabei mit den Mitteln des Theaters eine – dramatische – Erzählung produziert, die gleichermaßen das ambivalente Sichtbarmachen wie das Verschwinden(-Machen) des Schwarzen Akademikers verfolgt. Amo – eine dramatische Spurensuche erzählt dessen Geschichte als Stück im Stück, eingebettet in eine Rahmenhandlung, die von den Proben einer Theatertruppe im Jahr 2005 handelt, die ein Stück über den Akademiker Amo im 18. Jahrhundert entwickelt. Nahezu eigenständig ist diesem Rahmenplot ein non-verbaler Prolog vorangestellt, den ich als Metakommentar auf die in der gesamten theatralen Präsentation vorgenommenen Geschichts- und Gegenwartkonstruktionen betrachte. Meine Lektüre dieser Eingangsszene als (selbst-)ironischer Kommentar auf die Ambivalenzen der Neu/Schreibung und Inszenierung einer afrodeutschen Geschichte zwischen politischem Sichtbarmachen und rassifizierender Ausstellung lenkt den Blick im ersten Teil der Analyse auf die Praxen der Signifizierung und Resignifizierung von Körpern und darauf, wie diese in dem Stück als Schnittstelle der zwei Institutionen Theater und Universität aber auch als Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart profiliert und widersprechend verhandelt werden. Im Hinblick auf die Geschichtsrekonstruktion fokussiert der zweite Teil dieses Kapitels die Selektion der Rückgriffe auf historische Ereignisse, Personen sowie Diskurse und ihre Re/Kombination in der narrativen Anordnung. Mein Augenmerk richtet sich auf die Neu/Schreibung einer Vergangenheit, die nicht
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Basis der Analyse ist die Inszenierung und das von dort aus in seinen letzten Veränderungen rekonstruierte Skript; vgl.: Nawezi/van der Hurk 2005 (im laufenden Text abgekürzt mit Amo). Zwei Aufführungsmitschnitte als Video sowie Probenbesuche und zwei Aufführungsbesuche bilden die Grundlage zur Lektüre der Inszenierung.
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rekonstruierbar ist, deren rassifizierende Praktiken in der Wissensproduktion jedoch gesellschaftliche Ordnungen bis in die Gegenwart strukturieren. Die im Stück widersprüchlich angelegten Konstruktionen von Handlungsmacht im Sprechen gegen rassistisch geleitete Ausgrenzung werden am Schluss des Kapitels aus den Spannungen abgeleitet, die sich aus der Verknüpfung unterschiedlicher theatraler und performativer Formate ergeben. Die Reflexion der formalen Schließung der verschiedenen Erzählstränge am Ende des Theaterabends wird die Widersprüche in den Subjektivierungen der Schwarzen Protagonisten in dem Stück ebenso wie der an der Produktion beteiligten Akteure herausarbeiten. In dem, was ich als ‚Neuordnung des Schweigens‘ bezeichnen werde, wird das Scheitern von Aufklärung zum Ausgangspunkt einer strategischen ‚Lösung‘, die Scheitern als Aufforderung zum ständigen Wiederversuchen in den Raum stellt. Mit welchen Strategien geht das Vorhaben, ein Theaterstück über den in der Geschichtsschreibung ausgelassenen Schwarzen Akademiker zu entwickeln vor, um Kontinuitäten und Diskontinuitäten rassistischer Subjektivierungspraxis zu identifizieren und zu verhandeln? Welche Potenziale bieten diese Mittel zur Gegenstimmbildung und welche Risiken der Re/Affirmation von Differenz verbinden sich mit ihnen? Als eine Strategie soll zunächst die Anlage des Plots auf zwei Zeitebenen betrachtet werden. Das vorhandene Wissen aus historischen Quellen über Anton Wilhelm Amo ist in einer biografisch-chronologischen Szenenfolge als Stück im Stück angeordnet. Dieses verfolgt neben der akademischen Laufbahn des Protagonisten an der Universität den Beginn und das Scheitern einer Liebesbeziehung zu einer Frau namens Dorinde. Auf dieser Vergangenheitsebene wird eine doppelte Linie des Abstiegs gezeigt, die mit Bewunderungsbekundungen für die ‚Karrieren‘ des Schwarzen Doktors in Deutschland seinen Anfang nimmt. Das Stück im Stück setzt also in seiner dramaturgischen Anlage der Expositionsszene hoch an: Professor Gottfried führt Amo mit Verweisen auf die Laudationes und Ehrungen für seine Leistungen als Doktor der Philosophie ein und spricht dabei für einen Teil der Aufklärungsgesellschaft; Dorinde, die sich in Amo verliebt, ist fasziniert von seinem Leben als afrikanisches Kind am Hof von Wolfenbüttel. Die Zuschauerin verfolgt von da an die systematischen Anfeindungen durch den konservativen Professor Johann, der Amos akademische Position als Doktor angreift und ihn zudem als Heiratsanwärter für Dorinde mit Schmähgedichten verfolgt. Begleitet wird die Szenenfolge von Szenenübergängen, in denen der Schwarze Hofdiener als eine Art Alter Ego von Amo dessen die emotionalen Zustände in Tanz überträgt und dabei langsam von einer an das klassisch europäische Ballett zu höfischer Barockmusik angelehnten Tanzsprache zu einer des Modern Dance übergeht.
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Die historisierenden Kostüme deuten dem Publikum keine präzise Zeitphase, aber eine vor der französischen Revolution an. Auf der Bühne verweisen ein (Rokoko-)Sofa sowie der Scherenschnitt von Amo an der hinteren Wand auf das frühe 18. Jahrhundert, während ansonsten zwei unlackierte torbogenartige Eingänge und ein Bücherregal noch unfertig die Probenphase auf der Gegenwartsebene andeuten. Über die szenische Darstellung hinaus erhält das Publikum weitere Hintergrunderzählungen zu Amo: zum einen durch eine eingespielte OffStimme und zum anderen durch Kontextualisierungen der Geschichte, die der Regisseur in der Rahmenhandlung vornimmt. Hier, auf der Gegenwartsebene des Stücks doppeln sich Handlungsverläufe wie z.B. das Scheitern einer Liebesaffäre zwischen der Schauspielerin Doris und Thomas, dem Amo-Darsteller, aber auch rassistische Haltungen im Ensemble, denen Thomas mit unterschiedlichen Strategien zu begegnen sucht. Diese Ebene setzt einen selbstreferentiellen Rahmen für die historische Rekonstruktion des Lebens von Amo als dramatische Erzählung der Verdrängung und Ausschließung, u.a. durch die rassifizierenden Bezeichnungen. Diese Strategie des Stücks im Stück ermöglicht eine Reflexion ihrer Repräsentation und der darin eingelagerten Rassismen. Denn auf der Gegenwartsebene wird in den Probensituationen über die Theaterrolle(n) debattiert und gestritten, im Speziellen über die des Amo, die der Schauspieler Thomas als exotisierend kritisiert und verweigert. Bereits in der ersten Szene wird Thomas’ antizipierende Kritik an der Re/Produktion von Differenzkonstruktionen durch das Repräsentationssystem Theater mit einem kritisch-ironischen Rückgriff auf die Repertoires zur Dar- und Vorstellung von nicht-europäischen Personen eingeführt: Seine fröhliche Selbstherstellung als Stereotype eines ‚Wilden‘ zur Monostatos-Arie der Zauberflöte als ironischer Vorschlag für die ihm zugewiesene Rolle eines Schwarzen im Europa des 18. Jahrhundert setzt den Beginn – und wird im zweiten Moment von dem Regisseur verlacht. Die in diesem Erzählstrang geführten Debatten über die Besetzungspolitiken deutscher Theater begleiten einen Spannungsbogen, in dem Kontinuitäten und Diskontinuitäten institutionalisierter rassistischer Ausgrenzung hergestellt werden. Die Konstruktion der Gegenwartsgeschichte als Probensituation ermöglicht nicht nur vielfache Unterbrechungen der Geschichtserzählung, sondern weist die in Spuren wieder ‚aufgespürte‘ Historie als Stück im Stück mit einer prinzipiellen Fiktionalität aus. Dadurch wird – zumindest im Ansatz – auf der historischen Ebene die Logik einer Wahrheitserzählung im Modus einer durchgängigen identifikatorischen Kongruenzherstellung verhindert und der Lückenhaftigkeit der Überlieferung der historischen Geschichte Amos formal Rechnung getragen. Zugleich wird aber in der Art und Weise, wie die zwei Zeitebenen miteinander parallelisiert und ineinander verwoben werden, eine große Gesamtgeschichte
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hergestellt. Diese Gesamtlinie verknüpft eine Erzählung des ‚Sichtbar-Machens‘ afro-deutscher Geschichte entlang der Figur Amo mit einer Erzählung des ‚Verstummens‘ in einer Weise, die die hinlängliche Vorstellung eines SichtbarMachens als politische Anerkennung untergräbt: Ähnlich wie Johanna Schaffer in ihrer Studie zu Ambivalenzen der Sichtbarkeit hinterfragt auch dieses Theaterprojekt eine Auffassung von Sichtbarkeit, die (physisch) visuelles SichtbarMachen mit der „Anerkennung einer gesellschaftlichen und gesellschaftlich relevanten, d.h. mit Rechten und politischer/gesellschaftlicher Macht ausgestatteten Existenz“ gleichsetzt (Schaffer 2008: 12). Das Zeigen und Hervorholen der unsichtbar gemachten historischen Existenz Amos ebenso wie das inszenierte Sprechen und Widersprechen wird als geradezu aporetisches Unterfangen zur Diskussion gestellt. Denn genau jene Auseinandersetzung mit den Überschneidungen von politischen, epistemologischen und ästhetischen Dimensionen des Sichtbar-Machens, auf der Schaffer mit Blick auf eine politische „anerkennende Sichtbarkeit“ insistiert, begleitet die theatrale Darstellung der rekonstruierten Geschichte des Schwarzen Philosophen und drohen das Versprechen, Amo über die Inszenierung in das Feld der Sichtbarkeit zu holen, zu sprengen. Mit der Verwebung der zwei Zeitebenen zu einer Gesamterzählung stellt die Produktion eine grundsätzliche Vergleichssituation zwischen der Gegenwart und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts her. Sie konstituiert damit zunächst die prinzipielle Vergleichbarkeit unterschiedlicher historischen Situationen, aber auch gesellschaftlicher Sphären (Öffentlichkeit und Privates) und der darin agierenden Institutionen. Diese Parallelisierung und Vergleichbarmachung weit auseinander liegender historischer Situationen evoziert in Bezug auf rassistische Ein- und Ausschlüsse die Frage nach geschichtlichem Fortschritt in der Umsetzung der Aufklärungsideale. Oder zugespitzt danach, inwiefern sich das in und mit der Aufklärung herausgebildete Paradigma des Fortschritts in Bezug auf das politische Aufklärungsideal einer universellen Gleichheit – im Sinne einer politischen Anerkennung – als haltbar erweist. Je ähnlicher Vergangenheit und Gegenwart im Verlauf der Handlung dargestellt werden, desto stärker drängt sich die Vermutung auf, dass sich im Verlauf der Geschichte Rassismus letztlich als ein ‚zeitloses‘ Phänomen in Variationen zu erkennen gibt. So allerdings läuft die Strategie der zwei Zeitebenen Gefahr, Rassismus zu naturalisieren. Die in der Gesamterzählung aufgeworfenen Widersprüche rufen aber auch – so eine andere Lektüre – dazu auf, die Aufklärung und ihre Ideale als (noch) nicht erreicht und insofern als Potenzial zu reklamieren. Die in diesem Potenzial – als Wille, Wunsch, Anspruch oder Forderung – eingelassene „Erfahrung des Unmöglichen“ im Begriff der Gerechtigkeit, auf die María do Mar Castro Varela mit Derrida verweist, begleitet die Erzählung als Suche nach Erklärungen. Mit
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einem Zitat von Jacques Derrida beschreibt Castro Varela in dieser Erfahrung ein utopisches Moment im Prozess: Die Gerechtigkeit ist eine Erfahrung des Unmöglichen. Ein Gerechtigkeitswille, ein Gerechtigkeitswunsch, ein Gerechtigkeitsanspruch, eine Gerechtigkeitsforderung, deren Struktur nicht in der Erfahrung der Aporie bestünden, hätten keine Chance jenes zu sein, was sie sein wollen: ein gerechter, angemessener Ruf nach Gerechtigkeit. (Derrida zit. nach: Castro Varela 2002: 45)
Erkennbar wird insofern eine ambivalente Konstruktion von Rassismus als zeitlosem, fast ahistorischem Phänomen, das dem Stillstand nahekommen und einer Bewegung, die dem Prozess der Suche als Potenzial des Unabgeschlossenen, Utopischen zukommt.
PROLOG DES PROLOGS: ROLLENFINDUNG Nach dem Abblenden des Zuschauerlichts beginnt im Black – also bei nicht beleuchteter Bühne – ein non-verbales Vorspiel. Zu hören sind die ersten Takte der Arie Alles fühlt der Liebe Freuden des Schwarzen Monostatos aus Mozarts Zauberflöte. Im Aufblenden des Lichtes wird der Schwarze Schauspieler Thomas mit einem weißem Bastrock über seiner schwarzen Kleidung (Jeans und T-Shirt) sichtbar, der sich vor einem weißen Spiegel schwarz schminkt und dabei den Arien-Text mitsingt. Im Hintergrund erscheint, in einem historisierenden Kostüm mit enger Hose, weißen Strümpfen und Handschuhen, Livrée und weißer Perücke ein weiterer Schwarzer Akteur, der im weiteren Verlauf als Tänzer und zugleich als (auch für Umbauten zuständiger) Diener auftritt. Verwundert schaut er dem Treiben von Thomas zu, dem er sich belustigt, aber vorsichtig von hinten nähert, um den Schminkvorgang besser erkennen zu können. Zunächst von der linken Seitenlehne des im hinteren Bühnenraum stehenden Sofas aus schauend, dann von der rechten Armlehne aus, bleibt er selbst unentdeckt und ‚traut seinen Augen nicht‘ (Abb. 1): Im Rhythmus des dynamischen Melodieverlaufs bewegt sich Thomas auf dem Hocker hin und her, lacht in den Spiegel und singt Passagen des Textes laut mit, insbesondere die wiederholten Verse „Weil ein Schwarzer hässlich ist“, „Bin ich nicht aus Fleisch und Blut“?, wie auch den Vers: „Weiß ist schön! Ich muss sie küssen“.
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Abb. 1: Amo „Prolog“ / Eingangsbild (Videostill) Mit dem Einsatz der Passage „Mond verstecke dich dazu! Sollt es Dich zu sehr verdrießen“ setzt er sich einen Plastikknochen, wie er als Karnevalskopfschmuck zu erwerben ist, auf den Kopf und amüsiert sich über den Anblick im Spiegel. Unterdessen schleicht sich der Tänzer nun von hinten an Thomas heran. Dann erschreckt er Thomas, indem er ihm mit einem Schrei seine mit einem weißen Handschuh bekleidete Hand vor das Gesicht hält. Thomas reagiert strahlend, und beide beginnen dann nach den letzten Sequenzen der Musik im virtuosen Ringelreihen zu tanzen: Sie haken sich ein und singen lauthals die letzten wiederholten Verse mit: „Weil ein Schwarzer hässlich ist …“ Der Tanz wird bis zum Schluss immer turbulenter, so dass sie beide auch über das Ende der Musikeinspielung hinaus den letzten Vers immer weiter wiederholen, bis plötzlich ein Schrei die ‚wilde‘ Tanzaktion unterbricht.5 Der Tänzer löst sich eilig aus der
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Die Attribuierung ‚wild‘ spielt auf die stereotypisierende Repräsentation des ‚Anderen‘ an, bei der körperliche Bewegung wie Tanz, Sport und weitere Arten (kultureller) Praxis zur Markierung von Differenz dienen. Mit ‚Natur‘ assoziiert werden sie als Artikulationsformen (und damit verbunden: ‚Mentalität‘) nicht-westlichen ‚Anderen‘ zugewiesen. Demgegenüber konstituiert sich ‚Eigenes‘ in der Abgrenzung zu bzw. Disziplinierung von (sinnlicher) Körperlichkeit (vgl.: Elias 1989) normalisiert in ‚zivilisatorischer‘ Rationalität. Die Dichotomie Körper – Geist, die analoge Verknüpfungen von Natur und Weiblichkeit hervorbrachte, geht, wie Irmela Marei KrügerFührhoff (2005: 67) auf die u.a. von Descartes erklärte Trennung zwischen res extensa und res cogitans zurück. Der Ringelreihen ‚zur Rolleneinübung‘ spitzt die stereotypen Bilder von ‚wilden‘ (‚Stammes‘-)Tänzen zu durch die Anspielung an Praxen
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Ringelreihen-Position und bleibt (als Diener) am vorderen Bühnenrand stehen, während Thomas erstarrt: Der weiße ‚Regisseur‘ ist auf die Bühne getreten und in schallendes Gelächter ausgebrochen. „Hast Du noch nie etwas von Rollenfindung gehört?“ (Amo: 1). Nachdem der Regisseur sich endlich beruhigt hat, erklärt ihm Thomas in ironischem Ton, wie er seinem Auftrag, einen Schwarzen im 18. Jahrhundert zu spielen, gerecht zu werden bemüht ist: durch Nachahmung historischer Praxen. „Hör mal“, zitiert der Schauspieler aus einem dicken Buch: „‚170 Schwarze hatte der Kurfürst von Brandenburg damals bestellt und sie für öffentliche Auftritte schwarz anmalen lassen.‘“6 Aus der Belehrung des weißen Regisseurs folgt eine Debatte um Rollen für und Repräsentation von Schwarzen in weißen Gesellschaften. Thomas kritisiert auf humoristische Weise historische Funktionen und Rollen von NichtWeißen im Theater und in anderen Formaten der Zur-Schau-Stellung (z.B. sog. Völkerschauen) und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Rollenzuweisungen. Der non-verbale Prolog des Prologs funktioniert als kommentierende ‚Leseanweisung‘ für das folgende Theaterstück und dessen Ambivalenzen im Umgang mit Repräsentationspraxen und deren Geschichtlichkeit. Mit der Zauberflöte rekurriert der Prolog auf eines der wenigen bis heute populären und oft inszenierten Bühnenstücke der deutschsprachigen Aufklärung. Indem das Libretto der Oper „den Kampf der Aufklärung mit dem Aberglau-
der Infantilisierung Zur Kritik der Reproduktion bestimmter hier nicht immer zu vermeidenden Begriffe vgl. Arndt/Hornscheidt 2004. 6
Die Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Nechutnys berichtet von vergleichbaren Praxen z.B. beim Verkauf der brandenburgischen Kolonie: „Unter dem Sohn des Kurfürsten, dem sparsamen Friedrich Wilhelm I, […] wurde die Kolonie an die Niederländer 1717/18 für 6000 Dukaten und die Versicherung 12 „Negerknaben zu stellen, von denen sechs mit goldenen Ketten geschmückt sein sollten“ (Generalstab 61) verkauft“. (Nechutnys: Vortrag zur kolonialen Geschichte Brandenburgs am 9. Dez. 2015, unveröff. Manuskript, Herv. tm). Im AK Postcolonial Potsdam recherchiert Nechutnys rassifizierende Repräsentationspraxen in entnannten Spuren kolonialer Geschichte in der Schlossanlage und im Stadtbild Potsdams. Ein Rondell mit schwarzen Figuren im Park Sanssouci, „ist nicht das einzige Symbol“, mit dem der „Einfluss der Vergangenheit auf die Gesellschaft der Gegenwart“ überdacht werden sollte (Nechutnys 2014), insbesondere angesichts kulturelle Events wie dem Sinterklaas-Fest, das blackfacing mit Tradition zu legitimieren versucht.
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ben“7 und den Sieg des Lichts, der Vernunft und der Weisheit über das Dunkel der despotischen Nacht dramatisiert und dabei in zeittypischem Humanitätspathos schwelgt, erweist sich die Oper auf den ersten Blick als eine optimistische Verarbeitung aufklärerischer Positionen; zugleich ist das Werk aber eines der kanonischen Beispiele für rassifizierende Repräsentation von Schwarzen/People of Colour in der Geschichte der europäischen Darstellenden Kunst. Deutlich wird dies in der Figur des Monostatos, der sich als Diener von Sarastro zunächst durch Grobheit, Dummheit und später Hinterhältigkeit auszeichnet und in dieser Hinsicht als Repräsentant unaufgeklärter Dunkelheit8 in die gesamte dichotome Struktur des Textes eingebettet ist: Despotie und Aberglaube – verkörpert in der Königin der Nacht – und das Licht der Weisheit, als dessen Agent der Priester Sarastro auftritt, bilden den Grundkontrast für die Oppositionen weiß/schwarz, Mann/Frau, Gut/Böse etc. In solchen Gegensatzpaaren vermittelt sich ein binär strukturiertes und konflikthaltiges Weltbild, in dem Aufklärung mit der Metapher des Lichtes als neues Zeitalter rationaler Weis(s)heit und Güte der despotischen schwarzen Nacht gegenüber steht. In der märchenhaften Anlage der Oper, in der die beiden Reiche des Guten und des Bösen um die Vorherrschaft über die Zukunft ringen, werden insofern kontrastreiche Bilder einer ‚klassischen‘ intersektionalen Verschränkung der Kategorien Gender und „Rasse“ produziert, die zudem über Stand/Klasse hierarchisiert ist: Die naturalisierende Repräsentation stellt eine ungehemmt von ‚natürlichen Trieben‘ gesteuerte Sexualität des Schwarzen Sklaven Monostatos vor, die nahezu zwangsläufig in den Versuch der brutalen Vergewaltigung des weißen, weiblichen schutzlosen, fast noch kindlichen Opfers Pamina führt, dessen ‚Unschuld‘ gerade noch, aber definitiv vom weißen Mann des Wissens/der Weisheit Sarastro gerettet wird. Zur Stereotype werden hier die Merkmale weiß, weiblich, unschuldig, hilflos, zart/jung, keusch und treu miteinander verknüpft und der Königinnentochter Pamina zugeschrieben, der als Kontrast der Diener Monostatos in der Verkörperung der jeweiligen Gegenmerkmale gegenübersteht: Schwarz, männlich, gewalttätig und v.a. lüstern, aber auch dumm und zugleich
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Hier in Hahn 2006; weiterhin zur Zauberflöte als Aufklärungsoper die Beiträge von Jan Assmann und Lisa Fischer im Katalog zur Mozart-Ausstellung Experiment Aufklärung im Wien des ausgehenden 18. Jahrhunderts in der Albertina in Wien (2006).
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Vgl. dazu Zeuske 2004 und Gilman 1982: 163–181. In seiner Studie On Blackness without Blacks zeichnet Sander L. Gilman die Herausbildung einer stereotypen Vorstellung von Dunkelheit und Schwarzsein als Bedrohung in ästhetischen Theorien und deutscher Literatur u.a. im 17. und 18. Jahrhundert nach (Gilman 1982: 19–34).
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verräterisch.9 Diese stereotypisierende Konstellation ist insofern sinntragend, als sie als pars pro toto im Gesamtaufbau der Oper aufgeht, die in ihrer Grundanlage durch eine ethisch-moralische Binäropposition strukturiert ist und zudem mit Natur-Metaphern wie Tag und Nacht, Licht und Schatten arbeitet, mit denen die Kategorien gender, race, class naturalisiert und zugleich zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Insbesondere in der Konfiguration von Pamina und Monostatos bedient sich die manichäische Anlage des Librettos eindeutig rassistischer Stereotype, zu denen im Europa des späten 18. Jahrhunderts der Topos des Schwarzen Mannes als Bedrohung weißer weiblicher Keuschheit als fester Bestandteil zählte.10 Rassifizierte und vergeschlechtlichte Körperkonzepte funktionierten dabei auch als Kategorien bürgerlich-nationaler – und damit verschränkt: kolonialer – Selbstkonstitution, wie Anette Dietrich erklärt: Vorstellungen weißer Weiblichkeit stellten sich über die Abgrenzung der Repräsentationen Schwarzer als keusch, rein und zivilisiert her. Schwarzen Männern wurde dabei ein triebhafter Sexualtrieb unterstellt. Wiederkehrendes Motiv stellt die Angst vor der Vergewaltigung der weißen Frau dar. […] Weibliche Körper spielten in der Entstehung von Kollektivkörpern wie ‚Volk‘ und „Rasse“ eine wichtige symbolische und politische Rolle. (Dietrich 2005: 365f)
In diesem Sinn gewinnt auch der Verlauf der narrativen Linie an Bedeutung, die mit einer noch unfertigen Grundopposition von Hell und Dunkel beginnt (Pamina/Tamino im Reich der Nacht, Monostatos als Diener Sarastros) und auf eine bereinigte ‚richtige‘ Aufstellung von Licht und Schatten zuläuft: einer gegenderten und rassizfizierten Ordnung, deren naturalisierte ‚Richtigkeit‘ sich mit dem Konzept ‚Familie‘ in einer heteronormativ ausgerichteten Fortschritts- und Zukunftsvision begründet: der Fortpflanzung der zusammengeführten weißen Nachkommen Tamino und Pamina. In dieses in mehrfacher Hinsicht binär und hierarchisch aufgestellte Grundgerüst ist jedoch eine gewisse Ambivalenz eingelassen. Denn gerade der Arientext, den Thomas in der Eingangsszene von Amo so emphatisch mitsingt, wirkt dessen stereotyper Eindeutigkeit entgegen und macht die Figur des Monostatos zu einem ‚wilden‘, aber menschlichen Charakter, der seine Einordnung als
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Das ‚Naturhafte‘ ist in der Stereotypisierung differenziert in das Weibliche und das ethnifizierte Andere und hierarchisch zueinander in Relation gesetzt.
10 Gilman erkennt in der Rolle des Monostatos über die degradierte Position des Dieners und Schergen in der Sozialstruktur der fiktionalen Welt der Oper hinaus auch dessen Individualität, die vor seiner Funktion bestimmt werden müsse (ebd.: 61–71).
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hässlich nicht akzeptiert und sein Recht auf Liebe als Mensch einklagt. Der musikalische Einsatz zu Beginn des Theaterstücks Amo verweist so auf Mozarts Zauberflöte als ein Werk der Aufklärung, das mit starken Stereotypen am Aufbau rassistischer Denkstrukturen beteiligt ist, zugleich aber die Figur des Schwarzen Sklaven durch die ihm zugeschriebene Liebesfähigkeit und damit Menschlichkeit ambivalent zeichnet. Monostatos, bei dem dunkle Hautfarbe zum Zeichen seiner „schwarzen Seele“11 eingeführt und naturalisiert wird, erhält einen ähnlichen Status wie die namenlose Königin der Nacht, deren Bösartigkeit sich in ihrem anmaßenden Handeln als Frau zeigt. Sarastros explizite Analogiesetzung zwischen der äußeren Erscheinung des Körpers und seines Charakter verweist nicht nur auf Vorstellungen von Schwarzsein in medizinischen und naturhistorischen Diskursen. Zumindest indirekt korrespondiert sie auch mit den Debatten um „den Körper als natürliches Zeichen der Seele“ (Fischer-Lichte 1993: 121), die die Entwicklung einer neuen Schauspielkunst begleiteten und vorantrieben. Dabei bezog sich das Prinzip der Analogie zunächst auf eine angenommene „Relation der Ähnlichkeit zwischen seelischen und körperlichen Veränderungen“ (ebd.: 125), die nicht zuletzt die Vorstellung einer ‚Natürlichkeit‘ der gestischen Zeichen gegenüber den sprachlichen (als willkürliche oder künstliche Zeichen) begründete und die programmatische Ausgestaltung eines neuen kinesischen Codes des Theater „als repräsentativem Sinnsystem der Aufklärung“ (Fischer-Lichte: 1999b: 117) untermauerten. Die Lehre der Physiognomik von Caspar Lavater unterstützte jedoch auch Ausdehnungen des Prinzips auf die Beziehung zwischen der äußeren, „festen Gestalt des Körpers und dem Charakter einer Person“ (Fischer-Lichte 1993: 125), gerade so, wie sie in Sarastros Aussage über Monostatos performativ zur Vor-Stellung kommt.12
11 Sarastro verjagt ihn mit folgenden Versen: „Weiß, dass deine Seele eben so schwarz als dein Gesicht ist. – Auch würde ich dies schwarze Unternehmen mit höchster Strenge an dir bestrafen, wenn nicht ein böses Weib, das zwar eine sehr gute Tochter hat, den Dolch dazu geschmiedet hätte. – Verdank es der bösen Handlung des Weibes, dass du ungestraft davon ziehst. – Geh!“ (Herv. tm). 12 Eine Entsprechung zeigt sich im kunsttheoretischen Diskurs des 18. und 19. Jahrhundert, für den Silke Wenk die diskursive Verschiebung von der ‚aussprechenden‘ Allegorie hin zum Symbol beschreibt, dessen Qualität in der „organischen Verbindung von Bedeutung und Form“ (Wenk 1996: 18) erklärt wurde (siehe ebd.: 15–44). Mit Fokus auf die plastische Darstellung des weiblichen Körpers fragt Wenk v.a. nach Naturalisierungen des Weiblichen in der Kunst.
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Abb. 2: Amo „Prolog“ (Videostill)
‚Anschwärzung‘ im Lichte der Vernunft Die Zauberflöte, wie auch der Beginn von Amo, arbeiten beide in spezifischer Weise mit Licht, das als Metapher für Aufklärung eingesetzt wird. Die Bilder der Oper verweisen auf ihren geistesgeschichtlichen Kontext im 18. Jahrhundert: Das dunkle Reich der Vormoderne wird durch das Licht der Vernunft vernichtet. Licht erhellt denn auch in Amo nach den ersten Takten der Musik die Bühne, auf der die Figur des Schauspielers Thomas sichtbar wird, der sich mit schwarzer Farbe dunkel(er) schminkt (Abb. 2): Hergestellt wird hier zunächst eine Gleichzeitigkeit und Parallelsetzung von zwei gegenläufigen Handlungen: Aufleuchten und Dunkelfärbung bilden in der musikalischen Klammer der Arie einen Kontrast, der mit Guido Hiß als Korrespondenzbedeutung genauer untersucht werden kann. Disparate Ausdruckselemente werden durch die Zuschauenden zu einem Zusammenklang verarbeitet, der über die Bedeutung der Einzelzeichen hinausweist (vgl.: Hiß 1993: 40). Unter der Voraussetzung, dass das aufgeblendete Licht als Zeichen (hier z.B. als Metapher für Aufklärung) wahrgenommen wird,
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kann es im kontrastierenden oder parallelisierenden Zusammenspiel mit der Arie und dem Blackfacing die Herstellung von (neuen) Sinnzusammenhängen in Gang setzen. Der verzögerte Einsatz des Lichts wird so lesbar als ein kommentatorischer Effekt des Widersprechens, der sich auf die Lichtmetapher der Aufklärung selbst bezieht. Denn statt Aufklärung im Glanze ihres Lichts vorzustellen, verweist die beschriebene Gegenläufigkeit auf die Ambivalenz der Aufklärung, insbesondere in Bezug auf ihre Praxen der „Anschwärzung der Schwarzen“, wie Walter Demel die Herstellung von Differenzwissen im 18. Jahrhundert treffend bezeichnete (Demel, zit. in Terkessidis 2004: 75). Der Akt des Schminkens zeigt Schwärzung als einen kulturellen Prozess durch Handlung(en) an und widerspricht damit der in der Oper behaupteten und stereotypisierten Naturhaftigkeit von Schwarz-Sein.13 Die Inszenierung von Differenzherstellung wird strategisch eingesetzt, um eine Markierungspraxis selbst zu markieren und auszustellen. Durch das helle Bühnenlicht wird hier ‚klar‘ gemacht (darüber aufgeklärt), dass Schwarze Schwarz gemacht sind. Und: Das „Licht der Aufklärung“ (Moderne) macht Schwarz, indem es Schwarz als (naturhaft) Gegebenes signifizierend markiert und auf diese Weise Vorgängigkeit von Unterschieden herstellt. Bereits im ersten Moment des Theaterstücks haben wir es mit unaufgelösten Widersprüchen der Aufklärung zu tun, auf die im weiteren Verlauf ‚Licht geworfen‘ wird: Entgegen einer dominant tradierten Konstruktion von Aufklärung, die natur- und vernunftorientiert universale Gleichheit im Mensch-Sein propagiert, wurden Menschen unterschiedlich gemacht (und behandelt).14 ‚Rollenfindung‘ heißt historisch betrachtet, dass das europäische Projekt der Moderne die Rollen für die außereuropäischen Anderen ‚findet‘, d.h. erfindet, und sie darin unterweist, ‚sich‘ in diesen zurechtzufinden. Die Lichtmetapher der Aufklärung wird zur Aufklärung der „Schattenseite der Aufklärung“ (Hentges 1999) reklamiert: Was vorher im Dunkeln lag, so vermittelt der Beginn, ist, dass Schwärzung als Rassifizierungsprozess ein kulturgeschichtlicher Vorgang ist, der im Kontext der Spät-Aufklärung, d.h. zur Zeit der Opernkom-
13 Frantz Fanon bringt diesen Herstellungsprozess in Abwandlung des Diktums Jean Paul Sartres – „Der Antisemit macht den Juden“ – auf die Formel: „Es ist der Rassist, der den Minderwertigen schafft“; Fanon 1980: 62. Zur Farbenkonstruktion im „Rasse“-Diskurs: Demel 2001. 14 Zum Widerspruch zwischen Aufklärungsphilosophie und Rassenkonstruktionen: Hentges 1999. Mit Fokus auf Kant: Piesche 2005; Fokus auf Hegel: Farr 2005; Hentges 2001, allgemeiner zu Rassismus und Rationalität bei Kant und Hegel: Melber 1989: 31–39; zur Geschichte der Rassenkonstruktionen in den naturwissenschaftlichen Disziplinen: Hundt: 2001.
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position, bereits in vollem Gang war. Er verlief nicht nur zeitgleich, gewissermaßen ‚parallel‘ zur Entwicklung der Moderne; ihre Konzepte Subjekt, Entwicklung, Bildung usw. sind konzeptuell aufs Engste mit dieser Schattenseite verbunden, denn sie entstehen im Wechselverhältnis mit den Rollen- und Identitätszuweisungen, die wiederum aus ihnen hervorgehen. Die in dem Theaterstück zentral diskutierten Themen (Differenzproduktion, Repräsentation und Zur-Schau-Stellung von Schwarzen im Theater und in akademischer Wissensproduktion werden in dieser widersprüchlichen Kombination von Rückgriffen auf ein kanonisiertes wie auch ‚vergessenes‘ Repertoire von Strategien der Rassifizierung bereits angedeutet und ironisch kommentiert: Der wohlkonstruierte Schwarz-Weiß-Kontrast der Oper inklusive seiner deutlich verbal vermittelten Wertung (weiß ist schön, schwarz ist hässlich), der in Amo als fertiger, (be-)stehender metaphorischer Gegensatz im Hintergrund abläuft, wird durch das Mitsingen von Thomas in den Vordergrund geholt und so in seinem Aufbau metonymisch vorgeführt: als performativer Akt. Die rassifizierende Inszenierung von Schwarz-Sein durch die Färbung von dunkler Haut mit Schminke oder Kohle wird in dem dialogischen Teil der Gesamtszene historisch kontextualisiert. Die Erläuterungen von Thomas und dem eingetretenen Regisseur führen das Publikum weit in die deutsche Kolonialgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts15, und beschreiben von dort aus eine fast 400-jährige Ausstellungspraxis von Differenz. An den Fürsten- und Königshäusern waren sog. ‚Hof- oder Kammermohren‘ Mode. Deren Aufgabe als Diener war erweitert um die Funktion, das exotische Andere zu präsentieren, mit dessen Verfügbarkeit sich ihre Besitzer schmückten. Dieser Praxis, die Menschen afrikanischer Herkunft an den europäischen Höfen eine Doppelfunktion von Dienst und Dekoration16 zuwies, folgte ab Mitte des 19. Jahrhunderts die demokratisier-
15 Den Verweis auf den sehr frühen Beginn der deutschen Kolonialgeschichte in Afrika liefert der Text/Skript mit der Anmerkung zur Verschleppung von Afrikanern nach Deutschland, um sie in Brandenburg zur Schau zu stellen. Die 1668 gegründete Kolonie Groß-Friedrichsburg (im heutigen West-Ghana) des Kurfürstentums Brandenburg (dazu: Klosa 2010: 29–62) gehört zu den ersten Kolonien der deutschen Kolonialgeschichte; der AK Postcolonial Potsdam (https://postcolonialpotsdam.wordpress.com) arbeitet seit Mai 2014 zur kolonialen Geschichte Brandenburgs und Preußens. 16 Die Reduktion gesellschaftlicher Rollen für Menschen afrikanischer Herkunft an europäischen Höfen auf die Verschränkung von Funktionen des Dienens und des Vorgezeigtwerdens findet ihr begriffliches Äquivalent in dem Terminus ‚Kandelabermohr‘: Als funktionsorientiertes Ausstellungsstück leistete dieser neben der Funktion als Schale oder Kerzenständer insbesondere seine Dienste als Dekorationsobjekt. Die
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te, popularisierte Form der Zuschaustellung von Menschengruppen nichteuropäischer Herkunft in den sog. „Völkerschauen“17 zu Zwecken der Volksbildung. Bei aller Unterschiedlichkeit der Form und der Adressaten dieser Zurschaustellungen des Anderen war ihnen doch das Ausstellen körperlicher Differenz – insbesondere der Hautfarbe – gemein, die ergänzt wurde durch die Präsentation kultureller Unterschiede, ausgedrückt in Kleidung, in Körperbemalungen und Darstellung von rituellen Handlungen wie Tänzen. Für dieses In-SzeneSetzen eines körperlich und kulturell Anderen wurden (und werden) solche Inszenierungsmittel eingesetzt, die zur Hervorhebung jener ausgesuchten Merkmale der Differenz besonders geeignet schienen. Die repräsentative Inszenierung der Unterschiede (an den europäischen Höfen, in der populären Völkerschau ebenso wie im Theater) ging dabei ein produktives Wechselverhältnis mit wissenschaftlich-systematisierenden Methoden ein, die objektive, weil rationale Erkenntnis behaupteten und damit die epistemologische Basis der Rassifizierung von Menschen lieferten. Während bei Amo der Akt der Inszenierung von Differenz (Verwendung von Schminke, Bastrock und Knochen) mit Verweis auf die rassistische Repräsentationsgeschichte von Nicht-Weißen im Theater- und Ausstellungswesen verhöhnt wird, metaphorisiert die erste Musik-Bild-Kombination im Akt des Schminkens zur Zauberflöten-Arie die Konstruktion von Schwarz-Sein nicht nur als kulturellen Prozess, der zur Zeit der Aufklärung stattfand – sondern als Prozess der Aufklärung selbst: Denn die Zur-Schau-Stellung von naturalisiertem Anderssein (an Adelshöfen, später in der Oper und in den „Völkerschauen“) basiert auf Unterscheidungen, die erst durch die Bildung von Differenz-Kriterien ermöglicht wurde. Differenzierung setzt Kriterien(er)findung zur Unterscheidung voraus, Unterscheiden schafft Unterschiede, Zeigen von Anderssein affirmiert die vorausgesetzten (als vorgängig erklärten) Unterschiede. Mit der Bildung von auf Identität und Unterschied basierenden Kategorien im klassischen Denken – hier dem wissenschaftlich systematisierten Begriff „Rasse“ – und empirischen Methoden, die auf Unterscheidung gründen, werden Vergleich und Klassifizierung von Menschen überhaupt erst möglich. Die Anordnung von Unterschieden macht eine ‚Ordnung der Natur‘ evident (vgl.: Foucault 1991). Die klassifizierende Ordnung von Menschen mit dem Begriff der „Rasse“, zu der die benann-
Objekthaftigkeit drückt sich im Besitztum aus: Eine Schale ‚hat‘ man, wie man Sklaven hatte. Zu dieser Form der Inszenierung von Afrikanern an Adelshöfen: Johannsen 2001, zur Diskussion der Funktionen von der höfischen Afrikaner: Firla 2004b; am Beispiel Angelo Soliman: Firla 2004a. 17 Zur Geschichte der Völkerschauen in Deutschland u.a. Thode-Arora 2001 und 2004.
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ten körperlichen Merkmale wie Hautfarbe etc. als Kriterien herangezogen wurden, begann mit dem Beginn der Aufklärung. Rassifizierung ist im Modus moderner Wissensproduktion selbst eingeschrieben. In der Zauberflöte als Kunstproduktion funktioniert Schwarz als konstitutive Kontrastfolie zur Konstruktion und Stabilisierung von Weiß. Dieses moderne Denken (in Wissenschaft, Kunst und anderen gesellschaftlichen Bereichen) entsteht im wechselseitigen Zusammenwirken von ökonomischen, technologischen, sozialen, philosophischen Faktoren, die die europäische Expansion seit der frühen Neuzeit ermöglichten (vgl.: Weimann 1997). Die Differenzbildung im Diskurs um „Rasse“ als konstitutiver Teil der europäischen Aufklärung/Moderne, die indirekt das ‚eigene‘ Weiße unmarkiert mitkonstruiert, wird in dem nonverbalen Prolog des Stückes mit dem verfremdenden blackfacing als kulturelle „Anschwärzung“ angedeutet. Das den Blick für die Unterschiede lenkende Licht (Bühnenlicht/Aufklärung) bleibt dabei jedoch ungesehen und unmarkiert.
blackface Das Tiefschwarz-Färben von Gesicht und Körper war nicht nur eine Praxis an europäischen Adelshöfen. Als diskriminierende Repräsentationskultur wurde blackface vor allem im 18. und 19. Jahrhundert in der US-amerikanischen minstrelsy unter Weißen populär 18. Zur Belustigung eines weißen Publikums schminkten sich weiße Künstler in varietéartigen Shows mit schwarzer Farbe das Gesicht, hoben dabei in clownesker Weise bestimmte Partien besonders hervor und stellten mit Musik und Tanz stereotype Figuren von Schwarzen dar: Plantagenarbeiter/innen und Hausangestellte wurden als fröhlich-singende, naive Sklaven verhöhnt, die ihre Besitzer trotz harter Arbeit liebten: Musikalisch, aber ungebildet, abergläubisch, faul und ignorant wurden sie in stereotypen Rollen gezeichnet, die bis in die Gegenwart noch in vielen amerikanischen Filmen überlebten (vgl. Hall 2002c: 245). Stuart Hall beschreibt zwei Grundmuster rassifizierender Differenzdarstellung, die auch in Minstrel-Shows am Aufbau stereotyper Naturalisierung von Schwarzsein beteiligt waren: „First was the subordinate status and ‚innate laziness‘ of blacks – ‚natually‘ born to, and fitted only for, servitude but […] stubbornly unwilling to labour […] Second was their innate ‚primitivism‘, simplicity and lack of culture“ (ebd.: 244). Dennoch agierten in dieser Theaterform v.a. nach dem Bürgerkrieg zunehmend auch AfroAmerikaner, die sich wie ihre weißen Kollegen mit Kohle schwarz schminkten.
18 Zur Geschichte der blackface minstrelsy: Lott 2013; Sow 2008: 163–164.
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Zwar bedienten sie ebenfalls jene Stereotypen; indem sie aber die diskriminierende Kultur der weißen Gesellschaft imitierten und sie ironisierten, findet in der Aneignung eine Umkehrung, eine Resignifizierung statt: Die bis dahin von Weißen zu ihrem Amüsement und auf Kosten von Schwarzen verwendeten Zeichen wurden nun neu besetzt. Auf diese Weise wurde die verhöhnende Kultur aufgegriffen und umgekehrt. Ein solches polemisches blackfacing – als doppelte Imitation – wird hier im ersten Bild ebenfalls aufgegriffen und mit der MonostatosArie im Hintergrund in Zusammenhang gestellt. Verwiesen wird zum einen auf die performative Produktion von rassifizierter Alterität, zum anderen aber auch eine Tradition des Widersprechens. Der markierte Körper wurde und wird in vielen Theaterformen als Zeichen von Differenz eingesetzt. Im Prolog von Amo wird Theater in seiner Funktion beim Aufbau, der Reproduktion, aber auch der polemischen Modifikation der Stereotypen und rassifizierter Differenz beleuchtet: Die Aufklärungsoper (Zauberflöte) wie auch das blackfacing stehen metonymisch für die bereits naturalisierte Opposition Schwarz-Weiß, in der Schwarz eben nicht ‚nur‘ gezeigt, sondern als Zeichen eingesetzt und produktiv wird. Der unreflektierte Einsatz von schwarzer Schminke, wie es nicht nur am Theater bis heute stattfindet, macht dies in eindrücklicher Weise deutlich: Das am Berliner Schlosstheater 2012 eingesetzte blackfacing in der Inszenierung Ich bin nicht Rappaport von Herb Gardener diente ausschließlich der Herstellung von Differenz, zu der (Haut-)Farbe als (geschichtsträchtiges) Zeichen eingesetzt wurde. Die Begründung des Theaterleiters Dieter Hallervorden unterstreicht dies mit der Behauptung, keine Schwarzen Schauspieler für die Rolle gefunden zu haben. Der angeblich ‚unschuldige‘ materielle Farbauftrag (Schminke) auf den Körper des weißen Schauspielers, um diesen als ‚anders als weiß‘ zu zeigen, kann aber seine Geschichte nicht verleugnen: Denn zum einen bleibt Hautfarbe selbst in der Verwendung als rassifiziertes Differenz-Zeichen auf der Bühne völlig unreflektiert. Zum anderen rekurrieren die Akteure mit dem Schminken, das zudem die stereotypen Überzeichnungen übernimmt, unweigerlich auf die Tradition der degradierenden blackface minstrel shows und die mitgetragenen Bedeutungen z.B. der Funktion zur Degradierung und Verlächerlichung. Auf diese Weise wird – wenn auch unbewusst – ein Repertoire rassifizierender Wissensbildung wieder aufgerufen und in bestätigender Weise revitalisiert. Gerade weil dies nicht intendiert war, wie Hallervorden immer wieder betonte, ist seine Verteidigung der Darstellungsform so fatal, da weiße Unbelehrbarkeit genau an dieser Stelle als Privileg hervortritt – als „Erfahrung, nicht ins Gesicht geschlagen zu werden“ (Frankenberg 1996: 55). Mit der privilegierten Position des Nichtmarkiert-Seins als Norm verbindet sich nicht nur die Vorstellung, selbst ‚nor-
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mal‘ und nicht ‚von Rassismus betroffen‘ zu sein, sondern auch die Macht, Andere mit Rassismus treffen zu können, ohne diese reflektieren oder wenigstens anerkennen zu müssen. In dieser unüberdachten ‚Norm/alität‘, in der blackfacing womöglich noch mit ‚künstlerischer Freiheit‘ legitimiert wird, stellt sich heraus, was Julia Lemmle im Rückblick auf die Diskussionen zwischen weißen Theatermachern und ihren Kritiker_innen von z.B. Bühnenwatch in der Berliner blackfacing-Debatte auf den Punkt bringt: Blackface ist nur ein Symptom. Will man über strukturellen Rassismus sprechen, ist Blackface als plastisches und konkretes Beispiel geeignet. Im Umkehrschluss gilt: Man kann nicht sinnvoll über Blackface sprechen, ohne über Rassismus zu sprechen. Jedes Gespräch über Blackface ist ein Gespräch über strukturellen und alltäglichen Rassismus, Kolonialgeschichte und Weißsein. (Lemmle 2013: 2)
Spiegel-Spiel mit ‚Selbst‘-Begegnungen Vor diesem Hintergrund möchte ich die beschriebene Schminkszene noch aus einer anderen Perspektive betrachten, indem ich diese erste dargestellte Begegnung als initiierende Begegnung von Thomas ‚mit sich selbst‘ lese: Denn während er sich zur ‚Rollenfindung‘ schwarz schminkt, betrachtet er sich in einem Theaterschminkspiegel – und der ist weiß. Dieser Konstellation möchte ich mich mit dem Konzept des screen nähern, das Johanna Schaffer mit Bezug auf die Filmtheoretikerin Kaja Silverman in seiner Bedeutungserweiterung erläutert: screen kann zunächst als „kulturelles Bildrepertoire“ übersetzt werden, mit dem Subjekte in Differenz konstituiert werden (vgl.: Schaffer 2008: 112f), erfährt jedoch mit Silverman eine Erweiterung auf „die Gesamtheit materieller Repräsentationspraktiken [und umfasst] ebenso […] die spezifische[n] Repräsentationslogiken einer gegebenen Gesellschaft“ (ebd. 113). Mit Schaffers Übersetzung von screen als „Feld der Sichtbarkeit“ wird der Fokus auf die Rahmung und den Rahmen gesetzt, der für die Betrachtung der Spiegel/Schminkszene von Interesse ist: Das Feld der Sichtbarkeit steht [..] für den Gesamtkomplex an Repräsentationsparametern und -praktiken sowie Weisen des Wahrnehmens und Wahrgenommenwerdens, die Sichtbarkeit und Lesbarkeit ebenso wie die Unsichtbarkeit und Unlesbarkeit bestimmen. Als Rahmen des Wahrnehmbaren, Sichtbaren, Intelligiblen bestimmt das Feld der Sichtbarkeit, wie die einzelnen sich als Selbst und als Subjekt wahrnehmen und wie sie die Welt und Realität als solche sehen. (Ebd.)
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Mit Silvermans Rekurs auf Lacans Beschreibung des Spiegelstadiums wird der Bezug zum Spiegel als subjektivierendem Medium der (Selbst-)Erkennung und Verkennung deutlich, wobei sie den bei Lacan eher geschichtslos gefassten screen als Instrument der Selbst/v/erkennung historisiert und zwar als die Instanz, „durch die der Blick einer bestimmten Gesellschaft definiert ist“ (Silverman 1996: 135, Übers. tm): screen als „kulturelles Bildrepertoire, das uns allen – ebenso wie die Sprache – innewohnt“ (ebd.: 221, Übers. tm). Nach Lacan formiert sich Subjektivität im Spiegelstadium: Ein Individuum ‚erkennt‘ sich im Spiegel als ‚Selbst‘, wobei es verkennt, dass das im Spiegel Sichtbare ein durch den Spiegel produziertes, technologisch vermitteltes und mit Silverman: ein in der Wahrnehmung normenstrukturiertes Bild ist, das als Selbst angenommen wird. Verkannt wird in der Anerkennung dieses Bildes als ‚Selbst‘, also in der Identifikation mit diesem produzierten Bild, nicht nur die „Mediiertheit, Alterität und Exteriorität dieses Bildes“ (Schaffer 2008: 113), sondern auch die normativ strukturierte Wahrnehmung durch den regulierten Blick. Jeder Spiegel […] ist ein screen bzw. Teil des screens. Er ist […] ein gesellschaftlich bedingtes Formatierungsinstrument, ein Medium der Bündelung historisch kontingenter ebenso wie struktureller Wahrnehmungselemente, das aber durch die Struktur des V/Erkennens charakterisiert ist, d.h. in Verkennung seiner Wahrnehmung formatierenden Eigenschaften als gänzlich neutrales Instrument gebraucht wird. (Ebd.: 114)
Die Mediiertheit des Spiegelbilds setzt sich also in der von Silverman als ‚screen‘ gefassten Instanz fort, die den Eintritt des Subjekts in das visuelle Feld sozial normiert. Mit Thomas’ Blick in den weiß gerahmten Spiegel findet daher nicht nur eine Wiederholung des Subjektivierungsprozesses im Szenario des Spiegelstadiums statt, sondern in gleichem Maße eine In-Szene-Setzung der Wirkmächtigkeit des screen als Feld der Sichtbarkeit und seiner weißen Rahmung. Reflektiert wird die Re/Formulierung des Schwarzen Subjekts (Thomas als Schauspieler). Sie funktioniert in der stetigen Wieder-(An)V/Erkennung des im Spiegel produzieren Bildes und seiner Identifizierung mit diesem zunächst als Schwarz; dies allerdings unter der Voraussetzung der stetigen Verkennung der Bedingungen dieser Subjektformulierung, die Silverman als gesellschaftlichhistorisch-technologisch bestimmt sieht. In der Theaterinszenierung fungiert der Spiegel also als Instrument zur Reflexion von Selbst/v/erkennung und damit der Subjektivierung in der Anerkennung des Selbst-Bildes, das – im Sinne des ‚screen‘ – ein von außen determiniertes normatives Bild gemäß der historisch gültigen „Repräsentationskoordinaten“ (Silverman 1996: 221, Übers. tm) ist; die Subjektivierung von Thomas als
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Schwarz fundierte auf der verkannten Unterwerfung unter den (hegemonialen) ‚neutral‘ behaupteten weißen ‚Blick‘ (von außen/anderen) oder mit Silverman: unter das „visuelle Regime einer bestimmten Gesellschaft“ (ebd.: 135, Übers. tm). Denn der Spiegel ist aber in diesem konkreten Fall weiß gerahmt: Das konkrete Feld von Sichtbarkeit ist als weiß gerahmt zu sehen gegeben, das Sichtbare als weiß gerahmt markiert. Im weißen Gerät Spiegel auf der Theaterbühne wird erkennbar: Es ist der ‚weiße Blick‘ (des Spiegels), der Thomas im Spiegel als Schwarz und männlich erkennt/subjektiviert. Mit der Auswahl eines weiß gerahmten Spiegels als Bühnenrequisit wird also transparent, dass/wie Thomas sich im weißen Spiegel als Schwarz v/erkennen müsste. Dieser weißen Formatierungsmacht entgegnet Thomas nun, indem er sich s/Schwarz schminkt und so seine Unterwerfung unter den hegemonialen Blick performativ ausstellt: Er führt den Schwärzungsprozess (selbst) durch und ‚erfüllt‘ so einerseits die Erwartungen des weißen Blicks: andererseits zeigt er mit seiner eigenen ironischen Ans/Schwärzung zugleich den Vorgang seiner Unterwerfung und den seines Widerstands. Er begegnet und entgegnet auf diese Weise dem screen mit dem performativen Vollzug dessen, was der weiße Blick ‚macht‘. ‚Verkennung erkennen‘ ermöglicht hier zunächst konkret, den Schwarz-machenden weißen Blick im Formatierungsinstrument Spiegel zu erwidern: ihn zu sehen/erkennen und auf ihn nachahmend/erfüllend zu reagieren. Thomas tut dies, indem er sein Schwarz-Bild-Selbst ebenfalls doppelt. – Die Dopplung als Selbst-Überformung ist insofern Persiflage: widerständiges blackfacing, in dem der Schwarz Markierte seine Markierung überakzentuiert. Thomas lacht dem Bild im Spiegel entgegen – und erkennt damit zunächst den weißen Spiegelblick als Gegenüber an, woraus eine Relation ableitbar wird, die Fanon in Schwarze Haut, weiße Masken beschreibt: „[D]er Schwarze ist nicht mehr nur schwarz, sondern er steht dem Weißen gegenüber“ – „Und dann geschah es, daß wir dem weißen Blick begegneten.“ (Fanon 1980: 71f)19 Geradezu als Vorlage für den Vorgang der Spiegelbild-als-Selbst-Anerkennung auf der Bühne liest sich das folgende Zitat von Fanon: „Ich maß mich mit dem objektiven Blick, entdeckte meine Schwärze, meine ethnischen Merkmale – und Wörter zerrissen mir das Trommelfell: Menschenfresserei, geistige Zurückgebliebenheit, Fetischismus, Rassenmakel, Sklavenschiffe […] und konstituierte
19 Diesen Blick beschreibt Fanon konkret in dem entdeckenden, hinweisenden und negativ-markierenden Blick eines weißen Kindes: „Sieh mal, …“ – „‚Schau doch Mama, der N[…] da, ich hab Angst!‘ Angst! Angst! Man fing also an, sich vor mir zu fürchten. Ich wollte mich amüsieren, bis zum Ersticken, doch das war mir unmöglich geworden.“ (Fanon 1980: 73)
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mich als Objekt.“ (ebd.: 73) Genau dies ist der Vorgang, der mit der Anerkennung des Spiegel-Bildes als ‚Schwarzes Selbst‘ passiert und dem Thomas als Schwarz markiertes Subjekt nun begegnet. Dabei ist das s/Schwarz-Schminken als eine Aktion zu verstehen, die sich an zwei Gegenüber/Gegner richtet: den weiß gerahmten Blick und an das ge/Schwärzte Subjekt: Thomas nimmt sein (weiß gerahmtes) Spiegelbild als Schwarzer an, erfüllt es sogar doppelt, indem er die Schwärze mit eigenen Händen bestärkt, und liefert singend die Wertung mit, die er den rassistischen Repräsentationskoordinaten des Kanons der weißen Aufklärung zitierend entnimmt: „weil ein Schwarzer hässlich ist“ – hier ist das Gegenüber der weiße Rahmen, der ihn konstituiert. Aber: Subjektiviert als Schwarz wird er zugleich widerständig aktiv und entlarvt sein Bild als geschwärzt, indem er es aktiv schwarz macht. Hier schimmert das ironisierende blackface wieder hervor: Die Verkennung erkennend entdeckt sich Thomas als sich schwärzend – die Schwärzung verhöhnend – neu. Der weiße Blick als „objektiver Blick“ wird noch einmal verhöhnt, indem der Knochen (Menschenfresserei) in einer karnevalesken Geste im wahrsten Sinne ‚oben drauf‘ gesetzt wird. Das Schwarze Subjekt blickt aktiv positionierend zurück. Thomas wird so als eine SchauspielerFigur eingeführt, die polemisch auf ihre Subjektivierung als Schwarz reagiert. Der Schminkvorgang als Selbstherstellung vor dem weißen Spiegel lässt sich vor dem Hintergrund des gesamten Theaterstücks, das die Repräsentation von Schwarzen explizit zum Thema macht, als subjektivierende Begegnung des Schauspielers mit ‚sich‘ (das hergestellt wurde) und dem weißen Blick (z.B. des Regisseurs) auffassen. Mit dem Vorgang des Sich-selbst-Schwärzens als Entgegnung des weißen Blicks wird nicht zuletzt die Vorstellung eines (dramatischen) ‚festen Subjekts‘ der Aufklärung mit der Auffassung einer Subjektivierung als Konstituierung durch Interpellationen/Blicke herausgefordert. Thomas als diesen Subjektivierungen wider-sprechende Figur eingeführt. Doch dieses widerständige Spiel mit dem konstituierenden Blick wird bald gestört durch den spielerischen Schreck durch den Tänzer, der Thomas’ Gegen-Blick unterbricht. Der ersten Begegnung mit dem weißen Blick folgt nun die Begegnung mit der weißen Hand (Abb. 3).
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Konfrontation mit weißer Hand Der Tänzer hat sich von hinten angeschlichen und hält ihm in einer spielerischen Erschreckungsgeste seine weiß behandschuhte Hand vor die Nase, d.h. zwischen den Spiegel und Thomas’ Gesicht. Die Geste wird durch einen Schrei ergänzt.20 Thomas’ ‚Spiegel-Spiel‘ wird unterbrochen, gleichzeitig auch das Mitsingen des Arientextes. In Thomas’ Sichtfeld zeigt sich die weiße Hand mit einem möglichen Zugriff auf sein geschwärztes Gesicht. Aus dem weißen (Spiegel-)Blick wird die weiße Hand. Der Schrecken des weißen Blicks, der im Theaterspiegel gerade verlacht wurde und dessen Bedrohungspotenzial gebändigt schien, wird mit der weißen Hand zu einer ‚handfesten Bedrohung‘. Auf die Bedrohung, der auf dem visuellen Feld gerade mit einer Umkehrung entgegnet wurde, folgt eine möglicherweise handgreifliche, körperliche Bedrohung, auf die Thomas mit einem Zurückweichen des Kopfes reagiert, ohne die Hand aus den Augen zu lassen. Sein Blick als Gegenblick wird dabei verstellt durch die bewegte, ihm zugewandte weiße Hand(schuh)fläche, und dies in dem Moment, als im Arientext der Vers „Mond, oh so mach die Augen zu“ zum dritten Mal wiederholt wird. Der weiße Mond (als weißer Blick) folgt Monostatos’ Aufforderung, die Augen zu schließen, also nicht, sondern verwandelt sich in weißes handgreifliches Potenzial des Zugriffs – aber nur im Spaß.
20 Dies ist zugleich eine weitere Anspielung auf die Zauberflöte, nämlich auf den Moment, in dem Monostatos und Papageno in ihrer ersten Begegnung gleichermaßen voreinander erschrecken. Gilman deutet diese Szene als Transformation der Angst in das Komische: Er geht von der These aus, dass u.a. in den ästhetischen Schriften Edmund Burkes eine Verbindung zwischen Angst vor und Terror der Dunkelheit als Quellen des Erhabenen hergestellt wird (Gilman 1982: 21–22) und dass somit der Affekt der Furcht nicht in der Natur von Schwarzen, sondern ihrer ‚Rezeption‘ durch Weiße erzeugt ist: „rather the fear engendered in the mind of Europeans by the very appearance of blackness“ (ebd.: 22, Herv. tm). Ähnlich wie die Begegnung der quasi buffonischen Mailänder Stephano und Trinculo mit dem ‚monströsen‘ Caliban in Shakespeares Sturm lässt die Begegnungsszene Monostatos – Papageno den Umschlag von Erschrecken ins Komische zu: „At this moment the category fear is transformed into comic. For the fearful Black is just as frightended as the appearance of the Vogelfänger“ (Gilman 1982: 66), dessen Selbstreflexion das Komische noch stärkt: „Bin ich nicht ein Narr, dass ich mich erschrecken ließ? – Es giebt ja schwarze Vögel in der Welt, warum dann nicht auch schwarze Menschen?“ (Papageno 14. Auftritt, Zauberflöte)
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Abb. 3: Amo „Prolog“, Schreck (Videostill)
Denn die weiße Hand, so stellt der sich umwendende Thomas fest, ist die des Schwarzen Tänzers. Dieser erschreckt Thomas im Spiel und verdeutlicht damit nicht nur, dass er Thomas schon eine Weile beobachtet hat (sein Blick des Schwarzen auf den dem weißen Blick trotzenden Schwarzen), sondern seinerseits ebenfalls weiße Attribute – Handschuh, Livree etc. – angenommen hat, und – wie Thomas – im Begriff ist, mit diesen zu spielen. Denn beide, das stellt sich kurze Zeit später heraus, sollen und werden in einem Theaterstück Schwarze spielen. Die erste Begegnung des Schauspielers mit dem Tänzer gestaltet sich aber zunächst als ein internes Spiel zwischen den beiden: einem, der dem (schwarz subjektivierenden) weißen (Spiegel-)Blick Contra bietet und einem, der seine Hand in einen weißen Handschuh gesteckt hat und sie – im Spiel – gegen seinen Mitspieler einsetzt. Die weiß behandschuhte Hand wird dabei als ein Fragment vor (Thomas’) Augen geführt, das den schwarzen Diener als verlängerten Arm des weißen Herrn markiert und damit zugleich fragmentiertes Weißwerden andeutet, das zu einer möglichen Bedrohung werden kann. Mit dem Handschuh, der hier zunächst auf die für den Tänzer in dem Theaterstück vorgesehene Rolle eines ‚Hofmohren‘ verweist, d.h. auf jenen Dienst, der bereits als Doppelfunktion zwischen Dekorationsobjekt und Diener beschrieben wurde, und zugleich auch typisch ist für die Ausstattung des blackface-minstrel, findet auf der gemeinsamen Spiel-Ebene ein Erschrecken statt, auf
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das Thomas mit (gespieltem) Zittern reagiert. Er greift damit das Zittern „angesichts des weißen Herrn“ (Fanon 1980: 43) auf, als dessen Handlanger der Diener hier erscheint. Fanon stellt seinem Buch Schwarze Haut, weiße Masken ein Zitat von Aimée Césaire voran, das dem Zittern eine Vieldimensionalität verleiht und es als Einprägung beschreibt: „Ich spreche von Millionen von Menschen, denen man geschickt das Zittern, den Kniefall, die Verzweiflung, das Domestikentum eingeprägt hat.“ (Césaire zit. nach Fanon 1980: 7) Hier steht das Zittern in engster Verbindung mit dem Kniefall und dem Domestikentum, das ja gerade in der weiß bekleideten Schwarzen Hand eine deutliche Analogie für die Metapher der weißen Maske ist, mit der die Schwarze Haut kaschiert wird. Sie steht für den „eingeprägten“ (Césaire) Wunsch des Schwarzen nach WeißWerdung. Fanon nennt dieses (individuelle) Verhalten aus einem verinnerlichten – man könnte sagen: ‚in die Haut gefahrenen‘ – epidermisierten kollektiven Minderwertigkeitsgefühl heraus auch „halluzinatorische Laktifizierung“ (ebd.: 66): „Die Rasse weiß machen, die Rasse retten.“ (ebd.: 34) Dieses Streben des Schwarzen, weiß(er) zu werden, sich „dem wahren Menschen an[zu]nähern“ (ebd.: 13), praktiziert er, in dem er die Sprache und Kultur der Kolonisatoren, die „Kultur der Metropole“ (ebd.: 14) perfekt lernt und annimmt: „Er wird desto weißer sein, je mehr er seine Schwarzheit, seinen Busch verleugnet.“ (Ebd.) – Doch in der essentialisierenden Optik des Kolonialismus und Rassismus erscheint der Schwarze trotz aller Anpassungsanstrengungen bestenfalls: „almost the same, but not quite“ (Bhabha 1995: 86): Die rassistisch behauptete Differenz, so Homi Bhabha, ist im kolonialen Diskurs wesenhaft, das kolonisierte und rassifizierte Andere ist „almost the same, but not white“ (ebd.: 89, Herv.: tm). Denn die ‚Weißwerdung‘ ist immer nur partiell und im Rahmen kolonialer Vorgabe möglich. Der Kolonisierte ist fragmentiert. - Fanon führt das Problem des Strebens nach Weiß-Werdung als Spaltung ein: „Der Schwarze hat zwei Dimensionen. Die eine mit seinen Artgenossen, die andere mit dem Weißen. Ein Schwarzer verhält sich zu einem Weißen anders als zu einem anderen Schwarzen. Daß diese Spaltung die unmittelbare Folge des kolonialistischen Abenteuers ist, daran besteht kein Zweifel.“ (Fanon 1980: 13) In dieser Hinsicht ‚fragmentiert‘ tritt der weiß behandschuhte Tänzer, der den Schwarzen Diener spielen soll, vor den sich fragmentarisch schwärzenden Thomas und erschreckt ihn mit dieser weißen ‚Hand‘maske. Das Zittern ist so lesbar als ein Zittern vor der weißen Maske des Schwarzen, aber auch als eines desjenigen, der dabei ertappt wurde, als er dem weißen Spiegelbild in durchaus widersprüchlicher Weise Paroli bietet: Denn neben der Polemik, die bereits beschrieben wurde, bleibt der Schwärzungsprozess als weißes Handeln mit den Händen eines Schwarzen weiter bestehen. Mit dem Anmalen macht sich Thomas
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selbst s/Schwarz und entspricht im Effekt damit dem, was der weiße Blick ohnehin aus ihm macht und in der Geschichte auch tatsächlich in unterschiedlicher Funktion passierte. Sein Handeln ist daher ein weißes Handeln, das heißt, er handelt als (‚Fast‘-)Weißer bzw. als Schwarzer, der weiße Haltung annimmt (wie der Diener mit weißem Handschuh) – der weiße Blick wird eigenhändig in die Tat umgesetzt – der Schwarze nimmt die Kultur seiner Kolonisatoren perfekt an. Der Tänzer hält, so gesehen, Thomas die weiße Hand als sein eigenes Fragment vor Augen und spielt dies als eine mögliche Bedrohung aus. Die Ambivalenz, die Bhabha (1995: 86) für Mimikri beschreibt, spielt sich hier nicht zuletzt in den permanent möglichen Perspektiv-Wechseln ab, die zugleich ein Verrutschen des Blicks provozieren. Der Effekt von Mimikry, so Bhabha ist solches Ausrutschen: „in order to be effective, mimicry must continually produce slippages“ (ebd.). Im folgenden Verlauf dreht sich Thomas um und blickt seinem Gegenüber – verwundert – ins Gesicht, als sei dieser nun sein Spiegel, der dieses Mal nicht weiß ist und ihm auch kein geschwärztes Gesicht als ‚Selbst‘ bietet, sondern ihn ‚nur‘ lachend anspielt bzw. ihn per Blick zum Tanz/Ringelreihen auffordert, dem Thomas folgt. Das Spiel endet in gemeinschaftlich polemischem Einvernehmen. Als kritisch-ironischer Meta-Kommentar auf das gesamte Stück greift das beschriebene non-verbale Vorspiel nicht nur auf tradierte Praktiken signifizierender Repräsentation in und mit der darstellenden Kunst zurück und verweist indirekt auf Praktiken der Signifizierung in der Wissensproduktion, sondern setzt sich zudem polemisch damit auseinander, wie viel komplexer Widersprechen ist, als es der weiße Regisseur mit seinem Stück über den Akademiker im 18. Jahrhundert seinen Spielern glauben machen will.
INSZENIERUNG VON DIFFERENZ: UNIVERSITÄT UND THEATER Den zwei Zeitebenen des Stückes sind zwei Räume der Öffentlichkeit zugeordnet, in denen Rassifizierungspraxen der Vergangenheit und der Gegenwart dargestellt werden: die Universität des 18. Jahrhunderts und das Theater des 21. Jahrhunderts. Diese zwei Institutionen ergänzen einander in ihrer Funktion und der Praxis des bezeichnenden Zeigens und der Bedeutungsproduktion in der ZurSchau-Stellung: Die Universität als Ort der Wissensbildung stellt Differenz u.a. mit der Kategorie „Rasse“ als theoretisches und methodisches Wissen her, mit dem Konstruktionen zur ‚Ordnung der Natur‘ vorgenommen und in Tableaus und Modellen visualisiert werden (können). Wie zum Beweis der als vorgängig deklarierten Differenz (z.B. von Menschen) dient diese Zur-Schau-Stellung von
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ausgewählten Objekten, die entlang (mit den Augen) erkennbarer Merkmale unterscheidbar gemacht werden. Das Theater, im bürgerlichen Sinn konzipiert als Ort der Vermittlung und Begründung von Normen und Normalitäten des Gesellschaftlichen, besetzt solche ‚Erkenntnisse‘ und Ordnungen zum einen mit Werten und reproduziert dieses Wissen im Rahmen der Aushandlung von Wertvorstellungen in fiktiven Konflikten. Zum anderen aber bildet Theater als Praxis ebenfalls ein methodisches und praktisches Wissen aus, mit dem Differenz produziert und naturalisiert wird, wie am Beispiel des blackfacing und der Reduktion auf sog. Exotenrollen im Stück verhandelt wird.
Abb. 4: Amo „Konfrontation“, Szene 6 (Videostill) Zwei Szenen der Vergangenheitsebene stellen diese reziprok funktionierende Wissensproduktion und ihre Verfahrensweisen aus, wobei die performative Schnittstelle des theatralen und akademischen Zeigens und Vorstellens v.a. in der Anlage einer Vortragssituation in Szene „Konfrontation“ (6) erkennbar wird. Diese lässt die universitäre Plattform zur Bühne der rassifizierenden Platzzuweisung bzw. Platzverweisung werden: Mit Hilfe eines Stehpults, vom dem aus das Publikum als „Herren Studenten“ direkt angesprochen wird, verwandelt sich der Theaterraum in einen universitären Vortragssaal, in dem die Zuschauer_innen mit zwei Vorträgen ‚belehrt‘ werden. Von zwei grundverschiedenen Positionen der Erkenntnisproduktion aus widmen sich beide einem zentralen Diskurs der Aufklärung: dem Menschen. Prof. Johann beginnt mit einer Rede über „die Verschiedenheit im Menschengeschlecht“, in der er mit einer Einteilung der Menschheit in „Rassen“ und einer Spezifizierung Schwarze als „prädestiniert […] für die Sklaverei“ erklärt. Ich werde diesen Redebeitrag im weiteren Verlauf näher betrachten. Amos Vortrag wendet sich einem Kernproblem der Philosophie des Geistes im 17. und 18. Jahrhundert zu – dem Verhältnis von Körper und Seele. Seine
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These von der Apathia, der Empfindungslosigkeit der menschlichen Seele, die er (mit dem Satz des Widerspruchs) aus der Trennung von Körper und Seele schließt21, weist den Schmerz dem Körper zu, wofür er in dem Vortrag exemplarisch die Aussage eines Kurfürsten anführt. Amos Zweifel an Descartes’ Vorstellung einer gegenseitigen Einflussnahme von Körper und Geist führt in der Vortragsszene zu einem plötzlichen Eingriff des Professors Johann: Wild gestikulierend stürzt er aus seiner Seitenposition hervor und bezichtigt Amo in lautstarkem Ton der Beleidigung an Descartes – und damit an ‚uns‘. Heinz/Johann:
Habt Ihr gehört, dieser Mohr wagt es, Descartes zu widersprechen! Er wagt es, uns zu beleidigen! Ein Mohr! (Amo 17)
Amo antwortet auf Johanns Zurechtweisung mit einem Verweis auf seine Dissertation „Über die Rechte der Mohren in Europa“, in der er auf die substantielle Gleichheit aller Menschen und auf den Umstand hingewiesen habe, dass Akzidenzien wie Hautfarbe, Lippenbildung und Nasen- oder, wie bei den Chinesen Augenform, nichts über Verstandesgaben, sittlich-moralisches Empfinden und Rechtsfähigkeit auszusagen vermögen. (Ebd.)
Im Anschluss daran geht er diagonal über die Bühne in einer Körperhaltung ab, die ich mit ‚aufrecht‘ umschreiben möchte: ohne Triumph mit Würde, aber dennoch mit dem Wissen um die Demütigung, der er die Verweigerung der weiteren Diskussion entgegenhält. Dieser Abgang gestaltet bereits in der Mitte des Stücks den ersten Bogen der Vergangenheitsebene als einen tragischen Schluss, der das Ende der gesamten Erzählung vorwegnimmt. In seiner verbalen Entgegnung widerspricht Amo seinem Vorredner Prof. Johann und argumentiert mit Aristoteles gegen eine auf visueller Erkennbarkeit und der Fokussierung auf Äußeres beruhende empirische Verfahrensweise zur Unterscheidung von Menschen, in der Wissen über die Worte hergestellt wird, mit denen das Sichtbare in eine bedeutende Anordnung gerückt wird. Mit seinem Abgang nach dieser Zurückweisung der Zurechtweisung lässt er Johann (und mit diesem alle weiteren Zuhörer und Zuschauer dieser „Konfrontation“) ‚stehen‘. Stehen geblieben ist auch die unverhältnismäßig wirkende laute und grobe Reaktion Johanns, die auf eine stra-
21 Die Vorgehensweise des Schließens ist eine Beweisführung, in der jeder Begriff im Vorfeld genau definiert und jedem Satz in seiner Bejahung und seiner Verneinung gefolgt wird; vgl. Edeh 2003: 39–42.
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tegische Umkehrung zugeschriebenen Verhaltens zivilisiert/unzivilisiert hindeutet. Nicht nur die körperliche Ausdrucksweise des weißen Professor wird so mit dem Attribut „unzivilisiert“ besetzt. Seine im Gesamttext so prominent verortete und maliziös vorgetragene Theorie erscheint vormodern und ohne jede Zivilität. Die ihr zugrunde liegende Re/Signifizierungspraxis wie auch ihre theatrale Darstellung wird im Folgenden Thema sein. Mein Ziel ist dabei, die Ambivalenz herauszuarbeiten, in der diese Darstellung als Enthüllung oder Anzeige verwickelt ist. Denn vergleichbar mit dem „kritische[n …] Diskurs über hate speech“ handelt es sich auch bei diesem Rückgriff auf den „Rasse“-Diskurs des 18. Jahrhunderts um „eine Reinszenierung der Performanz der hate speech.“ (Butler 2006: 29) Das heißt, mit der Inszenierung, in diesem Fall der in Szene gesetzten Wiederholung dessen, wogegen gesprochen werden soll, findet eine „paradoxe Verdopplung“ (ebd.: 204) statt, mit der sich das Theaterstück auf der einen Seite „in einer selbstgemachten zirkulären und imaginären Produktion [verstrickt]“ (ebd.: 205). Andererseits widersetzt es sich aber einer „Kodifizierung der Erinnerung“, in der normativ geregelt ist, dass „von historischen Ereignissen nur in einer bestimmten Form berichtet werden“ soll. (ebd.: 207) Anhand der Rede des Prof. Johann werde ich die im Stück zentral22 platzierte Rekonstruktion rassistischer Wissensproduktion sowie die Strategien ihrer Darstellung genauer betrachten und gehe damit ein ähnliches Risiko der Verdopplung ein. Zur Analyse der konkreten Wissensbildung und seiner theatralen Inszenierung zur Sichtbar- und Sagbar-Machung von etwas De-Thematisiertem, Verstecktem oder Verdrängten sind Wiederholungen unvermeidbar. Das Dilemma des Geschichte-NeuSchreibens im Bemühen darum, Prozesse der Verstummung nachzuzeichnen, überträgt sich auf deren kritische Reflexion.
22 Die Zentralität der Thematik wird u.a. an der prominenten Position der Szenenfolge 6/7 im Textgefüge erkennbar, in der es zum einen um wissenschaftliche Forschungsarbeit zum Thema Mensch – genauer: die Verschiedenheit von Menschen – wie auch um die Erkenntnismethoden geht, die zum anderen die Frage nach der Herstellung von Bedeutung durch semantische Verknüpfungen einschließt. Die Szene 6 zeichnet sich zudem dadurch aus, dass in ihr einmalig für einen längeren Zeitraum strategisch die vierte Wand aufgebrochen und das Publikum mit verhältnismäßig langen Textpassagen direkt in das Geschehen auf der Bühne mit einbezogen wird.
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An/Ordnung des sagbaren Sichtbaren Auf der Bühne richtet sich Prof. Johann mit seinen „aktuellen Forschungsarbeiten“ an die Zuschauer_innen, die er als Studenten der Universität anspricht: Wie Sie wissen, unterscheiden sich die menschlichen Rassen hinsichtlich körperlicher Merkmale wie Hautfarbe, Form der Nase, Struktur der Haare, und auch hinsichtlich besonderer Charaktereigenschaften wie Intelligenz, moralisches Empfinden, Sensibilität usw. … Es gibt vier Menschenklassen: Europäer, Asiaten, Indianer und Mohren. Unter diesen Menschenklassen ist der Mohr durch eine Besonderheit ausgezeichnet: Sie sind mit mehr Unempfindlichkeit gegen Schmerzen und ungerechte Behandlung ausgestattet als die anderen. Das prädestiniert sie meines Erachtens für die Sklaverei. Im Übrigen besitzen die Mohren – wie schon zu Beginn des Vortrags angedeutet – eine verminderte psychische Sensibilität. Diese findet ihren Ausdruck in der schwarzen Farbe ihrer Haut, denn auf Grund dieser Farbe können sie ihre inneren Regungen nicht kundtun. Der weiße Mensch hingegen kann das sehr gut, weil sein Innerstes durch seine Haut hindurch scheint, da diese ungefärbt ist. Der weiße Mensch kann zum Beispiel erröten. Der Mohr kann das nicht. Ergo: Der wahre Mensch ist der Weiße … (Amo 16)
Was hier im Beisein des Schwarzen Kollegen Dr. Anton Wilhelm Amo vorgetragen wird, ist ein Pars-pro-toto-Arrangement von Schnipseln eines modernen, wissenschaftlichen Diskurses über „Rasse“23, den Wissenschaftler der Aufklä-
23 Die Kartierung von Menschen mit einem modernen Konzept „Rasse“ begann mit Francois Bernier 1684. Auch wenn Berniers Vorschlag, „die gesamte Erdbevölkerung in lediglich vier bis fünf Großgruppen zu gliedern“ und bei dieser Einteilung nach somatischen Kriterien vorzugehen, dem Gebrauch des Begriffs „race“ als naturgeschichtlicher Ordnungskategorie vorausgeht, betrachtet Antje Sommer diesen als ‚Beginn‘ dessen, was in ständiger Zitation das Vokabular um Race, ihre Gegenstände, ihre Wissenseffekte als ‚Fakten‘ wie auch die Instrumente der Wissensproduktion hervorbrachte; vgl. Sommer 1984: 142. Johanns Vorlesung verweist direkt oder indirekt auf folgende Publikationen: Blumenbach, Johann Friedrich: „Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte“ (1798); Samuel Thomas von Soemmerrings „Über die körperliche Verschiedenheit des Mohren vom Europäer“ (1784); Carl von Linné: Systema Naturae (1735) und Immanuel Kant: „Von den verschiedenen Racen der Menschen“ (1775). Die jeweils unterschiedlichen Systematisierungen in drei, vier oder fünf verschiedene Gruppen und dazu entworfene Farbsystematiken
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rung wie Blumenbach, Linné, Montesquieu, Hume, Voltaire, Lavater, Kant und Hegel u.a. zur „Systematisierung menschlicher Erscheinungsformen“ (Sommer 1984: 142) geführt haben.24 Der Professor trägt hier also ein Diskursbündel vor, das die Zuschauer_innen ins ‚Herz der Finsternis‘ der Aufklärung führt, und nicht, wie manche glauben mögen in die Zeit der Voraufklärung.25 Das Entsetzen, das die Zuschauer_innen der Szene befällt, liegt in der systematischen Zuordnung nach dem Prinzip der Evidenz: Bedeutung wird über die Verknüpfung von Sichtbarem mit Worten produziert; das Zu-Sehen-Wichtige (das Sehens-Würdige) wird definiert und erklärt. Durch Benennung des ‚Sichtbaren‘ wird dieses performativ auf etwas eingeschränkt und fixiert. Der Körper selbst und seine Unterschiede waren für alle sichtbar, und lieferten auf diese Weise den ‚unwiderlegbaren‘ Beweis für eine Naturalisierung rassischer Differenz. Die Repräsentation von ‚Differenz‘ durch den Körper wurde zum diskursiven Ort, über den ein Großteil dieses ‚rassisierten Wissens‘ produziert und in Umlauf gebracht wurde. (Hall zit. in: Ahmed 2005: 271)
veranschaulicht Immanuel Geiss in einer Übersicht, in der zeitliche Verortungen wie auch Modifizierungen der jeweiligen „Rasse“-Konzepte erkennbar werden (Geiss 1988: 142f); Kurzbeschreibungen der Theorien siehe: Conze 1984: 146–179. 24 Aus einer zunächst uneindeutigen (vor-)theoretischen Idee, die selbst nicht den Beginn eines Diskurses setzt, sondern mit der ersten Benennung in einen bereits vorhandenen/vorherigen Diskurs eingreift und diesen verschiebt, bildet sich durch die Vielzahl an Referenzen und unterschiedlichen Bezügen von immer mehr Wissenschaftler_innen, die sich zunächst auf Reiseberichte und zunehmend aufeinander stützen, aus der Bezeichnung ein Konzept. In weiterer Benennung und Unterscheidung von anderen Benennungen entsteht ein Wahrheitseffekt (z.B. von „Rasse“), vgl.: Eze 1997: 6f. Exemplarisch lässt sich so eine Debatte zwischen Lavater und Lichtenberg bei Sander L. Gilman (Kapitel 4) nachlesen (1982: 49–56). Die Apparate, die legitimiert sind, Wissen herzustellen, stabilisieren den erzeugten Wahrheitseffekt nachhaltig: Das ‚Wissen‘ steuert Denken und selbst Wahrnehmung. Die Konstruktion „Rasse“ wirkt fast 400 Jahre später trotz aller wissenschaftlicher Widerlegungen des Konstrukts weiter. 25 Diese Annahme wurde auch in einem Publikumsgespräch nach einer Aufführung in Wittenberg im Juli 2006 formuliert. In Anlehnung an Gudrun Hentges’ Untersuchung zur Darstellung von Juden und ‚Wilden‘ in philosophischen Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts verwende ich Schattenseite der Aufklärung (Hentges 1999) zur Differenzierung einer positiv besetzten Aufklärung; die Anspielung auf Joseph Conrads Novelle deutet auf die Verstrickungen mit dem Kolonialismus hin.
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Folge ich dem Vortrag von Johann mit Michel Foucault, so wird die Anordnung eines bestimmten sagbaren Sichtbaren in einem bestimmten Repräsentationssystem deutlich, das mit Namen und mit einer eigenen Überschaubarkeit operiert. Die Evidenz, die hier produziert wird, beruht auf einer Methode der Unterscheidung, die Foucault dem klassischen Denken, der Episteme26, zuordnet: „Die Aktivität des Geistes [… besteht darin …] zu unterscheiden: das heißt, die Identitäten festzustellen“ (Foucault 1991: 88) und damit Ordnungen herzustellen, mit denen die Ordnung der Natur abgebildet und sagbar werden kann. Die Grundlage des gesamten diskursiven Vorgangs, der die Unterteilung der Menschen in „Rassen“ mit all ihren Konsequenzen überhaupt ermöglichte, ist eine Wissenschaft der Ordnung, die Foucault von einem vorangegangenen Denken in Ähnlichkeiten27 unterscheidet. In der Episteme wird ein Raum der Empirizität gebildet, in dem der Vergleich in Maß und Ordnung, Einheit und Differenz, Analyse, Einteilung und Klassifizierungen sowie ihre sichtbare Anordnung u.a. in tableaux möglich und notwendig wird, soll das Beschriebene den Status anerkannter Erkenntnis erhalten. In dem Vortrag werden die zur Klassifizierung notwendigen Kategorien bereits als geradezu plastische Größen vorgestellt, deren ‚Sichtbarkeit‘ und sogar eigenständige Handlungsfähigkeit als Effekt einer sprachlich hergestellten Faktizität erkennbar wird: In der konsensorientierten Ansprache – „Wie Sie wissen“ – werden „die menschlichen Rassen“ mit der Voranstellung des bestimmten Artikels als vorgängig präsentiert. Die Formulierung „unterscheiden sich“ verlagert den Akt der Unterscheidung von den Akteuren der Wissenschaft auf die von ihnen hergestellten Einheit: „ Rassen“ werden als eigenständig handelnde, quasi sichtbare Akteure vorgestellt. Die Beobachtung mit dem Auge und den optischen Instrumenten (Mikroskop, Teleskop) gewinnt im 17. Jahrhundert im Zuge der empirischen Erkenntnisgewinnung an Priorität, aber sie arbeitet „mit systematisch negativen Bedin-
26 Die Herausbildung dieser Episteme lässt sich bereits auf den Zeitraum zwischen 1580 und 1650 rückverfolgen; vgl. Ruoff 2007: 106. 27 Mit diesem epistemischen Umbruch tritt an die Stelle des bis dahin angenommenen Entsprechungsverhältnisses zwischen Worten und Dingen (aber auch Dingen und Dingen) die (bis heute dominante) Vorstellung relationaler Differenzbeziehungen. „Die Ähnlichkeit stellt die maßgebliche Beziehung dar, die zwischen den Dingen der Naturgeschichte am Ende der Renaissance zu verschwinden beginnt. Sie knüpft zwischen den Naturdingen unsichtbare Beziehungen, die auf deren Oberfläche als Zeichen (Signaturen) erscheinen. […] Die inneren Kräfte der Dinge manifestieren sich in äußeren Kennzeichen, wobei es eine gewisse Verwandtschaft zur antiken Physiognomik gibt.“ (Ruoff 2007: 61)
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gungen“, die das Feld des Sichtbaren (neben seiner Erweiterung) auf das Sagbare eingrenzen (ebd.: 174). Die Naturgeschichte, so Foucault, ist „die Organisation eines bestimmten Sichtbaren als Gebiet des Wissens“ (ebd: 204, Herv. tm) und eine „fundamentale Anordnung des Wissens, das die Erkenntnis der Wesen nach der Möglichkeit anordnet, sie in einem System von Namen zu repräsentieren“ (ebd.: 203). Die Beziehungen der Dinge werden in vergleichenden Relationen angeordnet, um sie beweisbar und beschreibbar zu machen, ihnen Evidenzen aufzuerlegen, die einer Logik der Zeichen folgen und das Sichtbare in neuer Form organisieren. „Die Naturgeschichte ist nichts anderes als die Benennung des Sichtbaren.“ (Ebd.: 173) Dazu muss sie „die Sprache dem Blick sehr nahe zu bringen und die betrachteten Dinge möglichst in die Nähe der Wörter zu rücken“ (ebd.). Um die Ordnung der Natur erkennbar zu machen, werden die Zeichen als Repräsentanten der Dinge in sichtbare Ordnung (Raster, Schemata, Tableaus) gebracht: „Es handelt sich um die Möglichkeit, das zu sehen, was man wird sagen können, was man aber nicht in der Abfolge sagen könnte, noch in der Distanz sehen könnte, wenn die Wörter und Sachen in ihrer Unterscheidung voneinander nicht von Anfang an in einer Repräsentation kommunizierten.“ (Ebd.: 171, Herv. i. O.)
Ohne ein ganzes Tableau im Linné’schen Format 28 mit allen möglichen Unterschieden und Identitäten vorstellen zu müssen, genügt in dem Vortrag des Theaterstücks lediglich die Aufzählung verschiedener „Menschenklassen“ (sic!) zur Bildung eines Rasters, das die Merkmale an ‚ihren Platz‘ gleiten lässt, um den Zuhörenden die Entsprechungen in den Zuordnungen vor Augen zu führen und ihnen die Schlüsse evident erscheinen zu lassen: die Legitimation zur Sklaverei aufgrund ‚natürlicher Eignung‘ im ersten Schritt (aus der zugleich eine ökonomische Motivation des Tableaus erschließbar ist), der im zweiten eine Deklassierung zu ‚unwahren‘ Menschen (Amo 16) folgt. Dieses Vor-Augen-Führen mit der Sprache wird schließlich in der Performance mit zeigenden Blicken von Johann auf Amo und den Diener Rudolf Mohr visuell-performativ unterstützt (Abb. 4), so dass die beiden zu Vorführobjekten degradiert werden. „Rasse“ wird plastisch und ‚wahr‘. Der zweifach promovierte Amo wird per Blick seines Platzes als Akademiker verwiesen bzw. an den Platz, der ihm in dem Vortrag als rechtmäßig zugewiesen wird: auf die Plantagen …
28 Foucault zufolge war Linné der Auffassung, „daß die ganze Natur in einer Taxonomie erfaßt werden kann“ (Foucault 1991: 166).
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Enthüllen und Anzeigen: Risiken einer Gegenstrategie Die szenische Vorführung dieser Evidenzlogik29 funktioniert in der Wiederholung jener kolonialrassistischen Sprache, mit der Philosophen wie Lavater, Soemmering, Kant, Hegel, Voltaire eine ‚natürliche‘ Überlegenheit der Europäer begründeten und Sklaverei legitimierten (vgl.: Hentges 1999; Gilman 1982). Zur Unterbrechung dieser Logik arbeitet die Produktion mit einer Strategie der Enthüllung und Anzeige, mit der die Sprache der ‚Täter‘ selbst gezeigt, skandalisiert und zur Anklage gebracht werden soll. Es ist der Versuch, die evidenzproduzierende markierende Zur-Schau-Stellung als Rassifizierungspraxis selbst zur Schau und damit zur Debatte zu stellen, oder anders: zur Anzeige zu bringen. Zum Vorschein kommen Diskurse der Aufklärung, die in aktuellen Sprechweisen mit und über Aufklärung weitgehend verschwiegen werden. Die Auslassung dieser Schattenseiten und die damit erzeugte (notwendige) Widerspruchsfreiheit verleiht diesem Sprechen seine unangefochtene Autorität. Die Theaterproduktion wirft die versteckten Widersprüche auf und reagiert auf sie, indem sie die Rede Johanns mit zwei Erklärungsmustern ausstattet: Zum einen bestätigt der Vortrag eine „Vormodernitäts-These“30, die anti-moderne „Reste ‚eigentlich‘ vergangener, längst überwundener (Ir-)Rationalitäten mitten in der Moderne“ (Magiros 2004: 5) konstatiert: In der selbstgefälligen Positionierung des Weißen zum „wahren Menschen“ (Johann in Amo 16) schwingen solche Residuen vormodernen Denkens mit: Im Errötungsargument ‚murmelt‘ die Sprache der Dinge in ihren Ähnlichkeitsbeziehungen weiter; hier ‚spricht‘ der Körper, sein Innerstes findet im Äußeren einen ‚Ausdruck‘,„die fundamentale Disposition des Sichtbaren und des Aussagbaren“ dringt eben doch noch „durch die Dicke des Körpers“ (Foucault 1991: 179). Die Zeichen des Sichtbaren in dieser ‚Beweisführung‘ erinnern eher an Signaturen als an die Empirie der Naturgeschichte, deren Bezug durch „Oberflächen und Linien gegeben [wird und] nicht durch Funktionieren oder unsichtbares Gewebe“ (ebd.: 179). Der klassische Befund Horkheimers und Adornos wird in Johanns Festhalten an der „Essenz des Bestehen-
29 Zur Herstellung von Evidenz weitere Erläuterungen im Kapitel „Einsprüche“. 30 Ich beziehe mich mi dem Begriff auf Angelika Magiros, die in Abgrenzung zu Alain Finkielkraut die Feindschaft gegenüber dem Fremden gerade nicht als „Rückfall in vordemokratisches Ständedenken oder gar in uralte Stammespolitik“, sondern als „genuinen, ‚wirklichen‘ Teil der Moderne“ betrachtet: „Es scheint mir realistischer, aus der unverminderten Präsenz der Fremdenfeindlichkeit zu folgern, dass es Strukturen der modernen Realität selbst sind, von denen sie getragen und am Leben erhalten wird.“ (Magiros 2004: 5, kursiv i.O.)
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den“ noch einmal bestätigt: „Damit schlägt Aufklärung in die Mythologie zurück, der sie nie zu entrinnen wußte.“ (Adorno/Horkheimer 1992: 35) Doch auch, wenn das Stück Amo an verschiedenen Stellen vormoderne Denkweisen in der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts dekonstruieren lässt: Der eigentliche Skandal, der enthüllt wird, besteht in der modernen, systematisierten Herstellung, Beweisführung und Verbreitung rassifizierenden Wissens, das Menschen nicht nur hierarchisiert, sondern mit der Klassifizierung die Ausbeutung und Entrechtung in ihrer Versklavung legitimiert – d.h. die ‚natürlichen Gründe‘ für diese ökonomische Praxis nachliefert. Dabei ist das in dieser Szene Skandalisierte nicht nur die Herstellung dieses Wissens selbst, sondern der eklatante Widerspruch, der sich aus dem mitschwingenden Aufklärungspostulat der Universalität der Freiheit und Gleichheit der Menschen und dieser Wissensproduktion auftut. Als zweites Erklärungsmuster bedient der Vortrag des Professors somit die Legitimierungsthese, die das rassistische Wissen als Brücke des in der Moderne aufbrechenden Widerspruchs zwischen der Formulierung von Freiheit und Gleichheit und der Ausübung von Gewalt und Zwang erkennbar werden lässt.31 „Historisch gehört Rassismus ebenso zur Moderne wie die Demokratie,“ konstatiert Mark Terkessidis (2004: 92) der Demokratie und Rassismus als janusköpfig zusammengehörig beschreibt: „In der Moderne ist die gesellschaftliche Ordnung als Ordnung der Ungleichheit nicht mehr natürlich – sie bedarf der Legitimation. In dieser Legitimation jedoch kehrt die Natur als Explanans des rassistischen Wissens wieder.“ (Ebd.: 97) Wieder rekurriert die Theaterproduktion auf ein unterschwellig tradiertes – diesmal jedoch nahezu unbekanntes, also unbekannt gewordenes – Wissens- und Verfahrensrepertoire. Mit diesem nähert sie sich in gewisser Weise den „sich ständig wiederholenden Ketten der diskursiven Erzeugung“ (Butler 1997: 259) an. Die Inszenierung verweist – so diese Lesart – auf „die Geschichtlichkeit des Diskurses und insbesondere der Normen […, die] die Macht des Diskurses ausmachen, das zu inszenieren, was er benennt“ (ebd.). Das Stück geht dieser Geschichtlichkeit der diskursiven Wiederholungen gewissermaßen nach und lässt
31 Beide Thesen lassen das reziproke Verhältnis von (sozialen, ökonomischen, militärischen…) Praxen und solchen des Be-Schreibens (und später systematischen Theoretisierung) außer Acht, die, wie Robert Weimann argumentiert, bei der Ausbildung der Vorstellung eines autonomen Subjektes konstitutiv war. Die Verschiebung von einem Ähnlichkeitsdenken hin zu einem analytischen Denken, die der Identifizierung von Kategorien (wie Arten, Gattungen, Geschlecht und nicht zuletzt „Rassen“) vorausgeht, vollzog sich im Zuge dieser Trennung von schreibenden Subjekten und beschriebenen Objekten (vgl. Weimann1997b: 150–185), siehe: Exkurs im dritten Teil.
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die „Tat“32 erkennbar werden, die den zitierenden Sprecher zwar nicht von der Verantwortung seines Sprechens enthebt, jedoch die Vorstellung der Intentionalität und einer Ursprünglichkeit des Subjekts relativiert. In diesem Sinn verstehe ich die Strategie der Enthüllung, die hier zur Korrektur eingesetzt wurde, als mit dem satirisch Komischen verbunden (vgl: Gelfert 2002: 29): Ent-deckt, verschoben – und in dem Sinn ‚verlacht‘ – wird eine dominant positiv besetzte Vorstellung von Aufklärung als Grundlage eines ‚europäischen‘ Selbstverständnisses als rational, zivilisiert, abstrakt-denkend und ideenorientiert modern. Diese kaum verhandelbare Konstante zur Abgrenzung von einem vormodern, irrational, archaisch und naturhaft adressierten ‚Anderen‘ verliert mit der Enthüllung dieser Schattenseiten als Teil der Moderne seine Wirkmächtigkeit. Der hier in Schnipseln wieder aufgerufene rassistische Teildiskurs der Aufklärung gehört heute, mit Butler, dem Bereich des diskursiv Unsagbaren an, das zugleich den Bereich des Sagbaren konstituiert. Er wirkt jedoch in einer aktuellen rassifizierenden Praxis als verschwiegenes Wissen indirekt weiter, während das Schweigen über ihn ein widerspruchsfreies, von negativen Seiten bereinigtes monolithisches Aufklärungskonstrukt ermöglicht. Wie April Biccum mit Bezug auf Homi Bhabha schreibt: „it is the persistent writing out of the colonial moment that makes the narrative of civility, modernity and development possible and produces two coeval terms (development-as-civility and poverty-asdegeneracy)” (Biccum 2007: 152). Die positiv besetzten Begriffe bestimmen als ‚europäische Errungenschaft‘ die Debatten um Zuwanderungs- oder Flüchtlingspolitiken bis hin zu Entwicklungspolitiken maßgeblich mit. Dominante Argumentationen der Abgrenzung werden dabei unangreifbar durch diese einseitige Fokussierung einer ‚Lichtseite‘ der Aufklärung, die reduziert ist auf die Maximen der Aufklärung, die als ‚errungen‘ zugleich in den Status von ‚Besitz‘ als zugeordnet Verfügbaren und Fixierten versetzt werden. So gesehen ist das Schweigen über die Schattenseite der Aufklärung integraler Teil des aktuellen Dominanzdiskurs über Migration und der in dem Stück dargestellte akademische Vortrag eine Zur-Schau-Stellung und ‚Anzeige‘ des Wissens, das in den Migrationsdiskurs eingeschrieben ist und verschwiegen die „Lücke zwischen dem Glauben an die Ideale“ der Aufklärung und der praktischen Ausgrenzung überbrückt (Terkessidis 2004: 111). Wenn aber die diskursive Einschränkung des Sprechens (also der Ausschluss dieses Diskurses der Aufklärung aus dem Sagbaren) die ausschließenden Adressierungen der ‚Anderen‘ erst ermöglicht, kann die Erweiterung des Sprechens über Aufklärung als Korrektiv eingesetzt werden,
32 Zu Butlers Ableitungen von Nietzsches Gedanken zum Verhältnis zwischen Täter, Tat, Handlung und Verantwortung vgl. Butler 2006: 73–77.
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um so die Instrumentalisierung der Aufklärung zu verunmöglichen. Indem das diskursiv Unsagbare wieder in den Bereich den Sagbaren gerückt wird und ihre Schattenseiten aufgedeckt werden, wird Aufklärung als rein positive Größe unbrauchbar. Das Stück widersetzt sich mit seinem Anliegen, nicht überlieferte afro-deutsche Geschichte zu rekonstruieren, insofern der Einschränkung des Sprechens, indem es das dem Rassismus zugrunde liegende Dispositiv – den Macht/Wissen-Komplex und das Verfahren, mit dem qua Unterscheidung Gruppen bzw. Differenz geschaffen werden – aus dem Feld des Unsagbaren herausholt und als verschwiegenen Teil-Diskurs ausstellt. Zugleich erfolgt aber in der nachahmenden Darstellung der differenzproduzierenden Erkenntnismethoden in der kolonialrassistischen Sprache, also den historischen wie aktuellen Verfahren der Degradierung, eine Rekonstruktion und Reproduktion der zu Recht verschwiegenen, weil widerlegten Inhalte rassistischen Wissens, die ebenfalls aus dem Bereich des Unsagbaren geholt werden. Bei aller Distanznahme durch die Mittel der performativ sprachlichen Übertreibung zur Lächerlichmachung des Inhalts von Johanns Rede liegt in dieser ‚Wieder-Holung‘ immer das Risiko der Affirmation. In diesem Risiko zeigt sich auch die Ambivalenz der nachahmenden dramatischen Darstellungsweise. Die Handlungsmacht der Theaterproduktion als Gegenstimme besteht also in der Aneignung der Macht, das Feld des Sagbaren neu zu definieren, und so seine Grenzen zu verschieben. Diese Verschiebung holt Wissen über Aufklärung in ihren verschiedenen, einander auch widersprechenden Facetten zurück in den Diskurs und macht sie verhandelbar. Allerdings begibt sie sich auch in ein Dilemma: Denn um das Verschweigen in Erinnerung zu rufen, ruft die Produktion auch das Verschwiegene erneut auf und wiederholt dabei auch die degradierende Subjektivierung – und verdoppelt somit einen Prozess des Zum-SchweigenBringens. Insofern als mit dem schweigenden Abgang Amos die Vorwegnahme eines tragischen Ausgangs vollzogen wird, stellt die vorgestellte Szene des degradierenden Sprechens und Widersprechens in kondensierter Form einen Verstummungsprozess dar, den die Gesamtgeschichte (als dramatische Erzählung europäischer Geschichte) in ganzer Länge ausbreitet. Als Wissenschaftler kommt Amo nach dieser Szene nicht mehr zu Wort. Dieser Prozess der Verstummung wird zudem mimetisch vorgeführt – ebenfalls mit dem Effekt der verdoppelnden Re-Produktion. Gegenstimmbildung funktioniert in diesem Fall als De-Regulierung der Grenzen des Sagbaren im nachahmend wieder-holenden Sprechen. Diese Strategie zur Erweiterung des Sagbaren ist ambivalent. Denn die Gegenstimme entlarvt die Konstruktion des ‚Eigenen‘ auf der Basis einer bereinigten Vorstellung von Aufklärung mit der Enthüllung von verschwiegenen und für unsagbar er-
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klärten Sprechweisen, die sie selbst außer Kraft setzen will. Das Dilemma antirassistischen Sprechens zur Störung der dominanten Funktionsweise dieser Selbstkonstruktion besteht in dem Fall im Entscheidungszwang zwischen affirmativem (Weiter-)Schweigen oder einem affirmierendem Sprechen – zwischen einer Kollaboration mit dem Dominanzdiskurs und seinem Schweigen über rassistische Seite der Aufklärung oder dem Sprechen, das das Repertoire der Degradierung wieder-holt und somit zwar verhandelbar, aber auch wieder aktiv macht.
EINSPRÜCHE Dem Theater als Institution eigener Wissensbildung und zugleich der Vermittlung und Aushandlung gesellschaftlicher Wertkonstruktionen widmet die Theaterproduktion mit der Reflexion rassifizierender theatraler Repräsentationen eine vergleichbare Aufmerksamkeit wie der Universität als Ort rassifizierender Theorienentwicklung. Durch die Analog-Setzung dieser beiden öffentlichen Institutionen werden zeitlich-räumliche Kontinuitäten vorgestellt, deren Schnittstelle die zeigende Ausstellung von Differenz ist. Die Inszenierung von Wahrheit und Erkenntnis an den Orten der Wissensproduktion wird auf diese Weise in eine Äquivalenz gesetzt zur theatralen Inszenierung gesellschaftlicher Ordnung am Ort kultureller Reflexion, ästhetischer Erziehung und/oder (moralischer) Belehrung. Dabei fokussiert die Münsteraner Produktion von bis heute versteckt aktiven rassifizierenden Zuordnungslogiken und Signifizierungspolitiken. Während aktuelle Repräsentationslogiken am deutschen Theater auf der Gegenwartsebene explizit in einem handfesten Streit zwischen dem Schauspieler Thomas und dem Regisseur auf der Gegenwartsebene ausgehandelt werden, nimmt das Stück auf der Vergangenheitsebene Verknüpfungspraxen der Bedeutungsproduktion ins Visier. Die ‚willkürlich‘/‚künstlich‘ hergestellten Beziehungen zwischen körperlichen Merkmalen und charakterlichen Eigenschaften, wie ich sie an Johanns ‚Beweisführung‘ auf der Grundlage von ‚empirischer Sichtbarkeit‘ nachgezeichnet habe, werden im Handlungsverlauf mehrfach hinterfragt, und zwar in zunehmend ‚dekonstruktiver‘ Weise: Bereits in der ersten Begegnung mit Dorinde Szene 3 „Liebesannäherung“ irritiert Amo deren Zuordnungslogik, mit der sie seine ‚Herkunft‘ unausgesprochen von seiner Hautfarbe ableitet: Doris/Dorinde: Ihr kommt nicht von hier … Thomas/Amo: Ich komme von hier … aus Wolfenbüttel. (Amo 9)
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Dieses Thema der Hautfarben-Herkunfts-Verknüpfung wird direkt im Anschluss an die Vortragsszene von Amos Freund Prof. Gottfried in einem Dialog mit Prof. Johann (Szene 7 „Der Wahrasager“) wieder aufgenommen: Nach Amos Abgang problematisiert er die Evidenz der Differenzanordnung seines Kollegen anhand einer von Amo zitierten Frage: „Mittels welcher Sinnesorgane erkennen Sie, dass ich [Amo] nicht aus Europa stamme?“ In dem entlarvenden Dialog erklärt Gottfried, wie Johanns ‚Wissen‘ auf der Basis von Verknüpfungen von (sinnlicher) visueller Wahrnehmung und „weiteren Assoziationen“, d.h. als sprachliche Zuordnung hergestellt wird. Johanns angriffslustige Verteidigung seines Wissens endet mit dem Ausruf „Aber man sieht doch, dass er aus Afrika kommt.“ Dies korrigiert Gottfried mit der aktiven Entknüpfung von Sehen und weiteren Aussagen und verweist so auf die Konstruktion des Wissens als Verknüpfung: Karl/Gottfried: Nein! Man sieht, dass er eine andere Hautfarbe hat. Dass er aus Afrika stammt, weiß damit zunächst einmal noch niemand. Dazu bedarf es weiterer Assoziationen. Man hat gehört oder gelesen, dass in Afrika dunkelhäutige Menschen leben und schließt daraus, dass auch er von dort kommt … (Amo 19)
In beiden Fällen wird die gleiche Selbstverständlichkeit – d.h. die Verständlichkeit ‚aus sich selbst heraus‘ – unterbrochen, mit der Hautfarbe und ‚Fremdsein‘, („nicht von hier“ (Szene 3) oder „aus Afrika“ (Szene 7)) zu einer ontologischen Konstante verknüpft werden. Die Tragweite dieser hochaktuellen ‚verselbstverständlichenden‘ Praxis des Fremd-Machens wird in der Argumentation von Julia Lemmle gegen die Rechtfertigung des blackfacing am Schlosstheater und später am Deutschen Theater Berlin erkennbar. Sie weist die Strategie des blackfacing zur Inszenierung des Umgangs von Deutschen mit ‚Fremden‘ („man habe dem weißen Publikum den Spiegel vorhalten wollen, wie sie ‚Fremde‘ sehen“ (Lemmle 2013: 3)) mit einer Verschiebung des Fokus auf die unreflektierte Verknüpfung Schwarz – Fremd zurück und konstatiert, dass es den Theatermachern im Gespräch mit Bühnenwatch33
33 Das Forum zur kritischen Diskussion rassistischer Darstellungspraxen Bühnenwatch intervenierte 2011 gegen blackfacing an mehreren Berliner Theatern (vgl.: http:// buehnenwatch.com). Aus diesem ist das Bündnis kritischer Kulturschaffender hervorgegangen, das im Januar 2014 mit der Aktion „Mind the trap“ auf Ausschlusspraxen in der Kulturlandschaft aufmerksam macht und im Oktober 2015 mit „Vernetzt Euch!“ eine
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176 | G EGEN -E RZÄHLUNGEN : A MO – EINE DRAMATISCHE S PURENSUCHE ein offenbar neuer Gedanke [war], dass Schwarzsein überhaupt nichts mit Fremdsein zu tun hat. Denn struktureller Rassismus hat mit „Fremdsein“ nichts zu tun. Wenn in Deutschland geborene und aufgewachsene Menschen auf der Straße von weißen Passant_innen rassistisch beschimpft werden, oder – in scheinbarem Gegensatz dazu, ganz „freundlich“ im Smalltalk an der Bushaltestelle gefragt werden „Wo kommen sie her? – Nein, ich meine woher kommen Sie eigentlich?“ - dann hat das mitnichten mit Fremdheit zu tun. Was hier passiert, ist die KONSTRUKTION von „Fremdsein“ oder „Anderssein“ aus einer weißen Perspektive aufgrund äußerer Merkmale. (Lemmle 2013: 3; Herv. tm)
Lemmle hebt in ihrer folgenden Argumentation auf die Gleichsetzung von ‚Schwarz‘ und ‚Fremd‘ ab und kritisiert die in den Begriffsersetzungen („Fremdenhass“ oder „Ausländerhass“) eingelassene Verharmlosung der verschobenen Rassifizierung als eine von vielen weißen Abwehrreaktionen, wie sie auch auf der Gegenwartsebene in Amo ausgestellt und im Streit verhandelt werden. Zur weiteren Erkundung der Selbst-Verständlichkeit, der verschwiegenen Konstruktion des ‚aus sich selbst heraus‘, mit der die Gleichsetzung von „Schwarzsein“ und „Fremdsein“ funktioniert, möchte ich Lemmles Argument der „KONSTRUKTION von ‚Fremdsein‘“ zuspitzen und das jeweils eng angeschmiegte „sein“ ins Visier nehmen und durch ‚-gemacht‘ ersetzen. Die Konstruktion hat ihren rassifizierenden Effekt durch die ontologisierte und ontologisierende (Wieder-)Verwendung von „Sein“, die das (wiederholt) Gemachte (durch sprachliche Anrufung) verschwinden lässt und mit diesem das Potenzial der Veränderbarkeit. Wenn man Fremd-Sein aus der ontologischen Setzung herausholt, historisiert und v.a. in seiner Herstellung rekonstruiert, wird deutlich, dass struktureller Rassismus sehr viel mit „Fremdsein“ zu tun hat: Fremd-‚Sein‘ als Fremdgemacht-worden-Sein ist der Effekt der Distanzierung von einem ‚Eigenen‘/ Nicht-Fremden, das im gleichen Moment konstituiert wird. In dieser Konstruktion ist der/die/das Fremde fremd wie das Eigene nichtfremd ist, weil es fremd/ eigen gemacht ist. Dabei wird der Akt der Konstitution entnannt. Rassifizierung ist ein Prozess des Fremd-Machens, zu dem über diese Differenz- oder DistanzKonstruktion ihre Ontologisierung als Seins-Herstellung „aus-sich-selbst-heraus“ gerade dazugehört. Die Konstruktion funktioniert als Seins-Effekt, indem der Akt der Essentialisierung unerkennbar gemacht ist. Diese Seins-Logik bricht die Theaterproduktion Amo anhand der Hautfarben-Herkunfts-Ver/Entknüpfungen auf und verbindet sie in einer dritten Situation (Szene 10 „Auf welcher Seite?“) explizit noch einmal mit der Infragestellung
erste Konferenz zu „Strategien und Visionen für eine Diskriminierungskritische Kunst und Kulturszene“ organisierte (vgl.: https://mindthetrapberlinwordpress.com) .
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von Sehen und Sichtbarkeit als Instrumenten zur Herstellung eines EvidenzWissens, das sich im Visuellen ‚von selbst‘ erklärt. Evidenz beschreibt Irmela Schneider als einen Modus der Herstellung und Ordnung von Wissen, das aus der Ableitung von e-videri (herausscheinen, hervorscheinen) das bezeichnet, „was im genauen Wortsinn einleuchtet, weil es gleichsam aus sich herausstrahlt“ (Schneider 2004: 3f). Dabei beleuchtet Schneider das „Aus-sich-selbst-heraus“ als Technik der rhetorischen Überzeugung, die selbst als Ziel ebenso unsichtbar bleiben muss wie der Modus ihrer Herstellung. Im Vor-Augen-Führen als einer Darstellungsweise des ‚Lebendig‘-Machens stellt sie heraus, dass „Evidenz ein Medium braucht, um evident zu werden“: […] das Aus-sich-selbst-heraus-Leuchtende, leuchtet, […] nicht von selbst, sondern muss aufgerüstet werden, und dieses Aufrüsten lässt sich als ein mediales Aufrüsten begreifen. Anders erreicht evidentia ihr Ziel nicht. Und dieses Ziel heißt in der Sprache der Rhetorik: Überzeugung, Persuasion. Aber genau dieses Ziel muss verdeckt bleiben. Evidentia – eine Persuasion, die sich unsichtbar macht, sich auslöscht, die da ist, indem sie nicht da ist. (Ebd.: 5)
Ein solches Vor-Augen-Führen und seine Überzeugungskraft durch die unmittelbare Verknüpfung des Visuellen mit dem ‚Sein‘ im Sinne eines subjektivierenden Identifizierens wird in der Szene 10 performativ demonstriert und in einer Neu-Verortung der Sinnproduktion entkräftet: Amo spielt in einem privaten Dialog mit Gottfried das Evidenzprinzip mit einer Neu-Anordnung von Sehen und ‚Sein‘ aus, indem er Begriffe des Sehens und des Seins in ständiger Wiederholung markiert und ihnen auf diese Weise ihre Funktion zur Evidenzproduktion entzieht: Thomas/Amo:
Seid Ihr … weiß?
Karl/Gottfried:
… Ja?
Thomas/Amo:
Seit … wann?
Karl/Gottfried:
… Seit Geburt.
Thomas/Amo:
Ich nicht. Ich bin nicht weiß … seit Geburt.
Karl/Gottfried:
Nein … das seh’ ich.
Thomas/Amo:
Na, seht Ihr … Ihr seht, dass ich nicht weiß bin.
Karl/Gottfried:
Ja, das … das sieht man.
Thomas/Amo:
Ihr enttäuscht mich, mein Freund. Ich BIN aber weiß. Ich bin aufgewachsen in einer schneeweißen Familie.
Karl/Gottfried:
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Ja, aber trotzdem … seid Ihr …
178 | G EGEN -E RZÄHLUNGEN : A MO – EINE DRAMATISCHE S PURENSUCHE Thomas/Amo:
… nicht weiß? Das habt Ihr gut gesehen, mein lieber Freund. Mein lieber, gelehrter Freund. Das habt Ihr gut gesehen: Trotzdem bin ich nicht weiß … […] (Amo 30)
„Weiß-“/„schwarz“-Sein wird hier ent-knüpft und in unterschiedlichen Ausdeutungen zur Debatte gestellt: Das Gesehene (Hautfarbe) wird getrennt vom sozialen Status, abgeleitet aus der Sozialisation (schneeweiße Familie), dem sich indirekt auch die bekannte Herkunft im Sinne eines geografischen Ortes (Wolfenbüttel) und die Herkunft im Sinne von Stand (Adelsfamilie) anschließt. In der mehrdeutigen Verwendung des „Sehens“ als visuelle Wahrnehmung und als Verstehen, Deuten, weiter auch als Schließen und Wissen findet eine Entknüpfung der Zuordnungen statt, durch die die E-videnz als (listiger) Modus der Wissensproduktion an Macht der Überzeugung verliert. Das „Sehen“ wird von sozialer Zuordnung unterschieden, so dass deutlich werden kann: Schwarz ist keine Hautfarbe, sondern ein sozialer Status, der über ein Merkmal der Sichtbarkeit hergestellt ist. In der de-naturalisierenden Trennung entsteht die Irritation. Das Wortspiel mit dem Sehen macht seine Bedeutung als dominantes Instrument der Wissensproduktion stark: Sehen heißt dann,: „deuten, verstehen, schließen auf der Grundlage von wissen“ – „ Na, seht Ihr … Ihr seht, …“ und „das habt Ihr gut gesehen (= geschlossen), mein lieber gelehrter Freund. Der Dialog ist lesbar als kurze Unterbrechung mit der Feststellung „ich bin aber weiß“, der im letzten Satz in einem nachdenklichen Modus zurückgenommen wird – unausgesprochen bleibt dabei die Frage im Raum: Warum? Aber auch hier wird die Ambivalenz deutlich, mit der sich das Stück zwischen affirmierender Reproduktion (im letzten Satz) und widerständigem Sprechen bewegt, das in dissidenten – kaum erkennbaren – Einsprengseln Störungen produziert, die irritieren, aber den Gesamtablauf der dominanten, geradezu monologisierenden Geschichte einer Rassifizierung nicht nachhaltig zu unterbrechen vermögen.
WEISSE ABWEHRSTRATEGIEN Dieser Dialog ist Teil einer Szene, die sich dadurch auszeichnet, dass sie sich zwischen den zwei Zeitebenen bewegt, deren Trennung der Amo-Darsteller Thomas aufweicht, indem er mehrfach aus seiner Rolle als Amo aussteigt. Die Verwischung der Zeit- und Wirklichkeitsebenen bringt seinen Mitspieler Karl/Gottfried so durcheinander, dass die Szenenprobe vom Regisseur abgebrochen wird. Es folgt ein heftiger Streit (Szene 11 „Katastrophe“) zwischen dem Regisseur und Thomas, der nun zum zweiten Mal seine Amo-Rolle als „Exoten-
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rolle“ ablehnt. Als Fortführung einer zunächst komisch geführten Argumentation im Anschluss an das Zauberflöten-Schmink-Vorspiel, in der es um die Ausstellung von Schwarzen – an Fürstenhöfen und in Völkerschauen – wie auch um sog. Rollen-‚Mangel‘34 für Schwarze Schauspieler/innen geht, wird dieser Erzählstrang der Gegenwart in diesem Streit zugespitzt. Dieser beginnt mit einem Vorwurf der Arbeitsverweigerung aus Überempfindlichkeit („Goldwaage des Rassismus“ (vgl.: Amo 32)) und radikalisiert sich zu einer indirekten verbalen Ausweisung von Thomas durch den Regisseur: „Habe ich Dich hierhergeholt?, Geh doch zurück, wo Du hergekommen bist“ (ebd. 33). Alle weißen Abwehrreaktionen, die Julia Lemmle an der blackfacingDebatte an Berliner Theatern 2012 herausgearbeitet hat, werden in diesem Streit durchdekliniert: Von der „Verteidigung des eigenen nicht-rassistischen Selbstbilds“ (Lemmle 2013: 2), die in integrativen Bemühungen des Regisseurs vorgetragen wird, jedoch an der „Pathologisierung der Kritik“ (ebd.) an rassistischer Zuordnungslogik scheitert („In dieser Produktion gibt es keinen Rassismus. Du siehst Gespenster“(Amo 32)), geht die Argumentationslinie über zu einer „Verkehrung der Rollen“ (Lemmle 2013: 2) im Rahmen einer wehleidigen Story, in der sich der weiße Regisseur als Opfer von Beleidigungen Schwarzer stilisiert. Selbst-entlarvend wird die Argumentation schließlich, als der Regisseur zum Gegenangriff ansetzt und Thomas’ Erfahrungen mit Theaterengagements wie folgt mit einem entschiedenen Abgang kontert: Thomas:
Da hat [der Intendant] mich ganz merkwürdig angeschaut, wobei meine Hautfarbe natürlich gar keine Rolle gespielt hat: „Tut mir Leid, Thomas, wir haben leider keine geeigneten Rollen für dich, wir machen halt deutsches Theater“ …
Regisseur: Na und? Stimmt das etwa nicht? Was sollen die denn sonst spielen? Polnisches Theater? Belgisches Theater? Niederländisches Theater? Ach, du meinst, dass es natürlich nicht nur ‚Deutsche‘ in Deutschland gibt? Wo sollen die armen Türken oder die sogar noch ärmeren Afrikaner ihr Theater herbekommen? Oder willst du uns vielleicht beschuldigen, dass wir keinerlei Verständnis für eure unterprivilegierte Position hätten? Dass wir unseren latenten Rassismus hinter einer Fassade von politisch-korrekter Anständigkeit verstecken. […] Thomas, deine ständige Opfermentalität kotzt mich allmählich an. Warum gehst du nicht auf die Straße mit deinen anti-rassistischen Phrasen: WEHRT EUCH, LEISTET WIDERSTAND, GEGEN DEN RASSISMUS
34 Rollen-Mangel ist eine Besetzungspolitik und kein Mangel ‚an sich‘; dies wird im Stück jedoch nicht explizit angesprochen.
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180 | G EGEN -E RZÄHLUNGEN : A MO – EINE DRAMATISCHE S PURENSUCHE HIER IM LAND … Worauf wartest du! Auf mich? […] Hab´ ich dich vielleicht aus Afrika geholt? Warum gehst du nicht zurück, wenn es dir hier nicht passt!!! (Amo 33)
Die bereits beschriebenen (und weitere) Zuweisungen und Degradierungen werden hier als Offensive vorgetragen und vom Regisseur stehen- (und hinter sich) gelassen. Bemerkenswert an der Verteilung des Komischen zu Beginn dieses Erzählstrangs und des Tragischen, das spätestens hier den Schluss des Gesamtstücks einleitet, ist, dass alle gemeinschaftsbildenden Momente, mit denen Thomas im ironischen, komischen Ton bemüht ist, die Rassismen in der Produktion erkennbar und in versöhnlichem Ton verhandelbar zu machen, systematisch von den jeweils weißen Mitspieler_innen unterbrochen werden. Die Liste rassistischer Praktiken, auf die Thomas im Laufe des Stückes verweist, ist lang und schlägt eine Brücke von einer kolonialen Vergangenheit in die Gegenwart und spricht – gerade – auch die Kunst, also das Theater nicht frei. Das bürgerliche Postulat der Freiheit der Kunst füllen die Intendanzen nicht zuletzt mit Besetzungspolitiken, die Zugänge regulieren und so den Blick des Publikums über Ausschlüsse und Zuweisungen direkt lenken. Hautfarbe und sprachlicher Akzent werden dabei „per se als Statement angesehen“ (Cherrat 2008: 218), weil sie als Zeichen des ‚Anderen‘, und damit das ‚Andere‘ markierend gezielt eingesetzt werden. Im traditionellen Rollentheater spielt die markierte Pigmentierung von Haut eben eine Rolle, um gesellschaftliche Differenz auf dem Theater vorzustellen. Dieses dem Theater der Verkörperung eingeschriebene Grundprinzip bringt Ulf Schmidt kritisch in die blackfacing-Debatte ein: Das Theater der Rollen spielt mit diesen Unterschieden und den Unterschieden, die Unterschiede machen, ohne sie dabei vollständig kontrollieren zu können. Notwendigerweise macht eine jede Besetzungsentscheidung einen Unterschied: Einer Rolle einen Darsteller zuzuordnen, heißt, genau diese Physiognomie zu wählen und keine andere. Daraus leitet sich noch kein Unterschied ab, der einen Unterschied machte: Ob der Faust blond, brünett oder dunkelhaarig ist, ist (zumeist) ein ästhetischer Unterschied. Ein Gretchen aber mit einer 80jährigen, einem alten Mann oder einem Knaben zu besetzen, ist ein Unterschied, der (zumeist) einen Unterschied macht – es sei denn, die Aufführung findet etwa in einem Altenheim statt, in dem alle Rollen mit Greisen besetzt werden. (Schmidt 2012)
Die reziproke Funktionsweise der Konstruktion von Anderem und Eigenem funktioniert dabei auf der Bühne in der Weise, dass akzentfreies BühnenHochdeutsch und „der weiße Körper als zentrale Kategorien der bürgerlichen Selbstkonstitution“ (Dietrich 2005: 365) naturalisiert die Norm stellen und so ih-
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rer Zeichenhaftigkeit entnannt sind, während und indem ‚das Andere‘ zeichenhaft vorgeführt wird. An den unreflektierten ‚naiven‘ Rechtfertigungen der blackfacing-Debatte wird die Zeichenhaftigkeit dunkler Hautfarbe deutlich: dunkle Hautfarbe und Dunkelschminken (in ‚Ermangelung Schwarzer Schauspieler‘) werden eingesetzt als „Zeichen für“ – Differenz35. Besetzungspolitiken regulieren Zugehörigkeiten und nationale (‚Volks‘-)Identität über Sichtbarkeit. In einer Gesellschaft, die Zugehörigkeit aus einer ethnischen Abstammung ableitet und zudem ihre koloniale Vergangenheit geradezu verleugnet, repräsentiert das Theater – nicht zuletzt als moralische Bildungsanstalt – Identitätskonstrukte, die in dieser Nation Platz haben […] Schwarzsein ist […] in einem umfassenden Maß aus mehrheitsgesellschaftlichen Diskursen ausgeschlossen worden, während es gleichzeitig permanent markiert wird (Ahmed 2005: 272). In die Geschichtlichkeit dieser Ausschlüsse, Markierungen und Signifizierungen ist das Theater als Ort gesellschaftlicher Identitätskonstruktion zentral eingebunden. Evidentia, das Vor-Augen-Führen, das Schneider u.a. mit Aristoteles als ein Stilmittel der Rhetorik beschreibt, in dem das ‚Lebendig-Werden‘ betont wird, funktioniert im traditionellen dramatischen Theater als ‚lebendige‘ Darstellung gesellschaftlicher Unterschiede und Unterscheidung. Die Gesellschaft wird darin als weiße (normalisiert) ‚lebendig‘ – der ‚Mangel‘ an Rollen für ‚Andere‘ ergibt sich aus dieser Norm.
35 Vgl. Cherrat 2005, Hall 2002c, Sow 2008. Dass diese Zeichenhaftigkeit auch in ei-
nem Theater des Performativen (Fischer-Lichte) nicht verschwindet, geht aus Fischer-Lichtes Ausführungen über das Verhältnis von ‚Präsenz‘ und ‚Repräsentation‘ hervor. Sie betont dabei, dass die Präsenz wie auch die Figur in den Verkörperungsprozessen hervorgebracht wird und dabei immer an den Körper des/der Schauspieler_in gebunden sind: „Der phänomenale Leib des Schauspielers, sein leibliches In-der-Welt-Sein bildet den existentiellen Grund für die Entstehung der Figur. Jenseits dieses individuellen Leibes hat sie keine Existenz“. (Fischer-Lichte 2004: 256) Da jedoch kein Körper außerhalb seiner kulturell codierten Wahrnehmung existiert (Butler), ist eine de-semantisierte Existenz ‚des Leibes‘ auf der Bühne nicht möglich.
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Re-Konstruieren
Während der Recherchen über das Theaterstück Amo hatte ich mit einem Historiker gesprochen, (die Generation von heute), der mir sagte, dass die Völkerschauen mit Afrikanern damals nicht so böse gemeint waren. Das sei damals ein normales Spektakel gewesen. Und es sind Millionen Europäer, die hin gegangen sind, und das ganz normal gefunden hatten. Er meinte auch, dass die Menschen heute (auch die Afrikaner) übertreiben, wenn sie sich darüber aufregen. Ich bin ein Nachfahre dieser in demütigender Form ausgestellten Afrikaner. Und genau so wie der Historiker sich in seiner Empfindlichkeit auf seine Vorfahren und ihre Sichtweise dieser Völkerschauen bezieht, genau so (also „eins zu eins“) sage ich ihm, dass es meine Vorfahren nicht normal fanden und darunter gelitten haben. Ich lehne seine Behauptung ab, dass es für meine Vorfahren genau so war, denn nach der Perspektive und Empfindungen meiner Vorfahren wurde nie gefragt und sie wurden nie formuliert. Es ist fast unmöglich, in den Archiven Aufzeichnungen oder Dokumente zu finden, die ihre Perspektive artikuliert. (Nawezi 20061, kursiv i.O., unterstr. tm)
GEGEN ENTINNERUNGEN In der Argumentation des Historikers zu der Menschen-Ausstellung, die Richard Nawezi als künstlerischer Projektleiter 2006 über die Entstehungsbedingungen des Stückes Amo – eine dramatische Spurensuche vorträgt und zurückweist, bündeln sich verschiedene Dimensionen des aktuellen Rassismus, wie er anhand des Stücks mit Fokus auf die Signifizierungspraxen analysiert wurde. Er ist als weiße Geschichte durch wissenschaftliche Geschichtsschreibung tradiert und in 1
Vortrag im Rahmen des Stuttgarter Festivals !Heimspiel – Theaterfestival der Kulturen, das im Oktober 2006 neun Theaterproduktionen präsentierte, darunter auch die Münsteraner Produktion Amo – eine dramatische Spurensicherung.
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ein alltägliches weißes Selbst-Verständnis eingelassen. Mit dem gleichen intentionalistischen Gestus des ‚nicht so Gemeinten‘, mit dem Theatermacher_innen an der Zeichenhaftigkeit von ‚Schwarzen Rollen‘ vorbeisprechen, blackfacing als künstlerisches Mittel rechtfertigen und Interventionen als Überreaktion oder Angriff auf künstlerische Freiheit zurückweisen2, behauptet der Historiker eine ‚Normalität‘. Im Unterschied zum durchaus widersprüchlichen Begründungsmodus mit dem ‚Künstlerischen‘ – künstlerische Freiheit, aber Gebundenheit an Regeln (z.B. für Rollenvergaben) – operiert die historiografische Perspektive mit einer historischen ‚Faktizität‘, die diese ‚Normalität‘ begründen soll. Praxen werden als solche unantastbar gemacht und aufgewertet. Das Publikum der nun als ‚normal‘ (im Sinne von ‚zeittypisch‘) beschriebenen Völkerschauen sei deshalb nicht rassistisch, weil es sich lediglich an einem harmlosen Unterhaltungsund Bildungsspektakel beteiligte, das ‚damals‘ eben Usus war. Da keine rassistische Intention vorlag, läge auch kein Rassismus vor. Dieser von Nawezi referierten Position des Historikers liegt zunächst die weit verbreitete Verknüpfung von Rassismus mit Intention zu Grunde, der zufolge es ‚nicht rassistisch ist, wenn es nicht so gemeint ist‘. Die Argumentation mit Intention unterschlägt jedoch zunächst die Unterschiede zwischen Absicht, (konventionalisierter) Praxis und Effekt und damit auch die verschiedenen Dimensionen von Bewertung – zum Beispiel einer historischen Situation. Zudem ignoriert die gesamte Argumentation, dass Konventionen (also auch Bewertungsparameter) diskursiv produziert sind. Sie bilden zugleich den gesellschaftlichen geteilten Code, von dem aus wiederum die vermeintlichen (kollektiven) Absichten oder Effekte mit Wert belehnt werden. Solange eine bestehende gesellschaftliche Ordnung unhinterfragt als Norm positiv besetzt ist, werden Praxen, die diese stabilisieren, wertgeschätzt, d.h. mit ‚guter‘ Absicht vollzogen. Widerspruch entsteht erst, wenn der vermeintliche Konsens über diese Ordnung, ihre Praxen und ihre Bewertungen – auch im Nachhinein – gestört wird – z.B. durch die Benennung von
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Julia Lemmle zitiert und kommentiert folgendes Beispiel: „‚Ich als weißer Mann halte die Diskussion für übertrieben. Ich möchte in meiner Kunst darstellen, wen ich möchte und wie ich möchte. Das wird jetzt schon viele Jahrhunderte so gemacht. Ich möchte diese Traditionen nicht hinterfragen und verstehe nicht, warum ich auf andere Perspektiven eingehen sollte.‘ […] Es sind und waren vornehmlich weiße männliche Kulturschaffende, die in der Blackface-Debatte Kunst und Kunstfreiheit als solche für alle verbindlich definierten und sich positiv auf ausschließende Theatertraditionen des weißen bürgerlichen Theaters bezogen. Sie forderten für sich das Recht ein, weiterhin im Sinne eben dieser Traditionen zu bestimmen, wie alle anderen nicht-weißen und nicht-männlichen Personen dargestellt werden können.“ (Lemmle 2013)
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Missständen aus anderen Perspektiven und ihre Erklärung mit Begriffen, die zugleich analytisch und negativ besetzt sein können (z.B. rassifiziert). Es gab zu allen Zeiten solche Störungen dominanter Logiken, wie die Produktion Amo deutlich macht. Die Erzählung über ‚Normalität‘ bemüht sich also zum einen um die rückwirkende Herstellung von Konsens über die (damalige) Ordnung, indem die (faktischen) Brüche, Dissidenzen und Unterbrechungen ausgeklammert werden. Zum anderen wird der so hergestellte historische Konsens mit der Rede von ‚Normalität‘ entlastet. Drittens wird die Perspektive, von der aus die Situation betrachtet wird, durch die Verbindung von Intention und Normalität selbst normalisiert: Normal ist die Betrachtung und Bewertung von z.B. ‚Völkerschauen‘ aus weißer Sicht – die genau der entspricht, denen der Historiker die „nicht so böse“ Meinung unterstellt. Die Distanzierung von Rassismus, gleichgesetzt mit ‚böser‘ Absicht, setzt aber offenbar auch voraus, dass dieser – entgegen der Normalitätsbeschwörung – unterstellt werden könnte und lässt in dieser Möglichkeit ein durchaus vorhandenes Wissen über die Negativfolie des ‚Normalen‘ durchscheinen. Das unspezifische „so“ (böse) verweist ganz indirekt auf die lange Liste der Beleidigungen, Degradierungen und Gewalttaten, die hier mitgedacht werden, aber unausgesprochen bleiben. Sie werden in der Aussage mittransportiert und bleiben (versteckt) über das Vergangene hinaus so ‚gegenwärtig‘, dass sich der Historiker offenbar von ihnen abgrenzen muss, obwohl er sie gleichzeitig leugnet. Einem möglichen Verweis auf Rassismus, dessen Aktualität in dieser Vergangenheit begründet ist, wird antizipierend die Legitimität entzogen, indem eine vermeintliche Normalität in der Vergangenheit isoliert, d.h. in der zeitlichen Zurückversetzung von der Gegenwart distanziert wird. „[D]ie Weigerung der deutschen Dominanzgesellschaft, sich mit den kolonialen Grundlagen ihrer eigenen Kulturgeschichte und politischen Identität auseinanderzusetzen“ und diese in einen Sinnzusammenhang mit historischer wie gegenwärtiger Rassifizierungspraxis zu setzen, wie Kien Nghi Ha konstatiert (Ha 2005: 105), wird nicht zuletzt in dem systematischen Beharren auf der jeweiligen Unantastbarkeit isolierter (vergangener) ‚Normalitäten‘ (z.B. kolonialen Ausstellungen) erkennbar. Mit dieser Weigerung als Grundhaltung wird diskursiv ein Bereich des ‚Normalen‘ gegenüber einem des Unsagbaren oder Unmöglichen abgesteckt, der in weißes, deutsches Selbst-Bewusstsein eingeschrieben ist. Kien Nghi Ha beschreibt Kolonialismus in Deutschland daher als eine Art ‚Un-Wirklichkeit‘, ein Wissen, das so an den Rand gedrängt ist, dass es fast unheimlich nicht mehr da ist. Zu dieser „Entinnerung“ (ebd.) gehören die Marginalisierungen des deutschen Imperialismus ebenso wie das damit zusammenhängende Vergessen vorangegangener deutscher Kolonialeroberungen, die deutsche akademische Orientalistik wie
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auch die von Nawezi beschriebenen historiografischen Auslassungen in der Dokumentation von Geschichten und Perspektiven von z.B. Afrikanern, die in Deutschland lebten: „Bisher hat das gesellschaftliche Schweigen, das Verschweigen, das Totschweigen das Feld des notwendig Sagbaren weitgehend verdrängt. Das Schweigen ist eine bewusste Amnesie, und die Amnesie ist eine politische Ausdrucksform des kollektiven Gedächtnisses.“ (Ebd.) Dieses Schweigen als Entinnerung schreibt sich in ein kollektives und individuelles SelbstVerständnis ein (und fort) als nationale Identität, die sich aus den Erzählungen herstellt, über die sich ihre Mitglieder mit der Nation identifizieren. Insofern ordnet das, was an Geschichten, Bildern, Errungenschaften, Territorien, Bevölkerungen, Ereignissen erzählt und tradiert wird, Zugehörigkeiten und Ausschlüsse. Die Sinnkonstruktion nationaler Identität funktioniert, wie Hall erklärt, als Diskurs: National cultures are composed not only of cultural institutions, but of symbols and representations. A national culture is a discourse – a way of construction meaning which influences and organizes both our actions and our conception of ourselves […] National cultures construct identities by producing meanings about ‚the nation‘ with which we can identify; these are contained in the stories which are told about it, memories which connect its present with its past, and images which are constructed of it.“ (Hall 1992: 292f)
Kolonialismus konstituiert als Negativfolie in Deutschland die diskursive nationale ‚Selbst-Erzählung‘ – „that which is narrated in one’s own self‘ (Hall 1991: 49) – in der Weise, dass der Ausschluss von kolonisierten Anderen nicht als solcher denkbar ist: Ausgeblendet aus dem nationalen Selbst-Bewusstsein ist er effektiv quasi inexistent. In dieser Inexistenz wirkt er machtvoll mit an dem, was Ha „Weißwaschung der Geschichte“ (Ha 2005: 105) nennt: „[D]as konsensuale Schweigen [ist] eine dominante Machtartikulation, die sich der Aufarbeitung und Sichtbarmachung imperialer Praktiken und Bilder durch Entinnerung aktiv widersetzt und nur durch Gegen-Erzählungen aufgebrochen werden kann.“ (Ebd.) Das Projekt Amo ist, insbesondere als Teilprojekt der Veranstaltungsreihe „Spurensuche“, eine solche Gegen-Erzählung. Zur Analyse dieser GegenErzählung, die dem nationalen Diskurs als weißer Identitätskonstruktion eine andere Perspektive entgegensetzt, rekonstruiere widme ich mich im folgenden Teil der dramaturgischen Rekonstruktion der historischen Situation und der Frage, wie Amo als Protagonist in ihr positioniert wurde.
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Wer das Stück nur einmal ohne weitere Informationen über Amo sieht, kann, möchte ich behaupten, die historische Situation kaum verstehen, obwohl die Produktion unterschiedliche Verfahren zu ihrer Vermittlung nutzt: Erklärungen des Regisseurs an Dorinde-Darstellerin Doris, die stellvertretend für das Publikum Fragen stellt, Figurendialoge mit Rückblicken oder Kommentaren zu Eckdaten von Amos Biografie und nicht zuletzt Off-Ton-Einspielungen, die Zusammenhänge zu Rassismus explizieren, deren Herstellung offenbar keiner der Figuren überlassen werden konnte. Über die Kindheit am Wolfenbütteler Hof erfährt das Publikum zunächst, dass Amo bei einem Herzog aufgewachsen sei, der „anders war“, da dieser „Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel […] nämlich beweisen [wollte], dass Leute mit schwarzer Hautfarbe ganz ‚normale‘ Menschen sind“ (Amo 3). Mit seinen Kindheitserzählungen über die „drei Prinzessinnen Elisabeth Christine, Sophie Charlotte und Antoinette Amelie“ (ebd.: 10) kann Amo Dorinde faszinieren. Am Ende des Stück berichtet eine Stimme aus dem Off, dass Amo „1747 […] zurück[kehrte] in das Land seiner Geburt, das heutige Ghana“, wo seine Mutter schon gestorben war. Sein Vater und seine Schwester jedoch lebten noch. Sein älterer Bruder war Sklave in der holländischen Kolonie Surinam. Amo sollte auch in Afrika keinen Frieden finden. Er starb im Fort der Sklavenjäger – er, dessen wichtigste Arbeit war: "Über das Recht der Mohren in Europa". (Amo 40)
Als regelrechtes Wirrwarr gibt der Text die historische Situation im akademischen Feld zu verstehen. In diese wird Amo zu Beginn der ersten historischen Szene geradezu performativ hineingezogen und dort hoch aufgestellt: Unter einem Jubelsturm mit den Worten „Amo! Hoch soll er leben! Welch’ Ehre! Selbst der Kurfürst hat vor Euch den Hut gezogen!“ (Amo 6) zieht Prof. Gottfried ihn von links durch einen Torbogen auf die Bühne.3 Doch bereits mit dem nächsten Satz beginnt eine kontroverse Diskussion zwischen dem Prof. Johann und Prof. Gottfried, Amos Freund und Fürsprecher. Zur Disposition stehen die Ehre des Schwarzen Doktors und vor allem seine akademischen Leistungen: seine erste Disputation Über das Recht der Mohren in Europa an der Universität in Halle wie auch seine Schrift Über die Apathia der Seele, mit der er an der Universität
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Die Probe dieser historischen Szene wird eingeführt durch Erläuterungen der Regie: Amo, so sei überliefert worden, hatte eine Delegation zum Empfang des sächsischen Kurfürsten angeführt und wurde am Ende der Feierlichkeiten, „so schreibt die Hamburgische Zeitung im Jahre 1733, […] von sechs Marschällen nach Hause geführt, und der hoch zufriedene Kurfürst spendierte sechs Eimer Rhein-Wein“ (Amo 4).
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Wittenberg promovierte. Im Verlauf des Stückes wird das Publikum über mehrere Universitätswechsel informiert. Der erste – von Halle nach Wittenberg – wird mit einem Wissenschaftsstreit begründet, der zweite an die Universität Jena mit Rassismus, der Amo in Jena „einholte“ (Amo 16). Die vielen über den Text verstreuten Hinweise erklären die Situation insgesamt jedoch so unpräzise, dass am Ende v.a. der prominent gesetzte rassifizierende Vortrag des Prof. Johann und die immer wieder erwähnten Universitätswechsel – gewissermaßen als historische ‚Fakten‘ – dominant in Erinnerung bleiben. Neben dem Dilemma der Revitalisierung der Diskurse im kritischen Anzeigen zeigt sich in der Geschichtsvermittlung hier eine weitere Problematik, die darin erkennbar wird, dass mit den dominant transportierten ‚Fakten‘ (Universitätswechsel/„Rasse“-Diskurs) eine rassistische Normalität konstruiert wird, die Gefahr läuft die Gegenwart zu entlasten. Diese Entlastung funktioniert ähnlich wie in dem Historikerargument zu den sog. Völkerschauen so, dass das Vergangene isoliert und von der Gegenwart distanziert wird. Wie ich in den folgenden Ausführungen argumentieren werde, ist diese Produktion nicht frei von solchen Entlastungsmanövern. Ich werde aber als weitere These herausarbeiten, dass sie in der Re-Konstruktion der historischen Situation explizit uneindeutig und vor allem widersprüchlich bleibt und gerade auf diese Weise auch als Gegenstimme funktioniert. Diese Uneindeutigkeit wird mit unterschiedlichen Strategien im Umgang mit der ‚realen‘ Geschichtsschreibung hergestellt und präsentiert Aufklärung in weiteren – ambivalenten – Facetten, die allerdings bewusst ‚unterbelichtet‘ bleiben. Als Alternative zur dominanten Geschichtsschreibung priorisiert Amo – eine dramatische Spurensuche eine kaum überlieferte (quasi kontrafaktische) ‚lichte‘ Aufklärung, die sich einer gleichwertigen Anerkennung nicht-europäischer Gesellschaften verschrieben hat. Zwar gerät diese zur Zeit des historischen Geschehens in den 1720/30er Jahren zunehmend in die Defensive, dennoch ist sie mit einem prinzipiellen Tradierungspotenzial ausgestattet. Als Re-Konstruktion der Vergangenheit funktioniert die Gegenstimme dabei nicht als eine ohnehin nicht mögliche präzise Nachzeichnung dessen, was ‚wirklich war‘. Vielmehr geht es um das, was nicht ‚wirklich war‘: ein Potenzial, eine in der Geschichte rekonstruierbare Möglichkeit, die jedoch im Verlauf der historischen Entwicklung ‚verraten‘ wurde.4 Dieses ‚verratene‘ Potenzial (wieder) bewusst zu machen und als einen positiven Referenzpunkt zu präsentieren, ist eine Strategie dieser Gegenstimmbildung. Sie geht mit der kritischen Dekonstruktion naturalisierter
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Ich beziehe mich hier auf Slavoj ÇJäFL s Formulierung einer „virtuality inherent to the past that was betrayed in the past realization“ ( ÇJäFL 2004: 12).
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Aufklärungsordnungen Hand in Hand, ist aber weniger eine Strategie der Unterbrechung, als vielmehr eine der kontrafaktischen ‚Wiederholung‘5 von etwas, was sich nie ereignet hat. Die Uneindeutigkeit und Widersprüchlichkeit, die diese Gegenstimme auszeichnet, werde ich anhand einiger Irritationen, die das Stück provoziert, darlegen und in ihrer strategischen Herstellung diskutieren. Dazu werde ich noch einmal einen Blick auf die Vorlesung des Professor Johann werfen und sie bewusst mit der ‚realen‘ Vergangenheit in Bezug setzen.
ENTLASTUNG DER AUFKLÄRUNG Der Vortrag von Johann geht, wie gesagt, auf ein ganzes Bündel unterschiedlicher, einander ergänzender, aber auch widersprechender Positionen der Aufklärung zurück, die im diskursiven Verlauf die Idee einer konstruierten Einheit unter dem Begriff „Rasse“ zum ‚Faktum‘ avancieren lassen, mit Butler: den rassifizierten Körper materialisieren. In der gewählten Form, könnte der zum Vortrag verdichtete Diskurs jeden aktuellen Verweis auf die homogenisiert positive Vorstellung von Aufklärung als ideelle Basis des modernen Rechtsstaats stören und seine Prinzipien wie Gleichheit, Freiheit und Rechte der Menschen, die Universalität der Vernunft des Menschen wie auch die Vorstellung mündiger Selbstbestimmung verhandelbar machen. Das heißt: Die inszenierte Vorlesung täte ihren anzeigenden Dienst, wäre sie als Verweis auf eine (fiktive) Aufklärungsposition deutlicher oder überhaupt markiert. Doch genau diese Anzeige oder Benennung findet gar nicht statt. Es fehlt jede Bezugnahme auf Blumenbach, Kant oder Linné, während Amos Beitrag mit explizitem Bezug auf Descartes als Aufklärungsposition vorstellbar wird. Statt die Rückgriffe auf die kanonisierten Philosophen und Wissenschaftler der Aufklärung als Referenzpunkte heutiger Selbstauffassung/Moderne zu benennen und damit auch den diskursiven Charakter um „Rasse“ wenigstens anzudeuten, wird diese Rede einem Pietisten – in Halle historisch die Gegner der (Früh-)Aufklärer Thomasius und Wolff – in den Mund gelegt. Dieser Positionsverschiebung, die nicht nur den angesprochenen Risiken zuarbeitet, sondern zudem unter dem Verdacht der ‚Geschichtsklitterung‘ steht, möchte ich im Folgenden nachgehen und dazu mit einer weiteren Problematisierung beginnen: Die Rede versteckt den Diskurs und ihre Agenten.
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Hier in Anlehnung an ÇJäFLs Gedanken: „something truly New can only emerge through repetition. What repetition repeats is not the way the past ‚actually was‘ but the virtuality inherent to the past that was betrayed in the past realization“ (ebd.).
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In gebündelter und stark reduzierter Form steht die Vorlesung zwar repräsentativ für den modernen „Rasse“-Diskurs; doch genau der Charakter des Diskursiven/Beweglichen geht verloren, denn der Beitrag wird einem einzelnen Akteur – Prof. Johann – zugeschrieben und damit individualisiert und personalisiert. In dieser isolierten Form schrumpft das Bündel aus einer Vielzahl divergenter und konvergenter Diskurselemente eines ganzen Jahrhunderts inklusive ihrer Weiterreichung bis in die Gegenwart zu einer singulären Position an einem Ort und zu einer bestimmten – aus heutiger Sicht fernen – Zeit zusammen. Der Theatertext unterschlägt, dass die von Johann als Autor verfasste Rede ‚im Kern‘ ein Knäuel aus Zitaten und Anspielungen auf Konzepte von Kant, Blumenbach, Linné, Montesquieu u.v.a. ist; und indem er die Protagonisten der kanonisierten Aufklärung als (eigentliche) ‚Autoren‘ des Vortrags verschweigt, wird der Aufklärungsgehalt des Redebeitrags entinnert. Weiter noch verwandelt das Theaterstück die professorale Rede sogar zu einer Gegenposition der Aufklärung. Im Vortrag durch einen Pietisten wird die rassifzierende Lehre also auch ent-säkularisiert und vermittelt sich so erst recht als vor-aufklärerisch. Der moderne Diskurs um die Konstruktion „Rasse“ gerät damit auf die falsche Seite: Für heutige Zuschauer_innen erscheint der „Rasse“Diskurs der Aufklärung somit harmlos, denn seine personengebundene Verortung an einen bestimmten Ort und Zeitpunkt in der Geschichte schneidet die Bezüge zur Gegenwart ab. In der Figur des Pietisten steht der „Rasse“-Diskurs wie ein unzeitgemäßer, nicht mehr ernstzunehmender Fremdkörper auf der Bühne: ‚Er ist heute nicht so gemeint, war es aber damals‘ – schwingt als mitgetragener Subtext mit.6 Die so produzierte Rückschrittlichkeit impliziert aber zugleich eine Fortschrittlichkeit, die ein (weißes) Publikum der Gegenwart nun zu seiner Entlastung für sich in Anspruch nehmen kann. Denn in Abgrenzung von einer solchen Rede fällt es ihm leicht, sich selbst als fortschrittlich – modern – zu konstituieren. Es entsteht der gleiche Effekt, den Said für den Diskurs um den Orient beschrieben hat: die Selbstkonstituierung des modernen Westens über den Dis-
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Diese ‚Befremdung‘ wird möglicherweise nicht trotz, sondern durch das Aufbrechen der vierten Wand unterstützt. Denn die direkte Ansprache des Publikums, mit der es in die fiktive Situation auf der Bühne hineingezogen wird, produziert einen befremdlichen Effekt: Der Positionswechsel bricht unerwartet und unangenehm im Inhalt mit der eingeführten Verteilung von Zeigen und Zuschauen. Die eingeführte Grundsituation (Publikum schaut zu) verschiebt sich plötzlich zu ‚Publikum ist Teil einer Situation‘, in der es zudem mit einem Textinhalt konfrontiert wird, den es gerade nicht als ‚seins‘ betrachtet. Es entsteht insofern eine ‚innere‘ Distanzierung zum Gesprochenen, aber auch zu der Anrede als „Herren Studenten“.
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kurs um den vormodernen Orient; nur: mit einer Position, die direkt aus dem Projekt der Moderne selbst entspringt, als solche aber verleugnet wird. Die Zuschauer_in trennt sich vom Gehalt des Gesagten und von seinem Bezug zur Gegenwart. Das beschriebene Dilemma der Reinszenierung rassifizierenden Sprechens spitzt sich hier zu. Denn aus gutem Grund ist im Stück eine Distanzierung vom Inhalt der Rede angelegt, gerade weil die Bezüge zu heute noch lange nicht abgeschnitten sind. Die überzogene, fast karikierende Vortragsweise7 verunmöglicht denn auch jede Form der Identifizierung mit der Figur des rassistischen Professors. Die heimliche Dichotomisierung in Fort- und Rückschritt, Moderne und Vormoderne setzt aber zugleich das Denken in Geschichtsfortschritt als zeitlich linearer Entwicklung fort, das als Instrument (kultureller) Hierarchisierung von Bevölkerungsgruppen machtvoll wirksam war, und noch ist (vgl.: Fabian 1983: 25–27). Mit Blick auf das ironisch-kritische Anfangsbild tut sich hier eine Ungereimtheit in der Konstruktion von Aufklärung auf, die in diesem Stück offenbar widersprüchlich verhandelt wird: Wird zu Beginn des Stückes in der Anklage des Schwarz-Machens durch das „Licht der Aufklärung“ dieses zugleich angeeignet/reklamiert, indem das Bühnenlicht den Blick auf das Schwarz-Machen lenkt, geschieht hier etwas ganz anderes: Die in dieser (Re-)Konstruktion der Vergangenheit erzählte Geschichte entlastet Aufklärung um ihre Schattenseiten, insbesondere die Aufklärungsphilosophen als Akteure, die an der Konsolidierung des „Rasse“-Begriffs erheblichen Anteil hatten, und entsprechend ein Publikum, das für sich selbst Modernität/Aufklärung reklamiert. Die potentielle Schärfe einer Kritik an der sich selbst als lichtbringend feiernden Aufklärungsbewegung wird so – anders als im Eingangsbild („Prolog“) – verfehlt. Nicht zuletzt führt die Verklammerung des nunmehr ‚vormodernen‘ „Rasse“-Konstrukts und dem Amo ‚verfolgenden‘ Rassismus zu einer indirekten ‚Schwärzung‘ Amos, wie im nächsten Schritt zu beschreiben sein wird. Mit der Vorführung der Schattenseite der Aufklärung (als Aufdecken) und ihrem Verschweigen (als Verdecken) wird zugleich ein Widerspruch zwischen der Belastung und der Entlastung der Aufklärung hergestellt.
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In einer semi-öffentlichen Preview des Stückes in Wittenberg wurde die noch weniger überzogene Darstellung im Publikumsgespräch länger diskutiert, da einige Zuschauer_innen eine mögliche Identifikation mit Johann antizipierten und kritisierten.
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Vertrackte Entwirrungen Die Effekte der Entlastung werden im Aufbau der Geschichtserzählung durch eine weitere Strategie gestützt: der Polarisierung in der Personalaufstellung entlang einer ‚Achse‘, deren Uneindeutigkeit zugleich Widersprüchlichkeit in dem Stück zulässt. Zur Darstellung der akademischen Landschaft und des ‚Klimas‘ an den Universitäten in Halle, Jena und Wittenberg bis 1747 stellt das Stück das universitäre Personal als in zwei Fraktionen gespalten vor: Konservative bzw. Pietisten, deren Repräsentant Prof. Johann ist, und Liberale bzw. Wolffianer: Letztere verweisen auf den Kreis der Frühaufklärer um Christian Wolff, der im Stück als Repräsentant dieser Strömung erwähnt wird, als Figur aber nicht vorkommt. Die konkrete, aber kaum näher erläuterte historische Folie ist ein langjähriger akademischer Disput in Halle in den 20er Jahren des 18. Jahrhunderts. Dieser entfachte zwischen den Frühaufklärern um Christian Thomasius, Christian Wolff u.a. und Pietisten wie Joachim Lange 8 und v.a. August Hermann Francke. Im Verlauf der historischen Auseinandersetzungen wurde Wolff mit dem Vorwurf der Religionsverachtung belastet und des Landes verwiesen. Die Theaterproduktion rekurriert auf diese Situation, indem sie mehrfach eine „Verdrängung“ der liberalen Philosophie erwähnt, von der auch Amo in Mitleidenschaft gezogen ist. Diese Verknüpfung der Verdrängung Wolffs mit Amos Universitätswechseln füllt – zumindest fiktional und spekulativ – eine Wissenslücke, die darin besteht, dass die Universitätswechsel von Amo zwar belegt sind, ihre Gründe jedoch aufgrund der mangelhaften Quellenlage kaum erforschbar sind. Mit Bezug auf die Universitätswechsel wird Amos Verbleib also dramaturgisch in Abhängigkeit zu dem Schicksal der Wolffianer gesetzt, ohne dies explizit mit einer Wolffianischen wissenschaftlichen Position Amos zu begründen. Vielmehr wird suggeriert, dass die „liberale Philosophie“ Amo als Schwarzen stärker unterstützte, und zwar in Abgrenzung von einer konservativen Philosophie, die – personifiziert in Prof. Johann – Amo als Schwarzen in seinen Leistungen wie auch als Mensch in Frage stellte. Zur Begründung des ersten Wechsels von Halle nach Wittenberg: Regisseur:
[…] in Halle wurde die liberale Philosophie von Christian Wolff von der konservativen Philosophie von Professor Lange verdrängt. Und daher war Amo gezwungen, von der Universität Halle an die Universität Wittenberg zu wechseln. (Amo 6; Herv. tm)
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Der Text verweist auf die historische Person Joachim Lange als dem „Oberpietisten“.
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Während das „daher“ die Frage hier noch offenlässt, ob Amo als Liberaler oder als Rassifizierter mit den Liberalen die Universität wechselt, wird diese Uneindeutigkeit in einer zweiten Erklärung abgeschwächt. Zur Vorbereitung auf den konfliktbeladenen Höhepunkt „Konfrontation“ (die Vortragsszene) positioniert der Text Amo innerhalb der zwei Lager ein weiteres Mal auf die Seite der Liberalen. Präziser wird dies durch den Hinweis auf den Rassismus, ohne diesen wiederum explizit einer Seite zuzuordnen: Off-Stimme: Zu gleicher Zeit aber wird die gesellschaftliche Situation für Amo immer schwieriger. Aufs neue verdrängen die Konservativen die Liberalen und wieder muss Amo die Universität wechseln. Von Wittenberg geht er nach Halle zurück und von dort weiter nach Jena. Dort holt ihn der Rassismus ein. (Amo 16)
In emotionslos gehaltenem Nachrichtensprecherton vermittelt die Off-Stimme hier inhaltlich die Dynamik einer Verfolgungsjagd, dessen Hauptakteur, der – konservative – Rassismus, Amo am Ende in Jena ‚packt‘. Dem hier in personifizierter Form eingeführten Rassismus steht Amo denn auch in dem konfrontativen Vortragsduell vis-à-vis gegenüber: dem Diskurs und dem wissenschaftlichen Rassisten Prof. Johann als seinem Vertreter. Die „Konfrontation“ stellt sich nicht als Austragung eines Konfliktes zwischen einer pietistischen und einer wolffianischen Position her, sondern als die zwischen einem rassistischen weißen Wissenschaftler und einem Schwarzen, dessen Wissenschaftlichkeit gerade durch die Markierung Schwarz in Frage gestellt wird. In den Mittelpunkt der Theaterproduktion rückt Amo als Schwarzer und nicht mit seiner wissenschaftlichen Arbeit. Zugleich werden die Frühaufklärer in einer nicht-rassistischen Aufklärungshaltung positioniert. Anders als zum Beispiel Yawovi Emmanuel Edeh legt die Erzählung des Theaterstückes die mehrfachen Wechsel als Verdrängung mit den „Liberalen“ nahe, so dass die rassistischen Motive zur Vertreibung im Vordergrund stehen und die „Liberalen“ gewissermaßen als schützendes Umfeld des Schwarzen vor den Konservativen (Pietisten) erscheinen.9 Das heißt aber zu-
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Die Produktion folgt in der historischen Darstellung von Amos Geschichte Peter Martin, der Amo mit Bezug auf Quellen von Johann Peter von Ludewig als einen „führnehmlichen Wolffianer“ profiliert, der es nicht „verstand […] sich um der eigenen Karriere willen opportunistisch den Notwendigkeiten des Zeitgeistes zu fügen und darüber seine in langen Jahren gereiften Überzeugungen einfach preiszugeben“ (Martin 1993: 323), während Yawovi Emmanuel Edeh in seiner Abhandlung gerade versucht, Amos Position als Wolffiner zu entkräften und vorschlägt, Amo hätte es „trotz
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gleich: Zunehmend verschwindet Amo als Wissenschaftler, der selbst möglicherweise frühaufklärerische oder auch konservative Gedanken vertritt, hinter dem gelehrten Schwarzen, der mit den Wolffianern ständig auf der Flucht ist, weil sie ihn unterstützen. Im Effekt verschiebt sich die anfängliche Offenheit der Fluchtmotive zu einer Eindeutigkeit, die den Schwarzen Doktor zum Schwarzen auf der Flucht umformuliert.10 Das historisch äußerst komplexe diskursive akademische und politische Feld, in dem sich Amo als Philosoph, als Rassifizierter, als Intellektueller der Frühaufklärung und in weiteren Situationen (z.B. in Abhängigkeit zum Wolfenbüttler Hof11 etc.) bewegt haben muss, wird in dieser Geschichtserzählung binär ordnet und auf eine Gegnerschaft linearisiert, die Amo im Rahmen einer Zwei-LagerDarstellung – zumindest in der Tendenz – auf seine Ausgrenzung reduziert. Indirekt wiederholt das Stück so ein Othering, das es selbst zur Anzeige bringen will. Die Menge der vorgestellten Oppositionen (‚Liberale‘ und Pietisten, Verdrängte und Verdränger, Unterstützer und Gegner Amos und nicht zuletzt rationalistische und empirische Wissenschaftsperspektiven) lässt eine eindeutige ‚Achse‘ zwar nicht zu, aber trotz dieser Uneindeutigkeit bewirkt die Polarisierung eine zunehmende Vereindeutigung von Amo als Rassifiziertem und damit ‚Anderen‘. Seine Gegner, ‚der‘ Rassismus und Pietismus, sind in der Figur des Johann ineinander geschoben, und spätestens mit der Vorlesung von Johann wird der Pietist als Repräsentant eines wissenschaftlichen Rassismus dominant.
der Versuche der beiden Seiten […] ihn für ihre jeweiligen Positionen einzunehmen, durch das Gebot der Klugheit getrieben, verstanden, sich der Polarisierung in den Werken zu entziehen, indem er vor allem aus dem allgemeinen Fundus geschöpft hat, aus dem alle diese Streithähne selber geschöpft haben“ (Edeh 2003: 144). Jacob Emmanuel Mabe relativiert diese Position in seiner Schrift Wilhelm Anton Amo interkulturell gelesen (2007), indem er ihn eindeutig als einen Aufklärer einordnet, der sich aber nicht definitiv vom Pietismus distanzierte (Mabe 2007: 20). 10 In einer der vielen Stückkonzeptionen wurde überlegt, eine Szene einzufügen, die sich mit der historischen Forschung über Amo, darin vertretenen unterschiedlichen Positionen zu Amos Stellung als Wissenschaftler, seiner philosophischen Haltung, aber auch in seiner Stellung am Hof von Wolfenbüttel beschäftigt. Diese unter dem Begriff „intellektuelles Palaver“ gedachte Szene ist in der Endfassung nicht mehr zu finden. Es könnte aber sein, dass ihr Grundgedanke, die Kontroversen um Amo selbst ins Blickfeld zu rücken, indirekt als nicht eindeutig gehaltene Positionierung Amos in der Inszenierungsfassung eingeflossen ist. 11 Peter Martin erklärt den Wechsel von Halle (Preußen) nach Wittenberg (Sachsen) mit „politischen Spannungen zwischen Wolfenbüttel und Berlin“ (Martin 1993: 313).
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So gesehen wird ein neuer Widerspruch erkennbar: Die Theaterproduktion baut Amo als Akademiker der Aufklärung mit vielen Verweisen auf seine Leistungen groß auf, als Gelehrter kommt er aber kaum zu Wort und, ständig auf der Flucht, wird er zum ‚Anderen‘.
Verschobene Kontexte Der Entlastungs-Effekt ist jedoch auch als Ergebnis einer dramaturgischen (Re-) Konstruktion der historischen Situation zu verstehen, die sich – als Spurensuche – für die Gründe der späteren Auswanderung Amos nach Afrika interessiert und dabei unweigerlich auf den „Rasse“generierenden Wissenschaftsdiskurs stoßen musste. Doch für die Integration einer rassifizierenden Vorlesung gab es im biografisch ausgerichteten Stückkonzept eigentlich keinen ‚richtigen‘ Platz, denn ihre Inhalte sind einem Diskurs entnommen, der sich in dieser Form historisch erst etwas später ausbildete.12 Aber auch in dem angesprochenen Wissenschaftsstreit zwischen den Pietisten und den Wolffianern in Halle ist das von Johann vorgetragene „Rasse“-Wissenskonstrukt de-platziert. Da eine Wissensproduktion dieser Art in den Schriften der pietistischen Theologie qua disziplinärer Ausrichtung vermutlich kaum zu finden ist, lässt sich die Frage stellen, warum ausgerechnet ihnen das Diskursbündel zugeschrieben wird, wäre doch eine polemische pietistische Anklageschrift gegen Amo als Frühaufklärer historisch wahrscheinlicher gewesen. Damit stände Amo stärker als Wissenschaftler im Fokus des Stückes – aus dem Blickfeld geriete jedoch das ganze Feld des akademisch produzierten Rassismus des 18. Jahrhunderts. Diese Frage stellt sich um so dringender, als die Produktion sonst so bemüht ist, eine historisch konkrete und ‚richtige‘ Situation darzustellen und erst durch das Einbringen dieses Wissenschaftsrassismus in Schwierigkeiten gerät. Offensichtlich durfte dieser aber in dem Stück über Amo nicht fehlen, im Gegenteil: Die zentrale Setzung im Spannungsbogen verleiht diesem Diskurs eine erhöhte Aufmerksamkeit. Im Rahmen einer vorentschiedenen, auf zwei verfeindete Fraktionen reduzierten Geschichtskonstruktion – zieht dieses offensichtliche Anliegen notwendigerweise Entscheidungen zur De/Re-Kontextualisierung der Inhalte nach sich. Das Dilemma der Geschichts-Re/Konstruktion scheint hier darin zu bestehen, dass der (wis-
12 Während sich der Streit zwischen den Pietisten und den Wolffianern in Halle im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts abspielte, sind die Inhalte der Rede einem Diskurs entnommen, dessen Anfänge zwar um 1690 liegen, aber erst ab der Mitte des 18. Jahrhunderts zirkulierten, als Amo Deutschland bereits verlassen hatte.
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senschaftliche) Rassismus des 18. Jahrhunderts zwar einerseits bewusst dominant in den Fokus gerückt werden sollte, andererseits aber das Umfeld des Protagonisten als Träger dieses Rassismus nur bedingt Frage kam. Die Entscheidung, den wissenschaftlichen „Rasse“-Diskurses auf den Pietisten Johann zu verschieben, ‚passt eigentlich‘ nicht. Umgekehrt ist sie aber lesbar als eine gegen seine Verlagerung auf deren Widersacher – die Frühaufklärer, zu denen neben Wolff und Thomasius auch der aufgeklärte Herzog Anton Ulrich13 und dessen Bibliothekar Gottfried Leibniz gehörten – eben diejenigen, die im Stück als Unterstützer und Förderer von Amo erwähnt werden und als solche von einer Bürde des (theoretisierten) Rassismus entlastet werden.14 Damit kommen neue Aspekte in die Betrachtung, die im weiteren Verlauf Thema sein sollen.
13 Mögliche Hintergründe zur Förderung Amos durch den Herzog werden im Stück kaum Thema. Es stellt die Figur Amo zwar als „Experiment“ vor, problematisiert dies allerdings nicht: Denn auch eine – hier eher positiv bewertete – Beweisführung für die Bildungsfähigkeit eines Schwarzen und eine daran geknüpfte Gleichwertigkeit, verbleibt selbst im Diskurs um „Rasse“ und hält die Begriffe – durch die Verhandlung ihrer Inhalte – letztlich aufrecht. Peter Martin beschreibt Anton Ulrich als Modernisierer seines Landes, der mit der Unterstützung Ansehen suchte (vgl. Martin 1993: 309) – und nachträglich in dem Stück erhält. Jaccob Emmanuel Mabe hält die Einschätzung des „Herzog[s] Anton Ulrichs als humanitäre[n] Förderer von Amo [für] etwas übertrieben“ (Mabe 2007: 15). Zur Frage, was er zu welchem Zweck genau an Amo „beweisen“ wollte u.a. auch, inwiefern Amo als Forschungsobjekt zur Prestigegewinnung instrumentalisiert wurde, erklärt Michael Schubert, dass die Frage nach der Bildungsfähigkeit von Afrikanern im Kontext der These der ‚Kultur- und Zivilisationsleiter‘ zu betrachten ist: „Das ‚Zeitalter der Erziehung‘ brachte regelrechte Erziehungsexperimente hervor, die beweisen sollten, dass auch die Menschen des ersten Gliedes der ‚Seinskette‘ das Potenzial zur Bildung in sich trügen.“ Schubert verweist explizit auf Amo als Beispiel (2003: 58). Auch Ella Shohat und Robert Stam erklären, dass für viele europäische Aufklärungsphilosophen „Black intelligence was perpetually on trial. Non-Europeans were constantly called on to prove, for example by writing, what other races were granted as a birthright: their intelligence and their humanity.“ (Shohat/Stam 1994: 88) 14 Im Widerspruch dazu steht jedoch, dass das aufklärerische rationalistische Umfeld gerade auf Grund seiner empirizistischen Methodik und Betrachtungsweise der Dinge dem Instrumentarium zur Herstellung von „Rasse“ zumindest näher stand als der Pietismus, dessen Begründungsinstanz immer theologisch und der Signaturenlehre verhaftet war (vgl.: Rieke-Müller 2006: 62).
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Doch zunächst ein letzter Rückblick auf die Risiken der Affirmation: Der genauere Blick auf die bisher untersuchten Strategien zur Erinnerung an Amo als erstem Schwarzen Wissenschaftler in Europa bestätigt die Problematiken, die bereits im vorangegangen Teil anhand der nachgeahmten Signifizierungspraxis herausgearbeitet wurden. In gegenseitiger Wechselwirkung funktionieren sie hier zur Entlastung der Aufklärung von ihren Schattenseiten, als latente Wiederholung eines Otherings, das gerade angezeigt werden soll, und nicht zuletzt als Distanzierungspotenzial für ein Publikum, das sich auf der ‚richtigen‘ Seite wähnt. Das Stück im Stück arbeitet mit der Bündelung des „Rasse“-Diskurses zu einem individualisierten Einzelstandpunkt, der ‚ent-diskursiviert‘ für die dramatische Geschichtserzählung in einer polarisierten Personenaufstellung auf eine konservative, nahezu vormoderne Seite verschoben wird. Dies führt zu seiner Isolierung und Fixierung in einer ‚Vor-Zeit‘, von der sich Zuschauer_innen heute (zu) leicht distanzieren können. Im Zusammenspiel mit dem Fokus auf ständige Verfolgung und Fluchtsituation reaktiviert dies eine Reduktion Amos auf sein Verfolgtsein aufgrund eines ‚anders‘-Sein. Marginalisiert – und damit tendenziell ent-innert – bleiben seine Schriften und damit sein Beitrag als Mitglied dieser Gesellschaft. In diese machtvolle Konstruktion sind jedoch störende Elemente eingebaut, die das Gesamtbild unstimmig machen und eine Geschichtsschreibung anderer Art vorschlagen. Diesen Störungen werde ich in den nächsten Abschnitten nachgehen und dazu noch weiter in die Geschichte und Kontexte des Wissenschaftsstreits in Halle einsteigen.
Verdrängungen: Aufklärung ohne Aufklärer Die Entlastung der (Früh-)Aufklärung und ihrer wissenschaftlichen Agenten und damit der angenommenen historischen Förderer Amos funktioniert also durch eine Belastung ihrer im Stück konstruierten Gegner. Diese Konstruktion ist möglich, weil der historische Wissenschaftsstreit im Stück inhaltlich kaum spezifiziert wird und die Streit-Fläche anders beschrieben und somit neu besetzt werden konnte, nämlich mit dem Thema Rassismus anhand des „Rasse“-Diskurses der Aufklärung. Auffällig ist in der gesamten Geschichtskonstruktion, dass auf diesem Weg zwar deutlich eine ‚pietistische‘ Position (‚falsch‘, aber überhaupt) konstruiert wurde, die von Amo dagegen sehr schwach bleibt und eine Profilierung der liberalen Wolffianer – gar durch eigene Aussagen – fast ganz fehlt. Das ganze frühaufklärerische Umfeld, angefangen von Thomasius, über Leibniz und Amos Doktorvater Loescher, Ludewig, Hollmann etc. bis hin zu Christian Wolff
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selbst kommt nicht vor. Das ist um so erstaunlicher als die mehrfach erwähnte Verdrängung der Liberalen, mit der auch Amos mehrfache Universitätswechsel begründet werden, in der Aufführung performativ wiederholt wird. Wir haben es also mir der Re-Inszenierung jener Verdrängung der Frühaufklärung zu tun, die in der Inszenierung wiederholt benannt wird. In der einzigen wissenschaftlichen Debatte („Konfrontation“) im Stück steht Amo als Kontrahent des Pietisten und damit indirekt auch als einziger Repräsentant der Wolffianer. Sein kurzer Beitrag über die Apathie der Seele steht in der Tradition Descartes und damit für eine rationalistische frühaufklärerische Position, die der von Christian Wolff durchaus nahesteht (vgl. Martin 1993, Brentjes 1976, Mabe 2007). Aber: Als Johann aus der Fassung gerät und Amos Kritik an Descartes zum Anlass nimmt, Descartes „zu verteidigen“, verlagert sich der „Wissenschaftsstreit“ auf die Schwarz-Weiß-Konfrontation. Denn Descartes wird hier weniger als Aufklärer denn als weißer Philosoph in Anspruch genommen, um Amo zurechtzuweisen. Im Höhepunkt der „Konfrontation“ zeigt sich insofern noch einmal weniger der Streit zwischen den Pietisten und den Wolffianern. Vielmehr ist er als einseitiger Angriff auf den Schwarzen (Aufklärer) zu betrachten, der einen weißen Wissenschaftler kritisiert. Mit dieser Verschiebung der Auseinandersetzung von der Körper-Seele-Frage hin zu der Frage, wer wen kritisieren darf, verliert denn auch Amos Status als Wissenschaftler und seine Aufklärungsposition an Gewicht. Die beschriebene Schwärzung Amos funktioniert also im Zuge seiner Verdrängung als einzigem im Text erkennbaren Aufklärer, während andere Aufklärer respektive ihrer Positionen gar nicht erst vorkommen. Indem die Frühaufklärer als Akteure der Aufklärung verschwiegen und ihre Positionen ausgelassen werden, ist Aufklärung im Text quasi absent und doch verhandelt. Diese Absenz produziert als Konsequenz zwar einen regelrechten Monolog des Rassisten. Denn der Text gibt Johann sehr viel Raum zur Bildung einer Dominanzposition. In diesem ‚Monolog‘ eingesprengt sind jedoch Momente, die das labile Verständnis der historischen Situation irritieren, zugleich aber notwendig sind, um die Dominanzposition in ihrer Fragwürdigkeit aufzustellen.
EINSPRENGSEL Zur Re-Inszenierung der Verdrängung und Verstummung der Aufklärer passt schließlich auch, dass Wolffianisches Denken im gesamten Text überhaupt nur ein einziges Mal am Anfang erwähnt wird – bezeichnenderweise in eindämmender konjunktivischer Formulierung. Erschließbar wird sie nur aus einer kurzen
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Aussage des Antagonisten Johann über die Wolffianer, mit der er deren Vertreibung legitimiert. Heinz/Johann: … Ich meine, dass er [Amo] Glück hatte, dass sein Doktorvater ein liberaler Wolffianer war … Karl/Gottfried: Ich weiß, was Ihr meint … dass dieser Doktorvater wegen seiner „atheistischen“ Auffassung … Heinz/Johann: Behüt’ uns Gott! Wie können diese Wolffianer behaupten, dass die Afrikaner moralisch genau so hoch stehen wie wir Christen, und sogar noch höher? (-) Wenn die Wolffianer Recht hätten, müsste man sich über jeden Missionar wundern, der unbekehrt aus Afrika zurückkommt! (-) Diesen Wolffianern ist aber auch nichts heilig! … Gut, dass sie von der Universität Halle vertrieben worden sind! (Amo 7, Herv. tm)
Rekurriert wird hier auf den Höhepunkt des historischen Machtkampfes zwischen den Pietisten und Christian Wolff an der Universität Halle 1721. In einer Rede Über die praktische Philosophie der Chinesen zur Übergabe des Prorektorats hatte Wolff anhand der Beschreibung der hohen Kultur der Chinesen unter Beweis stellen wollen, dass tugendhaftes Denken ohne (christlichen) Gott, also rein auf der Basis vernunftorientierten Handelns möglich sei. Diese sog. Chinesenrede war Anlass für den Atheismus-Vorwurf an Wolff und seine Ausweisung aus Preußen – also jener Vertreibung bzw. Verdrängung, die in dem Theaterstück den mehrfachen Universitätswechsel Amos erklärt.15 In dieser Rede begründete Wolff anhand der nach Vollkommenheit strebenden Praxis der Sittlichkeit und Staatsverfassung der Chinesen die Unabhängigkeit der Tugend und Moral von (christlicher) Religion. In Ermangelung einer „natürlichen Religion“, so Wolff, („weil [sie] den Schöpfer der Welt nicht kannten“) konnten sie sich zur Beförderung der Tugend „nur der Kräfte der Natur – und zwar solcher, die frei von jeder Religion sind – bedienen […] Daß sie sich dieser Kräfte aber höchst erfolgreich bedienten, wird bald vollständiger feststehen.“ (Wolff 1985: 27) Wolffs besonderes China-Interesse begründete sich in der „Frage nach einer theologieunabhängigen, rein vernunftorientierten, rationalen Moralbegründung“
15 „Biographisch hatte diese Rede für Wolff erhebliche Folgen. 1723 verlor er seinen Lehrstuhl in Halle und wurde auf Anordnung des Königs Friedrich Wilhelm I unter Androhung der Todesstrafe aus Preußen vertrieben. Dies war nur der Endpunkt einer langjährigen Auseinandersetzung zwischen Wolff und der pietistisch geprägten theologischen Fakultät in Halle, vor allem mit Joachim Lange und August Hermann Francke.“ (Daiber 2008)
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(Daiber 2008) und damit der praktischen Erprobung dieser „‚Kräfte der Natur‘ (nämlich der Natur des menschlichen Geistes)“ (Albrecht 1985: XXXIX). Er legt mit der Beschreibung des chinesischen (Neo-)Konfuzianismus eine Auffassung zugrunde, die befreit ist aus theologischen Fundierungen und, so Albrecht, „verleiht dem Menschen, ob er nun Religion hat oder nicht, auf dem Felde des Handelns eine in der menschlichen Vernunft gegründete Autonomie (auch wenn das Wort selbst von Wolff noch nicht von der Jurisprudenz in die praktische Philosophie hinübergezogen wird)“ (Albrecht 1985: XXXVI). Wolffs Argumentation und seine Beschäftigung mit der chinesischen Kultur (Gesellschaft und Staatssystem) lässt sich in zwei diskursiven Kontexten verorten, die genau genommen eine Grundgeste verbindet, die Said mit dem Prinzip der Exteriorität, d.h. die Diskurs-Produktion über andere Kulturen, für das späte 18. und 19. Jahrhundert beschreibt. Einer dieser Diskurse entstand aus der China- und Indien-Rezeption des 16. und 17. Jahrhunderts durch die jesuitische Mission. Die ‚Entdeckung Chinas‘ durch die Jesuiten, „die astronomisch hohen Zahlen über das Alter Chinas“, „das Fehlen der ‚Sündflut‘ in den chinesischen Geschichtswerken“ (ebd.: XI), die China zu einem großen, alten Reich machten, sowie die chinesische Gesellschaft, ihre Staatsführung und Gelehrtenwelt und v.a. ihre technologische Überlegenheit z.B. auf den Gebieten der Medizin, Astronomie und Papierherstellung wie auch in der Seiden- Porzellan-, Schießpulverproduktion16, löste in Europa, das sich dagegen als klein, politisch zerstritten und durch die Reformation gespalten erkannte, höchste Bewunderung und Faszination aus (ebd.: XIV). Der zweite angrenzende Diskurs orientierte sich auf amerikanische und nordeuropäische Gesellschaften, die im Zuge der Kolonialisierung (und der damit verbundenen Kolonialisierungskritik) erkundet und zum Teil in Kritik an den eigenen Gesellschaften als ideale Zivilisationsformen überhöht wurden. Sie rekurrierten indirekt auch auf vorangegangene Entwürfe der Utopisten (Thomas Morus u.a.). und reihen sich ein in eine diskursive Kritik an den eigenen Staatssystemen in Europa, die als veraltet, überkommen und vom Sittenverfall gezeichnet abgelehnt wurden, während die „der Wilden“ in Abgrenzung dazu als aufgeklärt in Erscheinung treten, wie Karl-Heinz Kohl erklärt: „Die egalitäre Gesellschaftsordnung der amerikanischen Wilden wird in beiden Fällen zum universalen Modell der Freiheit, Gleichheit und Vernunft, das der europäischen
16 Vgl. dazu den Vortrag zu Leibniz’ Chinarezeption von Karin Yamaguchi 2008.
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Gesellschaft als Wertmesser ihrer eigenen Wahrheit und Gerechtigkeit dienen soll.“ (Kohl 1986: 76)17 Der gemeinsame Grundgestus besteht in dem Rekurs auf außereuropäische Gesellschaften zur Verhandlung innergesellschaftlicher Konflikte/Umwälzungen oder zumindest einer „Reflexion [… der] europäischen Gesellschaften selbst“ (ebd.: 40), mit der theologische Begründungen bestehender Gesellschaftsverhältnisse zugunsten von vernunftgeleiteten Argumentationen für Neuordnungen verworfen werden. Im Gegenzug wurden diese ‚anderen Kulturen‘ aber auch von den Gegnern solcher Aufklärungstheoretiker herangezogen, um mit deren „Wildheit“ oder Atheismus die eigenen Grundwerte zu identifizieren bzw. Mission zu begründen. Wie „Vexierbilder“ des Eigenen kursierten die Beschreibungen der „Anderen“ mit mal positivem, mal negativem Duktus (vgl. ebd.). Teil der Geste ist dabei auch, wie Said immer wieder betont, dass der Orientale (hier: der Chinese) selbst nicht zu Wort kommt, sondern die Diskurse über sie geführt werden, da ihnen (und mit denen) ihnen die Fähigkeit zur Selbstreflexion abgesprochen wird, wenngleich Leibnitz sogar für die Entsendung chinesischer Missionare als einer Notwendigkeit zur Änderung der eigenen Verhältnisse plädiert, wie Daiber zitiert: Jedenfalls scheint mir die Lage unserer hiesigen Verhältnisse angesichts des ins Unermeßliche wachsenden moralischen Verfalls so zu sein, dass es beinahe notwendig erscheint, daß man Missionare der Chinesen zu uns schickt, die uns Anwendung und Praxis einer natürlichen Theologie lehren können, in gleicher Weise, wie wir ihnen Leute senden, die sie die geoffenbarte Theologie lehren sollen. (Leibniz zit. nach Daiber 2008)
Christian Wolffs Gedanken über die chinesische Kultur und ihrer gesellschaftlicher Praktiken trugen also zur Verhandlung eines innergesellschaftlichen Konflikts bei, der die Differenzen in Fragen der Vernunft, Tugend, Moral und Religion zwischen den Aufklärern mit ihrem vernunftorientierten AutonomieDenken und den Pietisten hervorbrachte. Zur Ableitung einer Verwirklichung der praktischen Herrschaft der Vernunft steht China gewissermaßen als ‚Prototyp‘ aufklärerischen Denkens, das im Abendland rezipiert werden sollte, um die
17 In ähnlicher Weise beschreibt Albrecht Leibniz’ Interesse an chinesischer Politik und Philosophie: „Fragt man nämlich nach den Gründen für sein überaus starkes Interesse an China, so wird man ganz obenan die Einsicht stellen müssen, daß man von den Chinesen Erkenntnisse lernen könne, die in der europäischen Ethik und Politik mit größtem Gewinn anzuwenden seinen. Denn in China diene die Politik der Moral, und diese ziele auf das allgemeine und individuelle Wohlergehen.“ (Abrecht 1985: XX)
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eigene Gesellschaft zu verbessern. Aber auch andere Zivilisationsgemeinschaften, deren Kultur weniger bekannt und auch weniger hochgeachtet war, werden von Wolff – wenn auch marginal – als gleichrangig diskutiert, so z.B. die Lappen, die Samogiten und mehrfach afrikanische Gesellschaften „die gar keinen Gott gläuben, und […] bey [denen es] nicht schlimmer, ja in vielen Stücken besser, als unter uns Christen hergehet“ (Wolff: 332f). Mit dieser 1747 erklärten Gleichrangigkeit – gar Überlegenheit – der chinesischen – aber eben auch anderer – Kultur gegenüber der christlich abendländischen kommen die universalistischen, vernunftgeleiteten Autonomie- und Freiheitsgedanken der Frühaufklärer zum Tragen, die von den Pietisten abgelehnt werden mussten. Denn diese Gedanken stellten die Hauptsäule pietistischen Denkens – Ethisierung des Glaubens und der Gehorsam gegenüber Gott als alleinigem Lenker im Streben nach der Erfahrung der Wiedergeburt und eine „universell angelegte religiös-soziale […] Reformation des gesamten Lebens der Gläubigen“ (Albrecht 1985: XLVII) – in Frage. Entsprechend ging es in den Streitschriften der gegnerischen Pietisten (insbesondere Joachim Lange18) auch nicht wirklich um China, Lappland oder Afrika, sondern allem voran darum, Wolff und sein vernunftorientiertes Denken als atheistisch zu denunzieren und eine Ausweisung Wolffs beim preußischen König zu erwirken.
UTOPISCHE LEERSTELLE Der Theatertext übernimmt also die Argumentationsfigur mit dem außereuropäischen Anderen, priorisiert dabei aber anstelle der dominant überlieferten Chinesen die Afrikaner und stellt damit einen Zusammenhang aus, der als ‚Marginalie‘ völlig aus der Überlieferung herausgefallen, also ent-innert, ist. Die Produktion formuliert den Streit um die Wolff’sche Rede in Halle mit einer weiteren Kontext-Verschiebung in der Form um, dass aus jener im 18. Jahrhundert so hochgeschätzten chinesischen Kultur eine hochgeschätzte afrikanische Kultur wird. Damit wird das Denk- und Sagbare der Tradierung komplett überschritten. Denn die dominanten Überlieferungen in den wissenschaftlichen Disziplinen der Philosophie und der Geschichtswissenschaft haben die Vorstellung einer solchen Denkweise so verunmöglicht, dass diese Aussage Wolffs ebenso aus den Tiefen der Archive herausgeholt werden muss wie die wenigen überlieferten historischen Daten über Anton Wilhelm Amo selbst: Dass Wolff neben den ‚alten Sinesern‘ auch die südafrikanischen Khoi Khoi als Beispiele für eine religionsun-
18 Anlass von Wolffs Rede war Langes Amtsantritt als Rektor der Universität Halle.
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abhängige Tugendhaftigkeit und Sittlichkeit nennt, ist nicht seiner ‚ChinesenRede‘ zu entnehmen, sondern einem Gutachten, das die Universität Jena über Wolff ausstellte19 und das die Ausweisung aus Preußen unterstützte. Einer der Vorwürfe gegen Wolff lautet hier, dass dieser „insonderheit von den Hottentotten rühmet, daß sie, ungeachtet sie keinen Gott glauben, dennoch vielen Tugenden ergeben seien“. Diese positive Bezugnahme eines europäischen Philosophen auf eine afrikanische Kultur ist eine „Anomalie“20 der europäischen Aufklärung – und selbst ihre Dokumentation ist von vergleichbarer Marginalität: Außerhalb des Jenaer Universitätsarchivs findet sich in der ausufernden Forschungsliteratur zur Frühaufklärung kaum ein Hinweis auf diese von Wolff geäußerte Position – abgesehen von einer 1961 in der DDR publizierten Darstellung des Streits zwischen Wolffianern und Pietisten, die selbst ebenso in Vergessenheit geraten ist
19 Dieses Gutachten der Universität Jena bündelte alle Anklagepunkte gegen Wolff nach dem Eklat an der Universität Halle und ist bei Hermann Hettner in voller Länge zitiert: „daß auch Herr Hofrat Wolff, soviel die Moral betrifft, […] das Ansehen zwar haben will, als wenn er's mit der moralitate objectiva hielt […] gleichwohl aber derselben ganz zuwider statuieret, daß [die Handlungen] erst durch ihren Erfolg gut oder böse werden; hiernächst aber […] zu erweisen vermeinet, daß die Atheisterei niemanden zum bösen Leben bringe, sondern nur eines jeden Unwissenheit und Irrtum vom Guten und Bösen; ingleichen daß bloß der Mißbrauch der Atheisterei zum bösen Leben verleite… ; dannenhero auch […] nicht allein.. . annimmet, daß sich ganze Völker finden, die keinen Gott glauben, bei denen es doch… in vielen Stücken besser hergehe als unter Christen, … sondern auch insonderheit von den Hottentotten rühmet, daß sie, ungeachtet sie keinen Gott glauben, dennoch vielen Tugenden ergeben seien, vornehmlich aber von denen alten Sinesern, daß sie zu der Zeit, da ihr Reich am meisten florieret, … zwar weder natürliche noch geoffenbarte Religion gehabt, nichtsdestoweniger aber die größte Tugend und Weisheit samt einer … vortrefflichen Regierungskunst … spüren lassen, und da er solchergestalt die Tugend gar leicht und sogar den Atheisten gemein machtet, […]“ (zit. in Hettner 1961: 181f). 20 Ich verwende diesen Terminus in Anspielung auf Sankar Muthus These, dass es im Widerspruch zum Mainstream der europäischen Aufklärung eine ‚anomale‘ kurzlebige Gegenbewegung gegeben habe, die sich – allerdings bei Muthu erst im späten 18. Jahrhundert – in Opposition zum aggressiven Eurozentrismus und Rassismus artikuliert habe; bezeichnenderweise finden sich jedoch auch in Muthus Lektüren Diderots, Kants und Herders keinerlei positive Referenzen auf Afrika (Muthu 2003; zur ‚Anomalie‘-These insbes. 253–60).
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wie ihr Gegenstand.21 Kurz: Die bei Wolff nachweisbare positive Bezugnahme auf Afrika (vgl.: Wolff: 333) ist nicht tradiert und somit gewissermaßen ungeschehen gemacht worden. Durch Konjunktivformen mehrfach in den Möglichkeitsbereich verschoben und dem Konkurrenten Wolff zugeschrieben, also eingedämmt und ‚indirektisiert‘, formuliert Johann etwas in doppelter Hinsicht unmöglich Gemachtes: Befand sich schon die Vorstellung einer afrikanischen Kultur und Moral oder gar ihrer höheren Tugend an der Grenze des damals Sagbaren – immerhin war sie Teil des Anlasses von Wolffs Lehrverbot und dem Landesverweis – so hat die Nicht-Überlieferung sie geradezu in den Bereich des Undenkbaren verschoben. Entsprechend überschreitet sie in weiten Teilen auch heutiges Denken.22 Eine mit europäischer Kultur vergleichbare (Hoch-)Achtung afrikanischer Kulturen – wie die der Chinesen – hat es im Ansatz gegeben, aber sie wurde in der Form entinnert, dass dieser Satz das (über das 18. Jahrhundert) Sagbare übersteigt. Im Gegensatz zu einer Vorstellung von Rassismus als einer ‚Normalität‘ im 18. und/oder 19. Jahrhundert ist es aus heutiger Sicht kaum denk- und vorstellbar, dass es seitens der europäischen Aufklärung eine Anerkennung oder Hochachtung für afrikanische kulturelle Formationen gegeben haben könnte. Im Theatertext hinterlässt der Satz daher in Form einer Unmöglichkeitsbekundung die – indirekte, aber ausgesprochene – Möglichkeit als sagbare Utopie. Zugleich wiederholt er die in der Geschichte nachweisbare, in der Realisierung aber ‚verratene‘ Möglichkeitsdimension. Wie im realen Geschichtsverlauf des 18. Jahrhunderts taucht diese Aussage über Afrikaner im Theatertext auf – und verschwindet sofort wieder. In der Performance wird die Aussage weder stimmlich noch durch andere Mittel (Blicke, Gesten, Gänge) hervorgehoben. Sie verschwindet gewissermaßen in Johanns missgünstiger Kommentierung der Leistungen, die Amo aufgrund der europäischen – weißen – Bildung erbracht hat und die insofern kaum „afrikanische Kultur“ darstellen kann.23
21 Für den Hinweis auf Hermann Hettners Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert danke ich Iwan D’Aprile. 22 Aktuelle Diskurse mit/über „Afrika“ zeichnen sich über die Homogenisierung hinaus durch Exotisierung (Kultur), Dämonisierung (Politik) wie auch durch Infantilisierung oder Paternalisierung in Hilfsdiskursen (Entwicklungshilfe) aus. Dies sind genau die „Zerrbilder“, gegen die Richard Nawezi explizit mit seinem kulturellen Engagement und insbesondere mit Radio Soukous anarbeitet (vgl. www.kitunga.de). 23 Insofern ist die Aussage nicht einmal auf Amo beziehbar, der – anders als die Chinesen, die Leibniz gern in Europa gesehen hätte – gerade nicht als Abgesandter afrikani-
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Auf diese indirekte Weise verweist Johanns Aussage zum einen auf die Verstummung afrikanischer Kulturen durch weiße Wissensproduktion und Versklavungspraxis. Afrikanische Gesellschaften wurden – anders als chinesische, indische oder auch amerikanische – nur in seltenen Fällen überhaupt beschrieben, „Kultur“ wurde ihnen im Gegenteil systematisch abgeschrieben. Hegel beispielsweise erklärte den afrikanischen Kontinent für „geschichtslos“: „Was wir eigentlich unter Afrika verstehen, ist das Geschichtslose und Unaufgeschlossene, das noch ganz im natürlichen Geiste befangen ist und das hier bloß an der Schwelle der Weltgeschichte vorgeführt werden musste.“ (Hegel 1970: 129) Afrikanische Gesellschaften, Kulturen und Geschichten wurden stattdessen aktiv durch den europäischen transatlantischen Menschenhandel zerstört. Die Aussage ist aber zum anderen im Text als eine utopische Zuschreibung an die Frühaufklärung lesbar. In ihrer flüchtigen Erwähnung verweist sie auf die Marginalisierung solcher Texte und Schriften, die – wie hier im Fall Wolffs – anderes Denken vortrugen und damit vorstellbar machten. Die idealisierenden Texte von Las Casas, Montaigne, Lahontan/Gueudeville wie auch die Schriften Campanellas oder Morus’, die von zeitgenössischer Reiseliteratur angeregt wurden, bis hin zu Lafitau, auf die Karl-Heinz Kohl zur Analyse des Bildes des ‚Guten Wilden‘ (Kohl 1986) zurückgreift, sind zum Teil überliefert. In ihrem herrschaftskritischen Duktus sind sie aber entweder ‚in Vergessenheit geraten‘ oder im Bereich des Utopisch-Fiktionalen verschoben oder geblieben. Karl-Heinz Kohl erklärt eine „Vorherrschaft zivilisationskritischer Impulse über die koloniale Selbstbehauptung [als] kennzeichnend“ für eine frühe Phase der europäischen Ethnografie (ebd.: 19).24 Das Bild vom Guten Wilden ist – ebenso wie sein negatives Gegenstück: die Verfremdung der Bewohner der Neuen Welt zu dämonischen oder halbtierischen Lebewesen erster und in sich noch ungebrochener Ausdruck der doppelten Erfahrung, auf der jede Wiedergabe der Beobachtungen fremder Kulturen beruht: der niemals unmittelbaren, sondern
scher Kultur nach Europa eingeladen war, um den dortigen „ins Unermeßliche wachsenden moralischen Verfall“ (Leibniz) mit der Lehre einer sittlichen Praxis zu begegnen. Vgl.: FN 54. 24 „Die philosophische Kritik dieses zentralen Topos früher ethnologischer Reflexion sowie seine kurzfristige Wiederbelebung durch die Berichte über die Entdeckung Tahitis im 18. Jahrhundert leitete das Ende jener frühen Epoche der europäischen Ethnographie ein, für die noch die Verschränkung von Imagination und Wirklichkeitssinn und die Vorherrschaft zivilisationskritischer Impulse über die koloniale Selbstbehauptung kennzeichnend war.“ (Kohl 1986, 19f)
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206 | G EGEN -E RZÄHLUNGEN : A MO – EINE DRAMATISCHE S PURENSUCHE durch die jeweils besondere historische Situation des interkulturellen Kontakts schon immer vermittelten Erfahrung der fremden Kultur in gleicher Weise wie der eigengesellschaftlichen Erfahrung dessen, der die fremde Kultur in den Begriffen seiner eigenen beschreibt. In dieser doppelten Eigenschaft fungierte das Bild vom Guten Wilden in der frühen ethnographischen Berichterstattung ebenso als organisatorischer Parameter fremdkultureller Erfahrungen wie es zugleich als Projektionsfläche des in der eigenen Gesellschaft Unterdrückten und Verdrängten diente. (Kohl 1986: 19)
Gewissermaßen eingeschlossen in das Schweigen der Frühaufklärer, die im Theatertext nur erwähnt werden, steht die in dem Stück sagbar gemachte Annahme einer hohen Kultur oder Moral der Afrikaner für sich, und sie bleibt ungefüllt. In dieser Form und ohne erkennbare Funktion bleibt diese Annahme eine Leerstelle. Sie verweist auf die Verstummung des als afrikanisch konstruierten Anderen und bildet einen Störfaktor in der kongruenten – im Sagbaren verhafteten – Erzählung, die mit ‚utopischen‘ Momenten irritiert wird. Als Leerstelle weist sie gleichermaßen auf das Zum-Schweigen-Bringen und das Zum-SchweigenGebrachte hin, ohne das Verschwiegene im Gegenzug genau zu nennen. Sie stört im Hinblick auf die zerstörenden Taten, ohne das Zerstörte zu rekonstruieren. So wird Hegels These vom ‚geschichtslosen Kontinent‘ schlicht keine neue Geschichtsschreibung entgegengehalten, die ein vorkoloniales Afrika rekonstruiert oder – wie Martin Bernals Black Athena oder Cheikh Anta Diops The African Origin of Civilization – Afrika/Ägypten als die Ausgangspunkt europäischer Kultur behauptet. Stattdessen verweist die Leerstelle genau darauf – das ebenso im Sinne Bernals und Cheikh Anta Diops – wie der Kontinent erst geschichtslos wurde.
Ungefüllte Utopien Diese Variante einer Gegenstimme entgeht somit der affirmierenden Wiederholung einer Verstummungspraxis, die nicht durch die Erzählung einer nicht rekonstruierbaren Geschichte überschrieben werden kann. Eine solche Erzählung stände in Konkurrenz zu einem überdimensionalen Diskurs der Geschichtslosigkeit. Der Versuch der Rekonstruktion müsste mit den gleichen Mechanismen des Ein- und Ausschlusses operieren wie die Geschichtsschreibung nach europäischem Modell und schriebe sich so nur selbst in den Herrschaftsdiskurs ein, der mit seinen Universalisierungen und Essentialisierungen die afrikanische Ge-
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schichte ausgelöscht hat.25 Mit Spivak beteiligen sich solche Geschichtsschreibungen an der Reproduktion kolonialer Wissensregime, indem sie die subalterne Handlungsmacht in ein bürgerlich humanistisches Modell einschreiben. […] insofern die Subjektposition der Subalternen über die dominante Hegemonie konstruiert wird, [kann] diese niemals eine autonome sein. (Castro Varela/Dhawan 2005: 71)
Anstelle eines alternativen Diskurses über das Verschwiegene, der sich dem Gesagten entgegenstellt, liegt in dieser sprachlichen Grenzüberschreitung – neben der Verletzung – die Spur einer Utopie, nämlich der Vorstellung, solches Denken wäre überliefert worden, und der Vorstellung, solches Denken wäre heute selbstverständlich. Als Denken der Wolffianer aufgerufen, arbeitet das auf diese Weise (wieder) sagbar Gemachte im Gesamtablauf unterschwellig weiter als Möglichkeitsvorstellung einer Aufklärung, die unvollendet ist und das Sagbare im aktuellen Migrationsdiskurs um eine ungefüllte Utopie erweitert. Mit dem Text wird sie als nahezu unsagbare/undenkbare Vorstellung aufgerufen und in den Text eingestreut. In der Möglichkeitsform wird ein anderes Sprechen mit Aufklärung denkbar, das einer Instrumentalisierung zum Ausschluss von Anderen entgegenwirkt. Dieses andere Sprechen ist im Text ein andeutendes Schweigen, das selbst nichts fixiert und damit die bestehenden Fixierungen wieder löst. Aufklärung wird mobilisiert. Das Dilemma des Sprechens über Rassismus zwischen der Reproduktion des Gesagten und damit der Affirmation ist an dieser Stelle durch die Andeutung als Leerstelle gelöst. Bezogen auf das gesamte Vorhaben, afro-deutsche Geschichte aus den Archiven zu holen, läuft diese Variante jedoch darauf hinaus, das Stück selbst als eine Leerstelle zu inszenieren. Stattdessen ist dies die Geschichte eines Verschwinden-Machens. Denn: Neben der re-inszenierten Verdrängung der Frühaufklärer erscheint die re-inszenierte Verstummung von Amo wie eine Parallelisierung, die in der Setzung von Amo als Frühaufklärer ein Äquivalent findet. So gelesen ist es nur konsequent, die Frühaufklärer in dem Stück auszulassen, obwohl, oder gerade weil sie Amo vermutlich maßgeblich prägten: Leibnitz, der Herzog, der gute Kontakte zu Thomasius pflegte, später Ludewig. Ihre vernunftgeleiteten Gleichheits- und Freiheitsgedanken könnten zwar als adäquater Gegenpol zu Johanns rassistischen Theorien aufgerufen werden. Und ihr Fehlen verlangt auch geradezu nach solchem Widersprechen. Aber ihre Auslassung pro-
25 Dazu die Überlegungen von Gayatry Ch. Spivak, zusammengefasst und eingeführt in Castro Varela/Dhawan 2005: 55–81.
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filiert Amo als die einzige Persönlichkeit der Aufklärung und damit als den Repräsentanten der europäischen Aufklärung im Text. Ebenso, wie keine afrikanische Geschichte durch eine neue Erzählung im Text gerettet werden kann, kann keine europäische Aufklärung geschrieben werden, die ‚eigentlich‘ anders war. Sie hätte möglicherweise in dieser Geschichte ein weiteres Mal zur Konsequenz, dass Amo rassifiziert und durch den Text selbst in den Hintergrund verschoben würde. Stattdessen stellt diese Inszenierung ein spärliches Potenzial der Frühaufklärung vor, das durch jene dominanten Diskurse überschrieben wurde, mit denen nationale, europäische und weiße Geschichte und Vergangenheit hergestellt wurden. Amos sukzessives Verschwinden, auf das ich im letzten Teil meiner Analyse eingehen werde, verbindet die beiden Geschichten: die der Zerstörung außereuropäischer, hier afrikanischer, Kulturen und die einer europäischen Aufklärung, die das Potenzial gehabt hätte, diese Zerstörungen zu verunmöglichen. Zugleich ist der Text lesbar als eine Form der Aneignung oder Re-bzw. De-Klamation der Beteiligung nichteuropäischer Akteure an der Entstehung europäischer Moderne oder Aufklärung und der Reklamation einer entsprechenden Neu-Schreibung von Geschichte und Repräsentation der globalhistorischen, ‚transmodernen‘ Voraussetzungen der Moderne (vgl. Dussel 1995: 24–26; 1999: 18) in einer rigorosen „Provinzialisierung“ Europas (vgl.: Chakrabarty 2001). In dem Bemühen, diese verschiedenen, auch gegenläufigen Bewegungen vorzustellen, entsteht mit dem Text und seiner Inszenierung eine z.T. höchst widersprüchliche Überlagerung, die zudem mit Effekten der weißen Entlastung und der strukturellen Schwärzung der Figur des Amo zu leben hat. Und in der Tat überlagerten sich diese Geschichten in einer komplexen, nicht in eine dramatische Erzählung zwingbaren historischen ‚Wirklichkeit‘ in einer Widersprüchlichkeit, die nicht zuletzt einen ‚Grundwiderspruch‘ zu einer immer wieder bohrenden Frage macht: Wie Rassismus passt zu Aufklärung?
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Re-Vidieren
We were brought up in an education system in India where the name of the hero of that philosophical system was the universal human being, and where we were taught that if we could begin to approach an internalisation of the human being, then we could be human. (Spivak 1990: 7 zit. in Gandhi 2000: 27, Herv. tm)
‚DER MENSCH‘: SUBJEKT UND OBJEKT DER AUFKLÄRUNG Die Frage nach dem Menschen, dem Mensch-Sein und der Menschheit, die die europäischen Gesellschaften in der Philosophie, aber auch einer Vielzahl anderer Diskurse seit der Renaissance und im Besonderen der Aufklärung beschäftigte, begleitet das Stück unterschwellig von Beginn an: „Ist mir denn kein Herz gegeben? Bin ich nicht – ein Mensch – aus Fleisch und Blut“ singt Thomas die Arie des Monostatos im Prolog laut mit. Die Textstellen, die das Theaterstück zu dieser Thematik enthält, geben bereits einen winzigen Einblick in die verschiedenen Dimensionen der historischen Auseinandersetzungen: Die Körper-Seele-Problematik, der sich u.a. Anton Wilhelm Amo mit dem Ziel widmete, den Dualismus „mit einer Reflexion über die Empfindung aufzulösen“ (Mabe 2007: 83), lässt sich spätestens seit Descartes nicht mehr trennen von der Frage nach der Autonomie des Denkens und damit – zumindest potenziell – der Unabhängigkeit von Moral und Tugend von einem (christlichen) Gott. Jacob Emmanuel Mabe beschreibt den „Ausgangspunkt der neuzeitlichen Debatten [als] Frage, ob das menschliche Wissen seine Quelle im Menschen selbst und nicht mehr in Gott habe“ (ebd.: 77). Neben diesem Komplex, der den Menschen ‚als solchen‘ betrachtet, verweisen naturhistorische Schriften auf ein zunehmendes Interesse an den Menschen im Plural. Dies galt der Menschheit, ihrer Differenzierung in verschiedene Bevölkerungen, und nicht zuletzt an der Spekulation über die Genealogien und ‚Ursprünge‘ dieser zuneh-
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mend als distinkt gedachten Menschengruppen. Das sich so herausbildende neue Konzept vom ‚Menschen‘ warf nicht zuletzt Folgefragen nach der Herkunft von Ungleichheiten auf, für die neben ‚natürlichen‘ Erklärungsansätzen insbesondere auch gesellschaftlich-politische und ökonomische Dimensionen von Leben geltend gemacht wurden.1 „Humanism is a highly contentious term“, konstatiert Leela Gandhi und eröffnet aus postkolonialer Perspektive einen Blick auf die „westliche Dominanz als einem Symptom einer unheilvollen Allianz zwischen Macht und Wissen“ (Gandhi 2000: 25; Übers. tm). Die Vorstellung einer universalen, gegebenen menschlichen Natur, die in einer gemeinsamen Sprache der Rationalität entdeckt werden könne, beschreibt sie als gemeinsamen Nenner sehr divergenter Humanismen: „These various humanisms are […] unified in their belief that underlying the diversity of human experience it is possible, first, to discern a universal and given human nature, and secondly to find it revealed in the common language of rationality.“ (Ebd.: 27) Die Universalität des Humanen, die heute von liberaler Seite als gegebenes Faktum – als Realität – postuliert wird, von einer Vielzahl marginalisierter Gruppen aber als erst zu erreichendes, noch nicht verwirklichtes Ziel emanzipativer und redistributiver Politik aufgerufen wird, ist zugleich Angriffspunkt poststrukturalistischer Kritik. Sie stellt die Vorstellung einer Einhelligkeit im universalen Rationalen als normativ und totalitär in Frage.2 Von diesem Standpunkt aus historisiert Gandhi die Universalität im Projekt des Humanen und fordert dessen Maßstäbe der Bewertung von Mensch als eurozentrisch heraus: „[W]e might say, that the underside of Western humanism produces the dictum that since some human beings are more human than others, they are more substantially the measures of all things.“ (Ebd.: 30) Sie führt dies auf eine zentrale Setzung im humanistischen Gedanken zurück, nämlich die bereits im Humanismus der Renaissance definierte Bindung von Mensch-Sein an Wissen: „[T]he status of human-ness is intimately bound up with questions of
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Zu den mono- und polygenetischen Theorien zur Abstammung des Menschen im Gegensatz zur Vorstellung von seiner Gotterschaffenheit, vgl. u.a. Frederickson 2004: 54; Hentges 1999: 163–166; Kohl 1986.
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„[…] postcolonial studies critics are left to ponder the apparent chasm between the poststructuralist insistence on the impossibility of a universal human nature and the opposing Marxist verdict on the impossibility of a politics which lacks the principle of ‚solidarity‘“ (Gandhi 2000: 28). Für die deutsche kritische Weißseinsforschung hat Peggy Piesche die Ambivalenzen des ‚Subjekts‘ kritisch ins Visier genommen und seine Normalisierung anhand der Analysen von Texten Immanuel Kant rekonstruiert (vgl.: Piesche 1999, 2005).
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knowledge.“ (Ebd.: 29) Für die Frühe Neuzeit macht sie diese Verknüpfung von Mensch und Wissen am Inhalt des Wissens fest, während die Aufklärung die Methoden des Wissens in den Vordergrund rückt.3 Während der Empirismus methodisch die wahrnehmbare Erfahrung des sinnlich Gegebenen zur Bedingung von Erkenntnis und Wissen machte, erkannte Descartes in der Vernunfterkenntnis und der mathematischen Methode eine Art und Weise, wie mensch Dinge (er-)kennen oder wissen kann (Rationalismus): Mit dem „Cogito, ergo sum“ konzeptualisierte er das sich selbst denkende und definierende Subjekt in Differenz zu einem von außen betrachteten Objekt. Die nun von hier aus möglich gemachte – d.h. vom Menschen und im Speziellen vom westlichen, männlichen Subjekt aus gedachte und praktizierte – Ordnung der Dinge und der Natur, nicht zuletzt im Hinblick auf ihre Beherrschung4, rationalisiert und legitimiert klassifikatorische Anordnungen der (menschlichen) Lebewesen, die, dichotom zugespitzt, als hierarchische Aufteilung betrachtet werden kann: Angeordnet wurden darin diejenigen, deren Rationalität und somit Mensch-Sein über lange Zeit in Frage stand, und diejenigen, die sich in Projekten der Entwicklung oder ‚Zivilisationsmission‘ berufen fühlten, das Licht der europäischen Aufklärung und Bildung zu überbringen. Zugleich konnte die Propaganda der „‚zivilisatorischen Aufgaben‘“ die „ökonomischen Ziele“ verschleiern und „koloniale Herrschaft“ rechtfertigen (Schubert 2001: 66). Die Überzeugung von einer Verpflichtung, (europäische) Zivilisation, Aufklärung und Rationalität als Bedingung von Mensch-Sein und Mündigkeit an die gesamte Menschheit weiterzutragen, erklärte Kolonisierung zu einem Projekt der
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„Rennaissance humanism and its inheritors insist that man is made human by the things he knows, that is, by the curricular content of his knowledge. […] Enlightenment humanism and its legatees take ‚humanity‘ to be function of the way in which man knows things.“ (Gandhi, 2000: 29; Herv. tm)
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Der Zusammenhang zwischen Aufklärung und Naturbeherrschung, wie ihn Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung vorstellen, führt jedoch keineswegs zu einer Stabilisierung des souveränen denkenden Subjekts, wie es sich Descartes oder Kant vorstellen. Im Gegenteil: „die Weltherrschaft über die Natur wendet sich gegen das denkende Subjekt selbst, nichts wird von ihm übriggelassen, als eben jenes ewig gleiche Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können. Das abstrakte Selbst, der Rechtstitel aufs Protokollieren und Systematisieren hat nichts sich gegenüber als das abstrakte Material, das keine andere Eigenschaft besitzt als solchem Besitz Substrat zu sein. […] Das Tatsächliche behält recht, die Erkenntnis beschränkt sich auf seine Wiederholung, der Gedanke wird zur bloßen Tautologie.“ (Horkheimer/Adorno 1992: 32f)
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Entwicklung, das in mitunter groß angelegten Bildungsprogrammen in den Kolonien konkrete Umsetzung fand.5 Dabei leitet sich, wie Ashis Nandy argumentiert, eine Korrespondenz zwischen Kolonialismus, Primitivismus, Unterentwicklung und Kindlichkeit aus einem neuen Kindheitsbegriff ab, der sich im 17. Jahrhundert herausbildete: Die Aufklärungsidee von Fortschritt, Entwicklung und Bildung setzt Nandy in einen direkten Zusammenhang mit einem modernen Konzept von Kindheit6 als einem minderwertigen, unterlegenen Zustand auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Mit diesem Konzept ging die Idee einer Verantwortung des Erwachsenen einher, das Kind aus einem unreifen, unproduktiven und unvernünftigen Stadium in den Status der Mündigkeit zu sozialisieren. Colonialism dutifully picked up these ideas of growth and development and drew a new parallel between primitivism and childhood. Thus, the theory of social progress was telescoped not merely into individual’s life cycle in Europe but also into the area of cultural differences in the colonies. What was childlikeness of the child and childishness of immature adults now became the lovable and unlovable savagery of primitives and the primitivism of subject societies. (Nandy 1983: 15)
Vor diesem Hintergrund der Anbindung von Mensch und Wissen, Rationalität und Erkenntnisfähigkeit werden die machtvollen Strukturen zur Definition von Mensch-Sein sowie der Herstellung von Wert und Anerkennung erkennbar, die nicht nur über Zugänge und Ausschlüsse in globalen gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen entscheidend wirk(t)en, sondern insbesondere die Bedingungen von Subjektivität und Handlungsmacht maßgeblich mitbestimmten. Das Projekt Amo stellt diese Fragen zwar nicht direkt, fordert jedoch die Auseinandersetzung mit genau diesen postkolonialen Positionen zu Subjektivität heraus, indem es in der Figur des Schwarzen Professors im Deutschland des 18.
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Ein in den Postcolonial Studies viel zitiertes Beispiel ist das koloniale Bildungsprogramm von Thomas Babington Macaulay (1835), in dem dieser die Heranbildung einer anglisierten indischen Elite propagiert (vgl. Nandy 1983: 32–34). Schubert (2001: 66–89) geht der Erziehungsmission in seinem Aspekt einer „Erziehung des N[…] zur Arbeit […] als Mantra der Kolonialbewegung“ in Deutschland nach.
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Nandy findet in der Ausbildung dieses neuen Kindheitskonzepts im Laufe des 17. Jahrhunderts (mit Bezug auf Philippe Ariès) die Begründung für die konsensuale Überzeugung europäischer Intellektueller, dass Kolonialismus zwar ein Übel, aber ein notwendiges sei (Nandy 1983: 14). Diese Vorstellung teilte sogar Marx, der die Gewalt und Ungerechtigkeiten der Briten zwar anklagte, die Kolonisierung selbst aber als ein Mittel der Modernisierung Indiens erklärte (vgl.: Gandhi 2000: 33).
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Jahrhunderts die verschiedenen Aspekte der Kolonialpraxen und -diskurse7 zusammenlaufen lässt und sie in einer geradezu absurden Widersprüchlichkeit ‚clashen‘ lässt. Denn die in der postkolonialen Theorie diagnostizierten Dichotomien, mit denen „der koloniale Diskurs sich typischerweise selbst rationalisiert“, funktionieren in dieser Figur nicht mehr: „maturity/immaturity, civilisation/barbarism, developed/developing, progressive/primitive“ (Gandhi 2000: 32). Die Inszenierung zeigt in der Figurenanlage eine Umkehrung der Zuordnungen und zugleich, wie die Logik der Zuordnung diese Umkehrung untergräbt: Prof. Johann, dessen impulsive und affektgeleitete Ausbrüche seinem Status als selbsternanntem Vertreter europäischer Zivilisation widersprechen, zugleich aber seinen inhaltlich ‚vormodernen‘, rückschrittlich vorgestellten Positionen entsprechen, steht in Amo eine Figur gegenüber, die als durch und durch modern und zivilisiert präsentiert wird. Dessen Subjektivität wird in der sehr hohen Anerkennung seiner Leistungen, Progressivität und Rationalität gezeichnet. Dem entspricht eine distinguierte Körperhaltung, die als geradezu perfekte Übersetzung der von Norbert Elias erklärten körperlich-motorischen Selbstkontrolle erkennbar wird: als „allseitigere und ebenmäßigere Zurückhaltung der Affekte, die für diesen Zivilisationsschub charakteristisch ist“ (Elias 1989: LXIII). In dieser Konstellation werden dem Publikum Amos degradierenden Interpellationen als widersinnig, absurd und selbstentlarvend vorgestellt. Widersinnig erscheint aber auch die Gegenläufigkeit in der Subjektivierung Amos. Denn der Ausbildung des jungen Afrikaners – im Sinne einer nach humanistischen Bildungsvorstellungen gedachten Subjektbildung – widerspricht dessen Reduktion auf ein Objekt der Betrachtung, dem Subjektivität im cartesianischen Sinne und damit Freiheit und Handlungsfähigkeit abgesprochen wird. Diesen Widerspruch präsentiert das Theaterstück nicht nur auf der Vergangenheitsebene; in dem Konflikt um die ‚Exotenrolle‘ Amo für den Schauspieler Thomas wird er zur aktuellen Gegenwart erklärt und exemplifiziert auf diese
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In der Figur des nach Deutschland importierten Afrikaners wird zudem ein Aspekt des Kolonialismus angesprochen, den Kien Nghi Ha als „Inversion kolonialer Expansionsformen“ bezeichnet hat und als in der Forschung vernachlässigt betrachtet. Gemeint ist damit eine koloniale Logik einer „diskriminierende[n] Arbeitsmigrationspolitik“, die es „ermöglicht, die Produktivkräfte [und dazu können m.E. auch (dekorative) Lakaien aus Afrika oder zur Schau gestellt Gruppen als Volksevent gezählt werden, tm] des Anderen anzueignen, ohne notwendigerweise die vielfältigen Risiken und langfristigen Verpflichtungen der territorialen Vereinnahmung außereuropäischer Gebiete einzugehen“ (Ha 2003: 64).
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Weise eine historische Kontinuität rassifizierender Relationierung im Sinne einer hierarchischen Positionierungspraxis (vgl.: Eggers 2005: 57). Diese Widersprüche lassen den Grundwiderspruch erneut und in weiteren Facetten hervortreten: den zwischen den programmatischen Grundbegriffen der Aufklärung und ihrer faktischen Instrumentalisierung gegen sie selbst. Konkret verstehbar wird er in seiner historischen Kontinuität, wenn man Rassismus als einen Prozess der ‚Objektivierung‘ begreift, wie Mark Terkessidis vorschlägt (2004: 111)8. Für den Fall Sarah Baartman hat Sabine Ritter mit den Praxen des Konstruierens, des Präsentierens und des Verifizierens eine Linie der Objektivierung vorgestellt, die die Herstellung der Schwarzen Frau anhand ihres Körpers zeigt (Ritter 2010). Diese rassifizierende und zugleich sexualisierende Aus- und Herstellung des Körpers findet eine ebenso gegenderte Äquivalenz in dem Bildungsexperiment mit dem afrikanischen Jungen/Mann, das das Theaterstück zum Ausgangspunkt nimmt: An Amo sollte die Bildungsfähigkeit von Schwarzen bewiesen werden. In diese Form der Objektivierung ist jedoch der Zwang zum rationalen Sprechen eingelassen, denn die zu beweisende Bildungsfähigkeit erfordert gerade ein ‚mündiges Sprechen‘ als Voraussetzung einer Anerkennung – auch partieller – rationaler Subjektivität. Im Fall Amo wird solches Sprechen, um es in der Systematik von Sabine Ritter zu formulieren: konstruiert, präsentiert und verifiziert (ebd.). Im Effekt wird Amos Subjektivität ‚objektiviert‘ eben diese Objektivierung wird aber zugleich in dem Stück verhandelt. Denn zwischen dem ‚Bildungsprojekt‘ Amo, d.h. dem Beweis seiner potentiellen Sprechfähigkeit, und der in der Geschichte vorgestellten Verunmöglichung des Sprechens andererseits besteht ein Widerspruch, der – mit Jameson – das gesamte Stück als Subtext begleitet.
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Terkessidis erklärt den Vorgang, Gruppen als ‚Objekte‘ herzustellen, als Teil rassifizierender Praxis und argumentiert für Methoden, Rassismus aus der Perspektive der Objektivierten zu untersuchen. Dabei verwendet er den Begriff des Objektiven und der Objektivierung bewusst zweideutig im Sinne der Herstellung der Gruppen als Objekte und der Herstellung von ‚objektivem‘ Wissen (Terkessidis 2004: 111).
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Abb. 5: Amo „Auf welcher Seite?“, Szene 10 (Videostill)
EXOTENROLLE IM GOLDENEN KÄFIG Thomas/Amo: Es war wie … in einem goldenen Käfig. Ja, ein goldener Käfig. […] Karl/Gottfried: Ich verstehe das nicht. Ich meine … ich verstehe, dass Ihr sehr viel bekommen habt und eigentlich glücklich sein könntet. Thomas/Amo: Ah, den goldenen Käfig meinst du. Natürlich, da ist mein Platz. In einem Käfig. In einem Zoo. […] Damit die Leute mich anschauen können. So wie das mit den Negerschauen war. […] Thomas/Amo: Ja, im Zoo. Neben den Käfigen mit Affen und Elefanten im Afrikateil. „Guck mal, da sitzt er, der ‚gebildete Schwarze‘. Nein! Nicht anfassen! Um Gottes willen. Pass bloß auf! Der ist zwar Professor, aber noch immer wild!“ (Amo 22f)
Das Bild des ‚Goldenen Käfigs‘, mit dem der Protagonist Amo seinem Freund Gottfried die Situation am Hof von Wolfenbüttel rückblickend umschreibt (Abb. 5), macht diese Objektivierung deutlich und rückt dabei zugleich zwei zentrale Dimensionen der Logik kolonialer rassifizierender Objektivierung ineinander: Das Betrachtet-Werden und die Verstummung, hier metaphorisiert im Bild des
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Käfigs: Die Ausstellung als Tier – statt als Mensch – wie auch die Präsentation des Körpers – statt der Schriften – und allem voran die Situation des GezeigtWerdens – statt des Sprechens – werden in diesem Bild mittransportiert. Der ‚Blick auf‘ das ausgestellte sprachlos gemachte Andere wird als Praxis zur Herstellung des kolonialen Subjekts als Objekt transparent und als Struktur des Machtverhältnisses bildlich vor Augen geführt. Das machtvolle Ausstellen, Sichtbar-Machen/Zeigen und Bezeichnen in der Repräsentation wird ebenso deutlich wie die Ohnmacht des den Blicken Ausgesetzt-Seins – im Käfig, in der akademischen Wissensproduktion wie auch auf der Theaterbühne. Das Bild des Käfigs erzählt aus der Perspektive der Doppelfigur Amo/Thomas, dass die Ausstellung selbst die Verstummung ist. Die von Beginn an thematisierten Völkerschauen und dekorativen Funktionen Schwarzer Diener an den Adelshöfen, die taxierenden Blicke des Prof. Johann, v.a. aber auch die theaterreflexiven Diskussionen um die Rolle des Amo als einer ‚notwendigerweise‘ Schwarzen Rolle, die Thomas als exotisierend ablehnt, eröffnen die Fragen des Sichtbar-Machens als höchst ambivalentes Unterfangen: Wer verfügt über welche Räume und Mittel, die Instrumente des Zu-Sehen-Gebens? Wer ist schauendes Subjekt und wer betrachtetes Objekt des Sehens und Beschreibens? Wer lenkt den Blick und den Fokus, den abgezirkelten Bereich des Zu-Sehenden und wer bestimmt die Zugänge zum Sehen-Machen und Gesehen-Werden.9 Christina von Braun beschreibt einen in der Renaissance beginnenden Prozess der Subjektivierung des Sehenden und der Objektivierung des Gesehenen, der Geschlecht und Geschlechterbeziehungen über die Macht des Blicks neu ordnete. „Im Übergang der abendländischen Gesellschaft zu einer ‚vollen Schriftkultur‘“ erklärt sie mit Aleida Assmann die Herausbildung einer Dominanz des Sehens über die anderen Sinne und die Unterwerfung der sichtbaren
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Einen Goldenen Käfig inszenierten Coco Fusco und Guillermo Gómes-Pena in Madrid anlässlich der 500-Jahres-Feiern der sog. Entdeckung Amerikas mit der Performance Two Amerindians Visit. Sie inszenierten sich selbst als Bewohner einer Insel, die in der Europäischen Entdeckung unentdeckt geblieben war. In dieser Performance ging es, wie Coco Fusco schreibt, um eine Erkundung der Grenzen eines ‚happy multiculturalism‘: „Our cage became the metaphor for our condition, linking the racism implicit in ethnographic paradigms of discovery with the exoticizing rhetoric of ‚world beat‘ multiculturalism.“ (Fusco 2000: 131) Während diese Performance u.a. die Inszenierung des ‚Anderen‘ in Europa thematisierte, inszenierte Christoph Schlingensief in Wien in Bitte liebt Österreich (2000) die Ausweisung von Flüchtlingen im Stil der TV-Show Big Brother durch die Zuschauer (vgl.: Williams: 563f).
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Wirklichkeit unter das Gesetz der Abstraktion10 durch die Schrift: „Diese Entwicklung – bei der dem Sehen – sozusagen dem schreibenden Sehen – eine neue ordnende Bedeutung zukommt,“ (Braun 2001: 3) macht die Neustrukturierung des Verhältnisses von Blick, Besitz und Definition des gesehenen Körpers möglich. Die Entwicklung technischer Sehgeräte vereinseitigt den Blick und definiert in der Verlängerung auch den Tastsinn neu. Das Sehen als ‚rationalster Sinn‘ setzt analog zu Descartes’ Trennung von res cogitans (Subjekt) und res extensa (Objekt) eine Distanz zum Gesehenen/Zu-Sehenden voraus und unterwirft monodirektional das Gesehene dem Blick des Sehenden. Die Subjektivierung des Sehenden vollzieht sich im unterwerfenden Blick auf den – zunehmend entkleideten – weiblichen Körper als „sichtbares, aber nicht-sehendes Objekt“ (ebd.: 4). Entlang der geschlechtlich organisierten (Neu-)Verteilung von Macht und Ohnmacht, ermöglicht durch die Einseitigkeit und Distanz des schreibenden Blicks, vollzieht sich die Herausbildung des männlichen sehenden Subjekts gegenüber einem betrachteten Objekt innerhalb der europäischen Gesellschaft. Die Macht des sehenden (männlichen) Subjekts der Moderne liegt in der Verfügungsgewalt über die Instrumente des Blicks und der institutionalisierten Legitimität des Blicks, mit dem der Körper des Anderen definiert wird: „Nicht nur de[r] des ‚Weibes‘, auch de[r] des ‚Juden‘, des ‚Schwarzen‘ oder des Homosexuellen“ (ebd.). Die Beweisführung des Bildungsprojekts an dem jungen Amo macht dieses Subjekt-Objekt-Verhältnis in dem Theaterstück ebenso deutlich wie die rassifzierenden Blicke, mit denen Johann seinen Vortrag über die Ungleichheit im Menschengeschlecht performativ unterstützt: Der Blick auf Amo stellt ihn nicht als Subjekt akademischer Wissensbildung, sondern als ihr Objekt auf. Genau dies kommentiert die Metapher des Goldenen Käfigs. Christina von Braun beschreibt die Trennung von Subjekt und Objekt als einem europäischen Teilprozess der Moderne, der mit der machtvollen Distanz und Einseitigkeit des Blicks eine vergeschlechtlichte Ordnung von Sehen und Betrachtet-Werden hervorbrachte. Diesen Zusammenhang von Sehen, Definieren und Besitzen möchte ich im Folgenden um eine postkoloniale Perspektive erweitern, in der die Dimension des Schreibens und Sprechens bzw. der Abschreibung von Sprechfähigkeit eine zentrale Rolle spielt. Aus einer transmodernen Perspektive (transmodern perspective) (Dussel 1999: 29), die die Entwicklung der Moderne als reziprokes und dabei machtbesetztes Zusammenwirken zwischen verschiedenen globalen gesellschaftlichen Formationen, statt als ‚europäische Erfindung‘ betrachtet, waren die Kolonialisierungsprozesse, die
10 „Durch das zentralperspektivische Auge wird der Raum, die Welt neu definiert, geordnet und zusammengefügt.“ (Braun 2001: 3)
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erdumspannenden Entdeckungen und Eroberungen für die ‚europäische‘ Moderne konstituierend (Dussel 1995: 25) – nicht nur auf der Ebene einer Bereicherung durch Bodenschätze, Ausbeutung von Arbeitskraft und den mit diesen einhergehenden technischen Entwicklungen. Enrique Dussel begründet die Reziprozität darin, dass das eroberte und kolonisierte Amerika als das konstitutive Außen unverzichtbarer und integraler Teil der vermeintlich ‚europäischen‘ Moderne gewesen sei. Auf materieller Ebene ermöglichten erst die ‚Silberströme‘ aus den amerikanischen Kolonien, dass Europa sich in substanziellem Maß am transregionalen Handel beteiligen konnte – vor allem mit China, das „bis ins achtzehnte Jahrhundert der Welt größter Warenproduzent war“ (Dussel 2006: 171; übers. tm): Europe was able to „buy,“ thanks to Latin American (Peruvian, Mexican) money, in the Chinese „market“; that is to say that Europe could „sell“ very few commodities (except silver) that were the fruit of its „industriousness“ […] because it was a productively „underdeveloped“ region that could not compete with China’s more „developed“ commodity production, which included porcelain utensils, silk textiles, and so on.“ (Ebd.: 170)
Vor diesem Hintergrund ökonomischer und technologischer Unterlegenheit gegenüber dem ‚Reich der Mitte‘ setzt im späten siebzehnten Jahrhundert in Westund Mitteleuropa die China-Faszination ein, die sich keineswegs auf Konsumund Modestile (Chinoiserien) beschränkt, sondern auch in philosophischen Spekulationen (etwa Christian Wolffs) und fiktionalen Genres artikuliert. Dem gegenüber werden andere Weltregionen – v.a. Afrika und das kolonisierte Amerika – symbolisch systematisch abgewertet und fungieren so ideologisch als das konstitutive Außen der vermeintlich ‚europäischen Moderne‘, indem sie genau „jene ‚Barbaren‘ bereit stellten, die die Moderne zu ihrer Selbstdefinition brauchte“ (Dussel 1995, 25; übers. tm). Insbesondere das aneignende Sehen und Schreiben, das schreibende Sehen als Unterwerfung unter einen kolonialen Blick, mit dem eine Verstummung des Anderen als Teil seiner Konstruktion als sprechunfähig einhergeht, ist Teil dieses Selbst-Konstituierungsprozesses der Moderne als ‚europäischer‘ Entwicklung, explizit auch auf ideengeschichtlicher Ebene, namentlich der Aufklärung und ihrer Paradigmen: der Universalität, der teleologischen Progressivität, der Subjektivität und der darin impliziten Vernunft. In diesem Sinn rekonstruiert Walter Mignolo den Rationalismus der europäischen Frühen Neuzeit als Resultat einer „kolonialen Semiosis“ (Mignolo 2003: 29). D.h. auch ideengeschichtlich war „das neue ‚universelle‘ Wissen ethnozentrisch begrenzt“ (Shohat und Stam 1994: 84; Übers. tm) und die Aufklärung als Projekt der Moderne auf einem Othering basiert. Dies begann mit der vereinnahmenden
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Beschreibung der entdeckten ‚Anderen‘ und ihrer Welt und ließ europäische Moderne in der Wechselbeziehung zur kriegerischen territorialen Landnahme und der mit ihr verbundenen Rassifizierung der Anderen entstehen. Der folgende Exkurs wird das reziproke Verhältnis des aneignenden Sehens und Schreibens als Prozess der Selbstkonstitution im Begriff des Subjekts nachzeichnen, in dem das Andere zugleich sichtbar und stumm geschrieben wird. Dieses historische Verstummt-Werden ist der Ausgangspunkt für die Analyse der Gegenstimme am Ende des Theaterstücks, die ich als theatrale Strategie zur Herstellung eines Spannungsverhältnisses zwischen Sprechen, Schweigen, Blick und Rück-Blick erkunden werde.11
SEHEN SCHREIBEN BESITZEN: EXKURS ZUR KOLONIALEN TRENNUNG VON SUBJEKT UND OBJEKT Kolumbus entdeckte 1492 nicht nur für den König und die Königin von Spanien eine Neue Welt, er war auch der erste, der sie erforschte und sein grenzenloses Staunen zu Papier brachte. (Monegal 1982: 10)
Mit diesem zu Papier gebrachtem grenzenlosen Staunen, das Emir Rodríguez Monegal hier dem ‚Entdecker‘ zuschreibt, beginnt eine endlose Reihe an Berichten über die ‚Neue Welt‘, die sich bald zu einem diskursiven Geflecht aus Texten, Bezeichnungen, Kartierungen und bildlichen Darstellungen verdichten sollte: Ereignis- und Reiseberichte wurden in Europas Lehrstuben gelesen, ausgewertet, interpretiert. Sie bildeten die Grundlage für nachfolgende Texte, Chroniken und Erfindungen in allen Gebieten, für philosophische Debatten und Abhandlungen sowie auch für Wissensinstitutionen, in denen sich immer stärker einzelne Disziplinen zu speziellen Bereichen herauskristallisierten. Diese Wechselseitigkeit von territorialer und epistemologischer Expansion beschreibt Urs Bitterli mit der Feststellung, dass „dem Prozeß der fortschreitenden kolonialen Expansion […] auf einer anderen Wahrnehmungsebene ein Prozeß der die verschiedensten Wissensgebiete erfassenden Erkundung und des fortschreitenden Verstehens“ entspricht (Bitterli 1991b: 18). Solches Erkenntnis- und Verstehensinteresse im Zuge der als ‚Entdeckung‘ rezipierten Expansion steht in seiner funktionalen Ausrichtung zum einen im Zeichen der Absicherung der Herrschaft
11 Die Debatte um Bühnenrollen, die in der Betrachtung nur kurz aufgegriffen wurde, geht in den Schluss gewissermaßen automatisch ein, da das Ende die zwei historischen Stränge zusammenführt.
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über Gebiete und Bevölkerungen und zum anderen im Hinblick auf weitere Erkundungen/Eroberungen. Der rasante Aneignungsprozess erfolgte insofern nicht nur auf militärischer und politischer Ebene, sondern auch auf der seiner Repräsentation. Im Rahmen eines sich zunehmend ausdifferenzierenden Repräsentations- und Wissenssystem verdichteten sich die Darstellungen zu einem immer eindeutigeren Bild über die anderen Welten – und über die eigene. In die Bilder über das ‚Entdeckte‘ fügte sich gleichermaßen eine Geschichte des ‚Entdeckens‘, die unter Auslassung der brutalen Unterwerfung, Versklavung und Ausrottung ganzer Völker als Chronik von Erfolgen und Errungenschaften geschrieben und fortgeschrieben wurde. So bedingen sich Praxis und Wissen der Unterwerfung wechselseitig in einer Geschichte der Herrschaft, die sich nicht nur aus den Siegen und Aneignungen, sondern auch aus dem machtvollen Schreiben dieser Geschichte selbst konstituiert, die nur die Perspektive der ‚Herren‘ zulässt. So gesehen zeigt sich die Geschichte der ‚Entdeckungen‘ als eine gemeinsame Erfahrung von Entdeckern und Entdeckten mit einem ungleich verteilten Wissen, welches diese Erfahrung begleitet und produziert – und zugleich mit einem Potenzial, das zumindest im Beginn die Möglichkeit des Dialogischen mit einschloss. Denn dem (schreibenden) Staunen der Spanier muss das Staunen der einheimischen Bevölkerung vorausgegangen sein, wie Bitterli konstatiert: Noch vor jeder Beschreibung der Be- und Verwunderung von Land und Leuten, ‚entdeckten‘ die Kolonisatoren nämlich die Neue Welt stellvertretend „für den König und die Königin von Spanien“ (Monegal 1982: 10), indem Kolumbus in einer spektakulären Enteignungszeremonie neben den entfalteten königlichen Fahnen im Sand die Deklaration der Besitzergreifung verlas. Man kann sich die Widersinnigkeit dieser Szene kaum eindringlich genug vor Augen halten. Das ganze Zeremoniell dieser Besitzergreifung, auf dessen formal einwandfreie Abwicklung die Spanier […] peinlich genau achteten, konnte von den Eingeborenen keine anderen Regungen als solche maßlosen Staunens hervorrufen. (Bitterli 1991a: 88)
Maßloses Staunen könnte ein solcher Akt der Enteignung auch heute noch hervorrufen, wäre da nicht die Autorität der schriftlichen Fixierungen, „Repräsentationen, deren Bedeutungen nicht dem Vorgefundenen, sondern stets nur dem mitgebrachten Auftrag zukommen“, wie Robert Weimann feststellt (Weimann 1997a: 20). Die Bezeichnung des in Besitz Genommenen mit neuen Namen, die die (später) vermessene Größe des jeweiligen Territoriums fortan auf den Land-
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karten und (noch später) Globen der Welt repräsentieren und verbreiten würden, manifestiert seinen Zustand als Besitz.12 Franko Marenko konstatiert dazu: Tatsächlich wußten die Entdecker, vom allerersten bis zum allerletzten, sehr gut, daß die neuen Länder einheimische Namen hatten, aber auch, daß westliche, christliche Namen benötigt wurden, um ihre Entdeckung und den Besitzanspruch ihrer Herrscher zu sanktionieren. (Marenco 1997: 136)
Während sich der offizielle Akt der Aneignung in solch be-zeichnender Art der Beschreibung von neuem Territorium niederschlägt, fährt der Prozess der vereinnahmenden Wissensproduktion mit der Beschreibung dessen fort, was die Eroberer im Namen der Krone vorfanden. Zur Formulierung ihrer Eindrücke bedienten sich die Europäer nicht nur antiker Mythen und Fabeldarstellungen; auch die Vorstellung vom irdischen Paradies ist ein Topos, der sich durch die Texte zieht. In der schreibenden Wiederholung – positiver wie negativer – Wertungen bildeten sich als Muster die Legenden vom ‚Edlen Wilden‘ einerseits und dem naturhaften, unzivilisierten, nahezu tierischen ‚Wilden‘ andererseits heraus. In der Doppeldeutigkeit zeichnet sich schon die Ambivalenz ab, die die Stereotypen für die ‚Anderen‘ im Verlauf der folgenden Jahrhunderte auszeichnen sollte: Das gleichermaßen natürlich-unschuldig Kindhafte und das ‚feige‘ Wilde, Unbändige, Naturhafte, (sexuell) Triebhafte, bildet den Unterton massenhafter Darstellungen der rassifizierten Anderen in Medien jeglicher Art – bis heute (vgl.: Hall 2002c: 239–269). Dabei sprachen die stereotypen ‚Informationen‘ weniger über die Unterworfenen als über die Europäer selbst: Ihre Glaubenssysteme, Sitten und Gesellschaftsstrukturen sowie Wertvorstellungen und Normen wurden in der Verwunderung oder Empörung über das Gesehene ausformuliert und die somit hergestellte Differenz der Wertung nach europäischen Maßstäben unterzogen. In der Darstellung als Abgrenzung zum Eigenen wird die Differenz selbst als unüberwindbar in den Vordergrund gerückt und das Eigene zum einzig möglichen Vorstellbaren universalisiert und hierarchisiert. Das Andere kann darin entweder abgelehnt oder – maximal – assimiliert werden.13 Allem voran aber
12 Interessanterweise legitimiert Columbus in seinem Tagebuch diese Landnahme damit, dass ihm während der formalen Inbesitznahme ‚nicht widersprochen‘ worden sei, so dass die spanische Annexion als von den ursprünglichen Bewohner_innen zumindest gebilligt erscheint. Diese Interpretation des Vorgangs unterstellt offensichtlich, dass alle Beteiligten das ‚gleiche diskursive Universum‘ geteilt hätten und insofern potenziell in gleichem Maße (wider-)sprechfähig gewesen wären (vgl. Greenblatt 1991: 58–61, siehe auch: Weimann 1997a: 22). 13 Über diese Absichten Kolumbus’ schreibt Todorov 1985: 56–57.
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konstruiert sich am Anderen die eigene Identität – als christlich, bekleidet, kultiviert, tugendhaft, in keinem Fall aber feige oder wild. Dabei waren die Darstellungen in keinem Fall ‚naiv‘, sondern folgten eher einem Denken der Nutzbarmachung (vgl. Bitterli 1991b). Kolumbus schreibt in seinem ersten Bericht über die leibhaftige Aneignung der Insulaner, um sie ‚sprechen‘ zu lehren: Gleich nach meiner Ankunft in Indien [!] ergriff ich auf der ersten von mir entdeckten Insel mit Gewalt einige ihrer Bewohner, um sie in unserer Sprache zu unterweisen und um von ihnen alles Wissenswerte über jene Gegenden in Erfahrung zu bringen. (Monegal 1982: 73)
Der notwendige Aufbau einer Kommunikationsbasis zur Aneignung einheimischen Wissens (die Auskundschaftung von Gegenden, Gefahren und bewährter Methoden im Umgang mit diesen) bildete eine weitere Grundlage zur Erschließung und Unterwerfung des Ganzen. Die für diesen Zweck erzwungene Akkulturation (Unterweisung in der Sprache der Eroberer) verweist auf die Anfänge dessen, was Stephen Greenblatt „linguistische Kolonisation“ nennt (1990: 16). Zugleich versprach der Zugang zur Bevölkerung, das Wissen um Lebensgewohnheiten, Verhaltensweisen, Sitten und Gebräuche, quasi das empathische Einfühlen in die Menschen, den Erfolg der eigentlichen Zwecke der Unternehmung zu garantieren: dem König und der Königin „soviel Gold […] als sie nur wollen“ zu verschaffen.14 Gerade das heute so ‚dialogisch‘ besetzte ‚Fremdverstehen‘ hat, wie Greenblatt anmerkt, eine instrumentelle historische Dimension: Empathie als ‚Kulturtechnik‘ begründet seit der Renaissance „den Europäern die Möglichkeit, sich wieder und wieder geschickt in bestehende politische, religiöse und sogar psychische Strukturen der ursprünglichen Bewohner einzuschleichen und diese Strukturen zum eigenen Vorteil zu nutzen“ (Greenblatt 1980: 227; Übers. tm). Das Ineinanderwirken der verschiedenen Formen und Strategien der Aneignung werden zugleich als Methode und Ziel der Unternehmung deutlich. Wissensaneignung über die ‚Entdeckten‘ und ihre Lebensformen und Wissensproduktion über sie (in Wissensdiskursen wie in stereotypen Haltungen) werden zu ineinander greifenden Machtinstrumenten, die strategisch wie legitimatorisch der Unterwerfung unter die spanische Krone dienen, deren Interesse v.a. in der Aneignung von Land, Reichtümern und Arbeitskräften liegt. Dennoch zeichnet sich die erste Phase ethnografischer Beschreibungen durch eine unsystematische
14 „Auch Aloe und Sklaven werden von dort in jeder gewünschten Menge eingeführt werden können.“ (Kolumbus zit. in Monegal 1982: 76)
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Diversität aus, die in dem Staunen durchaus ein Potenzial an Dialogizität bereithält. Lässt man die begleitenden und motivierenden Interessen, Erwartungen und Verpflichtungen der europäischen Mission, die die Blicke steuern, für einen Moment beiseite, so haftet auch dem Erstaunen der Spanier eine gewisse ‚Unschuld des ersten Blicks‘ an, der – trotz aller Erwartungen auf Bekanntes: nämlich Indien zu finden – die Unternehmung als Suche nach dem Unbekannten begleitet. Die ersten Kontakte waren nicht nur begleitet von der Überraschung über das, was sich da vorfand, vor allem gab es keinen gemeinsamen Code zur Vermittlung, nichts, was die einen mit den anderen teilten. Neugier wie Unsicherheit bestimmt diese Begegnung von beiden Seiten. Diese Unklarheit, eine Mischung aus Faszination, Bewunderung, Ablehnung oder Bedrohung, lässt zunächst eine noch nicht ausgehandelte Position des Blicks und Rückblicks offen. Doch schon in den ersten Übersetzungen der neuen Eindrücke in das eigene Denk- und Vorstellungssystem, die durch unterschiedliche Versuche der Erklärung und einfältige Wertungsmuster geprägt sind, zeigt sich der dominante Blick der Eroberer, die Ausbildung des schreibenden Sehens. Der Akt des sprachlichen Einfangens dieser Erstbegegnungen unterläuft die angenommene ‚Unschuld‘ in dem Maße, wie sich die Texte nur aus der Sprache und dem kulturellen Vorwissen ihrer Autoren erstellen lassen. Das Un-Bekannte lässt sich nur im Rückbezug auf bereits Bekanntes beschreiben. In dem Sinn ist es ‚nur‘ Umstrukturierung von bereits Erfahrenem und Rückbezug auf Fabel- und Fantasiewesen, die im Entdeckerkontext die Welten der alten Mythen und Sagen Wirklichkeit werden lassen.
Stellvertretungen – Selbst-Vertretungen Im Verlauf zweier Jahrhunderte baut sich eine systematisierende Vorgehens-, Blick- und Denkweise auf, aus der die Trennung von Subjekt und Objekt hervorgeht. Davon ausgehend wurde auch der Begriff „Race“, der bis dahin vornehmlich im Sinne des Terminus ‚Dynastie‘ verwendet wurde, verschoben und modernisiert. Die Erfahrung, dass die Erde wirklich als in sich geschlossenes Ganzes existiert, beflügelte die expandierenden Erkundungsreisen und zugleich Besitzansprüche der jeweiligen europäischen Macht in der Welt. Zugleich destabilisierte dieses Wissen jedoch die Vorstellung einer göttlichen Einheit von Himmel und Erde, so dass ein – noch diffuser – säkularer Universalgedanke sich langsam zu konsolidieren begann. Universal wurde dabei vor allem das Zentrum. Denn die zentrale Vormachtstellung Europas leitete sich direkt aus der göttlichen Ordnung des Christentums ab und legitimierte die Eroberungszüge mit der Bekehrung aller Nicht-Christen über den gesamten Erdkreis (vgl.: Bitter-
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li 1991b: 15). In dieser monodirektionalen Logik handelten Kolumbus und seine Nachfolger als königliche Repräsentanten, d.h. im stellvertretenden Auftrag der Krone15, die sich ihrerseits (z.B. über den Papst) als verlängerter Arm Gottes verstand. Die europäischen Namen der neuen Besitzungen manifestierten die Anbindung der ‚Neuen Welt‘ an ein Europa, das sich in seiner Ausdehnung als Zentrum ausbildet und affirmiert. Bei diesem Prozess weicht die Vorstellung der königlichen Vertretung zunehmend einer – ebenfalls noch diffusen – Ausbildung einer Selbst-Vertretung im Sinne einer Subjektbildung, wie Robert Weimann und Franco Marenco aus den Berichten über die „Neue Welt“ herausarbeiten: In der Ferne, d.h. in Abwesenheit von König oder Königin, für die deren Stellvertreter die materiellen Besitzergreifungen vollziehen, vertreten diese Stellvertreter zunehmend sich selbst und praktizieren ihre eigenen Besitzergreifungen mit Texten über das Entdeckte (vgl. Weimann 1997: 18–30; Marenco 1997: 118). In den Darstellungen des Neuen und Anderen wird der – noch stellvertretende, bald selbständige – Berichterstatter zum repräsentierenden, schreibenden AutorSubjekt, das seine Autorität aus seiner eigenen Augenzeugenschaft ableitet (ebd.: 123), mit der das Selbst-Sehen an die Stelle der göttlichen Vor-Sehung tritt. Als Autorisierungsstrategie spielte die eigene ‚Entdeckung‘ als „individuelle und originale Aktivität“ (ebd.: 118) eine bedeutende Rolle, die mit dem dominanter werdenden grammatikalischen Ich (Subjekt) untermauert wird. Gestärkt wird dieser Akt subjektiven Schreibens in der eigenständigen ‚Entdeckung‘ von ‚Neuem‘, für das es keine Präzedenzen gibt. Konstitutiv für die Herausbildung von Subjekt und Objekt sind dabei die räumliche Distanz, die diese Distanz überbrückende Schrift sowie die Agentur des Schreibens. Der Autor als handelndes Subjekt wird in der Ferne Repräsentant seiner selbst und der Anderen – „in der Repräsentation, durch die Repräsentation“ (Weimann 1997: 11). Denn in der Ferne muss das Neue das bis dahin Geschriebene und als glaubwürdig Anerkannte (z.B. Plinius, die Bibel etc.) übersteigen und umgekehrt das Beschriebene für neu erklärt werden, um die Eigenposition des Autors zu stärken, der Wahrheiten über die Schriften der Alten hinaus verkünden kann und darf (Marenco 1997: 134). Je mehr sich die Beschreibungen auf die eigenständige Entdeckung beziehen, desto lockerer wird die Festlegung auf die Stellvertretung des Königs: Das selbständig schreibende Subjekt ist im Prozess seiner Emanzipation von einer Weltsicht, die weder Eigenständigkeit noch Ganzheit kannte.
15 Diesen Aspekt der Repräsentation als Stellvertretung des König bei den sog. Entdeckungen untersucht v.a. Weimann in seiner Einleitung zu Ränder der Moderne (vgl. Weimann1997a: 18–30).
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Analog zur cartesianischen Beschreibung einer Spaltung von Subjekt und Objekt der Erkenntnis ereignet sich dieser koloniale Subjektivierungsprozess als monologisierendes Sprechen über den Anderen, der auf diese Weise zum bezeichneten, ausgestellten stummen Objekt wird, während das objektivierende/ ‚objektive‘ schreibende Sehen die Genese des Subjekts ermöglicht. Für Kolumbus befanden sich „die Arawaks nicht im gleichen Diskursuniversum wie die Spanier“ (Greenblatt 1991: 58; Übers. tm) und waren folglich nicht sprachfähig: In der Wahrnehmung der europäischen Entdecker war ‚indianische‘ Sprache „inexistent“ (Greenblatt 1990: 30). Als Monolog kommt diese schreibendsehende Besitzergreifung über die Anderen einer Verstummung gleich, bei dem das Subjekt sprechend zu-sehen-gibt und das beschriebene, betrachtete Objekt schweigt. Dialog hat in diesem Prozess keinen Platz, wie Weimann erklärt: Da war kein Raum für Dialog mit einer fremden Welt, die sich selbst gehört; deren Repräsentation ohne Besitzergreifung war kaum denkbar. Das Erkundete sollte zugleich erobert und nach dem Bild des Eroberers assimiliert werden. Beschreibung, Benennung, ja schon die Topografie auf der Landkarte sollten – allein schon im Akt des Repräsentierens – fadenscheinigen Besitztitel erhärten. Mit diesem Bruch zwischen den auferlegten Namen und dem somit Genannten wurde der europäische Dualismus im Verhältnis von Subjekt und Objekt konstitutiv für die Praxis der ‚Entdeckungen‘ schlechthin. (Weimann 1997: 10)
Edward Said hat dies für den Diskurs des Orientalismus als Prinzip der „Exteriorität“ (Said 1981: 30) bezeichnet. Exterioriät zeichnet sich aus durch ein bestimmtes Verhältnis des_r darstellenden Autor_in zu dem von ihm beschriebenen Material (Menschen, Kultur etc.), das er zu Text bearbeitet, und einem Verhältnis zwischen dem Gegenstand im Text und der Leserschaft, das der_die Autor_in im Text herstellt. Aus diesen Verhältnissen leitet sich die Autorität ab, über den Orient zu sprechen. Während das erste Verhältnis sich durch Distanz auszeichnet – der_die Autor_in steht außerhalb des zu beschreibenden Orient oder der „Neuen Welt“ – ist das zweite gekennzeichnet durch Nähe. Dieses Doppelverhältnis von Nähe und Distanz wird durch die Art und Weise der Darstellung im Text produziert, die Said „westliche Techniken seiner Repräsentationsweise“ nennt, „die den Orient im Diskurs über ihn sichtbar, klar und ‚anwesend‘ machen“ (ebd.: 31). Der Text (!) als Re-Präsentation macht dem_der Leser_in die andere Welt (‚den Orient‘ oder ‚Amerika‘) nah, präsent und schließt sie zugleich als „reale Sache“ (ebd.) aus. Mit der Distanz der Autorschaft/Autorität zu dieser „realen Sache“ wird dokumentiert, „daß der Orientalist außerhalb des Orients steht“ (ebd.: 30) – existentiell wie auch moralisch. Im Kontext der ‚Entdeckungen‘ vollzieht sich der Prozess der Trennung von Sub-
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jekt und Objekt mit dieser sich verselbständigenden Subjektposition gegenüber dem zu beschreibenden Objekt. Diese Position ist noch im Begriff der Entstehung und übernimmt dennoch schon die Funktion der Autorisierung von Wissen. Die Objektivierung (Distanz) autorisiert das dem Publikum nahe zu bringende Wissen als Kenntnis und begründet so den Vertretungsanspruch: Die Exteriorität der Repräsentation wird immer durch eine Version der Wahrheit geleitet, die lautet, daß der Orient, wenn er sich selbst vertreten könnte, es tun würde; da er es aber nicht kann, muß die Repräsentation diese Aufgabe für den Westen und […] für den armen Orient leisten. (Said 1981: 30f)
In diesem Vertretungsanspruch bündeln sich die verschiedenen diskursiven Stränge des Sprechens für. Said weist nach, wie das kulturelle Wissen über den Orient Machtinteressen produziert und steuert, d.h. in welch enger Verbindung die Produktion und Verbreitung von Wissen zu Herrschaftsansprüchen und ihrer Durchsetzung steht. Auf der Ebene der Repräsentation als Darstellung wird dieser Vertretungsanspruch im Kontext der ‚Neuen Welt‘ in dem Maße erhöht, wie dem Anderen mit einer solchen Darstellungspraxis nicht nur die Fähigkeit einer möglichen Selbstvertretung, sondern grundsätzlich Sprechfähigkeit abgesprochen wird.16 Wie Weimann erklärt, stellt sich der von Said aufgeworfene (und später Gayatri Spivak aufgegriffene) Verweis auf den engen Zusammenhang von Darstellen und Vertreten im Begriff der Repräsentation in dem Subjektivierungsprozess am Anfang der Moderne in der Form dar, dass sich die Herausbildung des sich selbst repräsentierenden (Vertretung) Subjekts aus der Stellvertretungsposition über die Repräsentation (Darstellung) der Anderen vollzieht und darüber insofern hinaus geht, als mit der Repräsentation als Darstellung zugleich der Anspruch auf Repräsentation der Anderen als Vertretung (hier im Sinne von Beherrschung) einhergeht (vgl. Weimann 1997: 11). Der Zusammenhang von Sprechfähigkeit, Selbstvertretung und der Vorstellung von ‚weißen‘ (unbeschriebenen) Flecken wird in der Vermessung und Kartierung der ‚Neuen Welt‘ überdeutlich: Schon der Akt der Inbesitznahme selbst, bei dem – die Fahne im Sand
16 Dies belegt bereits der erste Bericht von Kolumbus, wenn er sich in der Begegnung mit den Einheimischen offenbar „weiger[t] zuzugeben, daß es sich [bei ihrem Sprechen] überhaupt um eine Sprache handelt …“, wie Tzvetan Todorov bemerkt und berichtet, dass sich Kolumbus daher vornimmt, bei seiner Rückkehr einige Männer mitzunehmen „‚um sie Euren Hoheiten vorzuführen und damit sie sprechen lernen.‘ (Den verschiedenen […] Übersetzern Colóns erschien diese Ausdrucksweise so anstößig, daß sie alle berichtigten: ‚damit sie unsere Sprache lernen‘“ (Todorov, 42, Herv. tm).
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– unter der Zeugenschaft einheimischer wie auswärtiger Anwesender die Landnahme verlesen und dokumentiert wird, kann den beiwohnenden Enteigneten im Moment ihrer Enteignung nur ‚spanisch vorkommen‘ und ihnen so die Sprache verschlagen. Sie sind unfähig zu agieren, denn sie können nicht sprechen, da ihnen jedes Recht auf Verstehen, geschweige denn eins auf Mitsprache verweigert wird. Das Schweigen des diskursiv desartikulierten Anderen taucht in Kolumbus’ Bericht von der Landnahme als Passivkonstruktion im grammatischen wie auch subjektivierenden (genauer: objektivierenden) Sinn auf: „Mir wurde nicht widersprochen.“17 Dargestellt als unfähig zu sprechen – sie geben ja nur merkwürdige Laute von sich – und als des Schreibens nicht mächtig, werden die ihres Landes Beraubten überdies ihrer Bilder von sich selbst entmächtigt.18 Als Objekt der Repräsentation verstummt der andere Mensch über seine Objektivierung hinaus in seiner Darstellung als nicht sprechfähig, und vor allem als des Schreibens unkundig. Die Nicht-Kenntnis europäischer Schreibtechniken produzierte erst recht das Bild der Überlegenheit der ‚zivilisierten‘ Europäer gegenüber dem ‚unzivilisierten‘ Anderen, von dem somit kein Rück-Blick, keine Erwiderung des schrei-
17 Kolumbus’ Formulierung: „y no me fué contradicho“ – zit. in Greenblatt 1991, S. 58. 18 Dieses Repräsentationsregime gewann nicht zuletzt durch die neu entstandene Flexibilität und Quantität der Produktion, Reproduktion und Distribution im Medium Druck auf Papier an Macht über die Beschriebenen. Die sich bestätigende Übereinstimmung der Texte, die sich intertextuell aufeinander beziehen, verleiht dem Diskurs die Autorität einer ‚Wahrheit‘, die in Europa über die fernen Menschen und Kulturen zirkuliert und sich v.a. in einem Assoziationsknäul stereotyp verdichtet: Wenn das Andere nicht gerade auf gar ‚nichts‘ reduziert wird, wie etwa bei John Locke, der vom ‚unbeschriebenen‘ weißen Flecken sprach, dann ist es: ‚neu‘ oder: „jungfräulich“ (Raleigh). In den Stereotypisierungen überlagern sich von Beginn an zwei Achsen der Herrschaft (das noch nicht rassifizierte Andere und gender), die einander in den folgenden Jahrhunderten noch komplexer ergänzen und überkreuzen werden: In dem Begriff jung-fräulich, wie ihn Walter Raleigh in seiner Beschreibung Guayanas systematisch einsetzt, wird zunächst die Verknüpfung von Natur und Weiblichkeit in den Diskurs über das Nicht-Europäische eingeschrieben. Die Figur bekommt mehrbödige Gestalt: In den dahinter liegenden Aktionsannahmen verbergen sich die Begierden, für die das ‚Andere‘ Objekt ist: Das ‚Neue‘ muss ‚erkundet‘ werden, das ‚Jungfräuliche‘ ist dazu ‚vorbestimmt‘ – durch den Akt der (männlichen) Eroberung – zur ‚Reife‘ gebracht zu werden. Das paradiesisch ‚Natürliche‘ durften dabei weder Frauen noch ‚Indianer‘ verlieren, ihre ‚naturhaft-bedrohliche Wildheit‘ hingegen muss ‚gezähmt‘ und be-Herr-scht werden.
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benden Sehens erwartbar ist.19 In der Zuschreibung einer – im besten Fall – unschuldigen Kindhaftigkeit, werden sie so für unfähig erklärt, als gleichberechtigtes Gegenüber überhaupt denkbar zu werden. Wer (noch) nicht sprechen oder schreiben kann, ist unmündig, nicht intelligibel und wird sich infolgedessen auch kaum vertreten können. Im Bild des Goldenen Käfigs bringt die Doppelfigur Amo/Thomas die Beschreibung seiner eigenen Situation als kolonisiertes Subjekt auf den Punkt. Die Metapher bezieht sich gleichermaßen auf die beschriebenen vielfältigen globalhistorischen Aneignungs- bzw. Entmächtigungsstrategien wie auch auf die konkreten kolonialen Praxen, die das Stück auf beiden Zeitebenen zum Thema macht (Bildungsexperiment, Völkerschauen, Exotenrolle, etc.). Die monologisierende Verstummung, die mit der objektivierenden Ausstellung des kolonialen Objekts in Europa einhergeht, wird gewissermaßen allegorisch anhand der (semi-fiktionalen) Biographie einer historischen Figur nachgezeichnet, die in Thomas ein aktualisiertes Äquivalent findet. Gerade, indem mit einem Bildungsexperiment die Sprechfähigkeit des Anderen ‚bewiesen‘ werden sollte, findet eine vergleichbare Objektivierung statt, wie sie in den Kolonisierungsprozessen beschrieben wurden. Der ‚gezähmte, wilde‘ Schwarze Akademiker im Käfig (vgl.: Amo 23) repräsentiert mit seiner Biografie die Geschichte der Kolonisierung als Prozess des Sprechunfähig-Gemacht-Werdens. Das Schweigen der Protagonisten Thomas und Amo am Ende des Gesamttextes ist insofern als ein Effekt dieses kolonialen Zum-Schweigen-Bringens lesbar. Die vielfältigen ‚Antworten‘ auf diese Verstummungs- und Ausstellungspraxen, die das Theaterprojekt auf verschiedenen Ebenen praktiziert und somit diskutiert, lassen aber auch eine Lesart zu, die das Ende des Textes als den Beginn eines beredten Schweigens versteht. In dieses Schweigen ist das Scheitern des Sprechens und Gegensprechens in verschiedenen Varianten (inkl. des theatralen ‚Sprechens‘ der Bühnenproduktion) ebenso eingelassen wie der Zwang der beiden Protagonisten zum Schweigen als Subjektivierung zur Unmündigkeit. Insofern ist es ein höchst ambivalentes Schweigen: ein zum Schweigen-gebracht-Sein und ein Schweigen als Aufhören-zu-sprechen.
19 Insbesondere in der Begegnung mit „analphabetischen“ Kulturen kommt der Schrift als Mittel zur Markierung von Überlegenheit und als Kommunikationsmedium, mit dem diese Überlegenheit vermittelt wird, besondere Bedeutung zu (vgl.: Marenco 1997: 120). Mignolo hebt hervor, dass die Diskreditierung nichtalphabetischer Schriftsysteme als ‚Nicht-Schrift‘ bis ins 20. Jahrhundert in Europa Konsens blieb (vgl.: Mignolo 2003: 78–79).
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Anhand dieser Ambivalenz sollen im Folgenden die widersprüchlichen Interpellationen an Amo und Thomas wie auch die daraus hervorgehenden Subjekt- und Sprechpositionen ins Blickfeld rücken, um die darin vorgestellte Handlungsmacht (agency) in ihrem Sprechen oder Schweigen als Gegenstimme auszuloten. Sprechfähigkeit und Handlungsmacht zeigen sich dabei auch als Verweigerung von Sprechen, als Auslassung oder als – de-harmonisierendes – Schweigen.20 Zugleich wird damit die Handlungsmacht dieses Theaterstücks als ein ‚Sprechen‘ in tragischer Form (und in den Brüchen dieser Form) betrachtet, das in ein unabgeschlossenes Schweigen übergeht und das selbst interpelliert.
NEUORDNUNG DES SCHWEIGENS Die Subjektposition, mit der die historische Figur Amo eingeführt wird‚ ist mit ‚Außergewöhnlichkeit‘ fassbar: Amo ist Akademiker und er hat eine dunkle Hautfarbe. Vom ersten Moment an wird dies indirekt als Widerspruch formuliert. Diese Subjektivierung als Handlungsrahmen ermöglicht sein Sprechen und damit seine Handlungsmacht und begrenzt dies zugleich doppelt.21 Als Aufklärungsphilosoph spricht und verkörpert er auf ganzer Linie (sowohl durch seine inhaltlichen Sprechakte wie durch seine körperliche Haltung) rationales Denken und Handeln und entspricht damit dem Bild vom Menschen als Subjekt der Zivilisation (Elias) wie auch dem bürgerlichen „given script“ (Spivak) im Rahmen der Universität. Als Schwarzer Aufklärungsphilosoph wird er von seinem Gegenspieler immer wieder in die Schranken des Sprechens verwiesen. In der Inszenierung wird diese doppelte Interpellation der Begrenzung (‚script‘ des zivilisierten Subjekts und Zurechtweisung des unzivilisierten Objekts) durch ein sehr reduziertes Bewegungspotenzial der Figur dargestellt: Amo steht die meiste Zeit über still, bewegt sich kaum und spricht außer über seine akademischen Leistungen und Ideen wenig.22 Auf die degradierenden Ansprachen reagiert er mit wis-
20 Als eine vergleichbare Strategie als Antwort auf den männlichen Blick hat Christina von. Braun auf die Anorexie hingewiesen; vgl. Braun 2001: 6. 21 Insofern als diese Figur den Zuschauer_innen bereits mit der paratextuellen Ankündigung begegnet, kann von einer Affirmation der als Außergewöhnlichkeit betrachteten Un-Normalität gesprochen werden. Diese ist – bezogen auf das ganze Theaterprojekt – sein Anlass und Sprechrahmen, der seine Zuhörer_innenschaft mit eben dieser Außergwöhnlichkeit anzieht und absteckt. 22 Nachdem Amo in der Expositionsszene des Stücks im Stück mit großer Geste auf die Bühne und damit ins Feld der Sichtbarkeit gezogen wurde, steht er dort über eine län-
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senschaftlichen oder philosophischen Gedanken. Im Verlauf der Handlung schränken die degradierenden Anrufungen seine agency als akademisch sprechendes Subjekt zunehmend ein. Besser: Die Handlung des Stückes ist die Einschränkung seines Sprechens durch die entwertenden Subjektivierungen bis hin zur öffentlichen Vertreibung: Amos – ohnehin reduziertes – rationales Sprechen als ‚Ergebnis‘ des machtvollen Bildungsexperiments wird zum Schweigen gebracht, d.h. vernunftorientiertes Sprechen scheitert und kehrt sich um in Schweigen. Thomas als Figur des 21. Jahrhunderts wird dagegen als selbständig ironisch widersprechend eingeführt. Seine Subjektposition als Schauspieler ermöglicht ihm ein Sprechen in vielen Varianten: Er ist agil, reaktionsschnell, schlagfertig – seine ironischen Bemerkungen decken subtil oder offen die latenten Rassismen im Probenensemble auf. Im Vergleich zu Amo scheint seine Sprechfähigkeit und damit sein Handlungspotenzial – gerade auch gegen marginalisierende und degradierende Interpellationen – nahezu unbegrenzt. Seiner Subjektivierung als Schwarzer Schauspieler begegnet er mit der Kritik an dem weißen Regisseur und dessen Rollenpolitik, die konventionalisierte rassifizierende Repräsentationsund Sichtbarkeitspolitiken an der Institution Theater fortschreibt. Er entgegnet ihr außerdem, indem er die Sprechweisen im zwischenmenschlichen Alltagsumgang wie auch den institutionellen Rassismus ironisch entlarvt und zurückweist. In sehr viel stärkerem Maße als Amo tritt er aktiv und laut gegen seine Rolle als „Exot der Gesellschaft“ an – aber: Auch sein kritisches, widerständiges Sprechen scheitert. Es wird unterbrochen, ausgelacht oder als Überempfindlichkeit herabgespielt. Der Probenprozess endet in einem Streit, in dem der Regisseur unter offen rassistischen Anrufungen und dem Aufruf, ‚nach Afrika zurückzugehen‘, den Raum verlässt – Thomas’ Widersprechen endet im Schweigen. Der ineinander verwobene Verlauf der Handlungsstränge auf zwei Zeitebenen zeigt, wie die in der Sprechfähigkeit basierte Handlungsmacht der Schwarzen Protagonisten immer stärker eingeschränkt wird und das variantenreiche (widerständige, ironische, rationale, sogar resignifizierende) Sprechen beider Figuren zum Schweigen gebracht wird: durch Unterbrechungen, durch Sprechen über sie in ihrer Abwesenheit, durch offene Vertreibung. Die Figuren werden immer ‚kleiner‘, beiden wird zunehmend ihre Sprechfähigkeit – und damit Mündigkeit – abgesprochen, und am Ende werden sie performativ fast zum Ver-
gere Zeit in der Mitte eines Kreises von Menschen, die über ihn und seine Leistungen verhandeln. In der Vortragsszene folgt auf die Objektivierung durch die Blicke des Prof. Johann das Sprechverbot, auf das Amo mit dem Abgang aus dem akademischen Feld des Sprechens reagiert.
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schwinden gebracht. Dennoch: Die Protagonisten bleiben am Schluss jeweils auf der Bühne und schweigen. Zwar ist das doppelt tragische Ende das Resultat eines doppelten Verstummungsprozesses auf der Vergangenheitsebene und auf der Gegenwartsebene. Aber: Zum Schweigen gebracht bzw. im Schweigen sprechen sie doch weiter. Dieses Schweigen ist ambivalent und dadurch störend. Denn auch ohne Worte beharrt es noch auf dem, was dem zum Verstummen gebrachten Anderen durch das schreibende Sehen der Dominanz abgesprochen wird: die Reziprozität des Rück-Blickens. Dieses Rückblicken enthält im performativen Gegenblick auch den reflektierenden, resümierenden Blick zurück in die (dramatische) Geschichte und wie sie (dramaturgisch) konstruiert ist. Der Schluss ist als tragisches Ende aufgeführt und bildlich ein zweiter Metakommentar zu der theatralen Geschichtsrekonstruktion selbst. In diesem Sinn ist er gewissermaßen eine Umkehrung des komischen Anfangsbildes („Prolog“), den ich als ersten Metakommentar gedeutet hatte. In tiefblau-rotem Licht steht der Schauspieler Thomas jetzt in der Figur des mit öffentlichen Schmähgedichten zurückgewiesenen Amo schweigend auf der Bühne. Eingeleitet wird dieses Schlussbild durch eine vehemente karthartische Tanzchoreografie zu einem Stück von Slagerij Van Kempen (1989). Das Skript beschreibt die Bewegungen des Tänzers als einen spannenden und dramatischen Freiheitstanz […] im zeitgenössischen Tanzstil […] Die Bewegungen werden immer schneller und schneller. // Er macht diese Bewegungen, bis er erschöpft und außer Atem ist. // Am Ende des Tanzes hört man nur seinen lauten Atem (Amo 38).
In absolutem Kontrast zu dieser in gewisser Weise Verzweiflung und heftige innere Bewegtheit darstellende Choreografie des Tänzers als Alter Ego steht Amo regungslos, stillgestellt, auf der Bühne bis der Tänzer sich erschöpft hinter ihn stellt und atmet. Dann macht Amo die Selbstherstellung von Thomas im Prologbild rückgängig: Er stellt den Regiestuhl in die Bühnenmitte und legt schweigend seine historischen Kostüme ab. Es folgt ein kurzer Dialog mit seinem Freund Gottfried, der im Hintergrund aufgetreten ist und zuschaut. Amo teilt ihm darin mit, er „gehe zurück“ (Amo 39). Nach diesem letzten Gespräch setzt sich der Schauspieler mit Blick in das Publikum auf den Regiestuhl und schweigt. Nach wenigen Sätzen aus dem Off über den Verbleib von Amo in Afrika setzt mit dem langsamen Ausblenden des blauen Lichtes ein Stück des französisch-senegalesischen Musikers Wasis Diop ein, der für das Mischen von Pop und Jazz-Musik mit traditioneller Musik aus dem Senegal bekannt ist. In diesem Stück Dames électriques (1997) tritt der chorisch begleitete Gesang der senega-
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lesischen Sängerin Yandé Codou Sène in den Vordergrund, so dass musikalisch die Atmosphäre eines ‚Lichtblicks‘ vermittelt wird.23 Im langsamen Abblenden des immer tiefer blau werdenden Bühnenlichtes tritt als Äquivalent zu dem musikalischen ‚Lichtblick‘ ein Scherenschnitt von Amo an der Bühnenrückwand in den visuellen Fokus und bleibt für einen kurzen Moment der letzte helle Lichtpunkt vor dem abschließenden Black. Der Schlussdialog zwischen Amo und Gottfried hält die Antwort auf eine dem Stück zugrunde gelegte Frage bereit, indem er das ‚Zurückgehen‘ nach Afrika als Widerstand gegen die entmündigende Subjektivierung erklärt. Die Reduktion auf ein Nichts, der Zwang zum Sich-kleiner-Machen und sein Unwille sich „den Notwendigkeiten anzupassen“ führt Amo als Motive an, in das „Land seiner Geburt“24 zurückzugehen – und damit im Effekt der Reduktion bis zum Verschwinden/Tod zuzuarbeiten: Karl/Gottfried: Aber hier seid Ihr aufgewachsen. Dort kennt Ihr niemanden! Wie wollt Ihr dort glücklich werden? Thomas/Amo: Glücklich ist derjenige, der sich mit dem arrangiert, was er nicht ändern kann … Karl/Gottfried: Wer sich den Notwendigkeiten anzupassen versteht … … Thomas/Amo: … … ist weise und göttlicher Dinge sich bewusst … es tut mir Leid Gottfried: Ich kann mich nicht mehr anpassen. Karl/Gottfried: Aber, hier geht es Euch doch gut! Thomas/Amo: … … Hier GING es mir gut … Karl/Gottfried: … … Thomas/Amo: … … solange ich klein war. Als ich nicht mehr klein war, hätte ich mich klein machen sollen … Ich will aber nicht klein sein, nicht kleiner als die anderen … (Amo 39)
Amos Begründung für sein Zurückgehen legt eine Lesart des Schweigens nahe, die ich mit Einschränkungen als widerständiges Schweigen bezeichnen würde.
23 Zur Erläuterung des Stücks Dames électriques wird Wasis Diop mit einer Geschichte zitiert, die das Lichtthema sogar aufgreift: „Als kleiner Junge dachten meine Freund und ich, die Sterne wären am Himmel befestigte Glühbirnen. Nur wenige Menschen hätten die Macht, sie anzuschalten – darunter einige Frauen, die mit ihrem Gesang das Firmament zum Leuchten brachten: Die ‚Elektrischen Damen‘“ (vgl.: Booklet des Samplers New African Worldbeat 1997). 24 Dies ist die Formulierung der Off-Stimme, die nach dem Dialog über den Verbleib Amo im heutigen Ghana berichtet (Amo 39).
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Amo setzt dem Zwang zur Anpassung an seine ‚unverschuldete Unmündigkeit‘ (und dem Zum-Schweigen-gebracht-Sein) im Schweigen die Idee der Mündigkeit entgegen. Dieses Schweigen wendet sich gegen das, was Butler Zwangsdiskursivität nennt, die in bestimmten Fällen zur Voraussetzung wird, um einem Anspruch auf eine Zugehörigkeit Geltung zu verschaffen. Anerkennung als politisch sprechendes Subjekt (oder als Akademiker), d.h. Intelligibilität, wird durch ‚Zwangs‘-Narrationen (z.B. Selbstbekenntnisse oder beschränkende Selbstanerkennungen) bestimmt: „Formen von ‚Zwangsdiskursivität‘ [regeln] die Voraussetzungen, unten denen politische Ansprüche erhoben werden“ oder die sogar Überleben sichern können (Butler 2006, S. 213f). Solche ‚Zwangs‘-Narrationen erzwingen eine diskursive Form der Politisierung, die, wie Wendy Brown erläutert, nicht nur festlegt, (a) in welcher Form ein Anspruch als politischer Anspruch lesbar wird, sondern die (b) […] Politik als eine Diskursproduktion konsolidiert und damit ‚Schweigen‘ als den Ort möglichen Widerstands gegen solche diskursive Diskursregime und ihre normierenden Effekte etabliert. (Ebd.: 214, Herv. i. O.)
Die aporetische Situation solcher Zwangsdiskursivität wird im Schluss des Stückes in einem Anpassungszwang deutlich und manifestiert sich im ambivalenten Schweigen des Protagonisten. Die ‚Notwendigkeit zur Anpassung‘25 erforderte den Selbst-Zwang zum Sich-klein-Machen und die Selbst-Anerkennung als dem ‚Kleinen‘, Unmündigen, kurz: die Unterwerfung unter das Kinderstereotyp für kolonisierte Afrikaner im stillhaltenden Schweigen. „Die Regeln, die die Intelligibilität des Subjekts beschränken“, so Butler, „werden das Subjekt sein Leben lang strukturieren.“ (ebd.: 212) Die erzwungene Selbstreduktion zur Sprechunfähigkeit/Unmündigkeit erscheint hier als die Zwangserzählung, die Amo das Überleben in einer Situation und Position sicherte und die (akademische) Sprechfähigkeit zur Voraussetzung hat: Erzwungen wird die Absurdität eines Eintritts in die Unmündigkeit als Austritt aus der Unmündigkeit. Genau diese erzwungene widersinnige Subjektivierung26 verweigert jedoch gerade jeden An-
25 Der Dialog rekurriert hier auf ein im Stück bereits einmal zitiertes Epiktet-Zitat: „Wer sich den Notwendigkeiten an zu passen versteht, ist weise und göttlicher Dinge sich bewusst.“ (vgl.: Szene 12: Dorindes Entscheidung zur Trennung) 26 Von Amo wird für seine Position als Akademiker mündige Sprechfähigkeit erwartet – Austritt aus der Unmündigkeit – zugleich aber in dieser Sprechfähigkeit die Anerkennung seiner Sprechunfähigkeit – Eintritt in die Unmündigkeit. Das widerständige Schweigen erkennt den Widersinn nicht an und reklamiert für sich das Potenzial der Nicht-Anerkennung des Widersinns.
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spruch auf politisches Sprechen auf Dauer und wird daher von Amo nicht anerkannt. Im Schweigen von Amo als nicht-anerkanntes politisches Subjekt (Kind/ Afrikaner) zeigt sich insofern sowohl der Zwang zum Schweigen als auch seine Verweigerung dieser Subjektivierung/Unterwerfung als nicht-sprechfähig/ intelligibel. In seinem Schweigen und Verschwinden verbirgt sich der einzige Ort möglichen Widerstands gegen eben diese Zwangs-Erzählung, die den Akademiker als weißen Mann wiederholt zur Norm erhebt und den Schwarzen Akademiker ent-normalisiert. Das sapere aude wird hier als Mut zum wissenden Schweigen vorgeführt. Als Antwort auf diesen zwangsdiskursiven Widersinn, genuiner Teil der Aufklärung, findet das Stück ein außer-ordentliches Schweigen in einem Schlussbild (Abb. 6), in dem das theatrale ‚Licht der Aufklärung‘ (über die Schattenseiten der Aufklärung) sehr langsam erlischt. Als eine der wenigen ‚sprechenden‘ Spuren bleibt am längsten der Schattenriss von Amo an der Rückwand sichtbar, ein Bildformat, mit dem Aufklärung als Utopie einer Gleichheit von Menschen (im Schatten) angedeutet wird. Dieser Gedanke wird mit der eingespielten Musik von Wasis Diop und Yandé Codou Sène (als Gegenpart zur Zauberflöte im Anfangsbild) weitergeführt zu einer erneuten Anspielung auf die Sagbarkeit einer Hoch- (oder Höher-)Wertigkeit afrikanischer Kulturen.27 Auf der Bühne sitzt schweigend die Doppelfigur Amo/Thomas, deren Rück-Blick das gleichfalls blickende Publikum zum Objekt macht und so der Ohnmacht des Angeschaut-Werdens (Braun 2001: 4) aussetzt, ohne es jedoch aus seiner Verantwortung zu entlassen und somit zu entlasten. Dennoch bleibt der Blick unbestimmt leer, ohne auffordernden, anklagenden Ton und zeitlich nicht mehr lokalisierbar: Als übereinander gelegter Doppelschluss geht die Ebene der Gegenwart in der der Vergangenheit auf. Oder: Die Vergangenheit hat die Gegenwart, die auch die Vorführsituation integriert, einund überholt. Noch einmal mit Butler: Die Geschichte der Wiederholungen übersteigt die Geschichte des Subjekts: „[D]ie „Existenz“ des Subjekts [ist] in eine Sprache „verwickelt“, die dem Subjekt vorausgeht und es übersteigt, eine Sprache, deren Geschichtlichkeit eine Vergangenheit und Zukunft umfaßt, die diejenigen des sprechenden Subjekts übersteigen.“ (Butler 2006: 51)
27 In Anlehnung an die Hintergrundgeschichte zu dem eingespielten Musikstück, könnte assoziiert werden, dass nun die dames electriques mit ihrem Gesang Licht ans Firmament singen (vgl.: FN 23) und damit das Bühnenlicht ersetzen. Auf diese Weise entsteht eine neue Lichtmetapher, die durch den Eindruck der ‚strahlenden‘ ChorMusik noch bestätigt wird.
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Abb. 6: Amo: „Epilog“, Szene 15 (Videostill)
Bewegung im Scheitern Unter dieser Voraussetzung stellt sich die Frage: Wie (dramatisch) gegen Rassismus ansprechen? Am Ende dieses Theaterstücks findet ein Rückblick statt, der auch als Reflexion seiner selbst erkennbar wird. Dieser Schluss ist mehrfach tragisch, denn nicht nur scheitern die zwei Protagonisten in ihrem Sprechen (und Widersprechen) auf beiden Zeitebenen an den Unmündigkeitserklärungen ihrer Umgebung; auch scheitern die theatralen Erzählung(en) an der Geschichtlichkeit einer Sprache, die dem Sprechen des Ensembles vorausgeht. Deswegen ‚gewinnt‘ die dunkle Vergangenheit einer widersprüchlichen Aufklärung gegenüber der Gegenwart, die sich im ‚Besitz‘ der ‚lichten‘ Aufklärung wähnt. In der Gegenwart wird die Vergangenheit wieder dominant und bringt die SelbstErzählung einer ‚aufgeklärten Gesellschaft‘, die (über Rassismus) sprechen kann, zum Scheitern – sie wird als Mythos erkennbar. Der Doppelschluss selbst wird dabei zum permanenten Trugschluss: Gerade weil das tragische Ende der Vergangenheit zugleich das in der Gegenwart ist, dreht sich die Idee, mit einer Gegen-Erzählung die bedingungslose gleichwertige Anerkennung von Sprechfähigkeit einzufordern, im Kreis. Das Stück ist eine Wiederholung seiner selbst als permanentes Scheitern im Sprechen über die Idee anerkannter Sprechfähigkeit, Mündigkeit, Intelligibilität. Die Vorstellung des Sprechens und Wider-Sprechens (u.a. des Anzeigens von Rassismus) als akademisches Sprechen (Amo) oder als
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widerständiges Sprechen (Thomas), selbst die des enthüllenden aufdeckenden Sprechens, als das sich die Theaterproduktion als Ganzes mit ihrer GegenErzählung ausgibt, scheitert – immer wieder. Dieses Scheitern wird im schweigenden Blick zwischen dem Akteur auf der Bühne und dem Publikum zur Permanenz. Ein Rückblick auf den formalen Verlauf des Stücks zeigt, dass die komischen Formelemente des Anfangs (Entlarvungen, Ironisierungen, Resignifizierungen) von einer immer dominanter werdenden tragischen Schließung im Aporetischen überlagert werden. Zunehmend wird potentielle Gemeinschaftsproduktion in einem zumindest prinzipiell möglichen Konsens gegen rassistische Praxis verhindert; das anfängliche Gelingen weicht dem Scheitern, dem dann jedoch der übergeordnete Sinn fehlt. Der Konsens scheitert auf der Gegenwartsebene letztlich an der Frage, was Rassismus und rassistische Praxis ist, wer darüber wie sprechen kann. So fordert das Scheitern – bezogen auf das Stück im Stück wie auch auf die gesamte Produktion – die Frage heraus: Wie kann eine Erzählung gegen Rassismus aussehen? Wie konstruiert eine Theaterproduktion mit dem Anliegen, die Geschichte des nach Europa verschleppten Jungen aus Ghana nahe zu bringen, die Vergangenheit und Gegenwart und darin nicht zuletzt sich selbst? Dergestalt ist das Ende auf sehr irritierende Weise tragisch und riskiert sogar (ein weiteres Mal) die Affirmation. Denn klassischerweise erfordert die Erzähllogik des tragischen Dramas zu seinem abschließenden Gelingen die bereinigenden Auswirkungen der Katastrophe zur Herstellung von Sinnhaftigkeit, also die Katharsis und eine aus ihr generierte gemeinsam geteilte ‚Idee‘, die den Tod des Helden übersteigt. In dieser Idee, die das Publikum mit dem Helden teilt, wird es mit seinem Tod versöhnt (vgl.: Andreotti 1996: 106–127). Erst diese gemeinschaftsbildende versöhnende Idee als „teleologische Botschaft“, die aus der erzähllogischen Notwendigkeit der Katastrophe und ihrem karthatischen „Sog zu Versöhnung und Harmonie“ (ebd.: 127) entsteht, führt mit einer abschließenden Sinnkonstruktion der Katastrophe zur Entlastung des Publikums und schließt das Drama mit einer Befriedung ab. Genau diese Logik erzwingt auch die Fixierung des Protagonisten als Träger narrativ notwendiger (Opfer-) Funktionen. In dieser Lesart läuft das Stück sogar Gefahr, dem strukturellen Rassismus, dessen Mechanismen es kritisch begegnen will, hinterrücks eine narrative Notwendigkeit und somit Sinn zuzuschreiben – denn nur durch rassistische Ausgrenzung können Amo und Thomas zu den tragischen Figuren werden, die sich mit ihrem Schicksal versöhnen. Die Katastrophe der (doppelten) Vertreibung erfährt erzähllogisch eine Funktion, die der Entscheidung zum Verschwinden eine Sinnhaftigkeit gibt. Diese Notwendigkeit wird aber von Amo explizit zurückgewiesen:
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Thomas/Amo: Glücklich ist derjenige, der sich mit dem arrangiert, was er nicht ändern kann … Karl/Gottfried: Wer sich den Notwendigkeiten anzupassen versteht … Thomas/Amo: … ist weise und göttlicher Dinge sich bewusst … es tut mir Leid Gottfried: Ich kann mich nicht mehr anpassen. (Amo 39)
Insofern als diese Sätze zugleich eine Reflexion der tragisch angelegten Struktur dieses Stückes erkennen lassen, wird eine zweite Lesart stimmig, in der das Stück selbst sein eigenes Scheitern – nicht zuletzt in der Wahl der Form – reflektiert und schweigend anerkennt. Auf diese Weise verweigert das Stück aber die Harmonisierung und Entlastung des Publikums, weil die übergeordnete Idee fehlt oder sich als Widersinn herausstellt und so Gemeinschaftsbildung als Scheitern in Permanenz vorstellt. Es rückt die Verluste und Verletzungen ohne Erklärungen und Alternativerzählungen ins Zentrum. Das Schweigen geht über die Handlung des Stückes hinaus und verweigert seine Schließung. Es wird in dem Wechselblick zwischen Akteur und Publikum perpetuiert und so zu einem subjekt- und gemeinschaftskonstituierenden Moment, das Versöhnung jedoch nur in einer gemeinsamen Anerkennung des Scheiterns und der Verletzbarkeit finden kann. Selbst das in der Entlarvung des Mythos der aufgeklärten Gesellschaft (auch) erkennbare Moment des Komischen erfordert die Anerkennung der Verletzbarkeit – denn um das Komische (in der Strategie der Entlarvung) zu entdecken, muss das Publikum sich selbst in seinen Praxen der Entmündigung anerkennen. In dieser Anerkennung von Schmerz, Verlust, Verletzbarkeit – „Gefährdung“, um es mit Butler (2010) auszudrücken – liegt das gemeinschaftsbildende Potenzial, das selbst nur im Modus der Unvollständigkeit seine Kraft hält. „Gefährdung“ denkt Butler über seine Verallgemeinerbarkeit „in Begriffen der Gleichheit“ und erkennt in der sozialen Abhängigkeit eine „Pflicht zur Lebenserhaltung“: „Eine Pflicht ergibt sich […] aus der Tatsache, dass wir von Anfang an soziale Wesen und von dem abhängig sind, was außerhalb unserer selbst liegt, von anderen, von Institutionen und von abgesicherten und sichernden Umwelten und dass wir in diesem Sinn von Anfang an gefährdet sind.“ (Butler 2010: 29) Nicht zuletzt verbergen sich in dieser Anerkennung der Verletzbarkeit und des Scheiterns die – selbst in höchstem Maße gefährdeten – utopischen Momente der Aufklärung. Im Eingeständnis des Scheiterns einer auf die ‚Lichtseite‘ reduzierten Aufklärung wird eine mögliche Erreichbarkeit und damit ein Moment der Bewegung aufgerufen. In dieser Mobilisierung verliert sich der statische Charakter in der normativen Rede von europäischen Aufklärung, mit der ein Anderes vom Eigenen ab- und ausgegrenzt wird. Das im Schweigen eingeschlossene utopische Po-
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tenzial der Aufklärung wird mit diesem Schlussbild als „noch nicht erreicht“ anerkennbar und damit umkämpfbar. Das Publikum wird durch diese Mobilisierung nicht entlastet, sondern auf die Suche geschickt. Die Suche selbst als nicht abschließbaren Vorgang anzuerkennen, in dem die Spuren der Geschichte/n und des Utopischen der Motor des Wieder-Versuchens nach dem Scheitern sind, schimmert in dem wechselseitigen Blick – der die Ohnmacht des sehenden Subjekts zulässt – als potentielles Versöhnungsmoment hindurch. Das ist keine karthartische Erlösung und das Gegenteil von selbstversichernder Errungenschaft, die gerade das Moment der Abgeschlossenheit hervorhebt. Im neu geordneten Schweigen erfährt Aufklärung eine Beweglichkeit, durch die die Erreichbarkeit der Ideale der Aufklärung unter der Bedingung wieder denkbar wird, dass die Unerreichtheit dieser Ideale anerkannt wird. Das Projekt als Rekonstruktion eines Zum-Schweigen-Bringens im Sinne der Subaltern Studies, das aus den kaum vorhandenen historischen Spuren am Ende doch eine kohärent gemachte Erzählung vorträgt, in der – wenn auch divergente – Erzähllogiken das Sprechen bestimmen, wirft in diesem Sinn die Frage nach dem verantwortungsvollen Sprechen auf. Die Frage „wie sprechen?“ – auch im und mit dem Theater – wird am Ende mit einem Nicht-mehr-Sprechen beantwortet, das im Stück alles (dem Schweigen vorangegangen) Sagen wieder in Zweifel zieht. Wie aber schweigen, um das herrschaftliche Schweigen über Amo zu brechen? Eine Antwort liegt im Gestus der Verweigerung von weiteren Erzählungen nach den Versuchen des Sichtbarmachens oder (An-)Zeigens, eine andere in der Suche nach anderen Weisen zu sprechen. Die Verantwortung liegt nicht zuletzt in der Wiederholung, die – auch oder gerade im Scheitern die Aufforderung zur Bewegung, des wieder und immer wieder Neu-Versuchens – das Potenzial der Veränderung bereithält – und sei es im Beckettschen Sinn ein aporetisches Anschreiben gegen das Schreiben selbst: „Say for be said. Missaid. From now say for missaid. […] All of old. Nothing else ever. Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.“ (Beckett 1983)
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Gegen-Bilder Beispiel: Bombenwetter. Das Kopftuch hält
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Re-Orientieren
Bombenwetter. Das Kopftuch hält ist der Titel einer Szenencollage, die im März 2004 am Theodor-Heuss-Gymnasium (THG) Wolfenbüttel Premiere feierte und in der Folge nach einer weiteren Schulaufführung zu regionalen und überregionalen Festivals1 eingeladen wurde. Der Programmzettel kündigt die Produktion als „selbstentwickelte Collage des 13. Jahrgangs Darstellendes Spiel [DS] am Theodor-Heuss-Gymnasium [an], angeregt durch Lessings ‚Nathan der Weise‘“2 Unter der Leitung der Lehrenden Margrit Lang (DS/Kunst) und Thomas Sander (DS/Deutsch) entwickelten zehn Schülerinnen und neun Schüler anlässlich des 275. Geburtstags Gotthold Ephraim Lessings ein Stück, das „eine intelligente politische Auseinandersetzung um das aktuelle Verhältnis von Toleranz und Humanität“ sei, wie die Braunschweiger Zeitung (BZ, 30. Mai 2005) die Jury des Berliner Festivals Theater der Jugend zitiert. In einem Rückblick beschreiben Lang und Sander die Ausgangssituation folgendermaßen: In Wolfenbüttel, wo Lessing viele Jahre seines Lebens verbracht hat, sollte 2004 der 275. Geburtstag Lessings groß gefeiert werden und die Schulen wurden gebeten zu überlegen, welchen Beitrag sie zu diesem Jubiläum leisten können. Unser Kurs […] beschloss daraufhin, sich eines der zentralen Werke Lessings vorzunehmen, Nathan den Weisen. Übereinstimmung bestand […] darin, dass es nicht darum gehen konnte, das Stück 1:1 auf die Bühne zu bringen […], sondern dass wir einen eigenen Zugang finden mussten, der etwas mit uns und unserer Zeit zu tun hat. Zudem war von Beginn an klar, dass wir auf-
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35. schultheaterwoche braunschweig, 8. – 11. März 2004, Schultheater der Länder, Stuttgart 19. – 25. September 2004,Theatertreffen der Jugend Berliner Festspiele, 20. – 28. Mai 2005, Einladung zum World Social Forum, Porto Alegre 2005, die aus organisatorischen und finanziellen Gründen abgesagt werden musste.
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Programmzettel Bombenwetter (im Folgenden abgekürzt mit BW)
242 | G EGEN -B ILDER : B OMBENWETTER . D AS K OPFTUCH HÄLT grund der hohen Schülerzahl eine szenische Collage bauen würden, die, so der Schülerwunsch, kritisch, provokativ und lustig sein sollte. (Sander/Lang 2005: 138)
E IGENE Z UGÄNGE – Z UGÄNGE
ZUM
‚E IGENEN ‘
Diesen eigenen Zugang fand der Theaterkurs durch eine intensive inhaltliche Auseinandersetzung mit Lessings Aufklärungstheater, in der die Schülerinnen und Schüler zentrale Begriffe wie Toleranz, Freiheit, Vernunft, selbständiges Denken etc. im aktuellen Zeitkontext neu zu bestimmen suchten und sie dazu regionalen politischen Debatten (Kopftuchverbot in Niedersachsen) und globalen Ereignissen wie dem Nahost-Konflikt sowie der US-amerikanischen Intervention in den Irak gegenüberstellten. Auf diese Weise spannt die „szenische Collage […] einen Bogen von der Zeit der Aufklärung bis in die unmittelbare Gegenwart des Nahost- und des Irak-Konfliktes, ohne den Anspruch zu erheben, die einzige richtige Wahrheit zu verkünden“ (NB, 21. April 2005). Durch die radikale Konfrontation des Ausgangstextes „als Anregung“ (Programmzettel) mit medialen Berichterstattungen sowie historischen und zeitgenössischen öffentlich erklärten Legitimationen von Krieg und rassistischer Gewalt vermeidet die Produktion zwar, wie die Besprechung in der Neuen Braunschweiger (NB) konstatiert, Wahrheitsansprüche und auch eindeutige Positionierungen zu den jeweiligen Konflikten. Dem Anspruch nach kritischer Provokation und Witz kommt sie jedoch durchaus nach: Die vorgenommene Rekontextualisierung von Aufklärungspositionen wie Lessings Nathan oder auch Kants Frage nach Aufklärung kommt mit einem derart polemischen Ton daher, dass sich den Rezensenten der Stuttgarter Festivalaufführung zum Schultheater der Länder, die „von Berufs und [ihrer] Neigung wegen der Aufklärung und ihrer Literatur durchaus gewogen [sind], zunehmend die Haare“ sträuben (Stangl/Bauer 2005: 76). Rudolf Stangl und Christian Bauer beschreiben Bombenwetter als „komplexes Spiel mit Aufklärung und ihren Auswirkungen bis in die Politik der Gegenwart“ (ebd.: 76), das sie mit teils augenzwinkernder, teils ernsthafter Empörung wie folgt kommentieren: „Kinderchen, liebt Euch“, schreit Lehrer Lessing immer wieder in die tobende Klasse. Nanu? So haben wir uns Aufklärung eigentlich nicht vorgestellt […]. Inmitten von schrecklichem Klamauk und fürchterlichen Kalauern (Fanatismus – hoffentlich toleranzversichert) die Ringparabel zu finden, gar noch ins Mathematische übersetzt, und das von einer Truppe aus der Lessing-Stadt Wolfenbüttel […] – da hört doch alles auf! Ist denen denn gar nichts heilig? Darf man die elementaren Grundlagen der bürgerlichen Gesell-
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schaft – unnachgiebige Toleranz, verordnete Religionsfreiheit, Weltbefreiungspathos – dermaßen schlagwortartig – wenn’s nicht so witzig wäre, würde man sagen: schlagstockartig – in die Weltbedeutungsbretter stampfen? (ebd.: 76)
Diese polemische Rekontextualisierung soll im Verlauf der Analyse als eine in der Theaterproduktion angelegte Gegenstimme herausgearbeitet werden, die indirekt gegen Kulturellen Rassismus agiert: Mit Sara Ahmed argumentiere ich, dass sich die Provokation in mehrfacher Hinsicht gegen ‚Neigungen‘ (Orientierungen) zur Reproduktion leitkultureller Selbsterzählungen europäischer Aufklärung bzw. Aufgeklärtheit richtet, die im ‚Naheliegenden‘ versteckt sind. Re/Orientieren funktioniert als Stimme gegen die Mechanismen der Herstellung eines ‚Eigenen‘, das im kulturellen Erbe eines weisen Nathan fixiert und tradiert ist. Die mokante Neuschreibung wendet sich insbesondere gegen den Ton der harmonischen Einsicht im Dialog und der Versöhnung in Lessings Nathan. Mit diesem konnte gerade in der Folge der Anschläge des 11. September 2001 eine Lessingrezeption gelingen, die im Dienste dieser kulturellen Wir-Konstruktion Toleranz, Freiheit und Menschlichkeit als Eigenes inszenieren konnte, zugleich aber kriegslegitimierende, islamophobe und antisemitische Positionen tolerierte. Mit Blick auf die Entstehungsgeschichte des Lessingtextes wird Bombenwetter zudem lesbar als strategischer Akt einer Re/Polemisierung, d.h. als Polemik gegen Lessing im Sinne von Lessings eigener Polemik gegen protestantischen Fanatismus, die als solche kaum überliefert ist. Re/Arrangieren geht den An/Ordnungen von Abb. 7 – 10: Bombenwetter Körpern und Lehren nach, denen in collageartig „Laurie-Anderson-Rhythverknüpften Bildern plakativ widersprochen mus“ / Posen (Videostills) wird. Diese Art Gegenstimmbildung arbeitet systematisch gegen die Form der kohärenten Er-
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zählung und des Dialogs an, wie sie in dem dramatischen Gedicht des Klassikers vorgeschlagen wird. Nicht nur bleiben bei der Demontage des Lessingtextes kaum mehr als einige Fragmente der Ringparabel, ein Ausschnitt aus der Patriarchen-Szene sowie zwei extrem verdichtete Plotzusammenfassungen übrig; diese werden zudem in zum Teil absurden Präsentationsformen vorgetragen: die schon erwähnten Übertragungen der Parabelausschnitte in mathematische Formeln oder Kung Fu-Kampfgesten wechseln dabei spielerische Vortragsarten ab, in denen die Familienverhältnisse kurzerhand als Figurentheaterspiel mit Stofftieren oder als Kartenspiel vermittelt werden. Auch diese Übersetzungen von einem Genre in ein anderes sind als Rückgriff auf Lessings Schreibweise zu verstehen, dessen formale Strategie des Genrewechsels von der polemischen Debatte zur irenischen theatralen ‚Märchenerzählung‘ die Zensur hintergehen sollte. Die radikale Zerstörung jeder Form von narrativer Kohärenz und szenischem Dialog entsteht durch die chorische und choreografische Präsentation unterschiedlicher Textelemente in einer revueartigen Bildercollage. Dessen Grundbild stellt eine Schulklasse mit 18 clownsartig weiß geschminkten Schüler_innen an neun symmetrisch aufgestellten Holzschultischen dar, an dessen Seite ‚Lessing‘ als Lehrer an einem Kindertisch platziert ist. Aus dieser Grundanordnung entstehen im Laufe der ca. 50-minütigen Vorstellung immer wieder neue Tischaufstellungen und somit unterschiedliche Spielsituationen (Schützengraben oder Barrikadenkampf, Mauer, Gerichtsverhör, lange Speisetafel), in denen ca. 30 TextBildverknüpfungen vorgestellt werden. Diese Szenenbilder, die auch als tableaux vivants beschrieben werden könnten, bestehen in der Regel aus Gruppenchoreografien: Zu Beginn wird z.B. eine Abfolge unterschiedlicher Schülerhaltungen („lesend“, „denkend“, „schlafend“, „sich meldend“ etc.) im Rhythmus von Laurie Andersons Born never asked (Anderson 1982) systematisch wiederholt (Abb. 7 – 10). Nach diesem chorisch-choreografischen Grundprinzip bildet die Schüler_innengruppe eine Einheit, in der nahezu alle Posen, Bewegungen und Handlungen in den verschiedenen Szenen nach bestimmten Rhythmen exakt durchstrukturiert und durch-choreografiert sind. Auf diese Weise werden im ersten Teil der Collage Schulsituationen heute und solchen zu Zeiten Lessings gegenübergestellt, die beide an Drill erinnern und sich formal in Disziplin und strenger Ordnung wenig unterscheiden. In diesen Anordnungen sind die einzelnen Schülerinnen und Schüler zwar durchaus als individuell gestaltete Figuren erkennbar, dominant erscheint jedoch eine einheitlich geschminkte und dressierte Schulklasse als „Chor-Körper“ (Kurzenberger 2008: 18, 39–67), der dem Publikum Textteile, oft nur einzelne Worte, Begriffe oder Satzteile entgegenschleudert: Haltungen zur Schule, Leitsätze zu Aufklärung von Lessing und Kant, Begriffe zur Ringparabel. Mit wenigen Aus-
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nahmen trägt die Klasse Texte kollektiv (als Ensemble) in allen Varianten des diachronen bzw. synchronen chorischen Sprechens vor, so dass die Stimmen entweder als einzelne (nacheinander oder durcheinander) noch erkennbar bleiben oder die ganze Klasse gemeinsam ‚eine Stimme‘ bildet. Dieses Prinzip wird an einigen Stellen durchbrochen, wenn etwa Einzelne aus der Gruppe bestimmte Funktionen oder Rollen einnehmen, beispielsweise als Lehrkraft sprechen, Geschichten erzählen oder als Redner auftreten.3 ‚Lessing‘4 tritt als einzige durchgehend individuelle Figur nach der ersten Schulposen-Choreografie in einem historisch anmutenden schwarzen Frack vor die Schulklasse, von der er mit ausgestreckten Zeigefingern und dem synchron gesprochenen Kommentar „zu spät“ (BW 129) empfangen wird. Seine Sonderstellung erhält ‚Lessing‘ v.a. durch die abseitige Position neben der Schultischformation wie auch durch seine andere Ausstattung. Er erscheint als eine Figur, deren Funktion und Deutung zwischen Kommentator, Lehrer, Schiedsrichter, aber auch Angeklagter offen bleibt, wobei die Zeitkontexte zwischen dem 18. und dem 21. Jahrhundert wechseln bzw. ineinander übergehen. Durch ‚Lessing‘ wie auch andere einzeln aus dem Gruppenverband heraustretende Figuren entstehen Dialoge bzw. dialogische Situationen zwischen dem Chor und den Einzelfiguren, die zum Teil auch längere Texte vortragen. Die so aufgestellten Szenenbilder verfolgen in ihrer zeitlich-linearen Anordnung keine erzählende Struktur; erkennbar wird jedoch eine inhaltliche Gliederung in zwei Blöcke: Während der erste Teil der Collage Schule (Aufklärung in der Schule) thematisiert, bestimmen den zweiten – längeren und dominanten – Teil der Collage solche Bilder, die aktuelle politische und gesellschaftliche Ereignisse (2003 – 2004) wie auch historische Kontroversen bzw. Deklarationen aufgreifen: Die (niedersächsische) Kopftuch-Debatte wird dabei als ‚Tennis-
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Zu Hajo Kurzenbergers Betrachtung des Chores als kollektive Theaterform sowie die Entstehung der „soziale[n] Kunstform Theater“ aus dem Wechselspiel zwischen Chor und Protagonisten (Kurzenberger 2009: 18) siehe das Teilkapitel „Re-Arrangieren“.
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Zur Unterscheidung von Lessing als Autor steht die Schreibweise ‚Lessing‘ für die Figur auf der Bühne. Diese entstand durch die nachträgliche Besetzung eines Schülers mit der Idee, ihn „als Lessing einzusetzen, der die Handlung kommentieren (‚Ein Vortrag solcher Art erscheint mir töricht und überaus schädlich‘), in sie eingreifen (‚Kinderchen liebt Euch‘) oder als Teil der Handlung (Lessing und Goeze, Schiedsrichter im Kopftuch-Tennismatch) agieren sollte. [Es] bot sich zugleich die Gelegenheit, diese Figur auch als mögliche Lehrerrolle zu definieren, so dass der Zuschauer selbst entscheiden konnte/musste, welche Funktion er dieser Figur zuschreiben wollte“ (Sander/Lang 2005: 141).
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Match‘ gespielt, bei dem ‚Lessing‘ den Schiedsrichter abgibt; hinter Zeitungen versteckt werden Schlagzeilen verlesen, die auf lokale rassistische Übergriffe verweisen, Tote bei Anschlägen im Irak oder in Jerusalem vermelden und nicht zuletzt von der Nominierung von Bush und Blair für den Friedensnobelpreis berichten. George W. Bushs Erklärungen zur militärischen Intervention in den Irak, eine Rede von Hans Joachim Schädlich zur Verleihung des Lessing-Preises 2003 wie auch die historische Lessing-Goeze-Kontroverse werden visuell eindrücklich kommentiert. Im Laufe der Aufführung verschiebt sich der Fokus von Debatten um den Islam hin zum Thema Antisemitismus: Shakespeares Shylock unterbricht einen Text aus dem SS-Reichhauptamt, Lessings Patriarchenszene leitet zum Schlussbild der Textcollage über: Martin Hohmanns Rede zum Tag der Deutschen Einheit 2003 als Stammtischrede. Verbunden bzw. unterbrochen werden diese Szenenbilder durch wiederkehrende Motive, die sich als Topoi durch das gesamte Stück ziehen: Lessings leitmotivischem Aufruf: „Kinderchen, liebt Euch“ folgt oft eine Umarmungschoreografie zu dem Song Neue Brücken (1993) der für ihre „Möchtegern-Betroffenheits-Lyrik“ (Ehrlacher 2007) berüchtigten deutschen Softrock-Band Pur. In drei Varianten wiederholt werden auch das Lied Die Gedanken sind frei sowie Gruppenaufmerksamkeitsspiele (z.B. Kommando Pimperle, Reise nach Jerusalem). Die Gruppe greift vornehmlich auf vorgefundenes Textmaterial zurück (Reden, Dokumentationen, Zeitungs- und Internetberichte), das durch den jeweiligen Vortrag in der Gruppe chorisch gestaltet wird. Eigene Texte entstanden aus Zusammenfassungen und Umschreibungen z.B. der Ringparabel in andere Formen sowie aus der Auseinandersetzung mit dem Gegensatzpaar Toleranz und Fanatismus, die in der provokativ inadäquaten Form von Abzählreimen oder Werbesprüchen verhandelt werden (vgl.: Programmzettel BW). ‚Lessings‘ Sprechparts bestehen zum großen Teil aus Textlektüren und Kommentaren. Die einzelnen Szenen ergeben in ihrer Zusammenstellung eine Bilderabfolge, in der zwar jedes Bild eigenständig geschlossen ist, die dennoch auch in Sequenzen Sinnkonstruktionen zulässt. Meine Lektüre besteht in der Eruierung von Sinnangeboten, die sich zum einen aus der Betrachtung der Einzelelemente und zum anderen aus deren Konfiguration zu Bildfolgen – nicht jedoch aus einer starken narrativen Linearität – ergeben.
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Den Rahmen der Produktion bestimmten regionale wie auch globale gesellschaftlich-politische Diskurse und Ereignisse, die in vielerlei Hinsicht ‚Nahe Liegendes‘ herausforderten: Ein ‚Lessingjahr‘ in der ‚Lessingstadt‘ Wolfenbüttel erforderte von Kulturinstitutionen und Schulen Beiträge, die in Format und Inhalt durch den Anlass und entsprechende Publikumserwartungen vorstrukturiert waren. Nahe-liegend war vor allem, auf Lessing – als räumlich ‚nah‘ – in einem globalen historischen Kontext zurückzugreifen, in dem dessen universal formulierte Idee der Toleranz als Orientierung dienstbar gemacht werden konnte. Das Nahe-Liegende verstehe ich mit Sara Ahmed als eine diskursive Anordnung (von Dingen oder Ideen), mit der Handlungen und Körper gerichtet werden. Ahmed nennt dies „Orientierung“ oder Perspektivierung auf bestimmte Dinge, Ideen und Praxen, die mit bestimmten Erwartbarkeiten verknüpft sind. Bestimmte Dinge und Praxen liegen nahe, weil vorangegangene Praxen oder Dinge sie nahe legen: Sie orientieren auf ein (normativ) als ‚erwartbar‘ Vorgegebenes. Die Stadt Wolfenbüttel orientierte z.B. mit der Initiierung eines ‚Lessingjahres‘ nicht nur auf Lessing und dessen Texte, sondern vor allem auf eine (‚ihre‘) ‚Nähe‘ zu Lessing. Mit dem Event wird diese Nähe über sein Arbeiten und Wohnen in Wolfenbüttel vor 200 Jahren – räumlich wie ideell naheliegend – hergestellt. Die Feier eines (Lessing-)Geburtstages überbrückt zudem die zeitliche Entfernung und lässt zugleich familiäre Nähe entstehen. Nahe-Liegendes ist orientierend, d.h. Richtung gebend in bestimmten Situationen, die durch das Arrangement von bestimmten Perspektiven, Dingen und Ideen („objects“5) auf bestimmte – und nicht andere – Handlungsoptionen ausrichten. Allgemeiner bezieht Ahmed Orientierung darauf, wie Dinge, Praxen, Handlungen, Leben, Sexualität ausgerichtet sind und in (normativen) Setttings Körper zurichten. „If we know where we are, when we turn this way or that, then we are orientated. We have our bearings. We know what to do to get to this place or to that. To be orientated is also to be orientated toward certain objects, those that help us find our way. These are the objects we recognize, such that when we face them, we know which way we are facing.“ (Ahmed 2006: 543)
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Ahmed spricht von „objects“ in unterschiedlicher, physikalischer, gedanklicher und emotionaler Bedeutung, wie auch im Sinne von Zielrichtung: “We are also orientating ourselves toward some objects more than others, including physical objects […], but also objects of thought, feeling, and judgement, and objects in the sense of aims, aspirations, and objectives.“ (Ahmed 2006: 553)
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Unter dem Nahe-Liegenden ist also eine normative Handlungsaufforderung zu verstehen, deren (versteckte) Normativität sich aus der Nähe von Dingen, Ideen und Situationen ‚ergibt‘, die Orientierung geben. Die geradezu zwingende Logik des Nahe-Liegenden in Wolfenbüttel funktioniert (heimlich) mit der Vorstellung von geteiltem Raum, shared space, im Sinne einer Überlagerung von Stadt(Raum) und Ideen(-Raum). Dieser Raum (Stadt der Toleranz) entsteht in der Schleife der Wiederholung von Praxen (wie z.B. Ehrungen von Dichtern an deren Arbeits- und Wirkungsstätten oder Geburtsorten), die (Kausal-)Verknüpfungen in der Weise konventionalisieren, dass sie naturhaft werden: z.B. dass eine Feier des Dramatikers gerade in Wolfenbüttel in besonderem Maße angemessen ist, weil Lessing dort die letzten Jahres seines Lebens verbrachte. Mit der Handlungsaufforderung ‚durch die Dinge‘ ist zugleich ein Erwartungshorizont aufgespannt, der Nahe-Liegendes als Erreichbares absteckt: „Orientations are about the directions we take that put some things and not others in our reach.“ (Ebd.: 552) Das Nahe-Liegende als diskursiv, normativ hergestellte Erwartung oder Selbstverständlichkeitsannahme erfolgt als Effekt aus dem Nahe-Gelegten als Handlungsoption. Es entsteht über die räumliche Nähe, mit der Dinge zueinander und in Bezug auf die Akteure angeordnet sind. Allerdings sind Dinge nicht zufällig dort, wo sie sind und Handlungen wie auch Körper formen, gestalten oder bilden (shape): Bodies hence acquire orientation by repeating some actions over others, as actions that have certain objects in view, whether they are the physical objects required to do the work (the writing table, the pen, the keyboard) or the ideal objects that one identifies with. The nearness of such objects, their availability within my bodily horizon, is not casual: it is not just that I find them there, like that. […] they are effects of the repetition of „tending toward“. (Ebd.: 553, Herv. tm)
Das räumlich wie ideell Nahe-Liegende oder Nahe-Gelegte kann so als diskursive Ausrichtung auf Handlungen gefasst werden, deren Notwendigkeit in der Situation oder der Sache ‚naturalisiert‘ ist. Die Notwendigkeit der Handlung (z.B. ein Beitrag zum Lessing-Jahr) ist so selbst-verständlich wie das erwartbare Resultat der Aktion (z.B. eine Nathan-Aufführung). Diese Verselbstverständlichung entsteht durch Nähe als Präsenz (von Dingen, Ideen), die zum einen räumlich – im Sinne des geteilten Raumes – und zum anderen zeitlich zu begreifen ist – im Sinne eines Hier und Jetzt. Dessen Geschichtlichkeit verschwindet ebenso, wie die Arbeit an der Geschichtlichkeit, mit der aktuelle Situationen Bedeutung erhalten können.
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What is present to us in the present is not casual: as I have suggested, we do not just acquire our orientations because we find things here or there. Rather, certain things are available to us because of lines that we have already taken: our life courses follow a certain sequence, which is also a matter of following a direction or of being directed in a certain way. (Ebd.: 554)
Das Konzept der Orientierung ermöglicht den Blick darauf, wie Handlungen und Leben durch die Bedingung ausgerichtet sind, Vorgegebenes (weiter) zu verfolgen und so die nahe-gelegten Verlaufslinien zu verlängern. „The concept of orientation allows us to expose how life gets directed through the very requirement that we follow what is already given to us.“ (Ebd.) Investitionen versprechen (und verlangen) Rückgaben ‚auf gleicher Linie‘: „Through such investments in the promise of return, subjects reproduce the lines that they follow.“ (Ebd.: 555, Herv. tm) Der nahegelegte Verlauf wird zum Geschenk (gift), zur Erbschaft (inheritance), zum Eigentum (possession), allerdings nur unter der Bedingung, das die/der Beschenkte die nahegelegte Linie als naheliegend anerkennt und weiterführt: „the demand that we return the gift of the line by extending that line“ (ebd.). Die Verpflichtung, die solches Eigentum impliziert, führt zu einer Häufung von Stress- oder Druckmomenten. Denn: „It is not automatic that we reproduce what we inherit or that we always convert our inheritance into possessions“ (ebd.). Auf diese Weise wird die (z.B. kulturelle) Erbschaft zu einem ‚Hintergrund‘, der nicht nur ‚hinter‘ (einem Kind in der Familie oder hinter einer Stadt oder nationalen Gemeinschaft) liegt, sondern dessen Zukunft ausrichtet: „The background, given in this way, can orient us toward the future“. (Ebd.: 560) Mit Butler umschreibt Ahmed Orientierung als die permanente Wiederherstellung eingetretener Pfade (trodden paths), die dem Gehen – als Zukunftsorientierung – die Richtung weisen und deren Geschichtlichkeit (sedimentation of history) aber in der Wiederholung des bereits wiederholt Vorgegebenen verschwindet: Mit der Bestätigung der Ausrichtung des Pfades durch das wiederholte Begehen entlang seiner vorgegebenen Richtung wird die Herstellung des Pfades durch das Gehen unsichtbar. In Wolfenbüttel rücken also Lessing und eine bestimmte Auswahl seines Lebens und Wirkens (und damit bestimmte Ideen und Vorstellungen) als unmittelbar verknüpft mit dem Stadtraum und seinen Bewohner_innen in ein diskursives Feld der Sichtbarkeit; die Verknüpfungsleistungen aber, d.h. die ‚Arbeit‘ an der Unmittelbarkeit, sind verschwunden. Dies gilt insbesondere für die nahtlosen Verbindungen von Bedeutungen zu Bedeutungsketten, wie sie nicht zuletzt durch die Inszenierung des Lessingjubiläums hergestellt wurden: Nicht nur werden in Ritualen die konventionalisierten Verbindungen zwischen Lessing und
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Wolfenbüttel – als Ehrenbürger der Stadt – geradezu naturalisiert. Reproduziert wird damit auch eine Engführung auf Lessings dramatisches Werk, insbesondere Nathan der Weise, dessen kanonischer Status den ‚Wolfenbütteler‘ Lessing als Dichter von nationalem, wenn nicht europäischem Rang ausweist – mit entsprechenden Rückwirkungen auf die niedersächsische Provinzstadt, die ihn, indem sie ihn feiert (investment), für sich als ‚Erbschaft und Eigentum‘ reklamiert. Diese Verknüpfungsleistungen stehen zudem im Dienst der Affirmation größerer Zusammengehörigkeiten, allem voran die sozialer Gemeinschaften, die mit der Anbindung von Werten zu ethischen Gemeinschaften ausgedehnt werden zu einer nationalen Gesellschaft der Toleranz, die auf ‚ihren‘ Dichter Lessing als kulturelles Erbe verweisen kann. Um diese ‚diskursive Logik‘, die auf kulturpraktischer Ebene geradezu familiäre Nähe einer (nationalen) ethischen Gemeinschaft herstellt und so stark fixiert, dass sie naturhaft ‚gewachsen‘ daherkommt, noch weiter zu präzisieren, lohnt sich ein Blick auf die Praxis der Ehrung selbst, zu der die Gymnasiast_innen ihren kritischen Beitrag produzierten. Die Feier des 275. Geburtstages von Gotthold Ephraim Lessing mutet an, auf eine lange und ungebrochene Jubiläumsgeschichte zurückzugehen und insofern eine Kontinuität fortzusetzen, mit und in der die Gemeinschaft – und mit ihr die Rituale – ihre dauerhafte Zusammengehörigkeit symbolisch bestätigt. Die Kette des Nahe-Liegenden, die die Stadt Wolfenbüttel mit dem Besuch des damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau zeitweilig ins Zentrum des nationalen Interesses rücken ließ, lässt sich jedoch bei genauerem Hinsehen als eine durchaus gezielte Herstellung von Zusammenhängen ausmachen, die den Effekt von Nähe und Gegebenen produzieren: Als „modellhafte Initiative“ des Vereins Kulturstadt Wolfenbüttel wird das groß angelegte Lessingjahr 2004 in dessen Programmheft beschrieben, das von unterschiedlichen Kulturinstitutionen der Städte Wolfenbüttel und Braunschweig erstmalig ausgetragen und von einem sehr breiten Bündnis von Gemeinden, Landkreisen und Stiftungen bundesweit unterstützt wurde.6 Die Feierlichkeiten des Jubiläums gehen insofern mitnichten auf eine längere Tradition von Lessingfeiern in Wolfenbüttel zurück, sondern der Effekt von Nähe und Erbe entsteht erst mit der Inszenierung des Jubiläums. Lessing
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Vgl.: Programmheft des Lessingjahres (Kulturstadt Wolfenbüttel 2004: 2). Die Initiative wurde gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes und die Kulturstiftung der Länder (vgl.: ebd.: 16). – Die Ausrichtung des Jahresprogramm zu einem eher willkürlich ausgewählten Geburtstag Lessings – dem 275. – wurde zudem als eine erste Bewährungsprobe für die damals bevorstehende Bewerbung zur Kulturhauptstadt beschrieben, mit der die Kulturregion Braunschweig, Wolfenbüttel und Wolfsburg zum ersten Mal sehr eng zusammenarbeiten sollte.
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wird als ‚Mitbürger‘, so könnte man sagen: wieder nahe gebracht. In diesem Sinn ist das Lessingjahr wie auch die Bezeichnung ‚Lessingstadt‘ als eine „erfundene Tradition“ zu betrachten, die mit Eric Hobsbawm Geschichte zur „Legitimation von Aktionen und als Kitt für Gruppenzusammenhalt“ gebraucht (Hobsbawm 1992: 12, Übers. tm) und dazu Geschichte mitunter nicht nur semifiktional konstruiert, sondern sogar gänzlich „fälscht“ (ebd.: 7). ‚Invented tradition‘ is taken to mean a set of practices, normally governed by overtly or tacitly accepted rules and of a ritual or symbolic nature, which seek to inculcate values and norms of behaviour by repetition, which automatically implies continuity with the past. In fact, where possible, they normally attempt to establish continuity with a suitable historic past. (Ebd.: 1)
Der Rückbezug auf Geschichte in der Inszenierung kultureller Erbschaften lässt den Eindruck ungebrochener historischer Kontinuität entstehen, die die Vorstellung der Naturhaftigkeit der Gemeinschaft auf der Basis quasi-biologischer familiärer Genealogie ebenso wie die Rituale ihrer Bestätigung begründen und legitimieren.
E RWARTUNGEN
AN
L ESSING
Die Selbst-Verständlichkeit, die in das Szenario des Dichtergeburtstages eingelassen ist und diesen zu einem ‚Traditionsevent‘ avancieren lässt, ließe sich allerdings nicht erklären ohne die über 150-jährige Geschichte der Herstellung von national-kulturellem ‚Erbe‘, mit dem im 19. Jahrhundert die Kulturnation Deutschland konstruiert und im Folgenden überliefert wurde. Der systematische Aufbau dessen, was heute als ‚kulturelles Erbe‘ konventionalisiert ist und zugleich Orientierung verleiht, geht auf eine kaum überschaubare Anzahl von Aktivitäten in Bürgervereinen zurück, deren Ziel in der Herstellung einer deutschen Nationalgeschichte u.a. über „nationale Huldigung“ deutscher Dichter und Denker bestand (vgl. Steen 1978: 135). Dennoch: Selbst diese Geschichte der erfundenen Tradition der nationalen Dichterfeste und ihre Rückbezüge auf eine Geschichte von ‚Dichtern und Denkern‘ ist nicht ungebrochen. Im Gegenteil, denn die chauvinistische, völkische und schließlich NS-faschistische ‚Tradition‘ deutsch-nationaler Geschichtsnarrative und deren ritualisierte Praxen, nicht zuletzt in der Verknüpfung mit der Konstruktion der arischen „Rasse“ zur Legitimation der Vernichtungsmaschinerie des Nationalsozialismus, hat zu einem ‚Schnitt‘ geführt, der die Feier nationaler Einheit nach 1945 unterbrochen hat.
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Zumindest für die Dauer der deutschen Teilung stellte dieser Rückbezüge auf diese Tradition unter den Verdacht des Revanchismus. Dies trifft auch auf die In-Dienstnahme historischer Persönlichkeiten (Luther, Goethe, Friedrich II) als Referenzgrößen für eine deutsche (Kultur-)Kontinuität insofern zu, als die offiziellen Gedenkveranstaltungen in beiden deutschen Staaten zur Propagierung konkurrierender Geschichtsbilder dienten. So gesehen handelt es sich in Wolfenbüttel gewissermaßen um eine Re-Invention of Tradition, die allerdings weder der Ambivalenz solcher Rückbezüge selbst noch der Ambiguität in der Lessingrezeption Rechnung trägt. Im Gegenteil spekuliert sie auf ein kongruentes Lessingbild, das die eigene Gesellschaft entlastet statt Selbstreflexion einzufordern. Die kritische Auseinandersetzung mit Lessings Nathan, wie sie die Theatergruppe am Theodor-Heuss-Gymnasium anstrebte, fand ihren Ausgangspunkt in diesen mittelbaren und unmittelbaren anlassgebenden Setzungen, die mit Ahmed als Druckmomente aufgefasst werden könnten: Lessingstadt, Lessingjahr, SchulBeiträge, aber auch das Szenario eines ‚Weltkriegs der Kulturen‘, das die Öffentlichkeit nach den Anschlägen auf das Word Trade Center in New York beschäftigte. Sie alle mussten geradezu ‚zwangsläufig‘ auf die Inszenierung des Nathan orientieren, um den Pfaden des topografisch wie ideell ‚NächstLiegenden‘ zu folgen und, zu ihrer Verlängerung, mit Nathan dem Weisen als dem deutschen Lehrstück der Toleranz ein lokales wie nationales Erbe weiterzugeben und sogar räumlich auszudehnen: In der Erwartung wird ein unmittelbarer Bogen vom ganz Kleinen – Schulbeitrag zum lokalen Geburtstagsjubiläum – zum ganz Großen – globalen Weltgeschehen – gespannt, mit dem der Ruf der Toleranz von Wolfenbüttel über den nationalen Rahmen hinaus in die Welt geht. Und dieser Ruf ist zweifach gerichtet: zum einen an eine Gemeinschaft von verbündeten Gleichgesinnten zur gegenseitigen Unterstützung bei der Verteidigung einer Wertegemeinschaft der Aufklärung, und zum anderen als Mahnung an die ‚Anderen‘ zu vernunftorientierter Toleranz. Aus dieser Perspektive betrachte ich die Produktion Bombenwetter. Das Kopftuch hält als eine Dekonstruktion des ‚Nahe-Liegenden‘ als einem strategischen Mittel zur Orientierung auf eine WirGemeinschaft aufgeklärter Toleranz. Mit der Intervention in ein Ereignis zur Rückbesinnung auf ein historisches Wir mit Lessing findet zugleich eine ReOrientierung statt, die jedoch nicht alternativ auf ein Anderes orientiert, sondern auf die De-Konstruktion von Kongruenz selbst.
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Tradierte Lessingbilder Lessing wurde schon früh neben Schiller, Klopstock und Wieland als nationaler Dichter rezipiert: Für Herder und Schlegel „ist Lessing bereits ‚der eigentliche Autor der Nation und des Zeitalters‘“ (Barner u.a. 1987: 94). Die Kanonisierung des Nathan als Bühnenstück zeichnete sich bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts ab und bot höchst unterschiedliche Möglichkeiten der Rezeption und auch Vereinnahmung von Lessing als „‚Revolutionsgenie‘“ (u.a. Heine) (ebd.: 394), als „Herold Preußens (Die staatlich sanktionierte Nationalisierung des Lessingbildes)“ (ebd.: 400) oder gar als „Vorkämpfer des deutschen Wesens“ unter nationalsozialistischer Deutung (Poethen zit. in ebd.: 416), wobei sich die aufklärerische Haltung und im Besonderen Lessings Position zu Juden schwer mit der NS-Ideologie vereinbaren ließ.7 Hans Mayer deutet an, dass die Entfernung des Nathan von den deutschen Bühnen durch die NS-Kulturpolitik dem jahrelang „beschwiegene[n] Werk“ nach 1945 (anders als etwa Faust) nicht nur eine Art Unbedenklichkeitszeugnis garantierte, sondern dass Nathan zu einem Kerntext literarischer Re-Edukation avancierte, durch den sich ein demokratisiertes Deutschland selbst in Szene setzten konnte: Wie sehr das Schauspiel Nathan der Weise nicht nur in Deutschland, sondern auch in den weiten Bereichen des europäischen Ostens, wo man Deutsch verstand und zu lesen pflegte, als Inkarnation von Aufklärung, Toleranz, jüdischer Emanzipation interpretiert wurde, beweist nicht bloß die Ungnade, die jenes Werk, mit ihm indirekt sein Autor Lessing, zwischen 1933 und 1945 erlebte; komplementär dazu reagierten unmittelbar nach Kriegsende die Verantwortlichen von vier Besatzungsmächten und die von ihnen eingesetzten, nämlich mit Lizenzen aus politischer Unbedenklichkeit ausgestatteten Theaterdirektoren. Man spielte, gleichsam zur Reinigung und neuen Weihe des Hauses, das jahrelang beschwiegene Werk mit seiner ominösen Parabel von den drei Ringen. (Mayer 1977: 332)
Das Nathan-Revival in den Besatzungszonen und der jungen BRD trug somit – gewissermaßen ebenso als eine Re-Invention of Tradition – zu einer Wiederan-
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Wie Wilfried Barner erklärt, bemühten sich Literaturwissenschaftler_innen im Nationalsozialismus, den Nathan „‚tragbar‘ zu deuten“ und ihn von allen pro-jüdischen Positionen zu befreien (Barner u.a. 1987: 417). Schon der völkische und antisemitische Flügel des deutschen Nationalismus im 19. Jahrhundert stand der universalen Toleranzidee des Textes ebenso feindselig gegenüber wie der Nationalsozialismus, während dessen Herrschaft das Stück aus den Spielplänen und den Schulprogrammen gestrichen war (ebd.).
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eignung und Reartikulation einer Kulturtradition bei, die dank Lessing als konsistent aufklärerisch ausgewiesen werden konnte: „Die Lessing-Rezeption des Theaters nach dem zweiten Weltkrieg beginnt mit der Wiederkehr des ‚Nathan‘ als demonstrative Reaktion auf ein 12 Jahre zurückliegendes Geschehen, das alle Zeichen der Anti-Aufklärung an sich trug.“ (Albrecht zit. in: Muslim 2010: 228) Die Wiederaufnahme des Nathan nach 1945 lässt sich also als eine markante Wende in der Lessingrezeption ausmachen. In die Wiederentdeckung des Aufklärungsstückes mit seiner dezidierten Forderung nach Toleranz mischt sich eine Sehnsucht nach Versöhnung unter Rückgriff in die deutsche Literaturgeschichte, die als ‚Rettung‘ vor der Schuld an den faschistischen Verbrechen und mit Wilfried Barner als „Sehnsucht nach einem Trost- und Alibistück“ (Barner 2004: 14) erklärt werden kann. Über das Demokratisierungsprogramm der Besatzungsmächte hinaus konnte Nathan somit eine entlastende und verdrängende Funktion erfüllen: nicht nur als dramatisierter Versöhnungsaufruf, sondern mindestens gleichermaßen als Beleg für eine ‚genuin deutsche‘ Tradition des rationalen und toleranten Miteinanders, in deren Licht die ‚zwölf Jahre‘ als Abweichung – im Duktus der unmittelbaren Nachkriegszeit: als ‚Verirrung‘ – erscheinen. Denn in Konsequenz der Rede von einer Wiederaneignung erscheinen die mit Lessing und Nathan assoziierten Positionen als Normalfall, als repräsentativ für die ‚eigentliche‘ – aufgeklärte, tolerante, demokratische – Traditionslinie deutscher Kultur und Politik, so dass im gleichen Schritt der Nationalsozialismus als Anomalie ausgegrenzt werden kann. Von diesen Fragen unberührt eröffnet in der Folge von 9/11 in Wolfenbüttel und Kamenz das Lessingjahr mit dem Hinweis auf die Bedeutung Lessings für die deutsche Literatur: Was wäre die deutsche Literatur ohne seine Emilia Galotti und ohne Nathan den Weisen, die noch heute zum festen Repertoire des Theaters gehören. Seine Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechts, die Vernunft und Offenbarung noch einmal zu verbinden versucht, ist in einer Zeit der Glaubensferne von brennender Aktualität. Toleranz, Menschlichkeit, Bildung und freie Wahrheitssuche – auf diese Werte verpflichtet uns der Aufklärer Lessing. (Kulturstadt Wolfenbüttel 2004: 2)
Dieses Zitat bringt die Lessing-Rezeption der Wolfenbütteler LessingjahrKampagne 2004 programmatisch auf den Punkt: ‚In Zeiten der Glaubensferne‘ fungiert Lessing als deutscher Dichter für Toleranz, Menschlichkeit, Bildung und freie Wahrheitssuche und so als verpflichtendes Beispiel deutscher Aufklärung. Das Programm deutet auf Wolfenbüttel als Stadt der Aufklärung und aufgeklärte Stadt, die ‚ihren‘ Lessing – also ‚ihr vererbtes‘ Eigentum – mit und bei
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den Feierlichkeiten vorbringt, um es mit anderen zu teilen, so als werfe der Geist Lessings aus der Geschichte heraus noch etwas Toleranz auf die Mitbürger_innen und von dort aus auf die ganze Welt ab. Wie ich im weiteren Verlauf erläutern werde, funktioniert dies unter der Bedingung, dass Lessing als Skeptiker, und Spötter verschwiegen wird. Der Lessing, den die Wolfenbütteler FeierAllianz reaktiviert, ist nicht der polemische Provokateur des sog. Fragmentenstreits, sondern der irenische Mahner zu allseitiger Toleranz: der Märchenonkel, als der sich der historische Lessing mit seinem von ihm selbst als rührselig verspotteten Nathan-Stück tarnte, um das gegen ihn verhängte Schreibverbot zu umgehen.
Nathan-Vorstellungen nach 9/11 Dass der Rückgriff auf Lessings dramatisches Gedicht auch in der Folge der Anschläge auf das New Yorker World Trade Center am 11. September 2001 und ihren weltweiten Reaktionen als nahe-liegend erschien, lässt sich aus dieser Vielzahl von Nathan-Inszenierungen an bundesdeutschen Theatern ebenso ablesen wie an den Kritiken dieser Inszenierungen und einigen wissenschaftlichen 8 Auseinandersetzungen. Beispielsweise konstatiert Zahim Muslim mit Bezug auf Silvia Horsch: Eine heutige Diskussion über Lessings Nathan der Weise kann nicht mehr geführt werden, ohne die Ereignisse des 11. September 2001 und ihre Folgen zur Kenntnis zu nehmen. Denn die Terroranschläge bieten Anlass, „die Toleranzbotschaft des Dramas und die Möglichkeit der Verständigung der Religionen neu zu hinterfragen“ (Muslim 2010: 229). Der Theologe KarlJoseph Kuschel stellt die Rezeption des Nathan als Antwort auf die Anschläge in den USA und die folgenden politischen Reaktionen der Weltgemeinschaft vor. Die Inszenierung des Nathan sei geradezu ‚alternativlos‘ vor dem Hintergrund, dass, wie er betont, in der – ‚unserer‘ – deutschen Literatur Lessings Utopie der Toleranz und Versöhnung einzigartig sei. Mit Blick auf 24 Nathan-Inszenierungen auf deutschsprachigen Bühnen nach dem 11. September (Kuschel
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Guthke 2003; Barner 2004; Kuschel 2004; Horsch 2004; Muslim 2010; Kougblenou 2010; Zubke 2008; Berghahn 2001. Keineswegs handelt es sich hierbei durchgängig um triumphale Positionen, die ein deutsches oder europäisches Monopol auf Lessing und eine unproblematische Aufklärung reklamieren: Helwig Schmidt-Glintzer etwa betont nicht nur, „[d]aß es Schattenseiten der Aufklärung gibt“, er ruft auch dazu auf, diese „auch als Resultat europäischer Weltbeherrschungsambitionen zu verstehen“ (Schmidt-Glinzer 2004: 8).
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2004: 9) als gesellschaftliche, kulturell-künstlerische Stellungnahme auf die politische Situation erklärt Kuschel: „Es gab aber auch kaum eine Alternative in der deutschen Literatur, wenn man in diesem „weltpolitischen Klima“ nach einem „Lehrstück“ für das Theater suchen wollte. Welches andere deutschsprachige Stück spiegelt denn die uns bedrückende Weltproblematik in einem offensichtlich neuentfachten ‚Kampf der Kulturen‘?“ (Ebd.: 11–12) Vor dem so konstruierten zeitgeschichtlichen Hintergrund referiert er Presse und Kritiken, die diese Inszenierungen mehrheitlich als Zeichen eines „‚grandiosen Dennoch und Trotzdem‘ angesehen“ (ebd.: 13) haben oder als mahnende Geste der Verständigung aller drei im Stück verhandelten Religionen, deren Versöhnungs- aber eben auch Konfliktpotenzial Kuschel wie folgt konstatiert: „In Deutschland ging ja auch die Angst um, die Anschläge könnten die Initialzündung für einen ‚Weltkrieg zwischen den Kulturen‘ werden.“ (ebd.: 12). Im Zitat der Stuttgarter Zeitung: „Auch dämpften die Aktivitäten islamistischer Terroristen in Deutschland die Hoffnung auf ein dauerhaft friedliches Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft. In dieser Situation lag es nahe, den ‚Nathan‘ als Lehrstück zu reaktivieren.“ (Stuttgarter Zeitung 26. Jan. 2002 zit. in ebd: 11; Herv. tm) Erschließt sich für Kuschel die Alternativlosigkeit aus der Wahrnehmung einer Angst vor einem Scheitern eines friedlichen multikulturellen Zusammenlebens, so stellt er dieses gerade selbst performativ her: Mit der Kontrastierung einer multikulturellen (deutschen) Gesellschaft und einem terrorisierenden Islam konstruiert er eine Dichotomie, die nicht nur die Begriffe Huntingtons (Kampf der Kulturen) aufgreift, sondern in besonderem Maße das deutsche Kulturgut und „die westlich-christliche Zivilisation“ zum Zusammenhalt im Sinne eines Wir aufruft, mit dem die weltpolitische Lage zu Vernunft und Versöhnung gerufen werden soll: Wie seit dem 17. Jahrhundert nicht mehr ist ja die westlich-christliche Zivilisation konfrontiert mit einem militanten, ja terroristischen Islamismus. Es gibt kein zweites Stück in der gesamten deutschen Literatur, das einerseits das Konfliktpotenzial zwischen Judentum, Christentum und Islam spiegelt und gleichzeitig das Modell einer Versöhnbarkeit zwischen Juden, Christen und Muslimen anbietet. (Ebd.: 12; Herv. tm)
„Wie seit dem 17. Jahrhundert nicht mehr“ – kaum deutlicher könnte eine Formulierung sein, um eine geradezu ‚immer schon währende terroristische Bedrohung‘ zu konstruieren, die ein ausschließendes Zusammenrücken der westlichen
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Wertegemeinschaft nicht nur legitimiert, sondern sogar anmahnt.9 Dabei beschwört Kuschel im Einleitungsteilkapitel seiner Monografie Jud, Christ und Muselmann vereinigt? in mehrfacher Wiederholung das Versöhnungs-(respektive Konflikt-)potenzial in Lessings Nathan der Weise als Teil ‚großer‘ deutscher Referenzliteratur: „Wie immer man ästhetisch, politisch und theologisch zu Lessings ‚dramatischem Gedicht‘ stehen mag, in der deutschen Literatur verfügen wir [sic!] nun einmal über kein anderes literarisches Dokument für das Konflikt- und Versöhnungspotenzial zwischen Juden, Christen und Muslimen.“ (ebd.: 12, Herv. i.O.) Vor dem Hintergrund einer zu Beginn des 21. Jahrhunderts sich neu herausbildenden globalen Konstellation des ‚Kriegs gegen den Terror‘ (an dem teilzunehmen sich die damalige Bundesregierung mit breiter Zustimmung der Bevölkerung zumindest teilweise weigerte) setzt die Aktualität Lessings jedoch eine signifikante Verschiebung der im Text vorgegebenen Positionsverteilung voraus: Anders als in der fiktionalen Welt des Stücks, wo der Patriarch – also der Repräsentant des institutionellen Christentums – als nicht reformierbarer Agent der Intoleranz auftritt, stehen die Nathan-Inszenierungen nach 9/11 in einem diskursiven Kontext, in dem ‚der Islam‘ zunehmend mit Fanatismus, Intoleranz und Militanz konnotiert wird. Während der Fokus der Kritik in Lessings Text also deutlich auf der eigenen Gesellschaft liegt, verläuft der in den westlichen Demokratien hegemoniale ‚Post-9/11‘-Diskurs genau gegenteilig: Wie an Zitaten aus der lokalen wie nationalen Lessing-Rezeption bei Kuschel erkennbar wird, reklamiert dieser Diskurs eine als bereits vollzogene und damit auch festgelegte Aufklärung als ‚Leitkultur‘ für sich und profiliert sie als Errungenschaft, Erbschaft oder Eigentum, die gegen einen anti-aufklärerischen, vormodernen Aggressor zu verteidigen seien. Wie viele anderen konstatiert und kritisiert auch Silvia Horsch diese Tendenzen: Anscheinend ist jedoch die „Rückbesinnung“ auf das „Eigene“ und die Abgrenzung vom „Anderen“ in der Moderne zum Bedürfnis geworden, um sich der eigenen, unsicher gewordenen Identität neu zu versichern. Diese fundamentalistische Konstruktion von Identität ist in islamistischen Strömungen, die den Islam von „fremden“ Einflüssen reinigen wollen, genauso zu beobachten wie in Teilen der westlichen Gesellschaften, wo man meint, eine „Leitkultur“ vor dem Zerfall bewahren zu müssen. (Horsch 2004)
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Jasbir Puar definiert Terror als eine Form der Bedrohung, die mit der Unsicherheit und der Unkontrollierbarkeit arbeitet (vgl: Puar 2007: 184f). In diesem Sinn korresponidert Terror auch mit dem z.B. im sog. „Schläfer“ personifizierten Topos der Latenz in den Verschwörungsphantasien des Rassismus (vgl.: Shooman 2011: 71).
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Die Wolfenbütteler Selbst-Verpflichtung, das ‚Erbe‘ Lessings weiterzutragen reiht sich vor diesem Hintergrund einer politischen Grundsituation der Kriegserklärungen und des ausgerufenen ‚Kampfes der Kulturen‘, ein in die Reihe von Wir-Konstruktionen, das die zu vermittelnden Werte – „Toleranz, Menschlichkeit, Bildung und freie Wahrheitssuche“ – ‚hat‘ und diesen ‚Besitz‘ zum Identitätsfaktor erklären kann – wie es nicht zuletzt als erklärtes Ziel im Programm des Lessingjahrs nahe gelegt wird: „kulturelle Identität in einer historischen Stadt zu stiften“ (Kulturstadt Wolfenbüttel 2004: 2). Die wieder aufgegriffene Honorierung Lessings zum bedeutendsten Ehrenbürger der Stadtgeschichte fügt sich insofern nahtlos ein in die identitätsstiftende Ordnung des Nahe-Liegenden, mit der zugleich ein möglicherweise nicht mehr ganz so Nahe-Liegendes oder sogar In-Frage-Gestelltes, näher gebracht werden sollte: das Wir, das nicht nur in Rück-Besinnung auf bestimmte Vergangenheiten konstruiert und mit Handlungsmaximen des ‚Eigenen‘ ausgestattet wird. Als ein Prinzip der WirFormulierung mitvermittelt wird auch eine Herkunfts-Konstruktion des ‚Besitzes‘, der als Wertekanon von ‚Rechten und Pflichten‘ zum Weltmaßstab erhoben wird. Dass die kleine Stadt Wolfenbüttel in dieser Situation sich auf den 275. Geburtstag ihres historischen Bürgers Lessing besinnt und hierin dem von allen Seiten geradezu nahe-gelegten Impuls folgt, den deutschen Vorbild-Literaten als Bürger der eigenen Stadt zu ehren und damit einen eigenen Beitrag zur Versöhnung der Religionen und Kulturen zu leisten, ist als diskursive Logik also nachvollziehbar. Die kritische Aufarbeitung beispielsweise von Lessings Schreibverbot durch (ausgerechnet) den Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel, für den Lessing als Bibliothekar arbeitete, fällt in diesem Zusammenhang ebenso aus wie die Reflexion der Selbstvermarktung und damit der Instrumentalisierung ihres Mitbürgers für ökonomische Zwecke, der sich gerade für die Reflexion der eigenen gesellschaftlichen Machtstrukturen einsetzte und damit gegen solch intolerante Selbst-Inszenierung des Eigenen. In der Lessingrezeption finden sich aber neben Texten, die die Aktualität Lessings und des Nathan-Textes in der beschriebenen Weise hervorheben, auch solche, die die islamfeindlichen Umdeutungen in den aktuellen Inszenierungen kritisch beleuchten. Wie aus dem Folgenden hervorgehen soll, ist der Gegenstand dieser Kritiken nicht unbedingt der Rückgriff auf Nathan per se, sondern die mehrheitliche Praxis, den Paradetext der deutschen Aufklärung als Kommentar auf die globalen Ereignisse zu inszenieren und diese mit Hilfe einer reduktionistischen Deutung des Nathan-Textes zur Herstellung ‚kultureller Identität‘ zu verkürzen.
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In einer bissigen Polemik zur Lessing-Rezeption nach 9/11 provoziert Navid Kermani auf Einladung der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel im Mai 2003 die selbst-gefällige Profilierung der hiesigen Gesellschaft als tolerant, liberal und multikulturell. Diese manifestiere sich in der Hochkonjunktur einer Rhetorik der Völkerverständigung in Workshops, Konferenzen, auf dem Theater und selbst in der Werbung: Niemand, keine Stiftung, keine Bank, keine Bühne, die nicht mit dem Begriff der Toleranz und des interkulturellen Dialogs eine eigene corporate identity formulierte (Kermani 2010: 33). Kermani deutet diese „Banalisierung und Industrialisierung“ (ebd.: 36) der Werte der Aufklärung als Inszenierung einer Identitätskonstruktion, die die ‚eigene‘ Toleranz im Gegensatz zu einem Anderen herausstellt, das als exotisch, bunt, zuweilen aber gewaltbereit vorgestellt wird. Bedient wird eine ‚Identitätsmaschinerie‘, mit der im aktuellen Diskurs das aufgeklärt moderne Selbstbild in Abgrenzung zu einer Intoleranz inszeniert wird, die in zeitliche, räumliche, kulturelle oder eben: ideologische Ferne vom Eigenen gerückt wird. Dieser Gestus sei das Gegenteil der Nathan’schen Idee, die die Gleichwertigkeit der Religionen, Ideen und allem voran der Menschen als Menschen behauptet. Kermanis Kritik richtet sich daher im Besonderen gegen die Verwertung von Lessings Nathan zur ‚leitkulturellen‘ Herausstellung eines intoleranten islamischen Anderen auf deutschen Bühnen, wie er sie exemplarisch in der Inszenierung von Claus Peymann am Berliner Ensemble (Premiere: 05.01.2002) vorfindet. Mit alten und neuen Stereotypisierungen reiht diese sich ein in den Mainstream antiislamischer Rhetorik. Kermani berichtet beispielsweise von gesprayten Symbolen für die drei Religionen auf dem Bühnenportal: „das Kreuz für das Christentum, der Davidstern für das Judentum – und für den Islam: ein Passagierflugzeug“ (ebd.: 38). ‚Der‘ Islam wird hier mit einem Terroranschlag signifiziert. Peymanns Kostümkonzept hingegen figuriert seine Bühnenprotagonisten in ein Zeitschema, das eine westliche Moderne von einer z.T. märchenhaft inszenierten Vormoderne distanziert: Nathan tritt mit einem Designeranzug als der moderne „Mann des Westens“ auf, während Saladin durch sein Kostüm zeitlich und räumlich in einen exotisierten Orient versetzt erscheint. Den Patriarchen, das Christenoberhaupt, verschiebt die Inszenierung schließlich ins ‚dunkle‘ „theokratische Mittelalter“ (ebd.: 41), das auf diese Weise auf ganzer Linie von einer westlichen Moderne abgeschnitten präsentiert wird: „Während Lessing gegen die Intoleranz des Westens angeschrieben hat, hat Peymann die Toleranz verwestlicht.“ (Ebd.: 42) Für Kermani manifestiert sich in diesem Rassismus, „welcher der Inszenierung unbewußt zugrunde liegt“ (ebd.), eine dominante, normalisierte Selbstgerechtigkeit des Westens, die nicht
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nur im Kontext des ‚Kriegs gegen den Terror‘ virulent wird, sondern in die historischen Wechselwirkungen von Kolonialität und Moderne rückverfolgbar ist: Der Westen, der Juden und Muslime überhaupt erst in Frontstellung gegeneinander gebracht hat durch den Antisemitismus und durch den Holocaust, der die Gründung des Staates Israel und die Vertreibung Hunderttausender Palästinenser zur Folge hatte, der gleiche Westen feiert sich im Berliner Ensemble in seiner Toleranz und beruft sich dabei auch noch ausgerechnet auf Lessing, der gegen den Fanatismus der protestantischen Orthodoxie ein humanes Bild des Judentums wie des Islam gezeichnet hat. Das ist symptomatisch: Intolerant sind immer die Anderen. (Ebd.)
In einem unterstellten Konsens über Toleranz wird Lessing als Autorität aufgebaut und genutzt zur Selbstbeschreibung einer Gesellschaft, die ‚ihre‘ Toleranz gegen die Intoleranz von ‚Anderen‘ zu verteidigen hat. Damit ist genau jener Impuls zur gesellschaftlichen Selbstreflexion, mit dem „Lessing […] Gift in die Blutbahnen der herrschenden Meinungen gespritzt“ hat (ebd.: 33), einer Selbstaffirmation gewichen. Statt mit einer kritischen Selbstbefragung die tatsächlich verwirklichte Aufgeklärtheit und Toleranz zu reflektieren, wird Lessing als kanonisierter Gewährsmann der ‚eigenen‘ Aufklärung sogar zum Indikator dafür, dass ‚die Anderen‘ eben keinen Nathan (hervorgebracht) haben. „Wir sind so gut. Die Welt mag schlecht sein, rassistisch, gewalttätig, intolerant, aber wir haben verstanden: Come together“, (ebd.: 38, Herv. i.O.) lautet Kermanis polemische Gegenattacke zu einer Kernaussage von Peymanns Inszenierung, die verkündet, dass Wir den einzig echten Ring besitzen. Das Konzept der Toleranz, so folgert Kermani, dient so der Intoleranz, die als Toleranz – im doppelten Sinn – verkauft wird: „Intoleranz als politisches Denken und Handeln setzt im 21. Jahrhundert voraus, dass sie als Toleranz verkauft wird, am einfachsten durch die Behauptung, die eigene Toleranz gegen die Intoleranz verteidigen zu müssen.“ (Ebd.: 36) Dass Toleranz derart in ihr Gegenteil umschlagen kann, ist für Kermani eine schlüssige Konsequenz genau jener Rezeptionsgeschichte, die Lessing zum nationalen Kulturgut machte und hierfür jeder Brisanz entzog: „Lessings Toleranzbegriff ist zunächst vom bürgerlichen Normalbewußtsein, später auch von den Kirchen so restlos aufgesogen worden, daß er jeden herrschaftskritischen Impuls verloren hat.“ (Ebd.: 35) Und dennoch insistiert Kermani darauf, dass die Botschaft Lessings in Zeiten „der weltweiten Kulturalisierung politischer Konflikte […] nicht überholt“ sei „schon gar nicht im Europa des Jahres 2003“ (ebd.: 36). Sein Plädoyer wendet sich gegen die Verflachung dieser Botschaft durch eben jene in der Rhetorik des Kommerz verkündete triumphale und kooptierende
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Vereinnahmung und umkehrende Verschiebung, die ihr widerfährt: „Feel good! Was ist schon ein bißchen Frieden, wenn man den Frieden auch total haben kann. Life is so simple.“ (Ebd.: 38; Herv. i.O.) „Die unreflektierte Harmonie ist die Kehrseite der kulturkriegerischen Hysterie.“ (Ebd.: 41) In diesem Sinn fordert Kermani ein anderes Theater, eines das die Aneignung und Absorption Lessings kritisch reflektiert als einen Grund dafür, dass die brisante Botschaft „so wenig Gehör findet“ (ebd.: 36): Ein Theater, das Lessings Botschaft ernst nimmt, müßte sich fragen, warum diese Botschaft so leer geworden ist, daß die Orthodoxen aller Religionen, die Staatenlenker und die Teilnehmer der Weltwirtschaftstreffen sie wie ein Mantra aufsagen, die Kulturen, Religionen und übrigen Identitätsmaschinen sich aber dennoch von Tag zu Tag aggressiver gebärden. Um an Lessings Utopie zu glauben, müsste man sie heute negieren, sonst wird sie affirmativ und damit zum Gegenteil dessen, was sie 1778 gewesen ist. (Ebd.: 36f)
Genau an dieser polemischen Aufforderung zu einem anderen Theater setzt die Wolfenbütteler Szenencollage Bombenwetter an: Mit demonstrativem Nachdruck re-orientiert sie den Blick auf das ‚deutsche Kulturgut‘. Sie misstraut den Direktiven von ‚Lessings Utopie‘, macht sie lächerlich und zeigt ihre Seichtigkeit – und zwar in totaler Negation. Bombenwetter stellt das von Kermani aufgebaute Wortpaar Harmonie und Hysterie kontrastiv direkt auf die Bühne: zunächst als Kontrast zwischen einer Harmonie, die auf Zuruf von Lessing in schwelgender Umarmung marionettenhaft aufgeführt wird, und einer Kriegsund Ausschlussrhetorik, die ihrerseits manichäisch das Gute als verteidigungswürdig gegen das Böse konstruiert. Die eigentliche Kontrastierung besteht aber darin, diese beiden Pole der Harmonie und Hysterie zusammen gegen eine Leerstelle im Stück zu setzen, die in den Zwischenräumen der einzelnen Bilder entsteht und den Zuschauer zum eigenen, mündigen Nachdenken zwingt. Nahegelegt wird in dieser Bearbeitung des Lessingstoffs die Irritation des Selbstverständlichen als Anregung zum Selbst-Denken.
Toleranz entsichern Die Produktion setzt an der Entfixierung der Ordnung des Nahe-Liegenden an, so dass das Nahe-Liegende als Nahe-Gelegtes erkennbar wird. Dies gelingt durch systematische Verweigerung jeglicher Rückgriffe auf Selbstverständlichkeiten im Umgang mit Lessing und seinem Nathan. Der gesamte Grundgestus der Inszenierung und ihres Paratextes besteht gewissermaßen darin, die Ordnung
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der unantastbaren Selbstverständlichkeiten zu de-konventionalisieren, mit NeuOrdnungen des Bestehenden zu experimentieren und so andere Orientierungen möglich zu machen, in dem Sinn also zu ‚re-orientieren‘.10 Denn statt mit einer ‚ordentlichen‘ Nathan-Aufführung in den lokal(patriotisch)en Geburtstagsreigen einzustimmen, mit dem die Stadt und Region Wolfenbüttel ihren prominenten Bürger Lessing eventhaft als ‚Erbe‘ eingemeindet, provoziert Bombenwetter mit Zurückweisung und verweigert sich damit durchaus auch der Aufforderung des ‚Besitzes‘ zu seiner Weitergabe mit dem Versprechen einer Rück-Gabe (promise of return) für die vorgenommene Investition zur Erweiterung vorgegebener ‚trodden paths‘ (vgl.: Ahmed 2006: 555). Bereits die Entscheidung, Nathan den Weisen nur als Anregung zu nutzen und „das Stück nicht 1:1 auf die Bühne zu bringen, auch nicht auszugsweise“ (Sander/Lang 2005: 138), macht das Projekt in seinem lokalen Kontext als Prozess einer Gegenstimmbildung erkennbar, deren polemischer Antagonist genau jene selbstgerechte Mehrheitsgesellschaft ist, die sich unter dem substanzlosen Toleranzbegriff einer harmonisierten, harmund zahnlos gemachten Aufklärung präsentiert. Diese Provokation der Ordnung(en) des vor-angenommenen NaheLiegenden sowie seine Markierung und Ausstellung als Anordnungen wird bereits in der paratextuellen Ankündigung des Stückes eingeführt: Ironisch kommentiert sie eine zur Selbstverständlichkeit erklärten Lessing-Lektüre als (deutsche) Bürgerpflicht: Das Grundlayout der gesamten Bewerbung des Stückes orientiert sich an dem Standard-Design der als „Universal-Bibliothek“ bezeichneten Taschenbuchreihe des Stuttgarter Reclam-Verlages (Abb. 11). Das Schriftbild auf dem gelben Untergrund ruft unmittelbar als nächst-liegende Assoziation die Pflichtlektüre kanonisierter Klassiker auf und verweist damit bereits auf die Anordnung zur Lessing-Lektüre in der Schule. Die so geweckten Erwartungen der Betrachterin bedient der Text selbst aber gerade nicht: Statt eines Autorennamens ist als Titel des Stückes zu lesen: Bombenwetter, als Untertitel Das Kopftuch hält. Der Verlagsname, der bei Reclam mit einem schwarzen Querbal-
10 Mit dem Begriff der Re-Orientierung entferne ich mich von Ahmeds Begriff reorientation, den sie mit Merleau-Ponty als eine Art Autokorrektur der Wahrnehmung einführt. Der Blick, so Merleau-Ponty, korrigiert die ‚falsche‘ Wahrnehmung einer Position im Raum, der entsteht, wenn man diesen z.B. durch den Spiegel oder auch mit schiefem Kopf betrachtet. Bei dieser Reorientierungsleistung wird die Wahrnehmung des Subjekts in seinem Verhältnis zum Raum gewissermaßen automatisch ‚begradigt‘. Re-Orientierung, wie es hier eingesetzt wird, übernimmt stattdessen das, was Ahmed als ‚disorientation‘ bezeichnet, nämlich Orientierung auf andere, que(e)re Perspektiven (Ahmed 2006: 561).
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ken von Autor und Texttitel abgesetzt und zugleich mit beidem auf engste Weise verbunden ist, wurde ersetzt durch den Begriff „Toleranz“.
Abb. 11: Programmzettel zu Bombenwetter (DIN A4 gefaltet, Außenseiten) Die Trias Autor, Klassikertitel, Reclam wird als Allianz zwar aufgelöst, bleibt aber als Hintergrund für neue Assoziationsketten bestehen. Toleranz wird so zu einem Verkaufslabel, mit dem – wie beim Reclam-Verlag – auf Seriosität und Wert des Inhalts verwiesen wird. Diese ironische Bedeutungsverschiebung des politischen wie auch ethischen Konzepts hin zu einer Verkaufsmarke erinnert stark an Kermanis Polemik gegen die „feel good!“-Vermarktung der Toleranz. Der knappe Innenteiltext verschärft diese Provokation noch durch die Koppelung aufklärerischer Kernbegriffe mit Versatzstücken von bekannten Werbeslogans: Toleranz – die bewegt was. Ignoranz – die Freiheit nehm’ ich mir. Fanatismus – hoffentlich toleranzversichert. Kopftücher – wir machen den Weg frei. Akzeptanz – mit einem Wisch ist alles weg. Lessing – es sterbe der Respekt. Nathan – da werden Sie geholfen. (Programmzettel BW)
„Geht man so mit Lessing um?“, soll sich das bildungsbeflissene Publikum wohl schon vor der Vorstellung fragen. In einer Serie von Schreibübungen hat die Theatergruppe Werbesprüche und Abzählreime zum Thema Toleranz und Fanatismus kreiert und die sprachlichen und ideellen Verknüpfungen gelöst, die die diskursive Ordnung des Selbst-Verständlichen – im Umgang mit Nathan und Lessing – zusammenhalten. Die neuen Verknüpfungen machen den diskursiven
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Rahmen der Auseinandersetzung mit Nathan der Weise dominanter als das Ausgangsstück selbst. Sie degradieren Grundideen gesellschaftlichen Zusammenlebens (Toleranz, Akzeptanz, Respekt und Freiheit) sowie Lessing bzw. Nathan als ikonische Vertreter der Aufklärung zu Waren oder Dienstleistungsagenturen, die in dieser Form zugleich auf eine gleiche Stufe gestellt wie ihre Gegenkonzepte der Intoleranz und Respektlosigkeit. Durch diese ‚kulturindustrielle Verflachung‘, wie ich diese sprachlichen Neuverknüpfungen mit Adorno/Horkheimer nennen möchte, stört dieser (einzige) Einführungstext zu dem Theaterstück aber gerade das, was als gesellschaftliche Grundmaxime gilt: Wert. Mit ihrer gleichwertigen Aufstellung (Toleranz neben Intoleranz) werden die Begriffe für eben so wertlos erklärt, wie Kermani ihre Entwertung durch den Toleranzdiskurs beschreibt. Die bewusst respektlose Sprachspielerei tauscht ‚Wert‘ als Konzept zur Vereinbarung gesellschaftlicher Ordnungen gegen einen relationalen Wertbegriff der kommerziellen Warenwelt aus und macht auf diese Weise den Modus der diskursiven Entwertung selbst transparent. Die Produktion übersetzt damit Kermanis Kritik in das Genre Werbung und greift seinen ironischpolemischen Ton für die eigene Corporate Identity selbst-kritisch auf. Diese Zuspitzung der Kommerzialisierung von Gesellschafts- und Kulturwerten verweist nicht zuletzt auf die spezifische Form der Vermarktung von ‚hoch‘ bewertetem Kulturgut – wie dem Klassikertext Nathan der Weise – durch den ReclamVerlag selbst. Denn trotz des mit ihr verbundenen Anspruchs auf demokratisierte Volksbildung konnotiert die Marke Reclam mit der Herausgabe eines als „Universal-Bibliothek“ bezeichneten Literaturkanons, die Hochkultur‘ zugleich als verbreitungswürdig aufrechterhält, auch die Warenförmigkeit von Kulturwert als käuflich erwerbbares (Massen-)Produkt.11 Die Ankündigung der Theateraufführung stellt mit diesen Irritationen nicht zuletzt auch die Ver-Wertungen Lessings zur Image-Aufwertung der Region Braunschweig-Wolfenbüttel im Dienste der Herstellung (regionaler) ‚kultureller Identität‘ als Kommerz aus und polemisiert so im Verbund mit Kermani gegen das „gutgehende[…] Geschäft, das mit der Ringparabel betrieben wird. Dieses Geschäft ist das Gegenteil von avancierter Kunst, nämlich die Bejahung des Eigenen, die Affirmation: […] Come together. Nicht zufällig sind es Phrasen der
11 Gerade die antifetischistische äußere Präsentation der Paperback-Reihe sowie die mit den materiell eher unscheinbaren und ‚billigen‘ Objekten konnotierte Erschwinglichkeit des Bildungsgutes stellt jenes Bild an Glaubwürdigkeit her, mit dem der Verlag die Verlässlichkeit in der Weitergabe kanonisierter Literatur als Anspruch auf die Weiterführung des Enzyklopädie-Projektes der Aufklärung erklären – und vermarkten – kann.
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Werbung, aus denen sich die Intellektualität der kommerzialisierten Verständigung zusammensetzt“ (Kermani 2010: 38). Indem die Ankündigung des Theaterprojekts die fixierten Verknüpfungen aufgreift und mit kleinen Ersetzungen verschiebt, rekonfiguriert das Projekt den Kontext. Statt die Vorbestimmtheiten des Rahmens zu bedienen, setzt das Projekt den Fokus gerade auf die ironische Anzeige der ‚Gegebenheiten‘ und ihrer Aufforderungen. Es visiert damit die Unterbrechung des ungenannten Vorangenommenen an und stellt es zur Disposition. Nicht zuletzt verweist die Neu-Verwendung des gelben Reclam-Layouts auf den Ausgangstext Nathan der Weise selbst und seine Tradierung als gymnasiale Pflichtlektüre. Sie spielt auf die pflichtgemäße Erfüllung einer nahe-gelegten Erwartung der Stadt an, mit einer Nathan-Inszenierung als Schulaufführung zu Lessings Ehrung beizutragen, und rekurriert so auf weitere Traditionen: Denn die Erwartbarkeit, Lessings Aufklärungstheater zu spielen, ergibt sich nicht nur aus der kanonisierenden Funktion von gymnasialen Lehrplänen als einem Modus der Herstellung von kulturellem Erbe, sondern auch aus der Tradition der Theaterarbeit am Gymnasium, die nicht ohne das humanistische Schuldrama und seine didaktische Funktion hergeleitet werden kann. An den protestantischen Lateinschulen diente es bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, also der Zeit Lessings, dem lateinischen Spracherwerb und den „Anweisungen für richtiges Benehmen“ in der Ausbildung der „herrschenden Eliten für Kirche und Kommunen“ (Jahnke 2003: 264). Dieser bereits von Luther ausgesprochenen Aufgabe des „Theaters als Instrument einer moralischen Erziehung“ (ebd.: 265) entspricht wohl aus heutiger Perspektive kaum ein Stück besser als gerade Lessings Nathan der Weise. Denn mit seinem ideengeleiteten Erziehungsgestus steht es den Ideen des humanistischen Schulspiels sehr nahe, dessen Stoffe, wie Manfred Jahnke berichtet, zunehmend „im Sinne einer moralischen Schaubühne verbürgerlicht“ wurden (ebd.). In diesen Geschichtlichkeiten ergänzen sich die tradierten Funktionen des gymnasialen Schulspiels als „Vorbereitung auf die zukünftigen Rollen der Heranwachsenden in der Öffentlichkeit“ und damit als „Bildung des politisch handelnden Menschen“ (Hentschel 2000: 74) mit der Aneignung jenes Bildungsgutes, das (heute) an deutschen Gymnasien den höchsten Schulabschluss und in der Folge Erfolg und gesellschaftliche Anerkennung verspricht. Denn nicht zuletzt ist das Lessingstück Teil genau jenes klassischen Schulstoffs, der als deutsches Kulturgut par excellence in den Lehrplänen kanonisiert wird. In der Wertevermittlung (auch) als ‚deutsche Leitkultur‘ wird es somit vornehmlich jenen nahe gebracht, denen der Zugang zu den höheren Bildungsinstitutionen gewährt wird.
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Abb. 12: Bombenwetter Choreografie „Umarmungen“ (Videostill)
S TÖRUNGEN
IM
B ETRIEBSABLAUF
‚Schule mit Lessing‘ sieht in der Inszenierung so aus: Nachdem sich der ‚Lehrer Lessing‘ – „zu spät“ gekommen – unter den respektlosen, aber richtungweisenden An/Zeige-Gesten der Schulklasse an seinen Tisch gesetzt hat, beginnen die Schüler_innen untereinander Kontakt aufzunehmen. Während ‚Lessing‘ seine Tasche auspackt, winken sie einander zu, flirten zunächst auf Distanz, gehen dann aufeinander zu und beginnen eine Umarmungschoreografie zu der Musik „Neue Brücken“ der Gruppe Pur: Mit langsamen, steifen Bewegungen und grinsenden Blicken ins Publikum führen die Schüler_innen diese Choreographie wie ferngesteuert zu dem Song vor, dessen Text sich in erster Line mit dem Brücken-Bauen und dem Aufeinander-Zugehen in einer Welt „voller dummer Arroganz“ beschäftigt: Neue Brücken über Flüsse voller dummer Arroganz, neue Brücken über Täler tiefster Intoleranz, neue Brücken neue Wege aufeinander zuzugeh’n ganz behutsam voller Achtung miteinander umzugeh’n. (Pur 2002)
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Der Unterricht beginnt in Bombenwetter also mit einer Parodie auf Lessings eigene Schlussanweisung zum Nathan: „(Unter stummer Wiederholung allseitiger Umarmungen fällt der Vorhang)“ (Lessing 1996: 140). Die den Song-Text unterstreichenden Gesten des herzlichen Einvernehmens werden – genau nach Lessings Anweisung – in mehrfacher Wiederholung vorgestellt und so als besonders künstlich inszeniert: In der Übersteigerung von Langsamkeit und Steifheit wirken sie ausgestellt und inhaltlos. Das angestrengte Grinsen zeigt eine Grundhaltung von antizipiertem Gehorsam und gleichzeitiger Respektlosigkeit gegenüber ‚Lessings‘ (vorerst noch unausgesprochenen) Aufruf: „Kinderchen, liebt Euch!“. Allein ‚Lessings‘ Anwesenheit lässt die Schüler_innen die Bewegungen ausführen und dabei eine lächelnd harmonische Grundhaltung präsentieren, die in ironischem Ton ihrem Lehrer wie auch seinen Aufklärungslehren gilt: Ja-Sagen, Hände schütteln, Umarmung, künstlich hergestelltes Einverständnis. Diese Choreografie wird sich im Verlauf des Stückes mehrfach wiederholen. An dieser Stelle wirkt sie als vorweggenommene gehorsame und zugleich respektlose Geste gegenüber dem Lehrer, der seinen Unterricht über Aufklärung und Toleranz erst beginnen will. Die Darstellung und Reflexion von Unterricht zur Aufklärung in der Bildungsinstitution Schule dominiert die Inszenierung in den Szenen des ersten Teils. Hauptreferenzpunkte sind dabei die Ringparabel als Kernstück des Nathan, Kants Beantwortung der Frage „Was ist Aufklärung?“ sowie Lessing selbst als Protagonist der Aufklärung. Doch die Schlüsselbegriffe aus Texten von Lessing (Toleranz, Mensch) und Kant (Mündigkeit) werden nur eingeführt, um sie im zweiten Teil zu dekonstruieren. Das kontrastive Gegenbild entsteht, indem diese Konzepte in einem außerschulischen Kontext neu verortet werden, der mit den gleichen Begriffen ein eklatantes Kontrastprogramm zu den zuvor postulierten Lehren darstellt. Denn das Projekt verschreibt sich – insbesondere im zweiten Teil – der Inszenierung einer aktuellen Grundsituation der Antiaufklärung, die auf internationaler Ebene wie auch im nationalen Rahmen durchaus auch mit Versatzstücken aufklärerischer Rhetorik operiert. So wird die „unreflektierte Harmonie“ der nahe-liegenden Orientierungen durch und durch deharmonisiert: Mit den ironischen Neuverknüpfungen de-konventialisiert und reorientiert das Projekt Bombenwetter den Blick auf die Bildungsanstalt und kontrastiert Erwartungen mit Gegen-Bildern. Die in der Schulklasse angelegten Szenen des ersten Teils stilisieren und übertreiben Bildungsabläufe als sinnentleerten Drill, während im weiteren Verlauf die idealisierende Selbstvorstellung gebildeter Toleranz empfindlich gestört und durch Fragmentierungen, NeuAnordnungen und Kontrastierungen re- oder disorientiert wird.
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Bombenwetter ist insofern – mit Jameson – eine ‚beherzte Neuschreibung‘ des Nathan-Textes, die die vielfältigen Schichten ihres (im Jahr 2004) aktuellen Rezeptionskontextes in den Mittelpunkt rückt, das Nahe-Liegende dagegen vor der Folie des von Kermani erklärten komplementären Gegensatzpaares des Rassismus (unreflektierte Harmonie als Kehrseite kulturkriegerische Hysterie) distanziert. Nur einige wenige Fragmente des ‚Originals‘ bleiben dabei übrig, und auch sie werden ‚ver-wertet‘, indem sie mit einer Reihe szenischer Miniaturen kontrastiert werden, die Lessings Text in der Verbindung mit historischen und gegenwärtigen Konflikten re-konfigurieren: Indem die Theatergruppe den Ausgangstext bis ins Unendliche reduziert und von den Fragmenten nur wenige in den eigenen Text übernimmt, entsteht ein geradezu erdrückendes Übergewicht an Textelementen zum aktuellen „weltpolitischen Klima“ (Kuschel). Diesem vermögen die reflexartig wiederholten leitmotivischen Beschwörungen der Lessing-Figur nur den erhobenen Zeigefinger entgegenzuhalten: Kinderchen liebt Euch! Dieses Mantra als beliebig wiederholbarer Ausagierung von Lessings Schlussanweisung spitzt Kermanis Kritik an der ‚werktreuen‘ Berliner Peymann-Inszenierung zu und setzt sie als Spitze gegen die allseitigen Selbstbekundungen des „Wir sind so gut“ ins Bild: „So viel Umarmung war nie. Der Kirchentag ist ein Catchertreffen dagegen, wenn am Schiffbauerdamm die berühmte Regieanweisung für den Schluß des ‚Nathan‘ werkgetreu aufgeführt wird.“ (Kermani 2010: 38) Doch in Bombenwetter lassen sich die Konflikte und Unverträglichkeiten nicht dauerhaft in solchen harmonistischen Versöhnungsgesten bereinigen. Deshalb muss der ‚Lessing‘ dieser Produktion immer wieder neu zur Umarmung aufrufen, die aber nie zur Schließung der Collage führt. Denn in der neuen Anordnung der Texte verstetigt sich stattdessen das antiislamische und antisemitische Sprechen – sogar im Namen der Aufklärung. In dieser polemischen Kontrastbildung zeigt Bombenwetter Konsequenzen schönrednerischer Lesssingrezeption an: Stehen zu Beginn des zweiten Teils gegensätzliche Positionen aktueller Debatten noch offen unversöhnlich im Raum, wie im Bild des Tennismatches, bei dem die Schüler_innen einander Pro- und Kontra-Argumente der Kopftuchdebatte an die Köpfe werfen, so dominieren im weiteren Verlauf immer offener antiislamische und Gewalt legitimierende Positionen. Sie sind einem domestizierten Mainstream-Lessing gegenübergestellt, der gegen diese nur repetitiv mit Konfliktvermeidung und „warmen Worten“ intervenieren kann. Diese Kontrastierung verkehrt am Ende auch die Utopie Lessings von einer vernunftgeleiteten Einsicht in aktive Toleranz gegenüber den Einzelnen, wie es im Nathan propagiert wird, in eine Dystopie, in der der stumpfsinnige Mitläuferjubel zum lustigen Reigen des Rassismus gerät. Zugleich rekonstruiert die Gruppe
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mit der Konfrontation aber aktiv eine Grundhaltung Lessings, die in der aktuellen Rezeption kaum reaktiviert wird. In der kontrastiven, polemischen Haltung gegenüber den Rahmungen der eigenen Auseinandersetzung mit Lessing und Nathan findet eine Re-Polemisierung Lessings statt, d.h. eine Reaktivierung Lessingscher Positionen und Sprechhaltungen, die im Zuge der Tradierung Lessings als deutscher Nationaldichter verschüttet wurde bzw. verschüttet werden musste: Denn Lessings Texte wendeten sich gegen die Intoleranz der eigenen Gesellschaft. Die sehr mokante und z.T. bewusst respektlose und zurückweisende Auseinandersetzung, die sich zunächst auf den belehrenden Ton des Stückes bezieht, ist insofern auch begleitet von einer Rezeption, die Lessing mit sehr hohem Respekt begegnet. Um diese These der Reaktivierung und Re-Polemisierung nachvollziehbar zu machen, werde ich im Folgenden zunächst mit einem Blick auf den historischen Entstehungskontext des Nathan eingehen und dabei auch auf die Effekte, die dieser historische Rahmen auf das Ergebnis des Schreibens hatte. Die Domestizierbarkeit des Lessing-Textes lässt sich dabei – so meine Lektüre – ebenso aus einer von Lessing selbst eingenommenen irenischen Sprechhaltung rekonstruieren wie auch aus der Konstruktion des Nathan als dialogisch verpackter, aber durchaus predigtartig autoritärer (schulmeisterlicher) Bildungsmonolog, der die Verkündung einer Wahrheit zum Ziel hat. Die Gegenstimme, die Bombenwetter mit der Kontrastierung dieses ‚lieben‘ Lessing mit zum Teil schockierenden diskursiven ‚Realitäten‘ des politischen Alltags herstellt, richtet sich, so soll mit diesem historischen Exkurs erkennbar werden, zum einen gegen Lessing selbst. Zum anderen wird aber eine Gegenstimme mit Lessing gegen dessen Vereinnahmung gebildet. Indem dabei u.a. auch mit der resignifizierenden Aneignung von Vokabular des ‚Gegners‘ zur Verbreitung der eigenen Positionen gespielt wird, stellt sich in der polemischen Umarbeitung des Lessingstücks (Bombenwetter) am Ende auch die Frage nach den Effekten der agency, die im Positionswechsel der Worte und des Sprechens selbst als Potenzial angenommen sind.
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Re-Polemisieren
Das Verhältnis von Bombenwetter zu seinem Bezugspunkt Nathan der Weise ist im Folgenden genauer untersuchen, um es zum einen als polemisches weiter zu differenzieren, zum anderen aber, um es auch als appropriatives erkennbar zu machen. Angeeignet wird dabei Lessings ‚eigene‘ Polemik, um sie einzusetzen gegen Lessings harmonisierende Schreibweise im Nathan und v.a. gegen die Überlieferung eines Lessingschen Toleranz-Begriffs, der im allseitigen Umarmungsgestus bildhaft wird. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass die Szenencollage konfrontativ mit dem dialogischen, konsensorientierten – irenischen – Prinzip des Dramas bricht und diesem ein Sprechen entgegensetzt, das die harmonisierende Grundhaltung im Lessingtext durch satirische Übertreibung verhöhnt (z.B. die Darstellung von Lessing als Märchenonkel vor einer ungezogenen Klasse oder Lessings stetige Wiederholung: „Kinderchen liebt Euch“). Darüber hinaus rückt es den Widerspruch und den Gegensatz als Prinzip der Konfrontation in den Mittelpunkt, indem es zur Neu/Schreibung aktueller Aufklärungspositionen polemisch auf Kriegslegitimierungen oder auf als Wahlkampfpositionen verbrämte antiislamische oder antisemitische Hetzreden verweist. Beide Texte, so meine Argumentation, verfolgen ähnliche Strategien zur Intervention in gesellschaftliche Debatten, indem sie offen-sichtlich (d.h. für die Leserschaft im jeweiligen Entstehungszeitraum erkennbar) Diskurspartikel gesellschaftlicher Kontroversen, die den Texten jeweils unmittelbar vorausgegangen sind, aufgreifen und diese in die Theater-Texte integrieren. Jedoch werden die jeweiligen historischen Situationen (Kontexte) aus je unterschiedlichen Schreibpositionen heraus unterschiedlich konstruiert und inszeniert, so dass sie als Kommentare und Eingriffe in die je aktuellen Debatten in höchst differenter Form präsentiert werden: Lessing verwandelt widerstreitende Thesen und Argumente einer gesellschaftlichen Kontroverse, in die er selbst verwickelt war, in einen dramatischen (konsensorientierten, gemeinschaftsproduzierenden, kohä-
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renten, abgeschlossenen) Handlungsverlauf und lässt den Grundkonflikt der Debatten im Drama als Konflikte der agierenden Figuren unter der Bedingung von „rationaler Einsicht“ und „Toleranz“ als lösbar erkennen. Sein Prinzip ist der verständige (Erziehungs-)Dialog, mit dem der weise Nathan die konfliktreiche Geschichte zu einem versöhnlichen Ende führt. Indem Lessing das Handlungsgeschehen zeitlich und räumlich in weite Ferne rückt, verwischt er den direkten Bezug zur konflikthaften geschichtlichen Situation, in der er sich befindet und die er selbst mit initiiert hat. Eintracht und Erziehung zur Einsicht in die Gleichheit aller Menschen rücken in den Mittelpunkt einer Erzählung, die wenig mit Lessings Schreibsituation zu tun hatte. Bombenwetter stellt dagegen gesellschaftliche Kontroversen in konsensfernen Gegensätzen vor, deren versöhnliche Schließung formal nicht angestrebt ist und deren Bezug zur aktuellen Gegenwart als unmittelbar vermittelt wird. D.h. die Konstruktion des gesellschaftlichen Kontextes erfolgt als Darstellung von eklatanten Widersprüchen. Mit seinem expliziten Bezug auf Lessings Nathan der Weise, der als Text selbst jedoch fast völlig ausgeschlossen wird, unterzieht Bombenwetter dessen Konzept der Toleranz und seiner Tradierung einer kritischen Reflexion. Problematisiert wird das konsensorientierte dialogische Prinzip, mit dem Lessing die Idee von Toleranz als Religionsfreiheit im Nathan öffentlich zu vermitteln suchte. Dessen irenische Sprechhaltung geht, wie im Folgenden erläutert wird, aus einer Sprechposition hervor, in die Lessing durch eine gegenteilige Sprechhaltung – nämlich polemisches Gegensprechen durch konfrontative Argumentation – geraten war und von der aus er das Stück geschrieben hat. Das polemische Sprechen von Bombenwetter gegen das irenische Prinzip des ‚dramatischen Gedichts‘ – so die Genre-Zuweisung von Lessings Stück – verhält sich dabei also appropriativ gegenüber einem dem irenischen vorausgegangenen polemischen Sprechen Lessings. Herausgearbeitet werden aber nicht nur die polemischen Positionen, die die Collage zu den Toleranzkonstruktionen des Ausgangsstücks bezieht, und die Modifikationen, die sie im Vergleich zu vorangegangenen Positionen Lessings vornimmt, sondern auch die polemischen Positionen von Bombenwetter zu aktuellen Konstruktionen von Toleranz durch ihre Rückgriffe auf Lessings Ideendrama. Gedanklich und auch im Tonfall folgt die Szenencollage dabei der sehr scharfen Polemik von Navid Kermani, dessen Rassismuskritik an der Rezeption und Aufführungspraxis von Lessings Drama im Jahre 2004 insbesondere die entradikalisierenden Verschiebungen und Funktionalisierungen des Toleranzbegriffs zur Selbsterklärung einer demokratiefähigen Kultur in der Rezeption ins Visier nimmt.
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Indirekt wird dabei auch das Genre des Ideendramas oder Erziehungsdramas in Frage gestellt. Die diesem zugrunde liegenden Wahrheitsansprüche werden mit der zwingenden Logik der narrativen Linearität zielgerichteter Handlungsverläufe Sinnkonstruktionen zu ‚Botschaften‘ verengt und mit der in der Figurenanlage eingelassenen Autorität geradezu ‚schulmeisternd‘ vermittelt. Dies zeigt die Collage in einer Inszenierung von inkorporiertem Zwang und der Disziplinierung, die sich auf die Ideen selbst wie auch auf die darstellenden Körper bezieht. Das polemische Gegensprechen der Theatergruppe am THG findet insofern auch auf der formalen Ebene statt, indem der kohärenten ‚Märchenerzählung‘ eine streng choreografisch gearbeitete Bilderanordnung entgegengesetzt wird, die über die mokante Ironie hinaus keine eigene Position oder Lehre vertritt, sondern statt dessen das Gegeneinander selbst und die Widersprüche ins Zentrum rückt.
L ESSING ,
DER
D ISSIDENT
Die Untersuchung der Schreibstrategien Lessings möchte ich mit der in der Collage zentral positionierten Szene „Lessing & Goeze“ einleiten. Denn diese führt unvermutet eine Ernsthaftigkeit ein, die den mit Ironie und Schnelligkeit hergestellten Spaß an der Vorführung gefrieren lässt. Gewissermaßen als Gelenkstelle zwischen dem ersten und dem zweiten Teil der Szenencollage baut die Gruppe das Bild einer Verhörsituation auf: Um einen Stuhl in der Bühnenmitte herum ist eine U-förmige Tischformation aufgebaut, an der 18 Gestalten platziert sind, die in dunkelblauem Licht gehalten kaum erkennbar, dafür aber im Laufe der Szene immer eindringlicher hörbar werden. In der Mitte auf dem Stuhl sitzt von oben mit einem hellen Punktstrahler beleuchtet ‚Lessing‘ mit dem Rücken zum Publikum. Mit dem synchron chorisch gesprochenen berühmten Gretchen-Zitat (Nun sag, wie hältst du’s mit der Religion?) wird die bedrohlich anmutende Szenerie eröffnet, die als dialogisches Wortgefecht zwischen der Einzelfigur Lessing und einem tribunalartigen Chor von Kirchensprechern, der den historischen Hamburger Hauptpastor Goeze figuriert, verläuft. In dem Verhör, das durch seine zweifache Wiederholung systematisch lauter und durch immer weiter nach vorn gebeugte Haltungen der Pfarrer ständig bedrohlicher wird (Abb. 13), erklärt Lessing immer wieder auf’s Neue sein Verständnis der christlichen Religion und der Bibel sowie sein Verhältnis zu anderen Religionen: „Alle Religionen gründen sich auf die Geschichte und die Tradition“, „alle Religionen sind gleich wahr und gleich falsch“ (BW 133). Diese Position setzt er dem Goeze-Chor entgegen, der ihn bezichtigt, „die Bibel verdächtig und verächtlich zu machen“, und darauf
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beharrt, „keine andere Religion [sei als] wahrer, besser und Gott gefälliger [anzuerkennen] als das Christentum“ (ebd.). Den inhaltlich wenig variantenreichen Fragen und Beschuldigungen des immer näher rückenden, aber im Dunkeln bleibenden Goeze-Chors widersetzt sich Lessing beharrlich mit verschiedenen Argumenten, die auch in ihrer Formulierung erkennen lassen, in welcher Situation Lessing sich befindet: Seine Aufklärungspositionen gegen die Offenbarungslehre der Kirche drohen ihm zum Verhängnis zu werden, denn die Übermacht der Kirchenchors wird ihn früher oder später bezwingen.1
Abb. 13: Bombenwetter „Lessing & Goeze“ (Videostill)
Anders als Bombenwetter, entwickelt aus der Situation eines Schreibaufrufs, ist Nathan der Weise das Ergebnis eines Schreibverbots. Diesem ging eine „der aufregendsten Polemiken des [18.] Jahrhunderts“ (Sedding 1998: 56)2 – der sog. Fragmentenstreit – voran, in der Lessing eine Schlüsselposition einnahm. In
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Lessing beklagt in seinem Anti-Goeze u.a. die ständige Wiederholung von Anschuldigungen des Pastors, ohne dabei auf die Texte ihrer Widerlegung einzugehen. Gleich zu Beginn des ersten Briefs heißt es: „Überschreien können Sie mich alle Tage; […] Überschreiben sollen Sie mich gewiß nicht.“ (Lessing 1982: 445; Herv. i.O.)
2
Nach Komi Kouma Kougblenou gilt der Fragmentenstreit „als die umfangreichste und bedeutendste theologisch-politische Auseinandersetzung der deutschen Aufklärung“ (Kougblenou 2010: 67).
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mehreren Streitschriften positionierte er sich offen gegen die dogmatische Haltung der orthodoxen protestantischen Kirche zur Offenbarungslehre und setzte sich vehement für Toleranz in Religionsfragen ein. Provoziert hatte Lessing diese öffentliche Kontroverse durch die Publikation von kritischen Texten des rationalistischen Deisten Herrmann Reimarus (1694 – 1768). Dessen Stellungnahmen, in denen er die vernünftigen Verehrer Gottes (vgl. Titel Reimarus)3 gegen Angriffe der Kirchenoberen verteidigte, hatte Lessing in Auszügen nach dessen Tod, getarnt als Fundstücke aus der Bibliothek in Wolfenbüttel, in den Jahren 1774 und 1777/78 unter dem Titel Von der Duldung der Deisten: Fragmente eines Unbekannten herausgebracht.4 Das auf diese Weise in die breite Öffentlichkeit getragene Plädoyer für radikale Bibelkritik und gegen den Wunderglauben der christlichen Offenbarungslehre führte zu vehementem Widerspruch von Vertretern der lutherischen Orthodoxie, allem voran dem Hamburger Hauptpastor Melchior Goeze. In Bezug auf den Toleranzbegriff Lessings ist bemerkenswert, dass Lessing selbst nicht alle Positionen Reimarus’ teilte, jedoch die besondere Bedeutung der öffentlichen Debatte um diese Positionen immer wieder hervorhob, wie Friedhelm Zubke beschreibt: „Die Fragmente sah Lessing als willkommenen Anlass für eine öffentliche Diskussion über ein den Ansprüchen der Aufklärung entsprechendes Religionsverständnis an.“ (Zubke 2010: 8) Klaus Berghahn konstatiert dazu: „Brisant war daran weniger ihr Inhalt, denn er gehörte zur theologischen Diskussion der Zeit, als die Veröffentlichung selbst, denn sie stellte öffentlich zur Diskussion, was verschlossen in den theologischen Giftschrank gehörte.“ (Berghahn 2001: 113) In der sich ab 1778 anschließenden Kontroverse setzte sich Lessing vehement gegen Goeze für die Freiheit der argumentativen Diskussion ein. Als eine solche betrachtete er v.a. den dialogischen Austausch von widerstreitenden Thesen, die er nicht zuletzt mit der Veröffentlichung der Schriften initiierte und die er in mehreren weiteren eigenen Schriften als „Fortgang der Erkenntnis“5 vertei-
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Der vollständige Titel von Reimarus’ zwischen 1735 und 1768 verfasster Hauptschrift lautet Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes.
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Wilfried Barner erklärt, dass Lessing bereits früher begonnen hatte, Verteidigungsschriften (sog. ‚Rettungen‘) für historische Personen zu verfassen, die aufgrund bestimmter Taten oder Gesinnungen verleumdet wurden (siehe Barner u.a. 2004, S. 37). Neben dem Mut, Brisantes vorzutragen, bemerkt Barner bei Lessing insbesondere dessen Rigorosität gegenüber Vorurteilen, Beleidigungen, Diskriminierungen und Ausgrenzungen gegenüber Andersgläubigen und Freigeistern (ebd.: 40).
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„Luthers Geist erfordert […] daß man keinen Menschen in der Erkenntnis der Wahrheit nach seinem eigenen Gutdünken fortzugehen hindern muss. Aber man hindert al-
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digte: „Gott weiß es, ich habe nichts dagegen, dass Sie und alle Schuldirektoren in Niedersachsen gegen meinen Ungenannten zu Felde ziehen. Vielmehr freue ich mich darüber; denn eben darum zog ich ihn an das Licht, damit ihn recht viele prüfen, recht viele widerlegen können.“ (Lessing 1982: 447) In wenigen Monaten verfasste Lessing elf Streitschriften (Anti-Goeze), „in denen er gegen Dogmatismus und Intoleranz des Pastors polemisierte“ (Berghahn 2001: 113) und sein Interesse an der (suchenden) Wahrheitsfindung im Geiste Luthers kundtat, in der sich die Vernunft des Menschen in gutem Handeln äußert. Die scharfe Kontroverse, die die norddeutsche Öffentlichkeit erfasste, endete abrupt mit einem Schreibverbot, das der Herzog von BraunschweigWolfenbüttel seinem Bibliothekar auf Gesuch der Kirche auferlegte. Der Herrschaftsanspruch der Kirche ließ keine vernunftgeleitete, d.h. aus dem Denken des Menschen abgeleitete Kritik an dem vom Klerus definierten Glauben zu. Im (Selbst-)Verständnis der Kirche, so Sedding, „als Garant gesellschaftlicher Normen […], suggeriert Goeze der absolutistischen weltlichen Obrigkeit die Gefährdung der Grundlagen der staatlichen Ordnung durch Lessing“ (Sedding 1998: 56). Lessings Ausweg aus der Zensur war die Änderung seiner Schreibstrategie: Seinen 12. Anti-Goeze verfasste er als „ein so rührendes Stück“6, dass seine ersten Leser_innen „laut lachen [mussten], um nicht zu weinen“7. Mit der Erfindung einer Geschichte in der Form eines dramatischen Gedichts formulierte er seine Thesen gegen Obrigkeitshörigkeit und für dialogische Argumentation und aktive, konstruktive Toleranz (ebd.: 61) um und verlagert den dramatischen Konflikt in Zeit und Ort. Insofern ist Nathan der Weise (als Ausgangspunkt und Anregung von Bombenwetter) lesbar als unmittelbares ‚Produkt‘ der Zensur und als literarisch verpackter Schlusspunkt einer Polemik gegenüber Herrschaftsansprüchen der Kirche und deren Macht, das Denk- und Sagbare zu definieren.8
le daran, wenn man auch nur einem verbieten will, seinen Fortgang in der Erkenntnis anderer mitzuteilen.“ (Lessing 1982: 449, Herv. i.O) 6
Brief an Karl Lessing, zit. in Berghahn 2001: 114.
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Brief von Elisa Reimarus an Lessing, zit. in ebd. 114.
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Zynisch scharf begegnet Lessing der Macht der Kirche, über das Sagbare zu verfügen. Zu Goezes Definition von Glauben: „Denn da steht’s: ‚Wer nicht gläubt, der wird verdammt!‘ – ihm nicht glaubt, nicht gerade das nämliche glaubt, was er glaubt – wird verdammt!“ (Lessing 1982: 458, kursiv i.O.; unterstr. tm) Und er beteuert, er „würde [die Schriften] noch drucken lassen, wenn mich auch aller Welt Goezen darüber in den tiefsten Abgrund der Hölle verdammten“ (ebd.).
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Das Bild der Verhörsituation in Bombenwetter setzt Lessing in seiner Situation der Anklage im doppelten Sinne ins Zentrum – zum einen in der SzenenInszenierung in der Mitte des Bühnenraums, zum anderen mit der Szene in den Mittelpunkt der gesamten Collage. Mit dieser Zentrierung der Anklage gegen Lessing und dessen Bedrohung, der gegenüber er trotz aller Beschuldigungen standhaft bleibt, verschiebt die Theaterproduktion die konsensuale Lessingrezeption. Lessing steht hier als Verfolgter vor einer (kirchlichen, aber auch gesellschaftlichen) Übermacht, der mit Argumenten nicht beizukommen ist. Deren Zielsetzung des Zum-Schweigen-Bringens übersetzte der Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel als Lessings Dienstherr mit der Anordnung des Schreibverbots ins Faktische. „Lessing war ein guter Schüler – Schlag – aber etwas mokant – Schlag – …“ (BW 130)9 hat das Publikum aus einer der ersten Choreografien des Stücks noch im Ohr: In der Verhörszene wird Lessing, der (mokante) Dissident, in einer Ohnmachtsposition gezeigt, die das verunmöglichte, was in der Tradierung Lessings vollends zugedeckt wurde: Lessings geradezu verbissene Kampfbereitschaft im schreibenden Erstreiten eines Rechts auf öffentliches Gegensprechen und des Rechts auf eigenständige Meinungsbildung (Bibellektüre), kurz: im Kampf um das, was als die ‚Umsetzung der Kant’schen Mündigkeitsformel‘ bezeichnet werden könnte.
D ISSIDENTE A NEIGNUNG
DES
F RAGMENTENSTREITS
Statt nun selbst in der historischen Mottenkiste des alten Fragmentenstreits zu verharren und die einzelnen Positionen nachzuerzählen, übernimmt Bombenwetter das Prinzip des polemischen öffentlichen Austauschs und transferiert damalige Positionen in die aktuelle Gegenwart. Oder anders: Bombenwetter inszeniert seinen ‚eigenen Fragmentenstreit‘ im zweiten Teil der Collage auf der Grundlage fragmentarisch in das Stück integrierter Partikel verschiedener Diskurse, die u.a. mit Bezug auf Religion Wir-Konstruktionen herstellen.10 Dies hat den Ef-
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Eine Szenenbeschreibung und -lektüre erfolgt zu Beginn im dritten Teilkapitel.
10 Da sich der Begriff Fragmentenstreit auf die von Lessing zum Schutz von Reimarus Familie nur als Fragmente veröffentlichten Schriften bezieht, ist die Bezeichnung des Transfers als ‚aktueller Fragmentenstreit‘ eher unrichtig. Denn Bombenwetter rekurriert gerade auf Texte, deren öffentliche Akzeptanz zum Thema wird. ‚Aktueller‘ oder ‚eigener Fragmentenstreit‘ meint daher eine in Anspielung auf den historischen Vor-
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fekt, dass im Verlauf des Stückes immer deutlicher der Eindruck entsteht, dass die heutigen Diskussionen denen des späten 18. Jahrhunderts an Intoleranz über und mit Religion in nichts nachstehen. Die historische christliche Beherrschungslogik, wie sie in Bombenwetter mit aller Drastik am Ende der Aufführung mit der Inszenierung der Patriarchen-Szene interpretiert wird, verbindet sich nahtlos mit aktuellen hegemonialen Ausschlusslogiken und Kampfbereitmachungen, die sich auf christliche Normalität berufen. Eindrücklich wird dies an den Zitaten von George W. Bushs permanentem Gottesbezug, der die militärischen Einsätze nach dem 11. September 2001 zu ‚heiligen Kreuzzügen‘ gegen das Böse umgestaltete, und diese zu Gottesaufträgen stilisierte: Unsere geschichtliche Verantwortung ist jetzt schon klar. […] Gott hat uns aufgerufen, unser Land zu verteidigen und die Welt zum Frieden zu führen. […] Möge Gott Amerika segnen. Möge Gott Sie alle segnen. (BW 135)11
Diese im Stück verdichtet zusammengestellten Sätze aus unterschiedlichen Bush-Reden exemplifizieren nicht nur, wie der Diskurs um die internationale Reaktion auf die Anschläge des 11. September zunehmend de-säkularisiert wurde, sondern wie zugleich eine Konstruktion der westlichen Gemeinschaft als im Kern christlich fundiert gesellschaftsfähig und damit das Huntington-Konstrukt der Zivilisationen performativ umgesetzt wurde.12 Die Offenbarungslehre der protestantischen Orthodoxie, gegen die Lessing im späten 18. Jahrhundert so vehement agierte, scheint (in dieser Zuspitzung) aus den Tiefen der europäischen ‚Vormoderne‘13 wieder aufzutauchen und so auf gleicher Stufe zu stehen wie die
Fall eigene Kontroverse zur Gegenwart, die fragmentarisierte Diskurspartikel strategisch aufgreift und neu kombiniert. 11 Zusammenstellung der diachron vorgetragenen Zitate ohne Sprecherangabe (BW135). Die Produktion bezieht die Zitate und die die Zusammenstellung begleitende Kritik am „göttlichen Auftrag“ aus einem Artikel von Jean-Louis Doublet der Berliner Morgenpost vom 19. Feb. 2003. 12 Huntingtons Konzept basiert auf mehreren Differenz-Konstruktionen, von denen Religion die wichtigste ist (vgl. Huntington 1993a: 25). Bushs Abrücken von einer Argumentation im ‚Auftrag der Aufklärung‘ zu Gunsten eines Bezugs auf (i.B. christliche) Religion verschob diese zunehmend auch zum Schlüsselcode in der Gegenargumentation (vgl.: Teilkapitel „Verfügungen über Aufklärung“). 13 Der Begriff ist hier abgeleitet aus den Debatten um die Offenbarungslehre im 18. Jahrhundert, die von den unterschiedlichen durchaus religiösen Strömungen der Aufklärung (als ‚vormodern‘) bekämpft wurde.
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verlautbarte Argumentation der Gegner, der Djihad, dessen Vormodernität gerade in dem religiösen Fundamentalismus begründet wird, mit dem die westliche Welt den globalen Kampf legitimiert. Dies und darüber hinaus, wie Religion auch als normalisiertes rassistisches Selektionsprinzip neben z.B. Hautfarbe in alltäglicher Praxis funktioniert, dokumentiert beispielsweise auch die Zusammenstellung von (Lokal-)Nachrichten, die 2003 in die Schlagzeilen kamen und in der Folgeszene hinter aufgeschlagenen Zeitungen zu hören sind: Glaubenskrieg in Niedersachsen. In Lohne gibt es öffentliche Schulen, in denen die Kinder tagtäglich nach ihrem Bekenntnis selektiert werden. […] Demonstration für Martin Luther King. Seine Witwe betonte, dass der Rassismus in den USA noch immer nicht überwunden sei. Raufereien mit Trikolore. In Frankreich tobt ein Glaubenskrieg um Kopftücher, Integration und das Heiligtum der Verfassung, die Trennung von Staat und Kirche. […] Israelische Truppen dringen in Jericho ein. Islamisten verbreiten Video, in dem Jugendliche den Terror preisen. / 56 Tote bei Anschlag auf irakische Kurden. […] Blutiges Wochenende im Irak. (BW 134)14
Die je unkommentierte Vortragsweise von vorgefundenen Textauszügen richtet den Blick in beiden Szenen („Bush-Reden“ und „Nachrichten“) auf Repräsentationspolitiken und soziale Ordnungen der eigenen Gesellschaft und ihrer Verbündeten. Polemische Schärfe und Direktheit erhalten die Szenen durch die fragmentarische Reduktion von z.T. langen Texten auf einzelne prägnante Sätze und ihre Verdichtung zu Grundaussagen, die im Effekt zur Anklage stehen. Dabei enthält sich die Gruppe jeglicher Emotionalisierung durch Dialogizität oder Abbildhaftigkeit. Die Aussagen erhalten durch den Ton der Ansage – sei es im Stil des Nachrichtenvortrags oder des Fahneneids – einen Duktus von Faktizität und auf diese Weise eine ‚Autorität‘ im Widersprechen. Angeklagt werden so die in den Praktiken und den (medialen oder politischen) Sprechakten versteckten Superioritätsvorstellungen, die im Widerspruch zu demokratischen Grundsätzen wie Gleichwertigkeit und der Anerkennung von Differenz stehen und (parlamentarische) Verhandelbarkeit von Handlungsoptionen (wie Militäreinsätze) durch fixierte, unbegründete Setzungen (Verweise auf Gott oder Natur) verunmöglichen. Zugleich funktionieren die auf Einzelsätze reduzierten Textelemente mit einem Effekt der ‚Demaskierung‘: Strategisch arbeitet die Gruppe mit der Isolierung und Dominantmachung von Aussagen, die in den aufgegriffenen Tex-
14 Diachron-chorischer Vortrag in Einzelstimmen; Zitatanordnung in Blöcken ohne Übernahme der einheitlichen Sprecherangabe „Schüler“ zusammengefasst.
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ten zu finden sind, ihren Grundtenor bestimmen und so als Position des/der Sprecher_in (z.B. Bush) durchschimmern, in dessen Gesamtrhetorik aber nur marginalisiert auftauchen, um den Widerspruch zu gesellschaftlich verlautbarten Konsensen verdeckt zu halten. Insofern beunruhigen solche Zuspitzungen, denn in der konzentrierten Verdichtung werden vermeintliche gesellschaftliche Übereinstimmungen oder auch Selbsterzählungen (z.B. Säkularität) in ihrer Kongruenz aufgebrochen: Die Aussagen oder Berichte stehen nun eindeutig im Widerspruch zu verlautbarten Gesellschaftskonsensen. In dieser zugespitzten Widersprüchlichkeit stellt die Produktion rassistische Praxen zur Disposition, die i.d.R zwar im öffentlichen Diskurs nicht tolerabel (sagbar) sind, den Alltag aber dominant bestimmen. Diese polemische Kontrastierung von Diskurs-Positionen und Praxen, bei der Bombenwetter allerdings grundsätzlich auf die Benennung von Akteuren verzichtet und sich ausschließlich auf verschriftlichte Reden oder Berichte konzentriert, mobilisiert in dem Sinne, dass sie Grundannahmen ‚moralischer Normalität‘ aus ihren Fixierungen löst und sie durch Fokusverschiebungen selbst in den Diskurs zieht. Mit der Re-Polemisierung und damit auch der Re-Konstruktion der historischen Polemik nimmt die Produktion jedoch weder direkt Stellung zu einzelnen Positionen, noch erklärt sie die öffentliche politische Kontroverse ausschließlich zur besseren Alternative zum beschwichtigenden Versöhnungsaufruf. Gerade mit der Inszenierung der in der Zeitungs-Headline als „Glaubenskrieg“ (in Frankreich) beschriebenen Debatte um das Tragen von Kopftüchern setzt die Gruppe die Ambivalenz des politischen Streits ins Bild (Abb. 14).
Abb. 14: Bombenwetter „Tennis-Kopftuch-Match“ (Videostill)
Der aktualisierte ‚Fragmentenstreit‘ über die in Niedersachsen geführte Debatte zur Kopftuchfrage beginnt im sportlich-spielerischen Bild eines Tennismatches,
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bei dem ‚Lessing‘ ganz in englischer Distinguiertheit mit Blick von oben als Schiedsrichter die Schläge zählt, während unten Pro- und Kontra-Argumente über das Spielfeld fliegen: Das Kopftuch ist ein politisches Symbol! […] Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit! […] Das Kopftuch ist Zeichen der Unterdrückung der Frau! […] Die Freiheit des Glaubens ist unverletzlich! […] Warum nicht gleich die Scharia einführen? […] Eine "Lex Kopftuch" ignoriert den Gleichbehandlungsgrundsatz! […] Das Kopftuch ist ein Zeichen der Ungleichheit und zeigt die Dominanz des muslimischen Mannes! / Das Kopftuch ist ein Zeichen der Toleranz! […] Das Kopftuch ist die Flagge des islamistischen Kreuzzuges!“ (BW 132)15
Korrekt und höflich regelt ‚Lessing‘ das Spiel: „To serve […] out! Fifteen : love […] Out! fifteen all […] Out! Thirty : Fifteen […] Advantage: Kopftuch […] Deuce“ (BW 132). Doch zunehmend verwandelt sich das Bild des Tennismatchs in das eines Schützengrabenkrieges, bei dem weder die Bereitschaft des Zuhörens noch ein Kompromiss oder gar ein Konsens angestrebt wird. Die spielerisch ausgebreitete Debatte endet im Stellungskampf, in dem sich „[a]lle gegenseitig mit Papierbällen [bewerfen], die Barrikaden […] aufeinander zu [rücken]. Am Ende kämpfen alle gegeneinander, das Bild friert ein. Lessing ist erhöht hinter dem Bild zu sehen.“ (BW 132) Immer noch Schiedsrichter schließt ‚Lessing‘ die Szene mit priesterähnlicher Empfangsgeste und salbungsvollen Worten: Lessing:
Love all! Es eifre jeder seiner unbestochnen Von Vorurteilen freien Liebe nach! Kinderchen, liebt euch! (BW 133)
Die Welt der Versöhnung ist (wieder) perfekt, aber der Kampf ist nur im Freeze erstarrt. Für einige Sekunden wirken die Würge- und Faustschlaggesten als Kontrast zu ‚Lessings‘ „Love all“ und „Kinderchen liebt Euch“ nach. Zwar folgt an dieser Stelle nicht die bekannte Umarmungschoreografie, aber den Abschluss dieser Sequenz bildet die Choreografie „Federleicht“, in der die Schüler_innen wie ferngesteuerte harmonisierte Marionetten agieren: In sanftem Licht pusten sie Federn in die Luft und strahlen in Worten und Gesten – federleichte – Ruhe und Liebe aus. „Verständnis, Kultur, Menschlichkeit, Gleichheit, Integration und
15 Zitat ohne Angabe der aufgeteilten Sprecherangaben (wechselweise Pro und Kontra); ausgelassen wurden die Spielkommentare ‚Lessings‘ (siehe Text).
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Liebe“ säuseln sie nacheinander. Weiche Bewegungen und warme Stimmen dominieren dieses überzeichnete Bild des Glücks und der Zufriedenheit, bis „Friede“ und „Freude“ im ironischen Dreiklang mit dem „Eierkuchen“ vollendet werden, der das Bild der angeordneten und befolgten Harmonie unterbricht. Die kleine Sequenz, deren Verlauf die Wechsel von Tennis-Spiel über Barrikaden-Kampf hin zu zwanghafter Harmonie beschreibt, ist der Verhörszene „Lessing & Goeze“ vorangestellt. Sie könnte als Kommentar auf das lesbar sein, was ich im Folgenden als Wechsel der Schreibhaltung bei Lessing beschreiben möchte und dessen Effekte ich in einer eigenen Lektüre des Nathan erläutern werde.
Lessings Gegenstimmbildungen Lessings scharfen Streitschriften folgte ein auf Konsens angelegtes Theaterstück, in dem er auf die widerstreitenden Positionen und Thesen des Fragmentenstreits zurückgriff und sie in Dialoge von Figuren umformulierte. Mit der Dramatisierung verwandelte er „die argumentative Erörterung der Zeitschriftenartikel in einen Handlungsverlauf […], abstrakte Begriffe in anschauliches Geschehen, Thesen und Argumente in lebendige Figuren“, so Sedding (1998: 5), und rückte zudem die Handlung zeitlich und räumlich in die Ferne Westasiens zur Zeit der Kreuzzüge.16 Insofern verfolgte Lessing eine Strategie der Distanzierung bei gleichzeitiger Annäherung durch Einfühlung und dialogische Veranschaulichung. An die Stelle der Polemik tritt das Prinzip der Irenik, in deren auf Versöhnung zielender Performanz sich jedoch die gleichen Grundprämissen und -forderungen artikulieren, die Lessing bereits in seinen Streitschriften vorgetragen hatte. Die im Fragmentenstreit erörterten Positionen zum Religionsgebrauch innerhalb der christlichen/protestantischen Kirche transferierte er in ein Toleranz-Konzept, das er den Protagonisten Nathan mit der Ringparabel auf die verschiedenen monotheistischen Religionen und gewissermaßen universal auf die gesamte Menschheit beziehen lässt. Im Gegensatz zu einem obrigkeitshörigen
16 Karl S. Guthke erwähnt Lessings Überzeugung, dass „Intoleranz, Territorial- und Legitimationsneid […] niemals auffallender gewesen [sei als zur Zeit der Kreuzzüge], in Zeiten also, in denen die Christen erstmals außereuropäische Weltgegenden und Kulturen in den Blick bekommen und sich mit ihnen vergleichen“ (Guthke 2003: 19). Erwähnenswert ist dazu, dass die europäische Geschichtsschreibung die hohen kulturellen Standards der arabischen und westasiatischen Welt im Mittelalter nahezu verdrängt hat (vgl.: Abu-Lughod 1989).
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Glauben an die Offenbarungslehre der Kirche, wie sie im Nathan in der Figur von Daja angelegt ist, propagierte Lessing u.a. im Dialog zwischen Nathan und seiner Tochter Recha einen an der Bibelinterpretation orientierten vernunftgeleiteten Glauben, in dem das Handeln des Menschen im Mittelpunkt steht. Nicht zuletzt unterstellte er seinen diskursiven Gegner Goeze seiner eigenen auktorialen Kontrolle: Denn in der religiösen Haltung des Patriarchen lassen sich Elemente der Argumentation von Lessings Gegner im Fragmentenstreit, Goeze, ausmachen, die jedoch als unhaltbare Positionen im Text isoliert werden. Dabei versichert die geschlossene, monoauktoriale Form des Textes, dass Nathan/Lessing und nicht (wie im realen Geschichtsverlauf) der Patriarch/Goeze das letzte Wort behält. Durch den Genrewechsel werden die umkämpften Aufklärungsideen, im Besonderen die argumentative Bibelkritik und die Hinwendung auf menschliches Handeln, modifiziert und in einer anderen Sprechhaltung vermittelt, die zugleich praktiziert, was sie anstrebt, nämlich den auf Einsicht zielenden Dialog. D.h. nach der polemischen Kontroverse und ihrem Ende in der Zensur versuchte Lessing, seine Leser_innen zu überzeugen: Er setzte den titelgebenden Protagonisten Nathan als weisen Lehrer ein, um in den Gesprächen mit seinen Mit-Figuren Toleranz einsichtig zu machen und in gutes menschliches Handeln zu überführen.17 Diesen Formen- oder Genrewechsel, den Lessing 1778 verfolgte, eignet sich die Theatergruppe des THG im Jahr 2003 als künstlerische Strategie an, kehrt sie dabei aber in der Richtung wieder um: Lessing konstruierte aus den historischen Diskurselementen, die dem Fragmentenstreit zu Grunde lagen, eine versöhnlich endende Erzählung, die auf Gemeinschaftsproduktion im Sinne einer auf Erkenntnis beruhenden Utopie guten Handelns abzielt und die Verwirrungen und inneren Zugehörigkeitskonflikte am Ende auf eine Familienzusammenführung zusteuern lässt. Bombenwetter zerstört diese Erzählung und verun-
17 Das entspricht nicht zuletzt dem Toleranzbegriff, wie er im 18. Jahrhundert in Zedlers Universal-Lexicon 1745 formuliert wurde: „[…] auf den Cantzeln und in denen Schriften die vorgegebene irrige Meynung mit aller Sanftmuth widerleget, und also mit Vernunfft und Bescheidenheit eines bessern zu belehren bemühet ist […] Der Grund der Tolerantz [….] muß in der allgemeinen Liebe und Erbarmung liegen, und der Zweck derselben bloß dieser sein, dass sie den irrenden Nächsten von dem Irrthum seines Weges nach und nach unter dem Segen GOttes zu überzeugen suchet.“ (zit. nach: Guthke 2003: 10). Diese Definition, so Guthke, wäre heute eine der Intoleranz oder der Duldung, da „von vornherein und unerschütterlich klar [ist], was Wahrheit ist und was Irrtum“. Gegenseitiges Überzeugen im heutigen Sinn war im Toleranzkonzept des 18. Jahrhunderts nicht mitgedacht (ebd.: 11).
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möglicht deren teleologische Zielorientierung durch De-Linearisierung und Fragmentierung. In loser Abfolge werden ‚Fragmente‘ des diskursiven Rahmens der theatralen Lessing-Auseinandersetzung als verdichtete Diskurspartikel in einzelnen, mehr oder weniger geschlossenen Bildern vorgestellt. Die mimetische Darstellung einer dialogischen Handlung auf der geschlossenen Bühne (vierte Wand) wird ersetzt durch frontal nach vorn gerichtete choreografisch hergestellte Einzelsituationen, die in ihrer Unverbundenheit den Praktiken einer öffentlichen Kontroverse näher sind als dem phatischen Dialog im Privaten. In dieser Form bildet Bombenwetter auch eine Gegenstimme zum Genre des Ideendramas, dessen ‚Nebeneffekte‘ ich anhand des Sprechhaltungswechsels bei Lessing im Folgenden erläutern werde, um die formale Neuausrichtung plausibel zu machen.
H ARMONIE DURCH A UTORITÄT : E XKURS DER A UFKLÄRUNG
IN DAS
D RAMA
Im Wechsel von der polemischen zur irenischen Sprechhaltung nach der Zensur führt Lessing mit dem dialogisch angelegten Drama als Geste der Toleranz zugleich eine andere Geste vor, die den Ideen des gleichberechtigten dialogischen Austauschs diametral widerspricht: Lessing/Nathan wird zur heimlichen Autorität, die keinen Widerspruch (mehr) zulässt. In seinem Schwenk von der streithaften Forderung nach Meinungsfreiheit, die Lessing als Autor seiner Schriften als einen Sprecher von vielen erkennen lässt, hin zur harmonischen Komödie, die in Zeit und Ort verschoben ist, verdeckt er nicht nur den unmittelbaren Bezug zu der virulenten Kontroverse, sondern zugleich sich selbst als Sprecher. Dies tut er, indem er seinem Protagonisten die Leitung des (Bildungs-)Dialogs übergibt und ihn als unsichtbaren Lenker der Geschichte herstellt: Ähnlich wie Prospero18 hat Nathan alle Fäden in der Hand und leitet – angeführt durch seine unangefochtene Weisheit – die Figuren und mit ihnen die Zuschauenden zur Einsicht, die schließlich zu einem Reigen glücklicher Umarmungen führt. In der entdeckenden Logik des analytischen Dramas ist nur Nathan der (universal) Weise und Wissende, der am Ende die familiären Zusammenhänge fast aller Akteure enthüllen und damit die Geschichte zu einem versöhnlichen Schluss führen kann.
18 Während Prospero mit seiner Magie das Geschehen und das Personal des Sturms wie Marionetten dirigiert, steuert Nathan den Handlungsverlauf mit Hilfe von Vernunft und Analyse.
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Anders als in der öffentlichen Kontroverse verfolgt Lessing in seinem dramatischen Gedicht einen Bildungsgedanken, der auf dem Dialog zwischen Individuen19 basiert und so durch Überzeugung statt durch Streit verläuft. Das teleologische Ziel ist dabei die Einsicht in die ‚Natur‘ der Gleichheit (der Religionen und der Menschen) sowie die Einsicht in die Weisheit von Toleranz als praktischem Handeln. Die Wahrheit, die Nathan nach schwerer Schicksalserfahrung (vgl.: Nathan IV,7) durch rationale Selbstreflexion und vernunftgeleitete Selbsterziehung nachhaltig erworben hat, gibt er als Lehrmeister im Gespräch weiter. Doch diese Grundlage setzt voraus, dass die zu Bildenden sich der Autorität ihres Erziehers fügen. Diese Macht ist als Bedingung für die Überzeugung in die Stückanlage eingeschrieben und bleibt mit Ausnahme einiger selbstreflexiver Bemerkungen Nathans unhinterfragt und v.a. unangefochten: „Lessings, Nathans Bild vom Wesen und von den Möglichkeiten des Menschen steht fest, es braucht nur ans Licht gebracht zu werden.“ (Barner u.a. 1987: 316) Nathans Weisheit besteht auch darin, seine Dialogpartner durch Vergleiche in metaphorischen Bildern, Fabeln und Parabeln zu überzeugen, indem er – wie Lessing – mit der Strategie der Übersetzung seiner Thesen ins Visuelle operiert. In diesen Formen der rhetorischen Überzeugung verschwindet die Position des Sprechers bzw. Autors hinter dem in bildhaften Vergleichen ‚sichtbar‘ Gemachten und der so hergestellten ‚Naturhaftigkeit‘ des Gesagten. Nathans machtvolle Überzeugungskraft funktioniert über Visualisierungen, in denen modellartige Vergleiche z.B. in der Parabel dazu dienen, das Gesagte als Bild vorzustellen, als ‚Sichtbares‘ also zu ‚verlebendigen‘. Die hergestellte ‚Sichtbarkeit‘ produziert Evidenz. Diese versieht das Gesagte mit einem Wahrheitseffekt, der die Art und Weise der Evidenzproduktion ebenso verschwinden lässt wie die Position Nathans/Lessings als seine Überzeugung – und seine Macht als dominanter Sprecher.20
19 Sedding spricht von mehreren „großen Lehrdialoge[n]“, die das Stück durchziehen: der erste zwischen Nathan und seiner Tochter Recha (I,2), ein zweiter mit dem Tempelherrn (IV,4), Nathans Dialoge mit Saladin, in der er auch die Ringparabel vorträgt und schließlich einen zwischen Saladin und dem Tempelherrn; als scheiternden bezeichnet Sedding den Szenendialog, der in Bombenwetter übernommen wurde: Der Patriarch wiederholt stumpfsinnig sein Diktum gegen die vernünftigen Argumente des Tempelherrn und zeigt in der Floskelhaftigkeit seinen Dogmatismus (siehe: Sedding 1998: 109f). 20 John Rajchman verweist darauf, dass Foucault das ‚klassische Zeitalter‘ nicht nur als „eine ganze Reihe von Weisen des Sehens und Sehenlassens“ (Rajchman 2000, 42) beschreibt, sondern selbst „ein ungemein visueller Historiker [war, dessen] Ge-
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Nichts wird hier transparent und verhandelbar gemacht. Die Idee der Gleichheit der Menschen und Religionen wird als Universalität einsichtig gemacht, indem sie als gesellschaftlicher Entwurf über das Modell Familie und der damit verbundenen Vorstellung von verwandtschaftlicher = ‚natürlicher‘ Beziehungen ins Bild gesetzt wird. Naturalisiert und somit universal wird dabei nicht zuletzt das Konzept Familie selbst. Als Familienstück orientiert sich Lessings Nathan dabei nicht am bürgerlichen Familien- und Rührstück, wie Barner betont. Lessings Modell der Familie sei vielmehr als „dezidierte[…] Dramatisierung des geschichtsphilosophischen Entwurfs“ (Barmer u.a. 1997: 318) zu verstehen, wie er in der Erziehung des Menschengeschlechts bereits als Utopie ausformuliert ist: „Aus Bildern und Begriffen seiner Zeit schuf Lessing ein utopisches Zeichen für die geschichtliche Bestimmung des Menschen: die Vollendung der Schöpfung als Einheit des sittlich vollkommenen Individuums mit der Gemeinschaft.“ (ebd.) Insofern kann auch die Verbildlichung seiner Ideen im Modell der Familie in der Plotkonstruktion selbst als Teil ihrer zwingenden (und überzeugenden) Logik betrachtet werden. Indem der Text zudem in seiner Konstruktion als handlungsstringente Entdeckungsgeschichte von Beginn an auf eine Erkenntnis der (familiären) Zusammengehörigkeit aller Menschen als ‚natürliche Harmonie‘ zusteuert und die Kohärenz der Geschichte auf ein zwingend schlüssiges Ende zuläuft (vergleichbar einer Fabel), ist die Evidenz der Versöhnung auch auf formaler Ebene vorstrukturiert und im alle Akteure verbindenden homogenen Stil von Anfang an angelegt. Der utopische Charakter des Ausgangs verweist dabei auf eine mögliche Zukunft, in der rationales Denken vor blindem (fanatischem) Glauben bewahrt und so zu gutem Handeln führt, das jedoch die Reflexion der rhetorischen Herstellung solcher rationalen Einsicht nicht einschließt. Die nahezu ‚natürliche‘ Autorität des Lehrers Nathan und seine weise Überzeugungskraft sind also die Folge der Verknüpfung von drei literarischen Setzungen Lessings: 1. der Form des, wenn auch hierarchischen, aber phatischen Dialogs (des „zwischenmenschlichen Bezugs“, vgl.: Szondi 1963: 14), 2. dem zwingenden Handlungsverlauf des analytischen Dramas/Lustspiels und 3. der inhaltlichen Setzung der familiären Zusammengehörigkeit als naturhaft vermittelter Ur-Sache (Wahrheit). Sie alle erzwingen die Versöhnung der Figuren in der Wahrheit/Utopie. Diese Versöhnung lässt also keinen Widerspruch zu – weder formal noch inhaltlich. Im Gegenteil: Formal werden in ihr alle Widersprüche ‚unsichtbar‘ gemacht, sie werden aufgelöst in einem Schluss, in den die Utopie einer allgemeinen Versöhnung der Menschheit eingelassen ist, und der
schichtsbeschreibungen […] voller lebhafter Bilder [stecken], die im Gedächtnis haften bleiben“ (eb. 41).
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daher Widerspruch (auch inhaltlich) weitgehend ausschließt – somit auch: jeden weiteren Prozess des Suchens – bis heute. Denn: Als wer kann man Nathan widersprechen? Nur als Stimme der Intoleranz! „Gegen die Ringparabel etwa spricht allein die Barbarei. Oder der Untergang der Menschheit“, bilanziert Kuschel zur Verteidigung der massenhaften Nathan-Inszenierungen nach dem 11. September 2001 und zitiert dazu Die Welt vom 26. Jan. 2002 (Kuschel 2004: 13). Damit übernimmt er den von Lessing angelegten Gestus monodirektionaler Verkündung von abgeschlossenen universalen Setzungen und überführt ihn in den leitkulturellen Diskurs. Jegliche Verhandelbarkeit und Öffentlichkeit, die Lessing im Fragmentenstreit als zentrale Aspekte des Konzepts Toleranz erstreiten wollte, gehen verloren im Setting des Privaten, dem Fokus auf das Individuum (Dialog) und der dominanten Betonung (Setzung) von Menschen, Menschlichkeit und Natur. Dies äußert sich insbesondere in der Aufwertung des Mit/Gefühls und der Betroffenheit, welche die vernunftgeleitete Argumentation letztlich unverhandelbar macht. Kurz: Diese Art der Versöhnung eliminiert Widersprüche statt sie ‚durchblitzen‘ zu lassen. Auf diese Weise sucht Lessing für seine Aufklärungsthesen breiteren Konsens in der Öffentlichkeit. Aber die suggestive Form der EntDeckung verdeckt zugleich den autoritären Wahrheitsanspruch, der in harmonischer Auflösung den Prozess der Bewegung abschließt, wenn nicht sogar unterbindet. Eine Theatergruppe, die das Lessingsche Prinzip der Ent-Deckung – von Widersprüchen oder diskursiv Unsagbarem – und das der (Text- oder Bibel-) Kritik konsequent ernstnimmt, kann sich auf diese Struktur nicht unreflektiert einlassen, ohne mit dem Vorwurf der Inkonsequenz rechnen zu müssen. Das konfrontative Entgegenhalten von anderen Wahrheiten oder zumindest Gegenpositionen kann vor Lessing selbst nicht haltmachen, wenn Aufklärung als Prozess des Suchens oder Verhandelns verstanden wird und Aufklärungspositionen in Bewegung gehalten werden sollen. Damit orientiert sich die Gruppe weniger an Lessings Dramaturgie als vielmehr an Brecht, der die Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse als Suche und Experiment (etwa in Form des Lehrstücks) gestaltet, wie Barner feststellt: „Für Brecht ist der Mensch erst Gegenstand der Untersuchung, und die aus der ‚Lehre‘ resultierende Praxis soll verändernd sein.“ (Barner u.a. 1987: 316) Doch auch Lessings Autorität ist nicht widerspruchsfrei, sondern zutiefst brüchig, denn Nathan – und in ihm Lessing – übernimmt letztlich mit seiner Wahrheitsverkündung eine (Macht-)Position wie die der Kirchenoberen, deren Definitionsmacht über Sagbares und Unsagbares Lessing doch gerade anzugreifen suchte. Die im Drama behauptete Dialogizität, in der Nathan statt auf Au-
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genhöhe als überlegener Lehrmeister die Wahrheit bestimmt, ist zutiefst hierarchisch. Bei näherem Hinsehen wird aber zugleich deutlich, dass im Nathan überhaupt keine Individuen agieren, sondern lediglich Repräsentanten bestimmter Ideologien oder gesellschaftlicher Instanzen, die gewissermaßen alle mit der gleichen Stimme sprechen. Denn das gesamte Personal bedient sich durchgängig nicht nur des alle ‚vereinenden‘ Blankverses, sondern darüber hinaus auch des gleichen Duktus’, der an Stelle individualisierten Sprechens einen verbindlichen homogenen Stil zum Effekt hat.21 Diese formale Egalisierung gesellschaftlicher Sprechpositionen widerspricht damit der in den Figurenbeziehungen eingelassenen Hierarchie und impliziert so ein Moment der Instabilität – auch in der Figur des Nathan. Diese Ambivalenz oder Instabilität im Modus des gleichzeitigen Suchens/Verhandelns und Verkündens von Wahrheit findet sich in Bombenwetter in einer Gleichzeitigkeit von Ablehnung und Aneignung wieder, die sich auf die Strategien Lessings ebenso beziehen wie auf seinen Autoritätsanspruch. Denn zwar enthält sich die Gruppe der Wertung von Einzelpositionen aktueller Diskurse, indem sie sie dokumentarisch auf die Bühne stellt. Doch zugleich behält sie sich mit unterschiedlichen Mitteln vor, mit eigener Autorität gegen die moralischen Widersprüche der eigenen Gesellschaft anzusprechen. Denn keineswegs werden die Diskurspartikel ‚neutral‘ vorgetragen. Die Radikalität, die gerade aus der vermeintlich ‚dokumentarischen Neutralität‘ und den Strategien der polarisierenden Zuspitzung, der Verlächerlichung und nicht zuletzt aus dem chorischen Vortrag hervorgeht, hält durchaus mit dem wahrheitsverkündenden Oberlehrerton ‚ihres‘ Lehrers Lessing mit. Beide Haltungen Lessings, die Schärfe in der öffentlichen Kontroverse wie auch die ambivalente ‚Weisheit‘ des Nathan sind Überlegenheitshaltungen. Sie gründen auf ihre je spezifische Art auf den Anspruch auf Wahrheit bzw. Recht. Aber diese Haltungen setzen Konsens mit einer bestimmten Öffentlichkeit voraus. Die diskursive Stütze für den im Drama und der vorangegangenen Kontroverse behaupteten Rechtsanspruch, immer verbunden mit der Forderung nach gleichberechtigtem Sprechen bzw. Egalisierung der Sprechpositionen, findet Lessing in der bürgerlichen Bewegung der Aufklärung. Mit seinen polemischen
21 Die Form des Chorischen als Antwort auf Lessings Monolog ist insofern sehr konsequent. Lehmann erklärt die Wiederkehr des Chores u.a. aus genau jener Monologisierung des Dialogs (Monologtheorie): „Die Figuren reden dann nicht so sehr aneinander vorbei, sondern sozusagen in die gleiche Richtung. Bei einer solchen nicht konfliktuösen, sondern additiven Sprache entsteht der Eindruck des Chores.“ (Lehmann 1999: 233)
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Schriften gegen den Pastor und die Kirche hält er diese zugleich in Bewegung, indem er die Suche und Verhandlung von Recht und Wahrheit als Prozess öffentlich austrägt. Dabei dominiert der Anspruch auf das Recht auf freie und gleichberechtigte Äußerung von Positionen im diskursiven Dialog, auf gleichberechtigtes Verhandeln um z.B. Bibelkritik und zugleich als Recht auf den Prozess des Suchens statt des Verkündens. Lessing wird dort als ein öffentlicher Sprecher erkennbar, der unsichtbar gehaltene Positionen publik macht und diesen Akt des Sicht- und damit Verhandelbar-Machens performativ als Handlungsprinzip für sich und andere Ungenannte polemisch reklamiert. Mit der Veröffentlichung von diskursiv unsagbaren Gedanken, wie dem Textfragment von Reimarus und damit der kritischen Freilegung der Macht der Kirche über das Un/Sagbare in seinen Streitschriften, trat Lessing für ein zentrales, darüber hinaus das namensgebende Prinzip der Aufklärung, das Aufklären und Ent-decken ein. Dieses Handlungsprinzip des Ent-Deckens führte Lessing in gewisser Weise zwar auch nach dem mehrfach erklärten Sprechverbot fort, indem er es im Drama als Grundmotiv der Handlungsführung einsetzte und die aufgebauten Konflikte als zu lösende Fragen oder Rätsel entwirft, die mit historischer Recherche aufgeklärt werden. Auf diese Weise wird das Entdecken als Prinzip der Aufklärung propagiert und vorgeführt. Aber auch hier wird Entdeckung zur Affirmation von Autorität: Sie wird verschoben vom Sagbarmachen einer unsagbaren Position mit dem Ziel ihrer öffentlichen Verhandlung auf der Suche nach Wahrheit hin zu einer unverhandelbaren Wahrheit, die nur im Spiel – im Sinne des Aufklärens von Rätseln – gesucht wird, erzähllogisch jedoch dem Spiel vorgängig ist. Denn im analytischen Drama liegt das Einzusehende als Ergebnis schon vor und muss ‚nur noch erkannt‘ werden. Im zielgerichteten Ent-Deckungsspiel mit einer Lösung am Ende verschwindet das Nebeneinander einer Vielfalt von unterschiedlichen Positionen, mit der die Beweglichkeit in der Suche von Wahrheiten und Zweifeln im polydirektionalen Diskurs erhalten bleibt. Der Prozess wird auf einen monodirektionalen Weg (vgl. Ahmeds trodden path) zum Ziel verengt. Diese Verengung des Entdeckens als Teil eines Suchprozesses auf den Akt des Findens hat nahezu notwendigerweise die Fixierung des Gefundenen als Lösung zum Effekt. Diese Logik durchzieht das gesamte Stück, indem es die Handlungslinie so kohärent aufbaut und die Konflikte so verführend logisch erklärt und auflöst, dass die daraus resultierende Abgeschlossenheit eben auch jede weitere Suche für unnötig erklärt. Diese Abgeschlossenheit ist jedoch das Gegenteil des Ausgangsmomentes des Stückes: dem Schreiben gegen die Zensur, die die Verhandlung um Wahrheiten abgebrochen und damit abgeschlossen hat. Das in Bewegung gehaltene
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widersprechende Streiten, das Lessing in seiner historischen Situation suchte und praktizierte, ist in dem Stück selbst getilgt. Genau damit verschiebt sich der Anspruch von der Forderung nach einem Recht auf Sprechen und Suchen hin zum Anspruch auf Wahrheit, die geradezu pastoral als Wissen und Natur verkündet bzw. vermittelt wird. Das Recht auf Zweifel und religiöse Skepsis wird gewendet in ein Diktum der Toleranz: „‚Zweifel und Mißverständnis über den Sinn des Stückes und über die Menschen, die darin agieren, sind hier unmöglich gemacht durch den Dichter!“, urteilt Karl Werder bereits am Ende des 19. Jahrhunderts (zit. nach Jung 2001: 85). Als Ergebnis der Zensur ist Lessings letzte Gegenstimme insofern ein Akt des Widersprechens mit Widersprüchen, der als Schlussmonolog die Machtlosigkeit gegenüber der faktischen Macht bereits eingestanden hat. Im Zeichen dieser Machtlosigkeit Lessings ist Nathan der Weise lesbar als Monolog über die Möglichkeit des Dialogs und sein mögliches Scheitern.
A NEIGNENDE F RONTSTELLUNGEN Bombenwetter geht zu dieser versteckten, verheimlichten Autorität Lessings, in der die Machtlosigkeit anerkannt ist, ein ambivalentes Verhältnis zwischen Ablehnung und Aneignung ein: Im Kern wird sein gesamter Bildungs- und Wahrheitsanspruch auf ganzer Linie hinterfragt und zerstört. An die Stelle des analytischen Dramas tritt die dokumentarische Form der chorisch-choreografischen Szenencollage. Mit der formalen Fragmentierung des Ausgangstextes und dem Bruch mit mimetischer Darstellung als Prinzip geht auch die Zerstörung der pädagogischen Idee der Bildung des Individuums einher und mit dieser die Vorstellung gesellschaftlichen Fortschritts. Insbesondere Lessings pädagogisches Mittel der Konsensorientierung und Gemeinschaftsproduktion wird als belehrender, allwissender Oberlehrerton („Kinderchen liebt Euch“) ent-deckt, markiert und verhöhnt. Denn Bombenwetter greift das pastoralartige Diktum der Toleranz als entmündigende Unterrichtung in Aufklärung auf. Der gesamte erste Teil baut einen zwangsvermittelten statischen Konsens auf, der im zweiten Teil gewissermaßen in sich zusammenbricht. Kontrastiert werden die Idealisierungen von Zusammengehörigkeit mit choreografischen Bildern von Gemeinschaftsproduktionen, bei denen die negativen Aspekte dominieren. Sie verweisen besonders im zweiten Teil auf Identitätspolitiken, in denen Wir-Gemeinschaften über rhetorische und diskursive Ausschlüsse funktionieren. ‚Lessing‘ wird während des gesamten Stücks in einem Spannungsfeld zwischen seinen belehrenden Ermahnungen und dem Nicht-Ernstgenommen-Wer-
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den in verschiedenen Positionen aufgebaut: Als Wissender, als Lehrender, als Urteilender und als Richtender, kurz: als Autorität, die zugleich als machtlos vorgeführt und entlarvt wird, indem das Nicht-Hinhören und das ‚Einfach-dasGegenteil-Machen, während der da quatscht‘ (Frühstücksszene, Kung Fu) ebenso wie das zwanghafte Erdulden des Diktats oder das wie ferngesteuerte Erfüllen seiner Ansagen so prominent ausgestellt wird. So ist ‚Lessing‘ in der neuen Textanlage der Dialog entzogen – und damit die Macht, diesen – heimlich – zu lenken. Seine Isolierung als Lenker ohne Macht betont in Bombenwetter das Monologische des Nathan-Stücks. Seine Monologe sind reduziert auf die Ringparabel und die stetige Wiederholung der Mahnung „Kinderchen liebt Euch“, die, wie automatisiert, zu der Umarmungschoreographie hinleitet. Der Wahrheitscharakter seiner Thesen und seiner Utopie wird auf diese Weise ad absurdum geführt. Zugespitzt wird das Absurdum noch im zweiten Teil, der ausschließlich aus (zugleich verknüpfenden) Gegenüberstellungen von Lessings unausgesprochenen Aufklärungspostulaten mit kulturell-rassistischen Positionen besteht. Im Widerspruch zu den erklärten Aufklärungszielen stehen antisemitische, antiislamische und menschenverachtende Wahlkampfreden und Kampflegitimationen. Nicht zuletzt ist der Nathan reduziert auf drei abgebrochene Lektüreansätze der Ringparabel, zwei Szenen, die die Familienkonstellationen und die entdeckte Verwandtschaft fast aller Figuren eher ver- als entwirren, und schließlich die Patriarchenszene, in der der von Lessing bekämpfte Wahrheitsanspruch des christlichen Kirchenoberhauptes diktatorisch durchgestellt wird. Mit dieser Reduktion des Ausgangsstückes auf diese wenigen inhaltlichen Fokussierungen und Ausschnitte wird zugleich die dramatische Form, insbesondere die Kohärenz und die mit dieser erzielten Abgeschlossenheit komplett verworfen. Bombenwetter nimmt Lessings eigene Umschreibungsstrategie wieder zurück und speist nur noch Splitter des vorliegenden ‚Rührstücks‘ in einen neuen ‚Fragmentenstreit‘ ein, so dass formal hinter dem irenischen Nathan der ironische Anti-Goeze wieder sichtbar zu werden scheint. Bombenwetter ist somit lesbar als Wiederherstellung dessen, was Lessing zwar verwehrt wurde und was er doch mit dem Stück in anderer Form fortsetzte: ein polemischer Streit um die Frage nach dem Sagbaren und Unsagbaren, also um die Frage, was wie gesagt werden darf und nicht zuletzt wer über Un/Sagbarkeit bestimmt und diese definiert. Der Akt der Gegenstimmbildung vollzieht sich insofern in der Rekonstruktion und Aneignung einer dem Ausgangstext vorangegangenen polemischen Haltung Lessings, die in der über zweihundertjährigen Rezeption des Jubilars, insbesondere seines letzten Theaterstücks und dem dort zentral gesetzten Konzept der Toleranz, verschüttet, oder besser: domestiziert wurde.
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In dieser Repolemisierung steht Bombenwetter voll und ganz im Einklang mit Lessing selbst, der seinen strategischen Schwenk von der Streitschrift zum „rührendem“ Theater selbst höchst ironisch kommentierte und, bei aller Autorität, die dem Stück zugrunde liegt, die Effekte seiner Strategien durchaus partiell mitreflektiert hat. Bereits in der Ankündigung des Stückes schwingt bei Lessing die polemisch-ironische Zunge mit, die selbstkritisch den 12. Anti-Goeze begleitet. Denn er vergleicht das Theater mit der Kanzel und nimmt damit den monologischen Prediger vorweg: „Ich muss versuchen, ob man mich auf meiner alten Kanzel, auf dem Theater wenigstens, noch ungestört will predigen lassen.“, schreibt er am 6. Sept. 1778 an Elise Reimarus (zit. in Kermani 2010: 35). Selbstironisch nimmt Lessing mit diesem Vergleich zwischen Theater und Kirchenkanzel nicht nur seine monologische Sprechhaltung ins Visier, mit der er die machtvolle Position der Kirchenoberen zu übernehmen sucht, sondern stellt auch sein lehrmeisterhaftes Theaterstück als Kirchenpredigt aus. Lessings offen gehaltene Frage, ob sein selbsternanntes Predigen als Versuch, der Macht der Kirche mit ihren eigenen Mitteln zu trotzen, gelingen wird, verweist auch auf ein Eingeständnis der Machtlosigkeit gegenüber der Autorität des Kirchen- und Staatsapparats. Lessings Kommentar auf seinen Schlussmonolog in einer Polemik, in der bis dahin dialogisch und öffentlich auf und um Augenhöhe gestritten wurde, stellt insofern seine eigenen Handlungsmöglichkeiten ironisch zur Disposition. Wenn Lessing zudem an seinen Bruder Karl am 20. Okt. 1778 schreibt, das Stück werde „nichts weniger, als ein satirisches Stück, um den Kampfplatz mit Hohngelächter zu verlassen. Es wird ein so rührendes Stück, als ich es immer gemacht habe“ (zit. in Schilson 1997: 15), dann ist darin eine kritische Reflexion deutlich erkennbar, aus der neben einer gewissen Resignation auch eine selbst-ironische Position zu seiner eigenen versöhnlichen Schreibhaltung ablesbar ist. Indem Bombenwetter die Versöhnungsgesten in so besonderer Form der wiederholten Verlächerlichung hervorhebt, wendet sich das Stück mit Lessing gegen Lessing. Es greift Lessings selbstironischen Ton auf, um ihn gegen den Lessing zu wenden, der sich – gezwungenermaßen – dieses Tons der Versöhnung bedienen musste. In diesem Sinn geschieht die Re-Polemisierung durch die Wolfenbütteler Gruppe vor der Frage, was im Zuge von Jubiläen als erinnerungswürdig hervorzuheben ist. Die Collage holt das Polemische hinter dem Irenischen wieder hervor und beansprucht damit, als Störfaktor in einen Prozess der Konsensproduktion zu intervenieren, der längst festgeschrieben zu haben scheint, für was Lessing heute steht und erinnert wird: nicht für den Fragmentenstreit, sondern für einen konfliktvermeidenden oder gar -unterdrückenden autoritären, aber zugleich machtlosen Nathan. Die Re-Polemisierung Lessings richtet
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sich so nicht zuletzt gegen die vielen Vereinnahmungen Lessings, mit denen gerade alle Widersprüche harmonisiert werden und mit denen der Begriff der Toleranz jegliche Kontur verloren hat. Erneut erweist sich Bombenwetter so im Einklang mit Kermani, der meint, „daß Nathans Ring so groß geworden ist, daß alles in ihn hineinpaßt und er nichts Spezifisches mehr faßt“ (Kermani 2010: 41). In ähnlicher Weise (und in weiten Teilen entlang seiner Thesen), wie Kermani 2003 gegen die offenen oder verdeckten Kulturellen Rassismen in den öffentlichen Diskursen um ‚den Islam‘ polemisierte und dabei die Aufrufe zur Toleranz zum Signum der Intoleranz des Westens auswies, eröffnet Bombenwetter ihren aktualisierten ‚Fragmentenstreit‘. In diesem wird die ‚Religionsfrage‘ als zentrales Thema Lessings aufgegriffen, angeeignet und unter neuen Vorzeichen auf dem Theater verhandelt: Vor der Folie des als bekannt vorausgesetzten Nathan-Dramas zitiert Bombenwetter im zweiten Teil eine Serie von Fragmenten kulturell-rassistischer Positionen. Sie konfiguriert diese unkommentiert mit den Toleranzaufrufen, die nicht nur jeden möglichen Konflikt – und damit auch möglichen Widerstand gegen diese Positionen – unterdrücken, sondern, indem sie dies tun, solche rassistischen Positionen legitimieren und damit Toleranz als aktives, auch kämpferisches Eintreten für gegenseitigen Respekt gerade schwächen. Es geht in diesem Theaterstück jedoch nicht darum, einen anderen Toleranzbegriff gegen dieses Amalgam aus rassistischer Hetze und Beschwichtigungsformeln – gar ‚im Sinne Lessings‘ – zu konstruieren. Genau das überlässt das Theaterstück dem Publikum, das sich mit rassifizierendem Wissen und sozialen Frontstellungen entlang der kulturalisierten Kategorie ‚Religion‘ (vgl.: Shooman 2011) konfrontiert sieht. Dieses Wissen hatte im öffentlichen Sprechen 2003 und 2004 nicht nur Platz, sondern wurde durchaus begrüßt. Was in den Szenenbildern im zweiten Teil im Sinne eines ‚Anzeigens‘ zu sehen und v.a. zu hören gegeben wird, ist Rassismus, wie er als Kombination „kulturkriegerische[r] Hysterie“ und „unreflektierte[r] Harmonie“ (Kermani 2010: 41) einer domestizierten Lessing-Rezeption reziprok zusammenagiert. Der theatralen Problematisierung dieses reziproken Verhältnisses werde ich an einigen Beispielen ausführlicher nachgehen. Anhand einer dokumentarischen Szenen-Sequenz wird dabei zu untersuchen sein, wie die ausgewählten Diskurspartikel bearbeitet und arrangiert wurden, um als polemische Intervention in einen rassistisch strukturierten Diskurs zu funktionieren. Hierbei wird sich herausstellen, dass in der Gesamtheit der aneinandergereihten Redeausschnitte das Bild einer aktuellen Öffentlichkeit entsteht, in der die mit Lessing assoziierten Grundparadigmen der Aufklärung völlig abwesend sind.
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F RAGMENTE ( EINER S PRACHE ) DER KULTURKRIEGERISCHEN H YSTERIE Ausgehend von der Dankesrede des Literaten Hans-Joachim Schädlich anlässlich der Verleihung des Lessing-Preises schlägt die Szenenfolge einen Bogen über die bereits erwähnte Zusammenstellung zeitaktueller Medienschlagzeilen und Auszügen aus Kriegsreden von George W. Bush zu einer Passage aus einem Himmler-Text zum sog. ‚Untermenschen‘ und führt schließlich zu einem längeren Zitatensemble aus der Rede des CDU-Politikers Martin Hohmann zum Tag der Deutschen Einheit. Diese Texte operieren mit einer manichäischen, zumeist religiösen Rhetorik, die an Ressentiments appelliert und trennscharfe Frontstellungen konstruiert. In ihrer Selektion und Anordnung erzeugen sie den Effekt einer deutschen Öffentlichkeit, in der politische Ansprüche der Aufklärung immer weniger vorkommen. Diese Absenz wird aufgebaut vor einem Publikum, dem ein gesellschaftlicher Anspruch auf Aufklärung oder gar das Selbstbild einer ‚aufgeklärten‘ Gesellschaft unterstellt wird. Zwar wird die Folie Aufklärung mit dem Verbleib der Figur ‚Lessing‘ auf der Bühne bis zum Schluss des Stücks präsent gehalten, doch diese Präsenz verschwindet zunehmend im Dunkeln: ‚Lessing‘ als Akteur bleibt trotz seiner faktischen Anwesenheit auf der Bühne immer öfter unbeleuchtet. Die Dankesrede des vom Land Sachsen und der Stadt Kamenz im Januar 2003 ausgezeichneten Literaten, die in Auszügen in die Szenencollage eingearbeitet ist, gibt Anlass zur Analyse, wie mit Lessing-Bezügen gegen dessen Toleranz-Botschaft argumentiert wird, ohne dabei von einer Argumentation mit einem offiziell kanonisierten Lessing als Gewährsmann einer Aufklärung abzurücken. Schädlich baut ‚den Islam‘ zur größten Bedrohung für die Demokratie im 21. Jahrhunderts auf und stellt seinen Zuhörenden in Kamenz die Frage nach unbedingten Handlungsoptionen gegen diese Gefahr, die von – ebenso gefährlichen – ‚Toleranzaposteln‘ verleugnet würde. Seine Behauptung dieser Art Doppelgefahr (Islam und Toleranz) unterstützt er mit geschickt eingesetzten performativen Widersprüchen: „Gegen den ‚Vereinfachungsdrang der westlichen Toleranzdoktrin‘“ (Schädlich 2003: 31) lehne er die Differenzierung zwischen traditionellem Islam und Islamismus ab. Das ist ein performativer Widerspruch: Er praktiziert das Gegenteil seiner eigenen Postulate. In ähnlicher Weise grenzt er sich gegen Gleichsetzungsvorwürfe ab, um so seine „Vergleiche“ zu legitimieren: Vergleichbar gemacht werden „Kommunismus und Faschismus“, als ‚Verkörperungen‘ des Totalitarismus des 20. Jahrhunderts, der im 21. Jahrhundert seine Fortsetzung im islamischen Fundamentalismus fände (ebd.: 30–32). Das Bedrohungsszenario, das Schädlich in einer rhetorischen Verknüpfung durch
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Gleichsetzungen und Sequenzialitätskonstruktionen herstellt und mit dem er die Unmöglichkeit, „sich hoffnungsvoll dem Märchentraum der Ringparabel hinzugeben“ (ebd.: 29) begründet, parallelisiert die „Ermordung der europäischen Juden“ durch den Faschismus, die “massenhafte Vernichtung so genannter politischer Feinde durch den Kommunismus, einschließlich des stalinistischen Genozids an den sowjetischen Juden“ und die „Terrorakte des islamischen Fundamentalismus“ (ebd.). Von dort aus kreiert Schädlich – gestützt auf zutiefst fragwürdige Quellen (vgl.: Kermani 2010: 43) – eine historische Linie antisemitischer Allianz zwischen Nazi-Deutschland und Jassir Arafat, nicht ohne dabei die Vernichtung der Juden für seine manichäische Frontstellung zu instrumentalisieren. In dieser Logik zieht ein in ‚dem‘ Islam historisch fixierter Feind mit der Argumentation von „gottlosen Regierungen des Westens“ gegen „die Demokratie“ (Schädlich 2003: 31) zu Felde. Zwingend ergibt sich aus dieser Konstruktion die – aber gerade nicht explizit formulierte – Notwendigkeit eines (militärischen) Kampfes gegen den „Totalitarismus des 21. Jahrhunderts“, nämlich den „islamischen Fundamentalismus“ (ebd.). „Toleranzdoktrin“ wie auch das Diktum der „‚politischen Korrektheit‘“ hält Schädlich für „ideologische Mittel der Zensur und Selbstzensur“ (ebd.: 30). – Aber: Wie geht das mit Lessing? Die Dankrede enthält eine Vielzahl direkter Bezugnahmen auf Lessing, in denen dieser erheblich umgedeutet wird, um zur Untermauerung eines rassifizierenden Arguments dienstbar gemacht zu werden. In gewisser Weise bringt Schädlich Lessing zum Schweigen, paradoxerweise indem er ihn zitiert, aber fehlzitiert. Vor dem Kamenzer Publikum kündigt Schädlich an, „von Lessing [und] gerade dadurch […] auch von der Gegenwart“ (ebd.: 27) zu sprechen. Mit zahlreichen Lessing-Zitaten aus den Fabeln, der Erziehung des Menschengeschlechts, dem Faust-Fragment und dem Nathan sinniert er über Entscheidungen zwischen Krieg und Frieden und exponiert sich dabei selbst als weisen Ratgeber. Im Effekt ergibt sich in der Verknüpfung der Zitate eine nachgerade mustergültige Absorption, eine Art Kidnapping Lessings für eine unverhohlen islamophobe und tendenziell bellizistische Argumentation. Eingeleitet wird sie mit der Wiedergabe einer von Lessing bearbeiteten Äsop-Fabel („Der Fuchs und der Dornenstrauch“), an die Schädlich eine weitere Mikroerzählung anschließt, die aber unmarkiert von ihm selbst statt von Lessing stammt. In dieser tritt Äsop selbst als Berater der Bewohner von Samos auf, die ihn um Rat in der Frage bitten, ob sie sich dem König von Lydien kampflos ergeben sollten oder dessen Tributforderungen mit militärischem Einsatz zurückweisen sollten. Äsop berät mit folgenden Gedanken:
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296 | G EGEN -B ILDER : B OMBENWETTER . D AS K OPFTUCH HÄLT Ich kann euch nicht sagen, was ich denke. Aber ich erzähle euch eine Geschichte. Prometheus erklärte den Menschen zwei Wege: den Weg in die Freiheit und den Weg in die Sklaverei. Der Weg in die Freiheit ist anfangs steil, beschwerlich und gefährlich. Bald aber führt er in eine weite Landschaft, die reich an Früchten ist […]. Der Weg in die Sklaverei […] ist zu Beginn eine flache bunte Ebene. Bald jedoch wird er steil, dürr und ausweglos. (Schädlich 2003: 28)
Äsops Antwort ruft nicht explizit zum Krieg auf. Aber ebenso wie Schädlichs Nahelegungen des Kampfes gegen den Totalitarismus lässt die kleine Erzählung aufgrund der Polarität von Freiheit und Sklaverei kaum eine Alternative zum Militäreinsatz zu. Indem Schädlich „von“ (und mit) Lessing redet, produziert er ihn zum Mitstreiter einer unmissverständlichen Kompromisslosigkeit und Kriegspropaganda. Er proklamiert die Unausweichlichkeit kriegerischer Mittel mit einer geopolitischen Konstellation, die er als Konfrontation zwischen Demokratie und islamischem Fundamentalismus konfiguriert: „Der Kampf zwischen Demokratie und Totalitarismus, der das 20. Jahrhundert bestimmt hat, ist nicht zu Ende. Er setzt sich im 21. Jahrhundert als Kampf zwischen Demokratie und islamischem Fundamentalismus fort“. (Ebd.: 32) Indem der LessingPreisträger des Landes Sachsen mit rhetorischem Geschick einen eigenen Text als eine weitere Fabel des Aufklärers erscheinen lässt, eignet er Lessing unter massiver Umdeutung für ein manichäisches ‚Kampf-der-Kulturen‘-Szenario an und vermag es, unwidersprochen eine Eingemeindung Lessings in die ‚Allianz der Willigen‘ vorzunehmen. Sicher ist die Indienstnahme Lessings dem Anlass geschuldet, doch wird die Anschlussfähigkeit der vorgetragenen Positionen in dem Maße erhöht, in dem Lessing als unangreifbare Instanz der deutschen Aufklärung aufgerufen wird, die es ja gerade in der Demokratie zu verteidigen gilt. Die Argumentationsfigur ist die gleiche wie die von Bassam Tibi, Necla Kelek oder Thilo Sarrazin: Bei der Rede von der „Verteidigung des Eigenen“ handelt es sich, wie Yasemin Shooman erklärt, um das Ineinandergreifen von „Fremddämonisierung mit einer Selbstidealisierung“ (2011: 63), jener „neorassistischen Meistererzählung“, in der „die überlegene ‚westliche Zivilisation‘ durch die Ausbreitung ‚fremder‘ und inkompatibler Kulturen, insbesondere der islamischen bedroht“ (ebd.: 62) wird. Homogenisiert, oft ethnisiert, v.a. essentialisiert, wird ‚der Islam‘ verschoben von einer Glaubensfrage zu einer Kategorie der Rassifizierung (vgl.: ebd.: 60f). Ergänzt wird diese Erzählung bei Schädlich durch eine weitere Bedrohung ‚von innen‘ – nämlich der kritischen Reflexion, die Schädlich mit Begriffen der political correctness Multikulturalismus und Kulturrelativismus besetzt. Spätestens mit seiner Rede von ‚Toleranzaposteln des 20. und 21. Jahrhunderts‘ steht
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in der szenischen Auseinandersetzung mit Schädlich der Toleranzbegriff als von verschiedenen Seiten umkämpfter Schlüsselcode zur Debatte. In Kamenz jedoch fand in dieser Frage offenbar gar keine Diskussion statt. Das Skandalöse an der Kamenzer Rede ist daher weniger die Vereinnahmung Lessings durch Schädlich als vielmehr die Akzeptanz der Verschiebungen durch das Publikum und damit zugleich die heimliche Verschiebung des Toleranzbegriffs hin zu einem anything goes, in dem der Widerspruch entnormalisiert wird. Für die Theatergruppe liegt die Brisanz dieser Dankesrede ganz offensichtlich in dem Widerspruch zwischen dem islamophoben Kampfaufruf im Inhalt der Rede und der Tatsache, dass solches Gedankengut eines Lessing-Preises würdig ist. Das Skript erläutert seine Quellenangabe mit einem kurzen Zusatz, der mit einer Formulierung von Kermani das Schweigen zu diesem Widerspruch konstatiert: „Q.: Hans Joachim Schädlich, Rede bei der Entgegennahme des Lessing-Preises 2003 (Auszüge). Niemand aus dem toleranzbewegten Publikum hat protestiert. / Lessing. Briefe.“ (BW 134)22 Die Sprachlosigkeit, die aus dem Skriptvermerk und noch deutlicher aus Kermanis Polemik hervorgeht, lässt sich auf die Frage der ‚Zulässigkeit‘ zuspitzen, der sich die Frage nach der Macht/agency oder Ohnmacht gegenüber solcher ‚Verdrehung‘ anschließt. ‚Zulässigkeit‘ ergibt sich aus dem Rahmen, in dem Bedeutungsverschiebungen in Repräsentationszusammenhängen möglich sind. Wie bereits ausgeführt, ist die Bedeutung von Zeichen, Worten, Texten nicht fixierbar, sondern muss im Rahmen kultureller Codierung in der Kommunikation ausgehandelt werden. Lessing oder auch ‚seinen‘ Toleranzbegriff auf einen Bedeutungsgehalt zu fixieren, wäre mit einem intentionalistischen Zugang möglich, doch schließt sich daran die Frage nach der Deutungshoheit über Lessings Intentionen an, die nicht zuletzt zu einer divergenten Rezeptionsgeschichte führt.23 Judith Butlers mit Derrida geführte Argumentation zur Frage der Zitierbarkeit, die nicht zuletzt die Debatte um Verbote und damit Unzulässigkeitserklärungen (auch im Sinne einer political correctness) in der Verwendung von Worten oder auch Formulierungen betrifft, befasst sich mit genau dieser Problematik und wirft die Frage nach dem gegensprechenden Umgang mit solchem ‚verdrehenden‘ Sprechen auf: Anhand
22 Siehe auch: Kermani 2010: 41: „Aber die Rede von Schädlich hat mich doch erschüttert; schließlich hat er sie nicht aus irgendeinem Anlaß gehalten, sondern zur Entgegennahme ausgerechnet des Lessing-Preises. Und mir ist nicht bekannt, dass aus dem toleranzbewegten Publikum jemand protestiert hätte.“ (Herv. tm) 23 Die wechselhafte Rezeptionsgeschichte Lessings und des Nathan zeigt auch an, wie unterschiedlich diese Auslegungen verlaufen können: Der Rezeption nach 1945 gehen z.B. vielfältige Indienstnahmen von Lessing voraus; vgl: Barner u.a. 1987: 386–418.
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der Rede von Schädlich wird nämlich erneut erkennbar, dass Aneignungen und Verschiebungen von Bedeutungen oder diskursiv Sagbarem und Unsagbarem, wie Butler sie mit dem Begriff der Re-Signifizierung als Handlungspotenzial des Gegensprechens beschrieben hat, nicht fixierbar sind auf respektvolles – entdiskriminierendes – Sprechen. Im Gegenteil verweisen die hier vorgefundenen Verschiebungen gerade darauf, wie mit den Möglichkeiten der Sprache (insbesondere der Iteration) durchaus auch verletzendes – islamfeindliches – Sprechen ermöglicht wird. Gerade daraus aber ergibt sich auch die Notwendigkeit eines Widersprechens als konstitutives Moment des In-Bewegung-Haltens, das seinerseits aber des Potenzials der Bedeutungsverschiebung im Zitat bedarf. ‚Zulässigkeit‘ muss insofern als Akt des Aushandelns über Zulassen und Widersprechen verstanden werden, an dem die Sprechenden wie auch die Rezipient_innen beteiligt sind und in dem sie Verantwortung tragen. Mit Unzulässigkeitserklärungen das Sagbare und Unsagbare wie auch die Regeln des Sprechens zu fixieren, also den Bereich des Sagbaren einzuschränken, hieße, die eigene Souveränität über das Potenzial der Sprache und das der Veränderung ihres Rahmens aufzugeben.24 Stattdessen gilt es, im Widersprechen die Handlungsmacht über die Lücken der Regulierung zu erhalten und zu nutzen. In Kamenz aber fand gar kein Wider-Sprechen statt und damit auch kein ‚Sprachkampf‘, mit dem um Bedeutungen oder Codes (auch ethische) gerungen worden wäre, damit sie in Bewegung oder gar Verhandlung gekommen wären. In der Auseinandersetzung mit Lessing und dem Toleranzbegriff stellt sich anhand der Rede des Schriftstellers die Frage nach dem Umgang mit solchen Verschiebungen, die die Toleranz in der Toleranz vergraben. Wie und zu welchem Effekt integriert Bombenwetter die Rede Schädlichs? Wie funktioniert an dieser Stelle die Intervention gegen das öffentliche kulturell-rassistische Sprechen, das sich des Vokabulars des Aufklärers bedient, um irrationale Argumentationen für Toleranzverzicht zu verbreiten? Bombenwetter bemüht sich nicht um eine ‚Ent-Drehung‘ oder Richtigstellung Lessingscher Ideale, sondern arbeitet mit der direkten Zitation und entgeht auf diese Weise dem Dilemma in der Frage um Deutungshoheit. Wie in allen Textbearbeitungen geht die Theatergruppe so vor, dass sie einzelne prägnante (Teil-)Sätze aus Schädlichs Gesamttext isoliert und inhaltlich in der Weise verdichtet, dass der Aussagegehalt der Schädlich-Rede auf seine gleichsetzende To-
24 Eine solche Einschränkung von Sagbarem findet auch mit dem Konzept der political correctness statt, die insbesondere im Theater, das explizit mit Stereotypen arbeitet, umstritten ist; vgl. dazu die Diskussionen zur Tagung „Interkulturelle Theater“ am Staatstheater Karlsruhe in Meyer 2010: 72–75.
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talitarismusthese reduziert und zugespitzt wird: ‚Die Demokratie wird dem islamischen Fundamentalismus zum Opfer fallen.‘ Auffällig ist dabei, dass sämtliche Lessing- und Aufklärungsbezüge gestrichen werden: Weder der Anlass der Rede (die Verleihung des Lessing-Preises) noch Schädlichs Lessingappropriation werden auf die Bühne gebracht. Schädlichs Umgang mit Lessing wird somit als ein Akt der Tilgung auf den Punkt gebracht. Was übrig bleibt, ist ein polarisiertes Szenario kultureller Panikmache, in dem für aufklärerische Restbestände kein Platz mehr ist. Damit verfährt die Theatergruppe mit Schädlich genau so, wie dieser mit Lessing: selektiv und rekombinatorisch. Allerdings besteht der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Verfahren darin, dass die Theatergruppe Schädlichs Text durch die isolierte Zitation seiner militantesten Formulierungen und deren Kombination zu einem Kampfaufruf radikalisiert, während Schädlich mit dem Zitat Lessings diesen gerade zu harmonisieren versucht. Im Effekt wird in der Szene die verschleiernde Anschlussfähigkeit Schädlichs an Lessing und die Aufklärung zerstört. In der Inszenierung entsteht mit der Verteilung der Aussagen auf elf Redner eine Art Diskursivierung: Der Inhalt der Rede erscheint nicht länger als die Position eines Einzelnen, sondern als Allgemeingut, common sense. Schädlichs Thesen werden so zur gemeinschaftlich produzierten Kollektivaussage ohne Autor, durch deren Vortrag sich aber das Kollektiv überhaupt erst performativ konstituiert. Auf der Bühne wird die Textmontage dem Publikum chorisch diachron vorgetragen und dabei begleitet von einem hohen Flirrton. Auditiv wird somit eine krimiähnliche Spannung der Bedrohung erzeugt, die auf der visuellen Ebene ein Szenenbild begleitet, das von einer Wand dominiert ist (Abb. 15): Vorn am Bühnenrand stehen neun senkrecht aufgestellte Schultische, die mit frontal zum Publikum gewendeten Tischflächen lückenlos aneinandergerückt sind; hinter dieser Mauer sind die männlichen Sprecher zentral mittig gestaffelt postiert und ausgeleuchtet, so dass ein sprechender ‚Haufen‘ die Mitte dominiert. An den weniger deutlich ausgeleuchteten Seiten der ‚Mauer‘ posieren die schweigend zuhörenden Spielerinnen in zwei Gruppen, die Blicke auf die sprechende ‚Mitte‘ gerichtet. Es entsteht somit einerseits eine Art Mauerschau, in der traditionell das im Theater technisch nicht darstellbare simultane Geschehen narrativ vermittelt wurde – nicht zufällig oftmals Schlachten und Belagerungen; andererseits suggeriert aber vor allem die Mimik der nur zuhörenden Spielerinnen, die Entsetzen, Irritation oder übertriebenes Erstaunen vermitteln, auch eine Nachbarschaftsszene, in der Klatsch und Gerüchte ausgetauscht werden.
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Abb. 15: Bombenwetter „Lessingpreis (Schädlich)“ (Videostill)
Die Szene changiert somit zwischen heroischem Kriegsgeschehen und einer auf ihre Schwundstufe degradierten Öffentlichkeit, in der statt des Räsonnements das Ressentiment vorherrscht. Von der Mitte der Mauer ‚berichten‘ die Spieler in kurzen Zitaten aus Schädlichs Rede von der Konfrontation zwischen den weltpolitischen Antagonisten: Redner 1:
Die Terroranschläge am 11. September waren die Taten islamischer Fundamentalisten. […]
Redner 3:
Das Ziel des islamischen Fundamentalismus ist der Umsturz der gottlosen Regierungen des Westens.
Redner 5:
1937 verbündete sich der religiöse und politische Führer der Araber in Palästina, der Großmufti von Jerusalem, mit Nazideutschland …
Redner 6:
… und ermordete den größten Teil der bosnischen Juden.
Redner 7:
Ein Verwandter des Großmuftis begreift sich als dessen politischer Nachfahre.
Redner 8:
Er heißt Rahman Abdul a-Qudra al Husseini, […] Jasser Arafat.
Redner 9:
Der Totalitarismus im 20. Jahrhundert wurde wesentlich durch den Kommunismus und den Faschismus verkörpert. […]
Redner 11:
Der Kampf zwischen Demokratie und Totalitarismus setzt sich im 21. Jahrhundert fort als Kampf zwischen Demokratie und islamischem Fundamentalismus. (BW 134)
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In dem Maße, in dem die Spielerinnen auf diese Sprechakte mit gierigem Interesse und erregtem Erstaunen reagieren, verdeutlicht sich die Wirksamkeit des wiedergegebenen Szenarios: Die apodiktischen Postulate Schädlichs werden von den Zuhörerinnen bereitwillig auf- und angenommen und – so ist zu vermuten – übernommen.25 Die Mauerschau suggeriert hierbei, dass der Feind gewissermaßen schon vor den Toren steht und aktive Gegenwehr dringendes Gebot der Stunde sei. Die Szene wird insofern auch lesbar als eine Fortsetzung – als denkbare Kon-Sequenz – der Schädlich-Rede: Was in Kamenz vom Podium schweigend entgegengenommen wurde, wird in diesem Bild in der Öffentlichkeit verteilt und schweigend geteilt. Ohne Widerspruch setzen sich die Aussagen fest: Das ohnehin wenig bewegte Bild friert ein.
Coporate Identity des ‚Come Together‘ Diese Szene führt ein Leitmotiv ein, das mehrere der folgenden Szenen verbindet: die Vorstellung einer nicht-aufgeklärten Öffentlichkeit, die (ausgehend von solchen Bedrohungsszenarien) als eine auf Ausschluss gegründete WirGemeinschaft gezeigt wird. Zwar erfolgt im direkten Anschluss an das erstarrte Bild des ‚Geredes‘ über den Zaun oder die Mauer eine kurze – und letzte – Intervention gegen solches Mitläufertum: Zwei Szenen appellieren an individuelles ‚Selber-Denken‘ („Gedankenfreiheits-Rap“) und das kritische Zeitungslesen („Nachrichten“) als Momente einer Öffentlichkeit, die an der Kantischen Vorstellung von Aufklärung als Austritt aus der Unmündigkeit orientiert ist. Aber: An Schädlichs islamophobe, kriegsanstiftende Lessingpreis-Rede schließt sich schon bald die Ankündigung ihrer handfesten Umsetzung in militärische Gewalt an, die durch erneut chorisch vorgetragene Zitatpartikel aus Ansprachen von George W. Bushs zur Irak-Intervention repräsentiert wird. Auch diese Szene betont die ‚Austreibung‘ der Aufklärung, da die Auswahl der eingestreuten Bush-Zitate gerade auf jenen Teil der damaligen Kriegsrhetorik verzichtet, der sich in die Tradition der Aufklärung stellte (Verteidigung von Freiheit, Liberalismus und Toleranz). Stattdessen setzt sie einen starken Schwerpunkt auf
25 Bei aller Raffinesse, mit der dieses Szenenbild angelegt ist, stellt sich doch die Frage nach der gegenderten Zuweisung von Positionen hier noch einmal besonders eindringlich. Denn die – in der gesamten Collage – vorgenommene choreografische nahezu trennscharfe Differenzierung zwischen Männern und Frauen ist nicht nur unnötig – sie affirmiert gesellschaftliche Geschlechterdefinitionen, statt sie ebenso zu reflektieren wie die Herstellungen des ‚kulturell‘ Eigenen und Anderen.
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der religiösen und geschichtsteleologischen Semantik der ‚Allianz der Willigen‘. Stärker noch als bei Schädlich ist diese Zitatencollage von einem expliziten Gottesbezug und dem Anspruch auf eine religiös fundierte historische Mission geprägt, so dass der Irakkrieg rhetorisch zum Kreuzzug gegen „das Böse“ (BW 135) wird. Entsprechend konstruiert der US-Präsident eine dichotom geordnete Welt und produziert eine Rhetorik, die das Wir der bedrohten US-Nation in Abgrenzung vom Anderen zusammenschweißen soll. SchülerIn:
Wir müssen die Welt vom Übel befreien. […]
SchülerIn:
Von Pakistan über die Philippinen bis zum Horn von Afrika machen wir Jagd auf die Mörder.
SchülerIn:
Auf der ganzen Welt bringen wir die Mörder einen nach dem anderen zur Strecke.
SchülerIn:
Wir zeigen ihnen, wie sich amerikanische Gerechtigkeit definiert. […]
SchülerIn:
Wir müssen dem Bösen durch Gewalt Einhalt gebieten.
SchülerIn:
Das Böse ist offenkundig. […]
SchülerIn:
Gott hat uns aufgerufen, unser Land zu verteidigen und die Welt zum Frieden zu führen. (BW 135; Herv. tm)
Abb. 16: Bombenwetter „Busch-Reden & Umarmungen 3“ / Hand-aufs-Herz (Videostill) Auch hier vollzieht sich Gemeinschaftsbildung performativ und zwar im Zustimmung suggerierenden Nach-und-Nach des Aufstehens. Die Szene wird im Skript folgendermaßen eingeleitet: „Lessing steht an seinem Arbeitsplatz auf, legt die Hand aufs Herz und beginnt, die amerikanische Nationalhymne zu summen. Nach der ersten Phrase stimmen alle von ihrem Platz her in das Summen ein. Nacheinander erheben sich alle, sprechen ihren Anteil der Bush-Rede und legen im Anschluss ebenfalls die Hand aufs Herz.“ (BW 135) Das Aufste-
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hen und Hand-aufs-Herz-Legen kommt in dieser Szene dem Glaubensbekenntnis nahe, dessen ideologische Macht Louis Althusser in der performativen Aktion des non-verbalen Rituals beschreibt. Subjektivierende Interpellation beschreibt er am Beispiel des Niederkniens zum Beten: „Knie nieder, bewege deine Lippen zum Gebet, und Du wirst glauben.“ (Althusser 2006: 114, Übers. tm). Genau diese Subjektivierung wird in der Szene gezeigt: Die US-amerikanische Hymne summend gibt ‚Lessing‘ mit seiner Geste das Ritual des (Fahnen-)Eides vor, zu dessen performativem Anschluss es ‚keine Alternative‘ gibt. Mit dieser Orientierung (Ahmed) arbeitet die Gruppe wieder, indem sie das Ritual ausstellt. Das in Filmen oft eingesetzte Mittel des sukzessiven verzögerten Anschlusses der Einzelnen an die Gemeinschaft suggeriert dabei die graduelle symbolische Vervollständigung der Nation (als Prozess der Nationsbildung) auf der Grundlage individueller Entscheidungen. Zugleich lädt die Atmosphäre der Situation des gemeinschaftlichen Zusammenkommens, dessen teleologischer Endpunkt das Zusammensein ist, emotional auf (z.B. die Marseillaise-Szene in Casablanca).
Abb. 17: Bombenwetter „Bush-Reden & Umarmungen 3“ / Würgegeste (Videostill) Im Gegensatz hierzu führt die Hymnen-Szene in Bombenwetter diese Strategien gemeinschaftsbildender Interpellation vor, ironisiert und ent-emotionalisiert sie jedoch durch die dokumentarische (und z.T. überspitzte) Vortragsweise der Textauszüge. Den nacheinander mit ausgestellt feierlicher Überzeugung ins Publikum gesprochenen Sätzen, mit deren Verteilung auf die ganze Gruppe ihr Gehalt als nationaler und darüber hinausweisender Konsens ausgewiesen sind, folgen nach der letzten Aussage „I am a War President“ (BW: 135) dann Gesten
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des Würgens (Abb. 17). Mit dieser nun synchronen und zeitlupenartigen Bewegung wird im Gegensatz zur vorangegangenen diachronen Zusammenkunft der Eindruck eines gemeinsamen ‚plötzlichen Erkennens‘ oder ‚Erwachens‘ erweckt. Lessings einziger Kommentar dazu ist die bekannte Formel des „Kinderchen liebt Euch!“
Der Patriarch spricht Die nächste Szene dieser Serie demonstriert das Leitmotiv antiaufklärerischer Gemeinschaftsbildung in ihrer radikalsten Form. Es handelt sich um ein längeres Zitat aus einem von dem SS-Reichsführer Heinrich Himmler initiierten antisemitischen und antisowjetischen Pamphlet von 1942, mit dem im Zuge des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion die ‚deutsche Volksgemeinschaft‘ gegen die ‚jüdisch-bolschewistische Kontamination‘ ideologisch mobilisiert werden sollte. In der Beschreibung von Franziska Schmidt werden erschreckende Analogien zu den polarisierenden Reden der Gegenwart erkennbar: [Die] Hetzschrift [verbreitete] auf schreckliche Art und Weise […], dass die Bedrohung und Verrohung der Welt von den jüdischen Bolschewisten und den „Russen“ ausging. Europa, sein Glauben, seine Kultur und seine Menschen waren dem Untergang geweiht, wenn nichts gegen diese Gefahr aus dem Osten unternommen werden würde. In den brutalsten Gegenüberstellungen mittel Texten und Bildern […] versuchte diese Schrift ein Horrorszenario aufzuzeichnen, was geschehen könnte, wenn die Juden und der Bolschewismus in Europa an die Macht kommen. (Schmidt 2005: 182)
In ihrer Untersuchung von Visualisierungsstrategien der Nazipropaganda beschreibt Franziska Schmidt, wie nicht nur über Fotografien „Angst, Abscheu, Ekel und Ablehnung […] beim Anblick der Geschichte und Gestalten ‚der Anderen‘ aufkommen“ sollten (ebd.: 182). Ihre Erläuterung des in Bombenwetter integrierten Textauszugs, dessen Funktion und Funktionieren, macht im Besonderen die Nähe zu der sprachlich-visuellen Rhetorik erkennbar, die in dieser Szenenfolge, in deren Mitte diese Szene platziert ist, Thema wird: Das manichäische Prinzip des Gut und Böse, das Bush ebenso wie Schädlich aktiviert, wird mit der aufgegriffenen Himmler-Passage in einem quasi kosmischen Binarismus von ‚Licht‘ gegen ‚Dunkel‘ auf die Spitze getrieben und so unverhüllt in seinem extremistischen Rassismus angezeigt, der den Gegner zum ‚Untermenschen‘ degradiert. Mit diesem Rekurs auf die nationalsozialistische antisemitische Rhetorik und dem indirekten Verweis auf ihr erklärtes Ziel der Vernichtung, das trotz
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seiner historischen Exzeptionalität in seinen rhetorischen Strategien problemlos in die Serie passt, wird der eklatanteste historische Fall von Rassismus als in seiner Struktur mit den in den vorangegangenen Szenen präsentierten Rhetoriken vermittelbar dargestellt. Auf radikale Weise wird dem toleranzbeschwingten „Wir sind so gut“ seine Kehrseite gegenübergestellt. Zugleich verweist diese Szene darauf, dass der aktuelle islamophobe Diskurs Parallelen zum Antisemitismus aufweist. Yasemin Shooman stellt solche Analogien26 nicht nur „hinsichtlich des argumentativen Rückgriffs auf religiöse Schriften“ und der Verwendung des Topos der ‚schleichenden Unterwanderung‘ fest (vgl.: Shooman 2011: 71). Sie konstatiert zudem, dass in beiden Rassismen Religion ethnisierend und rassifizierend zur Herstellung von Kollektiven eingesetzt wird, deren ‚Gefahr‘ nicht zuletzt durch eine Rhetorik der Unüberschaubarkeit im Weltmaßstab produziert wird: Mit dem Antisemitismus teilt der antimuslimische Rassismus, dass seine Objekte sowohl in religiösen als auch in ethnischen Kategorien erfasst und einem transnationalen Kollektiv zugeordnet werden (ebd.). Die in dieser Szene vorgetragene antisemitische NS-Propaganda verweist nicht nur auf ihre historisch faktische Zielsetzung und Folge, die Shoah. Ihren eigentlich schockierenden Effekt produziert sie erst in der Zusammenschau mit den Szenen der gesamten Sequenz, in der diese eine Gelenkstelle zu den zwei folgenden Szenen bildet. Denn auf die Reden von Schädlich und Bush folgen nach dem Himmler-Auszug ein Ausschnitt aus der Patriarchen-Szene und die Rede des MdB Martin Hohmann. Diese Kombination der Textauszüge markiert auf radikale Weise nicht nur die Kontinuität der Verwendung eines Vokabulars des Vernichtungswillens. sondern lässt dies zur Schuldabwehr sogar in die Verkehrung von Täter und Opfer münden. Die Patriarchenszene (Abb. 18/19) in Lessings Nathan ist in der Präsentation quasi auf die Wiederholung der Anweisung reduziert, die im Dialog zwischen dem fragenden Tempelherrn und dem Oberhaupt der christlichen Besatzungsmacht dominant ist: „Tut nichts, der Jude wird verbrannt.“ Ist dieser Satz bei Lessing gerade der Figur zugewiesen, die die machtorientierte Intoleranz der Kirche als die eigentliche Gefahr – innerhalb der eigenen Gesellschaft – repräsentierte. so stellt Bombenwetter mit diesem Satz eine historische Linie auf, die Lessings zwei historische Referenzpunkte (das 12. und das 18. Jahrhundert) mit einem dritten im 20. Jahrhundert verbindet.
26 Über die Analogie in der Figur der ‚kulturellen Bedrohung‘ hinaus, wie sie mit dem Bild eines weltumspannenden Kollektivs aufgebaut wird, lässt sich eine weitere feststellen, die Shooman mit dem Vorwurf eines ‚parasitären Daseins‘ benennt, den sie in den antimuslischen Diskursen entdeckt (vgl. Shomann 2010: 70).
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Abb. 18 und 19: Bombenwetter „Tempelherr & Patriarch“ / Blickwechsel zwischen Tempelherr und Patriarch (Videostills)
Diese Linie steuert schließlich mit der letzten Szene der Sequenz auf die schockierende Aktualität in der Anwendung solchen Nazi-Vokabulars zu – und zwar nicht, wie zu erwarten wäre, in den Reihen der Neuen Rechten, sondern von dem CDU-Abgeordneten des Bundestages, Martin Hohmann. Dieser hielt anlässlich des 3. Oktober 2003 eine Rede, die (immerhin!) zum Skandal wurde, weil er seine Forderung nach „Gerechtigkeit für Deutschland“ mit einer Relativierung des Nationalsozialismus begründete, den er etwa mit der Französischen Revolution und Herrschaft Napoleons als „das dunkle Kapitel“ der französischen Geschichte verglich. Darüber hinaus hob seine Rede vor allem aber auf den ‚Nachweis‘ ab, dass nicht nur ‚die Deutschen‘, sondern auch „die Juden als Tätervolk“ zu betrachten seien (Hohmann 2003). Das Ziel der Rede, die mit Verweisen auf ‚Schmarotzertum‘ beginnt, ist die Hinterfragung von Entschädigungszahlungen an Opfer des NS und eine Entlastung durch Abwehr von Verantwortung, also die Schuldabwehr, die hier als ‚Schuldumverteilung‘ bezeichnet ist. Hohmann begründet seine antisemitische27 Position mit dem aus der NS-Rhetorik bekannten
27 Sekundärer Antisemitismus bezeichnet einen Antisemitismus der Selbstentlastung, der nach 1945 in engem Zusammenhang mit der Frage der Erinnerung an den Holocaust und der Frage nach Verantwortung steht. Er zeichnet sich durch Schuldabwehr und Schuldverschiebung aus und stellt in der Verlängerung u.a. Entschädigungszah-
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Topos der statistisch und ‚qualitativ‘ besonders hohen Beteiligung jüdischer Menschen an der bolschewistischen Bewegung, der Oktoberrevolution sowie anderen kommunistischen oder räterepublikanischen Bewegungen im Europa des frühen 20. Jahrhunderts und stützt sein Gedankengebäude auf antisemitische Quellen wie Henry Fords The International Jew (1920). Während Hohmann auf diesem Weg einerseits eine ethnisierte kollektive ‚jüdische‘ Identität konstruiert, auf deren Basis die Rede vom „jüdischen Volk“ (ebd.). überhaupt erst Sinn macht, stellt er gleichzeitig eine Neuversion der Totalitarismustheorie vor, die in diesem Fall – gewissermaßen als Clou der Rede – Faschismus und Kommunismus auf den gemeinsamen Nenner der „Gottlosigkeit“ (ebd.) bringt. Nichts an solchen Positionen ist neu, und doch reklamiert der Vortrag für seinen geschichtsrevisionistischen antisemitischen Gehalt strategisch sogar einen Anspruch auf Aufklärung. Denn er suggeriert, dass hier unsagbar Gemachtes zur Sprache gebracht würde. Hohmann positioniert sich so als Kämpfer für die Rede- und Gedankenfreiheit. Dieser Gestus des Tabubruchs, des ‚endlich einmal offen zu sagen, was gesagt werden muss‘, hat sich auf unterschiedlichsten intellektuellen Niveaus als Leitmotiv rechtspopulistischer wie auch rechts-elitärer antidemokratischer Vorstöße erwiesen. Von Botho Strauß bis Schädlich und später Sarrazin behaupten sie den Mythos einer mit der Keule der political correctness Zensur verhängenden linken Hegemonie. Während Hohmann diesen Mythos erneut bedient, findet sich in seiner Rede der ebenso wiederholte Gestus einer dichotomen Frontstellung, mit der er nicht zuletzt um die Definition der Inhalte ringt, zu deren Aufklärung im Sinne einer Enthüllung er sich bemüht: Die Deutschen als Tätervolk. Das ist ein Bild mit großer, international wirksamer Prägekraft geworden. Der Rest der Welt hat sich hingegen in der Rolle der Unschuldslämmer – jedenfalls der relativen Unschuldslämmer – bestens eingerichtet. Wer diese klare Rollenverteilung – hier die Deutschen als größte Schuldigen [sic] aller Zeiten, dort die moralischen überlegenen Nationen – nicht anstandslos akzeptiert, wird Schwierigkeiten erhalten. Schwierigkeiten gerade von denen, die als 68er das „Hinterfragen, das Kritisieren und das
lungen für die Opfer in Frage. „Der sekundäre Antisemitismus ist ein Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen Ausschwitz, das heißt die für die Tätergesellschaft belastenden Folgen werden den Opfern anzulasten versucht.“ (Rommelspacher 1998: 47.) Monika Schwarz-Friesel konstatiert im sekundären Antisemitismus auch den bereits für den Islam und den Antisemitismus analog gesetzten Topos des Parasitären (vgl. Shooman 2011: 70): „Im sekundären Antisemitismus findet sich als Kernaussage, dass Juden den Holocaust ausnutzen, um den deutschen Staat moralisch und finanziell unter Druck zu setzen.“ (Schwarz-Friesel 2010: 33)
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308 | G EGEN -B ILDER : B OMBENWETTER . D AS K OPFTUCH HÄLT Entlarven“ mit großem persönlichen Erfolg zu ihrer Hauptbeschäftigung gemacht haben. (Hohmann 2003)
Abb. 20: Bombenwetter „Hohmann-Rede und Bierdosen“ (Videostill)
Die Wolfenbütteler Theatergruppe visualisiert diese Form der Verkehrung des Aufklärungsgestus in eine rhetorische Strategie, mit der Antiaufklärung und Demagogie betrieben werden, indem sie Hohmanns Rede genau dorthin verlegt, wohin sie ihrem Niveau entsprechend gut passt: an den Stammtisch – der zumindest durch die Bildkontinuität der langen Tafel, in die Patriarchen-Szene eingebettet ist (Abb. 20).28 Die vermeintlichen Aufdeckungen ‚unbequemer Wahrheiten‘ und als Tabubrüche daherkommenden Plattitüden des Sprechers werden von den später mit Bierdosen ausgestatteten Zuhörer_innen mit entsprechenden Beifallsbekundungen quittiert. Hohmann:
Meine Damen und Herren, das deutsche Volk hat nach den Verbrechen der Hitlerzeit sich in einer einzigartigen, schonungslosen Weise mit diesen beschäftigt, um Vergebung gebeten und im Rahmen des Möglichen eine milliardenschwere Wiedergutmachung geleistet, vor allem gegenüber den Juden.
Stammtisch: Sehr richtig! Stammtisch: Irgendwann muss auch ein Schlussstrich gezogen werden! Stammtisch: Genau! Hohmann:
Auf diesem Hintergrund stelle ich die provozierende Frage: Gibt es auch beim jüdischen Volk, das wir ausschließlich in der Opferrolle wahrnehmen, eine dunkle Seite in der neueren Geschichte oder waren Juden ausschließlich die Opfer, die Leidtragenden?
28 Im Videostill sind der Tempelherr links und der Patrirch rechts noch an den Kopfenden der Tafel im Freeze sitzend erkennbar.
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Stammtisch: Immer sind wir Deutschen die Bösen! Stammtisch: Genau! Stammtisch: Mehr Mut zur Wahrheit! Stammtisch: Bravo. […] Stammtisch: Leider werden solche Meinungen nur zu gern unterschlagen. Stammtisch: Jawohl! Stammtisch: Hört hört! […] Stammtisch: Wehe, man ist dieser Meinung, dann heißt es gleich: Nazis, Holocaust. Stammtisch: Genau! (BW 136)
Abb. 21: Bombenwetter „Hohmann-Rede & Bierdosen“ (Videostill, Originalgröße)
Die Bestätigungen des Vorgetragen mit den repetitiv rhythmisierenden Einwürfen von „Hört hört! – Sehr richtig! – Genau! – Bravo! – Genau! – Bravo! – Sehr richtig! …“ kulminiert in Aussagen wie „So denkt die Mehrheit unseres Volkes auch“ und „Wir brauchen mehr mutige Leute wie Sie!“ (BW 136). Wie alle Textfragmente der Szenencollage sind auch diese Sätze keine Fiktion. Mit der Wiedergabe nicht nur von Zitaten aus anonymen Blogs, sondern darüber hinaus aus Stellungnahmen hochrangiger Generäle der Bundeswehr29 konfrontiert die
29 Die Rheinzeitung berichtete am 3. Nov. 2003 von einem Kommentar des Chefs des Kommandos Spezialkräfte der Bundeswehr, Brigadegeneral Reinhard Günzel, in dem
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Schüler_innengruppe ihr Publikum mit einer Dokumentation der Zustimmung zu Hohmanns Denken über den Stammtisch hinaus bis in die Führungsriegen des Staatsdienstes.
Toleranzdiktat Das im Anschluss kollektiv angestimmte Lied von der Gedankenfreiheit (Abb. 21) unterstreicht, wie problemlos sich eine solche Demagogie auf das Prinzip der freien Öffentlichkeit – also einen Grundwert der Aufklärung – berufen kann, sobald dieses zum leeren Formalismus der ‚Gleich-Gültigkeit‘ verkommt. Sowohl Schädlich als auch Hohmann diffamieren das Prinzip der political correctness gleichermaßen als Knebelung und Gesinnungspolizei. Das ist kein Zufall, denn political correctness basiert auf dem Anspruch, gesellschaftliche Konsense über die Verantwortung im Sprechen und Handeln anzustreben oder zumindest die Verantwortung anzuerkennen und verletzendes Sprechen als Handeln verhandelbar zu machen.30 Bombenwetter inszeniert nicht nur die völlige Abwesenheit solcher Konsense, sondern auch die Abwesenheit der Aushandlung dessen, was Konsens sein könnte oder müsste, und spielt provokant mit den Konsequenzen einer Öffentlichkeit, die sich jeder ‚politischen Selbstkorrektur‘ entzieht. Beim Publikum provozieren die Szenen die Frage nach den Grenzen der Beliebigkeit und zwingen somit zur kritischen Infragestellung genau jenes dominanten seichten Toleranzbegriffs, zu dem die Kanonisierung Nathans beigetragen hat: „Toleranz kann überhaupt nur Bedeutung haben, wenn etwas gilt, das etwas anderes gelten lassen könnte. Wenn alles gleich gut und gleich gültig, also gleichgültig ist, erübrigt sich Toleranz.“ (Kermani 2010: 44) Der wesentliche Impuls, der von dieser Szenenfolge ausgeht, besteht scheinbar paradoxerweise in einem Aufruf zur Intoleranz – zunächst gegenüber dem biologistischen Rassismus des ‚Untermenschen‘-Diskurses, zugleich aber auch
er sich herzlich für die Rede bedankte und dabei den „Mut zur Wahrheit und Klarheit [wie man ihn] in unserem Land nur noch selten hört und liest“ lobt (vgl.: Rheinzeitung online 2003). 30 Vgl. dazu auch die lange Auseinandersetzung Butlers mit gesetzlichen Verboten von bestimmtem Sprechen und den Prozessen der Definition. Butlers Plädoyer gegen Zensur, auf das ich bereits mehrfach eingegangen bin, ist m.E. aber gerade auch ein Plädoyer für die Verhandlung dessen, was verletzt, was verletzend und verletzbar ist – d.h. für den sorgsamen Umgang mit Sprache, allerdings ohne die stetige Wiederholung der Verletzungen (vgl. Butler 2006, insb.: 199–261).
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gegenüber einer kriterienlosen anything-goes-Toleranz, die die Reproduktion (und somit Affirmation) solcher Rede möglich macht. Dieser toleranzskeptische Appell umfasst die einmontierten, kulturell-rassistischen Zitate (Schädlich und Bush) wie auch die antisemitische Rede Martin Hohmanns. Gegen das von Kermani ausführlich kritisierte, sich auf Nathan berufende dominante Gleichgültigkeitsdiktat bildet Bombenwetter in dieser Hinsicht eine Gegenstimme, die sich im Rückgriff aus Herbert Marcuse als Kritik ‚repressiver Toleranz‘ beschreiben ließe: Toleranz wird auf politische Maßnahmen, Bedingungen und Verhaltensweisen ausgedehnt, die nicht toleriert werden sollten, weil sie die Chancen, ein Dasein ohne Furcht und Elend herbeizuführen, behindern, wo nicht zerstören. […] Der politische Ort der Toleranz hat sich geändert: während sie mehr oder weniger stillschweigend und verfassungsmäßig der Opposition entzogen wird, wird sie hinsichtlich der etablierten Politik zum Zwangsverhalten. Toleranz wird von einem aktiven in einen passiven Zustand überführt, von der Praxis in eine Nicht-Praxis: ins Laissez-faire der verfassungsmäßigen Behörden. Gerade vom Volk wird die Regierung geduldet, die wiederum Opposition duldet im Rahmen der verfassungsmäßigen Behörden. (Marcuse 1966: 91)
Anders als bei Marcuse, der seine Ablehnung ‚repressiver Toleranz‘ von einer deutlich parteilich markierten und Parteilichkeit einfordernden Position aus formuliert und im Namen der ‚Emanzipation‘ vorträgt, bleibt in Bombenwetter genau eine solche Selbstpositionierung ebenso aus, wie die Bestimmung eines positiven Gegenbegriffs zu dem, was kritisiert und im doppelten Sinn vorgeführt wird. Denn Lessing oder ‚die‘ Aufklärung sind keinesfalls unproblematische Referenzpunkte, von denen aus eine Gegenstimme gebildet werden könnte. Mit der Wiedereröffnung eines ‚Fragmentenstreits‘ wird Lessings Ideal der Toleranz (als pars pro toto für Aufklärungsideale) entfixiert und zum umkämpfbaren Schlüsselcode reanimiert. Dessen aktuelles Bedeutungsfeld ruft – wie Bombenwetter im zweiten Teil überdeutlich demonstriert – eben nicht nur zur Völkerverständigung und zum interkulturellen Miteinander auf, sondern ebenso zur indirekten, aber auch direkten Legitimierung von Othering, Rassismen und sogar Kriegsführung im Namen der Verteidigung von ‚Kulturen‘. Der domestizierte Mainstream-Lessing kann gegen diese Positionen nichts ausrichten – nicht (nur), weil sich die öffentlichen Sprecher solcher Positionen eines offiziell kanonisierten Lessings bedienen können, um genau jene Aufklärung als ‚uns gehörend‘ zu ‚verteidigen‘, sondern, weil Lessings Ring mittlerweile so groß geworden ist, dass – geradezu im Sinne einer „Repressiven Toleranz“ Marcuses – alles hineinpasst (vgl.: Kermani 2010: 41). Dass die Collage ‚Lessing‘ im zweiten Teil im-
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mer seltener (wider-)sprechen lässt, mag einerseits auf die dominante Tradition des irenischen an Stelle des polemischen Lessing verweisen; es markiert aber auch genau die Abwesenheit, das Ausbleiben einer aus der Aufklärung ableitbaren Gegenstimmbildung als Leerstelle, die einen Appell an das Publikum impliziert, das seine Verantwortung weder an den alten Dichter noch auf die Gewissheit einer vermeintlichen Aufgeklärtheit abschieben kann. Stattdessen ist es aufgefordert, die durch die Aufführung vorenthaltene Positionsformulierung selbst vorzunehmen in einem aufklärerischen Akt eigenständigen Denkens, das ‚sich des eigenen Verstands ohne fremde Anleitung bedienen‘ muss. Im letzten großen Szenenbild übernimmt die Theatergruppe für das Bild des Stammtischs die lange Tafel aus der Patriarchen-Szene und deutet so auf der visuellen Ebene einen Bezug zwischen dem Nathan-Zitat und der Rede Hohmanns an, der in der neuen Figurenanordnung – nämlich über die Ähnlichkeit des Tableaus mit Leonardos Abendmahl – hergestellt wird: Der Redner steht zentral an der langgestreckten Tafel, um ihn herum gruppieren sich die zuhörenden und zustimmenden ‚Jünger‘ in kleinen, stets der zentralen Figur zugewandten Grüppchen. Der ‚Stammtisch‘ wird so gewissermaßen ins Religiöse überhöht; der Demagoge, der sich selbst in der Rolle des Opfers ‚linker Hegemonie‘ stilisiert, wird zum Quasi-Messias. Visuell wird hiermit ein Element der Rede Martin Hohmanns angedeutet, das im Skript der Szene nicht vorkommt, nämlich die massive Indienstnahme einer christlichen Rhetorik. So verweist Hohmann in seiner Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Kommunismus qua „Gottlosigkeit“ ausdrücklich auf die „Notwendigkeit einer Rückbesinnung auf unsere religiösen Bindungen und Wurzeln“ (Hohmann 2003), fordert den Gottesbezug für die europäische Verfassung und schließt somit nicht nur an die intolerante Machtpolitik des Patriarchen an, sondern ebenso an die Gottesbezüge des amerikanischen Präsidenten George W. Bush, dessen „God bless America“ geradezu wie eine Vorlage erscheint: „Mit Gott in eine gute Zukunft für Europa! Mit Gott in eine gute Zukunft besonders für unser deutsches Vaterland!“ (Ebd.) So wird dieses Stammtisch-Abendmahl in der Pose des öffentlichen Räsonnements zelebriert – als ‚provozierendes Fragen‘ und in vager Anlehnung an Kant als ‚Mut zur Wahrheit‘. Lessing und sein Nathan haben in dieser polemischen Neuverortung keinen Platz mehr, schon gar nicht die Botschaft von den drei gleichen Ringen. Es entsteht gewissermaßen eine Leerstelle. Die Komposition der Bilder und das Szenenarrangement bauen aber auf der Grundlage gerade dieser Leerstelle das Moment der Empörung auf, das die Collage begleitet: So steht diesen tableaux vivants das Publikum gegenüber, das die Leere der alten Botschaften selbst zu füllen hat. Indem die rassistischen Text-Fragmente im Effekt an das Publikum ge-
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richtet sind, verläuft die Frontlinie des neu eröffneten ‚Fragmentenstreits‘ nämlich entlang der Bühnenkante. Dieser wird insofern mit der – theatralen – Öffentlichkeit geführt, die, so wird unterstellt und auch (institutionell) erwartet, ‚nichts sagt‘. In diesem Nichts-Sagen sammelt und mischt sich die institutionelle Verpflichtung des schweigenden Zuschauens mit einer unterstellten – über die Theatersituation hinausgehenden – Haltung des Zuschauens ohne Intervention. Diese Haltung stellt die Frage nach einer Öffentlichkeit, die sich bereits ‚im Besitz der Aufklärung‘ wähnt, deren Positioniertheit zur Debatte steht und deren NeuPositionierung das Theaterstück so konfrontativ provoziert. Formal bedient sich die Theatergruppe dabei der Arbeit mit dem Chor, der klassischerweise als Repräsentant der Öffentlichkeit funktioniert, zugleich aber, wie ich in meinem letzten Teil herausarbeiten möchte, in seiner an das Publikum gerichteten Frontalität eine konfrontative und re-polemisierende Radikalität ausstrahlt – und herausfordert.
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Re-Arrangieren
Neun Schultische mit je zwei Stühlen, akkurat aufgestellt in Reihen à drei mal drei, bilden das Grundsetting des ersten Teils. Es geht um Schule. Bombenwetter führt Schule als gerastertes Handlungsfeld ein, das den Rahmen für die Lehre der Toleranz absteckt. Achtzehn weiß geschminkte Figuren lernen hier Aufklärung ‚für’s Leben‘. In überzeichnender Weise problematisiert die Theatergruppe genau jene Bildungstradition, in der Nathan und die Aufklärung als verbindlicher Lernstoff zum Gegenstand mechanistischen schulischen Drills werden: Mit dem Begriff der Gelehrigkeit, den Foucault für eine neue Form der Entdeckung und Unterwerfung des Körpers im 18. Jahrhundert und seiner Bearbeitung nach bestimmten Methoden, den Disziplinen1, gefunden hat, lässt sich das der Inszenierung als visuelles Leitmotiv dienende Grundbild schulischer Anordnung – der Chor – gut fassen. Die Anordnung von Lehren korrespondiert dabei mit der Anordnung von Schüler_innen und ihren Körpern und fusioniert in den choreografischen Szenenbildern zu einer Gelehrigkeit, die das Ideelle aufs engste mit dem Körperlichen verbindet: Räumlich, zeitlich und in den Bewegungsabläufen im Detail aufeinander abgestimmt, wird eine Bildungssituation aufgestellt, die das Theaterspielen in der Schule im 21. Jahrhundert als ebenso mechanistischen Zwangsapparat vorstellt wie Lessings Schulalltag im 18. Jahrhundert. Mit einem Bild körperlicher Züchtigung, das Foucaults Beschreibungen aus Überwachen und Strafen (1994) 1:1 entnommen sein könnte, lernen wir den Schulalltag Lessings kennen, dessen Präsentation als choreografisches tableau vivant die Schüler_innen des THG in eben dieselbe Situation versetzt: Die Schülerinnen stehen breitbeinig auf den Tischen und schlagen rhythmisch-synchron Lineale in die Hände – oder: „kleine hölzerne Geräte“, wie sie „die christlichen
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„Diese Methoden, welche die peinliche Kontrolle der Körpertätigkeiten und die dauerhafte Unterwerfung ihrer Kräfte ermöglichen und sie gelehrig/nützlich machen, kann man die ‚Disziplinen‘ nennen.“ (Foucault 1994: 175)
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Schulbrüder“ verwendeten (Foucault 1994: 215). Die Männer ziehen kleine Schreibtafeln unter ihren Bänken hervor und knallen sie gleichzeitig laut auf den Tisch. Die Frauen beginnen in strenger, lauter Stimme (synchron): „Lessing war ein guter Schüler“ – Schlag – „aber etwas mokant“ – Schlag … (BW 130) Im Wechsel zu diesen zeitgenössischen Kommentaren liest ‚Lessing‘ seinen Tagesablauf an der Schule im 18. Jahrhundert vor, dessen rhythmische Taktung durch das chorische Wechselsprechen besonders hervorgehoben wird: Lessing: … Aufstehen im Sommer um 4.30 Uhr, im Winter um 5.30 Uhr; Frauen:
Nicht unbedeutend begabt. [Schlag]
Lessing: Waschen am Brunnentrog im Hof, Reinigen der Kleidung und der Schuhe unter der Aufsicht eines älteren Schülers; Frauen:
Er bedurfte strenger Leitung, [Schlag] um ordentlich und fleißig [Schlag] seine Schuldigkeit zu tun.
Lessing: Morgenandacht, Tischgebet in Griechisch, Latein und Deutsch; Frühstück; […] Frauen:
Die Lektionen, [Schlag] die anderen zu schwer wurden, [Schlag] waren ihm kinderleicht. [Schlag] […]
Frauen:
Wir konnten ihn fast nicht mehr brauchen. [Schlag] (BW 130)
Nach diesem letzten Satz über Lessing, der als ausgesprochen intelligent und eigensinnig aufgebaut wird, wechselt das die Szene einführende und begleitende ruhige Cembalo-Spiel aus dem Off in das Stakkato einer Stör-Musik, die den Rhythmus des Abstiegs der Frauen von den Tischen laut und hart vorgibt. Zu einem Trommelrhythmus auf Tonnen, der immer schneller wird, führen sie dann neben den Tischen Gymnastik-Übungen aus, während die Männer in Ruhe Tücher als Lätzchen umlegen und ihre Pausenbrotverpackungen öffnen.
A N /O RDNUNGEN Dies ist die Welt der Signale, die Foucault beschreibt: eine Welt, in der wortlose Befehle in den zeitlich rhythmisierten Abläufen eingekörpert sind. Die Körper befinden sich in einer kleinen Welt von Signalen, denen jeweils eine einzige obligatorische Antwort zugeordnet ist: es handelt sich um eine Dressurtechnik, die „despotisch die winzigste Vorstellung und das geringste Murmeln ausschließt“; der disziplinierte Soldat „beginnt zu gehorchen, was immer man befiehlt; sein Gehorsam ist prompt und blind; jeder Anschein von Ungelehrigkeit, das leiseste Zögern, wäre ein Verbrechen“. Die Dressur der Schüler muß sich in derselben Art vollziehen: wenig Worte, keine Erklä-
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rung, im Grenzfall ein totales Stillschweigen, das nur durch Signale unterbrochen wird – durch Glocken, Händeklatschen, Gesten, durch den bloßen Blick des Lehrers oder durch jenes kleine hölzerne Gerät, dessen sich die christlichen Schulbrüder bedienten; es war das „Signal“ schlechthin und mußte mit seinem einfachen Anschlag sowohl die Technik des Befehls wie die Moral des Gehorsams heben. (Foucault 1994: 214f)
„Das leiseste Zögern wäre ein Verbrechen“: Der Zwang zum Gehorsam, mit dem in der soldatischen und schulischen Situation des 18. Jahrhundert die Techniken der Disziplinierung die Körper definieren und politisch besetzen – Foucault spricht von einer „Mikrophysik der Macht“ (ebd.: 179) – sind ohne Weiteres übertragbar auf die Situation, die sich vor den Augen des Publikums abspielt: Wer hier aus der choreografischen Abfolge von Bewegungen ausschert, wer nur eine Sekunde in diesem präzise ausgeführten Bewegungsbild aus eingeübten Posen abweicht, stört in dieser theatralen Vorführsituation das Bild der Präzision, das die Stuttgarter Festivalkritiker Rudolf Stangl und Christian Bauer zwar ob seiner Schnelligkeit verstört und doch so fasziniert: „Alles läuft zackzack-exakt in dieser Gruppe“ (Stang/Bauer 2005: 76). Was Stangl/Bauer auf inhaltlicher Ebene zu „despektierliche[m], um nicht zu sagen blasphemische[m] Unsinn“ (ebd.) erklären und zu einer „Gagmaschine“ mit der Tendenz sich irgendwann „leer zu drehen“ (ebd.: 77), ‚leer‘ schreiben2 und so auf eine Oberfläche, wenn nicht Oberflächlichkeit reduzieren, hat, wie sie sagen: ein „Problem“ (ebd.: 76). Denn die „Kaskade von Bildern, Action, Lärm, Witzen, Kalauern, Zitaten, Anspielungen“ (ebd.: 77) ist „spieltechnisch unverschämt gut vorgetragen“ (ebd.: 76). Die Kritik an dem clownesken „Politspektakel“ wird vollends aufgehoben in der Hochachtung vor der Spielweise, der sie genau wegen ihrer „[a]berwitzige[n] Geschwindigkeit, exakte[m] timing“ und der hohen Präsenz der Spieler_innen „herausragende Qualität“ attestieren (ebd.). Mindestens in dieser Rezension wird deutlich: Ohne die Präzision und den damit verbundenen Zwang – der (ganz postdramatisch) ist, was er zeigt: gehorsame (Selbst-)Disziplinierung der Körper – funktioniert die Aufführung nicht. Der Gehorsam, der ausschließlich der Form gilt, dient aus dieser Perspektive zuallererst dem Zweck des Vergnügens – und zwar, wenn man die Position der Rezensenten ernst nimmt, sogar nur einem einzigen Vergnügen: dem am durchchoreografierten Bild der disziplinierten Schülerbewegungen, das zum Selbstzweck wird, wenn der Inhalt ‚sich‘ leerläuft oder besser: für ‚leer‘ erklärt wird.
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Dieser Eindruck entsteht u.a. durch ihre eigene temporeiche, wendige und bildhafte Schreibweise, die in ähnlicher Weise funktioniert wie das Spiel, das sie in dieser Form gerade kritisieren.
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So gesehen wird die Vorführung der präzisen Exaktheit in den körperlichen Bewegungen aber zum Ornament, wie es Siegfried Kracauer anhand der sog. Tillergirl-Revues in den 20er Jahre beschreibt: Das Ornament ist sich Selbstzweck […] Die Massenbewegung der Girls […] steht im Leeren, ein Liniensystem, das nichts Erotisches mehr meint, sondern allenfalls den Ort des Erotischen bezeichnet. […] Die Sternbilder meinen nichts außer sich selbst, und die Masse, über der sie aufgehen, ist nicht wie die Kompanie eine sittliche Einheit. Sogar als Schmuckbeiwerk der turnerischen Disziplinierung sind die Figuren nicht anzusprechen. Die Girleinheiten trainieren vielmehr, um eine Unzahl paralleler Striche zu erzeugen, und die Ertüchtigung breitester Menschenmassen wäre zur Gewinnung eines Musters von ungeahnten Dimensionen erwünscht. Am Ende steht das Ornament, zu dessen Verschlossenheit die substanzhaltigen Gefüge sich entleeren. (Kracauer 1977: 52, Herv. i.O.)
Das ästhetische Wohlgefallen der zuschauenden Menge beschreibt Kracauer deswegen als legitim, weil die ornamentalen (Massen-)Bewegungen einem Formprinzip entnommen sind, das er den Zuschauenden als ihre eigene Realität zuschreibt: Die „Gestaltungen der Zeit“ sind den Büros und den Fabriken entnommen, Arbeitsabläufen, die rational durchstrukturiert die Körper der Betrachtenden ‚besetzt‘ haben: „Der kapitalistische Produktionsprozeß ist sich Selbstzweck wie das Massenornament.“ (ebd.: 53) Kracauer erklärt „das Massenornament [zu einem] ästhetische[n] Reflex der von dem herrschenden Wirtschaftssystem erstrebten Rationalität“ (ebd.: 54). In diesem Sinn ist der Selbstzweck Reflex und somit zumindest ‚Inhalt‘. Diese formale Muster-Gültigkeit ist ohne weiteres auf die in Bombenwetter vorgestellte Situation übertragbar, hat jedoch mit Inhalts-Leere nicht im Geringsten zu tun: Die vorgestellten exakten Bewegungen sind im Muster der Schulklasse ebenso gültig – die Posen, die Sitzordnung und die räumliche Anordnung der Körper sind direkt dem Schulalltag entnommen – wie sie als solche mustergültig = vorbildhaft präsentiert werden. Und genau das ist möglicherweise das Faszinierende für die Kritik, der u.U. sogar eine uneingestandene Ambivalenz unterliegt: dass eine Theatergruppe oder eine Schulklasse ‚heute‘ so etwas ‚noch‘ kann. Denn liegt nicht in der Begeisterung für die Präzision auch eine gewisse Sehnsucht nach dem Unerlaubten, dem, was Lehrer, als welche die Rezensenten sich selbst beschreiben, sich heute versagen müssen, gerade weil diese Form in der Exaktheit das vorstellt, was ‚heute nicht mehr geht‘: die dressurartige Disziplinierung der Schüler_innen, die – auf welches Kommando auch immer – tun, was man ihnen sagt, und zwar ohne das leiseste Zögern. Mit Blick auf die im zweiten Teil der Collage zentrale Problematik der (nationalen bzw. kulturell-
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rassistischen) Gemeinschaftsbildung ließe sich diese ‚illegitime‘ Faszinationskraft mit Jacques Rancière zurückführen auf ein uneingestandenes Begehren nach der „choreographische[n] Form der Gemeinschaft, die singend und tanzend [genauso oft aber auch im disziplinierten Gleichschritt; tm] ihre Einheit stiftet“ (Rancière 2008: 28). Was hier in und mit der Form vorgestellt wird, geht – eigentlich – gar nicht, und zwar weder auf der Bildebene noch auf der Herstellungsebene: Im Grunde handelt es sich bei den Bildern, dem Gezeigten selbst, schon um einen Bruch mit dem Sagbaren oder Vorstellbaren, der eben gerade dadurch kein Bruch ist, weil er schlicht die Kontinuitäten eines Bildungsapparates in Bilder übersetzt: Schule ist anders und doch gerade nicht. Zwar besteht die Welt der Signale heute seltener aus Trillerpfeifen und kleinen Holzgeräten, sondern aus technisch übertragenen Dreiklängen im Schulgong oder aus Klangschalen zur Disziplinierung von Grundschülern, und sicher ist auch die Gleichförmigkeit der Bewegungen wie sie in den Texten des 18. Jahrhundert ablesbar werden, an heutigen Schulen kaum noch vorfindbar. Aber das von Foucault beschriebene Prinzip der Disziplinierung durch die Techniken der parzellierten Verteilung der Individuen im architektonischen wie im sozialen Raum (Tableau), die räumliche wie zeitliche ‚‚‚Einreihung‘ der Tätigkeiten“ (Foucault 1994: 206), die Zuweisung von Funktionen und v.a. das zeitlich genau abgestimmte Ineinandergreifen von zielgerichteten Tätigkeiten und Handlungen (Übungen) zum Zwecke größerer Gesamtabläufe von Zielen und Prüfungen, das begleitet ist von einem sehr präzise auf die einzelnen Elemente abgestimmten Kontrollsystem, zeigt doch verblüffende Ähnlichkeit zu dem Arbeitsprinzip auf, das an heutigen Schulen noch oder wieder vorherrscht.3 Dieses gleich zu Beginn vorgestellte – und damit den Rahmen der Auseinandersetzung setzende – Bild über Schule, in dem die Zeitebenen des 18. und 21. Jahrhunderts ineinandergeschoben sind, geht, gerade indem es ein Prinzip visua-
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Mit einem Blick auf die „Verstrickung des Körpers in Bildungs-, Sozialisations- und Lernprozesse“ hat Thomas Alkemeyer schulisches Lernen in Bildungspraktiken auf sehr ähnliche Weise beschrieben, wie die ‚An/Ordnungen des Lernens‘ in Bombenwetter inszeniert sind; vgl.: Alkemeyer 2009: 128–133. Aus praxeologischer Perspektive lassen sich die hier beschriebenen ‚An/Ordnungen‘ als Inkorporierungen (Bourdieu) beschreiben, die in Praktiken beobachtbar werden. Im Gegensatz zu Handlungen sind Praktiken nicht „mit Intentionen verknüpfte Aktivitäten“ (Hirschauer 2004: 73), d.h. „stumm zwischen den Körpern sich vollziehende mimetische Prozesse, in denen die stets mit Bedeutungen und sozialen Werten beladenen Bewegungen, Gesten und Haltungsschemata anderer Personen nachgemacht werden“ (Alkemeyer 2009: 120).
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lisiert, weit über die überzeichnete Darstellung einer schulischen Grundsituation hinaus: Das Prinzip bildet den Rahmen der Vorstellung. ‚Alles läuft so zackzack-exakt‘ ist nämlich gerade nicht nur künstlerische Strategie zur choreografischen Darstellung eines schulischen (Wunsch-)Bildes, es ist das Prinzip der Signale, die reflexartige Reaktion auf Impulse, denen zu gehorchen ohne zu zögern geboten ist: Die Stichworte Terror, Kopftuch, Islamismus zeigen dabei ähnliche Signaleffekte wie die Begriffe Toleranz, Lessingstadt, Bildung: Sie alle sind Anweisungen mit vorgeordneten Verknüpfungen, in die weitere Sinnkonstruktionen eingelassen und Zuordnungen vorbestimmt sind: kulturelle Identität, Demokratie oder: Aufklärung.
Abb. 22: Bombenwetter „Aufklärung“ (Videostill)
Was aber ist Aufklärung? – „Aufklärung ist …“ – Kant: Die Idee des mündigen, selbständigen Denkens und Handelns stößt in der folgend beschriebenen Szene auf das Prinzip der reflexartigen Reaktion, das mit anschließender Erstarrung der Bewegungen auf die Spitze getrieben wird: Unter Tüchern murmeln die tieferen Stimmen kaum verständliche Sätze über die Epoche und den Begriff der Aufklärung. Über diesen ‚Teppich‘ setzen hellere Stimmen Akzente, laut aufgerufene Begriffe, die in Kants Leittext zur Aufklärung markant sind: „Unmündigkeit. – Unvermögen. – Faulheit und Feigheit. – Sapere. – Verstand. – Wissen. – Mut. – Sentire. – Aufklärung.“ (BW 131) Dann stehen Einzelne der Reihe nach auf, reißen sich das Tuch vom Kopf und zitieren aus einem Reclam-Heft in der Hand
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jeweils einen der bekannten Kant-Sätze zur Beantwortung der Frage Was ist Aufklärung. Das nahezu sinnentleerte Aufsagen von Sätzen endet jeweils im Erstarren in einer je anderen Pose des Lesens (Abb. 22). Das synchrone chorische Aufsagen des Kantzitats: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (ebd.) schließt und vollendet dieses Bild über die leere Lehre der Aufklärung. Diese Bilder von Schule, aber auch von Aufklärung und ihrer stupiden Vermittlung im Abfrage- und Aufsagemodus mögen als Darstellungen stereotyp sein. Dies setzt die Betrachtung der Szenen als überspitze Abbildung oder Widerspiegelung von Schulalltag voraus. Aber hier ‚gerinnt‘ eine (chorische) Arbeitsweise in eine (muster-gültige) Form und darin reflektiert die Theatergruppe den diskursiven Rahmen ihrer Produktion, den sie selbst konstituiert. Denn das Prinzip der rhythmischen Taktung und der geometrischen Raumaufteilung ist zuallererst die Arbeitsweise dieses Chores. Die Welt der Signale ist das, was wir sehen: der Chor4 selbst in seiner Präzision. Er konstituiert sich in der rhythmischen Präzision und funktioniert in ihr und durch sie. Darin ist die Taktung und das daraus hervorgebrachte (räumliche wie zeitliche) Muster/Ornament mit Kracauer: sich Selbstzweck, mit Bulter: performativ, denn die (Sprech-)Akte bringen als Effekte hervor, was wir sehen. Mit Jameson konstituiert der Text (das, was wir sehen/lesen) einen durchstrukturierten Bewegungs- und Bildungsapparat. Weit davon entfernt, inhaltslose Effektheischerei oder Gagmaschine zu sein, sind diese „Kaskaden“ an Bewegungen, Rhythmen und Raumaufteilungen beides: Form und Arbeitsweise. Zugleich sind sie Inhalt/Thema, nämlich eine komplexe Struktur. Denn die THG-Gruppe setzt sich auseinander. Das Themenfeld ist zwar groß und doch eben ein begrenztes Feld. In diesem liegen Nathan der Weise, Lessing, Schule, Bildung, Erziehungsdrama ebenso wie die Serie der Ausgrenzungen und ihre Rhetoriken. Diese sind angeordnet in (!) und mit einer Welt der Signale, die den Rahmen der chorischen Produktion übersteigt und auch weit über Schule hinausgeht. Sie findet sich – als Struktur – in den orientierenden (Ahmed) Taktungen (Foucault) außerschulischer Öffentlichkeiten – und bildet damit den diskursiven Rahmen, den die Produktion setzt und den sie untersucht. Das ist keine Widerspiegelung, sondern performativ. Hier konstituiert der Text seine eigene Welt nicht als Abbildung, sondern als performativen Text, und zwar nicht nur im einmaligen Ereignis, sondern in der Wiederholung, genauer:
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In gewisser Hinsicht kann dies für Theater generell verallgemeinert werden, das immer auch eine Welt der Signale ist, auf die die Spieler_innen reagieren (müssen), wollen sie nicht die Absprachen und Regeln brechen oder durcheinander bringen.
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im Prinzip der Wiederholung. Das, was die Zuschauer_innen sehen, ist Performance und dabei performativer (Sprech-)Akt in dem Sinn, dass er, als Effekt das Zu-Sehende hervorbringt. Aber: Die Dinge liegen nicht ‚von selbst‘ in dem Feld, sondern sie sind immer auch von mir als Rezipientin als solche so aufgestellt, in dem Sinn eine „beherzte Neuschreibung“ oder schlicht: Sie liegen in meiner Perspektive so in diesem Feld. Aus dieser untersuche ich die in der Bildercollage eingelassene und verhandelte Struktur, anders als Kracauer, nicht als ökonomische (kapitalistische), sondern als rassistische Struktur. In dieser gehen die inhaltsleeren (inhaltsleer gelernten und stetig wiederverkündeten) Toleranz-, Versöhnungs- und sogar Mündigkeitsbotschaften widersprüchliche, wenn nicht gefährliche, zumindest aber verantwortungslose Allianzen ein mit den aggressiven Abgrenzungsrhetoriken und Ausschlusslogiken der (identitären) Gemeinschaftsbildung.
A MBIVALENTE G EMEINSCHAFTSBILDUNGEN Das der Collage zugrunde liegende Arbeits- und Formprinzip des ChorischChoreografischen verweist zugleich auf solche Konnotationen des Chors, die für Hajo Kurzenberger „[d]ie Schwierigkeiten, die es heute bereitet ein Chor zu sein“ begründen (1998: 22): Chöre begegnen uns in der Moderne eher in missbräuchlicher Form: als formierte Massen im Marschrhythmus, als gleichgeschaltete Meute, die die Verantwortlichkeit des Einzelnen außer Kraft setzt. Chor ist oft ein Terrain der Mitläufer und Trittbrettfahrer oder ein Raum für Allmachtsphantasien und blinde Gewalt. Chor kennen wir als Staffage und Resonanzboden der Führerprotagonisten, der kann Gleichmacherei und Erstarrung bedeuten, den Einzelnen als Teilchen funktionalisieren. (Kurzenberger 2009: 74)
Bombenwetter präsentiert dem Publikum genau solche Form-Inhalts-Verknüpfungen als visuelles Grundmuster: Die Erstarrung der Aufklärung zu Posen in blind aufgesagten Wörtern, in der das Gegenteil einer dem Inhalt entsprechenden Mündigkeit zur Schau gestellt wird, reiht sich in der theatralen Bildabfolge ein in die Vorstellung von Drill und Verführung einer gleichgeschalteten, automatisierten Menge, in der „Führerprotagonisten“ leicht ein ‚Volk‘ von Mitläufern und Trittbrettfahrern um sich scharen und ein Wir gegen die Anderen formen können (vgl.: Szenen „Lessingpreis (schädlich)“, „Bush-Reden & Umarmungen 3“ sowie „Hohmann-Rede & Bierdosen“). Mit diesen Bildern (die in ihren Arbeitsweisen auf Brecht und v.a. auf Schleef verweisen) setzt die Gruppe einen
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Gegenakzent zu einem Modell theatraler Gruppenarbeit, das Hajo Kurzenberger vor allem in der Arbeit mit Nicht-Profis für besonders fruchtbar hält und das durchaus mit Lessings Bildungsgedanken korrespondiert. Das Theater als soziale Kunstform, so Kurzenberger, findet gerade im Theaterchor ein Modell, weil dieser die soziale Interaktion als Teil der Kunstform Theater in besonderem Maße hervorhebt und stärkt. Das Prinzip der Gleichheit kommt in der Form des Gemeinsamen bei weitem nachhaltiger zum Tragen als in dem, was er das „Theater der Protagonisten“ (Kurzenberger 1998: 19) nennt, d.h. der etablierten Situation im Theaterbetrieb. In diesem steht die Leistung des Einzelnen – bis hin zur Konkurrenz – stärker im Vordergrund als das ausbalancierte Sich-Einbringen des Einzelnen in einer größeren Gruppe: Wo Gleichheit und Gleichberechtigung formale Voraussetzungen des Theaterlernens und Theaterspielens sind und nicht die Leistung des einzelnen im Vordergrund steht, liegt es nahe, sich chorischer Formen zu bedienen, sie zu erproben und zu untersuchen. Die Ausgangsbedingung [an der Uni Hildesheim, tm], keine Schauspieler für das herkömmliche Theater auszubilden, öffnet und schärft den Blick für das, was Theaterspiel als soziale Kunstform charakterisiert: Die Kollektivität des Produzierens und Spielens, die Wahrnehmung, Erfahrung und Aktivierung des Spielers und Spielpartners im „zwischenmenschlichen Bezug“. (Kurzenberger 2009: 70)
Diese Erfahrung und Erforschung von Theater, in der die kollektive Arbeit im Vordergrund steht, sieht – im Idealfall bei Kurzenberger – nicht nur vor, dass alle sich gleichermaßen (demokratisch und tolerant) in den Prozess einbringen, sondern auch, dass die Gruppe als heterogene Vielfalt erfahren wird, statt als Zwang zur Homogenität. Die Ambivalenz der chorischen Arbeitsform liegt für Kurzenberger wie auch Sebastian Nübling in dem notwendigen, aber auch mit Risiken verbundenen „Abgeben von Eigenverantwortung“ (Nübling 1998b: 64). Der theatralische Chor, den Nübling – ähnlich wie Kurzenberger – als gemeinsames Tun mehrerer Personen definiert, das als „Form der Darstellung erkennbar wird“ (ebd.: 65), steht zwischen dem Risiko des „Zerfalls der Gruppe in disparate Einzelwesen einerseits und dem bewusstlosen Sich-Selbst-Verlieren der Einzelnen in der Gruppe andererseits“ (ebd.: 65). Diese grundlegende Problematik und Ambivalenz differenziert und diskutiert Kurzenberger am Begriff des „Chor-Körpers“. Dabei reflektiert er verschiedene Chöre und Chorauffassungen im 20. Jahrhundert nicht zuletzt in Bezug auf gesellschaftliche Körperbilder zwischen Gleichgerichtetheit und Diversität. Postdramatische Chöre stellten in ihrer Offenheit und Fluidität, ihrer „‚Zergliederung‘ und Fragmentierung“ konventionelle „Körper- und Gesellschaftsbilder in Frage“: „Theater […] reagiert im sel-
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ben gesellschaftlichen Kontext mit dem chorischen Zusammenschluss vieler Körper, mit dem Chor-Körper.“ (Kurzenberger 2009: 66). Am Konzept der „Gleichgerichtetheit“, für Kurzenberger Merkmal des Chorischen 5, lassen sich die Schwierigkeiten exemplifizieren, die seines Erachtens eine Theaterarbeit mit Chor zu überwinden hätte. Denn der Chor setzte bis in die 90er Jahre Assoziationen zu gleich ausgerichteten Massenformationen und Marschrhythmen frei, die auch die Rezeption der Arbeiten von Einar Schleef prägten. Genau diese ist 1998 Ausgangspunkt seiner Abgrenzung dessen, was ein Chor heute sein kann und was nicht: Mit Peter Idens Kritik an Schleefs „Riesenchören“, deren Mitglieder „in einer Weise getrimmt“ wurden, die „die emanzipatorischen Tendenzen der Texte löscht“ (Iden zit. in Kurzenberger 1998: 23), steckt Kurzenberger eindeutig ab, „was ein Chor heute nicht sein darf: weder unisono noch unimental, und schon gar nicht blind und verantwortungslos machend“ (ebd).6 Doch genau das ist der Klassenzimmerchor in Bombenwetter: unisono, unimental, blind und dabei so präzise. In eben dieser Form vermitteln die Bilder der Gleichgerichtetheit in Bombenwetter Inhalte, die alles andere als Klamauk sind, sondern, wenn auch mit Witz und Ironie unterlegt, das ernste Thema der Gemeinschaft, Gemeinschaftsproduktion und das Funktionieren von Einzelnen in Gemeinschaften reflektieren. Allerdings kommen diese Reflexionen zu ganz anderen Ergebnissen als die, die Hajo Kurzenberger in seinem Plädoyer für die chorische Arbeit formuliert: „Das Heraus- und Hervortreten des Einzelnen aus dem Chor, sein Zurücktreten in den Chor zeigen szenisch vielleicht am anschaulichsten, wie ein heutiger Chor sein kann und seine Mitglieder seine Einheit und Eigenheit erfahren und reflektieren.“ (Kurzenberger 2009: 74, Herv. i.O.) Im Sinne eines sprechenden und handelnden Heraustretens von Einzelnen aus der Gruppe soll damit ein „Spannungsfeld zwischen Individuum und Kollektiv“ (ebd.) sichtbar werden, bei dem es um die Aushandlungen der Bedingungen ei-
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Kurzenbergers Definition von Chor und seiner „Gleichgerichtetheit“ leitet sich aus einer Dialogizität zwischen Chor und Protagonisten in der antiken Tragödie ab: „Vom Chor sprechen wir […] dann, wenn die Gleichgerichtetheit des Tuns vieler Personen für alle sinnfällig wird, sichtbar für Schauspieler und Zuschauer, wenn gleichgerichtetes Tun zur Form der Darstellung auf dem Theater wird.” (Kurzenberger 1998: 20f) Nüblings Definition weicht von Kurzenbergers in diesem Punkt ab. Die Ausrichtung auf eine von außen vorgegebene Richtung sollte Nübling zufolge gerade im Ergebnis auf der Bühne möglichst nicht (mehr) erkennbar sein (vgl. Nübling 1998b: 65).
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Diese Auffassung wiederholt er – allerdings mit Bezug auf Kracauers Beschreibung der Revues – in Kurzenberger 2009: 74.
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nes Agierens in der Gemeinschaft geht, die zunächst in den Proben und auf der Bühne erkundet werden und mithin auf gesellschaftliches Handeln übertragbar erscheinen. Denn was „in diesem Vorgang szenisch deutliche Gestalt“ (ebd.) annimmt, übersetzt idealerweise eine Utopie für ein durchaus heterogenes, aber gemeinschaftliches Miteinander in eine theatrale Form, von der aus Impulse in andere „Lebensform[en]“ ausgehen können: „Das gemeinschaftliche Leben, das eine Theaterproduktion entstehen lässt, ist im Vergleich zu einer Lebensform, die alle in vielen Bereichen bindet, bescheiden, aber doch ausreichend, um die sozialisierten Disparaten, die wir alle sind, für eine kurze Zeit und in einem kleinen Raum zu sozialisierten Sozialisierten zu machen.“ (Ebd.: 82)
Die Aushandlung des Agierens zwischen Individuum und Kollektiv stellt in dieser Konzeption des Chores die Frage nach einem Ich und einem Wir. Es geht darum, Individualität zu erhalten, und um die Erfahrung, Individualität erst über die Gruppe, den Chor, herstellen zu können. Erkundet werden „die Bedingungen und Kriterien, ‚Ich‘ und ‚Wir‘ zu sagen, ‚Ich‘ und ‚Wir‘ zu sein“ (ebd.: 74). Auf diese Weise wird „der Chor […] in seiner individualitätsstiftenden, der Einzelne in seiner gemeinschaftsbildenden Kraft sichtbar.“7 Diese Überlegungen stützen sich auf die Arbeit Die Heketiden des Aischylos (Hildesheim 1987). In dieser tritt ein (Studentinnen-)Chor in ein Wechselspiel mit dem (herausgetretenen) Individuum. Er agiert als „Angst- und Schutzgemeinschaft“ (ebd.: 76) oder als „Gravitationszentrum“ (ebd.: 78), dessen ‚stützende Kraft‘ die einzelnen Sprecherinnen der Gemeinschaft stärkt. Der (Schüler_innen-)Chor in Bombenwetter zeigt dagegen ein Spannungsfeld zwischen Gruppe und Individuum, das eher Ausschlussverfahren und Konkurrenzverhältnisse in Gemeinschaften wie auch gruppendynamische Zwangssituationen ausstellt. Im Gegensatz zu der tendenzi-
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Kurzenberger 2009: 74. Das Modell basiert auf der Vorstellung des Ursprungs europäischen Theaters im Chorischen (der Attischen Tragödie), für dessen Entwicklung, wie auch Miriam Dreysse konstatiert, das „Moment des Heraustretens des einzelnen aus dem Chor, die Gegenüberstellung von einzelnen und Kollektiv, konstitutiv“ sei. „Die Polarität von Chor und Einzelfigur bildet die Grundstruktur der antiken Tragödie.“ (Dreysse 1999: 24) Für Kurzenberger „hat die Gemeinschaft das Individuum, der Chor den Protagonisten hervorgebracht. Und dieses Theater [hat] dieses Verhältnis immer wieder neu […] zur Anschauung gebracht und damit szenisch reflektiert. Der Protagonist ist hier nicht ohne Chor denkbar, sowie umgekehrt der Chor ohne Protagonisten seine Eigenheit nicht entfalten und zeigen konnte.“ (Kurzenberger 1998: 20f)
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ell harmonisierenden Konzeption des Chores bei Kurzenberger, die möglicherweise sogar eine Analogie im Lessing’schen Ideal menschlicher (familiärer) Zusammengehörigkeit und v.a. im – wenn auch unterlaufenen – Ideal versöhnlicher Dialogizität findet, ist dieser Chor frontal, konfrontativ und radikal. Er ‚macht Front‘ und erinnert darin eher an Arbeiten von Einar Schleef als Erweiterung Brecht’scher Konzeption von Theater (vgl: Dreysse 1999: 30–44).
D IE W IR -M ASCHINE Ein kurzer Szenenverlauf verdeutlicht, wie in Bombenwetter mit Brecht/Schleef gearbeitet wird und so die von Kurzenberger als Ideal beschriebene – harmonische – Theatergruppenarbeit konterkariert wird. In einer Sequenz von kontrastiven Bildern wird ‚Gemeinschaft‘ in verschiedenen Negativ-Varianten durchdekliniert und so die positive Vorstellung der „sozialisierten Sozialisierten“ (Kurzenberger 2009: 82) eher vereitelt und – „Kinderchen liebt Euch“ – zur verordneten Zwangsmaßnahme: Nach der anfänglichen Disziplinierungsszene zum Schulalltag („Schüler Lessing/Schulalltag“) setzt im Off Vivaldis „Frühling“ ein, und ‚Lessing‘ beginnt, aus seinem dicken, alten Buch die Ringparabel vorzulesen: „Vor grauen Jahren lebt’ ein Mann im Orient …“ Während er das ‚Märchen‘ liest, beschäftigt sich die Klasse mit ihrem Pausenfrühstück – wie in der Grundschule. Dann aber markieren erst einzelne, dann immer mehr Schülerinnen und Schüler einen aus ihrer Mitte mit Blicken und Gesten als ‚stinkend‘. Ganz langsam ziehen sie sich in die letzte Ecke des Klassenzimmers zurück und bilden dort eine Gruppe, die sich als ‚Schutzgemeinschaft‘ vor dem Ausgesonderten gebärdet (Abb. 23). Hier wird eine Beziehung zwischen Individuum und Kollektiv formuliert, in der sich das ‚Wir‘ im Ausschluss des Einzelnen bildet: Gemeinschaft durch Ausschluss, wie es nicht nur in Mobbing-Situationen an Schulen oft zu beobachten ist. Das Individuum wird hier genau anders subjektiviert/gebildet denn als gestützt durch die Gemeinschaft. Davon unbeirrt liest ‚Lessing‘ das Märchen vom Ring weiter. An der Stelle, an der der Vater die Vervielfältigung des Rings in Auftrag gibt und dabei „weder Kosten noch Mühe“ (BW130) sparte, steht ‚Lessing‘ auf und wirft einen Ring in den Klassenraum. Auf dieses ‚Signal‘ hin löst sich die eben noch mit der Ausgrenzung des Mitschülers beschäftigte Klassengemeinschaft ‚ohne zu zögern‘ auf und startet ein wildes hektisches Gesuche nach dem Ring (Abb. 24) – bis jemand ihn findet und ihn triumphal hochhält (Abb. 25): „Ich hab ihn“ – Freeze, alle gehen zurück auf ihre Plätze.
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Abb. 23 – 25: Bombenwetter „Frühstück mit Ringparabel & Ringsuche“ (Videostills) Die Taktung, die hier als theatraler Vorgang bildhaft gemacht wird, lässt weniger auf individualitätsstiftende Impulse durch die Gemeinschaft im Wechselspiel zwischen dem Einzelnen und der Gruppe schließen als vielmehr auf inkorporierte, geradezu ‚reflexhafte‘ Reaktion auf Zeichen und Signale, die gruppen- oder
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fetischzwanghaft gesteuerte Praktiken auslösen – sei es der Beginn der Lektüre, sei es ein Geruch, sei es ein ‚in den Ring‘ geworfener Ring … Wie mit dem „Heraustreten des Einzelnen“ (Kurzenberger 2009: 74) aus der Gemeinschaft verfahren wird, zeigt die Anschlussszene: Ein zweites Mal wird die Ringparabel vorgetragen, und zwar in Form einer mathematischen Formel. Dieses Mal diktiert sie ein – besonders gelehrter – Schüler8, der mit strengem Blick wie ein Lehrer durch die Reihen der Klasse geht, während seine Mitschüler_innen Zeichen auf ihre Tafeln malen. Als ein Schüler aufsteht und einen Deutschen-Witz zu erzählen beginnt („Kennt Ihr den schon? – Kommt ein Jude nach Deutschland …“), reicht eine kurze Geste des Ober-Schülers mit der Hand auf dessen Kopf, und der Schüler ist wieder Teil der gleichgerichteten Zwangsgemeinschaft. Während nach und nach die Schüler_innen ihre Köpfe mit Tüchern verhängen, setzt der Ober-Schüler unbeirrt sein Diktat fort und schließt diesmal mit der Moral ab: Als dieser Schwindel aufgelöst wurde, zerstritten sich die binomischen Formeln und ließen ihre Funktionen untersuchen. Jede glaubte, sie hätte die richtige Funktion f(x) = ex, doch selbst nach der Funktionsanalyse war die Lösungsmenge des Problems immer noch leer. So musste jede Formel aus ihrer e-Funktion das Beste machen und ihrer würdig handeln, um weitere Generationen von Stammfunktionen zu bilden. (BW 131)9
Nach diesem Diktat der Ringparabel als der Aufklärungsformel Lessings, bei der trotz aller „Funktionsanalyse […] die Lösungsmenge des Problems immer noch leer“ war, folgt – wie schon beschrieben – Kant: Hier gibt es keine Gruppe, hier funktioniert der „Chor-Körper“ wie eine Maschine, die Sätze absondert und die Lehren erstarren lässt. Abgeschlossen wird die Sequenz mit der Fortsetzung der Parabellektüre in einer dritten Vortragsvariante, die die Klassenmaschine in eine Art schlagstockartiger Abgerichtetheit überführt: „Ring“! – Die Passagen, in denen die Brüder um den Ring kämpfen, – „Glück!“ – werden begleitet von rhythmisierten, ener-
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Der unterrichtende ‚Oberschüler‘ ist, folgt man Foucault, eine für die Elementarschulen des 18. Jahrhunderts charakteristische Erscheinung: Das System des „wechselseitigen Unterrichts“ sah vor, dass man „den älteren Schülern zunächst einfache Überwachungsaufgaben anvertraut, dann Aufgaben der Arbeitskontrolle und schließlich des Unterrichts; zu guter Letzt ist die gesamte Zeit aller Schüler entweder mit Unterrichten oder mit Unterrichtetwerden ausgefüllt“ (Foucault 1994: 213f).
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Die hier zitierte Fassung ist die gesprochene, wie sie in der Aufführung (DVD) zu entnehmen ist.
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gischen – „Mann!“ – ‚Kung Fu‘-Kampfrufen und -posen. – „Tod!“ – Mit diesen Gesten der gleichförmigen und -gerichteten Gewalt, „Erbe!“ – die im Übrigen nach vorn an die Zuschauer – „Söhne!“ – gerichtet sind, – „Streit!“ – und die Konfliktphase der Parabel übersetzen, – „Richter!“ – endet der „Aufklärungsunterricht“, der das erste Drittel des Stücks bestimmt. „Urteil!“ – „Kinderchen, liebt Euch“. Diese Szenenbilder zeigen Kontraste zu dem, was Bildung als Vermittlung von Aufklärung in der Schule erwarten lässt, und bilden auf diese Weise Dialoge des Konfrontativen: Die Reihe der Vortragsvarianten der (Orientierung oder Richtung stiftenden) Ringparabel beginnt mit der Vorstellung des Aufklärers Lessing als Märchenonkel, dem niemand zuhört. Mehr noch: Wie zur Demonstration des Gegenteils Lessing’scher Ideale wird von der Schulklasse auf der visuellen Ebene eine Szene der Ausgrenzung eines Gruppenmitglieds gegen den Text gesetzt. Demgegenüber steht zudem die unbeirrbare, geradezu ignorante Manier, mit der Lehrer ‚Lessing‘ sein Märchen den unachtsamen Kindern an den Schulbänken vorliest. Das ist das Gegenteil des von Lessing angepriesenen und in seinem dramatischen Gedicht vorgeschlagenen irenischen Bildungsdialogs und zugleich das Gegenteil von Kurzenbergers Modell der Chorgemeinschaft. Und doch wird in diesen Szenarien der bildende Effekt deutlich, der aus den Ausgrenzungen und Taktungen hervorgeht. Statt positiver Zielsetzungen rücken Effekte von bildenden Strukturen in den Vordergrund, die ihre subjektivierenden Spuren hinterlassen: Denn Ausgrenzung bildet, Konkurrenz bildet und militärische Taktung bildet – ebenso wie Rassismus (vgl.: Broden/Mecheril 2010). Der rücksichtslose Such-Kampf um den Ring, gewissermaßen ein Ring-Kampf, steigert noch den aufgebauten Kontrast zwischen dem Parabeltext (und seiner im Publikum bereits antizipierten Moral) und dem Gezeigten: Denn die wilde Suche endet mit einem Sieger. Lessing ist überführt, widerlegt, ausgespielt: Die Suche ist beendet und (nur) einer hat den Ring der Wahrheit gefunden, deren ständige Suche im dialogischen Gespräch Lessing zum eigentlichen Ziel erklärte. Der Märchenlektüre, die die ‚zu Bildenden‘ zu Grundschulkindern degradiert, folgt das zu Zahlen und Formeln umgeschriebene Diktat der Ringparabel und diesem das stumpfsinnige Zitieren von auswendig gelernten Kant-Sätzen, die in Posen der Fest-Stellung enden. Wenn schließlich die dritte Variante der ParabelLesung von Kampf-Rufen und Kung-Fu-Posen begleitet wird, ist mit dem Gesamt-Bild der Sequenz eine Linie hergestellt, die, so könnte ihr Ende gelesen werden, die aufmüpfigen Kinder mit Aufklärungsidealen abgerichtet und zu kampfbereiten Schlägern aus-gebildet hat.
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Heraustreten des Einzelnen In dem hier inszenierten Bildungsapparat wird den Schüler_innen Aufklärung mit allen Mitteln der heutigen Didaktik vermittelt. Den Strategien entsprechend könnte man auch sagen, die Ideen der Aufklärung werden ihnen eingetrichtert, eingehämmert, eingesäuselt, diktiert oder als Märchen vorgelesen. Als Ergebnis dieses Bildungsprogramms werden uns im weiteren Verlauf gewissermaßen automatisierte Figuren vorgestellt werden, die sich in verschiedenen Öffentlichkeiten präsentieren.10 Gemein ist ihnen, dass sie auf Kommando tun, was – wer auch immer – ihnen vorschreibt oder vorschlägt: Sei es harmonische Umarmung für die Presse, sei es das national einstimmende Summen von Hymnen vor dem internationalen Kriegseinsatz, sei es die stammtischgrölende Zustimmung zu kollektiver Schuldverschiebung oder seien es später Gruppenspiele à la „Kommando Pimperle“, „Pferderennen“ oder die „Reise nach Jerusalem“. Gezeigt werden durch verschiedene Formen des Zwangs oder der Verführung (durch Spielregeln, Gruppenzwang oder Entlastungsversprechen …) hergestellte Bilder/Gesten des Gemeinschaftlichen, die sich in ihrer Unerträglichkeit immer mehr überbieten. In diesen automatisierten Gemeinschaftlichkeiten fällt es dem Einzelnen schwer, aus der Gruppe auszusteigen und einen individuellen – widerständigen – Gedanken zu formulieren. Und wer so spricht, ist isoliert von der Gruppe, denn weder spricht er im Namen der anderen noch findet er in der Gruppe Rückhalt: Drei Anläufe benötigt ein Schüler um seinen dissidenten Deutschenwitz zu Ende erzählen zu können. Im Anschluss an das „Federleicht“Gesäusel der Integration, der Gleichheit und der Menschlichkeit wendet er sich für einen Moment ab: Kommt ein Jude in Deutschland auf den Bahnhof an und fragt einen Mann: „Sagen’S, sind Sie Antisemit?“ „Neiiiiin, ich doch nicht!“, antwortet der Mann. Der Jude geht weiter, spricht eine Frau an: „Guten Tag, sind Sie Antisemitin?“ „Neeeeiiiiiiin, ich doch nicht!“ Der Jude geht weiter und spricht ein Ehepaar an: „Sagen’S, sind Sie Antisemiten?“ [Erzähler schlägt die Hacken zusammen und salutiert] „Jawoll! Wir sind Antisemiten!“ – „Wunderbar, endlich ehrliche Menschen. Sagens, würden Sie auf meine Koffer aufpassen?“11
10 „Gelehrig ist ein Körper, der unterworfen werden kann, der ausgenutzt werden kann, der umgeformt und vervollkommnet werden kann. Die berühmten Automaten waren nicht bloß Illustrationen des Organismus; sie waren auch politische Puppen, verkleinerte Modelle von Macht.“ (Foucault 1994: 175) 11 Diese Passage ist dem Video entnommen, da sie im Skript nur mit „Witz 2“ vermerkt, aber nicht ausformuliert ist.
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Mit dieser Konfrontation gegen die federleichte Umsetzung von Lessings Aufruf: „Es eifre jeder seiner unbestochnen von Vorurteilen freien Liebe nach! Kinderchen liebt Euch!“ (BW 133) gelingt dem Schüler ein kurzer Austritt aus der Unmündigkeit produzierenden Toleranz-Rhetorik. Doch auch als der gleiche Schüler im Anschluss an die Schädlich-Szene eine höchst eigenständige RapVersion zu dem Bürgerlied „Die Gedanken sind frei“ vorträgt, in der er explizit auf selbständigem Quer-Denken und Mündigkeit insistiert und damit gegen das Einstimmen in vor-geschriebene Gedanken anstimmt, ist er allein auf der Bühne: […] Gestatte dir selbst, alles zu denken, was du wichtig findest. / Solang du niemand anders behinderst oder bindest / Kein Mensch dieser Welt könnte Gedanken zensieren / Es gibt bis heute wenige, die das kapieren / Den Verstand auswiegen die Logik verbiegen / Und sich selbst alle Grenzen in Gedanken zu verbieten. (BW 134)
Mit dieser freien Übersetzung und Verknüpfung des Sapere aude mit dem Kategorischen Imperativ lockert der Rapper für einen Moment den Bewegungsapparat der Gruppe beim Bühnenumbau. Doch schon bald – nach dem Text – schwingt die im Hintergrund sitzende Gruppe zum Rhythmus wieder im Gleichtakt mit. „Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen unmündig bleibt“ – ist das so? Oder zeigt nicht gerade die Collage als Ganze, wie schwer es ist, sich aus dem Modus der Gleichrichtung herauszubewegen und etwas anderes zu denken oder gar zu tun? Wird nicht gerade in diesen Bildern der Anordnungen von Körpern und Botschaften der Rhythmus in seiner disziplinierenden Orientierung selbst zum Thema – und das Thema zum Muster (Kracauer)? Der Rhythmus selbst bewegt den mutigen Dissidenten nach seiner er-mutigenden Aufforderung, sich seines Verstandes zu bedienen, dazu, sich wieder einzureihen, sich an seinen (!) Platz zu setzen und der Bewegung zu folgen, die alle machen. Man möchte meinen: Wie von Zauberhand ist das Bild der Muster-Klasse wieder hergestellt. Und ebenso ist es inszeniert: Während der Rapper vorn im Rampenlicht die Freiheit der Gedanken beschwört – der Aufklärer als ‚Pausenclown‘ –, haben im (dunkleren) Hintergrund die ‚Heinzelmännchen‘ das Bild der Mauer (Schädlich-Rede) aufgelöst und die Tische und Stühle wieder an ‚ihren‘ Platz gestellt, sich wieder auf ‚ihre‘ Plätze gesetzt. Die wieder hergestellte Tischordnung, die einen Platz für den letzten (Schüler) vorsieht, lässt den Schüler dazu ‚neigen‘, diesen wieder zu besetzen und in der Übernahme der Bewegungen der Anderen das Bild zu vervollständigen, zu schließen. „[B]odies take shape through tending toward objects that are reachable, which are available within the bodily horizon.“ (Ahmed 2006: 543) ‚Es‘ liegt nahe, ‚sich‘ diesem Rhythmus und diesem Muster zu fügen, weil der
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Platz selbst nahe liegt – within the bodily horizon – und die ‚Unvollständigkeit‘ des Bildes, die Unterbrechung des Kongruenten geradezu erzwingt, dem NaheLiegenden zu folgen und das Gegenteil dessen zu tun, was der Gedankenfreiheits-Rap zuvor noch vorgeschlagen hatte. Die Einreihung erfolgt als körperliches Handeln. Aber der Körper handelt nicht ‚von sich‘ aus, seine ‚Neigung‘ ist in der räumlichen, visuellen, auditiven Anordnung vorstrukturiert. Ahmed erinnert uns mit der Feststellung, dass die Nähe von Dingen nicht zufällig ist („we do not just find objects there, like that“ (ebd.: 557)), an den Begriff des Feldes: „Defined as an open or cleared ground, a field that contains objects would hence refer to us how certain objects are made available by clearing, through the delimitations of space as a space for some things rather than others, where things might include actions (doing things).“ (Ebd.: 558) Das hier vom Bühnenlicht abgegrenzte Feld des Sichtbaren sieht mit dem Arrangement der Tische und Stühle wenig Anderes vor als das ‚Arrangement‘ des Rappers mit seiner Einreihung. Er arrangiert sich mit dem Vorgegebenen. Dennoch: Es sind nicht die Dinge (Tische und Bühnenlicht) selbst, die das Feld und seine Ordnung herstellen. Weder sind das Feld und die Dinge von sich aus ‚da‘, noch ist die Handlung ‚im‘ Körper. Wahrnehmungen und Aktionen sind in die Körper als Sinnkonstruktionen und Handlungsanweisungen eingeschrieben. Der leere Stuhl in der Reihe be-deutet dem Rapper im doppelten Sinn12 ein bestimmtes Handeln. Das Setzen und (wieder) Mitmachen des Rappers bedeutet insofern nicht nur der Zuschauerin die Erfüllung einer normativen Ordnung; das Setzen bedeutet v.a., dass mit dem Sich-Eingliedern des Rappers in die vorgesehene (Tisch-)Ordnung das Arrangement des Nahe-Liegenden fortgesetzt werden kann (Ahmed). Am Ende steht jedoch ein Widerspruch im Raum: der zwischen dem Gedankenfreiheits-Song und dem sich Fügen des Rappers. Indirekt greift dieser einen Kommentar von Lessing auf die Kant-Szene auf: „Der Mensch wird zum Tun, und nicht zum Vernünfteln erschaffen“, antwortet Lessing auf Kants Sätze zur Mündigkeit.13 Was dort in einem Gegensatz zwischen Denken und Handeln als eine widersprechende Aufforderung zum ‚richtigen‘ Handeln (statt zu vernünfteln) lesbar ist, setzt der Rapper in vernünftiges Handeln um: Er widersetzt sich dem Gefügigmachen, der Gelehrigkeit. Doch der Übergang von dem Rap zum Sich-Einreihen in die Ordnung lässt als weitere Notwendigkeit erkennen, dass
12 Bedeuten in gedoppelter Sinnkonstruktion: Die Leere des Stuhls bedeutet in diesem Zusammenhang ein Fehlen, dem sich bedeuten als Aufforderung (Füllen) anschließt. 13 Dieser Satz kommt nur in der Aufführung (DVD) und nicht im veröffentlichten Skript des Stücks vor.
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aus der einmaligen Dissidenz weiteres Handeln hervorgehen muss. Die Zwischen-Szene kann als Aufforderung betrachtet werden, die (individuelle) Handlungsmacht in ihren Bedingungen und Möglichkeiten, Quer-Denken in QuerHandeln zu verwandeln, zu reflektieren. Ahmeds Bemühen um ein queering phenomenology wird hier noch einmal interessant, da sie sich gerade mit den Bedingungen des Re- bzw. Disorientierens beschäftigt. Ihre Beschreibungen von Heteronormativität als straightening device verdeutlichen nicht nur, wie Räume und Objekte Körper (heterosexuell) orientieren und sie in den sozialen Arrangements aus- oder ein-richten. Sie erklärt auch, wie die Verschiebung sexueller Orientierung die Verschiebung anderer Dinge, Räume nach sich ziehen muss: „This is not to say that moving one’s sexual orientation means that we transcend, or break with, our histories: it is to say that a shift in sexual orientation is not livable simply as a continuation of a line, as such orientations affect other things that bodies do.“ (Ahmed 2006: 563f) Was Ahmed hier in Bezug auf Sexualität beschreibt, ist verallgemeinerbar auf dissidentes nicht-hegemoniales Handeln generell: Denn entscheidend ist mit Ahmed ein Wechsel von Gewohnheiten und Beziehungen, der andere Räume und die Versammlung anderer – zunächst schwerer erreichbarer – Dinge, Körper und sozialer Formen um sich verlangt und Zeit zu Wiederholungen benötigt. „So it takes time and work to inhabit a lesbian body; the act of tending toward other women has to be repeated, often in the face of hostility and discrimination.” (ebd.: 564, Herv. tm) Re/Orientierung als neue Ausrichtung von Denken als/und Tun bedarf insofern eines „re-arrangements“, das die Räume, Dinge und Körper sowie die sozialen und/oder sexuellen Formen von Beziehungen betrifft und insofern auch verknüpfbar ist mit dem, was Gayatri Spivak als „re-arrangement of desires“ bezeichnet hat (Spivak 2008: 17). Spivaks Fokus richtet sich auf die Einschreibung post/kolonialer Praxen in hegemoniale soziale Strukturen, die nicht zuletzt die Bildungsinstitutionen und deren Zielsetzungen betreffen. Spivak befragt systematisch die Begehren der Lehre und ihrer Akteure und betrachtet sie mit Blick auf Machtstrukturen, die in die Verhältnisse des Lehrens/Lernens eingelassen sind, z.B. in einem Wissen darüber, was für wen gut und wichtig ist. Als Literaturwissenschaftlerin fordert sie die Möglichkeit eines „uncoercive rearrangement of desires“ (ebd.; Herv. i.O.) heraus: die Entwicklung der Gewohnheit von Literatur-Lektüre, bei der man „sich selbst in dem Text des anderen aufhebt“ (suspending) (ebd.). Aufzuheben sind die Selbst-Vorstellungen des zwangläufig Besseren, Unersetzbaren und v.a. Fähigeren, Missstände zu begradigen:
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334 | G EGEN -B ILDER : B OMBENWETTER . D AS K OPFTUCH HÄLT The teacher can try to rearrange desires noncoercively […] through an attempt to develop in the student a habit of literary reading, even ‚just reading‘, suspending oneself into the text of the other – for which the first condition and effect is a suspension of the conviction that I am necessarily better, I am necessarily indispensable, I am necessarily the one to right wrongs, and I am necessarily the end-product for which history happened, and that New York [oder Wolfenbüttel] is necessarily the capital of the world. (Ebd.: 23)
Ein einmaliges Ausscheren aus dem given script – sei es die Ordnung der Sitzposition, die An-Ordnung der Lessing-Lektüren oder die ‚Normalität‘ des Rassismus – ist, wie beide Autorinnen vorschlagen, erst ein Anfang der Verschiebung, die zur Herstellung neuer, anderer Gewohnheiten stetige Wiederholung erfordert. Doch diese benötigen nicht nur Zeit und Arbeit, sondern, wie Ahmed betont, auch andere soziale Strukturen und Kollektive. Die Herausstellung des dissidenten Ausscherens in beiden Zwischenszenen als je singulärer und individueller Akt verweist insofern eher auf sein Scheitern; doch Bombenwetter deutet dies nur an. Denn die Collage fragt eher nach den Mechanismen des ‚straightening‘ und beginnt mit der kritischen Lektüre des Nathan-Textes, dessen Ideen sich als durch und durch didaktisch14 im Sinne eines Bildungs- und Fortschrittsprogramms (Mikro- und Makrophysik) erweisen und in die Köpfe und in die Gesten der Schüler_innen und anderer Mitglieder von Gesellschaft einschreiben. In der chorisch-choreografischen Form findet diese Einschreibung eine Artikulation, die sich über die Körperanordnungen visualisiert und in der Wiedereinreihung des dissidenten Potenzials als Zwangsvergemeinschaftung performativ wird.
P LAKATE
DES
K ONFRONTATIVEN
Neben der Gleich- und Abgerichtetheit, wie sie in der visualisierten Form der Einreihungen in der Schule „geübt“ (Foucault) wird, werden im Verlauf der Collage auch die sprachlichen Ausformulierungen der Vergemeinschaftung expliziter. Diese Explikation erfolgt zunächst durch das thematische Verlassen des
14 Werner Jung stellt mit Blick auf die Rezeption von Lessings Werk fest, dass „immer wieder […] auf den Gedanken der Toleranz als das inhaltliche Substrat der Bildung sowie auf die utopische Perspektive, die diese [...] Texte offerieren, hingewiesen worden“ ist (Jung 2001: 84). Es ginge Lessing „um die reine Lehre. Das Stück ist, so David Friedrich Strauß, ‚mit einem Worte, ein didaktisches Drama‘“ (ebd.: 87), das heute unter dem Begriff des Ideen- und Erziehungsdramas gefasst und gelehrt wird.
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Rahmens Schule und die Verschiebung des Blicks auf die rahmende politischgesellschaftliche Situation im nationalen und internationalen Kontext. Strategisch dominieren nun Kongruenzen zwischen Bildern und Texten: Die WirGemeinschaft produzierenden Reden von Hans Joachim Schädlich über George W. Bush bis zu Martin Hohmann stellen in der szenischen Präsentation nun keine Kontraste mehr her zwischen Text und Bild, sondern übersetzen das Sprechen zu ‚kultureller Identität‘ in Bilder bestimmter Situationen und Orte des Alltags. Sie spezifizieren die Sprechweisen des Ressentiments oder der Identifikation – z.B. im (Nachbarschafts-)‚Gerücht‘, der Stammtischrede oder als Hymne im Einklang der ganzen Nation. Das verbindende Element der Form ist dabei nicht die Komplexität argumentativer Überzeugung oder überhaupt des Dialogs, sondern die rhetorische Herstellung von Gleichgesinntheit über emotional aufgeladene Dichotomien, mit denen homogenisierende Abgrenzungen zu Anderen konstruiert werden. Diesen Gemeinschaftsbildungsprozessen – und Kollektivbildern des Chores – steht zeitweise, nicht immer, ein ‚Lessing‘ gegenüber, der seine ‚Kinderchen liebt Euch‘-Formel in andere, ebenso bekannte Beschwichtigungsgesten ausdifferenziert, die vor allem eins zum Ziel haben: den Konflikt zu vermeiden. Das Toleranz-Postulat der dominanten, ihrerseits mit dem Ziel der Gemeinschafts- und Identitätsstiftung agierenden Lessingrezeption kehrt sich auf diese Weise in ein Toleranz-Diktat, das zulässt und sogar fördert, was im diametralen Gegensatz zu dem „Gift“ steht, das Kermani in den Ideen Lessings erkannte (2010: 33). Gift streut nun die Theatergruppe am THG in die ‚herrschende Meinung‘ der Toleranz. Die Linie Schädlich – Bush – Himmler – Patriarch – Hohmann steuert zielgerade auf einen Schluss zu, der kaum zynischer gestaltet sein könnte. Eingeleitet wird er von einer Reihe von Zwischenszenen, die gegen Ende auch die Nischen zwischen den Szenen mit einer gleichrichtenden Gelehrigkeit besetzen, jedoch anders als die rhetorischen Vergemeinschaftungen in der ‚Sprache der Körper‘ arbeiten. Eine Sequenz von einfachen Spielen, wie sie mit Kindern, aber auch zur Schulung von Aufmerksamkeit und Teamgeist in Theatergruppen gespielt werden, schiebt sich gewissermaßen zwischen die Bildsequenz und verdichtet den Schluss immer mehr zu einer ‚Totalität‘ des zwanghaften Mitmachens. Auf den Himmler-Text folgt an der langen Tafel „Kommando Pimperle“, auf die Patriarachen-Szene das sog. „Pferderennen“: beides im Grunde gleiche Spiele, in denen jede_r Einzelne gefordert ist, ohne zu zögern der_m Anführenden in der Ansage und Bewegung zu folgen, so dass der Effekt einer in ihren Aktionen komplett homogenen Gruppe entsteht – ein gleichgerichteter ChorKörper par excellence. Das Fingertrommeln und Hände-Klatschen auf den Tisch wie auch die Lautstärke der Kommandorufe verstärken dabei auf akustischer
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Ebene den Ton der Gewalt, der nicht zuletzt in dem stammtisch-entschlossenen Gegröle des Gedankenfreiheitslieds nach dem Hohmann-Text ein Pendant findet. Das Spiel, das in dieser Reihe den Schlusspunkt setzt, und dem Stück ein Ende, ist eine „Reise nach Jerusalem“, bei der die Gruppe zu heiterer KlezmerMusik um die lange Tafel tänzelt, bis die Musik stoppt. – Wer dann zu spät ist, das weiß jede_r, wird ausgestoßen. Die Gewalt der Diskurse, wie sie in den vorangegangenen Reden und Praxen nahezu ununterbrochen von Szene zu Szene wiederholt und gesteigert wurde, bündelt sich in dieser Szenerie zur giftigsten Störung der Konstruktion von ‚eigener Identität‘: Denn die „Ablagerung von Geschichte in der Wiederholung von körperlichen Aktionen“ (Ahmed 2006: 553) bohrt sich hier wie ein Stachel der Taten in die Selbstgewissheit der Toleranz. Während der Name des Spiels auf die christlichen, antiislamischen Eroberungszüge (Kreuzzüge) in den Nahen Osten anspielt, arbeitet die dramaturgische Grundstruktur mit dem systematischen ‚Raus-Kicken‘, weckt so Assoziationen an das Prinzip des survival of the fittest und steigert dies im Verbund mit der Musikauswahl in die Selektions- und Eliminierungslogik der Shoah. Im Unterschied zu den Aufmerksamkeitsspielen, deren Motor und Ziel die Bewegungsgleichheit in der Gruppe ist und die daher die reaktionsschnelle Unterordnung der/des Einzelnen erfordern, resultiert die Gleichgerichtetheit in diesem Spiel aus der Konkurrenz der Einzelnen untereinander: Nicht die Zugehörigkeit, sondern der sukzessive Ausschluss selbst machen den Spaß. Das Ziel in diesem Spiel besteht im Kampf um (den letzten) Platz. Zwar wird der faktische Ausschluss in dieser Spielinszenierung umgangen, indem die Platzsuche durch die blitzschnelle lineare Aufstellung nach bestimmten Kriterien (Größe, Alter, …) ersetzt wurde; aber die in den Musikstopps vorgetragenen Abzählreime à la „Krieg, Krieg, Krieg, wir hab’n uns nicht mehr lieb“ nach der Aufstellung ‚in Reih und Glied‘ doppeln den symbolischen Ausschluss als Ziel. Unabhängig davon, dass die Gruppe das Spiel etwas modifiziert, reichen die(se) Musik und der Musikstopp als Signal für das hektische Finden des richtigen Platzes (Suchen ist hier nicht das Ziel), um ein ganzes Assoziations- und Bedeutungsgeflecht aufzurufen, das auf mehreren historischen Ebenen rassistische Kriegs- und Vernichtungspolitiken zum Kinderspiel zusammenschiebt. Konfrontation ist in dieser Inszenierung nicht Effekt, sondern systematische Strategie der Gegenstimmbildung. Durchgehend werden von der Theatergruppe einander widersprechende Positionen, Interessen und ‚Realitäten‘ aufgebaut und gegenüber gestellt. In wenigen Fällen sind diese als Streit- oder Kampfsituationen auf der Bühne platziert wie beim ‚Tennisspiel‘ zum Kopftuchstreit oder der Patriarchen-Szene, in denen die Zuschauerin ihren Kopf von links nach rechts nach links etc. wendet, faktisch also ‚mit dem Kopf schüttelt‘, um dem Pro und
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Kontra zur jeweiligen Streitfrage zu folgen (Abb. 18/19). Im ersten Teil werden Kontraste zwischen mentalen Vorstellungsbildern und den Bildern auf der Bühne aufgebaut: Vor einer Folie eines ‚Erwartbaren‘ (z.B. dass Schüler_innen zu mündigen, gar kritischen Menschen gebildet werden) funktioniert Schule als Lern-, wenn nicht Abrichtungsanstalt, die mit humanistischer Bildung im (heutigen) Sinne der Persönlichkeitsentwicklung (oder gar im Rousseau’schen Sinne: entfaltung) wenig zu tun hat. Aber nicht nur wird Bildung vor der Folie dieser Bildungsideale kritisch betrachtet und diese an ihren ‚Realitäten‘ befragt und gemessen. Zugleich gerät der Bildungsbegriff selbst ins Visier: Denn dem am Ideal oder Ziel von Bildung (z.B. eine mündige Persönlichkeit) orientierten Bildungsbegriff steht nun eine andere Perspektive auf Bildung gegenüber: Sie nimmt die subjektkonstituierenden Strukturen als Bildung in den Blick, deren Effekte sich nicht auf positive reduzieren lassen. Gegenüber stehen hier unspezifische Idealvorstellungen und die auf der Bühne gezeigten Bilder, die ihrerseits mehrfach Gegensätze aufbauen, z.B. zwischen ‚Lessing‘ und seiner Schulklasse, aber auch zwischen einzelnen Schülern und der Gruppe. Die Darstellung von Negativbildern hebt aber gerade in der Konfrontation das Unspezifische hervor, das ungefüllt stehenbleibt. Auf diese Weise wird das Publikum mit der Leere der vielen Botschaften (der Toleranz, der Mündigkeit, der Persönlichkeit, des Menschen etc.) konfrontiert und zugleich damit beauftragt, sich mit Inhalten auseinanderzusetzen und ihre Bedeutungen zu verhandeln, statt ‚Wahrheiten‘ zu normalisieren und als ‚Besitz‘ zu behandeln. Eine winzige Miniszene stößt diese Fragen am Ende noch einmal an: In die Stille des letzten Musikstopps ruft plötzlich eine helle Stimme: „Ein Ring! Gottlob, ich hab das Original!“ – „Ich auch!“, ruft kurz darauf die nächste – „Ich hab das Original“, die dritte. „Nein, ich“ – Ich! – ich, hab das Original … das Original … (BW 137) Und dann beginnt der letzte Kampf (nicht um den letzten Platz, sondern um den „echten Ring“), den ‚Lessing‘ mit einem letzten, nur unter großer Mühe zu Gehör gebrachten ‚Kinderchen liebt Euch‘ beendet. Dieser Streit ist – wie der Ring – hohl. Außer um Echtheit geht es um nichts; es geht, umgedreht, wohl um die Originalität der Leere. „Konfrontieren“ – u.a. im Sinne von „jmdn in die Lage bringen, daß er sich mit etwas Unangenehmen auseinandersetzen muß“ (Müller 1982: 413) – ist auch hier eine der ‚giftigen‘ Strategien, die die Gruppe am THG von Lessing aufgreift und mit der sie das Stück beendet und ins Bild setzt:15
15 In die folgende Betrachtung beziehe ich das im Skript notierte letzte Lessingzitat mit ein, das in der Videoaufnahme der Aufführung am Kleinen Haus am Braunschweiger Staatstheater fehlt.
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338 | G EGEN -B ILDER : B OMBENWETTER . D AS K OPFTUCH HÄLT Aufruhr. Alle haben inzwischen einen Dosenring am Finger. Streit. Lessing:
Kinderchen, liebt euch!
Alle umarmen sich und beginnen sich dann zu quälen. [Wechselschleife von Umarmungs- und Qualgesten, tm] O so seid ihr gleich – betrogene Betrüger! Der echte Ring, vermutlich, ging verloren. (BW 137)
Abb. 27 und 28: Bombenwetter Schlusschoreographie (Videostills) In Zeitlupe präsentiert die Klasse einen permanent wiederholten Wechsel von Bildern gegenseitiger Quälerei (mit allen Mitteln des Bühnenkampfes) und den bekannten Varianten der Umarmung. Es entsteht das Kipp-Bild eines Gegensatzes (Abb. 27/28), das als Dauerbewegung gewissermaßen ein Nicht-Ende ergibt. Dieses Kipp-Bild in getakteter Wiederholung nach der Musik (im Wechsel Pur und Punk) bringt die Prinzipen des Stückes am Ende als Dauerschleife des Kontrastes auf den Punkt, und zwar mit einer interessanten Schlusswendung: Denn das Bild am Schluss besteht aus zwei einander widersprechenden Bildern, die eins ergeben. Sie heben in dieser Form auf, was die gesamte Collage begleitet: eine Statik der Einzel-Bilder, in der die Widersprüche, um die es geht, noch klarer profiliert sind. Das Bild am Ende ist kein Schlusspunkt, sondern Bewegung.
Affiches vivantes Etwas despektiertlich könnte man sagen, das Stück ist plakativ und schließt mit jedem Bild einen Punkt verkündeter Wahrheit ab: Es hält dem Publikum Plakate des Widersprüchlichen vor Augen. Aber auch dies ist Prinzip: Denn mit der plakativen Vorstellung der Widersprüche geht die Produktion auch eine Auseinandersetzung mit dem Plakativen (im Theater) ein, das die heutige Rezeption mit
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dem Lessing’schen Erziehungsstück ebenso assoziiert wie z.T. mit dem vorliegenden ‚Politspektakel‘. Auf diese Plakativität zur Vorstellung von Widersprüchen möchte ich in einen letzten Blick werfen, um zu rekonstruieren, wie die Plakate der Widersprüche genau funktionieren und mit welchen Effekten sie vorgetragen werden. Während im ersten Teil Inkongruenzen zwischen Bild- und Textinhalten (v.a. der Ringparabel) bestehen, sind die Widersprüche im zweiten Teil anders zu verorten. Sie liegen gewissermaßen zwischen den vorgestellten Szenenbildern (Nachbarschaft/Schädlich, Fahneneid/Bush etc.) und einer Folie, die im Verlauf des ersten Teils und sogar schon mit dem Paratext aufgebaut wurde und einen Teil des orientierenden diskursiven Rahmen des Nahe-Gelegten fokussiert: Allem voran die Ringparabel, Nathan der Weise, dem „in der gesamten deutschen Literatur“ (Kuschel 2004: 12) vermeintlich einzigartigen Drama der Toleranz und Versöhnung, und Lessing, dessen Verhöhnung als Toleranzapostel gerade seine Ehrung im Lessingjahr voraussetzt. Dem auf diese Weise „toleranzversicherten“ (vgl.: Programmzettel BW) Publikum werden nun die Bilder der Serie Schädlich – Bush – Himmler – Hohmann, mit historischen Referenzen zum Hamburger Hauptpastor Goeze und christlichen Positionen im mittelalterlichen Jerusalem, kurz: Gegen-Bilder vorgehalten. Mit den szenischen, stilisierten Bildern setzt die Theatergruppe einen Kontrapunkt zum Ausgangstext. Dessen Strategien bestehen darin, seine Leser_innen oder Zuschauer_innen über die lineare Narration, die Dialoge und insbesondere durch die Strategie des Entdeckens in das literarische oder inszenierte Geschehen hineinzuziehen. Dagegen bauen die in Bombenwetter produzierten Szenenbilder Distanz auf. Dies geschieht nicht nur durch die inszenierten Themen und Inhalte, von denen sich die Zuschauerin gern distanzieren möchte, sondern v.a. durch die angewendeten theatralen Mittel eines „Theaters der Bilder“, das Peter Simhandl in Opposition zu „kausallogisch aufgebauten Geschichten“ als Aneinanderreihung bewegter Bilder beschreibt, die assoziativ miteinander verknüpft sind. „[E]s stellt keine psychologisch ausdifferenzierten Charaktere auf die Bühne, sondern Kunstfiguren […]; es gibt keine illusionistischen Nachahmungen von Wirklichkeit, sondern kreiert autonome Realitäten mit eigenen räumlichen und zeitlichen Gesetzmäßigkeiten“ (Simhandl 2003: 47). Doch weder entsteht in Bombenwetter die Bildhaftigkeit durch Bühnenbilder, Lichtspiele oder den Einsatz architektonischer Grundelemente zur Ausstattung von Raumbühnen, noch ist die Herstellung „autonome[r] Realität“ „phantastisch-visionärer GegenBilder“ zur außertheatralen Realität (ebd.) anvisiert. Als Grundelemente dieser Inszenierung fungieren vielmehr Tische und Figuren, die zumeist dem unmittelbaren eigenen Alltag entnommen sind. In den chorischen Formationen stellen sie in immer neuen Kombinationen unterschiedliche Bilder her und rekurrieren dazu
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auf ein im Allgemeinwissen sedimentiertes Bildrepertoire wie beispielsweise der Barrikadenkampf, das Verhör, die Tafel etc. Die meisten Bildkompositionen sind symmetrisch und in geometrischen Mobiliarformationen auf einem Lichtfeld angeordnet, das ein, wenn auch unscharfes, Rechteck bildet. Der Eindruck einer Zwei-Dimensionalität wird mehrfach hergestellt durch lineare Aufstellungen der Tische (hochkant als Wand/Mauer oder als lange Tischtafel), die oft nahe der Bühnenkante positioniert sind. ‚Bildliche‘ Statik entsteht zudem durch Bewegungsabläufe, die entweder in der (oft auch schnellen) Wiederholung oder in extremer Langsamkeit durchgeführt werden, zunehmend jedoch durch den nahezu kompletten Verzicht auf Bewegung, so dass Standbilder entstehen, in denen gesprochen wird. (Schädlichrede, Zeitungsszene, Bush, Patriarch). In anderen Szenen dominieren stilisierte Bewegungen, die im Freeze festgestellt werden und nach einiger Zeit in neue Stills überführt werden („Federleicht“). Darüber hinaus beginnen oder enden die meisten Szenen im kurzen Stillstand. Die so in den Bildern hergestellte Statik produziert den Effekt einer In-sichGeschlossenheit, die keinen Widerspruch zulässt. Die Bilder sind vergleichbar mit setzenden Aussagen – jedes Bild ein Satz. Die Collage rekurriert somit indirekt auf eine Tradition, die im 18. Jahrhundert mit den tableaux vivants16 in bürgerlichen Kreisen entstand und bis ins späte 19. Jahrhundert immer populärer wurde. Die Idee, Statuen, Gemälde oder auch andere Bilder zu ‚verlebendigen‘, d.h. ihrer Statik und Zwei-Dimensionalität zu entziehen und so dem Publikum nahe zu bringen, wird hier jedoch genau umgekehrt: Statt mit ‚lebendigen‘ naturalistischen Darstellungen ein Hineinziehen in die Geschehen zu erzielen, wird in diesen Szenenbildern ‚Lebendigkeit‘ eher erstarrt. Es entsteht eine Distanz, die nicht nur den inhaltlichen Bezug (das Geschehen oder die Botschaft) auf Abstand hält, sondern vor allem das Publikum auf ganzer Linie mit diesem konfrontiert. Die Gruppe geht somit auch auf Distanz zu Lessings oder Nathans Überzeugungsstrategien, mit bildhaften Vergleichen Nähe (zu objects) herzustellen und darüber in der Zuhörer_innenschaft ein Mit-Einander zu erzeugen. Mit einer nahezu ununterbrochen nach vorn gerichteten Frontalität stellt diese Produktion die Szenerie der Zuschauerin gegenüber. Mehr noch: Auf unangenehme Weise kommen die Bilder sogar auf einen zu. Statt einer einladenden Geste des Mitmachen lässt die Geste der Konfrontation die Zuschauerin gewissermaßen selbst erstarren.
16 Zur Tradition der Nachstellung von Skulpturen, Gemälden, später auch in Musterbüchern veröffentlichten Bildvorlagen und Anleitungen zum Bilderstellen siehe Leonhardt 2007: 152–155.
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Diese Strategie der Konfrontation orientiert sich deutlich an der Bildhaftigkeit von Einar Schleef, der, wie Miriam Dreysse ausführt, Brechts Arbeit mit dem Chor radikalisiert hat (Dreysse 1999: 35). Schleefs Inszenierungen arbeiten mit ähnlichen Bildaufbauten, mit den gleichen Mitteln der (endlosen) Wiederholungen, der Zeitdehnungen oder Zeitraffungen. Sie produzieren Statik durch eingefrorene Gesten (im Sinne von Brechts Gesten) und Kon-Frontalität, die durch lineare Aufstellungen direkt vorn an der Bühnenkante entsteht. Diese „zurückweisende Frontalität“ (ebd.: 36) arbeitet der Einfühlung ebenso entgegen wie der „Fixierung eindeutiger Identitäten. Sie weist jede harmonisierende Vorstellung von einer wie auch immer gearteten Einheit von Bühne und Publikum zurück – letztlich auch die der Brechtschen Interessensgemeinschaft“ (ebd.). Die theatralen Bilder in Bombenwetter werden auf diese Weise plakativ: Kontrastreich und in polemischer Schärfe hält dieses Theater dem Publikum Plakate der negativen Botschaften vor’s Gesicht. Das ist Zeigefingertheater pur, abgeguckt vom Meister Lessing: Radikal, scharf und provokant – denn hier fehlt jede Versöhnungsidee. „Glotzt nicht so romantisch“ stand auf einem der Plakate, die Brecht 1920 für die Aufführung von Trommeln in der Nacht im Zuschauerraum aufzuhängen empfahl (Brecht 1985: 38), um dazu aufzufordern, „die traditionelle, wie Brecht es nannte ‚kulinarische‘ Haltung des passiven Zuschauens zu verlassen“ (Schäfer 2007). „Handelt lieber“ wäre vielleicht mit Lessing (und Brecht) die Botschaft an das Publikum in Wolfenbüttel. Plakate und v.a. Chöre gehören neben einer Vielzahl von anderen Mitteln zum Grundrepertoire des epischen Theaters. Bombenwetter hat sie alle auf einmal genommen, zusammengeschoben und auf diese Weise die Verfremdungstechnik selbst auf die Bühne gesetzt. Denn der Chor ist hier gewissermaßen selbst das Plakat. Dies übersteigt seinen Einsatz als V-Effekt auf der Bühne, der seinen Gegenpart – das zu Verfremdende, nämlich die Einfühlung oder Illusion – noch braucht, um als VEffekt zu funktionieren. Ver-fremdet wird in diesem Stück anders. Ver- oder sogar ent-fremdet steht in diesem Stück der Öffentlichkeit der Chor als Repräsentant der Öffentlichkeit gegenüber; „der Chor (schon immer in seiner Eigenschaft als Menge), [vermag] szenisch als Spiegel und Partner des Publikums zu fungieren. Chor erblickt Chor“, wie Hans-Thies Lehmann konstatiert (2001: 235). In Bombenwetter blickt insofern eine Zuschauer_innenschaft – ohne ein Kollektiv zu werden – auf sich selbst mit ihren hier fremd gemachten Erwartungen und Selbst-Vorstellungen und sieht ein ‚Spiegelbild‘, das in aller Wucht die Illusionen von möglicher Selbst-Versöhnung durch Toleranz- und Aufklärungsbotschaften zerstört. Es blickt auf Figuren, deren weiße Masken zu Beginn clownesk daherkommen und im Verlauf der Vorstellung ‚normal‘ werden. Diese Figuren treten in Formationen auf, die musterhaft in totaler Selbst-Disziplin kon-
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figuriert werden. Das sind die – weißen – Gemeinschaftsbilder, die eine gesellschaftliche Öffentlichkeit sind und ‚spiegeln‘, die sich ihrer eigenen Werte und Positionen in der Tradition der Aufklärung gewiss ist. Friede, Freude, Eierkuchen als Toleranzversicherung versus (rhetorisch-rassistische) Hysterie und Quälerei: Indem das Kippbild am Ende diese Dauerschleife verordneter AntiAufklärung in eine geradezu ahistorische Formel transzendieren lässt, entsteht das Gegen-Bild zum Ring der Aufklärung. Dessen „geheime Kraft, […] angenehm zu machen“, scheint offenbar weder von seinem Besitz noch von der Verkündigung seiner Heil-(Aufklärungs-)Botschaften auszugehen. Diese Bilder legen die hegemonialen Nahe-Legungen auf Distanz und legen stattdessen Selbst-Reflexion als Prozess des Sich-selbst-fremd-Machens nahe: eine Reflexion der eigenen Positionen und Positioniertheit wie auch eine Reflexion des Blicks darauf. María do Mar Castro Varela hat in diesem Sinn auf das Potenzial des Verlernens hingewiesen, insbesondere in pädagogischen oder anderen Bildungszusammenhängen, zu denen ein Lessingjahr zu zählen wäre. Zu verlernen wären die überlegenen – weißen – Haltungen eines ZugehörigkeitenWissens mit der Einnahme einer Haltung „risikoreichen Lernens“, bei dem das „Lernen nicht ohne Kennen-Lernen unserer selbst möglich ist“ und nicht ohne Abgabe von Macht (Castro Varela 2002: 44). Castro Varela verweist mit Spivak auch auf das doppelte Potenzial der Anerkennung im Verlernen der eigenen Privilegien: Die Anerkennung der eigenen Privilegien als Verlust konstituiert zugleich die Anerkennung von Wissen, das uns aufgrund unserer sozialen Position verwehrt ist: Unlearning one’s privilege by considering it as loss constitutes a double recognition. Our privileges, whatever they may be in terms of race, class, nationality, gender, and the like, may have prevented us from gaining a certain kind of Other knowledge: not simply information that we have not yet received, but a knowledge that we are not equipped to understand by reason of our social position. (Spivak zit. in Castro Varela 2002: 44)
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Gegenstimmbildung
Strategien
(S ELBST -) KRITISCH
REFLEKTIEREN
Das Vorhaben, Gegenstimmbildung in Theaterprojekten gegen kulturellen Rassismus näher zu bestimmen, habe ich mit einer Vorabdefinition begonnen, die (selbst-)kritische Reflektion zum zentralen Kriterium macht. Zu reflektieren ist, so meine Annahme, wie Theaterarbeit einschließlich ihrer theoretischen Beschreibung und Konstruktion in diskursive Rahmungen eingebunden ist, die – wie anhand der Debatten um Migration, Integration oder Flucht deutlich wurde – rassistisch strukturiert sind und rassifizierendes Wissen (re-)produzieren, mit dem gesellschaftliche Ordnungen des Ein- und Ausschlusses (re-)legitimiert werden. Diese Rahmungen sind, wie auch in den Stücken thematisiert, sowohl in ihren zeitlichen als auch in ihren räumlichen Dimensionen zu betrachten: Rassismus ist ein historisch Gewordenes, das auf kolonialen Ordnungen und Praxen basiert und deshalb in seiner globalen Dimension aufgefasst werden muss, in der Kolonialisierte wie Kolonialgesellschaften in einem machtvollen hierarchischen Verhältnis stehen, oder wie Encarnación G. Rodríguez formuliert: „Von Migration heute sprechen bedeutet also, die europäische Gesellschaft mit ihren kolonialen Genealogien zu konfrontieren, Europa als ein postkoloniales Gebilde zu dekonstruieren.“ (Rodríguez 2005: 72) Koloniale Genealogien lassen sich auch in der europäischen Kunst-, Theaterund Philosophiegeschichte verfolgen, wie die ironischen Kommentare auf dieses Repertoire in Amo zeigen. Verwiesen wurde dort beispielsweise nicht nur auf die fundamentale Dichotomie einer rassifizierten und zudem gegenderten Schwarzweiß-Konstruktion in der Zauberflöte, auf Othello und die ihm zugeschriebene mörderische Eifersucht1 oder auf die tradierten Praxen des degradierenden sog. 1
Dieses Thema, das im Dialog zwischen dem Regisseur und Thomas in der Eingangsszene angesprochen wurde, durchzieht auf beiden Ebenen in einer parallelisierten
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blackfacing, sondern im Besonderen auch auf die naturhistorisch unterlegten Konstruktionen der Kategorie „Rasse“ und deren sukzessive Profilierung zu ‚objektivem‘ Wissen. Dieses wurde im Verlauf von zwei weiteren Jahrhunderten in sich immer weiter differenzierenden wissenschaftlichen Disziplinen befestigt und regulierte das soziale Leben über ethische und juristische Diskurse bis hin zu gesetzlichen Restriktionen im Bereich weißer Fortpflanzung. Insofern ist es kaum verwunderlich, dass diese Biopolitiken – trotz aller wissenschaftlichen Widerrufungen – auch im 20. und 21. Jahrhundert soziales Handeln ‚faktisch‘ maßgeblich mitbestimmen und den künstlerischen Sektor des sozialen und kulturellen Lebens nicht auslassen. Sandrine Micossé-Aikins konstatiert dazu: „Most Western contemporary art has grown out of a context shaped by coloniality and white heterosexist supremacy – among other forms of oppression. Many of your renowned poets, philosophers and playwrights etc. were racists/sexists/etc.“ (Micossé-Aikins 2012) Micossé-Aikins’ Warnung vor einer unreflektierten Fortsetzung solcher kulturellen Erbschaften führt zu einem zentralen Aspekt für Theater/Pädagogik als Gegenstimmbildung, die – mit Butler gesprochen – die Verantwortung für die Wiederholungen in der Sprache anzuerkennen hätte. Dazu gilt es, die sprachliche Verfasstheit von Kunst und Theater ebenso anzuerkennen wie ihr Eingebundensein in die rassistische Strukturiertheit westlicher Gesellschaften, die sich aus deren kolonialer Vergangenheit ableitet. Es bedarf der Einsicht, dass Theater als künstlerische Artikulation nicht außerhalb ihrer Rahmungen – und damit außerhalb rassistisch organisierter gesellschaftlicher Ordnungen – steht und agiert, sondern Teil der Diskurse und Praxen ist, mit denen bestimmte Bevölkerungsteile in ein Wir einbezogen und andere ausgeschlossen werden. In diesem Sinn sind diskursive Rahmungen von Theaterproduktionen also nicht als ‚Kontext‘ zu verstehen, der Theater und Kunst als ‚Text‘, also ein in sich mehr oder weniger geschlossenes System oder eine eigene (autonome) Sprache, ‚umrahmt‘: Eingebunden sein meint, Teil dieser Ordnungen und Wissensbildungen zu sein. Das heißt
Liebesgeschichte (Amo – Dorinde/Thomas – Doris) das gesamte Stück. Da ich mich auf die institutionelle Wissensbildung konzentriert habe, ist die Bearbeitung dieses Strangs entfallen. Die Repräsentation rassifizierter Liebesbeziehungen im Theater, die, in diesem Fall am Beispiel Othello, einen Blick in die – noch ältere – europäische Theatergeschichte ermöglichen würde, hätte den Rahmen dieser Analyse nicht nur gesprengt. Da die in Amo vorgestellten Liebesgeschichten wenig Ansatzmöglichkeiten boten, Unterbrechungen mit den Mitteln des Theaters herauszuarbeiten und so subversive Strategien gegen die stereotype Wiederholungen vorzustellen, habe ich diesen Aspekt ausgelassen.
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auch: Weder lassen sich rassifizierende Wissensbildungen auf die historische Gegenwart reduzieren noch auf Felder eines ‚Außerkünstlerischen‘ begrenzen. Die Herstellung, Reproduktion und nicht zuletzt auch die Möglichkeit der Unterbrechung rassifizierender Wissensbildungen im Theater funktioniert dabei – ebenso wie in anderen Bereichen gesellschaftlichen Lebens – auf der Grundlage der (sprachlichen) Wiederholung. Es geht bei der Anerkennung sprachlicher Verfasstheit nicht, wie ich bereits mehrfach betont habe, darum, Theater auf verbale, mündliche oder schriftliche Sprache zu reduzieren. Jede Lichtführung, jedes Kostüm, jeder Bühnenaufbau oder jeder Blick und jede Bewegung sind Elemente dessen, was in bestimmten Anordnungen strukturiert (als Text) zu sehen und zu hören gegeben wird und Bedeutung in der Weise produziert, dass auf vorangegangene Bedeutungsproduktionen rekurriert wird. Da Sprache als Zitat funktioniert und dabei doch immer verschiebt, geht es in der semiotischen Lektüre nicht darum, Worte, Gesten, Blicke oder andere theatrale Elemente als fixierte Zeichen mit bestimmten Bedeutungen zu ‚entziffern‘ und so Theater als Text auf wiederholte feststehende Bedeutungen zu reduzieren. Sprache funktioniert anders, denn der Zusammenhang zwischen Signifikat und Signifikant ist arbiträr und bei aller Konventionalität nicht ohne Spielräume. Genau diese Arbitrarität macht auch die Sprache/n des Theaters so variantenreich. Dennoch unterliegen auch die künstlerischen Repertoires ebenfalls Regeln und Konventionen und können – wie sehr sie auch gegen ihre eigene Reguliertheit anarbeiten mögen – ihre Genealogien und Traditionen nicht vollends verwerfen. Auch weil Theaterproduktionen sich im Spannungsfeld von Originalität und Iteration bewegen, operiert Theatersprache mit dem Prinzip der Wiederholung mit Differenz: Sei es die wiederholte Inszenierung tradierter, kanonisierter Texte und Dramen (inklusive ihrer ‚Zertrümmerung‘), sei es die Wiederholung von narrativen Logiken z.B. in tragischen oder komischen Plotkonstruktionen (einschließlich ihrer Verfremdung und parodistischen Verzerrung), seien es räumliche Anordnungen von Publikum und Akteuren auf der Bühne (auch abweichend von institutionellen und baulichen Vorgaben), oder seien es bestimmte symbolische oder allegorische Anspielungen, Verweise oder Signifizierungen, die im Zitat verändert werden, aber immer auch vorangegangene Bedeutungen mittragen. Die Regeln des Theaters als Kunst basieren auf dem Prinzip der Wiederholung und des ‚Mitnehmens‘ von vorangegangenen Verwendungen. Nicht zuletzt sind es genau diese institutionalisierten Beschränkungen, die Theater als solches hervorbringen, d. h. sie profilieren das, was dem Publikum vorgestellt wird, als Theater oder Kunst. Es geht also um einen verantwortungsvollen Umgang mit der Wiederholung von ‚Vokabularen‘ und ‚Grammatiken‘ des Theaters und seiner theoretischen Beschreibung, mit dem und in dem (auch) rassifizierendes
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Wissen produziert wurde und wird. Es geht um die Reflexion der theatralen Mittel und Rückgriffe, mit denen Theater als Kunst oder auch ohne Anspruch auf Kunst produziert wird. Nicht zuletzt geht es um die Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Raum des Künstlerisch-Fiktionalen und der Realität. Das gilt für die eigene Theaterpraxis wie für die Kritik und Theoriebildung um diese Praxis. Die Aspekte rassistischer Praxis, auf die in der Produktion Amo im Jahr 2005, aber auch in den Debatten um Blacckfacing an Berliner – und anderen – Theatern im Jahr 2012 verwiesen wurden, bieten Anlass, über den wiederholenden Umgang mit bestimmten Praxen und ihre Rechtfertigung nachzudenken: Es gilt zu wiederholen, dass (rassistische) Bedeutungsproduktion von einer immer wieder vorgebrachten Intentionalität zu trennen ist. Das ‚so‘ oder ‚nicht so‘ ‚Gemeinte‘ transportiert ‚sich‘ eben nur in der Konventionen folgenden wiederholten Verwendung sprachlicher oder theatraler Mittel. Dass bei der Wiederholung von degradierenden Bühnenstrategien (wie dem Blacckfacing) ausgerechnet mit künstlerischer Freiheit argumentiert wird, ist geradezu absurd. Denn das Potential des Diskontinuierlichen dient so als Vorwand zum Beharren auf der Kontinuität „ausschließende[r] Traditionen des weißen bürgerlichen Theaters“, wie Julia Lemmle kritisiert, und auf der Verfügungsgewalt über den künstlerischen (freien) Möglichkeitsspielraum: „Sie forderten für sich das Recht ein, weiterhin im Sinne eben dieser Traditionen zu bestimmen, wie alle anderen nicht-weißen und nicht-männlichen Personen dargestellt werden können.“ (Lemmle 2012: 1) Statt das Potential der Unterbrechung zur Reflexion dieses machtbesetzten Gefüges zu nutzen, wird es zum Argument gegen die Unterbrechung der Degradierung. Diese Auffassung von künstlerischer Freiheit setzt die Eigengesetzlichkeit künstlerischer poiesis (poetics) und Pragmatik (politics) absolut und schließt sie von jeglicher anderen gesellschaftlichen Praxis ab. In dem Maße, in dem ‚freie Kunst‘ somit ihrer Einbettung in und Verantwortung gegenüber anderen sozialen Praxen enthoben scheint, kann sie vermeintlich ‚machen, was sie will‘, ist aber gerade hierdurch effektiv „entmächtigt“: Sie wird nur unter der Voraussetzung „von der [hegemonialen] gesellschaftlichen Praxis toleriert“ (Horkheimer/Adorno 1992: 39), dass sie sich selbst von vornherein all ihre möglichen gesellschaftlichen Effekte abspricht. Künstlerische Freiheit als Potential der Unterbrechung verwandelt sich so in ein Argument gegen die Unterbrechung der diskursiven Konventionen rassistischen Sprechens. Dies ist kein Plädoyer für die Beschränkung von theatralen Mitteln. Wie Butler betont, ist die Beschränkung der (theatralen) Sprache eine Einschränkung der Souveränität über sie. Denn mit einem resignifizierenden Gebrauch der Zitate können Bedeutungen verschoben werden. Das mehrfach codierte Blacckfa-
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cing, das ironische Tragen des Bastrocks wie auch der übertrieben ausgelassene Tanz zur Arie des Monostatos in der Zauberflöte in der Eingangsszene von Amo habe ich als eine solche resignifizierende Zitation beschrieben, nicht zuletzt wegen der sich anschließenden detaillierten Erklärungen, mit denen ‚der Regisseur‘ (und das Publikum) von ‚Thomas‘ über rassifizierende Konventionen in der europäischen Theater- und Ausstellungsgeschichte belehrt wird. Das (Aus-)Lachen wird gewissermaßen durch die Belehrung unterbrochen. Um die Geschichte stereotypisierender Markierungen zu unterbrechen, kann man solche Praxis einfach unterlassen – oder sie ‚anzeigen‘: verfremdend markieren, ausstellen, verschieben oder eben erklärend debattieren. In allen Fällen jedoch erfordert dies zunächst eine Kenntnis von archiviertem rassifizierendem Wissen, das in den Repertoires der künstlerischen Sprachen an Bildern, Texten und künstlerischen Strategien zur Wiederholung oder Nicht-Wiederholung zur Verfügung steht. Gegenstimmbildung bedarf (möglicherweise vor einem Wissen über Theater und Kunst) des Wissens um die Genealogie der eigenen postkolonial und rassistisch organisierten kulturellen Ordnung. Ohne diese Bereitschaft der Aneignung von – auch schmerzlichem – Wissen, ist das Austreten aus der Zirkularität des Rassismus schlechterdings nicht möglich. Die von mir ausgewählten Theaterstücke haben mit unterschiedlichen Perspektiven und Schwerpunkten Auseinandersetzungen mit solchen diskursiven Formationen begonnen. Sie rücken nicht nur historische wie auch räumliche soziale und politische Dimensionen von (Kulturellem) Rassismus ins Zentrum, sondern reflektieren zudem Theaterarbeit in ihrem Verhältnis zu rassifizierenden Wissensbildungen sowie die Möglichkeiten und Bedingungen, ihnen etwas entgegenzusetzen. Die in meiner Lektüre exemplarisch hervorgehobenen Aspekte sollen im Folgenden noch einmal aufgenommen und begrifflich zusammengefasst werden, um sie für eine Theorie von Gegenstimmbildungen produktiv zu machen. Beide Stücke arbeiten mit Rekursen und Verweisen auf Bild-, Textund Wissensrepertoires, die mit Mitteln der Ironie, der Erklärung oder der Polemik historisiert – und damit denaturalisiert – werden.
H ISTORISIEREN In meiner Betrachtung von Amo – eine dramatische Spurensuche bin ich auf die rassifzierenden Praxen wie die Herstellung und Fixierung von Differenz durch naturalisierende Bedeutungszuschreibungen eingegangen. Die Produktion Amo hat solche Praxen markierender Differenzproduktion zum einen auf epistemologischer Ebene ins Blickfeld gerückt und dabei die wissenschaftlichen Untertei-
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lungen und Kategorisierungen von Menschen auf der Grundlage von Benennungen, d. h. ihre signifizierende Hervorhebung und Verknüpfung mit attribuierenden Begriffen thematisiert. Zum anderen verhandelt sie die Praxis des ‚Ausstellens‘, d. h. die markierende Zur-Schau-Stellung des Different-Gemachten und ihre Differenzproduktion in Institutionen des Zu-sehen-Gebens wie dem musealen Ausstellungswesen, dem Theater, den historisch früheren Ausstellungpraxen an den europäischen Adelshöfen, aber auch in den wissenschaftlichen Einrichtungen wie der Universität. Es wurde auf unterschiedlichen historischen Ebenen dargelegt, wie Nicht-Europäer seit den sog. Entdeckungen fremd geschrieben und an europäischen Höfen ebenso wie im Theater und später in sog. Völkerschauen mit immer wieder ähnlichen Attributen und Requisiten als different inszeniert wurden. Die Geschichtlichkeit und Kontinuität dieser Praxen bis in die Gegenwart stellte sich im Aufbau der dramatischen Erzählung auf zwei Ebenen her. Ich habe diese Praxis unter dem Begriff des Signifizierens zusammengefasst, denn es ist eine Herstellung von Differenz durch die markierende Bezeichnung, bei der – mit Foucault – das Sichtbare dem Bereich des Sagbaren gewissermaßen unterworfen wird. Die Hervorhebung, Ordnung und inszenierende Ausstellung von Sichtbarem und ihre Verknüpfung mit Bedeutung in der Bezeichnung produziert und fixiert in der stetigen Wiederholung die Differenz, die heute zum ‚Allgemeingut‘ geworden und daher nur sehr schwer zu unterbrechen ist. Mit der anzeigenden Ausstellung solcher Praxen und Ordnungen im Stück und (meiner) Bezeichnung als rassistisches Wissen findet erneut eine Signifizierung statt, die dessen – oft unreflektierte – Wiederholungen unterbricht. Resignifizierend greift Amo insofern in die Zirkularität rassistischen Sprechens ein, als mit unterschiedlichen Mitteln der Ironie oder der verbalen Explikation diese Bild-, Textund Wissensrepertoires hervorgehoben und ausgestellt und als Archive rassistischer Wissensbildung ausgewiesen – oder enthüllt – werden. Dazu gehören intertextuelle Rekurse etwa auf das Personal der Zauberflöte und Othello, aber auch auf Plotstrukturen, die, wie ich an der Zauberflöte beschrieben habe, eine Welt in dichotomer Schwarz-weiß-Konfiguration zeichnen und dabei, ganz beiläufig, Schwarze Protagonisten in stereotyper Weise als monströs, verschlagen, gewalttätig vorstellen und vorstellen lassen. In der dichotomen Konstruktion der Zauberflöte als einer Oper der Aufklärung und über die Aufklärung wird auf besonders eindrückliche Weise nachvollziehbar, wie die wechselseitige Konstitution von Schwarz/weiß und den ihnen zugeschriebenen Attributen in komplementären Gegensätzen funktionierte: Schwarz als das Dunkle, Vormoderne und Wilde gegenüber weiß als Kategorie des Reinen, Unschuldigen (in der Figur der Pamina zugleich als Aspekt der Konstruktion von
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Weiblichkeit erkennbar) und des Rationalen, Weisen in einer Konstruktion patriarchaler Legitimität (Sarastro). In den exemplarischen Rekursen rücken die institutionellen Praktiken der Darstellenden Kunst und der akademischen Wissensproduktion in den Mittelpunkt der Gegenstimmenbildung und werden zum Gegenstand der Reflexion von Rassismus in seiner genealogischen Verfasstheit. Mit Strategien des Anzeigens werden bestimmte Praktiken oder Texte explizit ausgestellt, um auf sie zu zeigen. Damit werden sie zugleich zur Anklage vorgetragen – in diesem zweiten Sinn also: angezeigt. Die anzeigende Rekonstruktion solcher Bilder macht das Wiederholungsmoment, das naturalisierte Vorstellungsbilder hervorbringt, transparenter. Exemplarisch wird auf diese Weise „ein Bildrepertoire [historisiert], das bereits bewusst oder unbewusst ‚Allgemeingut‘ einer Gemeinschaft ist, auf das sich jede und jeder Einzelne gedanklich bezieht oder beziehen kann.“ (Schade/Wenk: 2011: 105/6) In Bezug auf solche Strategien des ‚Anzeigens‘ habe ich die Risiken der Wiederholung benannt, aber auch das Dilemma, dem die rekursive Beschäftigung mit rassistischen Strukturen ausgesetzt ist. Beispielhaft habe ich dieses Dilemma an der Vorlesung „Über die Verschiedenheit im Menschengeschlecht“ des Prof. Johann festgestellt, mit dem die diskursive Herstellung der Kategorie „Rasse“ ‚angezeigt‘ und der Versuch gestartet wird, die europäische Aufklärung in ihrer positiven Grundbesetzung mit den Begriffen der Freiheit und Gleichheit herauszufordern. Dies geschieht, indem einerseits die ‚Schattenseiten‘ der Aufklärung ins Licht gesetzt, andererseits aber gerade mit dieser Enthüllung die rassenkonstruierenden Aussagen wieder in den aktuellen Gebrauch geholt werden. Das Dilemma des Anzeigens besteht in der reifizierenden Wiederholung dessen, was negiert wird. Gegensprechen muss sich jedoch mindestens zum Teil auf das beziehen, was angezeigt werden soll. Anti-rassistisches Gegensprechen erfordert eine sorgsame Reflexion auch dieses Dilemmas.2 Diese dilemmatische Form der Reaktualisierung rassistischen Sprechens ist auch in den bildhaften Rekonstruktionen partikularer Abgrenzungsdiskurse festzustellen, wie sie die Szenencollage Bombenwetter. Das Kopftuch hält einsetzt. Das Stück stellt deutsche oder westliche Wir-Gemeinschaftsproduktionen vor, um sie in einen Widerspruch zu jenen Aufrufen zu stellen, in denen sich die Gesellschaft der Toleranz und Aufklärung („Hauptsache toleranzversichert“) ihrer selbst versichert: Die Reden von Hans-Joachim Schädlich, Martin Hohmann o-
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Dieses Dilemma betrifft auch mein eigenes Schreiben, das über die Beschreibungen von vorgefundenem Material hinaus zur Diskussen von Problematiken das zu Problematisierende selbst auch benennen und somit zum Teil auch wiederholen muss.
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der auch George W. Bush wurden ebenfalls – wenn auch pointierter, weil plakativer in Bildern nationaler, nachbarschaftlicher oder stammtischartiger Einheit präsentiert – als solche Reproduktionen im Modus der Anzeige wiederholt.
(Anders) erinnern Während Amo – eine dramatische Spurensicherung anhand diverser Beispiele Traditionen von Ausschlusspraxen fokussiert, setzt Bombenwetter die Tradierung dominanzgesellschaftlicher Selbstherstellung als nationaler Gemeinschaft – also die Profilierung eines ‚Eigenen‘ – ins Zentrum der Reflexion. Polemisch rekurriert die Szenencollage auf die Indienstnahme Lessings und seines Stückes ‚Nathan der Weise‘ zur Konstruktion von Wir-Identitäten. Herausgefordert wird die konventionalisierte und konventionalisierende Praxis zur Herstellung ‚eigen‘-kultureller ‚Erbschaften‘, die u. a. in der Feier nationaler Dichter und ihrer Werke wiederbelebt, dabei aber neu erfunden (Hobsbawm) werden. Die Reflexion über das Eingebundensein von Theater in die aktuellen diskursiven Rahmungen, die ihrerseits die (literarische) Vergangenheit als ‚Toleranzversicherung‘ beanspruchen, habe ich mit dem ‚Nahe-Liegenden‘ vorgenommen. Mit Rückgriff auf Sara Ahmeds Konzept der Orientierung lässt sich das ‚NaheLiegende‘ als Nahe-Gelegtes rekonstruieren, das orientiert, d.h. durch eine bestimmte konventionalisierte Erwartungshaltung auf ein bestimmtes Handeln ausrichtet. Die Nicht-Erfüllung dieser Erwartungshaltung und (stattdessen) die Konfrontation des Publikums mit der harmonisierenden Lessingrezeption zur Herstellung und Aufrechterhaltung nationaler Bilder einer Gesellschaft der Toleranz, die zugleich eine Konfrontation mit Bildern ausschließender WirGemeinschaftsproduktion ist, habe ich als Gegenstimmbildung analysiert. Bombenwetter ist als eine Repolemisierung3 Lessings und insofern zugleich als Beschreibung einer „Entinnerung“ (Ha) Lessings als Polemiker „gegen die Intoleranz der eigenen Gesellschaft“ (Kermani 2010) zu lesen. In Szene gesetzt wird folglich eine doppelte Polemik gegen die Indienstnahme Lessings für weißnationale Identitätskonstruktionen. Einen zweiten Schwerpunkt in der Auseinandersetzung mit diskursiven Formationen der rassistischen Gesellschaftsordnung bildet also in beiden Theaterstücken die Konstruktion von weißer Geschichte in (nationalen) Geschichtsschreibungen.
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Zum Einsatz kamen verschiedene Strategien der Polemik wie Kontrastierungen, ironische Übertreibung, mantraartige Wiederholungen etc.
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Amo – eine dramatische Spurensicherung habe ich als Gegenstimme zu ausschließenden, ‚entinnernden‘ Geschichtskonstruktionen betrachtet, in der das objektivierende Betrachten und Beschreiben eine Allianz mit Auslassungen (z. B. historischer Akteure, Handlungen und Ereignisse) eingeht. Rekonstruiert wurde in Amo eine Geschichte des Verstummens, die sich konkret auf die (biografische) Geschichte des Schwarzen Philosophen bezog und von dort aus die Verstummung sowohl afrikanischer Gesellschaften und kultureller Praxen als auch europäischer Gegen-Diskurse nachzeichnet. Am Beispiel von Anton Wilhelm Amo als historischer Figur zeichnet die Erzählung das Zum-Schweigen-Bringen einer Aufklärung nach, die das Potential einer gleichwertigen Anerkennung von Menschen und Gesellschaften gehabt hätte. Indem das Stück Amo als einzigen Akteur einer auf Vernunft basierenden Aufklärung profiliert, findet eine Aneignung und zugleich Reklamation einer solchen Aufklärung durch die Verstummten statt, die die europäischen weißen Gesellschaften i. d. R. für sich beanspruchen. Zugleich wird über eine rassifizierende Wissensbildung aufgeklärt und diese der historischen wie gegenwärtigen weißen Dominanzgesellschaft zugewiesen. In dem Bemühen um eine theatrale Lektüre der wenigen Spuren von Anton Wilhelm Amo beschäftigt sich die Produktion zugleich mit den Lücken des historischen Archivs und dem, was Kien Nghi Ha als „Entinnerung“ bezeichnet hat. Die Schwierigkeiten mit der Rekonstruktion dieser verlorenen biografischen Geschichte und im Besonderen mit ihrer theatralen Inszenierung werden im Stück in den Verhandlungen zwischen dem Amo-Darsteller Thomas und dem Regisseur auf der Gegenwartsebene entfaltet. In den konflikthaften verbalen Auseinandersetzungen geht es explizit um die Kontinuitäten rassifizierender Theaterpraxis und Repräsentationspolitiken. An diese selbstreferentielle Kritik anschließend gehe ich der Frage nach, wie und mit welchen Effekten Geschichtsrekonstruktionen unter der Bedingung des Lückenhaften funktionieren (können). Dabei habe ich die mit Amo vorgelegte Gegen-Erzählung als im Detail höchst widersprüchlich herausgearbeitet und diese Widersprüchlichkeit als Modus einer De-Stabilisierung oder Ambivalenz hervorgehoben, die zugleich den Stabilisierungstendenzen der kongruenten Erzählung als Form selbst widerspricht. Zwei einander widersprechende Lektüren zur Integration der Vorlesung des Prof. Johann verdeutlichen diese Ambivalenz beispielhaft: Die erste erschließt sie als verdichtetes Zitatbündel von „Rasse“-konstruierenden Aufklärungspositionen, das die geradezu naturalisierte Vorstellung einer ‚lichten‘ Aufklärung als Fundament aktueller Selbstkonstruktionen von ‚europäischer Moderne‘ unterbricht. Die zweite rekonstruiert den Vortrag jedoch als Position eines Pietisten, der im Stück jedoch als Gegner der Frühaufklärer fungiert. Diese Figuren-Text-
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Zuordnung entlastet die europäische Aufklärung und ihre Akteure (und damit auch das Publikum), indem ihre ‚Schattenseiten‘ ins Feld der Vormoderne verlagert werden. Diesem im Widerspruch zur ersten Lektüre entstehenden Entlastungseffekt bin ich nachgegangen und dabei anhand sehr weniger Andeutungen im Text auf eine im Stück angelegte Konstruktion der Frühaufklärung4 gestoßen, die ich als unverwirklichtes (utopisches) Potential der Aufklärung bezeichnet habe, das – wie auch die Schattenseiten der Aufklärung – nicht oder nur kaum überliefert wurde. Statt auf der Basis dieser wenigen Spuren das Potential der europäischen (Früh-)Aufklärung zu ‚retten‘, hat sich die Produktion entschieden, so meine These, die Verdrängung der Frühaufklärung zu re-inszenieren und mit dem Verweis auf die Lücken dieses Potential als Leerstelle im Text zu konstruieren. Diese Strategie der ‚Leerstellenproduktion‘ habe ich mit dem von Spivak vorgebrachten Einwand gegen eine Geschichtsschreibung erklärt, die den Versuch unternimmt, koloniale Historiographie und Verstummungspraxis mit der Re/Konstruktion und Identifikation ‚eigener‘ Geschichte(n) zu überschreiben. Denn dieses Verfahren läuft nicht nur Gefahr, die Strategien der Kolonialherrschaft zu übernehmen und zu wiederholen; es verkennt zudem, dass diese Rekonstruktionen gegen das dominante Zum-Schweigen-Bringen der kolonialisierten Gesellschaften und ihre/r Geschichte/n nichts ausrichten können. Im Sinne des von Gayatri Ch. Spivak eingebrachten Vorschlags einer Geschichtsschreibung (z. B. der Subaltern Studies), die die Wege des Verstummens nachzuzeichnen versucht („trace the itinerary of silencing“ (1990: 31)), habe ich die auf zwei Zeitebenen angelegte Produktion als (doppelte) Geschichte des Verstummens gelesen und dazu die im Stück selbst von den Protagonisten vorgebrachte Kritik an der Geschichtsinszenierung und ihren Figurenkonstruktionen aufgegriffen. Anhand der zwei ineinandergreifenden Praxen der Objektivierung und des kolonialen Otherings (dt.: Andern) – das Ausstellen und Betrachten von und das Schreiben über – habe ich dargelegt, wie Nicht-Europäer_innen seit den sog. Entdeckungen fremd geschrieben wurden und wie diese stumm machende Herstellung eines kolonialisierten Anderen die damit einhergehende Konstruktion
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Dazu bin ich einer performativen Marginalisierung (Verdrängung) der Frühaufklärung durch das Stück gefolgt und habe dabei – als Nebeneffekt – eine indirekte Schwärzung des Protagonisten Amo durch das Stück festgestellt, d. h. die Herstellung des Philosophen als Schwarzen Akademiker, der aufgrund seiner Hautfarbe rassistisch verfolgt wurde – und nicht wegen seiner Schriften. Diesen Widerspruch zwischen dem Anzeigen von Rassismus und Mechanismen rassifizierender Markierung einerseits und einer Wiederholung markierender Herausstellung auf der anderen Seite habe ich mit dem Fokus der Produktion auf Rassismus im 18. Jahrhundert erklärt.
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des europäischen, weißen, christlichen und männlichen (Autor-)‚Subjekts‘ der Aufklärung bedingte. Der aporetische Widerspruch, den ich im Schluss des Stücks herausgestellt habe, ist der zwischen zwei einander widersprechenden Interpellationen/Subjektivierungen von Amo/Thomas: Beiden wird einerseits ein Subjektstatus als ‚freie autonome Individuen‘ zugestanden, während das Stück zugleich die historische und systematische Herstellung ihres Objektstatus vorführt, in dem sie betrachtet und beschrieben werden (können), der ihre (widerständige) Sprechfähigkeit aber in höherem Maße beschränkt als die anderer Figuren. Diesem unauflösbaren Widerspruch der Un/Gleichheit begegnet die Doppelfigur Amo/Thomas im Schlussbild mit einem widerständigen Schweigen, das ich als Unterbrechung bezeichnen würde und damit als weiteren Versuch der Produktion, aus den Zirkeln rassistischer Herstellungspraxis auszutreten. Der Rück-Blick ins Publikum eröffnet dabei ein Bewegungspotential, das den Widerspruch der Aufklärung nicht nur als geteilte Geschichte des Verlustes, sondern auch als Aufforderung zur Arbeit an einer Anerkennung ohne Konditional (vgl.: Schaffer 2008: 21) mobilisiert und reklamiert. Als Gegenstimme zu einer hegemonialen, weißen, kolonial verfassten Geschichtsschreibung, die den Schwarzen Philosophen in ihren Erzählungen nicht erwähnt und ihn damit aus dem Potential des Erinnerns gestrichen hat, bemüht sich diese Produktion um eine Korrektur in Form einer Gegen-Erzählung, die trotz aller Brüche und Vielschichtigkeit5 den (sprachlichen) Regeln der Erzählung unterliegt. Das gilt für die Figuren- und Konfliktkonfigurationen ebenso wie für die Herstellung von Kohärenz im Erzählverlauf und in dessen Abgeschlossenheit. Nicht zuletzt appelliert das Stück an die einfühlende Identifikation und lädt so zur (trügerischen) versöhnlichen Gemeinschaftsproduktion ein, die riskiert, das Schicksal des weiterhin als geandert vorgestellten Schwarzen zu objektivieren, d. h. als eine Geschichte des Anderen zu betrachten, mit der die (adressierten) weißen Betrachter_innen am Ende doch wenig zu tun zu haben scheinen. Mit Gegen-Bilder habe ich die kritische Auseinandersetzung mit weißer national orientierter und kanonisierter (Literatur- und Theater-)Überlieferung und Traditionsbildung in Bombenwetter überschrieben. Die Herstellung und Selbstbestätigung einer sich in der Tradition der europäischen Aufklärung situierenden Gemeinschaft mit den Mitteln der Erzählung, wie sie sowohl im dramatischen
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Zu nennen wären hier die Effekte der Tanzszenen und der zwei Zeitebenen, auf ich die in der Betrachtung z.T. ebenso wenig eingegangen bin wie auf die stereotypen gender-Konstruktionen.
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Gedicht Nathan der Weise als auch in dessen Rezeption funktioniert, wird in dieser Szenencollage systematisch hinterfragt und unterlaufen: Die ritualisierten, zugespitzten An-Ordnungen von Toleranz und Harmonie werden mit Szenenbildern konfrontiert, die auf sprachlicher und visueller Ebene die Produktion von Einstimmigkeit und Einheitlichkeit problematisieren. Der Präsentation eines normierenden Bildungsapparats, in dem ent-individualisierte Schüler_innengestalten zu Maximen geronnenes Wissen über die Aufklärung marionettenhaft aufsagen und in dem zudem (entgegen den vermittelten Inhalten) Schüler_innen über Ausgrenzung gebildet/subjektiviert werden, folgen Bilder gemeinschaftlicher Schließung. In diesen werden die chorisch vorgetragenen antimuslimischen, antisemitischen und antisäkularen Rhetoriken in räumliche Anordnungen von uniformierten Figuren/Körpern in Gruppenformationen übersetzt. Diese Auseinandersetzung mit der Herstellung solcher weiß-nationaler WirGemeinschaften, die mit der Indienstnahme Lessings, seines Nathan und der Toleranzbotschaft der Ringparabel beginnt und im zweiten Teil zunehmend ohne Lessing als Obmann der Aufklärung auskommt, habe ich als eine Gegenstimme aus dominanzgesellschaftlicher Perspektive gelesen. Sie interveniert in den die Inszenierung rahmenden Erwartungskontext (das Nahe-Liegende im Sinne einer Orientierung), dessen Geschichtlichkeit in der Wiederholung des bereits wiederholt ‚Vor-Gegebenen‘ verschwindet. Ausgehend von den Sprachspielen und visuellen Anspielungen auf solche den Erwartungskontext bestimmenden Vorgaben im Text und im Paratext bin ich einigen Pfaden der Konventionalisierung nachgegangen, die durch die Produktion unterbrochen werden. Bombenwetter stört die Ordnung des Nahe-Liegenden nicht nur, indem es die Wiederholung von bereits in Dienst genommenen Toleranzfloskeln verweigert, sondern es dekonstruiert diese Erwartungshaltung als wiederholte Anweisung zu hegemonialer Selbstkonstruktion. Die Abwendung von der dialogischen, auf Gemeinschaftsbildung ausgerichteten Form der dramatischen Erzählung zugunsten der eher fragmentarischen Form der szenischen Collage ist in diesem Zusammenhang konsequent. Zudem verweisen die chorisch-choreografischen Bilder auf die uniformierende Zurichtung durch eine Bildung, die auf Entmündigung hinausläuft: Statt als Befähigung zu selbstdenkendem Sprechen, also einer Aufklärung als Bildung im Sinne Kants, funktionieren die Aufforderungen zu Toleranz und Anerkennung geradezu als Zwangsanweisungen zu automatisierten Körperhandlungen. Gewissermaßen als Effekt dieser Bildungssituation zeigen die Bilder des zweiten Teils Wir-Gemeinschaftsbildungen, die sich durch antisemitische und antiislamische Wissensbildungen konstituieren. Rassistische Wissensbildung wird in Bombenwetter aus der auf Uniformität ausgerichteten Bildung einer Gesellschaft des ‚Eigenen‘ hergeleitet, die sich als Aufklärungsgesellschaft auf der
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Grundlage von Reduzierungen herstellt: Reduzierung des Nathan auf Harmonisierungsfloskeln, instrumentalisierende Reduktion Lessings zur Konstruktion der eigenen Gesellschaft, die Aufklärung als kulturelles Erbe tradiert, und zugleich Reduktion von Aufklärung auf Sentenzen, die im Klassen- oder Soldatenchor nachzusprechen sind. Den monologisierenden, schulmeisternden Ton in Lessings Bildungsdrama, den ich im Wechsel der Schreibhaltung von der polemischen Streitschrift zum irenischen Dialog konstatiert habe, übersetzt Bombenwetter in eine an Brecht und Schleef erinnernde Konfrontation im plakathaften Bild. Das bildungsbürgerlich adressierte weiße Publikum wird auf (reflektierende) Distanz gehalten und dabei belehrt. Eine Lehre könnte dabei sein, die Privilegien weißer (Bildungs-)Gemeinschaften oder auch Gemeinschaftsbildungen als Verlust zu erkennen, z. B. in der Entmündigung, und dem Vorschlag Spivaks nachzugehen, derart hergestellte, als Verlust erkannte Subjektpositionen zu verlernen und zugleich andere, durch die Privilegien verkannte Formen des Wissens anzuerkennen. Im Zusammenspiel lassen sich die Stücklektüren als zwei unterschiedliche Perspektiven auf Verstummungen und Ausgrenzungsprozesse betrachten, die den Rassismus in der deutschen Gegenwartsgesellschaft konstituieren. Während Amo eher die Praxen symbolischer und sozialer Ausschließung in den Fokus nimmt, visiert Bombenwetter den Prozess der Einschließung ebenso an wie die mit dieser einhergehenden Selbstzurichtung. Als Gegenstimmen verschieben sie den Fokus von Differenz/en hin zur Produktion und Fixierung von Differenz. Sie intervenieren damit in dominante – auch künstlerische – Repräsentationspraktiken, Diskurse und rassistisch strukturierte Macht/Wissensformationen, deren Effekte sie aufgreifen, ‚anzeigen‘ und historisieren. Sie stören die normalisierten Ordnungsgefüge, indem sie Blickweisen verschieben und Geschichte/n neuschreiben. Mit diesen reflektieren sie Bedeutungszuschreibungen, Normierungen und diskursive Rahmungen und problematisieren Instrumentalisierungen oder In-Dienstnahmen zur Herstellung von Identität/en. Beide Stücke arbeiten auf unterschiedliche Weise mit Widerspruch und Widersprüchlichkeit und destabilisieren die vor-ordnende Normalität durch Irritation und radikale Konfrontation. Sie konfrontieren ihre weiß adressierten Publika mit der banalen ‚Unannehmlichkeit‘, inmitten des Zirkels rassistischen Sprechens positioniert zu sein. In der Störung oder Destabilisierung dieser Ordnung liegt das Potential von widersprechenden und widersprüchlichen Gegenstimmen.
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B ILDEN Mit dem Ziel, die Reflexion von Verfahren zur De/Stabilisierung hegemonialer Machtverteilungen in den Vordergrund zu rücken, habe ich meinen Blick auf anti/rassistische Praxen des Re-Signifizierens, Re-Konstruierens, Re-Vidierens, des Re-Orientierens, Re-Polemisierens und Re-Arrangierens ausgerichtet. Die Theaterproduktionen boten Anlässe für ausführliche exemplarische Diskussionen von Verfahren der (anzeigenden) Zuspitzung, Konfrontation, Verschiebung und Aneignung als strategische Möglichkeiten der Unterbrechung von Rassifizierungspraktiken. Mit Fredric Jameson sind die Lektüren als von mir hergestellte TextRekonstruktionen von theatralen Rekonstruktionen zu betrachten: In „beherzter Neuschreibung“ habe ich die Inszenierungen als Texte (partiell) zu Gegenstimmen geschrieben. Weder ging es dabei um die Rekonstruktion von Intentionen noch um die ‚Entschlüsselung‘ anderer ‚Wahrheiten‘, die als Aussagen ‚hinter‘ dem Text ständen. Die Vorstellung einer den Texten intrinsischen Objektivität, die zu rekonstruieren eine Objektivität (oder Neutralität) der Beschreibung erforderte, wird durch die theoretische Perspektive der Gegenstimmbildung gerade hinterfragt, da diese das Diktum eines interesselosen, unpositionierten Blicks als problematisch betrachtet. Gegenstimmbildung als programmatisches Vorhaben, Perspektiven in den Theoriebildungen der Theaterpädagogik zu verrücken, hat stattdessen den (eigenen) positionierten und positionierenden Blick zu reflektieren. Im Besonderen geht es dabei um die Herstellung des Gegenstands durch die Beschreibung, konkret um das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis von Theaterproduktion. In dem Sinn, dass kein Gegenstand ‚ist‘, also weder ein Theaterstück noch dessen Ausgangspunkte oder Effekte ‚sind‘, sondern diese immer erst in der – ihrerseits vor-strukturierten – Rezeption hergestellt werden, betrachte ich jede Kritik und Theorie als bildend. Die Theorie oder Kritik von Theater bildet ihren Gegenstand, die Theaterproduktionen, die ihrerseits ihre Gegenstände bilden und inszenieren. Diese Textbildungen sind geleitet von diskursiven Rahmungen, die nicht immer reflektiert werden und auch nie in allen Dimensionen reflektiert werden können. Dennoch lassen sich von der Praxis ausgehend auch für die Theorie einer Gegenstimmbildung einige Unterbrechungen vornehmen und der verantwortungsvolle Umgang im wiederholenden Akt des Schreibens oder Sprechens auch für das Sprechen über Theater einfordern. Zu reklamieren ist die kritische Reflektion von Begriffen, Normierungen und diskursiven Rahmungen, die den Blick ausrichten. Dazu gehört die Wiederholung von Zuordnungen, wie sie nicht zuletzt in der Konzeption des Interkulturellen im Theater und der Theaterpäda-
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gogik als Ästhetik der Differenz formuliert sind. In der von mir vorgenommenen Neuschreibung der Produktionen als Gegenstimmbildung habe ich bewusst auf differenzbildende Hinweise wie ‚mit oder ohne Migrationshintergrund‘ in der Teilnehmer_innenbeschreibung verzichtet. Funktionsbestimmungen von Theaterarbeit wie Integration, Spracherwerb oder hybridkulturelle Erweiterung formal-ästhetischer Artikulation, die mit Blick auf anzueignende Überschüsse oder auf auszugleichende Defizite von solchen Kennzeichnungen ausgehen, werden dadurch bewusst unterlaufen. Gegenstimmbildung verschiebt den Fokus, der eine angenommene Differenz qua zugeordneter (‚kultureller‘) Herkunft der Teilnehmer_innen ins Zentrum stellt, hin zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit rassifizierender Wissensbildung (nicht zuletzt über Attribuierungen mit ‚Aufklärung‘) und damit verbundenen sozialen Ausschlüssen. Darin unterscheidet sich Gegenstimmbildung partiell auch von postmigrantischen Positionen, die sich explizit auf die Lebenserfahrungen in unterschiedlichen kulturellen Praxen stützen und ihre Handlungsmacht und Subjektivität insofern aus einem ‚Zwischen‘ unterschiedlicher Interpellationen der Zugehörigkeit herleiten. Wie Azadeh Sharifi erklärt, könnte [p]ostmigrantisches Theater […] im Sinne eines Austarierens von vermeintlichen Identitäten aufgefasst werden, die von der deutschen Gesellschaft oder von Eltern und Familie auferlegt werden, aber von postmigrantischen Künstlern und Kulturschaffenden ästhetisch neu definiert werden müssen. Es geht um die Schaffung einer eigenen Identität in der deutschen Gesellschaft und dem theatralen Kosmos, in dem sich die postmigrantischen Künstler und Kulturschaffenden bewegen. Themen und Traditionen der deutschen Kultur und der Kultur der Familien müssen in einer neuen Art und Weise geschaffen und erzählt werden, weil die bisherigen Instrumente nicht mehr ausreichen. (Sharifi 2011: 43)
Bei der Bildung postmigrantischer künstlerischer Positionen ist die Auseinandersetzung mit Interpellationen und Erfahrungen rassistischer Degradierung oder Diskriminierung ebenso wenig wegzudenken wie die exotisierender Bewunderung und Hervorhebung. Aber Rassismus als „eine Art allgemeine strukturelle Logik des gesellschaftlichen Zusammenhangs […, die] Gesellschaften auf den Ebenen der Diskurse, Strukturen, Institutionen, Interaktionen und von Subjektivierungsprozessen“ durchdringt (Mecheril/Melter 2010: 155), bildet alle Mitglieder einer Gesellschaft. Rassismuserfahrungen sind insofern nicht reduzierbar oder verschiebbar auf Erfahrungen von Migrant_innen oder Ge-Anderten. Rassismus ist eine Relation, in der Weißsein als „naturalisierte Norm“ unerkannt bleibt und die so „Privilegien Weißer Menschen legitimieren soll“ (Wollrad 2005: 127). Diese Notwendigkeit zur Reflexion von Weißsein und seiner Privi-
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legiertheit als Rassismuserfahrung erweitert den Gegenstandsbereich von Gegenstimmbildung um solche Produktionen, die eher als dominanzgesellschaftliche bezeichnet werden können und die gerade die Herstellungsmechanismen eines weißen, deutschen Wir/Eigenen kritisch untersuchen. Indem Rassismus als gesamtgesellschaftliche Struktur verstanden wird, verschiebt sich der ‚Betroffenheits‘status, sodass die Verantwortung für das Sprechen und für das Gegensprechen gleichermaßen nicht an ‚die Anderen‘ abgegeben werden kann. Statt also Herkunft oder ‚Kultur‘ als (enthistorisierte) Differenzmomente in den Vordergrund zu rücken, richtet Gegenstimmbildung – wie auch postmigrantisches Theater – die Aufmerksamkeit auf die naturalisierend fixierende Re/Produktion solcher Differenz und ihrer Macht zu relationierender Zuordnung. Darüber hinaus habe ich auf eine Unterscheidung von professioneller und nicht-professioneller Produktionen verzichtet. Dies erscheint mir aufgrund eines sehr unklaren Begriffs der Professionalität begründbar: Professionalität im Theater wird je nach Perspektive unterschiedlich begründet und auf unterschiedliche Aspekte bezogen: auf die Professionalität von (technischen) Produktionsbedingungen – z. B. am Theater – oder auf die künstlerische Professionalität der Regie – z. B. in partizipativen Projekten, in denen sogenannte Experten des Alltags explizit als Laien auftreten6 – oder auf die Professionalität der Schauspieler_innen (vgl.: Pinkert 2010: 173f). Mindestens die Definition von Nicht/Professionalität im Bereich des Schauspiels nach Kriterien der Ausbildung an staatlich anerkannten Schauspielschulen oder des Engagements an staatlich getragenen Bühnen kann für Gegenstimmbildung als Kriterium nur ungenügend sein. Denn der deutsche Theaterbetrieb zeichnet sich in besonderem Maße durch ‚Rein‘haltung aus, die sich zum einen auf aktzentfreies Hochdeutsch als Bühnensprache bezieht, zum anderen Zugänge auf weiße Deutsche mit deutschem Namen beschränkt. Die institutionelle Öffnung des Theaters hat gerade erst begonnen. Die Unterscheidung zwischen nicht-professioneller und professioneller Produktion anhand genannter Kriterien würde Gegenstimmbildung als Intervention gegen Rassismus, die Zugänge beansprucht, unterlaufen.7
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Die Unklarheit der Zuschreibung von Professionalität wird u. a. deutlich an der Zuordnung von Theaterproduktionen, die auf unterschiedliche Weise mit Laien arbeiten: Während Produktionen von Jugendclubs an Theatern mit ihren z. T. sehr hohen künstlerischen Ansprüchen und professionell durchgeführten Bühnentechniken dem Bereich des Nicht-Professionellen zugeschrieben werden, zählen Projekte, die wie Rimini Protokoll mit Laien arbeiten, zu professionellen Produktionen.
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Den hier vorgestellten Theaterproduktionen ist zwar gemein, dass ein hoher Anteil der Stückentwicklung auf der Grundlage von eigenen Recherchen, Versuchsanordnungen
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Mit Blick auf den Begriff der Intervention, wie ich ihn zu Beginn mit Roswita Muttentaler und Regina Wonisch eingeführt habe, bedürfte das Konzept von Professionalität auch auf einer anderen Ebene der kritischen Befragung, nämlich in Bezug auf die institutionelle Autorität. Denn gerade in dem Konzept der Professionalität versteckt sich die Legitimierung, darüber zu verfügen, was von wem wie definiert wird und damit auch darüber, welche Kritik wie und von wem zu äußern berechtigt ist. Die mehrfach erwähnte blackfacing-Debatte verweist diesbezüglich auf eine bemerkenswerte Beharrungskraft weißer konventionalisierter Aufteilungen und Zuweisungen von Dominanzpositionen.
P OLITISIEREN Um der eingangs konstatierten Kulturalisierung von Theater und Theaterpädagogik im Konzept des Interkulturellen Theaters und dabei auch der Konflikthaltigkeit des (ästhetisierten) Differenzkonzepts Rechnung zu tragen, plädiere ich mit dem Konzept der Gegenstimmbildung in Anlehnung an María do Mar Castro Varela für eine „radikale Politisierung“ der Theaterpädagogik. In dieser von Castro Varela für die (interkulturelle) Pädagogik ausgesprochenen Perspektive geht es um die (Un-)Möglichkeit des Andersseins, ohne auf dieses festgelegt zu werden […] Das bedeutet die Annahme der Herausforderung, die das dilemmatische Verhältnis der Differenz an uns alle stellt. Konstitutive Fragen wären etwa: Warum ist der/die andere anders? Wer bestimmt wann jemand wie und wie sehr anders erscheint? Fragen also, die die Machtfrage stellen und damit als Entunterwerfungsstrategie gelesen werden können. (Castro Varela 2002: 41)
Das Bemühen um die „unausweichliche Machtanalyse im Sprechen um Differenz“ (ebd.) in der Problematisierung der Pädagogik fasst Castro Varela als Teil einer ästhetischen Bewegung auf. Ihre Lektüre der Pädagogik als Kunst, erklärt eine „Ästhetisierung des Seins“ zum Ziel: „Diese Ästhetik beinhaltet selbstredend und unmittelbar die Frage nach Ethik und Moral, die so selten noch gestellt wird.“ (Ebd.) Eine radikale Politisierung der Theaterpädagogik – in dem Sinn als
und/oder Improvisationen beruht, die sich auch auf die Aneignung von und Auseinandersetzung mit bereits vorhandenen Stückvorlagen bezieht. Diese Produktionsweise ist jedoch weder als spezifisch für nicht-professionelle oder professionelle Theaterarbeit zu betrachten, noch ist sie Kriterium für Gegenstimmbildungen.
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ästhetische Bewegung – bedeutete auf der Praxisebene die radikale Reflexion der textbildenden Strategien sowie Machtanalysen im Produktionsprozess mit den Beteiligten. Im Bereich theaterpädagogischer und theaterwissenschaftlicher Theoriebildung hieße es, Machtfragen in Bezug auf den Blick auf und die Beschreibung von Theaterproduktionen zu stellen, aber auch das Wissen über die Produktionspraxis und ihre Prozesse als machtbesetzt anzuerkennen und als solches zu reflektieren. Auf beiden Ebenen bedeutete es, Theater als Ort der Reflexion und Artikulation zu beschreiben, in dem Differenz/Anderssein und Differenzproduktion in ihrer Konflikthaftigkeit und Ambivalenz ausgehandelt und nicht harmonisiert werden (vgl: ebd: 38). In diesem Sinn möchte ich in einem Ausblick die Verortung von Gegenstimmbildung in dem wieder aktualisierten Diskurs um das Politische im Theater und in der Theaterpädagogik wagen und einige zentrale Positionen diskutieren, an denen sich Gegenstimmbildung zu reiben hat. Dazu möchte ich das Spannungsfeld zwischen Politik Theater Pädagogik, das Gerd Koch und Florian Vaßen in dem so betitelten Schwerpunktheft Korrespondenzen 53 (2008) entworfen haben, aufgreifen und das Verhältnis zwischen zwei Rubriken – ‚PolitikTheater‘ und ‚PolitikTheaterPädagogik‘ – kritisch weiterdenken, da es sich durch eine gewisse Asymmetrie auszeichnet: Einem eher in die Zukunft gerichteten, programmatischen Teil (‚PolitikTheater‘) zur Begründung neuer Verortungs- und Bewertungskriterien steht ein selbstreflexiver (wenn nicht sogar selbstlegitimierender) Teil gegenüber, der aktuelle Praxis begründet: In ‚PolitikTheaterPädagogik‘ steht das Verhältnis zwischen Theater und Gesellschaft zur Diskussion, das anhand z. T. hochengagierter, aktivistischer Theaterprojekte und -formen wie Forumtheater oder Projekten der GRIPS-Werke entwickelt wird. Hier präsentieren vornehmlich die Akteure selbst, meist Projektleitungen, ihre Projekte und formulieren an diesen ihre Zielsetzungen und Arbeitsweisen. Der Begriff des Politischen wird weitgehend indirekt mit dem ‚Partizipativen‘ 8 der Projekte (Theater als soziale Kunst) begründet oder ergibt sich aus der interventionistischen Zielsetzung, mit Theater direkten Einfluss auf z. B. Flüchtlingspolitik zu nehmen.9 Interessant scheint mir, dass die wenigen explizit theo-
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Zur kritischen Analyse des Konzepts der Partizipation in aktuellen Diskursen u.a. der Theaterpädagogik siehe auch das Dissertationsprojekt „Das Theater der Teilhabe. Der Diskurs um Partizipation in der Theaterpädagogik und das Subjekt der ästhetischen Bildung“ (AT) von Johannes Kup am Institut für Theaterpädagoggik der UdK Berlin.
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Als Ziel des langjährigen Aktionsprogramms „Hier Geblieben!“, das als Kooperation der von PRO ASYL, dem Flüchtlingsrat Berlin, der GEW und dem GRIPS Theater zwischen 2005 und 2008 fast 200 Aufführungen des (professionellen) Theaterstücks
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retischen Erfassungen des Politischen in Begriffen des „Empowerment“ (Marx 2008: 75) oder des „Kommunitarismus“ (Fischer 2008: 69), sogar im Konzept der ‚Erprobung von Handlungsoptionen‘, in denen „sich ‚Betroffene‘ über die Form des politisch-partizipativen [Forum-]Theaters Ausdruck und Klarheit verschaffen“ können (Wrentschur 2008: 79), in dieser Rubrik verortet sind. Das Politische in der Rubrik PolitikTheaterPädagogik wird also über das Partizipative, Soziale, Empowerment begründet. Unter der Überschrift ‚PolitikTheater‘ hingegen kommen Theaterwissenschaftler_innen zu Wort. Sie erörtern historische Dimensionen und aktuelle Positionen um das Politische im Theater im Verhältnis zu politischem Theater. Anhand der Strategien des zeitgenössischen Theaters entwerfen sie neue Kriterien zur Einordnung künstlerischer Praxis. Dabei erklären sie das Politische als intrinsisches Moment zeitgenössischer künstlerischer Formate und leiten es umgekehrt aus diesen ab. Wie auch in dem von Jan Deck und Angelika Sieburg herausgegebenen Sammelband Politisch Theater machen geht es in der Rubrik ‚PolitikTheater‘ um neue künstlerische Strategien und Artikulationsformen, die das Politische in den Darstellenden Künsten (neu) begründen sollen. Die Diskussion um das Theater der Gesellschaftskritik wird von drei Grundannahmen begleitet, die Jan Deck folgendermaßen pointiert hat: Erstens: Das „Modell politischen Theaters [wurde] in seiner Wirkung immer schon überschätzt. Zumindest hat es seine gesellschaftskritische Kraft verloren.“ (Deck 2011: 11) Zweitens: „Dem politischen Theater wird eine andere Strategie entgegengesetzt: Politisch Theater machen“, eine Strategie, deren „Fokus verstärkt auf der Art der Kunstproduktion selbst“ liegt (ebd.: 14). Dieses „Politisch Theater machen“ wird, drittens, in ein antwortendes Verhältnis zu der „zeitgenössische[n] Art, das Politische zu denken“ gesetzt (ebd.: 25). Vor dem Hintergrund dieser Annahmen stellt sich die Frage nach dem Politischen in der theatralen Gegenstimmbildung gegen Rassismus neu. Wie politisch ist das zeitgenössische Theater? – An dieser Frage lässt sich die Diskussion um die neuen (postdramatischen) Artikulationsformen präzisie-
„Hier geblieben!“ organisierte, erklärt Philipp Harpain, „möglichst viele Menschen zu informieren, was gerade in der Flüchtlingspolitik passierte“ und neben Vernetzungen von Aktionsgruppen v. a. auch Appelle an Politiker_innen zu senden (Harpain 2008: 70). Wie aus den folgenden Ausführungen erkennbar wird, handelt es sich bei „Hier geblieben!“ offenbar um politisches Theater im ‚klassischen‘ Sinn (vgl.: ‚Aufklärungstheater‘), womit sich die Frage nach seiner Zuordnung unter die Rubrik ‚PolitikTheaterPädagogik‘ stellt und damit die nach Definitionen und Zuordnungskriterien allgemein.
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ren: Gemeint ist damit zum einen die Frage nach dem Wie als Art und Weise, also nach Voraussetzungen, Strategien und Bedingungen politischer Theaterarbeit (vgl.: Lehmann 2011: 29f). Zum anderen widmen sich die Autoren dem Begriff des Politischen im politischen Theater und schlagen verschiedene Konzeptionen vor, um das Politische in den darstellenden Künsten neu zu verhandeln. Jan Deck, Hans-Thies Lehman und Patrick Primavesi greifen dabei u. a. auf Konzeptionen des Politischen in Verbindung mit Theater von Bert Brecht, Walter Benjamin, Heiner Müller, Jacques Derrida, Jean-François Lyotard und Chantal Mouffe/Ernesto Laclau sowie auf die von Jacques Rancière vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Politik und dem Politischen zurück. Von dort aus beschreiben sie postdramatische Theaterformen und künstlerische Strategien, die einen konventionellen Theaterbegriff in ähnlicher Weise erweitern, wie in der Bildenden Kunst Fluxus, Performance und Concept Art die Erweiterung des Kunstbegriffs bereits in den 60er/70er Jahren vorantrieben. Konstitutiv für diese neue Diskussion um das Politische im Theater und in der Theaterpädagogik ist die einhellige Verwerfung einer Konzeption des Politischen, mit der das Politische Theater der 60er und 70er Jahre identifiziert wird: Das „Aufarbeiten politischer Themen“ auf der Bühne (Deck 2011: 11), die mit „Gesinnungsethik“ (Weber 2008: 43), „Moralismus“ (Lehmann 2011: 37) sowie der Proklamation „eindeutige[r] ideologische[r] Botschaften“ (Primavesi 2011: 41) einhergeht, wird dabei als „‚Indienststellung‘ der Theaterarbeit für außerkünstlerische politisch-gesellschaftliche Ziele“ (Fülle 2011: 76) problematisiert. Allem voran steht der Anspruch auf „politische[] ‚Aufklärung‘“ (Deck 2011: 12) des Publikums zur Disposition, dessen ‚Wirkung‘ mit Verweis auf ‚linksideologisch‘ ausgerichtete Ursache-Wirkung-Vorstellungen als obsolet in Frage gestellt wird. „Wichtiger als künstlerische Qualität waren allzu oft die politische Korrektheit der Themen und Produktionsstrukturen“, konstatiert Henning Fülle (2011: 76). Dagegen zeichne die politischen Künste des Gegenwartstheaters eine „Absenz von politischer Verallgemeinerung und Rezeptwissen [aus, die] kein Nährboden für gut gemeinte Überzeugungsgesinnung“ sei (Kurzenberger 2008: 47). Auffällig ist dabei eine geradezu frappierend scharf konturierte Gegenüberstellung von ‚überkommenen‘ und zeitgenössischen Formen, politisch Theater zu machen, die allerdings – so mein Eindruck – selbst keine Entsprechung in den neuen Artikulationsformen findet, sondern eher in der Tradition dessen steht, was hier abgelehnt wird. ‚Aufklärungstheater‘ meint in zweiter Instanz den Rückgriff auf klassische Formen des Theaters, das „abbildet“: „Nachahmung der gesellschaftlichen Realität“ (Dreysse 2011: 132), Wiederholung und Ersetzung „dessen, was im Moment der Aufführung abwesend ist“ (Primavesi 2011: 49) – kurz: Repräsentati-
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onstheater mit ‚herkömmlichen‘ Mitteln der Erzählung von mehr oder weniger kohärenten Geschichten mit dramatischen Konflikten, klaren Oppositionen in der Figurenaufstellung und eben: Themen, Stoffen, die mitunter direkt als politische Probleme auf der Bühne identifiziert und verhandelt werden. Dieses Repräsentationstheater sei, so Henning Fülle, in der Institution des Stadt- und Staatstheaters verankert, dessen Funktion und „‚politische[]‘ Idee – die Idee der Auf10 klärung“– historisch in der Organisation bürgerlicher Bildung bestand (Fülle 2011: 78). Kritisiert wird daran auch die institutionalisierte Arbeitsteilung zwischen Autor, Regie, Schauspiel und Publikum, die Anordnungen des Schauens vom Zuschauerraum auf das Vorspielen auf der Bühne und die darin festgeschriebenen Hierarchien und Regeln, wie sie von den Stadt- und Staatstheatern wie auch den Ausbildungsinstitutionen vorgegeben sind und z. T. auch durch die freien Gruppen übernommen wurden: In der öffentlichen Zusammenkunft vor der Bühne teilt das Publikum traditionell die in repräsentativer Weise vorgespielte sittliche und moralische Bildung mit dem Ziel der gesellschaftlichen Freiheit – „als bewusste, frei-willige Vergesellschaftung, d. h. Unterwerfung unter den Staat als Organisator und Gewährleister des großen Ganzen“ (ebd.). Hinterfragt werden insofern die tradierten Regeln der ‚Professionalität‘, die sich in formaler künstlerischer (Schauspiel-)Ausbildung und bestimmten Formen des Agierens auf der Bühne zeigen, und nicht zuletzt auch die Ordnungen in der Präsentation von Körpern, in die gesellschaftliche Normierungen und Hierarchien eingeschrieben sind. In der Kritik am Politischen Theater geht es also zum einen um die (inhaltsorientierte) Form der Theaterproduktionen (Abwendung vom Repräsentations- und Aufklärungstheater) und zum anderen um die Strukturen und Arbeitsformen, die in diesen Theaterformen (historisch) institutionell weiter tradiert werden. Im Rückgriff auf Jean Luc Godards Manifest Que faire? (1970) orientieren Jan Deck und Patrick Primavesi ihren Begriff zeitgenössischen politischen Theaters am Handeln: Statt politisches Theater zu machen, gehe es darum, Theater
10 Organisation bezieht sich auf neue Ordnungen im Übergang von einer Auffassung von Theater, das als fahrendes Ensemble umherzieht und dem Volk auf dem Marktplatz Hanswurstiaden zu sehen gab, hin zu einem Theater als Programm, das ein neues Publikum mit literarischen Texten – mitunter auch mit Handlungsanweisungen zum Zuschauen – zu bürgerlichen Tugenden erzieht, Fischer-Lichte spricht in diesem Zusammenhang von „Strategien der Rezeptionslenkung“ (Fischer-Lichte 1993: 98). In der neuen Institution Theater ist „der Intendant […] Sachverwalter des Fürsten oder der kommunalen Auftraggeber, mit der Aufgabe, durch sinnreiche Spielpläne die gesellschaftlichen Zwecke möglichst effektiv zu erreichen“ (Fülle 2011: 79).
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und Kunst politisch zu machen: „auf politische und politisch reflektierte Weise zu handeln“ (Primavesi 2011: 45). Der Abbau von Hierarchien und Ordnungen beginnt damit, dem Prozess der Recherche und der Bearbeitung von Material die Priorität vor dem Produkt, der Form vor dem Inhalt zuzusprechen (ebd.: 49). Aufgehoben wird die Anordnung von ausgebildeten Schauspieler_innen gegenüber einem ‚ungebildeten‘ Publikum, die in der räumlichen Trennung von Bühne und Zuschauerraum in die Körper eingeschrieben ist und sich in der Verlängerung ‚hinter der Bühne‘ in hierarchischer Weise fortsetzt (vgl.: Deck 2011: 18, 26). Die Grundannahmen des traditionellen (Repräsentations-)Theaters werden durchkreuzt: die Trennung von künstlerischer Professionalität und Produktivität gegenüber einem unkünstlerischen, passiven Laientum, das über die Rezeption zu „Bildung und Erbauung“ (Fülle 2011: 78) gelangt, wie auch die strikte Trennung von ‚Theater und Realität‘. Selbstreflexion, Selbstreferenzialität, Enthierarchisierung, Transparenz sowie Sichtbarmachung von Standorten und Sprechbzw. Handlungspositionen werden als neue Maximen formuliert. Aber auch Ereignishaftigkeit und Präsenz seien Paradigmen, mit denen das zeitgenössische Theater politisch gemacht sei. Mit der „Produktion des Sinnlichem“, so Deck, verweigerten sich die neuen Theaterformen einer „Politik als Sinnproduktion“ (Deck 2011: 13). Es finden Umwertungen oder Unterwanderungen von vorgeschriebenem Verhalten statt, die die Logik herrschender Regeln stören. Wenn Politik ihre „Funktion als Ort der Utopie“ verliert und zur Arena „einer gigantischen Sinnproduktionsmaschine“ werde, gelte es: „Sich dem zu verweigern und eine solche Logik von Politik als Sinnproduktion mit der Produktion des Sinnlichen zu beantworten“ (ebd.). Die Verweigerung von Sinnproduktion leitet sich zudem aus der Abwendung von einem Theaterkonzept ab, das als literarisch ausgerichtete „Gedankenkunst“ (Fülle 2011: 78) oder als „semiotisches Gefüge“ vorgestellt wird: „Je mehr aber die Fixierung von Zeichensystemen und Codes perfektioniert wurde, je mehr wurde die Prozesshaftigkeit von Theater ausgeblendet“, konstatiert Primavesi (2011: 49) über die theaterwissenschaftliche Theorie. Lehmann erklärt die Abkehr von Sinnkonstruktion, ihrer Produktion und v. a. ihrer Verhandlung, hingegen mit der Gestaltlosigkeit der „politischen Kräfte“, die zwar „höchst real, zugleich aber sinnlich ungreifbar“ seien (Lehmann 2011: 36): „Sie sind gestalt-, geräusch- und gesichtslos, eher Strukturen als Personen, eher Kräfteverhältnisse als Identitäten. Sie bieten einer Repräsentation keinen Inhalt, der politisch wäre, keine Gestalt.“ (Ebd.) Lehmann untersucht postdramatische Formen daher als „Unterbrechung des Politischen“, das er als das Regelhafte identifiziert (ebd: 35), und erkennt eine „Praxis der Ausnahme“ und der „Auflösung der dramatischen Simulakra“, jener
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gewohnten Strategien der täglichen „Verbildlichung, Personifikation und Sichtbarmachung“, mit der Politik „fingiert, erzeugt, restituiert“ wird (ebd.: 37, 36, Herv. i.O.). Als Effekte dieses Theaters entstehen Irritationen des Blicks, Verunsicherungen, Ambivalenzen, Infragestellungen von Positionen und nicht zuletzt das Schweigen. Die auffällige Binarisierung zwischen Konzepten des politischen Theaters und des Politisch-Theater-Machens ist insofern fundiert in einer Gegenüberstellung von Politik als einem – sinnkonstruierenden – Regelhaften und einer Vorstellung von Unterbrechung dieser Logik. ‚Aufklärungstheater‘ als Versuch (widersprechender) Sinnproduktion, so könnte man zusammenführen, lässt sich auf die Logik des Regelhaften ein, wohingegen neue Formate politischen Theaters sich dieser Logik gerade verweigern, damit aber auch die Produktion von Sinn verwerfen.
A NERKENNEN Gegen die Logik des Regelhaften – und für ihre Unterbrechung – werden auch die „ausgeschlossenen, ungehörten Stimmen“ (Primavesi 2011: 57) auf die Bühne gefordert, um den Blick auf das „Liegengelassene, das Unaufgehobene“ zu schärfen, „das, was nicht aufgeht und darum einen Anspruch darstellt: geschichtlich an die Erinnerung, gegenwärtig an die Abweichung“ (Lehmann 2011: 38). Primavesi stellt mit Produktionen von Christoph Marthaler, der Gruppe andcompany & Co. und Rimini Protokoll solche Formen des Theaters der ausgeschlossenen Stimmen vor und erklärt sie dort für am stärksten, „wo der Rahmen der Repräsentation aufgebrochen und gestört wird, wenn der Akt des Sprechens oder Singens kaum etwas anderes als sich selbst aufführt“ (Primavesi 2011: 58). Denn die „‚theatralische Provokation‘ [dürfe] sich nicht der traditionellen Ordnung der Repräsentation anbequemen“ (Lehmann 2011: 33). Als eine künstlerische Strategie solcher Unterbrechungen nennt Deck das „Inszenieren von Körpern, die nicht den gängigen Vorstellungen von Schönheit und Fitness entsprechen“ (Deck 2011: 19), als eine andere Strategie die Arbeit mit nicht-professionellen „Experten des Alltags“ (Rimini Protokoll). Diejenigen, denen in der traditionellen Theater(an)ordnung die Rolle des Zuschauens zugewiesen ist, nehmen also in diesen partizipativen Formaten mit ihren (Lebens-) Geschichten, Talenten oder einfach „Körpern“ aktiv am inszenierten Bühnengeschehen teil, oder sie bringen die Intervention, die Performance oder das ‚Ereignis‘ mit ihrer einfachen Beteiligung überhaupt zur Aufführung. In dem Essener Projekt Homestories erkennt Richard Weber sogar neue Zugänge zu Authentizi-
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tät oder zur „Errettung der Wirklichkeit“ (Weber 2008: 45). Seine Vorstellung eines „aktuellen politischen Theaters“ als „Wirklichkeitserkundungen“ oder als „Theater der sozialen Aufmerksamkeit“ (ebd.: 43) rückt das traditionelle Publikum in den Mittelpunkt. Im Effekt verweist Weber mit dem (theaterpädagogischen) Beispiel Homestories auf die institutionelle Schnittstelle, die nicht zuletzt auch das asymmetrisch geordnete Verhältnis zwischen dem zeitgenössischen (politischen) Theater und der Theaterpädagogik herausfordert: dem Kreuzpunkt zwischen der Professionalität des politischen Theaters und dem NichtProfessionellen in der Theaterpädagogik. Wäre nicht, so könnte hier anschließend an Weber gefragt werden, die Unterbrechung des Regelhaften am radikalsten umgesetzt, stände das Publikum selbst im Zentrum der Produktion? Zwar bleibt Weber einem zu hinterfragenden Authentizitätsparadigma verpflichtet, wenn er den Jugendlichen aus sozialen Brennpunkten (‚ungehörten Stimmen‘) und ‚ihren Geschichten‘ auf der Bühne am Schauspiel Essen das höhere Maß an Präsenz und Wirklichkeit zumisst, dem gegenüber die Experten des Alltags bei Rimini Protokoll ‚nur‘ als Darsteller von Aspekten des wirklichen Lebens daher kommen. Indem er aber die Produktions- und Produzentenseite und darin die „Selbst- und Wirklichkeitserfahrungen der agierenden Laien“ (ebd.: 45) zentral setzt, rückt er den Prozess der nicht-professionellen Theaterarbeit in den Vordergrund: Die Aufführung ist als motivierendes Ziel zwar unerlässlich, Vorrang aber haben die Reflexionsprozesse über die je eigene soziale Realität während der Entwicklung einer – den Fähigkeiten der Akteure angemessenen – Spielvorlage und der gemeinsamen Proben. Für den Zuschauer bleibt in der Aufführung das Spiel als Laiendarstellung erkennbar, für die Bühne inszeniert, aber nicht als spektakuläres ästhetisches Ereignis arrangiert, das einer möglichen ‚Veredlung‘ durch den Kulturbetrieb und damit einer allein auf den Kulturgenuss ausgerichteten Rezeptionshaltung Vorschub leisten könnte. (Ebd.)
Wäre am Ende die Theaterpädagogik die politischste Form des Theatermachens? Bei allen sehr unterschiedlichen Tendenzen in der theaterpädagogischen Theorie, insbesondere den aktuellen Bestrebungen zu mehr künstlerischer Professionalität und einer Hinwendung zum Künstlerischen, könnte doch behauptet werden, dass mit den neuen Paradigmen für zeitgenössisches politisches Theater längst etablierte Produktionsprozesse der Theaterpädagogik beschrieben werden: Das durch die Institution vordefinierte Publikum steht auf der Bühne. Die NichtProfessionellen kommen als ‚Experten‘ ihrer jeweiligen Kontexte zu Wort, sie spielen ‚ihre Biografien‘, sie bringen ihre Erfahrungen ein, in gemeinsamen Prozessen werden Recherchen und Experimente durchgeführt, Szenen und Texte er-
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arbeitet, arrangiert und geprobt – das Publikum begegnet im Aufführungsmoment ‚sich selbst‘, dem Publikum. Doch wie weit reicht die Programmatik eines zeitgenössischen Theaters des Politischen, in dem die hierarchiebesetzte (räumliche und ideelle) An-Ordnung zwischen künstlerischer Professionalität und unkünstlerischem, passivem ‚Laientum‘ so radikal in Frage gestellt werden sollen? Eine Aufhebung der disziplinär verankerten und institutionell verfestigten Unterscheidung zwischen Theater und Theaterpädagogik (wie auch ihrer jeweiligen Wissenschaften und auch Ausbildungssituationen) käme den Forderungen nach Unterbrechung der Ordnungen – auch im Verhältnis zwischen dem Politischen und dem Ästhetischen – möglicherweise am nächsten. Dorothea Marcus kommt in der Frage nach dem politischen Theater zu dem Schluss, dass „wirkliche Weltveränderung“ allenfalls „von der Basis aus, im Sinne von sozial eingreifendem Theater“ möglich sei (Marcus 2011: 172): Auch wenn jedes zweite Stadttheater bereits ein ähnliches Jugendprojekt [vgl. Constanza Macras Inszenierung Hell on Earth mit Neuköllner Jugendlichen] mit Problemgruppen, Hauptschülern und Migranten unterstützt und man es beinahe nicht mehr sehen mag: Hier ist letztlich wohl der einzige Ort, an dem Publikum sein Leben konkret ändert. Wenn solche Formate (selten genug) auch künstlerisch gelingen, wird sozial eingreifendes Theater letztlich zur ursprünglichsten und eindeutigsten Form von heutigem politischen Theater. (Ebd.: 173)
Aber nun ist die Frage: Wer bestimmt das Gelingen des Künstlerischen? Genau an diesem Punkt wird das Gefüge zwischen den Rubriken ‚PolitikTheaterPädagogik‘ und ‚PolitikTheater‘ hierarchisch und als Relation relevant. Denn die Verortungen von Projekten finden in diesem Gefüge aus der Perspektive der Theaterwissenschaft statt, deren Maßstab zeitgenössische künstlerische Formen und Strategien sind. Diese Zuweisung trifft nicht zuletzt auch die theatralen Gegenstimmen zu kulturellem Rassismus, insbesondere dann, wenn sie sich einer sinnproduzierenden politischen Aufklärung verschreiben, die tendenziell in die Kategorie des ‚zu Überwindenden‘ verschoben werden müsste. Denn es ist auffällig in der Bearbeitung von Stoffen gegen Rassismus – in der vorliegenden Auswahl zugespitzt auf die Frage nach Aufklärungskonstruktionen gegen Kulturellen Rassismus –, dass es sich um (abgewandelte) Formen von Repräsentationstheater handelt, das mehr oder weniger kohärente Geschichten mit z. T. dramatischen Konflikten erzählt, in dem Versuch, Abwesendes auf der Bühne darzustellen. Vor allem handelt es sich um ein Theater, das ‚aufklärt‘, problematisiert, belehrt und das auf diese Weise ‚entmündigt‘, wie Patrick Primavesi vermutlich feststellen würde: „Das Pathos des modernen Belehrungstheaters ver-
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schleiert, dass es stets mit einem Akt der Entmündigung einsetzt[,] um die Zuschauer dann erziehen zu können.“ (Primavesi 2011: 53) Primavesi rät dringend zur Einsicht in die „Wirkungslosigkeit der Proklamation guter Meinungen und aufklärend-kritischer Gedanken von der Bühne herab“ (ebd.: 47), die das Publikum überzeugen und erziehen sollen. Lehmann bestätigt dies mit einem Plädoyer zur „Vermeidung der moralistischen Falle“, die „an eine spontane gemeinsame Reaktion“ auf der Grundlage „nur allzu scheinhafte[r] Gewissheiten der Unterscheidung von Gut und Böse“ appeliert und mit Rekurs auf ein „‚natürliche[s]‘ Moralempfinden“, „den Zuschauer zum Richter macht“, statt den Prozess des Urteilens selbst in seiner Ambiguität zu reflektieren (ebd.: 37). Mit einem Blick auf die Programmatik des bürgerlichen Aufklärungstheaters wird dieses Argument der Entmündigung, das Primavesi mit Rückgriff auf Rancière vorbringt, unmittelbar einsichtig: Ein Vergleich des bürgerlichen Repräsentationstheaters mit schulischen Anordnungen (im Besonderen im Frontalunterricht) ist vielleicht der passendste und der unerträglichste zugleich, läuft doch die Belehrung auf die gleiche Entmündigung hinaus, die Primavesi an der Anordnungslogik des Theaters kritisiert. Doch die mit dem Argument der Entmündigung zugespitzte Kritik am politischen Theater verliert ihre Überzeugungskraft, bezieht man die Standorte mit ein, von denen aus die Gegenstände der Kritik (partikular) entworfen werden. Denn die Kritik am (herkömmlichen) politischen Theater, das die Idee des Theaters als Bildungsanstalt formal und organisatorisch weiterführt und über Sachverhalte, Machtstrukturen und Missstände aufklärt, bezieht sich auf eine Struktur der Entmündigung – allerdings eine Struktur, die für junge Menschen, wie auch Arbeitslose oder Migrant_innen in den verschiedenen Bildungsanstalten so selbstverständlich vorgesehen, dass sie kaum in Frage steht: Die Entmündigung ist dort die Norm. Das Empörende für den_die zeitgenössische_n Theatergänger_in ist insofern vermutlich weniger – so mein Zweifel – die Struktur an sich, sondern als empörend wird der Oktroi dieser Struktur auf die ‚schon Gebildeten‘ empfunden: Die bereits ‚aufgeklärten‘ Erwachsenen, Erwerbstätigen, die der dominanten (Landes-)Sprache Mächtigen, die die Regeln dieses gesellschaftlichen Systems beherrschen – gar die Theaterkritiker, Theaterwissenschaftler oder Theatermacher – mögen diese Struktur für sich nicht. Nicht: Ein Publikum will nicht belehrt werden, sondern ein ganz spezifisches Publikum will mit Theater nicht belehrt werden: jenes Publikum, das sich selbst schon als aufgeklärt und gebildet betrachtet und das die ‚gute Meinung‘ Anderer als entmündigende Belehrung mit Macht zurückweisen kann. Dieses Publikum erwartet „avancierte theatrale Verfahren“, die, wie Hajo Kurzenberger feststellt, die Forderung einlösen, dem „vielgeschmähten Menschlichen […] den Vorrang vor dem Moralischen“ zu geben und vor dem ‚men-
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schelnden‘ „Betroffenheitskitsch“ bewahren (Kurzenberger 2008: 49). Dies scheint allerdings, wenn ich den Schluss seines Beitrags richtig verstehe, nur einer Minderheit oder Elite vorbehalten zu sein. Denn, so Kurzenberger in seinem Schlusssatz: Wo Moralisieren als „Blockade jedes nüchtern politischen Diskurses“ erkannt ist (Bolz: 84) [„Die Sinngesellschaft“, 1997, tm], das Theater kein öffentliches Forum mehr ist, von dessen Kanzel Wertorientierungen oder prophetische Utopien erwartet werden, sondern eine Kunstform der Minderheit, bestenfalls einer Elite, kann auch wieder sachlich und verantwortungsbewusst, phantasievoll und spielerisch über die Möglichkeiten, die Defizite und Stärken, die Brutalitäten und Leiderfahrungen, die Sehnsüchte und Erwartungen des Menschen szenisch nachgedacht werden. (Ebd.)
Was also, wenn eben jene schulischen oder marginalisierten Gruppierungen mit repräsentativen Theaterformen den Spieß einfach nur umdrehen, indem sie die vorgegebenen hierarchischen Strukturen für ihre eigene Situation auf der Bühne nutzen, um das als „gebildet“ angenommene, erwachsene Publikum mit Absicht zu belehren und zu Schülern, Arbeitslosen, Migranten zu machen und es auf den Platz zu verweisen, der ihnen zuvor selbst zugewiesen war? Die viel beschworene Irritation des Publikums findet dann genau mit Repräsentationstheater statt: Das sich selbst als ‚mündig‘ empfindende Publikum wird entmündigt. Wäre dies nicht genau der Moment, über die eigenen Privilegien – „whatever they may be in terms of race, class, nationality, gender and the like“ (Spivak zit. in Castro Varela 2002: 44) – nachzudenken und die Entmündigung als eben solches Wissen anzuerkennen (zu lernen), das Gayatri Ch. Spivak als ein (subalternes) Wissen beschreibt, zu dessen Verständnis wir aufgrund unserer sozialen Position nicht ausgestattet sind? Dieses Nicht-Verstehen-können ist als Privileg auch ein Verlust (ebd.). Was weiter, wenn diese ‚Lehrer auf der Bühne‘ ihren Zuschauer_innen genau das präsentieren, was sie vermeintlich ‚schon kennen‘, wie Richard Weber seine Kritik am Belehrungstheater auf den Punkt bringt: „Stoff zudem, den wir alle längst kennen aus zum Teil hervorragend recherchierten, differenziert argumentierenden und eindringlich ins Bild gesetzten Dokumentarfilmen, Fernsehreportagen, Beiträgen für TV-Polit-Magazinen oder selbst aus Spielfilmen, massenmedial also bereits besetzt und weitgehend auch kritisch-aufklärerisch abgedeckt.“ (Weber 2008: 43) Wer ist „wir alle“? Wer kennt was schon „längst“ – und aus welcher/wessen Perspektive? Das Argument, die audiovisuellen Massenmedien hätten ein Monopol über das Dokumentarische im Sinne mimetisch verdoppelnder Abbildung, unterläuft interessanterweise nicht nur die eigene Po-
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sition, Theater gerade gegen die virtuellen Medien einzusetzen, sondern es gesteht diesen Massenmedien vor allem zu, ‚Wahrheiten‘ zu vermitteln, statt in eben diesen TV-Dokus und Filmen eine dichte Diskurs- und Wissensproduktion am Werk zu sehen, die der Kommentierung, der Korrektur, der Verhandlung aus weiteren Perspektiven – kurz: der Interventionen – bedarf, um nicht zu unumstößlichem ‚Wissen‘ zu avancieren. Warum sollte Theater auf dieser Ebene den dominanten Diskursproduktionsmaschinen das Feld überlassen? Aus dem gleichen Argument spricht zudem die Distanzierung von der profanen Berichterstattung, Kommentierung – eben: von jenem verleugneten Text als Gedankenkunst (Fülle 2011: 79) und der Sinnproduktion (Deck 2011: 13). Die Frage stellt sich, ob Theater seine Sinnproduktion verleugnen will, oder ob es nicht besser wäre, die Bühne als Ort des Sprechens zur Herstellung von Sinn einfach zu besetzen, um Teil von öffentlichen Diskursen zu werden und so zur Reflexion anzuregen. Insofern ist es legitim, vielleicht sogar notwendig, gegen die in Massenmedien verbreiteten Wahrheitsdiskurse eigene Repräsentationen im Kleinen zu veröffentlichen, (wenigstens) einer zahlenmäßig geringeren Zuschauerschaft andere Erzählungen zu vermitteln und so in Diskurse einzugreifen. Es ist v. a. legitim, sich auf die/eine – ohnehin nicht einfach zugängliche – Bühne zu stellen und möglicherweise das Gleiche, nur anders, zu sagen.11 Und möglicherweise ist es daher nicht nur legitim, sondern erforderlich, klare Botschaften zu entwickeln, die proklamiert werden, um so in die dominanten Diskurse zu intervenieren. Amo als das Stück, das am stärksten die repräsentative Form des Theaters bedient, ist, trotz aller selbstreferenzieller Reflexion über das Theater und seine rassistische Strukturen und trotz der Unterbrechungen durch Tanzchoreografien, ein solches belehrendes Stück. Es belehrt ein aufgeklärtes – vermutlich bereits um alle Rassismen der Welt ‚wissendes‘ – Publikum. Und doch konfrontiert es seine Zuschauer_innen alle drei Minuten mit ihren eigenen Rassismen, es berührt peinlich und heimlich und zwar mitten in der Präsentation einer fiktiven Lebensgeschichte mit eingebauter (kitschiger) Liebesgeschichte, deren Rollenund Geschlechterzuweisung unter feministischer Perspektive höchst fragwürdig daherkommt. Dennoch: Wer hatte von Anton Wilhelm Amo Afer, dem Gelehrten in Halle, je gehört? War allen bewusst, dass Schwarz keine Hautfarbe ist?
11 Mariam Soufi Siavash plädiert für die Bühne als Plattform, von sich zu erzählen und dabei aktiv an der Gestaltung des eigenen Bildes teilzuhaben. Auf diese Weise würde Theaterspielen zum Empowerment (Soufi Siavash 2011: 85). – Auch die Produktion Verrücktes Blut greift gesellschaftliche und massenmedial re/produzierte Klischeebilder auf und unterrichtet ihr Publikum über die Bilder, die es sich von Anderen macht.
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Und wer aus dem weißen Publikum kann sich mit Amo oder seinem Darsteller Thomas identifizieren? Diese Brüche sind eingebaut – weniger in die Story als in die Konstruktion von Theater, das keine Schwarzen Protagonisten auf der Bühne vorsieht, weder in ‚weißen Rollen‘ noch ‚einfach so‘ als Darsteller welcher Figuren auch immer. Weil Schwarz beZeichnet. Im ästhetischen Format weit vom Abbildenden entfernt, war Bombenwetter weitestgehend vor künstlerischen Vorbehalten der Kritik geschützt und fand, anders als Amo, Zugang zu mehreren renommierten Festivals. Hier ist eine gymnasiale Theatergruppe im dreizehnten Jahrgang am Werk, die bereits intensiv in die Strategien der Darstellenden Kunst sowie ihre Verortung in den Rastern der Anerkennung eingeführt wurde. Repräsentationstheater, das haben sie im Unterricht gelernt, ist eben jenes, das über die repräsentative Darstellung von gesellschaftlichen Problemfeldern und Gruppen zu höheren (anderen) Tugenden bildet, das z. B. belehrt und zu Aufklärung (und Toleranz) führen soll. Genau diese Belehrungssituation bringen sie uniformiert und choreografisch formiert mit exakt einstudierten Textfragmenten auf die Bühne: Schulsituation zugespitzt. Ihr Paradebeispiel ist Nathan der Weise – Aufklärungstheater wie es im Lehrbuch steht. Und ebenso lehrmeisterhaft kommt Bombenwetter als Stück selbst auch daher: Es belehrt mit hohem Ton und erhobenem Zeigefinger: So, wie Lessing, kann man heute kein Theater (mehr) machen, denn Repräsentationstheater ist Bildungsanstalt – Schule pur. Auch das weiß ein Publikum schon, es wird ihm hier nur in gehöriger Weise noch einmal eingebläut. Und zu alledem holt die Gruppe noch die Polemik hervor, die sich Lessing angesichts der Zensur verbieten musste. Auf diese Weise wird das Stück derart polemisch, ideologisch und eindeutig in der Botschaft, dass es angesichts der zeitgenössischen Einforderung von Uneindeutigkeiten, Ambivalenzen und „Dazwischen“ Gefahr läuft, selbst als moralistisch ‚zensiert‘ zu werden. ‚Politspektakel‘ eben. Aber ist es nicht ein legitimes Vergnügen für eine Schulklasse, nach dreizehn Jahren zensierender Belehrung die Entmündigung an das Publikum zurückzugeben, das selbst gern den Lehrer spielt? Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der als solcher kaum zurückweisbaren Forderung, die Mündigkeit der Zuschauer_innen im Theater ernstzunehmen, aber noch einmal neu: Inwiefern nämlich nimmt das polittheater-kritische Publikum selbst eigentlich die Akteure auf der Bühne ernst, wenn es diesen schon die (avancierten) Formate vor-gibt, nach denen sie ihre Theaterproduktionen zu gestalten haben? So gesehen geht es um (machtbesetzte) Sprechpositionen: Wer entmündigt wen und mit welcher Autorität? Einzuklagen wäre also die systematische Umstrukturierung aller Bildungsanstalten und die (Neu-)Verteilung von Wissens- und Erkenntnisproduktion und -vermittlung, die diese Entmündigung bereits vorstrukturieren. Was aber die
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Theoriebildung des Theaters und der Theaterpädagogik angeht, wäre wohl ein erster Schritt solcher ‚Bemündigung‘, die ‚ungehörten Stimmen‘, also die (nichtprofessionellen) Spieler_innen auf der Bühne nicht nur als ästhetisches Ereignis zu betrachten, das ‚sich‘ über deren Agilität (Stichwort: ‚Körperlichkeit‘) oder einfach ihre Andersheit transportiert, sondern die Entgrenzung zwischen Professionalität und Nicht-Professionalität viel ernster zu nehmen, indem sie den Artikulationen der ‚ungehörten Stimmen‘ auf der Bühne genau zu-hört und nicht vor lauter Wissen die Botschaften womöglich noch umdeutet. In Verrücktes Blut wird die Belehrung in ständiger Umkehrung selbst zum Programm gemacht und der heimliche Wunsch des Publikums nach ent/bemündigender Aufklärung der – migrantisch besetzten – Schüler_innen bedient. Unbemerkt wird die Situation umgedreht: Das Publikum, das „weiß“ und sich bereits über Zeitungen, Radio und TV ein Bild gemacht hat über die Situation von jungen Migrant_innen in der Schule (bis zu 99% Migrationshintergrund!!), wird genau über das belehrt, was es eben ‚schon weiß‘: über sein Bild, seinen eigenen Blick. Perfide und geschickt ist, dass das Ensemble mit der Story dieses wissende Publikum so offensichtlich bis zum Schluss mitnimmt, ihm Identifikation mit der Lehrerin und ihren rassistischen Äußerungen anbietet, dabei sein Wissen bedient und zur Verbündung mit der Lehrerin einlädt – nur, um es am Ende abzuschießen (also: knallhart sitzen zu lassen) und ihm zum Abschluss des (Vor-) Spiels ein Schlaflied zu singen. Wenn das keine Botschaft ist… Die erste Aufgabe des Publikums wäre dabei allerdings, die eingebauten Brüche zu erkennen – z.B., dass die Spieler_innen spielen und nachgerade ab-bilden, was im Publikum bereits vorhanden ist: ein mentales Bild über das Eigene und die Anderen, das als Verhältnis nicht zuletzt durch ein Bild über ‚Aufklärung‘ strukturiert ist. Die zweite Aufgabe wäre, die Brecht’schen Strategien der Unterbrechung und des epischen Vorspiels zu realisieren – und sie auch in den Kritiken und Beschreibungen als solche zu benennen. Hier spielen keine Migrant_innen ‚ihre‘ Situation – sie analysieren mit theatralen Mitteln die Perspektive des Publikums – besser: eine strukturell rassistisch organisierte gesellschaftliche Situation. Dies ist weder ein Plädoyer für Formate der Belehrung oder Repräsentationstheater12 per se noch eins gegen postdramatische, performative oder partizipative
12 Weder die Formate noch die theatralen Mittel selbst sind das Problem, sondern ihr Einsatz: Bei allen Konventionen und hegemonialen Machtstrukturen, die in die Formen und Mittel der überlieferten Theaterformen eingelassen sind und darüber die Verwendung ausrichten und orientieren: keine Form (Erzählung, Drama, Performance oder Happening) ist selbst Machtstruktur, aber Formate tragen Bedeutung, die ihnen zugeschrieben werden. Sie sind insofern Signifikanten, die in einem arbiträren Ver-
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Strategien in der Darstellenden Kunst oder gar gegen die (überfällige) Erweiterung des Theaterbegriffs. Die hegemonialen An/Ordnungslogiken des bürgerlichen Kunstbetriebs nicht unreflektiert fortzusetzen, sondern zu dekonstruieren und zu verschieben, ist schon allein deswegen notwendig, um nicht die Identitätslogiken – seit Brecht immer wieder am Einfühlungstheater und der Illusionsästhetik kritisiert und herausgefordert – in der einfachen Wiederholung aufs Neue zu affirmieren und so die Akte des identitären (Gemeinschafts-)Bildens erneut zu verschleiern. Die Argumente gegen die in diese Logiken eingeschriebenen Verfügungen über Produktionsweisen, ihre Prozesse und Produkte wie auch über die Funktionsverteilungen des Professionellen/Nicht-Professionellen, die das Argument gegen die Entmündigung des Publikums so stark machen, überzeugen durchaus. Als Statements dafür, Theater politisch zu machen, wären sie jedoch weit überzeugender, würden sie nicht mit Konzepten wie dem ästhetischen Ereignis, der Atmosphäre, Sinnlichkeit oder Präsenz die Sinn- oder Bedeutungsproduktion von Bühnengeschehen verleugnen, oder zumindest übertönen, und damit Gemeinschaftsbildungen im Modus der Einfühlung oder Illusion nur ersetzen durch die Herstellung von Gemeinschaft im Modus des (gemeinsamen) je individuellen So-Seins und ästhetischen Erlebens. Als Kritik am (entmündigenden) politischen Theater macht sich jedoch ein Plädoyer für das Politische vollends unglaubwürdig, wenn es mit einem naturalisierenden Credo auf klangliches oder körperliches Sein den ‚ungehörten Stimmen‘ das Sprechen (als Grundlage politischen Handelns) entzieht und so der auf Präsenz und Sinnlichkeit reduzierten ‚Stimme‘ das Votum (als Sinnkonstruktion) vorenthält: Ein aktuelles Theater der Stimmen ist weit mehr Performance als dramatische Kunst, da es die vokale Äußerung befreit von den Zwängen rhetorischer und psychologischer Angemessenheit oder dialogischer Funktionalität. Die stärksten Momente in dieser Art von Theater sind womöglich gerade jene, wo der Rahmen der Repräsentation aufgebrochen und gestört wird, wenn der Akt des Sprechens oder Singens kaum etwas anderes als sich selbst aufführt. Durch Stottern, beschleunigtes oder gedehntes Sprechen, plötzliche Wech-
hältnis zu Bedeutungen stehen und daher re-signifiziert werden können. Radikalisiert lautet die Frage, wie sinnvoll ist die Abschaffung der Repertoires, Vokabulare, Grammatiken und Ziele der klassischen Theatersprachen? Sie vollends zu verwerfen, ist nicht nur kaum möglich. Es wäre nicht einmal sinnvoll, denn es bedeutete die Aufgabe der Souveränität über die Sprachen, Mittel und Strategien des Theaters. Und nicht zuletzt basieren die Abgrenzungen der post-dramatischen Formsprache gerade auf den tradierten Formen und benötigen sie daher sogar, da sie in der Abgrenzung ihren Code teilen.
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376 | G EGENSTIMMBILDUNG sel zwischen verschiedenen Sprechweisen und ähnliche Abweichungen von den Gewohnheiten alltäglicher Kommunikation, kann die Stimme als Klang wahrgenommen werden, unabhängig von inhaltlicher Information. So beginnt der Aufspaltungsprozess bereits bei der einzelnen Stimme, die nie bloß Zeichen [sic!] ist, sondern immer auch Körpergeräusch. (Primavesi 2011: 58, Herv. tm)
Übersetzt und zusammengefasst sieht der Diskurs um das Politische im Theater in Abgrenzung zum Theater der Proklamation von Botschaften also vor, in Bezug auf die Enthierarchisierung oder Entgrenzung der Ordnungen die Zuschauer_innen unter der Bedingung auf die Bühne zu holen, dass sie entweder authentisch ‚ihre‘ Geschichten erzählen (Weber), ihre – wie auch immer ‚anderen‘ – Körper in Szene zu setzen oder ihre Stimmen als Klang der Ungehörten vernehmen lassen. Bemerkenswert ist die Überschneidung der Diskurse um das Politische und um das Interkulturelle im Theater: In der Schnittmenge geht es darum, ein ungewohntes Anderes auf der Bühne zur Schau zu stellen und mit diesem die Routine des Gewohnten zu stören. Für wen ist was un/gewohnt? Die Beschreibungs- und Definitionsmacht verbleibt unreflektiert bei einem bestimmten theatergeschulten, ‚wissenden‘, kurz: professionellen Publikum, das sich selbst als adressiert betrachtet und so über das Un/Gewohnte ebenso verfügt wie über die Legitimität von (womöglich unprofessioneller) Kritik.13 Das Andere, definiert als das Nicht-Professionelle, Laienhafte oder als das ‚kulturell‘ Andere, wird auf die Bühne geholt, es darf seine Körper zeigen, seine Geschichten erzählen und seine Stimmen hören lassen. Das Künstlerische, so könnte man provokant schließen, wird darin festgestellt, dass die Anderen different ‚sind‘, nicht zuletzt dadurch, dass sie gerade nicht zu Wort kommen, sondern desartikuliert sind und ihre Desartikulation durch die Theoriebildung noch überhöht wird. Verstehbarkeit wird so zum Störfaktor für die ästhetische Erfahrung. Gegenstimmbildung, die sich einer radikalen Politisierung der Theaterpädagogik verschreibt, müsste hier intervenieren und kritisch fragen: Wer definiert dabei was nach welchen Kriterien, wer verfügt über die Kategorien und Maßstäbe, wer hat was zu sagen und wer hat das Sagen? Sicher nicht das Format. Im Gegenteil, das Format wird eher zum verlässlichen Mittel der Bemessung erhoben, zum neutralisierten Maßstab, mit dem gemessen, bewertet, zugeordnet, einoder ausgeschlossen wird. Wer über politisches, interkulturelles oder anderes
13 Solche De-Legitimierungen von Kritik als nicht-kunst- oder professionsorientiert, mit denen sowohl die Bestimmung des Professionellen als auch die Zuordnung der Akteure einhergeht, und mit denen auch die Kategorien der Zuordnung ausgerichtet werden (z. B. Professionelle, ‚Betroffene‘ etc.) durchziehen m. E. die Blacckfacing-Debatte.
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Theater schreibt, hat Macht über die Zuordnungen und Zuschreibungen und von dort aus auch die Macht der Belehrung darüber, wie Theater politisch ‚ist‘ oder zu sein hat. Anerkennung oder Entmündigung auf die Verwendung (richtiger oder falscher, dramatischer oder postdramatischer) künstlerischer Formate oder Strategien zu reduzieren, hieße Fragen der (Selbst-)Positionierung und der (zu/schreibenden) Rezeption auszulassen. Denn über die verantwortungsbewusste Theaterproduktion hinaus geht es um Standortbenennungen und das Sichtbarmachen von wissenschaftlichen Positionen, kulturpolitischen Interessen und den darin eingeschriebenen Hierarchien. Es gilt daher, diese Rahmungen und das Positioniertsein transparent zu machen, zu hinterfragen und zuallererst (an-)zuerkennen. Die Beschreibung von Interventionen marginalisierter Akteure in gesellschaftliche Diskurse hat auch den Anspruch auf eigenverantwortliches Sprechen ernstzunehmen: den Anspruch, über die Inhalte, die Formate wie auch über die Zuschreibung von Kritikfähigkeit selbst zu verfügen. Das heißt, das Sprechen auf der Bühne (gegen Rassismus) als politisch positionierte Artikulation und zugleich als ‚Bildung‘ zu begreifen: als Wissensbildung, Bedeutungsbildung, interpellierende Subjektbildung und nicht zuletzt als Teil von Gesellschaftsbildung. Dennoch birgt auch das Verständliche ein Dilemma. Das Verstehen zeigt(e) sich immer wieder auch als ein Herrschaftsinstrument, mit dem das Andere überhaupt als different vom Eigenen hergestellt wurde und wird. Verstehen zu erschweren und zu hintertreiben lässt sich insofern durchaus auch als Strategie des Gegensprechens ausmachen. Es geht dann um eine „Anerkennung des Restes“, der die „Gefahr der Vereinnahmung durch das Verstehen“ seitens des schon vor-gebildeten Wissens verringert, wie Paul Mecheril konstatiert: „Erst die Anerkennung des Restes, die Anerkennung von Nicht-Wissen ermöglichte die Bezugnahme auf den Anderen, die ihn nicht von vornherein in Kategorien des Bezugnehmenden darstellt.“ (Mecheril 2002: 28) Diese Reste jedoch auf ästhetische Ereignisse zu reduzieren und zu othern, statt den Blick auf sich selbst zu werfen, hieße, im Unterschied zu einer radikal (selbst-)reflexiven Haltung, lediglich die Beherrschungstechnologien auszutauschen und die Vereinnahmung des Anderen über das ‚Verstehen‘ durch die über das ‚Nicht-Verstehen‘ zu ersetzen. Aber das habe ich schon gesagt.
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Literatur
P RIMÄRTEXTE
UND
P RIMÄRMATERIAL
Amo. Eine dramatische Spurensuche. Von kitunga.projekte, Münster Premiere: 21. November 2005, Theater Pumpenhaus, Münster. Mit: Silvia Schwab, Ronny Mkwanazi, Peter Hartmann, Peter Eberst, Carsten Bender Tanz: Edsel Scott Choreografie: Mark Headley Künstlerische Leitung Richard Nawezi Regie: Peter van den Hurk Regieassistenz: Alexandra Lupuljev Bühne: Henri Alain Unsenos Kostüme: Bettina Zumdick Technik: Volker Sippel Organisation: Gunda Köppling und Alexandra Lupuljev Eine Koproduktion von Kitunga.projekte Münster mit dem Theater im Pumpenhaus, Münster; gefördert durch das Kulturamt der Stadt Münster, Bundeszentrale für politische Bildung, NRW Landesbüro Freie Kultur, KKM Münster, Beirat für kommunale Entwicklungszusammenarbeit der Stadt Münster und Gesellschaft der Musik- und Theaterfreunde Münsters und des Münsterlandes
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Abbildungen Abb. 1 – 6: Videostills aus dem Mitschnitt der Aufführung vom 30. November 2005 am Theater Pumpenhaus Münster: Rudolf Gier-Seibert (Kamera/Schnitt), Michael Kofort (Kamera), Andreas Wilting (Ton); wenn nicht anders vermerkt, wurden die Stills zur Hervorhebung an den Rändern beschnitten und in s/w reproduziert. Materialien Nawezi, Richard/ van der Hurk, Peter: Amo – eine dramatische Spurensuche nach der Lebensgeschichte des Anton Wilhelm Amo, dem ersten schwarzen Hochschulprofessor in Deutschland. Auf der Grundlage des Textes von Richard Nawezi und den Improvisationen des Schauspielerteams unter der Leitung von Peter van der Hurk. Unveröffentlichtes Inszenierungsskript, Münster November 2005. Van Kempen, Slagerij: “The Impi”. Auf ders.: A Long Walk on a Short Pier. KampfireMusic 1989. Diop, Wasis (zusammen mit Yandé Codou Sene): “Dames Electriques”. Auf ders.: No Sant. Triloka Records 1996.
Bombenwetter. Das Kopftuch hält. Darstellendes Spiel 2004 am Theodor-Heuss-Gymnasium, Wolfenbüttel Künstlerische Leitung: Margrit Lang/Thomas Sander Premiere: 3. März 2004, Aula des Theodor-Heuss-Gymnasiums, Wolfenbüttel Mit: Jennifer Barner, Bilal Chahin, Holger Deseke, Laura Falkenstern, Dennis Gereke, Christopher Hahn, Michael Heimer, Johannes Hesselbach, Michael Hübner, Sabrina Jungus, Mareike König, Philipp Mamat, Stefanie Müller, Lea Nagel, Marie Pöhland, Julia Rumpel, Mustapha Sayed, Jan Singelmann, Martin Spanka Technik: Stephan Hempelmann, Felix Troschier Plakat: Philipp Mamat Abbildungen Abb. 7 – 10 und 12 – 28: Videostills aus dem Mitschnitt der Aufführung vom 9. März 2004 am Staatstheater Braunschweig, Kleines Haus: Stephan Hempelmann (Kamera); wenn nicht anders vermerkt, wurden die Stills zur Hervorhebung an den Rändern beschnitten und in s/w reproduziert. Abb. 11: Programmzettel Bombenwetter
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Materialien Lang, Margrit/Sander, Thomas: Bombenwetter. Das Kopftuch hält. Eigenproduktion des Kurses Darstellendes Spiel, 13. Jahrgang des Theodor-HeussGymnasiums Wolfenbüttel Leitung: Margrit Lang und Thomas Sander. In: Echt authentisch. Fokus Schultheater 04, Hamburg 2005, S. 129 – 137. Lessing, Gotthold Ephraim: Nathan der Weise. Stuttgart 1996 (1778). Hohmann, Martin: (Der Wortlaut der) Rede von MdB Martin Hohmann zum Nationalfeiert am 3. Oktober 2003: http://www.heise.de/tp/druck/mb/artikel/ 15/15981/1.html – (1. Juli 2011). Schädlich, Hans-Joachim: Dankrede anlässlich der Entgegennahme des LessingPreise des Freistaates Sachsen am 18. Januar 2003. In: Wolfgang Albrecht/ Dieter Fratzke: Lessing-Preis des Freistaates Sachsen 2003. Dankesreden und Laudationes, Kamenz 2003, S. 27 – 33. Außerdem in digitaler Fassung in: http://www2.dickinson.edu/glossen/heft17/schaedlich.lessingrede.html (23. Oktober 2013). Berliner Morgenpost – Doublet, Jean-Lous: Beim Kampf gegen Saddam beruft sich Bush auf einen göttlichen Auftrag. In Berliner Morgenpost 19. Februar 2003: http://www.morgenpost.de/printarchiv/politik/article437444/BeimKampf-gegen-Saddam-beruft-sich-Bush-auf-einen-goettlichen-Auftrag.html (23. Februar 2014). Rheinzeitung online: http://archiv.rhein-zeitung.de/on/03/11/04/topnews/general -zit.html (28. Oktober 2013). Anderson, Laurie: „Born Never Asked“ Auf dies.: Big Science. Nonesuch 1982. Programmzettel Bombenwetter. Pur: Neue Brücken. Auf dies.: Seiltänzertraum. Intercord 2002 (1993). Kritiken und Rezensionen aus Wolfenbütteler Nachrichten (WN), Braunschweiger Zeitung (BZ) und Neue Braunschweiger (NB), Angaben im Text.
Verrücktes Blut Von Nurkan Erpulat und Jens Hillje frei nach dem Film La Journée de la Jupe, Drehbuch und Regie Jean-Paul Lilienfeld Premiere am 9. September 2010 im Rahmen der Ruhrtriennale 2010, Gebläsehalle, Landschaftspark Duisburg-Nord Mit: Sesede Terziyan, Nora Abdel-Maksoud, Erol Af!in, Emre Aksızo"lu, Tamer Arslan, Sohel Altan G., Rahel Johanna Jankowski, Gregor Löbel Regie: Nurkan Erpulat
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Regieassistenz: Paulina Papenfuß Dramaturgie: Jens Hillje Dramaturgieassistenz: Nora Haakh Bühne und Kostüm: Magda Willi Assistenz Bühne und Kostüm: Kathi Bonjour Musik: Tobias Schwencke Produktionsleitung: Ça!la "lk Eine Koproduktion von Kultursprünge im Ballhaus Naunynstraße, Berlin und der Ruhrtriennale.
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Andreas Englhart Das Theater des Anderen Theorie und Mediengeschichte einer existenziellen Gestalt von 1800 bis heute Mai 2017, ca. 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2400-7
Katharina Rost Sounds that matter – Dynamiken des Hörens in Theater und Performance Mai 2016, ca. 420 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3250-7
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Theater Ingrid Hentschel Theater zwischen Ich und Welt Beiträge zur Ästhetik des Kinder- und Jugendtheaters. Theorien – Praxis – Geschichte April 2016, 274 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3382-5
Miriam Dreysse Mutterschaft und Familie: Inszenierungen in Theater und Performance 2015, 372 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3054-1
Annemarie Matzke, Ulf Otto, Jens Roselt (Hg.) Auftritte Strategien des In-Erscheinung-Tretens in Künsten und Medien 2015, 254 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2392-5
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Theater Manfred Brauneck, ITI Zentrum Deutschland (Hg.) Das Freie Theater im Europa der Gegenwart Strukturen – Ästhetik – Kulturpolitik Juni 2016, ca. 500 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3242-2
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Annika Wehrle Passagenräume Grenzverläufe alltäglicher und performativer Praxis im Theater der Gegenwart 2015, 388 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3198-2
Karin Burk Kindertheater als Möglichkeitsraum Untersuchungen zu Walter Benjamins »Programm eines proletarischen Kindertheaters« 2015, 336 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3176-0
Nikolaus Müller-Schöll, Leonie Otto (Hg.) Unterm Blick des Fremden Theaterarbeit nach Laurent Chétouane 2015, 296 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2913-2
Rafael Ugarte Chacón Theater und Taubheit Ästhetiken des Zugangs in der Inszenierungskunst 2015, 344 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2962-0
Fu Li Hofmann Theaterpädagogisches Schauspieltraining Ein Versuch 2014, 202 Seiten, kart., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-3009-1
Céline Kaiser (Hg.) SzenoTest Pre-, Re- und Enactment zwischen Theater und Therapie 2014, 256 Seiten, kart., durchgängig farbig, 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3016-9
Patrick Primavesi, Jan Deck (Hg.) Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen 2014, 338 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-1408-4
Nina Birkner, Andrea Geier, Urte Helduser (Hg.) Spielräume des Anderen Geschlecht und Alterität im postdramatischen Theater 2014, 244 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-1839-6
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Erhard Schüttpelz, Martin Zillinger (Hg.)
Begeisterung und Blasphemie Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2015 Dezember 2015, 304 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-3162-3 E-Book: 14,99 €, ISBN 978-3-8394-3162-7 Begeisterung und Verdammung, Zivilisierung und Verwilderung liegen nah beieinander. In Heft 2/2015 der ZfK schildern die Beiträger_innen ihre Erlebnisse mit erregenden Zuständen und verletzenden Ereignissen. Die Kultivierung von »anderen Zuständen« der Trance bei Kölner Karnevalisten und italienischen Neo-Faschisten sowie begeisternde Erfahrungen im madagassischen Heavy Metal werden ebenso untersucht wie die Begegnung mit Fremdem in religiösen Feiern, im globalen Kunstbetrieb und bei kolonialen Expeditionen. Der Debattenteil widmet sich der Frage, wie wir in Europa mit Blasphemie-Vorwürfen umgehen – und diskutiert hierfür die Arbeit der französischen Ethnologin Jeanne Favret-Saada. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 18 Ausgaben vor. Die ZfK kann – als print oder E-Journal – auch im Jahresabonnement für den Preis von 20,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 25,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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