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German Pages 239 [241] Year 2012
Gefährliche Verwandtschaft
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Karin Feuerstein-Praßer
Gefährliche Verwandtschaft Streit und Intrigen am Hof
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Umschlaggestaltung: Stefan Schmid, Stuttgart unter Verwendung eines Ausschnitts aus folgender Abbildung: „Diner bei der Hochzeit Josephs II. mit Isabella von Parma“ (10. Oktober 1760), Gemälde von Martin van Meytens, 1763 (© akg) © 2012 Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Christina Knüllig, Hamburg Satz und Gestaltung: Satz & mehr, R. Günl, Besigheim Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-8062-2506-8 Besuchen Sie uns im Internet www.theiss.de
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Inhaltsverzeichnis Vorwort – „Das kommt in den besten Familien vor“ . . . . . . . . . . . . . .
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1 Hochzeiten und viele Todesfälle – Die Feindschaft der Merowingerköniginnen Brunhilde und Fredegunde . . . . . . . . . . . . . .
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2 Zwei Kronen für Eleonore von Aquitanien – Eine Scheidung verändert die Landkarte Europas . . . . . . . . . . . . . . . .
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3 Zwischen Bibel und Schafott – Englands König Heinrich VIII. spaltet sich von Rom ab und begründet die Anglikanische Kirche. . .
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4 Blutroter Kreml – Ein tödlicher Familienstreit besiegelt das Ende der Ruriken-Dynastie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5 Die Tudors und die Stuarts – Wie die Hinrichtung Maria Stuarts den Weg für eine Vereinigung Englands und Schottlands vorbereitet. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6 Die Pariser Bluthochzeit – Das Massaker an den französischen Hugenotten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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7 Arsen im Spitzentüchlein – Ein Mordkomplott am Hof des Sonnenkönigs droht das Ansehen Ludwigs XIV. zu beschädigen . . . .
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8 Tatort: Hannover – Die Affäre Königsmarck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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9 Versöhnlicher Ausklang – Eine preußische Prinzessin wird in Franken heimisch und macht Bayreuth zu dem, was es ist . . . . . . . .
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10 „Königin der Herzen anno 1795“ – Wie die Ehe Georgs IV. mit Caroline von Braunschweig beinahe die Revolution in England auslöst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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11 Kein Kind für den Kurfürsten – Wie Maria Leopoldine die Pläne ihres kaiserlichen Onkels durchkreuzt, Bayern auf „legalem Wege“ zu bekommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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12 Kaspar Hauser – Erbprinz oder dreister Betrüger? . . . . . . . . . . . . . .
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13 Das Ende des Märchenkönigs – Wie Bayernkönig Ludwig II. in den Selbstmord getrieben und dadurch unsterblich wurde . . . . .
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14 Rasputin & Co. – Geisterheiler am russischen Zarenhof . . . . . . . . . .
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15 „Herrliche Zeiten“ – Wilhelm II., die Sexskandale und das Ende des deutschen Kaiserreichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort – „Das kommt in den besten Familien vor“ Dass Streit in den besten Familien vorkommt, ist eine Binsenweisheit. Da kann es passieren, dass die Beteiligten Jahre nicht mehr miteinander sprechen oder sich gegenseitig enterben, doch größere Dimensionen nehmen die Dinge im Normalfall selten an. Anders sieht es aus, wenn es sich bei den „besten Familien“ um Mitglieder eines Fürstenhauses handelt. In diesem Fall können Streit und Intrigen mitunter große politische Folgen haben. Bündnisse werden aufgekündigt und Kriege vom Zaun gebrochen. Nicht immer, aber auffallend oft heißt es in solchen Fällen cherchez la femme, was im Deutschen so viel heißt wie: Da steckt immer eine Frau dahinter. Das bedeutet keinesfalls, dass die Damen von Natur aus hinterhältiger wären als die Herren der Schöpfung. Da den meisten aber jahrhundertelang die direkte Beteiligung an politischen Entscheidungen versagt war, griffen sie schon gerne einmal zu Tricks und Intrigen. Das fing bereits im frühen Mittelalter an, zu einer Zeit also, in der man dem weiblichen Geschlecht noch nicht mal das eigenständige Denken zutraute. Körperlich und geistig dem Mann unterlegen, galten Frauen in den Augen der Kirchenväter bestenfalls als „notwendiges Übel“. Denn schließlich waren sie nötig, damit die Menschheit nicht ausstarb. Die Wirklichkeit indes sah anders aus: Schon damals wussten die Frauen genau, was sie wollten, und ersannen alle möglichen Mittel, ans Ziel ihrer Wünsche zu kommen. Selbst vor Mord und Todschlag schreckten die Damen
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VORWORT
nicht zurück. Ein schlagendes Beispiel weiblichen Durchsetzungsvermögens ist der Streit der Merowingerköniginnen Brunhilde und Fredegunde, der letztlich sogar die ganze Dynastie in den Abgrund riss. Aber nicht immer hatte ein Familienkrach derart nachteilige Folgen. Es kann wie bei Eleonore, der Erbin von Aquitanien, auch anders kommen. Als diese beschlossen hatte, sich von ihrem Mann Ludwig VII. von Frankreich zu trennen, um den späteren englischen König Heinrich II. aus dem Hause Anjou-Plantagenet zu heiraten, sollte sich die komplette europäische Machtkonstellation zugunsten Englands verschieben. Das reiche südfranzösische Aquitanien gehörte jetzt plötzlich zum Inselreich. Glück im Unglück hatte auch die preußische Prinzessin Wilhelmine, bekannt als Lieblingsschwester Friedrichs des Großen. Um einen langwierigen Familienkrieg am Hohenzollernhof zu beenden, heiratete sie auf Wunsch ihres Vaters Friedrich Wilhelm I. den eher bedeutungslosen Erbprinzen von Bayreuth. Zunächst fiel es ihr schwer, sich in der fränkischen Provinz einzuleben. Als sie jedoch wenige Jahre später an der Seite ihres Gemahls zur Markgräfin aufstieg, bot sich der kunstsinnigen Wilhelmine ein reiches Betätigungsfeld. Noch heute sind die Bayreuther stolz auf die prachtvollen Bauten, die ihre Landesherrin einst errichten ließ, vor allem auf das berühmte Opernhaus, das zu den schönsten Hoftheatern Deutschlands gehört. Weil die Erbfolge und der Zugang zur Macht in den „besten Familien“ die größte Quelle der Zwietracht bildeten, wurden gelegentlich krasse Methoden ersonnen, Nebenbuhler aus dem Feld zu räumen. Bis heute geheimnisvoll ist die Identität des jungen Mannes, der 1826 in Nürnberg auftauchte und sagte, er hieße Kaspar Hauser. War er womöglich der Erbprinz von Baden, den die ehrgeizige Witwe des Großherzogs kurz nach der Geburt beiseitegeschafft hatte, um ihren eigenen Söhnen den Weg zum Thron zu ebnen? Kränkung, Neid und politischer Ehrgeiz konnten als Motivation sehr viel bewirken. War das auch hier der Fall? Doch auch die Herren bei Hofe scheuten keineswegs vor üblen Tricks zurück. Ein Opfer solcher Machenschaften wurde Bayernkönig Ludwig II., den Minister und Verwandtschaft kurzerhand zum bauwütigen Geisteskranken erklärten, in geradezu krimineller Weise entmündigen und absetzen ließen. Dass er durch seinen tragischen Tod im Starnberger See gleichsam „unsterblich“ wurde, konnten damals weder die Wittelsbacher noch die bayerischen Untertanen ahnen.
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Mit einem „blauen Auge“ kam Deutschlands letzter Kaiser Wilhelm II. davon, als durch eine Intrige bekannt wurde, dass sich sein Beraterstab weitgehend aus Homosexuellen zusammensetzte. Um nicht selbst in den Verdacht zu geraten, homophile Neigungen zu haben, ließ Wilhelm damals sogar seinen besten Freund Philipp von Eulenburg auf unschöne Weise fallen. Der Skandal geriet allmählich in Vergessenheit, doch das Imageproblem blieb. Wilhelms Thron begann schon Jahre vor dem Untergang der Hohenzollernmonarchie bedenklich zu wackeln. Wer die Intrige gegen den Kaiser angezettelt hat? Möglicherweise seine eigene Schwester. So etwas soll vorkommen …
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1 Hochzeiten und viele Todesfälle – Die Feindschaft der Merowingerköniginnen Brunhilde und Fredegunde Im Mittelalter galten Frauen sowohl körperlich als auch geistig als das „schwache Geschlecht“. Die Merowingerköniginnen Brunhilde und Fredegunde allerdings beweisen, dass die Theorie das eine, die Praxis das andere ist. Sie legen ein erstaunliches Durchsetzungsvermögen an den Tag. Über Jahrzehnte waren sie einflussreiche Akteure in einem endlosen Familiendrama, das schließlich im blutigen Showdown um die Macht im Frankenreich eskalierte und den Niedergang der Dynastie der Merowinger herbeiführen sollte.
Merowingerkönig Chlodwig, der Gründer des Frankenreichs Um 500 n. Chr. hatte der germanische Stamm der Franken unter seinem ebenso machthungrigen wie skrupellosen König Chlodwig (um 466–511) ein Reich geschaffen, das unter Karl dem Großen (768–814) schließlich gleichbedeutend mit Europa wurde. Ist jedoch heutzutage von Europa die Rede, dann ist schnell von den gemeinsamen geistigen und kulturellen Werten die Rede, die wenn nicht in der Spätantike, dann spätestens im frühen Mittelalter geprägt wurden. Doch der „Weg nach Europa“ war weniger von edlen Gedanken und christlichen Werken gepflastert als von einem
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erbarmungslosen Kampf „aller gegen alle“. Mord und Totschlag waren bei den Merowingern ebenso an der Tagesordnung wie Hass und Intrigen – woran die königlichen Gemahlinnen nicht selten einen erheblichen Anteil hatten. In der Nibelungensage wurde diese finstere Epoche literarisch verarbeitet; sie geht mit einem dramatischen Showdown, dem blutigen Untergang des Burgunderreichs zu Ende. In die Sage von Siegfried, seinen Gefährten und Feinden fließen mehrere historische Ereignisse ein, darunter der Tod des Hunnenkönigs Attila (453) sowie der Mord an dem fränkischen König Sigibert, der 575 wohl auf Betreiben seiner Schwägerin Fredegunde ermordet wurde. Hier nun nimmt die Geschichte der verfeindeten Königinnen Krimhild und Brunhild ihren historischen Ausgang. Mit dem Zerfall des Römischen Reiches, das sich einst von Spanien bis nach Kleinasien, von Nordafrika bis nach Britannien erstreckt hatte, war die alte Ordnung zusammengebrochen. Die Wirren der Völkerwanderungszeit setzten ein. Überall waren Menschen in Bewegung, und in Westeuropa wurden die spätrömischen Werte von den Nachfahren germanischer Stämme neu aufgenommen und interpretiert. Das bestehende Machtvakuum konnte Frankenkönig Chlodwig aus dem Geschlecht der Merowinger schließlich zu seinem Vorteil nutzen. Die geografischen Wurzeln seiner Dynastie liegen im heutigen Belgien, in der Gegend um Tournai. Nachdem es Chlodwig erst einmal gelungen war, andere Kleinkönige auszuschalten, und bei dieser Gelegenheit die halbe Verwandtschaft ermordete, konnte er im Kerngebiet des früheren Gallien das Frankenreich gründen und es anschließend immer weiter ausdehnen. Die Merowinger führten ihren Ursprung auf göttliche Abstammung zurück, von der sie ein besonderes Geblütsrecht ableiteten, ein Charisma, das sie mit einer ganz speziellen Fähigkeit zum Herrschen – und vor allem zum Kriegführen – ausstattete. Hoheitszeichen der Merowingerkönige war ihr langes gelocktes Haar, nach germanischer Auffassung ein Beweis von Würde und Lebenskraft. Das blieb es auch, nachdem sich Chlodwig um 496 entschlossen hatte, seinem heidnischen Glauben abzuschwören und sich in Reims taufen ließ. Das bedeutete freilich nicht, dass er damit auch die christlichen Tugenden der Vergebung und Nächstenliebe übernahm, im Gegenteil – auch nach seiner Taufe regierte das Schwert. Der Übertritt zum Christentum war nichts weiter als politisches Kalkül. In seinem Herr-
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schaftsgebiet, dem früheren Gallien, hatte die Christianisierung bereits im 2. Jahrhundert eingesetzt, und der neue Glaube war damals in allen Schichten der gallo-römischen Bevölkerung verbreitet. Und weil deshalb in Chlodwigs Reich mehr christliche Untertanen lebten als heidnische Franken, die Wotan & Co verehrten, war dieser Schritt nur opportun. Schließlich sollte die Kluft zwischen Herrscher und Beherrschten möglichst gering sein. Wie es scheint, hat der christliche Gott dem Frankenkönig tatsächlich Glück gebracht, denn zuletzt beherrschte Chlodwig ein Reich, das sich vom Rhein bis zum Atlantik erstreckte, vom Ärmelkanal bis zur Garonne. 511 verstarb Chlodwig im Alter von etwa 45 Jahren. Seine Söhne erbten nach fränkischer Sitte das Reich, um es unter sich aufzuteilen. Dass diese Teilung nicht ohne Probleme ablief, versteht sich von selbst – zumal beide eine gewisse Machtgier von ihrem Vater geerbt hatten.
Drum prüfe, wer sich ewig bindet … Es kam, wie es kommen musste: Chlodwigs Nachfahren waren nicht in der Lage, die Herrschaft gemeinsam auszuüben. Erbitterte Streitigkeiten führten schließlich zu einer Dreiteilung des Frankenreichs, das sich 50 Jahre nach Chlodwigs Tod noch erheblich vergrößert hatte. Diese Teilung wurde für die Zukunft maßgeblich: im Osten Austrien (Ostreich) mit der Champagne, dem Maas- und Moselland und der Hauptstadt Reims, im Westen Neustrien (Westreich) zwischen Schelde und Loire mit der Hauptstadt Soissons und schließlich Burgund mit dem Zentrum Orléans. Im Jahr 561 wurde Chlodwigs Enkel Sigibert I. König von Austrien, sein Bruder Chilperich I. herrschte über Neustrien, während Gunthramm Burgund erhielt. Auch wenn sich die Merowinger schon längst zum Christentum bekannten, hatten die meisten von ihnen für eheliche Treue nicht allzu viel übrig. Sie führten ein ausschweifendes Liebesleben. Nur König Sigibert stand wie ein Fels in der Brandung inmitten des sinnlichen Treibens und der zahllosen Leidenschaften. Und doch war ausgerechnet er es, der mit seiner standesgemäßen Hochzeit 566 einen jahrelangen Bruderkrieg auslöste, der den Niedergang des Merowingergeschlechts einleiten sollte.
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Sigibert hatte sich nämlich für eine junge Spanierin aus dem Reich der Westgoten entschieden, die dreiundzwanzigjährige Tochter des Königs Athanagild, der in Toledo residierte. Prinzessin Brunhilde war nach dem Urteil des Chronisten Gregor von Tours „eine Jungfrau von feiner Bildung, schön von Angesicht, züchtig und wohlgefällig in ihrem Benehmen, klugen Geistes und anmutig im Gespräch“. Um diese wunderbare Frau für sich zu gewinnen, schickte Sigibert eine Gesandtschaft nach Spanien, die bei Athanagild in seinem Namen um die Hand der Tochter anhalten sollte. Der königliche Vater war hocherfreut über den fränkischen Heiratsantrag und schickte Brunhilde gleich „mit reichen Geschenken“ ins austrische Reims zu ihrem künftigen Gatten. Dort heirateten die beiden „unter unendlichem Jubel und großen Lustbarkeiten“, so Gregor von Tours in seiner Chronik. Das Glück schien perfekt und hätte womöglich bis an ihr seliges Ende gedauert, wäre da nicht ein neidischer Bruder gewesen. Chilperich, König von Neustrien, saß daheim in Soissons und platzte fast vor Neid. Sein Verhältnis zu Sigibert war ohnehin nicht das beste, und jetzt hatte der ältere Bruder auch noch eine Frau geheiratet, von der er selbst nur zu träumen wagte! Nun war zwar auch Chilperich keineswegs ledig geblieben, aber mit einer blaublütigen Prinzessin konnte er sich leider nicht schmücken. Seiner ersten Gemahlin Audovera war er rasch überdrüssig geworden und hatte deshalb dafür gesorgt, dass sie den Rest ihres Lebens hinter Klostermauern verbrachte. Die christlichen Frauenklöster waren mittlerweile zu beliebten „Entsorgungsstationen“ für missliebige Ehefrauen geworden. Sehr praktisch! Endlich wieder frei, holte sich Chilperich die propere Magd Fredegunde ins Ehebett. Aber was war eine Magd im Vergleich zu einer Prinzessin! Nun kam Chilperich zu Ohren, dass Athanagild noch eine weitere Tochter hatte, die stille und bescheidene Galswintha. Darum machte er sich unverzüglich selbst auf den Weg nach Toledo, um beim König der Westgoten vorzusprechen. Doch der war diesmal über den Heiratsantrag überhaupt nicht erfreut, denn Chilperichs schlechter Ruf war ihm bis nach Spanien vorausgeheilt. Athanagild hegte berechtigte Zweifel daran, ob der windige Merowinger, Weiberheld und Trunkenbold, der er war, tatsächlich der richtige Gemahl für seine empfindsame Galswintha sein würde. Erst nachdem Chilperich bei seinem Leben geschworen hatte, alle anderen Frauen zu verlassen und überhaupt sämtlichen Lastern
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P ROB LEM LÖSU NG NACH ART DER M EROWI NGER
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zu entsagen, ließ Athanagild auch seine zweite Tochter ins Frankenreich ziehen, diesmal nach Soissons. Diese Entscheidung sollte der alte König bald bitter bereuen! Schon nach kurzer Zeit nämlich wurde der flatterhafte Chilperich seiner unscheinbaren Gemahlin überdrüssig und besann sich wieder auf die Vorzüge von Fredegunde, die es wesentlich besser verstand, Schwung ins königliche Liebesleben zu bringen. Und so verdrängte die frühere Magd die blaublütige Westgotin aus Chilperichs Ehebett. Galswintha ertrug die Demütigung mit Würde und scheinbarer Gelassenheit, tatsächlich aber war sie zutiefst gekränkt. Deshalb bot sie ihrem Gemahl an, freiwillig das Feld zu räumen und zurück nach Toledo zu gehen. Sogar ihre „Schätze“, also die reiche Mitgift, wollte sie ihm lassen, wenn Chilperich sie nur ziehen ließe. Am liebsten hätte der König das verlockende Angebot unverzüglich angenommen. Aber so reizvoll der Vorschlag auch war – er musste ablehnen, wollte er nicht sein Gesicht verlieren. Hatte er dem alten Athanagild nicht bei seinem Leben geschworen, Galswintha immer treu zu sein? Nicht nur vor dem Westgotenkönig – vor aller Welt würde Chilperich als unzuverlässiger Wort- und Ehebrecher dastehen, was seinem ohnehin schon zweifelhaften Ruf noch zusätzlich schaden würde. Nein, zurückschicken konnte er die Ungeliebte keinesfalls. Da musste sich schon eine andere Lösung finden …
Problemlösung nach Art der Merowinger Eines Morgens machte eine Zofe am neustrischen Königshof eine grausige Entdeckung: Galswintha lag tot in ihrem Bett; sie war eindeutig erdrosselt worden. Die Nachricht vom gewaltsamen Tod der Königin verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Der Witwer heuchelte Trauer, dabei war allen klar, dass kein anderer als Chilperich selbst der Mörder sein konnte, wahrscheinlich mit der gewissenlosen Magd als Komplizin! Der jedoch hielt es dann auch nicht einmal für nötig, die übliche Trauerzeit abzuwarten, sondern machte Fredegunde unverzüglich erneut zu seiner Königin. Doch wer sollte dem Merowinger schon etwas anhaben? Und überhaupt: Auch seine Vorfahren hatten auf diese Weise schon manches Problem „gelöst“.
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Als Brunhilde in Reims von dem feigen Mord an ihrer Schwester erfuhr, war sie zutiefst entsetzt und bat ihren Gemahl inständig, die ruchlose Tat zu rächen. Wie sie war Sigibert gleichfalls empört und schwor Rache. Doch diese war ihm vor allem willkommener Vorwand: Tatsächlich suchte er nur nach einem geeigneten Anlass, um Chilperich den Krieg zu erklären und sich das neustrische Reich unter den Nagel zu reißen – was ihm 575 schließlich auch gelang. Doch der austrische Triumph währte nur kurz. Unser Chronist Gregor von Tours, der immer einmal wieder himmlische Vorzeichen beobachtet haben will, berichtet, man habe noch im gleichen Jahr „einen hellen Schein über den Himmel laufen“ sehen, „wie wir es einst vor dem Tode Chlodwigs sahen“. Das konnte wahrhaftig nichts Gutes bedeuten! Sollte sich Unheil über Reims zusammenbrauen? Nur wenig später erhielt Sigibert die Meldung, zwei Boten seien gekommen, um eine wichtige Nachricht zu überbringen. Doch als die Männer den Thronsaal betraten, zogen sie anstelle des Pergaments ihre Schwerter hervor und hieben so lange auf den König ein, bis dieser blutüberströmt sein Leben ließ. Damit aber war für Chilperich der Weg zum neustrischen Thron wieder frei. Fredegunde aber rieb sich feixend die Hände, schließlich hatte sie gleich doppelten Grund zur Freude: Zum einen hatte sie ihre königliche Stellung wiedererlangt, zum anderen gönnte sie ihrer verhassten Rivalin Brunhilde den schweren Verlust. Brunhilde indessen trauerte nicht nur um den toten Sigibert, sie stand auch vor der schweren Aufgabe, zumindest das austrische Teilreich für ihren fünfjährigen Sohn, den 570 geborenen Childebert, zu retten. Schließlich stand zu befürchten, dass ihr Schwager Chilperich über Austrien herfallen und mit dem kleinen Neffen kurzen Prozess machen würde. Darum sorgte Brunhilde zunächst einmal dafür, dass ihr Kind ordnungsgemäß zum König erhoben wurde. Wie die Quellen berichten, wurde der Kleine am Weihnachtstag 575 gekrönt „und begann zu regieren“. Damit saß zum ersten Mal ein merowingischer Kinderkönig auf dem Thron. Vor allem die austrischen Adligen erhofften sich von diesem Umstand handfeste Vorteile, denn sie glaubten, ihren eigenen Einflussbereich weiter ausdehnen zu können. Doch Chilperich machte ihnen einen Strich durch die Rechnung, indem er den kleinen König unverzüglich vom Thron entfernte und zusammen mit seiner Mutter Brunhilde nach Rouen verbannte. Wenigstens ließ er beide am Leben.
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Eine verbotene Ehe In Rouen allerdings geschah etwas völlig Unerwartetes: Brunhilde lernte Merowech kennen, Chilperichs Sohn aus der Ehe mit der unglücklichen „Klosterfrau“ Audovera. Nur kurze Zeit später waren die beiden verheiratet. Nach kanonischem Recht war eine Ehe zwischen Tante und Neffen zwar streng verboten, aber trotzdem fand sich ein Priester, der die beiden traute. Über die Beweggründe lässt sich nur spekulieren. Liebe? Wohl kaum. Benutzte Brunhilde ihren Neffen, um seinem Vater zu schaden? Spielten für Merowech womöglich Rachemotive an seiner Stiefmutter Fredegunde eine Rolle? Oder verfolgte Brunhilde vielleicht sogar politisch langfristige Ziele – etwa die Vereinigung Austriens und Neustriens? War sie tatsächlich so weitsichtig, dass sie die Reichseinheit und die Stärkung der königlichen Zentralgewalt ins Auge fasste? Auszuschließen ist das nicht, denn in diesem Sinne hat sie auch später immer gehandelt. Doch das Eheglück war nicht von langer Dauer. Chilperich, der Sohn und Schwiegertochter zunächst noch zur Hochzeit gratuliert hatte, nahm einen Aufstand im austrischen Soissons zum Anlass, Merowech, den er als Drahtzieher vermutete, gefangen zu setzen. Doch der junge Mann hatte einflussreiche Freunde, denen es in einer Nacht- und Nebelaktion gelang, den Königssohn zu befreien und ihm zur Flucht nach Metz zu verhelfen, wo sich inzwischen Brunhilde mit ihrem kleinen Sohn aufhielt. Was danach geschah, lässt sich aufgrund der schlechten Quellenlage kaum noch rekonstruieren. Vermutlich hatten die austrischen Adligen verlockende Zusagen von Chilperich erhalten, denn sie liefen in Scharen zum neustrischen König über. Brunhilde, ihr Sohn Childebert und Merowech fanden sich plötzlich völlig isoliert. Brunhilde und das Kind durften zwar in Metz bleiben, doch Merowech musste die Stadt umgehend verlassen. Wie es scheint, hat Fredegunde die Schutzlosigkeit ihres Stiefsohns ausgenutzt und ihm gedungene Mörder auf den Hals gehetzt, um ihren eigenen Söhnen Vorteile zu verschaffen. Kurze Zeit später jedenfalls war Merowech tot … Damit hatte Fredegunde zwar einen wichtigen Widersacher aus dem Weg geräumt, doch jetzt schien es, als würden himmlische Mächte die Königin für ihre Freveltaten bestrafen. Von ihren vier unmündigen Kindern
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wurden innerhalb kürzester Zeit drei von einer Seuche dahingerafft. Nur ein Säugling namens Chlotar blieb am Leben. Auch Chilperich, selbst nicht zimperlich, hatte sich inzwischen von seiner rabiaten Gemahlin abgewandt. Diese, inzwischen vierzig, fand bald Ersatz und holte sich einen gewissen Landerich ins Lager, seines Zeichens Hausmeier am neustrischen Königshof. Der Hausmeier oder Majordomus gehörte als „Hausmeister“ zu den höchsten Hofbeamten – neben dem Marschall, der die Marställe (Pferdeställe) beaufsichtigte, dem Kämmerer, der für den Hausrat – insbesondere für den Königsschatz – verantwortlich war, und dem Mundschenk, der für das leibliche Wohl der höfischen Gesellschaft zu sorgen hatte. Damit hatte Fredegunde einen ganz schön „dicken Fisch“ an Land gezogen. Als Chilperich an einem schönen Maiabend 584 von der Jagd nach Hause kam, ereilte auch ihn das Schicksal: Kaum war er vom Pferd gestiegen, da stach ihm ein Unbekannter ein Messer in den Rücken und verschwand im Schutz der Dunkelheit. Weder der Mörder noch mögliche Hintermänner (beziehungsweise -frauen) konnten jemals überführt werden. Fredegunde beschuldigte ihre Rivalin Brunhilde, aus Rache gehandelt zu haben, die wiederum behauptete, die ehemalige Magd habe ihren Mann selbst auf dem Gewissen. Wie gesagt, das Verbrechen wurde niemals aufgeklärt. Doch es ist keineswegs unwahrscheinlich, dass Fredegunde Chilperich loswerden wollte, um künftig nach eigenem Gutdünken schalten und walten zu können und ihr Liebesglück mit Landerich ungestört zu genießen.
Der Krieg der Kinderkönige Weil das austrisch-neustrische Frankenreich jetzt keinen mündigen König mehr hatte – Chilperichs Sohn, der kleine Chlotar II., war erst vier Monate alt – übernahm Fredegunde kurzerhand selbst die Regentschaft. Welch ein Triumph über ihre Rivalin Brunhilde! Doch sie hatte sich zu früh gefreut. Zwar waren Sigibert und Chilperich tot, aber der dritte Bruder lebte noch: Gunthramm von Burgund, der sich bislang aus der Familienfehde herausgehalten hatte. Dass sich Fredegunde nun zur Königin der beiden Teilreiche aufgeschwungen hatte, das passte ihm überhaupt nicht. Und da seine eigenen Söhne frühzeitig gestorben waren, beschloss er nun, seinen aust-
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DER KRIEG DER KINDERKÖNIGE
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rischen Neffen zu adoptieren, Brunhildes Sohn Childebert. Der sollte ihn nach seinem Tod beerben. Das war mehr, als Fredegunde ertragen konnte. Doch alle Pläne, Brunhilde und ihren Sohn hinterrücks umbringen zu lassen, liefen ins Leere. Tatenlos musste sie stattdessen mit ansehen, wie Childebert nach Gunthramms Tod 593 tatsächlich vom Adel Austriens und Burgunds auf den Schild gehoben und zum neuen König der beiden Teilreiche ausgerufen wurde. Nicht mehr erfahren sollte Fredegunde allerdings, ob Brunhilde am Ende gesiegt hatte. Sie starb nur drei Jahre später – ganz friedlich in ihrem Bett, vermutlich an den Folgen einer Krankheit. In der Pariser Kirche des hl. Germanus (heute St. Germain des Prés) fand sie ihre letzte Ruhestätte. Etwas mehr als fünfzig Jahre währte Fredegundes Leben, ein Leben, das über Jahrzehnte von beispiellosem Hass und großem Aufstiegswillen geprägt war – und diesen Hass sollte sie ihrem inzwischen zwölfjährigen Sohn Chlotar II. weitervererbt haben. Der würde nun den Kampf seiner Mutter gegen Brunhilde fortsetzen und zu einem Ende bringen – zu einem blutigen Finale. In Fredegundes Todesjahr 596 starb indessen auch Brunhildes Sohn Childebert II., König von Austrien und Burgund, im Alter von nur 26 Jahren. Er hinterließ zwei unmündige Söhne, die jetzt, zumindest nominell, seine Nachfolge antraten: Der zehnjährige Theudebert II. in der austrischen Moselstadt Metz und sein jüngerer Bruder Theuderich II. in Châlonssur Saône in Burgund. Damit war das erst vor wenigen Jahren geeinte Reich wieder auseinandergebrochen. Doch der gemeinsame Kampf gegen Neustrien ging weiter. Unter der Vormundschaft ihrer Großmutter Brunhilde eröffneten die beiden Kinderkönige den Krieg gegen ihren neustrischen Onkel Chlotar II., der auch nur wenige Jahre älter war als sie selbst. Tatsächlich gelang es ihnen, das gegnerische Aufgebot in der Schlacht von Dormelles um 600 vernichtend zu schlagen und sich weite Teile Neustriens einzuverleiben. Aber Theudebert und Theuderich wären wohl keine echten Merowinger gewesen, hätten sie sich dauerhaft vertragen. Die Gründe für das Zerwürfnis der Brüder sind nicht weiter bekannt. Brunhilde jedenfalls schlug sich auf die Seite des jüngeren Enkels Theuderich von Burgund. Die Entscheidung im Bruderkrieg fiel in der Schlacht von Zülpich bei Köln, einem höchst blutigen Gemetzel: „Es wurden, als die Heere aufeinanderprallten
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und miteinander kämpften, so viele getötet, dass die Leichen keine Möglichkeit hatten, umzusinken; die Toten blieben vielmehr dicht nebeneinander stehen, als ob sie lebten“, berichtet der Chronist Fredegar, der nach dem Tod Gregors die fränkische Geschichtsschreibung weiterführte. Als Sieger aus der Schlacht ging der Burgunder Theuderich hervor, dessen Truppen auch durch Angehörige des neustrischen Adels verstärkt waren. Der unterlegene Theudebert floh unterdessen nach Köln und hoffte, sich hier verstecken zu können. Das aber war keine gute Entscheidung! Die Bewohner der Stadt fürchteten nämlich nicht zu Unrecht, der siegreiche Burgunder könnte Rache nehmen, wenn sie seinem Bruder Asyl gewährten. Deshalb griffen sie selbst zum Schwert, töteten den König von Austrien (612) und schickten seinen Kopf als Trophäe an den siegreichen Theuderich. Der kam daraufhin unverzüglich nach Köln, riss sich den reichen Schatz seines Bruders unter den Nagel und ließ sich von den Bewohnern huldigen. Jetzt war Theuderich König von Austrien und Burgund. Allerdings gab es noch die Neffen, Söhne seines toten Bruders. Um ganz sicher zu gehen, machte er sich auf den Weg nach Metz, um auch diese legitimen Thronanwärter aus dem Weg zu räumen. Skrupel kannte Theuderich nicht. Wie es in der Fredegar-Chronik heißt, wurde der Jüngste, der noch das Taufkleid trug, „von einem Mann am Fuß gefasst und gegen einen Stein geschlagen. Das Hirn spritzte aus dem Kopf und er gab seinen Geist auf“. Brunhilde mochte das grausame Schicksal ihrer Urenkel bedauern, doch politisch gesehen hatte sie allen Grund zur Freude. Ihr großes Ziel, die Wiedervereinigung aller drei Reichsteile, war in greifbare Nähe gerückt! Doch im Augenblick des Triumphes nahm das Familiendrama wieder einmal eine unverhoffte Wendung: Der siegreiche Theuderich starb völlig unerwartet in seiner neuen Königsstadt Metz. Wie sein Vater war auch er nur 26 Jahre alt geworden. Brunhilde aber, mittlerweile eine Greisin, gab nicht auf, auch wenn ihr nicht viel Zeit blieb.
Blutiges Finale Theuderich hatte vier Söhne hinterlassen – Sigibert, Childebert, Corbus und Merowech – allesamt Erben von Austrien-Burgund. Nur – hätten sich zugleich vier kleine Kinder auf den fränkischen Königsthron gedrängt, wäre
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es zu einer erneuten Zersplitterung des Reiches gekommen. Eigentlicher Nutznießer wäre dann der machtbesessene Adel gewesen, der ohnehin fortwährend eifersüchtig die eigenen Rechte verteidigte. Das aber hätte das Ende von Brunhildes Kampf um die Reichseinheit bedeutet. Und so beschloss die alte Prinzipalin ganz entgegen dem fränkischen Recht, eine erneute Herrschaftsteilung zu verhindern und nur ihren ältesten Urenkel als Sigibert II. zum König erheben zu lassen. Doch da zog der Adel nicht mit. Stattdessen verbündeten sich die Großen Austriens und Burgunds mit einflussreichen neustrischen Adligen, um Brunhilde gemeinsam Einhalt zu gebieten. Damit aber schlug nun die Stunde Chlotars II., des inzwischen siebenundzwanzigjährigen Sohnes von Fredegunde. Durch erhebliche Zugeständnisse konnte er den Adel Austriens und Burgunds auf seine Seite ziehen. Und so stand Brunhilde plötzlich mit dem Rücken zur Wand, niemand kam zu ihrer Unterstützung. Zwar versuchte die Siebzigjährige mit ihren vier Urenkeln zu fliehen, doch vergeblich. Man spürte sie auf, wurde gefangen genommen und Chlotar II. übergeben. Damit aber ging die Tragödie um Erbe und Reichsteilung 613 ihrem entsetzlichen Finale entgegen. Der König von Neustrien nahm grausam Rache: Zunächst ermordete er eigenhändig die Kinder Sigibert und Corbus, Merowech starb wenig später in einem Kloster. Nur Childebert konnte von mitfühlenden Zeitgenossen in Sicherheit gebracht werden und blieb seitdem verschwunden. Ab jetzt richtete sich der ganze Hass Chlotars II. gegen Brunhilde. Der König ließ seine Tante zunächst foltern und dann auf besonders grausame Weise hinrichten: Sie wurde „mit dem Haupthaare, einem Fuß und einem Arm“ an den Schweif eines wilden Pferdes gebunden, das man so lange über die Felder hetzte, bis die alte Frau tot und bis zur Unkenntlichkeit entstellt war. Ein allerletzter Triumph für Fredegunde …
Der Aufstieg der Hausmeier Der eigentliche Anlass des Streits zwischen den beiden Königinnen, der Mord an Brunhildes Schwester Galswintha, lag inzwischen fast ein halbes Jahrhundert zurück und war längst in den Hintergrund gerückt. Denn was mit einer Familienfehde begonnen hatte, war zu einem Machtkampf zwischen den drei fränkischen Teilreichen geworden. Es gehört wohl zu den
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Ungerechtigkeiten der Geschichte, dass ausgerechnet Chlotar II. als Sieger hervorgegangen ist, während es doch Brunhilde gewesen war, die sich zeitlebens und unter hohem persönlichen Einsatz für die Reichseinheit eingesetzt hatte. Doch auch wenn Chlotar II. jetzt das ganze Frankenreich allein regierte, so war er doch keineswegs so mächtig, wie es vielleicht den Anschein hatte. Die ständigen Kriege hatten ihn in immer größere Abhängigkeit vom Adel gebracht, der schließlich im Kampf die Truppen stellte. Umsonst war die Unterstützung freilich nicht zu haben; die Kriegsdienste des Adels wurden meist großzügig mit Landbesitz belohnt. Unter dem Reichsgründer Chlodwig und seinen Söhnen war das noch kein Problem gewesen, schließlich kam durch neue Eroberungen immer wieder Land hinzu. Das aber war inzwischen nicht mehr der Fall. Und so kam es, dass die Auseinandersetzungen des 6. und beginnenden 7. Jahrhunderts dem Adel einen derart großen Landgewinn bescherten, dass manche der Großen inzwischen reicher waren als der König selbst. Dem musste Chlotar II. 614 mit dem Pariser Edikt Rechnung tragen. Darin übertrug er verschiedene Machtbefugnisse wie die Rechtsprechung und die Einziehung von Abgaben den Adelsherren. Trotzdem gelang es dem Adel nicht, sich dauerhaft als „zweite Macht im Staat“ zu etablieren, dazu waren seine Interessen zu unterschiedlich. Die eigentlichen Sieger der fränkischen Bruderkriege jedoch waren die Hausmeier, die ranghöchsten Hofbeamten. Chlotar II. verfügte nämlich, dass auch künftig jedes der drei Teilreiche – Austrien, Neustrien und Burgund – einen eigenen Hausmeier haben sollte, da der König ja nicht überall selbst nach dem Rechten schauen konnte. Bereits im späten 6. Jahrhundert war mit diesem Amt eine solche Machtfülle verbunden, dass sein jeweiliger Inhaber dem König an tatsächlichem Einfluss nicht mehr viel nachstand. Und saßen gar Kinderkönige auf dem Thron – was immer einmal wieder der Fall sein sollte – dann wurde die Macht des Hausmeiers umso größer. Und so dauerte es nicht lange, bis die „Geschäftsführer“ des Königs eine beachtliche Karriere machten. Bereits mit dem austrischen Hausmeier Pippin dem Älteren († 640) begann der Aufstieg der Karolinger, der Dynastie, die 751 die machtlos gewordenen Merowingerkönige vom Thron stieß. Damit verschwand die Dynastie praktisch sang- und klanglos von der Bühne der Geschichte. Pippin der Jüngere musste noch nicht einmal einen
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Putsch unternehmen, um den fränkischen Thron besteigen zu können. Es bedurfte lediglich des Hinweises durch den Papst, dass es besser sei, den zum König zu wählen, der die tatsächliche Macht habe, damit der ordo (die christliche Weltordnung) nicht gestört werde. Und genau das geschah: Die Franken hoben einstimmig Pippin auf den Schild! Während der letzte Merowingerkönig seine langen Locken einbüßte und danach hinter Klostermauern verschwand, bestimmten die Karolinger künftig auch ganz offiziell die Geschicke des Frankenreiches. Der mächtigste und berühmteste Vertreter dieser Herrscherlinie war Karl der Große, den man schon zu Lebzeiten den „Vater Europas“ nannte.
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2 Zwei Kronen für Eleonore von Aquitanien – Eine Scheidung verändert die Landkarte Europas Wohl kaum eine Scheidung hatte so weitreichende politische Folgen. Nach der Trennung des französischen Königs von der schönen Eleonore von Aquitanien (1120/22–1204), heiratete diese nur zwei Monate später den englischen Thronfolger Heinrich Plantagenet. Die Hochzeit setzte eine Kette von Ereignissen in Gang, die Jahrhunderte später zum Hundertjährigen Krieg führten. Mit der Krönung Plantagenets zum König Heinrich II. verschoben sich die europäischen Machtverhältnisse auf dramatische Weise, denn nun gehört fast der gesamte Westen Frankreichs, das sogenannte Angevinische Reich, zu England.
Diesseits und jenseits des Ärmelkanals Manchmal hat die Geschichte einen langen Atem. Als am 6. Mai 1994 der Eurotunnel feierlich eröffnet wurde, die durchgehende Bahnverbindung zwischen England und Frankreich, gab es nicht nur Begeisterung. Pläne für eine Untertunnelung des Ärmelkanals hatte es schon im viktorianischen Zeitalter gegeben, doch sie wurden lange Zeit nicht weiterverfolgt. Schließlich wussten die Engländer die Insellage ihres Staates zu schätzen,
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schien sie ihnen doch die Garantie dafür zu sein, von den Irrungen und Wirrungen auf dem Kontinent verschont zu bleiben. Das war früher einmal anders gewesen: Frankreich, auf der anderen Seite des Ärmelkanals, war im Mittelalter noch längst kein einheitlicher Nationalstaat. Die Krondomäne, das eigentliche Herrschaftsgebiet des Königs, beschränkte sich mehr oder weniger auf das Pariser Becken, die Île-de-France. Der Rest glich einem Flickenteppich aus Herzogtümern, Grafschaften und anderen kleinen Territorien, deren Herren dem König zwar den Lehnseid geleistet hatten, ansonsten aber mehr oder weniger ihre eigenen Interessen verfolgten.
Wilhelm der Eroberer Zu den Vasallen des französischen Königs gehörte auch der Herzog der Normandie. Noch im 9. Jahrhundert hatten die Normannen Frankreichs Einwohner mit ihren rabiaten Überfällen in Angst und Schrecken versetzt. Doch nicht alle „Nordmänner“ waren wieder in ihre skandinavische Heimat zurückgekehrt. Vielmehr ließ sich so mancher an der Nordküste Frankreichs dauerhaft nieder. Ihr Bleiberecht wurde 911 vertraglich besiegelt, allerdings unter zwei Bedingungen: Die Neubürger mussten zum Christentum übertreten und den französischen König als ihren Lehnsherrn anerkennen. So entstand damals das Herzogtum Normandie, das sich im Laufe der Zeit zu einem ernst zu nehmenden Machtfaktor entwickelte. Dass sich die modernen Engländer so lange gegen eine Untertunnelung des Ärmelkanals gesträubt haben, lag wohl auch an ihrer uralten Angst, die Franzosen könnten einen solchen Tunnel womöglich in kriegerischer Absicht nutzten, um das Inselreich zu erobern. Das war schließlich schon einmal vorgekommen – im Jahre 1066. Genau genommen handelte es sich bei dem Eroberer nur um einen Vasallen des französischen Königs, den Herzog der Normandie. Und der kam auch nicht auf unterirdischem Weg, sondern mit einer mächtigen Kriegsflotte über den Ärmelkanal gesegelt. Aber immerhin: Als Verwandter des verstorbenen englischen Königs Edward wollte Normannenherzog Wilhelm seinen Anspruch auf die englische Krone durchsetzen, während die Inselbewohner selbst einem anderen Kandidaten den Vorzug gaben. Doch letztlich ging Wilhelm „der Eroberer“
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als Sieger aus dem Machtkampf hervor und begründete für knapp hundert Jahre die Herrschaft der Normannen über England. Sie hinterließen vielfache Spuren auf der Insel, vor allem in der wuchtigen Architektur der Epoche, wie sie auch im Londoner Tower zum Ausdruck kommt.
Eine Braut für den französischen Thronfolger Damit war die denkwürdige Situation eingetreten, dass ein Vasall des französischen Königs, der Herzog der Normandie, gleichzeitig die englische Krone trug und damit über eine größere Macht verfügte als sein eigener Lehnsherr, dessen Kronland nach wie vor kaum über die Île-de-France hinausging. Doch zu Beginn des 12. Jahrhunderts sollte es Frankreichs König Ludwig VI. (1081–1137) gelingen, seine Machtbasis gegenüber den konkurrierenden Territorialherren weiter zu stabilisieren. Aber erst der plötzliche Tod eines seiner Vasallen versetzte ihn in die glückliche Lage, die Krondomäne beachtlich zu vergrößern. Im April 1137 starb Herzog Wilhelm X. von Aquitanien völlig unerwartet im Alter von nur 38 Jahren. Er hinterließ keinen männlichen Erben, sondern nur zwei Töchter, von denen Eleonore, die Ältere, neue Herzogin von Aquitanien wurde. Doch Eleonore war zu diesem Zeitpunkt erst 15 Jahre alt und somit kaum in der Lage, die schwere Bürde ihres neuen Amtes zu schultern. Deshalb hatte Wilhelm X. noch auf dem Sterbebett den Wunsch geäußert, man möge das junge Mädchen mit dem französischen Thronfolger verheiraten, dem gleichnamigen Sohn Ludwigs VI. Natürlich war der König nur allzu gern bereit, den letzten Wunsch seines treuen Vasallen zu erfüllen. Mit dieser Hochzeit würde nämlich das südwestfranzösische Aquitanien, eines der schönsten und reichsten Länder Frankreichs, das sich vom Indre bis zu den Pyrenäen erstreckte und zu dem die blühenden Städte Bordeaux und Poitiers gehörten, in seinen eigenen Besitz übergehen. Welch enormer Macht- und Prestigegewinn! Aquitanien, auch unter den Namen Okzitanien oder Longue d’oc bekannt, besaß nicht nur eine eigene, auf dem Galloromanischen fußende Sprache, sondern auch eine ganz besondere Kultur. Und die war nicht, wie damals üblich, ausschließlich von Kirche und Christentum geprägt. Eleonores Großvater, der virile Herzog Wilhelm IX. (1071–1126) pflegte in
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seiner Freizeit poetische Verse zu verfassen – und begründete damit ein völlig neues literarisches Genre: die Troubadour-Lyrik, die später auch unter deutschen Minnesängern begeisterte Nachahmung fand. Hatte die mittelalterliche Dichtung bislang fast nur aus frommen lateinischen Texten bestanden, verfasste der Herzog jetzt Liebesgedichte in der Sprache seines Volkes und ging schließlich als „Wilhelm der Troubadour“ in die Geschichte ein. Die junge Eleonore war nun also in einer heiteren und geistreichen Umgebung aufgewachsen, wo sie sich inzwischen als ebenso gebildete wie kunstsinnige junge Dame präsentierte, hübsch und selbstbewusst obendrein. Seinem siebzehnjährigen Sohn musste Ludwig VI. die Heirat mit der schönen Aquitanierin jedoch erst einmal schmackhaft machen. Der französische Thronfolger konnte mit der sinnlichen Welt der Troubadoure nämlich überhaupt nichts anfangen, im Gegenteil. Erzogen unter der Obhut des gelehrten Abtes Suger von St. Denis, Berater seines königlichen Vaters, war es ursprünglich der größte Wunsch des Zweitgeborenen gewesen, selbst einmal die geistliche Laufbahn einzuschlagen. Der junge Ludwig (1120 –1180) war sehr fromm, betete viel und las voll Inbrunst religiöse Texte. Den Gedanken an eine Heirat hatte er lange Zeit weit von sich gewiesen. Doch das Schicksal wollte es anders, der frühe Tod seines älteren Bruders machte alle Aussicht auf ein kontemplatives Leben zunichte. Ludwig blieb keine andere Wahl, als seinem Vater eines Tages auf den Thron zu folgen. Dass er heiraten und Kinder zeugen musste, um die Dynastie der Kapetinger fortzusetzen, war in diesem Zusammenhang nur natürlich und selbstverständlich. Als gehorsamer Sohn hatte sich Ludwig dem väterlichen Willen zu fügen, was er auch tat.
Auf ins Heilige Land! Doch als Ludwig seine künftige Braut persönlich kennenlernte, musste er eingestehen, dass es das Schicksal wirklich gut mit ihm meinte. Es dauerte nicht lange, bis der eher schüchterne Thronfolger bis über beide Ohren in die schöne Eleonore verliebt war! Am 22. Juli 1137 trat das junge Paar in Bordeaux vor den Traualtar, um in der Kirche St. Pierre den heiligen Bund
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der Ehe zu schließen. Der Vater des Bräutigams war hochzufrieden, doch lange konnte er den Machtgewinn, den ihm diese Heirat gebracht hatte, nicht mehr genießen. Ludwig VI. starb nur wenige Wochen später im Alter von 55 Jahren. Jetzt wurde sein Sohn als der siebte dieses Namens neuer König von Frankreich und Eleonore seine Königin. Die beiden waren ein gutes Team, auch wenn die kluge Eleonore nach Ansicht des jungen Königs ein wenig zu viel politischen Ehrgeiz an den Tag legte und sich gern in die Regierungsgeschäfte einmischte. Aber das tat der Liebe zwischen beiden keinen Abbruch. Nur ein Wermutstropfen trübte das eheliche Glück: Es wollte sich einfach kein Nachwuchs einstellen! War die Königin womöglich unfruchtbar? Acht Jahre dauerte es, bis Eleonore endlich schwanger wurde, doch dann war das Kind, das sie 1145 zur Welt brachte, anstatt des erhofften Thronfolgers „nur“ ein Mädchen, das auf den Namen Marie getauft wurde. Auf einen gesunden Knaben musste Frankreich also noch länger warten, viel länger … Womöglich glaubte der fromme Ludwig VII. ja an die Segenskraft einer (bewaffneten) Wallfahrt, denn er beschloss noch im gleichen Jahr, so rasch wie möglich zum Zweiten Kreuzzug aufzubrechen. Nachdem die christliche Grafschaft Edessa (im Süden der heutigen Türkei) in die Hände eines muslimischen Machthabers gefallen war, schienen auch die christlichen Königreiche Jerusalem und Antiochia in höchstem Maße bedroht. Zwei Jahre dauerte die Vorbereitung, bis man im Mai 1147 endlich losziehen konnte. Für die unternehmungslustige Eleonore war es ganz selbstverständlich, dass sie ihren Gemahl bei dem gefährlichen Unternehmen begleitete. Zum einen wollte sie unbedingt selbst fremde Länder und Kulturen kennenlernen, zum anderen hatte sie keine Lust, monate-, vielleicht sogar jahrelang auf ihren Ludwig zu verzichten. Noch war das Band der Liebe so fest wie eh und je. Es wurde eine äußerst strapaziöse Reise, sodass alle Beteiligten heilfroh waren, als im März 1148 endlich die Silhouette von Antiochia in Sicht kam. Hier wollte man ein paar Tage ausruhen und neue Kraft schöpfen. Da traf es sich gut, dass in Antiochia ein enger Verwandter von Eleonore herrschte, Raimund von Poitiers (um 1108–1149), Onkel und jüngerer Bruder ihres verstorbenen Vaters. So wurde es ein freudiges Wiedersehen. Raimund, den es durch eine günstige Heirat in den Orient verschlagen hatte, erwies sich als liebenswürdiger und großzügiger Gastgeber des
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französischen Königspaares. Vor allem Eleonore fühlte sich am Hof ihres Onkels ausgesprochen wohl, denn die heitere Atmosphäre, die hier herrschte und die sie in Paris so vermisste, erinnerte sie an ihre Kindheit im sonnigen Aquitanien. Raimund war ein typischer Sohn seines Vaters Wilhelm X.; auch er liebte die Poesie ebenso wie die schönen Frauen. Die zeitgenössischen Chronisten schildern ihn als „groß, besser gewachsen und edler als alle seine Zeitgenossen. Er übertraf sie auch alle im Waffenhandwerk und in der Reitkunst“. Falls Eleonore einen heimlichen Vergleich zwischen Raimund und ihrem frommen, etwas blutleeren Gemahl anstellt haben sollte, dann dürfte Ludwig VII. schlecht abgeschnitten haben. Bekannt ist schließlich Eleonores tiefer Seufzer: „Ich glaube, ich habe einen Mönch geheiratet“ – wie immer sie das auch gemeint haben mag.
Szenen einer Ehe Mit zunehmender Eifersucht beobachte Ludwig VII. den vertrauten Umgang seiner Gemahlin mit Raimund von Poitiers. Warum sprachen die beiden miteinander okzitanisch, eine Sprache, die er selbst nicht beherrschte? Hatten sie etwas zu verheimlichen? Wenn man sie so sah, konnte man fast glauben, da turtelten zwei Frischverliebte miteinander herum. Tatsächlich? Einzelheiten sind uns leider nicht bekannt, doch hier, in der Mittelmeeridylle zwischen Palmen und Zitronenbäumen, zerbrach das königliche Eheglück. Über die Gründe hüllen sich die zeitgenössischen Chronisten in vornehmes Schweigen. Erst später behauptete der Geschichtsschreiber Wilhelm von Tyrus (um 1130–1186), Eleonore habe mit Raimund eine leidenschaftliche Affäre gehabt. Bewiesen ist nichts, doch einige Indizien deuten tatsächlich darauf hin. Fest steht nämlich, dass es zwischen Raimund und Ludwig VII. Meinungsverschiedenheiten über den weiteren Verlauf des Kreuzzugs gab. Während der fromme König gleich weiter nach Jerusalem ziehen wollte, bestand Raimund darauf, zunächst Edessa von den Muslimen zurückzuerobern, um so den Rücken freizuhaben. Doch Ludwig blieb stur. Ein Wort gab das andere, bis schließlich ein heftiger Streit entbrannte – in welchem Eleonore ganz klar die Partei ihres Onkels ergriff. Mag sein, dass sie nur den strategischen Vorteil seines Plans
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erkannte. Aber wie lässt sich andererseits erklären, dass sie wenig später auch verkündete, in Antiochia bleiben zu wollen? Damit gab sie dem König von Frankreich ganz eindeutig den Laufpass! Ludwig war sprachlos. Nach der ersten Schrecksekunde aber entgegnete er wütend, das käme überhaupt nicht infrage! Und als Ehemann könne er sie notfalls sogar zwingen, ihn zu begleiten! Zunächst herrschte Stille, doch dann schlug Eleonores Antwort wie eine Bombe ein: Bevor er sich zu einer solchen Drohung verstieg, konterte sie, täte er gut daran, seine diesbezüglichen Rechte erst einmal zu klären. Nach kanonischem Recht sei ihre Ehe nämlich null und nichtig – wegen zu enger Blutsverwandtschaft! Ludwig wusste, dass das nicht ganz von der Hand zu weisen war. Tatsächlich gab es da gewisse verwandtschaftliche Verbindungen, die aber mehrere Generationen zurücklagen. Auch hatte die Kirche bislang keinen Einwand erhoben, und selbst wenn, dann gab es immer noch die Möglichkeit, einen Dispens zu erwirken. Es sah also wirklich so aus, als wollte sich Eleonore von ihm trennen, um künftig mit Raimund zusammenzuleben. So weit ist es allerdings nicht gekommen. Raimund war schließlich selbst verheiratet und konnte und wollte sich keinen Skandal leisten. Letzten Endes gab Eleonore nach und begleitete ihren Gemahl zunächst nach Jerusalem und nach dem erfolglosen Kreuzzug 1149 auch zurück nach Frankreich. Auf der Heimreise erfuhr sie, dass Raimund im Kampf um Edessa gefallen war … Doch der Riss, der seit Antiochia durch die königliche Ehe ging, vergrößerte sich immer weiter. Das änderte sich auch nicht, als Eleonore 1150 ein zweites Kind zur Welt brachte, Tochter Alix. Noch zwei Jahre hielten es Ludwig und Eleonore miteinander aus, dann war der König von den Launen seiner Gemahlin offenbar so zermürbt, dass er sich schweren Herzens entschloss, einen Schlussstrich zu ziehen. Die Hoffnung auf die Geburt eines Thronfolgers hatte er inzwischen aufgegeben. Im Mai 1152 wurde die königliche Ehe geschieden – offiziell tatsächlich wegen zu enger Blutsverwandtschaft. Noch konnte keiner ahnen, dass es sich wohl um die folgenschwerste Scheidung der Weltgeschichte handeln sollte … Die Trennung von Eleonore war Ludwig VII. keineswegs leicht gefallen. Zum einen hatte er sie wirklich geliebt, zum anderen aber musste er ihr nun Aquitanien zurückgeben, wodurch seine Hausmacht wieder erheblich
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zusammenschrumpfte. Aber das war eben nicht zu ändern. Wenigstens würde jetzt wieder Ruhe in sein Leben einkehren.
Eine unliebsame Überraschung Ludwig VII. ging davon aus, dass sich Eleonore nach der Scheidung in ihr Herzogtum Aquitanien zurückziehen würde, vielleicht sogar in das Kloster Sainte-Radegonde in Poitiers, so wie es sich für eine alleinstehende Frau mittleren Alters gehörte. Doch Eleonore dachte überhaupt nicht daran, den Rest ihres (langen) Lebens hinter Klostermauern zu verbringen – ganz im Gegenteil! Es dauerte keine zwei Monate – und schon war sie wieder verheiratet! Ludwig VII. traute seinen Ohren nicht, als er die überraschende Nachricht erhielt: der neue Ehemann war ausgerechnet Heinrich Plantagenet, Herzog von Anjou und der Normandie, einer der mächtigsten und widerspenstigsten Vasallen des Königs von Frankreich! Der 1133 geborene Heinrich war ein Urenkel Wilhelm des Eroberers. Als dessen Sohn Heinrich I. 1135 starb, sollte die englische Krone eigentlich an Tochter Mathilde gehen. Doch dazu kam es nicht, weil ihr Stephan von Blois – auch er ein Enkel des Eroberers – die Rechte streitig machte. Folge war ein blutiger Bürgerkrieg, der England inzwischen seit fast 20 Jahren in Atem hielt. Mathilde, die Witwe Kaiser Heinrichs V., heiratete in zweiter Ehe den Franzosen Gottfried von Anjou. Weil der Herzog die Angewohnheit hatte, seinen Hut mit einem Ginsterzweig (frz. plante genêt) zu schmücken, nannten ihn die Zeitgenossen Plantagenet, ein Name, den auch seine Nachkommen tragen sollten. Nach Gottfrieds Tod 1151 beerbte ihn sein Sohn Heinrich Plantagenet, der mit nur 17 Jahren zum Herzog von Anjou und der Normandie aufstieg. Heinrich war trotz seines jugendlichen Alters ein ausgesprochen reifer und erfahrener junger Mann – nicht nur, was das Kriegshandwerk betraf. Als er die etwa zehn Jahre ältere Eleonore heiratete, hatte er bereits zwei uneheliche Kinder. Ganz gleich, ob Eleonore wirklich in Heinrich Plantagenet verliebt war oder ob sie sich durch diese Ehe nur unter den Schutz eines starken Mannes stellen wollte – die Verbindung der beiden wurde ein Erfolgsmodell. Gemeinsam beherrschten sie nun ein großes Territorium, das fast den gesamten Westen Frankreichs
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vom Ärmelkanal bis zu den Pyrenäen umfasste, das sogenannte Angevinische Reich. (Der Name hat seinen Ursprung in einer mundartlichen Bezeichnung von Anjou.) Damit erwuchs für Ludwig VII. eine enorme Konkurrenz im eigenen Land, auch wenn sowohl Heinrich als auch Eleonore nach wie vor seine Vasallen waren.
Das Angevinische Reich Die Ehe des neuen „Traumpaars“ war auch in anderer Hinsicht erfolgreich: Im August 1153 wurde der gemeinsame Sohn Wilhelm geboren. Auch wenn der Kleine nur drei Jahre später starb, schenkte Eleonore doch noch sieben weiteren Kindern das Leben, darunter den Söhnen Heinrich, Richard (Löwenherz), Gottfried und Johann (Ohneland). Der ehrgeizige Heinrich Plantagenet hatte keineswegs vor, sich mit den ausgedehnten Besitzungen auf dem Kontinent zu begnügen. Unterstützt von Eleonore, wollte er nun endlich auch das Erbe seiner Mutter Mathilde einfordern und König von England werden, wenn es sein musste, im Kampf gegen seinen Verwandten Stephan von Blois. Im Herbst 1153 überquerte Heinrich bei Sturm und Regen den Ärmelkanal und ging mit seinen Truppen in Stellung. Ganz England hielt den Atem an, doch dann kam es völlig unverhofft zu einer friedlichen Lösung. Stephan erklärte sich bereit, den jungen Plantagenet als Thronerben anzuerkennen, vielleicht, weil der König damals schon krank war und genau wusste, dass sein eigener Sohn auf dem Thron eine klägliche Figur abgeben würde. Damit war der Herzog von Anjou fast am Ziel, und als Stephan nur ein Jahr später starb, wurde er als Heinrich II. neuer König von England und Begründer der Dynastie der Plantagenets. Stephan von Blois hatte eine gute Wahl getroffen, denn Heinrich II. gelang es nicht nur, den unseligen Bürgerkrieg zu beenden, er konnte auch die abgefallenen Gebiete in Wales und Irland für die Krone zurückerobern. Jetzt reichte das Angevinische Reich von Schottland bis zu den Pyrenäen. Der junge König ging in seiner neuen Aufgabe völlig auf. Von Natur aus ein unruhiger Geist, war er ständig unterwegs, um diesseits und jenseits des Ärmelkanals nach dem Rechten zu sehen. „Er sitzt nie, außer zu Pferde oder wenn er die Mahlzeiten einnimmt“, notierte sein Vertrauter Pierre
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von Blois. „Es kann vorkommen, dass er an einem Tag einen Ritt unternimmt, der vier- oder fünfmal länger ist als ein gewöhnlicher Tagesritt.“ Eleonore stand ihrem Gemahl als treu sorgende Ehefrau und kompetente Beraterin zur Seite und vertrat ihn, so gut es ging, wann immer es nötig war. Wegen seiner praktischen Reisekleidung, die Heinrich beim Reiten trug, nannten ihn die Untertanen schon bald „Heinrich Kurzmantel“. Die Begleiter des Königs wussten nie, wo sie am nächsten Tag sein würden: „Wenn der König gesagt hat, am anderen Morgen werde man zeitig in die und die Stadt aufbrechen, so kann man sicher sein, dass er bis zum nächsten Mittag schläft“, seufzte Pierre von Blois. „Lässt er aber bekannt geben, er habe die Absicht, in Oxford oder sonst wo mehrere Tage zu bleiben, dann ist gewiss, dass er im Morgengrauen des folgenden Tages aufbricht … Während sich die anderen Könige in ihren Schlössern ausruhen, kann er seine Feinde überraschen und alles in Augenschein nehmen.“ Der agile Heinrich tauchte auch gerne unverhofft auf, um die Verwaltung zu kontrollieren, was den Beamten nicht immer ganz recht war. Andererseits ließ er sich auch viel Zeit für seine Untertanen und hörte ihnen geduldig zu, wenn sie Klagen vorzubringen hatten.
Die schöne Rosamunde Alles schien perfekt, doch dann machte Heinrich II. zwei schwerwiegende Fehler: Um seine Macht zu konsolidieren, veranlasste er 1164 die Konstitution von Clarendon, die die weltliche Rechtsprechung auch auf den Klerus ausdehnte. Dabei hatte er nicht mit dem Widerstand seines früheren Kanzlers Thomas Beckett gerechnet, dem er 1162 selbst zur Position des Erzbischofs von Canterbury verholfen hatte. Seither hatte sich Beckett von weltgewandten Diplomaten in einen streng-asketischen Geistlichen verwandelt, einen unermüdlichen Verfechter der kirchlichen Rechte und Privilegien. Jetzt weigerte der sich strikt, die Konstitution von Clarendon zu unterzeichnen. Heinrich II. wurde wütend, der Streit eskalierte, und nachdem der König Beckett das Erzbistum wieder entzogen hatte, floh dieser nach Frankreich, auf das Hoheitsgebiet Ludwigs VII. Erst als der Papst Heinrich II. drohte, er werde das Verdikt über das gesamte Angevinische
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Reich verhängen, gab der König nach und setzte Beckett wieder in sein Bistum ein. Doch dann geschah die Katastrophe: Nur wenige Tage, nachdem Thomas Beckett nach England zurückgekehrt war, wurde er am 29. Dezember 1170 in der Kathedrale von Canterbury von Unbekannten erstochen. Natürlich stand Heinrich II. sofort in Verdacht, den feigen Mord in Auftrag gegeben zu haben. Er beteuerte seine Unschuld, schwor Buße, setzte sogar die Konstitution von Clarendon wieder außer Kraft und die Kirche reumütig in ihre alten Rechte ein. Vergebens. Sein Image als siegreicher und strahlender Held war dahin. Gleichzeitig stieg der tote Beckett zum neuen Nationalheiligen auf und wurde 1172 sogar offiziell kanonisiert. Seitdem zogen nun Tausende von Pilgern zu seinem Grab, unter ihnen auch Heinrich selbst, barfuß und mit blutenden Füßen, ein Bild des Jammers … Doch der zweite Fehler, den der König beging, war womöglich noch folgenschwerer. Kurz nach der Geburt des jüngsten Sohnes Johann (Ohneland) 1167 verbannte er die inzwischen fünfundvierzigjährige Eleonore aus dem Ehebett, und machte Rosamund Clifford (um 1150 –1176) – die „schöne Rosamunde“, wie sie später in der Dichtung genannt wurde – zu seiner Mätresse. Damit aber hatte er den Bogen endgültig überspannt. Eleonore, die stets mit Heinrich an einem Strang gezogen hatte und weit mehr gewesen war als nur die „Frau an seiner Seite“, war zutiefst verletzt. Den einen oder anderen Seitensprung ihres Gemahls hatte sie stillschweigend geduldet, aber dass er sie jetzt gegen ein junges Ding eintauschte, ging wirklich zu weit! Eleonore schwor Rache. Hatte zuvor alles in ihrer Macht stehende getan, um ihn zu unterstützen, würde sie nun alles daransetzen, ihm zu schaden. Aus der besten Verbündeten des englischen Königs wurde seine erbitterte Feindin.*
*
Das ging jedoch nicht so weit, dass Eleonore ihrer jungen Rivalin nach dem Leben getrachtet hätte. In den zahlreichen englischen Balladen, die sich um die „schöne Rosamunde“ ranken, wird Eleonore zwar zur rachsüchtigen Furie stilisiert, die die Mätresse ihres Gemahls schließlich vergiftet. Tatsächlich ist Rosamunde aber eines natürlichen Todes gestorben. Sie war offenbar schon krank, als sie sich in ein Kloster zurückzog, in dem sie 1176 starb und auch begraben wurde.
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Rache ist süß Eleonore zog sich nach Poitiers zurück, wo auch ihr Lieblingssohn Richard (Löwenherz) als künftiger Herzog von Aquitanien aufwuchs. Um 1170 entschloss sich Heinrich II., seine Nachfolge zu regeln und die künftige Herrschaft über das Angevinische Reich aufzuteilen. Heinrich (1155–1183) sollte später einmal König von England werden sowie Herzog von Anjou und der Normandie. Richard (1157–1199) würde der Erbe von Aquitanien sein und Gottfried (1158–1186) die Bretagne übernehmen. Für Johann (1167–1216), den Jüngsten, blieben nur ein paar unbedeutende Randgebiete übrig, was seinen Namen „Johann Ohneland“ hinreichend erklärt. Freilich handelte es sich nur um eine nominelle Herrschaftsteilung, denn Heinrich II. wollte sich lediglich für alle Fälle absichern und dachte überhaupt nicht daran, auch nur ein Stückchen Macht an die Söhne abzutreten. Doch je älter die Prinzen wurden, desto mehr litten sie unter der selbstherrlichen und übermächtigen Persönlichkeit ihres Vaters und suchten zunehmend die Nähe zu Mutter Eleonore. Das war der gedemütigten Königin nur allzu recht. Selbstverständlich bestärkte sie ihre Söhne in dem Wunsch, an der Herrschaft teilhaben zu wollen und stachelte sie gegen den königlichen Vater auf. Infolgedessen schlossen sich die drei ältesten 1173 zusammen, um Heinrich II. durch ein Komplott vom Thron zu stürzen. Der Aufstand war anfangs erfolgreich, brach aber bald in sich zusammen. Heinrich II. allerdings wusste, dass Eleonore die eigentliche Drahtzieherin des Komplotts war. Und dafür musste sie büßen. Von nun an wurde sie unter strengste Bewachung gestellt, sodass sie sich bis zum Tod Heinrichs II. im Jahre 1189 nicht mehr frei bewegen konnte. Damit war der Familienfrieden jedoch keineswegs wiederhergestellt. Der wunderbare Spielfilm Der Löwe im Winter mit Katherine Hepburn und Peter O’ Toole in den Hauptrollen greift die Atmosphäre, die damals am englischen Königshof herrschte, in eindrucksvoller Weise auf – eine scheußliche Mischung aus Rachsucht, Neid, Machtgier und Intrigen. Nach dem vorzeitigen Tod Heinrichs des Jüngeren 1183 etwa musste die Thronfolge neu geregelt werden, und weil jetzt alle drei noch lebenden Söhne nach der Krone griffen, wobei sich Eleonore hinter Richard stellte, und Heinrich II. seinen jüngsten Sohn Johann favorisierte, war die Königsfamilie heillos zerstritten.
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HUNDERT JAHRE KRIEG
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Letzten Endes kam es aber so, wie es sich Eleonore gewünscht hatte. Nach dem Tod Heinrichs II. – auch Gottfried starb bereits 1186 – wurde Richard Löwenherz neuer König von England.
Hundert Jahre Krieg Inzwischen jedoch hatte Eleonores Sohn mit dem jungen König von Frankreich einen mächtigen Konkurrenten bekommen. Was Ludwig VII. nämlich in seiner Ehe mit der Aquitanierin verwehrt geblieben war, erfüllte sich in der Verbindung mit Adela von Blois-Champagne: die Geburt eines gesunden Thronfolgers. So bestieg nach dem Tod Ludwigs VII. der fünfzehnjährige Philipp II. (1165–1223) den französischen Thron. Später sollte er für seine Verdienste den ehrenvollen Beinamen August(us) erhalten. Der ehrgeizige Philipp II. indessen mochte sich nicht mit der Tatsache abfinden, dass der ganze Westen Frankreichs nach wie vor als Lehen dem englischen König unterstand. Er beschloss daher, den Festlandsbesitz zu erobern, und zwar während Richard als Kreuzfahrer noch im Heiligen Land kämpfte. Zunächst hatte er nur wenig Erfolg. Erst der frühe Tod des englischen Königs Richard Löwenherz, der 1199 an den Folgen einer Kampfverletzung starb, ebnete ihm den Weg zum Ziel. Jetzt nämlich kam mit Johann Ohneland ein ausgesprochen schwacher Herrscher auf den Thron, der überdies kein diplomatisches Fettnäpfchen ausließ. Und so gelang es Philipp II. in den nächsten Jahren, nach und nach die Länder der Plantagenets in Frankreich zu annektieren und 1204 sogar die gut befestigte Normandie zu erobern. Die endgültige Entscheidung aber fiel zehn Jahre später in der Schlacht von Bouvines, in der Johann unterlag und einen großen Teil des Festlandbesitzes an Frankreich abtreten musste. Zunächst sah es so aus, als sei das Verhältnis zwischen Frankreich und England nun geklärt. Aber die Geschichte hat ja bekanntlich einen langen Atem, und so holten die alten Verwicklungen die beiden Länder Generationen später wieder ein. Als König Karl IV. von Frankreich 1328 ohne Erben starb, endete die Dynastie der Kapetinger, die das Land seit 987 regiert hatten. Als Wunschkandidat der französischen Großen bestieg jetzt Philipp VI. aus dem Hause Valois den Königsthron. Doch da meldete ein weiterer Kandidat Ansprüche auf die französische Krone an, und zwar
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von jenseits des Ärmelkanals: König Edward III., ein Enkel Philipps des Schönen von Frankreich (1285–1314). Und so brach der Streit zwischen beiden Ländern erneut aus und mündete schließlich in einen mehr als hundertjährigen Krieg (1339–1453). Das Ende ist berühmt: Lange Zeit sah es so aus, als würde England den Sieg davontragen. In nahezu hoffnungsloser Lage, als Frankreich schon fast am Boden lag, erschien im französischen Heer ein einfaches Landmädchen aus Lothringen, das sich von Gott berufen fühlte, ihr Land von den Engländern zu befreien, die „Jungfrau von Orléans“. Auch wenn Jeanne d’Arc später in Feindeshand geriet und 1431 in Rouen auf dem Scheiterhaufen starb, ging Frankreich letzten Endes doch als Sieger aus dem Hundertjährigen Krieg hervor. Denn nun verlor England endgültig alle Besitzungen auf dem Kontinent (außer Calais) – rund 300 Jahre nach der Scheidung von Eleonore und Ludwig VII.
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3 Zwischen Bibel und Schafott – Englands König Heinrich VIII. spaltet sich von Rom ab und begründet die Anglikanische Kirche
Im Grunde seines Herzens war Englands König Heinrich VIII. ein tiefgläubiger Mensch und treuer Sohn der katholischen Kirche. Doch als er während seiner langjährigen Ehe mit Katharina von Aragon vergeblich auf die Geburt eines Thronfolgers wartete, wurde er von heftigen Gewissensbissen geplagt: Wollte ihn womöglich Gott dafür strafen, dass er die Witwe seines Bruders geheiratet und damit gegen das alttestamentarische Gebot verstoßen hat? Heinrich bemühte sich, die Ehe annullieren zu lassen, um danach die junge Anne Boleyn heiraten zu können. Doch weil ihm der Papst die Erlaubnis verweigerte, strengte der König selbst einen Scheidungsprozess an und gründete, nachdem er exkommuniziert worden war, kurzerhand seine eigene Anglikanische Staatskirche. Das aber brachte ganz neue Probleme.
Heinrich und Katharina, das englische Königspaar Wirklich traurig waren die Untertanen nicht, als Englands erster König aus der Tudor-Dynastie im April 1509 das Zeitliche segnete. Für die meisten war Heinrich VII. nämlich kein gütiger Landesvater gewesen, sondern eher
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ein knauseriger Buchhalter, stets auf der Suche nach neuen Einnahmequellen. Jetzt aber blickte man erwartungsvoll auf den erst achtzehnjährigen Sohn des alten Königs, der künftig als Heinrich VIII. (1491–1547) über das Inselreich herrschen sollte. Der junge König sah gut aus, war klug, schlank und sportlich, ein leidenschaftlicher Jäger, ausgezeichneter Turnierkämpfer und brillanter Musiker. Obendrein hatte Heinrich eine anmutige und umfassend gebildete Gemahlin an seiner Seite, die 1486 geborene Katharina von Aragon. Katharina war das jüngste Kind der „katholischen Könige“ Ferdinand von Aragon und Isabella von Kastilien – und bereits einmal verwitwet. In erster Ehe war Katharina nämlich mit Heinrichs älterem Bruder Arthur (1486–1502) verheiratet gewesen – eine politische Verbindung, die 1501 die spanisch-englische Allianz besiegeln sollte. Doch dann starb Arthur nur wenige Monate später an einer nicht näher bekannten Krankheit und hinterließ die erst sechzehnjährige Witwe Katharina. Eigentlich hatte man in England nun keine rechte Verwendung mehr für die junge Spanierin, doch Heinrich VII. konnte sich nicht dazu entschließen, seine Schwiegertochter zurück in ihre Heimat zu schicken. Es war keinesfalls so, dass er sie besonders geliebt hätte – der sparsame König hatte nur keine Lust, Katharinas reiche Mitgift zurückzuzahlen. Um Geld zu sparen und die Allianz mit Spanien aufrechtzuerhalten, verfiel er auf die Idee, Katharina einfach mit seinem jüngeren Sohn zu verheiraten. Doch Heinrich, der neue Thronanwärter, war zu diesem Zeitpunkt noch ein Kind von zehn Jahren, und so musste man noch eine Weile bis zur Hochzeit warten. Der englische König erlebte freilich nicht mehr, dass Heinrich VIII. und Katharina von Aragon im Juni 1509 vor den Traualtar traten.
„Nur“ ein Mädchen Dass diese Ehe überhaupt zustande kam, war für die frommen Katholiken keineswegs selbstverständlich. In den Augen der römisch-katholischen Kirche galt eine solche „Schwagerehe“ nämlich als Inzest. Schließlich konnte jeder im 3. Buch Mose, Kapitel 18, Vers 16 nachlesen: „Du sollst mit der Frau deines Bruders nicht Umgang haben, denn damit schändest du deinen Bruder.“ Um das zu vermeiden, erklärte Katharina bereitwillig, die Ehe mit Arthur sei überhaupt nicht vollzogen worden. Außerdem hatte
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DIE ROSENKRIEGE
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Heinrich VII. schon früh einen päpstlichen Dispens beantragt, der im Dezember 1503 auch erteilt worden war. Die königliche Ehe war zunächst sehr glücklich. Die prall gefüllten Kassen, die Heinrich VII. seinem Sohn hinterlassen hatte, ermöglichten dem jungen Paar ein unbeschwertes Dasein. „Unser Leben ist eine einzige Folge von Festen“, schrieb Katharina an ihren Vater. Krönung des Glücks war die Geburt eines Sohnes, der am 1. Januar 1511 das Licht der Welt erblickte. Doch der kleine Prinz starb, noch keine zwei Monate alt. In Zeiten hoher Kindersterblichkeit war das nichts Ungewöhnliches, das Königspaar war jung, noch konnte man auf viele Kinder hoffen. Doch Katharina erlitt immer wieder Fehlgeburten. Erst 1516 endete eine Schwangerschaft wieder glücklich, das Kind war jedoch zur großen Enttäuschung des Vaters „nur“ ein Mädchen, Tochter Maria. Trotzdem gab sich Heinrich VIII. noch immer optimistisch: „Söhne werden schon noch kommen – die Königin und ich sind noch jung.“ Dabei war es für Heinrich gar nicht zwingend erforderlich, einen Sohn zu haben. Töchter waren von der englischen Thronfolge keineswegs ausgeschlossen. Bislang hatte es jedoch nur einen einzigen Fall gegeben, und der hatte unschöne Folgen gehabt: Nachdem Heinrich I. (um 1068–1135) seine Tochter Mathilde als Nachfolgerin eingesetzt hatte, entbrannte in England ein blutiger Bürgerkrieg, der schließlich der Dynastie der Anjou-Plantagenet auf den Thron verhalf (vergl. S. 32). Ähnliche Unruhen wollte Heinrich VIII. unbedingt vermeiden. Schließlich war die Herrschaft der Tudors noch immer recht fragil, auch wenn man seinerzeit als Gewinner aus den „Rosenkriegen“ hervorgegangen war.
Die Rosenkriege Als „Rosenkriege“ bezeichnet man die innerenglischen Wirren zwischen 1455 und 1485, eine Folge des Hundertjährigen Krieges und des damit verbundenen Verlusts der französischen Gebiete. Kontrahenten waren dabei das Haus Lancaster (das in seinem Wappen eine rote Rose trug) und das Haus York (mit weißer Rose), beide Nebenlinien der Dynastie AnjouPlantagenet. Dabei ging es um nichts Geringeres als die englische Krone. Zunächst hatte Eduard von York die Nase vorn (1461), doch als er 1483 im Alter von nur 41 Jahren starb, drohte wieder ein gefährliches Machtva-
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kuum zu entstehen. Zwar hinterließ er zwei Söhne, den neunjährigen Richard und den zwölfjährigen Thronerben Eduard V., doch die beiden waren schließlich noch unmündig. In weiser Voraussicht hatte der König daher seinen jüngeren Bruder als Regenten vorgeschlagen, der sich als Richard III. aber schließlich selbst die Krone aufs Haupt setzte. Fatal war auch, dass jetzt seine beiden Neffen, darunter der Thronerbe Eduard, plötzlich spurlos im Tower verschwunden waren – ermordet, wie sich später herausstellte. War Richard III. also ein Mörder? Oder hat man ihm nur übel mitgespielt? Das weiß bis heute keiner so genau. Für seine Gegner, darunter vor allem die Parteigänger des Hauses Lancaster, war das jedenfalls Grund genug, mit Waffengewalt gegen ihn vorzugehen, und zwar unter der Führung Heinrich Tudors, dessen Vater mit einer Lancaster verheiratet war. Am 22. August 1485 fiel Richard III. in der Schlacht von Bosworth, und die Krone ging damit an den Sieger, den Emporkömmling Heinrich VII., Begründer der Tudor-Dynastie. So fanden die „Rosenkriege“ ein Ende.
Neue Liebe Anne Boleyn Nach Marias Geburt und weiteren vorzeitig zu Ende gegangenen Schwangerschaften ließ das Interesse Heinrichs VIII. an seiner Gemahlin Katharina spürbar nach. Nach Aussage des französischen Königs Franz I. soll die gebürtige Spanierin, die inzwischen auf die Vierzig zuging, auch „rundlich, alt und unförmig“ geworden sein. Und während Heinrich noch voller Vitalität war, hatte Katharina durch die zahlreichen Fehlgeburten, die enttäuschten Hoffnungen und Erwartungen, sichtlich an Lebensfreude eingebüßt. An Vergnügungen jeglicher Art hatte sie kein Interesse mehr, sie zog sich stattdessen immer mehr zurück und fiel der Hofgesellschaft nur noch durch ihre tiefe Frömmigkeit auf. Heinrich VIII. sah sich derweil unter den hübschen Hofdamen um, die es meist als besondere Auszeichnung betrachteten, wenn ihnen der König auch im Schlafgemach seine Gunst erwies. Eine jedoch weigerte sich hartnäckig, dem drängenden Werben des Monarchen nachzugeben: die aparte Anne Boleyn (1501 oder 1507–1536), in die sich Heinrich 1526 Hals über Kopf verliebte. Anne bezauberte den Monarchen nicht nur durch ihre
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TH EOLOGI SCH E Ü B ER LEGU NGEN
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äußeren Vorzüge, die dunklen Augen und rötlichen Haare, sondern auch und vor allem durch ihr lebhaftes Temperament, durch Witz und Charme, den Heinrich bei seiner Gemahlin inzwischen schmerzlich vermisste. Doch Anne war keineswegs bereit, das Bett mit dem König zu teilen, jedenfalls nicht ohne gültigen Trauschein. Das kann ein besonders raffinierter Trick von ihr gewesen sein, ganz auszuschließen ist aber auch nicht, dass Anne tatsächlich moralische Bedenken hatte. Doch ganz gleich – Heinrichs Leidenschaft war entfacht. Er schrieb ihr glühende Liebesbriefe, in denen er versicherte, sein Herz gehöre nur ihr allein, doch Anne wollte ihn einfach nicht erhören. Es gab nur eine Möglichkeit, zum Ziel zu gelangen: Heinrich musste Anne Boleyn heiraten.
Theologische Überlegungen Nun war der König keineswegs ein liebeskranker Trottel, der blind seinen sexuellen Trieben nachgab. Noch immer wünschte er sich nichts sehnlicher als einen Sohn, doch nach Auskunft der Ärzte würde ihm Katharina kein Kind mehr schenken können. Dass in den mehr als 15 Jahren ihrer Ehe trotz der vielen Schwangerschaften nur Maria am Leben geblieben war, machte Heinrich VIII. zunehmend nachdenklich. Wollte Gott ihn womöglich dafür strafen, dass er Katharina geheiratet und damit gegen alttestamentarisches Gesetz verstoßen hatte? Heinrich las noch einmal in der Bibel nach: „Nimmt jemand das Weib seines Bruders, so ist das abscheulich; er hat seines Bruders Blöße enthüllt; sie werden kinderlos bleiben.“ (Lev. 20,21) Wenn das so war, dann konnte sich kein Mensch, noch nicht einmal der Papst über Gottes Wort hinwegsetzen. Der Dispens war dann nur noch Makulatur. Wenn aber die Verbindung mit Katharina Unrecht war – Inzest, der von Gott mit Kinderlosigkeit bestraft wurde – dann gab es nur einen Weg, den der König einschlagen musste: die sofortige Scheidung, die Annullierung dieser schändlichen „Schwagerehe“! Doch ganz so einfach war das nicht. Erst einmal musste eine Frage geklärt werden: Konnte die päpstliche Zustimmung die Menschen von einem gottgegebenen Gesetz befreien oder nicht? Theologen und Juristen in ganz Europa zerbrachen sich ihre gelehrten Köpfe, kamen jedoch zu keinem befriedigenden Ergebnis. Die Sache zog sich in die Länge. 1529
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schickte Heinrich seinen Berater, den Theologieprofessor Thomas Cranmer (1489–1556) auf den Kontinent, um die Unterstützung der protestantischen Fürsten für die Annullierung der königlichen Ehe einzuholen. Anders als die Katholiken waren die Protestanten schließlich unabhängig vom Primat des Papstes und stellten ausschließlich das Bibelwort in den Mittelpunkt ihres Glaubens. Doch die Frage, ob es rechtmäßig war, die Ehe Heinrichs VIII. aufzuheben, konnten auch sie nicht wirklich beantworten. 1530 erstellten Gelehrte jedoch ein Gutachten, in dem es hieß, dass die Heirat eines Mannes mit der Witwe seines Bruders gegen göttliches Gebot verstoße und auch vom Papst nicht für gültig erklärt werden könne. Das war zumindest ein Hoffnungsschimmer.
Verbannung einer Königin Es wäre viel einfacher gewesen, hätte auch Königin Katharina in die Scheidung eingewilligt, doch als fromme Katholikin weigerte sie sich natürlich strikt. Sie bestand vielmehr darauf, dass die Ehe als heiliges Sakrament ein unauflöslicher Bund sei – und dass sie in diesem Fall auch vollzogen worden war, konnte wohl niemand bestreiten! Die Zeit verging, und allmählich wurde Heinrich nervös. Immer wieder musste er Anne Boleyn vertrösten, und jünger wurde er schließlich auch nicht. Mittlerweile hatte er seinen 40. Geburtstag gefeiert und musste sich mit den ersten unerfreulichen Vorboten des Alters abfinden. Seit 1528 litt er an offenen Stellen an den Beinen, möglicherweise als Folge einer alten Verletzung, die sich immer wieder entzündete. Außerdem wurde er immer dicker und litt unter Gicht, Tribut an seine Leidenschaft für üppiges Essen und reichliches Trinken. Kurzum: Wollte er noch einen gesunden Sohn zeugen, dann musste er sich beeilen! Um Anne zu beweisen, wie ernst er es nach wie vor mit seiner Werbung meinte, forderte Heinrich 1531 Katharina auf, Windsor zu verlassen und sich auf ein abgelegenes Schloss zurückzuziehen. Die Königin protestierte, fügte sich aber in der stillen Hoffnung, Heinrich würde zu ihr zurückkehren. Sie sollte ihn nie wiedersehen. Nun, da er Katharina aus seinem Gesichtsfeld verbannt hatte, begann Heinrich, Anne Boleyn wie seine Königin zu behandeln – und das in aller
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GRÜNDUNG DER ANGLIKANISCHEN KIRCHE
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Öffentlichkeit. 1532 begleitete sie ihn auf ein Treffen mit dem französischen König und wurde in Calais, das damals noch zu England gehörte, mit allen Ehren empfangen. Sie trug zu diesem Anlass sogar die königlichen Juwelen, die Katharina bei ihrem Abschied hatte herausgeben müssen. Derart umschwärmt und umschmeichelt wurde Anne schließlich weich und ließ Heinrich doch noch in ihr Bett – mit kaum überraschenden Folgen. Ende 1532 stand fest: Sie erwartete ein Kind. Jetzt war Eile geboten, denn Heinrich wollte nicht riskieren, dass der Thronfolger – er glaubte fest daran, einen Sohn zu bekommen – unehelich zur Welt kam. Im Januar 1533 heiratete er Anne Boleyn still und heimlich, wohl wissend, dass er sich damit der Bigamie schuldig machte. Doch sein findiger Berater, der Reformtheologe Thomas Cranmer, inzwischen Erzbischof von Canterbury, war bereits dabei, mit allerlei theologischen Spitzfindigkeiten die Annullierung der Ehe mit Katharina von Aragon vorzubereiten. Er führte für Heinrich VIII. einen Scheidungsprozess, der im Mai 1533 wunschgemäß mit der Auflösung der alten und einer Bestätigung der Rechtmäßigkeit der neuen Ehe mit Anne Boleyn zu Ende ging.
Gründung der Anglikanischen Kirche Die Scheidung indessen hatte weitreichende Folgen: Plötzlich galt Heinrichs siebzehnjährige Tochter, die Thronerbin Maria, als unehelich und somit nicht länger als erbberechtigt. Vor allem aber: Der Papst reagierte umgehend mit der Exkommunikation Heinrichs VIII. und schloss ihn damit aus der römisch-katholischen Kirche aus. Auch Thomas Cranmer und die Mitglieder des Parlaments, die für die Scheidung des Königs gestimmt hatten, waren gleichermaßen von dem päpstlichen Verdikt getroffen. Um es vorwegzunehmen: 1534 kam es zur endgültigen Trennung von Rom. Mit dem „Suprematsakt“ gründete Heinrich eine unabhängige anglikanische Staatskirche. An deren Spitze stand zwar theoretisch der Erzbischof von Canterbury, eigentliches Oberhaupt aber war Heinrich VIII. selbst. Künftig konnte er in alle kirchlichen Angelegenheiten eingreifen, ohne sich um die Meinung des Papstes zu scheren. Gottesdienst und Lehre der Anglikanischen Kirche blieben allerdings zunächst unverändert. Spä-
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ter dann nahm sie theologisch einen Mittelweg ein zwischen der alten römischen Lehre und dem neuen Protestantismus. Im Gegensatz zum Kontinent, wo die Reformation zu teils heftigen Erschütterungen und blutigen Auseinandersetzungen geführt hatte, verlief diese in England zunächst weitgehend ruhig, nicht zuletzt dank der königlichen Autorität und Heinrichs entschiedenem Vorgehen gegen alle, die den Suprematseid verweigerten. Doch zurück zum königlichen „Scheidungsgrund“. Am 1. Juni 1533 wurde Anne Boleyn in einer feierlichen Zeremonie zur Königin gekrönt. Drei Monate später brachte sie das von Heinrich so ersehnte Kind zur Welt. Es war – wieder ein Mädchen, Elisabeth! Der König konnte seine Enttäuschung kaum verbergen, trotzdem erklärte er die neugeborene Tochter – als sein erstes legitimes Kind – zur Thronfolgerin, während Maria weiterhin als „Bastard“ galt. Noch hatten Anne und Heinrich durchaus die Hoffnung, das nächste Kind würde ein Junge werden. Doch im Juli des folgenden Jahres erlitt auch Anne eine Fehlgeburt – und dieses Kind wäre tatsächlich ein Sohn geworden …
Intrigen gegen Anne Boleyn Allmählich sollte sich zeigen, dass Anne Boleyn etwas Entscheidendes übersehen hatte. Gewiegt in der trügerischen Sicherheit, mit Heinrich VIII. einen starken Beschützer zu haben, hatte es die Königin versäumt, loyale Höflinge um sich zu scharen, gleichsam eine „Lobby“ zu bilden. Das sollte sich nun bitter rächen, denn je schwächer Annes Position wurde, weil sie keinen Sohn geboren hatte, desto stärker begannen sich ihre zahlreichen Feinde zu formieren, allen voran die alten Parteigänger Katharinas von Aragon. Der Druck auf die Königin wuchs, und als Anfang 1536 eine weitere Schwangerschaft unglücklich endete, wandte sich auch Heinrich enttäuscht von ihr ab. Wieder musste er sich fragen: Strafte ihn Gott, indem er ihm keinen Sohn schenkte? Vielleicht war diese Ehe ja doch ein Fehler gewesen. Doch wie sollte er sich daraus befreien? Am 8. Januar 1536 starb Katharina von Aragon an den Folgen einer Krebserkrankung. Unter anderen Umständen wäre Heinrich VIII. nun Witwer gewesen und hätte nach einer angemessenen Trauerzeit tun und las-
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INTRIGEN GEGEN ANNE BOLEYN
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sen können, was er wollte. So aber blieb er an Anne Boleyn gebunden, obwohl er sie schon längst nicht mehr begehrte. Inzwischen nämlich hatte sich der Sechsundvierzigjährige in die Hofdame Jane Seymour (1509 – 1537) verliebt, die sich nach zeitgenössischem Urteil „durch Zurückhaltung und Keuschheit“ auszeichnete. Eigentlich war die ernsthafte und wenig geistreiche Jane ganz und gar nicht Heinrichs „Typ“, doch wie es scheint, übte die Familie Seymour, die am Hof sehr einflussreiche Positionen innehatte, nicht unerheblichen Einfluss auf den König aus. In Janes Adern floss königliches Blut, immerhin konnte sie ihren Stammbaum bis auf Eduard III. zurückführen, und sie erfüllte alle an eine Frau ihrer Klasse gestellten Erwartungen. Anne Boleyn hingegen war eine faszinierende Außenseiterin. Oder besser gesagt, sie war es die längste Zeit gewesen. Kam er selbst auf die Idee, oder war sie ihm vom Seymour-Clan eingeflüstert worden? Auf jeden Fall fing Heinrich plötzlich an, Anne zu beschuldigen, sie habe ihn seinerzeit verhext, um von ihm geheiratet zu werden, er sei „verführt durch Wahrsagerei und Zauberformeln zu dieser zweiten Ehe gezwungen“ worden. Während sich Anne Boleyn noch von den Folgen ihrer letzten Fehlgeburt erholte, begannen ihre Feinde am Hof, ein Komplott gegen sie zu schmieden und allerlei Informationen zusammenzutragen, die geeignet waren, auch diese Königin loszuwerden. Im Frühjahr 1536 kochte es mächtig in der Gerüchteküche des englischen Königshofs. War Königin Anne tatsächlich eine Ehebrecherin, wie gemunkelt wurde? Namen mutmaßlicher Liebhaber wurden genannt. Und wie es hieß, soll sie sogar mit ihrem eigenen Bruder ins Bett gegangen sein! Das war Inzest! Personen aus Annes engstem Umfeld wurden verhört, und angeblich reichten die gesammelten Informationen aus, um tatsächlich eine Hochverratsklage gegen Anne Boleyn anzustrengen. Die (fingierten) Beschuldigungen wogen schwer: Ehebruch in fünf Fällen, Inzest mit ihrem Bruder sowie die Beteiligung an einer Verschwörung gegen den König. Anne war völlig arg- und ahnungslos, als sie wenig später verhaftet und in den Londoner Tower gebracht wurde. Konfrontiert mit den Anschuldigungen, stritt sie alles ab und beschwor ihre Unschuld. Doch wie hätte sie beweisen können, dass man sie zu Unrecht angeklagt hatte? Am 15. Mai 1536 sprach das Gericht das Todesurteil. Zwei Tage später wurden Annes angebliche Liebhaber hingerichtet, die Königin selbst ging am 19. Mai
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ihren letzten Weg zum Schafott. Heinrich VIII. hatte einmal mehr erreicht, was er wollte. Trotzdem plagte ihn wohl das schlechte Gewissen, denn er hatte eigens einen erfahrenen Henker aus Calais kommen lassen, der über ein scharfes Richtschwert verfügte. Ansonsten war es in England noch immer üblich, die Verurteilten mit der Axt zu enthaupten. Und so war Anne Boleyn zumindest ein schneller Tod vergönnt.
Königliches Ehekarussell Nur kurze Zeit später heiratete Heinrich seine Favoritin, die fünfundzwanzigjährige Jane Seymour. Da ihn Anne Boleyn angeblich „verhext“ und betrogen hatte, wurde auch diese Ehe nachträglich annulliert und die inzwischen dreijährige Tochter Elisabeth ebenfalls zum „Bastard“ erklärt. Damit aber stand England ganz ohne Thronerben da, und die Zukunft der Tudor-Dynastie hing allein von der Gebärfähigkeit der neuen Königin ab. Deshalb konnte Heinrich endlich aufatmen, als Jane am 12. Oktober 1537 tatsächlich einen Sohn zur Welt brachte, Eduard. Doch dann schlug das Schicksal erneut zu: Wenige Tage nach der Geburt starb Königin Jane am Kindbettfieber. Um es kurz zu machen: Das königliche Ehekarussell drehte sich weiter. Die nächste Kandidatin, die ihm seine Berater aus politischen Gründen empfohlen hatten, kam sogar aus Deutschland, Anna von Kleve (1515– 1557). Heinrich kannte seine Zukünftige nur von schmeichelhaften Porträts, doch als er sie dann 1540 von Angesicht zu Angesicht sah, war er zutiefst enttäuscht. Zwar soll er sie nicht, wie später kolportiert wurde, als „flandrische Stute“ verspottet haben, ihrem wohl etwas biederen Äußeren aber konnte er nur wenig abgewinnen. Die Ehe wurde zwar geschlossen, aber niemals vollzogen und konnte deshalb auch ganz ohne Tricks annulliert werden. Trotzdem hatte Anna eine gute Partie gemacht. Weil sie sich so kooperativ gezeigt hatte, bekam sie eine ordentliche Abfindung und verbrachte den Rest ihres Lebens friedlich und unbehelligt auf einem komfortablen englischen Landsitz. Während Anna von Kleve ihren Kopf in jeder Hinsicht oben hielt, verlor Heinrichs fünfte Ehefrau, die junge und attraktive Katharina Howard (um 1521–1542), den ihrigen wiederum auf dem Schafott. Von dem alternden
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Monarchen war sie offenbar so wenig angetan, dass sie ihn nur kurze Zeit später schamlos mit anderen Männern betrog. Zumindest in diesem Fall waren Anklage und Verurteilung wegen Hochverrats gerechtfertigt. Am 13. Februar 1542 wurde die Kurzzeit-Königin hingerichtet. Katharina Parr (1512–1548) hingegen, mit der Heinrich VIII. im Juli 1543 seinen letzten „Bund fürs Leben“ schloss, war das genaue Gegenteil ihrer liebestollen Vorgängerin. Allerdings bestand ihre Aufgabe auch vornehmlich darin, sich als „Krankenpflegerin“ um den leidenden König zu kümmern. Inzwischen sah Heinrich etwa so aus, wie man ihn von Holbeins berühmtem Porträt her kennt: Der Zweiundfünfzigjährige war inzwischen derart korpulent geworden, dass er sich nicht mehr aus eigener Kraft fortbewegen konnte. Er brauchte zumindest einen Stock, auf den er sich stützen konnte, später musste er sich mit einem Tragestuhl oder einer Sänfte transportieren lassen. Er war kurzatmig, gequält von der Gicht und zuletzt auch einem Nierenleiden, das seinen Körper so stark aufschwemmte, dass seine Gesichtszüge kaum wiederzuerkennen waren. Gewiss hatte Katharina mit dem schmerzgeplagten, mürrischen und aggressiven Gemahl in den nächsten vier Jahren ihre liebe Not. Heinrich VIII. starb am 28. Januar 1547 im Alter von 55 Jahren, vielleicht in der tröstlichen Gewissheit, dass ihm nun sein neunjähriger Sohn als Eduard IV. auf den Thron folgte. Wie Heinrich testamentarisch verfügt hatte, sollte bis zu Eduards Volljährigkeit ein Regentschaftsrat die Regierungsgeschäfte leiten. Inzwischen hatte er aber auch seine Töchter Maria und Elisabeth rehabilitiert und für den Fall des vorzeitigen Todes seines etwas kränklichen Sohnes als Thronerbinnen eingesetzt.
Durchsetzung des protestantischen Glaubens Als Heinrich starb, war England in religiöser Hinsicht zutiefst gespalten: Während die einen den Protestantismus für das ganze Land anstrebten, forderten die anderen die Rückkehr zum alten Glauben. Der junge Eduard aber galt als Hoffnungsträger der Protestanten, die schließlich auch die Oberhand behielten. Der Zölibat wurde aufgehoben, das Lateinische verschwand aus dem Gottesdienst, ein neues Gebetbuch wurde eingeführt,
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und die Kommunion beziehungsweise das Abendmahl hatte künftig nur noch symbolischen Charakter. 1553 aber starb der erst fünfzehnjährige Eduard IV. an den Folgen einer Lungenentzündung. Wie Heinrich testamentarisch bestimmt hatte, bestieg nun seine ungeliebte ältere Tochter Maria aus der Ehe mit Katharina von Aragon den englischen Königsthron. Marias Regierungszeit war vor allem der Wiederherstellung des katholischen Glaubens gewidmet, zum Teil mit äußerst militanten Formen, die der Königin den Namen „Bloody Mary“ eintrugen. Von Februar 1555 bis November 1558 brannten in England die Scheiterhaufen, und 300 protestantische „Ketzer“ starben den Flammentod. Doch die Verfolgung führte keineswegs dazu, den neuen Glauben zu verdrängen. Inzwischen identifizierten sich nämlich schon zahlreiche Untertanen mit der Anglikanischen Kirche und waren stolz darauf, unabhängig vom Papst zu sein. Als auch Königin Maria nach nur fünfjähriger Regierungszeit verstarb, war nun der Thron frei für ihre – protestantische – Halbschwester Elisabeth, die Tochter von Anne Boleyn. Die erst fünfundzwanzigjährige Königin trat kein leichtes Erbe an, zumal ihr noch immer der Makel anhaftete, ein „Bastard“ zu sein, und sie in ihrer katholischen Cousine Maria Stuart eine gefährliche Rivalin hatte. Doch Elisabeth erfüllte ihre Aufgabe dank kluger Berater mit beachtlichem Geschick. Noch 1558 bestätigte sie die Suprematsakte, wählte aber in Fragen der Religion einen klugen Mittelweg, der weder Protestanten noch Katholiken gänzlich verprellte. So manches, wie die Liturgie, wurde vom Katholizismus übernommen, doch der Gottesdienst fand in englischer Sprache statt. Seit Elisabeth I. gab es in England beziehungsweise Großbritannien keine katholischen Könige mehr, auch wenn 1603 mit Jakob I. der Sohn von Schottlands Ex-Königin Maria Stuart den Thron bestieg. Doch Jakob war nach dem Willen seiner königlichen Mutter protestantisch erzogen worden. Im Jahr 1701 wurde der Act of Settlement erlassen, in dem gesetzlich festgelegt wurde, dass Katholiken der Thron strikt verwehrt blieb. Auf diese Weise sollte verhindert werden, dass es noch einmal blutige Bürgerkriege gab, so wie es im 17. Jahrhundert der Fall gewesen war. Bis heute ist es Mitgliedern des englischen Königshauses deshalb auch nicht möglich, katholische Partner zu heiraten. Aus diesem Grund verlor 1999 der deutsche Prinz Ernst August von Hannover die – freilich nur theoretische – Aus-
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sicht auf die englische Krone. Vor seiner Hochzeit mit der Katholikin Caroline von Monaco stand Ernst August in der englischen Thronfolge etwa an 450. Stelle. Seine Vorfahren, die Kurfürsten von Hannover, hatten das Inselreich zwischen 1714 und 1837 regiert, weil die Mutter Georgs I. (1660 –1727), Sophie von Hannover, mütterlicherseits eine geborene Stuart war. Heinrich VIII. hat – das steht außer Frage – so manchen Stein ins Rollen gebracht, und das nur, weil er unbedingt einen Sohn haben wollte. Ironie der Geschichte: Tatsächlich war es seine Tochter Elisabeth, die England den Weg zur Großmacht bereitete, nicht zuletzt durch den (glücklichen) Seesieg über die spanische Armada 1588. Dieser Sieg wurde zum Symbol eines neuen englischen Selbstbewusstseins. Damit einher ging ein kultureller Aufstieg auf den Gebieten Literatur, Architektur und Malerei. William Shakespeare steht bis heute für die kulturelle Blüte dieser Zeit, und auch er hat das bewegte Leben Heinrichs VIII. als ein packendes Historiendrama verfasst …
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4 Blutroter Kreml – Ein tödlicher Familienstreit besiegelt das Ende der Ruriken-Dynastie Am russischen Zarenhof des 16. Jahrhunderts waren Streit, Mord und Intrigen an der Tagesordnung. Fast schienen sie das Mittel der Wahl, um den aufstrebenden jungen Staat politisch zu stabilisieren. Weil Iwan IV., genannt „der Schreckliche“ (1530–1584), in dieser gewalttätigen Atmosphäre aufgewachsen war, bediente er sich schließlich als Herrscher der gleichen Methoden. Als jedoch ein Streit mit seinem Sohn und designierten Nachfolger ein tödliches Ende nahm, besiegelte der Zar damit das Schicksal der Ruriken-Dynastie. Die Zeit der Romanows war gekommen und währte bis 1917.
„Grausam und zu allem fähig“ – Iwan der Schreckliche Noch heute kursieren über den russischen Zaren Iwan IV. zahlreiche Schauergeschichten, die seinen Beinamen „der Schreckliche“ begründet haben sollen. Dabei weiß niemand ganz genau, ob sich die kolportierten Ereignisse tatsächlich so abgespielt haben – oder ob nicht vielleicht doch die Fantasie mit den Zeitgenossen durchgegangen ist. Auch folgende kleine Geschichte dreht sich um die berühmt-berüchtigte Grausamkeit des mächtigen Zaren: Während Iwans Kampf gegen den altrussischen Adel, die Bojaren, soll einer der Verfolgten Schutz hinter den dicken Mauern
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eines Klosters gesucht haben. Daraufhin habe sich der Zar gewaltsam Zugang zu dem Konvent verschafft und den verängstigten Bojaren schließlich aufgespürt. Mit den zynischen Worten: „Mönche sind Engel, und Engel sollen fliegen“ soll er den Ärmsten in ein Pulverfass gesteckt und anschließend in die Luft gesprengt haben. Aber ob die Geschichte wirklich stimmt? Ein schwedischer Diplomat jedenfalls urteilte damals über Iwan IV.: „Der Zar ist eitel, unbezähmbar grausam und zu allem fähig.“ Andere Beobachter zeichneten jedoch ein anderes Bild vom „Herrscher aller Reußen“. Er sei „mit großem Verstand und trefflichen Gaben“ gesegnet gewesen, schrieb der englische Reisende Sir Jerome Horsey: „würdig, eine so große Monarchie zu regieren“. Ja, was stimmt denn nun?
Iwans Mutter: Vom Terem auf den Zarenthron Wer auch immer damals mit Iwan IV. zu tun hatte, dem oder der fiel auf, dass der Zar oft gereizt war, überaus misstrauisch, dazu offensichtlich von diffusen Ängsten und schweren Depressionen gequält wurde. Sein ganzes Verhalten gab den Untertanen Rätsel auf. Warum reagierte er oftmals so völlig unberechenbar? Der Schlüssel liegt wohl in Iwans Kindheit. Erst drei Jahre war er alt, als er seinen Vater verlor, den Zaren Wassilij III. Um das drohende Machtvakuum im Reich zu füllen, ergriff Iwans Mutter Jelena die Regentschaft für ihren unmündigen Sohn und übernahm zusammen mit ihrem Geliebten, dem Fürsten Oblenskij, die Herrschaft am Moskauer Zarenhof. Das freilich erzeugte heftigen Widerstand. Zum einen war es natürlich ein Tabubruch, dass eine adlige Russin überhaupt in der Öffentlichkeit auftrat, erst recht, dass sie sich in die Regierungsgeschäfte einmischte. Ihr traditioneller Wirkungskreis war der Terem-Palast, die Gemächer der Damen, wo sich auch die Zarin ausschließlich ihren Pflichten als Ehefrau und Mutter zu widmen hatte. Von Jelena hätte man nach Wassilijs Tod erwartet, dass sie sich als trauernde Witwe still und leise in ein Kloster zurückzog. Stattdessen saß sie jetzt auf dem Zarenthron! Doch Jelena hatte nicht nur gegen den russischen Moralkodex verstoßen, sondern auch und vor allem die altadligen Bojaren verprellt, die eifersüchtig über ihre Privilegien wachten und selbst
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zu den Schalthebeln der Macht drängten. (Der Begriff „Bojar“ geht wohl auf ein alttürkisches Wort für „vornehmer Mann“ zurück.) Damals gab es in Russland rund 200 Bojarenfamilien, adlige Großgrundbesitzer, deren führende Mitglieder sich zu den höchsten Ämtern befähigt fühlten. Entsprechend unwirsch reagierten sie jetzt auf Jelenas dreiste Machtusurpation. Doch die verwitwete Zarin, unterstützt von ihrem ehrgeizigen Geliebten, reagierte ihrerseits mit drastischen Maßnahmen, schickte ihre politischen Gegner entweder in die Verbannung, ließ sie ins Gefängnis werfen oder sicherheitshalber gleich umbringen. Auf der Straße von Moskau nach Nowgorod standen zur Abschreckung 30 Galgen, an denen die Leichen der gehenkten Delinquenten baumelten. So konnten alle sehen, welches Schicksal sie erwartete, sollten sie gegen die resolute Regentin aufbegehren.
Die Anfänge des russischen Staates Damals war der russische Staat noch jung. Was die ostslawischen Bewohner einte, waren die Sprache und das orthodoxe Christentum. Bis ins 15. Jahrhundert hinein gab es jedoch keinen gemeinsamen souveränen Herrscher. Zwar gab es schon im 11. Jahrhundert ein blühendes russisches Reich, dessen Mittelpunkt die am Dnjepr gelegene Stadt Kiew bildete, die Kiewer Rus. Doch nach einer kurzen Glanzzeit zerfiel diese wieder in selbstständige Fürstentümer. Im 13. Jahrhundert eroberten dann die aus Asien vordringenden Mongolen weite Gebiete Russlands, sodass deren Herrscher rund 150 Jahre lang Vasallen der Goldenen Horde blieben. Erst gegen Ende des 14. Jahrhunderts begann die Macht der Mongolen wieder zu schwinden und nun stieg Moskau – 1147 in den Chroniken erstmals als Festung erwähnt – zum politisch-militärischen und geistigen Zentrum des Landes auf. Ihre Bedeutung verdankt die Stadt einer strategisch und verkehrsmäßig günstigen Lage im Zentrum verschiedener Flüsse. Der russische Großfürst Iwan III. (1440 –1505), später auch „der Große“ genannt, kam 1462 an die Macht. Zunächst konnte er mehrere rivalisierende Fürstentümer unterwerfen, darunter auch die wohlhabende Kaufmannsrepublik Nowgorod (1478) sowie weitere Gebiete im Norden und Osten. Damit machte er Russland zum territorial größten Staat Euro-
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pas. Iwan III. gehörte der Dynastie der Ruriken an, die seit dem 9. Jahrhundert maßgeblich an der Herrschaft beteiligt waren. Sie führten ihre Ursprünge auf den Stammvater Rurik zurück, den Gründer des ersten ostslawischen Reiches, über das nur recht wenig bekannt ist. Auch bei der Auswahl seiner Ehefrau bewies Iwan III. ein sicheres Gespür: So entschied er sich für eine Nichte des letzten oströmischen Kaisers und nahm daraufhin den Titel Zar von Russland an, wobei es sich bei dem Wort „Zar“ um die slawische Umformung von Caesar (= Kaiser) handelt. Eine höfische Legende erklärte Iwan später zum direkten Nachfahren des römischen Kaisers Augustus. Eine weitere zukunftsweisende Maßnahme war das enge Bündnis, das der Zar mit der orthodoxen Kirche einging, die nun in Moskau ihr Zentrum erhielt. Damals begann auch die These vom „Dritten Rom“ die Runde zu machen. Nach dem Untergang des Weströmischen Reiches 476 und dem Fall Konstantinopels, das 1452 von den Osmanen erobert worden war, wurde jetzt Russland als rechtmäßiger „Erbe“ der christlichen Tradition angesehen. Das war zwar ursprünglich theologisch gemeint, diente aber den Zaren gleichwohl als willkommenes Propagandamittel, zumal die russischen Untertanen tiefgläubige Menschen waren. Kirche und Staat waren jetzt enger als je zuvor aneinander gebunden. Als Iwan der Große 1505 starb, bestieg sein Sohn Wassilij III. den Zarenthron. Auch der führte mehrere siegreiche Expansionskriege, durch die er das russische Reich noch weiter vergrößerte. Während seiner Regierungszeit erhielt der Moskauer Kreml – eine aus dem 13. Jahrhundert stammende, ursprünglich hölzerne Zitadelle – durch italienische Baumeister im Wesentlichen seine heutige Gestalt. Auch blieb Moskau die Residenz der Zaren, bis Peter der Große zu Beginn des 18. Jahrhunderts die russische Hauptstadt nach St. Petersburg verlegte. Nur eins musste Wassilij schmerzlich missen: einen männlichen Thronfolger. Aber die Ehe mit seiner Frau Sophia blieb kinderlos. Deshalb entschied sich der Zar zu einem ganz ungeheuerlichen Schritt und heiratete noch zu Sophias Lebzeiten ein weiteres Mal, die wesentlich jüngere Jelena. Die tiefgläubigen Russen jedoch waren so entsetzt darüber, dass sich ihr Zar der Bigamie schuldig gemacht hatte. Schon vor der Hochzeit soll ihn selbst der Patriarch mit den Worten gewarnt haben: „Wenn du diese verruchte Tat begehst, wirst du einen verruchten Sohn haben. Schrecken und
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Tränen werden über dein Volk kommen. Ströme von Blut werden fließen, die Köpfe der Mächtigen werden fallen und deine Städte in Flammen aufgehen!“ Doch Wassilij ließ sich nicht beirren. Und tatsächlich: Am 25. August 1530 brachte Jelena den ersehnten Sohn zur Welt. Er wurde nach dem Vater Iwan genannt und sollte später der vierte Herrscher dieses Namens sein.
„Wie habe ich gelitten!“ – Iwans Kindheit Noch war Iwan, der „verruchte Sohn“, ein unschuldiger kleiner Junge, der seine Mutter über alles liebte. Umso größer war das Entsetzen des Kindes, als Jelena bereits 1538 starb. Die Todesursache ist bis heute unbekannt, und das Gerücht, sie sei von ihren politischen Gegnern vergiftet worden, lässt sich nicht belegen. Da Jelena schon längere Zeit kränkelte, kann man wohl davon ausgehen, dass kein Gift im Spiel war. Was auch immer die Todesursache war: Die Bojaren brachen in Jubel aus – um sich nur kurze Zeit später blutige Kämpfe zu liefern. Dabei rivalisierten hauptsächlich zwei Familien um die Macht, die Schuiski und die Bjelski. Deren Vertreter wollten beide an die Macht und schreckten vor keiner Bluttat zurück, um dieses Ziel zu erreichen. Schuiski war zuvor als Iwans Vormund eingesetzt worden. Mord und Totschlag gehörten nun zum politischen Alltag im Kreml. Dass es in diesem Wirrwarr zwei Waisenkinder gab – neben dem achtjährigen Iwan auch seinen jüngeren, geistig behinderten Bruder Jurij – schien niemanden zu interessieren. Wenn es stimmt, was Iwan Jahre später voll Verbitterung niederschrieb, dann wurden die beiden auf grausame Weise vernachlässigt: „Als ich in mein achtes Lebensjahr trat, brachten es unsere Untertanen dahin, ein Königreich ohne Herrscher zu haben. Sie betrachteten mich nicht als ihren Herrscher, dem sie liebevolle Ergebenheit schuldeten. Sie behandelten uns – mich und meinen Bruder – als wären wir Fremde oder elendes Gesindel. Wie habe ich unter Mangel an Kleidung und Nahrung gelitten! Unser Wille zählte nichts, und es gab niemanden, der sich um uns Kinder gekümmert hätte … Ich durfte keinen eigenen Willen haben. Immer geschah das Gegenteil von dem, was ich
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wollte. Wie kann ich diese zahllosen Leiden nennen, die ich während meiner Kindheit erduldet habe?“ Aber es war nicht nur die körperliche und seelische Vernachlässigung, die den jungen Iwan quälte. Der am Zarenhof tobende Machtkampf, verbunden mit einer schier endlosen Serie von Gewalttaten, hinterließ noch tiefere Spuren. Einmal musste Iwan hilflos zusehen, wie sein einziger Freund, den er damals hatte, vor seinen Augen fast zu Tode geprügelt wurde, weil man ihn für einen Verräter hielt. Das Kind begriff: Auf nichts und niemanden schien in dieser Welt Verlass zu sein. Die Angst vor Verrat und Intrigen sollte Iwan ein Leben lang nicht mehr loslassen. In dieser Atmosphäre merkte Iwan bald, dass Freundlichkeit, Mitleid und Hilfsbereitschaft nicht unbedingt die Eigenschaften waren, die man zum Überleben brauchte. Vielleicht hat ihn die permanente Gewalt auch abgestumpft. Auf jeden Fall wurde aus dem verängstigten Knaben schließlich ein ungestümer und brutaler Teenager. Als Zwölfjähriger soll er sich einen Spaß daraus gemacht haben, Hunde und Katzen von Hausdächern zu werfen, zwei Jahre später habe er angeblich auch Menschen heruntergestoßen. Dann wieder ritt er mit befreundeten Bojarensöhnen im wilden Galopp durch die Moskauer Straßen und nahm es achselzuckend in Kauf, wenn seine Pferde Menschen niedertrampelten, die es nicht geschafft hatten, rechtzeitig beiseitezuspringen.
Die „hellen Jahre“ der Herrschaft Iwans IV. Der jahrelange Kampf um die Macht im Kreml brachte letztlich keinen Sieger hervor, auch wenn Schuiski, der Vormund des jungen Zaren, inzwischen einem Mordanschlag zum Opfer gefallen war. Dass ihn Iwan angeblich aus Rache von ausgehungerten Hunden zerfleischen ließ, ist aber wohl nur eine der zahllosen Schauergeschichten. Als Iwan 16 Jahre alt und somit volljährig geworden war, hielt er die Zeit für gekommen, endlich selbst die Zügel der Macht in die Hände zu nehmen. Im Dezember 1546 gab er bekannt, dass er sich zum Zaren krönen lassen wolle und dann vorhabe, Russland als Autokrat, als Alleinherrscher, zu regieren. Die feierliche Krönungszeremonie fand am 16. Januar 1547 statt. Die Zarenkrone, die man dem jungen Mann aufs Haupt setzte,
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MIT EISERNEM BESEN
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war der byzantinischen Kaiserkrone nachempfunden, aber am Rand mit einem Zobelfell eingefasst. Noch im gleichen Jahr heiratete Iwan IV. die sanftmütige Anastasia Romanowa, die ihn „mit Freundlichkeit und Klugheit“ gelenkt haben soll. Mit ihr führte er eine ausgesprochen glückliche Ehe, aus der drei Kinder hervorgingen: der früh verstorbene Dimitrij, Iwan, der mutmaßliche Thronfolger, sowie der geistig behinderte Fjodor, der dann tatsächlich den Zarenthron bestieg. Während der „hellen Jahre“, wie diese Epoche bezeichnet wurde, erlebte Russland eine weitgehend friedliche Zeit; die meisten Menschen erfreuten sich eines bescheidenen Wohlstands. Iwan IV. führte einen erfolgreichen Kampf gegen die korrupte Bojarenherrschaft und beschnitt viele adlige Privilegien. Maßnahmen wie die Einführung eines neuen Gesetzbuchs oder die Modernisierung der Verwaltung zielten darauf ab, das Reich zu vereinheitlichen und separatistischen Strömungen den Boden zu entziehen. Der Zar schien somit auf einem guten Weg zu sein, als er 1560 durch Anastasias Tod ihres offenbar stabilisierenden Einflusses beraubt wurde. Künftig trat seine innere Zerrissenheit wieder deutlicher hervor. Iwan heiratete noch sechs weitere Male, aber einen wirklichen Ersatz für Anastasia fand er nie. Und so begann allmählich seine Wandlung vom fähigen Staatsmann zum scheinbar paranoiden Tyrannen, der seine Untertanen in Angst und Schrecken versetzte und schließlich den Beinamen grozny erhielt – wörtlich: der Furchterregende.
Mit eisernem Besen Von nun an gab der Zar seinen Untertanen so manches Rätsel auf. So war er im Dezember 1564 plötzlich samt Familie und Beraterstab spurlos verschwunden. Wo steckte Iwan IV.? Während das russische Volk noch über seinen Verbleib rätselte, kam eine schier unglaubliche Nachricht aus einem Kloster, rund hundert Kilometer von Moskau entfernt. Der Zar gab bekannt, dass er „mit großer Trauer“ dem Thron entsage, da es ihm unmöglich sei, die widerspenstigen Bojaren in Schach zu halten. Die Menschen reagierten schockiert, denn gerade das „einfache Volk“ war froh, dass unter der Herrschaft Iwans IV. wieder halbwegs ruhige Zeiten einge-
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kehrt waren. Sollte jetzt womöglich wieder die Willkür der Bojarenherrschaft über sie hereinbrechen? Gott bewahre! Nicht wissend, dass es sich nur um eine raffinierte Finte handelte, baten sie den Zaren inständig, nach Moskau zurückzukehren. Der gab sich gnädig und erklärte sich – scheinbar widerstrebend – dazu bereit, allerdings unter einer Bedingung: Er brauche freie Hand bei der Abrechnung mit den „Verrätern“ und einer Umgestaltung Russlands durch die vollständige Zerschlagung der Bojarenherrschaft. Als Iwan IV. im Februar 1565 in den Kreml zurückkehrte, ergriff er eine ungewöhnliche Maßnahme: Er erklärte Moskau sowie weite Teile des russischen Reiches zu seiner persönlichen opritschina („ausgesondertes Land“), die allein dem Zaren unterstand, und in der kein Bojar Grund und Boden besitzen durfte. Zahlreiche wohlhabende Adelsfamilien wurden daraufhin zwangsumgesiedelt, enteignet oder ermordet, denn Iwans Gefolgsleute waren nicht zimperlich, wenn es darum ging, die Befehle des Zaren umzusetzen. So entstand eine Art Parallelstaat – auf einem Gebiet, das schließlich die Hälfte des russischen Territoriums nördlich von Moskau umfasste. Als Wächter dieses Staatsgebildes fungierten die opritschniki, Männer, die dem Zaren bedingungslos ergeben waren und ihm als geeignetes Terrorinstrument bei Zuwiderhandlung dienten. Aufgabe dieser Herren in den martialisch aussehenden schwarzen Kutten war es, das Land mit dem „eisernen Besen“ zu säubern, den sie als gut sichtbares Symbol auch stets bei sich trugen. Was das heißen konnte, bekam 1570 die Stadt Nowgorod zu spüren. Deren Bewohnern unterstellte man heimlichen Kontakt mit Litauen, das sich wiederum mit Polen gegen Russland verbündet hatte. Die opritschniki richteten nämlich ein fürchterliches Blutbad an, bei dem Tausende von Männern, Frauen und Kindern niedergemetzelt wurden. Allein in der Chronik des Kyrill-Klosters sind 2470 Todesopfer namentlich verzeichnet. Schließlich endete die opritschina so plötzlich, wie sie begonnen hatte. Doch das ganze politische Klima war inzwischen derart vergiftet, dass jeder jedem misstraute und selbst die opritschniki anfingen, sich gegenseitig zu denunzieren. Letzten Endes waren es aber eher außenpolitische Probleme und kriegerische Konflikte, die Iwan IV. zwangen, die Teilung seines Reiches wieder rückgängig zu machen.
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RASEND VOR WUT
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Rasend vor Wut Doch ein Ziel hatte der Zar in diesen sieben Jahren erreicht: Die alte russische Aristokratie war bis zur Machtlosigkeit dezimiert. Von den ursprünglich etwa 200 Bojarenfamilien hatten nur 20 überlebt, die nun keine große Gefahr mehr darstellten. Die autokratische Zarenherrschaft war fest etabliert. Das hieß allerdings nicht, dass der Zar seine alten Ängste und das tiefe Misstrauen überwunden hätte, im Gegenteil. Mutmaßliche und tatsächliche Verräter wurden auch weiterhin unerbittlich verfolgt und nach ihrer Festnahme meist grausam gefoltert. Vielen erging es so wie Iwans früherem Leibarzt und Astrologen Bomelios. Der Zar ließ ihn an einen riesigen Spieß binden und über dem offenen Feuer rösten, um Informationen über Mitwisser und Komplizen zu erzwingen. Zuletzt nahmen die Ängste des Zaren wahrhaft paranoide Züge an. Es gab niemanden mehr, dem Iwan noch vertraute, überall witterte er Verrat, sogar in seiner eigenen Familie. Nach dem frühen Tod des Erstgeborenen Dimitrij war jetzt sein zweiter Sohn Iwan der neue Thronfolger. Doch von familiärer Harmonie konnte keine Rede sein. Meinungsverschiedenheiten führten immer wieder zu heftigem Streit zwischen den beiden Männern, denn der Zar duldete nicht den geringsten Widerspruch. Schon eine Kleinigkeit genügte, um ihn zur Raserei zu bringen – und so kam es 1581 zu einer fürchterlichen Tragödie. Als Iwan IV. die Gemächer seines Sohnes aufsuchte, traf er dort auf seine schwangere Schwiegertochter Jelena. Und was er da sah, gefiel ihm überhaupt nicht! Anstatt der von der Etikette vorgeschriebenen drei Kleider trug die junge Frau lediglich ein Unterkleid. Dieses „unanständige Benehmen“ versetzte Iwan derart in Rage, dass er in blindem Zorn auf Jelena einschlug, vermutlich mit einer Eisenstange. Nun waren körperliche Strafen in Russland nicht ungewöhnlich, und das galt auch für Frauen. Dabei durfte der Hausherr durchaus zur Knute greifen, Holzknüppel und Eisenstangen aber waren zur Züchtigung nicht gestattet. Als Jelena laut schrie, eilte der Zarewitsch herbei und versuchte, seiner bedrängten Gemahlin zu helfen. Und so kam es, wie es kommen musste: Iwan IV. ließ von Jelena ab, prügelte jetzt aber wie von Sinnen auf seinen Sohn ein, wobei er ihm schwere Kopfverletzungen zufügte. So nahm die Tragödie ihren Lauf: Noch in derselben Nacht erlitt Jelena eine Fehlgeburt; der einzige Enkel Iwans IV. kam tot zur Welt. Und
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nur wenige Tage später erlag auch der Thronfolger seinen schweren Verletzungen, wobei es offiziell hieß, der junge Iwan sei an einer fiebrigen Erkrankung gestorben.
Der Tod Iwans IV. Als Iwan IV. bewusst wurde, dass er seinen einzigen Sohn umgebracht hatte, brach er völlig zusammen. Künftig war er nur noch ein Wrack, sowohl in körperlicher als auch in seelischer Hinsicht. Seine Gesundheit hatte er ohnehin schon längst ruiniert. Der Zar litt bereits seit Jahren an einer schweren Polyarthrose und versuchte, die teils unerträglichen Schmerzen mit Unmengen von Alkohol zu betäuben. Doch schlimmer als das körperliche Leid waren die seelischen Qualen und seine Schuldgefühle. Seit seiner Krönung hatte sich Iwan IV. bemüht, Russland zu einem mächtigen und stabilen Staat zu machen. Und nun stand er vor den Trümmern seines Lebenswerks. Wer sollte ihn nach seinem Tod beerben? Fjodor, der dritte Sohn aus der Ehe mit Anastasia, war kränklich, geistesschwach und völlig unfähig, eigenständig zu regieren. Und Iwans 1582 geborener Sohn Dimitrij aus seiner siebten und letzten Ehe mit Maria Nagaja lag noch in den Windeln. Die Dynastie der Ruriken, die seit Hunderten von Jahren an der Macht gewesen war, drohte auszusterben! Und es war allein seine Schuld! Die Tage Iwans IV. waren nun gezählt. Als er am 18. März 1584 im Alter von 53 Jahren starb, hinterließ er ein wirtschaftlich und gesellschaftlich völlig ruiniertes Reich. Lang andauernde Kriege gegen Polen, Litauen und Schweden hatten Russlands Kräfte hoffnungslos überfordert. Und durch den grauenhaften Terror der opritschina war die Wirtschaft noch zusätzlich geschädigt worden. Weite Gebiete des Landes waren so gut wie entvölkert, und die drückende Steuerlast musste fast ausschließlich von den Bauern aufgebracht werden. Niemand wusste, wie es mit Russland weitergehen würde. Das Land stand am Rande des Abgrunds. Zumindest seine Nachfolge hatte Iwan IV. noch regeln können: Künftig sollte ein von ihm ernannter Regentschaftsrat in Fjodors Namen über Russland herrschen.
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BORIS GUDONOW
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Boris Gudonow Doch bald wurde ein einzelner Mann zum faktischen neuen Machthaber im Kreml: Boris Gudonow, ein alter Vertrauter Iwans IV. Da Gudonows Schwester mit Fjodor verheiratet war – obwohl diese Ehe wohl nie vollzogen wurde – stand er dem neuen Zaren auch verwandtschaftlich sehr nahe. Fjodor, den ein englischer Diplomat als „einfältig und begriffsstutzig, aber sehr gütig und von vornehmer Art“ schilderte, mischte sich in keiner Weise in die Regierungsgeschäfte seines Schwagers ein. Der fromme Zar verbrachte viel Zeit beim Gebet und unternahm zahlreiche Pilgerreisen quer durch Russland. Währenddessen lenkte Boris Gudonow die Geschicke des Staates, hielt im Kreml offizielle Empfänge ab und leitete auch die auswärtigen Beziehungen. Die Untertanen atmeten auf. Unter dem besonnenen und auch diplomatisch geschickten Regenten erlebte Russland alles in allem 14 relativ ruhige Jahre, in denen sich die politische und wirtschaftliche Situation allmählich wieder entspannte. Als Fjodor 1498 kinderlos starb, hatte Boris Gudonow keine Probleme, sich selbst zum Zaren proklamieren zu lassen. Doch dann nahm die Geschichte wieder einmal einen schicksalhaften Verlauf. Um einen weiteren Machtkampf im Kreml zu verhindern, hatte man Iwans 1582 geborenen Sohn Dimitrij zusammen mit seiner Mutter nach Uglitsch verbannt, rund zweihundert Kilometer nördlich von Moskau. Dort starb der Junge im Mai 1591 aus Gründen, die bis heute ungeklärt sind. Fest steht, dass ihn seine Mutter tot im Hof ihres Anwesens fand. Dimitrijs Leichnam wies eine stark blutende Halswunde auf. Eine offizielle Untersuchung ergab, dass der Knabe mit Messern gespielt und sich während eines epileptischen Anfalls selbst die Kehle durchgeschnitten hatte. Auszuschließen ist das nicht, denn Dimitrij war tatsächlich Epileptiker. Die Häufung der Behinderungen in der Zarenfamilie lässt sich vermutlich mit den zu engen verwandtschaftlichen Beziehungen erklären. Ein Unfalltod des Kindes lag also durchaus im Bereich des Möglichen.
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Der falsche Dimitrij Zunächst hatte es auch den Anschein, als würde allmählich Gras über die Sache wachsen, ungeachtet der Tatsache, dass mit dem Tod Dimitrijs die Ruriken-Dynastie endgültig ausgestorben war. Doch Boris Gudonow machte seine Sache nicht schlecht, und solange die Untertanen keinen Grund zur Klage hatten, war es ihnen ziemlich gleichgültig, was hinter den Kremlmauern geschah. Das änderte sich erst, als Russland 1601 und 1603 von mehreren Naturkatastrophen heimgesucht wurde. Unwetter und Missernten hatten eine schreckliche Hungersnot zur Folge. Tausende von Menschen starben. Im Zuge dieser schweren Krise sank auch das Vertrauen in die Obrigkeit, und plötzlich geriet selbst der vormals beliebte Boris Gudonow in den Fokus der Kritik. Fragen wurden gestellt. Strafte Gott die Russen vielleicht dafür, dass sie einen Mann auf dem Zarenthron duldeten, der nur ein Emporkömmling war, gar kein „echter“, durch Geburt legitimierter Herrscher? Und war er es womöglich gewesen, der den kleinen Dimitrij aus dem Weg geräumt hatte, weil er keinen Konkurrenten neben sich duldete? Immerhin wäre Dimitrij einmal der neue Zar geworden! So wurde die Erinnerung an den fast vergessenen Zarewitsch zu neuem Leben erweckt. Und nicht nur die Erinnerung … Im Jahr 1603 tauchte in Polen plötzlich ein junger Mann auf und behauptete, er sei Dimitrij, der Sohn Iwans IV. und rechtmäßiger Erbe des Zarenthrons. So überraschend das auch sein mochte, man scheint ihm tatsächlich geglaubt zu haben. Vielleicht wollte man es aber auch nicht so genau wissen. Die Polen, die in ständiger Angst vor dem expandierenden Nachbarland lebten, waren offenbar froh, dass der mutmaßliche russische Thronprätendent sich vertrauensvoll an sie gewandt hatte. Und als der sich auch noch bereit erklärte, zum römisch-katholischen Glauben überzutreten, schienen sie ganz beruhigt. Dennoch bleibt vieles im Dunkeln. Polenkönig Sigismund III. aber, der gerade einen zwanzigjährigen Waffenstillstand mit Russland unterzeichnet hatte, war gerne bereit, dem rätselhaften Dimitrij zu seinem vermeintlichen Recht zu verhelfen und gestattete ihm die Anwerbung von 4000 freiwilligen Soldaten. Zusammen mit seiner Armee überquerte „Dimitrij“ im Oktober 1604 den Dnjepr und marschierte in Richtung Moskau. Boris Gudonow nahm zunächst an, dass Polen den Waffenstillstand gebrochen habe, und schickte
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seine Armee gen Westen. Doch sie konnte „Dimitrijs“ Vormarsch nicht aufhalten. Inzwischen kochte auch die Gerüchteküche. Der so unverhofft aufgetauchte Dimitrij wurde zum neuen Hoffnungsträger der Menschen. Die meisten Russen waren jetzt überzeugt, dass der Zarewitsch keineswegs tot war, sondern sich nur viele Jahre versteckt gehalten hatte, um zum richtigen Zeitpunkt den ihm gebührenden Zarenthron zu besteigen. Ein Heilsbringer, von Gott gesandt, um neuer Zar von Russland zu werden! Auch die meisten Adligen gaben vor, „Dimitrij“ zu glauben, und ließen ihm heimlich Unterstützung zukommen. Plötzlich stand Boris Gudonow mit dem Rücken zur Wand. Vermutlich wäre er über kurz oder lang vom aufgebrachten Mob oder eifersüchtigen Adelsgruppen ermordet worden. Doch er starb überraschenderweise eines natürlichen Todes. Am 13. April 1605 setzte vermutlich ein Blutsturz dem Leben Boris Gudonows ein plötzliches Ende. Während sein Sohn und designierter Nachfolger umgehend von politischen Gegnern umgebracht wurde, wurde jetzt „Dimitrij“ in nationaler Begeisterung zum neuen Zaren gekrönt. Für das russische Volk war die „wunderbare Errettung“ des Zarewitsch nichts anderes als ein Fingerzeig Gottes. Dimitrijs Mutter, Zarin-Witwe Maria, die 1591 gegen ihren Willen in ein Kloster verbannt worden war, wurde in einer feierlichen Prozession zurück nach Moskau geholt. Hier kam es zu einem publikumswirksam inszenierten „Wiedersehen“ mit ihrem „tot geglaubten Sohn“. Damit schien die alte Ordnung endlich wiederhergestellt zu sein. Doch es dauerte nicht lange und „Dimitrijs“ Thron begann bedenklich zu wackeln. Diejenigen, die tatsächlich an seine Identität geglaubt hatten, wurden zunehmend skeptisch. Wie konnte es sein, dass „Dimitrij“ so oft von seinem Vater, dem Zaren Iwan IV. sprach und in schönen Erinnerungen schwelgte, obwohl er ihn doch kaum gekannt hatte? Auch die Tatsache, dass er sich zum römisch-katholischen Glauben anstatt zur orthodoxen Kirche bekannte, war reichlich seltsam. Misstrauen erregte vor allem der Umstand, dass sich „Dimitrij“ vorwiegend mit polnischen Beratern umgab. War er womöglich nichts weiter als eine Marionette des Königs von Polen? Seine Beliebtheitskurve begann rapide zu sinken, zumal auch „Dimitrijs“ Umgangsformen überhaupt nicht denen eines russischen Zaren entsprachen. Er gab sich viel zu leutselig. Und wenn er erklärte, die neue Zeit erfordere eben neue Formen und Denkweisen, dann empfanden das
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die Untertanen nicht nur als Kränkung, sie fürchteten, „Dimitrij“ wolle ihr Land nach polnischem Vorbild umwandeln, ja womöglich sogar die römisch-katholische Kirche fest in Russland etablieren! Kurz darauf plante eine Adelsfraktion eine Verschwörung gegen den dubiosen Machthaber im Kreml. Man wollte„Dimitrij“ absetzen. Jetzt ließ so mancher von ihnen seine Maske fallen und gab freimütig zu, den angeblichen Zarensohn sofort als Betrüger entlarvt und ihn nur deshalb anerkannt zu haben, um Boris Gudonow zu schaden. Zu ihnen gehörte auch Wassillij Schuiski, der nun damit herausrückte, bereits 1587 eine Verschwörung gegen Gudonow geplant zu haben. „Dimitrij“ hatte seine Rolle ausgespielt. Am 17. Mai 1606 drang Schuiski mit mehreren Anhängern und bewaffneten Gefolgsleuten in den Kreml ein, wo sie „Dimitrij“ überwältigten und schließlich umbrachten. Anschließend stellten sie seinen Leichnam öffentlich auf dem Roten Platz in Moskau aus, verbrannten ihn und schossen seine Asche mit der Kanone demonstrativ in Richtung Polen. Die Scharade war zu Ende. Jetzt stellte sich heraus, dass der „falsche Demetrius“, wie er später genannt wurde, in Wirklichkeit ein Mönch mit Namen Grigori Otrepjew gewesen war, Sohn eines unbedeutenden russischen Kleinadligen. Er hatte lange Zeit ein rastloses Wanderleben geführt, war in verschiedenen Klöstern untergekommen und 1601 schließlich nach Polen gegangen. Seine Handlungsmotive sind weitgehend unbekannt, doch offenbar hegte er einen unbändigen Hass auf den arrivierten Boris Gudonow. Auch lässt sich nur schwerlich erklären, warum er als „Dimitrij“ zunächst so erfolgreich war. Fest steht jedoch, dass Otrepjew ein cleverer Bursche gewesen sein muss, der das Talent besaß, wirkungsvoll aufzutreten, und sich schnell auf neue Situationen einstellen konnte. Doch von ausschlaggebender Bedeutung war wohl die Tatsache, dass man ihm schlicht und einfach glauben wollte, weil er dem russischen Volk als Heilsbringer galt, als Garant für die Wiederkehr der alten „guten Zeiten“. An politische Ruhe allerdings war auch nach dieser Eskapade nicht zu denken. Nach der Ermordung des falschen Dimitrij ließ sich Schuiski, der Anführer des Komplotts, selbst zum neuen Zaren Wassillij IV. krönen, womit er Russland jedoch vollends in Chaos stürzte. In der Folge versuchten noch weitere betrügerische Thronanwärter ihr Glück. Die „Zeit der Wirren“ endete erst, als 1613 auf einer Reichsversammlung beschlossen
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wurde, den sechzehnjährigen Michail Romanow zum neuen Zaren einzusetzen. Der war ein Verwandter von Anastasia, der ersten Frau Iwans IV. Damit sollte die Dynastie der Romanows für drei Jahrhunderte die Herrschaft über Russland übernehmen, bis auch sie mit der Oktoberrevolution 1917 gewaltsam vom Zarenthron gestürzt wurde.
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5 Die Tudors und die Stuarts – Wie die Hinrichtung Maria Stuarts den Weg für eine Vereinigung Englands und Schottlands vorbereitet
Alles hatte so vielversprechend angefangen, der Weg zur Regentschaft schien so eben! Maria Stuart war erst neun Monate alt, als sie zur Königin von Schottland gekrönt wurde. 15 Jahre später heiratete sie den französischen Monarchen Franz II., der nur kurze Zeit später starb. Ihrer Rolle als Königin wurde Maria nicht gerecht. Zurück in Schottland beging sie einen Fehler nach dem anderen, verlor zunächst die Krone, am Ende ihr Leben. Da ihre englische Cousine Elisabeth I. keine eigenen Kinder hatte, bestimmte sie Marias protestantisch erzogenen Sohn Jakob zu ihrem Nachfolger. Das war der Anfang vom Ende der schottischen Unabhängigkeit. 1707 wurde es mit England zum Vereinigten Königreich Großbritannien zusammengeschlossen.
Maria Stuart – Heldin oder Hure? Es ist schon 425 Jahre her, dass sie ihren Kopf verlor, doch noch immer gibt uns Maria Stuart Rätsel auf. Dichter und Komponisten haben der glücklosen Königin von Schottland literarische beziehungsweise musikalische Denkmäler gesetzt und damit die Fantasie der Menschen immer wieder
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beflügelt. Doch wer war Maria Stuart in Wirklichkeit? Eine tragische Heldin und unschuldiges Opfer ihrer feindlichen Umgebung? Oder vielleicht doch eine skrupellose Ehebrecherin und eiskalte Mörderin? Während der im 19. Jahrhundert lebende französische Historiker J. Gauthier der Überzeugung war: „Keine historische Persönlichkeit ist je so verleumdet worden“, urteilte sein Kollege A. J. Froude: „Sie war ein lächerliches Frauenzimmer im Gewand einer Märtyrerin“. Die Wahrheit wird wohl für immer im Dunkel der Geschichte verborgen bleiben. Fest steht lediglich, dass Maria Stuart als Königin von Schottland einen Skandal nach dem anderen auslöste und schließlich als Hochverräterin auf dem Schafott landete. Vor allem aber war Maria Stuart die gefährlichste Rivalin ihrer Cousine, der englischen Königin Elisabeth I., der als Tochter Heinrichs VIII. aus seiner zweiten Ehe mit der später hingerichteten Anne Boleyn der Makel anhaftete, ein illegitimer Bastard zu sein (vergl. S. 48). Und die Katholiken des Inselreichs waren ohnehin der Meinung, dass die englische Krone keiner anderen als Maria Stuart gebühre. Dabei war das Verhältnis zwischen England und Schottland alles andere als entspannt. Werfen wir deshalb zunächst einen Blick auf die wechselvolle Geschichte der beiderseitigen Beziehung.
Feindliche Nachbarn: Schottland und England Sie hatten schon immer ihren eigenen Kopf, die freiheitsliebenden Schotten im rauen, wildromantischen Norden der Insel. In der Antike lebten hier die keltischen Stämme der Pikten und Skoten, die sich hartnäckig dem Zugriff durch die Römer widersetzten, die Britannien von 43 n. Chr. bis zum Anfang des 5. Jahrhunderts beherrschten. Als sich im 6./7. Jahrhundert durch die Missionstätigkeit irischer Mönche allmählich das Christentum durchsetzte, wurden schottische Klöster wie Iona und Lindisfarne zu Zentren der Kultur und Gelehrsamkeit. Sie wurden auch von den Herrschenden hoch geschätzt, zumal die frommen Mönche des Lesens und Schreibens mächtig waren. Ansonsten aber waren es wilde Zeiten, in denen sich die verschiedenen schottischen Stämme gegenseitig bekämpften. Erst unter dem Druck der expandierenden Normannen schlossen sie sich zusammen und gründeten im 9. Jahrhundert das Königreich Schottland.
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Der von den Normannen ausgeübte Druck brachte eine vorsichtige Annäherung der Schotten an England. Allerdings blieb die Beziehung zu dem südlichen Nachbarn auch weiterhin spannungsreich, zumal England auf der Insel die politische Vorrangstellung beanspruchte. Doch Schottland reagierte auf eigene Weise: Nachdem Englands König Heinrich II. Plantagenet den schottischen König Malcolm gezwungen hatte, einen Huldigungseid zu leisten, sah sich Schottland jenseits des Ärmelkanals nach Unterstützung um. Und wurde prompt fündig: Im Jahr 1165 schloss es ein formelles Bündnis mit Frankreich, die Auld Alliance. Erst im 16. Jahrhundert kam es kurzzeitig zu einer engeren Beziehung mit England. Seit 1371 regierte in Schottland die Dynastie der Stuarts, während es die englischen Tudors soeben erst auf einen noch recht wackligen Thron geschafft hatten. Da waren Feindseligkeiten mit Schottland das Letzte, was man gebrauchen konnte. Und so bot Heinrich VII. dem schottischen König Jakob IV. seine Tochter zur Frau an. Der willigte ein. Nachdem Jakob IV. mit England einen „immerwährenden Friedensvertrag“ unterzeichnet hatte, heiratete er im August 1503 die junge Engländerin Margaret Tudor – wie man noch sehen wird, bot diese Ehe einigen Sprengstoff. Doch Schottlands neues Bündnis mit England bedeutete keineswegs, dass nun die Auld Alliance mit Frankreich beendet war, im Gegenteil. Als sich Englands neuer König Heinrich VIII. 1511 offen gegen Frankreich stellte, erklärte Jakob IV. seinem königlichen Schwager umgehend den Krieg, fiel jedoch wenig später in der Schlacht bei Flodden. Damit befand sich Schottland in einer höchst prekären Situation, denn der neue König Jakob V. war noch ein Säugling und damit auch in den nächsten Jahren hilflos der Vereinnahmung durch verschiedene Interessengruppen ausgesetzt. Zunächst war es natürlich seine englische Mutter, die die Vormundschaft für den kleinen Jakob führte. Als sie jedoch erneut heiratete, übernahm sein frankophiler Onkel, ein Bruder Jakobs IV., die Obhut über den jungen König. Erwachsen geworden, beschloss Jakob V. daher ebenfalls, sich politisch eng an Frankreich anzulehnen.
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Die kindliche Königin 1538 heiratete Jakob V. die französische Adlige Marie de Guise (1515 – 1560). Aus der Ehe gingen zwei Söhne hervor, die jedoch beide im Säuglingsalter starben. Marie war erneut schwanger, als Jakob 1542 im Krieg gegen Heinrich VIII. schwere Verletzungen erlitt. Zwei Wochen später erhielt er auf dem Krankenbett die Nachricht, dass seine Frau ein kleines Mädchen zur Welt gebracht hatte, Maria. Die Freude über die neugeborene Tochter hielt sich in Grenzen und war nicht dazu angetan, die Genesung des Verwundeten zu beschleunigen. Und so wiederholte sich das Familienschicksal auf bittere Weise: Jakob V. starb am 13. Dezember 1542 im Alter von nur 30 Jahren. Der Fortbestand der Dynastie hing jetzt von Maria Stuart ab. Obwohl die kleine Maria am 9. September 1543 feierlich zur Königin von Schottland gekrönt wurde, waren die Zukunftsaussichten des Landes doch äußerst trübe. Allein die Aktivitäten ihres ambitionierten englischen Großonkels Heinrich VIII.: Dem war es mit Waffengewalt nicht gelungen, sich Schottland einzuverleiben, und deshalb versuchte er es jetzt auf „legalem Wege“. Aber sein Angebot, Maria Stuart mit seinem Sohn und aktuellen Thronfolger Eduard zu verheiraten, stieß bei Marie Guise auf taube Ohren. Als Französin hatte sie mit ihrer Tochter ganz andere Pläne, und so beschied sie den königlichen Antragsteller mit einem klaren „Nein“. Daraufhin beschloss Heinrich, seinen Willen mit Gewalt durchzusetzen und überzog Schottland erneut mit Krieg. Jetzt befand sich die kindliche Königin in höchster Gefahr! Um sie dem Zugriff durch die Engländer zu entziehen, versteckte Mutter Marie ihre Tochter zwar in abwechselnd in verschiedenen schottischen Schlössern, doch die Schlinge der Verfolger zog sich immer enger zu. In dieser bedrängten Situation kam Hilfe aus Frankreich. Heinrich II. schlug vor, die kleine Königin von Schottland mit seinem Sohn, dem französischen Thronfolger Franz zu verloben. Und um das Mädchen auf seine neue Rolle vorzubereiten, sollte es umgehend nach Paris gebracht und künftig am französischen Königshof erzogen werden. Nun war das Angebot Heinrichs II. keineswegs uneigennützig. Wie sein englischer Amtskollege sah auch er in dieser Verbindung eine gute Gelegenheit, sich die Option auf das schottische Königreich zu sichern. Doch Maria wäre auf
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diese Weise in Sicherheit! Und so reiste die knapp Sechsjährige im August 1548 nach Frankreich, wo man sie auf ihre künftige Aufgabe vorbereiten wollte. Unterdessen sollte Marie Guise die Regentschaft über Schottland übernehmen.
Witwe mit 18 Jahren Zunächst verlief alles nach Plan. Zehn Jahre nach ihrer Ankunft in Frankreich traten am 24. April 1558 Franz und Maria in der Pariser Kathedrale Notre-Dame vor den Traualtar. Damit schien die kleine Schottin einer glanzvollen Zukunft entgegenzugehen. Auch der französische Schwiegervater hatte allen Grund zur Freude und machte sich berechtigte Hoffnung, sich außer dem Königreich Schottland demnächst auch noch England unter den Nagel reißen zu können. Nach dem Tod Heinrich VIII. hatte zunächst dessen einziger Sohn als Eduard VI. den englischen Thron bestiegen, doch der kränkliche Monarch starb nur fünf Jahre später. Ihm folgte seine Halbschwester Maria aus Heinrichs erster Ehe mit Katharina von Aragon. Weil sich der Papst seinerzeit geweigert hatte, die königliche Ehe aufzulösen, hatte Heinrich VIII. bekanntlich mit Rom gebrochen und sich selbst zum Oberhaupt der Anglikanischen Kirche gemacht. Mit Maria aber war nun wieder eine überzeugte Katholikin auf den englischen Thron gekommen, die sich mit allen Mitteln für die Wiedereinführung des alten Glaubens engagierte. Wegen der blutigen Verfolgung der englischen Protestanten ist sie bekanntlich unter dem unrühmlichen Namen „Bloody Mary“ in die Geschichte eingegangen. Nach fünf Jahren starb Maria schließlich kinderlos. Heinrich VIII. höchst selbst hatte testamentarisch verfügt, dass in diesem Fall seine Tochter Elisabeth aus der Ehe mit Anne Boleyn neue Königin von England werden sollte. Der jungen Frau haftete jedoch der Makel an, ein „Bastard“ zu sein, denn viele Untertanen, vor allem natürlich die Katholiken, bezweifelten die Rechtmäßigkeit der zweiten Ehe Heinrich VIII. Für sie stand daher fest, dass es nur eine rechtmäßige Königin geben konnte – und das war Maria Stuart, ebenfalls eine Enkelin Heinrichs VII. aus der Ehe seiner Tochter Margaret Tudor und dem schottischen König Jakob IV. (vergl. S. 71). Frankreichs König sah das natürlich genauso, und um diesen Anspruch zu untermauern, veranlasste
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er seine Schwiegertochter, neben dem schottischen Wappen künftig auch das englische zu tragen. Dass ihre Cousine Elisabeth I. darin eine veritable Kampfansage sehen musste, hat die junge und etwas naive Maria womöglich gar nicht bemerkt. Heinrich II. von Frankreich starb nur ein Jahr später in dem Glauben, die Weichen für die Vereinigung seines Königreichs mit England und Schottland gestellt zu haben. Mit der Thronbesteigung ihres Gemahls Franz II. war Maria, Königin von Schottland, nun auch zur französischen Königin geworden – eine beachtliche Karriere für ein junges Mädchen von erst 17 Jahren! Doch aus einer königlichen Berufung wurde nichts: Im Dezember 1560 starb der gesundheitlich labile Franz II. wohl an den Folgen einer starken Mittelohrentzündung. Maria, gerade 18, war nun Witwe geworden. Sie tröstete sich damit, dass sie künftig wenigstens ein Leben ohne die lästigen Repräsentationspflichten führen konnte, und plante, sich auf einen komfortablen Landsitz in Südfrankreich zurückzuziehen. Politischer Ehrgeiz war Maria vollkommen fremd. Sie wollte fortan im mediterranen Klima nur die angenehmen Seiten des Daseins genießen. Nicht im Traum dachte sie daran, nach Schottland zurückzukehren. Doch es sollte anders kommen.
Zurück in Schottland Während Marias Abwesenheit hatte sich in ihrer schottischen Heimat vieles verändert. Inzwischen hatte der neue Glaube auch in Schottland so viele Anhänger gefunden, dass das Land protestantisch geworden war. 1560 hatte das schottische „Reformparlament“ den Katholizismus offiziell aufgehoben und den calvinistischen Protestantismus als Staatsreligion eingesetzt. Damit jedoch bestand die ernste Gefahr, dass Schottland das katholische Frankreich als Bundesgenossen verlieren und nun doch von den Engländern vereinnahmt werden würde. Marie de Guise, die sich in den letzten Jahren mit den schottischen Protestanten herumgeschlagen hatte, war 1560 im Alter von 45 Jahren gestorben. Es blieb Maria Stuart also gar nichts anderes übrig, als den vakanten Thron nunmehr selbst zu besteigen, auch wenn sie niemand auf diese schwierige Aufgabe vorbereitet hatte. Durch den Tod ihres Gemahls aber hatten sich alle Träume von
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einer Vereinigung Schottlands mit Frankreich in Luft aufgelöst. Gleichwohl blieb ihr Anspruch auf die englische Krone bestehen, zumindest theoretisch. Schweren Herzens verließ Maria das klimatisch angenehme Frankreich und kehrte 1561 ins regnerische Schottland zurück, an das sie sich kaum noch erinnern konnte. Zwar wurde sie in Edinburgh freundlich von ihren Untertanen empfangen, doch es dauerte nicht lange, bis Maria spürte, dass sie absolut nicht in der Lage war, den explosiven schottischen Hexenkessel allein zu regieren. Dass sie katholisch blieb, während ein großer Teil ihrer Untertanen zum Protestantismus übergetreten war, machte die Sache nicht gerade einfacher. Maria sehnte sich deshalb nach männlicher Unterstützung und einer starken Schulter zum Anlehnen. Doch wie ihre englische Cousine Elisabeth I. wies auch sie alle Heiratsanträge ausländischer Bewerber zurück, um keine unnötigen außenpolitischen Verwicklungen auszulösen. Und doch blieb Maria Stuart keine „jungfräuliche Königin“. Sie verliebte sich nämlich unsterblich in einen (entfernten) Verwandten, den wohl drei Jahre jüngeren Henry Darnley. Die beiden heirateten am 29. Juli 1565.
Mord im Königspalast Leider hatte Maria keine gute Wahl getroffen. Denn abgesehen davon, dass Darnley blendend aussah und königliches Blut in seinen Adern floss – auch er war ein Urenkel Heinrichs VII. – hatte der junge Mann kaum etwas zu bieten. Am Hof merkte man sehr schnell, dass die Königin ein unreifes Bürschchen geheiratet hatte – selbstgefällig, launisch und jähzornig obendrein. Nur Maria scheint vor Liebe wohl blind gewesen zu sein und wurde kurz nach der Hochzeit schwanger. Doch es dauerte nicht lange, da begriff auch sie, dass sie sich den Falschen ausgesucht hatte. Darnley war seine neue Position nämlich mächtig zu Kopf gestiegen. Immer arroganter wurde er, kommandierte die Hofleute herum und legte sich fortwährend mit dem schottischen Adel an. Das Kind war noch nicht auf der Welt, da hatte sich Marias Leidenschaft bereits verflüchtigt, war sie Darnleys überdrüssig geworden. Nicht ahnend, wie sehr sie ihren eitlen Gemahl brüskierte, ließ Maria den schönen Darnley links liegen und suchte sich eine angenehmere
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Gesellschaft. Dazu gehörte auch ihr Privatsekretär, der charmante Italiener David Rizzio. Rizzio war 1561 ursprünglich als Musiker an den schottischen Königshof gekommen, hatte aber dank seiner umfassenden Bildung und guten Umgangsformen schon bald höhere Aufgaben erhalten. Aufgrund seiner wachen Intelligenz, vor allem aber wegen seiner perfekten Sprachkenntnisse war er in kürzester Zeit zum Privatsekretär der Königin aufgestiegen. Naturgemäß verbrachte Rizzio viel Zeit mit Maria, auch über die geschäftliche Ebene hinaus. Die beiden speisten oftmals zusammen und saßen mitunter bis tief in die Nacht beim vertraulichen Gespräch. Dieses gute Einvernehmen erregte nicht nur den Argwohn Henry Darnleys, sondern auch Unmut in der Hofgesellschaft. Die schottischen Berater der Königin fühlten sich ins Abseits gestellt und hegten den hinterhältigen Verdacht, Rizzio arbeite womöglich an der Wiedereinsetzung des katholischen Glaubens. Dabei scheint es, als habe Maria in Rizzio nur einen angenehmen und charmanten Unterhalter gesehen. Ob die schwangere Königin eine Affäre mit ihm hatte, ist nicht bewiesen. Darnley jedoch war fest davon überzeugt, dass sich das Verhältnis seiner Frau zu dem smarten Italiener nicht ausschließlich auf den Schriftverkehr beschränkte. Er glaubte sicher zu wissen, dass Rizzio ihr Liebhaber war und womöglich sogar sein Nachfolger als Gemahl der Königin. Damit aber war seine Position aufs Höchste gefährdet! Sollte sich Maria von ihm trennen, dann würde er wieder in der Bedeutungslosigkeit versinken, aus der er durch die Heirat gerade entkommen war. Und mehr noch: Darnley träumte davon, selbst eines Tages regierender König von Schottland zu sein, und nicht länger nur Marias Gemahl. Es gab also nur einen Ausweg: Rizzio musste verschwinden, und zwar endgültig! Das fanden auch Marias Berater, die sich von der Königin ins Abseits geschoben fühlten. Gemeinsam schmiedeten die Herren ein finsteres Komplott … Maria, inzwischen in sechsten Monat schwanger, hatte von alldem keine Ahnung. Gemeinsam mit ihren Freunden, darunter auch David Rizzio, saß sie am Abend des 9. März 1566 beim Dinner im Holyrood Palast und amüsierte sich. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Darnley trat in den Raum, gefolgt von mehreren Begleitern, allesamt bewaffnet. Nun ging alles ganz schnell. Während Darnley Maria festhielt, stürzten sich die Männer auf den verdutzten Rizzio und schleppten ihn unter
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dem hilflosen Protest der Königin nach draußen. Wenig später lag Rizzio tot auf der Schlosstreppe, erdolcht von 56 Messerstichen. Henry Darnley beteuerte seine Unschuld, doch es bestand kein Zweifel daran, dass er am Mordkomplott beteiligt gewesen war, vielleicht sogar als eigentlicher Drahtzieher.
Rätsel um Darnleys Tod Merkwürdig war indessen, wie Maria Stuart auf den feigen Mord an Rizzio reagierte. Sie gab sich nämlich Darnley gegenüber äußerst versöhnlich, schien tatsächlich an seine Unschuld zu glauben. So sah es jedenfalls aus, zumindest bis zur Geburt ihres Kindes. Am 9. Juni 1566 kam der ersehnte Sohn zur Welt, der später als Jakob VI. über Schottland und als Jakob I. schließlich auch über England herrschen sollte. Ganz Schottland freute sich über den kleinen Thronerben, und Marias Popularität erreichte damit zweifellos ihren Höhepunkt. Der Vater des königlichen Kindes konnte sich hingegen nicht so recht freuen. Er war von einer zweifelhaften Krankheit befallen, wobei sein Leiden wahlweise als Pocken oder als Syphilis gedeutet wird. Um sich in aller Ruhe zu erholen, hatte er sich auf ein Anwesen in der Nähe des Holyrood Palasts zurückgezogen. Maria aber besuchte ihn regelmäßig und schien sich rührend um den Gemahl zu kümmern, wenngleich bereits gemunkelt wurde, dass sie inzwischen einen neuen Favoriten habe: James Hapburn, Earl of Bothwell. Bothwell war ein schillernder Charakter, einerseits umfassend gebildet und belesen, gleichzeitig aber auch der Typ des Abenteurers und tollkühnen Draufgängers. Doch in ihm hatte Maria offenbar die dringend benötigte „starke Schulter“ gefunden. Während Darnley noch seine geheimnisvolle Krankheit auskurierte, flog plötzlich das Haus, in dem er sich aufhielt, am 10. Februar 1567 in die Luft. Die heftige Explosion forderte mehrere Todesopfer, unter ihnen auch Henry Darnley selbst. Er lag jedoch nicht unter den Trümmern, sondern auf einem benachbarten Gartengrundstück – ohne sichtbare äußere Verletzungen. Dass ihn die Wucht der Explosion dorthin geschleudert haben soll, ist kaum vorstellbar. Was also war geschehen? Vieles spricht dafür, dass er eiskalt ermordet wurde, auf der Flucht erdrosselt. Die Frage war
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nur: Wer steckte dahinter? Hatte Maria Stuart ihren Gemahl fast ein Jahr lang in trügerischer Sicherheit gelassen, um ihn nun auf bequeme Weise loszuwerden? Immerhin hatte die königliche Witwe nichts Besseres zu tun, als sich umgehend mit jenem Mann zu vermählen, der allgemein für den Mörder Darnleys gehalten wurde: Bothwell. Zwar wurde dem pflichtgemäß der Prozess gemacht. Die Sache endete jedoch mit einem fadenscheinigen Freispruch. Warum Maria derart überstürzt heiratete, war offensichtlich: Sie erwartete wieder ein Kind, und Bothwell war der Vater. Es ist nicht auszuschließen, dass der ehrgeizige Bothwell sie zur Heirat gezwungen hat. Fest steht jedoch, dass sie damit einen schlimmen Fehler begangen hatte. Denn jetzt war auch dem letzten Untertanen klar, dass auf Schottlands Thron eine Mörderin saß! Hätte Maria einen klaren Kopf behalten, dann hätte sie sich unverzüglich von Bothwell distanzieren müssen, Schwangerschaft hin oder her. So aber schaufelte sie sich – langfristig gesehen – ihr eigenes Grab.
Flucht nach England Eine Königin, an deren Händen ganz offensichtlich das Blut des Ehemanns klebte, war für die schottischen Untertanen nicht mehr hinnehmbar. Dazu kommt erschwerend, dass auch konfessionelle Dinge eine Rolle spielten. Der Skandal am Königshof führte jedenfalls zu wütenden Aufständen im ganzen Land, sodass Maria Stuart immer mehr in die Defensive geriet und schließlich gezwungen war, die Krone niederzulegen. Am 29. Juni 1567 wurde ihr kleiner Sohn als Jakob VI. zum neuen König von Schottland gekrönt. Er unterstand künftig einer protestantischen Adelsgruppierung und wurde von George Buchanan im neuen Glauben erzogen. Während sich Bothwell ins Ausland absetzte – angeblich soll er später in Dänemark in geistiger Umnachtung gestorben sein – wurde Maria auf Lochleven Castle unter Hausarrest gestellt. Hier endete auch ihre Schwangerschaft tragisch mit einer Fehlgeburt. Es wäre ein Zwillingspärchen gewesen. In dieser bedrängten Situation sah Maria Stuart nur einen Ausweg. Sie musste aus Schottland fliehen, und zwar ins benachbarte England, wo ihre Cousine als Elisabeth I. seit 1558 auf dem Thron saß. Gewiss, so glaubte
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Maria, würde sich ihre Verwandte für sie einsetzen und wahrscheinlich sogar zurück zum schottischen Thron verhelfen. Das war reichlich naiv gedacht, doch es gab niemanden, der Maria von diesem waghalsigen Schritt abraten sollte. Immerhin war die schottische Ex-Königin – Verwandtschaft hin oder her – ja immer noch Elisabeths schärfste Rivalin – und für die katholischen Engländer nach wie vor ihre „richtige“ Königin. Dank eines ihr wohlgesonnenen Wächters gelang Maria tatsächlich die Flucht aus Lochleven Castle. Und für die geübte Reiterin war es nicht allzu schwer, den langen Weg nach London auf dem Pferderücken zurückzulegen. Elisabeth, die „liebe Cousine“, weigerte sich jedoch, Maria zu empfangen. Dabei wäre sie gar nicht einmal abgeneigt gewesen, ihrer schottischen Verwandten tatsächlich zurück auf den Thron zu verhelfen. Da sie selbst unverheiratet war und keine Kinder hatte, plante sie schließlich, Marias – nunmehr protestantischen – Sohn Jakob zum Thronerben einzusetzen. Doch weil Maria nicht bereit war, ihren alten Anspruch auf die englische Krone aufzugeben, konnte sie nicht mit Elisabeths Unterstützung rechnen. Indessen war die englische Königin unsicher, wie sie mit Maria verfahren sollte. Schließlich wollte Elisabeth ihre katholischen Untertanen keinesfalls verprellen, nachdem es ihr bislang recht gut gelungen war, einen religiösen Ausgleich zu erzielen. So beschloss sie, Maria zwar vorerst unter Hausarrest zu stellen, ihrer „lieben Cousine“ aber gleichwohl ein komfortables Leben zu bieten.
Die Kassettenbriefe Mit der Zeit aber verdichteten sich auch in London die Gerüchte, dass Maria den Mord an ihrem Ehemann eiskalt geplant hatte. Als Beweis sollte der Fund eines kleinen silbernen Kästchens dienen, das mit einem kunstvollen „F“ (wie Franz II.) verziert war und somit als Marias Eigentum identifiziert werden konnte. Das geheimnisvolle Kästchen enthielt acht Briefe, die die Königin angeblich selbst geschrieben hatte. Zwar waren sie undatiert und unadressiert, vermutlich aber alle an Bothwell gerichtet. Der Inhalt der Briefe schien ihre Beteiligung am Mordkomplott gegen Darnley zu bestätigen. So heißt es in einem Schreiben: In Bezug auf Ort und Stunde verlasse ich mich auf Ihren Bruder. Ich denke, er wird Sie benachrichtigen von
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dem, was er wünscht, um seinen Plan durchzuführen. Was meinen Plan betrifft, so weiß ich, dass er gut ausgedacht ist …“ Die Echtheit dieser sogenannten Kassettenbriefe ist bis heute umstritten. Deshalb kann über Marias Schuld oder Unschuld auch weiterhin nur spekuliert werden. Schriftproben ergaben zwar, dass die Briefe von der Königin verfasst wurden, doch manche Passagen schienen nachträglich hinzugefügt worden zu sein. Eine englische Gerichtskommission erhielt den Auftrag, den Fall zu klären, kam aber zu keinem eindeutigen Ergebnis. Die Meinung über die Echtheit der Dokumente blieb geteilt. Vermutlich wird das Rätsel der Kassettenbriefe niemals gelöst werden, denn Marias Sohn Jakob ließ die Papiere später vernichten, sodass nur noch Kopien existieren. Gleichwohl gibt es Indizien für Marias Mittäterschaft. Man fragt sich allerdings, ob die Königin tatsächlich so dumm war, derart brisante Pläne schriftlich aufzuzeichnen, zumal die Briefe jederzeit von Fremden abgefangen und gelesen werden konnten.
In Gefangenschaft Schon bald sollte Marias Schicksal in ganz Europa für erregte Aufmerksamkeit sorgen. Katholische Länder wie Spanien reagierten zutiefst empört, dass die Königin von Schottland Elisabeths Gefangene war. Ja, sogar ein Krieg gegen England wurde erwogen. Allerdings befürchteten die Katholiken nicht zu Unrecht, Elisabeth könne im Falle eines Angriffs eine Kurzschlussreaktion begehen und Maria hinrichten lassen. Und so blieb alles beim Alten. Maria blieb unter Hausarrest, und Elisabeth lehnte auch künftig jedes persönliche Zusammentreffen mit ihrer „lieben Cousine“ ab. Sie gewährte ihr als Gefangene allerdings einen äußerst privilegierten Status. Wo immer Maria auch gerade untergebracht war – die Lokalitäten wechselten, um allzu enge Bindungen an die jeweiligen Bewacher zu verhindern – über Mangel an Komfort konnte sie sich nicht beklagen. Sie verfügte über ein großzügiges Budget, hatte ihre eigenen Dienstboten, bekam erlesene Delikatessen serviert und durfte auch die Messe besuchen. Mögliche Langeweile vertrieb sich Maria mit Lektüre und Handarbeit, spielte mit ihren Hunden oder ging im Schlosspark spazieren.
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Doch die Jahre vergingen und hinterließen ihre Spuren an der Gefangenen. Mit der Zeit wurde Maria depressiv, alterte früh und litt unter verschiedenen Krankheiten, Rheumatismus und Herzschwäche. Mit nur 35 Jahren war ihr Haar schlohweiß, sodass sie es vorzog, eine Perücke zu tragen. Aber auch nach all den Jahren war sie nicht gewillt, sich mit ihrer unglücklichen Situation abzufinden. Immer häufiger dachte sie an Flucht. Irgendwie schaffte es Maria sogar, Kontakt zu französischen und spanischen Gesandten aufzunehmen und mit ihren Anhängern in Schottland zu korrespondieren. Heimlich geschriebene Briefe wurden mit der Wäsche, in Büchern, Spazierstöcken und selbst im Futter der Schuhe hinein- und hinausgeschmuggelt. So verfügte Maria mit der Zeit über ein enges konspiratives Netzwerk, das ihr nicht nur zur Freiheit, sondern auch zurück auf den Thron verhelfen sollte. Was sie in ihrer Naivität freilich nicht ahnte: Der englische Geheimdienst war ihr stets dicht auf den Fersen, und daher konnten Elisabeths Leute etliche der verräterischen Briefe abfangen.
Hochverrat! Obwohl auf diese Weise der ein oder andere Verschwörungsplan aufgedeckt wurde, konnte sich Elisabeth I. nicht dazu durchringen, mit ihrer Cousine „kurzen Prozess“ zu machen. Und doch reagierte sie durchaus vorausschauend. Nicht nur, dass die Kontrollen erheblich verschärft wurden, der königliche Staatsrat entwarf auch ein Gesetz, das die Unterzeichnenden dazu verpflichtete, niemals eine Person als Elisabeths Nachfolger anzuerkennen, zu deren Nutzen ein Mordanschlag auf das Leben der Königin gemacht worden war. Jedem, der in ein solches Komplott verwickelt war, drohte die Todesstrafe. Dieser Vertrag wurde vom Staatsrat, den meisten Parlamentsmitgliedern sowie zahlreichen wichtigen Persönlichkeiten in ganz England unterzeichnet. Maria Stuart hatte also gar keine Chance, jemals den englischen Thron zu besteigen. Doch das hielt sie nicht davon ab, auch weiterhin konspirative Pläne zu schmieden. Dabei musste die Initiative noch nicht einmal von ihr ausgehen. Ein alter Vertrauter, der Katholik Anthony Babington etwa, gehörte einer Verschwörergruppe an, die einen Anschlag auf die englische Königin plante. Darüber informierte er auch Maria Stuart in einem ausführlichen Schrei-
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ben, das genaue Details über den Putsch enthielt. Darin war von Elisabeths Ermordung ebenso die Rede wie von einer Invasion Englands durch französische und spanische Truppen und schließlich von Marias Einsetzung als rechtmäßige Königin von England und Schottland! Wie Babington schrieb, hätten sich sechs katholische Adlige entschlossen, „die Thronräuberin“ zu beseitigen. Jetzt bat er nur noch um Marias schriftliche Einwilligung. Hätte Maria Stuart auch nur einen Funken Verstand besessen, dann hätte sie diese Bitte ganz einfach ignoriert. Stattdessen antwortete sie Babington in einem Brief vom 17. Juli 1586. Darin gab sie zwar nicht ausdrücklich ihre Zustimmung zu Elisabeths Ermordung, nahm die Vorschläge aber grundsätzlich an und versprach den Verschwörern sogar eine hohe Belohnung für den Fall, dass das Unternehmen gelingen sollte. Zu dumm, dass auch dieses Schreiben vom englischen Geheimdienst abgefangen wurde. Das Komplott war aufgeflogen – und Maria Stuart des Hochverrats überführt! Im Zuge einer Anklage wurden als Erstes Marias Räume gründlich durchsucht, wobei noch allerlei belastendes Material auftauchte. Unter der erdrückenden Beweislast musste sie ihre Schuld schließlich eingestehen. Zwar leugnete sie, die Ermordung ihrer „lieben Cousine“ befürwortet zu haben, gab aber ihre Beteiligung an Babingtons Verschwörung zu. Als Entschuldigung machte sie geltend, man habe sie 19 Jahre lang rechtswidrig eingekerkert, und das habe ihr das Recht gegeben, sich mit allen Mitteln zu befreien. Es half ihr natürlich nicht, Maria hatte den Bogen eindeutig überspannt. Nachdem Babington und seine Komplizen umgehend hingerichtet worden waren, machte man auch Maria den Prozess wegen Hochverrats und verurteilte sie erwartungsgemäß zum Tode. Elisabeth aber zögerte trotzdem, das Urteil zu unterzeichnen, ganze drei Monate lang. Natürlich wusste sie, dass es keine andere Wahl gab, als Maria hinrichten zu lassen, doch am liebsten wäre es ihr gewesen, hätte es eine Möglichkeit gegeben, die Verurteilte still und heimlich beseitigen zu lassen, sozusagen „aus Versehen“. Dann hätte sie ihre Hände in Unschuld waschen können und hätte auch vor dem (katholischen) Ausland „mit weißer Weste“ dagestanden. Doch niemand erklärte sich bereit, diese schmutzige Aufgabe zu erledigen. Am 1. Februar 1587 setzte Elisabeth ihre Unterschrift unter das Todesurteil und besiegelte damit die Hinrichtung ihrer Cousine. Maria nahm
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den Richtspruch mit Fassung auf und erklärte sich bereit, als „Märtyrerin für den katholischen Glauben“ zu sterben.
Auf dem Schafott Eine Woche später, am 8. Februar 1587, sollte sich Marias Schicksal auf dem schottischen Schloss Fortheringay vollenden. Am Morgen ihres Todestages kleidete sie sich in königliche Gewänder, an denen mehrere Rosenkränze befestigt waren, bedeckte ihr Haupt mit einem weißen Schleier und nahm ein elfenbeinfarbenes Kruzifix zur Hand. Dann wurde Maria Stuart in den großen Saal des Schlosses geführt, wo sich bereits zahlreiche Zuschauer versammelt hatten, die Zeugen des grausigen Schauspiels werden wollten. In der Mitte des Saals stand das Schafott, bedeckt mit schwarzen Stoffbahnen. Auch der Richtblock war in ein schwarzes Tuch gehüllt. Zwei maskierte Henker warteten darauf, ihres blutigen Amtes zu walten. Maria Stuart strahlte angesichts ihres Todes eine ungewöhnliche Würde und Ruhe aus, vielleicht zum ersten und einzigen Mal in ihrem Leben. „Tut eure Pflicht“, sagte sie mit fester Stimme, dann kniete sie nieder, sprach ein Gebet und legte ihr Haupt auf den Richtblock. Anders als damals bei Anne Boleyn stand für Marias Hinrichtung kein scharfes Schwert zur Verfügung. Stattdessen wurde ein „kurzstieliges Beil, ähnlich jenen, mit denen man Holz spaltet“, benutzt. Doch der Henker hatte keinen guten Tag. Der erste Schlag ging daneben, traf nur Marias Hinterkopf. Womöglich aber hat er ihr den Halswirbel durchtrennt, sodass sie auf der Stelle tot war. Zwei weitere Schläge waren nötig, dann rollte der Kopf zu Boden. Als der Henker den Haarschopf aufhob, um Marias Haupt der gaffenden Menge zu präsentieren, hielt er nur die Perücke in der Hand. Ein Aufschrei des Entsetzens! Der abgetrennte Kopf blieb liegen, bedeckt mit schütterem, kurz geschorenem Haar, „grau wie das einer Frau von siebzig Jahren“. Marias Leichnam wurde in einen Bleisarg gelegt, der zunächst auf Schloss Fotheringay verblieb, bevor er später in die Kathedrale von Peterborough gebracht wurde. Auf Anordnung ihres königlichen Sohnes Jakob
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wurden die sterblichen Überreste 1612 nach Westminster Abbey überführt, wo Maria Stuart nur wenige Meter von der 1603 gestorbenen Elisabeth I. ihre letzte Ruhe fand. Mit Elisabeths Tod endete die Herrschaft der Tudors, denn wie geplant bestieg jetzt Marias Sohn als Jakob I. den englischen Thron. Bis zum Jahr 1714 entstammten alle englischen Könige der Dynastie der Stuarts. Ironie des Schicksals: Es war ausgerechnet Marias Hinrichtung gewesen, die den Weg dafür freigemacht hatte. Denn nun war das letzte Hindernis, das einer Thronbesteigung der Stuarts im Weg gestanden hätte, endgültig beseitigt: die Tatsache, dass diese Dynastie katholisch war. Jakob I. und seine Nachfolger regierten England und Schottland (wo Jakob VI. ab 1578 regierte) mehr als ein Jahrhundert lang in Personalunion. Erst 1707 wurden beide Länder durch die Verschmelzung der Parlamente zum Vereinten Königreich Großbritannien zusammengeschlossen.
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6 Die Pariser Bluthochzeit – Das Massaker an den französischen Hugenotten Nach dem vorzeitigen Tod König Heinrichs II. von Frankreich liefen alle Fäden in den Händen seiner Witwe Katharina von Medici zusammen. Ihr wichtigstes Ziel war es, die Macht der französischen Krone zu bewahren, die im Konflikt zwischen Katholiken und Hugenotten Schaden zu nehmen drohte. Tatsächlich verfolgte sie über Jahre eine erfolgreiche Politik des Friedens und des religiösen Ausgleichs, die 1572 durch die Hochzeit ihrer Tochter Margarete mit Heinrich von Navarra gekrönt werden sollte. Doch es sollte anders kommen: In der „Bartholomäusnacht“ vom 24. August 1572 wurde aus der geplanten Versöhnung von Katholiken und Hugenotten ein furchtbares Massaker – mit Folgen für den französischen Protestantismus bis heute.
Protestanten auf dem Vormarsch Die wuchtigen Schläge, mit denen Martin Luther am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen an die Wittenberger Schlosskirche gehämmert hat, lösten ein viel größeres Echo aus, als es sich der Reformator in seinen kühnsten Träumen hätte vorstellen können. Sein vergleichsweise bescheidenes Ziel war es ja erst einmal gewesen, auf die Missstände der katholischen Kirche aufmerksam zu machen und allem voran das Ablasswesen anzuprangern,
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mit dem man sich von seinen Sünden loskaufen konnte: „Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt“. Luther konnte nicht ahnen, dass seine Reformideen einen politischen Sturm auslösen würden, der in Mittel- und Westeuropa zu gewaltigen Erschütterungen führte. Schon bald waren in seiner deutschen Heimat zahlreiche Landesherren zum Protestantismus übergetreten, während andere, besonders in Süddeutschland, den alten Glauben beibehielten. Auch im Deutschen Reich mussten zunächst die Waffen sprechen, doch dann hatte man sich auf die salomonische Lösung cuius regio, eius religio geeinigt, frei übersetzt: Der jeweilige Herrscher bestimmt die Religionszugehörigkeit seiner Untertanen. Dieses Modell trug der territorialen Zersplitterung Deutschlands Rechnung und war deshalb nicht auf andere Länder übertragbar.
Hugenotten in Frankreich Auch in Frankreich waren im Laufe der Zeit viele Menschen von der katholischen Lehre abgefallen, doch sie folgten meist nicht dem Augsburger Bekenntnis Martin Luthers, sondern der reformierten Lehre des Schweizer Theologen Johannes Calvin. Noch mehr als die Lutheraner legten die Reformierten großen Wert auf den Inhalt der Bibel. Ihr Zentraldogma war die Prädestination (Erwählung), bei der sich die besondere Auserwählung durch Gott gerade nicht durch gute Werke, aber schon gar nicht durch Müßiggang und ein Leben ohne Fleiß und Arbeit erringen ließ. Indirekt war damit geschäftlicher Erfolg und materieller Wohlstand ein gewisses Indiz für die göttliche Gnade. Die französischen Protestanten bezeichnete man als Hugenotten, abgeleitet vom französischen Wort für „Eidgenosse“ (eygenôt). In Frankreich, wo die Maxime un roi, une loi, une foi (ein König, ein Gesetz, ein Glaube) galt, hatten die Protestanten, anders als in Deutschland, die Staatsgewalt von Anfang an gegen sich. Trotzdem entstanden, besonders in Süd- und Westfrankreich, zahlreiche Hugenotten-Gemeinden. 1561 waren es bereits über 2000. Selbst eine strenge Verfolgung konnte die Ausbreitung der neuen Lehre nicht eindämmen. Gerade den Kaufleuten kam es sehr gelegen, dass Calvin dem Handel und der Finanzwelt so wohlgesonnen war. Doch auch im Adel gab es immer mehr
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Anhänger der neuen Lehre, nicht nur aus religiösen, sondern auch und vor allem aus politischen Gründen. Die zunehmende Macht der Krone, die sich seit der Herrschaft des vitalen Franz I. (1494–1547) abzeichnete, drohte nämlich die althergebrachten Privilegien des Adels einzuschränken. Gerade in Kreisen des südfranzösischen Hochadels war man daher fest entschlossen, im Namen des neuen Glaubens für die Beibehaltung der alten Rechte zu kämpfen. Die Führer dieser Bewegung entstammten der Dynastie der Bourbonen, Verwandte des Königshauses Valois. Galionsfigur der Hugenotten war Jeanne d’Albret (1428–1572), seit 1555 Königin von Navarra, eine Nichte Franz’ I., Gemahlin von Anton de Bourbon und Mutter des späteren Königs Heinrich IV. von Frankreich. An die Spitze der katholischen Partei trat unterdessen das mächtige und weitverzweigte lothringische Herzogsgeschlecht der Guise. Als Speerspitze des Katholizismus wollten die Guise aber nicht nur eine religiöse und politische Spaltung Frankreichs verhindern, sondern auch ihre eigene machtvolle Position bei Hof ausbauen. Karl von Guise, Kardinal von Lothringen, war der erste Minister Franz’ II. (reg. 1559/60) und zugleich sein engster Berater. Schon Franz’ 1559 verstorbener Vater Heinrich II. hatte ein Edikt erlassen, das für Protestanten, die sich weigerten, in den Schoß der katholischen Kirche zurückzukehren, die Todesstrafe vorsah. Franz II. erneuerte das Edikt und verfügte außerdem, dass alle Gebäude, in denen die Versammlungen der Hugenotten stattfanden, zerstört werden sollten. Allein in den letzten Monaten des Jahres 1559 wurden 18 Menschen wegen „unbußfertiger Ketzerei“ bei lebendigem Leibe verbrannt. Hunderte von Hugenotten flohen damals aus Frankreich. Doch diejenigen, die im Lande blieben, begannen sich auf einen Bürgerkrieg vorzubereiten. In den folgenden Jahren wurde Frankreich durch mehrere blutige Hugenottenkriege erschüttert: „Einen ganzen Monat lang tat man nichts anderes, als Leute erhängen und ersäufen“, berichtet eine zeitgenössische Chronik über den März 1560. „Die Loire war mit Leichen bedeckt.“ Beim Blutbad von Vassy im Nordosten Frankreichs wurden im März 1562 alle Hugenotten der näheren Umgebung umgebracht. Erst 1563 beendete das Edikt von Amboise den ersten Hugenottenkrieg. Es räumte den Calvinisten – mit Ausnahme von Paris – Religionsfreiheit ein. Trotzdem gingen auch in den nächsten Jahren Massaker und Kirchenplünderungen auf beiden Seiten weiter.
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Katharina von Medici In dieser blutigen Zeit wurde die französische Krone durch eine willensstarke und selbstbewusste Frau repräsentiert: Königinwitwe Katharina von Medici (1519–1589). 1533 war die erst vierzehnjährige Bankierstochter aus Florenz nach Paris gekommen, um den späteren König Heinrich II. zu heiraten. Katharina hatte es am Hof nicht leicht, sie musste schon kräftig die Zähne zusammenbeißen. Zum einen blickte die höfische Gesellschaft mit leichter Verachtung auf ihre künftige Königin herab, die ja schließlich keinem regierenden Fürstenhaus entstammte und somit nicht ebenbürtig war. Zum anderen konnte Katharina – gewissermaßen als Ausgleich – noch nicht einmal ein attraktives Äußeres vorweisen. Sie war klein, neigte zur Pummeligkeit und hatte einen olivbraunen Teint, der nicht gerade dem höfischen Schönheitsideal entsprach. Zudem besaß sie in der attraktiven Diane de Poitiers, der mütterlichen Mätresse des jungen Heinrich, eine mächtige Rivalin, wenngleich diese 19 Jahre älter war als sie selbst. Aber Katharina verhielt sich in dieser schwierigen Situation äußerst klug. Sie war nett zu jedermann, selbst zu Diane de Poitiers, und hatte auch ihren königlichen Schwiegervater Franz I. auf ihrer Seite, der sich gern mit der intelligenten und unternehmungslustigen Katharina zeigte. Ein Problem war freilich nicht zu übersehen: Katharina wurde einfach nicht schwanger. Doch dann soll ihr, wie es heißt, die erfahrene Diane de Poitiers nicht nur ein paar Tipps gegeben haben, sie sorgte auch dafür, dass Heinrich oft genug das Bett mit seiner Ehefrau teilte. Und endlich, nach mehr als zehnjähriger Ehe war es so weit! 1544 brachte Katharina ihr erstes Kind zur Welt. Es war ein Junge, der später als Franz II. König von Frankreich werden sollte. Es folgten noch neun weitere Kinder, von denen jedoch drei bereits als Säuglinge starben.
Mächtige Königinwitwe Als Franz I. 1547 starb, wurde Katharina an der Seite Heinrichs II. Königin von Frankreich. Die Geburt der Kinder hatte ihre Position gefestigt, und so konnte sie ruhig und selbstbewusst in die Zukunft blicken. Doch dann wendete sich das Schicksal. Im Juli 1559 starb Heinrich II., nachdem er bei
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einem höfischen Turnier eine tödliche Verletzung erlitten hatte. Ihm folgte sein ältester Sohn auf den Thron. Doch auch wenn Franz II. (1544–1560) mit 15 Jahren bereits volljährig war, so hatte ihn doch niemand darauf vorbereitet, das Zepter so schnell in die Hand nehmen zu müssen, zudem in einer politisch extrem schwierigen Zeit. Damit war Katharinas Stunde gekommen. 27 Jahre lang hatte sie am französischen Königshof im Schatten gestanden, jetzt griff sie nach der Macht. Ihr königlicher Sohn Franz II. hatte nichts dagegen einzuwenden. Er besaß weder politischen Ehrgeiz noch eine ausgereifte Persönlichkeit, war schüchtern und kränklich obendrein. Durch seine Ehe mit der Schottin Maria Stuart, einer Tochter von Marie de Guise (vergl. S. 72), drohte der junge König ganz in den Sog dieses mächtigen Herzoggeschlechts zu geraten, zumal Karl von Guise sein wichtigster Berater war. Das jedoch wollte Katharina unbedingt verhindern. Ohnehin stand sie vor einem ganzen Berg von Problemen: Sie musste dafür sorgen, dass die Macht der Krone auch künftig nicht eingeschränkt wurde. Deshalb durften weder die ehrgeizigen katholischen Guise noch die protestantischen Bourbonen an Einfluss gewinnen. Denn letzten Endes zielte auch die Politik der Hugenotten darauf ab, den König von Frankreich auf ihre Seite zu ziehen. Katharina musste also mit vielen Bällen jonglieren. Um die rivalisierenden Parteien in Schach zu halten, schien es ihr am sinnvollsten, sie gleichsam zu neutralisieren, beziehungsweise im Gleichgewicht zu halten. Nur so konnte es zu einem vernünftigen Modus Vivendi, einem Ausgleich zwischen Katholiken und Hugenotten kommen. Der stets kränkliche Franz II. starb bereits 1560 an den Folgen einer Mittelohrentzündung. Jetzt folgte ihm sein zehnjähriger Bruder Karl IX. (1550 –1574) auf den Thron, für den Katharina ganz offiziell die Regentschaft übernahm – und diese faktisch auch beibehielt, nachdem ihr königlicher Sohn volljährig geworden war – ob aus Machtstreben oder aus mütterlicher Fürsorge, sei dahingestellt. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem.
Der Plan von Hugenottenführer Coligny Katharina bemühte sich auch weiterhin, eine Politik des Friedens und des Ausgleichs fortzusetzen. 1570 unterzeichnete Karl IX. den Friedensvertrag
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von St. Germain, der den Hugenotten uneingeschränkte Religionsfreiheit sowie die volle Wählbarkeit in öffentliche Ämter zugestand (der Hof in Paris blieb allerdings katholisch). Den neuen Frieden bekräftigte Katharina mit dem Angebot, ihre Tochter Margarete mit dem prominenten Hugenotten Heinrich von Navarra zu vermählen, dem Sohn von Jeanne d’Albret. Aus diesem Anlass sollte in Paris eine prachtvolle Hochzeit gefeiert werden. Unterdessen war Admiral Gaspard de Coligny (1519–1572) zum militärischen Führer der Hugenotten aufgestiegen, ein Mann, der erst 1559 zum Calvinismus konvertiert war, seinen neuen Glauben dafür aber umso ernster nahm. Als Coligny 1571 an den Pariser Königshof kam, fühlte sich der junge Karl IX. gleich von der charismatischen Persönlichkeit des Hugenottenführers angezogen, und es dauerte nicht lange, da war das Verhältnis zwischen den beiden Männern so eng, dass Karl den 31 Jahre älteren respektvoll „mein Vater“ nannte. Katharina freilich beobachtete die Freundschaft und Colignys wachsenden Einfluss auf ihren königlichen Sohn mit gehöriger Skepsis. Nicht nur, dass sich Karl immer mehr von ihr und ihren Ratschlägen distanzierte, er schien auch den militärischen Plänen nicht abgeneigt, die Coligny ihm einflüsterte. Noch immer war Spanien die stärkste Macht auf dem Kontinent, regiert von Philipp II., einem fanatischen Vertreter des Katholizismus. Zu Philipps Besitz gehörten auch die Niederlande, damals eines der reichsten Länder der Welt, das 1477 durch Erbschaft an die Habsburger gefallen war. Die calvinistische Minderheit des Landes wurde grausam unterdrückt, doch jetzt regte sich Widerstand gegen die verhasste Fremdherrschaft. Seit 1568 wagten die sieben nördlichen Provinzen den Aufstand gegen die katholische Weltmacht, um sich vom Joch der Habsburger zu befreien. Colignys Plan war es nun, die Niederländer beim Freiheitskampf zu unterstützen und gegen Spanien zu kämpfen. Katharina fand diesen Vorschlag schockierend. Gerade erst war es ihr gelungen, Frieden im eigenen Land zu stiften, da wollte sie sich auf keinen Fall auf ein militärisches Abenteuer einlassen, das ihr fein austariertes System zum Einsturz bringen musste. Als Coligny auf seinen Plänen beharrte, beschloss Katharina, zum letzten Mittel zu greifen, um den Admiral zum Schweigen zu bringen.
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Versöhnung von Katholiken und Hugenotten am Altar Unterdessen hatten die Vorbereitungen für die Hochzeit von Margarete und Heinrich längst begonnen. Der Termin war auf den 18. August 1572 festgesetzt, die Feierlichkeiten im Pariser Louvre sollten mehrere Tage dauern. Katharinas Tochter Margarete (1553–1615) – auch unter dem Namen „Margot“ bekannt – liebte eigentlich einen anderen und hatte als gläubige Katholikin nicht die geringste Lust, ihren südfranzösischen Cousin zu heiraten, einen Hugenotten. Doch es blieb ihr keine andere Wahl. Als sie bei einer Gelegenheit davon sprach, wie sehr sie den künftigen Bräutigam ablehnte, hatte sie zu spüren bekommen, dass ihre Mutter nicht ganz so friedliebend war, wie sie sich gern nach außen hin gab. Wenn jemand ihre Pläne durchkreuzen wollte, konnte Katharina zur Furie werden. In rasender Wut hatte die Königin damals ihre Tochter verprügelt, ihr die Kleider zerfetzt, ein Büschel Haare ausgerissen und die Ärmste grün und blau geschlagen. Es war also besser, zu gehorchen. Das große Ereignis warf seine Schatten voraus. Paris bereitete sich auf die bedeutende Hochzeit vor, die Katholiken und Protestanten miteinander versöhnen sollte. Begleitet von Coligny kam Heinrich von Navarra (1553–1610) nach Paris, um dort mit der gleichaltrigen Margarete von Valois vor den Traualtar zu treten und den symbolträchtigen Bund zu schließen. Tausende Hugenotten folgten ihm, was in den Augen der katholischen Pariser schon fast eine Provokation darstellte. Auch die Hochzeit selbst verlief keineswegs störungsfrei. Da sich Heinrich weigerte, an einer katholischen Messe teilzunehmen, musste die Zeremonie auf dem Vorplatz der altehrwürdigen Kathedrale Notre-Dame vollzogen werden. Danach begab sich das frisch gebackene Paar in den Louvre, den Franz I. von einer mittelalterlichen Burg zu einem repräsentativen Renaissanceschloss hatte umbauen lassen. Hier sollte Katharinas großes Versöhnungswerk gebührend gefeiert werden. Die Hochzeitsglocken hatten die gereizte Stimmung, die in Paris herrschte, jedoch nicht zu übertönen vermocht, im Gegenteil. Auch am Königshof ging es alles andere als friedlich zu, denn Coligny hielt nach wie vor an seinen Kriegsplänen fest und beschwor Karl IX., nicht auf die Ratschläge seiner Mutter zu hören.
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Teuflischer Plan Unheil lag in der Luft. Als Coligny am 22. August 1572 den Louvre verließ, um den Heimweg anzutreten, peitschen plötzlich zwei Schüsse durch die Luft. Der Admiral, Ziel des Anschlags aus dem Hinterhalt, hatte Glück. Seine Verletzungen an Arm und Zeigefinger waren nicht lebensbedrohlich. Und doch handelte es sich um eine unmissverständliche Kampfansage: Man trachtete ihm nach dem Leben! Es ist nicht ganz klar, ob Katharina die eigentliche Drahtzieherin des Attentats war. Die Schüsse auf Coligny waren jedenfalls aus einem Wohnhaus der Guise abgefeuert worden, denen sich die Königinwitwe inzwischen wieder angenähert hatte. Auf jeden Fall stand zu befürchten, dass die in Paris anwesenden Hugenotten jetzt Rache nehmen würden. Es hieß, dass sie schon für den kommenden Abend einen bewaffneten Aufstand planten. Jetzt musste alles ganz schnell gehen. Katharina rief mehrere Vertraute zu ihrem Witwensitz, dem Tuilerienschloss westlich des Louvre, wo man in aller Eile einen konspirativen Plan ausheckte. Dort wurde beschlossen, nicht nur Coligny zu ermorden, sondern gleichzeitig alle führenden Hugenotten aus dem Weg zu räumen. Allerdings brauchte man dazu die Zustimmung des Königs. Doch wie sollte man Karl IX. davon überzeugen, dass sein „Vater“ Coligny als gefährlicher Gegner beseitigt werden musste? Immerhin hatte er dessen politische Pläne bislang mitgetragen. Keiner anderen als Katharina selbst konnte es nun gelingen, ihren königlichen Sohn auf Linie zu bringen. Sie kannte die notwendigen Druckmittel. Am späten Abend des 23. August suchte sie Karl in seinen Gemächern auf, um ihn zunächst über den geplanten Hugenottenaufstand zu informieren, bei dem er angeblich gefangen genommen werden sollte. Das war zwar pure Fantasie, zeigte aber die gewünschte Wirkung. Karl IX. befand sich nach dem Anschlag auf Coligny ohnehin schon am Rande eines Nervenzusammenbruchs, jetzt bekam er es erst recht mit der Angst zu tun. Katharina hatte die wunde Stelle ihres Sohnes getroffen. Sie malte ihm in den dunkelsten Farben aus, was dann geschehen würde: Die Hugenotten würden ihn aus Paris verschleppen und auf einer entlegenen Festung gefangen setzen. Anschließend würden sie die Königinwitwe töten, in der sie ja nicht ganz zu Unrecht die Drahtzieherin des Anschlags auf Coligny
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vermuteten. So stellte Katharina ihren Sohn vor die Wahl: Was war ihm wichtiger – das Leben Colignys oder das seiner eigenen Mutter? Nun sei die Stunde der Entscheidung gekommen. Doch Karl wand sich, fragte, ob es nicht genüge, die Hugenottenführer zu verhaften und in einem ordentlichen Gerichtsverfahren zu verurteilen. Doch Katharina blieb hart. Dafür, beschied sie ihm, sei es bereits zu spät und drohte: Sollte Karl sich weigern, seine Zustimmung zur Ermordung der Hugenotten zu geben, dann würde sie Paris verlassen, zurück nach Italien gehen und ihn seinem Schicksal überlassen. Jetzt war Karl endgültig mit den Nerven am Ende. Wie von Sinnen schrie er: „Bei Gottes Tod! Da Ihr den Admiral töten wollt, willige ich ein! Aber dann müsst Ihr alle Hugenotten in Frankreich töten, sodass keiner zurückbleibt, um mir Vorwürfe zu machen … Tötet sie alle! Tötet sie alle!“ Dann rannte er davon und verschloss die Tür hinter sich …
Die Bartholomäusnacht Damit war die Entscheidung gefallen. In den frühen Morgenstunden des nächsten Tages, dem Tag des hl. Bartholomäus, sollten die Kirchenglocken von St. Germain d’Auxerre den Beginn des Massakers einläuten. Katharina gab den Guise freie Hand und bestand lediglich darauf, ihren Schwiegersohn Heinrich von Navarra zu verschonen. Damit niemand entkommen konnte, sollten alle Stadttore rechtzeitig geschlossen werden. Margarete von Valois, die frisch gebackene Gemahlin Heinrichs von Navarra, berichtete später in ihren Memoiren, wie sie den Abend erlebt hatte: „Den Hugenotten war ich verdächtig, weil ich katholisch war, und den Katholiken, weil ich den König von Navarra geheiratet hatte. Ich wurde über alles im Dunkeln gelassen, bis zu dem Abend, als ich dem coucher der Königin, meiner Mutter, beiwohnte und auf der Sitzbank neben meiner Schwester, der Herzogin von Lothringen, saß, die überaus traurig aussah. Meine Mutter, die Königin, sagte, ich solle schlafen gehen. Als ich mich vor ihr verbeugen wollte, hielt meine Schwester mich zurück, indem sie meinen Arm ergriff, heftig zu weinen begann und zu mir sagte: ,Um Gottes Willen, Schwester, bitte geht nicht!‘ Das erschreckte mich sehr. Meine Mutter, die Königin, gewahrte es, rief meine Schwester zu sich, tadelte sie mit strengen Worten und verbot ihr, mit mir zu sprechen. Darauf
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erwiderte meine Schwester, es gäbe keinen Grund, mich so großer Gefahr auszusetzen, und wenn die Leute etwas bemerken würden, würden sie sich gewiss an mir rächen. Die Königin, meine Mutter, antwortete, mir werde kein Leid zugefügt werden, so es Gott gefiel, ich müsse mich aber, was immer geschähe, unter allen Umständen in meine Gemächer zurückziehen, um keinen Verdacht zu erregen, da dies den Erfolg des Unternehmens gefährden könnte …“ Margarete gehorchte, begab sich in größter Unruhe zu Bett, fand zunächst jedoch keinen Schlaf, weil sie wusste, dass etwas Schreckliches geschehen würde. Paris lag noch in nächtlicher Ruhe, als sich unter der Führung von Heinrich von Guise 300 bewaffnete Katholiken auf den Weg zum Haus machten, in dem sich der ahnungslose Coligny aufhielt. Sie brachen die Türen auf, stürmten die Räume – und fanden den Admiral in seinem Schlafzimmer kniend ins Gebet versunken. In rasender Wut stürzten sich die Soldaten auf den Hugenottenführer, einer rammte ihm seinen Degen in den Leib, andere stachen mit Dolchen auf ihn ein. Dann warfen sie Coligny aus dem Fenster. Erst jetzt war er tot. Eine aufgebrachte Menge stürzte sich auf den Leichnam, trennte den Kopf ab und zerstückelte den Körper bis nur noch eine blutige Masse auf dem Pflaster lag. Das aber war erst der Anfang, denn nun gab Heinrich von Guise das verabredete Zeichen, um mit dem eigentlichen Gemetzel zu beginnen: „Tötet! Tötet! Der König befiehlt es!“ Um drei Uhr morgens läuteten die Sturmglocken das schlimmste Blutbad ein, das Paris jemals erlebt hatte. Zwischen 2000 und 5000 Menschen fielen dem Massaker der „Bartholomäusnacht“ zum Opfer, überwiegend Hugenotten, aber auch Katholiken, mit denen man aus anderen Gründen abrechnen wollte. Jetzt konnten lang geplante Morde straflos verübt werden. Bald türmten sich auf den Pariser Straßen die Leichenberge. „Während ich das hier schreibe“, notierte der spanische Gesandte am Königshof, „töten sie alle, reißen ihnen die Kleider vom Leib und verschonen nicht einmal die Kinder.“ Auch im Louvre, wo die adligen Hugenotten und Offiziere einquartiert waren, die im Gefolge Heinrichs von Navarra nach Paris gekommen waren, tobte der unbändige Hass. Keiner von ihnen kam mit dem Leben davon. Nur Heinrich selbst wurde verschont, wie es Katharina gefordert hatte. Man zwang ihn jedoch, sich zu unterwerfen und seinem protestantischen Glauben abzuschwören.
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AUSBLICK
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Es schien, als wollte das Blutbad gar kein Ende nehmen. Nicht nur in Paris, auch in den Provinzen wurden die Hugenotten abgeschlachtet, in Lyon, Dijon, Orleáns, Blois, Tours und anderswo. Die Gesamtzahl der Toten schwankt zwischen 6000 und 30 000 Ermordeten.
Ausblick Die Gräueltaten der Bartholomäusnacht erreichten freilich nicht ihr eigentliches Ziel, zumal das französische Königtum jetzt in hilflose Abhängigkeit von der katholischen Partei der Guise geriet. Vielmehr formierten sich die Hugenotten unter der Führung Heinrichs von Navarra erneut zum Widerstand. Am 6. Juli 1573 musste Karl IX. den Frieden von La Rochelle unterzeichnen, der den Hugenotten Religionsfreiheit garantierte. Ein Jahr später starb der junge König, der schon seit längerem an Tuberkulose erkrankt war. Jetzt wurde Katharinas dritter Sohn, der 1551 geborene Heinrich III., neuer König von Frankreich, bis er 1589 nach einer glücklosen Herrschaft einem Attentat zum Opfer fiel, wenige Monate nach dem Tod seiner Mutter Katharina von Medici. Mit Heinrich III. starb das Königshaus Valois aus. Aus dem Kampf um die französische Krone ging schließlich Heinrich von Navarra als Sieger hervor. Das hätte der Sieg des Protestantismus in Frankreich sein können, aber dazu fehlte die nötige Basis in der Bevölkerung. Heinrich IV. aus der Dynastie der Bourbonen schätzte die Situation des Landes durchaus richtig ein: Nur ein katholischer Monarch würde die Einheit des Landes, das überwiegend dem alten Glauben anhing, wiederherstellen und Frieden bringen können. Mit dem berühmt gewordenen Satz „Paris ist eine Messe wert“ trat er deshalb zum Katholizismus über. Sein Regierungsprogramm hieß Versöhnung. Im Edikt von Nantes 1598 bestätigte er die katholische Konfession als Staatsreligion Frankreichs, gewährte aber den Reformierten Gewissensfreiheit, eine beschränkte Ausübung ihrer Gottesdienste und mehrere befestigte Plätze, darunter das südwestfranzösische La Rochelle an der Atlantikküste. Als Staatsbürger waren die Hugenotten den Katholiken künftig gleichgestellt. Nach langen Wirren kam Frankreich jetzt endlich wieder zur Ruhe. Doch die Protestanten blieben auch künftig nur eine kleine Minderheit. Heute zählt die Reformierte Kirche in Frankreich lediglich rund 350 000 Mitglieder.
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7 Arsen im Spitzentüchlein – Ein Mordkomplott am Hof des Sonnenkönigs droht das Ansehen Ludwigs XIV. zu beschädigen
Der glanzvolle Hof von Versailles galt in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts als großes Vorbild für Fürsten in Europa. Man imitierte die Architektur des prächtigen Barockschlosses, setzte sich Allongeperücken auf und nahm sogar offiziell eine Mätresse, um mithalten zu können. Was aber keiner wusste: Hinter den Fassaden von Versailles taten sich Abgründe auf. Die höfische Gesellschaft hatte eine zweifelhafte Vorliebe für okkulte Praktiken, nahm an Schwarzen Messen teil, griff gern zu Liebestränken und scheute selbst vor obskuren Pülverchen nicht zurück, um unliebsame Rivalen ins Jenseits zu befördern. Selbst die Mätresse Ludwigs XIV. stand in Verdacht, eine skrupellose Giftmörderin zu sein.
Der „Sonnenkönig“ Damals blickte ganz Europa fasziniert nach Versailles, wo Frankreichs König Ludwig XIV. (1638–1715) residierte und repräsentierte. Er war der „Sonnenkönig“, der Mittelpunkt des (französischen) Universums, seine Ausstrahlung verhalf den adligen Untertanen zu Prestige und Ansehen, sie
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spiegelten sich in seinem Glanz. Ludwig XIV. selbst hatte die Sonne zu seinem Symbol gewählt, weil nichts besser seinen absolutistischen Regierungsstil wiedergab. Später schrieb er in seinen Erinnerungen: „Könige sind die souveränen Richter über das Glück und die Führung der Menschen, sie sind absolute Herren und haben die volle und freie Verfügung über die Güter ihrer Untertanen, weltlicher und geistlicher.“ Kennzeichnend für den Absolutismus war es, dass alle Staatsgewalt allein dem rechtmäßigen Herrscher zustand und von ihm ausging. Der Überlieferung nach soll Ludwig XIV. seine Position kurz und knapp mit dem Satz „L’état c’est moi – Der Staat bin ich“ umschrieben haben.
Die Macht der Kardinäle Das war nicht immer so gewesen. Noch hundert Jahre zuvor hatten blutige Religionskriege Frankreich geschwächt und gespalten (vergl. Kapitel 6). Erst Ludwigs Großvater, dem „guten König“ Heinrich IV., war es gelungen, dem Land nach dem Grauen der Bartholomäusnacht wieder Frieden und Versöhnung zu bringen. Doch nachdem Heinrich IV. 1610 dem Anschlag eines Fanatikers zum Opfer gefallen war, schien die Zukunft Frankreichs völlig ungewiss. Für den erst neunjährigen Thronfolger Ludwig XIII. (1601–1643) übernahm zunächst Königinwitwe Maria von Medici die Regentschaft; 1624 ernannte er dann den energischen Kardinal Richelieu zu seinem ersten Minister. Und der setzte nun entscheidende Akzente. Richelieu sah es als seine wichtigste Aufgabe an, die Macht des Staates nach innen und außen zu stärken, vor allem aber die besondere Machtstellung, die der französische Hochadel neben der Krone innehatte, zu beseitigen. Gleichzeitig zerbrach Richelieu auch den politischen Einfluss der Hugenotten, die seit dem Edikt von Nantes (1598) durch gewisse Zugeständnisse, etwa die Garantie befestigter Rückzugsorte, einen Staat im Staate gebildet hatten. 1628 entriss er ihnen die Festung La Rochelle an der Loiremündung, erlaubte aber weiterhin die freie Ausübung ihrer reformierten Religion (bis Ludwig XIV. 1685 das Edikt von Nantes widerrief). Als Richelieu 1642 starb, hinterließ er einen gefestigten Staat, in dem sich die königliche Zentralgewalt gefestigt hatte. Das Werk Richelieus wurde von Kardinal Mazarin fortgesetzt. Der wurde nach dem Tod Ludwigs XIII.
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WETTSTREIT UM DIE GUNST DES KÖNIGS
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erster Minister des erst fünfjährigen Ludwig XIV., bis 1661 die Alleinregierung des jungen Monarchen begann. Frankreichs Adel behielt zwar seine wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Privilegien, hatte aber alle politische Macht verloren und war künftig allein von der Gunst des Königs abhängig. Von nun an drängten Frankreichs Aristokraten an den Hof, um dort ihren „Platz an der Sonne“ zu finden.
Wettstreit um die Gunst des Königs Schloss Versailles war die „Bühne“ des Sonnenkönigs, glanzvoller Ausdruck seiner absoluten Machtstellung. Hier lebten zwischen 8000 und 10 000 Menschen: die königliche Familie, der Hochadel, ausländische Gesandte und natürlich ein Stab von Bediensteten. Damit sich die Herrschaften nicht zu Tode langweilten, wurden tagtäglich Lustbarkeiten veranstaltet: Feste, Maskenbälle, Theateraufführungen, Jagden und Gondelfahrten. Doch diese Veranstaltungen dienten keineswegs dem persönlichen Vergnügen, sie zeigten nur, dass sich die Damen und Herren der Gunst des Königs erfreuten. Ein Adliger, der längere Zeit nicht bei Hofe erschien, fiel in Ungnade und wurde zum gesellschaftlichen „Nobody“. Durch die Lustbarkeiten, aber auch durch das Hofzeremoniell, band Ludwig XIV. den Hochadel an sich. Der gesamte Tagesablauf war bis ins kleinste Detail von der höfischen Etikette geregelt. Es begann mit dem morgendlichen Aufstehen des Königs, dem Lever, einer ganz und gar nicht privaten Angelegenheit. Hunderte von Höflingen drängten sich Tag für Tag vor dem königlichen Schlafgemach, um gruppenweise nacheinander vorgelassen zu werden, teils als bloße Zuschauer, teils aber auch als „aktive Assistenten“. Nur besonders Privilegierte hatten das Recht, dem Monarchen beim Ankleiden behilflich zu sein und ihm beispielsweise das Handtuch oder ein Kleidungsstück zu reichen. Doch das konnte sich von Tag zu Tag ändern. Wer an einem Tag noch die Ehre gehabt hatte, das königliche Nachthemd beiseitezulegen, durfte womöglich am nächsten Tag dem Lever nur noch aus der letzten Reihe zuschauen. Dieser ständige Wettbewerb um die Gunst des Königs schuf natürlich eine ungesunde Atmosphäre der Rivalität, der gegenseitigen Verleumdun-
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gen und Verdächtigungen. Während die Herren in der Regel einen lukrativen Posten bei Hof suchten, bemühten sich vor allem die jungen Damen um eine eher intime Beziehung zum König, um ein Plätzchen in seinem Bett.
Madame de Montespan, die Mätresse des Königs Seit 1660 war Ludwig XIV. mit der Habsburgerin Maria Theresia (1638– 1683) verheiratet. Es war eine jener politischen Verbindungen, wie sie damals in Königshäusern gang und gäbe waren. Maria Theresia brachte sechs Kinder zur Welt, drei Söhne und drei Töchter, die aber bis auf den 1661 geborenen Ludwig († 1711), den Ältesten, schon im frühen Alter starben. Für Abwechslung im königlichen Bett sorgten derweil attraktive Gespielinnen, die meist aber schon nach kurzer Zeit wieder aus dem Schlafgemach Ludwigs XIV. verschwanden. Nur wenigen Damen gelang es, das Herz des Monarchen zu gewinnen und so zur offiziellen königlichen Mätresse aufzusteigen, einer durchaus einflussreichen Stellung am Hof des Sonnenkönigs. Die erste Hofdame, in die sich Ludwig verliebte, war die sanfte Louise de la Vallière (1644–1710). Sie schenkte dem König zwei Kinder, die er auch beide legitimierte. Doch auf Dauer vermochte Louise den vitalen Monarchen nicht zu fesseln, denn schon um 1667 erwuchs ihr in der schönen Françoise-Athénaïs de Montespan (1641–1707), Hofdame von Königin Maria Theresia, eine ernst zu nehmende Konkurrentin. Die Montespan galt als eine der schönsten und geistvollsten Frauen ihrer Zeit. Zunächst mochte sich Ludwig nicht entscheiden, sodass man am Hof schon von den „drei Königinnen“ zu spotten begann. Doch dann fiel seine Wahl tatsächlich auf die kluge und amüsante Montespan, woraufhin sich die Vallière stillschweigend in ein Pariser Kloster zurückzog, wo sie den Rest ihres Lebens verbrachte. Der höfische Beobachter Visconti beschrieb Madame de Montespan als „schön, geistreich und immer zu Spott aufgelegt. Ihr größter Reiz war ihre Grazie, ihr Witz und eine bestimmte Art zu scherzen.“ Die Scharfzüngigkeit der Montespan war bekannt und gefürchtet. Als königliche Mätresse spielte sie künftig eine zentrale Rolle im höfischen Unterhaltungsbetrieb, auch und vor allem als Trendsetterin für die
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neuesten Modekreationen wie die hurluberlu genannte Haartracht, die sie im März 1671 bei Hof einführte. Nahezu der ganze weibliche Hofstaat trug damals die hurluberlu-Frisur mit den üppigen Locken an beiden Seiten des Gesichts, ein untrügliches Anzeichen dafür, wie sehr die Montespan in der Gunst des Königs stand. Ihre Roben waren auffallend reich bestickt und farbenfroh, die zierlichen Füße steckten in Stöckelschuhen, das Haar war in Locken gedreht, parfümiert, mit Schleifen und Perlen geschmückt. Doch auch andere Damen setzen Modetrends, wenn auch nicht immer freiwillig, wie die königliche Schwägerin Liselotte von der Pfalz (1652–1722) im Dezember 1776 an ihre Tante Sophie nach Hannover schrieb: „Dieses macht auch, dass ich jetzt sehr à la mode bin, denn alles, was ich sage und tue, das admirieren die Hofleute, auch das, wie ich mich jetzt bei dieser Kälte bedacht, meinen alten Zobel anzutun, um wärmer um den Hals zu haben, so lässt jetzt jedermann auch einen machen, und es ist die größte Mode; welches mich wohl lachen macht, denn eben dieselben, so jetzt diese Mode admirieren und selber tragen, haben mich vor fünf Jahren ausgelacht und so sehr meinen Zobel beschrieen, dass ich ihn seither nicht mehr hab antun dürfen. So geht’s hier an diesem Hofe zu, wenn die courtisans sich einbilden, dass einer en faveur ist, so mag einer auch tun was er will …“ Als die höfischen Damen ihren Zobelpelz wieder ablegten, war das ein untrügliches Zeichen dafür, dass sich Liselotte nicht mehr der Gunst des Sonnenkönigs erfreute. Derweil erschien die Montespan ganz in Gold gehüllt, wie die aufmerksame Beobachterin Madame de Sévigné an ihre Tochter schrieb: „Gold auf Gold, mit Gold gestickt, mit Gold eingefasst und darüber ein gekräuseltes Gold, das wiederum mit einem gewissen anderen Gold gemischt war. Es ist der göttlichste Stoff, den man sich denken kann.“ Damals befand sich Madame de Montespan auf dem Höhepunkt ihrer Karriere als königliche Mätresse. Die höfische Gesellschaft folgte nicht nur ihren Modetrends, sie suchte auch ihre Nähe, um Kontakte zum König herzustellen, eine höchst einflussvolle Position. Sechs Kinder hatte sie zusammen mit Ludwig XIV., die auch alle von ihm anerkannt wurden. Doch die zahlreichen Schwangerschaften hinterließen ihre Spuren. Die schlanke Taille der Montespan war schließlich dahin, und sie hatte größte Mühe, ihre überflüssigen Pfunde in den prachtvollen Roben zu verbergen. Ab 1678 begann ihr Stern zu sinken. So schrieb der italienische Gesandte Vis-
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conti: „Der König war Madame de Montespans müde geworden. Sie hatte eine Macht über ihn gewonnen, die zu einer Art Beherrschung geworden war. Durch zwei weitere Kinder war sie mittlerweile so beleibt, dass ich, als ich sie eines Tages aus der Karosse steigen sah, bemerken konnte, dass ihr Bein fast so dick war wie ich selber … Sie hatte die Gewohnheit, sich jeden Tag zwei bis drei Stunden mit Pomaden und Parfums einreiben und parfümieren zu lassen, während sie nackt auf dem Bett lag. Es kostete den König bereits Mühe, sie in seiner Kutsche mitzunehmen und ihr die Hand zu reichen, was er allerdings bei der Königin nicht tat.“ Mehr und mehr interessierte sich der König jetzt für andere Damen. Da war zum einen die niedliche Marie-Angelique de Fontanges (1661–1681), die Ludwig mit ihrer jugendlichen Anmut verzauberte. Vorübergehend wurde sie zur neuen Trendsetterin am Königshof, indem sie eine außergewöhnliche Frisur kreierte. Während eines Jagdausflugs mit Ludwig XIV. war ihre Haarpracht bei stürmischem Wetter zerzaust worden, sodass ihr keine andere Wahl blieb, als das Haar auf dem Kopf hochzubinden. Der König deutete offenbar an, dass er das ganz reizvoll fand, und die Damen beeilten sich, die „Fontanges-Frisur“ zu imitieren. Françoise-Athénaïs de Montespan sah nur noch eine Möglichkeit, ihre Position zu halten, und das war Klatsch und üble Nachrede. Wann immer sie sich von einer Rivalin bedroht fühlte, verbreitete sie lasterhafte Geschichten über die Betreffende, unterstellte ihr unrühmliche ansteckende Krankheiten oder einen unsoliden Lebenswandel. Diesmal aber verfing ihre Strategie nicht, im Gegenteil. Diesmal wurde die Montespan selbst zum Opfer übler Nachrede.
Ein tödlicher Trank? Schon seit geraumer Zeit kursierten Geschichten am Hof von Versailles. Die Rede war von allerlei Hexenkünsten, magischen Praktiken und noch viel schlimmeren Dingen. Eigentlich hätte man annehmen können, dass mit dem Zeitalter der Aufklärung eine Ära der Vernunft angebrochen wäre, die den alten Aberglauben mit einem frischen Wind weggeblasen hätte. „Cogito ergo sum – Ich denke, also bin ich“ lautete das Credo des französischen Philosophen René Descartes (1596–1650), Quintessenz
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einer neuen rationalistischen Sichtweise, die den Menschen als handelndes Subjekt betrachtete und nicht mehr als bloßes Objekt eines von Gott bestimmten Weltgeschehens. Doch gerade die Gelehrten waren der festen Überzeugung, dass es jenseits von Verstand und Sinneswahrnehmung noch etwas anderes geben müsse, etwas, was gleichsam „die Welt zusammenhält“. Man glaubte an einen noch unerforschten göttlichen Geist, der sich auch durch das Einwirken der Gestirne auf das irdische Geschehen manifestierte. Bücher über diese sogenannten „okkulten Wissenschaften“ waren die Bestseller des Barock. Kein Wunder also, dass Alchemisten und Astrologen Hochkonjunktur hatten, aber auch Wahrsager und Händler von Liebestränken oder Schönheitspülverchen konnten sich kaum über Mangel an Nachfrage beschweren. Ihre Kundschaft kam nicht selten aus den höchsten Kreisen bei Hofe, und nicht immer hatten sie das Gewinnen der großen Liebe oder ewiger Schönheit im Sinn. Genauso üppig florierte nämlich der Handel mit Giftstoffen. Am beliebtesten war das Arsen, im Übrigen die älteste Mordwaffe der Geschichte. Arsen hat den unschlagbaren Vorteil, dass es völlig geruchund geschmacklos ist, sodass es problemlos Speisen und Getränken beigemischt werden konnte. Man hatte dabei die Wahl, entweder eine tödliche Dosis zu verabreichen oder sein Opfer ganz langsam zu vergiften. Die Symptome wie Übelkeit, Erbrechen und heftige Durchfälle erregten bei dem Opfern meist keinen Verdacht, denn in Zeiten mangelhafter Hygiene und schlechter Wasserqualität kamen solche Magen- und Darminfekte öfter einmal vor. Bei unerklärlichen Todesfällen jedoch verbreitete sich rasch das böse Gerücht, es sei wohl Gift im Spiel gewesen. Und genau das passierte auch nach dem frühen Tod der erst zwanzigjährigen Marie-Angelique de Fontanges, die vorübergehend zur Favoritin Ludwigs XIV. avanciert war. Sie hatte ein Kind zur Welt gebracht und sich dann nicht mehr von der schweren Geburt erholt. Doch am Hof kursierten Gerüchte, die arme Fontanges sei vergiftet worden – und zwar von ihrer eifersüchtigen alternden Rivalin, der Montespan. Ezechiel Spanheim (1629–1710), Gesandter des Kurfürsten von Brandenburg am französischen Hof, schrieb damals nach Berlin: „Sie hat eine bedauerliche Krankheit gehabt, die ihr von ihrem ersten Wochenbett geblieben war, und die ein ziemlich verbreitetes Gerücht, das vielleicht unbegründet war, einem Trank zuschrieb, der ihr auf heimlichen Befehl der Madame de Montespan
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verabreicht worden wäre. Durch den Tod der Fontanges oder aus einem anderen Grund änderte sich die Zuneigung des Königs und machte den Weg frei für eine andere …“ Doch wie kam die Hofgesellschaft überhaupt dazu, die Montespan des Giftmords zu verdächtigen? War es pure Gehässigkeit, oder gab es womöglich konkrete Anhaltspunkte?
Die Giftmischerszene von Paris Fünf Jahre zuvor hatte man die Machenschaften einer skrupellosen Pariser Giftmischerin aufgedeckt. Der Adligen Marie-Madeleine de Brinvilliers konnte 1676 in einem umfassenden Prozess nachgewiesen werden, dass sie sowohl ihren Vater als auch zwei Brüder, ihre Schwester und eine Schwägerin mit Gift umgebracht hatte. Ihr Liebhaber Godin de Sainte-Croix, der ihr dabei geholfen hatte, konnte jedoch nicht mehr belangt werden. Der war vermutlich in seinem Alchemistenlabor an giftigen Gasen erstickt, als er dabei war, nach dem Stein der Weisen zu suchen, jener Substanz, mit der man nach allgemeiner Überzeugung Blei in Gold verwandeln konnte. In seinen Unterlagen jedoch fanden die Ermittler aufschlussreiche Papiere, die Madame de Brinvilliers schwer belasteten. So konnte die gefährliche Giftmischerin kurze Zeit später aufgespürt, verhaftet und schließlich hingerichtet werden. Mit der Zeit wäre der Pariser Giftskandal vermutlich in Vergessenheit geraten, hätte sich nicht herausgestellt, dass die Brinvilliers Kontakte zu den höchsten Gesellschaftskreisen gehabt hatte, bis hinauf zum Hof von Versailles! Als auf diese Weise immer mehr Verbrechen ans Licht kamen, sah sich Ludwig XIV. im April 1679 gezwungen, eine geheime Sonderkommission ins Leben zu rufen, die die scheußlichen Taten aufklären und für eine gerechte Verurteilung der Angeklagten sorgen sollte. An ihrer Spitze standen der Pariser Polizeikommissar Nicholas de La Reynie sowie der königliche Kriegsminister de Louvois. La Reynie war schon 1677 auf einen internationalen Großhandel mit Giftstoffen gestoßen, der sich auf Paris konzentrierte. So war er auch auf das Geschäft von Madame La Voisin aufmerksam geworden, einem beliebten heimlichen Treffpunkt der höfischen Gesellschaft. Madame verfügte über zahlreiche Fähigkeiten. Sie
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konnte die Zukunft voraussagen, ungewollte Schwangerschaften abbrechen, Liebes- und Schönheitstränke zusammenbrauen, aber auch tödliche Giftcocktails mixen. Die La Voisin wurde umgehend verhaftet und einem Verhör unterzogen, bei dem sie allerlei Namen ihrer hochherrschaftlichen Kunden preisgab. Visconti schrieb damals über die Arbeit der Untersuchungskommission: „Außer nach Vergiftungsfällen fahndete sie nach Aberglauben und sonstigen Lastern. Ganz Frankreich zitterte, als sogar Prinzessinnen und Marschälle aufgrund eines einfachen Verdachts die Flucht ergriffen oder im Gefängnis landeten. Ich versichere Ihnen, dass unzählige Damen schlaflose Nächte verbrachten und viele Männer noch viel schlimmer dran waren …“
Bund mit dem Teufel Einer von ihnen war Marschall François-Henri de Montmorency-Luxembourg (1628–1695), der zu den erfolgreichsten Heerführern Ludwigs XIV. zählte. Er hatte sich zwar kein Gift besorgt, soll sich aber mithilfe der La Voisin anderer Hexenkünste bedient haben, und war daraufhin von Kriegsminister Louvois in der Bastille eingekerkert worden. Madame de Sévigné schrieb am 30. Juli 1680 an einen Vertrauten über das Klima, das damals am Königshof herrschte: „Da wir schon von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit reden: Haben Sie aus der Ferne nicht den Eindruck, als atmeten wir hier alle nichts als Gift ein und als lebten wir in einer Umgebung von Gotteslästerung und Fehlgeburten? Wirklich, ganz Europa ist dies ein Gräuel, und die, die in hundert Jahren über uns lesen werden, werden diejenigen beklagen, die Zeugen dieser Beschuldigungen geworden sind. Sie wissen, wie der arme Luxembourg sich freiwillig der Bastille ausgeliefert hat … Er kam von St. Germain; unterwegs begegnete er Madame de Montespan. Beide stiegen aus ihrer Kutsche, um freier sprechen zu können; er weinte heftig. Dann ging er zu den Jesuiten. Er bat mehrere Priester, er betete zu Gott in der Kirche und immerfort strömten seine Tränen. Bald wusste er auch nicht mehr, welchen Heiligen er noch anrufen sollte … Er sagte …, dass er nach einem solchen Unglück nie wieder in die Welt zurückkehren werde …“ Kein Wunder, auf dem armen Mann lastete ein schrecklicher Verdacht: Man klagte ihn an, er habe durch die Vermittlung von Madame
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La Voisin einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und seine Seele verkauft, um die Gunst des Königs zu gewinnen! Wie es hieß, habe er 1670 das unrühmliche Geschäft mit dem Satan gemacht, einen über zehn Jahre laufenden Vertrag. Als „Beweis“ wurde vorgebracht, dass Luxembourg in diesem Zeitraum beachtliche militärische Erfolge gehabt habe, doch nun sei diese Glückssträhne zu Ende. Die Ankläger konnten sogar einen richtigen Vertrag mit der Unterschrift des Marschalls zutage fördern! Es ist nicht bewiesen, ob sich Luxembourg mithilfe der La Voisin tatsächlich übersinnliche Kräfte verschaffen wollte oder ob es sich um eine böse Unterstellung neidischer Zeitgenossen handelte. Er wäre nicht der Erste gewesen, dem man einen „Pakt mit dem Teufel“ nachgesagt hätte. Bekanntlich hatte man das Gleiche schon von dem „Wunderdoktor“ Georg Johannes Faust behauptet, dem historischen Vorbild von Goethes berühmten Titelhelden. Auch der Kölner Gelehrte Agrippa von Nettesheim (1486– 1535) stand in Verdacht, mit dem Satan paktiert zu haben, der ihm in Gestalt seines schwarzen Hundes zudem auf Schritt und Tritt gefolgt sein soll. Ähnlich wie der Hexenglaube war auch der „Pakt mit dem Teufel“ ein Produkt der frühen Neuzeit. Während man den Frauen gerne eine „Teufelsbuhlschaft“ unterstellte, um „schwarze Magie“ und Schadenszauber zu betreiben, gerieten gelehrte Männer bisweilen in Verdacht, sich vom Satan die Erweiterung ihrer Kenntnisse zu erkaufen, oder, wie es bei „Faust“ heißt: „Dass ich erkenne, was die Welt / im Innersten zusammenhält“ (Faust I, Vers 382). Leider stellte sich dann aber heraus, dass zu viel gelehrtes Wissen direkt in die Hölle führte … Dieses Schicksal ist dem armen Marschall Luxembourg zum Glück wohl erspart geblieben. Zwar fiel er vorübergehend in Ungnade, aber da sich ein Teufelspakt letzten Endes nicht nachweisen ließ, und Ludwig XIV. die militärischen Qualitäten des Marschalls dringend benötigte, wurde er später rehabilitiert und durfte an die Front zurückkehren.
Liebespulver und ein vergifteter Stoff Zu den Damen, die, wie es Visconti formuliert hatte, „schlaflose Nächte verbrachten“, gehörte auch Madame de Montespan, vor allem, seitdem am
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5. Juli 1680 in einem Verhör auch ihr Namen gefallen war. Als die königliche Mätresse befürchten musste, die Gunst Ludwigs XIV. zu verlieren, sei sie in den Laden der La Voisin gekommen und habe um Rat gefragt. Die La Voisin habe ihr daraufhin einen Liebestrank verkauft und sie dann an ihren Komplizen Abbé Guibourg weiterverwiesen, einen Spezialisten für schwarze Messen, bei denen angeblich neugeborene Kinder geopfert wurden und andere Schrecklichkeiten mehr. Die Montespan habe das alles mitgemacht, um die Liebe des Königs zu erzwingen. Doch als alles nichts half, habe sie schließlich den Auftrag erteilt, Mademoiselle de Fontanges mit einem Stück Seide zu vergiften. Zwei Männer, die sich als Stoffhändler ausgaben, sollen der jungen Frau das präparierte Stück zum Verkauf angeboten haben. Der Stoff war mit Gift versetzt, das den, der es berührte, zu einem langsamen Tod verurteilte. Doch nach Aussage der La Voisin war alles noch viel schlimmer, denn angeblich wollte die Montespan zuletzt auch am König selbst Rache nehmen und ihn vergiften. Hatte sie womöglich eine Prise Arsen in ihren Spitzentüchlein versteckt? Nun war eine stadtbekannte Giftmischerin nicht die Glaubwürdigkeit in Person. Doch ihre Tochter Marguerite sollte zumindest die Sache mit dem Liebestrank bestätigen: „Meine Mutter war mehrmals in Versailles …, um Madame de Montespan Liebespulver, die unter dem Messkelch präpariert wurden und für den König bestimmt waren, zu bringen …“ Misstrauisch wurde man jedoch, als Mademoiselle Fontanges wenig später schwerkrank Versailles verließ, um sich in das nahe gelegene Zisterzienserinnenkloster Pont Royal zurückzuziehen. Ihr erbarmungswürdiger Zustand machte eine Vergiftung durchaus glaubwürdig. Aber die Untersuchungskommission konnte die Anschuldigen weder beweisen noch enthärten, dazu waren die Aussagen der Befragten viel zu widersprüchlich, und die La Voisin selbst hatte man schon im Februar 1680 auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Schließlich verfasste Polizeikommissar de La Reynie einen wenig befriedigenden Abschlussbericht: „Bei der Prüfung der Beweise und Mutmaßungen habe ich getan, was ich konnte, um mich davon zu überzeugen, dass sie mit der Wirklichkeit übereinstimmen, und es ist mir nicht gelungen. Andererseits habe ich alles untersucht, was darauf hätte hindeuten können, dass sie der Wahrheit nicht entsprächen, und auch das war mir nicht möglich.“
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Ludwig XIV. konnte mit diesem Ergebnis kaum zufrieden sein. Nur allzu gern hätte er gewusst, ob ihm seine Mätresse tatsächlich nach dem Leben trachtete oder nur von böswilligen Hofschranzen verleumdet worden war. In ihrer exponierten Stellung und mit ihrer spitzen Zunge hatte sich die Montespan ohnehin zahlreiche Feinde am Hof gemacht, zu denen auch Kriegsminister Louvois gehörte. Der sorgte auch dafür, dass der Verdacht gegen die Montespan trotz strengster Geheimhaltungspflicht durchsickerte, sodass bald der ganze Hof darüber Bescheid wusste. Als Mademoiselle Fontanges am 28. Juni 1681 im Kloster Pont Royal starb, ordnete Ludwig XIV. sogar eine Obduktion an, um die tatsächliche Todesursache festzustellen. Es konnte zwar nicht bewiesen werden, dass die junge Frau vergiftet worden war, doch das hatte nichts zu bedeuten. Mit den damaligen medizinischen Methoden war man noch nicht imstande, die Todesursache vollständig zu klären. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts war man so weit, Arsenspuren eindeutig im Körper nachweisen zu können. So blieb der Verdacht, die Montespan sei eine skrupellose Giftmörderin, auch weiterhin bestehen. Nur Wohlgesonnene vertraten die Ansicht, Françoise-Athénaïs habe überhaupt keinen Grund gehabt, ihre vermeintliche Rivalin zu beseitigen. Schließlich hatte sich die Fontanges nur für kurze Zeit der Gunst des Königs erfreut. Ludwig XIV. war ihrer Reize nämlich bald überdrüssig geworden und hatte sich einer anderen Dame zugewandt, der frommen Madame de Maintenon, die bislang die gemeinsamen Kinder Ludwigs und der Montespan betreut hatte. Ludwig XIV. beschloss, den Verdacht gegenüber der Montespan auf sich beruhen zu lassen. Was hätte er auch davon gehabt, wenn die Öffentlichkeit erfahren hätte, dass seine Mätresse ihn durch Zaubermittel an sich binden wollte? Ganz Frankreich hätte über ihn gelacht, sein Ansehen als „Sonnenkönig“ hätte Schaden genommen. „Sonnenflecken“ aller Art aber mussten auf jeden Fall vermieden werden. Deshalb ging Ludwig auch äußerst geschickt vor. Die Montespan verlor zwar ihre Stellung als königliche Mätresse, durfte aber vorerst noch am Hof bleiben. Er ordnete lediglich an, dass sie ins Erdgeschoss des Schlosses umziehen müsse – ein untrügliches Zeichen für die höfische Gesellschaft, dass es mit der Dame abwärtsging. Die Ex-Mätresse machte gute Miene zum bösen Spiel, obwohl sie entsetzlich unter der Missachtung litt, die ihr jetzt von allen Seiten entgegenschlug. Zu höfischen Festen wurde sie kaum noch eingeladen, wäh-
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rend sich nun Madame de Maintenon stolz an der Seite des Königs präsentierte. 1691 verließ die Montespan Versailles endgültig und zog sich in das von ihr gegründete Kloster St. Joseph in Paris zurück. Als sie dort 1707 starb, war sie bei Hofe längst vergessen, und auch über die unselige Giftaffäre war Gras gewachsen.
Ludwigs letzte Mätresse Jetzt war die fromme und sittenstrenge Madame de Maintenon (1635– 1719) neue Favoritin des Königs. Die Hofgesellschaft rätselte, was Ludwig wohl bewogen haben mochte, die drei Jahre Ältere zu seiner Mätresse und 1683, nach dem Tod von Königin Maria Theresia, sogar zu seiner morganatischen Ehefrau* zu machen. Aber auch Ludwig wurde allmählich älter und ruhiger und begrüßte es offenbar, eine wirkliche Partnerin als Lebensgefährtin zu haben, die sich auch für seine Politik interessierte. Stets gut informiert über alles, was sich am Hof und in der Regierung abspielte, war sie bei sämtlichen Gesprächen des Königs mit seinen Ministern ganz selbstverständlich dabei: „Während sie arbeiteten, las Madame de Maintenon oder stickte an einem Wandbehang. Sie hörte zu, was sich zwischen dem König und dem Minister, der laut sprach, abspielte“, schrieb ein höfischer Beobachter. Ob sie den König wirklich bei seinen politischen Entscheidungen beeinflusst hat, ist jedoch umstritten. Möglicherweise aber hatte die überzeugte Katholikin einen Anteil an der Aufhebung des Edikts von Nantes 1685, das den Hugenotten bedingte Religionsfreiheit gewährte. Allerdings hatte Ludwig XIV. die Rechte der Protestanten schon zuvor Stück für Stück beschnitten. Bereits seit 1679 durften sie keine öffentlichen Ämter mehr bekleiden und bestimmte Berufe wie die des Arztes oder Verlegers nicht mehr ausüben. Die Aufhebung des Toleranzedikts war deshalb eher eine logische Konsequenz. Madame de Maintenon blieb bis zum Tod Ludwigs XIV. 1715 an seiner Seite – ganz ohne Zaubermittel. Sie hörte ihm geduldig zu, pflegte
*
Morganatische Ehe: nichtstandesgemäße, aber rechtmäßige Ehe unter Adligen, welche lediglich eine „Morgengabe“, nicht aber weitergehende versorgungsrechtliche Ansprüche umfassten (d. Red.).
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ihn aufopferungsvoll, wenn er wieder einmal krank war, und tröstete ihn, als sein Sohn und Enkel kurz hintereinander starben, nachweislich an den Pocken. Von Gift war am Hof von Versailles jedenfalls keine Rede mehr ...
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8 Tatort: Hannover – Die Affäre Königsmarck Eigentlich war Ernst August von Braunschweig-Lüneburg ein liebenswürdiger Mensch, lebenslustig und den Reizen der Damenwelt stets aufgeschlossen. Dass auch sein ältester Sohn Georg Ludwig neben der Gemahlin noch zwei Mätressen hatte, fand der Vater ganz in Ordnung. Anders hingegen sah die Sache bei seiner Schwiegertochter aus. Die hatte sich in den smarten Grafen Königsmarck verliebt. War der womöglich der Vater ihrer Kinder? Das allerdings wäre schlimm gewesen, denn Ernst Augusts neu gewonnene Kurwürde war dadurch in Gefahr. Dieser sah deswegen nur eine Lösung: Königsmarck musste verschwinden, endgültig!
Wo steckt die Königin? Als im Herbst 1714 Englands neuer König Georg I. feierlich in London einzog, hielt sich der Jubel in Grenzen: Ausgerechnet ein Deutscher, der noch nicht einmal die Landessprache richtig beherrschte. Dass er einem der vornehmsten und ältesten deutschen Adelsgeschlechter entstammte, den Welfen, war nur ein schwacher Trost. Trotzdem hatte sich eine Menge von Schaulustigen eingefunden, die nicht nur einen Blick auf ihren Monarchen erhaschen wollte, sondern auch und vor allem auf Englands neue Königin! Sie erlebten allerdings eine herbe Enttäuschung, denn Georg I. kam allein.
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Das heißt, genau genommen hatte er sogar zwei Damen im Schlepptau, die aber weder sonderlich attraktiv, geschweige denn mit ihm verheiratet waren. Lang und dürr die eine, klein und dick die andere. Böse Zungen hatten für die königliche Entourage denn auch gleich zwei wenig charmante Spitznamen parat: „Elefant“ und „Bohnenstange“. Nicht einmal die Mätressen des Königs waren vorzeigbar!
London wider Willen Doch auch Georg I. war keineswegs erfreut, dass er nun die englische Krone tragen und nach London umziehen musste. Viel lieber wäre er als Kurfürst Georg Ludwig daheim in Hannover geblieben, wo er seit dem Tod seines Vaters Ernst August 1698 im Leineschloss residierte. „Schuld“ an seinem neuen Amt hatten die Engländer selbst, die 1701 schließlich per Gesetz festgelegt hatten, dass künftig nur noch Protestanten den Thron besteigen durften. Der Act of Settlement sollte verhindern, dass auf der Insel jemals wieder blutige Religionskriege ausbrachen (vgl. Kapitel 5). Die Dynastie der Stuarts, die seit 1603 über England und Schottland herrschte, hatte schließlich in Maria Stuart eine katholische „Ahnherrin“. Und wenngleich ihr Sohn Jakob I. streng protestantisch erzogen worden war, so konnte man doch nicht alle Familienmitglieder als „linientreu“ bezeichnen. Sollte aber wieder ein Katholik auf den Thron kommen, dann drohte ein neuer Bürgerkrieg! Um 1700 war absehbar gewesen, dass Königin Anna sterben würde, ohne legitime Erben zu hinterlassen. Und als man sich daraufhin auf die Suche nach protestantischen Thronfolgern aus dem Hause Stuart machte, wurde man ausgerechnet in Hannover fündig! Sophie, die Gemahlin des Kurfürsten Ernst August und Mutter von Georg Ludwig, war eine geborene Prinzessin von der Pfalz und Tochter von Elisabeth Stuart. Zwar hatte Sophie bereits ihren 70. Geburtstag gefeiert, doch bei der robusten Gesundheit der alten Dame war es durchaus möglich, dass sie nach Annas Tod den englischen Thron besteigen würde. Sie war auch die einzige Kandidatin.
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Die Mätressen des Königs Es kam jedoch anders. Die greise Sophie schaffte es nicht mehr, sondern starb im Sommer 1714, kurz bevor der Tod auch Englands Königin Anna ereilte. Damit stand nun fest, dass Sophies ältester Sohn die Krone erben würde: Kurfürst Georg Ludwig von Hannover. Künftig mussten England und Hannover in Personalunion regiert und das deutsche Kurfürstentum der Verwaltung eines Gouverneurs überlassen werden. Georg Ludwig nämlich machte sich jetzt auf den Weg nach London, was ihm trotz der Begleitung von gleich zwei Mätressen keineswegs leichtfiel. Die eine hieß Ehrengard Melusine von der Schulenberg, und ist uns unter dem Namen „Bohnenstange“ bereits bekannt. Melusine war Georgs Favoritin und Mutter von seinen drei illegitimen Töchtern. Die beiden kannten sich schon lange und waren einander – wie es scheint – in wahrer Liebe zugetan. So weit, so gut, das war in Fürstenhäusern damals auch nichts Ungewöhnliches. Etwas pikanter gestaltete sich hingegen die Liaison mit der Dame No. 2, der besagten „Elefantin“: Sophie Charlotte von Kielmannsegg war nämlich die Halbschwester des neuen Königs! Als typischer Barockfürst hatte sich sein Vater Ernst August außer seiner Gemahlin Sophie auch andere Damen ins Bett geholt. Eine von ihnen war die ehrgeizige Klara Elisabeth von Platen gewesen, die als „Frucht der Liebe“ eine Tochter zur Welt brachte. Man fand es offenbar keineswegs geschmacklos, dem kleinen „Bastard“ den gleichen Namen zu geben wie der einzigen ehelichen Tochter Ernst Augusts, der späteren Königin von Preußen und Herrin von Schloss Charlottenburg. Aber auch Kurfürstin Sophie hatte offenbar keine Probleme und zog die zweite Sophie Charlotte neben ihren eigenen Kindern ganz selbstverständlich groß. Was für eine schrecklich nette Familie!
Eine politisch motivierte Heirat Natürlich war der jetzige Georg I. auch einmal verheiratet gewesen. Kein Fürst konnte es sich erlauben, auf Dauer ledig zu bleiben und so auf legitime Erben zu verzichten. Als junger Prinz hatte Georg sogar das Glück gehabt, 1682 eine ganz besonders hübsche Frau zu heiraten, seine Cousine Sophie Dorothea. Allerdings war diese Ehe aus politischen Gründen
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geschlossen worden, um das Herrschaftsgebiet seines in Hannover regierenden Vaters mit dem Herzogtum seines Onkels und Schwiegervaters Georg Wilhelm von Celle zu einem Territorium zusammenzufügen. (Um es vorwegzunehmen: Als Georg Wilhelm 1705 starb, wurde sein Land tatsächlich dem 1692 gegründeten Kurfürstentum Hannover angegliedert.) Wirklich glücklich wurde diese Ehe nicht, aber sie erfüllte mit der Geburt von zwei Kindern zumindest ihren Zweck. Auf den 1683 geborenen Sohn Georg August, den späteren englischen König Georg II., folgte 1687 eine Tochter, die wie die Mutter Sophie Dorothea genannt wurde. Sie heiratete später den „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I., wurde an seiner Seite Königin von Preußen und Mutter Friedrichs des Großen. Dass sich auch Georg außerhalb des Ehebetts mit mehr oder weniger hübschen Damen vergnügte, war, wie gesagt, nichts Ungewöhnliches. Das Problem war nur, dass sich seine Gemahlin entschlossen hatte, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Ihr Ehemann, der nach Aussage der berühmten Liselotte von der Pfalz „so kalt und trocken wie Eis“ wirkte, konnte die Bedürfnisse der sinnlichen Sophie Dorothea offenbar nicht befriedigen. Nur – das, was den Herren der Schöpfung zugestanden wurde, durfte sich die Angetraute noch lange nicht leisten! Schließlich musste in einer fürstlichen Ehe stets gewährleistet sein, dass in den Adern des Nachwuchses auch das „richtige“ blaue Blut floss und nicht das irgendeines dahergelaufenen Grafen …
Sophie Dorotheas Liebhaber Und genau der lief der liebeshungrigen Sophie Dorothea im Sommer 1690 über den Weg. Es handelte sich um den 1665 geborenen Christoph Philipp von Königsmarck, einen ausgesprochen charmanten und gut aussehenden, leider auch etwas leichtsinnigen jungen Mann. Zu der Zeit war er Oberst im Dienst Ernst Augusts von Hannover. Es ließ sich also kaum vermeiden, dass sich Graf und Prinzessin im alten Leineschloss begegneten. Zumal sie sich bereits von früher kannten, denn Königsmarck hatte als junger Mann seine Pagenausbildung am Celler Schloss absolviert und Sophie Dorothea schon damals kennengelernt. Jetzt freuten sie sich über das Wiedersehen und verstanden sich auf Anhieb – besser, als es gut für die beiden war. Auf den Fes-
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ten und Empfängen bei Hofe hatten sie hinreichend Gelegenheit miteinander zu plaudern und sich näher zu kommen. Sophie Dorothea stellte erfreut fest, dass Königsmarck so ganz anders war als ihr „eiskalter und trockener“ Gemahl. Aus dem anfänglichen Flirt wurde offenbar eine echte Liebe. Beide wussten natürlich, dass ihnen diese „Kopf und Kragen“ kosten konnte. Sie mussten deshalb alles tun, um die Liaison zu vertuschen. Leicht scheint es ihnen nicht gefallen zu sein, denn bald klatschte die ganze Hofgesellschaft über das augenscheinlich schwer verliebte Pärchen, und auch der Gemahl begann zu ahnen, dass seine Frau ihm Hörner aufsetzte. Doch Sophie Dorothea und Königsmarck waren auch immer wieder längere Zeit getrennt, denn vor allem in den Sommermonaten hatte der Graf bei seinem Regiment zu sein. Deshalb schrieben sie sich zahllose Briefe, in denen sie ihre Gedanken und Gefühle füreinander austauschten. Natürlich waren sich die beiden Liebenden der Gefahr bewusst, dass man ihre Briefe abfangen und so den Ehebrechern auf die Schliche kommen könnte. Deshalb waren die auf Französisch verfassten Schreiben vorsichtshalber auch verschlüsselt. Die zwei benutzten ein relativ einfaches Codesystem (a = 22, b = 24, c = 25, d = 27 usw.), doch Königsmarck war der festen Überzeugung, dass das „kein Teufel herausbekommt“. Welch tragischer Irrtum! Schon bald sollte sich nämlich zeigen, wie leicht dieser Code zu knacken war. Und damit stand auch fest, dass das Verhältnis der beiden spätestens ab März 1692 eindeutig sexueller Natur war. Anders war der intime Inhalt der Zeilen nicht zu deuten.
Trügerische Sicherheit Sophie Dorothea und ihr Geliebter aber waren völlig ahnungslos und glaubten vielmehr, alles getan zu haben, um ihre Liebe geheim zu halten. Als Postillons d’Amour fungierten zwei Vertraute. Die eine war die Hofdame der Prinzessin, Eleonore von der Knesebeck, die andere Königsmarcks Schwester Maria Aurora, später die Mätresse Augusts des Starken, des Kurfürsten von Sachsen. Und doch muss es irgendwo eine undichte Stelle gegeben haben. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Briefe abgefangen und von Personen gelesen wurden, für deren Augen sie ganz und gar nicht bestimmt waren, nämlich von Sophie Dorotheas Ehemann, seinen Eltern
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und vermutlich auch der kurfürstlichen Mätresse Klara Elisabeth von Platen, Mutter der besagten „Elefantin“. Die hatte damals nämlich noch vor, ihre 1675 geborene Tochter Sophie Charlotte mit dem gut aussehenden Königsmarck zu verkuppeln. Und nicht nur das. Beobachter am Hofe konnten bezeugen, dass sie sich auch selbst an den smarten Grafen herangemacht hatte, ungeachtet der Tatsache, dass der 17 Jahre jünger war als sie … Noch verhielt sich alles ruhig, das verliebte Pärchen wähnte sich in Sicherheit. Gut gemeinte Warnungen, vor allem von Sophie Dorotheas Mutter, schlug man in den Wind. Auch Kurfürstin Sophie scheint ihrer Schwiegertochter hin und wieder einen „Wink mit dem Zaunpfahl“ gegeben zu haben, um sie zu warnen. Doch das muss Sophie Dorothea wohl gründlich missverstanden haben. Sie schrieb jedenfalls an Königsmarck: „Die Kurfürstin spricht mit mir jedes Mal über Sie, wenn ich mit ihr spazieren gehe, denn ich habe Ihnen ja bereits berichtet, dass ich immer mit ihr ganz allein bin. Ich weiß nicht, ob sie das aus Zuneigung zu Ihnen tut, oder um mir eine Freude zu bereiten. Aus welchem Grunde es auch immer sei, sie bereitet mir damit viel Freude. Ich kann noch nicht einmal meine Begeisterung meistern, wenn ich nur Ihren Namen höre! Sie sagt nur Gutes über Sie und sie lobt Sie mit so viel Vergnügen, dass ich, wenn sie jünger wäre, nicht verhindern könnte, eifersüchtig zu sein, denn ich glaube ganz im Guten, dass sie eine herzliche Zuneigung für Sie empfindet …“ Ganz gleich, ob Sophie ihre Schwiegertochter nur diskret warnen oder womöglich sogar aushorchen wollte: Sollte Sophie Dorothea tatsächlich geglaubt haben, die Kurfürstin sei mit der Affäre einverstanden und mache mit ihr gemeinsame Sache? Es sieht ganz danach aus. In Wirklichkeit lag Sophie nichts ferner, als der untreuen Gemahlin ihres Sohnes „eine Freude zu bereiten“. Wenn es wirklich eine Warnung war, die ihren Zweck nicht verfehlen durfte, dann konnte sie nicht noch deutlicher werden. Damit nämlich wäre sie Mann und Sohn in den Rücken gefallen, die bereits dabei waren, in aller Heimlichkeit einen Plan auszuhecken. Schließlich war nicht nur Georg Ludwig von der Liaison seiner Gemahlin betroffen, auch Vater Ernst August bereitete das Ganze Kopfzerbrechen, und zwar aus dynastischen Gründen! Lange hatte er dafür gekämpft, dass aus seinem Herzogtum Braunschweig-Lüneburg das Kurfürstentum Hannover wurde. Die Sonderstellung der Kurfürsten, die 1356 mit der Goldenen Bulle verfassungsrechtlich festgelegt worden war, drückte sich nicht
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nur im Recht der Königswahl aus, sondern auch in verschiedenen Privilegien und Ehrenrechten. Was Geltung und Rang anbetraf, so kamen die Kurfürsten gleich nach dem Kaiser. Ernst August hatte alles dafür getan und sogar einen erbitterten Streit mit seinen Söhnen in Kauf genommen. Die Kurwürde war nämlich untrennbar mit der Primogenitur verbunden, dem alleinigen Erbrecht des Erstgeborenen, in diesem Fall Georg Ludwigs. Das aber bedeutete, dass die anderen Söhne leer ausgehen mussten, beziehungsweise mit einer Apanage abgefunden wurden. Schließlich sollte sich Ernst Augusts sehnlichster Wunsch erfüllen: Im Dezember 1692 konnte er sich endlich den Kurhut auf seine prächtige Allongeperücke setzen. Außerhalb Hannovers wurde die neue Kurwürde jedoch keineswegs begrüßt, im Gegenteil. Andere deutsche Fürsten, darunter die Sachsen, hatten sich heftig dagegen gewehrt, denn alle wachten eifersüchtig über ihre eigenen Machtprivilegien. Auch verschiedene ausländische Staaten weigerten sich, die neue Kurwürde anzuerkennen. Ernst Augusts Position war also ohnehin schon höchst fragil, und jetzt auch noch das! Was würde passieren, sollte sich herausstellen, dass die Kinder seines ältesten Sohnes gar nicht dessen eigene waren, sondern „Bastarde“ des Grafen Königsmarck? Das wäre doch Wasser auf die Mühlen seiner politischen Gegner! Womöglich müsste er sogar den Kurhut wieder zurückgeben! Hinzu kam, dass eine weitere Schwangerschaft seiner Schwiegertochter immerhin im Bereich des Möglichen lag. (Ernst August wusste damals nicht, dass Sophie Dorotheas Affäre erst nach der Geburt ihrer beiden Kinder, 1685 beziehungsweise 1687, angefangen hatte.) Deshalb sah er nur einen einzigen Ausweg: Er musste die Ehe seines ältesten Sohnes irgendwie beenden. Ein offizielles Scheidungsverfahren wegen Ehebruchs seitens der Prinzessin war jedoch ausgeschlossen, denn gerade den galt es ja zu vertuschen. Also musste eine andere Lösung her. Im Gegensatz zu Sophie Dorothea scheint der smarte Königsmarck einen kühlen Kopf behalten und gespürt zu haben, dass der Boden in Hannover allmählich zu heiß für ihn wurde. Deshalb reiste er im Juni 1694 nach Dresden, wo sein Freund Friedrich August, den er vor Jahren bei einem Aufenthalt in Venedig kennengelernt hatte, gerade Kurfürst von Sachsen geworden war. Als August der Starke, wie man ihn später nennen sollte, Königsmarck anbot, den Oberbefehl über ein sächsisches Regiment zu übernehmen, sagte
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der Graf erleichtert zu. Er würde nur noch einmal nach Hannover fahren, um seinen Dienst zu quittieren und Sophie Dorothea vom Stand der Dinge zu unterrichten. Allem Anschein nach hatte er vor, die Prinzessin mit nach Dresden zu nehmen. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen.
Keine Spur von Königsmarck Seit der Nacht vom 1. auf den 2. Juli 1694 fehlt von Christoph Philipp von Königsmarck jede Spur. Und doch steht wohl zweifelsfrei fest, dass er in jener Nacht im Leineschloss zu Hannover umgebracht wurde. Sophie Dorothea hatte ihn noch ein letztes Mal lebend gesehen. Als er dann aber aus ihren Gemächern kam, wurde er ganz offensichtlich von den Gefolgsleuten des Kurfürsten überwältigt und schließlich getötet. Unklar ist lediglich, ob es sich tatsächlich um einen „Auftragsmord“ handelte oder um einen „Unglücksfall“ während der Festnahme. Königsmarcks Leiche wurde nie gefunden. Gerüchten zufolge hat man sie in einen Sack gesteckt und mit Steinen beschwert an einer besonders tiefen Stelle der Leine versenkt. Für einen Auftragsmord spricht, dass den vier Beteiligten ein hohes „Schweigegeld“ aus der kurfürstlichen Schatulle gezahlt wurde. Der mutmaßliche Mörder, Nicolò de Montalbano, kassierte allein 10 000 Taler. Er ist nur wenig später aus Hannover verschwunden und ein Jahr später in Mantua gestorben. Jetzt galt es erst einmal, alle Spuren des Verbrechens zu beseitigen. Die völlig ahnungslose Sophie Dorothea wurde samt ihrer Vertrauten Eleonore von Knesebeck unter Hausarrest gestellt. Anschließend durchsuchte man sowohl ihre Gemächer als auch die Wohnung des Grafen und ließ die verräterischen Briefe, die sich die Liebenden geschrieben hatten, diskret verschwinden. Zwei Wochen lang blieb Zeit, erst dann wurde Königsmarck von seinem Vorgesetzten als vermisst gemeldet. Inzwischen hatte sich der Hof eine Strategie zurechtgelegt, wie man sich nach außen hin verhalten sollte. Dabei gab es mehrere Punkte zu beachten: Jedes Wissen um den Verbleib Königsmarcks musste beharrlich geleugnet werden. Außerdem durfte kein Verdacht aufkommen, dass das Verschwinden des Grafen irgendetwas mit dem Hausarrest der Kurprinzessin und der sich anbahnenden Ehescheidung zu tun haben könnte. Der Scheidungsgrund durfte
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daher keinesfalls auf Ehebruch lauten, sondern musste mit böswilligem Verlassen begründet werden. Zu diesem Zweck konstruierte man die Geschichte, Sophie Dorothea habe heimlich verschwinden wollen, sei aber auf der Flucht gefasst und unter Hausarrest gestellt worden. In einem offiziellen Rundschreiben hieß es, böswillige Gerüchte und Intrigen, von Sophie Dorotheas Hofdame Eleonore von Knesebeck in die Welt gesetzt, hätten die Kurprinzessin dazu veranlasst, sich von ihrem Mann zu trennen. Königsmarck aber wurde mit keinem Wort erwähnt. Die Sache war geschickt eingefädelt. Sophie Dorothea leugnete hartnäckig, eine intime Beziehung zu Königsmarck gehabt zu haben und spielte damit ihren Widersachern in die Hände. Insofern lief es für die Kurfürstenfamilie wie geplant. Nur das spurlose Verschwinden des Grafen sprach sich rasch herum, auch an den anderen deutschen und europäischen Fürstenhöfen. Die Gerüchteküche brodelte, die abenteuerlichsten Spekulationen wurden angestellt. Und immer wieder hieß es, dass kein anderer als Kurfürst Ernst August dahinterstecke. Dieser Ansicht war man auch in Dresden. Immerhin war mit Königsmarck ein Mann verschwunden, den Sachsen erst unlängst zum General erkoren hatte. Schon am 23. Juli 1694 erschien ein Abgeordneter Augusts des Starken in Hannover und verlangte Aufschluss über den Verbleib Königsmarcks. Doch hier gab man sich ahnungslos und behauptete, nichts mehr vom Grafen gehört und gesehen zu haben, nachdem dieser am 15. Juli vermisst gemeldet worden war. So leicht allerdings ließ sich August der Starke nicht beschwichtigen. Schließlich vermisste er nicht nur seinen General, sondern auch einen langjährigen Freund – und nicht zuletzt den Bruder seiner Geliebten Maria Aurora von Königsmarck! Die war der festen Überzeugung, dass Christoph Philipp noch lebte und in Hannover gefangen gehalten wurde. Die Lage wurde zunehmend prekärer. Selbst ein Krieg war nicht mehr ausgeschlossen. Erst August beteuerte immer wieder, er habe den Grafen nicht in seiner Gewalt und könne ihn daher auch nicht herausgeben – was in gewisser Weise ja sogar stimmte. Dass Königsmarck in Hannover eingekerkert sei, vermutete auch der französische „Sonnenkönig“ Ludwig XIV. Er erkundigte sich mehrmals bei seiner Schwägerin Liselotte von der Pfalz nach dem Schicksal des Vermissten. Doch Liselotte, eine Nichte der Kurfürstin Sophie, die mit ihrer Tante einen intensiven Briefwechsel unterhielt, verlor darüber natürlich kein Wort.
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Scheidung des Kurprinzen Aber Ernst August hatte Glück, die Zeit arbeitete für ihn. Zwar wurde immer mal wieder behauptet, man habe Königsmarck irgendwo gesehen, doch allmählich begann Gras über die Sache zu wachsen. Im November 1694 hatte man sich auch in Dresden wieder so weit beruhigt, dass sich das Verhältnis zu Hannover ein wenig entspannte. Ernst August versicherte, er werde Königsmarck unverzüglich nach Sachsen schicken, sollte er wider Erwarten doch noch auftauchen. Zwar glaubte kaum einer an die Unschuld des Kurfürsten, doch nachweisen konnte man ihm nichts. Dafür gab es schon bald Legenden über menschliche Skelette, die wahlweise im Leineschloss eingemauert oder unter dem Fußboden entdeckt worden sein sollen. Nichts davon entsprach der Wahrheit. Königsmarck war und blieb verschwunden. Die Ehe des Kurprinzen Georg Ludwig wurde im Januar 1695 geschieden. Die unglückliche Sophie Dorothea, die man des böswilligen Verlassens angeklagt hatte, musste den Rest ihres Lebens im Wasserschloss Ahlden unter Hausarrest verbringen. Sie bekam zwar hin und wieder Besuch von ihrer Mutter, doch ihre beiden Kinder durfte sie bis zu ihrem Tod 1726 nicht mehr wiedersehen. Der kleine Georg August und seine Schwester Sophie Dorothea blieben in der Obhut von Großmutter Sophie. Kurfürst Ernst August aber konnte seinen Sieg nicht mehr lange genießen. Im Frühjahr 1695 erlitt er einen schweren Schlaganfall, dem weitere folgten. Krank und völlig hilflos geworden, musste er die Regierungsgeschäfte seinem ältesten Sohn Georg Ludwig übergeben, der nach dem Tod des Vaters 1698 neuer Kurfürst von Hannover wurde. Als er Jahre später den englischen Thron bestieg, flackerten die Gerüchte um den verschwundenen Grafen noch einmal auf. Nachdem die Untertanen Einzelheiten über die Vergangenheit des neuen Monarchen erfahren hatten, bezweifelten sie stark, dass Georg August, der neue Prinz von Wales und spätere Georg II., tatsächlich der leibliche Sohn ihres Königs war. In Wirklichkeit, so wurde später gemunkelt, säßen auf dem englischen Thron nicht die Hannoveraner, sondern die Königsmarcks …
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9 Versöhnlicher Ausklang – Eine preußische Prinzessin wird in Franken heimisch und macht Bayreuth zu dem, was es ist
Das oberfränkische Bayreuth zieht heutzutage nicht nur die zahllosen Richard-Wagner-Fans an, die alljährlich auf den „grünen Hügel“ pilgern. Viele besuchen die beschauliche Stadt, um vor allem die reizvollen Bauwerke zu bewundern, die imposanten Schlösser oder das wundervolle Opernhaus im Rokokostil. „Schöpferin“ dieser Sehenswürdigkeiten war Markgräfin Wilhelmine, eine Schwester Friedrichs des Großen, die es damals durch Heirat in die „fränkische Provinz“ verschlagen hatte. Dem vorausgegangen war ein fürchterlicher Streit in der preußischen Königsfamilie, denn ursprünglich sollte Wilhelmine den englischen Thronfolger heiraten und später an seiner Seite Königin werden.
Am Hohenzollernhof „Es schmerzt mich tief, dass Deine schönen Eigenschaften nicht vor den Augen ganz Europas glänzen sollen“, schrieb der preußische Kronprinz Friedrich im Juni 1731 an seine Lieblingsschwester Wilhelmine (1709– 1758). „Nur in England kannst Du sein, wozu Du bestimmt bist.“
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Tatsächlich verfügte die hoch gebildete Hohenzollern-Prinzessin über zahlreiche Talente. Sie interessierte sich für Literatur und Philosophie, malte, musizierte und komponierte sogar. Gewiss hätte sie die Rolle der Königin von England mit Bravour ausgefüllt, doch es war anders gekommen. Ihr Vater, der „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I., hatte ein Machtwort gesprochen und sie quasi gezwungen, den Erbprinzen von Bayreuth zu heiraten – und nicht den englischen Thronfolger. Nun war es durchaus üblich, dass sich Königskinder den väterlichen Anordnungen zu beugen hatten, und meistens taten sie es auch ohne jeden Widerspruch. In diesem Fall jedoch waren allerlei Heimlichkeiten und Intrigen vorausgegangen, bevor es am Berliner Hohenzollernhof zu einem fürchterlichen Eklat kam. Die Protagonisten des Familiendramas waren neben dem preußischen König Friedrich Wilhelm I. dessen Gemahlin Sophie Dorothea sowie die Kinder Friedrich und Wilhelmine.
Die Jugend des Soldatenkönigs Keine Frage, Friedrich Wilhelm I., der „Soldatenkönig“, war ein äußerst schwieriger Zeitgenosse, eigenwillig, launisch und zu cholerischen Ausfällen neigend. Schon als Kind hatte er seine höfische Umgebung tyrannisiert, hatte sich geweigert, elegante Kleidung zu tragen und sich der strengen Etikette zu unterwerfen. Mit achtzehn Jahren lief er vorzugsweise wie ein einfacher Bauer in dicken Stiefeln herum. Er wog fast zwei Zentner und hatte – anders als die höfische Gesellschaft, die vornehme Blässe zur Schau trug – einen sonnengebräunten Teint. Sophie Charlotte, die Mutter des widerspenstigen Preußenprinzen, eine geborene Prinzessin von Hannover, hatte sich vergeblich bemüht, ihren Sohn zu einem Gentilhomme mit verfeinerten Manieren zu erziehen, wie es dem Zeitgeschmack entsprach. Sie starb bereits 1705 im Alter von nur sechsunddreißig Jahren. Der königliche Witwer Friedrich I. (1656–1713) trauerte nicht nur um seine verstorbene Frau, er blickte auch sorgenvoll in die Zukunft. Prinz Friedrich Wilhelm war sein einziges Kind, doch sollte ihm etwas zustoßen, dann gäbe es keinen Thronfolger, und um die Zukunft Brandenburg-Preußens wäre es schlecht bestellt. Erst 1701 hatte sich Friedrich, wegen eines Buckels von den Berlinern auch „der schiefe Fritz“ genannt, zum ersten
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König „in“ Preußen gekrönt und dem aufstrebenden Land damit einen enormen Prestigegewinn verschafft. Nun wollte er natürlich, dass sein Lebenswerk auch fortgesetzt wurde. Um seine Gesundheit war es nicht gut bestellt, und er wusste, dass ihm nicht mehr allzu viel Zeit bleiben würde. Sein größter Wunsch war es daher, noch die Geburt eines gesunden Enkelkindes zu erleben. Der achtzehnjährige Kronprinz verspürte freilich nicht die geringste Lust zum Heiraten. Doch da er merkte, wie ernst es seinem Vater war, erklärte er sich schließlich doch bereit, allerdings unter einer Voraussetzung. Er wollte nur eine Prinzessin zur Frau nehmen, die er bereits kannte. Und da die künftige Kronprinzessin protestantischer Konfession sein musste, kam nur eine infrage: seine ein Jahr ältere Cousine Sophie Dorothea von Hannover.
Hochzeit mit Sophie Dorothea Die 1687 geborene Sophie Dorothea war die Tochter der unglücklichen „Prinzessin von Ahlden“ und des Kurfürsten Georg Ludwig von Hannover. Weil die Mutter des Mädchens, die den gleichen Namen wie die Tochter trug, ihren Gemahl jedoch mit dem eleganten Grafen Königsmarck betrogen hatte (s. auch das vorangegangene Kapitel), wurde die Ehe geschieden und Sophie Dorothea auf das Wasserschloss Ahlden verbannt. Dort stand sie bis zum Ende ihres Lebens unter Hausarrest und durfte ihre beiden Kinder nicht mehr sehen. Die kleine Sophie Dorothea und ihr älterer Bruder Georg August wuchsen daher bei der Großmutter auf, der resoluten Sophie von Hannover, die gleichzeitig die Großmutter des preußischen Kronprinzen war. Insofern kannte Friedrich Wilhelm seine zukünftige Braut von Kindesbeinen an. Und er wusste auch, dass Mutter und Großmutter seinerzeit genau diese Verbindung angebahnt hatten, um die Position des Kurfürstentums Hannover am Berliner Königshof weiter zu festigen. Jetzt war er bereit, den letzten Wunsch der Verstorbenen zu erfüllen und auch seinem Vater, dem König, damit eine große Freude zu bereiten. Sophie Dorothea hingegen war keineswegs erfreut, als man ihr den künftigen Ehemann präsentierte. Doch eine Prinzessin hatte zu gehorchen, schließlich war die Ehe in Fürstenhäusern keine romantische, son-
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dern eine hochpolitische Angelegenheit. Dass Friedrich Wilhelm nicht gerade dem Traumbild eines jungen Mädchens entsprach – darauf konnte man keine Rücksicht nehmen. Das Haus Hannover jedenfalls fühlte sich geehrt, bereits zum zweiten Mal eine Welfenprinzessin an die Spree schicken zu dürfen. Im November 1706 traten Friedrich Wilhelm und Sophie Dorothea vor den Traualtar.
Szenen einer Ehe Die Ehe wurde wahrlich kein Honigschlecken, dazu waren die Charaktere der beiden viel zu verschieden. Die standesbewusste Sophie Dorothea erfreute sich an höfischer Pracht, liebte teure Kleidung und aufwändige Feste, während sich Friedrich Wilhelm an einem blank gescheuerten Holztisch viel wohler fühlte. Doch er nahm die Ehe durchaus ernst und konnte es daher kaum ertragen, wenn Sophie Dorothea auf Hofbällen mit anderen Männern tanzte und ihnen schöne Augen zu machen schien. Dann stieg im Kronprinzen der Verdacht auf, sein „Fiekchen“, wie er sie nannte, könnte womöglich die schlechten Anlagen ihrer koketten Mutter geerbt haben. Dass Sophie Dorothea so viel Wert auf ihr Äußeres legte, war ein weiterer Stein des Anstoßes. Als sie sich einmal besonders modisch frisierte, griff Friedrich Wilhelm wütend zur Schere und schnitt ihr eigenhändig die schönen langen Haare ab! Ähnliche Szenen waren im Berliner Schloss auch künftig keine Seltenheit. Die ehelichen Pflichten litten jedoch nicht unter den „atmosphärischen Störungen“. Schon ein Jahr nach der Hochzeit brachte die Kronprinzessin ihr erstes Kind zur Welt. Es war ein Sohn, der nach dem überglücklichen königlichen Großvater auf den Namen Friedrich getauft wurde. Doch der kleine Prinz starb nur wenige Monate später, und der Hofgesellschaft dauerte es viel zu lange, bis Sophie Dorothea erneut schwanger wurde. Man munkelte schon, die Kronprinzessin sei unfruchtbar, als 1709 endlich ein weiteres Kind geboren wurde, wenn auch „nur“ ein Mädchen: die spätere Markgräfin Wilhelmine. Knapp drei Jahre danach erblickte endlich auch der lang ersehnte Sohn das Licht der Welt, wieder ein Friedrich, der später einmal als „der Große“ in die Geschichte eingehen sollte.
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Berlin, das neue „Sparta“ Der Herzenswunsch Friedrichs I. war damit in Erfüllung gegangen. Nicht lange danach starb er im Februar 1713 in der beruhigenden Gewissheit, dass es mit dem Königreich Preußen auch künftig weitergehen würde. Nun bestieg der vierundzwanzigjährige Friedrich Wilhelm den Thron. Unter seiner Herrschaft würde ein völlig anderer Wind im Land wehen, aber auch im Berliner Schloss selbst. War Friedrich I. ein wahrhaftiger Barockfürst gewesen, pracht- und prunkliebend, ein eifriger Bauherr, Förderer von Kunst und Wissenschaft, war der Nachfolger eine eher schlichte Natur und hatte von klein auf keine anderen Interessen als Soldaten und Militär. Vor allem aber konnte er rechnen. Die väterliche Hofhaltung hatte Unsummen verschlungen und die Staatskasse geleert. Wollte Friedrich Wilhelm I. den Bankrott abwenden, so musste er künftig eisern haushalten. Daher herrschte am Berliner Hof äußerste Sparsamkeit. Das Dienstpersonal wurde so weit wie möglich reduziert, Künstler und Wissenschaftler mussten ohnehin ihren Hut nehmen. Wenn Geld übrig blieb, dann kam es der brandenburgisch-preußischen Armee zugute, deren Aufbau Friedrich Wilhelm I. den Beinamen „Soldatenkönig“ verdankte. Wilhelmine schrieb später in ihren Memoiren: „Unter Friedrich I. war Berlin das Athen des Nordens, unter Friedrich Wilhelm I. wurde es zum Sparta.“ Viele ausländische Besucher fühlten sich in der vergleichsweise schlichten Atmosphäre an Hohenzollernhof ausgesprochen wohl und lobten den Verzicht auf überflüssige Prachtentfaltung als vorbildlich. Königin Sophie Dorothea hingegen litt sehr unter der völlig zeituntypischen Bescheidenheit, die im Berliner Schloss Einzug gehalten hatte. Persönlich fehlte es ihr zwar an nichts, doch sie vermisste die rauschenden Feste und opulenten Maskenbälle früherer Zeiten schmerzlich. Aber es stand nicht in Sophie Dorotheas Macht, irgendetwas zu verändern. Deshalb nahm sie sich vor, dass es zumindest ihre Kinder einmal besser haben sollten. Die Königin, die man zu Beginn ihrer Ehe eine Zeit lang für unfruchtbar gehalten hatte, brachte insgesamt 15 Kinder zur Welt, von denen fünf jedoch frühzeitig starben. Doch immerhin erreichten sechs Töchter und vier Söhne das Erwachsenenalter.
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Glänzende Zukunftsaussichten Nur kurze Zeit, nachdem der Berliner Hof die Trauerkleidung abgelegt hatte, die man nach dem Tod Friedrichs I. tragen musste, starb die Großmutter des preußischen Königspaares, Sophie von Hannover. Der Tod der alten Dame, die immerhin das vierundachtzigste Lebensjahr erreicht hatte, wäre nicht weiter erwähnenswert, hätte er nicht eine entscheidende Veränderung zur Folge gehabt. Nach einem englischen Gesetz aus dem Jahr 1701, dem Act of Settlement stand Sophie nämlich in der Thronfolge des Inselreichs an erster Stelle (vergl. S. 51), weil sie der letzte Spross der protestantischen Stuarts war. Als auch Queen Anne nur wenige Wochen später starb, bestieg deshalb Sophies ältester Sohn als Georg I. den englischen Thron, kein anderer als Sophie Dorotheas Vater. Welche glanzvolle Rangerhöhung, welch wunderbare Zukunftsaussichten! Georg August, der Bruder der standesbewussten Preußenkönigin, war nun zum Prinzen von Wales aufgestiegen und würde eines Tages ebenfalls die Krone tragen. Und das brachte Sophie Dorothea auf eine Idee, die sie in den nächsten knapp zwanzig Jahren nicht mehr loslassen sollte: Wäre es nicht wunderbar, wenn man die königlichen Kinder irgendwann miteinander verheiraten könnte? Georg Augusts Tochter, die 1711 geborene Amalie, passte altersmäßig recht gut zum preußischen Kronprinzen. Und für Wilhelmine käme nur Prinz Friedrich Ludwig (1707–1751) in Betracht, voraussichtlich Englands übernächster König. Diese Aussichten machten es Sophie Dorothea erheblich leichter, sich mit den Gegebenheiten im „Sparta des Nordens“ zu arrangieren. Im „Männerstaat“ Preußen hatten sich die königlichen Gemahlinnen tunlichst aus allen politischen Entscheidungen herauszuhalten. Das einzige Betätigungsfeld, das ihnen in dieser Hinsicht zugestanden wurde, war die Suche nach passenden Ehepartnern für die Kinder, die vor allem Ansehen und Macht des eigenen Landes mehren sollten. Zwar hatte das letzte Wort der König, doch die „Vorarbeit“ wurde meist von seiner Gemahlin geleistet. Das war bekanntlich auch bei Sophie Charlotte der Fall gewesen. Der Plan einer Doppelhochzeit, den Sophie Dorothea schon bald dem Preußenkönig unterbreitete, stieß durchaus auf offene Ohren. Es wäre die dritte verwandtschaftliche Verbindung mit dem Welfenhaus, also
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UNTERSCHIEDLICHE ERZIEHUNGSMETHODEN
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schon so etwas wie Familientradition. Momentan sprach jedenfalls nichts dagegen.
Unterschiedliche Erziehungsmethoden Noch aber waren die potenziellen Brautleute kleine Kinder. Das jedoch konnte Königin Sophie Dorothea keineswegs davon abhalten, ihr ehrgeiziges Projekt zügig voranzutreiben. Nichts lag ihr so sehr am Herzen wie das Wohl ihrer Kinder – erst recht, wenn es sich mit ihren eigenen Interessen deckte. Verhängnisvoll wurde es allerdings, wenn sie damit gegen den Willen des Königs verstieß. Besonders fatal war in dessen Augen ihr beherrschender Einfluss auf den jungen Thronfolger Friedrich, genannt Fritz. Der Junge war ein zartes Kind, eher ängstlich, häufig krank, mit großem Interesse an Büchern und Musik – also das genaue Gegenteil seines robusten Vaters, der die schöngeistigen Schriftsteller gerne als „Bläckscheißer“ bezeichnete. Deshalb war es ein Herzensanliegen des Preußenkönigs, aus seinem sensiblen Sohn einen „richtigen Kerl“ zu machen, einen strammen Soldaten, der eines Tages an der Spitze eines mächtigen und gut gerüsteten Preußen stehen sollte. Die väterlichen Methoden – cholerisches Herumbrüllen, Ohrfeigen und Prügel mit dem Rohrstock – waren da leider völlig ungeeignet. Der kleine Fritz litt entsetzlich unter dem tyrannischen Wesen seines Vaters und schloss sich eng an seine drei Jahre ältere Schwester Wilhelmine an, die – ebenfalls belesen und Musik liebend – auch ihre liebe Not mit dem König hatte. Zwar erkannte Sophie Dorothea, dass ihr Sohn dringend Unterstützung brauchte, doch sie zog es vor, Fritz hinter dem Rücken ihres Gemahls zu helfen, anstatt das Problem offen anzusprechen. Zu oft hatte sie in der Vergangenheit erleben müssen, dass Friedrich Wilhelm einen cholerischen Anfall bekam, wenn sich jemand seinem Willen widersetzte. Also hatte sie mit der Zeit gelernt, den „schönen Schein“ zu wahren, die gehorsame Gemahlin zu mimen – und hinter seinem Rücken zu tun, was sie wollte. Wie viele andere Zeitgenossen auch, liebte Sophie Dorothea das Glücksspiel, stets in gespannter Hoffnung auf einen größeren Geldgewinn. Das jedoch durfte der sparsame König auf keinen Fall herausfinden! Da Friedrich Wilhelm I. aber seiner Gemahlin nach der Thronbesteigung das Berli-
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ner Schloss Monbijou zum Geschenk gemacht hatte, besaß Sophie Dorothea ihr eigenes Refugium, in dem sie tun und lassen konnte, was ihr beliebte. Hier traf sie sich, so oft es ging, mit ihren Damen zum Glücksspiel. Für den Fall, dass der Preußenkönig doch einmal unangemeldet vorbeikam, hatte sie stets eine Handvoll Kaffeebohnen in der Schublade, die sie dann blitzschnell gegen die Dukaten austauschte und so vorgab, nur zur Unterhaltung zu spielen. Anderenfalls hätte es auch ein fürchterliches Donnerwetter gegeben! Auch die musischen Interessen des Kronprinzen konnte sie in Monbijou in aller Ruhe fördern. Hier besaß Fritz seine eigene Bibliothek, hier durfte er, so oft er wollte, auf seiner geliebten Querflöte spielen und jene elegante französische Kleidung tragen, die sein Vater schon als Kind entschieden abgelehnt hatte. Ältere Höflinge konnten sich noch gut daran erinnern, was der Prinz damals alles angestellt hatte, um sich gegen die verhasste „Verkleidung“ zu wehren. Seine elegante Mutter Sophie Charlotte pflegte ihren Sohn dem Zeitgeschmack entsprechend mit viel Spitze, Stickereien, feinen Schuhen und gepuderter Perücke auszustatten. Er hasste es! Als sein Protest nicht fruchtete, kroch Friedrich Wilhelm einmal im goldbestickten Anzug in den offenen Kamin – und wurde rußgeschwärzt wieder herausgezogen. Jetzt aber ließ Sophie Dorothea ihrem Sohn Friedrich eben jene Erziehung angedeihen, die nach Ansicht des „Soldatenkönigs“ zur Verweichlichung und Verzärtelung führen musste. Dieser stellte nämlich bei seinem Ältesten immer mehr „effeminierte, laszive, weibliche Occupationes“ fest – und genau die versuchte er dem kleinen Fritz mit aller Gewalt auszutreiben.
Hochzeitsprojekt in Gefahr Was jedoch die geplante Doppelhochzeit betraf, zog das ungleiche Königspaar lange Zeit am selben Strang. Inzwischen allerdings hatte sich am englischen Königshof eine anti-preußische Partei formiert, die sich anschickte, die Hochzeitspläne zu durchkreuzen. Zunächst wurde von interessierter Seite das Gerücht in die Welt gesetzt, Wilhelmine sei mit einem Buckel gestraft – so wie ihr preußischer Großvater Friedrich I.
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Sophie Dorothea zeigte sich über die freche Unterstellung zutiefst empört und war fest entschlossen, das böse Gerücht aus dem Weg zu räumen. Dabei ging sie schließlich bis zum Äußersten: Als eine englische Hofdame 1723 nach Berlin kam, um Wilhelmine zu begutachten, ließ Sophie Dorothea ihre Tochter wie Vieh vorführen. Die Vierzehnjährige musste sich vor aller Augen splitternackt ausziehen, um zu beweisen, dass sie tatsächlich einen makellosen Körper hatte! Doch Sophie Dorotheas drastische Methode hatte Erfolg. Nur wenige Tage später, am 9. Oktober 1723, unterzeichneten die Könige Preußens und Englands ein Schriftstück, das die geplante Hochzeit noch einmal besiegelte. Die ehrgeizige Preußenkönigin sah sich im Geist schon als Mutter einer gekrönten Tochter, als drei Jahre später unerwartete Schwierigkeiten auftraten. Ähnlich wie in London bildete sich jetzt auch am Hohenzollernhof eine höchst aktive Gruppe, die die geplante Doppelhochzeit zu verhindern trachtete. Die führenden Köpfe dieser anti-englischen Partei waren Reichsgraf Friedrich Heinrich von Seckendorff (1673–1763), kaiserlicher Vertreter in Berlin, Freund und Kriegskamerad des Preußenkönigs sowie der Minister Friedrich Wilhelm von Grumbkow (1678–1739), der wichtigste außenpolitische Berater des Monarchen und ebenfalls ein alter Freund der Familie. Am Wiener Kaiserhof hatte man den rasanten Aufstieg BrandenburgPreußens mit großem Interesse beobachtet. Hundert Jahre zuvor hatte man allenfalls von Brandenburg als „des Heiligen Römischen Reiches Streusandbüchse“ gesprochen, den Landstrich als karg und bedeutungslos eingestuft. Dann aber setzte der „Große Kurfürst“ Friedrich Wilhelm (reg. 1640–1688) die ersten wichtigen Marksteine zum Aufbau eines absolutistisch regierten Staates. Sein Sohn Friedrich krönte sich 1701 selbst zum ersten König „in“ Preußen, und Friedrich Wilhelm I. verschaffte sich Respekt durch seine große und hervorragend gedrillte Armee. Keine Frage, Brandenburg-Preußen war zu einer ernst zu nehmenden Macht im Herzen Europas geworden. In Wien wünschte man daher eine politische Annäherung an Berlin. Und welches „Mittel“ war besser geeignet als eine entsprechende Ehefrau für den preußischen Kronprinzen? Nun hatte Kaiser Karl VI. zwar mehrere Töchter, unter ihnen die später berühmte Maria Theresia, doch die kamen aufgrund ihrer katholischen Konfession für eine protestantische Verbindung kaum infrage. Karl war allerdings mit einer gebürtigen Protestantin verheiratet, Elisabeth Christine von Braunschweig-
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Wolfenbüttel. Und die wiederum hatte eine Nichte, ihr 1715 geborenes Patenkind, das wie sie selbst Elisabeth Christine hieß, eine Prinzessin aus dem Hause Braunschweig-Bevern. Sie war nicht nur evangelisch, sondern passte auch altersmäßig hervorragend zum preußischen Kronprinzen. Seckendorff und Grumbkow versuchten daher, Friedrich Wilhelm I. von den politischen Vorteilen einer Hochzeit seines Sohnes mit der BevernPrinzessin zu überzeugen. Der König schwankte. Da Preußen keinen „natürlichen“ Bündnispartner hatte, kamen für eine eheliche Verbindung sowohl England als auch Österreich infrage, wobei der „deutsch“ denkende Friedrich Wilhelm Letzteres mehr und mehr favorisierte. Zudem kannte er auch den Vater der potenziellen Braut, Ferdinand Albrecht von Braunschweig-Bevern, und mochte ihn gut leiden. Und da Seckendorff und Grumbkow gute Arbeit leisteten, neigte sich die Waagschale immer mehr zu Elisabeth Christine …
Aus der Traum! Sophie Dorothea war über die neue Entwicklung zwar nicht unterrichtet worden, doch sie spürte, dass sich etwas verändert hatte. Friedrich Wilhelm I. schien plötzlich nicht mehr so gut auf England zu sprechen. Noch düsterer wurden die Aussichten für die Doppelhochzeit, als Sophie Dorotheas Vater 1727 überraschend starb und ihr Bruder neuer König von England wurde. Der frisch gekrönte Georg II. hatte nämlich keine allzu große Lust, mit seinem preußischen Vetter noch engere Bande zu knüpfen. Die beiden kannten sich schließlich von Kindesbeinen an und konnten sich nicht ausstehen. Damals, bei Großmutter Sophie in Hannover, war Georg August der bevorzugte „Prügelknabe“ des jüngeren preußischen Kronprinzen gewesen und hatte diese Schmach nie vergessen. Das Verhältnis zwischen beiden war und blieb ausgesprochen frostig. In Berlin sahen sich Grumbkow und Seckendorff unterdessen näher am Ziel – und tatsächlich hatten sie am Ende die Nase vorn: Friedrich Wilhelm entschied sich, das geplante Doppelhochzeitsprojekt fallen zu lassen und seinen Ältesten stattdessen mit der Bevern-Prinzessin zu verheiraten. Auch für Wilhelmine würde sich gewiss eine Verbindung finden, die vorteilhafter für Preußen wäre als die mit England.
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FLUCHTVERSUCH DES KRONPRINZEN
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Fluchtversuch des Kronprinzen Damit war Sophie Dorotheas großer Traum geplatzt! Doch was sich die Königin einmal in den Kopf gesetzt hatte, das konnte und wollte sie nicht so einfach aufgeben. Schließlich hatte sie reichlich Erfahrung darin gesammelt, wie sie ihren Willen hinter dem Rücken des Gemahls doch noch durchsetzen konnte. Zunächst musste sie nur etwas Zeit gewinnen. Sophie Dorothea fuhr nun starkes Geschütz auf, legte sich zu Bett und gab vor, an einer ernsten Krankheit zu leiden, die selbst die Ärzte vor ein Rätsel stellte. Während sich die Königsfamilie große Sorgen um die Leidende machte, zerbrach sich Sophie Dorothea den Kopf über ihr weiteres Vorgehen. Und als sie – auf „wunderbare Weise“ genesen – das Bett wieder verließ, rief sie den inzwischen siebzehnjährigen Fritz in ihre Gemächer und befahl ihm, einen Brief nach England zu schreiben. Der Kronprinz gehorchte – schließlich wusste er nur zu genau, dass seine Mutter ebenso wütend werden konnte wie sein Vater. Doch während sich Friedrich Wilhelms Zorn zumeist in körperlicher Gewalt entlud, übte sich Sophie Dorothea in der subtilen Kunst des psychischen Drucks. Und so schrieb der junge Friedrich nieder, was ihm seine Mutter in die Feder diktierte: Er gab seinem englischen Onkel das Ehrenwort, keine andere Prinzessin als Amalie zu heiraten. Doch der Preußenkönig erfuhr von dem geheimen Brief nach England, schließlich hatte er überall Spione. Ein Tobsuchtsanfall ließ nicht lange auf sich warten. Friedrich Wilhelm geriet außer sich vor Empörung über den „Schurken Fritz“. Im Berliner Schloss flogen die Fetzen und das Verhältnis von Vater und Sohn, das ohnehin äußerst angespannt gewesen war, verschlechterte sich dramatisch. Nicht nur für Fritz, offenbar für die ganze Königsfamilie begann damit ein wahres Martyrium: „Die Leiden des Fegefeuers konnten den unseren nicht gleichkommen“, schrieb Wilhelmine später in ihren Memoiren. „Mein Bruder fing wieder an, die gewohnten Liebkosungen der Faust- und Stockhiebe entgegenzunehmen. Er wurde immer ungeduldiger und sagte mir täglich, dass er fest entschlossen sei zu fliehen und nur auf eine Gelegenheit warte. Er war so erbittert, dass er meine Warnungen nicht länger hörte und sich sogar häufiger wider mich erzürnte.“ Bekanntlich neigte Wilhelmine in ihren Memoiren dazu, die Ereignisse zu dramatisieren, doch mangels anderer schriftlicher Zeugnisse sind wir
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auf ihre Erinnerungen angewiesen. So soll ihr Friedrich Folgendes berichtet haben: „Als ich eines Morgens in das Zimmer des Königs trat, fasste er mich erst bei den Haaren und warf mich zu Boden, und nachdem er die Kraft seiner Arme an meinem armen Körper erprobt hatte, schleppte er mich trotz meiner Gegenwehr zum nächsten Fenster, dann fasste er die Schnur, welche den Vorhang festhielt, und legte sie um meinen Hals. Zum Glück war mir noch Zeit geblieben, mich zu erheben und ich fing an zu schreien. Ein Lakai kam mir alsbald zur Hilfe und entriss mich seinen Händen …“ Lassen wir es dahingestellt, ob sich solche erschreckenden Szenen im Berliner Schloss damals tatsächlich abgespielt haben. Fest steht jedoch, dass das Verhältnis von Vater und Sohn völlig zerrüttet war. Um den väterlichen Schikanen zu entkommen, plante Friedrich daher, bei Nacht und Nebel ins Ausland zu fliehen. Als der königlich-preußische Familienkrieg im Sommer 1730 seinen Höhepunkt erreichte, unternahm Friedrich gemeinsam mit seinem Freund Hans Hermann von Katte (1704–1730) den berühmt gewordenen Fluchtversuch, der jedoch nur wenig später scheiterte. Die beiden jungen Männer wurden als Deserteure aufgegriffen und auf der Festung Küstrin inhaftiert. Friedrich Wilhelm unterrichtete seine Gemahlin schriftlich über den Vorfall: „Madame, ich habe den Schurken Fritz arretieren lassen, ich werde ihn traitieren, wie sein Verbrechen und seine Feigheit es meritieren. Ich erkenne ihn nicht mehr für meinen Sohn, er hat mich und mein ganzes Haus entehrt; ein solch elender Mensch ist es nicht mehr wert zu leben.“ Fritz und sein Freund Katte wurden vor ein Kriegsgericht gestellt, das sich im Falle des Kronprinzen jedoch für nicht zuständig erklärte. Katte hingegen wurde zum Tode verurteilt, und Friedrich musste der Hinrichtung seines Freundes vom Fenster einer Gefängniszelle aus zusehen. Er brach ohnmächtig zusammen.
Ein Ehemann für Wilhelmine Jetzt fürchteten Sophie Dorothea und Wilhelmine, der König würde möglicherweise auch mit Fritz „kurzen Prozess“ machen. So zornig wie er war, trauten sie ihm das durchaus zu. Bekanntlich ist es nicht so weit gekommen, und auch wenn Friedrich Wilhelm eine solche Absicht im Brief an
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EIN EHEMANN FÜR WILHELMINE
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Sophie Dorothea angedeutet hat, wäre es ihm im Traum nicht eingefallen, seinen eigenen Sohn umzubringen. Das Einzige, was er von seiner Familie verlangte, war Gehorsam, bedingungsloser Gehorsam ihm gegenüber als König, Ehemann und Vater. Und da erwiesen sich solche Drohungen mitunter als hervorragendes Druckmittel. Wilhelmine nämlich zitterte um das Leben ihres „kleinen“ Bruders und schien daher bereit, alles für dessen Freilassung zu tun. Es bereitete Friedrich Wilhelm grimmige Freude, seine älteste Tochter ein wenig „zappeln“ zu lassen. Auch versetzte er sie, seitdem die „englische Heirat“ geplatzt war, mit allen möglichen Ehekandidaten in Angst und Schrecken. Einmal drohte er ihr, sie mit dem sächsischen Kurfürsten und König von Polen zu verheiraten, dem verwitweten August dem Starken, mittlerweile 57 Jahre alt und von seinem ausschweifenden Leben nur allzu deutlich gezeichnet. Als Alternative bot sich Herzog Johann Adolf von Weißenfels, nach den Worten von Sophie Dorothea „ein lumpiger Niemand, der nur von der Gnade des Königs von Polen lebt“. Nichts von alledem hatte Friedrich Wilhelm wirklich vor, es gab nämlich bereits einen passenden Kandidaten, den der Preußenkönig für seine Tochter ins Auge gefasst hatte. (Vielleicht wäre es ein Trost für Wilhelmine gewesen, hätte sie gewusst, dass sie im Fall der „englischen Heirat“ keine Königin geworden wäre. Friedrich Ludwig, ihr „Auserwählter“, starb nämlich bereits 1751, also noch zu Lebzeiten seines Vaters. Nach dem Tod Georgs II. 1760 bestieg dessen Enkel als der Dritte dieses Namens den englischen Thron.) In den langen Jahren, in denen das englische Heiratsprojekt vorbereitet und wieder verworfen wurde, und in der sich die preußische Königsfamilie – im wahrsten Sinne des Wortes – in den Haaren lag, war Wilhelmine eine erwachsene Frau geworden. Mittlerweile stand sie kurz vor ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag und drohte fast, eine „alte Jungfer“ zu werden. Doch dann rückte Vater Friedrich Wilhelm endlich mit seinem eigentlichen Vorhaben heraus, denn längst hatte er einen passenden Ehemann für sie gefunden: Es war der junge Erbprinz Friedrich von Bayreuth. Verglichen mit dem englischen Thronfolger war diese Aussicht vielleicht nicht sonderlich glamourös, doch die geplante Verbindung hatte natürlich einen handfesten politischen Hintergrund. Die Markgrafen von Bayreuth waren entfernte Verwandte des preußischen Königshauses, auch wenn es sich nur um die „arme Verwandtschaft“
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handelte. Fest stand jedoch: Sollte es eines Tages keinen männlichen Erben geben, dann würde die Bayreuther Markgrafschaft an Preußen fallen. (Das geschah später tatsächlich, wenn auch nur für kurze Zeit. 1806 zwang Napoleon das unterlegene Preußen zur Abtretung von Ansbach-Bayreuth, das seitdem zu Bayern gehört.) Damit Wilhelmine zu dieser Verbindung auch tatsächlich „Ja“ sagte, setzte der königliche Vater ein weiteres Druckmittel ein, das seinen Zweck nicht verfehlte: Sollte sie den Erbprinzen von Bayreuth heiraten, dann würde ihr Bruder Friedrich freikommen, anderenfalls müsse er eben noch länger auf der Festung Küstrin schmachten. Damit hatte Wilhelmine gar keine andere Wahl, als dem väterlichen „Befehl“ zu folgen. Auch der Kronprinz wusste von diesem Arrangement, glaubte jedoch nicht, dass der Vater sein Versprechen tatsächlich erfüllen würde, und schrieb im Frühjahr 1731: „Man täuscht Dich, wenn man Dir sagt, durch Deine Heirat würde ich aus meiner Haft loskommen.“ Doch dass Wilhelmine so schnell einwilligte, lag gewiss auch daran, dass sie froh war, dem klaustrophobischen Elternhaus endlich entkommen zu können. Nun war der Preußenkönig zwar hochzufrieden mit der Zustimmung seiner Tochter, Sophie Dorothea hingegen schäumte vor Wut. Sie bezeichnete Wilhelmines Verhalten als „Verrat“, warf ihr „Bosheit des Herzens“ sowie „niedere Gesinnung“ vor und drohte ganz offen: „Ich schwöre ewigen Hass und werde niemals verzeihen.“ Das änderte sich auch nicht, als sie ihren künftigen Schwiegersohn persönlich kennenlernte, als der im Mai 1731 nach Berlin kam. „Das Medusenhaupt hat nie einen schrecklicheren Eindruck erweckt, als diese Nachricht bei der Königin hervorrief“, schrieb Wilhelmine später in ihren Memoiren. „Sie stand ganz verwirrt und wechselte so oft die Farbe, dass wir alle eine Ohnmacht befürchteten. Den Prinzen von Bayreuth würdigte sie keines Blickes.“ Wilhelmine hingegen war angenehm überrascht. Der zwei Jahre jüngere Friedrich von Bayreuth gefiel ihr recht gut. Noch nach mehrjähriger Ehe beurteilte sie ihn als „freigiebig, mildtätig, gütig, höflich, zuvorkommend, nie übler Laune, mit einem Wort: Er besitzt alle Tugenden und ist frei von Laster.“ Natürlich wusste Wilhelmine nur allzu gut, dass die Residenzstadt Bayreuth ein unscheinbares „kleines Nest“ war, in nichts, aber auch gar nichts mit London vergleichbar. Doch der Traum von der imperialen Metropole
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war endgültig ausgeträumt. Nur Sophie Dorothea träumte weiter, sogar noch an Wilhelmines Hochzeitstag am 20. November 1731. Sie hatte nämlich heimlich Kontakt zu ihrem englischen Bruder aufgenommen und hoffte inständig auf positive Nachrichten aus London. Deshalb erteilte sie ihrer Tochter noch auf dem Weg zum Traualtar ein paar wichtige Instruktionen: Komme, was da wolle, drängte die Königin, die Ehe dürfe auf keinen Fall vollzogen werden, denn nur dann bestände die Möglichkeit, sie auch später wieder zu annullieren. So zumindest schreibt es Wilhelmine in ihren Memoiren nieder. Leider teilt sie uns nicht mit, was sie selbst von den mütterlichen „Ratschlägen“ hielt, sondern berichtet nur lapidar: „Ich wollte etwas erwidern, dann kam der König hinzu, und es war nicht mehr möglich, mit ihr zu reden.“ Nach der Trauung zeigte sich, dass der Preußenkönig Wort gehalten hatte. Unter den Hochzeitsgästen befand sich auch Kronprinz Friedrich, der aus seiner Festungshaft entlassen worden war. Zuvor musste der dem Vater jedoch einen Brief der Reue schreiben und für die Zukunft unbedingten Gehorsam schwören. Das bedeutete auch, dass er zwei Jahre später die Frau heiraten musste, die der König für ihn bestimmt hatte: Elisabeth Christine von Braunschweig-Bevern. Bald zeigte sich, dass Wilhelmine den mütterlichen „Befehl“, sich ihrem Ehemann zu verweigern, doch nicht befolgt hatte. Noch vor ihrer Abreise nach Bayreuth im Januar 1732 war die Prinzessin schwanger und brachte im August ihr erstes und einziges Kind zur Welt – Tochter Friederike.
Bayreuth – ein neues Betätigungsfeld Wilhelmines neue Heimat Bayreuth fand vor ihren geschmackssicheren Augen keine Gnade, allein ihre Gemächer im markgräflichen Schloss empfand sie als einzige Zumutung: „Es führte ein langer, von Spinnweben überzogener Korridor dahin, der so schmutzig war, dass einem ganz übel wurde. Ich trat in ein großes Zimmer, dessen Decke, obwohl sie altfränkisch war, die Hauptzierde bildete. Das Nebenkabinett war mit schmutzigem Brokat ausgeschlagen, dann kam ein zweites, dessen durchstochene grüne Damastmöbel von prächtiger Wirkung waren“, heißt es in ihren Memoiren. „Ich war von diesem Hofe sehr wenig erbaut.“
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Doch solange der sparsame alte Markgraf lebte, musste sich Wilhelmine wohl oder übel mit den Gegebenheiten abfinden. Erst nach dessen Tod 1735 öffnete Friedrich von Bayreuth bereitwillig die Geldschatulle, um endlich die Wünsche seiner verwöhnten Gemahlin erfüllen zu können. Als Erstes schenkte er ihr die Eremitage, etwa sechs Kilometer östlich der Stadt. Aufgrund seiner außergewöhnlichen Architektur hätte man dieses Schloss auch „für eine von Felsen umgebene Ruine halten können“, wie uns Wilhelmine in ihren Memoiren mitteilt. Endlich hatte die frisch gebackene Markgräfin eine Aufgabe gefunden, die ihr große Freude machte und sie voll in Anspruch nahm. Voller Elan kümmerte sie sich um die Neugestaltung der Parkanlage, ließ Wege und mehrere künstliche Ruinen anlegen. Um auch dem Interieur des Schlosses ihre persönliche Note zu verleihen, gab Wilhelmine die Gestaltung des japanischen Zimmers in Auftrag, dazu eines Musikzimmers und eines Spiegelkabinetts. Mit ihrem Bruder Friedrich, seit dem Tod des Vaters 1740 neuer König von Preußen, führte Wilhelmine einen regen Briefwechsel, in dem sich die beiden auch über persönliche Dinge austauschten. Friedrichs Thronbesteigung hatte dem Verhältnis der Geschwister eine neue Note gegeben, jetzt war der junge Preußenkönig umschwärmter Mittelpunkt der Familie und das große Vorbild für alle, was Literatur, Philosophie, Musik und Architektur betraf. Nachdem Friedrich II. dem berühmten Architekten von Knobelsdorff den Auftrag erteilt hatte, das Berliner Opernhaus zu errichten, wollte Wilhelmine ihrem königlichen Bruder in puncto fürstlicher Prachtentfaltung nicht nachstehen. Und so stürzte sie sich mit Vergnügen in die Planungen für ein Bayreuther Gegenstück. Sie engagierte den Hofarchitekten Joseph Saint-Pierre, daselbst ein Opernhaus zu errichten, sowie Giuseppe Galli Bibiena und dessen Sohn Carlo, um den Innenausbau durchzuführen. So entstand zwischen 1745 und 1748 im Zentrum Bayreuths das berühmte markgräfliche Opernhaus, wohl eines der schönsten höfischen Theater Deutschlands. Engel und Putten scheinen durch die Lüfte zu schweben, lebendige Gesichter blicken einen von den Verzierungen an, das Deckengemälde zeigt den Sonnengott Apoll und sein Gefolge. Am 14. März 1748 schrieb Wilhelmine stolz nach Berlin: „Dieser Tage habe ich das neue Opernhaus besichtigt. Ich war sehr erfreut darüber. Das Innere ist fast vollendet. Bibiena hat in diesem Theater die Quintessenz des italienischen und französischen Stils vereinigt.“
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Nach der Einweihung des Opernhauses, die mit der Hochzeit ihrer Tochter Friederike gebührend gefeiert wurde, wandte sich Wilhelmine neuen Aufgaben zu. Zwischen 1749 und 1753 ließ sie im Park der Eremitage das Neue Schloss errichten, einen Bau, der wohl nicht ohne Absicht an das Potsdamer Sanssouci Friedrichs II. erinnert, wenngleich die Flügel des Bauwerks im Halbkreis errichtet wurden. Wilhelmines wohl fantasievollste Schöpfung aber ist der Felsengarten Sanspareil zwischen Bamberg und Bayreuth, der ebenfalls von Joseph Saint-Pierre angelegt wurde. Er verkleidete eine natürliche Höhle, „Grotte der Kalypso“ genannt, mit Glas und bunten Steinen und schuf weitere künstliche Grotten. Eigentliches Glanzstück der Anlage ist das aus schweren Tuffsteinen errichtete Naturtheater, dessen Zuschauerraum als Felsenhöhle gestaltet wurde, während die Bühne ein antikes Theater im Verfallszustand imitiert. Ein verheerendes Feuer, das im Januar 1753 weite Teile der alten Bayreuther Residenz zerstörte, bot Wilhelmine die Gelegenheit, die Bautätigkeit gemeinsam mit ihrem Gemahl fortzusetzen: „Ich habe mir das Vergnügen gemacht, den Plan meines Palastes selbst zu entwerfen“, schrieb sie an Friedrich II. nach Berlin. Auch wenn man diesen Satz nicht allzu wörtlich nehmen darf, so war die Anteilnahme der Markgräfin am Bau des neuen Stadtschlosses im „Bayreuther Rokokostil“ doch recht groß. Auch im Inneren fand Wilhelmine hinreichend Gelegenheit, die Räume nach ihren Vorstellungen zu gestalten, ein japanisches Teezimmer einzurichten, verschiedene Gartenzimmer sowie das Spiegelscherbenkabinett, das damals an allen europäischen Höfen groß in Mode kam.
Wilhelmine, die „Schöpferin Bayreuths“ Nun hatte der markgräfliche „Bauboom“ aber auch eine Schattenseite: Friedrich von Bayreuth stürzte sein kleines Land nämlich in große Schulden, bei seinem Tod waren es schätzungsweise 3,8 Millionen Gulden. Die gewaltige Höhe dieser Summe lässt sich erst dann richtig ermessen, wenn man bedenkt, dass ein Handwerker damals etwa 200 bis 500 Gulden im ganzen Jahr verdient hat. Doch darüber machte sich Wilhelmine keine Gedanken, und die heutigen Einwohner der Stadt sind ohnehin mächtig
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stolz auf ihre kunstsinnige Markgräfin, die als eigentliche „Schöpferin Bayreuths“ gefeiert wird. Neben den repräsentativen Gebäuden entstanden in diesem „Goldenen Zeitalter“ auch zahlreiche Stadtpalais und prachtvolle neue Straßenzüge, die Bayreuth noch heute zu einem „fränkischen Kleinod“ machen. Wilhelmines steinernes Vermächtnis lebt bis heute fort. Als Gemahlin des Prinzen von Wales, der nie den englischen Thron bestiegen hat, wäre die talentierte preußische Prinzessin vermutlich längst in Vergessenheit geraten, ebenso wie ihre fünf jüngeren Schwestern, für die sich heute kaum noch jemand interessiert.
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10 „Königin der Herzen anno 1795“ – Wie die Ehe Georgs IV. mit Caroline von Braunschweig beinahe die Revolution in England auslöst
An Prinzen im heiratsfähigen Alter herrschte im englischen Königshaus kein Mangel. Doch die Söhne Georgs III. hatten keine rechte Lust zu heiraten, und so stand die Thronfolge auf dem Spiel. Da musste der Prinz von Wales als Erster in den sprichwörtlichen „sauren Apfel“ beißen und 1795 seine Braunschweiger Cousine Caroline heiraten. Die Ehe war eine einzige Katastrophe. Von Anfang an suchte der Prinz nach einem triftigen Scheidungsgrund, um die ungeliebte Gattin loszuwerden. Dass er dabei äußerst dubiose Methoden anwandte, kam bei den Untertanen überhaupt nicht an. Zuletzt war Georg IV. so verhasst, dass sein Thron bedenklich wackelte und England kurz vor einem gewaltsamen Umsturz stand.
„Königin der Herzen“ Wir alle erinnern uns nur allzu gut an die Dramen, die sich in den Neunzigerjahren im englischen Königshaus abgespielt haben: Prinz Charles, der Thronfolger, betrog die ihm angetraute Diana ganz ungeniert mit seiner Jugendliebe Camilla – und Diana ging mit intimen Details an die Öffent-
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lichkeit. So zu unfreiwilligen Zeugen einer unglücklichen Paarbeziehung bei den Royals gemacht, schlugen sich viele auf die Seite der Prinzessin und kürten sie nach deren Scheidung zur „Königin der Herzen“. Die königliche Seifenoper sollte sich bald zum nationalen Skandal ausweiten, der die englische Monarchie in ihren Grundfesten erschütterte. Nach Dianas tragischem Unfalltod im August 1997 sank das Ansehen des Königshauses auf einen Tiefpunkt, während ganz England um die tote „Königin der Herzen“ trauerte. Ein einmaliger Vorgang? Keinesfalls! Schon knapp 200 Jahre zuvor, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, steckte die englische Monarchie in einer ähnlich tiefen Krise. Auch damals wurde der Prinz von Wales von einer kritischen Öffentlichkeit unter die Lupe genommen, während sich die meisten Engländer hinter seine gedemütigte Gemahlin stellten – die aus Deutschland stammende Caroline von Braunschweig. Diese wurde gleichsam zur Stammmutter aller „Königinnen der Herzen“.
Die „Zwangsheirat“ des Prinzen of Wales The Prince of Wales was not amused. Georg, der englische Thronfolger und Sohn des gleichnamigen Königs Georg III., musste seinen Verdruss wieder einmal mit Alkohol betäuben. Grund genug dazu hatte er, schließlich hatten ihm Vater und Parlament gewissermaßen die Pistole auf die Brust gesetzt und ihn regelrecht gezwungen, endlich zu heiraten und für Nachwuchs zu sorgen. Ohne lange nachzudenken, hatte sich Georg für seine Cousine Caroline von Braunschweig (1768–1821) entschieden. Er kannte die Prinzessin zwar nur von Porträts, war aber ohnehin der Meinung, „von den verdammten deutschen Weibern“, die heiratsfähig waren, sei „eine so gut wie die andere“. Dass man ihn so brüsk ins Ehejoch zwang, lag nicht nur daran, dass der Prinz mittlerweile schon seinen dreiunddreißigsten Geburtstag hinter sich hatte. Georg pflegte nämlich einen äußerst aufwändigen Lebensstil und hatte mit den Jahren einen riesigen Schuldenberg angehäuft, zuletzt rund 550 000 Pfund, mehr als das Zehnfache seiner jährlichen Apanage! Nach heutigem Wert waren das grob gerechnet 30 Millionen Euro. Das Geld war ihm einfach so in den Händen zerronnen. Allein der luxuriöse Ausbau sei-
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nes Wohnsitzes Carlton House hatte Unsummen verschlungen, hinzu kamen Ausgaben für Kunstgegenstände, opulente Feste, Frauen und vieles mehr. Die große Spielleidenschaft des Thronfolgers hatte natürlich auch ihren Tribut gefordert. Das englische Parlament aber war nur dann bereit, die Schulden zu begleichen, wenn Georg umgehend heiraten würde. Am Nachmittag des 5. April 1795 wurde Prinzessin Caroline in London erwartet. Sie war die Tochter von Georgs Tante Augusta, einer Schwester seines Vaters, die mit dem Braunschweiger Herzog Karl Wilhelm Ferdinand verheiratet war. Caroline schien nicht gerade das zu sein, was man „eine gute Partie“ nannte, aber es war der ausdrückliche Wunsch Georgs III. gewesen, seinen Sohn mit der deutschen Nichte zu verheiraten. Im Londoner St. James Palast wartete der Prinz mit wachsender Unruhe auf die Ankunft seiner Braut. Der englische Diplomat Lord Malmesbury war eigens nach Braunschweig gesandt worden, um Caroline zunächst auf ihre neuen Aufgaben vorzubereiten und dann nach England zu begleiten. Georg hatte an diesem Nachmittag schon mehrere Gläser Brandy geleert, doch auch die konnten seine Nervosität nicht mildern, im Gegenteil. Wenngleich er seine Cousine noch nie zu Gesicht bekommen hatte, überlegte er bereits in diesem Stadium, welche Möglichkeiten es wohl gab, sie so schnell wie möglich wieder loszuwerden … Schließlich war es so weit. Ein Bediensteter meldete die Ankunft der deutschen Prinzessin und ihres englischen Begleiters. Georg holte tief Luft – und sah sie auch schon vor sich, seine zukünftige Gemahlin. Caroline entsprach in etwa dem, was er sich in seinen schlimmsten Träumen vorgestellt hatte: ein norddeutscher Bauerntrampel, unscheinbar, klein und pummelig, mit aschblondem Haar und hellen Augenbrauen. Zu allem Überfluss trug sie auch noch ein gelbes Seidenkleid, das ihre Blässe umso mehr betonte. Es kostete Georg einige Überwindung, Caroline zur Begrüßung zu umarmen, wobei es ihm nicht entging, dass sie einen dezenten Schweißgeruch ausströmte. Von Körperhygiene hatte man in Braunschweig offenbar noch nichts gehört. Georg spürte, wie Übelkeit in ihm hochstieg, trank noch rasch einen Schluck Brandy und verließ den Raum, in dem Malmesbury und Caroline reichlich verdutzt zurückblieben.
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Zufallstreffer in der Hochzeitsnacht Mit der Hochzeit am 8. April 1795 begann eine katastrophale Ehe, die selbst in fürstlichen Kreisen ihresgleichen suchte. Schon die Hochzeitsnacht war ein Desaster. Georg hatte wieder einmal zu Hochprozentigem gegriffen und war so betrunken, dass er vor dem Kamin im Schlafzimmer zu Boden stürzte und, wie Caroline später gestand, „schlief, wo er hingefallen war und wo ich ihn liegen ließ“. Und doch muss es Georg entweder noch in der Hochzeitsnacht oder einige Tage später gelungen sein, seine ehelichen Pflichten zu erfüllen. Es dauerte nämlich nicht lange, bis ihn Caroline mit der freudigen Nachricht überraschte, dass sie guter Hoffnung war. Georg reagierte auf die überraschende Neuigkeit mit durchaus gemischten Gefühlen. Einerseits war er natürlich froh, dass damit die Thronfolge gesichert war. Denn ganz gleich, ob Caroline einen Jungen oder ein Mädchen zur Welt bringen würde – beide durften die englische Krone tragen! Andererseits irritierte es ihn doch, dass Caroline so schnell schwanger geworden war, obwohl sich im Ehebett gar nicht viel abgespielt hatte. Es ist nicht bekannt, ob Georg selbst misstrauisch wurde oder ob es seine Geliebte war, die intrigante Hofdame Lady Jersey, die ihn womöglich auf die Idee brachte, das Kind, das Caroline erwartete, sei von einem anderen Mann. Vielleicht hatte die Prinzessin ja vor ihrer Hochzeit eine Affäre gehabt. Ganz auszuschließen war es nicht, so etwas lag schließlich in der Familie!
Spekulationen über die Vaterschaft Tatsächlich gab es in Carolines Familie ein paar delikate Geschichten, über die man in Braunschweig nicht gerne sprach. Ihre Tante Elisabeth, Schwester ihres herzoglichen Vaters, war einmal mit dem preußischen Kronprinzen und späteren Friedrich Wilhelm II. verheiratet gewesen. Weil aber der Gemahl noch einige andere Frauen liebte, hatte Elisabeth beschlossen, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, und sich ebenfalls einen Liebhaber ins Bett geholt. Das musste sie büßen! Während man den Herren der Schöpfung einen Seitensprung noch großzügig nachsah, musste die „Ehre“ der Frauen auf jeden Fall unbefleckt bleiben. Schließlich sollte niemand daran
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zweifeln, dass in den Adern der Prinzen und Prinzessinnen auch „blaues“ Blut floss. Die Vorstellung, dass ein „Bastard“ den Thron besteigen könnte, war unerträglich. Trotzdem gab es immer wieder fürstliche Damen, die auch außerhalb des Ehebettes nach Vergnügen und Ablenkung suchten. Caroline Mathilde, die gemeinsame Tante von Georg und Caroline, Gemahlin des dänischen Königs, war ebenfalls dem Charme eines anderen erlegen, in diesem Fall des königlichen Leibarztes Struensee. Den kostete die Affäre den Kopf. Und Carolines ältere Schwester Augusta war bei der Geburt eines Kindes gestorben, das nachweislich nicht von ihrem Ehemann gezeugt worden war. Es lag also nahe, dass es auch Caroline selbst mit der ehelichen Treue nicht ganz so genau nahm. Georg stellte sogleich gründliche Nachforschungen darüber an, wer als Erzeuger des Kindes, das Caroline unter dem Herzen trug, infrage kommen könnte – und Lady Jersey unterstützte ihn dabei nach Kräften. Den Sommer des Jahres 1795 verbrachte das Thronfolgerpaar im englischen Seebad Brighton, wo sich Caroline in aller Ruhe auf die Geburt des Kindes vorbereiten sollte. Sie war jedoch die meiste Zeit allein, denn Georg ging seinen eigenen Interessen und Leidenschaften nach. Caroline fühlte sich einsam. Hier in England war sie eine Fremde und hatte keine Freundinnen, mit denen sie sich die Langeweile vertreiben konnte. Umso größer war die Freude, als eines Tages überraschender Besuch gemeldet wurde: Captain Pole, den Caroline auf ihrer Überfahrt nach England kennengelernt hatte. Sie begrüßte den Gast so überschwänglich, wie es ihre Art war, und ging auch gleich auf dessen Vorschlag ein, ein wenig am Meer spazieren zu gehen. Dass sich ihre Hofdamen, die sie zunächst begleitet hatten, irgendwann heimlich zurückzogen, scheint sie nicht bemerkt zu haben. Und wenn, dann hat sie sich sicherlich nichts dabei gedacht. Georg indessen erhielt am nächsten Tag sogleich ein anonymes Schreiben: „Wundern Sie sich nicht über den Vorzug, den Ihre Gemahlin dem Captain Pole gibt. Die Gräfin* und die anderen Damen des Gefolges werden Ihnen die Versicherung geben können, dass dies nicht das erste Mal war, dass Ihre Gemahlin einen Abend mit diesem Offizier verbrachte.“ Nach außen hin gab sich Georg stark empört, insgeheim aber frohlockte er und sah sich dem Ziel, Caroline loszuwerden, einen großen *
Gemeint ist Lady Jersey
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Schritt näher. War Captain Pole vielleicht der Vater des Kindes? Wutentbrannt stellte er Caroline zur Rede, die natürlich ihre Unschuld beteuerte. Ihre Begegnungen mit Pole seien völlig harmlos gewesen, verteidigte sie sich. Nichts als ein wenig Geplauder. Schließlich musste Georg einsehen, dass er so nicht weiterkam. Außer dem anonymen Schreiben – dessen Absenderin ihm freilich sehr wohl bekannt war – gab es keinerlei Indizien dafür, dass Caroline ihn betrogen hatte. Er musste also wohl oder übel auch weiterhin nach einem echten Scheidungsgrund suchen.
Getrennte Wohnsitze Praktisch von Anfang an lebte das englische Thronfolgerpaar getrennt von Tisch und Bett. Die Treppe, die beide Wohnungen in Carlton House miteinander verband, wurde nie benutzt. Am 7. Januar 1796 brachte Caroline ihr erstes und einziges Kind zur Welt. Es war ein Mädchen, das nach seiner englischen Großmutter Charlotte* getauft wurde. Ganz England jubelte über die Geburt der kleinen Prinzessin, die, so wie es aussah, eines Tages als neue Königin über das Inselreich herrschen würde. Auch Georg entwickelte sich mit der Zeit zum stolzen Vater, denn dass Charlotte sein eigen Fleisch und Blut war, konnte bald niemand mehr übersehen. Die Kleine war ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Leider starb sie schon 1817 im Kindbett, sodass die Thronfolge einmal wieder nicht gesichert war. Die Ehe des Prinzen und der Prinzessin von Wales wurde auch nach der Geburt des Kindes kein bisschen besser. Noch ein Jahr sollte es Georg mit Caroline unter einem Dach aushalten, dann konnte er ihren Anblick nicht mehr ertragen. Selbst ihre seltenen Treffen bei offiziellen Anlässen waren offenbar schon zu viel für ihn! Die Braunschweigerin entsprach in keiner Weise dem Bild, das er von der Frau an seiner Seite hatte. Abgesehen von
*
Die Gemahlin Georgs III. war Charlotte von Mecklenburg-Strelitz, eine Tante der berühmten Preußenkönigin Luise (1776–1810). Es war auch Charlottes Wunsch gewesen, dass Luise ihren ältesten Sohn heiraten sollte, bevor sich die Prinzessin mit Friedrich Wilhelm von Preußen, dem nachmaligen Friedrich Wilhelm III. vermählte.
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ihrem wenig attraktiven Äußeren hatte sie große Schwierigkeiten, sich der höfischen Etikette anzupassen. Sie redete, wie ihr der Schnabel gewachsen war und plauderte selbst mit dem Dienstpersonal unbefangen über Details wie die verpatzte Hochzeitsnacht. Es war nicht zu übersehen, dass Caroline eine ausgesprochen mangelhafte Erziehung genossen haben musste! Georg konnte nicht anders, er musste sie einfach loswerden. Bereits im April 1796 hatte Georg seiner Gemahlin einen ungewöhnlichen Brief geschrieben. Darin hieß es, die „Natur“ habe beide „nun einmal nicht übereinstimmend geschaffen“. Georg schlug Caroline deshalb vor, sich ganz offiziell zu trennen. „Selbst in dem Falle, dass meiner Tochter ein Unglück zustößt, werde ich nicht von den Buchstaben der übereingekommenen Einschränkung abgehen und niemals, zu keiner Zeit, eine innigere Bindung fordern.“ Seinen Freunden vertraute der Prinz an, dass er lieber „mit Schlangen und anderem Getier an einem Tisch sitzen“ wolle, als mit der Frau, die er vor einem Jahr hatte heiraten müssen! Caroline hatte keine andere Wahl, als London zu verlassen. Georg wies ihr als neuen Wohnsitz das vergleichsweise bescheidene Montague House am Rande des Greenwich Parks am Südufer der Themse zu, das sie im Sommer 1797 bezog. Den Affront, von ihrem Gemahl verbannt zu werden, hatte sie inzwischen gut verkraftet, nur eines trübte den Gedanken an ihr neues Leben: Die kleine Charlotte musste in London bleiben. Caroline durfte sie jedoch regelmäßig besuchen oder in Montague House empfangen. Allem Anschein nach hatte Georg eine Lösung gefunden, mit der er und seine ungeliebte Gemahlin gut leben konnten.
Ehebrecherin Caroline? Während Caroline ihre neue Freiheit in Montague House in Blackheath genoss und zahlreiche (männliche) Besucher zu sich einlud, sann Georg jedoch über neue Möglichkeiten einer legalen Scheidung nach. Zwei Jahre zuvor hatte sich der Verdacht, Caroline hätte ihn mit Captain Pole betrogen, noch als völlig haltlos erwiesen. Doch jetzt kamen dem Prinzen neue interessante Gerüchte zu Ohren. Dem Vernehmen nach ging es in Montague House recht unkonventionell zu. So verlangte man etwa von einer Prinzessin, dass sie nie ohne „Anstandsdame“ das Haus verließ und sich
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unter keinen Umständen allein mit einem männlichen Gast im Raum aufhielt. Doch für Caroline galten diese Regeln offenbar nicht, denn sie hatte sich vorgenommen, sich von keinem Menschen mehr Vorschriften machen zu lassen. Demonstrativ ging sie mit den Herren allein durch den Park spazieren, selbst nach Einbruch der Dunkelheit. Anschließend zog sie sich mit ihren Gästen auch gerne ins Séparée zurück – ohne lästige Hofdamen. Solche Begebenheiten mögen völlig harmlos gewesen sein, wurden von der Umgebung der Prinzessin aber doch mit einer gewissen Irritation zur Kenntnis genommen. Daher blieb es nicht aus, dass wieder einmal über Caroline getuschelt wurde und Gerüchte über heimliche Liebschaften die Runde machten. Caroline fühlte sich in ihrem neuen Zuhause vollkommen sicher und kam überhaupt nicht auf die Idee, dass es unter ihrem Hauspersonal möglicherweise auch Spione geben könne, die in Diensten des Thronfolgers standen. Sollte sich nämlich herausstellen, dass die Prinzessin tatsächlich intime Beziehungen zu einem anderen Mann unterhielt, dann wäre das endlich der herbeigesehnte Scheidungsgrund! Den betreffenden Mann würde das freilich Kopf und Kragen kosten, denn im Königshaus galt Ehebruch als Hochverrat und wurde mit dem Tode bestraft! Doch auch Caroline hätte in diesem Fall gewiss nichts zu lachen gehabt, wäre womöglich auf einem entlegenen englischen Schloss eingekerkert worden. Das Schicksal ihrer unglücklichen Tanten stand ihr mahnend vor Augen. Daher ist es äußerst fraglich, ob sie sich wirklich auf eine intime Beziehung eingelassen hätte. Doch Georg war fest entschlossen, weitere Mittel und Wege zu finden, um ein Scheidungsverfahren gegen Caroline eröffnen zu lassen.
Ein kleiner Adoptivprinz Im Frühjahr 1802 lernte Caroline die schöne Lady Douglas kennen und freundete sich mit ihr an. Das etwa gleichaltrige Ehepaar Douglas wohnte in der Nachbarschaft und hatte zwei kleine Mädchen. Das regelmäßige Zusammentreffen mit dieser Familie machte Caroline immer wieder schmerzhaft bewusst, wie sehr sie ihre eigene Tochter vermisste. Auch wenn sie Charlotte regelmäßig sehen durfte – dafür sorgte schon allein König Georg III. – so fehlte ihr doch ein kleines Wesen, das sie lieb haben
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konnte. Zwar kümmerte sich Caroline intensiv um mehrere verwaiste Kinder aus der Nachbarschaft, lud sie zum Essen nach Montague House ein und sorgte dafür, dass die Jungen und Mädchen eine vernünftige Ausbildung erhielten, doch das war kein wirklicher Ersatz für ein eigenes Kind. Deshalb bat sie im Sommer 1802 einen ihrer Hausangestellten, sich nach einem Baby umzusehen, das sie bei sich aufnehmen könnte. Schon im Oktober meldete sich eine junge Frau. Sie stellte sich als Sophia Austin vor, berichtete von den traurigen Umständen, in denen sie lebte, der Arbeitslosigkeit ihres Mannes und den Schwierigkeiten, die hungrigen Mäuler der Familie zu stopfen. Erst vor kurzem war auch noch ein weiteres Kind hinzugekommen, der kleine William. Caroline hörte der Frau aufmerksam zu und erklärte ihr dann, wie sie sich die Lösung vorstellte: Nicht nur wollte sie sich darum kümmern, dass Vater Austin wieder in Lohn und Brot kam, sondern schlug gleichzeitig vor, Baby William zu sich zu nehmen und selbst großzuziehen. Seine Eltern könnten ihn dennoch so oft besuchen, wie sie wollten. Der Not gehorchend willigte Sophia Austin ein und übergab den keinen Sohn der Obhut von Prinzessin Caroline. Dass ein Mitglied des englischen Königshauses ein Kind aus einer Arbeiterfamilie „adoptierte“, das hatte es nie zuvor gegeben. Aber das kümmerte Caroline nicht, ebenso wie die abschätzigen Blicke, die manche ihrer Bediensteten dem neuen „Familienmitglied“ zuwarfen. Caroline war einfach nur glücklich, genoss ihr neues Leben jenseits der hektischen Betriebsamkeit, die bislang in Montague House geherrscht hatte, und sorgte sich rührend um „Söhnchen“ William. Leider zerbrach im Winter 1802/03 die enge Freundschaft mit Lady Douglas. Die Gründe dafür liegen im Dunkeln. Es hat allerdings den Anschein, dass es wieder um einen mutmaßlichen Liebhaber ging. Jedenfalls hatte Sir Sidney Smith, ein guter Freund des Ehepaar Douglas, eine Zeit lang heftig mit Caroline geflirtet und mit unverhohlener Eifersucht reagiert, als die Prinzessin ihre Gunst plötzlich einem anderen Herrn zuwandte. Die Aufregung legte aber sich spätestens, als Familie Douglas nach einem Jahr in eine andere Gegend zog. In Montague House kehrte wieder Ruhe ein – bis sich im Herbst 1804 ein neuer Skandal anbahnte. Das Ehepaar Douglas gab an, drei anonyme Briefe erhalten zu haben, die aufgrund der Handschrift auf Carolines Urheberschaft hinzudeuten schienen. Den Schreiben waren obszöne Zeichnungen beigelegt mit Erläu-
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terungen wie „Sir Sidney Smith und Lady Douglas beim Liebesspiel“ oder „Sir Sidney Smith macht Lady Douglas zu seiner Geliebten“. Caroline wies die gegen sie erhobenen Vorwürfe natürlich weit von sich und behauptete ihrerseits, vom Ehepaar Douglas belästigt worden zu sein. Damit stand Aussage gegen Aussage. Es kam nie heraus, wer die anonymen Schreiben tatsächlich verfasst hatte. Womöglich der Prinz von Wales? Das war keineswegs auszuschließen, zumal sein Vater damals eine schwere gesundheitliche Krise durchmachte, sodass Georg vorübergehend die Regentschaft übernahm. Ein kleiner Skandal, der Carolines Ruf beschädigt hätte, wäre ihm da gerade recht gekommen, um die verhasste Gemahlin in ein schlechtes Licht zu setzen. Doch Caroline hatte Glück, um die angeschlagene Gesundheit von Georg III. nicht zu gefährden, passierte erst einmal gar nichts, doch der nächste Schlag gegen Caroline ließ nicht lange auf sich warten.
Ein unglaublicher Verdacht Kaum war Georg III. wieder genesen, da platzte die nächste „Bombe“. Im November 1805 verriet Lady Douglas der Königsfamilie nämlich eine schier unglaubliche Neuigkeit: Carolines „Adoptivsohn“ William Austin, so behauptete sie, sei in Wirklichkeit das leibliche Kind der Prinzessin! Sie habe es in Montague House zur Welt gebracht. Das könne sie, Lady Douglas, sogar beweisen und beschwören! Ehebruch! In den Ohren des Prinzen von Wales muss diese Nachricht wie Musik geklungen haben – vorausgesetzt, er steckte nicht selbst hinter der ganzen Geschichte. Umgehend übergab er den „Fall“ seinen Anwälten und beauftragte sie, möglichst konkrete Beweise für Carolines Fehltritte zu sammeln. Im Mai 1806 eröffnete eine parlamentarische Untersuchungskommission das „heikle Ermittlungsverfahren“ gegen Caroline. Vorerst blieb das Ganze jedoch geheim. Weder die Öffentlichkeit noch Caroline selbst sollten etwas von den gegen sie erhobenen Vorwürfen erfahren. Als Erste trat Lady Douglas in den Zeugenstand, um ihre Aussage zu machen: „Im Mai oder Juni 1802 kam die Prinzessin einmal ganz allein zu mir und sagte: ‚Ich solle einmal raten, was ihr widerfahren sei …, worauf sie mir endlich eröffnete, sie sei in anderen Umständen und fühle das Kind
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sich bewegen. Wer der Vater des Kindes ist, hat sie mir nicht gesagt, als sie mir aber ihre Umstände entdeckte, dachte ich gleich daran, Sir Sidney Smith möge wohl der Vater sein.‘ “ Lady Douglas gab sich als scharfe Beobachterin mit ausgezeichnetem Gedächtnis: „Am 30. oder 31. Oktober 1802 sah ich die Prinzessin vor ihrem Hause spazieren gehen. Sie war so gekleidet, dass man nicht sehen konnte, ob sie schwanger war, denn sie trug ein langes Kleid und einen sehr dicken Muff.“ Danach habe sie Caroline zwei Monate lang nicht mehr gesehen. „Als ich im Januar zurückkam, ging ich sogleich nach Montague House, wo ich auch empfangen wurde … Auf dem Sofa lag ein Kind, welches mit einer roten Decke zugedeckt war. Die Prinzessin stand auf, nahm mich bei der Hand und sagte: ‚Das ist mein Kind. Ich habe es zwei Tage, nachdem Sie bei mir waren, bekommen.‘ “ Dann wurde Carolines Personal befragt – Pagen, Küchenhilfen und Zimmermädchen, die zum Teil ihren Dienst bereits quittiert hatten. Doch deren Aussagen waren nicht eindeutig: Während die einen die vermeintliche Schwangerschaft der Prinzessin bestätigten, gaben andere vor, nichts davon bemerkt zu haben. Carolines ehemaliger Page William Cole plauderte aus, was ihm angeblich ein Zimmermädchen anvertraut hatte: Sie habe die Prinzessin und Sir Sidney Smith gleichsam „in flagranti“ erwischt! Später habe die Waschfrau in der Bettwäsche sogar Spuren einer Entbindung entdeckt. Dem freilich widersprach das Zimmermädchen ganz energisch und trat offen für Caroline ein: „Ich glaube nicht, dass sie ein Kind bis zum Ende hätte austragen können, ohne dass ich es bemerkt hätte.“ Und doch kamen immer mehr intime Details auf den Tisch, die Caroline in ein schlechtes Licht stellten. Sie habe nicht nur Sir Sidney Smith heimlich empfangen, sondern auch Captain Thomas Manby leidenschaftlich geküsst, jenen Mann, auf den Smith angeblich so eifersüchtig reagiert haben soll. Doch so viel „schmutzige Wäsche“ auch „gewaschen“ wurde, wirklich nachweisen ließ sich Carolines Ehebruch und die angebliche Schwangerschaft nicht. Als schließlich Manby nach London kam, bestritt er – wohl zurecht –, Caroline jemals geküsst zu haben. Ausschlaggebend war jedoch die Aussage von Sophia Austin, die überzeugend darlegen konnte, dass es sich bei dem kleinen William um ihr Kind handelte. Am 14. Juni 1806 kam die Untersuchungskommission zu dem Ergebnis, dass es keinen Grund zu der Annahme gäbe, das Kind, das in Montague House aufwuchs, sei das von Caroline.
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Auch bleibt völlig rätselhaft, welche Rolle Lady Douglas in dieser Geschichte spielte. Hatte Caroline ihr gegenüber tatsächlich behauptet, William selbst zur Welt gebracht haben? Wenn ja, dann vermutlich mit einem ironischen Augenzwinkern, das gut zum eigenwilligen Humor der Prinzessin gepasst hätte. Oder war Lady Douglas von Anfang an auf Caroline „angesetzt“ worden, um dem Prinzen von Wales schlagkräftige Argumente für eine künftige Scheidung zu liefern? Dafür spricht zumindest eine jährliche Rente von 200 Pfund, die Georg der Lady großzügigerweise zukommen ließ.
Caroline, die „Königin der Herzen“ Obwohl die Öffentlichkeit nichts von der Unteruntersuchung gegen Caroline erfahren sollte, sickerten doch ein paar Informationen durch und wurden von der Presse genüsslich ausgebreitet. Die allermeisten Engländer waren empört darüber, wie der Prinz von Wales mit seiner Gemahlin umging. Beliebt war Georg bei den Untertanen ohnehin nicht, denn man nahm es dem Thronfolger übel, dass er selbst dann noch das Geld mit vollen Händen zum Fenster heraus warf, als sich die Lage der englischen Arbeiterschaft dramatisch verschlechterte. Da reichten die mageren Löhne nicht aus, um eine Familie zu ernähren, sodass oftmals auch Frauen und Kinder mitarbeiten mussten. Obwohl die Arbeiter zur Durchsetzung höherer Löhne weder streiken noch Gewerkschaften gründen durften, kam es immer wieder zu Aufständen. Georg, der 1811 endgültig die Regentschaft für seinen kranken Vater übernahm, wurde zur Hassfigur. Man verübelte ihm nicht nur seine Unfähigkeit, dringend überfällige Wirtschaftsreformen durchzuführen, sondern auch sein liederliches Privatleben. Und je mehr sich die Engländer über Georg empörten, desto mehr verehrten sie Caroline, die so schmählich behandelte Gemahlin des Regenten. Und so wurde Caroline ganz ohne eigenes Zutun zur „Königin der Herzen“ – ein Umstand, der Georgs Hass auf sie nur noch mehr anfachte. Seine politischen Misserfolge kompensierte der Regent auch weiterhin mit einem glanzvollen Hofleben, statt sich in demonstrativer Bescheidenheit zu üben. Zur fürstlichen Prachtentfaltung gehörten auch glanzvolle Opernaufführungen. Und ausgerechnet hier geschah es: Vor Beginn einer
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Vorstellung im Sommer 1814 spielte man traditionsgemäß die englische Nationalhymne. Kaum war der letzte Ton verklungen, als tosender Beifall erschallte und laute Jubelrufe zu hören waren. Georg, in dieser Hinsicht nicht gerade verwöhnt, fühlte sich geschmeichelt und stand auf, um sich vor dem Publikum zu verbeugen. Doch just in dem Moment wurde ihm klar, dass der frenetische Beifall überhaupt nicht ihm galt, sondern einer Person, die gerade in ihrer Loge Platz genommen hatte: Prinzessin Caroline! Natürlich tat Georg auch weiterhin alles, um Caroline das Leben so schwer wie möglich zu machen. Vor allem aber sorgte er dafür, dass sie ihre Tochter kaum noch zu Gesicht bekam. Solange Georg III. auf dem Thron saß, hatte der für ein regelmäßiges Besuchsrecht gesorgt. Doch nun verdämmerte der alte König den traurigen Rest seines Lebens in geistiger Umnachtung und konnte seiner Schwiegertochter nicht mehr helfen. Wann immer Caroline nach London kam, um Charlotte zu besuchen, stand sie vor verschlossenen Türen. Mal erklärte man ihr, die Prinzessin sei gerade nicht zu Hause, mal ließ man die verzweifelte Mutter einfach draußen stehen. Schließlich war Caroline so zermürbt, dass sie keine Kraft mehr hatte, weiter um ihr Recht zu kämpfen. In dieser Situation fasste sie einen außergewöhnlichen Entschluss: Sie wollte England verlassen, so schnell wie möglich! Als Georg von dem Vorhaben seiner Gemahlin erfuhr, war er sofort begeistert und bot ihr sogar eine großzügige Apanage an. In seinen kühnsten Träumen hätte er nie damit gerechnet, die verhasste Braunschweigerin auf solch bequeme Art und Weise loszuwerden, selbst wenn sie auf dem Papier noch immer verheiratet waren.
Auf nach Italien! Caroline überlegte nicht lange, ob ihre Entscheidung tatsächlich richtig war. Sie war inzwischen 46 Jahre alt und wollte endlich frei sein! Im August 1814 bestieg die Prinzessin daher ein Schiff, das sie zurück auf den Kontinent brachte. Ihre erste Station war Braunschweig, das sie vor 19 Jahren als nicht mehr ganz so junge Braut verlassen hatte. Hier hatte sich inzwischen vieles verändert. Ihre Eltern lebten nicht mehr, der Vater war
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1806 im Kampf gegen Napoleon gefallen und Augusta, ihre Mutter, die die letzten Jahre in England verbracht hatte, war inzwischen ebenfalls tot. Im Braunschweiger Schloss herrschte jetzt Carolines Bruder Friedrich Wilhelm, der seine ganze Kraft aufwenden musste, um sein kleines Land nach den Wirren der Napoleonischen Kriege wieder auf die Beine zu stellen. Caroline blieb daher nicht lange in Braunschweig. Es zog sie ohnehin in den sonnigen Süden. Letztlich entschloss sie sich, in Italien zu bleiben. Sie kaufte sich eine Villa am Comer See und hatte hier endlich die Ruhe, die sie sich immer ersehnt hatte. Dass sie de facto noch immer Prinzessin von Wales war, schien Caroline völlig verdrängt zu haben. Deshalb ist auch nicht ausgeschlossen, dass sie sich hier, unter der südlichen Sonne, tatsächlich einen Liebhaber nahm. Es handelte sich um ihren italienischen Dolmetscher Bartolomeo Pergami, Typ „Latin Lover“ und Carolines Mann für alle Fälle. Zusammen mit Pergami unternahm Caroline ausgedehnte Reisen, besichtigte die Ruinen von Karthago, ritt auf dem Esel durchs Heilige Land und bestieg die Athener Akropolis. Sie genoss ihr neues Leben und hatte nicht vor, jemals wieder nach England zurückzukehren. Als ihre Tochter Charlotte 1817 mit nur 21 Jahren starb, hielt Georg es nicht einmal für nötig, Caroline umgehend vom Tod ihres Kindes zu informieren. Und so blieb sie auch weiterhin in Italien. Im Februar 1820 brachte ein englischer Kurier die traurige Botschaft vom Tod Königs Georgs III. Der war am 29. Januar von seinem langen Leiden erlöst worden. Was damals in Carolines Kopf vorging, ist nicht so recht nachvollziehbar. Doch nun, da ihr Gemahl als Georg IV. neuer König von England geworden war, beschloss sie, nach London zurückzukehren und ihre Rechte als Königin geltend zu machen. Wohlwollende Berater beschworen Caroline, in Italien zu bleiben. Und auch Georg konnte gut auf die Königin an seiner Seite verzichten. Er stellte Caroline sogar in Aussicht, ihre jährliche Pension um 15 000 Pfund zu erhöhen, wenn sie ihm nur nicht unter die Augen kommen würde. Doch Caroline ließ sich weder mit Geld noch mit guten Worten umstimmen. Sie verabschiedete sich von Bartolomeo Pergami, reiste im Sommer 1820 zurück nach England – und erlebte eine böse Überraschung.
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Schlimme Vorwürfe Zwar wurde Caroline von der englischen Bevölkerung mit großem Jubel empfangen, aber ansonsten sah es nicht gut für sie aus. Georg hatte Montague House inzwischen abreißen lassen, und so musste sie sich zunächst einmal nach einer neuen Bleibe umsehen. Doch es sollte noch schlimmer kommen: Schon in Italien hatte Caroline erfahren, dass sie auf Schritt und Tritt von englischen Spionen verfolgt worden war, die sie in Georgs Auftrag mit Argusaugen beobachteten und jeden möglichen Fehltritt sorgsam dokumentierten. Deshalb musste sie erst recht auf englischem Boden damit rechnen, dass ihr königlicher Gemahl nun abermals versuchen würde, Beweise zu sammeln und dann ein Scheidungsverfahren einzuleiten. Hatte Caroline ein reines Gewissen? Wir wissen es nicht. Und so kam es, wie es kommen musste. Im August 1820 wurde ein Verfahren gegen Caroline eröffnet, das ihre „sittlichen Verfehlungen“ ans Tageslicht bringen sollte. In einer Rede vor dem Oberhaus beschuldigte der Kronanwalt Caroline des fortgesetzten Ehebruchs mit Bartolomeo Pergami. Drei Monate lang wurden ehemalige Hausangestellte und andere Zeugen nach Westminster geladen, um ihre Zeugenaussagen vorzubringen. Der erste Belastungszeuge war Carolines früherer Bediensteter Teodore Majocchi, der auch an der langen Orientreise teilgenommen hatte. Majocchi nahm kein Blatt vor den Mund und plauderte freimütig alles aus, was man von ihm hören wollte, darunter etliche pikante Details. Wie sich Majocchi genüsslich erinnerte, sollen die beiden alle Nächte gemeinsam auf dem Schiffsdeck im „Türkischen Zelt“ verbracht haben, das, innen von einer Laterne beleuchtet, durch den dünnen Stoff alle Geheimnisse preisgab. Bei den nächsten Zeugen handelte es sich um den Kapitän des Schiffes sowie mehrere Matrosen. Einer von ihnen hatte im Lichtschein der Laterne gesehen, wie sich Caroline und Pergami im „Türkischen Zelt“ umarmten. Auch andere Bedienstete gaben vor, ähnliche Beobachtungen gemacht zu haben. Eine ehemalige Hofdame, die von Caroline entlassen worden war, rächte sich jetzt damit, indem sie im wahrsten Sinne des Wortes „schmutzige Wäsche wusch“. Angeblich hatte sie während ihrer Dienstzeit im Bett der Prinzessin immer einmal wieder verräterische Spuren entdeckt. Alles
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deutete darauf hin, dass Caroline ihre Nächte nicht alleine verbracht hatte. Und so ging es weiter. Das Verfahren schlug in ganz England hohe Wellen. Die meisten Untertanen hielten nach wie vor treu zu ihrer Königin, doch nie zuvor hatte es ein solch entwürdigendes Spektakel gegeben! Wochenlang füllte der Skandal die Klatschspalten der englischen Zeitungen. Der Volkszorn über die ungerechte Behandlung der Königin nahm gefährliche Ausmaße an. Georg IV. verbarrikadierte sich unterdessen auf Schloss Windsor und traute sich nicht mehr in die Öffentlichkeit. Und so kam es, dass er trotz zahlreicher Indizien und scheinbarer Beweise für Carolines Ehebruch letztlich doch auf die Scheidung verzichtete. Seine Berater hatten ihm angesichts der aufgeladenen Stimmung davon abgeraten. Eine Scheidung hätte möglicherweise eine Revolution zur Folge gehabt, ähnlich wie in Frankreich 1789. Deshalb entschloss sich Georg IV. zähneknirschend, lieber klein beizugeben. Den Thron wollte er nun doch nicht riskieren.
Ein Zeichenstift als Waffe Der glückliche Freispruch der Königin löste im Land fast eine Massenhysterie aus. Überall wurden Freudenfeste gefeiert und Dankgottesdienste abgehalten. Georg wäre sicherlich gut beraten gewesen, hätte er Caroline nun auch als Königin an seiner Seite akzeptiert. Aber er war fest entschlossen, weiter zu kämpfen, zumal inzwischen klar war, dass seine Gemahlin dauerhaft in England bleiben wollte. Und so startete er eine weitere Attacke. Am 17. Dezember 1820 erschien ein neues Blatt auf dem englischen Zeitungsmarkt – John Bull – eine einzige Schmähschrift gegen Caroline. Nachdem der Ruf der Königin gerade einmal halbwegs wiederhergestellt worden war, zielte das Blatt nun darauf ab, ihn nachhaltig zu ruinieren. Woche für Woche erschienen neue, zum Teil recht obszöne Karikaturen, die Carolines mutmaßliche Liebesaffäre mit Bartolomeo Pergami aufs Korn nahmen. Einmal sitzt Caroline zusammen mit dem Italiener in einer Badewanne, ein anderes Motiv zeigt beide heftig schmusend in einer Kutsche. Besonders geschmacklos war eine Zeichnung von Per-
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gami, der auf einer Ziege reitet, wobei das Tier Carolines Gesichtszüge trägt. Caroline war so klug, zu den frivolen Zeichnungen keine Stellung zu beziehen. Aber die Karikaturen waren nur ein Teil der gegen sie gerichteten Hetzkampagne. Schon in der ersten Ausgabe von John Bull wurden auch alle Damen angegriffen, die Caroline seit ihrer Ankunft in England besucht hatten. Und Theodore Hook, der Herausgeber des Blattes und guter Freund Georgs IV., kündigte an, mit ähnlichen Schmähungen in Zukunft fortzufahren. Jede Woche wurden neue Drohungen gegen all jene gerichtet, die Caroline noch immer ihre Gunst erwiesen. Die Folgen blieben nicht aus. Die meisten Herrschaften hielten es für opportun, sich künftig nicht mehr bei der Königin blicken zu lassen. Nur ganz wenige hatten den Mut, sich John Bulls Drohungen zu widersetzen. Doch es wurde zunehmend einsam um Caroline. Nur kurze Zeit später erhielt sie vom Staatsrat den Bescheid, dass ihre Teilnahme an der Krönung Georgs IV., die am 19. Juli 1821 traditionell in Westminster Abbey stattfinden sollte, nicht vorgesehen war. Das war zu erwarten gewesen. Auch Wohlgesinnte rieten ihr, die Entscheidung zu akzeptieren. Doch Caroline wollte unbedingt „mit dem Kopf durch die Wand“. Schließlich war sie eigens nach England zurückgekehrt, um ihre Rechte als Königin einzufordern, da konnte und wollte sie jetzt keinen Rückzieher machen! Am Morgen des 19. Juli legte Caroline eine elegante weiße Seidenrobe an, ließ eine Kutsche kommen und fuhr mit zwei Hofdamen trotzig nach Westminster Abbey. Warum? Glaubte sie tatsächlich, man werde sie an der Krönung teilnehmen lassen? Es ist müßig, über ihre Motive zu spekulieren. Vor Westminster Abbey angekommen, stieg Caroline hocherhobenen Hauptes aus der Kutsche, ging entschlossen zum Tor der Kathedrale und verlangte laut und deutlich, eingelassen zu werden: „Lassen Sie mich herein, ich bin Ihre Königin!“ Aber das Wachpersonal des Königs verweigerte ihr den Zutritt. „Sie wich zurück“, berichtete Henry Brougham, ihr langjähriger Berater, „ich glaube wahrhaftig, es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie zurückwich.“
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KÖN IGI N DER H ERZEN AN NO 1795
Trauer um Caroline Der gekränkten Königin blieb nichts anderes übrig, als die Kutsche zu besteigen und zurück zu ihrem Wohnsitz zu fahren. Sie war völlig deprimiert und wollte nur noch allein sein. Aber Caroline litt nicht nur seelisch, sondern auch körperlich. Am 30. Juli 1821 zeigte sie sich anlässlich einer Theateraufführung zum letzten Mal in der Öffentlichkeit. Als sie nach Hause zurückkehrte, klagte sie über heftige Schmerzen, die die ganze Nacht anhielten. Am nächsten Morgen ließ sie ihren Leibarzt rufen und äußerte den Verdacht, vergiftet worden zu sein. Der Mediziner diagnostizierte hingegen eine akute Entzündung, die ihm gleichwohl lebensbedrohlich zu sein schien. Er riet Caroline, ihre Angelegenheiten zu regeln und ihr Testament zu verfassen. Die Königin nahm das Todesurteil überraschend gefasst entgegen. Offenbar hatte sie aller Lebensmut verlassen. Zunächst vernichtete sie sämtliche Briefe und Dokumente, die nicht in falsche Hände geraten sollten. Dann setzte sie den inzwischen neunzehnjährigen William Austin testamentarisch zu ihrem Haupterben ein. Ihren königlichen Gemahl Georg IV. erwähnte sie hingegen mit keinem Wort. Ausdrücklich indessen verfügte sie, dass sie keinesfalls in England, sondern „zu Hause“ in der Welfengruft des Braunschweiger Doms beigesetzt werden wolle. Ihr zweiter Wunsch war es, dass auf dem Sarkophag eine Platte mit folgender Inschrift angebracht werden sollte: Hier ruht Caroline von Braunschweig, die gekränkte Königin von England, deren Leben am … im Namen des Herrn im Alter von … Jahren endete. Caroline, die ihr Leben lang gekämpft hatte, ergab sich widerstandslos in ihr Schicksal. Sie starb am 7. August 1823 im Alter von 53 Jahren. Die genaue Todesursache ist bis heute unbekannt, denn die Königin selbst hatte eine Obduktion ausdrücklich untersagt. War sie tatsächlich vergiftet worden, womöglich sogar von ihrem eigenen Gemahl? Doch das konnten sich selbst die erbittertsten Gegner Georgs IV. nicht vorstellen. Georg, der sich seit Ende Juli in Irland aufgehalten hatte, erfuhr erst Tage später von Carolines Tod. Aber selbst jetzt war er außerstande, Frieden mit seiner verhassten Gemahlin zu schließen. Eine Staatstrauer lehnte er ab, auch wollte er verhindern, dass sich die Untertanen von ihrer Königin verabschieden konnten. Wäre es nach ihm gegangen, dann hätte man Carolines Sarg bei Nacht und Nebel aus der Stadt geschafft und nach
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TRAUER UM CAROLINE
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Deutschland gebracht. Doch dagegen regte sich heftiger Protest. Nachdem die aufgebrachte Menge am Morgen des 14. August schon begonnen hatte, Barrikaden zu errichten, gab Georg IV. doch noch nach und veranlasste, dass der Trauerzug durch die Londoner City gehen durfte. Trotz des schlechten Wetters drängten sich Tausende von Menschen in den Straßen, um ihrer „Königin der Herzen“ ein letztes Lebewohl zu sagen. Nun hatte Georg IV. endlich seine lang ersehnte Freiheit, doch so recht genießen konnte er sie nicht, ihn plagten verschiedene Krankheiten. Der ausschweifende Lebensstil, das üppige Essen und der reichliche Alkoholgenuss hatten ihre Spuren hinterlassen. Als der König am 26. Juni 1830 auf Schloss Windsor starb, hielt sich die Trauer landesweit in Grenzen. In England, das eine Zeit lang kurz vor der Revolution gestanden hatte, kehrte wieder Ruhe ein. Der neue König, Georgs jüngerer Bruder Wilhelm IV. führte sieben Jahre lang recht unspektakulär das Zepter, bis 1837 das berühmte viktorianische Zeitalter seinen Anfang nahm.
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11 Kein Kind für den Kurfürsten – Wie Maria Leopoldine die Pläne ihres kaiserlichen Onkels durchkreuzt, Bayern auf „legalem Wege“ zu bekommen
Schon lange hatte Österreich ein Auge auf das benachbarte Bayern geworfen, doch alle Versuche, das Kurfürstentum militärisch einzunehmen, waren fehlgeschlagen. Deshalb ging Kaiser Joseph II. einen anderen bewährten Weg: Er verheiratete seine Nichte Maria Leopoldine mit dem kinderlosen, greisen Karl Theodor von Bayern und hoffte inständig, dass die junge Frau so schnell wie möglich einen Thronerben zur Welt bringen würde. Auf diese Weise wollte man sich den Anspruch auf Bayern sichern. Maria Leopoldine indessen machte dem Haus Habsburg einen Strich durch die Rechnung. 1806 wurde Bayern Königreich. Was war passiert?
Kurfürst im Glück: Karl Theodor Friedrich der Große hielt den bayerischen Kurfürsten Karl Theodor (1724–1799) seinerzeit für ein richtiges „Glücksschwein“. Das war auch nicht weiter verwunderlich, denn während sich der Preußenkönig neuen Landbesitz in verlustreichen Kriegen erobert hatte, fiel der dem Wittelsbacher ganz friedlich durch Erbschaft in den Schoß. Bayern, in den ver-
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gangenen Jahrhunderten durch Erbteilungen mehrfach zerstückelt, wuchs 1777 wieder zusammen, als der in München residierende Kurfürst Maximilian III. Joseph kinderlos verstarb. Denn dadurch erbte sein Verwandter Karl Theodor aus der Pfälzer Linie Neubach-Sulzbach vertragsgemäß das Kurfürstentum Bayern. Die Pfalzgrafschaft bei Rhein, die 1214 zu Bayern gekommen war, wurde seit 1294 von der älteren Linie der Wittelsbacher (Kurfürsten seit 1356) von Mannheim aus regiert, während die Angehörigen der jüngeren Linie (Kurfürsten seit 1623) in München residierten. Karl Theodor herrschte aber nicht nur über die Pfalz und Bayern, sondern gebot auch über den Wittelsbacher Besitz am Niederrhein: JülichBerg mit der Hauptstadt Düsseldorf sowie Bergen op-Zoom, das ihm seine Mutter vererbt hatte. Lediglich eine kleine Enklave, das Herzogtum PfalzZweibrücken-Birkenfeld, gehörte nicht zum kurfürstlichen Herrschaftsgebiet. Nach dem Kaiser und Preußenkönig Friedrich dem Großen war Karl Theodor damit der mächtigste Mann im Deutschen Reich. Wirklich glücklich machte ihn das jedoch nicht: „Jetzt sind die guten Tage vorbei“, soll er gesagt haben, als er 1777 die bayerische Erbschaft antrat. Die Hausverträge sahen nämlich vor, dass er künftig in München residieren musste, der bayerischen Landeshauptstadt. Die aber hielt damals einem Vergleich mit der Pfalzmetropole in keiner Weise stand.
Traum vom Königreich „Burgund“ Unter Karl Theodors Regentschaft hatte sich Mannheim zu einem geistigkulturellen Zentrum entwickelt und eine Blütezeit von Kunst und Wissenschaft, Musik und Architektur erlebt. Der Umzug an die Isar fiel dem neuen Kurfürsten daher schwer, zumal ihm die bayerische Wesensart fremd war und bleiben sollte. Am liebsten wäre es ihm gewesen, das ungeliebte Bayern gleich wieder loszuwerden, oder genauer gesagt, er hätte er es gerne getauscht! Tatsächlich lagen entsprechende Pläne schon seit längerem in der Schublade. Österreich signalisierte nämlich die Bereitschaft, die habsburgischen Niederlande (das heutige Belgien) im Tausch gegen Bayern an den Pfälzer Kurfürsten abzutreten. Karl Theodor schließlich träumte von einem neuen Wittelsbacher Reich – „Burgund“ mit den Schwerpunkten
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TU FELIX AUSTRIA NUBE!
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Brüssel, Düsseldorf und Mannheim. Es gab nur einen Haken: Die Verwandten aus dem Herzogtum Zweibrücken-Birkenfeld mussten dem Tausch zustimmen, da sie ja die nächsten Erben des Kurfürsten waren. Doch Karl Theodors Verhältnis zu seinen Birkenfelder Vettern war leider gar nicht gut, und auch zwischen dem Pfälzer und den Österreichern herrschte kein Einvernehmen. Immerhin hatte der Kaiser 1778/79 im Bayerischen Erbfolgekrieg (vergeblich) versucht, sich Niederbayern und die Oberpfalz mit militärischer Gewalt einzuverleiben. Und so lagen die Pläne für den schönen Tausch vorerst auf Eis.
Tu felix Austria nube! Karl Theodor blieb also München. Und wie schon zuvor in Mannheim setzte er mit den Jahren wichtige kulturelle Akzente. Er förderte Oper und Theater, ließ am Hofgarten einen Galeriebau für seine Gemäldesammlung errichten, den Englischen Garten anlegen und den Nymphenburger Park für die Untertanen öffnen. Obendrein verbesserte er die Verwaltung des Kurfürstentums und setzte längst überfällige Reformen im Sozial- und Rechtswesen durch. Und doch schwebte über der Münchner Residenz ein dunkler Schatten. Karl Theodors Ehe mit der 1794 verstorbenen Elisabeth Auguste war nämlich kinderlos geblieben. Der einzige Sohn, den die Kurfürstin 1761 zur Welt gebracht hatte, lebte nur wenige Stunden. Nach Lage der Dinge sah es so aus, als würde tatsächlich der ungeliebte Vetter Karl August von Zweibrücken-Birkenfeld eines Tages den bayerischen Kurfürstenhut erben. Diese Aussicht missfiel auch Kaiser Joseph II., denn der hatte die Hoffnung, Bayern auf die eine oder andere Art doch noch zu kassieren, noch nicht aufgegeben. Bei nächster Gelegenheit wollte er es jedoch einmal nicht mit militärischen Mitteln versuchen. Schließlich hatte er schon genug damit zu tun, sich die französischen Revolutionstruppen vom Leibe zu halten. Aber für die Habsburger gab es bekanntlich eine wunderbare Alternative: bella gerant alii, tu felix Austria nube! – Andere mögen Kriege führen, du glückliches Österreich heirate!
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Eine junge Braut für den alten Kurfürsten Der jüngere Bruder Josephs II., Erzherzog Ferdinand Karl Anton von Österreich-Este, hatte eine Tochter im heiratsfähigen Alter, die 1776 geborene Maria Leopoldine, Enkelin von Kaiserin Maria Theresia. Sollte es nicht möglich sein, das junge Mädchen mit dem verwitweten Karl Theodor zu verkuppeln? Sollte Maria Leopoldine nämlich als Gemahlin des Kurfürsten ein Kind zur Welt bringen, dann könnten sich die Habsburger eines Tages Bayern doch noch auf „legalem“ Wege einverleiben. Viel Zeit blieb freilich nicht mehr, denn Karl Theodor war inzwischen 70 Jahre alt und von der ein oder anderen Krankheit geplagt … Warum Maria Leopoldines Eltern tatsächlich in das Eheprojekt einwilligten, bleibt im Dunkeln. Vielleicht lag es an den unruhigen Zeiten. In den Jahren zuvor hatte Ferdinand Karl Anton mit seiner Familie als Generalgouverneur der Lombardei ein angenehmes Leben in Mailand führen können. Doch damit war es vorbei, als 1794 die französischen Revolutionstruppen einmarschierten. Die erzherzogliche Familie floh damals nach Wien und sah einer ungewissen Zukunft entgegen. Hielten es die Eltern deshalb für ratsam, ihre Tochter mit dem bayerischen Kurfürsten zu vermählen? Oder hatte Kaiser Joseph II. womöglich subtilen Druck auf seinen Bruder ausgeübt? Auf jeden Fall machte man dem verwitweten Karl Theodor das verlockende Angebot, die junge Maria Leopoldine zur Frau zu nehmen. Die wahren Absichten, die dahintersteckten, hielt Wien natürlich geheim. Aber auch der Kurfürst glaubte, auf diese Weise die ideale Lösung gefunden zu haben, um die ungeliebten Birkenfelder von der Erbfolge ausschließen zu können. Obwohl er einundfünfzig Jahre älter war als seine künftige Gemahlin, gab er dem Heiratsplan erfreut seine Zustimmung!
Ehebrecherin Maria Leopoldine? Die Bayern indessen waren entsetzt, nur verhindern konnten sie die Eheschließung des ungleichen Paares nicht. Am 15. Februar 1795 wurden Kurfürst Karl Theodor und Maria Leopoldine von Österreich-Este in Innsbruck feierlich zu Mann und Frau erklärt. Zwei Tage später reiste das frisch
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EHEBRECHERIN MARIA LEOPOLDINE?
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vermählte Paar nach München. Maria Leopoldine wusste natürlich genau, welche „Mission“ ihr der kaiserliche Onkel zugedacht hatte: die möglichst rasche Geburt eines Thronerben. Nun kann man sich gut vorstellen, wie es der jungen Kurfürstin zumute war. Die Vorstellung, das Bett mit dem greisen Karl Theodor teilen zu müssen, war nicht gerade eine romantische Vision. Daher war sie nicht bereit, sich in das grausame Schicksal zu fügen, das ihre Eltern und Kaiser Joseph II. für sie ausersehen hatten. All dessen ungeachtet, wurde die kurfürstliche Hochzeit über Wochen mit allem Prunk gefeiert. Unter den Gratulanten war auch Herzog Max Joseph von Zweibrücken-Birkenfeld (1756–1825), seit dem Tod seines älteren Bruders am 1. April 1795 voraussichtlich der nächste bayerische Kurfürst. – Es sei denn, Maria Leopoldine würde doch noch einen Sohn und Erben zur Welt bringen. Was sich damals in der Münchner Residenz tatsächlich abgespielt hat, lässt sich nicht mehr vollständig klären. Allem Anschein nach aber hat es zwischen Maria Leopoldine und dem 20 Jahre älteren Max Joseph heftig „gefunkt“. Glaubt man den Tagebuchaufzeichnungen König Ludwigs I., dem ältesten Sohn von Max Joseph, dann landeten die beiden sogar schließlich im Bett: „Was die verwitwete Kurfürstin mir nicht gestand mit Worten, ihre Verlegenheit aber bestätigte, … dass mein Vater bei Lebzeiten des verstorbenen Kurfürsten die verwitwete Kurfürstin beschlafen habe“, schrieb Ludwig 1845. Das freilich waren nur Gerüchte, Gerüchte jedoch, die sich hartnäckig hielten. Andere allerdings behaupteten, Maria Leopoldine habe den Herzog mit den Worten abgewehrt: „Ich habe dich zwar sehr lieb, aber denk an deinen Thron.“ Das wäre aus ihrer Sicht auch nur konsequent gewesen, denn die junge Frau hatte schließlich nicht die geringste Lust, schwanger zu werden und damit den Wünschen ihres Onkels, des Kaisers, nachzukommen. Doch ganz gleich, wie weit sie wirklich gegangen ist: Maria Leopoldine schlug sich von Anfang an auf die Seite des Herzogs von Zweibrücken-Birkenfeld. Sie soll Max Joseph sogar im vertraulichen Gespräch eröffnet haben, dass sie sich nicht an die politischen Erwartungen ihrer Habsburger Verwandten gebunden fühle und dass sie alles tun werde, um seine Erbrechte zu erhalten.
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Tod des Kurfürsten Kurfürst Karl Theodor hingegen hatte die Hoffnung auf einen Erben keineswegs aufgegeben. Allerdings spürte er, dass er selbst womöglich nicht mehr in der Lage sein würde, den erwünschten Sohn zu zeugen. „Es geht im Ehebett gar nicht gut“, schrieb der österreichische Gesandte vielsagend an den Wiener Kaiserhof. Deshalb gab Karl Theodor seiner jungen Gemahlin bereitwillig „grünes Licht“, damit sie sich auch außerhalb des Ehebetts nach einem geeigneten Vater für ihr Kind umsehen könne. Er versprach, dass er es auf jeden Fall als legitim anerkennen würde. Doch Maria Leopoldine wurde nicht schwanger, obwohl sie angeblich mehrere Liebhaber gehabt haben soll. Im Ehebett ging es auch weiterhin „nicht gut“. Karl Theodor wurde immer gebrechlicher und Maria Leopoldine ließ ihn sehr deutlich spüren, wie sehr ihr die Ehe mit ihm zuwider war. Vier Jahre lang musste sie durchhalten, dann war es vorbei: Am 12. Februar 1799 brach der bayerische Kurfürst während des Kartenspiels zusammen. Vier Tage später war er tot. Wien reagierte sofort. Noch in den letzten Lebenstagen Karl Theodors schickte man einen Gesandten mit dem unterschriftsreifen Tauschvertrag nach München: Bayern gegen die habsburgischen Niederlande. Dass die Kurfürstin die Interessen des Hauses Habsburg vertrat, davon ging man selbstverständlich aus. Doch Maria Leopoldine dachte überhaupt nicht daran und hinderte den Herrn sogar persönlich, das Krankenzimmer zu betreten. Der Gesandte musste unverrichteter Dinge wieder abreisen.
Schwanger oder nicht? Maria Leopoldine hatte sich bekanntlich längst anders entschieden. Noch vor Karl Theodors Tod schrieb sie ihrem „lieben Neffen“ Herzog Max Joseph folgenden Brief: „Im wichtigsten Augenblick meines Lebens wende ich mich an Sie. Der Kurfürst ist in Agonie. Der Kurier, der Ihnen diese Nachricht überbringt, ist in Eile. Mir bleibt nur die Zeit, mich Ihnen zu empfehlen. Bedenken Sie, dass Sie mein einziger Rückhalt sind und dass ich, solange Sie mir gewogen sind, es mir immer zur Ehre gereichen lasse,
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B AY E R N U N D F R A N K R E I C H
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gänzlich dem Hause Pfalz anzugehören. Ich hoffe, Sie sind überzeugt, dass ich Ihnen stets eine aufrichtige Freundin war. Jetzt bin ich Ihre Untertanin, und ich bin stolz darauf. Ich erwarte Sie mit Ungeduld und werde mich nach Ihren Befehlen richten.“ In Wien nahm man die Nachricht vom Tod des Kurfürsten verständlicherweise mit Missbehagen auf, aber noch bestand die Hoffnung, dass die verwitwete Maria Leopoldine ja vielleicht doch den ersehnten Thronerben unter dem Herzen trug. Und so wurde diese, das Protokoll schrieb es im Übrigen vor, nach einer möglichen Schwangerschaft befragt. Doch die Antwort lautete „Nein“! Entsprach das aber tatsächlich der Wahrheit? Der Dichter August von Platen, der einige Jahre später in der Münchner Residenz als Page diente, war zumindest anderer Ansicht. Der behauptete nämlich von Maria Leopoldine: „Als ihr fürstlicher Gemahl starb, war sie schwanger, und man wollte sie bereden, das Kind für den Sohn des Kurfürsten auszugeben, wie es nicht der Fall war.“ Auszuschließen ist das nicht. Wohl noch im gleichen Jahr brachte Maria Leopoldine dann einen Sohn zur Welt, über den freilich nichts weiter bekannt ist. Vielleicht war er nur das Ergebnis ihres recht hemmungslosen Treibens als kurfürstliche Witwe, vielleicht aber war sie schon schwanger, als Karl Theodor starb. Wie auch immer – auf jeden Fall machte sie mit ihrer eindeutigen Antwort den Habsburgern die Aussicht darauf zunichte, durch einen legitimen Erben die Rechte auf Bayern geltend machen zu können. Und damit war die „historische Rolle“ der Habsburgerin Maria Leopoldine auch beendet. Sie führte ihr unkonventionelles Leben weiter, heiratete schließlich den Grafen von Arco, bekam mit ihm drei Kinder und starb 1848 als eine der eindrucksvollsten Frauenpersönlichkeiten des 19. Jahrhunderts.
Bayern und Frankreich Neuer Kurfürst von Bayern wurde vertragsgemäß Max IV. Joseph von Pfalz-Zweibrücken-Birkenfeld. Der „gute Max“, wie ihn seine Untertanen schon bald liebevoll nannten, war ein ausgesprochen beliebter, sehr volksnaher Herrscher. Zusammen mit seinem leitenden Minister Maximilian
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von Montgelas legte er zu Beginn des 19. Jahrhunderts die innenpolitischen Grundlagen für den modernen bayerischen Staat. Außenpolitisch hingegen befand sich Bayern damals am Scheideweg. In den Koalitionskriegen gegen das revolutionäre Frankreich hatte es sich 1796 noch an die Seite Österreichs gestellt, doch jetzt drohte das Kurfürstentum zwischen beiden Mächten zerrieben zu werden. Vor allem Frankreich wurde zunehmend gefährlich, seitdem Napoleon Bonaparte im November 1799 durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen war und sich anschickte, ganz Europa zu erobern. Damit aber war auch Bayern bedroht. Schließlich wäre das Kurfürstentum aus französischer Sicht ein hervorragendes Aufmarschgebiet gegen die Habsburgermonarchie gewesen. Die Situation spitzte sich zu, als Napoleon im Dezember 1800 bei Hohenlinden einen großen Sieg über das österreichisch-bayerische Heer erkämpfte. Jetzt musste Max Joseph rasch handeln! Im August 1801 schloss Bayern einen Sonderfrieden mit Frankreich, der zunächst einmal der eigenen Existenzsicherung diente. Doch Napoleon köderte den Kurfürsten damit, ihn für die linksrheinischen Gebiete, die Bayern 1795 in den Koalitionskriegen verloren hatte, zu entschädigen. Darunter war auch die Pfalz, die 1803 zu Baden gekommen war.
Mit Frankreich gegen Österreich Max IV. Joseph schwankte. Sollte er auch künftig zu Österreich stehen? Oder wäre es nicht besser, angesichts des immer mächtiger werdenden Frankreichs eine Allianz mit Napoleon zu schließen? Er beschloss, zunächst einmal so wie bisher weiterzulavieren. Während sein ältester Sohn, Kurprinz Ludwig, für ein Bündnis mit dem Kaiser plädierte, trat Minister Montgelas entschieden für eine Allianz mit Frankreich ein. Das hatte jedoch weniger mit seiner großen Sympathie für das Land als mit sorgfältigem Kalkül in einer schwierigen außenpolitischen Konstellation zu tun. Heimlich leitete er daher Verhandlungen mit Paris ein. Für den Fall eines Zusammengehens mit Frankreich stellte Napoleon dem bayerischen Kurfürsten sogar die Königskrone in Aussicht. Doch selbst das schien Max IV. Joseph wenig verlockend, und so schleppten sich die Verhandlungen hin. Montgelas war entnervt und klagte, er könne aus
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KÖNIG VON NAPOLEONS GNADEN
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einem Fürsten keinen Heros machen, wenn diesem jegliche Anlagen dazu fehlten. Doch der Minister erwies sich als überaus zäher Verhandlungspartner und erreichte schließlich sein Ziel. Am 28. August 1805 legte er seinem Kurfürsten den unterschriftsreifen „Bogenhausener Vertrag“ vor, der das Bündnis zwischen Bayern und Frankreich besiegeln sollte. Nur: Max Joseph zögerte noch immer. Als dann plötzlich österreichische Truppen in München einmarschierten und das Nymphenburger Schloss umstellten, musste es zu einer Entscheidung kommen. Wien wollte den Kurfürsten zwingen, eine Allianz mit Österreich einzugehen und seine Truppen sogleich im Kampf gegen Napoleon zur Verfügung zu stellen. Max IV. Joseph steckte in der Zwickmühle. Sollte er den „Vertrag von Bogenhausen“ unterschreiben oder nicht? Wäre es nach ihm gegangen, hätte er Bayern am liebsten neutral gehalten, aber das war in dieser Situation unmöglich. Ob er wollte oder nicht – er musste endlich Farbe bekennen! Da nun ergriff Montgelas die Initiative. Er beschwor den Kurfürsten, die französische Karte zu spielen und sich mit seinem Heer unverzüglich Napoleon anzuschließen. Seine Argumente überzeugten. Max IV. Joseph willigte ein, ratifizierte den Bündnisvertrag und trat an der Seite Frankreichs in den Krieg gegen Österreich ein.
König von Napoleons Gnaden Bald darauf schon eilte Bayern mit Frankreich gemeinsam von Sieg zu Sieg. Am 2. Dezember 1805 konnte das vereinte Heer Österreich und Russland in der Schlacht bei Austerlitz besiegen. Und im Frieden von Pressburg musste Österreich wenig später nicht nur Tirol und Vorarlberg an Bayern abtreten, sondern auch dessen Erhebung zum Königtum akzeptieren. Das Haus Habsburg zog auch noch in anderer Hinsicht den Kürzeren: Mit dem von Napoleon erzwungenen Ende des Heiligen Römischen Reiches musste Franz II. 1806 die deutsche Kaiserkrone niederlegen. Seitdem herrschte er als Franz I. nur noch über Österreich. Doch auch Max Joseph musste in einen „sauren Apfel“ beißen: Napoleon nämlich verlangte von ihm, dass sein Stiefsohn Eugène Beauharnais die Tochter des Kurfürsten, die 1788 geborene Auguste Amalie, heiraten sollte. Als bürgerlicher Emporkömmling legte der Kaiser größten Wert auf
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dynastische Verbindungen mit alten Herrscherhäusern. Sollte sich Max Joseph weigern, drohte Napoleon, Bayern mit französischen Truppen zu besetzen. Was also blieb dem „guten Max“ anderes übrig, als in die Verbindung einzuwilligen? Am 1. Januar 1806 zogen Herolde durch München und weitere Städte des Landes, um zu verkünden, dass der bayerische Kurfürst die Königswürde angenommen habe. In einem kurzen Akt bestieg der frisch gebackene Max I. Joseph den Thron in der Münchner Residenz. Die neue Königswürde versuchte man denn auch mit dem Anspruch auf die bayerische Krone, mit Gottesgnadentum und historischen Verdiensten zu begründen. Auf jeden Fall sollte so der Verdacht vermieden werden, dass es sich lediglich um ein Königtum „von Napoleons Gnaden“ handelte. Das geschah aus gutem Grund: Immerhin wollten sich die Bayern für den Fall absichern, dass der Siegeszug Napoleons eines Tages zum Halten kommen würde. Und weil das 1813 tatsächlich der Fall war, machte Max I. Joseph ohne größere Skrupel erneut eine Kehrtwendung. Er schloss wieder ein Bündnis mit Österreich …
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12 Kaspar Hauser – Erbprinz oder dreister Betrüger? Wer war Kaspar Hauser wirklich? Noch heute, fast 180 Jahre nach seinem gewaltsamen Tod, ist dieses Rätsel ungelöst. Dabei hat man sich schon zu seinen Lebzeiten gefragt: Ist er womöglich der Erbprinz von Baden? Wurde er bei der Geburt mit einem todkranken Säugling vertauscht? Und mehr noch: Ist das Haus Baden auch für den Tod Kaspar Hausers verantwortlich? Erst in jüngster Zeit haben Wissenschaftler versucht, das „Jahrhundertgeheimnis“ mithilfe der DNS-Analyse zu lüften. Doch solange das Haus Baden den Zugang zu den Archiven und der Familiengruft verwehrt, bleibt vieles im Dunkeln.
Ein rätselhaftes Findelkind Pfingstsonntag, den 26. Mai 1828. In Nürnberg herrschte die entspannte Atmosphäre eines friedlichen Feiertags. Auf dem Unschlittplatz plauderten ein paar Männer miteinander über dies und das. Und plötzlich stand er da. Ein junger Kerl, vielleicht 16, 17 Jahre alt, sich unschlüssig umschauend. Er machte einen stark verwahrlosten Eindruck und schien große Schwierigkeiten zu haben, sich fortzubewegen. Brauchte er Hilfe? Einer der Männer sprach ihn freundlich an, fragte, wo er hinwolle. Doch der linkische Bursche schien ihn nicht recht zu verstehen, stammelte nur und deutete stattdessen auf einen Brief, den er bei sich trug, adressiert an
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den Rittmeister Friedrich von Wessing. Gemeinsam ging man daraufhin zu Wessings Haus, doch auch nachdem der den Brief gelesen hatte, konnte er mit dem rätselhaften Jüngling nichts anfangen. Die Zeilen warfen mehr Fragen als Antworten auf, sie begannen mit den mysteriösen Worten über seine Herkunft: Von der Bäyerischen Gränz daß Orte ist unbenant. Verfasser des Schreibens war angeblich ein armer Tagelöhner, der behauptete, im Oktober 1812 hätte man ihm einen Säugling „gelegt“. Er habe das Findelkind aufgezogen, aber niemals vor die Tür gelassen. Nun aber wolle der Junge ein Reitersoldat werden wie sein verstorbener Vater, der beim 6. Regiment der Chevaulegers (leichte Reiterei) gedient haben soll. Da Wessing keine Verwendung für den seltsamen Unbekannten hatte, brachte man ihn zur Nürnberger Polizeiwache. Als er dort verschiedene Fragen beantworten sollte, fiel erneut auf, dass der junge Mann offenbar nur über einen sehr begrenzten Wortschatz verfügte. Manches schien er überhaupt nicht zu verstehen. Nach seinem Namen gefragt, brachte er in ungelenker Schrift die Worte Kaspar Hauser aufs Papier.
Kindheit im Verlies? Doch wohin mit dem Unbekannten? Man konnte ihn doch nicht einfach seinem Schicksal überlassen! Mangels Alternativen wurde Kaspar Hauser zunächst im Nürnberger Burgturm Luginsland untergebracht, wo er von einem Gefängniswärter betreut wurde. Seltsamerweise verweigerte er die ihm angebotenen Speisen und nahm nur Wasser und Brot zu sich. Warum? Eine ärztliche Untersuchung ergab, dass Kaspar „weder verrückt noch blödsinnig“ war, und kam zu dem Schluss: „Er ist wie ein halbwilder Mensch in Wäldern erzogen worden, ist zur ordentlichen Kost nicht zu bequemen, sondern lebt bloß von schwarzem Brot und Wasser. Doch er ist geimpft, wie man am rechten Arm deutlich sieht.“ Des Weiteren wurden körperliche Abnormitäten sowie eine unterentwickelte Muskulatur diagnostiziert. Kaspar Hauser, so hieß es, müsse „viele Jahre hindurch ununterbrochen in sitzender Stellung zugebracht haben“. Das bestätigte Kaspar später auch selbst: Das Gefängnis, in dem ich bis zu meiner Befreiung leben musste, war ungefähr sechs bis sieben
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Schuh lang, vier breit und fünf hoch … Meine Nahrungsmittel waren nichts anderes als Wasser und Brot. Brot war immer genug da. Ich aß wenig, weil ich keine Bewegung hatte; ich konnte ja nicht gehen, und ich wusste nicht, dass ich aufstehen könnte, weil mir das Gehen niemand gelehrt hatte; es ist mir nie der Gedanke gekommen, aufstehen zu wollen. Erst kurz vor seiner Freilassung sei ein Mann, den er nie zuvor gesehen hatte, bei ihm erschienen: Als das erste Mal der Mann zu mir hereinkam, stellte er einen ganz niedrigen Stuhl vor mich hin, legte ein Stück Papier und einen Bleistift darauf, dann nahm er meine Hand, gab mir den Bleistift in die Hand, drückte mir die Finger zusammen und schrieb mir etwas vor. Das tat er recht oft, bis ich’s nachmachen konnte. Dieses zeigte er mir sieben- bis achtmal; es gefiel mir sehr wohl, weil es schwarz und weiß aussah; er ließ meine Hand frei, ließ mich allein schreiben, ich schrieb fort und machte es geradeso, wie er es mir gezeigt hatte. Auf diese Weise soll Kaspar Hauser also gelernt haben, seinen Namen zu schreiben. Dann wurde er in die Freiheit entlassen, wenn auch nicht auf zwei Beinen gehend: Wie ich erwachte, war ich auch schon angezogen, bis auf die Stiefel, die zog er mir an, setzte mir einen Hut auf, hob mich in die Höhe und lehnte mich an die Wand, nahm meine beiden Arme und legte sie um den Hals. Als er mich aus dem Gefängnis trug, musste er mich bücken und es ging einen kleinen Berg hinaus … Er trug mich noch ein Stück weit und ich schlief ein. Wie ich erwachte, lag ich auf der Erde, mit dem Angesicht dem Boden zugewendet. Ich bewegte mich mit dem Kopf, vielleicht sah der Mann, dass ich erwacht war, er hob mich auf, nahm mich unter beiden Armen, er lehrte mir das Gehen … Später lernte Kaspar seinen ersten Satz. Der Mann fing an mir vorzusprechen: Ich möchte a söchona Reiter wären wie mein Vater gwän is.“ Das war genau der Satz gewesen, mit dem Kaspar Hauser nach seinem Erscheinen auf dem Nürnberger Unschlittplatz auf die Frage des hilfsbereiten Mannes geantwortet hatte.
Ein geheimnisvoller Mordanschlag Der „Fall Kaspar Hauser“ erregte gewaltiges Interesse: ein menschliches Wesen, das allem Anschein nach außerhalb der Gesellschaft aufgewachsen war, ein „Wolfsjunge“ sozusagen!
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Inzwischen war Kaspar in die Obhut des Nürnberger Lehrers Georg Friedrich Daumer gegeben worden, der dem Jüngling auch Unterricht erteilte. Bei der Gelegenheit stellte sich heraus, dass der junge Hauser über ein beachtliches zeichnerisches Talent verfügte und hübsche Bilder malen konnte. Überhaupt machte das Findelkind schnelle Fortschritte. Schon 1829 war er in der Lage, seine „Autobiografie“ zu verfassen Über Kaspar Hausers Leben – Von ihm selbst geschrieben. Mittlerweile ernährte er sich auch von normaler Kost. Kaspar Hauser schien auf dem Weg in ein normales Leben, als sich ein merkwürdiger Zwischenfall ereignete. Am 17. Oktober 1829 fand man den jungen Mann mit einer stark blutenden Stirnwunde im Keller des Daumerschen Hauses. Er gab an, auf dem Weg zum Abort von einem maskierten, schwarz gekleideten Mann überfallen worden zu sein, der ihm die Wunde beigebracht und gedroht habe: „Du musst noch sterben, ehe du aus der Stadt Nürnberg kommst!“ Da Kaspar meinte, er habe ihn an der Stimme erkannt, musste es zwangsläufig derjenige sein, der ihn aus dem Gefängnis nach Nürnberg gebracht hatte. Doch warum wollte der ihn nun töten? Überhaupt war der ganze Vorfall überaus merkwürdig. Anhand der Blutspuren ließ sich nämlich feststellen, dass Kaspar nach dem Anschlag zunächst in sein Zimmer im ersten Stock geflüchtet war, bevor er schließlich durch eine Falltür in den Keller kletterte. Während der ganzen Zeit hatte sich Familie Daumer im zweiten Stock des Hauses aufgehalten. Doch warum Kaspar Hauser seine „Pflegeeltern“ nicht unverzüglich von dem angeblichen Mordversuch unterrichtet hat, bleibt unklar. Und weil der Fall nie aufgeklärt wurde, heizte er so die Spekulationen um Kaspar Hauser aufs Neue an. Hatte er womöglich gelogen und war in Wirklichkeit ein dreister Betrüger? Einer, der den Anschlag selbst inszenierte, um die nachlassende öffentliche Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken? Oder gab es tatsächlich Menschen, die Kaspar Hauser nach dem Leben trachteten?
Umzug nach Ansbach Sicherheitshalber beschloss man, Kaspar Hauser anderenorts unterzubringen. Auf Betreiben des Nürnberger Gerichtsassessors Gottlieb von Tucher, der auch zu Hausers Vormund bestimmt worden war, kam Kaspar beim
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UMZUG NACH ANSBACH
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Magistratsrat Biberach unter. Dort lebte er jetzt unter strenger Bewachung; die Zahl der Besucher wurde drastisch eingeschränkt. Aber auch in Biberachs Haus ereignete sich ein merkwürdiger Vorfall: Am 2. April 1830 wurde Kaspar Hauser in seinem Zimmer blutend am Boden liegend gefunden. Auf die Frage, wie es zu der Verletzung gekommen sei, gab er an, er sei auf einen Stuhl gestiegen, um sich ein Buch zu holen, habe das Gleichgewicht verloren und sich an einer Pistole festgehalten, die an der Wand hing. So habe er versehentlich einen Schuss ausgelöst. Die Wunde erwies sich als harmlos, und es gab berechtigte Zweifel, ob sie ihm tatsächlich von einer Pistolenkugel zugefügt worden war. Ging es ihm einmal mehr um Aufmerksamkeit? Im Mai 1831 gelang es dem englischen Reisenden Lord Stanhope, einem Neffen des britischen Premierministers William Pitt, Kaspar Hauser kennenzulernen. Er war von dem jungen Mann fasziniert, überhäufte ihn mit Geschenken und stiftete sogar 500 Gulden „zum Besten von Kaspar Hauser“. Die Umgebung war irritiert, Tucher sprach sogar von einer „Affenliebe“. Was wollte Stanhope von dem jungen Hauser? War sein Interesse an ihm vielleicht mehr als nur freundschaftlicher Natur? Daumer beobachtete die „Liebkosungen, welche der Graf dem Findling sogar öffentlich erwies“, mit gemischten Gefühlen. Trotzdem beschloss der Nürnberger Magistrat im Dezember 1831, Kaspar Hauser der Obhut von Lord Stanhope zu übergeben, der bereitwillig den Lebensunterhalt seines Schützlings finanzieren wollte. So sparte die Stadt Nürnberg 200 Gulden pro Jahr. Auf Betreiben des Ansbacher Gerichtspräsidenten Anselm von Feuerbach, der den „Fall“ von Anfang an mit großem Interesse verfolgt hatte, siedelte Kaspar Hauser nun nach Ansbach über. Feuerbach kümmerte sich auch während Stanhopes Abwesenheit um dessen Schützling und verfasste die berühmte Studie über das „Verbrechen am Seelenleben“ Kaspar Hausers. Während Stanhope kreuz und quer durch Europa reiste, um etwas Konkretes über die Herkunft Hausers herauszufinden, versuchte auch Anselm von Feuerbach, dem Rätsel auf die Spur zu kommen. Seine Recherchen führten ihn schließlich nach Karlsruhe, und er kam zu dem spektakulären Schuss: Kaspar Hauser ist das eheliche Kind fürstlicher Eltern, welches hinweggeschafft worden ist, um anderen, denen er im Wege stand, die Sukzession zu eröffnen …Was die Frage betrifft, in welche höhere Familie Kaspar gehören möge – die Feder sträubt sich, diesen Gedanken niederzuschreiben: das Haus Baden!
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Mit dieser Hypothese stand Anselm von Feuerbach damals keineswegs allein. Viele munkelten, dass es im Hause Baden womöglich ein dunkles Geheimnis gab …
Aufstieg einer badischen Gräfin Alles hatte ganz harmlos angefangen. Der alte Markgraf Karl Friedrich von Baden (1728–1811) war seit 1783 verwitwet und fühlte sich recht einsam in seinem leeren Bett. Zwar hätte er sich eine Geliebte zulegen können, so wie es auch andere Fürsten taten, doch das widersprach seinen hohen moralischen und politischen Ansprüchen: „Mätressen sind mir, dem Haus und dem Lande schädlich. Mir eine Person zur linken Hand trauen zu lassen, ist der einzige Weg, den ich vor mir sehe.“ Die Wahl des alternden Markgrafen fiel auf die junge Hofdame seiner Schwiegertochter Amalie, die erst neunzehnjährige Luise Geyer von Geyersberg. Bei einem Altersunterschied von 40 Jahre wird sich Luise lange überlegt haben, ob sie tatsächlich in die morganatische Ehe mit ihrem Landesvater einwilligen sollte. Aber war das nicht die Option par excellence für eine Tochter aus verarmter Adelsfamilie? Eine bessere Chance auf eine sorgenfreie Zukunft würde sie nie und nimmer bekommen! Am 24. November 1785 schlossen Luise und Karl Friedrich im Karlsruher Schloss den Bund fürs Leben. Obwohl Luise zur Gräfin von Hochberg erhoben worden war, galt sie als nicht ebenbürtig. Sollten Kinder, vor allem Söhne, aus der morganatischen Ehe mit dem Markgrafen hervorgehen, so würden diese nicht erbberechtigt sein. Und doch fügte Karl Friedrich einen ungewöhnlichen Passus in den Ehevertrag ein: Für den – unwahrscheinlichen – Fall, dass das badische Fürstenhaus im Mannesstamm ausstarb, würden weitere Regelungen getroffen. Dass dieser Fall jemals eintreten würde, schien jedoch undenkbar. Karl Friedrich hatte drei gesunde Söhne: den Erbprinzen Karl Ludwig sowie Friedrich und Ludwig. Auch wenn die Ehe des Prinzen Friedrich kinderlos geblieben war und Ludwig, der Jüngste, wenig Neigung hatte, eine standesgemäße Ehe einzugehen, so schien die Thronfolge doch durch den 1786 geborenen Karl gesichert, den Sohn von Karl Ludwig und Amalie.
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NOCH EINE AUFSTEIGERIN
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Trotz des großen Alterunterschieds führten Luise und der Markgraf eine recht glückliche Ehe, was auch der höfischen Umgebung auffiel: „Er genießt sein Glück in vollen Zügen, was ihn um mindestens zehn Jahre verjüngt hat“, meinte ein Beobachter. Auch die markgräfliche Familie war froh, dass der Vater sein Glück gefunden hatte. Die schüchterne und zurückhaltende Luise war bei allen beliebt. Am 29. August 1790 brachte sie ihr erstes Kind zur Welt. Es war ein Sohn, der auf den Namen Leopold getauft wurde. Im Laufe der Jahre wurden noch vier weitere Kinder geboren, darunter drei Söhne, von denen einer früh verstarb. Die Jahre an der Seite des Markgrafen sollten Luise jedoch verändern. Aus dem schüchternen jungen Mädchen wurde bald eine selbstbewusste Frau, die anfing unter ihrer ehevertraglich fixierten „Nichtebenbürtigkeit“ zu leiden. Schließlich war ihre Stellung am Hof keineswegs gefestigt. Was würde nach dem Tod des alten Markgrafen geschehen? Finanziell war sie keineswegs so abgesichert, wie sie es gewünscht hätte. Außerdem sorgte sie sich um die Zukunft ihrer Kinder, die sie alle von Herzen liebte. Es waren schließlich unruhige Zeiten, denn auch die Markgrafschaft Baden wurde von den französischen Revolutionskriegen nicht verschont. Glücklicherweise hatte Karl Friedrich ein offenes Ohr für die Sorgen seiner Gemahlin. 1796 erließ er eine Verfügung, in der es hieß, dass Luises Söhne „zwar zurzeit noch nicht in den Fürstenstand des badischen Hauses“ erhoben würden, wohl aber in den Grafenstand. Und weiterhin wurde bestimmt, dass „die Herrn Söhne aus zweiter Ehe und ihre männlichen Nachkommen nach einem gänzlichen Abgang der Nachkommen aus erster Ehe zur Sukzession“ berechtigt seien. Offiziell war diese Verfügung zwar noch nicht, aber immerhin ein Anfang. Luises Söhne waren von der Thronfolge also nicht mehr völlig ausgeschlossen.
Noch eine Aufsteigerin Jedoch schien es undenkbar, dass jemals ein Sohn der Hochberg den badischen Thron besteigen würde. Doch dann nahm das Unheil seinen Lauf. Am 15. Dezember 1801 starb Erbprinz Karl Ludwig von Baden bei einem Kutschunglück in Schweden, und neuer Thronfolger wurde sein einziger Sohn Karl. Für Baden hatte es sich inzwischen ausgezahlt, dass es sich im
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Krieg an die Seite des siegreichen Frankreich geschlagen hatte, an dessen Spitze jetzt Napoleon stand. Nach der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation 1806 belohnte der Kaiser der Franzosen den gehorsamen Karl Friedrich nicht nur mit einem ordentlichen Gebietsgewinn, sondern erhob ihn auch zum Großherzog von Baden. Das Ganze war freilich an eine Bedingung gekoppelt: die Hochzeit des zwanzigjährigen Erbprinzen Karl mit Stephanie de Beauharnais, der Adoptivtochter Napoleons. Zwar war Karl mit der bayerischen Prinzessin Auguste Amalie verlobt, der Tochter von Max I. Joseph. Doch Napoleon hatte auch in München seinen Willen durchgesetzt, sodass die junge Frau mit seinem Stiefsohn Eugène Beauharnais vermählt worden war (vergl. S. 167). Luise von Hochberg, inzwischen 38 Jahre alt, konnte sich mit dem neuen Familienmitglied überhaupt nicht abfinden. Das lag nicht nur daran, dass die siebzehnjährige Stephanie jung und hübsch war, während sie schon die ersten Spuren des Alters feststellen musste. Vor allem ärgerte sich Luise darüber, dass die Französin auch nur eine Aufsteigerin war wie sie selbst. Doch während die Hochberg im Status der morganatischen Ehefrau verharrte, war Stephanie durch ihre Heirat zur Erbprinzessin von Baden aufgestiegen und würde in absehbarer Zeit an Karls Seite Großherzogin sein. Einmal mehr ging Luise mit ihrem Kummer zu Karl Friedrich, der ihre Klage auch diesmal erhörte. Im September 1806 erließ er deshalb die Sukzessionsakte, in der endgültig festgelegt wurde, dass die HochbergSöhne erbberechtigt seien, sollte die alte Linie des Hauses Baden aussterben. Mit dieser Regelung erklärten sich auch die Söhne des Markgrafen, Friedrich und Ludwig, sowie sein Enkel Karl einverstanden. Als Karl Friedrich 1811 mit 83 Jahren verstarb, wurde sein Enkel Karl neuer Großherzog von Baden. Damit hatte die Hochberg ihre Rolle am Hof von Karlsruhe ausgespielt. Und doch weigerte sie sich, sich auf einen Witwensitz zurückzuziehen, so wie es auch bei voll erbberechtigten Gemahlinnen üblich war. – Luise behielt ihre Wohnung im Schloss.
Tod des Erbprinzen Die Ehe des jungen Großherzogs wurde nicht glücklich. Erst 1811 kam das erste Kind zur Welt, Tochter Luise. Doch nur kurze Zeit später war Stepha-
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nie erneut schwanger. Nach einer schweren Geburt, bei der die Zange zum Einsatz kommen musste, gebar sie am 29. September 1812 endlich den ersehnten Sohn. Einige Tage später schrieb Großherzogin-Witwe Amalie an ihre Tochter: „Die Frau von Karl ist am 29. mit einem sehr großen Knaben im Verhältnis zur Größe der Mutter niedergekommen.“ Stephanie, die von der Geburt sehr geschwächt um ihr Leben kämpfte, wurde gleich von dem Neugeborenen getrennt. Wie an Fürstenhöfen üblich, übergab man das Kind einer Amme. Zunächst schien alles in bester Ordnung. Doch dann bekam der Säugling plötzlich hohes Fieber, Krämpfe stellten sich ein. Eine Nacht lang kämpften die Ärzte um das Leben des kleinen Prinzen. Vergeblich. Kurz nach einer Nottaufe – bei der man ihm noch nicht einmal einen Namen gegeben hatte – starb der Säugling am 18. Oktober 1812. Die anschließende Obduktion ergab Krämpfe und Gehirnblutungen als Todesursache. Die Hofdame Caroline von Freystedt erinnerte sich: „Er war außerordentlich groß und stark und schien bei der Geburt gelitten zu haben, weil er durch Instrumente zur Welt befördert werden musste.“ Der namenlose Prinz wurde gleich in der Pforzheimer Familiengruft beigesetzt. Schon damals gab es erste Zweifel, dass es sich bei dem toten Säugling tatsächlich um das Kind von Karl und Stephanie handelte. Ursache war möglicherweise eine Äußerung der verzweifelten Großherzogin, ihr Kind sei gar nicht tot, man habe es ihr nur „weggenommen“. Schließlich hatte Stephanie den Kleinen nie gesehen, und um sie zu schonen, hat man sie auch nicht zu dem Leichnam geführt. So tauchten Gerüchte auf, die Hochberg habe das Kind vertauschen lassen. Der Erbprinz sei als Säugling aus dem Karlsruher Schloss geraubt und an seiner Stelle ein sterbenskrankes Kind in die Wiege gelegt worden. Das alles, um ihren eigenen Söhnen die Thronfolge zu sichern.
Noch mehr Todesfälle im Hause Baden Möglicherweise wären die bösen Gerüchte rasch wieder verstummt, hätte es in der badischen Familie nicht weitere Todesfälle gegeben. Stephanie indessen war noch jung. Sie würde sicherlich noch viele Kinder zur Welt bringen. Und tatsächlich wurde schon 1813 Tochter Josefine geboren, 1816 dann endlich wieder ein Sohn – Alexander. Der schien sich bestens zu
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entwickeln, doch dann kam es anders. Am 8. Mai 1817 starb auch dieser kleine Erbprinz. Die Eltern waren untröstlich. Vor allem der Großherzog glaubte nicht an eine natürliche Todesursache wie „das Zahnen“, sondern vermutete, das Kind sei vergiftet worden. Wieder geriet die Hochberg ins Visier, denn wer sonst sollte ein Interesse daran haben, den männlichen Kindern der Familie nach dem Leben zu trachten? Schließlich erreichten die Töchter – Luise, Josephine und die 1817 geborene Marie – alle das Erwachsenenalter. Zudem hatte sich Luise von Hochberg in den vergangenen Jahren sehr zu ihrem Nachteil verändert. Sie hasste alles und jeden. Die Verbitterung über ihre Benachteiligung als frühere morganatische Ehefrau des Großherzogs kompensierte sie dadurch, dass sie das Geld, was ihr zustand, mit vollen Händen ausgab. Zuletzt war sie so verschuldet, dass sie unter Vormundschaft gestellt werden musste! Doch auch die Tatsache, dass sie selbst mit ihren eigenen Söhnen hoffnungslos zerstritten war, konnte sie nicht von dem Vorwurf befreien, die kleinen Prinzen beiseitegeschafft zu haben. Der Hochberg traute man einfach alles zu. Nicht wenige glaubten, dass sie selbst noch beim Tod des jungen Großherzogs ihre Hände im Spiel hatte. Karl von Baden verstarb 1818 an einem Leiden, das ihn schon länger gequält hatte, der „Wassersucht“, also offenbar einer Herzkrankheit. Nur 32 Jahre alt war er geworden. Damit drohte die männliche Linie des Fürstenhauses tatsächlich auszusterben, denn auch Karls Onkel Friedrich hatte kurz zuvor das Zeitliche gesegnet, ohne einen Erben zu hinterlassen. Damit bestieg der dritte und letzte Sohn Karl Friedrichs den großherzoglichen Thron: Ludwig I. von Baden. Alle Hoffnungen ruhten nun auf dem Fünfundfünfzigjährigen, der noch immer einem unbeschwerten Junggesellendasein frönte und – was auf der Hand liegt – keine legitimen Kinder hatte. Immerhin war es für eine Heirat noch nicht zu spät! Auch im englischen Königshaus hatte es eine ähnlich prekäre Situation gegeben, nachdem keiner der Söhne Georgs III. ehelichen Nachwuchs vorweisen konnte. Die mutmaßliche Thronfolgerin Charlotte, eine Tochter des ältesten Sohnes des Königs, war 1817 bei der Geburt ihres ersten Kindes gestorben. Schließlich sollte sich Prinz Eduard aufraffen und eine deutsche Prinzessin aus dem Hause Sachsen-Coburg heiraten. Die Ehe wurde mit der Geburt eines kleinen Mädchens gekrönt, das 1837 als Queen Victoria englische Königin wurde …
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MOR D I M AN SBACH ER SCH LOSSGARTEN?
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Doch dieses Glück war dem Hause Baden verwehrt. Ludwig blieb unverheiratet, und als er 1830 starb, war tatsächlich das eingetreten, was zunächst niemand für möglich gehalten hatte: Das Haus Baden war in der männlichen Linie ausgestorben und dadurch wurde Prinz Leopold, der älteste Sohn der Gräfin Hochberg, neuer Großherzog von Baden. Die ambitionierte Mutter hat diesen Triumph allerdings nicht mehr erlebt. Sie war bereits am 23. Juni 1820 in Karlsruhe gestorben.
Mord im Ansbacher Schlossgarten? Damals kam nicht nur Anselm von Feuerbach auf die Idee, Kaspar Hauser könnte der Erbprinz von Baden sein. Nach dem, was der junge Mann erzählt und niedergeschrieben hatte, war er jahrelang in den Verliesen verschiedener Burgen und Schlösser gefangen gehalten worden. Unerklärlich war nur, warum man ihn nach der Geburt nicht gleich umgebracht hatte, anstatt ihn so mühsam vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Kaspar Hauser hatte sich inzwischen so einem vergleichsweise normalen jungen Mann entwickelt, der auf Betreiben Feuerbachs Ende 1832 eine Anstellung als Schreiber und Kopist beim Ansbacher Gericht gefunden hatte. Allmählich wurde es ruhig um ihn, sein Leben schien in geordneten Bahnen zu verlaufen. Lord Stanhope hatte allerdings das Interesse an seinem Schützling verloren und war 1832 nach England zurückgekehrt, ohne Kaspar mitzunehmen, wie er es ursprünglich vorgehabt hatte. Nach ausgiebigen Recherchen war er zu dem Ergebnis gekommen, das merkwürdige Findelkind sei in Wirklichkeit wohl ein Betrüger. Mit dem Tod Anselm von Feuerbachs, der am 29. Mai 1833 vermutlich an einem Herzinfarkt starb, verlor Kaspar Hauser auch seinen zweiten Betreuer, eine Tatsache, die der labile Jüngling möglicherweise nicht verkraftet hat. Sein neues Zuhause bei dem strengen Ansbacher Lehrer Meyer dürfte ihm wenig gefallen haben. Am 14. Dezember 1833 beobachteten Ansbacher Bürger, dass Kaspar Hauser wie von Furien getrieben durch den Ansbacher Schlossgarten rannte. Zu Hause angekommen, stellte sich heraus, dass er im Brustbereich eine schwere Wunde aufwies. Kaspar gab an, er sei von einem großen schwarz gekleideten Mann angesprochen worden, der ihm zunächst einen
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Beutel überreicht und dann mit einem Messer auf ihn eingestochen habe. Der lilafarbene Damenbeutel, der am Tatort gefunden wurde, enthielt einen Zettel, auf dem in Spiegelschrift stand: Hauser wird euch ganz genau erzählen können, wie ich aussehe und woher ich bin. Dem Hauser die Mühe zu ersparen, will ich es euch selber sagen, woher ich komme – ich komme von der bayerischen Grenze – am Fluss – ich will euch sogar noch meinen Namen sagen: L.M.Ö Die Stichwunde war tödlich. Kaspar Hauser starb drei Tage später, am 17. Dezember 1833. War er tatsächlich einem Mordanschlag zum Opfer gefallen, oder hatte er sich die Verletzung womöglich selbst beigebracht? Die anschließende Obduktion brachte kein eindeutiges Ergebnis. Drei Ärzte meinten, es läge Fremdverschulden vor, während ein Mediziner die Ansicht vertrat, es könne sich auch um eine Selbstverletzung handeln. Die Tatwaffe, ein zweischneidiger Dolch, wurde erst später im Ansbacher Schlossgarten von einem Gärtner gefunden. Kaspar Hauser fand seine letzte Ruhestätte auf dem Ansbacher Johannisfriedhof. Sein Grabstein trägt eine lateinische Inschrift, die in deutscher Übersetzung lautet: Hier liegt Kaspar Hauser, Rätsel seiner Zeit, unbekannt die Herkunft, geheimnisvoll der Tod 1833.“
Erbprinz oder Betrüger? Kaspar Hausers gewaltsamer Tod gab der Erbprinzentheorie noch einmal kräftig Nahrung. Hatte der neue Großherzog von Baden aus der Hochberger Linie den Mord in Auftrag gegeben? In den Fokus des Verdachts geriet vor allem seine Gemahlin Sophie, die sich tatsächlich ein paar Tage inkognito in Ansbach aufgehalten hatte, um Kaspar Hauser heimlich zu beobachten. Schmiedete sie vielleicht einen heimtückischen Mordplan, oder war sie nur gekommen, um den Unruhestifter, von dem ganz Deutschland sprach, mit eigenen Augen zu sehen? Für die Vertreter der Erbprinzentheorie schien sich alles nahtlos zusammenzufügen: Seit dem plötzlichen Auftauchen Kaspar Hausers haben die Hochberger mehrmals den Versuch unternommen, den „wahren Erbprinzen“ umzubringen – und natürlich auch Anselm von Feuerbach, der ihren Machenschaften auf die Schliche kam! So erschien sogar die Person Lord Stanhopes plötzlich in einem ganz anderen Licht: Er war keineswegs der großzügige und warmherzige Men-
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ERBPRINZ ODER BETRÜGER?
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schenfreund, als der er sich eine Zeit lang präsentierte, sondern stand in Wirklichkeit im Dienste des Hauses Baden. Sein Auftrag soll es gewesen sein, die Spuren von Kaspars Herkunft zu verwischen und die Fährte weg von Karlsruhe zu lenken. Als ihm der Boden in Deutschland zu heiß wurde, beschloss er kurzfristig, in seine englische Heimat zurückzukehren. Doch nicht nur Stanhope geriet ins Visier, auch Großherzog Ludwig I. von Baden. Ihm unterstellte man nämlich eine intime Beziehung zu der jungen Luise von Hochberg. Nach dieser Version sollen die Kinder, die sie zur Welt brachte, gar nicht von Karl Friedrich gezeugt worden sei, sondern von seinem jüngsten Sohn! Die heimliche Liebe zur Hochberg sei auch der wahre Grund gewesen, warum er niemals geheiratet habe. Er wollte – so wurde kolportiert –, dass einmal seine Kinder den Thron bestiegen, und nicht die seines ältesten Bruders Karl! Dass Kaspar Hauser von vornehmer Geburt war, schienen auch dessen Impfnarben zu beweisen. Dass es in den Reihen der Republikaner in der unruhigen Zeit des Vormärz besonders viele Verfechter der „Prinzentheorie“ gab, liegt auf der Hand. Schließlich trauten sie den verhassten Monarchen alle möglichen Scheußlichkeiten zu. Kaspar Hauser – das Symbol fürstlicher Arroganz und Willkür! Doch auch in aristokratischen Kreisen hegte man Zweifel. Als die Tochter des preußischen Kronprinzen und späteren deutschen Kaisers Wilhelm I. 1854 Friedrich von Baden heiratete, empörte sich Queen Victoria, die Hohenzollern würden sich mit den „Mördern Kaspar Hausers“ einlassen! Und Friedrichs älterer Bruder Ludwig, nominell ein weiterer möglicher Herzog von Baden, soll sogar dem Wahnsinn verfallen sein, weil er geglaubt habe, Kaspar Hauser mache ihm den Thron streitig. Doch immer gab es auch Stimmen, die meinten, Kaspar Hauser sei nichts weiter als ein dreister Betrüger, der sich die Geschichten von seiner geheimnisvollen Herkunft selbst ausgedacht hat, um berühmt zu werden. Kann man tatsächlich überleben, wenn man jahrelang in einem dunklen Verlies gefangen gehalten wird und nichts außer Wasser und Brot zu sich nimmt? Und wie ist es zu erklären, dass Kaspar Hauser bis zu seinem Lebensende einen bayerischen Dialekt sprach, obwohl er doch angeblich erst im fränkischen Nürnberg das Sprechen gelernt hatte? Und vor allem: Warum hätten die Hochberger Kaspar Hauser umbringen lassen wollen, obwohl der doch gar keinen Anspruch auf den badischen Thron erhob? Erst der Mord erregte Aufsehen in ganz Europa. Merk-
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würdig war auch, dass der geheimnisvolle Zettel, der in dem lilafarbenen Beutel gefunden worden war, die gleiche ungewöhnliche Falttechnik aufwies, die auch Kaspar Hauser immer anzuwenden pflegte. Und selbst die Impfnarben verloren an Beweiskraft, denn Bayern hatte als erster deutscher Staat bereits 1807 die allgemeine Impfpflicht gegen Pocken eingeführt. Sie war also keineswegs ein „Privileg der Aristokratie“, wie die Befürworter der „Prinzentheorie“ behaupteten. So hatten beide Parteien – wenn schon keine Beweise – so doch ihre Argumente für oder gegen die „Prinzentheorie“ – bis heute.
Wird das „Jahrhundertgeheimnis“ gelöst? Erst Ende des 20. Jahrhunderts schien es möglich, das Geheimnis um Kaspar Hauser mittels einer Genanalyse zu lüften. Auf Veranlassung des Nachrichtenmagazins Der Spiegel wurden im Frühjahr 1996 Proben aus Kaspar Hausers in Ansbach aufbewahrter blutbefleckter Unterhose entnommen. Alles, was er am Tag des Mordanschlags getragen hatte, war nämlich in der Asservatenkammer sorgsam aufbewahrt worden: Hemd und Unterhose, Krawatte, Zylinder, schwarze Hose, brauner Gehrock sowie der lilafarbene Beutel mit dem geheimnisvollen Zettel. Da das Haus Baden den Zugang zur Fürstengruft verweigerte, musste man selbst auf die Suche nach direkten Nachfahren von Stephanie die Beauharnais gehen. Die Großherzogin hatte bekanntlich drei Töchter gehabt. Zwei weibliche Nachkommen von Josephine und Marie erklärten sich auch bereit, ihre Blutproben mit dem DNS-Material Kaspar Hausers abgleichen zu lassen. Das Untersuchungsergebnis schien nach Aussage des Biochemikers Gottfried Weichhold eindeutig zu sein: „Somit können die beiden Vergleichspersonen nicht über die weibliche Linie mit dem Mann verwandt sein, von dem die sogenannte Blutspur Kaspar Hausers stammt.“ Stolz verkündete der Spiegel im November 1996, das „Jahrhundertgeheimnis“ gelüftet zu haben: „Kaspar Hauser ist nicht der Prinz von Baden. Das wird manche Leute enttäuschen, aber das ist ein eindeutiger Beweis.“ Trotzdem regten sich nach wie vor Zweifel. Das Untersuchungsergebnis war schließlich nur dann hieb- und stichfest, wenn es sich bei der Blutprobe tatsächlich um das Material Kaspar Hausers handelte. Doch wie ließ
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sich das beweisen? Eine dreiundachtzigjährige Ansbacherin hatte als Schülerin angeblich in den Zwanzigerjahren gesehen, wie der Hausmeister aus einem Kännchen mit roter Flüssigkeit „ein paar Tröpfle auf die Kleidung Kaspar Hausers schüttete“. Er müsse das Gewand von Zeit zu Zeit mit Rinderblut nass machen, „damit es eindrucksvoller aussieht“, verriet die alte Dame der Fränkischen Landeszeitung. Nun war den Wissenschaftlern zwar durchaus klar, dass es sich bei den Proben keineswegs um Rinderblut handelte, doch die Zweifel konnten trotzdem nicht völlig aus dem Weg geräumt werden. Fünf Jahre später waren die Methoden der DNS-Analyse weiter verbessert worden. Das regte die ZDF-Redakteure der Sendereihe „Sphinx“ an, für die Folge Mordfall Kaspar Hauser eine neue Untersuchung in Auftrag zu geben. Mittlerweile war es auch möglich, genetisches Material aus Haar und Schweißpartikeln zu gewinnen. Deswegen brachten sie Kaspar Hausers Hut und eine Haarlocke aus dem früheren Besitz Anselm von Feuerbachs ins Labor, um die Proben mit dem Blut der Unterhose zu vergleichen. Das Ergebnis war nicht ganz eindeutig, doch es gab vor allem gravierende Unterschiede. Stammte das Blut also doch nicht von Kaspar Hauser? Auf jeden Fall konnte das Untersuchungsergebnis des Spiegel weder widerlegt noch bestätigt werden. Es darf also weiter gerätselt werden; noch ist das Haus Baden nicht vollständig rehabilitiert. Solange die Fürstengruft in Pforzheim für wissenschaftliche Untersuchungen verschlossen bleibt, wird sich das auch nicht ändern. Und selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, dass das Genmaterial der sterblichen Überreste des namenlosen Prinzen mit dem seiner Eltern verglichen werden könnte, ist ungewiss, ob die DNS nach 200 Jahren nicht unwiderruflich zerstört ist. Deshalb steht fest: Der Mythos Kaspar Hauser lebt!
War Kaspar Hauser ein „Bankert“ aus Tirol? Erfreulicherweise begnügten sich die Spiegel-Redakteure 1996 nicht allein mit der Feststellung, dass Kaspar Hauser – ihren Untersuchungsergebnissen zufolge – nicht der Erbprinz von Baden gewesen sein kann, sie versuchten auch, seine tatsächliche Identität herauszufinden. Bislang nämlich führten alle Spuren ins Leere. Kaspar Hauser war weder das Kind einer polnischen
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Gräfin noch der unbekannte Sohn, den die bayerische Kurfürstin-Witwe Maria Leopoldine 1799(!) zur Welt gebracht hatte (vergl. S 165). Kam er tatsächlich „von der bayerischen Grenze“? In der fraglichen Zeit von Hausers Geburt war Tirol von den Bayern besetzt, unter anderem auch vom 6. Regiment der Chevaulegers, bei dem Kaspar Hausers Vater gedient haben soll. So stand es zumindest in dem Brief, den der Findling bei seinem Auftauchen in Nürnberg bei sich getragen hatte. Ein interessantes Detail: Unter der bayerischen Besatzungsregierung war auch die Impfpflicht in Tirol eingeführt worden. Im Örtchen Reith bei Kitzbühel sind auf einem Kriegerdenkmal die Namen der Männer verewigt, die im Kampf gegen die bayerischen Besatzer gefallen sind. Unter den Toten ist auch ein 1809 verstorbener Kaspar Hauser! Zufall? Besagter Kaspar war ein unverheirateter Bauernsohn, der keine bekannten Nachkommen hinterlassen hat. Von ihm kann das Nürnberger Findelkind nicht abstammen. Was also mag damals passiert sein? Im Heimatdorf des jungen Mannes gab es ein 1811 geborenes Kind, dessen Vater ein bayerischer Soldat gewesen war. War dieser nicht näher bekannte Knabe vielleicht der Kaspar Hauser? Bei dessen Obduktion hatten die Ärzte nämlich entdeckt, dass sein Gehirn mangelhaft entwickelt war. Litt er womöglich an einer Erbkrankheit, die damals in Tirol nicht selten war? Dabei handelt es sich um ein Hautleiden, das mit Muskel- und Hirnanomalien einhergehen kann, Epidermolysis bullosa. Mögliche Folgen sind Mangelernährung, Minderwuchs, Behinderung des Bewegungsapparats und diffuse Schmerzen. Kann es sein, dass der kleine Besatzungsjunge an genau dieser Krankheit litt? War er womöglich ein unwillkommener Außenseiter in seinem Heimatdorf, zu keiner körperlichen Arbeit fähig? Hat man den behinderten Jüngling deshalb zurück in das Land seines Erzeugers geschickt, nach Bayern? Vielleicht haben sich die Tiroler einen bösen Scherz erlaubt und dem bayerischen „Bankert“ einfach den Namen verpasst, der auf dem Kriegerdenkmal zu lesen war: Kaspar Hauser. Vielleicht hat es sich so zugetragen, vielleicht auch nicht. Eines steht auf jeden Fall fest: Es darf weiter gerätselt werden!
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13 Das Ende des Märchenkönigs – Wie Bayernkönig Ludwig II. in den Selbstmord getrieben und dadurch unsterblich wurde
Am Abend des 13. Juni 1886 wurden zwei Leichen aus dem Starnberger See geborgen. Es handelte sich um den bayerischen König Ludwig II. und den Psychiater Bernhard von Gudden. Der hatte dem Monarchen eine unheilbare Geisteskrankheit attestiert. Weil Ludwig ein Vermögen für den Bau seiner Schlösser ausgab, unterstellten ihm gewisse Kreise, wahnsinnig zu sein. Es folgen Entmündigung und Absetzung des Königs. Das Ende des „Kini“ gibt bis heute Rätsel auf, doch eines steht fest: Gerade sein tragischer Tod machte den Erbauer der „Märchenschlösser“ bis heute so populär wie keinen anderen deutschen Fürsten.
„Ein ewig Rätsel“ Leben und Tod Ludwigs II. bieten hinreichend Stoff für Romane und abendfüllende Spielfilme; inzwischen hat man dem schillernden Bayernkönig sogar ein eigenes Musical gewidmet. Sein unglückliches Schicksal beflügelte selbst den Schriftsteller Karl May zu dem üppigen Fortsetzungsroman Der Weg zum Glück, einer fantastischen Geschichte ohne realen Bezug.
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DAS EN DE DES MÄRCH EN KÖN IGS
Der wichtigste Grund für das bis heute ungebrochene Interesse an Ludwig II. ist sein tragischer Tod im Starnberger See, der nie völlig aufgeklärt werden konnte. Noch immer gibt es Spekulationen darüber, ob sich der König selbst das Leben nahm oder womöglich umgebracht wurde, vielleicht sogar auf der Flucht erschossen. Und nicht zuletzt bleibt die Frage: Wer oder was hat den Bayernkönig in den Tod getrieben? War er tatsächlich wahnsinnig, weil er sich mit dem Bau seiner „Märchenschlösser“ bis über beide Ohren verschuldete? Oder steckten ganz andere Interessen dahinter? Wenn es stimmt, dass Ludwig II. sich und anderen „ein ewig Rätsel“ bleiben wollte, dann ist ihm das auch weitgehend gelungen. Umso mehr gilt es, die Fakten von der Fiktion zu trennen. Wer war dieser seltsame Bayernkönig, der durch sein mysteriöses Ende „unsterblich“ wurde?
Zwei mögliche Väter? Am 25. August 1845 herrschte nicht nur in München große Freude – ganz Bayern jubelte mit: Kronprinzessin Marie hatte nach knapp dreijähriger Ehe endlich einen gesunden Sohn und Thronfolger zur Welt gebracht. Man nannte ihn Ludwig nach dem königlichen Großvater. Doch bereits mit Ludwigs Geburt im Nymphenburger Schloss begann das „ewige Rätsel“ um den späteren „Märchenkönig“. War Kronprinz Maximilian von Bayern tatsächlich sein leiblicher Vater? Manche behaupten nämlich, der älteste Sohn Ludwigs I. habe sich während eines Aufenthalts in Budapest mit einer „venerischen Krankheit“ infiziert. Die Geschlechtskrankheit Gonorrhö soll ihn – einer neuen Hypothese zufolge – zeugungsunfähig gemacht haben, was sich nach Maximilians Rückkehr in die Heimat angeblich auch rasch herumsprach. Wie es heißt, wussten damals viele von dem unerfreulichen „Souvenir“ des Kronprinzen, auch Österreichs mächtiger Staatskanzler Clemens von Metternich. Man fragt sich bloß, warum das Gerücht nicht bis nach Berlin vordrang. Der preußische Königshof sah nämlich kein Problem darin, die erst siebzehnjährige Prinzessin Marie, eine Enkelin Friedrich Wilhelms II., 1842 mit Maximilian zu verheiraten. Die Ehe wurde – gemessen an fürstlichen Verhältnissen – auch recht glücklich. Dennoch wird dem Kronprinzen Ungeheuerliches unterstellt: Weil er selbst nicht in der Lage war, einen Thronfolger zu zeugen,
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soll er geduldet haben, dass die arme Marie betrunken gemacht und dann ins Bett des fünfzigjährigen Italieners Giuseppe Tambosi geschleppt wurde, Kellermeister am bayerischen Königshof. Wie sich dann später zeigte, erledigte der die delikate Angelegenheit mit Bravour. Wer genau hinschaute, konnte, wenn er wollte, auch eine gewisse Ähnlichkeit des kleinen Ludwig mit Tambosis leiblichen Kindern ausmachen.
Flucht in die Welt des Mittelalters Doch ganz gleich, wer Ludwigs leiblicher Vater gewesen sein mag – sonderlich glücklich war die Kindheit des jungen Prinzen jedenfalls nicht. Als Ludwig drei Jahre alt war, wurde sein Bruder Otto geboren. Das freilich war auch schon das einzig erfreuliche Ereignis in diesem schicksalsträchtigen Jahr. 1848 stürzte der königliche Großvater Ludwig I. über die Affäre mit der schönen Lola Montez, hauptsächlich aber über seinen selbstherrlichen absolutistischen Regierungsstil. Deshalb musste jetzt der Kronprinz als Maximilian II. Joseph den bayerischen Königsthron besteigen. Ludwig rückte damit in der Thronfolge auf Platz eins vor. Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn gestaltete sich jedoch denkbar ungünstig. Der intellektuell veranlagte Maximilian und der hochsensible verträumte Prinz blieben einander vollkommen fremd. Weder beim Vater noch bei seiner Mutter fand Ludwig das nötige Verständnis, und daher begann er sich schon früh aus der kalten Wirklichkeit in eine romantische Traumwelt zu flüchten. Entsprechende Anregungen bekam der Knabe auf Schloss Hohenschwangau, wo die königliche Familie regelmäßig die Sommermonate verbrachte. Hier hatte der König die Wände mit Motiven aus der mittelalterlichen Sagenwelt gestalten lassen, sodass Schwanenritter Lohengrin und andere heroische Gestalten die Fantasie des jungen Ludwig mächtig anregen konnten.
Der „Opernkönig“ Mit nur 18 Jahren wurde Ludwig unsanft aus seinen Träumen gerissen und mit der rauen Wirklichkeit konfrontiert. Am 16. März 1864 starb sein Vater völlig überraschend im Alter von 53 Jahren, und jetzt musste der junge
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Kronprinz als König Ludwig II. von Bayern den Thron besteigen. Obwohl man ihn kaum auf seine schweren Pflichten vorbereitet hatte, nahm Ludwig seine Aufgaben zunächst sehr ernst. Noch ganz dem Gedankengut des Absolutismus verhaftet, war er der festen Überzeugung, von Gott selbst in dieses hohe Amt eingesetzt worden zu sein, ein Amt, das ihm eine scheinbar ungeheure Machtfülle bescherte. Zwar liebte das bayerische Volk seinen gut aussehenden „Kini“ – eine imposante Erscheinung mit dunklem lockigem Haar und verträumt wirkenden Augen. Doch schon bald musste Ludwig erkennen, dass er die Fäden der Macht nicht wirklich in der Hand hielt. Bereits nach der Abdankung seines Großvaters hatten die königlichen Minister zunehmend an Einfluss gewonnen und so den Handlungsspielraum des Monarchen spürbar beschnitten. Wieder suchte Ludwig Zuflucht in einer „anderen Welt“, diesmal im Reich der Musik. Kurz vor dem Tod seines Vaters hatte er den Komponisten Richard Wagner kennengelernt, dessen Oper Lohengrin ihn schon als Heranwachsenden so fasziniert hatte. Der heroische Schwanenritter wurde gleichsam zu Ludwigs heimlichem Alter Ego. Seitdem übten Wagners Werke eine geradezu magische Anziehungskraft auf den jungen Wittelsbacher aus, jene Opern, in denen die mittelalterliche Sagenwelt musikalisch inszeniert wurde. Aus der ersten Begegnung des achtzehnjährigen Prinzen mit dem damals einundfünfzigjährigen Komponisten entstand eine einzigartige, aber eher einseitige Freundschaft. Ludwig bot nämlich bereitwillig an, den verehrten „Meister“ finanziell zu unterstützen. Er beglich nicht nur dessen hohe Schulden, sondern stellte ihm auch ein komfortables Haus in München zur Verfügung, dazu noch eine schmucke Villa am Starnberger See. Doch wirklich dankbar zeigte sich der „Meister“ nicht, im Gegenteil. Richard Wagner wollte immer mehr. Als dann auch noch herauskam, dass der Komponist eine Affäre mit der verheirateten Cosima von Bülow hatte, konnte er in Bayern nicht länger geduldet werden und musste München im Dezember 1865 wieder verlassen.
Kein tieferes Interesse am weiblichen Geschlecht Jetzt gab es nur noch einen Menschen, der Ludwigs kompliziertes Seelenleben zu verstehen schien: seine Cousine, die nicht minder exzentrische
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KEIN TIEFERES INTERESSE AM WEIBLICHEN GESCHLECHT
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Kaiserin Elisabeth von Österreich, genannt Sisi. Doch auch Sisis jüngere Schwester Sophie war dem gut aussehenden König sehr zugetan. Diese durchaus gegenseitige Sympathie stieß auf allgemeines Wohlgefallen, schließlich sollte Ludwig so schnell wie möglich heiraten und die Thronfolge sichern. Doch auch wenn er sich mit Sophie wunderbar über die Opern Richard Wagners unterhalten konnte, so hatte der König eigentlich nicht die geringste Lust, seine Cousine zu ehelichen. Frauen interessierten ihn eigentlich überhaupt nicht, zumindest nicht in sexueller Hinsicht. Doch seine gleichgeschlechtlichen Neigungen durften nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Zwar war Homosexualität in Bayern damals (noch) nicht strafbar, doch es verlieh dem Betreffenden eine Aura von „unmännlicher Dekadenz“. Dabei war der Bayernkönig keineswegs der einzige europäische Fürst, der Männer liebte. Auch Karl I. von Württemberg (1823– 1891) und Gustav V. (1858–1950), seit 1907 König von Schweden, fühlten sich zum eigenen Geschlecht hingezogen, auch wenn sie beide verheiratet waren. Um den Schein zu wahren, verlobte sich auch der junge Bayernkönig im Januar 1867 pflichtbewusst mit seiner Cousine; die Hochzeit sollte noch im gleichen Jahr stattfinden. Doch Ludwig schaffte es, den Termin immer wieder hinauszuzögern, bis die Verlobung im November des Jahres zu seiner großen Erleichterung doch noch „platzte“: „Gott sei gedankt“, schrieb er am 29. November 1867 in sein Tagebuch, „nicht ging das Entsetzliche in Erfüllung …“ Wenn Ludwig in dieser Frage noch einmal den Kopf aus der Schlinge ziehen konnte, so gelang ihm das in politischer Hinsicht nicht. Ohne dass er es verhindern konnte, wurde der junge König, der nichts so sehr hasste wie Blutvergießen, in zwei Kriege hineingezogen: 1866 in den sogenannten Deutschen Krieg zwischen Preußen und Österreich, und vier Jahre später in den Deutsch-Französischen Krieg, der im Januar 1871 die Gründung des Deutschen Kaiserreichs zur Folge hatte. Das damit verbundene weitgehende Ende der bayerischen Souveränität und der massive Machtverlust waren für Ludwig II. besonders schmerzlich. Er, der noch vor wenigen Jahren als absolutistischer Monarch von Gottes Gnaden angetreten war, fühlte sich zur bloßen fürstlichen Marionette degradiert. Diese Demütigung musste der König irgendwie kompensieren.
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Märchenschloss Neuschwanstein Zum Glück plagten Ludwig damals – noch – keine finanziellen Probleme. Zum einen war die Kabinettskasse, aus der er seine privaten Ausgaben beglich, reichlich gefüllt. Später versilberte ihm auch der mächtige Reichskanzler Otto von Bismarck den Verlust der bayerischen Souveränität: Er gewährte dem König ein großzügiges Darlehen von schätzungsweise fünf Millionen Mark „ohne Hoffnung auf jemalige Rückzahlung“. Dieses beruhigende finanzielle Polster eröffnete Ludwig ungeahnte Möglichkeiten. Endlich konnte er, der schon als Kind die Neigung hatte, sich in eine Traumwelt zurückzuziehen, seine Träume Wirklichkeit werden lassen! Auch wenn Richard Wagner München längst verlassen hatte, so war Ludwigs Verehrung für den „Meister“ doch ungebrochen. Um sein großes Idol gebührend zu würdigen, entschied er, dem Komponisten und dessen Werk ein eigenes Schloss zu widmen. Am 13. Mai 1868 schrieb der Bayernkönig an Richard Wagner: „Ich habe die Absicht, die alte Burgruine Hohenschwangau bei der Pöllatschlucht neu aufbauen zu lassen, im echten Stil der alten deutschen Ritterburgen. Der Punkt ist einer der schönsten, die hier zu finden sind, heilig und unnahbar, ein würdiger Tempel für den göttlichen Freund.“ Die Idee mochte vielleicht wenig verrückt erscheinen, doch „alte deutsche Ritterburgen“ bauten im 19. Jahrhundert auch andere Monarchen. Der spätere deutsche Kaiser Wilhelm I. ließ sich auf dem Babelsberg in Potsdam ein Schloss nach mittelalterlichem Vorbild bauen, König Georg V. von Hannover gab 1857 die Marienburg in Auftrag, und auch die Burg Hohenzollern bei Sigmaringen, Stammsitz des Adelsgeschlechts, erhielt erst damals ihre heutige Gestalt. Ab 1869 entstand auf hohem Felsenrücken, in wunderbarer Lage über Alp- und Schwansee, Ludwigs „Märchenschloss“ Neuschwanstein. Die Entwürfe stammten von dem Theatermaler Christian Jank, der in München das Bühnenbild zum „Tannhäuser“ entworfen hatte. Doch auch Ludwig selbst war an den Ausführungen maßgeblich beteiligt und bestimmte alles bis ins letzte Detail mit. Seinen Vorstellungen gemäß wurde Neuschwanstein tatsächlich zu einem „Tempel“ für den „göttlichen“ Richard Wagner und dessen große Opern. Der Thronsaal des Schlosses glich dem Bühnenbild des Gralstempels aus der Parsifal-Inszenierung, der Sängersaal war dem „Tannhäuser“ gewidmet und dem Vorbild der Wartburg nachempfun-
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MODERNSTE TECHNIK
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den, Ludwigs Schlafzimmer ähnelte dem Brautgemach Lohengrins. Natürlich hatte der Bayernkönig inständig gehofft, in diesem Ambiente den „göttlichen Freund“ eines Tages wiedersehen zu können. Doch als Richard Wagner 1883 starb, war Neuschwanstein noch immer nicht fertiggestellt.
Modernste Technik Neuschwanstein war ohnehin nur eines von mehreren Bauprojekten. Mit einem ganz anderen Schloss wollte Ludwig zumindest ein Zeichen für das absolute Königtum setzen. Ein weiteres Idol des Wittelsbachers war nämlich der französische „Sonnenkönig“ Ludwig XIV., der im 17. Jahrhundert mit Schloss Versailles ein steinernes Symbol absolutistischer Macht geschaffen hatte. Ein solches „Versailles“ wollte Ludwig auch in Bayern errichten. Bereits 1869 begannen deshalb die ersten geheimen Vorbereitungen für das große Projekt. Das Codewort lautete: „Meicost Ettal“, ein Anagramm des berühmten, Ludwig XIV. zugeschriebenen Spruchs: „L’etat c’est moi – Der Staat bin ich.“ Als Bauplatz für das „bayerische Versailles“ war ursprünglich das Graswangtal in der Nähe des Klosters Ettal vorgesehen. Doch dann zeigte sich, dass dieses Areal für das gewaltige Vorhaben viel zu klein war. Daher disponierte Ludwig um und entschloss sich kurzerhand, eine königliche Villa im Rokokostil zu bauen, die an das kleine Lustschloss Petit Trianon im Schlosspark von Versailles erinnern sollte. Zwischen 1869 und 1878 errichtete der bayerische Baumeister Georg Dollmann in der Abgeschiedenheit des Graswangtals einen zweigeschossigen Prunkbau mit üppig dekorierter Außenfassade und pompöser Inneneinrichtung: Schloss Linderhof, eine einzige Hommage an den „Sonnenkönig“. Doch obwohl das französische Vorbild unverkennbar ist, verwirklichte Ludwig auch hier viele seiner eigenen Ideen, nicht zuletzt mittels modernster Technik, für die er sich brennend interessierte. So geht beispielsweise das Linderhofer „Tischlein-deck-dich“ auf Ludwig II. zurück. Dabei handelt es sich um einen versenkbaren Tisch, der aus der Küche im Untergeschoss vollständig gedeckt ins Speisezimmer gehoben wurde. So konnte der menschenscheue Bayernkönig seine Mahlzeiten ganz allein und ungestört von seinen Bediensteten einnehmen.
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Ein weiteres „Wunderwerk der Technik“ war die im Schlosspark gelegene „Venusgrotte“, zu deren Bau sich Ludwig ebenfalls durch Wagners „Tannhäuser“ inspirieren ließ. Die Venusgrotte, dem Vorbild der berühmten Blauen Grotte auf Capri täuschend echt nachempfunden, war die größte künstliche Tropfsteinhöhle der Welt. Sie ließ sich vollständig beheizen und selbst das Wasser konnte temperiert und durch eine Wellenmaschine sanft in Bewegung gesetzt werden. Ein künstlicher Wasserfall, auf den ein Regenbogen projiziert wurde, vollendete die Illusion einer natürlichen Höhle. Ihre besondere mystische Atmosphäre aber erhielt die Venusgrotte durch mehrfarbiges künstliches Licht. 24 Bogenlampen – die neueste Erfindung des Ingenieurs Werner von Siemens – beleuchteten die Szenerie in den Farben Rot, Rosé, Grün und Blau. Auf Schloss Linderhof – dem einzigen Bau, der bis zum Tod Ludwigs II. fertiggestellt werden konnte – hielt sich der Bayernkönig am liebsten auf. Hier lebte er seine Träume und machte die Nacht zum Tage. Gewöhnlich stand er erst gegen 17 Uhr auf, um ausgedehnte Streifzüge durch den Schlosspark zu unternehmen oder in einem prachtvollen Muschelkahn über den künstlichen See der Venusgrotte zu gleiten – wie der Schwanenritter Lohengrin.
Herrenchiemsee – das „bayerische Versailles“ Doch auch der Traum von einem „bayerischen Versailles“ war noch keineswegs ausgeträumt. Er erwachte zu neuem Leben, nachdem Ludwig 1874 während einer Reise durch Frankreich das riesige Königsschloss persönlich in Augenschein genommen hatte, auch wenn Versailles seit dem Ende des Kaiserreichs 1871 als Sitz der französischen Nationalversammlung diente. Noch immer freilich fehlte dem König das passende Grundstück. Dann aber erfuhr Ludwig II. von der bedrohten Idylle der Insel Herrenchiemsee, wo vor der Säkularisation 1803 das Kloster der Augustiner Chorherren gestanden hatte. Inzwischen aber war die Insel an eine schwäbische Holzbaufirma verkauft worden, die eigentlich das ganze Areal abholzen wollte. Ludwig II. kam ihnen zuvor und erwarb die alte Klosterinsel für einen Preis von 350 000 Gulden. Damit hatte er endlich den geeigneten Bauplatz für sein „bayerisches Versailles“!
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H E R R E N C H I E M S E E – DA S „ B AY E R I S C H E V E R S A I L L E S “
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Trotz der enormen Kosten, die seine Schlossbauten verschlangen, war Ludwigs Schatulle noch immer gut gefüllt. Oft wird angenommen, der König habe sich großzügig aus dem Staatshaushalt bedient und so den bayerischen Staat beinahe in den Bankrott getrieben. Tatsächlich entnahm er das Geld der Hof- und Kabinettskasse, die den Mitgliedern des Königshauses für persönliche Ausgaben zur Verfügung stand. Sie war mit rund vier Millionen Mark pro Jahr gut gefüllt, selbst wenn ein großer Teil dieser Summe für laufende Kosten abgezweigt werden musste, darunter auch für die Apanage der Wittelsbacher Verwandtschaft. Der Staatshaushalt, der jährlich mit rund 228 Millionen Mark zu Buche schlug, wurde also nicht belastet, im Gegenteil. Gleichfalls sollte man nicht vergessen, dass Ludwigs aufwändige Schlossbauten zahllose Menschen der armen bayerischen Landbevölkerung für viele Jahre in Lohn und Brot brachten. Ludwig II. hatte die 2,38 km² große Herreninsel bereits 1875 erworben, doch erst drei Jahre später begannen die Bauarbeiten, auch diesmal wieder unter der bewährten Federführung von Georg Dollmann. Der König wollte mit Schloss Herrenchiemsee keine bloße Kopie von Versailles schaffen, sondern gewissermaßen ein Idealschloss, das die Idee des absoluten Königtums in allen Details widerspiegelte. Tatsächlich gelang es ihm sogar, das französische Original in mancher Hinsicht zu übertreffen. Den Mittelpunkt des Schlosses bildeten das Paradeschlafzimmer und die große Spiegelgalerie, die mit einer Länge von 90 Metern größer ausfiel als die in Versailles (73 Meter). Das üppig verzierte Prunkbett im Schlafgemach hat Ludwig allerdings nie benutzt. Es sollte auch keinen „profanen“ Zwecken dienen, sondern lediglich ein Sinnbild königlicher Macht darstellen. Der Bayernkönig hielt sich respektvoll und beinahe demütig im Hintergrund. Für ihn gab es eine eigene Wohnung im Nordflügel des Schlosses, die er jedoch nur ein einziges Mal für zehn Tage nutzte. Die ursprüngliche Planung von Herrenchiemsee sah eine fünfflügelige Schlossanlage vor, die aber nicht realisiert werden konnte. Als die Arbeiten kurz vor Ludwigs Tod wegen akuten Geldmangels eingestellt werden mussten, waren erst drei Flügel fertig, von denen der nördliche 1907 wieder abgebrochen wurde.
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Ein Rettungsschirm für den König? So bahnte sich die Katastrophe allmählich an. Ludwig hatte den Bau seiner Schlösser stets als „Hauptlebensfreude“ bezeichnet, doch diese Freude nahm jetzt geradezu manische Züge an, wurde regelrecht zur Bausucht. Die Kabinettskasse leerte sich zunehmend, wobei es bis 1877 noch nicht dramatisch war. Mit der Zeit jedoch häufte sich eine enorme Schuldenlast an, Anfang 1884 waren 8,25 Millionen Mark aufgelaufen. Aussichtslos war Ludwigs Situation freilich nicht. Es gab mehrere Kreditangebote und selbst Königinwitwe Marie bot ihrem Sohn an, kostbaren Schmuck zu versetzen, was Ludwig freilich ablehnte. Auch Bismarck steuerte eine weitere Million aus dem Welfenfonds bei, denn er und Kaiser Wilhelm I. waren der Ansicht, dass es eine Gefahr für das monarchische Prinzip darstellte, wenn die Schulden eines Königs nicht beglichen wurden. Die bayerische Regierung sah das freilich anders, nämlich als seine Privatangelegenheit. 1885 stand deshalb fest: Ludwig II. war bankrott! Die Bauarbeiten an den Schlössern waren allerdings noch längst nicht beendet. Am 29. August 1885 schrieb der König deshalb Hilfe suchend an den bayerischen Finanzminister Riedel: „Mein königlicher Wille ist es, dass die von mir unternommenen Bauten nach Maßgabe meiner getroffenen Anordnungen angemessene Fortsetzung und Vollendung finden … Ich beauftrage Sie, Herr Minister, die notwendigen Schritte zur Regelung der Finanzen zu tun und so meine Unternehmungen zu fördern.“ Doch Ludwigs herrisch vorgebrachtes Ansinnen stieß auf taube Ohren. Ein Baustopp war die Folge. Trotzdem wäre es mit etwas gutem Willen und kompetenten Finanzberatern höchstwahrscheinlich gelungen, das Problem in den Griff zu bekommen. Selbst die Berliner Börsenzeitung schrieb damals: „Die Höhe des Defizits der Kabinettskasse wird übrigens bedeutend übertrieben. Durch Veräußerung der entbehrlichen Wertobjekte würde sich dasselbe auf eine unbedeutende Summe reduzieren.“ Zwar war die bayerische Staatskasse nicht in Gefahr, doch Ludwigs Verwandtschaft wurde allmählich unruhig. Zur königlichen Familie gehörte auch Ludwigs Onkel Luitpold (1821–1912), der jüngere Bruder seines verstorbenen Vaters sowie Luitpolds Söhne Ludwig (1845–1921) und Leopold (1846–1930) samt Ehefrauen und zahlreichen Kindern. Angesichts der enormen Verschuldung des Königs mussten sie befürchten,
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sich über kurz oder lang selbst enorm einschränken zu müssen. Außerdem gab es da noch die ein oder andere peinliche Geschichte, die ihnen überhaupt nicht behagte. Überflüssig zu erwähnen, dass ihr Verhältnis zu Ludwig II. nicht das Beste war. Am liebsten hätte man den exzentrischen Verwandten vom Thron gestoßen …
Intrigen im Haus Wittelsbach Bereits 1866 wurden Stimmen laut, die auf Ludwigs Abdankung hinzielten. Im Januar des Jahres war in der Zeitung Münchner Neueste Nachrichten denn auch zu lesen: „Wir zweifeln jedoch nicht, dass es in hohen und höchsten Kreisen Leute gibt, denen ein solcher Schritt des Königs und demselben folgende Regentschaft nicht unangenehm wäre.“ Keine Frage, die „Affäre Richard Wagner“ hatte Ludwig II. schwer geschadet, nicht zuletzt in der Königsfamilie selbst. Schon damals hieß es, man solle den Monarchen doch auf seinen Geisteszustand untersuchen. Die Situation spitzte sich zu, als Ludwig im Jahr darauf die Verlobung mit Sophie löste, wodurch sich der Verdacht seiner Homosexualität zunehmend erhärtete. Alle Hoffnungen auf eine Heirat und vor allem auf Nachwuchs konnte man damit wohl vergessen. Und hinzu kam noch etwas anderes: Bei Prinz Otto, dem Bruder des Bayernkönigs, waren schon 1865 erste Anzeichen einer psychischen Störung festgestellt worden, sodass es sehr fraglich war, ob er jemals ein normales Leben würde führen können. Otto litt unter rätselhaften Angst- und Unruhezuständen, die sich ab 1871 derart steigerten, dass er bereits im November des Jahres für regierungsunfähig erklärt wurde. Ludwig II. und seine Mutter waren sich zwar einig darüber, dass der unglückliche junge Mann auf keinen Fall in eine Heilanstalt eingewiesen werden sollte. Trotzdem schien es ratsam, ihn von der Öffentlichkeit fernzuhalten. Als endgültig feststand, dass eine Heilung seines Leidens unmöglich war, wurde Prinz Otto auf Schloss Fürstenried unter ärztliche Bewachung gestellt. Hier lebte er bis zu seinem Tod 1916. Auch aus der Ehe von Otto (1815–1867), König von Griechenland, dem zweitältesten Sohn Ludwigs I., waren keine Kinder hervorgegangen. Damit aber stand fest, dass früher oder später voraussichtlich Luitpolds ältester Sohn Ludwig den Thron besteigen würde. Diese Aussicht führte zu einer
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wachsenden Rivalität zwischen den „beiden Ludwigs“, dem Bayernkönig und der Familie seines ehrgeizigen Cousins. Dabei ging es nicht allein um die potenzielle Nachfolge, auch in politischen Fragen wie dem Beitritt Bayerns zum Zollverein hatten die beiden Wittelsbacher unterschiedliche Ansichten. Dass sich am bayerischen Königshof damals eine Intrige anbahnte, blieb nicht unbemerkt. Der stets gut informierte preußische Gesandte in München, Graf Georg von Werthern, schrieb am 9. April 1867 an Otto von Bismarck, man bemühe sich, „den König um alle Popularität zu bringen, ihn vielleicht sogar für verrückt zu erklären, und auf diese Weise mit Umgehung des Prinzen Otto, die Thronbesteigung des Prinzen Ludwig, Sohn des Prinzen Luitpold vorzubereiten“. Nun war es zwar so, dass die Bayern ihren „Kini“ liebten und verehrten, doch sie bekamen ihn praktisch nie zu Gesicht. Größere Menschenmassen brachten Ludwig II. ins Schwitzen; hinzu kam eine nicht ganz grundlose Angst vor Attentaten. Deshalb war es meist so, dass Prinz Luitpold die repräsentativen Pflichten übernahm und den bayerischen König bei offiziellen Anlässen vertrat. Das mochte vielleicht unüblich sein, widersprach aber keinesfalls den verfassungsrechtlichen Bestimmungen. Auch hat man Ludwig oft zum Vorwurf gemacht, dass er seine Regierungsaufgaben vernachlässigt habe. Inzwischen jedoch steht zweifelsfrei fest, dass das nicht der Fall war. Die Akten, die dem König von den Ministern vorgelegt wurden, bearbeitete er nicht nur zügig und gewissenhaft, er versah sie auch mit Kommentaren und Nachfragen. Doch die Gerüchte um eine mögliche Abdankung Ludwigs II. wollten einfach nicht verstummen. Auch in einem Brief des Großherzogs Friedrich von Baden hieß es 1871, man plane „im Falle der Abdankung des Königs den ältesten Sohn des Prinzen Luitpold auf den Schild zu heben“. Doch es dauerte noch viele Jahre, bis der Thron Ludwigs II. tatsächlich zu wackeln begann.
„Neigung zum Stallpersonal“ Ludwig II. mochte sehr exzentrisch sein, einer extremen Bauleidenschaft anhängen und sich dem Repräsentieren entziehen. Richtige „Verfehlun-
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gen“ konnte man ihm aber nicht anlasten. Je höher sich der Schuldenberg allerdings türmte, je größer das Defizit in der Kabinettskasse wurde, desto nervöser reagierte Prinz Luitpolds Familie, weil ihre eigenen finanziellen Zukunftsperspektiven immer schlechter wurden. Anfang 1886 forderten die ersten Gläubiger ihr Geld zurück. Am 23. Januar 1886 schrieb der König an den bayerischen Innenminister Feilitzsch: „Seit der beklagenswerte Zustand der Kabinettskasse herbeigeführt wurde und die Stockung, an welcher mir so unendlich viel gelegen ist, eingetreten ist, ist mir die Hauptlebensfreude genommen. Ich fordere Sie daher noch einmal dringend auf, alles aufzubieten, um zur Erfüllung meines sehnlichsten Wunsches beizutragen und widerstrebende Elemente zum Schweigen zu bringen. Sie würden mir geradezu das Leben aufs Neue geben.“ Die „widerstrebenden Elemente“ jedoch hatten nichts anderes als Ludwigs Absetzung im Sinn, denn inzwischen ging es nicht nur um eine leere Kabinettskasse, sondern um Ansehen und Ehre des Hauses Wittelsbach! Doch ein Absetzungsverfahren war nicht ganz einfach. Laut bayerischer Verfassung von 1818 konnte nur dann eine Regentschaft abgesetzt werden, wenn der Monarch länger als ein Jahr an der Ausübung seiner Regierung gehindert war. Das konnte bei einer Krankheit der Fall sein, bei einem chronischen, unheilbaren Leiden … Die bayerische Regierung hatte an der Absetzung des Bayernkönigs zunächst keinerlei Interesse, im Gegenteil. Für sie war Ludwig ein äußerst bequemer Monarch, weil er – abgesehen vom Geld für seine Bauten – keine Ansprüche stellte und die Minister gewähren ließ. Doch dann tauchten im Zusammenhang mit Ludwigs Homosexualität plötzlich äußerst pikante Gerüchte auf. Wie es der (ebenfalls homosexuelle) preußische Diplomat Philipp zu Eulenburg (1847–1921) formulierte, hatte Ludwig II. in den 1880er-Jahren „eine sehr energetische Zuneigung zum jüngeren Stallpersonal entwickelt“. Tatsächlich war es so, dass Lakaien, die ihn bislang bedient hatten, durch gut aussehende junge Reitersoldaten ersetzt wurden. Das gab natürlich Anlass zu allerlei Spekulationen über mögliche sexuelle Handlungen des Königs. Selbst wenn niemand etwas Genaues wusste, geriet dadurch doch die ganze bayerische Armee in Misskredit! Und die Gerüchte zogen weite Kreise. Graf Dürckheim, der Adjutant Ludwigs II., notierte damals in seinen Aufzeichnungen: „Während des Winters
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und Frühjahrs 1886 verliert sich plötzlich die Loyalität und Diskretion in der Besprechung der Privatangelegenheiten des Königs. Zeitungsartikel hierüber mehren sich, zunächst in ausländischen Zeitungen, dann aber gehen sie auch in bayerische Blätter über. Gegenstand der öffentlichen Besprechung und Kritik auf allen Bierbänken sind nun nicht mehr Geldkalamitäten und Kabinettskasse, und daran anschließend die Bauten des Königs, sondern es werden Gewohnheiten des Königs, seine Lebensweise einer Kritik unterzogen, es tauchen ganz ungeniert Insinuationen (Unterstellungen) schlimmster Art über die Chevaulegers (leichte Reiterei) auf, welche seit einiger Zeit anstelle der Lakaien beim König Dienst taten. Es werden übertriebene Geschichten erzählt, von Geschenken an diese Leute, über Misshandlungen derselben durch S.M. Merkwürdigerweise hört man nirgends von einem Einschreiten der Polizei, obwohl in allen öffentlichen Lokalen fortwährend die gröbsten Majestätsbeleidigungen ausgesprochen werden.“
Ludwig II. wird entmündigt Quelle dieser Gerüchte war vermutlich die bayerische Landesregierung selbst. Zwar hatte man lange Zeit eine Entmachtung Ludwigs II. weit von sich gewiesen, doch jetzt war damit zu rechnen, dass der König seine Minister unverzüglich austauschen würde, weil sie ihm jegliche finanzielle Unterstützung verweigerten. Und so kam es zu einem „Deal“ mit Luitpolds Familie: Den Ministern wurde zugesichert, dass sie ihre Posten auf jeden Fall behalten würden, wenn sie der Absetzung Ludwigs II. zustimmten. Damit war der Monarch auch für die bayerische Regierung offiziell untragbar geworden, und dem Verfahren stand nichts mehr im Wege. Tatsächlich wäre ein freiwilliges Abdanken des Königs zu diesem Zeitpunkt durchaus noch möglich gewesen, doch diese Alternative wurde erst gar nicht in Erwägung gezogen. Stattdessen musste ein unheilbares Leiden für Ludwig erfunden werden, am besten natürlich eine Geisteskrankheit! Dass die geistigen Fähigkeiten Ludwigs II. in keiner Weise beeinträchtig waren, steht nach heutigen Erkenntnissen zweifelsfrei fest. Doch auch schon damals wurde das von unparteiischen Beobachtern so gesehen: „Die Eigentümlichkeiten Seiner Majestät erstrecken sich jedoch nur auf Privat-
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angelegenheiten, und die Regierungsgeschäfte wurden glatt und korrekt erledigt“, so Georg von Werthern am 17. Mai 1886 in einem Schreiben an Bismarck. Angesichts der Tatsache, dass Ludwigs jüngerer Bruder Otto an einer massiven psychischen Störung litt, schien es doch nahe liegend, dass auch der König selbst wahnsinnig war. Indizien gab es schließlich zu Genüge: seine manische Bauleidenschaft, die ungewöhnliche Menschenscheu, seine sexuellen Eigenarten – nun brauchte man nur noch einen Arzt, der die gewünschte Diagnose stellte. Und tatsächlich: Nichts leichter als das! Durch die Krankheit des Prinzen Otto stand das bayerische Königshaus ohnehin in Kontakt zu mehreren Psychiatern, unter ihnen Dr. Bernhard von Gudden, der den „Fall Ludwig“ auch bereitwillig übernahm. Dabei kannte Gudden den König kaum, hatte ihn zudem schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Auch hielt der Psychiater eine eingehende Untersuchung seines Patienten offenbar für überflüssig. Zusammen mit drei weiteren Kollegen fertigte er allein „nach Aktenlage“ ein psychiatrisches Gutachten an, in dem er Ludwig eine „schwere geistige Krankheit“ attestierte: „Seine Majestät ist in sehr fortgeschrittenem Grade seelengestört, und zwar leiden Allerhöchstdieselben an jener Form von Geisteskrankheit, die mit dem Namen Paranoia (Verrücktheit) bezeichnet wird. Bei dieser Form der Krankheit ist seine Majestät für unheilbar zu erklären.“ Es ist anzunehmen, dass die vier Herren reich entlohnt wurden.
Psychiatrische Überwachung Nur einen Tag nach der Anfertigung des Gutachtens erfolgte am 9. Juni 1886 die Entmündigung Ludwigs II., und am Tag darauf übernahm Prinz Luitpold die Regentschaft. Noch ahnte der König nichts. Er hielt sich gerade auf Schloss Neuschwanstein auf, als er von seiner Absetzung erfuhr. Ludwig war am Boden zerstört: „Wenn man mir die Krone aberkannt hätte, das würde ich ertragen haben. Aber dass man mir den Verstand aberkennt, mir die Freiheit nimmt und mich wie meinen Bruder behandelt, nein, das ertrage ich nicht, ich will diesem Schicksal entgehen, man treibt mich in den Tod“, soll er nach Berichten von Augenzeugen gesagt haben. Die Absetzung des Königs
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war tatsächlich nichts anderes als Hochverrat! Seine Vertrauten rieten ihm deshalb, umgehend nach München zu fahren, sich dem Volk zu zeigen und damit zu beweisen, dass er durchaus im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war. Doch Ludwig lehnte ab. Trotzdem war er keineswegs bereit, sich in sein Schicksal zu fügen. Am 11. Juni ließ er in der Bamberger Zeitung eine öffentliche Stellungsnahme abdrucken: „Ich fühle mich körperlich und geistig so gesund wie jeder andere Monarch, und der geplante Hochverrat ist so überraschend, dass Mir keine Zeit bleibt, Gegenmaßnahmen zur Vereitelung der vom Ministerium beabsichtigten Verbrechen zu treffen.“ Ludwig behielt Recht. Noch am gleichen Abend erschien eine Staatskommission auf Schloss Neuschwanstein, um ihn offiziell über seine Absetzung zu informieren. Prinz Luitpold und die königlichen Minister waren zu feige, persönlich zu erscheinen. Stattdessen überließen sie das Ganze Dr. Bernhard von Gudden. Auch der Psychiater fühlte sich keineswegs wohl in seiner Haut und begann mit den Worten: „Majestät, es ist die traurigste Aufgabe meines Lebens. Dann teilte er Ludwig das Ergebnis des Gutachtens mit, seine Entmündigung, die Absetzung, die Einsetzung des Prinzen Luitpold als Regenten – und schließlich die Festsetzung des Königs auf Schloss Berg, wo er künftig unter psychiatrischer Überwachung leben sollte. Nach Aussage der Anwesenden reagierte Ludwig keineswegs wie ein „Verrückter“, sondern ganz Herr der Situation: „Hören Sie, wie können Sie als gewiegter Irrenarzt so gewissenlos sein und ein Zeugnis ausstellen, welches über ein Menschenleben entscheidet? Sie haben mich seit zwölf Jahren nicht mehr gesehen!“ Von Gudden jedoch meinte, das Aktenmaterial sei sehr reichhaltig und reiche völlig aus, um die Diagnose „Paranoia“ stellen zu können. Ludwig musste einsehen, dass es für ihn keinen Ausweg gab. Man würde ihn nach Schloss Berg bringen und dann … Doch selbst in dieser äußerst schwierigen Situation verhielt sich der König völlig klar und bewies zudem ein großes Maß an Selbstbeherrschung. Gegen vier Uhr morgens drängte Gudden zum Aufbruch; drei Pferdekutschen warteten abfahrtbereit im Schlosshof. Ludwig blieb nur noch Zeit, sich von seinen Vertrauten zu verabschieden, vor allem von seinem alten Schlossdiener: „Niggl, bewahren Sie meine Räume als ein Heiligtum, lassen Sie’s nicht profanieren von Neugierigen, in denen ich die bittersten Stunden meines Lebens durchlebte. – Leben Sie wohl. Mich sehen Sie nicht mehr.“
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Anschließend ließ sich Ludwig ohne Widerstand in den Schlosshof führen, wo schon die „Irrenwärter“ darauf warteten, den hochgestellten Patienten zu begleiten. Die mittlere Kutsche war jedoch ganz allein für Ludwig reserviert: mit verschlossenen Türen, verhängten Fenstern und Fußfesseln auf dem Boden. Für eine Flucht gab es nicht die geringste Chance. Während der neunstündigen Fahrt nach Schloss Berg am Starnberger See hatte Ludwig viel Zeit zum Nachdenken … Am 12. Juni 1886 um die Mittagszeit kam man ans Ziel. Als Ludwig ins Schloss Berg geführt wurde, das ihm als Sommersitz seit Jahren wohlvertraut war, musste er entsetzt feststellen, dass er in einem Gefängnis gelandet war: Die Fenster waren vergittert, die Klinken innen an den Türen entfernt, außerdem hatte man Beobachtungsluken eingesägt. Damit aber war jede Privatsphäre unmöglich, was für den ohnehin schon menschenscheuen König einer Katastrophe gleichkam. Ludwig äußerte zwar sein Befremden, begehrte aber nicht weiter auf. Gehorsam nahm er die Mahlzeit ein, die man für ihn vorbereitet hatte, legte sich anschließend zu Bett und schlief bis zum nächsten Morgen.
Tod im Starnberger See Nach dem Frühstück ließ Ludwig Dr. von Gudden ausrichten, er möge ihn doch bitte auf einen kleinen Spaziergang begleiten. Zur Sicherheit kamen auch zwei „Irrenwärter“ mit, doch von Gudden fand diese Sicherheitsmaßnahme vollkommen überflüssig. Nach einem intensiven Gespräch mit dem hohen Patienten war er zu der Überzeugung gelangt, Ludwig habe sich „wunderbar in seine neue Lage gefügt“ und sei völlig harmlos „wie ein Kind“. Als Arzt und Patient am Abend gegen 18:30 Uhr zu einem weiteren Spaziergang aufbrachen, verzichtete Gudden auf seinen Schutz und schickte die „Irrenwärter“ wieder zurück, um ungestört mit Ludwig reden zu können. Als jedoch die Zeit verging, wurde man auf Schloss Berg allmählich unruhig. Eigentlich hätten die Herren längst zurück zum Souper sein müssen, doch weit und breit war nichts von ihnen zu sehen. Schließlich war es schon nach acht Uhr abends, auch hatte starker Regen eingesetzt. Deshalb wurde ein Suchtrupp losgeschickt, der die Vermissten aufspüren sollte.
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Doch erst nach Einbruch der Dunkelheit entdeckte ein Hofbeamter auf einem kleinen Weg am Ufer des Starnberger Sees ein paar Kleidungsstücke, darunter ein Hut mit kostbarer Brillantspange, wie sie zweifellos dem König gehörte. Schließlich suchte man den ganzen Uferbereich ab, doch weder von Ludwig noch von Gudden war irgendetwas zu sehen. Deshalb fasste sich einer der Männer ein Herz und stieg mit seiner Fackel vorsichtig ins Wasser, das am Uferbereich noch recht flach war. Und tatsächlich entdeckte er im Feuerschein einen leblosen Körper auf dem See treibend, nur wenig entfernt davon einen zweiten: Ludwig und Dr. von Gudden. Jede Hilfe kam zu spät, beide Männer waren längst tot. Die Uhr des Königs war um 18.54 Uhr stehen geblieben. Man brachte die Toten nach Schloss Berg, um die genauen Umstände zu klären. Während Körper und Kleidung des Königs weitgehend unversehrt waren, wies von Guddens Leichnam auffällige Verletzungen auf, ein Hämatom in Schläfenhöhe, vermutlich durch einen wuchtigen Faustschlag verursacht, tiefe Kratzwunden in Gesicht und Würgemale am Hals. Allem Anschein nach wollte Ludwig seinem Leben im Starnberger See ein Ende setzen, und als von Gudden versuchte, ihn zurückgehalten, kam es wohl zum Kampf zwischen beiden Männern. Dabei muss sich Ludwig zur Wehr gesetzt und mit seiner ganzen Kraft auf den Psychiater eingeschlagen haben, sodass dieser das Bewusstsein verlor und im seichten Wasser ertrank. Dann ging der König den letzten Weg, den er selbst für sich gewählt hatte.
Verschwörungstheorien Eigentlich lassen sich die letzten Stunden Ludwigs II. recht gut rekonstruieren. Trotzdem bietet sein Tod im Starnberger See bis heute Anlass zu allerlei Spekulationen. Nicht zuletzt die vom Haus Wittelsbach noch immer praktizierte Geheimhaltung der Akten öffnet der Legendenbildung Tür und Tor. Doch weil von Anbeginn eine freie Berichterstattung verhindert wurde, verbreitete sich schnell das Gerücht, Ludwig sei ermordet worden. Da wurde vermutet, Prinzregent Luitpold habe den Mord an seinem Neffen in Auftrag gegeben, um ihn endgültig aus dem Weg zu räumen. Dann gab es die Variante, Ludwig habe fliehen wollen, wobei ihm der einen Version zufolge ein Kahn, der anderen gemäß ein Pferdewagen
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bereitgestellt worden ist. „Fluchthelferin“ sei seine Cousine und „Seelenverwandte“ Sisi gewesen. Dann aber, so die Theorie, sei Ludwig auf der Flucht erschossen worden. Von Gudden habe Schuldgefühle bekommen und sich deshalb umgebracht. Anschließend soll man die Leichen ins Wasser gelegt haben, um Tod durch Ertrinken vorzutäuschen. Es gibt aber auch die Version, wonach der Psychiater in das Mordkomplott eingeweiht gewesen sei und schließlich als unliebsamer Zeuge selbst aus dem Weg geräumt wurde. Wie es heißt, gab es damals Zeugen, Mitglieder des bayerischen Königshauses, die sich an Einschusslöcher im Hemd des Königs erinnert haben wollen und behaupteten, man habe das Kleidungsstück später verbrannt. Was auch immer an jenem Abend geschah – die bayerischen Untertanen waren vom Tod ihres „Kini“ zutiefst erschüttert. Nachdem der Leichnam in der Hofkapelle feierlich aufgebahrt worden war, kamen sie in Scharen, um sich von Ludwig zu verabschieden. Am 19. Juni 1886 fand der unglückliche Bayernkönig in der Münchner Michaelskirche seine letzte Ruhestätte. Um aller Welt zu beweisen, wie „verrückt“ Ludwig II. gewesen war und wie gut man daran getan hatte, ihn zu entmündigen und abzusetzen, beschloss die bayerische Landesregierung nur wenige Wochen später, die königlichen Schlösser für fremde Besucher zu öffnen. Der treue Niggl konnte diese „Entweihung“ natürlich nicht verhindern. Heute sind Neuschwanstein, Herrenchiemsee und Linderhof zu wahren Touristenmagneten geworden, die Besucher aus aller Welt anziehen. Viele von ihnen nehmen Souvenirs mit nach Hause, Teller und Tassen, Handtücher und T-Shirts mit dem Konterfei Ludwigs II. Keine Frage, der „Kini“ lebt!
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14 Rasputin & Co. – Geisterheiler am russischen Zarenhof 1894 wurde Nikolaus II. Zar von Russland. Doch obwohl das Land zu dieser Zeit auf lange überfällige Reformen wartete, besaß er weder die Kraft noch die nötigen Fähigkeiten, um das Land aus der Krise zu führen. Bedingt durch die Bluterkrankheit des Sohnes geriet Zarin Alexandra schließlich in den Bann des „Wunderheilers“ Rasputin, der bald zu ihrem engsten Vertrauten wurde. Bald fragte man sich: Lenkte etwa Rasputin hinter den Kulissen die Geschicke des Landes? Und was verhieß seine Prophezeiung für das Schicksal der Romanows?
Russland um 1900 Auch in Russland war die Zeit nicht stehen geblieben, selbst wenn die Zaren aus der Dynastie der Romanows das riesige Land schon seit 300 Jahren mit autokratischer Machtfülle beherrschten. Noch immer gab es keine Gewaltenteilung; Legislative, Exekutive und Jurisdiktion lagen allein in der Hand des Zaren. Gestützt wurde er durch hohe Offiziere aus dem großgrundbesitzenden Adel, der sich mit der beginnenden Industrialisierung zu einer einflussreichen Geldaristokratie entwickelt hatte. Die industrielle Revolution hatte in Russland allerdings sehr spät eingesetzt und erst Ende der Neunzigerjahre des 19. Jahrhunderts ihre volle
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Blüte erreicht. Im Donez-Becken war eine bedeutende Kohlebergbauindustrie entstanden, und 1891 wurden die ersten Gleise der etwa 9350 Kilometer langen Transsibirischen Eisenbahn gelegt. Moskau entwickelte sich zum Zentrum der Textilindustrie, und St. Petersburg, seit 1703 die Hauptstadt Russlands, war Sitz bedeutender Maschinenwerke. Die Lebensbedingungen der Arbeiter in den städtischen Zentren waren jedoch fürchterlich. Doch im Gegensatz zu den westlichen Regierungen unternahm Russland kaum etwas, um die Lage der Menschen zu verbessern. Den Bauern – der überwältigenden Mehrheit des russischen Volkes – ging es ähnlich schlecht wie den Industriearbeitern, auch wenn die Leibeigenschaft 1861 aufgehoben worden war. Die kleinen Landparzellen jedoch, die die Bauern erhalten hatten, warfen mit ihrem oftmals kargen Boden kaum die nötigen Erträge ab. Zudem mussten die Bauern hohe Ablösesummen zahlen, die sie nur schwer oder überhaupt nicht aufbringen konnten. In den Neunzigerjahren vergrößerten mehrere Missernten die ohnehin schon große Not der Landbewohner noch zusätzlich.
Die letzten Zaren Nachdem die Menschen ihr Schicksal lange Zeit als gottgegeben hingenommen hatten, formierte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich eine illegale Opposition. Dazu gehörte auch eine anarchistische Bewegung, für die gerade der politische Mord ein geeignetes Mittel des sozialen Protests darstellte. Im März 1881 warf eine russische Terrororganisation, die sich „Partei des Volkswillens“ nannte, in St. Petersburg zwei Bomben auf die Kutsche des Zaren Alexander II., die ihm beide Beine abrissen. Er starb nur wenig später. Ihm folgte sein Sohn als Alexander III. auf den Zarenthron, in dessen Regierungszeit die Modernisierung des rückständigen Russlands die bereits erwähnten industriellen Impulse bekam. Doch die gesellschaftlichen Spannungen nahmen zu. Die revolutionären Bewegungen, die in diesem Klima erstarkten, unterdrückte der Zar mit brutaler Polizeigewalt. Damals entwickelte sich auch eine erste marxistische Gruppe, deren Ziel die „Diktatur des Proletariats“ war. Als Alexander III. am 1. November 1894 starb, wurde sein Sohn Nikolaus II. neuer Zar von Russland. Damit stand der Sechsundzwanzigjährige
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vor einer äußerst schwierigen Aufgabe, für die er in keiner Weise geeignet war. Denn weder besaß er die Persönlichkeit, den despotischen Regierungsstil seines Vaters fortzusetzen, noch hatte er die Kraft, längst überfällige Reformen in Angriff zu nehmen, um so der immer größer werdenden Unzufriedenheit der Menschen wirksam zu begegnen. Trost und Stütze fand Nikolaus indessen bei seiner Gemahlin Alexandra Feodorowna (1872–1918), einer geborenen Prinzessin Alix von HessenDarmstadt, die er kurz nach dem Tod seines Vaters geheiratet hatte. Alix war eine Enkelin von Queen Victoria, Tochter des Großherzogs Ludwig IV. und seiner englischen Gemahlin Alice. Es war eine Liebesheirat gewesen, und die Ehe des Zarenpaares wurde ausgesprochen glücklich. Nur ein Jahr später kam das erste Kind zur Welt, Tochter Olga.
Ein schlechtes Omen Noch empfanden die Russen durchaus Sympathie für ihren jungen Zaren und dessen zurückhaltend wirkende Ehefrau. Das jedoch änderte sich im Mai 1896, als traditionell in Moskau die Krönung Nikolaus’ II. gefeiert wurde. Aus diesem Anlass hatte man ein großes Fest unter freiem Himmel vorbereitet, an dem auch das Zarenpaar teilnehmen sollte. Dann aber zeigte sich, dass die Behörden völlig falsch kalkuliert hatten. Mit einer so großen Menschenmenge hatte offenbar niemand gerechnet. Als das Gerücht umging, es gäbe nicht, wie versprochen, genügend Freibier für alle, brach plötzlich Chaos aus. Die Menschen rannten los, um noch rechtzeitig zu den Schanktischen zu kommen und drängten einander beiseite. Viele von ihnen stolperten auf dem unebenen Boden, stürzten und wurden niedergetrampelt. Die Massenpanik forderte etliche Todesopfer. Nikolaus und Alexandra waren verständlicherweise entsetzt und besuchten pflichtgemäß noch am gleichen Tag viele Verletzte im Krankenhaus. Doch am Abend nahm das Zarenpaar dann an einem Ball teil, der vom französischen Botschafter gegeben wurde. Das mochte ein Akt der diplomatischen Höflichkeit gewesen sein, aber das russische Volk sah das anders: Während viele Untertanen im Sterben lagen, vergnügten sich Nikolaus II. und seine Frau auf einem prächtigen Fest. Als Hauptschuldige wurde Zarin Alexandra ausgemacht, die als Deutsche ohnehin keinen
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leichten Stand hatte. Es gelang ihr auch in Zukunft nicht so recht, die Herzen der russischen Untertanen zurückzugewinnen, im Gegenteil. Nach diesem grauenvollen Ereignis zog sich die Zarenfamilie in ihre private Idylle zurück. Ihr Hauptwohnsitz war der luxuriös ausgestattete Winterpalast an den Ufern der Newa, der unter Katharina der Großen erbaut worden war. Den Sommer verbrachte man im Palast von Zarskoje Selo. Hier kamen auch drei weitere Töchter zur Welt: Tatiana (* 1897), Maria (* 1899) und schließlich Anastasia (* 1901), von der später noch die Rede sein wird.
Okkultismus in St. Petersburg Nur ein Wermutstropfen trübte das kaiserliche Glück: Alexandra musste unbedingt einen männlichen Thronfolger zur Welt bringen. Nun war die Zarin zwar eine überaus fromme Frau, die vor ihrer Heirat bereitwillig den orthodoxen Glauben angenommen hatte. Aber nachdem es so aussah, als habe Gott ihre zahllosen Gebete um einen gesunden Sohn nicht erhört, begann sie mehr und mehr auf andere Mächte zu setzen. Dabei stand Alexandra mit ihrem Hang zum Mystisch-Spirituellen keineswegs allein. Auch ihre Zeitgenossen waren für die Geheimnisse des Okkultismus durchaus empfänglich. Man mag von Aberglauben sprechen, doch ähnlich wie zu Beginn der frühen Neuzeit hatte auch der Okkultismus der Jahrhundertwende einen gleichsam „wissenschaftlichen Hintergrund“. In den großen russischen Städten wie Moskau und St. Petersburg traf die gesellschaftliche Elite in den Salons bekannter Persönlichkeiten zusammen. Hier wurden die Themen der Zeit diskutiert, die politische Entwicklung des Landes, bemerkenswerte literarische Neuerscheinungen, aber auch wissenschaftliche Entdeckungen wie die Röntgenstrahlen (Physiknobelpreis 1901) oder die (1905 veröffentlichte) Relativitätstheorie. Letztere ließ nun bekanntlich die Begriffe wie Raum und Zeit in einem völlig anderen Licht erscheinen. In den Salons wurde alsbald heftig darüber spekuliert, ob sich mittels neuer technischer Errungenschaften möglicherweise sogar der Tod überwinden ließ und ob es möglich wäre, in absehbarer Zeit das Universum zu beherrschen. Nicht alles war wirklich ernst gemeint,
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aber die Wissenschafts- und Technikgläubigkeit der Menschen, gepaart mit einer gewissen Endzeitstimmung um die Jahrhundertwende, begünstigten solche Ideen. Noch als sich 1910 der Halleysche Komet zum ersten Mal seit 1835 wieder der Erde näherte, glaubten viele an den bevorstehenden Weltuntergang. Um 1900 kamen auch Geisterbeschwörungen wie das Tischerücken groß in Mode, und so mancher dachte tatsächlich, man könne auf diese Weise Kontakt zu den Verstorbenen aufnehmen.
Die Dienste des Monsieur Philippe Weil Zarin Alexandra unter dem starkem Druck stand, unbedingt einen Sohn zur Welt bringen zu müssen, griff sie nun zu ungewöhnlichen Mitteln und engagierte einen Geisterheiler. Scharlatane aller Art fanden damals in St. Petersburg ein reiches Betätigungsfeld und boten ihre Künste an. Alexandra war in dieser Hinsicht keineswegs kritisch, wies alle warnenden Stimmen zurück und entschied sich 1902 für den Franzosen Philippe Nizier aus Lyon, der ihr mit okkulten Methoden zu dem ersehnten Sohn verhelfen sollte. Darüber wusste man selbst in Berlin Bescheid. Die kluge Hofdame Marie Radziwill, Gemahlin eines polnischen Fürsten, schrieb am 17. November 1902 an einen Vertrauten über ihr Gespräch mit einer Russin, die ihr Folgendes erzählt habe: „Seit über einem Jahr gibt man sich an unserem Hof leidenschaftlich mit Spiritismus ab. Ein Spezialist namens Philippe hat sich der Fantasie des Kaisers und insbesondere der jungen Kaiserin bemächtigt. Jeden Abend lädt sie ihn in ihren Salon ein, und er muss die Geister aller verstorbenen Kaiser beschwören. Im vergangenen Winter hat man ihn gebeten, unter anderem Alexander III. zu zitieren, und dieser Philippe ließ ihn in der Tat sprechen. So sagte der Zar auch, er habe vergessen, 20 000 Rubel abzuschicken, die er dem Fürsten von Montenegro geschuldet habe. Sofort am nächsten Tag ließ der Kaiser 200 000 (!) Rubel an den Fürsten Nikolaus schicken, ohne zu erkennen, dass Montenegro sich dieses Kanals bedient habe, um an eine große Geldsumme zu gelangen, die es brauchte. Die junge Kaiserin, die sich sehnte, einen Sohn zu bekommen, soll diesen Philippe um Rat gefragt haben. Er hat ihr, wie man sagt, versichert, sie sei schwanger, und mit den seltsamsten Mitteln auf ihre Einbildungskraft eingewirkt.“
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Näheres über die merkwürdigen Methoden des „wundertätigen“ Monsieur Philippe, der der Zarin garantierte, dass das nächste Kind ein Junge würde, berichtet Großfürst Alexander, ein Verwandter Nikolaus’ II.: „Da erschien dieser geheimnisvolle Herr im Palast, Monsieur Philippe aus Paris. Der französische Gesandte warnte die Regierung vor dem schmeichlerischen Fremdling, aber Zar und Zarin waren anderer Ansicht. Wer auf Wunder rechnet, der wird leicht getäuscht. Er gab vor, das Geschlecht des ungeborenen Kindes beeinflussen zu können. Er verschrieb keinerlei Medikamente, da diese von den Leibärzten kontrolliert werden konnten. Sein Hauptgeheimnis bestand in einer Reihe von ‚hypnotisierenden Bestreichungen‘, die etwa mit der modernen Theorie des Dämmerschlafs verglichen werden können. Am Schluss einer zweimonatigen Kur erklärte er, die Zarin sei guter Hoffnung. Alle Hoffeste wurden abgesagt. Die Zeitungen Europas kündigten das bevorstehende wichtige Ereignis in der Familie des russischen Zaren an“. Doch die wundertätigen Bemühungen des Monsieur Philippe waren leider nicht von Erfolg gekrönt. „Sechs Monate vergingen. Die Zarin erlitt einen Nervenzusammenbruch, und trotz Doktor Philippes heftigem Widerstand rief man die Leibärzte. Ihr Gutachten erfolgte rasch und lautete vernichtend: Sie hatten keine Anzeichen einer Schwangerschaft gefunden. Doktor Philippe packte seine Koffer und kehrte nach Paris zurück.“ Andere hingegen meinten, Alexandra sei tatsächlich schwanger gewesen, habe aber eine Fehlgeburt erlitten. Ihr Vertrauen in die okkulten Praktiken vermeintlicher Wunderheiler hatte die Zarin damit aber nicht verloren. Monsieur Philippe – übrigens Schlachter von Beruf – verließ den St. Petersburger Hof mit einer prall gefüllten Geldbörse.
Der Blutsonntag von St. Petersburg Die Stimmung am Zarenhof trübte sich weiter ein. Denn während Nikolaus II. völlig in seiner Rolle als liebender Gatte und Familienvater aufging, versagte er in politischer Hinsicht auf der ganzen Linie. Unter dem Einfluss seiner Gemahlin Alexandra und schmeichelnder Günstlinge besaß er eine völlig verzerrte Vorstellung von der Wirklichkeit. Er glaubte nach wie vor, er sei von Gott in das Amt des Zaren eingesetzt worden und nur diesem
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allein verantwortlich. Ständig versuchte er etwas darzustellen, was er überhaupt nicht war. Freundlich, aber entscheidungsschwach, fehlten ihm sämtliche Charaktereigenschaften, derer es bedurft hätte, die Katastrophe abzuwenden, auf die die Romanows zusteuerten. Um von den innenpolitischen Problemen abzulenken, ließ sich Nikolaus II. 1904 zu einem Krieg gegen Japan überreden, der mit einer verheerenden Niederlage endete. Die Folgen für die russische Wirtschaft waren dramatisch, denn die Versorgung mit Lebensmitteln funktionierte nur noch unzureichend. Die Unzufriedenheit der hungernden Bevölkerung wuchs, und es kam zu einem Streik in den Maschinenwerken von St. Petersburg, an dem sich mehr als 13 000 Arbeiter beteiligten. Dieser Streik war von Pater Gapon organisiert worden, einem Priester, den die Polizei zu den Arbeitern geschickt hatte, um den Protest in friedliche Kanäle zu leiten. Auf den Vorschlag des Geistlichen hin wurde beschlossen, sich mit einer Petition direkt an Nikolaus II. zu wenden. Darin hieß es: „Wir, die Arbeiter der Stadt St. Petersburg … sind zu Ihnen gekommen, Majestät, um Gerechtigkeit und Schutz zu erbitten. Wir sind verarmt, wir werden unterdrückt, wir werden mit Arbeit überladen, die wir nicht bewältigen können.“ Die Arbeiter forderten geregelte Arbeitszeiten, geheizte Werkstätten sowie medizinische Betreuung. Am Sonntag, dem 22. Januar 1905, strömten um die Mittagszeit mehrere Zehntausend Menschen auf dem großen Platz vor dem Winterpalast zusammen, um dem Zaren die Bittschrift mit politischen und sozialen Forderungen vorzubringen. Die Versammlung glich allerdings mehr einer feierlichen Prozession. Arbeiter und Bauern hatte ihre beste Kleidung angelegt, viele trugen Bilder der Zarenfamilie und die blau-weiß-roten russischen Landesfarben. Waffen hatte niemand dabei. An der Spitze schritten der Priester Gregorij Gapon sowie zwei weitere Geistliche, die Ikonen in ihren Händen hielten. „Gott rette unser Volk“, sang die Menge. „Gott gebe unserem rechtgläubigen Zaren den Sieg.“ Der Zar jedoch konnte sie überhaupt nicht hören, denn er hielt sich gar nicht im Winterpalast auf. Als sich dann plötzlich irgendwo ein Schuss löste und die Menge nach vorne drängte, wurde die Polizei, die die Versammlung bewachte, nervös. Die kaiserliche Garde eröffnete das Feuer – und die ersten Arbeiter sanken getroffen zu Boden. Der Tag, der so friedlich begonnen hatte, endete in einem Blutbad, bei dem etwa tausend Menschen, darunter auch Frauen und Kinder, getötet wurden: „Ich habe
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gesehen, wie das Blut in Strömen über den hart gefrorenen Schnee floss, telegrafierte ein Reporter von Le Journal nach Paris, „ich habe gesehen, wie Polizisten mit dem Säbel in der Hand blindlings um sich schlugen, wie ihre Revolver wild in die Menge hineinfeuerten. Und überall die Toten, die auf die Verwundeten fielen, und das fürchterliche Durcheinander, in dem Frauen und Kinder blutüberströmt in den Schnee sanken …“ Auch Marie Radziwill, die sich gerade zu einem Besuch in St. Petersburg aufhielt, reagierte entsetzt: „Die Menschenmasse war friedlich und wäre es wohl geblieben, hätten nicht die Truppen, ohne dass man sie herausforderte, gefeuert.“ Dabei erkannte sie ganz klar: „Das alte Regime ist nicht mehr tragbar. Der Zar fühlt es, jedoch weiß er nicht, wie er aus der Sackgasse heraus soll, und wie er sich von der Umgebung befreien kann, die ihn abschließt. Seine Mutter hat keinen Einfluss mehr auf ihn, und der seiner Frau ist dem, den sie haben müsste, ganz entgegengesetzt. Sie folgt ihrem Gatten auf jedem Schritt und erlaubt niemandem, sich ihm zu nähern.“ Mit fatalen Folgen … Der „Blutsonntag von St. Petersburg“ wurde zum Auslöser einer ersten russischen Revolution, die das autokratische System zu einigen Zugeständnissen zwang. Auf Grundlage des Dreiklassenwahlrechts wurde eine Volksversammlung, die Duma, gebildet. Politische Parteien entstanden, der Staat lockerte die strenge Pressezensur, und die Bauern wurden von den drückenden Ablösesummen befreit, die sie bis dahin zu zahlen hatten. Doch die sozialen Spannungen verschärften sich weiter, zumal bald klar wurde, dass Nikolaus II. die Zugeständnisse nur unter Druck gemacht hatte und keineswegs reformerisch gesonnen war. Obendrein verstärkte der „Blutsonntag“ das Gefühl im russischen Volk, der Zar sei im Grunde ein gnadenloser Despot.
Die Bluterkrankheit des Thronerben Alexej Bei all den innen- und außenpolitischen Katastrophen gab es wenigstens einen privaten Lichtblick. Am 12. August 1904 wurde Zarin Alexandra endlich von dem lang ersehnten Sohn entbunden, der auf den Namen Alexej getauft wurde. Mit dem kleinen Zarewitsch schien das Familienglück
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perfekt zu sein. Zunächst entwickelte sich der Kleine ganz normal. Nach einiger Zeit aber bemerkte Alexandra, dass aus dem Nabel des Babys Blut sickerte. Ein schrecklicher Verdacht stieg in ihr auf: Waren das womöglich die ersten Symptome jener unheilbaren Bluterkrankheit, an der bereits mehrere Mitglieder ihrer Familie gestorben waren? An der Erbkrankheit Hämophilie erkranken ausschließlich Männer, wobei das Leiden durch Frauen weitergegeben wird. Infolge mangelhafter bis fehlender Blutgerinnung kann es auch bei geringsten Verletzungen zu lebensbedrohlichen Blutungen kommen. Der erste bekannte Fall in Alexandras Familie war ihr Onkel Leopold (1853–1884), der jüngste Sohn von Queen Victoria. Er war an den Folgen einer Knieverletzung gestorben. Seine Schwester Alice, Alexandras Mutter, vererbte die Bluterkrankheit an ihren 1870 geborenen Sohn Friedrich Wilhelm, genannt „Frittie“. Bereits im Alter von zwei Jahren hatten sich die ersten Symptome gezeigt: Blutergüsse mit Schwellungen an den Gelenken. „Frittie“ starb nur ein Jahr später, nachdem er beim Spielen von einer Steintreppe gestürzt und binnen Stunden verblutet war. Überträgerin der Krankheit war auch Alexandras Schwester Irene (1866–1953), die mit Heinrich von Preußen, dem Bruder Wilhelms II. verheiratet war. Sie vererbte die Hämophilie an zwei ihrer drei Söhne. Heinrich, der Jüngste, starb bereits 1904 mit vier Jahren, während Waldemar erst 1945 zu Tode kam, weil es am Ende des Zweiten Weltkriegs an Blutkonserven mangelte. Damit stand nun also zu befürchten, dass auch die Zarin Überträgerin der todbringenden Krankheit war. Zwar hörten die Blutungen bei ihrem kleinen Sohn schon am nächsten Tag von allein wieder auf, doch die Angst blieb. Es dauerte nicht lange, bis aus der bangen Vermutung traurige Gewissheit wurde. Als der kleine Zarewitsch anfing zu krabbeln, bekam er, sobald er sich stieß, große Flecken an Armen und Beinen. Später kamen auch die für die Hämophilie so typischen Schwellungen hinzu. Medizinisch war die Erbkrankheit damals nicht zu behandeln. Alexandra hatte immense Schuldgefühle und wollte auf keinen Fall, dass die Öffentlichkeit etwas von Alexejs Leiden erfuhr. Die Position des Zaren war ohnehin schon recht labil, und so mochte die Nachricht von einem schwerkranken Thronfolger womöglich üble Folgen für die Romanows haben. Deshalb wurden die Leibärzte und das Hofpersonal zu absolutem Stillschweigen verpflichtet.
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Der „heilige Mann“ Rasputin Die Krankheit des Zarewitschs lastete schwer auf der Zarenfamilie, zumal das Leiden des Sohnes immer schlimmer wurde. In ihrer Not vertraute sich Alexandra schließlich ihrer Hofdame Anna Wyrobowa an, die ihr von einem „heiligen Mann“ berichtete, der schon zahlreiche Wunder gewirkt haben sollte: Grigorij Rasputin! Rasputin war kein Unbekannter. Zar Nikolaus hatte schon am 1. November 1905 in sein Tagebuch notiert: „Ich habe einen Gottesmann kennengelernt, der Grigorij heißt und aus der Provinz Tobolsk stammt.“ Rasputin, um 1870 in Sibirien geboren, gehörte zur Schar der „Lumpenpilger“, die damals bettelnd durch Russland zogen und deren „seherische Fähigkeiten“ sich meist in klingende Münze verwandelten. Zunächst war es nur das einfache Volk, das sich Hilfe suchend an den „Gottesmann“ Rasputin wandte. Der gab sich als einer der Ihren, grob und bäuerisch, dabei hatte er einen scharfen Verstand, ein gutes Einfühlungsvermögen. Man sagte ihm nach, er habe schon viele Menschen auf wunderbare Weise geheilt. Rasputins Ruf als Wunderheiler sprach sich rasch herum. Auf Empfehlung des Bischofs von Kasan kam der „heilige Mann“ schließlich in die Hauptstadt St. Petersburg. Hier nahm ihn die Geistlichkeit mit offenen Armen auf und ebnete ihm den Weg zum Zarenhof. Bereits im Oktober 1906 wurde Rasputin von Nikolaus II. auf Zarskoje Selo empfangen. Das Zarenpaar, vor allem Alexandra, war zwar beeindruckt von der tiefen Frömmigkeit des „Gottesmannes“ und seiner demütigen Art, verhielt sich jedoch anfänglich zurückhaltend. Zu näheren Kontakten kam es deshalb vorerst nicht. Aber Rasputin, der sich geschmeidig jeder Situation anzupassen verstand, konnte warten. Er wusste, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis die Zarin seine Hilfe benötigen würde. Unterdessen avancierte Rasputin in St. Petersburg zur glühend verehrten Berühmtheit. Vor allem die Damen der Gesellschaft kamen schon bald nicht mehr ohne ihren „Wunderheiler“ aus, der seelische und körperliche Leiden auf magische Weise verschwinden ließ. Trotz seines eher ungepflegten Äußeren, dem stechenden Blick und den oft bäuerischen Manieren muss Rasputin einen starken Eindruck auf die feine Gesellschaft gemacht haben. Bald hieß es sogar, dass der „heilige Mann“ auch in den Betten der Damen Wunderdinge vollbrachte.
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Wunderbare Rettung Im Herbst 1909 hatte ein kleiner Unfall des Zarewitschs lebensbedrohliche Folgen. Der Leibarzt des Zaren und andere Kapazitäten, die man hinzugezogen hatte, erklärten sich außerstande, noch etwas für den kleinen Thronfolger zu tun. Alexej lag in seinem Bett und weinte vor Schmerzen, während die verzweifelte Zarin inbrünstig für die Rettung ihres Kindes betete. Doch es trat keine Besserung ein, im Gegenteil. Man musste mit dem Allerschlimmsten rechnen. Damit aber war die Stunde Rasputins gekommen. Nur wenig später betrat der „heilige Mann“ das Krankenzimmer des Zarewitschs, in dem sich die ganze Zarenfamilie, Leibarzt Dr. Botkin sowie die Hofdame Anna Wyrobowa eingefunden hatten. Nach einer kurzen Begrüßung kniete Rasputin vor dem Bett des Kindes nieder und begann zu beten. Dann legte er seine Hand auf das verschwitzte und schmerzverzerrte Gesicht des Kleinen und soll, wie sich die Anwesenden später erinnerten, ruhig zu Alexej gesprochen haben: „Mein Sohn, schlag die Augen auf und lächle. Du leidest nicht mehr und bist jetzt glücklich.“ Und tatsächlich. Der Zarewitsch erhob sich, setzte sich im Bett auf, streckte Rasputin die Hände entgegen und bat ihn, eine Geschichte zu erzählen. Dr. Botkin stellte amtlich fest, dass die schmerzhafte Schwellung, die den Kleinen so gequält hatte, stark zurückgegangen war und sich der kleine Patient zweifellos auf dem Weg der Besserung befand. Tatsächlich wurde Alexej wieder gesund – was auch immer die Gründe waren. War es Zufall? Lag es an der Suggestivkraft des „heiligen Mannes“? Oder hatten, wie manche mutmaßten, Rasputins hypnotische Fähigkeiten die Blutung zum Stillstand gebracht? Es schien tatsächlich ein Wunder zu sein! Das zumindest glaubte Zarin Alexandra. Für sie war die Spontanheilung ihres Sohnes das Werk eines Heiligen, der kraft seiner Gebete Macht über das Leben des Kindes gewonnen hatte. Von nun an wurde sie zur glühenden Verehrerin Rasputins, nicht zuletzt auch deshalb, weil er ihr immer wieder versicherte, sie träfe keine Schuld an der Krankheit ihres Sohnes. Zar Nikolaus II. wahrte zwar Distanz zum „heiligen Mann“, doch auch er war zutiefst beeindruckt. Für ihn verkörperte Rasputin die Urkraft der russischen Seele, die die Dynastie der Romanows gerettet hatte. So sah es zunächst tatsächlich aus. Zwar konnte Rasputin die Krankheit des Kindes
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nicht heilen, doch offenbar stärkte er das Selbstvertrauen Alexejs, sodass der Zarewitsch seinem bedrohlichen Leiden nicht mehr ganz so hilflos ausgeliefert war. Vor weiterem Unheil konnte Rasputin das Kind allerdings nicht bewahren. Bei einem Aufenthalt der Zarenfamilie in Polen im Oktober 1912 stürzte der inzwischen achtjährige Alexej beim Sprung von einem Boot so unglücklich, dass innere Blutungen zur gefährlichsten Krise seines jungen Lebens führten. Rasputin, der schon einmal ein Wunder vollbracht hatte, war kilometerweit entfernt in St. Petersburg. Und doch schien er die letzte Rettung zu sein. Auf Bitten der verzweifelten Zarin schickte ihm Hofdame Anna Wyrobowa folgendes Telegramm: „Ärzte hoffnungslos. Unsere einzige Hoffnung sind Ihre Gebete.“ Nach Angaben von Rasputins Tochter Maria soll ihr Vater daraufhin in eine Art Trancezustand verfallen sein und, nachdem er wieder erwacht war, ein Antworttelegramm an die Zarin geschickt haben: „Habe keine Angst. Gott hat deine Tränen gesehen und deine Gebete erhört. Dein Sohn wird leben.“ Und wieder geschah ein „Wunder“: Die Blutungen hörten auf und Alexej erholte sich.
Gefährlicher Einfluss Natürlich ließ sich die Krankheit des Zarewitschs auf Dauer nicht völlig geheim halten, aber genaue Informationen drangen nicht durch die dicken Mauern des Zarenpalasts an die Öffentlichkeit. Deshalb rätselte man in St. Petersburg, wieso Rasputin bei Alexandra ein- und ausging, ein Privileg, das sonst niemandem zustand. Hatte sie womöglich eine Liebesbeziehung zu ihm? Immerhin machten inzwischen die unglaublichsten Geschichten über die Amouren des „heiligen Mannes“ die Runde in den St. Petersburger Salons. Die verschlossene und unnahbare Zarin galt als arrogant und hatte ohnehin viele Feinde. Und so war es nicht schwer, ihren Ruf zu beschädigen und Alexandra ein intimes Verhältnis mit dem „Gottesmann“ zu unterstellen. Der Klatsch verbreitete sich in Windeseile. Und Rasputin – eitel, wie er nun einmal war – spielte das gefährliche Spiel mit. Natürlich hatte Alexandra keine Liebesbeziehung mit dem „heiligen Mann“, aber sie räumte ihm trotzdem eine Stellung ein, die weit über seine Rolle als Wunderheiler hinausging. Immerhin besprach sie mit Rasputin auch politische
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Themen und hörte sich seine Ratschläge aufmerksam an, bevor sie dessen Ansichten an den Zaren weitergab. So wurde der „heilige Mann“ scheinbar zur grauen Eminenz am Zarenhof. Wohlmeinende Ratgeber empfahlen der Zarin, sich von dem zwielichtigen „Gottesmann“ zu distanzieren, doch Alexandra duldete keine Kritik und war von der Redlichkeit ihres Heilsbringers fest überzeugt. Einmal warf sie sogar ihre Schwester Ella aus dem Palast, als die ihr im vertraulichen Gespräch die Augen über den gefährlichen Charakter Rasputins öffnen wollte. Auch Ministerpräsident Peter Stolypin, ein treuer Freund des Zaren, übte massive Kritik am immer größer werdenden Einfluss Rasputins, denn nicht zu Unrecht sah er darin eine ernst zu nehmende Gefahr für die Monarchie. Damit jedoch zog er sich Alexandras Zorn zu. Denn die verlangte sogleich von ihrem Gemahl, seinen unbotmäßigen Ministerpräsidenten zu entlassen. Nikolaus zögerte zwar zunächst, gab dann aber doch ihrem Drängen nach und ersetzte den fähigen Stolypin durch den blässlichen Wladimir Kokowzow, den auch Rasputin favorisierte. Zarinmutter Maria sprach aus, was viele dachten: „Meine unglückliche Schwiegertochter erkennt nicht, dass sie und die Dynastie untergehen. Sie glaubt aufrichtig an die Heiligkeit eines Abenteurers, und wir sind machtlos und können nichts tun, um die Katastrophe zu verhindern, die inzwischen unvermeidlich scheint.“ Es ist nicht ganz klar, ob Rasputin tatsächlich einen solch großen Einfluss auf die Zarin – und damit auch auf Nikolaus II. – ausübte, wie oft angenommen wird. Fest steht jedoch, dass viele den Eindruck hatten, Rasputin hätte sich zu den Schalthebeln der Macht vorgearbeitet. Natürlich war der „Gottesmann“ für Russland nicht das Hauptproblem. Allerdings war er ein Indikator für die schwere Krise des autokratischen Systems und seines bevorstehenden Untergangs. Seit 1911 hatten weitere Streiks und Unruhen den Zarenthron zum Wackeln gebracht, und auch der Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 konnte die Russen nur kurze Zeit in nationaler Begeisterung vereinen.
Rasputins grausames Ende Der Erste Weltkrieg wurde für das morbide Zarenreich endgültig zum Verhängnis: Allein im ersten Kriegsjahr fielen mehr als drei Millionen russi-
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sche Soldaten, und auch die Versorgungslage wurde immer schlechter. Mehr denn je konzentrierte sich der Hass der hungernden und verzweifelten Bevölkerung auf Zarin Alexandra, die als Deutsche bei vielen in Verdacht stand, eine Spionin Wilhelms II. zu sein. Zusammen mit Rasputin schien sie Russland direkt in den Abgrund zu treiben. Zar Nikolaus II. war offenbar nur noch eine willenlose Marionette! Rasputin musste verschwinden! Das fand auch Nikolaus II., der den umstrittenen „heiligen Mann“ am liebsten aus St. Petersburg entfernt hätte. Alexandra jedoch wusste das zu verhindern. Und so fand sich schließlich eine konspirative Gruppe, die beschloss, Rasputin zu ermorden. Anführer des Komplotts waren Fürst Felix Jussopow (1887–1967), ein angeheirateter Verwandter des Zaren und Großfürst Dimitrij Romanow (1891–1941), der Lieblingsneffe Nikolaus II. Unter einem fadenscheinigen Vorwand lockte Jussopow Rasputin am 16. Dezember 1916 in sein Palais, das der „Gottesmann“ nicht mehr lebend verlassen sollte. Glaubt man den Berichten der Verschwörer, soll es gar nicht so leicht gewesen sein, Rasputin ins Jenseits zu befördern. Die mit Zyankali vergifteten Törtchen, die Jussopow seinem Gast vorgesetzt hatte, schienen wirkungslos zu sein. Auch die Schüsse, die dieser anschließend auf den „heiligen Mann“ abfeuerte, verfehlten angeblich ihr Ziel. Rasputin wankte nur leicht. Daraufhin stürzte sich die Gruppe auf ihr Opfer und warf ihn durch ein Eisloch der zugefrorenen Newa. Einmal tauchte er noch auf, aber dann ertrank er doch. So zumindest lautete die Version der Mörder. Der anschließende Obduktionsbericht sagt indessen etwas anderes. Reste von vergifteten Törtchen hatte man in Rasputins Körper keine entdecken können, dafür aber deutliche Anzeichen einer Misshandlung. Das rechte Auge war ausgeschlagen, die Hoden zerquetscht. Allem Anschein nach hatten die Verschwörer auf diese Weise wohl Details über Rasputins Umgang mit der Zarin herauspressen wollen. Der Gottesmann muss geahnt haben, dass man ihm nach dem Leben trachtete. In seinem letzten Brief an Nikolaus II. vom 24. November 1916 war zu lesen: „Wenn du die Glocke hörst, welche dir sagt, dass Grigorij ermordet wurde, dann musst du Folgendes wissen: Wenn es deine Verwandten waren, welche meinen Tod verursacht haben, dann wird niemand aus der Familie, kein Kind deiner Verwandten, noch länger als zwei Jahre am Leben bleiben. Sie werden getötet durch das russische Volk.“
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Das Ende der Romanows Rasputins Prophezeiung sollte sich tatsächlich weitgehend bewahrheiten. Am 8. März 1917 brach die Revolution aus, und nur wenige Tage später musste Nikolaus II. zugunsten einer provisorischen liberal-sozialistischen Regierung abdanken. Nachdem er und seine Familie zunächst in Zarskoje Selo unter Hausarrest gestellt wurden, wurden sie nach der Machtübernahme Lenins im Oktober 1917 nach Jekaterinburg im Ural gebracht. Das Programm des Revolutionsführers lautete: „Alle Macht den Sowjets“, also den Arbeiter- und Soldatenräten. Doch noch war Lenins Macht keineswegs gesichert. Nach wie vor kämpften seine radikal-sozialistischen Bolschewiki (russisch: Mehrheit) gegen die gemäßigten Menschewiki (russisch: Minderheit). In Jekaterinburg lebte die ehemalige Zarenfamilie in quälender Ungewissheit, was mit ihnen geschehen würde, zumal sich Alexandras Cousin, der König Georg V. von England weigerte, der Zarenfamilie dort sicheres Asyl zu gewähren. Und so war ihr Schicksal besiegelt, als bekannt wurde, dass sich antibolschewistische „weiße Truppen“ Jekaterinburg näherten, um Nikolaus und seine Familie zu befreien. Die örtlichen Kommunisten hatten nämlich den Befehl erhalten, genau das zu verhindern. In der Nacht vom 16. zum 17. Juli 1918 wurde die Zarenfamilie von ihren Bewachern aus dem Schlaf gerissen. Man teilte ihnen mit, dass sie aus Sicherheitsgründen aus Jekaterinburg fortgebracht würden. Ahnungslos kleideten sie sich an und begaben sich zusammen mit ihrem Leibarzt Dr. Botkin und drei Bediensteten ins Erdgeschoss des Hauses. Dort, so war ihnen gesagt worden, sollten sie auf ihren Abtransport warten. Stattdessen fielen die tödlichen Schüsse, die die Herrschaft der Romanows unwiederbringlich beendeten. Niemand hat das Massaker überlebt. Oder vielleicht doch?
Nachspiel: Hat Zarentochter Anastasia überlebt? Am 18. Februar 1920 sprang eine junge Frau in den Berliner Landwehrkanal, um sich auf diese Weise das Leben zu nehmen. Sie wurde jedoch gerettet und in eine Dalldorfer Klinik eingewiesen, die man damals noch unumwunden als „Irrenhaus“ bezeichnete. Papiere trug sie keine bei sich und
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verweigerte sowohl Angaben zu ihrer Person als auch zu den Gründen für ihren Selbstmordversuch. Wenig später blätterte eine Mitpatientin von „Fräulein Unbekannt“ in einer Illustrierten und stieß dabei auf einen Artikel über die ermordete Zarenfamilie. Als sie die Fotos näher betrachtete, fiel ihr plötzlich die frappierende Ähnlichkeit ihrer unbekannten Bettnachbarin mit Großfürstin Tatiana auf. Konnte das wirklich sein? Hatte die Zarentochter das Massaker womöglich überlebt? Auch das Klinikpersonal kam rasch zu der Überzeugung, sie müsse Tatiana sein und nahm sogar Kontakt zu einer früheren Hofdame der Zarin auf, die die Romanow-Tochter identifizieren sollte. Die Begegnung verlief allerdings enttäuschend, denn Sophie Buxhoevenden war sich ganz sicher, dass es sich nicht um Tatiana handelte. Doch in der Klinik hatte man sich bereits so an den Gedanken gewöhnt, eine prominente Patientin zu haben, dass man kurzerhand umschwenkte und behauptete, wenn es nicht Tatiana sei, dann würde es sich bei „Fräulein Unbekannt“ wohl um Anastasia, die jüngste Zarentochter handeln. Die junge Frau selbst hüllte sich lange Zeit in Schweigen. Doch zwei Jahre später gab sie an, tatsächlich Anastasia zu sein, das einzige Familienmitglied, das das Massaker von Jekaterinburg überlebt hatte. Zwar sei sie von Revolverkugeln und Bajonettstichen getroffen worden, habe aber lediglich das Bewusstsein verloren. Als sie wieder zu sich kam, befand sie sich nach eigenen Angaben in der Familie jenes Soldaten, der sie gerettet hatte. Für ihre Aussage sprach, dass ihr Körper tatsächlich mit Narben übersät war, die durchaus von Schuss- und Stichverletzungen stammen konnten. Zudem schien sie vermeintliche Familiengeheimnisse zu kennen. Es dauerte nicht lange, bis sich auch die europäischen Adelshäuser für den „Fall Anastasia“ zu interessieren begannen. Die Meinungen gingen auseinander. Irene von Preußen, die Schwester der toten Zarin, war sich sicher, dass „Fräulein Unbekannt“ auf keinen Fall ihre Nichte war. Hingegen glaubte die ehemalige deutsche Kronprinzessin Cecilie tatsächlich, der wirklichen Anastasia gegenüberzustehen. Während sich in Deutschland die Überzeugung durchsetzte, dass es sich bei Anastasia um eine gerissene Hochstaplerin handelte, glaubte man auf der anderen Seite des Atlantiks fest an ihre Identität als Zarentochter. In den USA lebten damals etliche Exilrussen, darunter auch Xenia, eine Cousine der Zarenkinder. Xenia, die mit einem reichen Amerikaner verheiratet war, lud Anastasia 1928 ein, auf ihr Landgut nach Long Island zu
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kommen, um dort ein wenig Abstand und Ruhe zu finden. „Fräulein Unbekannt“ zögerte nicht lange und schiffte sich unverzüglich nach New York ein, wo sie schon bald zum neuen Star der Society avancierte. Nachdem sie in einem Hotel als „Anna Anderson“ abgestiegen war, wurde sie unter diesem Namen berühmt. Aber noch immer fragte sich alle Welt: Ist sie wirklich Anastasia Romanowa? Als sie wenige Jahre später nach Deutschland zurückkehrte, war hier die ganze Geschichte schon fast in Vergessenheit geraten, und nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die Menschen ganz andere Sorgen, als sich um eine vermeintliche Zarentochter zu kümmern. 1968 kehrte „Anna Anderson“ in die USA zurück, heiratete dort und lebte mit ihrem Mann in Charlottesville/Virginia, wo sie am 12. Februar 1984 an den Folgen einer Lungenentzündung starb. Sie nahm ihr Geheimnis mit ins Grab, und die Welt rätselte auch weiterhin, ob sie tatsächlich die Tochter des letzten Zaren war. Es sah nicht so aus, als würde man des Rätsels Lösung noch finden. Doch dann geschah etwas Unvorhergesehenes.
Des Rätsels Lösung Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden 1991 die sterblichen Überreste der Zarenfamilie exhumiert, die man erst zwölf Jahre zuvor in einem Massengrab bei Jekaterinburg entdeckt hatte. Es stellte sich tatsächlich heraus, dass eine der Töchter fehlte, doch nach einer modernen Genomanalyse stand fest: Es handelte sich um Maria (deren sterbliche Überreste im Sommer 2007 ebenfalls gefunden wurden). Anastasia war also wie ihre Eltern und Geschwister bereits seit 73 Jahren tot! Nun wusste man zwar, wer „Anna Anderson“ nicht war, ihre wahre Identität aber blieb dennoch rätselhaft. Erst ein Zufall brachte die Wahrheit ans Licht: Bei einer Operation war „Anastasia“ 1979 ein Stück Dünndarm entfernt worden, und das Krankenhaus hatte die entnommenen Gewebeproben routinemäßig aufbewahrt. Eine DNA-Analyse ergab, dass die angebliche Anastasia weder mit Nikolaus II. noch mit Zarin Alexandra verwandt gewesen sein konnte. Doch wer war sie denn nun? Eigentlich hatte eine Berliner Zeitung schon 1927 die wahre Identität der vermeintlichen Zarentochter enttarnt, doch viele wollten die Wahrheit
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damals gar nicht wissen und lieber weiter an das Märchen von der wunderbaren Rettung glauben. „Anastasia“ war in Wirklichkeit die 1896 geborene Franziska Schanzkowski, deren Familie einmal dem niederen polnischen Adel angehört hatte, inzwischen aber verarmt war. Das wurde 1994 auch durch einen Genabgleich mit ihrem Großneffen Karl Maucher bestätigt, der sich bereitwillig für die Untersuchung zur Verfügung stellte. Franziska hatte schon immer einen „Drang zum Höheren“ verspürt und wollte daher Schauspielerin werden. Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs verließ sie deshalb ihr Heimatdorf in Posen und ging nach Berlin. Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, arbeitete sie zunächst als Kellnerin, später dann in einer Munitionsfabrik. Hier passierte ihr 1916 ein schweres Missgeschick: Eine Granate, die sie versehentlich aufs Fließband fallen ließ, explodierte und Franziska wurde durch Splitter an Kopf und Körper schwer verletzt. Schlimmer noch: Ein Kollege verblutete vor ihren Augen. Die junge Frau wurde ins Krankenhaus eingeliefert, wo zwar ihre körperlichen Wunden verheilten, nicht aber die seelischen. Franziska Schanzkowski war nach ihrer Entlassung nicht mehr arbeitsfähig, lebte von der Fürsorge und wohnte in einem kleinen möblierten Zimmer. So hatte sie viel Zeit zum Lesen, zahllose Bücher über Geschichte, die sie sich aus der Stadtbücherei auslieh – vor allem Bücher über das Russland der Zaren. Doch Franziska machte sich auch Gedanken, wie es mit ihr weitergehen sollte. Für einen wirklichen Neuanfang besaß sie offenbar keine Kraft mehr und beschloss deshalb, ihrem Leben im Berliner Landwehrkanal ein Ende zu setzen … Unglaublich, aber wahr. Einer traumatisierten Fabrikarbeiterin war es gelungen, die ganze Welt zu narren! Selbst Menschen, die Großfürstin Anastasia noch persönlich gekannt hatten, sind auf die Hochstaplerin hereingefallen! Doch sie glaubten ihr wohl nur, weil sie die fantastische Geschichte glauben wollten. Zudem hatte Franziska Schanzkowski tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit den Zarentöchtern und verfügte über ein immenses – angelesenes – Wissen über die Romanows. Alles, was da nicht ins Bild passte, – wie die fehlenden Russischkenntnisse – wurde von ihren Anhängern großzügig ausgeblendet und mit den schrecklichen Traumata erklärt, die „Anastasia“ bei dem Massaker erlitten hatte. Wenn der Ausbruch des Ersten Weltkriegs ihre Pläne nicht verhindert hätte, dann wäre Franziska Schanzkowski wahrscheinlich eine begabte Schauspielerin geworden!
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15 „Herrliche Zeiten“ – Wilhelm II., die Sexskandale und das Ende des deutschen Kaiserreichs Um 1900 erschütterten zwei peinliche Skandale den deutschen Kaiserhof. Erst machten anonyme Briefe die Runde, denen pornografische Fotos bekannter Aristokraten beigelegt waren. Doch kaum hatten sich die Wogen geglättet, als der Journalist Maximilian Harden gewisse Herren aus dem engsten Umfeld Wilhelms II. als homosexuell „outete“. Für Philipp zu Eulenburg, den besten Freund des Kaisers, bedeutete das den Ruin. Denn um nicht selbst in den Verdacht der Männerliebe zu geraten, ließ Wilhelm seinen langjährigen Vertrauten rücksichtslos fallen. Und doch wurde dieser Skandal zum ersten „Sargnagel“ des deutschen Kaiserreichs.
Ein Schlag für die Berliner Gesellschaft Höchst ungewöhnlich für Berlin, aber wahr: Das gesellschaftliche Leben der Hautevolee, im kalten Berliner Winter Glanz und Höhepunkt der Stadt, war beinahe zum Erliegen gekommen. Den Grund verrät uns Prinzessin Marie Radziwill in einem Brief vom 7. November 1894 an einen Vertrauten: „Die Affäre Kotze hat der Berliner Gesellschaft den letzten Schlag versetzt. Alle – und ihre Zahl ist groß – die sich durch dieses Abenteuer betroffen fühlen, wollen sich in der Öffentlichkeit nicht mehr sehen lassen.
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Die Stolbergs, Pleß und viele andere ziehen es vor, auf dem Lande zu bleiben.“ Was aber hatte es mit dieser ominösen „Affäre Kotze“ auf sich? Wie konnte diese Berlin in einen erzwungenen Winterschlaf versetzen? Eigentlich war Leberecht von Kotze (1850–1920) ein honoriger Mann mit gehobener Stellung am Berliner Kaiserhof, wo er das Amt des Zeremonienmeisters innehatte. Wilhelm II. schätzte ihn nicht nur wegen seiner Zuverlässigkeit, sondern auch, weil ihn Kotze stets mit den neuesten Klatschgeschichten versorgte. Jetzt aber lastete auf dem armen Mann ein ungeheurer Verdacht, der auch einen dunklen Schatten auf das deutsche Kaiserhaus warf.
Die zwei Gesichter Wilhelms II. Nach außen hin präsentierte sich der deutsche Kaiserhof als Hort von Sitte und Anstand. Vor allem Wilhelm II. pflegte das Image eines vorbildlichen Ehemanns und Familienvaters. Seit 1881 war er mit Auguste Viktoria von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg verheiratet und hatte mit ihr sieben Kinder, sechs Söhne und die 1892 geborene Tochter Viktoria Luise, das Nesthäkchen der kaiserlichen Familie. Die sanfte „Dona“, wie Auguste Viktoria im Familienkreis genannt wurde, galt als ideale Gefährtin für den umtriebigen und sprunghaften Wilhelm II. Sie hatte keinerlei politischen Ehrgeiz und ging ganz in ihrer Rolle als treu sorgende Ehefrau und Mutter auf. Doch die Berliner Gesellschaft hatte für die „Landpomeranze“ nur wenig übrig. Vor allem neben der eleganten und modischen Charlotte, der Schwester Wilhelms II. und dem strahlenden Mittelpunkt der Hautevolee, wirkte Dona ziemlich bieder und unscheinbar. Das wusste sie auch selbst: „Ich weiß gar nicht, wie ich mit den Menschen, die zu der eleganten Welt gehören, reden soll, ich finde niemals das rechte Wort“, gestand sie kurz nach ihrer Hochzeit Philipp zu Eulenburg, einem guten Freund Wilhelms II. Charlotte, die mit dem Prinzen von Sachsen-Meiningen verheiratet war, mied nach Möglichkeit jede Begegnung mit ihrer biederen Schwägerin. Aber auch andere Berlinerinnen hatten an Dona so mancherlei auszusetzen. Marie Radziwill hielt sie schlicht und einfach für dumm. Und Daily
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von Pleß meine, Dona sei „ganz wie eine gute stille sanfte Kuh, die kalbt, langsam Gras frisst und wiederkäut“. In den Augen der Untertanen galt Kaiserin Auguste Viktoria freilich als vorbildliche Landesmutter. Wilhelm II. schätzte Dona zwar als „ruhenden Pol“ in seinem rastlosen Leben, doch seine sexuellen Bedürfnisse befriedigte er durchaus in fremden Betten. Besonders auf Reisen nahm er die günstige Gelegenheit zu amourösen Abenteuern war. Schon als Kronprinz leistete er sich mehrere „Seitensprünge“. Damals hatte ihn der junge Habsburger Thronfolger Rudolf mit einer Wiener Kupplerin bekannt gemacht, die ihm entsprechende Kontakte vermittelte. Viele seiner Mätressen kamen daher aus Österreich. Es ist unklar, ob Auguste Viktoria über das außereheliche Liebesleben ihres Gemahls informiert war. Wenn, dann hat sie sich niemals dazu geäußert. Die Berliner Gesellschaft wusste jedoch sehr wohl darüber Bescheid. Ein solches Verhalten wurde auch durchaus toleriert, schließlich galt es als besonders „männlich“ – und darauf wurde im kaiserlichen Deutschland Wert gelegt.
Die Grunewalder Schlittenfahrt und ihre Folgen Da sich Dona vornehmlich um „Kinder, Küche und Kirche“ kümmerte, hatte sie natürlich keine Ahnung, was die Berliner Gesellschaft hinter verschlossenen Türen so alles trieb. Im Januar 1891 lud Wilhelms Schwester Charlotte mehrere adlige Damen und Herren zu einer vergnüglichen Schlittenfahrt ein, einem beliebten Amüsement, um sich die winterliche Langeweile zu vertreiben. Unter den 15 Teilnehmern waren Ernst Günter von Schleswig-Holstein, der Bruder der Kaiserin, Prinz Friedrich Karl von Hessen, der mit Wilhelms jüngster Schwester Margarete verheiratet war, das Ehepaar Friedrich und Charlotte von Hohenau, Herbert von Bismarck, Sohn des ehemaligen Reichskanzlers – und der Zeremonienmeister Leberecht von Kotze. Sie alle wussten, wie man richtig feiert, und als das winterliche Vergnügen schließlich im Jagdschloss Grunewald seine Fortsetzung fand, waren sämtliche Teilnehmer anscheinend froh, die dicken Winterkleider endlich ablegen zu können. Und zwar vollständig. Wahrscheinlich wäre das frivole Treiben hinter den Schlossmauern geheim geblieben, hätte es nicht einen „Verräter“ gegeben. Nur kurze Zeit
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später kursierten nämlich anonyme Briefe, die an verschiedene männliche und weibliche Mitglieder der Hofgesellschaft gerichtet waren. In diesen Schreiben wurden nicht nur die Teilnehmer der Grunewalder Sexparty namentlich genannt, es lagen auch pornografische Fotos bei, um die zum Teil homosexuellen Praktiken der Partygänger zu dokumentieren. Dabei hatte der anonyme Verfasser hauptsächlich das Ehepaar Hohenau im Visier. Doch auch andere bekamen ihr „Fett“ weg, darunter auch die Veranstalterin der Sexparty, Wilhelms Schwester Charlotte. So heißt es in einem Brief an Wilhelm von Hohenau, den Bruder Friedrichs: „Es ist wirklich hohe Zeit, dass Sie ein ernstes Wort mit Ihrem Bruder sprechen. Die Art und Weise, wie die Frau Erbprinzessin von Meiningen und andere k. Hoheiten Ihre Schwägerin verwöhnt haben, ist besonders der Letzteren so zu Kopf gestiegen, dass sie sich hochstehenden Personen gegenüber völlig vergisst und die Regeln der Höflichkeit und Artigkeit außer Acht lässt. Stadtbekannt ist, dass Ihre Schwägerin nicht eher ruht, bis sie mit sämtlichen Prinzen auf du und du, und wenn irgend möglich, in geschlechtliche Berührung gekommen ist. Es ist schier unbegreiflich und eine ganz aparte Art von Tollheit, dass diese sich sonst so zimperlich gebärdende Person sich jedem Prinzen ohne weiteres an den Hals wirft und, wie diese Herren teils selbst erzählt haben, ganz unaufgefordert die Röcke hochhebt – schlimmer wie das mannstollste Weib! Und Ihr Bruder drückt nicht nur die Augen zu, sondern protegiert dies in jeder Weise, ohne sich klarzumachen, dass gerade in den Augen der Personen, welche Ihnen Ihre morganatische Geburt vorwerfen, dieser Makel am wenigsten dadurch getilgt wird, dass man seine Frau zur Prinzen-H— macht …“
Unterschrift: „Einer für viele“ Die Brüder Wilhelm (1854–1930) und Friedrich (1857–1914) Hohenau waren väterlicherseits zwar aus dem Hochadel, entstammten jedoch einer morganatischen Ehe. Ihr Vater, Prinz Albrecht von Preußen (1809–1872), Sohn Friedrich Wilhelms III. und der Königin Luise, hatte in zweiter Ehe „zur linken Hand“ die nicht standesgemäße Rosalie von Rauch geheiratet. Dynastischer Dünkel veranlasste daher viele Mitglieder der Berliner Gesellschaft, arrogant auf die Hohenaus hinabzublicken. Im Kaiserreich
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„ B R I E F E M I T U N A N S TÄ N D I G S T E N P H OTO G R A F I E N “
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verliefen die Standesgrenzen noch in sehr engen Bahnen. Doch nicht nur deshalb gerieten die Hohenaus nun in den Fokus der Aufmerksamkeit. Während es den Männern zumindest in diesen Kreisen noch immer nachgesehen wurde, wenn sie sich ihre sexuellen Freiheiten nahmen, galt eine Frau gleich als Hure und Nymphomanin, schamlos und verrucht. In einem der anonymen Briefe, der an Friedrich von Hohenau gerichtet war, hieß es: „Sie haben eine Menge Photografien hergestellt und vervielfältigt, welche Deine Frau mit verschiedenen Herrn, mit Bismarck, Knorring – in den gemeinsamen Stellungen 69 u.f.w. vollständig porträtieren.“ Sogar Wilhelm II. wurde eine heiße Affäre mit der „mannstollen“ Charlotte nachgesagt. Auch Charlotte von Hohenau selbst erhielt ein solches Scheiben. Darin wurde ihre eheliche Wohnung in der Berliner Yorckstraße 11 als „Bordell“ bezeichnet, „in dem nicht nur der Mann die Frau, sondern die Männer unter sich und auch die Frauen unter sich vögeln“.
„Briefe mit unanständigsten Photografien“ Der eigentliche Sprengstoff befand sich im letzten Satz, der explizit auf homosexuelle Praktiken anspielte, gerade bei Männern! Dabei galt Homosexualität im Kaiserreich als Verbrechen, das nach § 175 StGB mit Gefängnis bestraft werden konnte: „Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts … begangen wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.“ Und nun das! Schwule Männer in der engsten Umgebung des Kaisers! Zu ihnen gehörten Wilhelm von Hohenau und sein Bruder Friedrich, der, wie damals üblich „zur Tarnung“ geheiratet hatte, aber auch Kuno von Moltke, der Flügeladjutant Wilhelms II. und Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, von dem später noch die Rede sein wird. Das gab den anonymen Briefen natürlich eine ganz besondere Brisanz. Wer sie verschickt hatte, konnte niemals aufgeklärt werden. Charlotte von Sachsen-Meiningen war der Ansicht, „die Gemeinheiten, die nun aktenmäßig nachgewiesen sind“, seien „von den Vornehmsten bei Hofe ausgegangen“. Ganz oben auf der polizeilichen Verdachtsliste stand der Schwager des Kaisers Ernst Günter von Schleswig-Holstein, der am Berli-
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ner Hof aus guten Gründen als „Herzog Rammler“ bezeichnet wurde. Der Bruder der sittenstrengen Dona brachte sich immer wieder durch Sexgeschichten ins Gerede und war obendrein als regelmäßiger Bordellgänger bekannt. Wollte er sich vielleicht dafür rächen, dass er am Kaiserhof nicht ganz „für voll“ genommen wurde? Oder war womöglich Charlotte selbst, die Veranstalterin der Grunewalder Sexparty, die Schreiberin der anonymen Briefe? Wollte sie dadurch vielleicht die hochmoralischen Fassaden einreißen, die die kaiserliche Familie aufgebaut hatte? Die Untersuchung der Angelegenheit zog sich hin, ohne dass der oder die Schuldige entlarvt wurden. Jahre vergingen, und die anonymen Schreiben kursierten weiter. Ein Grafologe, dem die „schmutzigen Briefe“ zur Untersuchung vorgelegt wurden, kam zu dem Schluss, dass es sich bei dem Verfasser um „eine krankhaft weibisch veranlagte Person“ handeln müsse. Und so verfiel man – sehr zur Erleichterung von Ernst Günter und Charlotte – auf die Idee, der Übeltäter müsse wohl der Zeremonienmeister Leberecht von Kotze sein. Kotze war nicht nur überaus eitel, er liebte auch extravagante Kleidung, die von den konservativen Hofkreisen durchaus als „weibisch“ angesehen wurde. Und so wurde plötzlich er zum Hauptverdächtigen, obwohl er keineswegs zu den „Vornehmsten bei Hofe“ gehörte. Um den bequemen Verdacht zu erhärten, entwendeten Unbekannte aus Kotzes Haus einige Löschblätter, auf denen angeblich „Lottchen“ zu lesen war, der Name, mit dem man Charlotte von Hohenau als Prostituierte beschimpft hatte. Nach Expertenmeinung war der Schriftzug jedoch eindeutig gefälscht; der Verdacht gegen von Kotze bestätigte sich daher nicht. Trotzdem ließ Wilhelm II. seinen Zeremonienmeister am 14. Juni 1894 verhaften und unter Arrest stellen. Begründet wurde die Verhaftung mit dem Vorwurf, Kotze habe sich der verleumderischen Beleidigung und der Verbreitung von unzüchtigen Schriften schuldig gemacht. Gleichfalls am 14. Juni schrieb Marie Radziwill in einem Brief: „Mein Mann, der soeben ankommt, sagt, es sei kaum noch ein Mensch in Berlin, und die Affäre Kotze sei ein solches Rätsel, dem man kaum noch auf den Grund dringen könne. Augenblicklich dreht sich alles um den Namen der Gräfin Hohenau. Der Ursprung der Angelegenheit dürfte die in den Zeitungen erwähnte Versendung anonymer Briefe sein … Offenbar zirkulieren die anonymen Briefe, denen die unanständigsten Photografien beigelegt
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„ALLES NOCH IN VERWIRRUNG“
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waren, seit drei Jahren in Berlin. Frau von Schrader, Frau von Reischach, die Fürstin Pleß, Knorring und viele andere, die ich dauernd sehe, empfingen diese Briefe sozusagen alle Monate … Ein Anwalt, mit dem mein Mann in Berlin zu tun hatte, sagte ihm, der ganze Skandal müsse das Werk nicht eines Mannes sein, sondern einer Frau. Die meisten belauschten Geheimnisse, auch die Dinge, die am Hof geredet oder getan worden seien, habe das Telefon verraten, das jetzt die unberechenbarsten Indiskretionen ermöglicht und dennoch von allen benutzt wird …“
„Alles noch in Verwirrung“ Während Leberecht von Kotze hinter Gittern saß, ging die Verbreitung der anonymen „schmutzigen“ Briefe weiter. Also konnte er nicht der Verfasser sein und musste schon am 5. Juli wieder freigelassen werden. Doch die Gemüter wollten sich einfach nicht beruhigen. Der Skandal zog Kreise. Noch am 14. April 1895 heißt es in einem Brief der Prinzessin Radziwill: „Die Affäre Kotze beschäftigt ganz Berlin. Sie wissen, dass der Militärgerichtshof ihn für unschuldig erklärt und der Kaiser den Spruch bestätigt hat. Jetzt ist die Serie der Duelle eröffnet …“ (Um seine „Ehre“ und „Männlichkeit“ wiederherzustellen, fühlte sich Leberecht von Kotze gezwungen, sich mit mehreren Herren zu duellieren, die den Verdacht auf ihn gelenkt hatten. In einem letzten Duell unter verschärften Bedingungen erschoss Kotze seinen Kontrahenten, Baron Schrader und wurde daraufhin wegen „Tötung im Zweikampf“ zu zwei Jahren und drei Monaten Festungshaft verurteilt. Nach seiner Freilassung zog er sich ins Privatleben zurück und starb 1920 auf einem seiner Güter im Riesengebirge.) In Berlin ging das Rätselraten unterdessen weiter, beschränkte sich allerdings auf die beiden schon zuvor Verdächtigten: „Die Affäre Kotze ist noch nicht zu Ende und nach wie vor geheimnisvoll“, schrieb Marie Radziwill am 7. August 1895. „Prinz Ernst Günter von Holstein wird noch immer übergangen, er tut keinen Dienst mehr und war noch nicht einmal nach der Zeremonie am 18. beim Kaiser zum Diner eingeladen. Der Erbprinz von Meiningen nahm allein daran teil. Seine Frau, die Prinzessin Charlotte, wurde ersucht, zu Hause zu bleiben. Sie sehen, wie alles noch in Verwirrung ist.“
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„In Verwirrung“ aber war vor allem Kaiser Wilhelm II. Die Sexparty im Grunewald wäre nur halb so skandalös gewesen, hätten sich ihre Teilnehmer auf „normalen“ Geschlechtsverkehr beschränkt. So aber ließ sich nicht verhindern, dass die Homosexualität mehrerer hoher Herren, die zum engeren Kreis des Kaisers gehörten, aufgedeckt wurde. Damit fiel auch auf Wilhelm der Verdacht, homoerotische Neigungen zu haben, und dieser Verdacht sollte sich in den kommenden Jahren noch weiter verfestigen.
„Kamarilla der Kinäden“ Als das neue Jahrhundert begann, schienen sich die Wogen, die der Skandal aufgewühlt hatte, wieder geglättet zu haben. Doch unter der Oberfläche brodelte es weiter und entlud sich 1906 in der peinlichen Affäre um Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, einen engen Vertrauten Wilhelms II. Der junge Kronprinz hatte den zwölf Jahre älteren Diplomaten 1886 auf einer Fuchsjagd im ostpreußischen Prökelwitz kennengelernt und sich rasch mit ihm angefreundet. Eulenburg war so ganz anders als die schneidigen Militärs, die gewöhnlich zu Wilhelms Entourage gehörten. Er war gebildet, kultiviert und amüsant, zudem mit künstlerischen Talenten begabt, kurzum „einer der charmantesten Menschen, die ich je gekannt habe“, wie sich der Kaiser später erinnerte. Die „Männerfreundschaft“ blieb auch bestehen, nachdem Wilhelm mit nur 29 Jahren Kaiser des Deutschen Reiches geworden war. Nach dem Tod seines greisen Großvaters Wilhelm I. im März 1888 saß dessen Sohn Friedrich III. nur 99 Tage auf dem Thron, bevor er den Folgen seiner Kehlkopfkrebserkrankung erlag. Zu diesem Zeitpunkt waren Wilhelm und Eulenburg bereits zum vertraulichen „Du“ übergegangen, was bei manchem den Verdacht nährte, dass „Philly“ viel mehr war als nur der junge Freund des Monarchen, nämlich ein ebenso mächtiger wie gefährlicher Ratgeber, der den Kaiser bei seinen politischen Entscheidungen zu beeinflussen pflegte. Die Tatsache, dass Wilhelm II. mit seinen Vertrauten regelmäßig im brandenburgischen Liebenberg zusammentraf, wo Eulenburg mit seiner Frau und sechs Kindern lebte, bot weiteren Anlass zu Eifersüchteleien und Verdächtigungen. Schon bald war die Rede von der „Liebenberger Tafelrunde“, geheimnisumwittert und von all jenen misstrauisch beäugt, die
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„ P H I L LY “ – D E S K A I S E R S F R E U N D U N D U N B E Q U E M E R M A H N E R
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nicht zum trauten Kreis gehörten. In Hofkreisen war es kein Geheimnis, dass der „Tafelrunde“ auch mehrere Homosexuelle angehörten, was Reichskanzler Otto von Bismarck dazu veranlasste, spöttisch von der „Kamarilla der Kinäden“ (Kinäden waren männliche Hetären im alten Griechenland) zu sprechen. Auch die sonstigen Umgangs- und Anredeformen, die die „Liebenberger“ pflegten, wurden höhnisch oder mit moralischer Entrüstung kommentiert. So wurde Eulenburg „Phinchen“ oder „Philinchen“ gerufen und Kuno von Moltke, der Flügeladjutant Wilhelms II., war wahlweise das „Schätzchen“ oder „Tütü“. Und selbst der Kaiser bekam einen Kosenamen verpasst und wurde – doppeldeutig“ – das „Liebchen“ genannt. Wohlmeinende mochten die Bezeichnung auf „Liebenberg“ zurückführen, weniger Wohlmeinende witterten zumindest eine bisexuelle Neigung Wilhelms II.
„Philly“ – des Kaisers Freund und unbequemer Mahner Der junge Wilhelm II. sonnte sich im Ruhm seines kaiserlichen Amtes und erklärte vollmundig, er werde das Reich „herrlichen Zeiten“ entgegenführen. Als Vertreter einer neuen modernen Generation lehnte er Bismarcks Politik als veraltet ab, was 1890 bekanntlich zur Entlassung des verdienten Reichskanzlers führte. Dessen Nachfolger Caprivi bereitete Wilhelm keine Probleme und erwies sich als gehorsamer Diener. So konnte der Kaiser gleichsam sein eigener Kanzler sein. Tatsächlich bot ihm die Verfassung die Möglichkeit, ein „persönliches Regiment“ auszuüben und damit den Einfluss des Reichskanzlers zu beschränken. Sein Motto lautete: „Volldampf voraus!“ Eulenburg hingegen beobachtete die Entwicklung seines kaiserlichen Freundes mit einiger Skepsis. Auch wenn es für viele den Anschein hatte: „Philly“ gehörte keineswegs zu den vielen Jasagern und Opportunisten der kaiserlichen Entourage, die letztlich nur ihre eigene Karriere im Auge hatten. Die Schwächen Wilhelms II. blieben ihm keineswegs verborgen – seine Sprunghaftigkeit, seine Neigung zu Überheblichkeit und Selbstüberschätzung. Tatsächlich versuchte Eulenburg immer wieder, den Kaiser vor Illusionen zu bewahren, ihn auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen und „Wilhelm den Plötzlichen“ vor übereilten Entscheidungen zu warnen.
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Denn anstatt sein Motto „Volldampf voraus“ zu beherzigen, steuerte der Kaiser einen gefährlichen Zickzackkurs, der seine Politik so unberechenbar machte. Mit Witz und kabarettistischem Talent skizzierte Eulenburg damals eine amüsante Geschichte, bei deren Lektüre dem Leser jedoch angst und bange werden kann. Schauplatz des Geschehens war die Jacht „Hohenzollern“, mit denen der Kaiser zu seinen alljährlichen „Nordlandreisen“ aufbrach. Hier gab „Philly“ den amüsanten Entertainer. Leicht eingekürzt, lautete seine Fabel so: Die „Hohenzollern“ hat die Lofoten verlassen. In der Ferne ist die Küste Norwegens sichtbar. An Deck sitzt der Kaiser lesend in einem Pavillon. Eulenburg will eine dringende dienstliche Depesche nach Berlin aufgeben und erkundigt sich beim Ersten Offizier nach der Telegrafenstation. Der weiß es nicht, kennt auch das Fahrtziel nicht. Die Herren eilen zum Kapitän. Doch der weiß auch nichts. Eulenburg tritt zum Kaiser: „Verzeihen Eure Majestät die Frage: Wohin fahren wir? Der Kaiser: „Wohin wir fahren?“ Ruft den Kapitän, der kommt und meint: „Wir fahren … ja, Eure Majestät haben wohl befohlen … wohl noch nicht befohlen?“ Der Kaiser (zerstreut an einem Bleistift kauend und in das anscheinend sehr interessante Buch schauend) schweigt. Dann, aufblickend: „Ja, ich denke, wir sollten zum Lyngenfjord. Da ist doch wohl der Svartisen?“ Kapitän: „Zu Befehl, Majestät, da ist er“ (Kein Mensch weiß, wer oder was das ist!) Der Kaiser: „Also zum Lyngenfjord!“. Hacken zusammenschlagen. Gerettet! Man weiß endlich, wohin es geht. Nach diesem Dialog begibt sich Eulenburg zum Steuermann und erkundigt sich: „Wohin geht die Fahrt des Kaisers? Norden? Süden? Osten? Westen?“ – „Nee“, antwortet der Seemann, „ich fahre nur so drauflos.“ Die „Wahrheit“ aber wollte Wilhelm auch von „Philly“ nicht hören. Selbst wenn die Männerfreundschaft so vertraulich war, dass der Kaiser mit Eulenburg über alles reden konnte, sogar über seine Eheprobleme, über die er sonst mit niemandem sprach, hatte er doch kein Interesse an einem unbequemen Mahner. Und dass Eulenburg ein solcher war, erkannte selbst Friedrich von Holstein, einer seiner erbittertsten Gegner: „Einstmals wird man jedenfalls sagen können, dass einer da war, der Wilhelm II. die Wahrheit sagte. Aber ich glaube wirklich, dass es nur einer war.“
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Straftatbestand Homosexualität Endgültig verging „Philly“ das Lachen, als um die Jahrhundertwende Gerüchte über seine homosexuellen Neigungen die Runde machten, weil er eine Affäre mit Kuno von Moltke hatte. Moltkes Frau Lily hatte sich daraufhin 1899 von ihrem Mann scheiden lassen. Doch es kam noch schlimmer. Bernhard von Bülow, der 1897 zum Staatssekretär des Auswärtigen Amts ernannt worden war, entdeckte im Geheimarchiv ein Memorandum, aus dem hervorging, dass Eulenburg vom Besitzer einer Berliner Badeanstalt erpresst wurde, in der pikanterweise auch Ludwig Viktor, der schwule Bruder von Kaiser Franz Joseph, verkehrte. Als er Eulenburg das mitteilte, brach dieser zusammen. Wenn seine Homosexualität öffentlich wurde, dann drohte ihm nicht nur nach § 175 eine Gefängnisstrafe, er wäre auch gesellschaftlich völlig ruiniert! Und genau das bahnte sich an, als der Berliner Journalist Maximilian von Harden, Herausgeber der Zeitschrift „Die Zukunft“, im November 1906 eine Kampagne startete, die sich in mehreren Artikeln gegen die „unmännliche Kamarilla“ der „Liebenberger Tafelrunde“ richtete: „Die träumen nicht von Weltenbränden, die haben’s schon warm genug.“ Harden spielte aber nicht nur auf Eulenburgs homosexuelle Neigungen an, er beschuldigte ihn vor allem, das „persönliche Regiment“ des Kaisers zu unterstützen und zu fördern, als jemand, „der mit unermüdlichem Eifer Wilhelm II. zuraunt, er sei berufen, allein zu regieren, und dürfe, als unvergleichlich Begnadeter, nur von dem Wolkensitz, von dessen Höhe herab ihm die Krone verliehen ward, Licht und Beistand erhoffen …“ Die brisante Mischung aus Sex und Politik traf exakt den Geschmack der Leserschaft; der Skandal war perfekt. Die unfreiwillig „Geouteten“ reagierten auf unterschiedliche Weise. Während sich Wilhelm von Hohenau vorübergehend ins Ausland zurückzog, trat Kuno von Moltke von seinem Posten zurück, führte gleichwohl aber einen Beleidigungsprozess gegen Maximilian von Harden. Doch anstatt seiner Rehabilitation erreichte er das genaue Gegenteil. Jetzt wusste die Öffentlichkeit erst recht und zudem noch offiziell von seiner Homosexualität. Harden schlug zurück. Kurz danach präsentierte er eine Liste bekannter Aristokraten, denen homosexuelle Aktivitäten zur Last gelegt wurden.
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Auch Eulenburgs Name tauchte auf der Liste auf. Der stritt zwar alle gegen ihn erhobenen Beschuldigungen ab, doch dann präsentierte Harden zwei Zeugen, Fischer vom Starnberger See, die unter Preisgabe intimer Details beschworen, Eulenburg habe vor 15 Jahren „unsittliche Handlungen“ an ihnen begangen. Tatsächlich förderte eine Hausdurchsuchung auf Schloss Liebenberg belastendes Material zutage, obendrein zahlreiche homosexuelle Schriften.
Ende einer Männerfreundschaft Eulenburg wurde verhaftet und 1908 vor Gericht gestellt. Vergeblich hoffte er, Wilhelm II. werde sich für ihn einsetzen. Doch der Kaiser dachte nicht im Traum daran, sich auf derart vermintes Terrain zu begeben. Zwar betonte er, dass er den Anschuldigungen keinen Glauben schenkte, verlangte jedoch, dass Eulenburg seinen Dienst quittierte. Schließlich wusste Wilhelm nur zu genau, dass er selbst das eigentliche Ziel der Attacken war. Er musste unbedingt vermeiden, möglicherweise ebenfalls in den Verdacht der Homosexualität zu geraten. Das war das Ende einer zwanzigjährigen „Männerfreundschaft“. Erst Jahre später im holländischen Exil hat Wilhelm zugegeben, dass Eulenburg „als hingebungsvoller Märtyrer“ einen Schlag auffing, der ihm selbst gegolten hatte. Doch da war „Philly“ bereits tot. Zu einer gerichtlichen Verurteilung ist es indes nie gekommen. Eulenburgs schlechter gesundheitlicher Zustand brachte es mit sich, dass der Prozess gegen ihn immer wieder aufgeschoben und schließlich sogar eingestellt werden musste, sodass die Vorwürfe, die Harden gegen ihn erhoben hatte, nicht aufgeklärt werden konnten. Eulenburg starb 1921 als körperliches und seelisches Wrack, doch auch Wilhelm zahlte einen hohen Preis. Zum einen fand er nie wieder einen Menschen, dem er so vertrauen konnte wie dem väterlichen „Philly“. Zum anderen aber schadete der Eulenburg-Skandal weitaus mehr noch als die Kotze-Affäre seinem eigenen Ansehen. Zum ersten Mal sah sich sein „persönliches Regiment“ der öffentlichen Kritik ausgesetzt, und er selbst sich in ein zweifelhaftes Licht gestellt. Schließlich fragte sich so mancher: War der deutsche Kaiser tatsächlich die Marionette einiger ehrgeiziger Homose-
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ENDE EINER MÄNNERFREUNDSCHAFT
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xueller? Noch waren es nur ein paar hässliche Kratzer am Image Wilhelms II., doch sie waren tatsächlich der erste Nagel zum „Sarg“ des Hohenzollernreichs, das zwölf Jahre später ein unrühmliches Ende nahm. Von nun an ging’s bergab …
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